209 105 20MB
German Pages 367 [368] Year 1993
SchlA 15
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Schleiermacher-Archiv Herausgegeben von Hermann Fischer und Hans-Joachim Birkner f , Gerhard Ebeling, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge
Band 15
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994
Christian Albrecht
Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994
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Die Deutsche Bibliothek
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CIP-Einheitsaufnahme
Albrecht Christian: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit : ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik / Christian Albrecht. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 (Schleiermacher-Archiv ; Bd. 15) Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-11-014172-8 NE: GT
© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Ratzlow-Druck, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1992/93 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt zuerst Herrn Prof. Dr. Hermann Fischer, dem Erstreferenten, der die Planung und das Entstehen dieser Arbeit vom ersten bis zum letzten Moment mit vertrauensvoller Aufmerksamkeit, zuverlässiger Sorgfalt und kontinuierlichem Engagement begleitet hat. Ich danke ihm von Herzen. - Des weiteren habe ich Herrn Prof. Dr. Traugott Koch zu danken, der sich freundlicherweise zur Übernahme des Korreferates bereitgefunden hat. Den Herausgebern des Schleiermacher-Archives bin ich für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe verbunden, Herrn Danny Lee Lewis (Berlin) und dem Verlag Walter de Gruyter & Co. für die Herstellung. Die Friedrich-Ebert-Stiftung gewährte mir dankenswerterweise ein Stipendium, die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche und die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands bewilligten Druckkostenzuschüsse. Curau bei Lübeck, am 12. November 1993
Christian Albrecht
Inhaltsverzeichnis Vorwort Verzeichnis der Sigla und Abkürzungen Einleitung Erstes Kapitel: Grundzüge
des Gesamtsystems
V XIII 1 15
I. Einleitung A. Thema, Ziel und Methode des Kapitels B. Die Zusammenstellung der Quellentexte des Kapitels
15 15 20
II. A. B. C.
28 28 30
Das methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften .. Einführung Die Gliederung des Prozesses der Wissensproduktion Die Gegensatzkonstruktion als die konstitutive methodische Figur des Gesamtsystems Exkurs: Schleiermachers Konzeption des Deduktionsprozesses in logikhistorischer Perspektive A. Schleiermachers Anknüpfung an die überlieferte Logik . . . . B. Elemente der überlieferten Logik in Schleiermachers Konzeption des Deduktionsprozesses
58
III. Die Ableitung und die Entfaltung des Systems der Wissenschaften A. Die Kontextgebundenheit der Entfaltung B. Die Idee des Wissens C. Der höchste Gegensatz D. Der höchste Gegensatz im System der Gegensätze 1. Der reale Zweig des höchsten Gegensatzes 2. Der ideale Zweig des höchsten Gegensatzes E. Das System der reinen Wissenschaften F. Die positiven Wissenschaften
65 66 73 77 87 88 91 95 99
IV. Zur Konstitution des Bewußtseins
38 55 55
103
VIII
Inhaltsverzeichnis
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie die Religion" I. A. B. C.
in den Reden „ Über
Zum Forschungsstand Einleitung Zum traditionellen Interpretationsansatz Zum hier gewählten Interpretationsansatz
II. Die religiöse Uraffektion A. Einleitung B. Inhaltliche Beschreibungen 1. Der „erste geheimnisvolle Augenblick" in der zweiten Rede a) Der „erste geheimnisvolle Augenblick" in der Erstauflage . . b) Der „erste geheimnisvolle Augenblick" in den Folgeauflagen 2. Die „erste bestimmte religiöse Ansicht" in der fünften Rede a) Die „erste bestimmte religiöse Ansicht" in der Erstauflage . b) Die „erste bestimmte religiöse Ansicht" in den Folgeauflagen 3. Der Jesu individuelle Religion fundierende Ureindruck . . . . C. Weitere Rückverweise auf die religiöse Uraffektion D . Zusammenfassung der konstanten Züge des uraffizierenden Vorganges III. Das aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion A. Der Sitz der Religion B. Die Unterschiedenheit der Religion vom Wissen und vom Wollen C. Die Realität der Religion D . Der kontinuierliche Charakter der Religion E. Formbestimmtheit als das allgemeine Wesensmerkmal der Religion F. Die konkrete Gestalt des Formprinzips der Religion 1. Zur Leitthese und zum Vorgehen 2. Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als das materiale Grundverhältnis der Religionstheorie in den Reden (Materialsammlung)
105 105 105 107 117 126 126 127 127 127 132 133 133 136 137 139 142 148 149 150 155 161 163 164 164
166
IX
Inhaltsverzeichnis
a)
Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als allgemeines ontologisches Prinzip b) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als Prinzip der harmonischen Seelenstruktur des Menschen . . . c) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als Formprinzip der religiösen Uraffektion d) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als Formprinzip der individuellen religiösen Zentralanschauung e) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als Formprinzip jeder Zentralanschauung gemeinschaftlicher Religion f) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als die reine Gestalt der Zentralanschauung christlicher Religion g) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als materiale Mitte der Religion 3. Die aus der Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem ableitbare disjunktive Polarität als das formale Grundverhältnis der Religionstheorie in den Reden a) Die Struktur des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem als disjunktive Polarität b) Die Struktur des Verhältnisses zwischen Individuum und Universum als disjunktive Polarität c) Die Struktur des Binnenverhältnisses der religiösen Funktionen „Anschauung" und „Gefühl" des Menschen als disjunktive Polarität (1) Das Binnenverhältnis der religiösen Funktionen in der Erstauflage (2) Das Binnenverhältnis der religiösen Funktionen in den Folgeauflagen d) Zusammenfassung: Disjunktive Polarität als das formale Wesen der Religion
193
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie
.
195
Die systematische Funktion der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung" in die Glaubenslehre A. Die wissenschaftliche Gestalt der Glaubenslehre B. Der O r t der Glaubenslehre im Wissenschaftssystem
195 195 198
in der Glaubenslehre
166 167 168
169
169
170 172
174 174 177
181 182 189
I.
X
Inhaltsverzeichnis
C. Der Aufriß der Glaubenslehre D. Der funktionale Stellenwert der „Einleitung" in die Glaubenslehre E. Der argumentative Ansatz des ersten Kapitels der „Einleitung" F. Der unterschiedliche Stellenwert der Frömmigkeit in den beiden Auflagen der „Einleitung" II. Die inhaltlichen Bestimmungen der Frömmigkeitstheorie in den §§ 3-6 von C G 2 A. Einführung B. Der § 3: Die Frömmigkeit ist eine Bestimmtheit des Gefühls bzw. des unmittelbaren Selbstbewußtseins C. Der § 4: Der Inhalt des frommen Gefühls ist das Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit D. Der § 5: Als das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ist die Frömmigkeit die höchste Form des Selbstbewußtseins . E. Der § 6: Die Frömmigkeit ist notwendig gemeinschaftsbildend
199 206 209 224 231 231 232 242 249 256
III. Zusammenfassung: Die bewußtseinstheoretische Gestalt der Theorie der Frömmigkeit 258 Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie I.
in der Dialektik
Zur Leitfrage und zum Interpretationsansatz
II. Der O r t der Anmerkungen zum transzendenten Grund der Identität des Wissens und des Seins im Kontext der Dialektik A. Die Aufgabe der Dialektik B. Die in der „Einleitung" in die Dialektik funktional begründete Doppelgestalt der Dialektik C. Die Leitgedanken des ersten, transzendentalen Teiles der Dialektik III. Der Gehalt der Anmerkungen zum transzendenten Grund der Identität des Wissens und des Seins als Beitrag zu einer Theorie der Frömmigkeit A. Das interpretatorische Grundproblem der Anmerkungen .. B. Der Gedankengang C. Das begriffliche Inventar auf dem Hintergrund des Gesamtkontextes der Dialektik
261 261
265 265 268 277
284 284 287 290
Inhaltsverzeichnis
XI
D. Der Schlüsselbegriff: Das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" 1. Die Negativbestimmungen des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl" 2. Die affirmativen Bestimmungen des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl" a) Das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" als Indifferenzpunkt der Bewußtseinsformen b) Das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" als Begleitung aller Momente des Bewußtseins c) Das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" als Identität von Indifferenz und Begleitung 3. Zusammenfassung: Die analogische Repräsentanz des transzendenten Grundes im „unmittelbaren Selbstbewußtsein = Gefühl"
300
Schluß
306
I.
Das wechselseitige Ergänzungsverhältnis zwischen der Frömmigkeitstheorie der Reden und der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre
292 292 294 296 298 299
307
II. Das Verhältnis zwischen der Frömmigkeitstheorie der Reden und der Frömmigkeitstheorie der Dialektik 310 III. Das wechselseitige Ergänzungsverhältnis zwischen der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre und der Frömmigkeitstheorie der Dialektik
311
IV. Ausblick
315
Literaturverzeichnis Anhang: Die Gliederung der ersten Auflage der Reden
319 333
Verzeichnis der Sigla und Abkürzungen In der vorliegenden Arbeit beziehen sich alle Verweise ohne Nennung eines Autorennamens stets auf von Schleiermacher verfaßte Texte. In diesen Quellenverweisen werden die Bezugstexte durch Sigla abgekürzt, es folgt die Angabe der Seiten- bzw. Paragraphenzahlen, gelegentlich auch der Zeilenzahlen. Die zur Bezeichnung der Quellentexte eingesetzten Sigla sind in der untenstehenden Aufstellung gelistet und entschlüsselt. Ihre Bedeutung kann auch über das ausführlichere Literaturverzeichnis (s.u. S. 319) erschlossen werden. In den Verweisen auf die Sekundärliteratur werden dagegen stets Kurztitel verwendet. Sie sind so ausführlich gehalten, daß sie das Auffinden der vollständigen Angabe im Literaturverzeichnis ermöglichen, wo sie am Schluß des jeweiligen Eintrags in eckigen Klammern wiederholt werden. (Lediglich im Exkurs des ersten Kapitels sind die Quellen und die Sekundärliteratur an Ort und Stelle in ausführlicher Form verzeichnet.) Alle weiteren Kürzel für Zeitschriften, Serien, Lexika und Quellenwerke folgen: Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, zusammengestellt von Siegfried Schwertner, Berlin-New York 1976. Dasselbe gilt für die verwendeten allgemeinen Abkürzungen - von wenigen, am Schluß dieses Verzeichnisses aufgeführten Sonderformen abgesehen.
I. Sigla für die von Schleiermacher verfaßten Texte ÄLe
Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg. v. T. Lehnerer (PhB 365), Hamburg 1984 Bemerkungen zur Ethik 1832 s.u. S. 27, Nr. 10 BrGaß Friedrich Schleiermacher's Briefwechsel mit J. Chr. Gaß. Mit einer biographischen Vorrede hg. v. W . Gaß, Berlin 1852 Briefe I-IV Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen. 4 Bände: Bde. 1 u. 2 in zweiter Auflage, Berlin 1860,
XIV
Verzeichnis der Sigla und Abkürzungen
Bd. 3, Berlin 1861, Bd. 4, Berlin 1863 (Nachdruck Berlin-New York 1974) Schleiermacher als Mensch. [Bd. 2:] Sein WirBrMeisner ken. Familien- und Freundesbriefe 1804-1834, hg. v. H. Meisner, Gotha 1923 Brouillon zur Ethik 1805/06 s.u. S. 26, Nr. 2 Der christliche Glaube nach den Grundsätzen CG 1 der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/1822), KGA 1/7, Teilbände 1 und 2 hg. v. H. Peiter, Berlin-New York 1980 Der christliche Glaube nach den Grundsätzen CG2 der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, siebente Auflage, auf Grund der zweiten Auflage und kritischer Prüfung des Textes neu hg. v. M. Redeker, zwei Bände, Berlin 1960 Schleiermachers Glaubenslehre. Kritische AusCGS gabe, erste [einzige] Abteilung: Einleitung, hg. v. C. Stange (QGP 9), Leipzig 1910 [CGS] Dialektik (1811), hg. v. A. Arndt (PhB 386), DA, Hamburg 1986 Dialektik (1814/15). Einleitung zur Dialektik DA 2 (1833), hg. v. A. Arndt (PhB 387), Hamburg 1988 Dialektik im Entwurf von 1811; s.u. S. 21, Nr. 1 Dial 1811 Dialektik im Entwurf von 1814/15; s.u. S. 22, Dial 1814/15 Nr. 2 Dialektik im Entwurf von 1818; s.u. S. 22, Nr. 3 Dial 1818 Dialektik im Entwurf von 1822; s.u. S. 22, Nr. 5 Dial 1822 Dialektik im Entwurf von 1828; s.u. S. 23, Nr. 6 Dial 1828 Dialektik im Entwurf von 1831; s.u. S. 23, Nr. 7 Dial 1831 Dialektik. Aus Schleiermachers handschriftliDJ chem Nachlasse hg. v. L. Jonas (d. i. Sämmtliche Werke Abt. III Bd. 4,2; zugleich Literarischer Nachlaß. Zur Philosophie 2,2), Berlin 1839 Dialektik. Im Auftrage der Preußischen AkaDO demie der Wissenschaften aufgrund bisher unveröffentlichten Materials hg. v. R. Odebrecht, Leipzig 1942 DW Beilage G und Η der Dialektik. Zur Ergänzung der Jonas'schen Ausgabe aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse hg. v. Bruno Weiß, in: ZPPK 73 (1878), Anhang S. 1-43.
Verzeichnis der Sigla und Abkürzungen
Ε
EB,
EB2
Einleitung in die Dial 1833 ES
ET ET/S
Ethik (Tgl) 1804/05 Ethik (Einl u. Gtl) 1812/13 Ethik (Tgl u. Pfl) 1812/13 Ethik (Einl) 1813(16) Ethik (Gtl) 1814/15(16) Ethik (Pfl) 1814f(16f) Ethik (Einl, l.B.) 1816/17 Ethik (Gtl, l.B.) 1816/17 Gedanken I
XV
Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, nach den Handschriften Schleiermachers neu hg. und eingeleitet v. O . Braun, zweite Aufl. Leipzig 1927 (d.i. Bd. 2 von: Werke. Auswahl in vier Bänden, hg. v. O . Braun und J. Bauer, 2. Aufl. Leipzig 1927-1928.) Brouillon zur Ethik (1805/06). Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg. und eingeleitet v. H.-J. Birkner (PhB 334), Hamburg 1981 Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg. und eingeleitet v. H.-J. Birkner (PhB 335), Hamburg 1981 Dialektik-Einleitung im Entwurf von 1833 (s.u. S. 24, N r . 8) Entwurf eines Systems der Sittenlehre, hg. v. A. Schweizer (= SW III/5), Berlin 1835 Friedrich Schleiermachers Grundriß der philosophischen Ethik mit einleitender Vorrede von August Twesten, Berlin 1841 Friedrich Schleiermachers Grundriss der philosophischen Ethik (Grundlinien der Sittenlehre), herausgegeben 1841 von August Twesten. Neuer Abdruck besorgt von Fr. M. Schiele, Leipzig 1911 Ethik (Tugendlehre) im Entwurf von 1804/05 (s.u. S. 26, N r . 1) Ethik (Einleitung und Güterlehre) im Entwurf von 1812/13 (s.u. S. 26, N r . 3) Ethik (Tugendlehre und Pflichtenlehre) im Entwurf von 1812/13 (s.u. S. 26, N r . 4) Ethik (Einleitung) im Entwurf von 1813 bzw. 1816 (s.u. S. 27, N r . 5) Ethik (Güterlehre) im Entwurf von 1814/15 bzw. 1816 (s.u. S. 27, N r . 6) Ethik (Pflichtenlehre) im Entwurf von 1814/15 bzw. 1816/17 (s.u. S. 27, N r . 7) Ethik (Einleitung, letzte Bearbeitung) im Entwurf von 1816/17 (s.u. S. 27, N r . 8) Ethik (Güterlehre, letzte Bearbeitung) im Entwurf von 1816/17 (s.u. S. 27, N r . 9) Vermischte Gedanken und Einfalle (Gedanken I), (1796-1799), in: K G A 1/2, 1-49
XVI Gedanken II Gedanken III Gedanken IV Gedanken V GelGed
KD 1
Verzeichnis der Sigla und Abkürzungen
Gedanken II (1798), in: K G A 1/2, 105-115 Gedanken III (1798-1801), in: K G A 1/2, 117139 Gedanken IV (vermutlich 1800), in: K G A 1/3, 129-137 Gedanken V (1800-1803), in: K G A 1/3,281-340 Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende (1808), in: SW III/l, S. 535644 Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 1811
Kurze Darstellung des theologischen Studiums KD zum Behuf einleitender Vorlesungen (Zweite Auflage, Berlin 1830). Kritische Ausgabe hg. v. H. Scholz ( Q G P 10), Leipzig 1910 (Nachdruck Darmstadt 1982) Kritische Gesamtausgabe, hg. v. H.-J. Birkner KGA und G. Ebeling, H. Fischer, H. Kimmerle, K.V. Selge, Berlin-New York 1980ff Der christliche Glaube nach den Grundsätzen Marg der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22). Marginalien in Schleiermachers Handexemplar (bis § 75), K G A 1/7.3, hg. v. U. Barth, Berlin-New York 1984, S. 1207 Notizheft zur Dialektik (1811-1818) s.u. S. 22, Nr. 4 Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten R1 unter ihren Verächtern, Berlin 1799 Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten R 2 (1806), ed. Pünjer unter ihren Verächtern, zweite Auflage, Berlin 1806, in: Reden Ueber die Religion. Kritische Ausgabe. Mit Zugrundelegung des Textes der ersten Auflage besorgt von G. Ch. Bernhard Pünjer, Braunschweig 1879 Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten R 3 (1821), ed. Pünjer unter ihren Verächtern, dritte Auflage, Berlin 1821, in: Reden Ueber die Religion. Kritische Ausgabe. Mit Zugrundelegung des Textes der ersten Auflage besorgt von G. Ch. Bernhard Pünjer, Braunschweig 1879 Uber seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke. Erstes Erstes Sendschreiben Sendschreiben, in: K G A 1/10, S. 309-335 2
Verzeichnis der Sigla und A b k ü r z u n g e n
Zweites Sendschreiben SW Theol. Enzyklopädie
Über seine Glaubenslehre, an Dr. Lücke. K G A 1/10, S. 337-394 Sämmtliche Werke, 30 Bände in 3 Abteilungen, Berlin 1834-1864 Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, hg. v. W. Sachs (Schleiermacher-Archiv 4), Berlin-New York 1987
II. Abkürzungen Ls. Ns. Ms. SN Tl. Zs.
XVII
Leitsatz Nachschrift Manuskript Schleiermacher-Nachlaß Teil Zusatz
Einleitung Innerhalb der gegenwärtigen evangelischen Theologie nimmt der Hinweis auf die Aktualität und Modernität des Klassikers Schleiermacher seit einigen Jahren selbst einen klassischen Rang ein. Obwohl das M a ß der Zustimmung zum philosophischen und theologischen Denken Schleiermachers im einzelnen natürlich differiert, herrscht doch eine weitgehende Ubereinstimmung in der Auffassung, daß sich im Werk Schleiermachers zahlreiche Themen und Probleme der gegenwärtigen protestantischen Theologie in vorausschauender Weise angerissen finden, und daß die gelegentlich mühevolle Vergegenwärtigung der Schleiermacherschen Lösungsansätze ein lohnenswertes Unterfangen darstellt. Gehört die Zeit der pauschalen, ideologisierten Verdammung Schleiermachers einer längst vergangenen Epoche an, so darf mittlerweile auch die Phase der Wiederentdeckung Schleiermachers als abgeschlossen gelten. Die Schleiermacher-Rezeption ist in eine neue, unbefangene Arbeitsphase getreten. U n d kennzeichnend für deren lebendige Wechselwirkung mit den Grundfragen gegenwärtiger protestantischer Theologie ist - rein äußerlich gesehen - die Tatsache, daß die Beschäftigung mit dem Werk Schleiermachers keiner Apologie mehr bedarf, sondern als eine selbstverständliche Form systematisch-theologischer Forschung gilt. Im Detail trägt die Begründung für diese Hinwendung der gegenwärtigen Theologie zu Schleiermacher freilich eine höchst komplexe und zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch notwendig unabgeschlossene Gestalt. Erst die Theologiegeschichtsschreibung späterer Epochen wird sich ein vollständiges Bild verschaffen können. Insbesondere wird sie sich dabei mit der Frage befassen müssen, ob der Zusammenhang zwischen partikularen theologischen Gegenwartsinteressen und partikularen Themen und Problemen des Schleiermacherschen Werkes auch als Ausdruck einer umfassenden Beziehung zwischen dem systematischen Grundthema der gegenwärtigen protestantischen Theologie und dem systematischen Grundthema des Schleiermacherschen Denkens gelten kann. Ich selbst neige dieser Vermutung
2
Einleitung
zu und möchte in dieser Hinsicht auf einen einzigen, meines Erachtens zentralen Aspekt der Aktualität Schleiermachers für die gegenwärtige Theologie hinweisen. Wenn die gegenwärtige protestantische systematische Theologie sich darauf verständigen kann, ihre eigene Aufgabe in der Selbstauslegung des christlichen Glaubens zu sehen,1 so markiert dieses Selbstverständnis bereits die grundlegende propädeutische Aufgabe der systematischen Theologie: Sie hat sich zunächst um eine Vorklärung des Verhältnisses zwischen dem christlichen Glauben und dessen Selbstreflexion zu bemühen. Sie hat den Zusammenhang zwischen dem christlichen Glauben und dessen methodengeleiteter, systematischer Selbsterklärung so zu bestimmen, daß zugleich die Unterschiedenheit und die Untrennbarkeit beider Pole deutlich wird. Damit hat die alte Einsicht in die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen dem Glauben und der Theologie am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eine Aktualisierung erfahren: So wenig der christliche Glaube sich aus einer komplex und vielschichtig gewordenen Welt verabschiedet hat, so wenig wird die christliche Theologie sich der Hochspezialisiertheit der Wissenschaften verschließen dürfen. Vielmehr hat die immer wieder neu zu leistende Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Glauben und der Theologie, zwischen Frömmigkeit und Vernunft sich gerade im Horizont der je gegenwärtigen lebensweltlichen Ordnung und der je gegenwärtigen wissenschaftlichen Standards zu vollziehen. Die notwendige Verhältnisbestimmung muß sich also nach zwei Richtungen vollziehen. Zum einen wird sie von der Vorgegebenheit des Glaubens ausgehen und darlegen müssen, inwiefern der Glaube sich zum Zwecke seiner Selbsterklärung in souveräner Weise, unter Wahrung seiner Eigenständigkeit, der Vernunft bedienen kann. Und zum anderen wird diese Verhältnisbestimmung an die Faktizität der Vernunft anknüpfen und erklären müssen, inwiefern die Regeln vernünftigen Denkens durch die Irrationalität des Glaubens keinesfalls außer Kraft gesetzt werden. Erst eine systematische Theologie, die vor jeder theologischen Einzelaussage das Ineinander von intersubjektiver Vernunft und individueller Frömmigkeit in ein widerspruchsfreies Verhältnis überführt, wird die anschließend in der materialen systematischen Theologie verhandelten Themen in überzeugender Weise explizieren können.
Vgl. z u m folgenden Fischer: Systematische Theologie 2 3 7
Einleitung
3
Mit diesem Grundthema der gegenwärtigen systematisch-theologischen Prolegomena ist aber zugleich das systematische Grundthema des Schleiermacherschen Werkes berührt. Schleiermacher selbst hat es in dem berühmten Brief vom 30.3.1818 an Jacobi in der Entfaltung des Bildes von den „zwei Wassern" in einer persönlichen, dichten Form benannt: „Mein Satz dagegen ist also der: Ich bin mit dem Verstände ein Philosoph; denn das ist die unabhängige und ursprüngliche Thätigkeit des Verstandes; und mit dem Gefühl bin ich ganz ein Frommer und zwar als solcher ein Christ, und habe das Heidenthum ganz ausgezogen oder vielmehr nie in mir gehabt." 2 Von daher gesehen scheint es also konsequent und aussichtsreich, daß die gegenwärtige systematische Theologie sich nicht nur in materialen Einzelthemen, sondern auch in der Klärung ihrer eigenen Ermöglichungsbedingungen auf Schleiermacher besinnt. Und umgekehrt kann eine sich dem Grundthema des Schleiermacherschen Werkes widmende Verstehensbemühung - wie etwa die von mir hier vorgelegte Untersuchung - den Anspruch darauf erheben, ipso facto Material zu einer Selbstklärung der Ermöglichungsbedingungen einer gegenwärtigen systematischen Theologie bereitzustellen. Dieses Ziel läßt sich nun aber nur in einer rekonstruktiv verfahrenden, systematisch immanent interpretierenden Untersuchung erreichen. 3 Darin besteht derjenige Grundkonsens der neuerdings sogenannten „schulmäßig betriebenenen Schleiermacherforschung" 4 , dem die hier von mir vorgelegte Interpretation der Schleiermacherschen Frömmigkeitstheorie sich dankbar anschließt. In diesem Interpretationsansatz ist insbesondere eingeschlossen, daß die Deutung sich an den inneren Motiven des jeweiligen Theoriestückes selbst orientieren muß, um dessen Eigenheiten und dessen Gewicht erfassen zu können. Bezogen auf die gegenwärtige Untersuchung der Schleiermacherschen Frömmigkeitstheorie heißt dies: Die Relevanz der Schleiermacherschen Theorie der Frömmigkeit für die Grundfragen der zeitgenössischen systematischen Theologie erschließt sich nur über eine Rekonstruktion der systematischen Funktion der Frömmigkeitstheorie im Schleiermacherschen Gesamtdenken. Wenn man sich der Frömmigkeitstheorie dagegen umgekehrt in eklektischer Weise 2
3
4
Zitiert nach Cordes: Der Brief Schleiermachers an Jacobi 208,45-209,3 (Vgl. Briefe II 350,4-9) Vgl. dazu die Orientierung über die methodischen Leitlinien der SchleiermacherInterpretation bei Birkner: Theologie und Philosophie 18-22. Grab: Gestaltungsaufgabe 149 (Anm. 6)
4
Einleitung
annähert, nämlich: im Blick darauf, worin Einzelaussagen dieser historischen Theorie für das eigene, momentane Interesse verwertbar und brauchbar wären, dann wird einem der programmatische Gehalt dieser Theorie verschlossen bleiben. In dem speziellen Rahmen der systematisch-theologischen Schleiermacher-Forschung befaßt diese Untersuchung sich dann mit einem zwar gängigen, aber gleichwohl vernachlässigten Thema des Schleiermacherschen Werkes. Einerseits wird man keinen ausführlicheren, monographischen Beitrag zu einem Teilthema des Schleiermacherschen Werkes finden, in dem die Theorie der Frömmigkeit nicht ihre Erwähnung fände. Dasselbe gilt für Gesamtdarstellungen des Schleiermacherschen Werkes und für jede protestantische Theologiegeschichte: Ein Abschnitt über Schleiermachers Beschreibung des frommen Bewußtseins darf keinesfalls fehlen. Und die Formeln vom „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" bzw. vom „Anschauen des Universums" zählen nicht umsonst zum Minimalbestand der Schleiermacher-Kenntnis des Gebildeten. Es gehört zum theologiegeschichtlichen Gemeinwissen, daß in diesen definitorischen Bestimmungen der Hinweis auf Zentralgedanken des Schleiermacherschen Gesamtwerkes enthalten sei. Andererseits fehlt es in der jüngeren Forschungsgeschichte an einer ausführlicheren Untersuchung, die Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit einmal zum eigenen Hauptgegenstand erhebt und also rein für sich betrachtet. Die letzten umfänglicheren Untersuchungen dieser Art datieren vom Beginn des Jahrhunderts. 5 Ihnen gemeinsam ist die mehr oder weniger laut geführte Klage über den disparaten Eindruck, den die in unterschiedlichen Zusammenhängen und in unterschiedlicher Terminologie vorgetragene Theorie der Frömmigkeit hinterließ. 6 In der Folge ist es daher üblich geworden, sich bei der Betrachtung der Schleiermacherschen Theorie der Frömmigkeit in vertiefender Weise auf einzelne Werke Schleiermachers zu beschränken, also die Religionstheorie der Reden oder die Theorie des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls in der Glaubenslehre oder die Theorie des unmittelbaren Selbstbewußtseins in der Dialektik je für sich zu beschreiben. Auf diese Weise kann zwar die zentrale Funktion der
5
So ζ. B. Lasch: Religionsbegriff (Erlangen 1900); Huber: Entwicklung (Leipzig 1901); Buchholz: Bewußtsein (Praust 1907); Forsthoff: Religionstheorie (Tübingen 1910)
6
Lasch: Religionsbegriff 53f; Huber: Entwicklung 274-310; Buchholz: Bewußtsein 74-98; Forsthcff: Religionstheorie 78-102
Einleitung
5
Frömmigkeitstheorie 7 für den jeweiligen Grundtext bestätigt werden. Aber der Blick für den Zusammenhang der jeweiligen Theoriekomplexe gerät notgedrungen in den Hintergrund: Parallelen und Widersprüche lassen sich nur noch in jeweils exkursorischer Weise aus der Perspektive des jeweiligen Grundtextes deuten, 8 der Blick für das systematische Gesamtgefüge droht zu verschwinden. Deshalb scheint es an der Zeit, die Schleiermachersche Theorie der Frömmigkeit wieder einmal zum selbständigen Untersuchungsthema zu erheben. Dabei möchte ich die Leitthese vertreten, daß Schleiermachers Frömmigkeitstheorie in den Reden, der Glaubenslehre und in der Dialektik als eine zusammenhängende, allgemeine Theorie der Realitätsbezogenheit des Bewußtseins verstanden werden kann - daß ein solches Verständnis jedoch nur dann möglich ist, wenn man den systematischen Rahmen und den je eigenen Kontext der Entfaltungen zuvor rekonstruiert hat. Diese Leitidee möchte ich einleitend - und in notwendig vorausgreifender Weise - kurz präzisieren. Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit wird in der Regel hauptsächlich aus der Einleitung in die Glaubenslehre erhoben, in der Schleiermacher das Wesen der (die Dogmatik fundierenden) Frömmigkeit im Gegenüber zu anderen Funktionen des Bewußtseins beschreibt. Aber auch die Reden entfalten bekanntlich, auf ihre eigene Weise, jene Idee von der Selbständigkeit der religiösen Funktion des Bewußtseins. Und auch in der Dialektik finden sich ja Aussagen über die Gegebenheitsweise des transzendenten Grundes für das Wissen, in denen ebenfalls eine selbständige Bewußtseinsfunktion ins Spiel gebracht wird. Dabei ist die in der Dialektik gegebene Begründung für die Möglichkeit des Wissens in sachlicher Hinsicht verwandt mit der in der Glaubenslehre gegebenen Beschreibung für das im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl sich Ausdrückende. Alle drei Textzusammenhänge enthalten also eine spekulative Ableitung des Wesens der Frömmigkeit - und auf die eingehende Betrachtung dieser drei Textzusammenhänge werde ich die raateriale Rekonstruktion der Schleiermacherschen Frömmigkeitstheorie konzentrieren.
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Z u r von mir gewählten Bezeichnung aller drei Zusammenhänge mit d e m A u s d r u c k „ F r ö m m i g k e i t s t h e o r i e " vgl. unten S. 11
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Vgl. dazu ζ. B. Offermann: Einleitung 6 6 - 8 4 zur Frömmigkeitstheorie der Dialektik und im G e g e n z u g Wagner: Dialektik 1 7 2 - 2 1 0 zur Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre.
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N u n läßt sich die Kompatibilität der drei Aussagenkomplexe aber nicht einfach durch einen umweglosen Vergleich erheben. Vielmehr erschließt sich meines Erachtens der Grund für die Möglichkeit und für die Notwendigkeit der Koexistenz dreier verschiedener Fassungen nur dann, wenn man sich - erstens - die allen drei Fassungen gemeinsame Bezogenheit auf einen einheitlichen systematischen Rahmen vergegenwärtigt; und wenn man - zweitens - den je eigenen Kontext rekonstruiert, in den Schleiermacher die jeweilige Entfaltung der Frömmigkeitstheorie stellt. Das will ich kurz erläutern. Zum ersten: Der gemeinsame systematische Rahmen ist in der Ableitung des Systems der Wissenschaften aus der Idee des höchsten Gegensatzes vorgegeben und wird von Schleiermacher in der Dialektik und in der Einleitung in die Philosophische Ethik entfaltet. Dieser gemeinsame Rahmen umfaßt zunächst die für die Gestalt der Theoriefassungen grundlegende Bestimmung des wissenschaftssystematischen Ortes, an dem die Entfaltung der Frömmigkeitstheorie in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik vorgenommen wird. Zugleich läßt sich in diesem Zusammenhang aber auch das innere systematische Problem erfassen, um dessen Lösung die Theorie der Frömmigkeit sich bemüht. Denn in der Frömmigkeitstheorie beantwortet Schleiermacher die im Wissenschaftssystem selbst aufgegebene Grundfrage, nämlich: wie die dort bestimmte Korrespondenz des Wissens mit dem Sein nun eigentlich zum Gegenstand des Bewußtseins werden könne. U n d diese Frage wird mit der Beschreibung desjenigen Modus, in dem das Bewußtsein seines eigenen Ermöglichungsgrundes gewahr wird, beantwortet. Der Einsatz bei dem systematischen Rahmen bildet also die übereinstimmende Voraussetzung für die Interpretation der Frömmigkeitstheorie der Reden, der Glaubenslehre und der Dialektik. Ich möchte zeigen, daß bereits die Religionstheorie der romantischen Frühschrift die Frage, „ ,was die Religion ist' " 9 , mit dem Hinweis auf das im Wesen des religiösen Erlebnisses vermittelte Innewerden der Konstitutionsweise des Bewußtseins beantwortet. Damit löst sie in der ihr eigenen Form und in der ihr eigenen terminologischen Gestalt eine Aufgabe, deren systematischen Rang Schleiermacher zwar erst später in der Entfaltung der wissenschaftlichen Zusammenhänge präzisiert hat, die aber bereits den Reden als Leitmotiv dient. Hingegen, für das Verständnis der Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre scheint mir 9
R 1 38 = K G A 1/2, 206,6
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wesentlich, daß diese Theorie (die das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl als Ausdruck der Gewißheit für die Realitätsbezogenheit des Bewußtseins beschreibt) als dezidiert theologische Theorie vorgetragen wird, genauer: als Theorem der Philosophischen Theologie vorgestellt wird. Mit der Zugehörigkeit dieses Theoriestückes zur Wissenschaft „Theologie" verbinden sich bereits bestimmte Pointen dieser Frömmigkeitstheorie, die Schleiermacher aber nicht mehr innerhalb der Frömmigkeitstheorie selbst entfaltet, sondern in der Verortung der positiven Wissenschaft „Theologie" im Ganzen der Wissenschaft. Und Entsprechendes gilt schließlich auch für die Theorie des unmittelbaren Selbstbewußtseins in der Dialektik. Denn dort behandelt Schleiermacher ebenfalls das Thema der Realitätsbezogenheit des Bewußtseins aber wissenschaftssystematisch gesehen nun nicht mehr im innertheologischen Zusammenhang, sondern im Rahmen der höchsten Wissenschaft Dialektik und also im Zusammenhang von deren Frage nach dem Konstitutionsmodus der Seinsbezogenheit des Wissens. Zusammengefaßt: Ich möchte zeigen, daß die Kenntnis des äußeren systematischen Rahmens und damit des inneren systematischen Problems die erste notwendige Voraussetzung für das angemessene Verständnis der drei Fassungen der Frömmigkeitstheorie bildet. Zum zweiten: Neben dieser Bezogenheit auf einen äußeren systematischen Rahmen ist aber auch der inwendige Textzusammenhang, in dem die drei Entfaltungen der Frömmigkeitstheorie stehen, zu beachten; also der argumentative Stellenwert der Frömmigkeitstheorie im Gedankengang des jeweiligen Grundtextes. Mit anderen Worten: Neben die Vergegenwärtigung des allen Entfaltungen gemeinsamen systematischen Rahmens muß auch die Vergegenwärtigung des je eigenen funktionalen Kontextes treten, in denen die Entfaltungen der Frömmigkeitstheorie in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik stehen. Denn in jedem der drei Textzusammenhänge rekurriert Schleiermacher unter einer je speziellen Fragestellung auf die Frömmigkeitstheorie. Diese je spezielle Fragestellung ergibt sich aus der Aufgabe und aus dem Duktus des jeweiligen Textkomplexes. Und man wird keine der drei Fassungen der Frömmigkeitstheorie hinreichend erfassen, wenn man sich nicht darüber orientiert hat, unter welcher Fragestellung und in welchem Zusammenhang Schleiermacher auf sie zu sprechen kommt. Vielmehr muß die explizite Rekonstruktion des konkreten Zusammenhanges, in dem die jeweilige Frömmig-
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Einleitung
keitstheorie eingeführt wird, bereits als Hinweis auf deren wesentliche inhaltliche Pointe gelten. Aus der skizzierten Leitidee folgt der methodische Ansatz der Arbeit. Erstens: Ich will sowohl die in den Reden und in der Glaubenslehre entfaltete Frömmigkeitstheorie als auch die in der Dialektik entfaltete Theorie der Repräsentanz des transzendenten Grundes im unmittelbaren Selbstbewußtsein von ihren in der Dialektik und in der Ethik-Einleitung bereitgestellten wissenschaftssystematischen und methodischen Voraussetzungen her deuten. Denn diese stellen den systematischen Rahmen für jene bereit. Zweitens: Ich will neben der Analyse der Binnenbestimmungen zur Frömmigkeitstheorie einen wesentlichen Akzent auf die Darstellung des jeweiligen Kontextes der Ausführungen in den verschiedenen Textkomplexen legen. Dabei werden die zuerst genannte Konzentration auf den wissenschaftssystematischen Zusammenhang, in dem die Frömmigkeitstheorie verhandelt wird und die sodann genannte Konzentration auf den jeweiligen innertextlichen Zusammenhang, in dem die Frömmigkeitstheorie zur Sprache kommt, von Grundtext zu Grundtext verschieden gewichtet werden müssen. Denn das unterschiedliche Genus der Texte verlangt jeweils eine eigene Annäherungsform. Im einzelnen ergeben sich folgende Akzente: Im Falle der Reden wird vor allem die durch den Kontext vorgegebene innere Fragestellung, unter der die Religionstheorie verhandelt wird, im Vordergrund stehen müssen. Im Rahmen der Beschäftigung mit der Glaubenslehre wird hingegen die Frage nach dem inneren Kontext schon durch die Rekonstruktion des wissenschaftssystematischen Bereiches, in dem die Frömmigkeitstheorie verhandelt wird, beantwortet. Und im Falle der Dialektik werden die Frage nach dem inneren Zusammenhang und die Frage nach dem wissenschaftssystematischen Status mit gleichwertiger Aufmerksamkeit, aber getrennt voneinander behandelt werden müssen. Aus der Leitidee ergibt sich auch der Aufbau der Arbeit. Im ersten Kapitel müssen das vor allem in der Ethik-Einleitung entfaltete System der Wissenschaften und die vor allem aus der Dialektik zu erhebenden entscheidenden methodischen Grundsätze, denen Schleiermacher in der Ableitung des Wissenschaftssystems folgt, rekonstruiert werden. Im zweiten Kapitel will ich dann die (terminologisch gesehen noch als Religionstheorie entfaltete) Frömmigkeitstheorie der Reden nachzeichnen. Dabei soll deutlich werden, daß die erst vom späteren Schleiermacher systematisch explizierten Denkschemata faktisch be-
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reits in den Reden erkennbar sind. Zuvor muß allerdings der sich aus der Rekonstruktionsaufgabe ergebende, eigene Interpretationsansatz begründet werden. Das dritte Kapitel ist dann der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre gewidmet. Zunächst will ich ausführlich den Ort und die Funktion der grundlegenden Entfaltung der Frömmigkeitstheorie in der Einleitung in die Glaubenslehre beschreiben - erst auf diesem Hintergrund können dann anschließend die Bestimmungen der Glaubenslehre sinnvoll eingeordnet werden. Auch das vierte, den Ausführungen der Dialektik zur Repräsentanz des transzendenten Grundes im Selbstbewußtsein gewidmete Kapitel wird zwei Hauptteile umfassen: Zunächst muß der Ort der Ausführungen zum identischen transzendenten Grund des Wissen und des Seins beschrieben werden, damit die Interpretation deutlich machen kann, inwiefern diese Ausführungen ebenfalls als Entfaltung einer Theorie der Frömmigkeit verstanden werden müssen.10 Soll so der spezielle Kontext jeder einzelnen Fassung der Frömmigkeitstheorie deutlich werden, so kann und muß im Gegenzug auf direkte Querverweise zwischen den Kapiteln nach Möglichkeit verzichtet werden. Denn die drei Fassungen der Frömmigkeitstheorie sind in übereinstimmender Weise durch ihre Kontextualität, durch ihre Funktionalität und durch ihre Bezogenheit auf einen gemeinsamen systematischen Rahmen ausgezeichnet. Und genau diese Form der Ubereinstimmung verbietet eben gerade einen umweglosen Querbezug ihrer sachlichen Akzente oder gar ihrer terminologischen Gestalt. Ein wesentliches Gewicht der vorliegenden Arbeit wird also auf der Rekonstruktion der systematischen und funktionalen Zusammenhänge liegen, in die Schleiermacher die Frömmigkeitstheorie einordnet. Es soll deutlich werden, daß Schleiermacher bereits in der Einordnung entscheidende Weichenstellungen vornimmt - Weichenstellungen, die dann erstens die unterschiedliche materiale Entfaltung der jeweiligen Frömmigkeitstheorie und zweitens aber auch das mehrfache Auftreten einer Frömmigkeitstheorie plausibel erscheinen lassen. Diese Uberzeugung, daß die Frömmigkeitstheorie jedweder Gestalt nur in der Kenntnis ihrer Zusammenhänge verstanden werden 10
A u f die Dialektik w e r d e ich im Verlaufe der Untersuchung also zweimal u n d mit unterschiedlicher A b s i c h t zurückgreifen müssen: Im ersten Kapitel w e r d e ich mich v o r allem auf den zweiten, technischen Teil der Dialektik beziehen müssen, weil dort die methodischen G r u n d z ü g e des Systems entfaltet sind; und im vierten Kapitel w e r d e ich Teile des ersten, transzendentalen Teiles der Dialektik befragen müssen, weil sich d o r t die A u s f ü h r u n g e n z u m unmittelbaren Selbstbewußtsein finden.
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kann, kann sich aber ihrerseits auf Schleiermacher selbst berufen. Im § 2 der Einleitung zur Glaubenslehre erster Auflage spricht er das Vorkommen der Frömmigkeitstheorie in verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten an und erklärt: „Die Wissenschaft vom Zusammenhang der Lehre wird gesucht, theils um den verworrenen Zustand des Denkens über die frommen Gemüthszustände aufzuheben, theils um es von anders entstandenem Denken, welches auf denselben Inhalt hinausläuft, desto bestimmter zu unterscheiden." 1 1 Diese Grundbestimmung wird im folgenden zur methodischen Forderung erhoben: „(...) im Einzelnen kann oft zweifelhaft sein, ob ein Gedanke, der etwas vom höchsten Wesen aussagen will, zunächst der Ausdruck einer frommen Erregung des Gemüthes ist, oder ob unmittelbar aus der höheren Wissenschaftlichkeit entsprungen. N u r durch den Zusammenhang des Denkens, in welchen er gehört, läßt sich dies bestimmt unterscheiden, und darum muß ein solcher Zusammenhang aufgestellt werden, damit die Verwechselung zweier ganz verschiedener Gebiete vermieden werden könne." 1 2 Einige weitere methodische Leitlinien dieser Arbeit will ich kurz ansprechen. Erstens: Aus dem oben bereits angesprochenen Ansatz einer systematisch-immanenten Rekonstruktion folgt, daß die Frage nach den Einflüssen anderer Autoren auf Schleiermacher - mit Ausnahme des Exkurses im ersten Kapitel - grundsätzlich ebenso ausgeblendet bleiben muß wie das Referat der Wirkungsgeschichte, die Schleiermachers Frömmigkeitstheorie durchlaufen hat. Diese programmatische Binnenkonzentration befindet sich in Ubereinstimmung mit der gegenwärtigen Forschungsphase, in der sich das Hauptaugenmerk erneut auf die Schleiermacher-Quellentexte richtet. 13 Zweitens: Diese Konzentration schließt das Bemühen um die sorgfältige Aufbereitung des verwendeten Textmaterials mit ein. Bekanntlich liegen die Schleiermacherschen Texte in verschiedenen Fassungen und Editionen vor, die gegebenenfalls in ihren Eigenheiten und Besonderheiten vorgestellt werden müssen; die zu treffenden Beschränkungen und Auswahlen müssen begründet werden. Auch darin stellt meine Interpretation sich in den Dienst der Primärliteratur, zu deren erneuter Lektüre sie anregen möchte. Drittens: Die beabsichtigte systematische Inter11
C G 1 § 2 = K G A 1/7.1, 14,4-8
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C G ' § 2 = K G A 1/7.1, 15,12-19
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Vgl. z . B . das von Lehnerer: Kunsttheorie; Junker: U r b i l d ; Rössler: P r o g r a m m der Philosophischen Theologie oder auch v o n C r a m e r : Prämissen eingeschlagene Verfahren.
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pretation der Frömmigkeitstheorie verlangt die Konzentration auf die grundlegenden Züge der Frömmigkeit und den Verzicht auf die Interpretation des materialen Vorkommens der Frömmigkeitstheorie z.B. in den Hauptteilen der Glaubenslehre und auch den Verzicht auf die Entfaltung der Beziehungen zwischen der Frömmigkeitstheorie und der Gotteslehre oder der Christologie. Viertens: Die Kontextbezogenheit der drei Fassungen der Frömmigkeitstheorie in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik erfordert es, daß im Rahmen der systematischen, mehrere verschiedene Textkomplexe in unterschiedlicher terminologischer Gestalt umfassenden Interpretation gelegentlich die Schleiermachersche Terminologie verlassen werden und eine eigene Interpretationssprache 14 aufgesucht werden muß. Dieses unvermeidbare Verfahren erscheint freilich dann nicht mehr problematisch, wenn man sich daran erinnert, daß für Schleiermacher die jeweilige Terminologie keinesfalls sakrosankt, sondern „gleichgültig" 15 ist. Diese Notwendigkeit, eine eigene Interpretationssprache aufzusuchen, fand ihren ersten Niederschlag ja bereits in der Inanspruchnahme des Begriffes „Frömmigkeit" für das in Frage stehende Theoriestück. Schleiermacher selbst entfaltet dieses Stück in den Reden als Theorie der „Religion", in der Glaubenslehre als Theorie der „Frömmigkeit" und in der Dialektik als Theorie des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl". In allen drei Zusammenhängen geht Schleiermachers Bemühen dahin, die Eigenheit dieses Phänomens vor anderen Funktionen bzw. Gegenständen des Bewußtseins zu sichern. Dieser Sachverhalt kommt am deutlichsten und in reflektierter Weise 16 in dem Begriff „Frömmigkeit" zum Ausdruck, der noch am ehesten die intendierte Eigenständigkeit dieser Funktion des Bewußtseins betont. Denn den Begriff der „Religion" benutzt Schleiermacher in den Reden zur Bezeichnung dreier zwar zusammenhängender, aber doch 14
N u r so läßt sich die hier vertretene These von der strukturellen Kompatibilität der drei verschiedenen Ausführungen der Frömmigkeitstheorie entfalten. Zugegebenermaßen trägt die sprachliche Gestalt der Interpretation dabei streckenweise ein verhältnismäßig abstraktes, umständliches Gepräge - genau so abstrakt und umständlich, wie das diffizil verschränkte Gefüge der Schleiermacherschen Gedankenkonstruktionen. Aber darin besteht nach meiner Uberzeugung das Wesen der interpretierenden, zumal der rekonstruierenden wissenschaftlichen Sekundärliteratur, daß sie die untergründigen Verästelungen ihres Gegenstandes an die Oberfläche befördert - und dabei den Nachteil in Kauf nimmt, der primären Entfaltung des zu interpretierenden Theoriestückes an Eleganz nachzustehen.
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Dial 1814/15, Tl.l § 133.3 D A 2 27 (DJ 76) Den Sprachgebrauch der Begriffes „Frömmigkeit", den Schleiermacher vorfand und dem er sich in kritischer Weise anschloß, zeichnet Weymann: Glaube 2 6 - 3 2 nach.
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zu unterscheidender Sachverhalte: Erstens dient er der Benennung der individuellen Ausgerichtetheit des subjektiven Bewußtseins (im Sinne von „Religiosität"), zweitens dient er der Bezeichnung der verschiedenen empirisch vorfindlichen religiösen Gemeinschaftsbildungen (im Sinne der „positiven Religionen") und drittens dient er gelegentlich auch im umfassenden Sinne der Bezeichnung des überindividuellen, geistig-kulturellen Phänomens (im Sinne des „allgemein Religiösen"). 17 Ein vergleichbares Problem begleitet den Begriff des Gefühls. Denn einmal abgesehen von der grundsätzlichen interpretatorischen Schwierigkeit, einen umgangssprachlich mit einem sehr weiten Sinn unterlegten Ausdruck zur Bezeichnung einer präzise bestimmten Funktion des Bewußtseins einzuführen, verbietet auch in diesem Falle Schleiermachers eigener Sprachgebrauch eine solche Wahl: Die in der Glaubenslehre und in der Dialektik unter anderem als „Gefühl" präzisierte Funktion des Bewußtseins wird in den Reden als „Religion" bezeichnet und ist als solche durch zwei „Anschauung" und „Gefühl" genannte Subfunktionen bestimmt. Ohne den unten zu liefernden Ausführungen vorgreifen zu wollen, muß schon hier darauf hingewiesen werden, daß mir der Gefühlsbegriff dieser seiner unterschiedlichen Systemstelle halber nicht als zusammenfassender Begriff zu taugen scheint. Dagegen bringt der Begriff der Frömmigkeit von Anfang an zumindest eines zum Ausdruck: daß es sich um eine unverwechselbare, souveräne Funktion des Bewußtseins handelt. Und in der Tat hat Schleiermacher selbst sich (zumindest in innertheologischen Zusammenhängen) im Laufe der Zeit erstens mehr und mehr von dem Programmbegriff der Reden abgewendet18 und zweitens auch gelegentlich die Erläuterungsbedürftigkeit des Gefühlsbegriffs thema17
Alle drei Bedeutungen finden sich z . B . in einem Teilsatz aus der fünften Rede nebeneinander: „Wollt Ihr von der Religion [im Sinne des „allgemein Religiösen"] nicht nur im Allgemeinen einen Begrif haben, und es wäre ja unwürdig, wenn Ihr Euch mit einer so unvollkommenen Kenntniß begnügen wolltet: wollt Ihr sie auch in ihrer Wirklichkeit und in ihren Erscheinungen [im Sinne der „positiven Religionen"] verstehen: wollt Ihr diese selbst mit Religion [im Sinne der „Religiosität"] anschauen als ein ins Unendliche forgehendes Werk des Weltgeistes ( . . . ) " (R 1 242 = K G A 1/2, 296,13-18). - Zur Problematik des Religionsbegriffes vgl. auch unten S. 258 Anm. 288.
18
So ersetzt Schleiermacher bereits in der Zweitauflage der Reden den Begriff „Religion" häufig durch den Begriff „Frömmigkeit": Vgl. z . B . R 2 (1806), ed. Pünjer 1 l , 4 4 f mit R 14 = K G A 1/2, 195,4f; R 2 (1806), ed. Pünjer 114,44 mit R 1 116 = K G A 1/2, 240,2; R 2 (1806), ed. Pünjer 164,42 mit R 1 157 = K G A 1/2, 258,3; R 2 (1806), ed. Pünjer 196,46 mit R 1 200 = K G A 1/2, 277,5; R 2 (1806), ed. Pünjer 208,36 mit R 1 219 = K G A 1/2, 285,11. Siehe zu den Gründen für die Substitution auch R 3 (1821), ed. Pünjer 31 (Erläuterung N r . 6 zur ersten Rede); C G 1 § 6 Anm. =
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tisiert 19 , um anderwärts dem Begriff der Frömmigkeit den Vorzug zu geben 20 . Indem ich diesen Begriff hier also aufnehme, folge ich zunächst der Schleiermacherschen Vorliebe für diesen Ausdruck im innertheologischen Zusammenhang. Daß aber überhaupt ein einziger Begriff zur Bezeichnung des dem Religionsbegriff der Reden, dem Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls der Glaubenslehre und dem Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins der Dialektik zugrundeliegenden, meines Erachtens einheitlichen Sachverhaltes dienen kann, soll darüber hinaus dann auch als Ausdruck der Leitthese dieser Arbeit verstanden werden.
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K G A 1/7.2, 20,17-22; C G 1 § 12.3 = K G A 1/7.1, 42,24-43,30; C G 2 § 6 Zs., Bd. I, 45,21-47,6. C G 1 § 8 A n m . = K G A 1/7.1, 26,4-20; C G 2 § 3.2, Bd. I, 16,9-17,10; Dial 1822 (Ns), LI. Stunde, D O 287,12-15 So außer in der Glaubenslehre auch in der Philosophischen Ethik, der K u r z e n D a r stellung, der Praktischen Theologie und der Christlichen Sittenlehre.
Erstes Kapitel Grundzüge des Gesamtsystems I. Einleitung A. Thema, Ziel und Methode des Kapitels In der Schleiermacher-Forschung jüngeren Datums herrscht im wesentlichen Einigkeit darüber, daß sich die einzelnen Teile und der umfassende Rahmen des Schleiermacherschen Denkens einem einheitlichen systematischen Konzept verdanken. Anders als noch vor etwa dreißig Jahren ist heute weitgehend unbestritten, daß das Schleiermachersche Gesamtwerk trotz seines fragmentarischen Charakters nur in jenem geschlossenen Gesamtzusammenhang zu verstehen ist, der geradezu als Schleiermachers „philosophisch-theologische[s] Systemf]" 1 bezeichnet werden kann. Dabei hat die Einsicht in die systematische Gestalt des Ganzen sich zwar nur vergleichsweise langsam durchsetzen können - es darf aber nicht vergessen werden, daß in früheren E p o chen der Forschungsgeschichte prinzipiell umstritten war, ob Schleiermacher überhaupt als „ .Systembildner' " 2 würde ernst genommen werden können. Unübersehbar war der rein äußerliche Unterschied zu den Absolutheitsansprüchen in den majestätischen Systemtheorien der Schleiermacherschen Zeitgenossen; unüberhörbar klang den ersten Interpreten auch die Polemik des Redners gegen die „Systemsucht" 3 seiner Zeit in den Ohren. Erst seit W. Diltheys Forschungen konnte am generellen systematischen Zusammenhang und an der generellen systematischen Einheit des Schleiermacherschen Werkes kein Zweifel mehr bestehen. 4
1 2
Vgl. den Untertitel v o n Birkner: Christliche Sittenlehre Scholtz: Philosophie Schleiermachers 64
3
R 1 64 = K G A 1/2, 217,20
4
Vgl. den forschungsgeschichtlichen U b e r b l i c k bei Scholtz: Philosophie Schleiermachers 9-44
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
Mit der A n e r k e n n u n g der systematischen Gestalt des Schleiermacherschen Werkes verband sich bald die Einsicht, daß als die organisierende Mitte dieses Werkes Schleiermachers K o n z e p t i o n v o m Z u s a m m e n h a n g der Wissenschaften 5 anzusehen ist. 6 D e n n in Ubereins t i m m u n g mit seinen philosophischen Zeitgenossen entwickelt Schleiermacher die Theorie der „objektiven gedankenmäßigen Gliederung des W e l t z u s a m m e n h a n g e s " 7 als Theorie der Einheit und des Z u s a m menhanges allen Wissens. I m System der Wissenschaften drückt sich also Schleiermachers eigene „allgemeine[] Ansicht des menschlichen Geistes, seiner Functionen und Producte und ihrer Verhältnisse" 8 aus. D a r ü b e r , daß ein solches universales „ S y s t e m " im O r g a n i s m u s der Wissenschaften repräsentiert ist, ist ebenfalls in den letzten dreißig Jahren weitgehendes Einverständnis erzielt worden. Seitdem H . - J . Birkner eine systematische Rekonstruktion des O r g a n i s m u s der Wissenschaften als Beschreibung der systematischen Voraussetzungen von Schleiermachers Christlicher Sittenlehre vorgelegt hat 9 , hat sich die D e u t u n g des O r g a n i s m u s der Wissenschaften als der Mitte des philosophisch-theologischen Gesamtsystems in mehrfacher H i n sicht bestätigt. Dies gilt für die sich mit der Wissenschaftssystematik selbst direkt befassenden Interpretationen 1 0 genauso wie für die Darstellungen einzelner wissenschaftlicher Disziplinen des Schleiermacherschen Werkes: 1 1 Die einzelne Wissenschaft ist nur dann 5
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9 10 11
Der Schleiermachersche Begriff der Wissenschaft bezeichnet also zunächst ganz allgemein die Form der natürlichen Organisation des Wißbaren und darf nicht mit dem gemeinsprachlichen Begriff der vier an der traditionellen Universität in Fakultäten organisierten Wissenschaften verwechselt werden. Diese zuletzt genannte Unterscheidung wird erst an sehr viel späterer Systemstelle virulent, nämlich in der Unterscheidung zwischen den (in der philosophischen Fakultät zusammengefaßten) reinen bzw. realen und den (zweckabgestimmt auf die übrigen Fakultäten verteilten) positiven Wissenschaften (vgl. GelGed, SW I I I / l , 582,30-583,7; 584,27-30. Theol. Enzyklopädie 1,14-19). Ist im folgenden und bis in die Darstellung des Systems der Wissenschaften hinein (vgl. unten S. 95ff) also von „Wissenschaft" die Rede, so ist stets die erste, allgemein weite Bedeutung von „Wissenschaft" gemeint. Diese bereits 1868 von A. Twesten (Twesten: Zur Erinnerung bes. 10-30) vorgetragene Auffassung ist zuerst von H. Süskind (Süskind: Einfluß 49-56.80.175f u.ö.) ausführlich begründet worden. Dilthey: LS I I / l , 63 So eine frühe, sich auf Schlegel beziehende System-Definition Schleiermachers in Briefe IV 54,29-31 vom 4. Januar 1800 an Brinkmann Birkner: Christliche Sittenlehre 30-64 Weber: Wissenschaftsbegriff; Herms: Herkunft; Scholtz: Geisteswissenschaften So z.B. in der Interpretation der Ästhetik (Lehnerer: Kunsttheorie; Scholtz: Musikphilosophie), der Hermeneutik (Rieger: Interpretation) oder der Philosophischen Theologie (Rössler: Programm der Philosophischen Theologie)
I. Einleitung
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vollständig dargestellt, wenn ihre Ableitung aus dem System der Wissenschaften referiert ist. Aber auch disziplinenübergreifende, an Sachthemen oder Sachbegriffen orientierte Interpretationen12 gewinnen ihre Vollständigkeit erst durch die Lokalisierung ihres Gegenstandes im Gesamtsystem. In diesem Vorgehen knüpft die SchleiermacherForschung an Schleiermacher selbst an, der die Darstellung einer einzelnen Wissenschaftsdisziplin ebenfalls mit einer Ableitung der Einzelwissenschaft aus dem Gesamtzusammenhang der Wissenschaften begann13 und diese Regel mit dem sich im Wissenschaftssystem abbildenden Zusammenhang allen Wissens überhaupt begründete.14 Jeder Versuch, die Schleiermacher-Interpretation in sachgemäßer Weise mit der Anknüpfung an das System der Wissenschaften einsetzen zu lassen, sieht sich dabei aber der methodischen Schwierigkeit gegenüber, daß Schleiermacher das System der Wissenschaften nicht in einem einzigen wissenschaftlichen Zusammenhang ausführlich thematisiert hat, sondern in unterschiedlichen Zusammenhängen und mit dem Bezug auf den jeweiligen Kontext entfaltet hat. Auf diese Beziehungen gehe ich im einzelnen unten ein15 - hier möchte ich ein grundsätzliches Problem des fragmentarischen Charakters, in dem das Wissenschaftssystem überliefert ist, ansprechen. Es betrifft zunächst die Technik der Interpretation selbst: Die bruchstückhafte Uberlieferungsgestalt des Organismus der Wissenschaften stellt die Interpretation vor die Aufgabe der Rekonstruktion dieses Systems.16 Bietet Schleiermachers materiale Darstellung einer Einzelwissenschaft17 oder eines einzelnen Wissensgebietes18 in der Regel eine möglicherweise knappe, aber sachlich vollständige Entfaltung des jeweiligen Teilgebietes, so können die das Wissenschaftssystem selbst entfaltenden Passagen kaum mehr als Hinweise auf die von Schleiermacher vorausgesetzten wissenschaftssystematischen Zusammenhänge geben, die 12
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So z.B. die Untersuchung Gräbs zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers (Grab: Humanität 16-26) So z.B. in der Darstellung der Ästhetik (Asthetikvorlesung von 1819/25, A L e 5 - 1 1 [III-VIII]), der Pädagogik (Pädagogikvorlesung von 1813, vgl. S W III/9, 585-593 [l.-7.Stunde]); vgl. auch GelGed, S W III/l, 580-602 Vgl. GelGed, S W III/l, 539 S.u. S. 66ff Vgl. Birkner: Theologie und Philosophie 20f Vgl. z.B. den Abriß der drei theologischen Disziplinen in der „Kurzen Darstellung" (KD 2 §§ 32-338) Vgl. z.B. die Ausführungen über den Begriff der Tugend oder den Begriff der Pflicht in den entsprechenden Akademieabhandlungen (SW III/2, 350-378 und 379-396)
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Erstes Kapitel: G r u n d z ü g e des G e s a m t s y s t e m s
es begründet zu erschließen gilt. F ü r die hier vorzulegende Darstellung der Schleiermacherschen Frömmigkeitstheorie heißt das im einzelnen: Wird meine D e u t u n g in den Kapiteln 2-4 im wesentlichen den durch die jeweiligen Quellentexte vorgegebenen Schwerpunkten folgen können, so werden Auswahl und O r d n u n g der in diesem K a pitel zu gebenden systematischen Grundlagen sehr viel stärker durch das Ziel dieser Grundlagenerörterung, die H i n f ü h r u n g zu dem wissenschaftssystematischen F u n d a m e n t der Frömmigkeitstheorie, mitbestimmt sein müssen. 1 9 D a m i t betrifft das angesprochene Problem der fragmentarischen Uberlieferungsgestalt aber auch den Begriff des Systems selbst. D e n n soll der O r g a n i s m u s der Wissenschaften tatsächlich die prätendierte „ G e s a m t s c h a u des Wissensreiches" 2 0 enthalten können, so wird man davon ausgehen müssen, daß er nicht nur die Z u s a m m e n o r d n u n g der Wissenschaften enthält, sondern daß sich in ihm auch die Gründe f ü r diese O r d n u n g des Wissensreiches ausdrücken. A n d e r s gesagt: M a n darf das S y s t e m der Wissenschaften nicht nur - von unten - als höchstes Organisationsprinzip der mannigfaltigen Einzelwissenschaften betrachten, sondern man muß in ihm auch - von oben - den A u s d r u c k der Idee des Wissens selbst erkennen können. D i e Idee des „Systems der Wissenschaften" muß also - trotz der faktisch unvollständigen A u s f ü h r u n g s g e s t a l t des Systems - so weit und genau gefaßt werden, daß sich aus ihr auch die Systembegründung selbst ablesen lassen kann. Z u r Rekonstruktion des Wissenschaftssystems gehört eine R e k o n s t r u k t i o n v o n dessen Ermöglichungsbedingungen - denn das System muß seine eigenen Ermöglichungsbedingungen erkennen lassen. D a s S y s t e m der Wissenschaften kann nur dann k u r z als „Vierers c h e m a " 2 1 b z w . „ F ü n f e r s c h e m a " 2 2 bezeichnet werden, wenn in dieser A b k ü r z u n g deutlich Inbegriffen ist, daß es eine A b b i l d u n g seiner eigenen B e g r ü n d u n g und eine A b b i l d u n g seiner eigenen Methode umfaßt. U m den konstitutiven B e z u g des O r g a n i s m u s der Wissenschaften auf seine eigenen Ermöglichungsbedingungen zu akzentuieren, läßt sich
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D a s von Schleiermacher geübte Verfahren, die Systemdarstellung nur in z w e c k g e bundenen Z u s a m m e n h ä n g e n und in einer durch das konkrete Ziel bestimmten Weise v o r z u n e h m e n , bildet sich damit auf der E b e n e der Interpretation wieder ab. Birkner: Christliche Sittenlehre 30 Birkner: Christliche Sittenlehre 33 H e r m s : Ethik des Wissens 472
I. Einleitung
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diese Rekonstruktion daher auch als Rekonstruktion des „Gesamtsystems" bezeichnen. 23 Ich möchte in diesem Kapitel also die These begründen, daß Schleiermachers System der Wissenschaften sich aus der Idee des Wissens selbst ableiten läßt. Denn in der Idee des Wissens selbst liegt einerseits die Idee des höchsten Gegensatzes als notwendige Bedingung der Ubereinstimmung des Wissens mit dem Sein. Und ebenfalls in der Idee des Wissens selbst liegt andererseits die methodische Figur des doppelten, relativen Gegensatzes, die Schleiermacher als Regel zur Wissensproduktion vorstellt. Bezieht man nun diese regelhafte Figur des doppelten, relativen Gegensatzes auf die Idee des höchsten G e gensatzes, so lassen sich aus der Idee des höchsten Gegensatzes die reinen Wissenschaften entwickeln. Die vollständige Organisation des Wissens in reinen Wissenschaften läßt sich so also auf einem in der Idee des Wissens selbst liegenden Wege, im spekulativen Verfahren, aus der Idee des Wissens selbst ableiten. Eine Ordnung des Wissens läßt sich aber andererseits auch auf einem zweiten in der Idee des Wissens selbst liegenden Wege, nämlich im empirischen Verfahren, herstellen. Diese Ordnung ist durch die im geschichtlichen Verlauf sich ergebenden Bedürfnisse bestimmt - sie kann also entsprechend der Unabgeschlossenheit der Geschichte zwar keine Vollständigkeit beanspruchen, ist aber zur Lösung von im Geschichtsverlauf sich ergegebenden funktionalen Aufgaben unverzichtbar. Der Leitgesichtspunkt dieser Ordnung ist die Zweckmäßigkeit des Wissens, die unter diesem Gesichtspunkt zusammengestellten Wissenschaften werden als „positive Wissenschaften" zusammengefaßt. Zur Begründung dieser Leitthese möchte ich in diesem Kapitel folgendermaßen vorgehen: Im nächsten Abschnitt (II) werde ich zunächst 23
Die Problematik eines zu eng gefaßten Systembegriffes wird in der Untersuchung Lehnerers (Lehnerer: Kunsttheorie 13-89) deutlich. Lehnerer unterscheidet im Rahmen der „philosophischen Grundlagen [der Kunsttheorie]" (a.a.O. 13) die „Wissenschaftstheorie" (a.a.O. 15), in deren Bereich das Organisationsprinzip der reinen Wissenschaften fällt, von der „Systemtheorie" (a.a.O. 42), in deren Bereich die Begründung für dieses Organisationsprinzip aus der Idee des Zusammenhanges zwischen Wissen und Sein fällt. Die „Systemtheorie" wird dann ihrerseits im „Absolutefn] Abhängigkeitsgefühl - der Grund des Gesamtsystems" (a.a.O. 63) fundiert. In dieser Dreiteilung ist aber der sachliche Rang des Organisationsprinzips der reinen Wissenschaften unterbestimmt - dessen Funktion wird faktisch durch die „philosophischen Grundlagen" übernommen. Tatsächlich wird in der materialen Durchführung der Lehnererschen Interpretation dann m.E. auch nicht mehr deutlich, daß das Organisationsprinzip der Einzelwissenschaften mehr als ein bloßes Ordnungsschema ist, insofern es selbst seine eigene Ableitung und seine eigene Begründung abbildet.
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Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des G e s a m t s y s t e m s
die methodische Figur des doppelten, relativen Gegensatzes vorstellen, die nicht nur als das wesentliche Kennzeichen der Schleiermacherschen Methode gelten muß, sondern die vor allem auch in der Herleitung des Systems der Wissenschaften zum Zuge kommt. Im darauf folgenden Abschnitt (III) werde ich dann zu zeigen versuchen, inwiefern das System der Wissenschaften sich in methodisch kontrollierter Weise aus der Idee des Wissens selbst ergibt (B-D) und werde den Aufbau des Systems der reinen Wissenschaften referieren (E). Daran muß sich die Darstellung der positiven Wissenschaften anschließen, um erstens die Stellung der Theologie im System der Wissenschaften und zweitens deren inneren Aufbau zu verdeutlichen (F). Weil ich dabei aber, des fragmentarischen Charakters der Schleiermacherschen Systementfaltung und des rekonstruktiven Charakters meiner Interpretation halber, Quellentexte aus den verschiedensten Zusammenhängen und aus den verschiedensten Entwicklungsstadien in Anspruch nehmen muß, will ich hier nun zunächst das hauptsächliche Quellenmaterial für dieses Kapitel vorstellen. B. Die Zusammenstellung der Quellentexte des Kapitels Als grundlegende Textquellen dieses ersten Kapitels werde ich hauptsächlich auf die Dialektik und die Einleitung in die Philosophische Ethik zurückgreifen müssen. Ein Uberblick über diese Textkomplexe ist aus zwei Gründen schwer zu gewinnen: Beide Textblöcke liegen bekanntlich in mehreren verschiedenen, nur teilweise aufeinander aufbauenden, sich gelegentlich überschneidenden, modifizierenden, ergänzenden und teils gar von fremder Hand nachgeschriebenen Fassungen vor - und beide Textblöcke liegen in mehreren verschiedenen, unterschiedlich zuverlässigen Editionen vor. D a ich in der hier vorliegenden systematisch, nicht genetisch verfahrenden Interpretation immer wieder auf alle verschiedenen Entwürfe von Ethik und Dialektik zurückgreifen muß, scheint mir eine einleitende Auflistung der zu berücksichtigenden Fassungen und Editionen zweckmäßig zu sein. Auf die Datierung und den Zweck, die Gestalt und die Dignität der verschiedenen Entwürfe und Editionen gehe ich dabei nicht ein - dazu ist auf die eine vorzügliche erste Ubersicht bietenden Einführungen von H.-J. Birkner (zur Ethik) 2 4 und von A. Arndt (zur Dialektik) 2 5 zu verweisen. Mir geht 24
Birkner: Einleitung in EB2 und (im ersten, allgemeinen Abschnitt V I I - X X I I , 1 8 textund seitengleich): Birkner: Einleitung in E B ]
I. Einleitung
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es in der nachstehenden Liste lediglich um eine technische Hilfe in der gegenwärtig noch unübersichtlichen Manuskript- und Editionslage. (1.) Die Dialektik. Hier sind insgesamt sechs verschieden umfängliche Konvolute, die von Schleiermacher zur Edition vorgesehene Einleitung nebst Vorarbeiten und das sich auf die ersten drei Fassungen beziehende Notizheft in insgesamt fünf maßgeblichen (Teil-) Editionen26 zu unterscheiden. Im folgenden fasse ich die Komplexe zusammen, anmerkungsweise verzeichne ich - je gegebenenfalls - die Nachlaß-Nummer des Akademiearchivs, die gegenwärtig maßgeblichen Abdruckorte, ausgewählte Verweise auf ausführlichere textkritische Beschreibungen der Texte und (strittigenfalls) Kurzverweise auf Datierung und Bezugspunkte einzelner Texte. 1.) Der zusammenfassend „Dialektik 1811" benannte Komplex umfaßt: a) Schleiermachers Notizen zur 12.-49. Vorlesungsstunde der Dialektik-Vorlesung 1811. 2 7 b) Die Nachschrift der l . - l l . Vorlesungs25 26
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Arndt: Einleitung in D A j und Arndt: Einleitung in DA2 Der Übersichtlichkeit halber seien diese Editionen als Auszug aus dem Literaturverzeichnis hier aufgelistet: - (F.D.E. Schleiermacher:) Dialektik. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse hg. v. L. Jonas, (= SW IH/4,2; zugleich Literarischer Nachlaß. Zur Philosophie 2,2), Berlin 1839 (Abk.: DJ) - Friedrich Schleiermachers Dialektik. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften aufgrund bisher unveröffentlichten Materials hg. v. R. Odebrecht, Leipzig 1942 (Abk.: D O ) - Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Dialektik (1811), hg. v. A. Arndt (PhB 386), Hamburg 1986 (Abk.: D A i ) - Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Dialektik (1814/15). Einleitung zur Dialektik (1833), hg. v. A. Arndt (PhB 387), Hamburg 1988 (Abk.: D A 2 ) - Beilage G und Η der Dialektik von Friedrich Schleiermacher. Zur Ergänzung der Jonas'schen Ausgabe aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse hg. v. Bruno Weiß, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik (ZPPK) 73 (1878), Anhang S. 1-43 (Abk.: DW). Die notwendigen historischen und editorischen Bemerkungen zu diesem Abdruck gibt Weiß separat im Hauptteil des Halbbandes (Weiß: Untersuchungen 13-31). Weitere Teileditionen sind bei Arndt: Einleitung in DAi LXXVII und Arndt: Einleitung in DA2 XXVII aufgeführt. Sie sind jedoch durch die o.g. Editionen überholt, werden auch z u m Gebrauch älterer Sekundärliteratur in der Regel nicht mehr benötigt und sind daher der besseren Übersichtlichkeit halber hier auch nicht mehr nachgewiesen. SN 101, abgedruckt in DJ 315-361 als Beilage Α und in DA, 21-59; von Arndt: Einleitung in D A , XLIX (Nr.2) und a.a.O. LXVIIf beschrieben.
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
stunde und des Schlusses der Dialektik-Vorlesung 1811 aus der Feder A. Twestens. 28 2.) Der zusammenfassend „Dialektik 1814/15" benannte Komplex besteht in dem von Schleiermacher „Dialektik 1814" betitelten Notizheft ohne Schleiermachers spätere Randbemerkungen. 29 2a.) Die sich am Rand des oben unter Nr. 2 genannten Heftes „Dialektik 1814" findenden Randbemerkungen Schleiermachers beziehen sich vermutlich größtenteils auf die Vorlesungen 1818/19 und 1828 3 0 . 3.) Der zusammenfassend „Dialektik 1818" benannte Komplex umfaßt: a) Fünfzehn Zettel Schleiermachers zur Vorlesung 1818/19 3 1 . (Sie beziehen sich auf das oben unter Nr. 2 genannte Notizheft „Dialektik 1814".) b) Von L. Jonas besorgte Auszüge aus Vorlesungsnachschriften einiger summarisch genannter 32 Kolleghörer der Vorlesung 1818/19. 3 3 4.) Das „Notizheft zur Dialektik (1811-1818)" benannte, von Schleiermacher „Zur Dialektik 1814" überschriebene Notizheft beinhaltet Eintragungen, die sich im wesentlichen auf die Vorlesung 1811 3 4 beziehen dürften. 35 5.) Der zusammenfassend „Dialektik 1822" benannte Komplex umfaßt: a) Schleiermachers Notizheft zur 1.-59 Vorlesungsstunde 28
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Abgedruckt in DA) 3-20.61f; von Arndt: Einleitung in DA! L X V I I I - L X X beschrieben. SN 102, abgedruckt in DJ 1-309 als Grundtext und in DA 2 3-116; von Arndt: Einleitung in DA2 X I X - X X I I beschrieben. So Weiß: Untersuchungen 14ff und bes. 22-25; und Odebrecht: Einleitung in D O , X X V I I I f . Die Randbemerkungen sind von L. Jonas nur unvollständig und mit unsicheren Zuweisungen teils im Haupttext, teils im Anmerkungsapparat DJ 1-309 untergebracht worden. Sowohl vollständige Edition als auch abschließende Datierung stellen ein dringendes Desiderat dar: vgl. Arndt: Einleitung in DA2 X X I I . SN 104, abgedruckt in DJ 362-369 als Beilage B, von Arndt: Einleitung in DA t L (Nr.3) beschrieben. L. Jonas: Vorwort des Herausgebers. In: DJ X f Ohne nähere Verfasserangaben, ohne Hinweise auf die Auswahlprinzipien, ohne Hinweise auf kontraktive Eingriffe des Herausgebers und ohne Hinweise auf die ursprüngliche Stoffanordnung als Hauptmasse des fakultativ ergänzenden Anmerkungsapparates zum Grundtext abgedruckt in DJ 1-310. Vgl. Arndt: Einleitung in DA| L X X - L X X I I I SN 103, abgedruckt in DA, 63-79 und in D W (Anhang S. 1-18) als Beilage G; von Arndt: Einleitung in DA] L X X - L X X I V und Weiß: Untersuchungen 13-31 beschrieben. Arndt gibt auch eine Erklärung für die verwirrende Bezugnahme auf drei verschiedene Vorlesungen: „Faßt man die archivalischen und inhaltlichen Beobachtungen zusammen, so ergibt sich der Schluß, daß die Nr. 13-171 zur Vorlesung 1811 gehören und die beiden Bogen mit den Notizen zu den Vorlesungen 1814 und 1818 lediglich als Umschlag zur Aufbewahrung der früheren Notizen dienten." (Arndt: Einleitung in DA) LXXIII,18-23; Hervorhebung im Original)
I. Einleitung
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der Vorlesung 182 2 3 6 . (Es nimmt durchgängig auf die Paragraphen des oben unter Nr. 2 genannten Notizheftes „Dialektik 1814" Bezug.) b) Die von R. Odebrecht aus vier näher beschriebenen Kollegnachschriften der Vorlesung 1822 zu einem Haupttext kontrahierte 37 Nachschrift der Vorlesung 182 2 3 8 . c) Von L. Jonas angefertigte Auszüge einiger summarisch genannter 39 Hörermitschriften der Vorlesung 1822 4 0 . 6.) Der zusammenfassend „Dialektik 1828" benannte Komplex umfaßt: a) Schleiermachers für die Vorlesung 1828 angefertigten, in das oben unter Nr. 5 a aufgeführte Heft eingetragenen Randnotizen 4 1 , b) Von L. Jonas erstellte Auszüge aus den Kollegnachschriften 42 der Vorlesung 1828 4 3 . 7.) Der zusammenfassend „Dialektik 1831" benannte Komplex umfaßt: a) Einunddreißig Zettel Schleiermachers mit Aufzeichnungen zur 7.-61. Stunde der Vorlesung 1831 4 4 . b) Schleiermachers Notizen zu den §§ 62-82 der Vorlesung 1831, enthalten in dem oben unter Nr. 5 a aufgeführten Heft der Vorlesung 1822 4 5 . c) Wiederum einige von
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SN 105, abgedruckt in DJ 370-441 als Beilage C und in D O 48-337 als laufender Begleittext zu dem aus Vorlesungsnachschriften kompilierten Haupttext gegeben. Von Odebrecht: Einleitung in D O XXVII (Abs.C) und Arndt: Einleitung in D A ] L (Nr.5) beschrieben. Vgl. die Hinweise auf Auswahlprinzipien in D O 487 und Nachschriftvarianten in D O 487-544 (Anhang II) In D O 47-464 als Haupttext abgedruckt. (Das fragwürdige Verfahren Odebrechts gehorcht Odebrechts eigener Auskunft zufolge den „aus dem Geist der .Dialektik' sich ergebenden Editionsprinzipien" [Odebrecht: Einleitung in D O XIX], die für den Editoren die Aufgabe vorsehen, nicht als „Vollzieher eines philologischen Geschäfts, durch das ein Konvolut von verstaubten Zetteln zur allgemeinen Kenntnis gebracht wird" zu fungieren, sondern als „Vermittler und Neugestalter eines philosophisch bedeutsamen Sprachgeschehens" [a.a.O. XXII] sich an den Texten zu betätigen.) S.o. Anm. 32. N u r im Falle einer einzigen Quelle (Heft Klamroth) ergibt sich eine Uberschneidung mit den von Odebrecht zugrundegelegten Nachschriften. Wiederum als fakultativ ergänzende Anmerkungen zum Grundtext abgedruckt in DJ 40-312. Also zu SN 105 gehörig; abgedruckt in DJ 442-479 als Beilage D, von Arndt: Einleitung in D A ) L (Nr.5) beschrieben. S.o. Anm. 32 Anmerkungsweise zum Grundtext abgedruckt in DJ 40-175 SN 108, abgedruckt in DJ 482-542 als erster Teil der Beilage E, von Arndt: Einleitung in D A ] LI (Nr.6) beschrieben. Also zu SN 105 gehörig, abgedruckt in DJ 542-567 als zweiter Teil der Beilage E, von Arndt: Einleitung in DAi Lf (Nr.5) beschrieben.
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
L. Jonas verfertigte Auszüge aus den Vorlesungsnachschriften 46 der Vorlesung 1831 4 7 . 8.) Der zusammenfassend „Einleitung in die Dialektik 1833" benannte Komplex 4 8 umfaßt: a) zehn Blätter Schleiermachers mit dem zusammenhängenden Entwurf zur letzten Einleitung in die Dialektik 4 9 . b) Sechzehn Blätter Schleiermachers mit der Reinschrift zur Einleitung 50 . c) Sieben Blätter Schleiermachers mit Vorarbeiten zu o.g. Entwurf und Reinschrift der Einleitung 51 .
(2.) Die Philosophische
Ethik.
Hier sind insgesamt zehn - verschiedene Teilthemenbereiche betreffende - Fassungen aus Schleiermachers Feder in drei maßgeblichen (und zwei fallweise zu Rate zu ziehenden) (Teil-)Editionen 52 zu unterscheiden. 53 Im folgenden liste ich die Einzelentwürfe - wo möglich, unter der Schleiermacherschen Uberschrift 5 4 , andernfalls un46 47 48
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S.o. Anm. 32 Als Ergänzungsapparat zum Grundtext abgedruckt in DJ 38-302 Zur Datierung des Gesamtkomplexes ist folgendes zu bemerken: A. Arndt hat überzeugend nachgewiesen, daß Schleiermachers Arbeiten an dieser letzten Einleitung wesentlich in das Jahr 1832 zu datieren sind und 1833 bestenfalls eine Fortsetzung erfuhren (Arndt: Einleitung in DA2 XXIII-XXV, vgl. auch ders., Einleitung in: D A ] LIf [Anm. 100]). Arndt führt die (unten unter Nr. 8b genannte) Reinschrift und auch den gesamten Komplex gleichwohl unverändert unter der traditionellen Datierungsfirma „1833" (vgl. DA2 Deckblatt, Illf [Inhaltsverzeichnis], XIV [Nr.7]; XIV,29; XXIII,1; 117 [Überschrift]), worin ich ihm der Übersichtlichkeit halber also folge. SN 106/1. Der § 2 der Entwurfsfassung ist abgedruckt in DJ 604-609 als Anhang der Beilage F und in D O 37-44. Die Abweichungen des vollständigen Textes von der Reinschrift der Einleitung (s.u. Nr.8b) sind abgedruckt in D O 471-480. Vollständig abgedruckt in D W 22-40 als Beilage Hd. Bei Arndt: Einleitung in DAi LI (Nr.7), D O 471 und Weiß: Untersuchungen 25 vom jeweiligen Herausgeber beschrieben. S N 106/2, abgedruckt in DJ 568-604 als Beilage F und in DA 2 117-151. Von Arndt: Einleitung in D A 2 XXIII-XXV und Arndt: Einleitung in D A j LI (Nr.7) beschrieben. (Ebenfalls abgedruckt in D O 5-37) SN 107, abgedruckt in DW 18-43 als Beilagen Ha, Hb, Hc, He und Hf; unter den nämlichen Siglen auch abgedruckt in D O 471-480. Von Weiß: Untersuchungen 25-27, D O 470f und Arndt: Einleitung in D A ] LI (Nr.8) von den jeweiligen Herausgebern beschrieben. Weiß (a.a.O., 25ff) stellt dabei fest, daß Ha, Hb und Hc Vorarbeiten zum (oben unter Nr. 8b genannten) Einleitungs-Entwurf Hd darstellen, während H e und Hf die (oben unter Nr. 8a genannte) Reinschrift vorbereiten. Auch hier gebe ich der Übersichtlichkeit halber einen Auszug aus dem Literaturverzeichnis. Maßgeblich sind gegenwärtig die folgenden Editionen: - Schleiermachers Werke. Zweiter Band: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, (d. i. Bd. 2 von: Fr. D. E. Schleiermacher: Werke, Auswahl in vier Bänden, hg. v. O. Braun und J. Bauer, Leipzig 1910-1913. 1927-1928 2 ) hg. v. O. Braun, Leipzig 1927 2 (Abk.: E)
I. Einleitung
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- Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/06). Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg. und eingeleitet v. H.-J. Birkner (PhB 334), Hamburg 1981 (Abk.: EB]) - Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg. und eingeleitet v. H.-J. Birkner (PhB 335), Hamburg 1981 (Abk.: EB
53
54
*) .
.
Die beiden letztgenannten Studienausgaben bieten (unten im einzelnen näher spezifiziert) die wichtigsten Entwürfe Schleiermachers zur Ethik als reprographische Wiedergabe der in der o.g. Ausgabe von O. Braun enthaltenen Texte. Insofern die Studienausgaben dabei die Textgestalt sowie Seiten- und Zeilenumbruch der Braunschen Ausgabe unangetastet lassen und auch am oberen inneren Seitenrand in Klammern die Seitenzahlen der Braunschen Ausgabe angeben, wird auf die in ihnen enthaltenen Ethik-Entwürfe Schleiermachers in der nachfolgenden Auflistung nur jeweils einmal summarisch verwiesen. Im Verlaufe der Untersuchung kann der Übersichtlichkeit halber auf den jedesmaligen Nachweis der Belegstellen in den Studienausgaben verzichtet werden, da der Nachweis nach der Braunschen Ausgabe also ausreichend scheint. (Darüber hinaus ist zu bemerken, daß beide Studienausgaben über eine ausführliche Einleitung des Herausgebers verfügen, die in ihrem ersten Teil auf den jeweiligen Seiten VII-XXII,18 text- und seitengleich ist. Wird im folgenden auf diesen übereinstimmenden Einleitungsteil verwiesen, so kürze ich „Birkner: Einleitung in EBj j " mit nachfolgender Seitenzahl ab.) Ebenfalls nur in der nachfolgenden Liste wird auf die in die Ethik-Editionen Schweizers und Twestens eingeflossenen Entwürfe Schleiermachers hingewiesen. Zwar kann weder die konglomeratische Ausgabe Schweizers noch die unvollständige Ausgabe Twestens (in ihren beiden Auflagen) Maßgeblichkeit beanspruchen (vgl. O. Brauns Einleitung in E, a.a.O. XIX-XXII und Birkner: Einleitung in EB1.2 XIIXIV), doch sind sie bei der Benutzung älterer, bedauerlicherweise auch mancher neuerer sich überwiegend auf diese Ausgaben beziehenden Sekundärliteratur unverzichtbar. Im einzelnen handelt es sich also um: - (F.D.E. Schleiermacher:) Entwurf eines Systems der Sittenlehre, hg. v. A. Schweizer (= SW III/5; zugleich Literarischer Nachlaß. Zur Philosophie 3), Berlin 1835 (Abk.: ES) - Friedrich Schleiermachers Grundriß der philosophischen Ethik, hg. v. A. Twesten, Berlin 1841 (Abk.: ET) - Friedrich Schleiermachers Grundriss der philosophischen Ethik (Grundlinien der Sittenlehre), herausgegeben 1841 von August Twesten. Neuer Abdruck besorgt von Fr. M. Schiele, Leipzig 1911 (Abk.: ET/S) (Diese Auflage ist ebenfalls aufzunehmen, da sie eine Umstellung der in ET verarbeiteten Entwürfe vornimmt.) Weitere, hier der Übersichtlichkeit halber unberücksichtigt bleibende EthikAusgaben bibliographiert Birkner: Einleitung in EBi X X X I X - X X X I (=Birkner: Einleitung in EB 2 XXXV-XXXVII). Die besondere Schwierigkeit der zweifelsfreien Identifizierung der einzelnen Fassungen beruht erstens auf Zusammenstellungs-, zweitens auf Bezeichnungs-, drittens auf Datierungsunsicherheiten in der Forschung; schließlich auch auf schlichter Kennzeichnungsverweigerung (vgl. z.B. ET 69f). Bis die historisch-kritische Edition hier die dringend wünschenswerte Klarheit geschaffen haben wird, kann auf eine summarische Aufstellung wie der nachfolgend dokumentierten nicht verzichtet werden. Bzw. in Übernahme randbemerkender, überschriftartiger Inhaltsangaben Schleiermachers, vgl. unten lfd. Nr. 6 mit Ε 423,15f
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Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des Gesamtsystems
ter einem inhaltskennzeichnenden Kurztitel - auf, gebe die Kurzcharakteristiken und Datierungsvorschläge H.-J. Birkners 55 wieder und setze eine für diese Untersuchung geltende Abkürzung fest. Anmerkungsweise ist dann für jeden Entwurf folgendes mitzuteilen: Die Nachlaßnummer; das Sigel in ES 56 ; gegebenenfalls der Abdruckort in ET; gegebenenfalls der Abdruckort in ET/S; die Kennziffer, die Datierung und der Abdruckort in E; gegebenenfalls der Abdruckort in EBi bzw EB2; gegebenenfalls auch Verweise auf ausführlichere Beschreibungen in EB] oder EB2. - Im einzelnen handelt es sich bei Schleiermachers Entwürfen zur Ethik also um: 1.) „Der Sittenlehre zweiter Teil. Die Tugendlehre". EB1.2, X V Nr.l: Vollständiger Entwurf der Tugendlehre. Vermutlich im Zusammenhang mit der Vorlesung von 1804/05 entstanden. Im folgenden als „Ethik (Tgl) 1804/05" gekennzeichnet.57 2.) „Brouillon zur Ethik 1805". E B 1 2 , X V Nr.2: Gesamtentwurf der Ethik, bis zum Anfang der Pflichtenlehre reichend. Manuskript der Vorlesung von 1805/06. Im folgenden als „Brouillon zur Ethik 1805/06" gekennzeichnet.58 3.) „Ethik". EB1.2, X V Nr.3: Vollständiger Entwurf der Einleitung und der Güterlehre. Im Zusammenhang mit der Vorlesung von 1812/1813 entstanden. Im folgenden als „Ethik (Einl u. Gtl) 1812/13" gekennzeichnet.59 4.) „..." (Tugend- und Pflichtenlehre). E B 1 2 , X V Nr.4: Tugendund Pflichtenlehre. Vollständiger Entwurf der Tugendlehre, Teilentwurf der Pflichtenlehre. Im Zusammenhang mit der Vorlesung von
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Vgl. Birkner: Einleitung in E B i 2, X V f
56
N a c h E S X l f . Die Wiedergabe erfolgt - trotz deren Uneindeutigkeit und Fragwürdigkeit - z u m einen, weil es die Z u o r d n u n g der in ES großenteils gesigelten Belege erleichtert; z u m anderen, weil vor allem die ältere Sekundärliteratur die Schweizerschen Sigel häufig z u r Kennzeichnung verwendet.
57
S N : 122; ES: „e"; E T : ohne A b d r u c k ; E T / S : ohne Abdruck; E : „ I " ( 1 8 0 4 / 0 5 ) , 3 3 - 7 4 ; E B 1 / E B 2 : ohne A b d r u c k
58
S N : 115; ES: „ d " ; E T : ohne A b d r u c k ; E T / S : ohne A b d r u c k ; E : „ I I " ( 1 8 0 5 / 0 6 ) , 7 5 2 3 9 ; E B , 1 - 1 6 3 ; v o n Birkner: Einleitung in E B ] X X I I - X X V I ausführlich beschrieben
59
S N : 116; E S : „ c " ; E T in zwei Teilen: erster Teil 2 4 3 - 3 0 1 (Anhang II), zweiter Teil 9 3 178; E T / S : 5 8 - 1 6 6 ; E : „ I I I " ( 1 8 1 2 / 1 3 ) , 2 4 1 - 3 7 1 ; E B 2 3 - 1 3 1 ; von Birkner: Einleitung in E B 2 X X I V - X X V I ausführlich beschrieben
I. Einleitung
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1812/13 entstanden. Im folgenden als „Ethik (Tgl u. Pfl) 1812/13" gekennzeichnet. 60 5.) „..." (Einleitung). E B u , XV Nr.5: Vollständige Neufassung der Einleitung von 1812/13. Vermutlich 1813 entstanden. Im folgenden als „Ethik (Einl) 1813(16)" gekennzeichnet. 61 6.) „Vorletzte Bearbeitung der Einleitung ins höchste Gut und des ersten Abschnitts". EB] 2, X V Nr.6: Neufassung des Anfangs der Güterlehre. Vermutlich 1814/15 entstanden. Im folgenden als „Ethik (Gtl) 1814/15(16)" gekennzeichnet. 62 7.) „..." (Pflichtenlehre). E B 1 2 , XVf Nr.7: Pflichtenlehre. Vollständiger Entwurf. Vermutlich 1814/15 oder 1816/17 entstanden. Im folgenden als „Ethik (Pfl) 1814f(16f)" gekennzeichnet. 63 8.) „Neuer Anfang der Ethik". EB,. 2 , XVI Nr.8: Vollständige Neufassung der Einleitung. Vermutlich 1816/17 entstanden. Da es sich um die letzte der drei Einleitungen handelt, im folgenden als „Ethik (Einl, l.B.)" gekennzeichnet. 64 9.) „Güterlehre. Lezte Bearbeitung". ΕΒι 2 , XVI Nr.9: Neufassung des Anfangs der Güterlehre. Vermutlich 1816/17 entstanden. Im folgenden als „Ethik (Gtl, l.B.) 1816/17" gekennzeichnet. 65 10.) Schließlich sind auch die für die Vorlesung 1832 entstandenen Anmerkungen und Ergänzungen zu den vorangegangenen Fassungen gesondert zu verzeichnen. Im folgenden sind sie als „Bemerkungen zur Ethik 1832" gekennzeichnet. 66
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SN: 121; ES: „b"; ET: 179-222; ET/S: 167-200; E: „IV" (1812/13), 373-420; EB 2 133-180; von Birkner: Einleitung in EB 2 XXIV-XXVI ausführlich beschrieben SN: 120; ES: „b" [Braun S.XVII Z.5 sieht dieses Manuskript von Schweizer S.XII Z.l-6 der um 1827 datierten Gruppe „a" zugeschlagen, was indes bei Schweizer a.a.O. gar nicht gemeint zu sein scheint]; ET: ohne Abdruck; ET/S: ohne Abdruck; E: „VII" (1816), 485-511; EB,/EB 2 : ohne Abdruck SN: 118; ES: „b"; ET: bietet 69-71 drei Paragraphen; ET/S: dito 42-44; E: „V" (1814/16), 421-455; EB,/EB 2 : ohne Abdruck SN: 123; ES: „c"; ET in zwei Teilen: erster Teil 227-242 (Anhang I), zweiter Teil 223-226; ET/S: 202-216; E: „VI" (1814/16), 457-484; EB 2 297-324; von Birkner: Einleitung in EB 2 XXX ausführlich beschrieben SN: 117; ES: „a"; ET: (nur Leitsätze) 3-37; ET/S: dito 1-22; E: „VIII" (1816), 513-557; EB 2 183-225; von Birkner: Einleitung in EB 2 XXVI-XXX ausführlich beschrieben SN: 119; ES: „a"; ET: 38-69; ET/S: 23-56; E: „VIII" (1816), 559-626; EB 2 229-296; von Birkner: Einleitung in EB 2 XXVI-XXX ausführlich beschrieben ES: „z"; Ε (unbeziffert) 627-672. Vgl. zu Gestalt und Zuordnungsproblemen ES XII und besonders Ε XVIIf
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
II. Das methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften A. Einführung Zur Begründung der These, daß das System der reinen Wissenschaften sich in methodisch kontrollierter Weise aus der Idee des Wissens selbst ableiten läßt, möchte ich zunächst den m.E. wesentlichen Grundzug dieser Methode, nämlich die Figur des doppelten, relativen Gegensatzes, vorstellen. Diese Figur taucht aber erst im Zusammenhang der von Schleiermacher im zweiten, formalen Teil der Dialektik entfalteten Regeln zur Wissensproduktion auf, und zwar in der Beschreibung des Begriffsbildungsverfahrens. Schleiermacher hat gelegentlich selbst darauf hingewiesen, daß in der Form der Begriffsbildung die Struktur des Wissenschaftssystems vorgegeben sei, wie umgekehrt jede einzelne Form begrifflichen Wissens nur im Zusammenhang dieses Systems zu verstehen sei: „Durch das aufgestellte [sc.: die Grundzüge der Begriffsbildung] ist also das Gerüst alles ethischen und physischen Wissens erbaut; denn alle bestehenden Formen müssen in diesem System der Begriffsbildung enthalten sein. Und es liegt darin daß keine dieser Formen ohne das ganze System dem sie angehört völlig zu verstehen ist. Ja auch nicht der Begriff des physischen Wissens ohne den des ethischen und umgekehrt." 6 7 Indem ich die Systemrekonstruktion mit diesem Abschnitt beginnen möchte, kehre ich den Aufbau der Schleiermacherschen Dialektik 6 8 allerdings de facto um. Denn in Schleiermachers Dialektik kommt dem ersten, transzendentalen Teil die grundlegende Funktion zu: der erste Teil enthält eine Theorie der Prinzipien und der Gründe des Wissens. Dieser Teil nimmt die Systemstelle der alten Metaphysik ein. Dagegen weist Schleiermacher dem zweiten, formalen Teil eine praktische Aufgabe zu: Dieser Teil soll die Regeln der Wissensproduktion enthalten. Er nimmt die Systemstelle der Logik ein. Die Pointe dieser Konzeption besteht, wie zu zeigen sein wird, in der Verschränkung der Prinzipientheorie des Wissens mit den Produktionsregeln des Wissens: Transzendentales und Formales sind ursprünglich „dasselbe" 69 67 68
69
Dial 1811 (Ms.), 17. Stunde (Zusatz Nr. 2), D A , 24 (DJ 321) Ausführlich kann ich auf die funktional begründete Doppelgestalt der Dialektik erst unten (S. 268ff) in dem der Dialektik gewidmeten vierten Kapitel eingehen. Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 76 D A 2 13f (DJ 34). - Zu Schleiermachers Verwendungsweise des Ausdrucks „transzendental" vgl. unten Anm. 299.
II. Das methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften
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und nur in Perspektive und Darstellungsziel unterschieden. Für die innere Kohärenz der Dialektik selbst ist es gleichgültig, welcher ihrer beiden Teile den Anfang macht. 70 Die Reihenfolge wird vielmehr ausschließlich durch das praktische Ziel der Dialektik bestimmt. U n d weil die als „Kunstlehre" 7 1 des Denkens und Wissens konzipierte Dialektik auf die Ableitung von Regeln zur Konstruktion realen Wissens aus der Idee des Wissens selbst zielt, 72 setzt Schleiermacher mit der transzendentalen Erörterung der Prinzipien realen Wissens ein und stellt die Erhebung der Produktionsregeln des realen Wissens an den Schluß. 73 Von dieser Begründung her legt sich aber eine Umkehrung der Reihenfolge der Grundlagentheorie und der Konstruktionsregeln im Zusammenhang der hier intendierten Rekonstruktion des Wissenschaftssystems durchaus nahe. Denn bezweckt die Dialektik die Aufstellung der Konstruktionsregeln des Wissens und muß den Weg dieser Erhebung notwendigerweise mit den in der Idee des Wissens selbst liegenden prinzipiellen Bedingungen der Wissensproduktion beginnen, um an ihr Ziel zu gelangen, so bezweckt umgekehrt die hier zu leistende Systemrekonstruktion die Darstellung der methodisch gesicherten A b leitung des Wissenschaftssytems aus der Idee des Wissens und muß den Weg dieser Darstellung daher notwendigerweise mit der Darstellung der methodischen Regeln beginnen, um ihr Ziel zu erreichen. In diesem Abschnitt werde ich also zunächst in einem kurzen, paraphrasierenden Referat der Gliederung des Wissensproduktionsprozesses nach der Dialektik die Grundzüge der Schleiermacherschen Methode ins Gedächtnis bringen. (B). Dann soll die m.E. wesentliche Grundfigur des Prozesses der Wissensproduktion einer schärferen Betrachtung unterzogen werden: die Figur des doppelten, relativen Gegensatzes (C). Denn es wird sich zeigen, daß der regelmäßige, rekonstruktive Aufweis von relativen Gegensätzen erstens als Hauptmerkmal der Schleiermacherschen Methode anzusehen ist, insofern er deren durchgängige Dialektizität begründet 7 4 - und zweitens zugleich auf einen wesentlichen Inhalt des Schleiermacherschen Wissenschafts-
70 71
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Dial 1814/15, Einl. § 84 D A 2 15 (DJ 37) Vgl. Dial 1814/15, Einl. § 56 D A 2 10 (DJ 24) u.ö. Vgl. dazu auch a.a.O. § 17 D A 2 4 (DJ 8) Dial 1814/15, Einl. § 85 D A 2 15 (DJ 37f) Ebda. Siehe hierzu auch Dilthey: L S II/l 194.203 und Reble: Denkstruktur 254-263
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
systemes vor- bzw. rückverweist, insofern er die durchgängig duplizitär verfaßte Struktur alles endlich Seienden aufnimmt. 75 B. Die Gliederung des Prozesses der Wissensproduktion Schleiermacher unterscheidet im Prozeß der Wissensproduktion 76 zunächst allgemein zwei verschiedene Verfahrensarten: zum einen 75
76
Vgl. dazu Scholtz: Philosophie Schleiermachers 59: „Die Dialektik als Methode spiegelt die Struktur des Kosmos. Erkenntnislehre und Ontologie sind verknüpft." D e r Prozeß der Wissensproduktion ist Gegenstand des zweiten, „technischen" oder besser „formalen" (Dial 1814/15, Einl. §§ 75-85 D A 2 13-15 [DJ 33-38], Dial 1822 [Ms.], X V I I . Stunde, D O 120 [ D J 383]) Teiles der Dialektik. Zur Textlage dieses vernachlässigten Teiles der Dialektik ist dabei im Vergleich der Fassungen, vor allem hinsichtlich ihres jeweiligen Umfanges, folgendes zu sagen: D e r früheste Entwurf, zur Vorlesung 1811 (Dial 1811, 31.-49. Stunde [Ms.], D A ! 38-59 [ D J 337-361]), enthält die allgemeine Einleitung in die Konstruktionslehre, die Begriffslehre und den Anfang der Urteilslehre. In inhaltlicher Hinsicht wird man feststellen müssen, daß es sich um eine ephemere Vorform handelt: In dem „ K o n struktion" überschriebenen Abschnitt wird lediglich die Begriffsbildung betrachtet, während der als „Kombination" bezeichnete Abschnitt offenbar ausschließlich die Urteilslehre enthalten sollte. Heuristisches und architektonisches Verfahren, seit 1814/15 als Kombinationslehre entfaltet, fehlen zur Gänze. D e r Entwurf zur Vorlesung 1814/15 (Dial 1814/15, 2. Teil §§ 1-116, D A 2 75-116 [ D J 172-312 dort §§ 230-346]) enthält die bei weitem ausführlichste und einzige vollständige Ausführung des formalen Teiles der Dialektik. (Insbesondere enthält diese Fassung die einzige originalschriftliche Fassung der Kombinationslehre.) In den nachfolgenden Fassungen lassen sich zwar einige nicht uninteressante inhaltliche Umbestimmungen von Einzelsachverhalten feststellen, doch betreffen diese Änderungen nicht mehr den thematischen Grundbestand und dessen funktionalisierende Eingliederung ins Gesamtgefüge des technischen Teiles der Dialektik. In den Grundzügen stehen Inhalt und Aufbau des technischen Teiles seit der Fassung von 1814/15 verbindlich fest. In den Notizen zur Vorlesung 1818/19 beziehen sich nur wenige kryptische Zeilen vermutlich auf die Einleitung in den formalen Teil (vgl. den von Jonas mit „x." bezeichnete Zettel in Dial 1818 [Ms.], N r . X I V , D J 369). Die Bemerkungen zur Vorlesung 1822 (Dial 1822, L V I . - L I X . Stunde [Ms.], D O 3 1 7 - 3 3 7 [ D J 436-441]) betreffen - im stetigen Rekurs auf den Entwurf von 1814/15 lediglich die allgemeine Einleitung in den formalen Teil und die die Konstruktionslehre einleitenden Kautelen; allerdings offensichtlich vollständig. (Auch D O 315-464 vermag zur Vervollkommnung lediglich Vorlesungsnachschriften heranzuziehen.) Die zur Vorlesung 1828 gehörenden Notizen (Dial 1828, D J 477-479) enthalten eine knappere F o r m der allgemeinen Einleitung in den formalen Teil und eine offensichtlich unvollständige Einleitung in die Konstruktionslehre. D e r Vorlesungsentwurf von 1831 schließlich (Dial 1831, L V . - L X X X I I . Stunde [ D J 534-567]) gerät nach der Fassung von 1814/15 noch am ausführlichsten: E r enthält zunächst die allgemeine Einleitung in den technischen Teil und die Einleitung in die Konstruktionslehre vollständig. In der materialen Begriffslehre behandelt er ausschließlich, dafür aber umfassend, den Deduktionsprozeß. Er endet mit einer fragmentarischen Behandlung der Urteilslehre. D e r nachfolgend von mir gegebene Aufriß orientiert sich nun der Übersichtlichkeit halber am Aufbau der ausführlichsten, vollständigen und sachlich maßgebenden
I I . D a s m e t h o d i s c h e P r i n z i p des Systems der W i s s e n s c h a f t e n
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die „Konstruktion" als das Produktionsverfahren im engeren Sinne 77 , das der regelmäßigen Hervorbringung des Einzelwissens dient 78 und zum anderen die „Kombination" als dasjenige Verfahren, mit dessen Hilfe das mannigfaltige Einzelwissen miteinander verknüpft wird 7 9 und das also den einheitlichen Zusammenhang allen Wissens herstellt 80 . In der Aufstellung dieser beiden Verfahrensarten knüpft Schleiermacher damit an Ergebnisse des ersten Teiles der Dialektik an: In dem Zusammenwirken von Konstruktion und Kombination realiFassung v o n 1 8 1 4 / 1 5 , auf den Schleiermacher sich in seinen V o r l e s u n g s n o t i z e n z u m zweiten, f o r m a l e n Teil bis 1831 b e z o g e n hat (vgl. hierzu A r n d t : E i n l e i t u n g in D A 2 X I I I - X I X . ) . E s sei dabei ausdrücklich h e r v o r g e h o b e n , daß im vorliegenden Z u s a m m e n h a n g n a t u r g e m ä ß keine sachlich erschöpfende E i n f ü h r u n g in den in seinen G r u n d z ü g e n als b e k a n n t vorausgesetzten formalen Teil der D i a l e k t i k gegeben werden kann, s o n d e r n d a ß ausschließlich der A u f b a u des Prozesses der W i s s e n s p r o d u k t i o n in F o r m eines Gliederungsvorschlages rekapituliert werden soll. D i e anschließenden E r w ä g u n g e n z u r G e g e n s a t z k o n s t r u k t i o n (im A b s c h n i t t C ) w e r d e n dann in sachlich g e b o t e n e r A u s f ü h r l i c h k e i t verfahren und selbstverständlich auch die den G e g e n s t a n d betreffenden inhaltlichen V e r s c h i e b u n g e n in allen zu b e r ü c k sichtigenden F a s s u n g e n B e a c h t u n g s c h e n k e n . In der sich der D i a l e k t i k w i d m e n d e n Sekundärliteratur hat der f o r m a l e Teil eher nachrangiges Interesse auf sich g e z o g e n . R e b l e ( R e b l e : D e n k s t r u k t u r ) , R o t h e n ( R o thert: E n d l i c h k e i t ) , O r a n j e ( O r a n j e : G o d en Wereld), R e u t e r ( R e u t e r : E i n h e i t ) , K l i e bisch ( K l i e b i s c h : T r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i e ) und T h i e l ( T h i e l : G o d and W o r l d ) lassen ihn völlig außer acht. U . B a r t h sieht von „der operationalistischen K o m p o n e n t e der , D i a l e k t i k ' , d.h. ihrer F u n k t i o n als einer K u n s t l e h r e des D e n k e n s " sogar p r o grammatisch ab u n d vernachlässigt damit eine ihrer wesentlichen P o i n t e n . ( U . B a r t h : C h r i s t e n t u m 119). D i l t h e y ( D i l t h e y : L S I I / l 1 5 7 - 2 2 7 ) und W a g n e r (Wagner: D i a l e k tik 2 2 8 - 2 6 3 ) z e i c h n e n i m m e r h i n den A r g u m e n t a t i o n s g a n g nach. W e h r u n g ( W e h r u n g : D i a l e k t i k 2 8 2 - 2 9 1 ) streift k u r z den f o r m a l e n Teil der 1 8 3 1 e r Fassung. Lediglich P o h l hebt die B e d e u t u n g des Begriffsbildungsverfahrens hervor und w i d m e t sich ihm unter s y s t e m a t i s c h e m A s p e k t ( P o h l : Studien 9 2 - 1 1 6 ) . N i c h t u n e r w ä h n t bleiben darf in diesem Z u s a m m e n h a n g auch E. H i r s c h , der den W e r t des formalen Teiles der D i a l e k t i k e r k e n n t und Schleiermachers „geniale W i t t e r u n g für die weitere E n t w i c k lung des allgemeinen D e n k e n s " festhält ( H i r s c h : G e s c h i c h t e V 2 8 5 ) , v o n weiteren inhaltlichen A n a l y s e n aber absieht. In jüngster Zeit ist die B e d e u t u n g des f o r m a len Teiles wieder registriert w o r d e n von A r n d t : V o r g e s c h i c h t e 3 1 9 A n m . 16 ( d o r t weitere Literatur); vgl. auch a.a.O. 3 2 8 - 3 3 3 . D i e ü b e r w i e g e n d stiefkindliche B e h a n d l u n g des formalen Teiles der D i a l e k t i k ist vor allem deswegen so bedauerlich, weil dieser Teil eine zweifache B e d e u t u n g für jede S c h l e i e r m a c h e r - I n t e r p r e t a t i o n besitzt: Erstens nämlich eine m e t h o d i s c h e B e d e u t u n g , da der f o r m a l e Teil als Q u e l l e zur E r s c h l i e ß u n g der S c h l e i e r m a c h e r s c h e n D e n k m e t h o d e gelten m u ß ; und z w e i t e n s eine das W i s s e n s c h a f t s s y s t e m betreffende B e d e u t u n g , da der f o r m a l e Teil als K l a m m e r z w i s c h e n der höchsten W i s s e n s c h a f t D i a l e k t i k und den ihr s u b o r d i n i e r t e n Einzelwissenschaften fungiert. 77
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 3.4.6 D A 2 7 6 f ( D J 1 7 6 - 1 8 2 dort §§ 2 3 2 . 2 3 3 . 2 3 5 )
78
G e g e n s t a n d in D i a l 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 7 - 1 0 0 D A 2 7 8 - 1 1 4 ( D J 1 8 2 - 2 8 6 dort §§ 2 3 6 - 3 2 9 )
79
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 3.5.6. D A 2 7 6 f ( D J 1 7 6 - 1 8 2 dort §§ 2 3 2 . 2 3 4 . 2 3 5 )
80
G e g e n s t a n d in D i a l 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 1 0 1 - 1 1 6 D A 2 1 1 4 - 1 1 6 ( D J 2 8 8 - 3 0 9 d o r t §§ 3 3 0 346)
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
siert sich die Übereinstimmung von der die Vielheit abbildenden Idee der Welt und der die Einheitlichkeit abbildenden Idee des transzendenten Grundes in der Idee des Wissens. 81 Im Rahmen der hier beabsichtigten methodischen Erwägungen kann ich auf diesen Zusammenhang einstweilen allerdings nur hinweisen, ohne ihn zu entfalten - im vierten Kapitel wird die Rede ausführlicher darauf kommen können. 82 Das hier beabsichtigte Referat des Wissensproduktionsprozesses muß dagegen mit einer Betrachtung des Binnenverhältnisses der beiden Modi der Wissensproduktion einsetzen. Dazu hält Schleiermacher fest: Das eher rezeptiven 83 Charakter tragende - Konstruktionsverfahren und das - eher spontanen 84 Charakter tragende - Kombinationsverfahren bestehen nicht unverbunden je für sich, sondern stehen zueinander in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis 85 und werden nur aus darstellungstechnischen Gründen isoliert vorgestellt. Zunächst soll das Verfahren der Wissenskonstruktion betrachtet werden. Es besteht aus zwei sich wiederum gegenseitig ergänzenden 86 Unterverfahren, dem Vorgang der Begriffsbildung 87 und dem Vorgang der Urteilsbildung 8 8 . Die Entfaltung des begriffsbildenden Verfahrens ist an drei Vorgaben gebunden. Erstens umreißt Schleiermacher (in der Anknüpfung an Ausführungen des ersten, transzendentalen Teils der Dialektik) die Natur des Begriffs: Das Wesen des Begriffs besteht in der Identität des - vorherrschend in der intellektuellen Funktion des Bewußtseins gegebenen - Allgemeinen und des - vorherrschend in der organischen Funktion des Bewußtseins gegebenen - Besonderen 8 9 . Zweitens hält Schleiermacher fest, daß das begriffsbildende Verfahren natürlich einerseits mit der (ebenfalls im ersten, transzendentalen Teil der Dialektik entfalteten) Idee des Wissens, andererseits aber auch mit dem
81
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Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. §§ 75-85 D A 2 13-15 (DJ 33-38). Tl.l §§ 216-229 DA 2 65-75 (DJ 154-172) S.u. S. 277H
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Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 2.3 D A 2 75f (DJ 175-177 dort §§ 231.232)
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Ebda. Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 § 6 D A 2 77 (DJ 181f dort § 235)
85 86
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 4.35-39 D A 2 76.94f (DJ 178f.217-221 dort §§ 233.264-268)
87
Gegenstand in Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 19-74 D A 2 84-110 (DJ 195-260 dort §§ 248-303) Gegenstand in Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 7 5 - 1 0 0 D A 2 110-114 (DJ 261-286 dort §§ 304329) Gegenstand in Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 19.26.27 D A 2 84f.88f (DJ 195f.200-202 dort §§ 248.255.256)
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II. Das methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften
33
urteilsbildenden Verfahren in Beziehung steht. 90 U n d drittens setzt er eine Einteilung der Begriffe in - vornehmlich das Sein ausdrückende Subjektsbegriffe und - vornehmlich die Aktion ausdrückende - Prädikatsbegriffe voraus. 9 1 Damit kann die Beschreibung des begriffsbildenden Verfahrens selbst beginnen. Das Begriffsbildungsverfahren trägt selbst ebenfalls eine komplementär doppelgestaltige 9 2 Form, indem es sich in ein als Induktionsprozeß 9 3 bezeichnetes und ein als Deduktionsprozeß 9 4 bezeichnetes Unterverfahren gliedert. Der (überwiegend in der organischen Funktion des Bewußtseins wurzelnde, hinaufsteigende, durch Nebeneinanderstellung des umfänglichen Besonderen das gemeinschaftliche Allgemeine aufsuchende 9 5 ) Induktionsprozeß besteht dabei in einem zwischen zwei Polen oszillierenden Verfahren: Einerseits der Wahrnehmung des einzeln erscheinenden Bildes 9 6 , und andererseits der Einordnung des Einzelbildes in das allgemeine System der Bilder. 97 Die begriffsbildende Vermittlung zwischen einzelnem Bild und Bildersystem findet dabei also durch die - dem Einzelbild ein Schema einbildende - Zuordnung des Einzelbildes zu einer Klasse von merkmalverwandten Bildern statt. 98 Insofern die Resultate dieses schematischen Prozesses nichts anderes als Nominaldefinitionen sein können, ist in ihm auch schon der Anfang des Urteilsbildungsprozesses zu sehen 9 9 - und insofern der schematisierende Prozeß zur Feststellung seiner Irrtumsfreiheit nun der Uberprüfung durch den konträr verfahrenden deduktiven Prozeß bedarf, liegt hier der erste Berührungspunkt beider Formen der Begriffsbildung. Aber Schleiermachers vorrangige Aufmerksamkeit gilt dem (überwiegend in der intellektuellen Funktion des Bewußtseins wurzelnden, hinabsteigenden, durch Betrachtung des Allgemeinen das Gemeinschaftliche und den Umfang des Besonderen bestimmenden 1 0 0 ) Deduktionsprozeß. Auch er besteht aus zwei wechselweise aufeinan90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100
Gegenstand in Dial 1814/15, T1.2 § 20 D A 2 85 (DJ 196f dort § 249) Gegenstand in Dial 1814/15, T1.2 §§ 21-25 D A 2 85-88 (DJ 197-200 dort §§ 250-254) Vgl. z.B. Dial 1814/15, T1.2 § 40 D A 2 95 (DJ 221f dort § 269) Gegenstand in Dial 1814/15, T1.2 §§ 28-48 D A 2 89-99 (DJ 204-231 dort §§ 257-277) Gegenstand in Dial 1814/15, T1.2 §§ 49-74 D A 2 99-110 (DJ 232-260 dort §§ 278-303) Dial 1814/15, T1.2 § 27 D A 2 88f (DJ 201f dort § 256) Dial 1814/15, T1.2 §§ 28.29.31 D A 2 89-92 (DJ 204.206f.209-211 dort §§ 257.258.260) Dial 1814/15, T1.2 §§ 30.31.33 D A 2 89-93 (DJ 205-211 dort §§ 259.260.262) Dial 1814/15, T1.2 §§ 31.33 D A 2 90-93 (DJ 206-211 dort §§ 260.262) Dial 1814/15, T1.2 §§ 34-39 D A 2 93-95 (DJ 215-221 dort §§ 263-268) Dial 1814/15, T1.2 § 27 D A 2 88f (DJ 201f dort § 256)
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Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des Gesamtsystems
der bezogenen Momenten: Erstens dem Anwenden einer formelhaften Teilungsregel auf jenen noch unbestimmte Mannigfaltigkeit abbildenden, vorläufigen Begriff und darin zweitens dem regelgemäßen Setzen der durch den Teilungsgrund aus so bestimmter Einheit hervorgehenden geordneten Vielheit. 101 Mit anderen Worten: Der Deduktionsprozeß besteht in der Entdeckung der begrifflichen Spezifizierbarkeit des zunächst unbestimmt bildhaften, sich qua Zergliederbarkeit nun als abgrenzbar und einheitlich erweisenden Begriffes und dem begrifflich zuverlässigen Besetzen dieses durch Spezifikation neu gewonnenen Territoriums. Material vollzieht sich diese Diversifizierungstätigkeit im Rahmen des begriffsbildenden Prozesses nun durch genau jenen unablässigen, gliedernden und detaillierenden Aufweis von Gegensätzen, der sich als methodische Grundfigur durch das gesamte Werk Schleiermachers zieht. Damit ist der systematische Ort erreicht, an dem Schleiermacher die Gegensatzbildung inhaltlich diskutieren wird. Bevor ich unten näher auf diese syntaktische Funktion der Gegensatzbildung eingehe, sei aber zunächst das Referat des Schleiermacherschen Aufrisses des Regelsystems zur Wissensproduktion fortgesetzt. Dies ist erstens aus Gründen der Vollständigkeit notwendig, zweitens aber auch deswegen, weil wir so auf eine erste Anwendung der Gegensatzkonstruktion stoßen werden, und zwar im architektonischen Verfahren der Konstruktion des Wissens. 102 Schleiermacher wendet sich, nachdem die Theorie der Begriffsbildung mit der Vorstellung des deduktiven Verfahrens zum Ende gekommen ist, nun dem zweiten das Wissen konstruierenden Verfahren zu: dem Prozeß der Urteilsbildung. 103 Hier stellt er im wesentlichen verschiedene Formen des Urteils erläuternd vor 104 , nähere Aufmerksamkeit erfährt dabei lediglich der Unterschied zwischen dem (einem Subjekt lediglich ein Prädikat beilegenden, eher deduktiv verfahrenden) unvollständigen Urteil 105 und dem (einem Subjekt neben dem Prädikat auch ein Objekt zuordnenden, eher induktiv verfahrenden)
101
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 § 49 D A 2 99 (DJ 2 3 2 dort § 278)
,02
S.u. S. 3 7 Gegenstand in Dial 1814/15, T1.2 §§ 7 5 - 1 0 0 D A 2 1 1 0 - 1 1 4 (DJ 2 6 1 - 2 8 6 dort §§ 3 0 4 329)
103
104
,05
Gegenstand in Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 7 5 - 8 1 , vgl. auch 88 u.97 D A 2 1 1 0 - 1 1 3 (DJ 2 6 1 - 2 6 6 . 2 7 6 . 2 8 4 d o r t §§ 3 0 4 - 3 1 0 . 3 1 7 . 3 2 6 ) Gegenstand in Dial 1814/15, T1.2 §§ 8 2 - 8 8 D A 2 1 1 2 f (DJ 2 7 4 - 2 7 6 dort §§ 3 1 1 - 3 1 7 )
II. Das methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften
35
vollständigen Urteil 1 0 6 . Schließlich wird das syllogistische Verfahren aus der Theorie der Urteilsbildung als wertlos ausgeschieden.107 Mit Recht hat man festgestellt, daß die eigentliche Funktion der Urteilsbildung für die Konstruktion des Wissens an sich nicht recht deutlich werde. 108 Sieht man allerdings, daß die wesentlichen (erkenntnistheoretisch relevanten) kombinatorischen 109 , die (bewußtseintheoretisch belangvollen) vermittelnden 110 und sogar die (logisch einschlägigen) schlußtechnischen 111 Funktionen des urteilsbildenden Verfahrens jedenfalls nach Schleiermacherscher Auffassung ihren ursprünglichen Sitz im Begriffsbildungsverfahren haben, in dessen Dienst sie letztlich stehen, wogegen dem Urteil selbst wesentlich die Aufgabe der Materialbeschaffung für die Begriffsbildung zukommt 1 1 2 , so gewinnt die von Schleiermacher vorgenommene Aushöhlung der Theorie der Urteilsbildung geradezu programmatische Züge. Den in der Verwerfung der Schlußlehre liegenden tieferen Sinn dieser Abwertung der Urteilslehre zugunsten der Aufwertung der Begriffslehre hat Schleiermacher anderenorts im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit der traditionellen Logik deutlich gemacht. 113 Soviel zum ersten Teilverfahren der Wissensproduktion, dem das Wissen konstruierenden Prozeß. In ihm wurden also diejenigen Regeln entwickelt, nach denen die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Eindrücke sich in die geordnete und begrifflich strukturierte Form des Wissens überführen läßt. Dieses erste Teilverfahren wird ergänzt durch das zweite Teilverfahren, den das Wissen kombinierenden Prozeß 1 1 4 . In ihm werden diejenigen Regeln entwickelt, nach denen sich das mannigfaltige Einzel106
Gegenstand in Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 8 9 - 9 5 D A 2 113 ( D J 2 7 6 f d o r t §§ 3 1 8 - 3 2 4 )
107
Gegenstand in Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 9 8 - 1 0 0 D A 2 113f ( D J 2 8 5 f d o r t §§ 3 2 7 - 3 2 9 )
108
Wagner: Dialektik 2 5 4
109
Z . B . zwischen Bild und Begriff, s.o.
110
Z . B . zwischen intellektueller und organischer Funktion des Bewußtseins, s.o.
111
Wagner selbst weist darauf hin, daß es nach der Entwicklung des relativen, i m m e r schon vermittelten Gegensatzes der - funktionslos gewordenen - Schlußlehre nicht mehr bedarf: Wagner: Dialektik 2 5 5 , 1 5 - 2 0 . Näheres dazu siehe unten.
112
Weswegen Schleiermacher auch problemlos an der durchgängig behaupteten Gleichwertigkeit von Urteil und Begriff selbst festhalten kann: vgl. z . B . Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l §§ 1 4 0 - 1 4 4 D A 2 2 9 f ( D J 8 2 - 8 4 ) .
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3
1,4
D O 4 0 3 , 2 0 - 4 0 6 , 1 8 . Vgl. auch Dial 1818 (Ns.), D J 2 8 7 f Gegenstand in Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 § § 1 0 1 - 1 1 6 D A 2 1 1 4 - 1 1 6 ( D J 2 9 1 - 3 0 9 d o r t § 3 3 0 - 3 4 6 ) . Die v o m Textumfang her vergleichsweise knappe Aufmerksamkeit, die Schleiermacher dem K o m b i n a t i o n s p r o z e ß widmet, darf keinesfalls zu dessen G e -
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
wissen in einen einheitlichen Zusammenhang verknüpfen läßt. Dieser einheitliche Wissenszusammenhang läßt sich nun nur in einer zusammenfassenden Bewegung herstellen, und zwar mit der gegensätzlichen Verteilung von Ausgangspunkt und Zielpunkt: Einmal - hinaufsteigend - als Zusammenfassung vom bekannten Vielen zum unbekannten Einen, und umgekehrt - hinabsteigend - im Ausgang vom bekannten Einen als Suche nach dem unbekannten in ihm zusammengefaßten Vielen. Ersteres - als Erweis der Zusammenfaßbarkeit von zu verknüpfendem Einzelwissen - leistet das heuristische Kombinationsverfahren 115 , letzteres - als Erweis der Zusammengefaßtheit von bereits verknüpftem Einzelwissen - das architektonische Kombinationsverfahren 1 1 6 . Beide Verfahren stehen also wiederum in einem sich wechselweise bedingendem Verhältnis zueinander. 117 Zunächst zum heuristischen Verfahren: Läßt sich durch die Anwendung der an einem ersten Einzelwissen vollständig erkannten Konstruktionsregeln auf ein noch unvermittelt im begrifflichen Denken Gegebenes ein zweites Einzelwissen finden, so ist in eben dieser konstruktionsschematischen Parallelität der beiden Einzelwissen ihre Verknüpfbarkeit und ihr einheitlicher Bezugspunkt erwiesen 118 . Als mögliche Formen der Beziehbarkeit des Zielwissens auf das Ausgangswissen kennt das heuristische Verfahren die - an das Ausgangswissen anknüpfende - kongruente 1 1 9 und die - an das Zielwissen anknüpfende - analoge 120 Beziehung. 121 ringschätzung verführen: In funktionaler Hinsicht ist er dem Konstruktionsprozeß absolut gleichwertig, an systemkonstituierender Potenz eher noch überlegen. 115
Gegenstand in Dial 1814/15, T1.2 §§ 101-104 D A 2 114f ( D J 291-299 dort §§ 330-334)
116
Gegenstand in Dial 1814/15, T1.2 §§ 105-116 D A 2 115f ( D J 300-309 dort §§ 335-346) Dial 1814/15, T1.2 § 5 D A 2 76f ( D J 179-181 dort § 234) Dial 1814/15, T1.2 § 101, vgl. auch § 5 D A 2 114.76f ( D J 2 9 l f . l 7 9 - 1 8 1 dort §§ 330.234). D a ß die im Einzelwissen binnenperspektivisch identifizierbare Verhältnisstruktur mit der außenperspektivisch zwischen den vielen Einzelwissen bestehenden Verhältnisstruktur identisch ist, da verknüpftes Einzelwissen wiederum als Einzelwissen muß angesehen werden können, gehört zu den schon die Einleitung in die Dialektik prägenden Gedanken: Dial 1814/15, Einl. § 80f D A 2 14f ( D J 36f) Dial 1814/15, T1.2 § 102a D A 2 114 ( D J 293f dort § 331); in § 5.1 D A 2 76f ( D J 180 dort § 234.1): „Correspondenz"
"7 1,8
119
120
Dial 1814/15, T1.2 § 102b D A 2 114 ( D J 297 dort § 332)
121
An dieser Stelle enthält der durchgängig vorausgesetzte Entwurf von 1814/15 im Vergleich mit den späteren Parallelentwürfen eine kleine Unentschiedenheit. Denn Schleiermacher nimmt im Entwurf von 1814/15 eine Parallelisierung zwischen dem (kombinierenden) heuristischen und dem (konstruierenden) begriffsbildenden Verfahren vor: das analoge Verfahren des heuristischen Prozesses entspreche dem deduktiven Verfahren des begriffsbildenden Prozesses, das kongruente Verfahren hier
II. Das methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften
37
Die Bewegung des architektonischen Verfahrens dagegen ist der des heuristischen Verfahrens wieder gegenläufig. Denn hier wird die Einheitlichkeit der Totalität des Wissens durch dessen Zergliederung in einerseits verbundenes, andererseits separat identifizierbares Einzelwissen erwiesen - und zwar bis hinunter zum Begriff als dem kleinsten einzeln Wißbaren. 122 Das Zergliederungsverfahren kann dabei einen überwiegend subjektiven oder einen überwiegend objektiven Charakter annehmen: 123 Im ersten Falle gliedert es die historisch vorfindliche Totalität des realen Wissens, im zweiten Falle die systematisch denkbare Totalität des reinen Wissens. 124 In jedem Falle wird das Verfahren in einer stufenweise herabsteigenden, gliedernden und ordnenden Aneinanderreihung des Wißbaren bestehen 125 - und wird im Falle des objektiven Verfahrens so die einzelnen Wissenschaften, ja: das System der Wissenschaften erzeugen. Und welche Regel kennt das Verfahren der Wissensproduktion zur Hervorbringung der Reihen? Das Aufsuchen und Angeben derjenigen Teilungsgründe, nach denen die Einheit des Mannigfaltigen in der Betrachtung des in ihm an Gegensätzlichem Geborgenen zergliedert werden kann. 126 Damit endet die im formalen Teil der Dialektik gegebene Anweisung zur Produktion des Wissens überhaupt mit einer Regel zur Hervorbringung einer systematisierten Ordnung des produzierten Wissens in eine Wissenschaft bzw. in ein System verschiedener sich aufeinander beziehender Wissenschaften. In dieser Regel hat Schleiermachers Dialektik ihren Zielpunkt erreicht: Die transzendentale Idee der dem induktiven Verfahren dort. Die dieser Parallelisierung teilweise widersprechenden Z u o r d n u n g e n in den E n t w ü r f e n 1 8 1 8 (Dial 1 8 1 8 [Ns.], D J 2 9 7 f ) und 1 8 2 2 (Dial 1 8 2 2 [Ns.], 84. Stunde, D O 4 5 0 - 4 5 4 ) lassen es geraten erscheinen, die im E n t w u r f v o n 1 8 1 4 / 1 5 v o r g e n o m m e n e Parallelisierung als eine vorläufige und versuchsweise anzusehen, die im übrigen dem Verständnis des ganzen wenig nimmt (vgl. Wagner: Dialektik 258). Nachdem es aus dem Gesamtduktus des technischen Teils d a r ü b e r hinaus am nächstliegenden scheint, die Diversifikation zwischen induktivem und deduktivem Verfahren auf den Unterschied zwischen heuristischem und architektonischem Verfahren zu beziehen (eine bei Schleiermacher nicht auftauchende Z u o r d nung), m u ß dieses P r o b l e m im vorliegenden Zusammenhang auf sich beruhen. 122
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 § 1 0 5 D A 2 1 1 5 (DJ 300f d o r t § 335)
123
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 1 0 6 . 1 0 7 D A 2 1 1 5 (DJ 3 0 2 d o r t §§ 3 3 6 . 3 3 7 ) D a ß dieser Bezugspunkt in der hier v o r g e n o m m e n e n Unterscheidung zwischen subjektiver u n d objektiver Reihe gemeint sein muß, erschließt sich durch den Blick in die Nachschriften der Vorlesungen 1 8 1 8 (DJ 3 0 3 - 3 0 8 ) und 1 8 2 2 ( D O 458), die z u m Verständnis der an dieser Stelle allzu knappen F o r m des E n t w u r f s 1 8 1 4 / 1 5 ausnahmsweise zu Rate gezogen w e r d e n müssen.
124
125 126
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 1 0 6 . 1 0 9 D A 2 1 1 5 (DJ 302f dort §§ 3 3 6 . 3 3 9 ) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 §§ 1 1 1 - 1 1 3 D A 2 1 1 5 (DJ 308f dort §§ 3 4 1 - 3 4 3 )
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Erstes Kapitel:
Grundzüge des Gesamtsystems
Wißbarkeit des Wissens und die formale Gestalt, in der das Wißbare gewußt wird, vervollständigen sich im Gewußtwerden einer Regel zur Ordnung alles Wißbaren überhaupt.127 Und, im vorliegenden Zusammenhang Gegenstand vorrangigen Interesses: in dieser Regel wiederholt und verwendet der Prozeß der Wissensproduktion explizit seine eigene, oben im Zusammenhang des Begriffsbildungsverfahrens gegebene Regel der Setzung von Teilungsgründen als Setzung von aufeinander abgestimmter Vielheit. Die Figur der Gegensatzkonstruktion hat ihren Sitz im deduktiven Verfahren des Begriffsbildungsprozesses und bildet das regulative Prinzip des architektonischen Verfahrens. Zusammenfassend läßt sich die Gliederung des im zweiten Teils der Dialektik entfalteten Prozesses der Wissensproduktion nun folgendermaßen graphisch verdeutlichen:
Wissensproduktion
Konstruktion
Begriffsbildung
Deduktionsverf.
Urteilsbildung
Kombination
heurist.Verf.
architekt.Verf.
Induktionsverf.
C. Die Gegensatzkonstruktion als die konstitutive methodische Figur des Gesamtsystems Vergleicht man die relativ knappe und komprimierte Beachtung, die Schleiermacher der die Gegensatzfigur konstituierenden Divisionsregel in der spekulativen Entfaltung der methodischen Grundzüge der Dialektik widmet, mit der tatsächlichen Häufigkeit und der empirischen Prominenz ihrer Anwendung in der Entfaltung der 127
Zugleich wird in diesen letzten Paragraphen der Dialektik auch noch einmal deren selbstbeschränkende Kapazität deutlich: Die Dialektik vermag Anweisungen zur Produktion des Systems der Wissenschaften zu geben, aber sie vollzieht diese Produktion nicht mehr selbst (Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l §§ 105-113 D A 2 19-22 [DJ 54-60]); und die Dialektik vermag die Bedingung der Möglichkeit von Wissen überhaupt zu entfalten, aber zählt sich selbst damit nicht mehr zum im Wissenschaftssystem geordneten materialen Wissen, sondern zu dessen Voraussetzung (Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l §§ 1 1 3 - 1 1 6 D A 2 21f [DJ 59-62]).
II. Das methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften
39
Einzelwissenschaften, so ergibt sich ein merkwürdiges Mißverhältnis: Zwar durchzieht die Gegensatzfigur das gesamte Schleiermachersche Denken in bestimmender Weise, deren Begründung selbst erfolgt aber überraschend unauffällig. Bei der ausführlicheren Betrachtung des Deduktionsprozesses gehe ich daher folgendermaßen vor: Zunächst möchte ich eine geordnete Zusammenstellung von Prozeßbeschreibung und Einzelanweisungen, aus denen sich die das Wesen des Deduktionsprozesses bildende Divisionsregel zusammensetzt, geben. Dann will ich - exkursorisch - das Verhältnis der von Schleiermacher in der Entfaltung des Deduktionsprozesses gegebenen Bestimmungen zu den entsprechenden Topoi der traditionellen Logik ansprechen. Daß sämtliche von Schleiermacher in der Beschreibung des Prozesses der Wissensproduktion gegebenen Bestimmungen einen dezidiert normativen Charakter tragen, also: als Produktionsregeln verstanden werden wollen 1 2 8 , wird nirgends in der materialen Ausführung dieses Programmes so deutlich sichtbar wie in der Entfaltung des Deduktionsprozesses 129 . Es bleibt also auch in der folgenden Darstellung 130 stets zu berücksichtigen, daß die Prozeßbeschreibung und die Prozeßregeln identisch sind. Fragt man eingangs nach dem allgemeinen Zielpunkt des Deduktionsprozesses, so führt diese Frage zunächst noch einmal auf eine 128
129
130
Vgl z.B. Dial 1814/15, 1. Teil §§ 4.14.15.18.55; 2. Teil § 1 D A 2 3ff.14.75 ( D J 2.7.9.24. 173) u.ö. Aus diesem Grunde kann der formale Teil der Dialektik auch einleuchtend als „Methodenlehre" bezeichnet werden (Wagner: Dialektik 230). Dial 1822, 70. Stunde (Ns.), D O 389. Dial 1831, LIV. Stunde (Ms.), D J 534. L X I I . Stunde (Nr. 1), D J 542. L X X I V . Stunde (Ns.), D J 556 u.ö. Zur Textgrundlage dieser Darstellung ist festzuhalten: Zweifellos bietet Schleiermachers letzte, von 1831 datierende Darstellung des Deduktionsprozesses die ausgereifteste Fassung und wird daher zu Recht von Wagner (Wagner: Dialektik 246-253) und im wesentlichen auch von Dilthey (Dilthey: LS I I / l , 187-204) zugrunde gelegt. D o c h gleichzeitig gilt erstens die (ebenfalls von Dilthey [Dilthey: LS I I / l , 196 Anm. 105] geäußerte) Beobachtung, daß Abfassung und Verständnis jener letzten Fassung nur im Bezug auf die in den wesentlichen Punkten ungleich ausführlicheren früheren Fassungen möglich ist und zweitens die Beobachtung, daß die zwischen 1811 und 1831 entstandenen Fassungen zwar durch unterschiedliche Dignität in Ausführlichkeit und Pointierung, nicht aber durch sachliche Widersprüchlichkeit gekennzeichnet sind. In der folgenden (systematisch, nicht genetisch orientierten) Darstellung werde ich daher im wesentlichen von folgenden zur Verfügung stehenden Uberlieferungen gleichermaßen Gebrauch machen und vorkommendenfalls auf die wichtigsten Unterschiede hinweisen: Dial 1811, 43.-45. Stunde (Ms.), D A ] 51-55 (DJ 351-355). Dial 1814/15, 2. Teil §§ 49-74 D A 2 99-110 ( D J 232-260 dort §§ 278303). Dial 1818 (Ns.), D J 232-260. Dial 1822, 69.-74. Stunde (Ns.), D O 383-408. Dial 1831, L X X . - L X X V I . Stunde (Nr. 14-23), (Ms. und Ns.) D J 551-560.
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
äußere Rahmenbedingung des Deduktionsprozesses, nämlich dessen Verbundenheit mit dem Induktionsprozeß. Denn der allgemeine Zielpunkt des Deduktionsprozesses (als einem Teil des begriffsbildenden Verfahrens) besteht in der Bildung des Begriffs im engeren Sinn: Uberführte der Induktionsprozeß im aufsteigenden Verfahren durch das Freilegen des Schemas im Einzelbild (und dadurch seine Zusammenstellung mit anderen, identisch schematisierten Einzelbildern) jene singuläre Wahrnehmung in einen vorläufigen, unbestimmten Begriff im weiteren Sinn 131 , so fällt dem Deduktionsprozeß nun die Aufgabe zu, jenen ihm gegebenen weiteren Begriff (durch ihn spezifizierende Anwendung der hier vorzustellenden Teilungsformel auf den weiteren Begriff) regulativ zu überprüfen und in der Feststellung der Deckungsgleichheit des induktiv gewonnenen, schematisierenden Begriffs und des deduktiv gewonnenen, formelhaften Begriffs die Uberführung des weiteren Begriffs in einen engen Begriff zu leisten 132 . Freilich hat man sich dieses (als erste regelhafte Forderung zu verstehende) Ineinandergreifen nicht statisch vorzustellen, sondern es gilt die bereits oben erwähnte zeitliche und sachliche Vernetztheit aller Momente des Wissensproduktionsprozesses für das Korrespondenzverhältnis von Induktions- und Deduktionsprozeß in besonderem Maße: Der vollendete, enge Begriff läßt sich nur in der beharrlichen gegenseitigen Impulsgabe und gegenseitigen Korrektur von Induktionsprozeß und Deduktionsprozeß gewinnen; denn die deduktiv gewonnene Formel allein kennt den inhaltlichen, materiellen Umfang des begrifflich zu Bestimmenden nicht, das induktiv gewonnene Schema 131
132
Dial 1814/15, 2. Teil § 31 DA 2 90ff (DJ 206f.209ff dort § 260). Dial 1822, 62. Stunde (Ns.), D O 349. 63. Stunde (Ns.), D O 356-362. Dial 1831, L X X I V . Stunde (Ns.), DJ 557f Dial 1831, L X X I V . Stunde (Ns.), DJ 557f. Die hier vorgenommene Einführung des Gedankens vom Begriff im engeren und im weiteren Sinne findet sich nur in dieser letzten Fassung. Damit lockert Schleiermacher seine frühere Zurückhaltung in der Verwendung des Ausdrucks „Begriff": 1814/15 etwa wird das Resultat des Induktionsprozesses als „Schema", das Resultat des Deduktionsprozesses als „Formel" bestimmt und darauf insistiert, daß vom „Begriff" recht eigentlich erst in der vollständigen Durchdringung von Formel und Schema zu sprechen sei. (Dial 1814/15, 2. Teil § 55f DA 2 101 [DJ 240f dort § 284fJ) Liegt in der früheren Fassung also der Akzent auf dem Gedanken, daß Induktionsprozeß und Deduktionsprozeß jeweils völlig selbständige Einzelresultate hervorbringen, so ergänzt die spätere Fassung jene frühere Version schon rein sprachlich um stärkere Betonung des Sachverhaltes, daß Induktions- und Deduktionsprozeß sich - in ihrem einheitlichen Ziel, gemeinsam den vollendeten Begriff zu bilden - mit ihren jeweiligen Resultaten gegenseitig bedingen bzw. regulieren. (Vgl. Dial 1814/15, 2. Teil § 59 DA 2 102f [DJ 243 dort § 288])
II. Das methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften
41
allein weiß dagegen nichts über dessen wesenhafte, formale Beziehungen.133 So läßt sich in bezug auf den „Anfangspunkt" des je einzelnen Begriffsbildungsvorganges, in seinem prozessualen Verlauf betrachtet, zwar sagen: Der Induktionsprozeß „muß (...) da endigen wo die Deduction anfängt" 134 - in bezug auf das Resultat des Prozesses, den als Wissen vollendeten Begriff, gilt freilich gleichzeitig: Induktionsprozeß und Deduktionsprozeß „sind jeder durch den andern bedingt" 135 . Dieses Bild der differenzierten, doppelgestaltigen Parität 136 von induktiv und deduktiv verfahrendem Teil der Begriffsbildung ergänzt Schleiermacher in späteren Äußerungen erläuternd um die Betonung der zeitlichen Vorgängigkeit des induktiven Momentes 137 und der sachlichen Vorrangigkeit des deduktiven Momentes 138 . In dem auf diese zweifache Weise gesetzten Komplementärverhältnis von induktiver und deduktiver Funktion im Begriffsbildungsverfahren spiegelt sich damit auch schon das Komplementärverhältnis von organischer und intellektueller Funktion des Bewußtseins wider und zwar sowohl in der inhaltlichen Verteilung (soweit diese Abbildung das Gesetztsein des Allgemeinen in der intellektuellen Funktion und des Besonderen in der organischen Funktion betrifft) als auch in der formalen Zuordnung (soweit diese Abbildung das strukturelle Uberhaupt-erst-konstituiert-Werden jeder Funktion in Beziehung auf ihr Gegenüber - in der skizzierten Doppelgestalt von zeitlicher Folge und wechselseitiger Bedingung - betrifft). 139
133
Dial 1 8 1 1 , 4 3 . Stunde (Ms.), D A i 51,30ff (DJ 351). Dial 1 8 1 4 / 1 5 , 2. Teil § 56 D A 2 101 (DJ 241 d o r t § 2 8 5 ) . Dial 1822, 68. Stunde ( N s . ) , D O 383. Z u r Illustration der N o t w e n d i g k e i t des permanenten Ineinandergreifens von D e d u k t i o n s - und Induktionsprozeß - solange das Wissen noch keine Vollständigkeit erreicht hat - ist in diesem Z u s a m m e n h a n g unbedingt auch das von Schleiermacher in Dial 1822, 6 2 . Stunde (Ns.), D O 3 4 9 gegebene Beispiel zur Kenntnis zu geben: „Wenn unsere G a t tungsbegriffe in der Botanik so [sc.: auf ausschließlich induktivem Wege] entstanden wären, so hätten wir kein System b e k o m m e n , bis nicht die ganze E r d e in dieser Hinsicht durchforscht w o r d e n w ä r e . "
134
Dial 1 8 1 1 , 4 3 . Stunde (Ms.), D A ) 51,5f ( D J 3 5 0 )
135
Dial 1 8 1 1 , 43. Stunde (Ms.), D A ) 5 1 , 2 9 f ( D J 3 5 1 )
136
„Jeden durch Induktion entstandenen Begriff müssen wir für provisorisch erklären, solange er nicht d u r c h die D e d u k t i o n bestätigt ist, und zugleich hat jeder Z y k l u s untergeordneter Begriffe, der d u r c h Deduktion entstanden ist, nur Wahrheit, w e n n er zugleich d u r c h Induktion entstanden ist." (Dial 1822, 62. Stunde [ N s . ] D O 3 5 0 )
137
R a n d b e m e r k u n g (wahrscheinlich v o n 1 8 2 8 ) zu Dial 1 8 1 4 / 1 5 (DJ 2 3 2 ) ad § 2 7 8
138
Dial 1 8 3 1 , L X X V . Stunde ( N r . 2 0 ) , D J 558f (Ms.)
139
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , 2. Teil § 19 D A 2 84f ( D J 195f dort § 248). Dial 1 8 2 2 , 62. Stunde ( N s . ) , D O 348
42
Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
Worin besteht nun die sachliche Legitimität dieser ersten Forderung nach der Verbundenheit von induktivem und deduktivem Verfahren im Begriffsbildungsprozeß? Nach Schleiermachers Auskunft darin, daß nur im Zusammentreffen von Formel und Schema, von Erscheinungsseite und Formularseite des Begriffes der Cewißheitsgrund des zum Wissen gewordenen vollendeten Begriffes liegt. 140 Zwar besteht, so ist sofort einschränkend hinzuzufügen, diese Gewißheit material gesehen nur als eine vorläufige, solange das Wissensreich nicht vollständig ist, also: solange Formel und Schema nicht identisch sind, sondern nur in approximativer Annäherung begriffen sind. 141 Und zweitens besteht diese Gewißheit des Begriffs auch nicht voraussetzungslos für sich, sondern sie partizipiert eben an derjenigen höheren - Gewißheit des Wissens, die in der relativen Ubereinstimmung von intellektueller und organischer Funktion des Bewußtseins, ja: in der Ubereinstimmung von Wissen und Sein liegt. Doch breche ich hier zunächst ab. Es ist erkennbar, daß die methodischen Erwägungen tatsächlich unmittelbar auf die von Schleiermacher in Anspruch genommenen transzendentalen Bedingungen verweisen indessen will ich den Rahmen dieser methodischen Erwägungen nicht vorzeitig verlassen und muß vorläufig auf einen späteren Untersuchungsabschnitt verweisen. 142 Hier ist inzwischen nur festzuhalten: Der Grund für die geforderte doppelgestaltige Form des Begriffsbildungsverfahrens besteht darin, daß dieses Begriffsbildungsverfahren die beiden ursprünglichen bewußtseinskonstituierenden Funktionen die intellektuelle und die organische Funktion - in sich enthalten muß, um als rechtmäßige Teilfunktion des ganzen Bewußtseins gelten zu können. Als eine solche Teilfunktion des ganzen Bewußtseins muß das Begriffsbildungsverfahren aber deswegen ausweisbar sein, um an dessen Begründungszusammenhang partizipieren zu können. Eine (von der funktionalen Einbindung in das ganze Bewußtsein unabhängige) eigene Begründung kann es für das Begriffsbildungsverfahren nicht geben. Bevor der Deduktionsprozeß im einzelnen betrachtet werden kann, ist er auch noch einmal auf die formalen Gründe seiner Verbunden-
140
Dial 1814/15, 2. Teil § 53 D A 2 lOOf (DJ 240 dort § 282). Dial 1818 (Ns.), DJ 248.250. Dial 1822, 62. Stunde (Ns.), D O 349. 69. Stunde (Ns.), D O 383. Dial 1831, L X X . Stunde (Nr. 14), DJ 551. L X X V I . Stunde (Ns.), DJ 559
Dial 1818 (Ns.), DJ 250. Dial 1822, 69. Stunde (Ns.), D O 384 ' 4 2 S.u. im vierten Kapitel S. 284ff 141
II. Das methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften
43
heit mit dem Induktionsprozeß hin zu befragen.143 Denn um die Regeln, nach denen die Deduktion sich vollziehen muß, rekonstruieren zu können, gilt es zunächst, eine erste, allgemeine Gesetzmäßigkeit seines Verfahrens festzuhalten: daß er sich auf etwas ihm Gegebenes richtet. Und diese Gegenstandsbezüglichkeit des Deduktionsprozesses läßt sich nun in seiner Richtung auf Gegenstände des Induktionsverfahrens erkennen. Um den substantiellen Charakter dieser Eigenschaft „Gegenstandsbezogenheit" zu demonstrieren, legt es sich nahe, an das erste Eingreifen, den ursprünglichen Akt des Deduktionsprozesses anzuknüpfen: wo nämlich der Deduktionsprozeß vor aller inhaltlichen Füllung nur als Form dem im Induktionsprozeß Gegebenen entgegensteht.144 Denn nur auf die grundlegende formale Bedingung der Gegenstandsbezüglichkeit kommt es hier ja zunächst an - auf die fundamentale Entgegengesetztheit von bestimmender Tätigkeit einerseits und dem Bestimmbaren andererseits. Schleiermachers Hinweis auf die grundsätzliche Differenz zwischen bestimmender Tätigkeit und bestimmbarem Gegenstand leistet an dieser Stelle zweierlei. Erstens knüpft diese Fundamentalunterscheidung des Begriffsbildungsprozesses an andere substantielle Unterscheidungen an und setzt sich zu diesen ins Verhältnis. Bezüglich der Wissensbildung etwa war ja schon angeklungen, daß die bestimmende Tätigkeit die (inhaltslose) Bedingung der Möglichkeit der Form des Wissens ist und der bestimmbare Gegenstand die (formlose) Bedingung der Möglichkeit des Inhalts des Wissens. Vor allem aber, dies die wichtigste Inbezugsetzung, erinnert die Nennung jener Fundamentalunterscheidung daran, daß sich in der Gegenstandsbezüglichkeit des deduktiven Verfahrens die bipolare Struktur des Bewußtseins überhaupt abbildet: Die bestimmende Tätigkeit ist immer die Sache des (a) auf das Erkennen gerichteten, (b) intellektuellen, (c) das Wissen, aber nicht die organische Affektion hervorbringenden Triebes, der Spontaneität - das Bestimmbare dagegen als (a) auf die chaotische Masse der Eindrücke gerichtet, (b) organisches, (c) die Affektion,
143
Ich folge in diesem Einschub, der die Regelform der Gegensatzfigur bereits v o r deren eigentlicher Statuierung schon einmal aus der F o r m der Gegenstandsbezüglichkeit des Deduktionsverfahrens abliest und an ihr überprüft, dem Aufbau der Fassungen von 1 8 1 4 / 1 5 und 1822, die damit z w a r unübersichtlich werden, gleichwohl aber am präzisesten sind.
144
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , 2. Teil § 50 D A 2 100 ( D J 2 3 4 d o r t § 2 7 9 ) . Dial 1822, 68. Stunde ( N s . ) , D O 382f
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
aber nicht das Wissen hervorbringend weist auf die Rezeptivität}45 Damit bildet der Gegensatz zwischen der bestimmenden Tätigkeit und dem bestimmbaren Sein also die aller Bewußtseinstätigkeit ihre Grundstruktur verleihende Entgegengesetztheit zwischen dem eigenen (als solchem einheitlichen) Sein und dem äußeren (als solchem vielfältigen) Sein 146 in vermittelter Weise ab. All diese höherrangigen, bewußtseinskonstituierenden Entgegensetzungen sind also auch in der das Wesen des Deduktionsprozesses konstituierenden Eigenschaft „Gegenstandsbezüglichkeit" enthalten. Und zweitens gibt die Art und Weise, in der diese Entgegensetzungen in der Eigenschaft der Gegenstandsbezogenheit des deduktiven Verfahrens gesetzt sind, bereits einen Hinweis auf die Formalstruktur dieser Entgegengesetztheit: Zunächst bestehen die Glieder nicht gleichgewichtig nebeneinander, sondern immer ist eines von beiden im Ubergewicht. 147 Sodann sind die Glieder dabei einander aber nicht absolut, sondern relativ entgegengesetzt (insofern jedes Glied nur im Bezug auf die Vergleichung mit seinem Gegenpol diesem entgegengesetzt ist: die Aktivität ist Aktivität nur in Relation zur Passivität, nicht aber absolut gesehen)148. Und schließlich bestehen die Glieder doch als je für sich positiv gesetzte, voneinander unabhängige Entitäten: Keinesfalls bildet das eine Glied lediglich die einfache Negation seines Gegenpoles. 149 Damit sind die zur Näherbestimmung des deduktiven Verfahrens benötigten Eckdaten beisammen. Denn Schleiermachers Vorgehen besteht nun darin, daß er die Konsequenzen dieser in der Gegenstandsbezogenheit erkannten Bestimmungen systematisch auszieht. Denkt man das Verhältnis zwischen bestimmendem Vermögen und bestimmbarem Gegenstand nicht statisch, sondern - sachgemäß - dynamisch, so ergibt sich folgendes Bild: Indem das (intellektuelle) bestimmende Vermögen sich dem (organisch gegebenen) bestimmbaren Gegenstand zuwendet, befindet sich das Bestimmungsvermögen in Aktion und der Bestimmungsgegenstand verhält sich passiv. Doch gleichzeitig, im Bestimmungsakt selbst, wirkt der Bestimmungsgegenstand auf das BeH5 UG
Dial 1822, 68. Stunde (Ns.), D O 383 Dial 1 8 1 4 / 1 5 , 2. Teil § 50 D A 2 100 (DJ 234 dort § 279)
147
Dial 1822, 68. Stunde (Ns.), D O 382. Dieses Uberwiegen ist dabei als qualitatives Uberwiegen gedacht: „(...) eins von beiden ist immer bestimmter als das andere ( . . . ) " (a.a.O. Z . 3 8 0
148
Dial 1822, 69. Stunde (Ns.), D O 384 Dial 1 8 1 4 / 1 5 , 2. Teil § 50 D A 2 100 (DJ 234 dort § 279)
149
II. D a s methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften
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stimmungsvermögen affizierend ein: Der Bestimmungsgegenstand ist aktiv dem so gesehen passiven Bestimmungsvermögen zugewandt. Beide, bestimmende Tätigkeit und bestimmbarer Gegenstand, sind also - im perspektivischen Wechsel - jeweils zugleich aktiv und passiv.150 In dieser Zusammenschau des perspektivisch Unterschiedenen liegt nun das Herzstück der Schleiermacherschen Bestimmung des deduktiven Verfahrens. Denn in der Verbindung von Subjekt und Objekt und der Verbindung von Aktivität und Passivität sind bereits alle wesentlichen weiteren Bestimmungen des absteigenden, Begriffsbildungsverfahrens impliziert: (a) Die Teilungsgründe aufsuchende Form des Verfahrens. (b) Das engere Ziel der Teilung, nämlich: der Erweis der organisch gegebenen Mannigfaltigkeit als spezifizierbarer Einheit, (c) Die Gestalt dieser Teilung als positiver, zusammengesetzter, relativer Gegensatz. (d) Die unmittelbare Herkunft dieses Teilungsverfahrens aus der Struktur des Selbstbewußtseins. (e) Und die Verbundenheit dieser Gegensätze auf den höchsten Gegensatz. Diesen Punkten möchte ich mich jetzt nacheinander zuwenden. (a) Es legt sich nahe, daß das deduktive Verfahren sich zur Bewältigung seiner - o.g. - Aufgabe der „sondernden Sezung" 151 derjenigen Form der Zergliederung bedient, in der seine eigene Konstitutionsweise bereits fundamentiert worden war: Verdankte sich die Bedingung der Möglichkeit des deduktiven Verfahrens der Entgegengesetztheit von Subjekt und Objekt in einem weiteren Sinne, so erhebt das deduktive Verfahren eben dieses ihm eigene Konstitutionsmuster „Das O b j e c t wird im Bewußtsein gesezt als der G r u n d des Eindrukks, der im Bewußtsein selbst das Leiden ist; es wirkt, und ist also das überwiegend thätige, während dann im Subject, im Ich, überwiegend das Leiden ist. H i e r haben wir also die überwiegende Thätigkeit im äußern, das überwiegende Leiden im innern F a c t o r . A u f der andern Seite haben wir im Selbstbewußtsein nichts anderes als die Thätigkeit der Vernunft, welche die Begriffe bilden will, und durch welche aus d e m unbestimmten das bestimmte Bewußtsein wird. In diesem bestimmten Bewußtsein wird durch die intellectuelle F u n c t i o n das O b j e c t des Bewußtseins erkannt, das sich also hier u m g e k e h r t z u r innern Thätigkeit verhält als das leidende. H i e r haben wir nun den doppelten Gegensaz ( . . . ) " ( D i a l 1818 [ N s . ] , D J 237f). „Man kann also sagen, Das Subject ist eben s o w o l passiv als activ; passiv, sofern v o m A u ß e r u n s afficirt, activ, sofern es demselben die Sinne öffnet, u m es in sich aufzunehmen. E b e n s o , Das O b j e c t ist activ, sofern es auf die Sinne wirkt und das Subject in seinem Z u s a m m e n sein mit d e m gesammten Sein afficirt; passiv, sofern es v o n der geistigen Seite der D e n k f u n c t i o n in den Z u s a m m e n h a n g des Wissens hineingezogen w i r d . " (Dial 1831, L X X I I . Stunde [Ns.], D J 553). Vgl. auch Dial 1818 (Ns.), D J 2 3 6 und Dial 1831, L X X I I . Stunde ( N r . 16), D J 552 1 5 ' Dial 1831, L X X I . Stunde ( N r . 15), D J 551 150
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Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des Gesamtsystems
„Entgegengesetztheit" zur Schablone seiner eigenen Aktivität. Daraus ergibt sich, daß die Ableitungstätigkeit des Deduktionsverfahrens durch das Aufsuchen eines Gegensatzes als dem Einteilungsgrund des zu Bestimmenden vollzogen wird. 1 5 2 (b) Als den hinter dem unmittelbaren, formalen Ziel des Deduktionsprozesses (der Bildung des Begriffs im engeren Sinne) liegenden programmatischen Zweck dieses gegensatzstatuierenden Verfahrens halten die mittleren Entwürfe nahezu gleichlautend fest: Es ist vermittels des (durch im Teilungsgrund gefundenen) Gegensatzes aus der Einheit eine Vielheit zu konstituieren. 1 5 3 Gemeint ist damit, wie im Rückgriff auf oben Genanntes erhellt, daß unter Zugrundelegung des formalen Begriffes der Einheit des Seins die organisch gegebene, chaotische Mannigfaltigkeit des Wahrgenommenen als eine strukturierte Vielheit erkannt wird. In der chaotischen Totalität der Eindrücke sind im induktiven Verfahren Bilder gesondert worden, die erstens - insofern sie Repräsentanten der Welt sind - die vorläufig unbestimmte Vielheit der Welt vorstellen und zweitens zugleich - insofern sie die intellektuelle Funktion affizieren - eine vorläufig unbestimmte Einheit in sich tragen. In letztgenannter Gestalt aktivieren sie den von der intellektuellen Funktion getragenen Deduktionsprozeß, am Ende von dessen erfolgreichem Teilungsverfahren sich die ursprüngliche, chaotische, impulsgebende Mannigfaltigkeit idealerweise als sinnvoll geordnete, bestimmbare Vielheit erweist und damit implicite auch die
152
Dial 1 8 1 1 , 43. Stunde (Ms.) D A , 51f. Dial 1814/15, 2. Teil § 4 9 D A 2 99 (DJ 2 3 2 dort § 278). Dial 1 8 1 8 (Ns.), D J 238. Dial 1822, 68. Stunde (Ns.), D O 382. Daß gerade die sich aus der Konstitutionsbedingung des Deduktionsverfahrens ergebende Zergliederungsform durch Gegensatzstatuierung (und keine andere denkbare F o r m der Zergliederung) gewählt w i r d , ist Schleiermacher selbstverständlich und erfährt daher auch n u r implizite Erwähnung, etwa in Dial 1822, 62. Stunde (Ns.), D O 348 oder in Dial 1 8 3 1 , L X X I . Stunde (Nr. 15), D J 5 5 1 . Der Ausfall der Diskussion dieser Entscheidung am O r t e verdankt sich dem in A n s p r u c h genommenen Bedingungsverhältnis zwischen Gegensatzfigur und Selbstbewußtsein, wie unten deutlich w e r d e n w i r d - einstweilen muß der Hinweis auf Dial 1 8 1 8 (Ns.), D J 236 genügen: „Es ließe sich das ganze freilich auch ohne Entgegensezung denken (...), aber das ist gewiß, daß auf diese Weise kein Bewußtsein entsteht, denn erst aus jener Entgegensezung entsteht das Selbstbewußtsein unter der F o r m des Ich (...)".
153
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , 2. Teil § 4 9 D A 2 9 9 (DJ 232 dort § 278). Dial 1 8 1 8 (Ns.), DJ 238. Dial 1822, 68. Stunde (Ns.), D O 382. D e r Entwurf v o n 1 8 1 1 kennt diese Entwicklung der Vielheit aus Einheit noch erst in der vermittelten F o r m der Wiederholung des Hauptgegensatzes auf jeder subordinierten Stufe (Dial 1 8 1 1 , 43. Stunde (Ms.), D A ] 52 (DJ 351]), dem additiven Charakter der Fassung v o n 1831 entsprechend taucht jener unstrittige Topos dort nicht mehr auf.
II. Das methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften
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induktiv-bildhaft gesetzte Einheit ihre deduktiv-begriffliche Bestätigung erfährt. 154 (c) Wie aber soll geteilt werden? Durch welche formalen Bestimmungen müssen die Gegensätze, die sich im Teilungsgrund nahelegen, ausgezeichnet sein, damit sie die aufgestellten Ziele des deduktiven Verfahrens zu erreichen in der Lage sind? Folgende, regelhafte Forderungen lassen sich hier nun zusammenstellen: 1.: Vorbedingung ist, daß beide Gegensatzglieder positiv 155 seien es reicht nicht aus, daß zu einem positiven Gegensatzglied als O p positum lediglich dessen Negation tritt. 156 Der Grund hierfür liegt deutlich zutage: D e r wissenserweiternde Erweis echter Vielheit durch die Begriffsbildung kann nur durch die progressive, gleichmäßige Vervielfältigung auf beiden Seiten des Gegensatzes gelingen, nicht aber durch die Entfaltung logischer Implikationen auf der einen Seite des Gegensatzes in nur scheinbar gleichgewichtiger Form. 1 5 7 2.: Hauptsächlich gilt aber, daß der Gegensatz kein - perspektivisch verengender - einfacher Gegensatz sein darf: weil durch den Gegensatz immer ein Ganzes, eine „ursprüngliche" 158 Einheit geteilt werden soll, werden die zu setzenden Gegensatzenden nie in einem einander ausschließenden Widerspruchsverhältnis zueinander stehen können; sie hätten ja dann im zu teilenden Ganzen nicht vereinigt gewesen sein können. Sondern geteilt werden kann „eben nur das Zusammensein des entgegengesezten" 1 5 9 mit dem Ergebnis, daß in der Art der Teilung sowohl die prinzipielle Entgegensetztheit als auch die ursprüngliche Zusammengehörigkeit der Pole zum Ausdruck kommt. Geteilt werden kann nur so, daß zugleich die Unterschiedenheit und die Untrennbarkeit beider Pole zur Darstellung gelangt. U m in dem Verfahren der absteigenden, ordnenden Begriffsbildung dieses Ineinander von Einheit und Zweiheit niemals aus dem Blickfeld zu verlieren, wird daher
,54
Dial 1818 (Ns.), DJ 234-239
155
Dial 1811, 45. Stunde (Ms.), D A , 54 (DJ 355). Dial 1 8 1 4 / 1 5 , 2. Teil § 60 D A 2 103 (DJ 243 dort § 289). Dial 1818 (Ns.), DJ 235. Dial 1822, 71. Stunde (Ns.), D O 392f. Dial 1831, L X X I V . Stunde (Nr. 18, Anm. 3), DJ 556 Formallogisch gesprochen sind also nicht Gegensätze der Art a ν —' a gemeint, sondern solche der Art a ν b - welche Formalisierung genannt werden soll, wiewohl Schleiermacher selbst von derartigen Spezifizierungen bewußt absieht, denn: „Die Kunstausdrücke verwirren hier nur." Dial 1822, 71. Stunde (Ns.), D O 393 Dial 1 8 1 4 / 1 5 , 2. Teil § 60.1-4 D A 2 103f (DJ 243f dort § 289)
156
157 158 159
Dial 1818 (Ns.), DJ 246,31 Dial 1818 (Ns.), DJ 245,28
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
nun folgendes Verfahren angewandt: 160 Der zu teilende Gegenstand wird zunächst durch einen einfachen Gegensatz in zwei Glieder der subjektbegrifflichen Form Α und Β geteilt. Auf diese Glieder wird nun ein zweiter Gegensatz in prädikatbegrifflicher Form angewandt, der zwischen c und d. 161 Α und Β begegnen uns also einerseits und, insofern sie in Α und Β auseinanderfallen, als gänzlich voneinander Unterschiedene. Doch andererseits zugleich gilt die Beobachtung, daß die durch c und d bezeichneten Formen an Α als auch an Β Gestalt annehmen können: Das Prädikat c begegnet uns an Α als Ac, an Β als Bc; das Prädikat d begegnet an Α als Ad, an Β als Bd. Insofern die Subjektbegriffe Α und Β also in identisch prädizierter Form auftreten können, begegnen sie uns als Zusammengehörige. Beide Gegensätze in eins geschaut, ergibt sich: Α und Β sind nur noch dann entgegengesetzt, wenn Α als Ac und Β als Bd (bzw. umgekehrt Α als Ad und Β als Bc) auftritt. Α und Β sind jedoch als merkmalsgleich zusammengehörig, wenn Α als Ac und auch Β als Bc (bzw. umgekehrt A als Ad und Β als Bd) auftritt. Α und B 1 6 2 sind in jener ,,doppelte[n] Entgegensezung", die „Aufeinanderbezogensein" und „Theilung" 163 miteinander harmonisiert, zugleich identisch als auch unterschieden. 3.: Faßt man diesen doppelten Gegensatz (als zwar zweigliedrigen, aber in sich einheitlichen) einen Gegensatz, so ist festzuhalten, daß
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163
Vgl. zum folgenden hauptsächlich Dial 1831 (Ms.), L X X I V . Stunde, D J 556 (§ 18 Anm. 3); Dial 1831 (Ns.), L X X I V . Stunde, D J 556f; siehe auch Dial 1818 (Ns.), D J 245f. An dieser Stelle wird also der für alle Begriffsspezifizierungen grundlegende (vgl. z.B. Dial 1814/15, 2. Teil §§ 21-25 D A 2 85-88 [dort §§ 250-254]) Unterschied zwischen Subjekts- und Prädikatsbegriffen in den Deduktionsprozeß eingeholt (Dial 1822, 68. Stunde [Ns.], D O 382) und bildet so den Hintergrund für die Forderung nach prologischer - nicht eigentlich zu den materialen Akten des Deduktionsprozesses zu zählender — Vorentscheidung an den Deduktionsprozeß: er möge vor allem eigentlichen Verfahrensbeginn verbindlich wählen, o b der den ihm gegebenen Begriff unter dem Gesichtspunkt von dessen Beharrlichkeit oder dessen Veränderlichkeit, seines Seins oder seines Tuns in den Blick fassen wolle (Dial 1818 [Ns.], D J 248. Dial 1831, L X X V I . Stunde [Nr. 21], D J 559). Die Forderung betrifft also die Klarheit über den Aspekt, unter der der Begriff betrachtet werden soll, nicht aber das Wesen des Begriffs selbst: Jeder Begriff kann eben so gut als Subjektbegriff wie als Prädikatbegriff gesetzt werden, welche doppelte Betrachtungsweise für eine vollständige Erfassung des Begriffes sogar unerläßlich ist - nur eben in der sauberen perspektivischen Trennung (Dial 1822, 72. Stunde [Ns.], D O 397-399). Das Nämliche läßt sich im perspektivischen Wechsel natürlich genauso für das Verhältnis zwischen c und d durchführen. Dial 1831, L X X I V . Stunde (Ns.), D J 556f
II. Das methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften
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er keine absolute, sondern nur relative164 Gestalt tragen kann. Dies gilt erstens für die Gegensatzglieder. Beide Glieder des einfachen Gegensatzes sind infolge der Kreuzung mit dem zweiten Gegensatz an jedem Gegensatzendpunkt doppelt gesetzt und die Positionsdefinition der beiden den doppelten Gegensatz bildenden Pole besteht nur mehr im verhältnismäßigen Uberwiegen des einen oder anderen gegensätzlich Gesetzten 165 : Jeder der beiden gegensätzlichen Pole des doppelten Gegensatzes hält an seinem Endpunkt lediglich das „Uebergewicht" 166 bzw. „dominirt" 167 über sein Oppositum. Die Glieder des in sich einen, gedoppelten Gegensatzes stehen immer nur im „beziehungsweisen"168 Gegensatz, im Gegensatz des „Mehr oder Minder" 169 . Doch zweitens stehen auch die beiden im doppelten Gegensatz vereinigten Teilgegensätze selbst in einem relativen Gegensatz zueinander: Denn der erste bringt das Auseinandergetretensein, der zu ihm tretende zweite aber das Aufeinanderbezogensein der Teilglieder zum Ausdruck. Erster und zweiter Teilgegensatz stehen selbst unter dem Gegensatz des „festen und fließenden"170, „zwischen Konstantem und Wandelbarem" 171 : „Der Gegensatz selbst trägt den des Festen und Flüssigen, des Absoluten und Relativen an sich, worin sich die entgegengesetzten Punkte als ein Minimum und Maximum verhalten." 172 Als Bezeichnung für diese zweifache, die Relativität der Gegensatzglieder und die Relativität der Teilgegensätze konstituierenden Teilungsart ist hier der Begriff der „Viertheilung" 173 dem Ausdruck „Quadruplizität" unbedingt vorzuziehen. Der letztgenannte Terminus hat sich zwar, im Rückgriff auf Schleiermachers Verwendung die164
166 167 168
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171 172 173
Dial 1 8 1 1 , 44. Stunde (Ms.), D A , 52 (DJ 352). 45. Stunde (Ms.), D A , 54 (DJ 354). Dial 1814/15, 2. Teil § 65 D A 2 106 (DJ 254 dort § 294). 2. Teil § 68 D A 2 107 (DJ 255 dort § 297). 2. Teil § 24 D A 2 87 (DJ 199 dort § 253). 2. Teil § 25 D A 2 87 (DJ 200 dort % 254). Dial 1822, 69. Stunde (Ns.), D O 384. Dial 1831, L X X V I . Stunde (Nr. 21), DJ 559 Der Gegensatz lautet, formallogisch gesprochen, also nicht a ν b, sondern ab. Dial 1818 (Ns.), DJ 245,30f Dial 1818 (Ns.), DJ 246,19f Z.B. C G 1 § 10.1 = K G A 1/7.1, 34,33. § 18.3 = K G A 1/7.1, 65,10. Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 554 (§ 118) Notiz Nr. 144 zu Dial 1 8 1 1 , (Ms.), D A , 76. Dial 1814/15, 2. Teil § 24f D A 2 87 (DJ 199f dort § 253f). Dial 1822, 71. Stunde (Ns.), D O 395 Dial 1822, 71. Stunde (Ns.), D O 397. 72. Stunde (Ns.), D O 398. Vgl. auch Dial 1831, LXXIII. Stunde, DJ 555 Dial 1822, 70. Stunde (Ns.), D O 392 Dial 1822, 71. Stunde (Ns.), D O 395 Dial 1818 (Ns.), DJ 247,10-30
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Erstes Kapitel: G r u n d z ü g e des Gesamtsystems
ses Ausdrucks in der 1822er Fassung, seinen festen Platz in der Sekundärliteratur erobert 174 , muß aber m.E. dennoch zur Erfassung der die o.g. doppelte Relativität konstituierenden Teilungsart als unzureichend gelten. Denn er bezeichnet auch in der Schleiermacherschen Verwendungsweise lediglich das (zweitgenannte) relative Verhältnis der Teilgegensätze zueinander. 175 (d) Allerdings: Woher bezieht diese Regelfigur der absteigenden Begriffsbildung ihre höchst komplexe Form? Worauf kann sie verweisen, wenn die Frage nach ihrer Angemessenheit gestellt wird, wenn sie um ihre Legitimation gebeten wird? Schleiermachers emphatisch vorgetragene Meinung gibt folgende Auskunft: Die Figur des positiven, doppelten, relativen Gegensatzes ist uns „als Fachwerk, als regulatives Princip" 176 an keinem geringeren Orte als im Selbstbewußtsein selbst gegeben: „Aus der Art wie uns der erste Begriff der Welt zusammengenommen mit dem Selbstbewußtsein wird, geht hervor daß wir die Welt nur durch doppelten Gegensaz theilen können" 1 7 7 . Denn schon die „erste untergeordnete Stufe des Selbstbewußtseins" 178 verdankt sich dem duplizitären Bedingungsgefüge aus intellektueller und organischer Funktion, kreuzweise als aktiv und passiv gesetzt: „Denken wir uns das Selbstbewußtsein als Einheit in seinem ersten Entstehen: so müssen wir doch unterscheiden, wie das Erfülltsein der organischen Function als solches überwiegend Passivität ist, das Theilenwollen dagegen in der intellectuellen Function überwiegend Activität, und also sagen, daß beide Momente zugleich gesezt werden, aber als einander entgegengesezt, das eine als Uebergewicht der Activität, das andre als Uebergewicht der Passivität" 179 . Aber Schleiermacher geht noch weiter. Daß der Deduktionsprozeß in seiner wesentlichen Regel die Struktur des Selbstbewußtseins abbildet, ist nicht überraschend, denn im deduktiv begriffsbildenden Verfahren selbst vollzieht sich nach Schleiermachers Auskunft die Entstehung des Selbstbewußtseins, sofern es dem äußeren Bewußtsein entgegengesetzt ist: „Das Ich ist die Einheit, die Welt ist die Vielheit, 174
175
176 177 178 179
Pohl: Studien 105-107; Wagner: Dialektik 247ff; Lehnerer: Kunsttheorie 27; Scholtz: Philosophie Schleiermachers 55 „Die Vorzüglichkeit der Quadruplizität beruht darauf, daß hier die Vereinigung der beiden F o r m e n des Gegensatzes, des festen und fließenden, also der ursprünglichsten Teilung, vorliegt." (Dial 1822, 71. Stunde [Ns.], D O 397 Dial 1811, 44. Stunde (Ms.), D A t 52f (DJ 352) Dial 1814/15, 2. Teil § 61.1 D A 2 104 (DJ 245 dort § 290.1) Dial 1818 (Ns.), DJ 236 Ebda.
II. Das methodische Prinzip des Systems der Wissenschaften
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die chaotische Masse ist weder das eine noch das andre, und darum ist sie unbestimmte Einheit und Vielheit. Die Vielheit, so daß das Ich zugleich damit wird, kann aus dem chaotischen nur entstanden sein durch das Ausgehen von der Einheit, nur dadurch, daß ein Theilungsgrund gesezt und das objective und subjective aus dem unbestimmt chaotischen als aus einem doppelten Sein ausgeschieden wird, also nur durch Entgegensezung. Der Gegensaz liegt aber in der überwiegenden Thätigkeit auf der einen Seite und in dem überwiegenden Leiden auf der andern, dem aber gegenübersteht ein überwiegendes Leiden auf jener und eine überwiegende Thätigkeit auf dieser Seite. Aus der ursprünglichen Verworrenheit sehen wir also zweierlei entstehen, das Bewußtsein der Dinge unter der Form des Bildes und das Selbstbewußtsein unter der Form des Ich."180 Ich fasse zusammen:181 Alle Aktivität und sogar das Entstehen des Selbstbewußtseins verdankt sich zunächst der prinzipiellen Differenz zwischen Denken und Gedachtem, zwischen Subjekt und Objekt. (Im deduktiven Verfahren bildet sich dieses erste Moment in der Setzung eines ersten, aus Subjektbegriffen gebildeten Teilgegensatzes ab.) Doch diese erste Differenz wird gekreuzt durch eine zweite, nicht weniger fundamentale Grundunterscheidung: Denjenigen Sachverhalt nämlich, daß stets nur von einer dieser beiden Entitäten Aktivität bzw. Passivität prädiziert werden kann. Entweder ist das (affizierende) Objekt aktiv und das (aufnehmende) Subjekt passiv - oder umgekehrt. (Im deduktiven Verfahren bildet sich dieses zweite Moment in der Setzung eines zweiten, aus Prädikatbegriffen gebildeten Teilgegensatzes ab.) „Der Gegensaz zwischen Subject und Object ist nicht ein einfacher von Action und Passion, sondern die entgegengesezte Identität von beiden."182 In dieser Gestalt stellt er das Muster aller Begriffszerlegung durch doppelten Gegensatz dar: (e) Im oben genannten Grundgegensatz des Selbstbewußtseins „wollen [wir] nun das, was die Activität des Objects ausmacht, das reale, was die Passivität, das ideale nennen. Die Identität von beiden ist der Begriff des Objects. Der Begriff des Subjects ist dieselbe Identität, aber hier ist das ideale die Activität und das reale die Passivität. 180
Dial 1 8 1 8 (Ns.), DJ 2 3 7
,8'
Die klarsten Beschreibungen dieses aus Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität konstituierten zusammengesetzten Gegensatzes des Selbstbewußtseins finden sich in Dial 1 8 1 8 (Ns.), D J 2 3 5 - 2 3 7 und in Dial 1 8 3 1 , L X X I I . Stunde (Ms.), N r . 1 6 (DJ 552), L X X I I . Stunde (Ns.), DJ 552f. Dial 1 8 3 1 , L X X I I . Stunde (Nr. 16), DJ 552
182
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
(...) So haben wir also auf beiden Seiten als den dominirenden Gegensaz die Identität des idealen und realen, aber mit umgekehrtem Uebergewicbt der Activität und Passivität. Das ist der oberste Gegensaz, aus welchem nachher wieder weiter getheilt werden soll." 1 8 3 Die uns in der Struktur des Selbstbewußtseins gegebene Teilungsformel ist also deckungsgleich mit dem - im transzendentalen Teil der Dialektik durch die wesentlichen das Subjekt konstituierenden Funktionen befrachteten 184 - höchsten Gegensatz! Der das Bewußtsein konstituierende transzendentale Grundgegensatz ist identisch mit dem die Begriffsbildung leitenden technischen Grundgegensatz. 185 Bei allen terminologischen Schwankungen 186 ist die Fassung von 1831 zu diesem für das Begriffsbildungsverfahren wesentlichen Punkt in der Tat an Anschaulichkeit und Eindeutigkeit unübertroffen. 187 Dial 1831, L X X I I . Stunde (Ns.), DJ 553. Hervorhebung im Original " 4 Vgl. Dial 1814/15, 1. Teil § 134 DA 2 28 (DJ 76f): „1. Wer ein Wissen will (...) 2. Wer sich selbst finden und festhalten will (...) 3. Wer die Welt im Gegensaz mit dem Ich halten will (...) 4. Also wer überhaupt die Anschauung des Lebens will muß diese Duplicität wollen." Vgl. auch § 135 DA2 28 (DJ 77): „Der höchste Gegensaz ist die Grenze des transcendentalen und immanenten und so er alles unter sich befaßt worin sich das System der Gegensäze ausdehnt so kann er nur (...) von dem Einen Sein befaßt werden und auf dieses zurükführen welches ihn umd mit ihm alle zusammengesezten Gegensäze aus sich entwikelt." 1 8 5 Das nähere Eingehen auf die Implikationen, die sich aus dieser Beobachtung erstens für Schleiermachers Vorstellung der Konstitution der Subjektivität und zweitens für den diese Konstitutionsweise offensichtlich abbildenden inneren Zusammenhalt des Aufbaus der Dialektik ergeben, verbietet sich im Zusammenhang der vorliegenden methodischen Erwägungen. Dringend hervorzuheben ist jedoch die Erläuterungsfunktion, die dem gegenwärtig verhandelten, technischen Topos für die Statuierung des höchsten Gegensatzes im transzendentalen Teil zukommt: Denn der dort bereits in Geltung befindliche - durchaus transzendental zu nennende - Sachverhalt, daß sich der subjektkonstituierende höchste Gegensatz immer schon jenem komplex vierelementigen Bedingungsgefüge aus Subjektivität und Objektivität, Aktivität und Passivität verdankt, erhellt erst aus der hier zur Verhandlung anstehenden Textpassage zu den formalen Regeln der Begriffsbildung. 1 8 6 Diese sind im gelegentlichen Austausch der Bezeichnung des Gegensatzes zwischen Idealem und Realem und dem zwischen Subjekt und Objekt in der Fassung von 1831 wahrnehmbar, vgl. z.B. Dial 1831, L X X I V . Stunde (Nr. 18 Anm. 3), DJ 556 mit der Vorlesungsnachschrift des entsprechenden Punktes Dial 1831, L X X I V . Stunde, DJ 556 Z.22-31 und mit Dial 1831, L X X I I . Stunde (Nr. 16), D J 552. 183
187
Vgl. W. Diltheys superlativische Einschätzung: „Die Redaktion von 1831 ist [bezüglich des in Frage stehenden Zusammenhanges zwischen höchstem Gegensatz und Begriffsbildungsverfahren, C.A.] zu vollkommener Klarheit in der Auffassung durchgedrungen. Und zwar ist der Standpunkt, den er nunmehr erreicht hat, die am wenigsten glänzende, aber haltbarste Form, welche die deutsche Transzendentalphilosophie in ihrer auf objektive Welterkenntnis und Entwicklungslehre gerichtete [sie!] Modifikation angenommen hat." (Dilthey, LS II/l 190, Hervorhebung im Original)
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Wohl kennen die vorangehenden Fassungen einen sich auf allen Stufen des absteigenden Begriffsbildungsverfahrens wiederholenden Hauptgegensatz 188 und wohl kann man aus den vorangehenden Fassungen zaghafte Andeutungen der (je unterschiedlich bestimmten) konstitutiven Rolle des höchsten Gegensatzes zwischen Idealem und Realem für die Begriffsbildung herauslesen 189 . Aber erstens bestehen der sich stufenweise wiederholende Hauptgegensatz und die normative Potenz des höchsten Gegensatzes für das deduktive Begriffsbildungsverfahren noch unverbunden nebeneinander und zweitens stehen der transzendentale Grund des Bewußtseins und die technische Regel der Begriffsbildung nur in einem losen, nicht über das allgemeine Maß der Bezogenheit des Technischen auf das Transzendentale hinausgehenden Verbund. Erst 1831 aber erkennt Schleiermacher im höchsten Gegensatz explizit denjenigen schablonenhaften Hauptgegensatz, auf dessen Teilungsform und auf dessen Teilgliedinhalte jeder nachfolgende Gegensatz im System der Gegensätze sich, richtiges Teilungsverfahren vorausgesetzt, muß zurückführen lassen können. 190 Und ebenfalls erst 1831 ist die Begründung für die Einheit des Seins mit der Begründung
188
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Sowohl die aus der Einheit Vielheit bildende Form (Dial 1811, 43. Stunde (Ms.), DAi 52 Z.3 [DJ 351]) als auch der Inhalt der Setzungen (Dial 1811, 44. Stunde (Ms.), DA) 52 Z.27 [DJ 352]) bildet sich dabei in jeweils allgemeinster Form auf allen Stufen ab. Vgl. auch Dial 1814/15, 2. Teil § 55 DA 2 101 (DJ 241 dort § 284), Dial 1818 (Ns.), DJ 250-252 und Dial 1822, 68. Stunde (Ns.), D O 382. Dial 1811, 44. Stunde (Ms.), DA, 52 Z.21-24 (DJ 353) wird der Gegensatz mit dem Gegensatz zwischen „Sein" und „Thun" auf einer Ebene genannt. Dial 1814/15, 2. Teil § 50 DA2 100 (DJ 234 dort § 279) wird die durch Spontaneität und Rezeptivität, Aktivität und Passivität konstituierte Bestimmtheit des Gegensatzes zwischen Idealem und Realem zwar genannt, doch offensichtlich wird dieser nicht als höchster Gegensatz angesehen: Im Leitsatz des Folgeparagraphen werden sowohl der Gegensatz zwischen Idealem und Realem als auch der zwischen Objektivem und Subjektivem gleichermaßen auf die Indifferenz zwischen Sein und Tun zurückgeführt (Dial 1814/15, 2. Teil § 51 DA 2 100 [DJ 239 dort § 280]). Daß sich darin terminologische Form und sachlicher Gehalt der Letztfassung von 1831 bereits andeuten könnten, muß eher als bewußtloser Zufall gewertet werden: In den Vorlesungsnachschriften des Jahres 1818 fehlt die Nennung des höchsten Gegensatzes am Orte des begriffsbildenden Verfahrens völlig, 1822 wird der Gegensatz zwischen Idealem und Realem als ausschließlich in der Aktivität des intellektuellen Verfahrens angesiedelte Denknotwendigkeit vorgestellt (Dial 1822, 69. Stunde (Ns.), D O 385). Erst am Schluß der 1822er Fassung taucht in einer Art Zusammenfassung eine alle auch hier stark gemachten Aspekte betonende Beschreibung des deduktiven Verfahrens auf, ohne daß deren Bestimmungen jedoch am einschlägigen Orte selbst hinreichend deduziert worden wären: Dial 1822, 86. Stunde (Ns.), D O 461f. (Vgl. unten S. 54) Dial 1831, L X X I . Stunde (Nr. 15), DJ 552. L X X I I . Stunde (Ns.), DJ 553
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
für die Einheit des Denkens identisch. 1 9 1 Denn das Strukturgesetz des Denkens und das Strukturgesetz des Seins stimmen sowohl in ihrer (vierpolig zwischen Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität sich definierenden) formalen Struktur192 als auch in ihrer die chaotische Mannigfaltigkeit ordnenden Funktion193 überein. Die Regeln des Begriffsbildungsverfahrens sind uns in der Struktur des Selbstbewußtseins gegeben. Damit erschließt sich erst über Schleiermachers letzte Beschreibung der Regeln des deduktiven Begriffsbildungsverfahrens die zentrale Funktion dieses Stückes. Allerdings konnte man schon in der die 1822er Dialektik-Fassung abschließenden Zusammenfassung des architektonischen Verfahrens die zentrale Funktion des begriffsbildenden Verfahrens herauslesen (obwohl diese Zentralfunktion in der materialen Durchführung jener Fassung noch nicht so deutlich hervortritt): „Ferner sagten wir, alle Teilung und Entgegensetzung müsse von dem ausgehen, was in unserem eigenen Selbstbewußtsein als Bedingung alles Wissens gegeben sei, von der Entgegensetzung des Denkens und Seins und von der Identifikation beider, d.h. vom Gegensatz des Idealen und Realen, so daß w i r die Identität des Realen und Idealen einerseits mit dem Ubergewicht des Idealen und andrerseits mit d e m U b e r g e w i c h t des Realen als den vollkommensten Gegensatz aufstellen mußten. Das eine gibt uns das Gebiet des ethischen, das andre das des physischen Wissens. Jedem von beiden wären die beiden Formen des Spekulativen und Empirischen einwohnend. U n d diese Differenz müßte sich in der Vollendung der Wissenschaft durchaus durchdringen. Die empirische F o r m müßte von Anfang an die Anlage fürs Spekulative, und die spekulative Form die Anlage fürs Empirische haben. Eins von beiden w ä r e nur einseitig und chaotisch. N u r in jener A n n ä h e r u n g an die Durchdringung liegt das Wissen, so daß w i r eine spekulative und eine empirische Ethik und eine empirische und spekulative P h y s i k haben werden." 1 9 4
191 192 193 194
Dial Dial Dial Dial
1831 (Ms. und Ν), X X X I . Stunde, DJ 499f 1831, LXXII. Stunde (Ns.), DJ 553 1831, L X X I V . Stunde (Ns.), DJ 556 1822, 86. Stunde (Ns.), D O 461f
E x k u r s : D e r D e d u k t i o n s p r o z e ß in logikhistorischer Perspektive
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Exkurs: Schleiermachers Konzeption des Deduktionsprozesses in logikhistorischer Perspektive Im Vorangegangenen habe ich Schleiermachers Ausführungen über das begriffsbildende Verfahren mit dem gezielten Blick auf die in diesem Kapitel zu leistende systematisch orientierte Rekonstruktion des Gesamtsystems vorgestellt, indem ich zunächst nach der Form und der Begründung derjenigen methodischen Figur fragte, die Schleierrnacher die Ableitung und Begründung des Systems der Wissenschaften ermöglichen wird. Bevor ich mich im folgenden Abschnitt Schleiermachers Ableitung des Systems der Wissenschaften selbst widme, möchte ich zwischenhinein unter einem anderen, etwas allgemeineren und für jede Schleiermacher-Interpretation gültigen Aspekt noch einmal um Aufmerksamkeit für den soeben betrachteten Abschnitt werben. Denn an ihm läßt sich exemplarisch ablesen, in welcher Weise Schleiermacher kritisch an vorhandene Traditionsbestände anknüpft, indem er sie unter systematischen Aspekten interpretiert und so in programmatischer Weise weiterbildet. Zwar verlasse ich mit diesem Blickwinkel den streng systematisch rekonstruierenden Rahmen meiner Konzeption dieser Untersuchung kurzfristig, aber ohne den so zu vermittelnden exemplarischen Eindruck müßte das Bild von den Grundzügen des Gesamtsystems doch unvollständig bleiben. Darum möchte ich an dieser Stelle in exkursorischer Weise den Blick auf Schleiermachers Konzeption des Deduktionsprozesses einmal aus logikhistorischer Perspektive richten: Aus dieser Perspektive läßt sich am umweglosesten der erzielte exemplarische Eindruck gewinnen. A. Schleiermachers Anknüpfung an die überlieferte Logik Schleiermacher selbst hat den formalen bzw. technischen Teil der Dialektik wiederholt als „ L o g i k " bezeichnet. 195 Darüber hinaus 195
Belege finden sich vor allem im Z u s a m m e n h a n g mit der B e h a u p t u n g der U n t r e n n barkeit v o n M e t a p h y s i k und L o g i k b z w . transzendentalem und f o r m a l e m Teil der Dialektik (vgl. z.B. Dial 1811 [ N s . ] , 3. Stunde, D A i 5f; Dial 1814/15, Einl. § 16 D A 2 4 [ D J 7]). A u c h in der Sekundärliteratur ist diese Bezeichnung im wesentlichen unumstritten - vgl. z.B. Pohl: Studien 92-110; Reuter: Einheit 100,17. W. Dilthey bezeichnet Schleiermachers Dialektik in toto als „die erste erkenntnistheoretische L o g i k " (Dilthey: L S I I / l 157 u.ö.), bezieht dieses Prädikat jedoch auf den f o r m a len Teil. (Vgl. z u m Sinn dieser Kennzeichnung Scholtz: Schleiermacher-Dilthey bes. 177-183.) H i n g e g e n bestreitet F. Wagner d e m formalen Teil der Dialektik den R a n g einer L o g i k mit der B e g r ü n d u n g , im formalen Teil ziele Schleiermacher nicht auf eine A u f s t e l l u n g der Verstandesgesetze, sondern auf eine Aufstellung von P r o d u k -
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
scheinen - naturgemäß - vor allem die früheren Fassungen der Dialektik-Vorlesungen den expliziten Rekurs auf die überlieferte L o gik genommen zu haben 1 9 6 , teilweise offensichtlich mit ausführlicheren historischen Exkursen 1 9 7 . Notierenswert ist dabei der in zahlreichen dieser Anknüpfungen durchscheinende Uberbietungsanspruch über die hergebrachte Logik, der sich teils allgemein auf die Unverbundenheit der Logik mit der Metaphysik richtet 1 9 8 , teils auch speziell auf die Uberbewertung der Syllogismuslehre 1 9 9 bei gleichzeitiger Unterbewertung der Begriffslehre 200 bezieht. Diese allgemeine Beobachtung der kritischen Anknüpfung Schleiermachers an die überlieferte Logik bestätigt sich auch im Detail, bei näherer Betrachtung der im vorliegenden Zusammenhang eintionsregeln für das Wissen (Wagner: Dialektik 238). Dabei übersieht Wagner, daß Schleiermachers Intention eben gerade in der funktionalen Anbindung der Logik an die höchste Wissenschaft (oder anders gesagt: in einer Aufhebung der Trennung zwischen Logik und Metaphysik) besteht und setzt einen Begriff formaler Logik voraus, der nicht der Schleiermachersche ist. Denn darin, daß Schleiermacher den formalen Teil der Dialektik zu einem „Organon der Wissenschaften überhaupt" funktionalisiert (wie Wagner: Dialektik 238 zutreffend formuliert), wird man nicht sofort einen Mangel, sondern zunächst eine programmatische Umbestimmung der Logik erkennen müssen. So z.B. auf die platonische Logik (bspw. Dial 1811 [Ns.], 3. Stunde, D A i 5; Dial 1811 [Ms.], 15. Stunde, D A t 23 [DJ 320]; 34. Stunde, D A , 41 [ D J 340]; Dial 1814/15, T l . l § 180.2.b. D A 2 43 [ D J Ι ΐ ΐ ή ; Dial 1822 [Ns.], 61. Stunde, D O 345,39-346,4; 80. Stunde, D O 436,9ff; Dial 1831 [Ns.], V I I . Stunde, D J 482,29-33), auf die aristotelische Logik (bspw. Dial 1811 [Ms.], 30. Stunde, D A ] 38 [ D J 337]; Dial 1814/15, Einl. § 16.b. D A 2 4 [DJ 8]; Dial 1818 [Ns.], D J 8; Dial 1822 [Ms.], I X . Stunde, D O 83 [ D J 376], s. auch a.a.O. [Ns.], 9. Stunde D O 87,1-10; Dial 1822 [Ns.] 72. Stunde, D O 398; 80. Stunde, D O 436,9ff) oder auf die Baumgartensche Logik (Dial 1811 [Ms.], 30. Stunde, D A ] 37 [ D J 336]). Zum Zurücktreten der historischen Rückversicherung in den späteren Vorlesungsentwürfen vgl. auch die sich auf die Erörterung des Unterschiedes zwischen Begriff und Urteil in Dial 1828, 12. bzw. 14. Stunde, D J 446-449 beziehende Schleiermachersche Zettelnotiz: „Das Historische gedenke ich sehr untergeordnet zu behandeln (Plat. Arist. am liebsten ungenannt; ( . . . ) " , überliefert in D O Anhang I, H a ( D O 480). 197
198
So scheint Schleiermacher z.B. in der Vorlesung 1818, bei der ersten Erwähnung der Logik in der Einleitung, einen etymologischen Einschub vorgesehen zu haben: Dial 1818 (Ms.), N r . V , D J 364,4f. Wodurch die Logik in der Selbstbeschränkung unsachgemäße Gestalt annehme ( N o tizheft zur Dialektik [1811-1818], D A i 71, [85.]; Einleitung in die Dial 1833, § 5.1, D A 2 148,27-33 [ D J 601]), indem sie willkürliche (Dial 1818 [Ms.], Nr. V I . l , D J 364) oder gar phantastische (Dial 1814/15, Einl. § 16 D A 2 4 [ D J 7J) Setzungen vornehme.
199
Dial 1811 (Ms.), 30. Stunde, D A ] 38,4ff.20ff ( D J 337). Dial 1814/15, T1.2 § 8.2 D A 2 78 ( D J 183 dort § 237.2). § 99 D A 2 114 ( D J 285 dort § 328)
200
Dial 1811 (Ms.), 30. Stunde, D A i 38,9-15 ( D J 337). Notizheft zur Dialektik (18111818), D A ] 75, [130.]
Exkurs: Der Deduktionsprozeß in logikhistorischer Perspektive
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schlägigen Ausführungen zum Deduktionsverfahren. A m ausführlichsten scheint Schleiermacher in der Vorlesung von 1822 auf das Verhältnis ,,unser[es] Verfahren[s]" „zu dem gewöhnlichen System der L o g i k " eingegangen zu sein, wie aus den Vorlesungsnachschriften hervorgeht. 2 0 1 Schleiermacher hebt dort eingangs die äußerliche Gleichartigkeit des Verfahrensansatzes in der eigenen wie in der überlieferten Theorie der Begriffsbildung hervor, die in der durch fließende Gegensätze klassifizierenden Vorgehensweise bestehe. 202 Die fundamentalen Unterschiede sieht Schleiermacher dann jedoch in der Durchführung und im Ergebnis des Teilungsverfahrens gegeben, und er bezieht sie sämtlich auf die Differenz im Ausgangspunkt des Teilungsverfahrens. Denn wo im Schleiermacherschen Verfahren die Rückbindung der Gegensätze an den Grundgegensatz zwischen Induktion und Deduktion bzw. zwischen organischer und intellektueller Funktion (und damit an die beiden einander relativ entgegengesetzten Grundfunktionen des Bewußtseins) sicheres 2 0 3 , regelmäßiges 204 und gleichmäßiges Erkennen 2 0 5 garantiere, lege die herkömmliche Logik beliebige, im reinen Denken nicht verortbare 2 0 6 und also auch keine sicheren Teilungskriterien bereitstellende 207 Gegensätze zugrunde 2 0 8 und müsse so zwangsläufig willkürliche 209 Ergebnisse erzielen: Die Division kann sich aus konstitutionellen Gründen lediglich auf organisch gegebene Vorstellungen beziehen, zu deren recht eigentlich die Vollkommenheit des Begriffs intendierender 210 , verallgemeinernder
201
202 203 204 205 206 207 208
209 210
U n d zwar gliederungstechnisch gesehen als Beschluß der Darstellung des D e d u k tionsverfahrens, damit zugleich als Uberleitung v o m begriffsbildenden z u m urteilsbildenden Verfahren angesiedelt: Dial 1822 (Ns.), 73. u. 74. Stunde, D O 403-408. D i e Vorlesung von 1814/15 sah an entsprechendem O r t Ausführungen über die Abhängigkeit der Dialektik von der Hermeneutik vor: Dial 1814/15, T1.2 § 74 D A 2 110 ( D J 260 dort § 303). Vgl. auch Dial 1818 (Ns.), D J 260. Dial 1822 ( N s . ) , 73. Stunde, D O 403,22-35 Dial 1822 ( N s . ) , 73. Stunde, D O 405,4f. 74. Stunde, 408,1-3 Dial 1822 ( N s . ) , 73. Stunde, D O 405,33 Dial 1822 ( N s . ) , 73. Stunde, D O 406,13-16 Dial 1822 ( N s . ) , 73. Stunde, D O 404,9.32 Dial 1822 (Ns.), 73. Stunde, D O 404,31-35. 405,26-37 ζ. B. den G e g e n s a t z zwischen Deutlichkeit und Verworrenheit (Dial 1822 [Ns.], 73. Stunde, D O 403,30f), den Gegensatz zwischen vielumfassender und abgesonderter Vorstellung (Dial 1822 [Ns.], 73. Stunde, D O 404,23-25) oder den Gegensatz zwischen Verschiedenem und Ahnlichem (Dial 1822 [Ns.], 73. Stunde, D O 405,33f) Dial 1822 (Ns.), 73. Stunde, D O 406,9. 74. Stunde, D O 407,36 Dial 1822 ( N s . ) , 74. Stunde, D O 407,17-39
58
Erstes Kapitel: G r u n d z ü g e des Gesamtsystems
Abstraktion 2 1 1 aber fest fixierte212 - im reinen Denken lokalisierte Kriterien fehlen. Die Produktion echten Wissens auf diesem Wege sei unmöglich. 2 1 3 Den Grund für diese die Mißlichkeit des Verfahrens determinierende fehlende Rückbindung an die Bewußtseinsfunktionen sieht Schleiermacher in der mangelnden Koordination der herkömmlichen Logik mit der Metaphysik: In ihrer überlieferten, auf Aristoteles zurückzuführenden 2 1 4 Form beanspruchte die Logik den Status einer empirischen Einzelwissenschaft 2 1 5 , während sie sich doch sachgemäß ausschließlich als spekulativ fundierte Sammlung von Verfahrensregeln, als aus der Metaphysik abgeleitete „reine Technik" 2 1 6 entfalten lasse. 217 B. Elemente der überlieferten Logik in Schleiermachers Konzeption des Deduktionsprozesses Als prominentester historischer Bezugspunkt für Schleiermachers zustimmende Anknüpfung scheint auch in der Entfaltung des deduktiven Verfahrens zunächst die platonische Philosophie allerorten hindurch. 2 1 8 Dies gilt schon für den expliziten Rekurs auf die platonische Logik 2 1 9 , insonderheit aber auch für die im vorliegenden Zusammenhang hauptsächlich interessierende allgemeine Vorgeprägtheit der Schleiermacherschen Begriffslogik im traditionellen, hier zunächst also: platonischen, Gedankengut. So führt Piaton im Sophistes erstens ausführlich den Gedanken des nicht kontradiktorischen, sondern verhältnismäßigen Gegensatzes ein, dessen Glieder zugleich unterschieden und nicht unterschieden sind. 220 Zweitens hält er dort, 2,1 212 213 214 215 216
Dial 1 8 2 2 (Ns.), 74. Stunde, D O 4 0 6 , 1 9 - 4 0 7 , 1 6 Dial 1 8 2 2 (Ns.), 73. Stunde, D O 403,36f. 74. Stunde, 4 0 8 , 1 - 3 Dial 1 8 2 2 (Ns.), 73. Stunde, D O 404,34f. 405,6f Dial 1 8 2 2 (Ns.), 73. Stunde, D O 4 0 5 , 1 - 3 . 4 0 6 , 1 6 - 1 8 Dial 1 8 2 2 (Ns.), 73. Stunde, D O 4 0 4 , 4 0 - 4 0 5 , 4 . Dial 1 8 2 2 (Ns.), 73. Stunde, D O 404,39f
217
Zu dieser Grundunterscheidung vgl. - neben den bereits erwähnten Bestimmungen des transzendentalen Teils der Dialektik (Dial 1814/15, Einl. § 16 D A 2 4 [DJ 7]) hier auch die explizit wissenschaftssystematischen Erwägungen in der Ethik: Ethik (Einl) 1 8 1 3 ( 1 6 ) , Ε 506 (§ 99) und Bemerkungen zur Ethik 1832, Ε 632f (Zu § 61).
218
Vgl. hierzu v o r allem Pohl: Studien, bes. 9 2 - 1 0 6 S.o. A n m . 196, f ü r den hier vorliegenden Zusammenhang vgl. insbesondere Schleiermachers Erwähnung der platonischen Gestalt der Gegensatzfigur in der Begriffslogik in Dial 1 8 2 2 (Ns.), 6 1 . Stunde, D O 345,39-346,4.
219
220
Soph. 2 5 4 c - 2 5 9 d. Vgl. Piaton: Sämtliche Werke. Nach der Ubersetzung v o n Friedrich Schleiermacher herausgegeben v o n Walter F. O t t o u.a., Hamburg 1 9 5 7 1959, Bd. 4, S. 2 2 7 - 2 3 4
E x k u r s : D e r D e d u k t i o n s p r o z e ß in logikhistorischer Perspektive
59
trotz der Relativität des Gegensatzes, an dessen Zweipoligkeit fest. 2 2 1 Und drittens kennt Piaton dort bereits die Uberkreuzung zweier G e gensätze, die einen differenzierten vierteiligen Doppelgegensatz ergibt. 2 2 2 Als die Funktion dieser Gegensatzfigur hält W . Beierwaltes zunächst die Begründung der „Differenz in der Identität als auch deren Einheit-Sein aus Differentem" 2 2 3 fest. Sodann ist der in der G e gensatzfigur enthaltene Verweis auf eine höchste Grunddifferenz, auf die alle bipolaren Bestimmungen sich zurückführen lassen müssen, hervorzuheben. 2 2 4 Damit leistet die Gegensatzfigur so schließlich den Erweis der zwar duplizitär, aber antidualistisch verfaßten Struktur des Seienden überhaupt 2 2 5 - was insgesamt der Grundintention der Schleiermacherschen Gegensatzfigur genau entspricht. Keinen positiven Niederschlag in der Schleiermacherschen Begriffslogik finden dagegen die ansonsten so wirkmächtigen 2 2 6 begriffslogischen Distinktionen Aristoteles'. Die überwiegend ablehnenden H i n weise auf die aristotelische Logik 2 2 7 werden bestätigt durch die Abwesenheit der aristotelischen formallogischen Unterscheidung verschiedener begriffsspezifizierender Gegensatzarten 2 2 8 in der Schleiermacherschen Dialektik. Allenfalls für die aristotelische Grundüberzeugung der ontologischen Bedeutung der formallogischen Gegensätze insofern diese grundsätzlich polar organisiertes Seiendes strukturie-
221
Soph. 2 5 3 d - e; a.a.O. 2 2 7 . D a ß auch die späteren trichotomischen Gegensätze Piatons recht eigentlich dichotomische seien, setzt F . U b e r w e g (Rheinisches M u s e u m für Philologie, B o n n u.a., N e u e F o l g e I X , 1853, bes. S. 64ff) auseinander.
222
Soph. 2 6 5 c - 2 6 6 d; a.a.O. 2 4 0 - 2 4 2
223
W . Beierwaltes: Art. „Gegensatz I . I . " , in: H W P h , Bd. 3, Sp. 1 0 6 , 1 4 f
224
Ders.: A r t . „Gegensatz Ϊ.2.",
225
Ders.: a . a . O . Sp. 1 0 7 , 5 0 - 5 9 . 1 0 8 , 3 4 - 3 6
in: H W P h , Bd. 3, Sp. 1 0 8 , 2 6 - 3 6
226
Vgl. dazu A . Trendelenburg: Logische Untersuchungen, B d . 2, Leipzig •'1870, S. 2 3 9 - 2 6 0 und ders.: Erläuterungen zu den Elementen der aristotelischen Logik, Berlin 3 1 8 7 6 , S. 1 0 5 - 1 2 0
227
S.o. A n m . 1 9 6 und A n m . 2 1 4
228
Aristoteles ( D e cat. 10, 11 b 1 7 - 2 3 ) unterscheidet vier Gegensatzarten a m Begriff: den relativen G e g e n s a t z (in dem die Glieder im Komplementärverhältnis zueinander stehen, z . B . doppelt/halb, also keinesfalls mit dem Schleiermacherschen relativen Gegensatz zu verwechseln), den konträren Gegensatz (der Gradationen erlaubt, z.B. klein/groß), den kontradiktorischen Gegensatz (der via negationis dividiert, z.B. sitz e n d / n i c h t sitzend) und den privativen Gegensatz (dem das Fehlen eines Merkmals z u m Einteilungsgrund dient, z.B. blind/sehend). Die hier gewählte Terminologie geht auf Boethius zurück - vgl. A . M e n n e / R e d . : A r t . „Gegensatz I I . l . " , in: H W P h , Bd.3, Sp.118.
60
Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
ren 2 2 9 - läßt sich ein Einfluß auf die Schleiermachersche Bestimmung des Deduktionsverfahrens geltend machen. Blickt man in die im Umkreis der Leibniz-Wolffischen Schulphilosophie 230 entstandenen Logiken, so wird man vor allem diejenigen G.F. Meiers, A.G. Baumgartens und J.A. Eberhards herausgreifen müssen. 231 Nicht nur aus zeitlichen, sondern vor allem aus sachlichen Gründen gebührt der Vortritt dabei der Vernunftlehre Meiers 232 , die ich im folgenden exemplarisch hervorhebe. In der Weiterentwicklung und dabei relativ größten Selbständigkeit von Chr. Wolff 233 entfaltet Meier drei Wege der Begriffsbildung: zunächst den Weg der Empfindung 2 3 4 - der recht eigentlich das Geschäft der Sinne ist und dessen Verhandlung also in die Ästhetik gehört 2 3 5 -, sodann und hauptsächlich erstens den Weg der Absonderung durch logische Abstraktion, an dessen Ende der höchste, abstrakteste Begriff steht 236 und zweitens - gegenläufig dazu - den Weg der „willkührlichen Verbindung" 237 durch „Addition" 2 3 8 , an dessen Ende die vielen niedrigen Begriffe stehen 2 3 9 . Beide Verfahrensarten verhalten sich also komplementär zueinander 2 4 0 . (Das zuletzt genannte ist freilich das würdigere 241 , nachdem
229
Aristoteles, Met. 1061 b 5. 1004 a 32ff. 1005 a 2ff. Vgl. dazu W. Beierwaltes: Art. „Gegensatz I.2.", in: H W P h , Bd. 3, Sp. 109
230
Deren prägender Einfluß auf Schleiermacher ist vor allem in der neueren Schleiermacher-Forschung nachgewiesen worden - vgl. vor allem Herms: Herkunft und Meckenstock: Deterministische Ethik. In unserem Zusammenhang bestätigt sich damit die - in weiterem Kontext - von Herms: Herkunft 41 und besonders durch den Anhang a.a.O. 282f nahegelegte U n terstreichung der Namen Meiers, Baumgartens und Eberhards.
231
232 233
Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Halle 1752 Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des Verstandes. In: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. J. Ecole u.a., I. Abteilung (Deutsche Schriften), Bd. 2. Nachdruck der Ausgabe Halle 1751, Hildesheim 1983
234
Meier: Vernunftlehre §§ 288-291
235
A.a.O. § 288 A.a.O. § 292-298 A.a.O. § 299ff passim. Die Verfahrensart „wird eine willkührliche Verbindung genannt; nicht, als wenn solche Begriffe gänzlich von unserm Willkühr abhiengen, sondern weil die Wahl des Unterschiedes, welchen wir zu dem abstracten Begriffe hinzuthun, von uns abhanget." (a.a.O. § 299, S.442,17-21): Weswegen sie auch genauer „gelehrte willkührliche Verbindung" genannt wird (a.a.O. § 299, S.439,31). Näheres zu ihrer Verfahrensart siehe unten.
236 237
238
A.a.O. § 299, S. 441,28; vgl. § 294, S. 431,7.10
239
A.a.O. § 299-301
240
„Die willkührliche Verbindung ist also, so zu reden, die umgekehrte Absonderung der Begriffe. Durch diese fangen wir von unten an, und verkleinern die Begriffe, bis wir auf den abstractesten Begrif kommen. Durch jene vermehren wir die Begriffe:
Exkurs: Der Deduktionsprozeß in logikhistorischer Perspektive
61
sich in seiner regelhaften logischen Einteilung der Erweis der Wahrheit des Begriffes vollzieht 2 4 2 .) Die Verfahrensart der willkürlichen Verbindung ist nun die folgende: Der einzelne, abgesonderte, abstrakte Begriff wird durch Hinzunahme eines in ihm selbst oder von außen an ihn herangetragenen Unterscheidungskriterums in seine logischen Bestandteile zerlegt. 243 Meier gibt (im Anschluß an allgemeine, für beide Arten der logischen Begriffsbildung gültige Regeln 244 und an die Unterscheidung zwischen Sach- und Worterklärungen 2 4 5 ) anweisende Regeln für die Wahl des differenzierenden, „Glieder der Eintheilung" 246 produzierenden Einheitsgrundes, die die Begriffsumfänge, deren Entgegengesetztheit sowie Ableitbarkeit und die Teilungsart der Einteilung normieren. 2 4 7 Der Begriffsbildungsprozeß als Komplementärverfahren eines abstrahierenden und eines konkretisierenden Begriffsbildungsprozesses, deren wahrheitserweisende Funktion, ihre an Regeleinhaltung gebundene Ausführungsgestalt und die Division als das Wesen des zweitgenannten Verfahrens - dieses alles läßt sich rückblickend auch als
241 242 243 244 245 246
247
w i r fangen von dem abstractesten an, und steigen nach und nach zu den niedrigsten herunter; und w i r b e k o m m e n also durch diesen Weg lauter niedrigere Begriffe." (a.a.O. § 299, S.442,10-17). „So ist also diese willkührliche Verbindung eine Addition dessen, w a s ich durch die Abstraction subtrahirt habe." (a.a.O. § 299, S.441,28f) A.a.O. § 299, S.442,22 A.a.O. § 300.322 A.a.O. § 299, S.440,23-442,25 A.a.O. §§ 303-312, S.448-464 A.a.O. §§ 313-316, S.464-470 A.a.O. § § 318.320. Die Einteilungen sind - nach dem Schema der arbor porphyriana - stufenweise verbunden, die Glieder der oberen Einteilung können, als höhere Begriffe, ihrerseits w i e d e r u m der Zergliederung anheimfallen (a.a.O. § 318). (Uber die Figur der arbor porphyriana orientiert C . Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande [4 Bde., Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe 1855-1867, D a r m stadt 1967], Bd. 2, 345, A n m . 132.) „1) der eingetheilte Begrif muß nicht weiter s e y n als die Glieder der Eintheilung, wenn sie durch eine Entgegesetzung zusammengenommen werden." (a.a.O. § 319, S.475,17-19) „2) Der eingetheilte Begrif muß nicht enger seyn, als die Glieder der Eintheilung, w e n n sie durch eine Entgegensetzung zusammengenommen werden." (a.a.O. § 319, S.476,15-17) „3) Die Glieder der Eintheilung müssen einander entgegengesetzt seyn." (a.a.O. § 320, S.476,28f) „4) Der eingetheilte Begriff, muß keinem Gliede der Eintheilung, widersprechen." (a.a.O. § 320, S.477,5f) „5) M a n muß die Glieder der Untereintheilung nicht, unter die Glieder der Eintheilung, mischen." (a.a.O. § 320, S.477,14-16) „6) In der Zahl der Glieder der Eintheilung muß man sich lediglich, nach der N a t u r des eingetheilten Begrifs, richten: und es w ü r d e demnach entweder g e z w u n g e n oder ofte ganz unmöglich seyn, wenn bey allen E i n t e i lungen nur z w e y Glieder, oder drey Glieder aufgenommen w ü r d e n . " (a.a.O. § 320, S.477,32-478,2)
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Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des Gesamtsystems
Prototypik der Schleiermacherschen technischen Bestimmungen des Begriffsbildungsverfahrens verstehen. In knapperer, sich enger an die Wölfische Logik anlehnender (diese allerdings teilweise simplifizierender) Form umfaßt auch die Begriffslehre A.G. Baumgartens 2 4 8 sämtliche o.g. Aspekte des Begriffsbildungsverfahrens. (Der Hauptakzent dieser - auffälligerweise als „noetica" bezeichneten - Begriffslehre liegt außerhalb des hier zu Betrachtenden, nämlich in der Diskussion der Repräsentierbarkeit und der sprachlichen Ausdrucksgestalt eines Gegenstandes in Singulärbegriff [„idea"] und Allgemeinbegriff [„notio"] 2 4 9 ). Auch auf die begriffslogischen Bestimmungen J.A. Eberhards 2 5 0 kann in unserem Zusammenhang nur bündig hingewiesen werden. Notierenswert ist, daß Eberhards Hauptaugenmerk (bei vollständiger Benennung der o.g. prototypischen Aspekte) der Rückführung der Regeln zur Klassifizierung von Empfindungen auf in der Seele selbst wurzelnde Gesetze gilt. 251 Die Erwägungen zum Verhältnis zwischen dem den Allgemeinbegriff bildenden Verfahrensteil und dem den Individualbegriff bildenden Verfahrensteil erfahren hingegen eher nachrangiges Interesse. 252 Im Zusammenhang der Erwägung möglicher Einflüsse auf die Schleiermacherschen begriffslogischen Bestimmungen muß schließlich dringend auch auf Schelling gewiesen werden. 2 5 3 Vor allem die Distinktionen der von Schelling im Rahmen der metaphysischen Fundierung seines Systems in Anspruch genommenen ontologischen und
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A l e x a n d e r G o t t l i e b Baumgarten: Acroasis logica in Christianum L.B. de W o l f f , Halle 1 7 6 1 . A m leichtesten zugänglich in: Christian W o l f f : Gesammelte Werke, hg. v. J. Ecole u.a., III. Abteilung (Materialien und Dokumente), Bd. 5: A . G . Baumgarten: Acroasis logica ... Nachdruck der Ausgabe Halle 1 7 6 1 , Hildesheim 1973. Zu Schleiermachers Bezugnahme auf die Baumgartensche Logik vgl. oben A n m . 1 9 6
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A . a . O . §§ 4 4 . 4 9 - 5 1 . 1 2 7 J o h a n n A u g u s t Eberhard: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens. Neue verbesserte A u f l a g e Berlin 1 7 8 6 , faksimilierter Nachdruck dieser Ausgabe, Brüssel 1968
250
251 252
253
A.a.O. 148-155 H e r m s : H e r k u n f t 5 8 - 6 0 sieht in der Ungeklärtheit des Verhältnisses zwischen den beiden Verfahrensarten „Induktion" und „Deduktion" (diese Bezeichnungen wählt Herms: H e r k u n f t 5 8 , 1 7 und 5 9 , 1 9 allerdings ohne terminologischen Anhalt an den zugrundegelegten Eberhardschen Texten) das H a u p t p r o b l e m des Zusammenhanges. Die A n s i c h t v o m Schellingschen Einfluß auf Schleiermacher hat v o r allem die ältere Schleiermacher-Forschung hervorgehoben - vgl. etwa Schaller: Vorlesungen 232f; Weissenborn: Vorlesungen 2 8 5 f ; Dilthey: LS 1/1, 3 1 3 f . 373; LS II/l 288. Soweit diese Einflüsse den jungen Schleiermacher betreffen, vgl. auch Fuchs: Werden. Reziproke Beeinflussung untersucht Süskind: Einfluß (passim). .
Exkurs: D e r Deduktionsprozeß in logikhistorischer Perspektive
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kosmologischen Prinzipien sind hier einschlägig. 254 Auffällig ist dabei sofort, daß diese Distinktionen von Schleiermacher - in prägnanter Umbestimmung ihres ursprünglichen Stellenwertes - ausschließlich als methodische Figuren 2 5 5 benutzt und dem eigenen Sachzusammenhang eingegliedert werden. 2 5 6 Dagegen übernimmt Schleiermacher die sachliche Begründung für die Adäquatheit dieser Methodenfigur nicht. 2 5 7 U m dieses zu verdeutlichen, muß ein unserem Zweck angemessener, jedoch äußerst knapper Umriß des einschlägigen Schellingschen A r gumentationsganges gegeben werden. Das Absolute als universelle Identität 258 ist seinem Wesen nach sich selbst ewig gleich als in sich schlechthin gewisses 259 , wahres 2 6 0 , unendliches 261 , unaufhebbares 262 , ubiquitäres 263 , omnipotentes 264 und allumfassendes 265 , in sich also völlig gegensatzloses 266 Eines. Seine Seinsform in allem, was ist, ist das Erkennen 2 6 7 als Selbsterkenntnis der absoluten Identität selbst. 268 Als solche ist die absolute Identität einerseits 254
255
Zugrundezulegen sind für unseren Zusammenhang, auch unter dem Aspekt ihrer vorauszusetzenden Kenntnisnahme durch Schleiermacher (vgl. Süskind: Einfluß 58f.87-93; vor allem auch die zahlreichen dort gesammelten Belege) die folgenden Texte: „Darstellung meines Systems der Philosophie" (1801), in: [Friedrich Wilhelm Joseph von] Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hg. v. Manfred Schröter, München 1927, Dritter Hauptband, S. 1-108; „Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge" (1802), in: a.a.O. S. 109-228. Die nachfolgende Darstellung lehnt sich an den Duktus der erstgenannten „Darstellung meines Systems . . . " an. Schelling selbst weist gelegentlich ausdrücklich darauf hin, daß die ausführliche Entfaltung der Fundamentalprinzipien sich hauptsächlich dem Ziel der Methodenerläuterung verdanke: „Darstellung . . . " (1801) (s.o. Anm. 254) § 50, 37,12-16
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Eine zusammenfassende Deutung dieses in sich bemerkenswerten Sachverhaltes gibt (bezogen auf das Schleiermachersche Wissenschaftssystem) Süskind: „Schleiermacher hat also diese grundlegende Gliederung seines Systems nicht von Schelling übernommen, sondern sie vielmehr, nachdem er sie längere Zeit bei Schelling vergeblich gesucht, schliesslich in der Methodologie vorgefunden ( . . . ) " (Süskind: Einfluß 97,1821).
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Vgl. auch unten Anm. 285. „Darstellung meines Systems . . . " (1801) (s.o. Anm. 254) § 16 A.a.O. § 8
258 259 260 261 262 263 264 265
A.a.O. § 8 Zusatz 2 A.a.O. § 10 A.a.O. § 11 A.a.O. § 12 A.a.O. § 10 A.a.O. §§ 12-14
266
A.a.O. § 16
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A.a.O. § 18 A.a.O. § 19f
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
notwendig als Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt gesetzt 2 6 9 , andererseits bleibt zugleich - ebenso notwendig - die Gegensatzlosigkeit der absoluten Identität bestehen 2 7 0 . So daß das Absolute selbst nur als relativierte F o r m dieser Entgegensetzung vorkommt: als „quantitative Differenz" 2 7 1 „mit einem Uebergewicht der Subjektivität [des Erkennens] oder Objektivität [Seyns] gesetzt" 2 7 2 . Subjekt und Objekt sind also dem Wesen nach eins, in ihrer Form des Seins als Subjektivität und Objektivität aber (nur am einzelnen Sein oder an der Totalität, nicht aber an sich selbst wahrnehmbar 2 7 3 ) in je quantitativ überwiegender Weise geschieden 2 7 4 . Ihrem Wesen nach besteht die absolute Totalität als absolute Identität 275 also im vollkommenen Gleichgewicht (der quantitativen Indifferenz 2 7 6 ) der Subjektivität und Objektivität bzw. des Realen und Idealen 2 7 7 und ist damit das Universum selbst 2 7 8 . Jede der einzelnen Seinsformen des Universums bildet einen relativen Abdruck dieses universalen Identitätsverhältnisses 279 , insofern jede der „bestimmten Potenzen" 2 8 0 der Totalität durch die quantitative Differenz zwischen Subjektivität und Objektivität bestimmt ist 2 8 1 : „Weder Α noch Β kann an sich gesetzt werden, sondern nur das Eine und Selbe mit der überwiegenden Subjektivität [bzw. mit der Erkenntnis ausdrückenden Idealität 2 8 2 ] und Objektivität [bzw. mit der Sein ausdrückenden Realität 2 8 3 ] zugleich und der quantitativen Indifferenz beider." 2 8 4 Damit sind alle wesentlichen technisch-funktionalen Elemente der Schleiermacherschen Gegensatzfigur bei Schelling deutlich vorgebildet: Ein sich aus höchster Einheit ableitender oberster Gegensatz. Eine stufenweise Wiederholung eines solchen obersten Ge269 270 271
272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284
A.a.O. § 22 A.a.O. § 22 Zusatz Oder als „relativer Gegensatz" (a.a.O. §§ 50.58) bzw. als „beziehungsweiser Gegensatz" („Bruno . . . " [s.o. Anm. 254] 133) „Darstellung . . . " (1801) (s.o. Anm. 254) § 23 A.a.O. § 29 A.a.O. § 23 Erläuterung A.a.O. § 26 A.a.O. § 31 A.a.O. § 30 Erläuterung A.a.O. § 33 A.a.O. §§ 38-41 A.a.O. § 42 Erklärung 2 A.a.O. § 42. A.a.O. § 45 Anm. 2 Ebda. A.a.O. § 45
III. Ableitung und Entfaltung des S y s t e m s der Wissenschaften
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gensatzes in jedem Einzelgegensatz. Die Relativität und Aufeinanderzugeordnetheit aller Gegensatzglieder. U n d die Figur der Vierteilung als Kreuzung zwischen individueller und universeller Gegensätzlichkeit bei gleichzeitiger Wahrung der Einheitlichkeit des Divisums durch dessen Teilhabe an der universalen Identität. 285
III. Die Ableitung und die Entfaltung des Systems der Wissenschaften Bereits die Analyse der Schleiermacherschen Methode hatte gezeigt, daß alle Phasen des Begriffsbildungsprozesses von einer das Verfahren überhaupt erst begründenden obersten Teilungsformel abhängig sind, die in der Struktur des Selbstbewußtseins als „der höchste Gegensatz" vorgefunden werden kann. 2 8 6 Auch die Kernthese der hier nun folgenden Rekonstruktion des Schleiermacherschen Wissenschaftssystems besteht in der folgenden Auffassung: Das Gesamtgefüge dieses Systems muß gleichermaßen als eine vom höchsten Gegensatz ausgehende und in all seinen Teilen auf ihn hinweisende Konstruktion verstanden werden. Einheit, Differenziertheit und Balance des Systems, seine transzendentale Begründung und seine formale Ausgestaltung weisen in allen Teilen auf den höchsten Gegensatz. In der rekonstruktiven Darstellung des Schleiermacherschen Systems, an deren Ende also der Erweis der Stichhaltigkeit jener o.g. Leitthese stehen soll, werde ich folgendermaßen vorgehen: Einleitend werde ich den in der Idee des Wissens liegenden Ausgangspunkt des höchsten Gegensatzes beschreiben (B). Daran anschließend sollen die materialen Einzelbestimmungen und der unmittelbare Entfaltungszusammenhang des höchsten Gegensatzes umrissen werden. Dabei muß die universal-ontologische Qualität dieses höchsten Gegensatzes für 285
D a ß diese Vorbildung sich lediglich auf den Bauplan, nicht aber auf die transzendentale B e g r ü n d u n g der Schellingschen G e g e n s a t z f i g u r richtet, sei hier noch einmal ausdrücklich hervorgehoben. Bereits aus dem - unserem Z w e c k angemessen - gewaltsam k n a p p e n U m r i ß der Schellingschen B e s t i m m u n g e n konnte sichtbar werden, daß die Schellingschen G r ü n d e f ü r die Angemessenheit der skizzierten G e g e n s a t z g e stalt nicht ü b e r n o m m e n werden: D e r G e d a n k e der S p i t z e n f u n k t i o n eines Absoluten, der G e d a n k e der unmittelbaren Bestimmbarkeit dieses A b s o l u t e n , der G e d a n k e des linearen N i e d e r s c h l a g s dieses Absoluten im I n d i f f e r e n z p u n k t des Gegensatzes, der G e d a n k e der reinen E m a n a t i o n des Absoluten etwa fallen bekanntlich bei Schleiermacher aus.
286
S.o. S. 51 ff
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Erstes Kapitel: G r u n d z ü g e des Gesamtsystems
alles Denken und für alles Sein plausibel werden (C). Dann soll die Präsenz jener höchsten Entgegengesetztheit in den Formen des Denkens und des Handelns skizziert werden (D). 287 Daran anschließend will ich zeigen, inwiefern sich aus der Identifizierung dieser (den identischen Grundgegensatz perspektivisch verschieden abbildenden) Sphäre des Erkennens und Sphäre des Erkannten das die Wißbarkeit des Wißbaren organisierende System der reinen Wissenschaften als sachgemäße und ursprüngliche System-Abbildung ergibt (E). Im letzten Abschnitt muß dann Schleiermachers Idee der positiven Wissenschaften und die Gliederung der positiven Wissenschaft „Theologie" zur Darstellung kommen (F). Zunächst müssen jedoch einige Hinweise zur Form der Bezugnahme auf die Quellentexte gegeben werden (A). A. Die Kontextgebundenheit der Entfaltung In diesem systemrekonstruierenden Abschnitt wird also das System der Wissenschaften im Vordergrund stehen: es bildet den Anlaß und den Zielpunkt meiner Darstellung. Allerdings möchte ich mich nicht auf ein reines Referat der Distinktionen innerhalb des Wissenschaftssystems beschränken 288 , sondern vor allem dessen systematische Bedingungen verdeutlichen. Die These meiner Interpretation besteht dabei darin, daß der aus der Idee des Wissens selbst ableitbare höchste Gegensatz als Ermöglichungsgrund von realem Wissen überhaupt und zugleich auch als Strukturgesetz des das reale Wissen organisierenden Systems der Wissenschaften aufgefaßt werden muß. Allerdings entfaltet Schleiermacher diesen Zusammenhang nicht in einem einzigen, einheitlich geschlossenen Textkomplex. Vielmehr widmet er sich dem erstgenannten Punkt - inwiefern der höchste Gegensatz den Ermöglichungsgrund realen Wissens liefert - im Zusammenhang der Frage nach den Voraussetzungen und der Gestalt realen Wissens überhaupt, also im transzendentalen Teil der Dialektik. Dem zweiten Punkt, dem Strukturprinzip des Systems der realen Wissenschaften, widmet er sich dagegen hauptsächlich im Rahmen der Entfaltung des Systems der 287
Diese Skizzierung soll, dem C h a r a k t e r dieses Abschnittes angemessen, natürlich keineswegs erschöpfend, sondern jeweils nur so weit verfolgt werden, bis erstens die Konstruktionsschematik des Einzelbereichs und zweitens die Funktion des Einzelbereiches im Gesamtsystem deutlich wird.
288
R e f e r a t j J e r Gestalt des Systems der Wissenschaften ist v o r allem auf die einschlägigen Abschnitte in folgenden Untersuchungen zu verweisen: Birkner: Christliche Sittenlehre; Scholtz: Geisteswissenschaften; Scholtz: Philosophie Schleiermachers; Rössler: Programm der Philosophischen Theologie.
III. A b l e i t u n g und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
67
Wissenschaften selbst. Und diese Systementfaltung wiederum findet sich am ausführlichsten im Zusammenhang der Ableitung der Ethik aus dem höchsten Wissen, also in der Einleitung in die Philosophische Ethik. Beide Textkomplexe werden damit gleichermaßen als Textgrundlage dieses Abschnittes herangezogen werden müssen. Fragt man nach dem Grund dafür, warum Schleiermacher auf die hier behauptete Beziehung zwar in verschiedenen wissenschaftlichen Zusammenhängen hingewiesen hat, sie aber nicht in einem einzigen wissenschaftlichen Zusammenhang ausdrücklich thematisiert hat, so wird man an den stets zweckbezogenen Charakter von Schleiermachers Ausführungen denken müssen. Auch Schleiermachers Prinzipienüberlegungen sind stets in den Gesamtkontext des jeweiligen Textkomplexes eingebettet; und diese Textkomplexe verdanken sich ihrerseits stets funktionalen Aufgaben, in deren Dienst auch die Prinzipienüberlegungen gestellt sind. So besteht die Aufgabe der Dialektik darin, die Ermöglichungsbedingungen und die Realisierungsgestalten realen Wissens zu erheben, um Kriterien für die Gewißheit jedes Einzelwissens zu erhalten. In diesem Zusammenhang ist die Rede vom höchsten Gegensatz als dem Ermöglichungsgrund realen Wissens. Und die Aufgabe der Ethik-Einleitung besteht darin, zu zeigen, daß die Ethik wie jede Einzelwissenschaft vom höchsten Wissen muß abgeleitet werden können - und in diesem Zusammenhang wird ein systematischer Organismus der Einzelwissenschaften beschrieben. Der funktionale Charakter der Entfaltungen in verschiedenen Zusammenhängen und mit verschiedenen Intentionen ist also zunächst ein typisches Kennzeichen von Schieiermachers Wissenschaftsverständnis. Dies konnte ja bereits oben im Zusammenhang der Anbindung der Logik an die Metaphysik beobachtet werden 289 - und es wird unten im Zusammenhang der Idee der positiven Wissenschaften290 daran erinnert werden müssen, daß Schleiermacher die Zweckgebundenheit zum verbindenden formalen Ordnungsgesichtspunkt einer ganzen Klasse von Wissenschaften höchst unterschiedlicher Einzelinhalte gemacht hat. Und auch im hier vorliegenden Zusammenhang ist festzuhalten, daß Schleiermacher die systematischen Gründe für die Gewißheit und für die Organisation des Wissens nicht in einer absoluten, vollständigen „Wissenschaftstheorie" entfaltet, sondern auf diese systematischen Voraussetzungen immer dann (und nur dann) 289 290
S.o. S. 30ff S.u. S. 99ff
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
zu sprechen kommt, wenn das konkrete Erkenntnisziel des jeweiligen Textkomplexes diese Grundlagentheorie verlangt. Allerdings darf diese Zweckgebundenheit der jeweiligen Argumentationsgänge nun nicht zum Zweifel an der systematischen Kohärenz der verschiedenen prinzipiellen Erwägungen in den verschiedenen wissenschaftssystematischen Zusammenhängen führen. Vielmehr wird das Ziel meiner Interpretation in dem Nachweis bestehen, daß dem je verschiedenen funktionalen Kontext der Ethik-Einleitung und des transzendentalen Teiles der Dialektik sehr wohl ein einheitliches systematisches Konzept zugrundeliegt. Dieses muß allerdings rekonstruiert werden - und es muß so rekonstruiert werden, daß der funktionale Charakter und die Kontextbezogenheit der einzelnen in Anspruch genommenen Schleiermacherschen Gedankengänge erkennbar bleiben. Dazu ist es zunächst nötig, den Aufbau des transzendentalen Teiles der Dialektik bzw. der Einleitung in die Ethik kurz vorzustellen. Erstens zur Dialektik 2 9 1 : Die Aufgabe der Dialektik besteht in der Klärung der Ermöglichungsbedingungen des realen Wissens und in der Zusammenstellung der Formen des realen Wissens. 2 9 2 Diese Aufgabe begründet Schleiermacher in der Einleitung der Dialektik, aus dieser Aufgabe ergibt sich auch die Zweiteilung der Dialektik in einen ersten, transzendentalen und einen zweiten, formalen Teil. 2 9 3 Der Ausgangspunkt des ersten Teiles besteht dabei in der Idee der O b j e k tivität oder Realität des Wissens, in der Idee der Ubereinstimmung des Wissens mit dem Sein. 2 9 4 Die Teilaufgabe besteht also darin, erstens diese Realität des Wissens selbst nachzuweisen und zweitens nach dem Grund dieser Realität, nach dem Grund der Ubereinstimmung zwischen Wissen und Sein zu fragen. Diese Aufgabe sucht der erste Teil 291
Den Grobaufriß des transzendentalen Teiles der Dialektik werde ich wiederum im Rückgriff auf die einzige zugleich vollständige und orginalschriftliche, dazu in Bestand und Anordnung der Themen auch die nachfolgenden Bearbeitungen im wesentlichen bestimmende Fassung von 1814/15 referieren, auf die Schleiermacher sich in seinen den ersten, transzendentalen Teil betreffenden Vorlesungsnotizen bis einschließlich 1828 bezogen hat (vgl. hierzu Arndt: Einleitung in: DA2 X I I I - X I X ) .
292
Ausführlich kann ich auf die Aufgabe der Dialektik erst unten, in dem zur Gänze der Dialektik gewidmeten vierten Kapitel eingehen (S. 265ff).
293
Siehe dazu unten S. 268ff
294
In diesem Statut von der Objektivität des Wissens als dem Statut der Ubereinstimmung des Wissens mit dem Sein wird man die Kernthese des ersten Teiles der Dialektik zu sehen haben. Deren philosophiegeschichtliche Bedeutung, nämlich ihr Charakter als Versuch der Uberbietung Kants, bleibt im Zusammenhang dieser Untersuchung ausgespart - vgl. dazu die prägnanten Zusammenfassungen von Pohl: Studien 82-89 und Scholtz: Schleiermacher-Dilthey 174f und ders.: Philosophie Schleiermachers 104-113, dort weitere Literatur.
III. Ableitung und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
69
der Dialektik in vier Gedankenschritten, in denen man zugleich die Hauptabschnitte dieses ersten Teiles erkennen muß, zu lösen. Im ersten Schritt295 beschreibt Schleiermacher die die Objektivität des Wissens ausmachende Entsprechung des Wissens mit dem Sein zunächst als im Selbstbewußtsein vermittelte formale Entsprechung der duplizitären Verfaßtheit der Erkenntnisfunktion mit der duplizitären Verfaßtheit des Seins: Der relativ gegensätzlichen Einheit der Erkenntnisfunktionen „Vernunft" und „Organisation" entspricht die relativ gegensätzliche Einheit der zwei Seinsmodi „Ideales" und „Reales". Diese Entsprechung der Wissensformen mit den Seinsformen wird im folgenden auf dem Wege des Einzelnachweises präzisiert. Dazu sind in einem zweiten Schritt296 zunächst die Formen des Wissens, nämlich „Begriff" und „Urteil", vorzustellen. Ein ausführlicher dritter Gedankenschritt weist dann die Entsprechung erstens zwischen den einzelnen Formen des Wissens und des Seins und zweitens zwischen den Binnenrelationen der Wissensformen und der Seinsformen nach297. Ist die Ubereinstimmung des Wissens mit dem Sein damit erwiesen - was im einzelnen in diesem Grobaufriß nicht nachgezeichnet werden kann - , so fragt der vierte Themenkreis298 nun nach dem Grund dieser Ubereinstimmung. Dabei wird als Ergebnis festgehalten, daß der Grund der Übereinstimmung des Wissens mit dem Sein die bekannten Formen des Wissens und des Seins (bzw. auch des Wollens) überschreitet und sich damit wissender Erfassung entzieht, zugleich aber diese Identität des Wissens mit dem Sein im Selbstbewußtsein verbürgt und damit reales Wissen überhaupt erst ermöglicht.299 Damit sind die vier großen Themenkreise der Dialektik benannt. In diesem Kapitel werde ich hauptsächlich auf den ersten Themenkreis zurück295 296 297 298
299
Dial 1814/15, Tl.l § 8 6 - 1 3 7 D A 2 15-28 (DJ 39-78) Dial 1814/15, Tl.l § 138-174b D A 2 28-38 (DJ 81-100) Dial 1814/15, Tl.l § 175-210 D A 2 39-61 (DJ 102-144) Dial 1814/15, Tl.l §§ 2 1 1 - 2 2 7 D A 2 61-73 (DJ 147-171). Diesem Abschnitt werde ich mich in anderem Zusammenhang unten im vierten Kapitel (S. 277ff und 284ff) ausführlicher zuwenden. Damit ist der Grund der Ubereinstimmung des Wissens mit dem Sein zugleich das reale Wissen überschreitend, transzendent - und das reale Wissen ermöglichend, transzendental: Das Transzendente ist das Transzendentale. Genau darin besteht die sachliche Pointe der Schleiermacherschen Wissenstheorie (Vgl. dazu auch unten S. 302). Diese Pointe verschafft sich schon darin ihren (allerdings nicht programmatisch begründeten) Ausdruck, daß Schleiermacher von der Differenz in der Bedeutung der Begriffe absehen möchte: „Man hat (...) einen Unterschied gemacht zwischen transcendent und transcendental, von dem wir aber ganz abstrahiren." (Dial 1831 [Ns.], DJ 38)
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Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des G e s a m t s y s t e m s
greifen, denn dort entwirft Schleiermacher die Idee des höchsten Gegensatzes in ausführlichster Weise und zugleich so, daß dessen wissensermöglichende Funktion am deutlichsten hervortritt. Zweitens zur Philosophischen Ethik: Soll die oben vorgestellte Leitthese dieser Interpretation Plausibilität beanspruchen können, so bedürfen die im transzendentalen Teil der Dialektik zu findenden Bestimmungen einer Vervollständigung und Ergänzung durch Passagen aus der Einleitung in die Philosophische Ethik. Denn im Kontext der Dialektik entwickelt Schleiermacher das tragende Prinzip des Systems - die im höchsten Gegensatz abgebildete Einheit des Wissens mit dem Sein - vor allem im Hinblick darauf, daß der höchste Gegensatz in der Idee des Wissens selbst gegeben ist. Die Bestimmungen des höchsten Gegensatzes werden von Schleiermacher also auch nur so weit ausgezogen, wie dies für die Erhebung der Idee des Wissens notwendig ist. Die sich daraus ergebende systematische Organisation alles realen Wissens interessiert die Dialektik daher auch nur am Rande. 3 0 0 Umgekehrt ist die Situation dagegen in der Einleitung in die Ethik: D o r t sollen O r t und Funktion der Wissenschaft „spekulative Ethik" im Gesamtreich realen Wissens beschrieben werden. Dazu muß die Organisation der Totalität des realen Wissens beschrieben werden und als deren Strukturprinzip tritt der höchste Gegensatz als Garant der Entsprechung zwischen Wissen und Sein in Erscheinung. Damit wird der höchste Gegensatz also auch in der Ethik-Einleitung funktional bemüht, und auch in der Ethik-Einleitung werden die Bestimmungen des höchsten Gegensatzes (bzw. die Frage der Entsprechung zwischen Wissen und Sein) nur soweit ausgezogen, wie dies für die Konstruktion einer Systematik des Wissens notwendig ist. Dementsprechend ist in der Ethik-Einleitung die Idee des höchsten Wissens als eine in der höchsten Wissenschaft, nicht aber in der Ethik-Einleitung zu entwickelnde Idee vorausgesetzt. 3 0 1 Ist man nun also an der Erhebung der Idee des höchsten Gegensatzes selbst interessiert, so wird man die Ethik-Einleitung als Ergänzung und Bestätigung der Aussagen des transzendentalen Dialektik-Teiles heranziehen müssen. 3 0 2
300
Dial 1814/15, T l . l SS 197.209-211 D A 2 54f60f ( D J 130f.l42-147); a.a.O. T1.2 SS 1 Π Ι 16 D A 2 115f ( D J 308f dort SS 341-346)
301
Vgl. z.B. Ethik (Einl) 1813(16), Ε 487-489 (SS 1-12); Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 518 (S 1 Zs.) Wollte man v o n hier aus die F r a g e nach d e m wissenschaftssystematischen Verhältnis zwischen Ethik und Dialektik stellen - was die A u f g a b e und das Interesse dieses Abschnittes allerdings sprengen w ü r d e - so würde man zur K l ä r u n g der Schwierig-
302
III. Ableitung und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
71
U m die Einordnung der für die nachfolgende Systemrekonstruktion aus der Ethik-Einleitung entlehnten Bestimmungen zu ermöglichen und also eine Vorstellung vom ursprünglichen Kontext der herangezogenen Bestimmungen zu ermöglichen, ist hier vorbereitend auch der Aufbau der Einleitung in die Philosophische Ethik kurz zu umreißen. Dabei lege ich Schleiermachers letzte und am schärfsten gegliederte Fassung der Einleitung (Ethik [Einl, l.B.]) zugrunde 3 0 3 , verorte die in allen Fassungen gleichermaßen behandelten Hauptabschnitte aber auch in den beiden vorangehenden Fassungen der Einleitung, Ethik (Einl u. Gtl) 1 8 1 2 / 1 3 und Ethik (Einl) 1813(16). Die Einleitung kennt vier Abschnitte. Im ersten Abschnitt 3 0 4 wiederholt und akzentuiert Schleiermacher eine bereits in der Dialektik formulierte, für die Darstellung jeder bestimmten Wissenschaft geltende formale Bedingung: Jede bestimmte, einzelne Wissenschaft muß den Bezug auf das höchste Wissen enthalten, aus dem sie abgeleitet ist. 305 Die Gültigkeit dieser Forderung wird (unter Verweis auf die ruinösen Folgen des fehlenden bzw. falschen Bezuges) ausdrücklich für jedes Moment und jeden Akt der wissenschaftlichen Darstellung betont. 3 0 6 Der zweite Abschnitt 3 0 7 enthält die materiale Durchführung dieser Forderung in der Ableitung des Begriffes der Ethik aus der Idee des höchsten Wissens. Dazu wird in einem ersten Unterabschnitt 3 0 8 zunächst allgemein die Korrespondenz zwi-
303
304
305 306 307
308
keiten dieses Verhältnisses vor allem berücksichtigen müssen, daß Schleiermacher das Verhältnis zwischen Ethik und Dialektik nicht primär in den Kategorien der Unteroder Uberordnung denkt (vgl. hierzu Herms: Ethik des Wissens 493-500), sondern zunächst insbesondere an den funktionalen Aufgaben der jeweiligen Textkomplexe für das je konkrete Erkenntnisziel interessiert ist. Erst von hier aus kann dann, in einem zweiten Schritt, die Frage nach der Einheit des Systems gestellt werden; und diese Frage wird dann als Frage nach der einheitlichen funktionalen Leistung des Systems gestellt werden müssen. Der primäre Rückgriff auf diese letzte Fassung wird sich auch im folgenden schon deswegen nahelegen, weil im Blick auf die einleitende drucktechnische Notiz Schleiermachers angenommen werden kann, daß Schleiermacher das Manuskript als druckfertig angesehen hat: „Neuer Anfang der Ethik. Dieser müßte als Probe vorangedruckt werden, dann aber doch das andere vollständig folgen." (Ethik [Einl, l.B.] 1816/17, Ε 515). Vgl. auch Birkner: Einleitung in E B 2 , X X I X , 5 - 1 0 . Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 517-524 (§§ 1-21). Ethik (Einl) 1813(16), Ε 487-490 (§§ 1-21). Ethik (Einl u. Gtl) 1812/13, Ε 245f (§§ 1-5) Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 517-521 (§§ 1-7) Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 521-524 (§§ 8-21) Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 534-537 (§§ 22-61). Ethik (Einl) 1813(16), Ε 491-497 (§§ 22-47). Ethik (Einl u. Gtl) 1812/13, Ε 247f (§§ 19-30) Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 524-526 (§§ 22-28)
72
Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des Gesamtsystems
sehen Wissen und Sein festgehalten. Ein zweiter Unterabschnitt 309 entwickelt aus dieser Entsprechung die Entsprechung zwischen dem höchsten Wissen und dem höchsten Sein. Der dritte Unterabschnitt 310 beschäftigt sich mit der identischen Formalstruktur von Wissen und Sein: Wissen und Sein sind duplizitär strukturiert. Der vierte Unterabschnitt311 bildet das Zentrum des zweiten Abschnittes. Aus der je duplizitären, sich strukturell entsprechenden Verfaßtheit des Wissens und des Seins, die bezogen auf den Gesamtbereich wie auch bezogen auf ein höchstes Wissen bzw. ein höchstes Sein gilt, ergibt sich die Idee einer höchsten Vermitteltheit des Wissens und des Seins im höchsten Gegensatz. 312 Diese Vermitteltheit bestätigt sich durch die Parallelität der vom höchsten Gegensatz abhängigen Gegensätze im Sein313 und im Wissen 314 . Auf der Seite des Seins wird zunächst der höchste Gegensatz selbst315 und dann seine Relation zu einer Reihe von ontologischen Kategorien316 bestimmt; auf der Seite des Wissens werden die Grundwissenschaften317 (Naturwisenschaft und Vernunftwissenschaft) und die grundlegenden Wissensformen318 (spekulatives und empirisches Wissen) entwickelt. Aus ihrer Verschränkung ergibt sich dann das System der Wissenschaften319. In diesem zweiten Abschnitt der Ethik-Einleitung wird also deren Hauptquelle für die in diesem Kapitel beabsichtigte Systemrekonstruktion zu sehen sein. Im dritten Abschnitt 320 beschreibt Schleiermacher nun Form und Inhalt der spekulativen Wissenschaft „Ethik" unter Zuhilfenahme von Verhältnisbestimmungen: Erstens wird das Verhältnis der Ethik zur Naturwissenschaft 321 , dann zur Geschichtskunde322 und schließlich zu 309
Ethik (Einl, LB.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 2 6 - 5 2 8 (§§ 2 9 - 3 3 )
3,0
E t h i k (Einl, LB.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 2 8 - 5 3 1 (§§ 3 4 - 4 2 )
311
Ethik (Einl, LB.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 1 - 5 3 7 (§§ 4 3 - 6 1 )
312
Ethik (Einl, LB.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 531 (§ 4 3 0
313
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 1 - 5 3 4 (§§ 4 5 - 5 4 )
314
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 4 - 5 3 7 (§§ 5 5 - 6 1 )
3,5
E t h i k (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 1 - 5 3 3 (§§ 4 5 - 5 0 )
316
E t h i k (Einl, L B . ) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 3 f ( § § 5 1 - 5 4 )
317
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 4 (§ 5 5 )
318
Ethik (Einl, LB.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 5 f (§ 56f)
319
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 5 - 5 3 7 (§§ 5 8 - 6 1 )
320
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 7 - 5 5 0 (§§ 6 2 - 1 0 9 ) . Ethik (Einl) 1 8 1 3 ( 1 6 ) , Ε 4 9 7 - 5 0 7 ( § § 4 8 - 1 0 1 ) . E t h i k (Einl u. Gtl) 1 8 1 2 / 1 3 , Ε 2 4 9 - 2 5 5 ( § § 3 1 - 8 2 )
321
Ethik (Einl, LB.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 7 - 5 3 9 ( § § 6 3 f . 6 7 - 6 9 )
322
E t h i k (Einl, LB.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 9 f ( § § 6 5 f . 7 0 - 7 2 )
III. Ableitung und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
73
beiden gemeinsam323 bestimmt. Zweitens und hauptsächlich wird der Inhalt der Ethik als Entfaltung der in dem oben festgestellten Grundgegensatz zwischen Vernunft und Natur enthaltenen Bestimmungen beschrieben: Die spekulative Ethik ist die Wissenschaft vom Handeln der Vernunft auf die Natur. 324 Im Verlauf dieser Bestimmungen wird dieser Grundgegensatz auf die zum Inhalt der traditionellen Ethik gehörenden Gegensätze zwischen gut und böse 325 , zwischen Kraft und Masse326 und zwischen Freiheit und Notwendigkeit 327 bezogen. Eingeschoben sind Bestimmungen des Verhältnisses der hier von Schleiermacher entfalteten ethischen Wissenschaften zu den traditionellen Verfahrensarten der Ethik; in diesem Zusammenhang findet sich auch die Vervollständigung des Wissenschaftssystems durch die Ableitung der kritischen und der technischen Disziplinen. 328 Der vierte Abschnitt 329 der Einleitung schließlich erweist die Sachgemäßheit der materialen Durchführung der Ethik in ihrer dreifachen Gestaltnahme als Güterlehre, Tugendlehre und Pflichtenlehre. Damit sind die funktionalen Kontexte der Einzelbelege, die ich zur Rekonstruktion der systematischen Bedingungen des Wissenschaftssystems heranziehen werde, umrissen. Ich kann mich nun der Systemrekonstruktion selbst zuwenden. B. Die Idee des Wissens Jedes reale Einzelwissen muß, damit es zu Recht als reales Wissen gelten kann, zwei Bedingungen erfüllen:330 Erstens, daß es „von allen 323
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 4 0 (§§ 7 3 - 7 4 )
324
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 4 0 - 5 5 0 (§§ 7 5 - 1 0 9 )
325
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 4 4 f ( § § 9 1 - 9 5 )
326
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 4 6 - 5 4 8 (§§ 9 6 - 1 0 2 . 1 0 6 )
327
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 4 7 f ( § § 1 0 4 - 1 0 6 )
328
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 4 5 . 5 4 9 f (§§ 9 4 f . l 0 8 f ) . Die frühere Ethik-Einleitung v o n 1 8 1 2 / 1 3 w i d m e t dieser Auseinandersetzung mit der Tradition noch eine naturgemäß größere A u f m e r k s a m k e i t an prominenterer Stelle, nämlich im ersten Themenbereich: Ethik (Einl u. G t l ) 1 8 1 2 / 1 3 , Ε 2 4 6 f (§§ 6 - 1 8 )
329
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 5 0 - 5 5 7 (§§ 1 1 0 - 1 2 3 ) . Ethik (Einl) 1 8 1 3 ( 1 6 ) , Ε 5 0 7 - 5 1 1 (§§ 1 0 2 - 1 2 3 ) . Ethik (Einl u. Gtl) 1 8 1 2 / 1 3 , Ε 2 5 6 - 2 5 8 ( § § 8 3 - 1 0 8 )
330
Die wesentlichen die Idee des Wissens begründenden Bestimmungen gibt Schleiermacher im ersten Abschnitt des transzendentalen Teils der Dialektik (s.o. A n m . 2 9 5 ) . Das Hauptinteresse liegt im vorliegenden Z u s a m m e n h a n g dabei auf d e m von Schleiermacher vorausgesetzten Verhältnis zwischen Wissen und Sein. Z u r Bestätigung der hierzu in der Dialektik gegebenen Bestimmungen ist es dabei notwendig, den Textumfang u m den zweiten Abschnitt der Ethik-Einleitung (s.o. A n m . 3 0 7 ) zu erweitern: Beschreibt die Dialektik das Verhältnis zwischen Wissen und Sein in na-
74
Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des G e s a m t s y s t e m s
Denkensfähigen auf dieselbe Weise producirt werde" 3 3 1 und zweitens, daß es „einem Sein, dem darin gedachten, entsprechend" 3 3 2 vorgestellt wird. In der Idee des Wissens liegen also zwei - nicht hinreichende, aber notwendige 3 3 3 - Fundamentalbestimmungen: daß das Wissen intersubjektiv sei und daß es objektiv sei. 334 Der erste Sachverhalt, die Intersubjektivität des Wissens, erfordert den zweiten, formalen Teil der Dialektik. In der Idee des Wissens ist gesetzt, daß alle denkensfähigen Subjekte ein identisches Wissen des Gegenstandes hervorbringen können, daß sie durch die „Kunst des Gedankenwechsels [...] von einer Differenz des Denkens aus [...] bis zu einer Uebereinstimmung" 3 3 5 gelangen. In der Forderung der Intersubjektivität des Wissens liegt also die Notwendigkeit begründet, Prinzipien und Regeln des Philosophierens aufzustellen. 336 Der zweite Sachverhalt dagegen, die Objektivität des Wissens, bildet den Hintergrund des ersten, transzendentalen Teiles der Dialektik. Dort wird die Frage nach der Entsprechung des Wissens mit dem gewußten Gegenstand als die allgemeine Frage nach der Form und dem Grund der Entsprechung zwischen Wissen und Sein thematisch. Daher hat die Rekonstruktion des Systems der Wissenschaften bei diesem Postulat der Entsprechung zwischen Wissen und Sein den Anfang zu nehmen. Einleitend ist dabei zunächst der Begriff des Wissens vom Begriff des Denkens und vom Begriff des höchsten Wissens abzugrenzen, dann sind die Schleiermacherschen Bestimmungen zur Allgemeingestalt der Entsprechung des Wissens mit dem Sein, zum
331 332 333
334
turgemäß einseitiger F o r m von der Idee des reinen Wissens aus, so geht die Beschreib u n g der Ethik-Einleitung (ihrer thematischen A u f g a b e angemessen) gleichermaßen v o m Wissen wie v o m Sein aus. Dial 1814/15, T l . l § 87 D A 2 16 ( D J 43) Ebda. „ E s kann nicht eingesehen, braucht aber auch nicht angenommen zu werden, daß hierin alles e i g e n t ü m l i c h e des Wissens enthalten sei": Dial 1814/15, Tl.l § 87 DA2 16 ( D J 43) Intersubjektivität und Objektivität werden als die Fundamentaleigenschaften des Wissens in allen Fassungen der Dialektik gleichermaßen benannt. Vgl. Dial 1811 ( N s . ) , 8. Stunde, D A , 12. Dial 1818 (Ms.), N r . X I I , D J 367,9-12. Dial 1822 (Ms.), X V I I I . Stunde, D O 128 ( D J 384f). Dial 1828, 15. Stunde, D J 450,8-11. Dial 1831 (Ms.), X V I I I . Stunde, D J 486,8f.
335
Dial 1814/15, Einl. § 45 D A ? 8 ( D J 17)
iib
Dies stellt auch Wagner: Dialektik 60f fest und weist in diesem Z u s a m m e n h a n g das Mißverständnis z u r ü c k , mit d e m Kriterium der Intersubjektivität des Wissens sei die intersubjektive K o m m u n i k a t i o n s s i t u a t i o n , das „ G e s p r ä c h " gemeint.
III. A b l e i t u n g und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
75
Grad der Entsprechung und zum Ort der Entsprechung zusammenzutragen. Zunächst also einleitend: Ist im folgenden von „Wissen" die Rede, so ist stets das allgemeine Gewußtwerden eines Einzelsachverhaltes gemeint. Als ein solches Partikularwissen weist jedes Wissen in zwei Richtungen, auf das Denken und auf das höchste Wissen. Denn einerseits hat das Wissen im Denken seinen Ursprung - mit dem Begriff des Wissens wird das Resultat des Denkaktes bezeichnet: Das „Denken" ist als die noch vorläufige, revisionsfähige und revisionsbedürftige Approximation an den Gegenstand aufzufassen, während das „Wissen" sich gerade durch die definitive Endgültigkeit in der Erfassung des Gegenstandes auszeichnet. 337 Denken und Wissen unterscheiden sich damit in der Intensität der jeweiligen Entsprechung mit dem Sein: Das jeweilige Wissen zeichnet sich (als zum Abschluß gekommenes Denken) durch die Vollkommenheit in der Entsprechung mit dem jeweils ausgedrückten Sein aus 338 , während das prozessuale, approximative Denken als „Wissenwollen" 339 diese Vollständigkeit in der Entsprechung eben gerade noch nicht erreicht hat. Als ein Partikularwissen weist das Wissen nach der anderen Richtung auf das höchste Wissen: Mit diesem Begriff bezeichnet Schleiermacher die Idee der materialen Vollständigkeit des universalen Wissensumfanges - das höchste Wissen ist die „Idee der Weltweisheit" 340 . Dieses höchste, alles mögliche Partikularwissen vollständig umfassende Wissen ist allerdings kein realiter gewußtes Wissen, sondern eine in jedem Denkakt und in jedem Wissensprodukt idealiter vorausgesetzte Idee. In welcher Weise die Idee des höchsten Wissens die Realität des Partikularwissens verbürgt, wird erst aus der Betrachtung des höchsten Gegensatzes hervorgehen können. Damit können wir uns dem Verhältnis zwischen Wissen und Sein zuwenden. Die Beschreibung der Allgemeingestalt der Kongruenz zwischen Wissen 341 und Sein wird in der Dialektik hauptsäch337 338 339 340
341
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 86.2 D A 2 15f (DJ 4 1 f ) Dial 1828, 15. Stunde, D J 450,9. Dial 1 8 2 2 (Ms.), X X . Stunde, D O 1 3 7 (DJ 368) Dial 1831 (Ms.), X X . Stunde, DJ 4 8 8 , 1 1 Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 § 1 1 3 D A 2 1 1 5 (DJ 3 0 9 dort § 343). Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 536 (§ 61 Zs.). Ethik (Einl) 1 8 1 3 ( 1 6 ) , Ε 506 (§ 1 0 0 ) Die Erhebung der Allgemeingestalt unterscheidet noch nicht zwischen dem Wissen als Wissen im strengen Sinne u n d dem Wissen als Denken: Diese Unterscheidung wird erst unten in der Erhebung des Kongruenzgrades einschlägig. A m vorliegenden O r t e verhalte ich mich also mit Schleiermacher gegen den Unterschied zwischen Wissen u n d D e n k e n vorläufig noch indifferent.
76
Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
lieh durch Derivate der Ausdrücke „Korrespondenz" (1811 und 18 1 4) 3 4 2 , „Übereinstimmung" (1814, 1818 und 1831) 3 4 3 , „Gleichheit" (18 1 4/15) 3 4 4 , „Entsprechung" (1814, 1818, 1822 und 182 8) 3 4 5 und „Zusammenstimmung" (1814, 1818 und 1831) 3 4 6 geprägt. 347 In der Vorlesung 1831 findet sich schließlich auch der Begriff „Identität" des Denkens und Seins. 348 Die Ethik-Einleitungen heben die Form der Entsprechung von Wissen und Sein als Aufeinanderbezogenheit deutlicher hervor: „Das Sein ist das Gewußte, und das Wissen weiß um das Seiende." 349 Terminologisch wird die Entsprechung in der Ethik stets in der folgenden Formel beschrieben: Das Wissen ist „Ausdruck" des Sein, das Sein ist „Darstellung" des Wissens. 350 Daß nur die genannten Ausdrücke die Gleichursprünglichkeit, die jeweilige Eigentümlichkeit und die strukturelle Aufeinanderbezogenheit von Wissen und Sein angemessen zum Ausdruck bringen, wird gelegentlich eigens hervorgehoben. 351 Die Behauptung der Entsprechung zwischen Wissen und Sein weist nun auf den entscheidenden „Hauptpunkt in dem transcendentalen Theil unserer Untersuchung" 3 5 2 : „Die Hauptfrage entsteht nun, Wie kommt das Denken zu dem Sein außer ihm, worauf es sich bezieht ?"353 Schleiermacher beantwortet diese Frage zunächst und vorläufig mit dem Hinweis auf den Ort, an dem „das Sein nicht außer dem Den342
343
344 345
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348 349
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351 352 353
Z.B. Dial 1811 (Ms.), 24. Stunde, D A , 31 ( D J 330). Dial 1814/15, T l . l § 106 D A 2 19 ( D J 54) Z.B. Dial 1814/15, Tl.l §§ 95.96.101.105 D A 2 17-19 ( D J 50f.53f). Dial 1818 (Ms.), N r . X I I , D J 367. Dial 1831 (Ms.), X V I I I . Stunde, D J 486f. Dial 1814/15, T l . l § 105 D A 2 19 ( D J 54) Z.B. Dial 1814/15, Tl.l § 87 D A 2 16 ( D J 43). Dial 1818 (Ms.), Nr. X I I , D J 367. Dial 1822 (Ms.), X X . Stunde, D O 137 ( D J 368). Dial 1828, 15. Stunde, D J 450 Z.B. Dial 1814/15, Tl.l § 101 D A 2 19 (DJ 53). Dial 1818 (Ms.), Nr. X I I , D J 367. Dial 1831 (Ms.), X V I . Stunde, D J 484 Diese Sammlung ergänzt die bei Dilthey: LS I I / l 107 gegebene Materialzusammenstellung. Die Ergänzungen erweisen freilich Diltheys a.a.O. geäußerte Annahme der entwicklungsbedingten Verschiebung in der Begriffsbenutzung als fragwürdig und legen vielmehr die Annahme einer eher zufälligen Verwendungsweise der Begriffe nahe. Dial 1831 (Ms.), X V I I . Stunde, D J 486,2; auch a.a.O. (Ns.), X V I I I . Stunde, D J 486,31 Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 524 (§ 23). Vgl. Ethik (Einl) 1813(16), Ε 491 (Zusatz am Rande zu § 22). Ethik (Einl) 1813(16), Ε 491ff (§§ 22 [Anm].25.26.30.31.32.62.63.65.97). Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 525.534f (§§ 25.56.57) Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 525 (§ 25 Zs.) Dial 1828, 18. Stunde, D J 452,7f Dial 1828, 17. Stunde, D J 451,32f; Hervorhebung im Original
III. A b l e i t u n g und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
77
ken [ist], sondern beide ursprünglich für einander und durch einander als in einander" 354 sind: Im Selbstbewußtsein ist uns die Einheit von Wissen und Sein gegeben, hier liegt der identische Ursprung, die jeweilige Selbstständigkeit und die Aufeinanderbezogenheit des Wissens und des Seins: Indem uns „im Selbstbewußtsein (...) gegeben [ist,] daß wir beides Denken sind und Gedachtes und unser Leben haben im Zusammenstimmen beider." 355 Wollen wir erfahren, wie Wissen und Sein zusammenstimmen und wieso wir aus dieser Zusammenstimmung „unser Leben haben", müssen wir uns nun also zunächst dem Gegensatz zwischen Denken und Gedachtem zuwenden. C. Der höchste Gegensatz Soll die Identifizierung von Wissen und Sein nun Plausibilität gewinnen, so muß sie sich in der strukturanalogen Begründung des Wissens und des Seins bewähren. Oder an das Obige anknüpfend: Seiendes Denken und seiendes Gedachtes einerseits sowie denkendes Sein und gedachtes Sein andererseits müssen sich als identisch erweisen. Der Gegensatz zwischen Denken und Gedachtem muß sich aus der Verfaßtheit des Seins als Gegensatz im Sein und aus der Verfaßtheit des Wissens als Gegensatz im Wissen je einzeln begründen lassen und in dieser Begründung sich als ein einziger, identischer Gegensatz erweisen. Dies genau geschieht in der Theorie des höchsten Gegensatzes. 356 354 355 356
Dial 1828, 19. Stunde, DJ 453,4-9 Dial 1814/15, Tl.l § 101 DA 2 19 (DJ 53) Zur Textgrundlage ist hier folgendes anzumerken: Seinen ursprünglichen Ort hat die Statuierung des höchsten Gegensatzes im ersten Themenkreis des transzendentalen Teiles der Dialektik (s.o. Anm. 295). Der höchste Gegensatz taucht (seiner Funktion als einer universalen, gegensatzstrukturierenden Identifikationsfigur völlig angemessen) am Ende des ersten Themenkreises zum ersten Mal auf und erfährt dort seine grundlegende Entfaltung (Dial 1814/15, Tl.l §§ 128-137 DA 2 25-28 [DJ 73-78]). Zugleich hat er mit dieser Lokalisierung auch in den nachfolgenden Fassungen - soweit deren Gliederung noch erhebbar ist - seinen unveränderten Ort gefunden: Vgl. Dial 1822 (Ms.), XXVIII.-XXX. Stunde, D O 175-188 (DJ 396-400); Dial 1828, 28.-31. Stunde, DJ 459-463. Durch Einschübe unterbrochen auch in Dial 1831 (Ms.), XXVIII.XXXI.XXXIII.XLII.XLIV. Stunde, DJ 496f.499f.503-505.515f.517519. Die angegebenen Stellen bieten damit das hauptsächliche Quellenmaterial. Sie werden fakultativ durch verstreute Einzelbestimmungen der genannten Dialektikfassungen, die Zusammenfassung der Vorlesungsnachschrift in Dial 1818 (Ns.), DJ 78f und (zur Beleuchtung der ontologischen Qualität des höchsten Gegensatzes über die Bestimmungen der Dialektik hinausgehend) durch außenperspektivische Einzelerwähnungen im zweiten Abschnitt der Ethik (s.o. Anm. 307), z.B. in Ethik [Einl, LB.] 1816/17, Ε 531 [§§ 44-46]; Ethik [Einl] 1813[16], Ε 494-497 [§§ 38-46]; Ethik [Einl u. Gtl] 1812/13, Ε 248 [§§ 23-30]) ergänzt.
78
Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des Gesamtsystems
Denn der Gegensatz zwischen Denken und Gedachtem ist einerseits ein in der Idee des Wissens zu lokalisierender Gegensatz. Wissen als Resultat eines Denkaktes besteht nur als „gemeinschaftliches Product der Vernunft und der Organisation des Denkenden" 3 5 7 . Beide „Denkfunctionen" 3 5 8 wirken im realen Denken zusammen 3 5 9 und lassen sich nicht isolieren 3 6 0 . Was über das interne Zusammenspiel ihrer Funktionsweisen dennoch festgestellt werden kann, soll unten 361 gesondert zusammengefaßt werden. Hier interessiert einstweilen nur die Allgemeinbestimmung ihrer funktionalen Aufgaben: Die organische Funktion nimmt die unbestimmte Mannigfaltigkeit wahr 3 6 2 und belebt so die intellektuelle Funktion 3 6 3 ; die Vernunfttätigkeit ordnet diese Mannigfaltigkeit als einheitlich strukturierte Vielheit 364 und bestimmt so das organisch Gegebene 3 6 5 . Intellektuelle und organische Funktion sind dabei aufeinander angewiesen, aber keinesfalls voneinander ableitbar 3 6 6 , sondern „unabhängig" 3 6 7 . Die Terminologie einstweilen noch zurückstellend 3 6 8 , läßt sich festhalten: Dieser Gegensatz ist der „aller Wissenstätigkeit als ihre allgemeinste Bedingung einwohnende" 3 6 9 und kann daher mit Recht als der höchste Gegensatz des Wissens gesetzt werden. Aber „der höchste Gegensatz muß auch in unserm Sein sich finden" 3 7 0 : Auch das Sein „bildet nur eine Gesamtheit, inwiefern die darin enthaltenen Gegensäze als einander untergeordnet und beigeordnet unter Einem höchsten können begriffen werden." 3 7 1 „Der höchste 357 358 359 360 361 362 363 364 365
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 92 D A 2 17 (DJ 47) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 133.3 D A 2 2 7 (DJ 76) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 108f D A 2 2 0 (DJ 57) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 118.1 D A 2 23 (DJ 63) S.u. S. 91 ff Dial Dial Dial Dial
1814/15, 1814/15, 1814/15, 1814/15,
Tl.l Tl.l Tl.l Tl.l
§ § § §
118 119 118 119
DA2 DA2 DA2 DA2
23 23 23 23
(DJ (DJ (DJ (DJ
63) 64) 63) 64)
366
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 132 D A 2 2 7 (DJ 76)
367
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 134 D A 2 28 (DJ 76). Vgl. auch Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 532 (§ 46 Zs.): „Jedes Glied dieses Gegensatzes getrennt f ü r sich genommen ist nichts im Sein u n d Wissen, sondern bleibt nur ein todtes Zeichen."
368
In diesem Falle allerdings nicht deswegen, weil sie „gleichgültig" (Dial 1814/15, T l . l § 133.3 D A 2 2 7 [DJ 76]) wäre, sondern weil sie die doppelte Herleitung des identischen höchsten Gegensatzes hier noch verschleiern würde. Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 531 (§ 4 6 Zs.)
369 370 37'
Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 531 (§ 45) Ethik (Einl) 1 8 1 3 ( 1 6 ) , Ε 4 9 4 (§ 38)
III. Ableitung und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
79
Gegensaz, unter dem uns alle andern begriffen vorschweben, ist der des dinglichen und des geistigen Seins." 372 Sowohl dem Wissen als auch dem Sein wohnt also ein höchster Gegensatz inne. Allerdings ist die hier darstellungshalber vorgenommene Isolierung des höchsten Gegensatzes im Sein und des höchsten Gegensatzes im Wissen eine künstliche, denn Schleiermacher insistiert gerade darauf, daß der höchste Gegensatz des Seins und der höchste Gegensatz des Wissens identisch sind. Die organische Funktion des Denkens und die Einwirkung der Gegenstände des Seins haben denselben dinglichen, belebenden, objektiven Charakter und können das „Reale" 373 genannt werden: In ihm ist das Sein als das Gewußte. 374 Und ebenso haben die intellektuelle Funktion des Denkens und das Prinzip der Vernunfttätigkeit im Sein den selben geistigen, bestimmenden, subjektiven Charakter und können das „Ideale" 375 genannt werden: In ihm ist das Sein als das Wissende.376 Wissen und Sein werden also durch den identischen höchsten Gegensatz strukturiert - die zwei Denkfunktionen sind Ausdruck der zwei „modi des Seins" 377 : Im Ausgang von den Denkfunktionen entwickelt sich die „Idee des Seins an sich unter zwei entgegengesezten und sich auf einander beziehenden Arten oder Formen und modis, dem idealen und realen als Bedingung der Realität des Wissens" 378 . Damit verlasse ich die Parallelisierung zwischen Wissen und Sein einstweilen und wende mich der Struktur des höchsten Gegensatzes zwischen Idealem und Realem zu. Seine Binnengestalt entfaltet Schleiermacher erst im zweiten technischen Teil der Dialektik, am Orte der Beschreibung des Begriffsbildungsverfahrens. Nachdem die Entfaltung dort aber auf transzendentale Sachverhalte nicht nur zurückverweist, sondern nachdem diese transzendentalen Sachverhalte im technischen Teil überhaupt zum ersten Male thematisch wurden, hatte ich diesen 372 373
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 531 (§ 46 Ls.) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 132 D A 2 27 (DJ 75). Vgl. auch Dial 1828, 29. Stunde, DJ 461,10-12: „Die Gesammtheit des auf das Denken beziehbaren Seins ist das reale (zu welchem in sofern das denkende Sein auch gehört); ( . . . ) " (Hervorhebung im Original)
374
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 531 (§ 46 Zs.)
375
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 132 D A 2 27 (DJ 75) Vgl. auch Dial 1828, 29. Stunde, DJ 461,1214: „(...) die Gesammtheit des auf das Sein beziehbaren Denkens ist das ideale, wozu also in sofern auch das denkende Sein gehört ( . . . ) " (Hervorhebung im Original) Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 531 (§ 46 Zs.)
376 377 378
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 132 D A 2 27 (DJ 76) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 136 D A 2 28 (DJ 77)
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
Abschnitt vorziehen müssen und kann nun auf das oben 3 7 9 zusammenhängend Entfaltete zurückgreifen: Der höchste Gegensatz ist kein absoluter, sondern ein doppelter, relativer Gegensatz, in dem Ideales und Reales jeweils an beiden Gegensatzendpunkten mit umgekehrtem Ubergewicht gesetzt sind. Wie jeder Gegensatz, so bezieht sich auch der höchste Gegensatz auf eine unter ihm liegende „Totalität" 3 8 0 , die er strukturiert. Im Falle des allgemeinsten, höchsten Gegensatzes kann diese Totalität des Seins und des Wissens nur das schlechterdings allgemeinste sein: die „unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des Wahrnehmbaren" 3 8 1 . U n d wie jeder Gegensatz, so ist auch der höchste Gegensatz auf seine eigene Auflösung, nämlich auf die in ihm angelegte Einheit seiner Pole, bezogen: in ihm erweist sich die chaotische Mannigfaltigkeit, zur geordneten Vielheit strukturiert, als einheitlich. Im Falle des höchsten Gegensatzes kann diese Identität von Idealem und Realem nur die Idee der allumfassenden Einheit sein. 382 N u n ist einerseits deutlich, daß diese höchste Identität sich einer begrifflichen Erfassung aus konstitutionellen Gründen entziehen muß diese Identität wäre andernfalls ja nicht die höchste Identität, sondern nur ein nach den mittlerweile bekannten Regeln gebildeter, eine Teilidentität repräsentierender Begriff. 3 8 3 Andererseits ist auch deutlich, daß der höchste Gegensatz wesensnotwendig eine über ihm liegende Identität strukturieren muß - er wäre andernfalls eben nicht der höchste Gegensatz, sondern ein willkürlich gebildeter Teilgegensatz ohne Anspruch auf universalstrukturierende Potenz. Es ergibt sich also das Paradox der systematisch notwendigen Annahme einer allumfassenden Einheit, die ebenso systemnotwendig begrifflich unerfaßbar ist. Damit bildet der höchste Gegensatz „die Grenze des transcendentalen und immanenten" 3 8 4 : Das „Eine[] Sein" 3 8 5 , das er strukturiert, ist das in der Dialektik „gesuchte transcendentale" 3 8 6 , der „wahre transcendentale G r u n d " liegt in der „rein transcendentalen Identität des idealen und realen" 3 8 7 . 379 380 381
382 383 384 385 386 387
S.o. S. 47ff Dial 1814/15, Tl.l §§ 215-218 (passim) DA 2 64-68 (DJ 151-161) Dial 1814/15, Tl.l § 147 DA 2 31 (DJ 85). Vgl. auch Dial 1814/15, Tl.l § 119.145 DA 2 23.30f (DJ 64.84) Dial 1814/15, Tl.l § 136f DA 2 28 (DJ 77f) Dial 1814/15, Tl.l § 149 DA 2 31 (DJ 86) Dial 1814/15, Tl.l § 135 DA 2 28 (DJ 77) Ebda. Dial 1814/15, Tl.l § 105 DA 2 19 (DJ 54) Dial 1814/15, Tl.l § 214.1.2 DA 2 64 (DJ 150-151)
III. Ableitung und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
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Hat der höchste Gegensatz damit seinen Einheitspunkt erreicht und qualifiziert, so erschließen sich aus seinem (in der Unmöglichkeit seiner begrifflichen Erfassung sich manifestierenden) transzendentalen Charakter zwei Folgebestimmungen. Die erste betrifft den Aneignungsmodus der höchsten Einheit: Die höchste Einheit kann, anders als subordinierte (immanente) Teilgegensatzidentitäten, nicht gewußt werden 388 , sondern diese Einheit „haben" 389 wir. Entsprechend ist der Ort der höchsten Einheit im Selbstbewußtsein nicht das Wissen, sondern das Gefühl 390 oder unmittelbare Selbstbewußtsein 391 . Die zweite Folgebestimmung betrifft den Repräsentanzmodus der höchsten Einheit: Die höchste Einheit besteht nur als reine, aber zu keiner Zeit organisch gefüllte 392 Anschauung, die niemals wirklich, sondern nur in entfernter, schematischer Analogie „vollzogen" 393 werden kann: sie muß stets „unausgefüllter Gedanke" 394 bleiben. Daß es gleichwohl unvermeidbar ist, trotz der nur annäherungsweise bestehenden Erfaßbarkeit der höchsten Einheit diese mit symbolischen begrifflichen Bezeichnungen zu versehen, zeigt sich zuerst in den unmittelbar auf diese Bestimmungen folgenden (und oben ja bereits hinzugezogenen) Paragraphen des fünften Themenkreises der Dialektik. Denn schon das dort intendierte Ziel, den je eigenen transzendentalen Charakter der Idee der höchsten Einheit und der Idee der höchsten Vielheit zu belegen, erfordert die Benutzung sinnbildlicher Ausdrücke und kommt ohne die Symbolisierung der Idee der höchsten Einheit im Begriffe Gottes und der Idee der höchsten Vielheit im Begriff der Welt nicht aus. 395 Und in der Ethik-Einleitung wird das Gesuchte 396 , die transzendentale Identität des höchsten Gegensatzes (dem Zusammenhang angemessen, aber eben so vorläufig) als „höchstes Wissen" und mit ihm identisches „höchstes Sein" begriffen. 397 Ich 388 389 390 391
392 393 394 395
396 397
Dial 1814/15, Tl.l § 2 1 6 - 2 1 8 D A 2 65-68 (DJ 154-161) Dial 1814/15, Tl.l § 2 1 5 Ls. D A 2 64 (DJ 151) Ebda. Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288-290 (DJ 428-430). - Zum Ganzen vgl. unten im vierten Kapitel S. 292ff. Dial 1814/15, Tl.l § 216.8 D A 2 67 (DJ 158). § 218.3 (DJ 161) Dial 1814/15, Tl.l § 215.2 D A 2 64f (DJ 152) Dial 1814/15, Tl.l § 218.3 D A 2 68 (DJ 161) A n der Mittelbarkeit der Ausdrücke ändert auch deren Freiheit von allen religiösen Konnotationen und ihr Charakter als rein philosophische Ausdrücke höchster Einheit und Vielheit (Dial 1814/15, Tl.l § 2 1 5 D A 2 64f [DJ 152]) nichts. Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 526 (§ 29) Ethik (Einl, I.B.) 1816/17, Ε 526-528 (§§ 29-33)
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
werde auf den Geltungsanspruch begrifflicher Erfassung zurückkommen - im vorliegenden Kontext muß der gegebene Umriß genügen. Dagegen sind hier nun fünf zusammenfassende Bestimmungen des höchsten Gegensatzes selbst festzuhalten. Sie betreffen erstens die systemorganisierende Funktion des höchsten Gegensatzes, zweitens weitere Wege seiner Herleitung, drittens seine Binnengestalt, viertens seine Gegebenheitsweise und fünftens - diesen Abschnitt abschließend noch einmal seine zwischen Denken und Sein vermittelnde Funktion. Erstens zur systemorganisierenden Funktion des höchsten Gegensatzes: Bereits in der Darstellung des Begriffsbildungsverfahrens war deutlich geworden, daß Schleiermacher von der Vorstellung eines pyramidenförmigen Systems der Gegensätze ausgeht. Je größer der Spezifiziertheitsgrad des zu erfassenden Gegenstandes ist, um so größer die Zahl der ihn bestimmenden Gegensätze - und umgekehrt: Je größer der Allgemeinheitsgrad, um so kleiner die Zahl der Gegensätze. Die Bewegung vollzog sich also als Aufsteigen vom Besonderen zum Allgemeinen und kulminiert im Erreichen des höchsten Gegensatzes. Diese Vorstellung findet sich nun am Orte der Entfaltung des höchsten Gegensatzes in Dialektik und Ethik-Einleitung ebenfalls - lediglich umgekehrt: unter dem höchsten Gegensatz dehnt sich das „System der Gegensäze" 398 aus. Zweitens: Seiner Gestalt und Funktion als höchster koordinierender Gegensatz aller denkbaren Einzelgegensätze halber müßte sich die Idee des höchsten Gegensatzes also nicht nur (wie hier im Anschluß an die Dialektik und die Ethik-Einleitung geschehen) auf dem relativ kurzen Wege im Ausgang von der allgemeinsten Idee des Wissens an sich und der Idee des Seins an sich entfalten lassen, sondern aus jeder besonderen, stets gegensätzlich strukturierten Einzelgestalt des Wissens und des Seins herleiten lassen. In der Tat ist zum Beispiel (a) auch, ebenfalls im Anschluß an die Dialektik, eine Herleitung des höchsten Gegensatzes aus den allgemeinsten psychologischen Bedingungen des Wissens, nämlich Denken und Wahrnehmen, möglich. 399 (Diese Herleitung setzt wenige Gedankenschritte vor der hier nachgezeichneten Herleitungsmöglichkeit ein und folgt ihr dann.) Eine (b) weitere, in natürlicher Verwandtschaft zu den beiden oben genannten Herleitungswegen stehende Ableitung des höchsten Gegensatzes 398
•>99
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 135 D A 2 28 (DJ 77). Vgl. auch Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 526-529 (S§ 29.30.31.34-36) Vgl. Lehnerer: Kunsttheorie 42f
III. Ableitung und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
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aus dem Verfahren der Begriffsbildung findet sich ebenfalls in (dem zweiten Teil) der Dialektik und war oben ja bereits aufgetaucht. 400 Exemplarisch hingewiesen werden soll indes (c) auch noch auf einen gänzlich anderen Weg, der von Schleiermacher selbst in der Psychologie 401 vorgezeichnet ist. Dort geht die Herleitung des höchsten Gegensatzes von der empirischen 402 Beobachtung des individuellen menschlichen Lebens aus: Das Einzelleben jedes Menschen ist durchzogen vom Grundgegensatz zwischen Leib und Seele, zwischen organischem und intellektuellem Sein. Dieser Grundgegensatz ist dabei nach der einen Richtung der allgemeinste und zugleich präziseste Ordnungspunkt, unter dem sich die Totalität der Vollzüge des empirischen Lebens in seiner Mannigfaltigkeit begreifen läßt. Nach der anderen Richtung ist dieser Grundgegensatz Ausweis der Einheit des Ich: Denn in der Idee des „Ich" ist der Gegensatz zwischen körperlichem und seelischem Sein zur Identität verschmolzen. So sind über jenen Grundgegensatz die Vielgestaltigkeit des empirischen Lebens und die Einheit des individuellen, personhaften Ich untrennbar miteinander verbunden. Und dieser Gegensatz zwischen Seele und Leib ist eben kein anderer als die jedem Menschen in seinem ,,unmittelbare[n] einzelnen Leben" „angeboren[e]" 403 (das heißt: intersubjektiv identisch vor aller organischen und intellektuellen Wahrnehmung, als deren Bedingung gegebene) 404 Gestalt des höchsten Gegensatzes. Drittens zur Binnengestalt des höchsten Gegensatzes: Es hatte sich bei der Darstellung des Begriffsbildungsverfahrens ergeben, daß jeder Einzelgegensatz in seiner Gestalt als relativer, doppelter Gegensatz in horizontaler Richtung eine Vierfachteilung vornimmt. Nachdem der Einzelgegensatz damit eine unter sich liegende unbestimmte Mannigfaltigkeit zu einer über ihm liegenden bestimmten Einheit ordnet, läßt sich hier noch einmal in vertikaler Richtung die Strukturabhängigkeit jedes (vierfach teilenden) Einzelgegensatzes vom ihn vertikal kreuzenden Gegensatz zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit erkennen. Soll nun der höchste Gegensatz diese Bezeichnung zu Recht tragen, so darf er in seiner Binnengestalt keinen zweiten Gegensatz dulden seine horizontale Teilung und seine vertikale Teilung müssen identisch sein. Denn er muß nicht nur, wie jeder Einzelgegensatz, zum Erhalt 400
S.o. S. 51ff
401
Psychologie 1830 §§ 1-14, SW III/6, 489-501 „aus dem gemeinen Leben": Psychologie 1830 § 1, SW III/6, 490,1 Of
402 403 404
Ethik (Einl) 1813(16), Ε 495 (§ 40) Dial 1828, 21. Stunde, DJ 454
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
seiner Relativitäts- und Doppelgestalt einmal mit sich selbst gekreuzt sein, sondern auch die vertikale Entgegengesetztheit zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit muß in ihm, dem höchsten Gegensatz, bereits enthalten sein, so daß er also noch ein zweites Mal in vertikaler Richtung mit sich selbst gekreuzt sein muß. Unter den Gegensatz zwischen Idealem und Realem müß sich auch der Gegensatz zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit subsumieren lassen. Dieser für Idee und Begriff des höchsten Gegensatzes denknotwendige Gedanke findet sich in der Dialektik nur - eigentümlich unbestimmt - andeutungsweise: in der Äußerung nämlich, die (ideale) Vernunfttätigkeit „bringt" 405 bzw. setzt 406 das Sein unter der Form der Einheit, die (reale) organische Tätigkeit hingegen als unbestimmte Mannigfaltigkeit.407 Einheit und Mannigfaltigkeit stehen also selbst in dem höchsten Gegensatz der Idealität und der Realität zueinander. Viertens muß ich noch einmal an die Bestimmungen Schleiermachers zur Gegebenheitsweise des höchsten Gegensatzes erinnern. Zu der Bestimmung des höchsten Gegensatzes als Grenze des Transzendenten und des Immanenten und zur Einsicht in die begriffliche Nichterfaßbarkeit der Gegensatzidentität gesellt sich die Einsicht in die begriffliche Labilität auch der Gegensatzglieder. Denn kraft ihrer Eigenschaft als höchste Einteilungsbegriffe können sie ebenfalls nicht auf dem regulären Begriffsbildungswege deduziert werden, sondern sind Setzungen mit nur mittelbarem, ausschließlich an den gegensätzlichen Produkten abzulesendem Aussagewert.408 Jeder Versuch einer begrifflichen Fixierung der Gegensatzglieder ist darum zum Scheitern verurteilt: Entweder bietet er lediglich „Erinnerungen" an die gegensätzlichen Produkte, oder er ist „rhetorisch d.h. leer". 409 Damit entzieht sich also nicht nur die höchste Identität, sondern der höchste Gegensatz insgesamt der begrifflichen Erfassung: Er bleibt, wie Schleiermacher sich plastisch ausdrückt, „immer hinter dem Vorhang"410. 405 406
Dial 1831 (Ms.), X X V I . Stunde, DJ 495,15 Dial 1814/15, Tl.l § 129 D A 2 26 (DJ 74)
407
Dial 1814/15, Tl.l § 129 D A 2 26 (DJ 74). Vgl. auch den Schluß der komprimierten Definition des höchsten Gegensatzes in Dial 1828, 29. Stunde, DJ 461,12-15: Im Idealen ist „diese Identität [sc.: des Denkens und des Seins] unmittelbar gegeben".
408
Dial 1814/15, Tl.l § 133.1 D A 2 27 (DJ 76) Dial 1814/15, Tl.l § 133.2 D A 2 27 (DJ 76)
409 410
Dial 1814/15, Tl.l § 133.1 D A 2 27 (DJ 76). Hält man sich diese Bestimmungen zur Begrifflichkeit vor Augen, so wirkt es eher ungeschickt, daß Schleiermacher später im Dialektik-Entwurf 1831 von der Bezeichnung des höchsten Gegensatzes durch die also unzureichenden, aber im Gesamtrahmen der Systemkonstruktion wenigstens
III. A b l e i t u n g u n d Entfaltung des S y s t e m s der Wissenschaften
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D e r G e g e n s a t z zwischen Idealem und Realem ist, so läßt sich in A b wandlung der Definition der Dialektik in der letzten Bearbeitung der Ethik-Einleitung 4 1 1 formulieren, das „gehaltlose A b b i l d " der höchsten Gegensätzlichkeit überhaupt. D a m i t bleibt die Anerkenntnis des höchsten Gegensatzes dieser Unanschaulichkeit halber, trotz seiner faktischen Universalpräsenz in allem Wissen u n d Sein, „zuletzt Sache der G e s i n n u n g " 4 1 2 : Jeder, der überhaupt in einen D i s k u r s eintritt, nimmt de facto die Möglichkeit der Wahrheit, der U b e r e i n s t i m m u n g des Wissens mit d e m Sein, in A n spruch. 4 1 3 D a ß Schleiermacher diese geforderte Anerkenntnis durch ihren Verweis in das Reich der Gesinnung damit allerdings keinesfalls bagatellisiert, erschließt sich durch den Blick in die Ethik-Einleitung: D e r (in der Dialektik geforderte) sittliche A k t besteht (der EthikEinleitung zufolge) in der alle Wahrheit prätendierenden A u s s a g e n wie z.B. den „einfache[n] A u s d r u c k : Das ist s o " 4 1 4 - faktisch immer schon leitenden A f f i r m a t i o n eines schlechterdings notwendigen Sachverhaltes, der U b e r z e u g u n g v o n der A d ä q u a n z des Wissens mit d e m Sein nämlich. Fünftens ist schließlich noch einmal auf das eingangs festgestellte Kernstück der Idee des höchsten Gegensatzes z u r ü c k z u k o m m e n : die strikte Identifikation des Wissens mit d e m Sein, die in der Ineinssetz u n g des höchsten ontologischen Gegensatzes zwischen dinglichem und geistigem Sein mit d e m höchsten erkenntnistheoretischen G e g e n satz zwischen D e n k e n und Gedachtem besteht. Schleiermacher insistiert darauf, daß diese Ineinssetzung als höchste U b e r e i n s t i m m u n g v o n D e n k e n und Sein uns ausschließlich im Selbstbewußtsein gegeben nicht anderweitig besetzten A u s d r ü c k e „ideal" und „real" A b s t a n d g e n o m m e n hat, u m sie d u r c h die mißverständlicheren, weil bereits belegten A u s d r ü c k e „ S u b j e k t " und „ O b j e k t " z u ersetzen. D e n n diese A u s d r ü c k e suggerieren (in ihrer eindeutigen Erinnerung an die P r o d u k t e ) begriffliche Erfaßbarkeit der höchsten Gegensatzglieder, während der V o r z u g der früheren Begriffe immerhin in ihrer kontextuellen U n b e s t i m m t h e i t liegt. M a n wird als G r u n d dieses Begriffstausches also weniger den Versuch exakterer Beschreibung als vielmehr die Sorge vor Verwechslungsgefahren mit etwa d e m Schellingschen höchsten G e g e n s a t z (s.o. S. 6 2 f f ) annehmen müssen. 411 4,2
Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 537,8 (§ 61 Zs.) Dial 1814/15, T l . l § 134 L s . D A 2 28 ( D J 76). Vgl. auch die U n t e r p u n k t e des Paragraphen: „1. Wer ein Wissen will ( . . . ) 2. Wer sich selbst finden und festhalten will ( . . . ) 3. Wer die Welt im G e g e n s a z mit d e m Ich halten will ( . . . ) 4. A l s o wer überhaupt die A n s c h a u u n g des L e b e n s will muß diese Duplicität wollen."
413
Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 525 (§ 23 Zs.)
414
Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 524 (spätere R a n d b e m e r k u n g zu § 23. H e r v o r h e b u n g im Original)
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Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
sei. Dies setzt selbstverständlich voraus, daß das Selbstbewußtsein seinerseits über eine Organisation verfügt, die es ihm nicht nur erlaubt, das äußere Sein zu erfassen und seine Struktur zu erkennen, sondern die es ihm darüber hinaus ermöglicht, diese Struktur des äußeren Seins mit der Struktur des inneren Seins, also mit seiner eigenen Verfaßtheit, zu vergleichen (und als identisch zu erkennen). Es setzt also in der Tat die Möglichkeit der Sichselbsterfassung des Selbstbewußtseins, eine „Selbstreferenz" 4 1 5 voraus. Freilich bleibt es abwegig, von Schleiermacher die Erklärung dieses Sachverhaltes durch die Ableitung des höchsten ontologischen Gegensatzes (und damit die Struktur des Seins überhaupt) aus der psychologischen Verfaßtheit des Bewußtseins erwarten zu wollen. Diese Leseerwartung 416 wird mit innerer Notwendigkeit unbefriedigt bleiben und der Schleiermacherschen Argumentation daher einen „unaufgeklärten Sprung" 4 1 7 „komplexer Art" 4 1 8 unterstellen müssen. Denn zweierlei wird übersehen: Erstens, daß die Identität des Denkens und Seins uns im Selbstbewußtsein gegeben ist, also nicht O b j e k t gegenständlichen Wissens sein kann. 419 Und zweitens wird übersehen, daß das Selbstbewußtsein auch tatsächlich selbst über die in diesem Postulat vorausgesetzte Funktion zur Sichselbsterfassung verfügt: im Gefühl oder unmittelbaren Selbstbewußtsein! Im direkten Zusammenhang der Entfaltung des höchsten Gegensatzes thematisiert Schleiermacher dieses Gefühl allerdings noch nicht - ich werde mich dieser Funktion daher auch erst unten im Abschnitt IV und ausführlich im vierten Kapitel zuwenden können. 4 2 0 Die Behaup415
Lehnerer: Kunsttheorie 44,24. Diese „Selbstreferenz" besteht aber gerade nicht in einem „Wissen des Wissens" (ebda.), wie deutlich werden wird.
416
Lehnerer: Kunsttheorie 44,33-36
417
Lehnerer: Kunsttheorie 43,38f Lehnerer: Kunsttheorie 46,21 Dies wird wenige Paragraphen vor der Statuierung des höchsten Gegensatzes als dessen durchgängige Voraussetzung geradezu einschärfend wiederholt und gegen mögliche Einwände verteidigt: Dial 1814/15, Tl.l §§ 101-105 D A 2 18f (DJ 53f)
418 419
420
Anders als Dilthey: LS I I / l , 120.188 in emphatischer Weise („einer der wichtigsten Gedanken Schleiermachers": a.a.O. 120,4f) nachzuweisen sucht, ist diese sich selbsterfassende Funktion hingegen keinesfalls einfach mit der inneren Öffnung der organischen Funktion des Bewußtseins identifizierbar. Zwar kennt Schleiermacher eine doppelte Funktion der organischen Tätigkeit, die sich ihrerseits in einen dem äußeren Sein zugewandten Teil und einen dem inneren Sein zugewandten Teil unterteilt. Dies ist in den einschlägigen Passagen (Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 168.3 DA2 36 [DJ 96]) freilich nur in unspezifischer Weise angedeutet, und in die Fassung von 1822 (Dial 1822 [Ms.], X X . Stunde, D O 139,40-42 [DJ 387]) ausweislich der textkritischen Anm.2 in D O a.a.O. Z.43 überhaupt erst durch den von Jonas vorgenommenen Zusatz in DJ a.a.O. Z. 23 eingetragen worden. Die Fassung von 1828
III. Ableitung und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
87
tung, daß Schleiermacher „ein sich selbst erfassendes D e n k e n f ü r nicht d e n k b a r h ä l t " 4 2 1 , w e i s t dagegen in eine falsche Richtung. D . D e r höchste G e g e n s a t z im S y s t e m der Gegensätze D a m i t verlasse ich den höchsten G e g e n s a t z einstweilen u n d begebe mich in das „ S y s t e m d e r Gegensäze". 4 2 2 D e n n es m u ß sich n u n zeigen, i n w i e f e r n der höchste Gegensatz, d e r ja selbst lediglich die gehaltlose G r u n d g e g e n s a t z s t r u k t u r repräsentiert, tatsächlich in jedem i h m subordinierten G e g e n s a t z sich konkretisiert u n d i n w i e f e r n also alles d u r c h ihn s t r u k t u r i e r t e W i s s e n u n d Sein diesen G r u n d g e g e n s a t z in sich trägt. D a z u m ö c h t e ich mich zunächst auf die reale, objektive, das (denkbare) Sein b e t r e f f e n d e Gegensatzseite begeben u n d skizziere die erste f o l g e n d e S t u f e des Systems der Gegensätze auf der Seite des Erkenntnisgegenstandes (1). D a r a n anschließend soll dann die erste S t u f e auf d e r idealen, subjektiven, das (seiende) D e n k e n b e t r e f f e n d e n Gegensatzseite, also auf der Seite der Erkenntnisweise, beschrieben w e r d e n (2). (Die hier gewählte Reihenfolge ist dabei eine zufällige systematisch w ü n s c h e n s w e r t w ä r e die darstellungstechnisch u n m ö g l i che gleichzeitige Betrachtung beider Reihen.)
421 422
diskutiert die Sichselbstzugewandtheit der organischen Funktion nur in einem sehr speziellen Zusammenhang: Dieses Sichselbstfixieren der organischen Funktion liefert das Bildmaterial, nach dem anderes menschliches Sein gesetzt wird (Dial 1828, 19. Stunde, DJ 452,30f. 453,15-19). Daß jedoch letztlich mit dieser innengewandten Funktion der organischen Tätigkeit eben nicht die vollständige Selbsterfassungskapazität, sondern nur die teilweise und eben rein organisch sich gestaltende Empfindung gemeint ist, erschließt Dial 1831 (Ns.), XXX. Stunde, DJ 498,30-34: „Die Form, wo die intellectuelle Thätigkeit überwiegt nennen wir Denken im engern Sinne, die mit dem Uebergewicht der organischen Wahrnehmung, und zwar wenn es auf der Seite des Geöffnetseins nach außen ist, Wahrnehmung im engern Sinne, und wenn auf der Seite des Geöffnetseins nach innen, Empfindung." (Hervorhebung im Original. Vgl. auch Dial 1831 [Ms.], XXX. Stunde, ÜJ 498,18-499,1) Dieses Verständnis des inneren Sinnes bestätigt sich auch in der Diskussion des Traumes in der letzten Fassung der Dialektik: Dial 1831 (Ns.), XXIV. Stunde, DJ 494,23f. Und daß die Subsumption der Empfindung unter den inneren Sinn keine Partikularidee der letzten Jahre Schleiermachers ist, zeigt der Blick in die früheste Fassung der Dialektik 1811: Dort ist der „innre Sinn" zuständig für die Wahrnehmung von Lust und Unlust (Dial 1811 [Ns.], 10. Stunde, DA ( 17). Lehnerer: Kunsttheorie 44,30f Dial 1814/15, Tl.l § 135 DA 2 28 (DJ 77). Zur Veranschaulichung der folgenden, notgedrungen abstrakten und schematischen Darstellung verweise ich auf das unten gegebene, zugleich den Abschnitt zusammenfassende Schaubild (S. 98), in dem der jeweils beschriebene Ort im System etwas übersichtlicher lokalisiert werden kann.
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Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des Gesamtsystems
Vorab zwei Vorbemerkungen zur Vorgehensweise im Folgenden. Erstens: das Ziel des Einblicks in das System der Gegensätze kann keinesfalls in der Erhebung der materialen Pointen der jeweiligen Einzelbereiche liegen, sondern das Ziel dieses Einblicks besteht lediglich in dem Erweis der organisierenden Präsenz des höchsten Gegensatzes ausschließlich auf diesen ersten beiden Stufen des Systems der Gegensätze, aus dem sich dann das System der Wissenschaften wird entwickeln lassen. Und zweitens: dieser Erweis der Präsenz des höchsten Gegensatzes wird dabei auch nicht alle oben erhobenen Funktionsaspekte des höchsten Gegensatzes lokalisieren können, sondern nur die wichtigsten: Es können nur die Glieder der jeweils subordinierten Gegensätze benannt werden. Denn das Ziel dieses Abschnittes besteht ausschließlich in der Nachzeichnung der Herleitung des Systems der Wissenschaften aus der Struktur des höchsten Gegensatzes. Dabei ließe sich ohne die oben genannten Beschränkungen weder die gebotene Übersichtlichkeit noch die erforderliche Kürze dieses einleitenden Abschnittes einhalten. 1. Der reale Zweig des höchsten Gegensatzes. Der reale Zweig des höchsten Gegensatzes weist überwiegend in die Gesamtheit des auf das Denken bezogenen Seins.423 Bezieht man den höchsten Gegensatz nun aus der Perspektive des (auf das Denken bezogenen) Seins auf sein Gesamtgebiet, so erhält man als seinen Grundgegensatz den Gegensatz zwischen Vernunft und Natur 424 : Die auf dem idealen Pol des höchsten Gegensatzes überwiegende subjektive, geistige, denkende Seite ist in der Vernunft abgebildet, die auf dem realen Pol des höchsten Gegensatzes überwiegende objektive, dingliche, gedachte Seite ist in der Natur repräsentiert.425 Nun besteht die in der Ethik vorausgesetzte gegenseitige Durchdringung von Vernunft und Natur in einer doppelten Perspektive, die sich in einer zweifachen Gegenstandsbeschreibung der Ethik ausdrückt: Zunächst betrifft das in der Ethik thematisierte Ineinander von Vernunft und Natur die > Vemünftigkeit der menschlichen Natur - genauer: die „Gesamtheit der 423
Als Textgrundlage dienen hier unverändert die drei vollendeten Einleitungen in die Ethik ( E t h i k [Einl u. Gtl] 1 8 1 2 / 1 3 , Ethik [Einl] 1 8 1 3 [ 1 6 ] und wiederum vor allem Ethik [Einl, I.B.] 1 8 1 6 / 1 7 (s.o. A n m . 303), dazu muß gelegentlich die Einleitung in die Güterlehre hinzugezogen werden, wobei ich mich auch hier hauptsächlich auf die letzte Bearbeitung (Ethik [Gtl, I.B.] 1 8 1 6 / 1 7 ) beziehe.
424
E t h i k (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 532 (§ 47). Ethik (Gtl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 561 (§ 1)
425
E t h i k (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 2 , 3 - 2 0 (§ 47). Ethik ( G t l ) 1 8 1 4 / 1 5 ( 1 6 ) , Ε 4 2 3 , 2 3 (§ 1). 4 2 5 , 2 0 f (§ 5). 4 2 9 , 5 - 9 (§ 17). Ethik (Einl) 1 8 1 3 ( 1 6 ) , Ε 4 9 5 (§ 40). 4 9 7 (§ 4 8 )
III. Ableitung und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
89
Begriffe v o n den Wirkungen der menschlichen Vernunft in aller irdischen Natur" 4 2 6 bzw. das „Handeln der Vernunft auf die Natur" 4 2 7 . So gesehen betrachtet die Ethik also die - menschliche 4 2 8 - Vernunft als (aktiv) handelnd wirkende und die äußere („gesamte irdische" 4 2 9 ) Natur als (passiv) behandelte. Umgekehrt betrifft dieses Ineinander aber auch die Natürlichkeit der menschlichen Vernunft, indem sie den gesamten menschlichen Organismus, Leib und Seele, als passive Natur setzt, auf die durch die sie umgebende, in der A u ß e n w e l t zu verortenden Vernunft aktiv eingewirkt wird. Diese perspektivische Richtung kommt in der bekannten Beschreibung der Ethik als „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft" 4 3 0 zum Ausdruck. 4 3 1 Diese Doppelgestalt der Ethik 4 3 2 wird durch den Grundgegensatz der Ethik, den Gegensatz zwischen Vernunft und Natur, vermöge seines relativen, doppelten Charakters nun exakt abgebildet. Denn der Gegensatz kehrt, das Gegenstandsfeld der Ethik vollständig auslotend, in doppelter Weise wieder: Zunächst besteht er, die überwiegende Vernünftigkeit einholend, auf der Seite des handelnden, geistig-idealen Subjektes. Sodann wiederholt er sich in identischer Form, lediglich die überwiegende Natürlichkeit akzentuierend, auf der Seite der v o m handelnden Subjekt unterschiedenen, dinglich-realen Außenwelt. 426 427 428 429 430 431
432
Ethik (Gtl, l.B.) 1816/17, Ε 561,8f (§ 1) Ethik (Einl) 1813(16), Ε 498 (§ 51) Ethik (Einl) 1813(16), Ε 501 (§ 68). Ethik (Gtl, l.B.) 1816/17, Ε 561 (§ 1) Ethik (Gtl, l.B.) 1816/17, Ε 561,14 (§ 1) Brouillon zur Ethik 1805/06, 6. Stunde, Ε 87,11 In dieser doppelten Bestimmung der Ethik gründet die Auffassung der Ethik als einer umfassenden Theorie der menschlichen Kultur in der Geschichte (vgl. Reble: Kulturphilosophie; Scholz: Theorie der modernen Kultur bes. 131; Gräb: Humanität 43-55). Ihrer vermittelnden Funktion halber kann sie daher auch als ,,kategoriale[] Integrationswissenschaft im Hinblick auf die menschlich-geschichtliche Lebenswirklichkeit" bezeichnet werden (von Scheliha: Hirsch 195). Zwei Pointen dieser Doppelgestalt können hier nur angedeutet werden. Zunächst: In der materialen Durchführung der Ethik ist allein die Güterlehre in der Lage, den einheitlichen Zusammenhang zwischen der Subjektivität des Handelns, dem Vollzug des Handelns und endlich dem objektiven Resultat des Handelns im Blick zu behalten (Ueber den Begriff des höchsten Gutes I, SW III/2, 447f), was erstens deren Vorzüglichkeit gegenüber der - kritisch verfahrenden (vgl. Ethik [Einl, l.B.] 1816/17, Ε 555,13 [§ 120]) - Tugendlehre und gegenüber der - technisch verfahrenden (ebda.) - Pflichtenlehre begründet und zweitens die Verpflichtung zur stets gemeinsamen Behandlung aller drei ethischen Disziplinen in sich trägt: Brouillon zur Ethik 1805/06, 6. Stunde, Ε 85f; Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 555 (§ 121). Sodann: Der Aufbau der Ethik erweist sich in dieser Verteilung damit zusätzlich als dichotomisch, nicht trichotomisch strukturiert, was den gelegentlich gegen Schleiermacher erhobenen Vorwurf der methodischen Inkonsequenz in der Gliederungsgestalt der Ethik (z.B. Wagner: Dialektik 250) gegenstandslos werden läßt.
90
Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
Im ersten Bereich konkretisiert der Gegensatz zwischen Vernunft und Natur sich dabei als Gegensatz zwischen symbolisierendem und organisierendem Handeln: In der ersten Handlungsart überwiegt das von der menschlichen Vernunft ausgehende und in ihr selbst realisierte erkennende Bezeichnen des Natürlichen, in der zweiten Handlungsart überwiegt das von der menschlichen Vernunft bestimmte und durch den natürlichen menschlichen Organismus realisierte Umbilden des Natürlichen. 4 3 3 Im zweiten Bereich muß der Gegensatz zwischen Vernunft und Natur indes den Gegensatz zwischen dem eher der Vernunft zugehörigen endlichen Sein und dem eher der Natur zugehörigen Sein erfassen. Nun strukturiert dieses Seiende sich nur, insofern es Gewußtes ist (- andernfalls seine Struktur unerkannt und irrelevant bliebe) und wird von Schleiermacher also in Gruppen von Gewußtem, in Wissenschaften zusammengefaßt: „die Gesamtheit des auf ein durch Gegensäze bestimmtes Gebiet des Seins sich beziehenden Wissens [ist] eine Wis-
433
Von diesem Grundgegensatz nimmt dann die materiale Entfaltung der Güterlehre ihren Ausgang: Ethik (Gtl, l.B.) 1816/17, Ε 561ff (§§ 1-22). Die Entfaltung kann im vorliegenden Zusammenhang nicht referiert werden. Nachdem in der Einleitung in die Güterlehre aber einige für die Entfaltung aller ethischen Erwägungen einschlägigen Grundbestimmungen gegeben werden, deren Zusammenhang mit den von mir bisher angesprochenen systemkonstituierenden Grundverhältnissen notierenswert ist, will ich anmerkungsweise wenigstens die Grundidee dieser Bestimmungen skizzieren. Der subjektbezogene Gegensatz zwischen symbolisierendem und organisierendem Handeln besteht also als Konkretisierung des höheren Gegensatzes zwischen aller Vernunft und aller Natur und nimmt deren Verhältnisse in sich auf (Ethik [Gtl, l.B.] 1816/17, Ε 561-565 [(§§ 1-7]). Der solchermaßen komplex bestimmte Gegensatz muß nun gekreuzt werden mit dem Gegensatz zwischen dem je individuellen und dem allen identischen Handeln (Ethik [Gtl, l.B.] 1816/17, Ε 565f [(§§ 8-10]), damit die Totalität aller Handlungen der Vernunft auf die Natur strukturell vollständig umrissen werden kann (Ethik [Gtl, l.B.] 1816/17, Ε 567 [(§ 12f]). So ergeben sich für das Handeln der Vernunft auf die Natur insgesamt vier Handlungsbereiche: Der Bereich individuell organisierenden Handelns ist als der Bereich freier Geselligkeit bestimmt, den Bereich identisch organisierenden Handelns repräsentiert das Recht. In den Bereich identisch symbolisierenden Handelns fällt dagegen die Sprache, mit ihr auch die Wissenschaften; in den Bereich individuell symbolisierenden Handelns gehören Kunst und Religion als mitteilende Gefühlsdarstellungen. (Ueber den Begriff des höchsten Gutes II, S W III/2, 469ff. Zum Ganzen ist besonders auf die ordnende Zusammenfassung bei Birkner: Christliche Sittenlehre 39ff hinzuweisen. Herms: Reich Gottes 168-170 kreuzt dieses Vierschema zusätzlich mit dem einen Teilaspekt der Produkte betreffenden Gegensatz zwischen gemeinschaftsbildendem und persönlichkeitsbildendem Handeln und erhält so also ein Feld von acht Handlungsarten.)
III. Ableitung und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
91
senschaft" 4 3 4 . So läßt sich die Gesamtheit des (welthaften 435 ) Seins als Gewußtes also in zwei relativ entgegengesetzte Hauptwissenschaften zusammenfassen, eine Wissenschaft der Natur und eine Wissenschaft der Vernunft. 436 Bei dieser allgemeinen Unterscheidung will ich hier zunächst unterbrechen, da die von Schleiermacher anschließend eingetragenen Differenzierungen sich dem (virtuell ja gleichzeitig zu betrachtenden) Abstieg in das System der Gegensätze auf dem idealen Zweig des höchsten Gegensatzes verdanken, dessen Vergegenwärtigung nun zunächst stattfinden soll. 2. Der ideale Zweig des höchsten Gegensatzes. Der ideale Zweig des höchsten Gegensatzes weist überwiegend in die Gesamtheit des auf das Sein bezogenen Denkens (inklusive seiner Sonderform, des Wissens). Bezieht man den höchsten Gegensatz nun aus der Perspektive des (auf das Sein bezogenen) Denkens auf sein Gesamtgebiet, so erhält man als dessen Grundgegensatz den Gegensatz zwischen Vernunft und Organisation 437 : Die auf dem idealen Pol des höchsten Gegensatzes überwiegende subjektive, geistige, denkende Seite ist in der Vernunft abgebildet, die auf dem realen Pol des höchsten Gegensatzes überwiegende objektive, dingliche, gedachte Seite ist in der Organisation repräsentiert. 438 Auch auf der Seite des Denkens wird eine gegenseitige Verschränkung von Vernunft und Organisation vorausgesetzt 439 , die sich ebenfalls in einer doppelten Perspektive ausdrückt: Einerseits ist hier der subjektbezogene Strang erkennbar, der das Denken als bei sich selbst bleibendes, im Blick auf seine elementaren Bedingungen und seine Vollzugsstruktur thematisiert. Dieser Aspekt wird auf der als „Vernunft" in den obersten Gegensatz des Denkens eingetragenen Teilseite thematisch und wird von Schleiermacher ja im ersten Themenkreis der Dialektik 440 behandelt. Andererseits ist der objektbezogene Strang zu nennen, der das Denken im Blick auf seine Produkte thematisiert: Dieser Aspekt firmiert im obersten Gegensatz des Denkens auf der Seite der „Organisation" und wird von
434
Ethik (Einl, I.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 4 (§ 5 5 )
435
Ethik (Einl, LB.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 4 (§ 5 4 )
436
Ethik (Einl, LB.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 3 4 (§ 5 5 )
437
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 9 2 D A 2 17 ( D J 4 7 f )
438
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 132 D A 2 2 7 ( D J 75f)
439
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 107 D A 2 2 0 ( D J 5 5 - 5 7 )
440
S.o. S. 68ff
92
Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des G e s a m t s y s t e m s
Schleiermacher im zweiten Themenkreis der Dialektik behandelt. 441 Kurz: Im Grundgegensatz zwischen Vernunft und Organisation betrifft die Vernunftseite das Erkennen, die Organisationsseite das Erkannte. Auch der Bereich des Denkens wird nun durch den Grundgegensatz des Denkens, den relativen, doppelten Gegensatz zwischen Vernunft und Organisation, völlig ausgeleuchtet, indem er in beiden Bereichen aufscheint. Er findet sich zum einen auf der Seite des Erkennens und zum anderen auf der Seite des Erkannten. Blicken wir zunächst kurz auf die Seite des Erkannten, des Erkenntnisproduktes: Hier konkretisiert der höchste Gegensatz des Denkens sich in den beiden einzigen Formen, in denen das vollständig Erkannte, also das Gewußte, erscheinen kann: als Begriff und als Urteil. 442 Dabei bezieht sich der Begriff als „Verknüpfung von Merkmalen" 4 4 3 auf das ideale Wesen des Gegenstandes, während das Urteil als „Verknüpfung von verschiedenartigen Begriffen" 4 4 4 das reale Dasein des Gegenstandes in den Blick faßt. Der Idealcharakter des Begriffes und der Realcharakter des Urteils bestimmen sich dabei also weniger aus der Zugehörigkeit der jeweiligen Wissensform zur subjektiv-idealen bzw. objektiv-realen Seite, indem sie primär die horizontale Teilungsrichtung 4 4 5 des höchsten Gegensatzes (und damit implizit auch die vertikale Teilung in Einheit und Mannigfaltigkeit) abbildeten, sondern sie sind in umgekehrter Akzentuierung definiert: Der Begriff wird in der Übereinstimmung von intellektueller und organischer Produktion gebildet 4 4 6 , besteht als Identität von Allgemeinem und Besonderem und neigt damit der idealisierenden Setzung von Einheit zu. Das Urteil hingegen als Verknüpfung von begrifflich Unverbundenem und strukturell Unterschiedenem (Subjekt und Prädikat) neigt damit eher der sondernden Setzung realiter unge-
441
442
443 444 445 446
E b d a . D i e Verschränkung beider Sachverhalte (und damit auch beider Themenkreise) entfaltet Schleiermacher dann im dritten Themenkreis der Dialektik. Dial 1814/15, T l . l § 138 D A 2 28f ( D J 81f). Gelegentlich bevorzugt Schleiermacher auch die A u s d r ü c k e „ B e g r i f f " und „ S a t z " , mit deren B e n u t z u n g sich indes keinerlei Bedeutungsunterschied zu verbinden scheint, wie aus Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 527 (§ 31) hervorgeht. Dial 1822 (Ms.), X X X . Stunde, D O 187,35 ( D J 400) Dial 1822 (Ms.), X X X . Stunde, D O 187,36 ( D J 400) S.o. S. 83f Dial 1814/15, T1.2 § 19 D A 2 84f ( D J 195f dort § 248)
III. Ableitung und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
93
ordneter Mannigfaltigkeit zu. 447 Die Annahme, daß Begriff und Urteil den höchsten Gegensatz zwischen Idealem und Realem auf die Form des Wissens abbilden, legt sich darüber hinaus auch deswegen nahe, weil Begriff und Urteil - nachdem die traditionelle dritte Form des Syllogismus ausgeschlossen ist 448 - als die beiden einzigen Formen des Wissens gelten; dafür sprechen außerdem auch die (die Verhältnisse des höchsten Gegensatzes abbildenden) Bestimmungen zur Form ihres wechselseitigen Bedingungsverhältnisses449 und die Feststellung, daß die Begriffsproduktion in der intellektuellen450 und die Urteilsproduktion in der organischen451 Bewußtseinsfunktion wurzelt. Auf der Seite des (vernunftmäßigen) Erkennens andererseits materialisiert der Grundgegensatz zwischen Vernunft und Organisation sich als der Gegensatz zwischen der Tätigkeit der intellektuellen Funktion hier und der Tätigkeit der organischen Funktion dort 452 : Diese Tätigkeitsformen bilden den Gegensatz zwischen Vernunft und Organisation ab. 453 Damit bildet der Gegensatz zwischen intellektueller und organischer Funktion nun auch den höchsten Gegensatz selbst ab - und zwar zunächst in horizontaler Richtung: die organische Funktion bildet die Realseite des höchsten Gegensatzes ab, die intellektuelle Funktion dessen ideale Seite.454 Aber auch das Abbildungsverhältnis in vertikaler Hinsicht, zwischen (idealer) Einheit und (realer) Mannigfaltigkeit wird ausdrücklich benannt: „In allem Denken ist die Vernunftthätigkeit der Quell der Einheit und Vielheit, die or-
447
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 164 D A 2 34f (DJ 92). Diese Entgegengesetztheit von Begriff und Urteil in vertikaler Richtung, durch Einheit und Mannigfaltigkeit, ist insbesondere auch noch einmal an der Erhebung der oberen und unteren Grenze des Begriffsbereiches (Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l §§ 145-154 D A 2 30-32 [DJ 84-87]) und des Urteilsbereiches (Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l §§ 155-163 D A 2 32-34 (DJ 88-92) ablesbar.
448
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 138.2 D A 2 29 (DJ 81f); T1.2 §§ 98-100 D A 2 113f (DJ 285f dort §§ 327-329) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l §§ 139-144 D A 2 29f (DJ 82-84)
449 450 451 452
453 454
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 176.5 D A 2 40f (DJ 106). § 167 D A 2 35 (DJ 94) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 190 D A 2 49f (DJ 123). § 167 D A 2 35 (DJ 94) Gelegentlich bezeichnet Schleiermacher die intellektuelle Funktion auch als Spontaneität, die organische dagegen als Rezeptivität, freilich ohne Bedeutungswandel: Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 138.1 D A 2 29 (DJ 81). Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 § 2 D A 2 75 (DJ 175 dort § 231). Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 98f D A 2 18 (DJ 51f) gegen § 92 D A 2 17 (DJ 47f) gehalten. Vgl. Dial 1831 (Ms.), X X V I I . Stunde, DJ 495f: Die Entgegensetzung wird dort in der Begrifflichkeit der 1831er Fassung wiedergegeben, in der die ideale Seite als das Subjekt und die reale Seite als das Objekt des höchsten Gegensatzes benannt ist.
94
Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
ganische Thätigkeit aber der Quell der Mannigfaltigkeit." 455 Das Zusammenwirken beider Funktionen mit dem Ziel der Ubereinstimmung macht also - aus der Perspektive der Denkfunktionen definiert - das Wesen des Denkens im weiteren Sinne aus, insofern es Wissen als realisierte Ubereinstimmung prätendiert.456 Die für unseren Zusammenhang wichtigste Bestimmung zur Funktionsweise von intellektueller und organischer Funktion findet sich nun in allen Fassungen der Dialektik übereinstimmend. Danach teilen sich die Denkfunktionen in zwei Hauptfunktionen und eine idealtypische Nebenfunktion: Die überwiegende Aufgabe der organischen Tätigkeit ist das Wahrnehmen, wogegen der intellektuellen Funktion das Denken im „eigentliche[n]" 457 , „engeren"458 oder „reinen"459 Sinne, später gelegentlich anschaulich als „Wissenwollen" 4 6 0 bestimmt, obliegt.461 (Die idealtypische, vollkommen gleichgewichtige Ausgewogenheit beider wäre die Anschauung, die indes niemals statisch rein auftritt, sondern nur in der fortwährenden Oszillation zwischen Wahrnehmen und reinem Denken besteht und also jeweils zu subsumieren ist. 462 ) Mit der Wahrnehmung und dem reinen Denken sind damit die beiden Grundfunktionsweisen des Denkvermögens benannt und können auf die Grundformen des Wissens bezogen werden. Denn die Denkfunktionen bedienen sich nun, entsprechend ihrer ursprünglichen Aufgabe, den ihnen jeweils nächstliegenden Formen des Wissens, die Schleiermacher im ersten Bereich fixiert hatte: Die überwiegend der organischen Funktion entstammende Denkform der Wahrnehmung bedient sich vorzüglich derjenigen Einzelform des Wissens, die als Urteil bestimmt worden
455
456 457 458
459 460
461
462
Dial 1814/15, Tl.l § 118 Ls. D A 2 22f (DJ 63). Vgl. auch Dial 1831 (Ms.), XXVI. Stunde, DJ 495. Dial 1814/15, Tl.l § 98 D A 2 18 (DJ 51f) Dial 1814/15, Tl.l § 115 D A 2 22 (DJ 61f) Dial 1822 (Ms.), X X I V . Stunde, D O 157,38 (DJ 392). Dial 1831 (Ms.), X X X . Stunde, DJ 498,20 Dial 1828, 20. Stunde, DJ 453,32 Dial 1828, 21. Stunde, DJ 455,1. Einleitung in die Dial 1833, § 3.3, D A 2 136,19 (DJ 588). Dial 1822 (Ns.), 56. Stunde, D O 318 und 62. Stunde, D O 352 wird der Ausdruck „Wissenwollen" im unspezifischen Sinne gebraucht. Dial 1811 (Ns.), 9. Stunde, D A ] 14-17. Dial 1814/15, Tl.l § 115 D A 2 22 (DJ 61). Dial 1822 (Ms.), X X I V . Stunde, D O 157 (DJ 392). Dial 1828, 20. Stunde, DJ 453f. Dial 1831 (Ms.), X X X . Stunde, DJ 498 Dial 1814/15, Tl.l § 116 D A 2 22 (DJ 62). Dial 1818 (Ns.), DJ 62
III. Ableitung und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
95
war 463 und produziert damit empirisches Wissen 464 - und das überwiegend in der intellektuellen Funktion angesiedelte reine Denken bedient sich hauptsächlich derjenigen Einzelform des Wissens, die als Begriff bestimmt worden war 465 und produziert damit spekulatives Wissen 466 . E. Das System der reinen Wissenschaften Ich fasse den bisherigen Gang durch das System der Gegensätze zusammen: Vom höchsten Gegensatz aus in das System der Gegensätze hinabsteigend, hatten wir auf der Realseite des höchsten Gegensatzes als die allgemeinsten Grundwissenschaften eine Wissenschaft der N a tur und eine Wissenschaft der Vernunft gefunden. Auf der Idealseite hatten wir als die beiden allgemeinsten Grundfunktionen des Denkvermögens das spontan, begrifflich und spekulativ bestimmte „reine Denken" und das rezeptiv, urteilend und emprisch bestimmte „Wahrnehmen" gefunden. Soll sich die im höchsten Gegensatz prätendierte Einheit des Wissens und des Seins bewähren, so müßte Schleiermacher in der Verbindung der idealen Denkfunktionen mit den realen Wissenschaften den vollständigen und einheitlichen Abdruck der Gesamtheit alles Seins als Gewußtes gewinnen können. Und genau diese Leistung erbringt das System der Wissenschaften. Es kann nun abschließend kurz skizziert werden. Zunächst ist eine kurze Beobachtung auf der Textoberfläche zu notieren: Auffällig ist zunächst abermals das Mißverhältnis zwischen der (in der spekulativen Rekonstruktion erhebbaren) systematischen Maximalbefrachtung des Wissenschaftssystems einerseits - und seiner (im empirischen Textüberblick erhebbaren) textumfänglichen Minimalbestimmung andererseits. Das System der Wissenschaften ist der organisierende (die Mannigfaltigkeit in die geordnet vielheitliche Einheit überführende) Angelpunkt des Schleiermacherschen Systems - und wird doch höchst stiefkindlich und zerrissen vorgestellt. 467 463
464 465 466 467
Dial 1814/15, Tl.l § 189.2 D A 2 49 (DJ 122). Dial 1814/15, Tl.l § 190 D A 2 49f (DJ 123) Dial 1814/15, Tl.l § 197 D A 2 54f (DJ 130f) Dial 1814/15, Tl.l § 175 D A 2 39 (DJ 102f) Dial 1814/15, Tl.l § 197 D A 2 54f (DJ 130f) Im einzelnen wird das Wissenschaftssystem von Schleiermacher in folgenden stets zu befragenden Textpassagen entfaltet: Ethik (Einl u. Gtl) 1812/13, Ε 247f (§§ 1930) in einer Geschichts- und N a t u r k u n d e noch unterbestimmenden Vorform und in Dial 1814/15, Tl.l § 197 D A 2 54f (DJ 130f); dann - ausgereift, den einheitlichen Bezugspunkt, die Idee der Weltweisheit, ausdrücklich mitnennend - in Ethik (Einl)
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Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des G e s a m t s y s t e m s
Andererseits springt aber die systematische Anlage dieser Konstruktion nach dem bisher Entfalteten doch sofort ins Auge: die auf der Realseite des höchsten Gegensatzes entwickelten Grundwissenschaften werden (nach dem Konstruktionsschema des viergliedrigen Gegensatzes) auf die auf der Idealseite des höchsten Gegensatzes entwickelten Denkformen kreuzweise bezogen, so daß zunächst eine viergliedrige Tafel entsteht: Es ergeben sich die spekulative 468 Naturwissenschaft oder Physik und die empirische 469 Naturkunde einerseits und die empirische Geschichtskunde und die spekulative Ethik oder Sittenlehre andererseits. 470 In diesem System muß nun dem stets und in allen Ausprägungen des Seins und des Wissens prätendierten Ineinander des Entgegengesetzten Rechnung getragen werden 471 - und zwar auf zwei Weisen: Erstens, indem der Ort der Entfaltung der formalen Möglichkeit dieser Verschränkung des Vernünftigen und Natürlichen, des Spekulativen und des Empirischen benannt wird. Diese wurde ja aus der transzendenten Idee der Weltweisheit, aus der die Idee und die Organisation des Wissens sich entwickeln ließen, abgeleitet - und in der Wissenschaft der Dialektik thematisch. Insofern bildet die Dialektik die Bedingung der Möglichkeit der realen Wissenschaften 472 und ist faktisch als erst in den jeweiligen realen Wissenschaften materialisierbare Wissenschaft zu denken. Bildlich gesehen wird sie also zu Recht als den Realwissenschaften formal übergeordnete „höchste" 473 Wissenschaft gedacht.
1813(16), Ε 496 (§ 45); Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 535f (§ 61); Dial 1814/15, T1.2 § 113 D A 2 115 ( D J 309 dort § 343); Dial 1822 (Ns.), 86. Stunde, D O 461ff; vgl. Dial 1822 ( N s . ) , D J 311. D e r E i n d r u c k der Zerrissenheit in der Darstellung ergibt sich erstens dadurch, daß die explizite Lokalisierung der Dialektik und deren Verhältnisbestimmung zur Weltweisheit sich also nur in folgenden Textpassagen findet: Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 536f (§ 61); Dial 1814/15, T1.2 § 113f D A 2 115 ( D J 309 dort § 343f) und in Dial 1822 ( N s . ) , 86. Stunde, D O 462f; vgl. Dial 1822 ( N s . ) , D J 311. E r ergibt sich zweitens dadurch, daß der Einbau der kritischen Disziplinen, die das Wissenschaftssystem erst vollständig machen, nur in einigen Textpassagen E r w ä h n u n g findet, nämlich in Ethik (Einl u. G t l ) 1812/13, Ε 252 (§§ 57-61); Ethik (Einl) 1813(16), Ε 505f (§§ 92-96); Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 549f (§ 109). 468 469 470 471 472 473
O d e r „beschauliche": Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 535 (§ 59) O d e r „beachtliche": ebda. Ebda. Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 537 (§ 61) Dial 1814/15, Einl. § 12f D A 2 4 ( D J 5f) Dial 1814/15, Einl. §§ 18.42 D A 2 5.8 ( D J 9.16)
III. A b l e i t u n g und Entfaltung des Systems der Wissenschaften
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Und zweitens muß der ständigen Vermittlung von Spekulativem und Empirischem auch ein im materialen Vollzug des Wissens lokalisierbarer Ausdruck gegeben werden. Diesem Ziel dient die Einführung vermittelnder Zwischendisziplinen in die Tafel der Wissenschaften (von Schleiermacher allerdings nur auf der Seite der Vernunftwissenschaften durchgeführt): Die kritischen Disziplinen halten das in der Geschichtskunde empirisch Gegebene an das in der Ethik spekulativ Konstruierte, indem sie im Ausgang von den spekulativ entwickelten Strukturierungsgesichtspunkten das empirische Mannigfaltige geordnet würdigen. 474 Dagegen vergleichen die technischen Disziplinen (in umgekehrter Ausgangsrichtung, also abhängig von dem Empirischen) die spekulative Konstruktion mit dem empirisch Gegebenen zum Zweck der Aufstellung handlungsleitender Kriterien für das geschichtlich Gegebene. 475 Damit ist das System der Wissenschaften vollständig rekonstruiert. Es erweist sich in jeder Hinsicht als getreue und komplexe Abbildung des Wissen und Sein als identisch qualifizierenden höchsten Gegensatzes. Vernunft und Natur, Symbol und Organ, Rezeptivität und Spontaneität, Begriff und Urteil, Spekulation und Empirie - sie alle tragen jene relative, doppelte Entgegengesetztheit in sich, kraft derer sie Mannigfaltiges unter dem Gesichtspunkt von Idealität und Realität einheitlich zu ordnen vermögen und in ein gegenseitiges Bestimmungsverhältnis zueinanderführen. So werden alle Gegensatzpole und mit ihnen endlich auch Wissen und Sein tatsächlich „eines des andern Maaß" 476 , ohne daß dieses gegenseitige paritätische Bestimmungsverhältnis jedoch zirkuläre Gestalt annehmen könnte. Denn die gegenseitige Bestimmung verdankt sich einem zwar nicht begrifflich fixierbaren, aber gleichwohl evidenten Vollkommenheitsideal - eben dem alles Wissen und alles Sein als dessen identischer Grund antreibenden Ziel der Identifizierung von Wissen und Sein. Dieses Ziel ist aber schlechterdings nicht anders anzustreben als in einer approximativ fortschreitenden Bewegung, in einem strukturell offenen Prozeß: 474
Ethik (Einl) 1813(16), Ε 505 (§ 92f). Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 549f (§ 109). Beispiele solcher kritischer Disziplinen sind etwa die Religionsphilosophie und die Ästhetik (Ethik [Einl u. G t l ] 1812/13, Ε 365f [§ 231]).
475
Ethik (Einl) 1813(16), Ε 505f (§ 94f). Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 549f (§ 109). Hier lassen sich unter anderem exemplarisch die H e r m e n e u t i k (Ethik [Einl u. G t l ] 1812/13, Ε 356 [§ 189]) und die Praktische T h e o l o g i e (Ethik [Einl u. Gtl] 1812/13, Ε 366 [§ 231]) anführen. Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 525 (§ 26)
476
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Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des Gesamtsystems
eben in der Geschichte als der gegenseitigen Maßnahme von Spekulation und Empirie. Das System der Wissenschaften hat sich als völlig regelmäßig konstruierte Vervielfältigung des höchsten Gegensatzes und Kreuzung seiner subordinierten Gegensätze erwiesen. Zusammenfassend kann diese Selbstdurchkreuzung des höchsten Gegensatzes zum System der Wissenschaften graphisch folgendermaßen veranschaulicht werden:
höchstes Sein und höchstes Wissen
Vernunft
Organisation
Vernunft
Natur
III. Ableitung und Entfaltung des S y s t e m s der Wissenschaften
99
F. Die positiven Wissenschaften Das im Viererschema zusammenfaßbare System der reinen Wissenschaften hatte sich als Anwendung der mit dem höchsten Gegensatz gegebenen Teilungsregel auf die in der Idee des höchsten Gegensatzes gegebene Identität des Wissens mit dem Sein rekonstruieren lassen und enthielt also die in der Idee des reinen Wissens selbst geforderten reinen Wissenschaften. Enzyklopädische Vollständigkeit erreicht der Kreis aller Wissenschaftstypen jedoch erst dann, wenn diesen spekulativ ableitbaren reinen Wissenschaften die empirisch entstandenen, von Schleiermacher „positiv" genannten Wissenschaften zur Seite gestellt werden. 4 7 7 Unter den positiven Wissenschaften müssen also solche Wissenschaften verstanden werden, deren Ursprung in der Notwendigkeit der Bewältigung einer empirisch gegebenen Praxissituation zu finden ist. 478 (Anschaulich wird dieses Modell im vierten Abschnitt der „Gelegentlichen Gedanken ... ", in dem Schleiermacher die drei klassischen Universitätswissenschaften Theologie, Jurisprudenz und Medizin als positive Wissenschaften beschreibt und sie, der die reinen Wissenschaften umfassenden Universitätswissenschaft „Philosophie" gegenüberstellt. 4 7 9 ) Unterschieden sind die positiven Wissenschaften daher durch ihre je eigenen Handlungsfelder 4 8 0 ; verwandt sind sie hingegen erstens durch die gemeinsame Aufgabe der Praxisoptimierung und zweitens durch das selbe Verfahren, mit dem sie die jeweilige Praxis theoretisch zu fundieren beabsichtigen, also dasselbe Verfahren der Wissensbeschaffung: Die positiven Wissenschaften stellen sich nämlich Elemente der reinen Wissenschaften nach ihren jeweiligen Bedürfnissen zu Ensem-
477
Theol. E n z y k l o p ä d i e 1,14-19 zu K D 2 § 1. — D e r folgenden Darstellung liegen im wesentlichen f o l g e n d e Texte Schleiermachers zugrunde: D i e Einleitung in die „ K u r z e Darstellung ... " ( K D 2 §§ 1-31), die entsprechenden Passagen der N a c h s c h r i f t der E n z y k l o p ä d i e - V o r l e s u n g (Theol. E n z y k l o p ä d i e 1-48), und der vierte Abschnitt „Von den Facultäten" der Universitätsschrift „Gelegentliche G e d a n k e n über Universitäten in deutschem Sinn . . . " ( G e l G e d 580-602). D a r ü b e r hinaus ist vor allem auf die Rekonstruktion des Schleiermacherschen Theologiebegriffes durch Rössler: P r o g r a m m der Philosophischen T h e o l o g i e zu verweisen.
478
KD2 § 1
479
G e l G e d ( S W I I I / l ) 580ff „ S o b e z w e c k t die Medicin die Herstellung des menschlichen K ö r p e r s in seinen N o r m a l z u s t a n d , die J u r i s p r u d e n z die H e r v o r b r i n g u n g des Rechtes, die T h e o l o g i e die Erhaltung des christlichen G l a u b e n s in der G e m e i n s c h a f t . " (Theol. E n z y k l o p ä d i e 1,19-22 zu K D 2 § 1)
480
100
Erstes Kapitel:
G r u n d z ü g e des G e s a m t s y s t e m s
blen zusammen. 4 8 1 Sie suchen sich aus dem Reich des Gesamtwissens dasjenige heraus, was sie zu ihrer Zweckerfüllung benötigen. Das gemeinsame formale Kennzeichen aller positiven Wissenschaften ist also die dem je eigentümlichen Aufgabenbereich korrespondierende eigentümliche Zusammenstellung und inhaltlich realisierende Konkretion von Teildisziplinen der reinen Wissenschaften. 482 Zu diesen positiven Wissenschaften muß nun nach Schleiermachers Auffassung auch die Theologie gezählt werden, und im folgenden möchte ich Schleiermachers Vorstellung von der Gliederung dieser Wissenschaft etwas ausführlicher skizzieren: einerseits, weil ihr Aufriß exemplarische Geltung für den Aufriß der positiven Wissenschaften beanspruchen kann, andererseits ( - eingestandenermaßen zweckbezogen - ) zur Vorbereitung des die Einleitung in die Glaubenslehre betreffenden dritten Kapitels. N a c h Schleiermachers Auffassung besteht das Wesen der positiven Wissenschaft „Theologie" in der Realisierung des (in der Faktizität des christlich frommen Selbstbewußtseins) empirisch aufgegebenen Zwecks der „Erhaltung des christlichen Glaubens in der Gemeinschaft" 4 8 3 durch die Förderung einer „zusammenstimmende[n] Leitung der christlichen Kirche" 4 8 4 vermöge der Zusammenstellung „derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch" 4 8 5 eine sach- und zielgemäße kirchliche Praxis, die „Kirchenleitung" 4 8 6 , nicht denkbar ist. Die Konsequenz und zugleich die Bestätigung dieser Wesensbestimmung der Theologie besteht darin, daß ihre Disziplinenzusammenstellung keinem anderen Kriterium als dem der Zweckbezogenheit 481
Vgl. d a z u G e l G e d (SW I I I / l ) 580ff und die bei Birkner: Christliche Sittenlehre 52 A n m . 81 z u s a m m e n g e t r a g e n e n Belege aus der materialen D u r c h f ü h r u n g der positiven Wissenschaften „Praktische T h e o l o g i e " und „ E r z i e h u n g s l e h r e " .
482
Rössler: P r o g r a m m der Philosophischen Theologie faßt als die Charakteristika des Schleiermacherschen Begriffs der positiven Wissenschaften folgende Eigenschaften pointiert z u s a m m e n : Zweckgebundenheit, methodische und sachliche Vielfalt, Prax i s b e z u g , geschichtliche Bedingtheit.
483
T h e o l . E n z y k l o p ä d i e l,21f zu K D 2 § 1
484
KD2 § 5
485
Ebda. Mit d e m Begriff der „ K i r c h e n l e i t u n g " verbinden sich dabei f ü r Schleiermacher keinerlei dirigistische K o n n o t a t i o n e n , sondern hinter diesem Begriff steht die Einsicht, daß die Kirche eine durch menschliche H a n d l u n g zu gestaltende G e m e i n s c h a f t s f o r m ist, die in j e d e m ihrer M o m e n t e als A u s d r u c k einer sie begründenden Idee gesehen werden will u n d also nicht willkürlich, sondern von j e d e m aktiven Mitglied unter Z u h i l f e n a h m e der aus dieser Idee abzuleitenden handlungsleitenden Regeln gestaltet werden muß. Vgl. d a z u Theol. E n z y k l o p ä d i e 3,21-38 zu K D 2 § 3.
486
III. A b l e i t u n g und Entfaltung des S y s t e m s der Wissenschaften
101
auf die Kirchenleitung folgt: Zur sachgemäßen und zielsicheren Leitung der christlichen Kirche ist der Besitz von „Kenntnissen" 4 8 7 und die Beherrschung von „Kunstregeln" 4 8 8 vonnöten. Zunächst 4 8 9 sind die dem (hypothetischen) Ganzen der reinen Wissenschaft „empirische Geschichtskunde" zu entnehmenden relevanten Teil-Kenntnisse „des zu leitenden Ganzen in seinem jedesmaligen Zustande" 4 9 0 in der Disziplin der „Historischen Theologie" zusammenzustellen. Diese Kenntnisse umfassen a) die angemessene Kenntnis des Ursprungs der Kirche im Urchristentum in der historisch-theologischen Unterdisziplin „exegetische Theologie" 4 9 1 , b) die Kenntnis der Entwicklungsgeschichte der Kirche in der Unterdisziplin der eigentlichen Kirchengeschichte 492 sowie c) wichtigstens die Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes der Kirche 4 9 3 in den Unterdisziplinen „Dogmatik" 4 9 4 und „Statistik" 4 9 5 . Sodann ist der Besitz solcher Kenntnisse, die zu einem angemessenen Verständnis der empirischen Einzelsachverhalte und damit zu einer eigentlichen, kategorial geleiteten Wesenserfassung des Christentum anleitet, notwendig. Insofern dazu einerseits ein allgemeines anthropologisches Verständnis der Religion erforderlich ist, ist das „Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Thätigkeiten des menschlichen Geistes" 4 9 6 zu untersuchen und der Rekurs also auf die reine Wissenschaft „spekulative Ethik" zu nehmen. 4 9 7 Insofern dazu andererseits ein vergleichendes Verständnis der christlichen Religionsgemeinschaft „in seinem Gegensatz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen" 4 9 8 vonnöten ist, ist eine kritische, „Religionsphilosophie" zu nennende Teildisziplin 487 488
KD2 § 5 Ebda.
489
In der Vorstellung der theologischen Subdisziplinen folge ich nicht der von Schleiermacher in K D 2 §§ 24-31 und 32-308 eingeschlagenen Reihenfolge, sondern beginne mit der H i s t o r i s c h e n Theologie, die im Blick auf ihre S t o f f m a s s e in fundierender F u n k t i o n zu den beiden anderen theologischen Subdisziplinen steht: vgl. Theol. E n z y k l o p ä d i e 27,19-28 zu K D 2 § 28
490
KD2 KD2 KD2 KD2 KD2
§ 26 § 88 § 82 § 81 §§ 196-231
KD2 KD2 KD1 KD2
§§ 232-250 § 21 6 § 23; T h e o l . E n z y k l o p ä d i e 23,4-7 zu K D 2 § 23; K D 2 § 22 § 21
491 492 493 494 495 496 497 498
102
Erstes Kapitel: G r u n d z ü g e des Gesamtsystems
zu etablieren. 4 9 9 Bereits der im skizzierten Rekurs gewonnene Themenbestand läßt die fundamentale Bedeutung der hier vorgestellten Disziplin für die positive Wissenschaft „Theologie" erkennen. Ihren methodischen und thematischen Bezug auf diese reinen Wissenschaften führt sie auch in ihrem Namen, denn sie erhält von Schleiermacher die Bezeichnung „Philosophische Theologie". 5 0 0 Ihre Funktion erfüllt sie durch die - wiederum unter dem Gesichtspunkt ihrer Zweckbezogenheit vorgenommene - organisatorische Zweiteilung in einen „Apologetik" genannten, Maßstäbe für die Außenverhältnisse der religiösen Gemeinschaft aufstellenden Zweig und in einen „Polemik" genannten, Maßstäbe für die Binnenstruktur der religiösen Gemeinschaft liefernden Zweig. 5 0 1 Schließlich müssen aus den Kenntnissen handlungsleitende und situationsbewältigende Kunstregeln gewonnen werden. Dies ist die Aufgabe der Praktischen Theologie 5 0 2 , die damit als die eigentliche „Methodologie der Kirchenleitung" 5 0 3 angesehen werden kann. Insofern ihr Verfahren darin besteht, spekulativ-theoretisch gewonnene Maßstäbe an den empirisch-praktischen Zustand zu legen, hat sie den Status einer technischen Disziplin. 5 0 4 Damit sind die für die spezielle Aufgabe der positiven Wissenschaft „Theologie" notwendigen Zweigdisziplinen vollständig. 505 Welche Konsequenzen ergeben sich für die innere Organisation der Theologie und für ihr Verhältnis zu den reinen Wissenschaften? Zunächst: das Binnenverhältnis der drei theologischen Disziplinen zueinander läßt sich nun unter zwei Aspekten beschreiben, unter einem genetischen und einem praktischen Aspekt. Fragt man - genetisch - nach 499
K D 2 § 23. D e r traditionell eher weite Begriff „Religionsphilosophie" wird also v o n Schleiermacher in einem sehr speziellen Sinne gebraucht; vgl. dazu auch C G 2 § 2.2., Bd. I, 1 3 , 4 - 2 0 .
500
Vgl. K D 2 § 2 4 K D 2 § 39f. Z u r Geschichte der Bezeichnungen und dem programmatischen Zug, der in der Schleiermacherschen Wiederaufnahme dieser traditionellen Bezeichnungen liegt, vgl. Birkner: Schleiermachers „ K u r z e Darstellung" 76f. K D 2 § 25
501
502 503 504
505
Theol. E n z y k l o p ä d i e 252,22; im Original gesperrt. K D 2 § 25. H e r v o r z u h e b e n ist, daß die Praktische oder „technische" (Theol. E n z y klopädie 2 5 , 1 2 zu K D 2 § 25) Theologie dabei also w e d e r im Gegensatz zur Theorie steht noch mit der Praxis selbst verwechselt werden darf, sondern als „die Theorie der Praxis" ( S W 1/13 [Praktische Theologie], 12) verstanden werden muß. „Habe ich die Principien wonach ich den gegenwärtigen Zustand beurtheile, habe ich den gegenwärtigen Zustand selbst nebst seiner Genesis begriffen, und habe ich die Regeln f ü r die Geschäftsführung: so bin ich mit A l l e m ausgerüstet, was zur Kirchenleitung gehört." (Theol. Enzyklopädie 2 6 , 1 4 - 1 7 zu K D 2 § 26)
IV. Z u r K o n s t i t u t i o n des Bewußtseins
103
dem wissenschaftssystematischen Status der drei Disziplinen, der sich aus dem funktionalen Bezug der Theologie insgesamt ergibt, so erkennt man ein Verhältnis der „gestuften Fundierung" 5 0 6 : Die in der Praktischen Theologie zu entwickelnden Kunstregeln basieren auf den in der Historischen Theologie erworbenen Kenntnissen, die notwendigerweise zur Kenntnis zu nehmende Stoffmenge ihrerseits ist erst mit Hilfe der in der Philosophischen Theologie entworfenen Kriteriologie zusammenzustellen. 5 0 7 Fragt man hingegen - praktisch nach dem Zusammenhang der drei Disziplinen für die Erfordernisse der Kirchenleitung, so erkennt man ein Verhältnis der gleichwertigen, wechselseitigen Abhängigkeit: Die drei Disziplinen präzisieren sich in zirkulärer Weise, denn jeder von ihnen liegt der das Ganze der Theologie bestimmende funktionale Bezug auf die Kirchenleitung in verschiedener Akzentuierung zugrunde. 5 0 8 Über das Außenverhältnis der funktional differenzierten positiven Wissenschaft „Theologie" zum Corpus der reinen Wissenschaften ist sodann zu sagen: „Die Gliederung der Wissenswelt wird (...) von der Gliederung der Theologie in der Weise eines Ausschnittes abgebildet" 5 0 9 , insofern die theologische Wissenschaft in Thema, Methode, Funktion und Organisation ihrer Subdisziplinen einen zweckbezogenen Auszug aus dem Ganzen der reinen Wissenschaften zusammenstellt.
IV. Zur Konstitution des Bewußtseins Nach diesem Ausflug in die positive Wissenschaft Theologie möchte ich zum Abschluß dieses Kapitels den Blick noch einmal zurücklenken auf das Ganze des vorgestellten Gesamtsystems. Ich erinnere noch einmal: Das Wissen und das Sein sind identisch strukturiert. Ihre jeweilige Binnenstruktur folgt dem selben höchsten Gegensatz. In ihm sind beide Sphären je einzeln als durch relative Entgegengesetztheiten bestimmte Sphären geordnet. Aber auch die Entsprechung der Tota506
Birkner: Schleiermachers „ K u r z e Darstellung" 68
507
U n t e r diesem A s p e k t kann die Historische Theologie also auch als „der eigentliche K ö r p e r des theologischen Studiums" ( K D 2 § 28) bezeichnet w e r d e n , insofern er das Gelenkstück zwischen der reinen Wissenschaft als Einstiegsgegenstand der Philosophischen Theologie und der kirchlichen Praxis als Zielgegenstand der Praktischen Theologie bildet. Theol. E n z y k l o p ä d i e 2 7 , 3 5 - 2 8 , 1 8 zu K D 2 § 28 Birkner: Christliche Sittenlehre 53
508 509
104
Erstes Kapitel: Grundzüge des Gesamtsystems
lität des Wissens mit der Totalität des Seins ist durch den höchsten Gegensatz strukturiert. Denn in ihm sind Wissen und Sein selbst in komplexer Weise aufeinander zugeordnet: Als sich gegenseitig bestimmende nämlich, ohne dadurch doch in einem Zirkel befangen zu sein. Der höchste Gegensatz muß als Ausdruck der Gleichurspriinglichkeit und als Ausdruck der Ubereinstimmung des Wissens und des Seins verstanden werden. Dies ist die übereinstimmende Aussage von Dialektik und Ethik, die in dem (in beiden Textzusammenhängen enthaltenen) System der Wissenschaften zum Ausdruck gebracht wird. Wie aber wird diese Ubereinstimmung des Wissens mit dem Sein ihrerseits zum Gegenstand des subjektiven Bewußtseins? In welcher Weise wird das Subjekt der Ubereinstimmung des Wissens und des Seins gewahr? Wir waren bereits auf den Hinweis gestoßen, daß diese Ubereinstimmung uns „im Selbstbewußtsein (...) gegeben" 5 1 0 ist: Dies hatte Schleiermacher in der Dialektik 1814/15 wenige Paragraphen vor der Entfaltung des höchsten Gegensatzes als dessen durchgängige Voraussetzung betont. In welchem Modus aber ist dem Subjekt diese Übereinstimmung „gegeben"? In welchem Modus macht das Bewußtsein sich diese Ubereinstimmung zu eigen? Die Frage nach der Gegebenheitsweise der Übereinstimmung des Wissens und des Seins wird damit zu einer Frage nach der Konstitutionsweise des Bewußtseins: Wie kann das Bewußtsein überhaupt der Übereinstimmung des Wissens mit dem Sein gewiß sein? Zugespitzt gefragt: Wie kann das wissende Bewußtsein seiner eigenen Bezogenheit auf das Sein gewiß sein? Es ist diese, das noch offene Grundproblem des Gesamtsystems ansprechende Frage, um deren Beantwortung Schleiermacher sich in der Theorie der Frömmigkeit bemüht hat. Sowohl die Religionstheorie der Reden als auch die Theorie des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls der Glaubenslehre als auch die Theorie des unmittelbaren Selbstbewußtseins der Dialektik befassen sich in ihren je eigenen Zusammenhängen und aus ihren je eigenen Motiven mit dieser im System aufgegebenen Grundfrage. Wir wollen jetzt sehen, wie Schleiermacher auf diese Frage antwortet.
510
Dial 1814/15, Tl.l §§ 101-103 D A 2 18f (DJ 53)
Zweites Kapitel Die Frömmigkeitstheorie in den Reden „Uber die Religion" I. Zum Forschungsstand A. Einleitung Die „Reden" sind, ihrem programmatischen Charakter völlig entsprechend, der Schleiermacher-Forschung in allen ihren Phasen gleichermaßen Gegenstand hervorragender Aufmerksamkeit wie kontroverser Deutung gewesen. Uberblickt man jedoch den interpretatorischen Ansatz, mit dem die Reden betrachtet werden, so ist eine erstaunliche Homogenität festzustellen, und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens nehmen (in notierenswertem Gegensatz zur Auslegungsgeschichte z.B. der Glaubenslehre oder der Dialektik) nahezu alle Interpretationen ihren Einsatz in der Rekonstruktion der Spitzenthese der Reden, der Behauptung der ursprünglichen Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit des Religiösen. Von Schleiermacher in den Reden darüber hinaus zur Sprache gebrachte binnendifferenzierende Sonderund Einzelthemen treten demgegenüber auffällig in den Hintergrund. Zweitens bewegt sich die Rekonstruktion der These von der Autonomie der Religion strikt in dem von den Reden vorgegebenen inhaltlichen und begrifflichen Rahmen. Dagegen gibt es kaum Versuche, die These von der eigenmächtigen Universalität des Religiösen einmal durch eine Lösung von ihrer in den Reden gegenständlich und terminologisch gebundenen Gestalt auf die Bewährungsprobe zu stellen. Und drittens - eng mit dem Vorgenannten zusammenhängend vollziehen sich die Interpretationsansätze vornehmlich als begriffsanalytisch orientierte Verhältnisbestimmungen. Für alle drei charakteristischen Punkte können die Interpretationen der Reden sich zunächst auf ihren Interpretationsgegenstand, die Reden selbst, berufen. Denn auch im Argumentationsgang der Reden gestaltet sich die Wesensbeschreibung der Religion - in der zwei-
106
Zweites Kapitel:
Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
ten Rede - bekanntlich als Entfaltung einer doppelten begrifflichen Verhältnissetzung: Zunächst einer negativen Abgrenzung der Religion von Metaphysik und Moral 1 , dann der affirmativen Bestimmung der Religion als Anschauung und Gefühl 2 , im Kernsatz des beide Argumentationsgänge verbindenden Abschnittes 3 thetisch zusammengefaßt: „Ihr [sc.: der Religion] Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl." 4 Und auch im Folgeduktus der Reden werden dann die apriorisch wie phänomenologisch einschlägigen religionsphilosophischen Themenbegriffe auf diese grundlegende Wesensbeschreibung des Religiösen bezogen, indem die jeweilige relationale Verträglichkeit begrifflich bestimmt wird. 5 Dieser Hauptmasse der Untersuchungen zu Schleiermachers Reden steht die relativ geringe Zahl derjenigen Interpretationen zur Seite, die den von den Reden gesetzten Hauptakzent entgegen dem ersten Anschein nicht in den inhaltlich bestimmenden definitorischen Entfaltungen des Wesens der Religion sehen wollen, sondern die die Pointe der Reden in einer durch diese Beschreibungen zum Ausdruck gebrachten formalen Gestalt der Religion erkennen. Die Beobachtung, daß diese Formalgestalt der Religion in den Reden dabei aber selbst nur höchst vermittelt zur Sprache gebracht ist und der Versuch, diese Formalgestalt der Religion gleichwohl angemessen zu explizieren, schaffen sich ihren deutlichsten Ausdruck in dem methodischen Bemühen, die begriffliche Analyse nicht zum Einsatz der Interpretation zu erheben. 1
Im A b s c h n i t t R 1 4 1 - 5 0 = K G A 1/2, 2 0 7 , 3 6 - 2 1 1 , 2 6 . (Der hier vorgelegten Interpretation liegt die Erstgestalt der Reden, wie sie in K G A 1/2, 1 8 5 - 3 2 6 zur Kenntnis gegeben ist, zugrunde. Die Zitate und Verweise werden, den Usancen entsprechend, nach der in K G A am Rand beigegebenen Seitenzählung der Urauflage und zusätzlich nach der eigenen Seiten- und Zeilenzählung in K G A 1/2 ausgewiesen. W i r d fakultativ auf die Folgeauflagen der Reden Bezug genommen, so wird nach der gegenwärtig vergleichsweise am leichtesten zugänglichen synoptischen Edition Pünjers [Friedrich Schleiermacher's Reden U e b e r die Religion. Kritische Ausgabe. Mit Z u grundelegung des Textes der ersten A u f l a g e besorgt v o n G e o r g Christian Bernhard Piinjer, Braunschweig 1 8 7 9 ] zitiert.)
2
Im A b s c h n i t t R 1 5 5 - 7 8 = K G A 1/2, 2 1 3 , 3 4 - 2 2 0 , 2 9
3
Im A b s c h n i t t R 1 5 0 - 5 5 = K G A 1/2, 2 1 1 , 2 7 - 2 1 3 , 3 3 R' 50 = K G A 1/2, 2 1 1 , 3 2 f Vgl. z.B.: Das Religiöse und das Dogma: R 1 1 1 5 - 1 2 3 = K G A 1/2, 2 3 9 , 2 9 - 2 4 2 , 3 5 . Das Religiöse und G o t t : R 1 1 2 3 - 1 3 3 = K G A 1/2, 2 4 2 , 3 6 - 2 4 7 , 1 1 . Das Religiöse und die psychologische Verfaßtheit des Menschen: R 1 1 4 4 - 1 6 1 = K G A 1/2, 2 5 2 , 9 - 2 5 9 , 2 1 . Das Religiöse u n d die Kirche: R 1 1 7 4 - 2 3 4 = K G A 1/2, 2 6 6 , 1 - 2 9 2 , 3 . Das Religiöse und die Religionen: R 1 2 3 5 - 3 1 2 = K G A 1/2, 2 9 3 , 1 - 3 2 6 , 9 . Deutlich ist das Verfahren auch w a h r n e h m b a r in der Diskussion dogmatischer Einzelbegriffe im Abschnitt R 1 1 1 7 - 1 1 9 = K G A 1/2, 2 4 0 , 2 1 - 2 4 1 , 1 5 .
4 5
I. Zum Forschungsstand
107
In der hier zu entfaltenden Interpretation weiß ich mich dem zuerst genannten, dominierenden Interpretationsansatz insofern verbunden, als ich dessen konzentrierte Bemühung um die Hauptthese der Reden, nämlich die Auffassung von der Souveränität der Religion, teile. Dem zuletzt genannten Interpretationsansatz fühle ich mich dagegen insofern verpflichtet, als ich dessen Skepsis gegenüber den definitorischen Bestimmungen der Reden und dessen Skepsis gegenüber einer begriffsanalytisch ansetzenden Interpretation teile. Dieser Sachverhalt macht es erforderlich, das Kapitel durch einen Uberblick über den Forschungsstand zu den Reden einzuleiten. Dabei möchte ich so vorgehen, daß ich zunächst die Inhaltsschwerpunkte des ersten, traditionellen und dominierenden Interpretationsansatzes vorstelle. Erst auf diesem Hintergrund kann dann verständlich werden, worin der hier gewählte Interpretationsversuch den traditionellen Zugriff auf die Reden zu ergänzen bemüht ist und welchen Interpretationsbeiträgen er sich dabei verwandt fühlt.
B. Zum traditionellen Interpretationsansatz Es legt sich nahe, die Beiträge dieses Ansatzes nach ihren inhaltlichen Hauptströmungen zu ordnen. Folgende Themenschwerpunkte müssen dabei Erwähnung finden: Erstens ist als das rein quantitativ mit Abstand führende Thema die Untersuchung des Gehaltes der deflatorischen Wesensbestimmung der Religion als „Anschauung" und „ G e f ü h l " zu nennen. Zweitens ist ein eng mit diesem führenden Themenkomplex verbundener Themenbereich zu nennen, der über die Untersuchung des Gottes- bzw. Universumsbegriffes der Reden die Schleiermachersche Stellung zum Christentum zu ermitteln sucht. In einem dritten Themengebiet setzt die Annäherung an die Reden schließlich an einem gänzlich anderen Ende an, nämlich bei einer Formanalyse des wissenschaftlich-sprachlichen Ortes, dem die Reden angehören bzw. den sie konstituieren. U n d viertens sind einige wenige Sonder- und Einzelthemenverhandlungen festzustellen. Welche - gelegentlich höchst kontroversen - Deuteschwerpunkte in den einzelnen Themenkreisen die Forschungsgeschichte dabei kennt, soll nun im folgenden kurz umrissen werden. [1.] Die die Religionstheorie der Reden begrifflich rekonstruierenden Interpretationen nehmen in der Regel ihren direkten Ausgang
108
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
bei der oben bereits zitierten Zentralstelle der definitorischen Wesensbestimmung der Religion. Die Interpreten stellen Schleiermachers begriffliche Fixierungen der Ausdrücke „Anschauung" oder „ G e f ü h l " zusammen, um sie kritisch gegeneinander abwägen zu können. Die methodische Leitlinie der Zusammenstellung der verschiedenen Äußerungen wird dabei entweder durch den Versuch, die innere Systematik des verschlungenen Argumentationsduktus der Reden aufzudecken, gebildet 6 - oder aber durch den Versuch, die verschiedenen Äußerungen unter externen Ordnungsgesichtspunkten (etwa einer Ordnung nach den vorausgesetzten Anschauungsinhalten 7 oder einer Ordnung nach den der Anschauung zugrundeliegenden psychologischen Vorgängen 8 ) zusammenzustellen. Sei es als Haupt- oder als Nebenergebnis: stets verzagen die in der genannten Weise ansetzenden Untersuchungen daran, daß der disparate Sprachgebrauch der Urauflage der Reden deflatorische Ansprüche nur in unbefriedigender Weise zu erfüllen geeignet ist. Dieses Ergebnis und das sich in den zahlreichen zum mindesten terminologischen — Modifikationen der Folgeauflagen der Reden anbietende Material führen dazu, daß der skizzierte Interpretationstypus auch sinnvollerweise selten bei der ersten Auflage der Reden stehenbleibt 9 , sondern über diese hinaus auf die Begrifflichkeit der beiden nachfolgenden Auflagen der Reden 1 0 (oder gar auf die des Schleiermacherschen Gesamtwerkes 1 1 ) zurückgreift. Was zunächst den rein begriffsexegetischen Textbefund angeht, so sollte sich gegenüber älteren, teilweise stark vergröbernden Theorien mittlerweile eine angemessen spezifizierende Betrachtung durchgesetzt haben: Die Unterbewertung der begrifflichen Unterschiede 1 2 ist - exegetisch gesehen - ebenso unhaltbar wie die ihr entgegengesetzte Suggestion einer überraschenden, vollständigen Preisgabe des Anschau-
6
7 8 9 10 11
12
So z.B. bei Dilthey: LS I 396-426, vgl. zum vorliegenden Zusammenhang bes. a.a.O. 320-322 und 400-404. So z.B. Fuchs: Reden 1 26-36 So z.B. Piper: Erlebnis 20-42 So z.B. Fuchs: Reden 1 So z.B. Fuchs: Wandlungen; Hirsch: Geschichte IV 559-565; Graf: Koinzidenz So z.B. mit philologischer Akribie Huber: Entwicklung. Vgl. auch Lasch: Religionsbegriff und Buchholz: Bewußtsein So z.B. durch Fuchs: Wandlungen 77
I. Z u m F o r s c h u n g s s t a n d
109
ungsbegriffes von der zweiten Reden-Auflage an 1 3 . Vielmehr hat W. Schultz auf eine Beschränkung des Anschauungsbegriffes bereits innerhalb der ersten Auflage der Reden im Gefalle der zweiten zur fünften Rede aufmerksam gemacht 1 4 , und F.W. Graf weist mit gründlichem Nachdruck darauf hin, daß Schleiermacher auch in R 2 und R 3 die Verwendung des Anschauungsbegriffes nicht aufgibt, sondern einschränkt, indem er ihn gelegentlich klar motiviert durch den Gefühlsbegriff substituiert 1 5 . Der begriffsstatistische Textbefund spricht also für das allmähliche, teilweise Zurücktreten des Anschauungsbegriffes zugunsten einer funktionalen Stärkung des Gefühlsbegriffes. Kontrovers muß freilich die Deutung des sachlichen Gehaltes dieser Begriffsverschiebungen bleiben. Grundsätzlich zeigt sich die Bewertung abhängig von der jeweiligen sachlichen Motivkonstellation des Interpreten, aber auch von seiner Haltung zur Frage der Fremdeinflüsse im Schleiermacherschen Denken. Im einzelnen lassen sich folgende Interpretationstypen voneinander unterscheiden: [a] Der Sachgehalt der begrifflichen Veränderungen wird bagatellisiert. Mit dem Ziel des Erweises der bruchlosen Kontinuität des Schleiermacherschen Denkens werden die berühmten Selbstäußerungen Schleiermachers zu Bedeutungsveränderungen in den verschiedenen Auflagen der Reden 1 6 bereits unmittelbar auf den Gehalt der verwendeten (und veränderten) Begriffe selbst bezogen. Mit diesem Erweisziel korrespondiert die Intention, Schleiermachers weitgehende Freiheit von Fremdeinflüssen in der Ausarbeitung seiner Religionstheorie zu behaupten. 1 7 [b] Der Sachgehalt der begrifflichen Veränderungen wird als bedauerliche Deformierung der Erstauflage gewertet. Diese Auffassung fin13
14
S o z.B. Wehrung: Religion 519; Hirsch: Geschichte V 559; O t t o : West-östliche M y stik 339 Schultz: T h e o r i e des G e f ü h l s 75-84, bes. 78
15
G r a f : K o i n z i d e n z 158-177. Vgl. auch H u b e r : E n t w i c k l u n g 55-59 und 64-66
16
Vgl. R 2 (1806), ed. Pünjer X , 6 f ; Briefe II 57,17f ( v o m M ä r z 1806 an E.v.Willich); B r G a ß 44 ( v o m 25.4.1806); Vorrede zu R 3 (1821), ed. Pünjer X I V . In allgemeinerer, über die Veränderungen in den R e d e n - A u f l a g e n hinausgehender F o r m spricht sich ein Kontinuitätsbewußtsein Schleiermachers auch in Briefe IV 240-243 ( v o m 31.12.1818 an K . G . v . B r i n c k m a n n ) und in Briefe IV 288,10-13 ( v o m 19.2.1822 an K . G . v . B r i n c k m a n n ) aus. Z u r ausführlicheren Vorstellung und D i s k u s s i o n dieser Selbstinterpretationen Schleiermachers vgl. unten A n m , 104
17
Wendland: E n t w i c k l u n g 50. Vgl. auch Braasch: Religionsbegriff 4.69. D e m letztgenannten Erweisziel verdankt sich - ausweislich ihrer Selbstauskunft - auch die B e s c h r ä n k u n g der Redeninterpretationen Seiferts und Hertels auf die U r a u f l a g e der Reden: Seifert: T h e o l o g i e 19 u n d Hertel: D e n k e n 31.
110
Zweites Kapitel:
D i e Frömmigkeitstheorie in den Reden
det sich in der Regel dort, wo die Interpretation nicht primär an einer Rekonstruktion der originären Aussageintentionen der Reden interessiert ist, sondern wo - durchaus legitim - die Bestimmungen der Reden auf ihre Verträglichkeit mit auswärts gewonnenen Verstehenskategorien (z.B. einer universalen Frömmigkeitsphänomenologie 1 8 oder allgemeinen psychologischen Grundannahmen 1 9 oder auch einem aus der Glaubenslehre entlehnten Glaubensbegriff 2 0 ) hin überprüft werden und die Deutekategorien mit den Aussagen der Erstauflage, nicht aber mit denen der Folgeauflagen harmonieren. 21 [c] Der Sachgehalt der begrifflichen Veränderungen wird als inhaltlich gebotene Verbesserung der Erstauflage durch die Verdeutlichung ihrer ursprünglichen Intentionen interpretiert. Diese Auffassung ist die in der Schleiermacher-Forschung gängigste und von den unterschiedlichsten Hinweisen begleitete Einschätzung der begrifflichen Modifikationen. Zuerst hat R. H a y m darauf aufmerksam gemacht, daß erst die in den Folgeauflagen sich verstärkende Betonung der Gefühlshaltigkeit des religiösen Bewußtseins der ursprünglichen Schleiermacherschen Intention wirklich gerecht werde - nämlich: in der Bestimmung ihrer kategorialen Unterschiedenheit von Denken und Handeln auch die Vorstellung einer objektiven Gegenstandsbezogenheit der Religion abzuwehren. 2 2 R.A. Lipsius hält den Ausbau des Gefühlsaspektes für eine notwendige Konsequenz aus der von ihm in der Zweitauflage der Reden wahrgenommenen Modifikation des Gottesbegriffes (siehe dazu unten). 23 J. Gottschick sieht dagegen die Zurückweisung des Anschauungsbegriffes aus der Funktionsbeschreibung des Religiösen in der Differenzierung des Schleiermacherschen Wissen18
O t t o : West-östliche Mystik 336-341
19
Bender I: 171-173 Wehrung: Religion 519 Ein Beispiel f ü r die feinsinnige Verbindung mehrerer Interpretationstypen findet sich bei E. H i r s c h , dem sich in die Herausstellung der sachlichen N o t w e n d i g k e i t der M o d i f i k a t i o n e n - siehe d a z u im folgenden Abschnitt c) - Wehmut mischt: „ E s ist f ü r die philosophische Klarheit und Folgerichtigkeit also ein teurer Preis bezahlt: gerade das eigentümlich R o m a n t i s c h e , das der U r a u f l a g e ihren besondern D u f t gibt, ist d a h i n . " (Hirsch: Geschichte IV 563,9-12)
20 21
22
H a y m : R o m a n t i s c h e Schule 426,23-28
23
Lipsius: R e d e n 173. Ebenfalls in den Z u s a m m e n h a n g mit dem Gottesbegriff stellt O . Ritsehl den v o n ihm in doppelter Weise verwendet gesehenen Begriff der Anschauung, indem er eine erste, ursprüngliche und unmittelbare, religionskonstituierende U r a n s c h a u u n g des U n i v e r s u m s von den aus dieser U r a n s c h a u u n g entstehenden, fortgesetzten A n s c h a u u n g e n des Endlichen im Unendlichen unterscheidet ( O . Ritsehl: Stellung 50).
I. Z u m F o r s c h u n g s s t a n d
111
schaftsbegriffes begründet, in dem die Anschauung als Grundfunktion des wahren wissenschaftlichen Erkennens betrachtet wird. 2 4 Zahlreiche Interpreten sehen sodann die Minimierung des Anschauungsbegriffes in dem Schleiermacherschen Bemühen um Vermeidung eines mißverständlichen, weil in der Begriffssprache des transzendentalen Idealismus beanspruchten Terms motiviert. 25 E. Hirsch hebt das dank der Verdrängung des Anschauungsbegriffes zugunsten des Gefühlsbegriffes von „erkenntnistheoretischen Unmöglichkeiten" 2 6 befreite, gesteigerte Reflexionsniveau der Zweitauflage hervor. 2 7 F.W. Graf schließlich kommt zu dem Befund einer doppelten Verwendungsweise des Anschauungsbegriffs in den Reden: Geht es Schleiermacher um die Betonung des Aspektes der Einheitlichkeit der erkennenden, fühlenden und handelnden Geistesfunktion, d.h.: der Wissenschaft, der Religion und der Praxis, so wird die Religion als die Einheit von Anschauung und Gefühl bestimmt. Intendiert Schleiermacher dagegen die Betonung der gleichrangigen Unabhängigkeit der Religion neben Denken und Handeln, so bestimmt er die Religion ausschließlich als Gefühl. 2 8 Häufig verbinden sich die naturgemäß gerafft vorgestellten Argumente des hier diskutierten Interpretationstyps mit der Untersuchung von Fremdeinflüssen auf das Schleiermachersche Denken bzw. sind überhaupt erst durch diese motiviert. 29 [2.] Im zweiten Themenkreis erfolgt die Untersuchung der Schleiermacherschen Religionstheorie dagegen in zwar mittelbarer, dafür aber stärker material orientierter Weise: Die Behauptung der Selbständigkeit des Religiösen wird nicht in der umweglosen Rekapitulation der disponentiellen Wesensbestimmung des Religiösen geprüft, sondern 24
Gottschick: R e z . v. Ritschi. U n a b h ä n g i g davon auch G r a f : K o i n z i d e n z 169
25
Lasch: Religionsbegriff 47.53; H u b e r : Entwicklung 57f; Fuchs: Wandlungen 84.92; Süskind: Einfluß 108. Siehe dazu auch unten A n m . 29.
26
Hirsch: G e s c h i c h t e IV 562,20 Hirsch: G e s c h i c h t e IV 559-562 G r a f : K o i n z i d e n z 168.177. Diese Z w e i f a c h b e s t i m m u n g der Religion wird bei G r a f dann zur Leitlinie der Kritik, indem sie die beschriebene D o p p e l f u n k t i o n nicht als Vermögen einer ursprünglichen inneren Einheitlichkeit der Religion interpretiert, sondern als eine die systematische Ortlosigkeit der Religion bewirkende unaufgeklärte Zweideutigkeit versteht (a.a.O. 180-186).
27 28
29
S o führt H u b e r : E n t w i c k l u n g 57f die Modifikationen auf das B e m ü h e n Schleiermachers z u r ü c k , die Zweitauflage v o n den Einflüssen Schellings und Spinozas auf die U r a u f l a g e zu reinigen; Fuchs: Wandlungen 84.92 und Süskind: Einfluß 107f sehen im Gegenteil den G r u n d der Ä n d e r u n g e n in der Ü b e r n a h m e und U m d e u tung des ursprünglich Schleiermacherschen A n s c h a u u n g s b e g r i f f e s durch Schelling; Hirsch: Geschichte IV 563-565 sieht die von ihm beschriebene U m d e u t u n g als die (letzte) aus der Auseinandersetzung mit Fichte erwachsene Einsicht Schleiermachers.
112
Zweites Kapitel: D i e Frömmigkeitstheorie in den Reden
nimmt ihren Einsatz bei der Beobachtung, daß das im gegenständlichen Inventar der Religion konstatierbare Bemühen um die Vermeidung von zwar klassischen, aber ausschließlich durch ihre Formelhaftigkeit fixierten Begriffen sich am auffälligsten in dem weitgehenden Zurücktreten des Gottesbegriffes bei einer gleichzeitigen Vorrangigkeit des Universumsbegriffes äußert. Die Uberprüfung des Pantheismus- bzw. Spinozismusvorwurfes hat also in diesem Themenkomplex ihren ebenso festen Sitz wie das die Interpretation leitende oder begleitende Interesse an der Erhebung der Schleiermacherschen Stellung zum Christentum. Es liegt auf der Hand, in welch hohem Maße die durchgängig 3 0 in der skizzierten Weise vorgenommene Themenzusammenstellung bereits vom Ansatz her ihre eigenen Ergebnisse determinieren mußte. Zwar hat sich in der Forschungsgeschichte frühzeitig die Einsicht durchgesetzt, daß zumindest eine erste Pointe der Schleiermacherschen Rede vom Universum in dem Bemühen um die Kennzeichnung und die Vermeidung unreflektierter anthropomorphistischer Tendenzen einer unbedachten Verwendung des personalistischen Gottesbegriffes liege. 31 Auch ist an eine mit analytischem Scharfsinn geführte Debatte zu erinnern, in der der These einer disparat mehrdeutigen Verwendungsweise des Universumsbegriffes in den verschiedenen RedenAuflagen mit einem auf den identischen sachlichen Gehalt des im Universumsbegriff Gemeinten widersprochen werden konnte: Sah R.A. Lipsius die 1799 statuierte Identität Gottes und der Welt durch deren ab 1806 intendierte Gegenüberstellung revoziert 3 2 , so betonen demgegenüber O . Ritsehl 33 und H . Süskind 3 4 in der Anknüpfung an A. Ritsehl 3 5 als den durchgängigen und einheitlichen Fokus des Universumsbegriffes einerseits das Ineinandergreifen von Endlichem und Unendlichem, E. Huber 3 6 andererseits dessen den Doppelaspekt 30
31
32 33 34 35 36
Vgl. z.B. die G r ü n d e Sacks für seine vehemente Ablehnung der Reden (im Brief Sacks an Schleiermacher, Briefe III 275-280 [ohne Datum]) mit den von Beißer: Schleiermachers Lehre 12f und 32-52 genannten Argumenten. Lipsius: Reden 173; Huber: Entwicklung 46.66-68; Fuchs: Religionsbegriff 4551; Seifert: Theologie 80-82; O . Ritsehl: Stellung 8 und Seifert: Theologie 82,5-8 führen die Intention Schleiermachers ursächlich auf den Sprachgebrauch der RedenAdressaten zurück. Lipsius: Reden 301 O . Ritsehl: Stellung 46 Süskind: Einfluß 20-27 A. Ritsehl: Reden 31-39 H u b e r : Entwicklung 56
I. Zum Forschungsstand
113
von Einheitlichkeit und Totalität akzentuierenden Zug. Darin kündigt sich bereits die Einsicht in die begriffskategoriale Differenz von Universums-, Gottes- und Weltbegriff an. Diese Richtung wird von P. Seiferts Bemühen um den Nachweis eines begriffsinternen, aufeinander abgestimmten Sinns zweier Bedeutungsmomente und dreier Bedeutungssc/7*c/?fe« im Universumsbegriff, als deren Parameter das sich steigernde Offenbarwerden von Geschöpflichkeit fungiert, fortgeführt. 37 Aber erst der neueren Forschung ist es gelungen, die in der intentionalen Reduktion auf begriffliche Unverträglichkeits- bzw. Substitutionsvorstellungen liegende interpretatorische Selbstbeschränkung zu überwinden. So erlaubt die völlige Lösung von dem traditionellen Fragezusammenhang F. Hertel die Einsicht, daß die eigentliche Universalität des Universums erst durch die Abwehr aller Materialisierungsversuche und dem Insistieren auf der Nichtobjektivierbarkeit erreicht wird. 38 Und hatte zuerst E. Hirsch die forschungsgeschichtlich nahezu obligatorische Verdammung des berühmten Totenopfers für Spinoza als „Pantheismus" 39 um die Akzentuierung des spezifischen Motives jener Nennung bereichert 40 , so entlarvt F. Beißer schließlich die dem Pantheismusvorwurf zugrundeliegende Begriffsorthodoxie als eben jene Geistlosigkeit, gegen den sich die Reden in ihrem innersten Kern wenden. 41 Die unveränderte Gemeinsamkeit aller Untersuchungen zum zweiten Themenkomplex bleibt jedoch darin bestehen, daß sie in eine Stellungnahme zum spezifisch christlichen Charakter der Reden münden. Zunächst: zum Ergebnis der Christlichkeit der Reden führen dabei zwei verschiedene Verfahrensansätze. Erstens eine Analyse des Verhältnisses zwischen der zweiten und der fünften Rede, als deren Resultat eine - unterschiedlich starke - Verträglichkeit festgehalten wird. 42 Zwar stoßen wir in den den Reden-Aufbau analysierenden 37 38
Seifert: Theologie 77-80 Hertel: Denken 99-105
39
Vgl. z.B. Lasch: Religionsbegriff 7-10; Zumpe: Gottesanschauung 17
40
„Er [sc.: Schleiermacher] kann an Spinoza (...) nichts andres erlebt haben als die Freude darüber, einem Denker zu begegnen, welcher ebenso wie er mit der Zerstörung des alten Gottesbegriffs die Religion nicht aufheben, sondern begründen wollte." (Hirsch: Geschichte IV 503,27-31). Vgl. auch Graf: Koinzidenz 176 Anm. 96 Beißer: Schleiermachers Lehre 32-43. Vgl. dazu auch Tillich: Schleiermacher 12f
41 42
Vgl. z.B. A. Ritsehl: Reden 4; Wehrung: Standpunkt 103; Wendland: Entwicklung bes. 146-156; Seifert: Theologie 169-187.
114
Zweites Kapitel:
Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
Passagen gelegentlich auf die salvatorische Abwehr des Verdachts auf einen impliziten interpretatorischen Erfüllungsschematismus 4 3 oder auf die erklärte Absicht, das Verhältnis der zweiten zur fünften Rede nicht in bezug auf die attestierbare Christlichkeit, sondern in bezug auf den „doppelten Weg (...), welchen die Untersuchung (...) einschlagen kann" 4 4 , vornehmen zu wollen. Allerdings bleibt es bei der genannten Absicht, denn die genannten Interpretationen des Reden-Aufbaus zielen faktisch eben doch auf einen Christlichkeitserweis 4 5 , statt die Korrelation der spekulativ verfahrenden zweiten Rede mit der empirisch verfahrenden fünften Rede - in ihrer Modellhaftigkeit für das von Schleiermacher später im kritischen Verfahren zum Programm der Wissenschaftlichkeit erhobene Vorgehen - zu untersuchen. Ein zweiter Verfahrensansatz attestiert (im parallelen Blick auf die zeitgleich entstandenen Predigten 4 6 oder die 1799 erschienenen „Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter" 4 7 ) den christlichen Charakter nicht unmittelbar den Reden, sondern dem Redner persönlich. Ebenfalls kann andererseits die Christlichkeit entweder den Reden 4 8 oder gleich dem Redner selbst 49 abgesprochen werden. Uberblickt man den forschungsgeschichtlichen Uberblick zum zweiten Themenkomplex abschließend, so wird man also feststellen müssen, daß sich erst in jüngster Zeit eine Lösung von den traditionellen Fragestellungen durchzusetzen beginnt, um den Blick auf den eigentlichen sachlichen Gehalt der Gottesvorstellung in den Reden freizugeben. Damit wird die vorurteilsfreie Untersuchung eines Komplexes ermöglicht, dessen Bedeutung P. Seifert folgendermaßen zusammenfaßt: „Hier hat Schleiermacher sein Programm über die Anwendung philosophischer Ideogramme auf die religiöse Wirklichkeit und seine Ablehnung metaphysischer Spekulation auf dieselbe an einem zentralen Punkte konsequent durchzuführen gesucht." 50 43
So Wendland: Entwicklung 1 4 9 , 1 2 - 1 5
44 45
Seifert: Theologie 1 7 4 , 3 4 - 3 5 . So auch Beißer: Schleiermachers Lehre 13 Seifert: Theologie 1 8 1 - 1 8 7 . Beißer: Schleiermachers Lehre 4 7 - 5 2
46
Wendland: Entwicklung 149; O . Ritsehl: Stellung 16ff
47
Huber: Entwicklung 12 Z.B. Flückiger: Philosophie und Theologie 4 9 - 6 3
48 49
50
Z.B. F o r s t h o f f : Religionstheorie 9 3 - 1 0 0 . Diese radikale Deutung findet sich zuerst w i e d e r u m bei Sack (Briefe III 277,3-278,3). Seifert: Theologie 8 4 , 8 - 1 1 . - A u c h die Erwartung, daß eine exemplarische U b e r p r ü f u n g dieser mit Recht hervorgehobenen programmatischen U m d e u t u n g klassischer religiöser Themenbestände nach dem Maßstab der Wesensbeschreibung der
I. Zum Forschungsstand
115
[3.] Nahmen die bisher beschriebenen Themenkomplexe ihren Einsatz bei inhaltlichen Einzelaussagen der Reden, so gilt es im folgenden, ein drittes, von den bisher genannten bereits im Ansatz unterschiedenes, thematisches Motiv vorzustellen. Es besteht, zunächst allgemein gesagt, in der Anknüpfung an die äußere Form der in den Reden beschriebenen Religion bzw. der Reden selbst. Allen Ansätzen gemeinsam ist dabei zunächst das Bemühen, Aufschluß über das Wesen des Religiösen über eine Gattungsanalyse zu gewinnen: Entweder wird eine Formbestimmung der in den Reden beschriebenen Religion selbst oder aber eine Bestimmung der literarischen bzw. enzyklopädischen Form der Reden gegeben. Im einzelnen sind also zunächst Gattungsbestimmungen der Religion von Gattungsbestimmungen der Reden zu unterscheiden. Der zuerst genannte Typus zeichnet sich im wesentlichen durch reine Rubrizierungen der Religion unter andere menschlich-geistige Vollzüge aus. Diese Rubrizierungen erfolgen dabei in der Regel wiederum in der Form einfacher begrifflicher Verhältnisbestimmungen. Ist dieses Verfahren kennzeichnend für die früheste, eine erste Orientierung suchende Forschungsphase, so erscheint es deswegen vertretbar, weil eine solche Verhältnisbestimmung gewöhnlich als die ertragssichernde Zusammenfassung einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Religionsbegriff fungiert, die überdies auf ihre Veranlassung durch die (oben angeführte) Verhältnisklärung in den Reden selbst verweisen kann. So ist vor allem die Verwandtschaft der Religion mit der Kunst 51 und mit der Mystik 52 betont worden. Religion sich in einer Interpretation der Cbristologie der Reden (unter Vermeidung der forschungsgeschichtlich aufgegebenen Probleme) finden ließe, wird enttäuscht. Eine Einzeluntersuchung zur Christologie der Reden liegt m.W. nicht vor. (Sommer [Sommer: Schleiermacher-Novalis] konzentriert sich vor allem auf die Christologie der frühen Predigten und der Weihnachtsfeier, Lange [Lange: Schleiermacher-Strauß] dagegen auf die Christologie der Glaubenslehre. Die Arbeit Quapps [Quapp: Christus im Leben Schleiermachers] kann ihren Anspruch, eine Interpretation der Christologie in den Reden zu bieten, [a.a.O. 15,4f] nicht einlösen, sondern wird als der Versuch gelten müssen, den persönlichen Christusglauben als Deutekategorie der Entwicklungsgeschichte des jungen Schleiermacher einzuführen: Der konzeptionelle Mangel der Untersuchung liegt in einer Verwechslung der Begriffe „Christologie" und „Christusglauben".) Die Gelegenheit zu einer wie skizziert paradigmatischen Betrachtung wird auch in den Reden-Gesamtdarstellungen z.B. Seiferts und Hertels nicht wahrgenommen. 51
52
A. Ritsehl: Reden 26-29.37; Kirn: Art. Schleiermacher 595,27-29; Lange: Schleiermacher-Strauß 23 Dilthey: LS I 320-322; Lipsius: Reden 165; O. Ritsehl: Stellung 51; Mechau: Auffassung 30-35. Ebenso Otto: West-östliche Mystik 324-341; Piper: Erlebnis 91
116
Zweites Kapitel:
Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
Der zweite, eine Formuntersuchung der Reden bietende Typus muß wiederum nach zwei Untergruppen geordnet werden: Zum einen wird eine Analyse des enzyklopädischen Ortes, der die Reden selbst angehören, unternommen - und zum anderen finden sich auch Versuche, diejenige wissenschaftliche Methode begrifflich zu fixieren, die in und mit den Reden erst konstituiert wird. Was zunächst den ersten Ansatz betrifft, so kreist die Debatte (abgesehen von der Einschätzung der Reden als religiöse Homilien 53 bzw. „literarisch fingierte[] Predigten" 54 ) im wesentlichen um die Frage, ob die Reden eher theologischer oder philosophischer Provenienz seien.55 H.-J. Birkner hat diese Debatte abgeschlossen erstens durch den Hinweis auf die in der Alternativfragestellung enthaltene Pervertierung der ursprünglichen Intention der Reden 56 und zweitens durch den Hinweis auf die Möglichkeit, die Reden gleichwohl in Schleiermachers eigener wissenschaftssystematischer Ordnung zu lokalisieren; dort wären sie der Disziplin der „Philosophischen Theologie" als prototypisch zuzurechnen.57 Nicht am Schleiermacherschen Wissenschaftssystem, sondern vielmehr an der zeitgenössischen Vielfalt der wissenschaftlichen Disziplinen sind dagegen diejenigen Interpretationsansätze orientiert, die nach der in und mit den Reden begründeten wissenschaftlichen Methode fragen. Sie schließen sich dabei an den die Faktizität des Religiösen voraussetzenden Einsatzpunkt der Reden an und gelangen zu dem Ergebnis, bei den Reden handele es sich um die erste Religionsphänomenologie 58 bzw. um die erste Religionspsychologie59 im modernen Sinne. [4.] Die weitgehende thematische Einheitlichkeit der Forschungsgeschichte der Reden läßt sich kontrastiv auch noch einmal durch den Blick auf diejenigen in den Reden angeschnittenen Sonder- und Einzelthemen illustrieren, die eine forschungsgeschichtlich überwiegend nachlässige Beachtung erfuhren. Zu nennen ist hier vor allem die 53
Z . B . Piper: Erlebnis 9 . 1 5
54
T i m m : Revolution 58
55
Vgl. z.B. die Problemanzeige bei Hertel: Denken 1 2 - 2 8 und a.a.O. 3 5 - 3 7
56
„Eine Verhältnisbestimmung und Kompetenzabgrenzung von Theologie und Philosophie liegt gänzlich abseits v o m Interesse der Reden. Ihr Kennzeichen in dieser Hinsicht ist gerade die Gleichgültigkeit gegenüber hergebrachten Verhältnisbestimmungen, denen sie sich e n t n o m m e n wissen." Birkner: Theologie und Philosophie 24,25-29
57
a.a.O. 25,4-9
58
Jensen: Auffassung, bes. 6 4 - 6 7
59
Schneider: Religionspsychologie Schleiermachers
I. Z u m F o r s c h u n g s s t a n d
117
Bildungstheorie 6 0 der Reden, die jedoch eine Auffächerung in speziellere Fragestellungen verträgt: So läßt sich im einzelnen z.B. nach der in den Reden vorgetragenen Individualitätstheorie im Verhältnis zu derjenigen der im selben Arbeitszusammenhang entstandenen M o nologen fragen 6 1 , oder nach dem in den Reden ins Auge gefaßten Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in den sozialen Institutionen „Kirche" und „Staat" 6 2 , oder auch nach der systematischen Funktion des Geschichtsbegriffes der Reden. Von der Einzeluntersuchung dieser Fragen aus ließe sich prüfen, in welcher Weise die Reden ein Programm einer Theorie der Kultur in der Geschichte enthalten, das bereits als Hinweis auf die systematischen Eckdaten der Philosophischen Ethik gelesen werden kann. 63 Auf weitere eher spezielle, weniger fundamentale Binnenpointen der Reden - so z.B. auf die doppelte Strukturierung der positiven Religionen nach Wesen 64 und Richtung 6 5 der Anschauung oder auf die Stufenmodelle des Universums 6 6 und der Religionen 6 7 - hat jüngst G. Scholtz 6 8 aufmerksam gemacht. C . Z u m hier gewählten Interpretationsansatz Formal verwandt sind die bisher genannten Interpretationen des Hauptthemas der Reden, ihrer Religionstheorie, sich also darin, daß sie sämtlich einen begriffsanalytisch interpretierenden Ansatz verfolgen. Die nicht näher diskutierte Voraussetzung dieses Ansatzes besteht in der Uberzeugung von der mehr oder weniger umweglosen Terminologisierbarkeit des intentional Gemeinten. Diese in der Tat unhintergehbare Ermöglichungsbedingung jedes wissenschaftlichen Diskurses versagt nun aber gerade im Falle der Reden-Interpretation ihren konstitutiven Dienst. Denn das die Reden motivierende und in ihnen ausgedrückte sachliche Grundproblem besteht ja eben gerade in 60
61 62 63
64
Vgl. d a z u Ebeling: F r ö m m i g k e i t ; Riemer: Bildung 71-138; Wintsch: Religiosität und Bildung; F o r e m a n : H u m a n i s t i c culture Vgl. dazu z.B. Riemer: B i l d u n g 67-71 Vgl. dazu z.B. N e u b a u e r : Individualität und G e m e i n s c h a f t Diese s y s t e m b i l d e n d e F u n k t i o n der R e d e n hält in allgemeiner, thetischer F o r m Ringleben: R e d e n 257f fest. D i e thematische U b e r s c h n e i d u n g hält auch Eck: Individualität 49f fest: „Religion und Ethik haben im tiefsten G r u n d e einen G e g e n s t a n d : menschlich-geistiges L e b e n in individueller G e s t a l t u n g . " R 1 126-128 = K G A 1/2, 244,11-245,16. R 1 255f = K G A 1/2, 301,33-302,13
65
R 1 165f = K G A 1/2, 261,22-262,2
66
R 1 78-108 = K G A 1/2, 223,20-236,21
67
R 1 235-312 = K G A 1/2, 293-326 Scholtz: Philosophie Schleiermachers 80-82
68
118
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
der Notwendigkeit einer angemessenen Darstellung jener hermeneutischen Schwierigkeit, daß nicht nur das begrifflich Unerfaßbare in begrifflicher Weise thematisiert werden soll, sondern daß darüber hinaus die begriffliche Unerfaßbarkeit von etwas gleichwohl anschaulich-real Vorgegebenem im begrifflichen Modus als gegenstandsgemäß artikuliert werden muß. Schon der formaldiskursive Ansatz der Reden macht vor aller inhaltlichen Aussage auf dieses Grundproblem aufmerksam. Denn die wiederholt namhaft gemachte diskursspezifische hermeneutische Idealperspektive in den Reden bewegt sich expressis verbis außerhalb der Grundbedingung des wissenschaftlichen Diskurses, nämlich der intersubjektiven, objektiven Wißbarkeit des Wißbaren: Das Wesen der Religion, so konstatiert Schleiermacher, sei nur aus und durch Religion selbst zu verstehen. 69 Daraus folgt zunächst, daß die Absicht, die wesensmäßige Eigenart des Religiösen zu erweisen, die Eröffnung eines eigenen Diskursplatzes verlangt, in dem Form und Inhalt in einem engen Korrespondenzverhältnis miteinander stehen. 70 Die o.g. Unschlüssigkeit der Interpreten bei der formalen und literarischen Zuordnung der Reden spiegelt damit also ein bereits im Reden-Ansatz planmäßig ausgedrücktes, sachimmanentes Problem wider. Aber auch in der Begründung dafür, daß der Redner überhaupt das Wort ergreift, drückt sich die Untrennbarkeit von Form und Inhalt der Reden aus: Der Antrieb des Redners ist völlig unabhängig von allen die Verständigungschancen taxierenden Berechnungen gewohnter argumentativer Auseinandersetzungen, sondern der Antriebsgrund liegt hier in der Sache selbst: Die zur Rede treibende himmlische Gewalt ist stärker als alle rationalen Realisierungserwägungen der Ermöglichungsbedingungen des projektierten Unternehmens. 7 1 Diese formaldiskursive Verortung außerhalb des wissenschaftlichen Bereiches gewinnt ihre problematische Nuance nun aber durch die 69
70 71
R 1 39 = K G A 1/2, 206,22-207,4. R 1 106f = K G A 1/2, 235,15-22. R 1 242 = K G A 1/2, 296,13-18. R 1 285f = K G A 1/2, 314,21-25. Vgl. auch R 1 15 = K G A 1/2, 195,19-21. R 1 31 = K G A 1/2, 202,10-19 und Gedanken 1,88 = K G A 1/2, 25,10f. Vgl. z.B. R 1 29-31 = K G A 1/2, 201,22-202,10 R 1 5 = K G A 1/2, 191,2-10. Daß diese Suspendierung des voluntativen Aspektes im Redeanlaß der Suspendierung der voluntativen Aspekte in der Haltung der Hörer (R 1 133 = K G A 1/2, 247,5-8) korrespondiert, wird sich unten als Implikat des Wesensgehaltes der Religion herausstellen. Daß Schleiermacher sich darüber hinaus aber auch über die rein redetechnischen Möglichkeiten einer Wechselwirkung zwischen der Haltung des Redners und der Hörer bewußt gewesen ist, zeigt der Blick in Gedanken 1,146 = K G A 1/2, 34,8-19.
I. Z u m F o r s c h u n g s s t a n d
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methodische Verfahrensangaben der Reden. Denn hier zeigt sich, daß Schleiermacher einen dezidiert phänomenologischen, deskriptiv ambitionierten Weg einzuschlagen gewillt ist 7 2 , der ebenso wie die diskursiven Regeln in der zu untersuchenden Sache selbst vorgezeichnet ist. 73 Das Ziel der Reden ist also der ihrem Gegenstand angemessene, einerseits phänomenologisch überzeugende 7 4 , aber andererseits keinesfalls begriffsanalytisch deduktiv vorgehende 7 5 Erweis der Faktizität und Positivität der Religion. 7 6 Bereits aus diesem paradoxalen Ansatz ergibt sich die Vermutung, es werde im Entfaltungsduktus der Reden die Subordination einer stringenten Begriffssprache unter den Primat einer wie auch immer zur Geltung gebrachten Anschaulichkeit vorherrschen müssen. Für den hier zu wählenden interpretatorischen Einstiegspunkt bedeutet dies, daß Schleiermachers programmatische Behauptung der phänomenologischen Evidenz von Autonomie und Notwendigkeit der Religion 7 7 weniger in einer Analyse der - von Schleiermacher in bezug auf ihre Bedeutsamkeit ohnehin heruntergespielten 78 - begriffsmorphologischen Gestalt der Reden überprüft werden kann, sondern daß vielmehr Schleiermachers Behauptung des obligaten und manifesten Charakters der Religion nun auch über die Betrachtung des für sie reklamierten phänomenologischen Gehaltes verifiziert werden muß. Ein begriffsanalytischer Ansatz dagegen fordert die Reden zu einem Wettkampf heraus, an dessen Teilnahme sie sich von vornherein uninteressiert zeigen. Ich werde mich in der nachstehenden Interpretation also, dem Duktus der Schleiermacherschen Reden folgend, der Religionstheorie der Reden über die Beschreibung der religionskonstitutiven 72 73
74
75
Vgl. z.B. R 1 24 = K G A 1/2, 199,11-15. R 1 242 = K G A 1/2, 296,16f R 1 19f = K G A 1/2, 197,12-19.24-30. R 1 30-31 = K G A 1/2, 201,39-202,10. R 1 39f = K G A 1/2, 207,4-10. R 1 71-73 = K G A 1/2, 220,29-221,19 Vgl. z.B. R 1 75-78 = K G A 1/2, 222,8-223,19. R 1 232-234 = K G A 1/2, 290,39-292,3. R ° 246f = K G A 1/2, 297,39-298,26 R 1 105 = K G A 1/2, 235,15-18. R 1 138 = K G A 1/2, 249,37-250,6
76
Vgl. die f o l g e n d e Z u s a m m e n f a s s u n g des Ansatzes: „ A u c h sei es genug an dieser A n deutung auf dasjenige was Euch s o unendlich fern liegt, jedes weitere Wort darüber wäre eine unverständliche Rede, von der Ihr nicht wißen würdet woher sie käme noch wohin sie ginge. Hättet Ihr nur erst die Religion, die Ihr haben könnt und wäret Ihr E u c h nur erst derjenigen bewußt, die Ihr wirklich s c h o n habt! denn in der That, wenn Ihr auch nur die wenigen religiösen A n s c h a u u n g e n betrachtet, die ich mit geringen Z ü g e n jezt entworfen habe, so werdet Ihr finden, daß sie Euch bei weitem nicht alle f r e m d sind." R 1 105f = K G A 1/2, 235,15-22
77
R 1 37 = K G A 1/2, 204,34-205,2
78
Vgl. z.B. R 1 138 = K G A 1/2, 249,37-250,6. R 1 312 = K G A 1/2, 326,4-7. Im einzelnen d a z u unten S. 123.
120
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
Wirkmächtigkeit der religiösen Uraffektion 79 nähern und von dort aus die in jener Primatsbehauptung enthaltenen Voraussetzungen im Blick auf ihren sachlichen Gehalt, nicht im Blick auf ihre begriffliche Gestalt zu erfassen versuchen. Dazu zwei Bemerkungen. Erstens: in der Konzentration auf den religiösen Ureindruck folgt die hier vorzulegende Interpretation einem in der SchleiermacherForschung zwar keineswegs neuen, aber durch die Art und das Ziel seiner Durchführung letzthin diskreditierten Untersuchungsansatz. So hat als erster R. Haym die herausragende Bedeutung des religiösen Erlebens für die Religionstheorie der Reden erkannt. 80 Von einem vergleichbaren Untersuchungsansatz geht R. A. Lipsius' 81 vorwiegend ablehnende Interpretation aus, O . Ritsehl 82 und J. Wendland83 dagegen speisen ihr vorwiegend zustimmendes Verständnis der Reden aus der Einsicht in die Fundierung der Frömmigkeitstheorie durch das religiöse Erleben. Und auch W. Thimme erhebt das von ihm so genannte „religiöse Urerlebnis" zum Ausgangspunkt der Interpretation. 84 Der erste Versuch einer stringenten Durchführung dieses Ansatzes findet sich dann bei O . Piper, der die gesamte Religionstheorie als eine reflexive Reaktion auf das religiöse Erlebnis verstanden wissen will. 85 Aber zuerst brachte die ebenfalls auf diesem Ansatz basierende Zurechnung der Religion zur Mystik 86 die von Schleiermacher gemeinte Religion in den Verruf einer weitabgewandten, selbstbezogenen und kommuni-
79
Diesen Ausdruck ziehe ich, Schleiermachers Vorliebe für das Wortfeld „Affektion, affizieren" im fraglichen Zusammenhang folgend (R 1 63 = K G A 1/2, 216,40; R 1 114 = K G A 1/2, 239,4; R 1 119 = K G A 1/2, 241,12; R 1 195f = K G A 1/2, 275,7.27; vgl. auch R 1 96 = K G A 1/2, 231,17), dem rezeptionsgeschichtlich vorbelasteten, weil pejorative Konnotationen beinhaltenden und sich in den Reden nicht findenden Ausdruck „religiöses Erlebnis" vor.
80
H a y m : Romantische Schule 427f
81
Lipsius: Reden 158-176
82
O . Ritsehl: Frömmigkeit 132f Wendland: Entwicklung IV
83 84
Thimme: Grundgefühl 125
85
Piper: Erlebnis bes. 49-92. Der Ansatz wird freilich schon rein verfahrenstechnisch nicht konsequent verfolgt, insofern die Pipersche Untersuchung auch mit einer Analyse der Begriffe „Anschauung" und „Gefühl" einsetzt (Piper: Erlebnis 20-48) und sich daher den unvoreingenommenen Blick auf den Gehalt des Erlebnisses verbaut: Die Betrachtung des Erlebnisses übernimmt die Funktion, das in der Begriffsanalyse erkannte Wesen von Anschauung und Gefühl nun nachträglich im religiösen Erlebnis wiederzuerkennen.
86
Vgl. das Verständnis des religiösen Erlebnisses als unio mystica bei Thimme: Grundgefühl 125,33f; R. Otto: West-östliche Mystik 324-341; Beißer: Schleiermachers Lehre 23,32. Siehe auch oben Anm. 52.
I. Zum Forschungsstand
121
kationsunfähigen Innerlichkeitsschau 87 , bis schließlich auch die in diesem Jahrhundert noch einmal auflebende Verdammung des Schleiermacherschen Religionsbegriffs als subjektivistisch und illusionistisch 88 ihren Ausgang von der Verankerung der Religion im selbstanschaulichen religiösen Erlebnis nahm. 89 Die unveränderte Wirkmächtigkeit dieser Tabuisierung für jede zustimmende Interpretation mag man aus den eher verschämten Hinweisen auf die konstitutive Rolle des religiösen Erlebnisses für das Wesen der Religion in den jüngeren U n tersuchungen P. Seiferts 90 , F. Hertels 91 und F. Beißers 92 erschließen. Erst bei M. Eckert findet sich wieder ein von seinem Ansatz her un87
88 89
90 91 92
In diesem Zusammenhang wird seltener beachtet, daß Schleiermacher sich bereits 1821 in unmißverständlicher Weise dagegen verwahrt hat, Zusammenhänge z w i schen der von ihm beschriebenen Gestalt religiöser Affektion einerseits und Formen mystischer Erweckungsfrömmigkeit andererseits aufzustellen. Ich gebe daher die sich an den Verweis auf die religiöse Uraffektion in der dritten Rede (R 1 161f = KG A 1/2, 259,30-38; nahezu unverändert in R 3 [1821], ed. Pünjer 167,4-13) anschließende Erläuterung Nr. 4 zur dritten Rede in R 3 (1821), ed. Pünj er 177,15-39 hier vollständig wieder: „Niemand wolle doch glauben, daß ich die Erscheinungen eines erwachten religiösen Lebens, die jetzt in Deutschland besonders so häufig sind, als die Erfüllung der hier ausgesprochenen Hoffnung ansehe. Dies geht schon aus dem Folgenden deutlich genug hervor. Denn eine Wiederbelebung der Frömmigkeit, die von einem mehr geöffneten Sinn erwartet wird, müßte sich anders gestalten als das, was wir unter uns sehen. Die unduldsame Lieblosigkeit unserer neuen Frommen, die sich nicht mit dem Zurückziehen von dem was ihnen zuwider ist, begnügt, sondern jedes gesellige Verhältniß zu Verunglimpfungen benutzt, welche bald allem freien geistigen Leben gefährlich werden dürften, ihr ängstliches Horchen auf bestimmte Ausdrücke, nach denen sie den Einen als weiß bezeichnen und den Andern als schwarz, die Gleichgültigkeit der meisten gegen alle große Weltbegebenheiten, der engherzige Aristokratismus Anderer, die allgemeine Scheu vor aller Wissenschaft, dies sind keine Zeichen eines geöffneten Sinnes, sondern vielmehr eines tief eingewurzelten krankhaften Zustandes, auf welchen mit Liebe, aber auch mit strenger Festigkeit gewirkt werden muß, wenn nicht daraus dem Ganzen der Gesellschaft mehr Nachtheil erwachsen soll, als das erweckte religiöse Leben Einzelner ihr geistigen Gewinn bringt. Denn das wollen wir nicht in Abrede stellen, daß viele der Geringeren aus ihrer Stumpfsinnigkeit, der Vornehmeren aus ihrer Weltlichkeit nur durch diese herbe Art und Weise der Frömmigkeit geweckt werden konnten, wollen aber dabei wünschen und auf das kräftigste dazu mitwirken, daß dieser Zustand für die meisten nur ein Durchgang werde zu einer würdigeren Freiheit des geistigen Lebens. Dies sollte wol um so leichter gelingen, als es ja deutlich und unverhohlen genug zu Tage liegt, wie leicht sich Menschen, denen es um etwas ganz Anderes als um wahre Frömmigkeit zu thun ist, dieser Form bemächtigen, und wie sichtlich der Geist abzehrt, wenn er eine Zeitlang in derselben eingeschnürt gewesen ist." Vgl. exemplarisch Brunner: Mystik; Schultz: Verhältnis 150 Auch K. Barth erkennt in der Schilderung des religiösen Erlebnisses den Schlüssel zum Verständnis der Reden (K. Barth: Schleiermacher 154f) Seifert: Theologie 74-77.95-98 Hertel: Denken 91-102.142f Beißer: Schleiermachers Lehre 36
122
Z w e i t e s Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den R e d e n
beschwerter Hinweis auf die religiöse Urimpression, die dort - ganz und gar im Sinne der hier vertretenen Interpretation - als metaphorisch symbolisierende Darstellung der religionskonstituierenden Grundbeziehung zwischen Endlichem und Unendlichem verstanden wird. 93 Zweitens: Auch in der Ablehnung eines begriffsanalytischen Vorgehens nimmt die hier zu liefernde Interpretation eine der Schleiermacher-Forschung seit längerem vertraute Einsicht auf. So hat zunächst H. Forsthoff in Reaktion auf die philologische Sorgfältigkeit E. Hubers 9 4 die Aporetik einer dem Gesamtcharakter der Reden inadäquaten Begriffssezierung erkannt 95 . Die von ihm geäußerten Bedenken sind in jüngster Zeit vor allem von H. Fischer 96 und - in 93
Eckert: Verhältnis 41 f. Diese B e z u g n a h m e leidet freilich erstens darunter, daß sie zugleich auch noch als Erweis für Schleiermachers A n k n ü p f u n g an die romantische Tradition der Liebesreligion fungieren soll (a.a.O. 41,9f) und zweitens darunter, daß sie nicht nur nicht ausgeführt ist, sondern im A n s c h l u ß an das die A u s f ü h r u n g ersetzende u m f ä n g l i c h e Zitat von R 73-75 u m g e h e n d relativiert w i r d (a.a.O. 42,12f). Eckert hält pauschal fest, daß „der Text in der Interpretationsgeschichte sicher zu Recht als der dunkelste Text der Reden gilt" (a.a.O. 42,10-12), statt sich um eine von seinem A n s a t z her doch eigentlich verlangte Erhellung der fraglichen Passage zu bemühen. In dieser F o r m der Z u r ü c k n a h m e drückt sich das Grunddefizit der Eckertschen U n t e r s u c h u n g bereits aus. Denn auch insgesamt gesehen trägt Eckert zunächst einige ü b e r z e u g e n d e Thesen vor, so etwa die im Anschluß an H . - J . B i r k ner vertretene A u f f a s s u n g der Unangemessenheit einer A n w e n d u n g des Gegensatzes z w i s c h e n theologischer u n d philosophischer Fragestellung auf die Reden (a.a.O. 22 A n m . 2); oder e t w a die Einsicht in die Inadäquatheit begrifflicher Deuteversuche im Falle der Reden-Interpretation (a.a.O. 32,9-23); oder auch den Gedanken, daß d e m in den R e d e n vorausgesetzten Verhältnis z w i s c h e n U n e n d l i c h e m u n d Endlichem eine K o n s t i t u t i v f u n k t i o n z u z u e r k e n n e n sei (a.a.O. 24,12-15; 25,13-15). Irritierend e r w e i s e zeigt sich im weiteren Verlauf der A r g u m e n t a t i o n dann allerdings eine m a n g e l n d e K o n s e q u e n z , ja: geradezu kontrapoduktive Tendenz in der Entfaltung der Leitthesen. So w i r d - erstens - ungeachtet der Einsicht in die Irrelevanz des theologisch-philosophischen Konfrontationsmodelles gerade diese Alternative als G r u n d m a ß s t a b der Interpretation beibehalten. Zweitens w i r d die Einsicht in die das begriffsanalytisch vorgehende Verständnis verunmöglichende „oszillierende Sprachgebärde" (a.a.O. 40,12) der Reden dann geradezu pervertiert durch den Versuch, die Reden in einer d e f l a t o r i s c h ambitionierten A n a l y s e ihrer Zentralbegriffe zu interpretieren (a.a.O. 42-56): S o w e i t ich sehen kann, geht dieser Interpretationsversuch in d e m genannten Teil nicht nur wegen seines naturgemäß stark paraphrasierenden C h a r a k t e r s , sondern vor allem a u f g r u n d der fehlenden methodischen U m s e t z u n g jener Einsicht in die prinzipielle Aporetik begriffsanalytischer Reden-Interpretation dabei auch keinesfalls über diejenigen begrifflich orientierten Interpretationen, die zu überbieten er beansprucht (a.a.O. 42,28-33 u n d A n m . 71), hinaus. Damit droht sich - drittens - die Idee des Nachweises der Konstitutivfunktion des Verhältnisses z w i s c h e n Endlichem und U n e n d l i c h e m in ihrer D u r c h f ü h r u n g (a.a.O. 42-56) in vorrangig begriffsstatistischen N a c h w e i s e n zu verlieren.
94
Huber: Entwicklung Forsthoff: Religionstheorie 98f Fischer: Subjektivität 36,35-40
95 96
I. Z u m F o r s c h u n g s s t a n d
123
weiterem Z u s a m m e n h a n g - auch von G . Ebeling 9 7 unterstützt und nachgerade zur methodischen Leitlinie der Redeninterpretation nobilitiert worden. 9 8 Diese Einsicht in die Unangemessenheit begriffsorientierter Interpretation kann sich dabei nicht nur auf die allgemeinen Schleiermacherschen Vorbehalte gegen die semantische Eigendynamik einer isolierten und monopolisierten Begriffssprache berufen 9 9 , sondern sie nimmt auch die in den Reden selbst vorgebrachten Warnungen vor einer U b e r s c h ä t z u n g der in den Reden gewählten ( „ g e b o r g t e n " 1 0 0 ) Terminologie ernst. (Diese Warnung wird in R 1 damit begründet, daß der Gegenstand selbst sich aus konstitutionellen G r ü n d e n einer vollständigen begrifflichen Entfaltbarkeit entzieht 1 0 1 ; in den Folgeauflagen wird diese Warnung darüber hinaus mehr und mehr auch als allgemeiner hermeneutischer G r u n d s a t z entfaltet 1 0 2 bzw. auf das literarische G e nus der Reden b e z o g e n . 1 0 3 ) Darüber hinaus wird der gewählte A n 97 98
99
Ebeling: F r ö m m i g k e i t 99,29-100,6 A u c h M . E c k e r t hebt die Inadäquatheit begrifflicher D e u t e v e r s u c h e im Falle der Reden-Interpretation ausführlich hervor (Eckert: Verhältnis 32,9-23). D i e s e s P r o b l e m scheint Schleiermacher z u Beginn seiner schriftstellerischen und wissenschaftlichen L a u f b a h n naturgemäß stärker beschäftigt zu haben als in deren Zenit. So vgl. z . B . die Mißtrauensartikulationen in den G e d a n k e n h e f t e n (z.B.: „ D i e A u t o r e n machen selten absichtlich Terminologien s o n d e r n nur die - a n e r " [ G e d a n k e n 1,82 = K G A 1/2, 24,10f] und „ M a n muß oft die B e d e u t u n g eines Worts aus einer fremden Sprache nur durch die Vergleichung verschiedener Fälle errathen, troz der Wörterbücher. S o auch die B e d e u t u n g eines Begrifs in einer fremden Philosophie troz der D e f i n i t i o n " [ G e d a n k e n 111,2 = K G A 1/2, 119,9-12; vgl. auch die frühere F a s s u n g in G e d a n k e n 1,11 = K G A 1/2, 8,19f]) mit den reflektierten G r ü n d e n für eine solche A b n e i g u n g in B r o u i l l o n zur Ethik 1805/06, 51. S t u n d e , Ε 164-166.
Vgl. „Wenn ich mich eines Bildes bedienen darf aus der Wißenschaft, der ich a m liebsten A u s d r ü k e a b b o r g e in Angelegenheiten der Religion ... " : R 1 194 = K G A 1/2, 274,28-30 ,0' R' 105 = K G A 1/2, 235,15-18. R 1 138 = K G A 1/2, 249,37-250,6. R 1 312 = K G A 1/2, 326,4-7 1 0 2 Vgl. b s p w . R 2 (1806), ed. Pünjer 38,36-39,13 ( „ U e b e r die [ . . . ] N a m e n , die Ihr [ . . . ] beilegt, will ich mich nicht mit E u c h streiten; denn das gehört in den Streit E u r e r Schulen mit d e m ich nichts zu tun habe. D a r u m sollt Ihr mir aber auch nicht an den Worten mäkeln, m ö g e n sie nun bald hierher k o m m e n , bald daher, deren ich mich [ . . . ] bedienen w e r d e " . ) 100
103
R 3 (1821), ed. Pünjer 134,40-51 (Erläuterung N r . 2 z u r zweiten Rede): „Wie man d e m rednerischen Vortrag ü b e r h a u p t die strengen Definitionen erläßt und ihm statt deren die B e s c h r e i b u n g e n gestattet, s o ist eigentlich diese ganze R e d e nur eine ausgeführte, mit Bestreitungen anderer nach meiner U e b e r z e u g u n g falscher Vorstellungen untermischte Beschreibung, deren H a u p t m e r k m a l e also zerstreut sind und sich z u m Theil unvermeidlich an verschiedenen Stellen unter verschiedenen A u s d r ü c k e n wiederholen. D i e s e A b w e c h s e l u n g des A u s d r u c k s , w o d u r c h d o c h jedesmal eine andere Seite der Sache ins Licht gesetzt wird, und welche ich selbst in Wissenschaft-
124
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
satz es erlauben, die notorischen Widersprüchlichkeiten zwischen den zahlreichen philologischen Veränderungen in den verschiedenen Auflagen der Reden und den Schleiermacherschen Selbstdeutungen dieser Veränderungen - aber auch die seltener beachteten Unklarheiten direkt innerhalb dieser selbstinterpretatorischen Äußerungen 104 - auf eine widerspruchslösende Art und Weise zu deuten. Ein Mißverständnis wäre dagegen die Annahme, mit dem gewählten Ansatz sollte Schleiermachers begriffliche Artikulationskompetenz in Frage gestellt
104
licheren Vorträgen, wenn nur die verschiedenen Formen zusammenstimmen und sich in einander auflösen lassen, zweckmäßig finde, um die bedenklichen Wirkungen einer zu starren Terminologie zu vermeiden, schien dieser Schreibart besonders angemessen. So kommen hier kurz hintereinander für denselben Werth drei verschiedene Ausdrücke vor. ( . . . ) " Die landläufige, schematisierende Theorie vom Widerspruch zwischen Schleiermachers faktischen inhaltlichen Eingriffen in die Reden und der programmatischen Nivellierung dieser Eingriffe in den Selbstäußerungen (wie sie sich zuletzt bspw. bei Graf: Koinzidenz 151 wiederfindet) wird dem komplexen Charakter der Widersprüchlichkeit in keiner Weise gerecht. Vielmehr lassen sich schon innerhalb der Schleiermacherschen Selbstinterpretationen zwei gegenläufige Tendenzen unterscheiden - nämlich sowohl eine die Schärfe der Eingriffe bagatellisierende Färbung als auch eine die Massivität der Eingriffe klarer sehende Strömung. Vgl. einerseits: „Daher habe ich mir in dieser Hinsicht Nichts erlaubt als Einzelheiten zu ändern ( . . . ) " (Widmung in R 2 [1806], ed. Pünjer X,6f); „Darum sind der Aenderungen in der Schrift selbst zwar nicht wenige, aber alle nur sehr äußerlich, fast nur C a s s a t i o n e n der Schreibart ( . . . ) Denn meine Denkungsart über diese Gegenstände ist damals schon mit Ausnahme dessen, was bei jedem die Jahre mehr reifen und abklären in eben der Form ausgebildet gewesen wie sie seitdem geblieben ist ( . . . ) " (Vorrede zu R 3 [1821], ed. Pünjer X I V , 1 3 - 3 5 ) ; auch Briefe II 57,17f (vom März 1806 an E.v.Willich) - und andererseits: „Denn es muß manche Confusion klar gemacht und mancher Auswüchsling weggeschnitten werden ( . . . ) " (Briefe I V 125 vom 18. März 1806 an Reimer); „Fast hätte ich Lust sie [sc.: die Reden] gar nicht wieder drukken zu lassen. Es ist nun grade sieben Jahre her, daß sie geschrieben wurden, und es kommt mir vor, als ob sich seitdem soviel verändert hätte, daß die ganze Anlage des Buches jetzt nicht mehr paßt. Soll es aber dasselbe bleiben, so muß es auch durchaus den Charakter behalten, für jene Zeit gemacht zu sein; und da ich diese nicht mehr vor mir habe: so habe ich auch keinen sichern Takt darüber, was stehen bleiben und was geändert werden soll. Wäre das Buch immer nur für jene Zeit gut und vollkommen gewesen: so würde ich nichts ändern als Einzelheiten, die, wenn auch in noch so großer Anzahl, nur Kleinigkeiten sind. Allein das kann ich leider nicht rühmen, sondern ich fühle sehr bestimmt, daß nicht nur unnüze Schwierigkeiten genug darin sind, sondern auch nicht wenig verschuldete Veranlassungen zu Mißverständnissen. Wie ich diese zu heben habe, ist mir im Ganzen ziemlich klar; wie ich aber dabei den ursprünglichen Ton des Buches immer bewahren und mich auch hüten soll, wenn ich einmal in's Umarbeiten hineinkomme, doch nicht mehr als nöthig und heilsam ist zu verändern, darüber habe ich noch gar keine feste Zuversicht. Mit der ersten Rede bin ich fertig, da ist es noch angegangen. Von der zweiten aber muß die erste Hälfte bedeutend umgearbeitet werden, und ich fürchte, es wird mit der dritten nicht besser gehen. N u r die beiden lezten hoffe ich, sollen mir weniger Arbeit machen." ( B r G 44 vom 25. April 1806 an Gaß)
I. Zum Forschungsstand
125
werden. Im Gegenteil wird den Reden die Einlösung des Programmes zugetraut, erstens das begrifflich nur unzureichend Erfaßbare und zweitens zugleich - auf einer metatheoretischen Ebene - die Nichterfaßbarkeit selbst im Modus der sprachlichen Deskription phänomenologisch überzeugend darzulegen. (Darüber hinaus wird die Analyse der Glaubenslehre und der Dialektik genügend Anlaß geben, auch die unmittelbar begriffsstabile Stringenz Schleiermacherschen Denkens zu illustrieren. 105 ) Aus dem Genannten ergibt sich folgende Vorgehensweise: Die Frömmigkeitstheorie der Reden soll im Ausgang von der konstitutiven Funktion des religiösen Ureindrucks rekonstruiert werden (Abschnitt II). Die zahlreichen inhaltlichen Beschreibungen und Verweise auf die Uraffektion müssen zunächst ausführlich vorgestellt werden (Abschnitt II. A - C ) , damit die konstanten Züge der Uraffektion zusammengefaßt werden können (Abschnitt II. D). Sodann läßt sich zeigen, daß das von Schleiermacher ins Auge gefaßte Wesen der Religion sich einer universalisierenden Abstraktion dieser konstanten Züge der Uraffektion verdankt (Abschnitt III). Dies gilt sowohl für Teilmerkmale der Religion (Abschnitt III. A-E) als auch für das meiner Interpretation zufolge wesentliche Konstitutionselement der souveränen und autonomen Religion, der konkreten Gestalt ihrer Formbestimmtheit, wie in einem ausführlichen Haupt- und Schlußabschnitt (Abschnitt III. F) darzustellen sein wird. Da die systematische Rekonstruktion sich hierbei nicht an den Aufbau der Reden halten kann, verweise ich zur Offenlegung des die Interpretation leitenden Verständnisses vom Duktus der Reden auf die im Anhang beigegebenen Gliederungserwägungen. 106 Aus dem interpretatorischen Ansatz folgt, daß auf die Veränderungen in den Auflagen der Reden stets (und nur) dann Bezug genommen wird, wenn sie deutliche Modifikationen des sachlich Gemeinten betreffen. In der Regel wird auf die Erstauflage verwiesen, die für alles Folgende die Grundlage der Interpretation bildet.
105 106
Vgl. U. Barth: Christentum 40f und Lehnerer: Kunsttheorie 63-66 S.u. S. 333ff
126
Zweites Kapitel: D i e Frömmigkeitstheorie in den R e d e n
II. Die religiöse Uraffektion A. Einleitung Mag auch der Versuch der definitorischen Wesensbestimmung der Religion als „Anschauung und Gefühl" 1 0 7 in einer modifizierten Teilgestalt - nämlich als „Anschauen des Universums" 1 0 8 - von Schleiermacher als „Angel meiner ganzen Rede" 1 0 9 , als „allgemeinste und höchste Formel der Religion" 1 1 0 vorstellig gemacht werden, so verdankt sich diese Definition - vor aller Betrachtung ihrer eventuellen problematischen Unzulänglichkeit - zunächst doch einer festen Vorstellung von der „Geburtsstunde alles Lebendigen in der Religion" 1 1 1 , die im Moment der ,,höchste[n] Blüthe der Religion" 1 1 2 besteht. Diese bereits bei dem Blick in die Urauflage der Reden zu treffende Beobachtung bestätigt sich in der Folge zunächst durch den Eindruck der Nichtkanonizität dieser Formulierung: Schleiermacher macht von den Möglichkeiten der U m - und Neuformulierung reichlichen Gebrauch. 1 1 3 Den eigentlichen Zusammenhang zwischen der ursprünglichen religiösen Affektion und dem aus diesem Ursprungsakt abgeleiteten, notwendigerweise unzulänglichen Definitionsversuch bringt schließlich die dritte Auflage der Reden in ihren Erläuterungen deutlich zum Ausdruck. Die Aufgabe, den in der Religion liegenden Einigungspunkt von Wissen und Handeln begrifflich zu bestimmen, findet einen vorläufigen Verweis in der rhetorischen Frage „(...) wie kann beides [sc.: Wissen und Handeln] in Euch zum Leben gedeihen, als 107 108 ,09
R 1 50 = K G A 1/2, 211,33f R 1 55 = K G A 1/2, 213,34 R 1 55 = K G A 1/2, 213,35
110
R 1 55 = K G A 1/2, 213,35f
111
R ' 75 = K G A 1/2, 222,9 R 1 75 = K G A 1/2, 222,6 R 2 schalten an die Stelle des Definitionsversuches der Erstauflage die wesentlich schwächer pointierende F o r m e l „ ( . . . ) freilich ist der Religion die Betrachtung wesentlich ( . . . ) sie ist nur die unmittelbare Wahrnehmung von d e m allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche, alles Zeitlichen im Ewigen u n d durch das Ewige. Dieses suchen und finden in Allem, was lebt und sich regt, in allem Werden und Wechsel, in allem T h u n und Leiden und das Leben selbst nur haben und kennen im unmittelbaren G e f ü h l als dieses Sein, das ist Religion." ( R 2 [1806], ed. Pünjer 46,34-47,16). In dieser Formel wird der A u s d r u c k „ A n s c h a u u n g " also offensichtlich durch den A u s d r u c k „unmittelbare Wahrnehmung" ersetzt, der A u s d r u c k „ G e f ü h l " durch „unmittelbares G e f ü h l " . R 3 substituiert am fraglichen O r t e dann den A u s d r u c k „ A n s c h a u u n g " b z w . „unmittelbare Wahrnehmung" noch einmal durch den A u s d r u c k „unmittelbares Bewußtsein". ( R 3 [1821], ed. Pünjer 47,10)
112 1,3
127
II. Die religiöse U r a f f e k t i o n
nur sofern die ewige Einheit der Vernunft und Natur, sofern das allgemeine Sein alles Endlichen im Unendlichen unmittelbar in Euch lebtY'nA Dieser Frage gibt Schleiermacher dann in den Erläuterungen der Drittauflage eine den Verweis auf das unmittelbare innere Leben mit dem allgemeinen hermeneutischen Ansatz der zweiten Rede begründende Ausführung bei.115 Die Verstehensbemühungen der Religionstheorie der Reden dürfen also ihren Einsatz nicht bei den abgeleiteten, von Schleiermacher selbst in ihrem Valenzgehalt relativierten definitorischen Wesensbestimmungen der Religion nehmen, sondern bei der Beschreibung des diese Bestimmungen fundierenden, in das innere Leben lokalisierten lebendigen Aktes. Um die Leitgesichtspunkte einer systematischen Interpretation der tragenden Funktion der religiösen Uraffektion für die Religionstheorie der Reden zu gewinnen, gilt es zunächst, in einer Materialsammlung erstens Schleiermachers inhaltliche Beschreibungen der religiösen Uraffektion zusammenzustellen und zweitens die in den verweisenden Bezugnahmen auf diese religiöse Urimpression enthaltenen Beschreibungen auf ihren kommentierenden Gehalt zu prüfen. 116 B. Inhaltliche Beschreibungen 1. Der „erste geheimnisvolle
Augenblick"
in der zweiten
Rede.
a) Der „erste geheimnisvolle Augenblick" in der Erstauflage. Die wohl prominenteste und ergiebigste Beschreibung des religiösen Ureindruckes findet sich in der zweiten Rede als illustrativer Abschluß des affirmativen Erweisganges der ursprünglichen Zusammengehörigkeit von Anschauung und Gefühl.117 Ich werde sie im folgenden einer ausführlichen Betrachtung unterziehen, weil sich zeigen läßt, daß Schleiermacher hier bereits nahezu sämtliche das Wesen der religiösen Uraffektion prägenden Konstitutionselemente und Folgewirkungen nennt. Die Beschreibung selbst gliedert sich in zwei Teile: zunächst finden wir den stark metaphorisch angereicherten Versuch einer unmittelbaren Geschehensbeschreibung118, sodann den Versuch einer ap114 115 116
117 118
R 2 (1806) u n d R 3 ( 1 8 2 1 ) , ed. Pünjer 5 1 , 3 2 - 3 4 . H e r v o r h e b u n g v o n mir R 3 ( 1 8 2 1 ) , ed. Pünjer 1 3 4 , 4 0 - 1 3 5 , 2 6 ; vgl. das Teilzitat oben A n m . 103. Vgl. zum folgenden stets auch die Verortung der herangezogenen Stellen in den im A n h a n g beigegebenen Gliederungserwägungen (s.u. S. 3 3 3 f f ) . R 1 5 5 - 7 8 = K G A 1/2, 2 1 3 , 3 3 - 2 2 3 , 1 9 R 1 7 3 - 7 5 = K G A 1/2, 2 2 1 , 2 0 - 2 2 2 , 8
128
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
plikativen Deutung und Bewertung des Geschehens selbst. 1 1 9 Die Geschehensbeschreibung verfolgt zunächst erklärtermaßen das Ziel, die phänomenologische Anschaubarkeit des behaupteten ursprünglichen Einsseins - nicht einer ursprünglichen Indifferenz! - von Anschauung und Gefühl in einem innerseelischen Konstitutionsakt zu erweisen. 120 Die Beschreibung selbst setzt ein mit einem sich in den Reden häufig findenden, im konkreten Zusammenhang allerdings zunächst noch wenig aussagekräftigen relationalen Argument: Andeutungsweise wird auf die Strukturparallele dieses das Wesen der Religion konstituierenden Aktes mit jeder sinnlichen Wahrnehmung hingewiesen. 121 Der Akt selbst bekommt dagegen eine höchst ausdrucksvolle Bezeichnung: „Jener erste geheimnißvolle Augenblik" 1 2 2 . Die in dieser Benennung fokussierten Strukturmomente nennt Schleiermacher im unmittelbaren Anschluß: Die „Augenblicks"-Bezeichnung weist auf die immaterielle Flüchtigkeit und Unbeständigkeit des affektiven Geschehens 1 2 3 . Das Adjektiv „geheimnisvoll" scheint dagegen die Heiligkeit 1 2 4 und vor allem die Unbeschreiblichkeit 1 2 5 des Augenblickes zu indizieren. Bevor Schleiermachers Behandlung der zuletzt genannten Schwierigkeit betrachtet wird, müssen noch vier wesentliche Bestimmungen der Passage genannt werden: zunächst die Qualifizierung des Augenblickes als ,,göttliche[r] (...) Thätigkeit" 1 2 6 , darauf die Lokalisierung des Augenblicks in den innerseelischen menschlichen Bereich, das Gemüt 1 2 7 , die mit der vorangegangenen Qualifizierung offensichtlich vereinbar ist; sodann die Bestimmung des formal-resultativen Modus des Augenblicks: quasi-subjektiver Sinn und quasi-objektiver Gegenstand sind „gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden" - und schließlich die Bestimmung des unwiderruflichen Endes der Augenblickstätigkeit: das eher subjektinterne, sinnlich-fühlende und das eher subjektexterne, anschaulich-gegenständliche Konstitutionselement sind „beide an ihren ursprünglichen Plaz" 1 2 8 zurückgekehrt. 119 120 121 122 123
124 125 126 127 128
R 1 75-78 = K G A 1/2, 222,8-223,19 R 1 73 = K G A 1/2, 221,13-19 R 1 73 = K G A 1/2, 221,20f R 1 73 = K G A 1/2, 221,20 „(...) ich weiß (...), (...) wie schnell er vorüber geht, ich wollte aber Ihr könntet ihn festhalten (...)": R 1 73 = K G A 1/2, 221,23-25 R 1 73 = K G A 1/2, 221,27 R 1 73 = K G A 1/2, 221,24.27 R 1 73 = K G A 1/2, 221,25f R 1 73 = K G A 1/2, 221,26 R 1 73 = K G A 1/2, 221,23
II. D i e religiöse U r a f f e k t i o n
129
In der vereinheitlichenden Verbindung von offensichtlich nur im relativen Gegensatz zueinander stehenden Elementen besteht also die augenfällige, sich in Qualifizierung und Lokalisierung, Modifizierung und Fixierung widerspiegelnde Eigentümlichkeit der anvisierten Augenblickstätigkeit. Deren bereits angesprochene Artikulationsproblematik bewältigt Schleiermacher dann, indem er sich einer poetischen, bildhaften Redeweise bedient. Der eine solche Redeweise konstituierende Rückgriff auf einen Fundus geprägter Sinnbilder zielt dabei nun auffälligerweise keinesfalls in den Bildervorrat des religiösen Bereiches, sondern er bemüht die erotische Metaphorik 1 2 9 . Damit unterstreicht Schleiermacher den vitalen, soziativen, aktuosen und gänzlich unabstrakten Charakter des zu beschreibenden Augenblicks. Uber diese Formzuweisung hinaus lassen sich der Passage nähere Hinweise auf den Anlaß, den Inhalt, den Modus und die Qualität der Begegnung entnehmen, die nun vorgestellt werden müssen. Der Anlaß der Affektion kann, sehr allgemein, ebensogut in einer „Erscheinung" als in einer „Begebenheit" bestehen 1 3 0 . Entscheidend ist aber der spezifische Deutevorgang der Selbstdarstellungsweise jener Erscheinung oder Begebenheit, mit dem dieser Anlaß überhaupt erst in Konnex mit dem affizierten Subjekt tritt, der Begegnungsmodus selbst nämlich: Die affizierende Erscheinung oder Begebenheit gewinnt ihr affizierendes Potential erst durch die Metamorphose in eine quasi-materielle, form- und bildhaftig identifizierbare Gestalt 1 3 1 . Diese ihrerseits aktiviert nun die Annäherungsfähigkeit des Affizierten, ihr „flieht (...) meine Seele entgegen" 1 3 2 . Der Gehalt dieses nur scheinbar eine paradoxale Richtung einschlagenden Aktes des Entgegen-Fliehens erschließt sich im Blick auf seine Resultate: Er qualifiziert erstens den affizierenden Anlaß, indem er eine inhaltliche Bereichszuordnung vornimmt - Erscheinung oder Begebenheit werden zum „Bilde des Universums" 1 3 3 . Er qualifiziert zweitens sich selbst: sein eigenes Rezepti-
129
D i e s e M e t a p h o r i k konnte dann die E i n f ü h r u n g des rezeptionsgeschichtlichen Terminus „ L i e b e s s z e n e " rechtfertigen ( D a z u Seifert: T h e o l o g i e 75 A n m . 26). D a ß diese Gleichsetzung „strukturell" gemeint sei, hebt T i m m : Revolution 55f hervor. Vgl. auch Ringleben: R e d e n 247-253
130
R 1 74 = K G A 1/2, 221,32 R 1 74 = K G A 1/2, 221,33
131 132 133
R 1 273 = K G A 1/2, 712,25 R 1 74 = K G A 1/2, 221,32
130
Z w e i t e s Kapitel:
D i e F r ö m m i g k e i t s t h e o r i e in den R e d e n
onsvermögen besteht nämlich darin, daß er nicht mit einem Schatten des Affizierenden, sondern mit dessen Wesen selbst in Konnex tritt. 134 Mit der auf diese Bestimmungen folgenden Darstellung der unterschiedslosen Durchdrungenheit, wiederum in das Rahmenbild der geschlechtlichen Vereinigung integriert, ist die Schilderung des punktuellen Affizierungsvorganges selbst beendet. Was Schleiermacher folgen läßt, ist die Beschreibung der Resultate des Vorganges und seine applikative Deutung auf das in Frage stehende Wesen der Religion. Der Hinweis auf das Resultat des Vorgangs greift zunächst den bereits eingangs gegebenen Hinweis auf die Relokalisierung des Affizierenden und des Affizierten an die jeweils ursprünglichen Orter 135 wieder auf: Das unwiderrufliche Ende des Affektionsvorganges besteht in dem restrukturierenden Wiedergetrenntwerden des ursprünglich Getrennten, das Affizierende gewinnt seine - allerdings neu qualifizierte - Gestalthaftigkeit zurück und sondert sich vom Affizierten, das Affizierte seinerseits gewinnt seine reine - ebenfalls neu qualifizierte - Selbstbezüglichkeit zurück. Aus dieser Rückkunft der beiden den Moment konstituierenden Elemente nach dem Abschluß der momentkonstituierenden Einigung entspringen die Bezeichnungen „Anschauung" und „Gefühl", 1 3 6 deren problematischer und möglicherweise unzutreffender Sinngehalt im Blick auf die skizzierte Einigungsweise sich also bereits hier andeutet, indes erst unten 137 zur Debatte stehen soll. Denn einstweilen scheint mir die von Schleiermacher der Beschreibung des Affizierungsvorganges zur Seite gestellte Deutung und Bewertung 138 von vorrangigem Interesse zu sein. Hier ist zuerst folgendes zu nennen: Der Affizierungsvorgang selbst wird zunächst allgemein als universales Konstitutionsmoment der Religion überhaupt vorgestellt 139 - und zwar in der Weise, daß das Entstehen und die Authentizität jeder einzelnen individuell-persönlichen Religion sich der Gebundenheit an ihren je eigenen individuell-persönlichen Ursprungsmoment verdankt. 140 Und mehr noch: Schleiermacher setzt erstens ein 134
R 1 74 = K G A 1/2, 221,34f
135
R 1 73 = K G A 1/2, 221,23
136
R 1 74f = K G A 1/2, 221,40-222,6
,37
Vgl. unten A b s c h n i t t III.F.3.C (S. 181)
138
R 1 75-78 = K G A 1/2, 222,8-223,19
139
„ D i e s e r M o m e n t ist die h ö c h s t e Blüthe der R e l i g i o n . " ( R 1 75 = K G A 1/2, 222,6) „ E s ist die G e b u r t s s t u n d e alles L e b e n d i g e n in der R e l i g i o n . " ( R 1 75 = K G A 1/2, 222,8f)
140
R 1 75f = K G A 1/2, 222,13-37
II. Die religiöse Uraffektion
131
jedem frommen Subjekt zuzuschreibendes klares Bewußtsein dieses religionskonstituierenden Ureindruckes und zweitens die Rückführbarkeit jedes Inhaltes seiner individuellen Religion auf diesen konstitutiven Affekt voraus.141 Der „geheimnisvolle erste Augenblick" ist also, in der Ausschöpfung des im Adjektiv „erster" liegenden Doppelsinnes, in der Tat nicht nur das sachlich erste Moment der Religion überhaupt, sondern er ist auch das chronologisch erste Datum jeder individuell-persönlichen Religion. Die Kompromißlosigkeit, mit der Schleiermacher diese Vorstellung vertritt, erhellt dabei nicht nur aus den unten zu betrachtenden Parallelstellen, sondern im vorliegenden Zusammenhang vor allem aus der Negativabgrenzung: Alle individuelle Religion, die sich nicht in der skizzierten Weise ursprungsbezogen verorten läßt, verdient den Namen „Religion" nicht, sondern ist nichts anderes als blutleer konstruierte und insofern fratzenhaft karikierende Mimesis echter Frömmigkeit.142 (Es verbirgt sich, soviel sei vorweggenommen, hinter dieser radikalen Eingangsforderung der Frömmigkeitstheorie der Reden die m.E. sachlich bedenkliche Behauptung, daß die individuelle Frömmigkeit sich nicht nur einer individuellen, erlebnishaften, punktuellen Urimpression verdanke, sondern daß die Artikulierbarkeit vom Anlaß und vom Inhalt, ja: vom Datum und vom Ort dieses Geschehens als Prüfstein wahrer individueller Religiosität anzusehen sei. Ihren prätentiösen Charakter gewinnt diese sich auf jedes einzelne Subjekt erstreckende Forderung dabei dadurch, daß sie im Rahmen einer phänomenologisch verifizierenden Bestimmung eines Allgemeinbegriffs der Religion erhoben wird. Ich will indes den Blick auf den von Schleiermacher intendierten sachlichen Gehalt dieser religionskonstituierenden Urimpression durch diese prima facie abschreckende Eingangsforderung nicht ablenken lassen und werde daher den in der Schleiermacherschen Frömmigkeitstheorie selbst begründeten Widerspruch gegen die Universalität dieser Forderung nach der Rechenschaftsgabe zunächst hin141
142
„Das aber sei Euch gesagt: wenn ihr diese [sc.: die aus dem Urmoment hervorgegangenen Anschauungen und Gefühle] noch so vollkommen versteht, wenn Ihr sie in Euch zu haben glaubt im klarsten Bewußtsein, aber Ihr wißt nicht und könnt es nicht aufzeigen, daß sie aus solchen Augenbliken in euch entstanden (...) sind, so überredet Euch und mich nicht weiter, (...) es sind nur untergeschobene Kinder, (...) die Ihr im heimlichen Gefühl der eignen Schwäche adoptirt habt." (R 1 75 = K G A 1/2, 222,13-20) R 1 76f = K G A 1/2, 222,29-223,8
132
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
ter die Erhebung der Sachgestalt dieser Urimpression zurückstellen. 1 4 3 ) Die weiteren der Beschreibung der religiösen Uraffektion beigegebenen Deutungen und Wertungen sind rasch genannt. Erstens hält Schleiermacher in bezug auf die Urheberschaft des prägenden Eindrucks fest, daß das Konstitutionsgeschehen selbst sich einem göttlichen Schöpfungsakt verdanke 144 , und zweitens wird bereits auf eine Konstitutionsparallele zwischen der individuell-persönlichen Religion und dem menschlichen Bewußtsein aufmerksam gemacht. 145
b) Der „erste geheimnisvolle
Augenblick"
in den
Folgeauflagen.
Im Zuge der Umgestaltung des ersten Teils der zweiten Rede in den Folgeauflagen der Reden hat auch die hier zugrundegelegte ausführlichste Schilderung der religionskonstituierenden Uraffektion einige Umakzentuierungen erfahren. 146 Äußerlich gesehen ist zunächst auffällig, daß die rein bildhaften Züge der Geschehensbeschreibung in ihrem Umfang reduziert worden sind, während die verbliebenen Metaphern mit deutenden Erläuterungen durchschossen worden sind. Bestand der Reiz der Geschehensbeschreibung in der ersten Auflage gerade darin, daß er die für den religionskonstitutiven Moment reklamierte Unmittelbarkeit dem Hörer auch auf eine dessen unmittelbares, bildliches Rezeptionsvermögen ansprechende Weise zu verdeutlichen suchte, so droht diese auf der kommunikativen Metaebene angesiedelte Formalillustration der Unmittelbarkeit in den Folgeauflagen zu entschwinden. Hauptgegenstand dieser deutenden Erläuterungen ist nun - und damit stoßen wir auf die inhaltlichen Modifikationen - die Ergänzung und Erweiterung der dem geschilderten geheimnisvollen Augenblick zugewiesenen Konstitutivfunktion. Diese Ausweitung läßt sich zunächst bereits an der Einordnung der Geschehensbeschreibung in einen ausgedehnteren Kontext ablesen: Die beschriebene Uraffektion wird nicht länger nur als Ursprung der in der Kristallisation von Anschauungspotential und Gefühlspotential konstituierten Religion vorgestellt, sondern als so konstituierter Ursprung der Einheit von 143 144 145
146
Siehe dazu unten S. 144ff R 1 75 = K G A 1/2, 222,6f.ll „Aber es ist damit [sc.: mit der Geburtsstunde alles Lebendigen in der Religion] wie mit dem ersten Bewußtsein des Menschen, welches sich in das Dunkel einer ursprünglichen und ewigen Schöpfung zurükzieht, und ihm nur das hinterläßt was es erzeugt hat." (R 1 75 = K G A 1/2, 222,9-12) R 2 (1806), ed. Pünjer 55,17-56,21. R 3 (1821), ed. Pünjer ebda.
133
II. Die religiöse Uraffektion
präbewußter Religion, bewußtem Wissen und bewußtem Wollen 1 4 7 und damit zugleich als der Ursprung der Religion und als Ursprung eines jeden Bewußtseins. Unbedingt festzuhalten ist also - auch im Blick auf ein traditionelles Mißverständnis 148 - die Tatsache, daß das uraffektive Geschehen nicht etwa in einen neuen, sondern lediglich in einen weiteren Kontext gestellt wird: Schleiermacher hält nicht nur an der religionskonstitutiven Funktion der Uraffektion fest, sondern führt diese Funktion in einer ergänzenden Erweiterung ausdrücklich und ganz und gar im Sinne von R 1 auf das ursprüngliche Beieinandersein von Anschauung und Gefühl zurück. 1 4 9 Zusammenfassend ist also zu sagen: Die Modifikation in R 2 f bekräftigt die bereits in R 1 getroffene Feststellung der Provenienz des geheimnisvollen Augenblicks aus dem Bereich der Konstitution des Bewußtseins 150 , ohne damit jedoch die Aussagen über das religionsgenerative Vermögen der Urimpression zurückzunehmen: Die Geschehensbeschreibung in den Folgeauflagen der Reden hat im Vergleich zur Beschreibung der Erstauflage expansiven 151 , aber keinesfalls umbestimmenden Charakter. 2. Die „ erste bestimmte
religiöse Ansicht" in der fünften
Rede.
a) Die „erste bestimmte religiöse Ansicht" in der Erstauflage. Die zweite - seltener beachtete, dabei keinesfalls weniger ergiebige Zentralstelle unter den Beschreibungen des religiösen Ureindruckes
147 148 149
150
151
Vgl. R 2 (1806), ed. Pünjer 53,18-20. R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. Vgl. exemplarisch Huber: Entwicklung 59, dagegen Christ: Menschlich 163 „Was heißt Offenbarung? jede ursprüngliche und neue (...) Mittheilung des Universums an den Menschen ist eine und so würde jeder solche Moment, auf welchen ich oben gedeutet, wenn Ihr Euch seiner bewußt würdet, eine Offenbarung sein; nun aber ist jede Anschauung und jedes Gefühl, wo sie sich ursprünglich aus einem solchen entwickeln, aus einer Offenbarung hervorgegangen, die wir freilich als eine solche nicht vorzeigen können, weil sie jenseit des Bewußtseins liegt, die wir aber doch nicht nur voraussetzen müssen im Allgemeinen, sondern auch im Besondern muß ja Jeder wol am besten wissen, was ihm ein Wiederholtes und anderwärts her Erfahrenes ist (...)". R 2 (1806), ed. Pünjer 116,10-41. R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. (Der in R 3 wahrnehmbaren Tendenz zur Vermeidung des Universumsbegriffes entsprechend ist der Ausdruck „des Universums" dort durch den Ausdruck „des Weltalls und seines innersten Lebens" ersetzt.) Der Sachgehalt dieser Erweiterung kann erst unten (S. 189) zur systematischen Diskussion gelangen. Vgl. R 1 73 = K G A 1/2, 221,20-23: „Jener erste geheimnißvolle Augenblik, der bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen, wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden sind . . . " (Hervorhebung von mir). So auch Christ: Menschlich 163
134
Zweites Kapitel:
Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
findet sich in der fünften Rede 152 , und zwar im Zusammenhang des intendierten Nachweises einer Strukturanalogie zwischen der Entstehungsweise der individuell-persönlichen Religion des Einzelnen und der Entstehungsweise der organisierten, sich vergemeinschaftenden Religion 153 . Ganz im Sinne der Grundrichtung der fünften Rede, dem kontrastiv abhärtenden Nachweis der Verträglichkeit des in der zweiten Rede entfalteten Wesens der Religion mit der empirisch gegebenen Realform der Religion, betrachtet Schleiermacher hier nun die religionsgenerierende Uraffektion weniger im Blick auf ihre formalen Vollzugsbedingungen, sondern vor allem in Hinsicht auf die Bedingungen für ihre inhaltliche Bestimmtheit. Zunächst ist offensichtlich, daß Schleiermacher in der den Abschnitt einleitenden Aufforderung „Betrachtet noch einmal den erhabenen Augenblik in welchem der Mensch überhaupt zuerst in das Gebiet der Religion eintritt" 154 die Aufmerksamkeit der Hörer auf die (oben nachgezeichnete) Beschreibung des Konstitutionsaktes aus der zweiten Rede zurücklenkt. Soweit symbolhaltiges terminologisches Bildmaterial bemüht wird, ist dieses wiederum zur Gänze dem Metaphernbereich vitaler Verbindung entlehnt - nun freilich weniger im Hinblick auf das unmittelbar aktuose Gepräge der Vereinigung 155 als vielmehr auf dessen resultativen Charakter 156 : Nicht die Zeugung, sondern die Geburt des -geistigen Lebens wird betrachtet. Die für unseren Zusammenhang einschlägige Pointe dieser Passage besteht nun in dem Argumentationsziel, daß der in der zweiten Rede behauptete konstitutive Charakter der religiösen Uraffektion sich nicht nur auf den die Religion überhaupt generierenden Aspekt dieser Urimpression bezieht, sondern daß darüber hinaus im religionsstiftenden Ureindruck auch die spezifischen Inhalte der individuellen Religiosität determiniert sind. Schleiermachers Beschreibung des 152
R 1 2 6 4 - 2 6 8 = K G A 1/2, 3 0 5 , 2 6 - 3 0 7 , 1 6 i 2 5 9 - 2 7 2 = K G A 1/2, 3 0 3 , 2 3 - 3 0 8 , 3 2
153
R
154
R 1 2 6 4 = K G A 1/2, 3 0 5 , 2 6 - 2 8
155
„begrüßt und u m a r m t " (R 1 2 6 7 = K G A 1/2, 306,29); „Vermählung" (R 1 267 = K G A 1/2, 3 0 6 , 3 6 ) „zum Leben gebracht" (R 1 2 6 5 = K G A 1/2, 305,30); „zur Welt gebracht" (R 1 265 = K G A 1/2, 3 0 6 , l f ) ; „das ganze folgende religiöse Leben anknüpft" (R 1 266 = K G A 1/2, 306,9f); „sich gleichsam genetisch daraus entwikelt" (R 1 266 = K G A 1/2, 306,10); „ein neuer Mensch entsteht" (R 1 266 = K G A 1/2, 306,14f); „ein eignes religiöses L e b e n " ( R 1 2 6 6 = K G A 1/2, 306,22); „geistig geboren" (R 1 2 6 7 = K G A 1/2, 306,26); „die erste Kindheit seiner Religion" (R T 2 6 7 = K G A 1/2, 306,34); „Geburtstag seines geistigen Lebens" (R 1 268 = K G A 1/2, 307,5)
156
II. Die religiöse U r a f f e k t i o n
135
Geschehensablaufes setzt dabei unmittelbar nach dem in der zweiten Rede entfalteten Affektionsakt ein: Die Affektion selbst hat die bis dato schlummernde Anlage unwiderruflich vitalisiert und damit als spezifisch religiöses Organ qualifiziert - das Organ seinerseits erweist seine Lebendigkeit in reziproker Weise dadurch, daß es den in der Initiationsaffektion transportierten Inhalt nun als spezifisch religiöse Ansicht rezipiert. 157 Von beiden Seiten aus figuriert der qualifizierte Inhalt dabei als perspektivischer Fokus der Religion: Einerseits als Wirkung der Rezeption, insofern er das religiöse Subjekt zur religiös bestimmt geprägten Sicht des Universums aktiviert; andererseits als Wirkung der Affektion, insofern das Universum als religiös bestimmt geprägte Gestalt zu erscheinen vermag.158 Der fundamentale159 oder zentrale160 Charakter dieses Brennpunktes jeder individuellen Religion besteht also nicht nur darin, daß in ihm - wie die Passage der zweiten Rede hervorhob - der initiale Entstehungspunkt der Religion fixiert ist; sondern darüber hinaus erstens darin, daß er bestimmte empirisch erscheinende Individuationsformen des Universums als inhaltlich religiös qualifiziert 161 - und zweitens darin, daß er damit dem religiösen Rezeptionsvermögen selbst (in seiner Doppelgestalt als unmittelbarer Wahrnehmung und nachgängiger Reflexion 162 ) einen inhaltlichen Maßstab als Deutekategorie an die Hand gibt.163 Abschließend wiederholt Schleiermacher zwei die Bedeutung der religiösen Urimpression unterstreichende Aussagen aus der zweiten 157
„Die erste bestimmte religiöse Ansicht, die in sein [sc.: des Menschen] G e m ü t h mit einer solchen K r a f t eindringt, daß durch einen einzigen Reiz sein O r g a n fürs U n i v e r s u m z u m Leben gebracht und v o n nun an auf immer in Thätigkeit gesezt w i r d , bestimmt freilich seine Religion;" (R 1 264f = K G A 1/2, 3 0 5 , 2 8 - 3 1 )
158
„Sie [sc.: die erste bestimmte religiöse Ansicht] ist und bleibt seine FundamentalAnschauung in Beziehung auf welche er Alles ansehen w i r d , und es ist im Voraus bestimmt, in w e l c h e r Gestalt ihm jedes Element der Religion sobald er es w a h r nimmt, erscheinen muß" (R 1 2 6 5 = K G A 1/2, 3 0 5 , 3 1 - 3 4 )
159
R 1 265 = K G A 1/2, 305,32 R 1 2 6 0 = K G A 1/2, 304,2
160 161 162
R 1 264f = K G A 1/2, 3 0 5 , 2 8 - 3 3 „die eigene A r t w i e er die Betrachtung deßelben [sc.: die erste U m a r m u n g des G e m ü t s durch das U n i v e r s u m ] u n d die Reflexion darüber verarbeitet" (R 1 2 6 7 = K G A 1/2, 3 0 6 , 2 9 f ) „ ... durch den i m m e r w ä h r e n d e n Einfluß des Zustandes, in welchem sein G e m ü t h zuerst v o m U n i v e r s u m begrüßt und umarmt w o r d e n ist, (...), durch den C h a r a k t e r und Ton, in welchen dies die ganze folgende Reihe seiner religiösen Ansichten und G e f ü h l e hineinstimmt u n d welcher sich nie verliert, w i e w e i t er auch hernach in der A n s c h a u u n g des U n i v e r s u m s fortschreitet über das hinaus, was die erste Kindheit seiner Religion ihm darbot." (R 1 2 6 7 = K G A 1/2, 3 0 6 , 2 7 - 3 4 )
136
Zweites Kapitel:
Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
Rede, die im Kontext des hier Entfalteten zusätzliche Plausibilität gewinnen. Erstens: Weil das „Faktum" 1 6 4 der religiösen Uraffektion nicht nur für die näheren Entstehungsumstände jeder einzelnen Religion verantwortlich ist, sondern darüber hinaus auch deren je spezifische inhaltliche Gebundenheit determiniert, ist es in besonderem Maße „Dokument ( . . . ) [der] religiösen Individualität" 165 . Und zweitens wird vorausgesetzt, daß jedes so affizierte wahrhaft religiöse Subjekt „so den Geburtstag seines geistigen Lebens angeben und eine Wundergeschichte erzählen kann vom Ursprung seiner Religion, die als eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit und als eine Regung ihres Geistes erscheint" 1 6 6 : Diese Lokalisierbarkeit und Chronologisierbarkeit in das individuelle Leben ist der Ausweis der Authentizität der individuellen Frömmigkeit. 1 6 7
b) Die „erste bestimmte religiöse Ansicht" in den
Folgeauflagen.
Auch die hier betrachtete Passage erfährt in den Folgeauflagen der Reden 1 6 8 einige Umakzentuierungen, die jedoch den grundsätzlichen Gehalt der Erstauflage unangetastet lassen. Im einzelnen ist zunächst und hauptsächlich die Ergänzung um einen den Abschnitt einleitenden Analogieteil zu notieren, in dem die Zugehörigkeit zu einer gemeinschaftlichen Religion vergleichend gegen die Zugehörigkeit zu einem Staatswesen gehalten wird. 169 In beiden Fällen steht die Zugehörigkeit zu einer überindividuellen Organisation der Wahrung und Entfaltung der je eigenen Individualität keinesfalls hinderlich entgegen. Deutlicher noch als die Erstauflage benennen die Folgeauflagen dann das phänomenologisch Unverwechselbare der individuellen Religion des Einzelnen: „ ( . . . ) daß grade so wie sie ist, Niemand Theil daran nehmen kann, als er allein." 170 Darüber hinaus ist zu bemerken, daß in den Folgeauflagen der Reden die bereits in der Erstauflage bemühte G e burtsmetaphorik verdeutlicht wird 171 und dadurch die in der Erstauf-
164
R 1 2 6 7 . 2 6 8 = K G A 1 / 2 , 3 0 6 , 3 8 . 3 0 7 , 3 . Vgl. auch R 1 2 7 8 = K G A 1 / 2 , 311,14
165
R1 268 = K G A 1/2, 307,2
166
R1 268 = K G A 1/2, 307,5-8
167
R1 268 = K G A 1/2, 307,8-10
168
R 2 ( 1 8 0 6 ) , ed. Pünjer 2 6 1 , 2 2 - 2 6 5 , 3 5 . R 3 ( 1 8 2 1 ) , ed. Pünjer ebda.
169
R 2 ( 1 8 0 6 ) , ed. Pünjer 2 6 1 , 2 2 - 4 4 . R 3 ( 1 8 2 1 ) , ed. Pünjer ebda.
170
R 2 ( 1 8 0 6 ) , ed. Pünjer 2 6 2 , 3 0 - 3 2 . Vgl. auch R 3 ( 1 8 2 1 ) , ed. Pünjer a.a.O.: „ ( . . . ) daß sie v o l l k o m m e n so N i e m a n d e m eignen kann, als ihm allein."
171
„ O d e r hat es [sc.: das höhere Gefühl] sich d e m Anscheine nach plötzlich entwickelt nach vielleicht unerkannter Empfängniß und unter schnell vorübergehenden G e burtsschmerzen des Geistes: so ist auch dann seinem religiösen Leben nicht nur
137
II. Die religiöse Uraffektion
läge intendierte Verhältnisbestimmung zwischen dem „ersten geheimnisvollen Augenblick" und der „ersten religiösen Ansicht" verstärkt wird. Schließlich bleibt festzuhalten, daß die Forderung der Lokalisierbarkeit und Chronologisierbarkeit der religiösen Uraffektion im Vergleich zur Erstauflage relativiert wird 172 , worauf ich indes erst unten 173 eingehen werde.
3. Der Jesu individuelle
Religion fundierende
Ureindruck.
Die dritte Beschreibung der religiösen Uraffektion, die wir ausführlicher zur Kenntnis zu nehmen haben, findet sich ebenfalls in der fünften Rede 1 7 4 - und zwar im Zusammenhang jenes letzten großen applikativen Argumentationsganges 175 , in dem Schleiermacher den intendierten Nachweis einer Strukturanalogie zwischen der Fundamentalanschauung der individuell-persönlichen Religion und der Zentralanschauung einer gemeinschaftlichen Religion mit der Entfaltung des Zusammenhanges zwischen Jesu individuell-persönlicher Religion und der durch ihn fundierten gemeinschaftlichen Religion abschließt. In der Vorstellung der affektiv konstituierten, individuell religiösen Fundamentalanschauung Jesu 1 7 6 finden wir die von Schleiermacher für das Affektionsgeschehen als wesentlich statuierten Züge sämtlich wieder. Vorab, in der einleitenden Hervorhebung der qualitativen Vollkommenheit der Religion Jesu, wiederholt Schleiermacher en passant das Kriterium echter Religiosität: weder die sittliche Haltung noch die charakterliche Größe, sondern die Bestimmtheit, mit der die die Uraffektion begleitenden inhaltlichen und formalen Züge sich in der individuell-persönlichen Religion des Einzelnen Ausdruck zu verschaffen in der Lage sind, konstituiert den individuellen und authentischen Charakter seiner Religiosität. 177 Daß der Gehalt religiöser Individualität und Authentizität in deren Rückbindung an eieine eigene Persönlichkeit mitgeboren ( . . . ) " R 2 ( 1 8 0 6 ) , ed. Pünjer 2 6 2 , 3 8 - 4 2 ; R 3 ( 1 8 2 1 ) , ed. Pünjer ebda. 172
Vgl. R 2 ( 1 8 0 6 ) , ed. Pünjer 2 6 4 , 4 2 - 2 6 5 , 3 5 ( R 3 [ 1 8 2 1 ] , ed. Pünjer ebda.) mit R 1 2 6 8 = K G A 1 / 2 , 3 0 7 , 1 2 - 1 6 und die Beigabe der Erläuterung N r . 10 z u r fünften Rede ( R 3 [ 1 8 2 1 ] , ed. Pünjer 2 9 5 , 7 - 1 0 ) .
173
S.u. S. 147
174
In der Entfaltung dieses Gedankenganges modifizieren die Folgeauflagen die E r s t auflage nicht in sachlicher Hinsicht, sondern nur durch den Eintrag stilistischer Veränderungen, so daß ich mich hier auf die Erstauflage beschränken kann.
175
R
176
R1 3 0 1 - 3 0 5 = K G A 1/2, 321,17-323,9
i 2 9 9 - 3 0 5 = K G A 1/2, 320,10-323,9
177
R 1 301 = K G A 1 / 2 , 3 2 1 , 6 - 1 7
138
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
nen prägenden Ureindruck besteht, wiederholt Schleiermacher noch einmal darin, daß er die Grundschwierigkeit einer Darstellung der individuellen Religion Jesu ausdrücklich in der Unmöglichkeit dieser Rechenschaftsgabe sieht.178 Um so eindeutiger freilich lassen sich Inhalt und Äußerungen dieser offensichtlich ureindrücklich konstituierten individuellen Religion benennen. Zunächst, ihr Inhalt besteht in dem unmittelbaren Gewahrwerden der in ihm selbst und durch ihn selbst faktisch ins Werk gesetzten Vermittlung zwischen Endlichem und Unendlichem 179 : Darin besteht die „Einzigkeit" 180 und „Ursprünglichkeit" 181 der Religiosität Jesu als Bedingung der Möglichkeit erstens der nachgängigen, die christliche Religionsgemeinschaft fundierenden Zentralanschauung 182 und zweitens der auch tatsächlich ausgeübten Mittlerfunktion Jesu 183 . Als Verifikationsinstanz dieser Bestimmung der Zentralanschauung Jesu dienen Schleiermacher die messianischen Selbstprädikationen Jesu: Sie sind die authentischen, notwendigen Äußerungen der prägenden Uranschauung. 184 Nun hat sich Schleiermacher in der bisherigen Bezugnahme auf den religiösen Ureindruck Jesu auf die (hinsichtlich ihres Anlasses und ihrer Wirkung) ursprünglich außersubjektiv zu verortenden, zur gegenständlichen Idee avancierenden Spuren des affizierenden Momentes beschränkt. Soll die applikative Wiederholung der bisher entwickelten Züge dieses affizierenden Eindrucks tatsächlich in der hier behaupteten elementaren Vollständigkeit bestehen, so müßten sich auch Hinweise auf solche Spuren finden, die der religiöse Affekt vor aller Metamorphose zur Bewußtheit am unverändert innersubjektiven Ort als dessen Modifikation hinterläßt. In der Tat benennt Schleiermacher den Außerungsmodus einer solchen rein innersubjektiven 178
R 1 301 f = K G A 1/2, 3 2 1 , 1 7 - 2 4
179
R 1 302f = K G A 1/2, 3 2 1 , 2 4 - 3 2 2 , 4 R 1 302 = K G A 1/2, 322,2
180 181 182
183 184
R 1 302f = K G A 1/2, 322,3 U m der sprachlich und gliederungstechnisch in der f ü n f t e n Rede gegebenen Verwechslungsgefahr vorzubeugen, sei ausdrücklich angemerkt: Dieser ureindrücklich, persönlich gegebene Inhalt ist, nach Schleiermacherscher Vorstellung, dann in seiner abstrahierten und o f f e n e n Gestalt als Idee der N o t w e n d i g k e i t und Möglichkeit der Vermittelbarkeit zwischen Endlichem und Unendlichem (R 1 2 9 1 - 2 9 3 = K G A 1/2, 3 1 6 , 2 6 - 3 1 7 , 3 3 ; R 1 301 = K G A 1/2, 3 2 1 , 1 6 f ; R 1 3 0 3 - 3 0 5 = K G A 1/2, 3 2 2 , 1 6 323,9) nach den z u v o r v o n Schleiermacher entfalteten Strukturgesetzen (R 1 2 5 9 - 2 7 2 = K G A 1/2, 3 0 3 , 2 3 - 3 0 8 , 3 2 ) zur Fundamentalanschauung der v o n Jesus gegründeten gemeinschaftlichen Religion avanciert. R 1 303 = K G A 1/2, 3 2 2 , 3 - 5 R 1 303 = K G A 1/2, 3 2 2 , 5 - 1 6
II. D i e religiöse U r a f f e k t i o n
139
Selbstbezüglichkeit im religiösen Leben Jesu nun einige Zeilen vor der hier betrachteten Passage: im Anschluß an jenen Passus nämlich, in dem auf das die allgemeine christliche Zentralanschauung begleitende universale Grundgefühl verwiesen wird. 1 8 5 (Diese Kontextzuordnung ist darin gerechtfertigt, daß die affektiv geprägte vorinhaltliche A u s drucksform des subjektiven Sinnes - anders als dessen individuelle inhaltliche Auffüllung - in der von Schleiermacher betrachteten Allgemeinform tatsächlich allen christlich-religiösen Gemütern gemeinsam ist.) Als diese universale Ausdrucksform der innersubjektiven Spuren der religiösen Urimpression wird nun von Schleiermacher die „heilige Wehmuth" 1 8 6 genannt. Damit ist der Kreis der ausführlicher zu betrachtenden zentralen Beschreibungen der religiösen Uraffektion geschlossen. Vor der systematischen Ausdeutung des gesammelten Materials ist indes noch ein Blick auf Einzelaspekte akzentuierende Bezugnahmen zu werfen. C. Weitere Rückverweise auf die religiöse Uraffektion Die weiteren sich in den Reden findenden einzelnen Rückgänge auf den prägenden religiösen Ureindruck unterstreichen und illustrieren jeweils einzelne an den oben betrachteten ausführlichen Schilderungen der religiösen Uraffektion wahrgenommenen Züge, fügen indes keine neuen mehr hinzu. Zunächst sind zwei eher allgemeine Hinweise auf die generative Funktion der religiösen Uraffektion für die Religion überhaupt zu notieren. Der erste dieser Hinweise 1 8 7 findet sich z u m Abschluß der Diskussion einer angemessenen Handhabung der Selbstanschauung 1 8 8 in der dritten Rede und stellt bereits in der Wahl des aufgebotenen knappen metaphorischen Materials 1 8 9 einen expliziten 1 9 0 Rekurs auf die oben als „erster geheimnisvoller Augenblick" betrachtete Zentralschilderung der religiösen Uraffektion dar: Sie wird hier von Schleiermacher als der universale und angemessene Einsatzpunkt 185
R
i
2 9 9
=
K G A
I/2)
321,10-20
186
R
1
2 9 9
=
K G A
I/2)
320,19
187 188
R 1 1 6 1 f = K G A 1/2, 2 5 9 , 3 0 - 3 8 R 1 1 5 6 - 1 6 2 = K G A 1/2, 2 5 7 , 2 1 - 2 6 0 , 1 1
189
„den f r i s c h e s t e n D u f t des j u n g e n L e b e n s in heiliger S e h n s u c h t u n d L i e b e ( . . . ) a u s a t h m e n " ( R 1 1 6 1 = K G A 1/2, 2 5 9 , 3 1 f ) , „ d e m b e s c h ä m t e n ü b e r sich selbst, d e m e r r ö t h e n d e n ( . . . ) einen v o n jenen t i e f d r i n g e n d e n B l i k e n z u g e w o r f e n hätte, die das niedergesenkte A u g e f ü h l t , o h n e sie zu sehen" ( R 1 1 6 1 f = K G A 1/2, 2 5 9 , 3 5 - 3 7 )
190
„hier stehe sie [sc.: die entfaltete U b e r z e u g u n g ] n o c h einmal" ( R 1 1 6 2 = K G A 1/2, 259,37f)
140
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
der Selbstbetrachtung vorgestellt. Der zweite dieser Hinweise 1 9 1 wiederholt (ebenfalls z u m Schluß der Erörterung der auch in der Haltung ihrer Mitglieder wurzelnden Defizienzgestalt der äußeren Kirche 1 9 2 ) die - ihrerseits auch zum Bewußtsein zu bringende - Abgeleitetheit aller Elemente der Religion aus ihrem affektiven Entstehungsgeschehen. 1 9 3 Daran anschließend ist auf eine Passage aufmerksam zu machen, in der Schleiermacher die Primatsbehauptung der Uraffektion für die ihr nachgängige Reflexion 1 9 4 in einen nachgerade als F o k u s der Religionstheorie zu bezeichnenden, zusammenfassenden Hinweis auf den kennzeichnenden D o p p e l z u g des individuellen religiösen Lebens münden läßt 1 9 5 : So, wie die Betrachtung der Welt in der Selbstbetrachtung vermittelt ist 1 9 6 , ist auch das Gewahrwerden der Außenursprünglichkeit der universalen, göttlichen Einwirkungen auf den Menschen in einem nur als innenursprünglich lokalisierbaren Geschehen manifest 1 9 7 . Insofern ist dieses authentische, unnachahmliche Affektionsgeschehen selbst als U r s p r u n g individueller Religion zu bezeichnen. 1 9 8 Ich werde auf diese Passage zurückzukommen haben, im vorliegenden Zusammenhang kann es nur u m die Feststellung des Rekurses auf den aktuosen religiösen Ureindruck gehen. D e s weiteren findet sich eine Reihe von Verweisen auf den religiösen U r a f f e k t in der Betrachtung des in der Religion vorausgesetzten komplexen Verhältnisses zwischen dem Affizierenden und dem Affizierten. Dieses Verhältnis bezieht seine spezifische Problematik daraus, daß es weder in der Rubrizierung als Objektives und Subjektives noch in der Rubrizierung als Göttliches und Menschliches noch in der Rubrizierung als Spontanes und Rezeptives aufgeht. Auch diesen Sachverhalt gilt es unten genauer zu betrachten, hier soll einstR 1 197-199 = K G A 1/2, 276,5-36 192 R i 192-199 = K G A 1/2, 274,1-290,38 191
Vgl. zum Letztgenannten auch den folgenden, die hermeneutische Idealbedingung der Verständigung über die Religion auf deren Aktcharakter beziehenden Passus aus der ersten Rede: „(...) so liegt die Sache der Religion und so selten ist sie, daß wer von ihr etwas ausspricht, muß es nothwendig gehabt haben, denn er hat es nirgends gehört. Von allem was ich als ihr Werk preise und fühle steht wohl wenig in heiligen Büchern, und wem der es nicht selbst e r f u h r , wäre es nicht ein Argerniß oder eine Thorheit?" (R 1 15 = K G A 1/2, 195,19-24. Hervorhebung von mir) 194 R i 119-122 = K G A 1/2, 241,15-242,23 193
195 196 197 198
R1 R1 R1 R1
120f = K G A 1/2, 241,20-35 120 = K G A 1/2, 241,20-24 120 = K G A 1/2, 241,24-30 120f = K G A 1/2, 241,30-35
II. D i e religiöse U r a f f e k t i o n
141
weilen nur festgestellt werden, daß Schleiermacher eine sachgetreue Abbildung dieses Verhältnisses jenseits bzw. vor aller Artikulierbarkeit in den Akt des religiösen Ureindrucks verlegt. So wird erstens die Weise, in der der religiöse Mittler seine rezeptiv empfangenen religiösen Eindrücke zum Zwecke der spontaneitätsgeleiteten Mitteilung vergegenständlicht und insofern transformiert, als etwas in der duplizitären Struktur der religiösen Uraffektion selbst Vorgegebenes beschrieben. 1 9 9 Zweitens wird in der ersten programmatischen Geschehensbeschreibung selbst innerhalb der ersten Rede 2 0 0 (neben der Erwähnung der Willkürlichkeit jeder inhaltlichen Fixierung 2 0 1 und der Lokalisierung des Geschehens in den innerseelischen Bereich 2 0 2 ) der Hauptakzent auf die aktuose Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen 2 0 3 gesetzt. 2 0 4 U n d drittens wird auch in der die fünfte Rede einleitenden Anleitung zur Betrachtung des in der Anschauung des Universums begriffenen religiösen Menschen 2 0 5 das komplexe Wirkverhältnis zwischen der Offenheit des Menschen und den Einwirkungen des Universums illustriert durch den Verweis auf die Fokussierung dieses Verhältnisses in dem durch die religionsgenerierende Uraffektion gebildeten „köstlichen Moment des menschlichen Daseins" 2 0 6 . Als nächstes ist festzuhalten, daß Schleiermacher gelegentlich auch ausschließlich den Moment der präreflexiven und prävoluntativen Unmittelbarkeit der religiösen Affektion unterstreicht. Gerät Schleiermacher hierbei in starke terminologische Abhängigkeit zur Schilderung des Bekehrungserlebnisses, so ist diese Verwandtschaft eben gerade auch Kennzeichen des in den Reden vorausgesetzten Affektionsmodus: „(...) wenn es wahr ist daß es schnelle Bekehrungen giebt, Veranlaßungen durch welche dem Menschen, der an nichts weniger dachte als sich über das Endliche zu erheben, in einem Moment wie durch R 1 1 If = K G A 1/2, 193,22-37. R 2 f betonen in der entsprechenden Passage stärker die den C h a r a k t e r des Mittlers b e s t i m m e n d e innere N o t w e n d i g k e i t u n d Zweckfreiheit der Artikulation des Vermittelnden. ( R 2 [1806], ed. Pünjer 9,9-10,40; R 3 [1821] ebda.) 200 R i 2 9 f = K G A 1/2, 201,22-32 199
201
R 1 29f = K G A 1/2, 201,22
202
R 1 29f = K G A 1/2, 201,23.26.33 R 1 29f = K G A 1/2, 201,25-33
203
R 2 f streichen hier die Assoziationsanlässe auf das affektive Geschehen und entfalten den G r u n d g e d a n k e n stärker v o m Begriff der O f f e n b a r u n g her. ( R 2 [1806], ed. Pünjer 24,21-35; R 3 [1821], ed. Pünjer ebda.) 205 R i 235-237 = K G A 1/2, 293,1-294,13 204
206
R 1 235 = K G A 1/2, 293,24f
142
Zweites Kapitel:
D i e Frömmigkeitstheorie in den R e d e n
eine innere unmmittelbare Erleuchtung der Sinn fürs Universum aufgeht, und es ihn überfällt mit seiner Herrlichkeit; (...)" 2 0 7 . Sodann betont Schleiermacher auch im Zusammenhang der Entfaltung der kommunikativen Pflegebedürftigkeit des religiösen Rezeptionsvermögens 2 0 8 zu Beginn der dritten Rede (notierenswerterweise wiederum in der aus der ersten Rede bereits bekannten FunkenMetaphorik 2 0 9 ) die Stringenz, mit der derjenige (strukturell beliebige) Inhalt, dessen die religiöse Uraffektion sich als Träger bediente, zum prägenden Inhalt der je individuellen Religion avanciert. 210 Und schließlich finden wir eine weitere Passage, in der Schleiermacher die persönliche Rechenschaftsgabe über die die individuell-persönliche Religion konstituierende Uraffektion nicht - wie in den zum Zusammenhang bereits genannten Abschnitten - als Forderung erhebt, sondern den Hörern als hermeneutische Hilfe zum Verständnis der Religion empfiehlt: der von jedem religiösen Menschen faktisch längst wahrgenommenen Heiligung des „ersten geheimnisvollen Augenblickes" halber. 211 D . Zusammenfassung der konstanten Züge des uraffizierenden Vorganges Versucht man, auf dem Hintergrund der genannten Materialzusammenstellung sich die von Schleiermacher ins Auge gefaßten konstanten Züge der religionsgenerierenden Uraffektion zu vergegenwärtigen, so wird man folgende Feststellungen treffen müssen: (a) Die Affektion ist in den innerseelischen Bereich zu lokalisieren, (b) Der Affektionsmodus entzieht sich dabei jeder Steuerung durch die Tätigkeit des Bewußtseins und des Willens, (c) Gleichwohl eignet dem Affektionsgeschehen aus der Sicht des Affizierten unabweisbare Realität. (d) Der punktuelle Charakter des Affektionsvorganges darf nicht darüber täuschen, daß es sich um einen folgereichen und insofern auch Kontinuität schaffenden Vorgang handelt, (e) Das Affektionsgeschehen selbst ist prinzipiell unabhängig von den in ihm transportierten konkreten Inhalten - fest umreißbar ist dagegen der Formalcharak207
208
R 1 167 = K G A 1/2, 262,12-17 im Z u s a m m e n h a n g der Ablehnung der Kunstbetrachtung als R i c h t u n g des religiösen Sinnes. R 1 142-144 = K G A 1/2, 251,32-252,8
209
Vgl. R 1 29f = K G A 1/2, 201,22-38
210
R 1 142 = K G A 1/2, 251,20-31 R 1 282f = K G A 1/2, 313,8-25
211
II. D i e religiöse U r a f f e k t i o n
143
ter des Affektionsereignisses, (f) Damit stoßen wir nun auf den wesentlichen Zug des religiösen Ureindruckes, seine Formbestimmtheit. Allgemein und an oberster Stelle ist festzuhalten, daß die religiöse Affektion einer duplizitär verfaßten Grundstruktur gehorcht. Diese Grundstruktur verschafft sich nun in Anlaß, Wirkweise und Resultat der Affektion Geltung. Denn der seine Eigentümlichkeit begründende formale Gehalt der Affektion besteht darin, daß qualitativ und kategorial unterschiedene Pole in der Affektion selbst so zusammentreffen, daß sie zur punktuellen Einheit verschmelzen, ohne doch die dieser Einheit vor- und nachgängige Eigenständigkeit aufzugeben, sondern indem sich diese Eigenständigkeit erst qua Berührungsvorgang erweist. Alle wesentlichen, das Affektionsgeschehen dimensionierenden Grundverhältnisse sind in der skizzierten Weise parallel strukturiert: Erstens (was die Affektionsträger betrifft) das Verhältnis zwischen Affizierendem und Affiziertem, zweitens (was den Affektionsmodus betrifft) das Verhältnis zwischen Aktions- und Reaktionsvermögen sowohl auf Seiten des Affizierenden wie auch auf seiten des Affizierten, drittens (was den Affektionsinhalt betrifft) das Verhältnis zwischen dessen transzendentem und dessen immanentem Gehalt und viertens (was die Affektionswirkung betrifft) das Verhältnis zwischen der resultativen Modifikation der primär der Innenwelt zurechenbaren Sphäre und der primär der Außenwelt zuzubuchenden Sphäre. In der materialen Füllung dieser Themenbereiche wird die vorausgesetzte Parallelstruktur deutlich. So ist die religiöse Affektion erstens Handlung des Universums am Menschen: Göttliche Schöpfungsmacht greift aktiv verändernd in den menschlichen Lebensvollzug ein und qualifiziert darin sich selbst als spezifisch göttlich und den Lebensvollzug als spezifisch menschlich. Zweitens: Die Aktivität des Universums vitalisiert die rezeptive Anlage des Menschen zur spontan zu nennenden Aufnahme, in der dem Universum nun keinerlei Aktivität mehr zukommt. Wesentliches Kennzeichen dieser Aufnahmetätigkeit des Menschen ist das Gewahrwerden der Angewiesenheit seiner religiösen Anlage auf diese Vitalisierung. Drittens: D e n inhaltlichen Anlaß der Affektion bildet - in abstraktester Hinsicht - die Erscheinung des Unendlichen in der Gebundenheit an Endliches. Der Ausdruck dieses Erscheinungsmodus im Subjekt besteht in dessen Gewahrwerden der Differenz zwischen Endlichem und Unendlichem. Viertens: Der resultative Fokus all dieser Wahrnehmungen von Differenz in deren Einheitspunkt wird durch die subjektive Unterscheidung des von außen in gegenständli-
144
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
eher Form Hinzugetretenen einerseits von dem innerlich disponentiell Qualifizierten andererseits ausgedrückt. Damit sind die aus den Geschehensbeschreibungen ableitbaren Grundzüge der religiösen Uraffektion zusammengefaßt. Bevor ich mich von hier aus der eigentlichen Wesensbestimmung der Religion zuwende, sind zwei Einzelanmerkungen zur Schleiermacherschen Auffassung der Uraffektion nachzutragen. Die erste betrifft die Vergleichbarkeit dieses Affektionsvorganges mit anderen Formen des religiösen Erschließungsgeschehens, die zweite betrifft die geforderte Möglichkeit zur Rechenschaftsgabe über diese Uraffektion. Erstens: Es mag sich zunächst nahelegen, das von Schleiermacher beschriebene Affektionsgeschehen im Blick auf seinen Urheber als „Offenbarung", im Blick auf seinen Empfänger als „Bekehrung" zu bezeichnen. Derartige Benennungen legt in der Tat ja auch der Sprachgebrauch der Reden nahe.212 Dabei stellt sich freilich die Frage nach dem Erklärungswert dieser traditionellen Ausdrücke für die von Schleiermacher reklamierte Komplexität des Affektionsgeschehens und es legt sich vielmehr der Eindruck nahe, daß nicht die traditionellen Ausdrücke den Sinngehalt des Affektionsgeschehens erläutern, sondern daß umgekehrt die Schleiermachersche komplexe Vorstellung des Offenbarungsgeschehens sich über die Beschreibung des Affektionsgeschehens erschließt. In jedem Falle wird man bei dem Versuch einer Nachzeichnung des eigentümlichen, differenzierten und weiten Offenbarungsverständnisses der Reden auf die oben vorgestellten Geschehensbeschreibungen zurückgreifen müssen213; umgekehrt das in den Beschreibungen Gemeinte durch das traditionelle Etikett „Offenbarung" oder „Bekehrung" nur unzureichend ausgedrückt und schon gar nicht erläutert finden. Zweitens: Die oben zurückgestellte Diskussion der von Schleiermacher geforderten Möglichkeit und Bereitwilligkeit, über die religionskonstituierende Urimpression Auskunft zu geben, kann jetzt nachgeholt werden. Vermag die Schleiermachersche Theorie von der punktuellen Einschlägigkeit eines religionsgenerierenden Ureindrucks vor allem deswegen zu überzeugen, weil sie allein die gegenseitig vernetzte Abhängigkeit und die funktionale Gleichzeitigkeit der mannigfaltigen 212
213
Vgl. zum Offenbarungsbegriff allein aus der zweiten Rede die folgenden ausgewählten Stellen: R 1 91.93.97.118.120. = K G A 1/2, 229,4. 230,5. 232,1. 240,39-43. 241,22. Der Ausdruck „Bekehrung" findet sich m.W. nur an einer einzigen Stelle der Reden: R 1 167 = K G A 1/2, 262,13. Vgl. das Verfahren bei Hirsch: Geschichte IV 553 und Seifert: Theologie 76f
II. Die religiöse Uraffektion
145
Konstitutionselemente festzuhalten in der Lage ist, so stellt doch andererseits eben diese für die Uraffektion reklamierte feindifferenzierte Komplexität den Grund der Überraschung für die Forderung nach vollständiger Rechenschaftsgabe dar. Denn die Forderung nach Auskunft über die Uraffektion impliziert die Möglichkeit der Bewußtheit des uraffektiven Momentes; die Möglichkeit der Bewußtheit des uraffektiven Momentes impliziert die Möglichkeit der zweifelsfreien Feststellung des einen uraffektiven Momentes; die Möglichkeit der Feststellbarkeit des einen Momentes impliziert die Möglichkeit der einsichtsvollen Kenntnis und bewußten Anwendung der Kriterien des religiösen Ureindrucks. Die Problematik der Schleiermacherschen Vorstellung einer solchen umfassenden Auskunftsmöglichkeit besteht also nicht in der Behauptung der faktischen Einschlägigkeit der Urimpression und auch nicht in der Behauptung der als sensationell empfundenen Wirkmächtigkeit der Urimpression, sondern in der Behauptung der Möglichkeit einer zweifeisfreien Qualifikation der Uraffektion als solche durch jedes religiöse Subjekt. Denn diese Forderung setzt ein hochgradig selbstbewußtes Reflexionsvermögen voraus, das ja eben gerade im Statut der Einschlägigkeit und Unverfügbarkeit der Uraffektion als bedingende Voraussetzung der Religion abgewiesen werden sollte. In der Allgemeingültigkeit der Forderung nach zweifelsfreier Auskunftmöglichkeit liegt also ein im Duktus der Reden als empirische Notwendigkeit eingeführtes Argument, das zu der Grundintention der Einführung des urimpressiven Momentes im kontradiktorischen Widerspruch steht. Allerdings wird man trotz der Feststellung dieser Widersprüchlichkeit die Frage nach den Motiven stellen können, die Schleiermacher zum Eintrag der Forderung nach einer solchen Form der Rechenschaftsgabe in die Theorie der religiösen Uraffektion bewogen haben. Nach meinem Dafürhalten ist zuerst an Schleiermachers persönliche, in der herrnhutischen religiösen Erziehung sozialisationsbedingte Vertrautheit mit dem Phänomen der öffentlichen Wahrnehmung und Präsentation religiöser Erlebnisse zu denken. 214 Schlei-
214
Vergleiche in diesem Zusammenhang auch die Erwägung der angemessenen F o r m religiöser Selbstauskunft in der Landsberger Antrittspredigt 1794 (SW I I / 7 [2. Sammlung, 1. Predigt] 208,25-209,25. - Die prägende Wirkung der Erlebnisse in Niesky und Barby heben auch Eck: Individualität 26-33; Fischer: Subjektivität 21-28 und Herms: Herkunft 23-35 hervor.
146
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
ermachers diesbezüglichen Selbstzeugnisse 215 verraten eine starke Sicherheit und Selbstverständlichkeit in den Hinweisen auf einen solchen frömmigkeitsgründenden Augenblick, die auch durch den Eindruck, daß hier auf (mindestens zwei) voneinander verschiedene situative Anlässe verwiesen wird, keinesfalls geschmälert wird. 2 1 6 Ein zweiter Grund für diese Forderung nach Rechenschaftsgabe über die individuelle religionskonstituierende Uraffektion wird darin zu sehen sein, daß die Chronologisierbarkeit dieses frömmigkeitsgenerierenden Momentes die Historizität und damit die Realität der Religion vermittelt. Ich werde diesen Punkt unten in anderem Zusammenhang ausführlicher betrachten können. 2 1 7 Einen dritten Grund schließlich für den Eintrag der allgemeinen Forderung in die Erstauflage der Reden nennt deren dritte Auflage: er ist in der Intention zu sehen, gegen alle aktuellen Versuche rationaler Konstruktion der Religion deren Positivität und Faktizität zu beto-
215
V g l . ü b e r die in der folgenden A n m e r k u n g ausführlicher betrachteten Beispiele hinaus auch Briefe I 281,17-31 (vom J u n i 1801 an E.v.Willich); Briefe I 294,18-295,13 (vom 30.4.1802 an G. Reimer); Briefe II 21,13-28 (vom 6.4.1805 an H.v.Willich, seine spätere Frau); Briefe II 331,8-19 (vom 30.8.1817 an seine Frau).
216
Vgl. nur die folgenden drei Ä u ß e r u n g e n der Jahre 1794, 1802 u n d 1806 in b e z u g auf ihren chronologisierenden und lokalisierenden Gehalt: Zunächst 1794: „Wir hielten uns bis z u r Entscheidung [sc.: die Entscheidung über die A u f n a h m e des jungen Schleiermacher in das P ä d a g o g i u m der Brüdergemeine in N i e s k y ] einige Wochen in G n a d e n f r e i auf u n d hier w u r d e der G r u n d zu einer Herrschaft der Phantasie in Sachen der R e l i g i o n gelegt, die mich bei etwas w e n i g e r Kaltblütigkeit wahrscheinlich zu einem S c h w ä r m e r gemacht haben w ü r d e , der ich aber in der That mancherlei sehr schätzbare Erfahrungen verdanke ( . . . ) . " (Selbstbiographie 1794 in Briefe I 7,1-6). Sodann 1802: „ ( . . . ) das erste [sc.: Gefühl], w a s sich entwickelte, w a r u n m i t telbar das religiöse; ich kann mich noch seiner ersten R e g u n g entsinnen auf einem Spaziergange mit m e i n e m Vater." (Briefe I 318,2-4 vom 19.8.1802 an Eleonore G r u n o w ) . Dagegen heißt es 1806: „Aber in meinem elften Jahre zogen meine Eltern in Oberschlesien auf das Land ( . . . ) . Da ist ein H a u s , das mein Vater zuerst bewohnt, ein Garten, den er zuerst eingerichtet hat und den ich mit habe schaffen helfen, da regte sich mir zuerst F r ö m m i g k e i t , u n d es ist der weiteste Punkt, zu d e m ich mein inneres Leben z u r ü c k verfolgen kann." (BrMeisner II 60, 14-18 v o m M ä r z 1806 an C h a r l o t t e Pistorius). Die zuletztgenannte Briefstelle von 1806, die anders als die Selbstbiographie nicht ins J a h r 1783, sondern ins J a h r 1779 datiert u n d anders als die Briefstelle von 1802 nicht auf einen Spaziergang, sondern in einen Garten weist, w i r d bei den B e m ü h u n g e n u m eine eindeutige Datierung in der Regel nicht z u r Kenntnis g e n o m m e n - vgl. exemplarisch Kantzenbach: Schleiermacher 13,10-15, der überdies die Briefstelle des Jahres 1802 in überinterpretierender (bzw. mit Briefe I 281,29 v o m J u n i 1801 an E.v.Willich vermischender) U n g e n a u i g k e i t zitiert. - Zur biographischen W i r k m ä c h t i g k e i t dieses religiösen U r d a t u m s insgesamt vgl. M e y e r : B r ü d e r g e m e i n e 258-268 und Fischer: Subjektivität 22f S.u. S. 157f
217
II. Die religiöse U r a f f e k t i o n
147
nen. 218 Und in der Tat läßt sich feststellen, daß Schleiermacher dann in späteren Äußerungen zum Thema 219 - völlig im Sinne der oben eingetragenen Überlegungen - in selbstkorrigierender Form erstens den apodiktischen Charakter der Forderung nach zweifelsfreier Rechenschaftsgabe abschwächt und zweitens die Möglichkeit zugesteht, daß die Konstitutionsumstände des religiösen Lebens sich seinem Affektionsempfänger als Entwicklung darstellen mögen. Er hält dabei jedoch unverändert an der Uberzeugung von der qualitativen Differenz zwischen einem einzigen, faktisch punktuellen Konstitutionsereignis und den von diesem Moment ausgehenden (dem Affektionsempfänger als Entwicklungspunkte erscheinenden) rekapitulativen Selbstmanifestationen dieses Konstitutionsaffektes fest. Das Ziel einer solchen Argumentation besteht also gerade im Festhalten an der Behauptung der konstitutiven Funktion der Urimpression für die individuelle Religion durch die Preisgabe ihrer Verknüpfung mit der sinnentstellenden Forderung nach einer allgemeinen, zweifelsfreien Auskunftsmöglichkeit. So wird man abschließend erstens mit dem späteren Schleiermacher gegen den frühen Schleiermacher die individuelle Rechenschaftsgabe als Möglichkeit zugeben können, jedoch nicht als apodiktische Forderung und schon gar nicht als Qualitätsmerkmal individueller Religiosität behaupten wollen. Und zweitens wird man zugeben müssen, daß die Behauptung der religions konstitutiven Potenz dieser Uraffektion in der Urauflage der Reden durch die sinnwidrige und überdies später revozierte Behauptung der Möglichkeit einer allgemeinen, zweifelsfreien Rechenschaftsgabe über diese Uraffektion überhaupt nicht tangiert wird.
218
„Der Oppositionscharakter, den dieses Buch durch und durch an sich trägt, w i r d es dem, welcher sich die damalige Zeit vergegenwärtiget, sehr begreiflich machen, daß ich hier vorzüglich die Sache derer vertheidige, welche den A n f a n g ihres religiösen Lebens auf einen bestimmten Augenblick zurückführen." (R 3 [1821], ed. Pünjer 2 9 5 , 7 - 1 0 [Erläuterung N r . 1 0 zur f ü n f t e n Rede])
219
Vgl. etwa R 3 ( 1 8 2 1 ) , ed. Pünjer 2 9 5 f (Erläuterung N r . 1 0 zur f ü n f t e n Rede) oder auch die Predigt ü b e r J o h 3 , 1 - 8 ( S W II/l [3. Sammlung, 9. Predigt] bes. 5 0 4 - 5 0 9 )
148
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
III. Das aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion Die von Schleiermacher als Ziel der Reden ins Auge gefaßte Bestimmung des allgemeinen und universalen Wesens der Religion 220 besteht nun in nichts anderem als in der abstrahierenden Entfaltung der für die religiöse Uraffektion als wesentlich erhobenen Züge. Der religiösen Uraffektion kommt so nicht nur der Rang des entscheidenden, generativen Konstitutionselementes der individuell-persönlichen Religion des einzelnen zu, sondern im Wesen des uraffektiven Vorganges sind die wesenhaften Züge der allgemein-universalen Gestalt der Religion angelegt: Das Wesen der Religion bildet sich im Wesen des uraffektiven Geschehens ab. Schleiermacher entfaltet die Theorie der Religion also, dies ist die Leitthese meiner Interpretation, als die Theorie derjenigen universalen Bedingungen, die als Ermöglichungsbedingungen des faktisch vorliegenden individuellen Affiziertwerdens vorauszusetzen sind. Anders gewendet: Der methodische Einsatz der Religionstheorie besteht darin, daß im Ausgang von der Faktizität des Affiziertwerdens rekonstruktiv gefragt wird, wie Welt und Universum, Mensch und Gott beschaffen sein müssen, weil und nachdem es eine folgenreiche individuelle religiöse Uraffektion gibt. Daß und warum Schleiermacher die individuelle religiöse Uraffektion als Grund, Anlaß und Prüfstein der Ausbildung einer Religionstheorie gilt, ließ sich also nicht nur oben und in der Analyse des Aufbaus der Reden daran sehen, daß die Uraffektion stets als unmittelbare Evidenz beanspruchendes Illustrationsmaterial der abstrakten Bestimmungen über das Wesen der Religion diente, sondern dies soll sich jetzt im Gegenzug
220
„Nicht einzelne Empfindungen will ich aufregen, die vielleicht in ihr [sc.: der Religion] Gebiet gehören, nicht einzelne Vorstellungen rechtfertigen oder bestreiten; in die innerste Tiefen möchte ich Euch geleiten, ( . . . ) auf die Zinnen des Tempels möchte ich Euch führen, daß Ihr das ganze Heiligthum übersehen und seine innersten Geheimnisse entdeken möget." (R 1 19f = K G A 1/2, 197,12-19.) Zum Wesensgedanken vgl. auch die folgenden Passagen: Die Zentralbemühung der Reden sei der Nachweis, daß die Religion es wert ist, „ihrem innersten Wesen nach gekannt zu werden" (R 1 37 = K G A 1/2, 204,370- Die zentrale Frage der zweiten Rede (mit dem Thema „Uber das Wesen der Religion"!) sei die Beantwortung der großen und umfassenden Frage, „ ,was die Religion ist'" (R 1 38 = K G A 1/2, 206,6). Nicht Denken und Handeln, sondern Anschauung und Gefühl werden als „Wesen" der Religion vorgestellt (R 1 50 = K G A 1/2, 211,32). Das zentrale Vermög en des Ausdrucks „Anschauung des Universums" bestehe darin, daß sie „die allgemeinste und höchste Formel der Religion [ist], woraus Ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Gränzen aufs genaueste bestimmen laßen" (R 1 55 = K G A 1/2, 213,35-37).
III. D a s aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
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auch daran zeigen, daß in den für die Schleiermachersche Vorstellung der religiösen Uraffektion als wesentlich erkannten Zügen bereits die Theorie des Wesens der Religion enthalten ist. Die hier gegebene Vorstellung dieser aus der Beschreibung der religiösen Uraffektion abgeleiteten Wesensbestimmung der Religion lehnt sich daher an die oben im Abschnitt II.D in der Zusammenfassung der konstanten Züge des uraffizierenden Vorganges gewählte Reihenfolge an. 221 Ich beginne also wieder mit der Beschreibung der statischen Züge der Religion, um darauf folgend die duplizitäre Verfaßtheit der Religion in der Beschreibung ihrer dynamischen Seite zu benennen. Auch für die hier zu gebende Zusammenfassung gilt also, was oben bereits für die Zusammenfassung der Züge der religiösen Uraffektion galt und was von Schleiermacher für die in den Reden gegebene Wesensbeschreibung der Religion zu bedenken gegeben war 2 2 2 : Die diversifizierende Diskussion ihrer Wesensbestandteile ist darstellungstechnisch unvermeidlich, darf aber über die Behauptung der inneren Einheitlichkeit des Wesens und der funktionalen Gleichzeitigkeit und gegenseitigen Ergänzung der namhaft gemachten Züge keinesfalls hinwegtäuschen. A. Der Sitz der Religion Schleiermacher weist der Religion einen eindeutigen Sitz zu: den innerseelischen Bereich des Menschen. 2 2 3 In dieser Zuweisung liegt zunächst eine anthropologische bzw. psychologische Voraussetzung: Daß nämlich im religiösen Menschen eine spezielle religiöse „Anlage" schlummere, in der die Religion sich niederlassen und manifestieren könne. 2 2 4 Diese Voraussetzung entfaltet Schleiermacher zum einen im Rekurs auf psychologische Grundannahmen 2 2 5 und zum anderen im Blick auf das Binnenverhältnis der in der Anlage liegenden seelischen Modi 2 2 6 . Hier muß einstweilen der Hinweis genügen, daß Schleier221 222 223
224
225 226
S.o.S. 142 R 1 71-73 = K G A 1/2, 220,29-221,19 „ ( . . . ) daß ihr [sc.: der Religion] eine eigne Provinz im G e m ü t h e angehört ( . . . ) " : R 1 37 = K G A 1/2, 204,35 „ D e r Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder andern" (R 1 144 = K G A 1/2, 252,9f). „ ( . . . ) zeigen möchte ich Euch aus welchen Anlagen der Menschheit sie [sc.: die Religion] hervorgeht" (R 1 20 = K G A 1/2, 197,15f). „ D a ß sie aus dem Inneren jeder beßern Seele nothwendig von selbst entspringt" (R 1 37 = K G A 1/2, 204,34f). Vgl. dazu unten S. 167 Vgl. dazu unten 5. 181
150
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
macher einen innerseelischen, präreflexiven Aufnahmemodus für die Religion voraussetzt, den er den religiösen Sinn nennt; daneben setzt er einen ebenfalls präreflexiven Gestaltungsmodus des Aufgenommenen voraus, den er als Phantasie bezeichnet; und er kennt einen speziellen innerseelischen Ort, an den der gesamte präreflexive Aufnahmemodus - also auch der religiöse - und der gesamte präreflexive Gestaltungsmodus - also auch der religiöse - zu lokalisieren sind, den er das Gemüt nennt. In der Zuweisung der Religion in den innerseelischen Bereich des Menschen liegt, abgesehen von ihrem anthropologischen Sachgehalt, aber auch eine erkenntnistheoretische Voraussetzung: Uber das Wesen der Religion kann nichts ausgesagt werden, was sich nicht in der Seele des Menschen manifestierte. Die Wesensbestimmung der Religion vollzieht sich also als Betrachtung der menschlichen Seele - als Selbstbetrachtung. 227 B. Die Unterschiedenheit der Religion vom Wissen und vom Wollen Der berühmte ,,schneidende[] Gegensaz" 228 der Religion zu Metaphysik und Moral, der als explikative Negativbestimmung die Reden durchzieht, besteht dabei zunächst und ursprünglich in der Unterschiedenheit der innerseelischen religiösen Funktion von den beiden anderen grundlegenden innerseelischen Funktionsmodi, dem Wissen und dem Wollen bzw. dem Denken und dem Handeln. 229 Denn dieser Unterschied ist zunächst keinesfalls in den etwa differenten Objekten der Seelenfunktionen gegeben, sondern in den unterschiedlichen Annäherungsmodi an den identischen Gegenstand: Die religiöse Funktion sieht ihren Gegenstand zweckfrei an bzw. läßt sich von ihm 227
„ N u r Euch also kann ich zu mir rufen (...), die Ihr den beschwerlichen Weg in das Innere des menschlichen Wesens nicht scheuet, u m den G r u n d seines Tuns und D e n k e n s zu finden." (R 1 2 0 = K G A 1/2, 197,26-30). Die Modifikationen in R 2 („ ... den beschwerlichen Weg in das Wesen des menschlichen Geistes ... ") und R 3 : („ ... den beschwerlichen Weg in die Tiefen des menschlichen Geistes ... ") (R 2 [1806], ed. Pünjer 1 5 , 4 1 - 4 6 . R 3 ebda.) w i r k e n begrifflich schwächer, scheinen aber sachlich dasselbe zu meinen und betonen den hermeneutischen Aspekt dieses erkenntnistheoretischen Postulates: „Darum kann nun Jeder jede Thätigkeit des Geistes nur insofern verstehen, als er sie zugleich in sich selbst finden und anschauen kann." (R 2 [1806], ed. Pünjer 3 5 , 2 1 - 2 3 ; R 3 ebda.) Vgl. auch R 1 2 7 = K G A 1/2, 2 0 0 , 2 6 - 2 9 . R 1 89 = K G A 1/2, 228,22f
228
R ' 50 = K G A 1/2, 2 1 1 , 2 3
229
„Ihr [sc.: der Religion] Wesen ist w e d e r D e n k e n noch Handeln, sondern Anschauung und G e f ü h l " (R 1 50 = K G A 1/2, 2 1 1 , 3 2 f )
III. Das aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
151
in zweckfreier Weise ergreifen 230 , während die wissende oder handelnde Funktion stets eine absichtsvolle Modifikation des Gegenstandes zum Ziel hat 2 3 1 . Von dieser Beobachtung aus überträgt Schleiermacher dann die Unterschiedenheit der Seelenfunktionen auf die resultativen, wißbaren Produkte der einzelnen Funktionen 2 3 2 und stellt in abstrahierender Weise fest: die Religion hat mit der Metaphysik und der Moral „denselben Gegenstand (...), nemlich das Universum und das Verhältniß des Menschen zu ihm" 233 - unterschieden sind sie dagegen in ihrem Habitus diesem identischen Objekt gegenüber. 234 Den Annäherungsmodus der denkenden bzw. wissenden Metaphysik an das Universum und den Annäherungsmodus der wollenden bzw. handelnden Moral an das Universum gleichermaßen kennzeichnend sind zunächst zwei formale Eigenschaften: Erstens deren systematisierende Methode 2 3 5 und zweitens das unmittelbar anthropozen230
231
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233 234
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Vgl. die Benennung des - Religion und Moral verwechselnden - Mißverständnisses der Religion in der ersten Rede: „Aber sie [sc.: die Religion] soll ganz eigentlich dienen, ( . . . ) einen Z w e k soll sie haben, und nüzlich soll sie sich erweisen. Welche Erniedrigung!" (R 1 35 = KG A 1/2, 204,7-9). Vgl. auch: „Mit diesem weiten Blik und diesem Gefühl des Unendlichen sieht sie aber auch das an was außer ihrem eigenen Gebiete liegt, und enthält in sich die Anlage zur unbeschränktesten Vielseitigkeit im Urtheil und in der Betrachtung ( . . . ) " (R 1 64f = K G A 1/2, 217,35-38). Den wichtigen Aspekt der Zweckfreiheit erkennt auch Piper als einen konstanten Zug der religiösen Affektion (Piper: Erlebnis 58, 39-46), zieht dessen Funktion als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal der Religion von Wissen und Handeln aber bedauerlicherweise nicht aus. „Wer nur systematisch denken und nach Grundsaz und Absicht handeln, und dies und jenes ausrichten will in der Welt ( . . . ) " (R 1 65 = K G A 1/2, 218,4f) Hierbei figuriert die „ M e t a p h y s i k " als der resultative Komplex der denkenden und wissenden Funktion, die „Moral" als derjenige der wollenden und handelnden F u n k tion und die „Religion" als der die religiösen ( - anschauenden und fühlenden, w i e zu erläutern sein w i r d - ) Funktionen in sich begreifende Komplex. Die Differenz zwischen M e t a p h y s i k , Moral und Religion w i r d z u m A u s d r u c k gebracht z.B. in R 1 25. 48. 50. 63. 284. = K G A 1/2, 199,22f. 210,40-211,3. 211,22-24. 217,10-12. 314,1-7 R 1 41 = K G A 1/2, 207,37f „Soll sie [sc.: die Religion] sich also unterscheiden, so muß sie ihnen ungeachtet des gleichen Stoffs auf irgend eine Art entgegengesezt sein; sie muß diesen Stoff ganz anders behandeln, ein anderes Verhältniß der Menschen zu demselben ausdrüken oder bearbeiten, eine andere Verfahrungsart oder ein anderes Ziel haben: denn nur dadurch kann dasjenige, w a s dem Stoff nach einem andern gleich ist, eine besondere N a t u r und ein eigenthümliches Dasein bekommen." ( R ' 42 = K G A 1/2, 208,814). Die völlige Umgestaltung der R 1 41-47 in R 2 f (ed. Pünjer 34-42) stellt das in unserem Zusammenhang erst unten zu betrachtende Problem des Verhältnisses zwischen M e t a p h y s i k , Moral und Religion in den Vordergrund und w i d m e t dem Problem des differenten Habitus bedauerlicherweise geringere Aufmerksamkeit. Nämlich: „zu verbinden und in ein Ganzes zusammenzustellen", „Zusammenhang mit andern [sc.: Werken des Universums] oder Abhängigkeit von ihnen" festzustellen, „Ableitung und A n k n ü p f u n g " vorzunehmen. (R 1 58 = K G A 1/2, 215,5-11)
152
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
trische Bild des Universums 2 3 6 . Im einzelnen beschreibt Schleiermacher dann als den Annäherungsmodus der Metaphysik an das Universum eine analytisch erkennende Haltung 2 3 7 , als den Annäherungsmodus der Moral nennt er die regelhaft gestaltende Haltung 2 3 8 . Der Annäherungsmodus der Religion wird dagegen im Zusammenhang der oben genannten Bestimmungen teils negativ kontrastiert 239 , teils aber auch positiv bestimmt. Zunächst zur Methode und Perspektive: Das integrale, nicht anthropozentrische Bild des Universums 2 4 0 verschafft sich darin Ausdruck, daß es eine verborgene, in innerer Obligatheit be236
„Jene [sc.: Metaphysik und Moral] sehen im ganzen Universum nur den Menschen als Mittelpunkt aller Beziehungen, als Bedingung alles Seins und Ursach alles Werdens" ( R · 51 = K G A 1/2, 211,38-40).
237
„sie [sc.: die auch Transzendentalphilosophie zu nennende Metaphysik] klaßifizirt das Universum und theilt es ab in solche Wesen und solche, sie geht den Gründen deßen was da ist nach, und deducirt die Nothwendigkeit des Wirklichen, sie entspinnet aus sich selbst die Realität der Welt und ihre Geseze" (R 1 42 = K G A 1/2, 208,16-19). Die Metaphysik enthält „Meinungen" (R 1 44 = K G A 1/2, 209,5). Sie „begehrt ( . . . ) das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären" (R 1 50 = K G A 1/2, 21 l,29f). „Die Metaphysik geht aus von der endlichen Natur des Menschen, und will aus ihrem einfachsten Begriff, und aus dem Umfang ihrer Kräfte und ihrer Empfänglichkeit mit Bewußtsein bestimmen, was das Universum für ihn sein kann und wie er es nothwendig erbliken muß" (R 1 51 = K G A 1/2, 212,2-5). Sie grübelt „über das Sein dieses Gottes vor der Welt und außer der Welt" ( R ' 57f = K G A 1/2, 214,39).
238
„Sie [sc.: die Moral] entwikelt aus der Natur des Menschen und seines Verhältnißes gegen das Universum ein System von Pflichten, sie gebietet und untersagt Handlungen mit unumschränkter Gewalt." (R 1 43 = K G A 1/2, 208,24-26). Die Moral enthält , , G e b o t e [ ] für ein menschliches Leben" (R 1 44 = K G A 1/2, 209,6). Sie begehrt, wie man rückschließen kann, (aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen) das Universum „fortzubilden und fertig zu machen" (R 1 50 = K G A 1/2, 211,30-32). „Die Moral geht vom Bewußtsein der Freiheit aus, deren Reich will sie ins Unendliche erweitern, und ihr alles unterwürfig machen" (R 1 51 = K G A 1/2, 212,10-12)
239
„Sie [sc.: die Religion] darf nicht die Tendenz haben Wesen zu sezen und Naturen zu bestimmen, sich in ein Unendliches von Gründen und Deductionen zu verlieren, lezte Ursachen aufzusuchen und ewige Wahrheiten auszusprechen (...) sie darf das Universum nicht brauchen um Pflichten abzuleiten, sie darf keinen Kodex von Gesezen enthalten." (R 1 43 = K G A 1/2, 208,20-28)
240
„Sie [sc.: die Religion] will im Menschen nicht weniger als in allen andern Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen, deßen Abdruk, deßen Darstellung. ( . . . ) Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen; was in dieser alles Einzelne und so auch der Mensch gilt, und wo alles und auch er treiben und bleiben mag in dieser ewigen Gährung einzelner Formen und Wesen, das will sie in stiller Ergebenheit im Einzelnen anschauen und ahnden. (...) Die Religion athmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseit des Spiels seiner besondern Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er das sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht." (R 1 51 £ = K G A 1/2, 211,40-212,15). „(...) alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als
III. Das aus den Z ü g e n der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
153
stehende241 Systematizität voraussetzt, statt sich um deren Enthüllung zu bemühen. Im einzelnen ist der Habitus der Religion dem Universum gegenüber dann durch das Fehlen jeglichen Gestaltungs- und Durchdringungswillens charakterisiert: Vielmehr ist die primäre Haltung der Religion die der Sensibilität und Empfangsbereitschaft für diejenigen Handlungen, in denen das Universum sich selbst offenbart und manifestiert.242 Dieser Habitus dem Universum gegenüber ist es, der das Charakteristikum der Religion vor Metaphysik und Moral ausmacht. Uberschaut man die Gesamtgestalt des von Schleiermacher entwickelten religiösen Habitus dem Universum gegenüber, so läßt sich erkennen, daß diesem Habitus zwei gleichursprüngliche Züge eigen sind, eine gegenstandsbezügliche und eine selbstbezügliche Richtung. Das Reziprozitätsverhältnis dieser beiden - bekanntermaßen problemhaltig als „Anschauung" und „Gefühl" terminologisierten - Konstitutionselemente des religiösen Habitus und damit dessen innerer Aufbau soll unten243 genauer betrachtet werden. Hier gilt es indes, die von Schleiermacher intendierte Struktur des Zusammenhanges zwischen Religion, Metaphysik und Moral in den Blick zu fassen - zunächst nur für die Urauflage der Reden. Nach dem bisher Gesagten läßt sich erkennen, daß dieser Zusammenhang in der Verbindbarkeit der drei unterschiedlichen Habitus gründet: So, wie die Differenz zwischen Religion, Metaphysik und Moral als Differenz zwischen den jeweiligen Verhaltensmodi dem Universum gegenüber gefunden worden war, muß nun auch der von Schleiermacher vorausgesetzte Konnex zwischen Religion, Metaphysik und Moral im Zusammenhang der Modi gesucht werden. Und in der Tat besteht der Grund dafür, daß die von Metaphysik und Moral unterschiedene Religion gleichwohl „als das nothwendige und unentbehrliche Dritte" 244 eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion" (R 1 56 = K G A 1 / 2 , 214,14f). 241
242
„Alles was ist, ist für sie [sc.: die Religion] nothwendig, und alles was sein kann, ist ihr ein wahres unentbehrliches Bild des U n e n d l i c h e n ; " ( R 1 6 5 = K G A 1 / 2 , 2 1 8 , 1 lf). Vgl. auch R 1 52 = K G A 1 / 2 , 2 1 2 , 1 2 - 1 5 und: „Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines G o t t e s vorstellen, das ist Religion" ( R ' 5 7 = K G A 1 / 2 , 2 1 4 , 3 6 - 3 8 ) . „ ( . . . ) in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es [sc.: das U n i versum] andächtig belauschen, v o n seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen laßen." (R 1 5 0 = K G A 1 / 2 , 2 1 1 , 3 4 - 3 6 ) . Vgl. auch R 1 5 6 = K G A 1 / 2 , 2 1 4 , 9 - 1 5 .
243
S.u.S. 181
244
R 1 52 = K G A 1 / 2 , 2 1 2 , 2 0 f
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Zweites Kapitel:
Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
zu Wissen und Wollen tritt, in der Ergänzungsbedürftigkeit ihrer jeweiligen Funktionsmodi: Erst die Fundierung durch den religiösen Habitus sichert dem wissenden und dem wollenden Modus Gegenstandsgemäßheit und Zielsicherheit. Denn erst in einer solchen Fundierung, die alles real Erscheinende als endlich gebundene Darstellung des Unendlichen deutet245, erlangt der wollende Modus Gewißheit über die realen Handlungsmöglichkeiten des Menschen 246 und erhält der wissende Modus eine Bestätigung für den „höhern Realismus" 247 seines analytischen Erkennens - nämlich: einen „Prüfstein (...)> um zu wißen, ob er etwas ordentliches darüber [sc.: das Universum] gedacht hat" 248 . Die so feststellbare Parallelität zwischen der Eigenursprünglichkeit der Religion und deren notwendiger Begleitfunktion für die beiden anderen Geistesmodi faßt Schleiermacher, exemplarisch auf das Handeln bezogen, förmlich katechisierend wie folgt zusammen: „Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Thun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion thun, nichts aus Religion." 249 Kann die hier vorgetragene Interpretation Plausibilität beanspruchen, so hat dies zwei Folgen für die notorische Kritik an der Schleiermacherschen Verhältnisbestimmung zwischen Metaphysik, Moral und Religion. Erstens nämlich wird damit der Vorwurf der inneren Widersprüchlichkeit dieser Verhältnisbestimmung hinfällig.250 Denn im Blick auf die aus der religiösen Uraffektion abgeleitete seelische Grundfunktion der Religion ist es keinesfalls mehr inadäquat, wenn Schleiermacher einerseits die aus der Eigenursprünglichkeit der Religion entspringende qualitative Unterschiedenheit der Religion von Metaphysik und Moral statuiert, andererseits deren notwendige Begleitfunktion für alles Wissen und Wollen behauptet. Der Vorwurf einer solchen Widersprüchlichkeit läßt sich dann auch für die Folgeauflagen der Reden nicht länger aufrechterhalten. Im Gegenteil wird man 245
D e n n d e m wollenden Modus allein fehlt das „Grundgefühl der unendlichen und lebendigen N a t u r ( . . . ) , deren Symbol Mannichfaltigkeit und Individualität ist" (R 1 53 = K G A 1 / 2 , 2 1 3 , 3 - 5 ) ; und d e m wissenden M o d u s allein fehlt das „Gefühl des U n e n d l i c h e n " (R 1 54 = K G A 1 / 2 , 2 1 3 , 1 3 ) .
246
Weil sie nicht länger den Menschen „dem Universum entgegen[]sezt", sondern ihn „als einen Theil deßelben und als etwas heiliges" versteht. ( R 53 = K G A 1 / 2 , 2 1 2 , 3 7 213,1)
247
R 1 54 = K G A 1 / 2 , 2 1 3 , 2 2
248
R 1 54 = K G A 1 / 2 , 2 1 3 , 1 8 f
249
R 1 68f = K G A 1 / 2 , 2 1 9 , 2 1 - 2 4
250 v g i
exemplarisch H u b e r : Entwicklung 4 0
III. D a s aus den Z ü g e n der U r a f f e k t i o n abstrahierbare Wesen der Religion
155
sogar sagen müssen, daß in R 2 und in R 3 die doppelte Beanspruchung der Religion (einerseits als eigenursprüngliches Seelenvermögen, andererseits als der die beiden anderen Geistesfunktionen qualifizierende Modus) noch stärker betont wird und um den Gedanken bereichert ist, daß erst die das Wissen und das Wollen qualifizierende Funktion der Religion die Einheitlichkeit des menschlichen Gemütes sichert. 251 Zweitens bestätigt sich damit aber die Vermutung, daß die von Schleiermacher gewählte begriffliche Fassung denkbar ungeeignet zur Entfaltung der originären argumentativen Intention ist. Bleibt der begriffliche Gehalt der Ausdrücke „Anschauung" und „ G e f ü h l " schon in R 1 weit hinter der den Termini offensichtlich zugedachten Explikationsleistung zurück, so verschleiert die in R 2 und R 3 wahrnehmbare modifizierende Applikation des Sprachgebrauches auf das hier zuletzt in Frage stehende Phänomen der Widerspruchslosigkeit von Eigenursprünglichkeit und integrativer Funktion der Religion das Argumentationsziel in der Tat vollends. 2 5 2 Ich werde auf das Verhältnis des hinter den Begriffen Gemeinten unten 253 zurückzukommen haben. C . Die Realität der Religion Die Frage nach der Realität der Religion erfährt in den Reden ebenfalls eine aus dem Wesen der religiösen Uraffektion abgeleitete, doppelgestaltige Antwort: Aus der Faktizität des Affektionsgeschehens leitet Schleiermacher erstens den realen, zweitens den obligaten und drittens den geschichtlichen Charakter der Religion ab. Die Frage nach der Realität der Religion beantworten die Reden mit dem Hinweis auf die individuelle und damit geschichtliche Faktizität der Religion. Diesen sich aus dem Voranstehenden bereits nahelegenden Argumentationsgang gilt es im folgenden nachzuzeichnen. Zunächst ist an eine oben im Zusammenhang der exegetischen Erwägungen der Schleiermacherschen Beschreibungen des Affektionsgeschehens getroffene Beobachtung zu erinnern. Im Argumentationsduktus der Reden trägt der Verweis auf die religiöse Uraffektion nicht nur illustrativen oder bekräftigenden, exemplifizierenden Charakter, sondern ihm wird regelmäßig die argumentative Funktion eines empirisch verifizierenden Beleges für die Richtigkeit des thetisch Entfal251
252 253
Vgl. den N a c h w e i s bei G r a f : K o i n z i d e n z 158-176, dort auch zahlreiche Belege, die ich hier nicht wiederhole. Vgl. G r a f : K o i n z i d e n z 177-186 S.u.S. 181
156
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
teten zugedacht: Weil z.B. der bifunktionale Modus der Religion 2 5 4 oder die Verbindbarkeit individuell-persönlicher mit gemeinschaftlicher Religion 2 5 5 oder das Verhältnis zwischen Mensch und Universum 2 5 6 sich in dem Uraffektionsgeschehen in adäquater und anschaulicher Form abbilden, dient Schleiermacher der Hinweis auf die faktische Gestalt des Affektionsgeschehens als beweiskräftiges Explikationsmuster. Exemplarische Deutlichkeit gewinnt diese - in der Sache selbst begründete - Argumentationstechnik in der rhetorischen Gestalt der von der Entfaltung des Zusammenhanges individueller und gemeinschaftlicher Zentralanschauung zur Uraffektion überleitenden Phrase „Betrachtet noch einmal den erhabenen Augenblik in welchem der Mensch überhaupt zuerst in das Gebiet der Religion eintritt." 2 5 7 Darüber hinaus findet sich in der zweiten Rede auch der dezidierte Hinweis auf die Ableitbarkeit der Wahrheit der Religion aus der Uraffektion. 2 5 8 N u n bleibt Schleiermacher in der Erwägung des Realitätsgehaltes der Religion freilich nicht bei dem Hinweis auf die Faktizität der Uraffektion stehen. Die Vermutung, der Wahrheitsgehalt der Religion werde mit dem Hinweis auf die Gewißheit des Affektionsgeschehens abschließend und hinreichend beantwortet 2 5 9 , wird der differenzierten Aufmerksamkeit, den die Reden diesem Komplex widmen, nicht gerecht. Vielmehr bildet die Einsicht in den evidenten Charakter des Affektionsgeschehens den Einsatzpunkt für die Schleiermacherschen Erwägungen zum Realitätsgehalt der Religion. Denn erstens schließt Schleiermacher, wie wir sahen, aus der Faktizität der religiösen Uraffektion auf den Charakter der religiösen Anlage des Menschen als einer anthropologischen Konstante mit obligaten Zügen und wesensfundierender - nämlich: das Menschsein des Menschen bestimmender - Qualität. 2 6 0 Zweitens leitet Schleiermacher, wie ebenfalls bereits angesprochen wurde, aus dem evidenten Gehalt 254 255 256 257 258
259 260
Z.B. R 1 71-73 = K G A 1/2, 220,29-231,19 Z.B. R 1 261-264 = K G A 1/2, 304,9-305,19 Z.B. R 1 235-237 = K G A 1/2, 293,1-294,13 R 1 264 = K G A 1/2, 305,26-28 „Nicht nur eine einzelne Thatsache oder Handlung, die man ihre ursprüngliche und erste nennen könnte, sondern alles ist in ihr unmittelbar und für sich wahr." (R 1 58 = K G A 1/2, 215,12-14) So Piper: Erlebnis 93-100, bes. 95 „Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder andern" (R 1 144 = K G A 1/2, 252,9f). „(...) zeigen möchte ich Euch aus welchen Anlagen der Menschheit sie [sc.: die Religion] hervorgeht" (R 1 20 = K G A 1/2, 197,15f). „Daß
III. Das aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
157
der religiösen Uraffektion aber nicht nur die Notwendigkeit eines religiösen Organs des Menschen, sondern auch den obligaten Charakter der Religion selbst ab: Die Religion ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine universale Notwendigkeit. 261 Aber ihre spezifische Realität gewinnt die Religion (in ihrer individuellen und in ihrer universalen Form) erst dann, wenn sie sich in überindividuell anschaulicher und vitaler Gestalt manifestiert 262 indem sie nämlich in der Geschichte wirklich wird: „Geschichte im eigentlichsten Sinn ist der höchste Gegenstand der Religion, mit ihr hebt sie an und endigt mit ihr." 263 Mit einer dreifacher Akzentuierung entfalten die Reden den Sinn dieser in sich einheitlichen, programmatischen These: a) Zunächst ist die die individuelle Religion konstituierende Uraffektion selbst als historisches Datum, als innergeschichtliches Geschehen verortbar. Dies ist nicht nur der Sinn der Apostrophierung des religiösen Ureindrucks als eines „Faktum" 264 , sondern hier wiederholt sich nun auch einer der Gründe des Schleiermacherschen Insistierens auf der - oben 265 in anderem Zusammenhang betrachteten - Forderung nach der Datierbarkeit der religiösen Uraffektion: Die Möglichkeit, „den Geburtstag" 266 bzw. „die Geburtsstunde" 267 der individuellen Religion angeben zu können, gewährleistet deren Realität, weil sie so als biographisches und damit als historisches Faktum evident ist. Die Historizität besteht dabei in doppelter Hinsicht: Zum einen ist die religiöse Uraffektion ein Ereignis innerhalb der sich von ihr unabhängig vollziehenden, universalen Geschichte - und zum andesie aus dem Inneren jeder beßern Seele nothwendig von selbst entspringt" (R 1 37 = K G A 1/2, 204,34f). 26!
Explizit zum Ausdruck kommt dieser Sachverhalt in der folgenden Passage: „Für so etwas [sc.: einen Nutzen] steigt sie [sc.: die Religion] Euch noch nicht vom Himmel herab. Was nur um eines außer ihm liegenden Vortheils willen geliebt und geschäzt wird, das mag wohl N o t h thun, aber es ist nicht in sich nothwendig ( . . . ) " (R 1 36 = K G A 1/2, 204,20-23. Hervorhebung von mir).
262
Die Entfaltung dieses Gedankens ist nach der Interpretation von P. Seifert die Hauptleistung der Reden überhaupt: „Und in der Tat wird man urteilen, daß in seinem historischen Zuge wohl die wesentlichste Bedeutung des Buches [sc.: der Reden] liege; nicht das kleinste Lob für den ,Redner' ganz im Sinne des eigenen Wortes." (Seifert: Theologie 151,24-26 im Rekurs auf R 1 282 = K G A 1/2, 313,6-8)
263
R 1 100 = K G A 1/2, 232,38-233,lf R 1 267. 268 = K G A 1/2, 306,38. 307,3. Vgl. auch R ' 278 = K G A 1/2, 311,14
264 265 266 267
S.o. S. 144ff R 1 268 = K G A 1/2, 307,5 R 1 75 = K G A 1/2, 222,9
158
Zweites Kapitel:
D i e Frömmigkeitstheorie in den R e d e n
ren begründet sie in ursächlicher Weise einen eigenen, integralen Geschichtslauf. Der doppelte Sinn der Geburts-Metaphorik ist also auch nach der entschlüsselnden Transformation wiederzufinden. b) Aber auch die - zunächst allgemein: - universalen Kennzeichen des Religiösen überhaupt verfügen über diese doppelgestaltige Bindung in die Geschichte. Denn zum einen wird das Religiöse als solches überhaupt nur in seiner Wirkmächtigkeit, als Handeln, wahrgenommen. Jedes Handeln ist aber - unter anderem und sehr allgemein durch seine Folgeträchtigkeit qualifiziert, diese Folgeträchtigkeit ist an einer Veränderung erkennbar, und jede Veränderung ist nur im zeitlichen Progreß, als Differenz von Vorher und Nachher, zu konstatieren. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, daß die eher metaphorisierenden Passagen über das Wirken des Weltgeistes stets auf der Erkennbarkeit des Religiösen in seiner innerzeitlich handelnden Dimension verweisen. 2 6 8 U n d auch die angemessenen gemeinschaftlichen Manifestationsformen des Religiösen, etwa deren in der wahren Kirche herrschende Kommunikationsgestalt, existieren überhaupt nur in dynamischer Gestalt, in der Gebundenheit an die Bedingungen von Zeitlichkeit. 269 Zum anderen läßt sich aber auch hier, in dem allgemeinen, universal Religiösen, wiederum das spezifisch geschichtsgründende Moment mitdenken. Sowohl das Wirken des Weltgeistes als auch die K o m munikationsform in der wahren Kirche bilden sich nicht nur in die universale Geschichte ein, sondern sie konstituieren eine eigene Zeitrechnung, beginnend mit dem Datum ihrer Wirksamkeit. c) A m deutlichsten wird die deren Realität verbürgende Historizität der Religion aber nun in der Betrachtung der sich vergemeinschaftenden- Religionen. Zunächst gilt auch hier: die Selbsteinordnung in den allgemeinen geschichtlichen Progreß verbürgt die Realität der Religion in ihrer gemeinschaftlichen Gestalt. 2 7 0 Daneben beginnt mit der 268
„ L a ß t die Geschichte, wie es derjenigen ziemt, der Welten zu G e b o t e stehn, mit reicher D a n k b a r k e i t der Religion lohnen als ihrer ersten Pflegerinn, u n d der ewigen Macht und Weisheit wahre u n d heilige Anbeter erweken. Seht wie das himmlische G e w ä c h s mitten in Euern Pflanzungen gedeiht ohne Euer Z u t h u n " ( R 1 173 = K G A 1/2, 265,1-5). „ ( . . . ) s o seht Ihr wie der hohe Weltgeist über alles lächelnd hinwegschreitet, was sich ihm lärmend wiedersezt ( . . . ) " (R 1 103 = K G A 1/2, 234,12-14).
269
Vgl. z.B. R 1 232-234 = K G A 1/2, 290,39-292,3 „Wollt Ihr v o n der Religion nicht nur im Allgemeinen einen Begrif haben, ( . . . ) [sondern] wollt Ihr sie auch in ihrer Wirklichkeit ( . . . ) verstehen: ( . . . ) so müßt Ihr den eitlen u n d vergeblichen Wunsch, daß es nur Eine geben möchte aufgeben, (...) u n d s o u n b e f a n g e n als möglich zu allen denen hinzutreten, die sich schon in den
270
III. D a s aus den Z ü g e n der U r a f f e k t i o n abstrahierbare Wesen der Religion
159
Gründung einer gemeinschaftlichen Religion - durch die Erhebung einer Einzelanschauung zur Fundamentalanschauung, strukturanalog zur Entstehung individuell-persönlicher Religion - diese ein eigenes Leben mit eigenem zeitlichen Progreß. 271 Soweit sind den oben in bezug auf die individuell-persönliche Religion und den allgemeinen Kennzeichen der Religion überhaupt wahrgenommenen Merkmalen keine neuen hinzuzufügen. Freilich: Realität würde der Religion ja nicht deswegen zuerkannt werden können, weil Religionsgemeinschaften sich in der Geschichte wahrnehmen lassen. Sondern Realität könnte der Religion erst dann zugesprochen werden, wenn sich in den gemeinschaftlichen Religionen die je individuelle Religiosität dergestalt darstellt, daß sie ihren eigenen uraffektiv geprägten, faktisch und historisch einschlägigen Entstehungsgrund einzutragen erlaubt. Dann erst würde das Wesen der Religion seine Realität als in den individuellen religiösen Subjekten gegründet und durch die religiöse Gemeinschaft abgebildet behaupten können. U n d in der Tat ist dies genau derjenige gedankliche Einsatz, den Schleiermacher in der fünften Rede nimmt. Denn in der fünften Rede werden die gemeinschaftlichen Gestalten der Religion nur unter einem einzigen Doppelgesichtspunkt bewertet: ob sie a) durch innergeschichtliche individuelle Affektionen entstanden sind und ob sie b) durch innergeschichtliche individuelle Affektionen ihrerseits gestaltbar - und damit wiederum an die Geschichte gebunden sind. Die natürlichen Religionen werden zuerst ausgeschieden - weder sind sie durch individuelle religiöse Affektionen gegründet noch wären derartige Manifestationen des Religiösen je in sie eintragbar. 2 7 2 Aus dem verbleibenden Kreis der positiven Religionen wird dann wechselnden Gestalten und während des auch hierin fortschreitenden L a u f e s der Menschheit aus d e m ewig reichen Schooß des U n i v e r s u m s entwikelt haben." (R 1 242 = K G A 1/2, 296,13-23). Vgl. auch: „ ( . . . ) ich will Euch die Religion zeigen, wie sie sich ihrer Unendlichkeit entäußert hat, und in o f t dürftiger Gestalt unter den Menschen erschienen ist; in den Religionen sollt Ihr die Religion entdeken; ( . . . ) " (R 1 237f = K G A 1/2, 294,16-18). A b e r bereits in der ersten R e d e formuliert Schleiermacher en passant den G e d a n k e n , daß die Betrachtung des Wesens der Religion nur in ihren geschichtlichen Individuationsformen möglich ist: „Ihr seid ohne Zweifel bekannt mit der Geschichte menschlicher Thorheiten, und habt die verschiedenen G e b ä u d e der Religion durchlaufen (...). Jedes [sc.: R e l i g i o n s s y s t e m ] k o m m t etwas geschliffener aus der H a n d seines Zeitalters bis endlich die K u n s t zu jenem vollendeten Spielwerk gestiegen ist, w o m i t unser Jahrhundert sich so lange die Zeit verkürzt hat." ( R 1 25 = K G A 1/2, 199,18-34) 271 272
R 1 259-262 = K G A 1/2, 303,23-304,9 R 1 271-279 = K G A 1/2, 308,33-311,23
160
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
die alttestamentlich-jüdische Religion exemplarisch deswegen ausgeschlossen, weil sie der Modifikation durch individuelle religiöse Affektionen nicht mehr fähig ist.273 Den Grund für diese mangelnde Modifikationsfähigkeit sieht Schleiermacher in dem ,,eingeschränkte[n] Gesichtspunkt" 274 der Zentralanschauung der alttestamentlich-jüdischen Religion: Die Idee des Universums als Vergeltung275 ist ihrerseits zu eng bestimmt und zu wenig extensiv, als daß sie mit den mannigfaltigen, indivduellen religiösen Affektionen verbindbar wäre. Die Zentralanschauung der alttestamentlich-jüdischen Religion ist in so starkem Maße zeitgebunden, daß der lebendige Geist dieser Religion sich nach Schleiermacherscher Auffassung aus der Geschichte verabschiedet habe.276 So bleibt Schleiermacher das Christentum. In ihm ist die Realität der Religion in mehrfacher Hinsicht verbürgt: Erstens kann die christliche Religion selbst auf die an die Bedingungen von Geschichtlichkeit geknüpfte Uraffektion ihres Stifters als auf ihren eigenen Ursprung blicken. 277 Zweitens ist die christliche Religion der Bildung durch im geschichtlichen Progreß sich einstellende individuelle religiöse Anschauungen ihrer Träger prinzipiell zugänglich. 278 Drittens ist diese prinzipielle Modifikabilität der christlichen Religion nicht als ein zufälliges Akzidens, sondern als ein substantielles Strukturmoment der christlichen Religion garantiert: denn die christliche Religion schaut sich selbst in der Geschichte an.279 So, wie die in der Geschichte sich ereignende religiöse Uraffektion, die Manifestation des Unendlichen im Endlichen, ihren Empfänger auf sich selbst als in der Geschichte stehend zurückweist, inauguriert auch die Fundamentalanschauung des Christentums, die Verbindbarkeit des Unendlichen mit dem Endlichen, eine gemeinschaftliche Selbstbetrachtung in der Geschichte. Darin ist die Realität und die Unvergänglichkeit der christlichen Religion garantiert280 - und Schleiermachers Dithyrambe auf die Herrlichkeit, Erhabenheit und Würdigkeit 281 des Christentums als der „Religion der Religionen" 282 ursächlich begründet. R1 R1 2 7 5 R1 276 R i 2 7 7 R1 278 R1 279 R1 2 8 0 R1
273
274
290-291 = K G A 1/2, 316,9-25 290 = K G A 1/2, 316,19 287-289 = K G A 1/2, 315,10-35 290f = K G A 1/2, 316,20-25 301-305 = K G A 1/2, 321,17-323,9 305-310 = K G A 1/2, 323,9-35 305-310 = K G A 1/2, 323,36-325,2 305-310 = K G A 1/2, 325,3-19
III. D a s aus den Z ü g e n der U r a f f e k t i o n abstrahierbare Wesen der Religion
161
Damit läßt sich nun abschließend und zusammenfassend festhalten: Das in der zweiten Rede entwickelte Wesen der Religion manifestiert sich in einer von der individuellen Uraffektion ausgehenden, historisch wahrnehmbaren und Historie begründenden Doppelgestalt individueller und gemeinschaftlicher Religion. Diese doppelte Bezogenheit auf die Geschichte sichert dem Wesen der Religion seinen Realitätsgehalt. 283 D . Der kontinuierliche Charakter der Religion Die Punktualität der religiösen Uraffektion könnte zu zwei Mißverständnissen Anlaß geben: erstens, die durch jenen Ureindruck konstituierte Religion trage selbst punktuellen, also: partikularen und sensationellen Charakter 2 8 4 - oder zweitens, nur die stetige Wiederkehr von Affektionen im skizzierten Sinne 2 8 5 bzw. eine sich allein aus der religiösen Affektion herleitende spezifische „Gestimmtheit" 2 8 6 des sich der Wirksamkeit des Universums bewußten Menschen begründe die Dauerhaftigkeit der Religion. Indessen läßt sich schon aus dem bisher Gesagten erkennen, inwiefern die Schleiermachersche „Forderung (...), daß die Religiosität ein Continuum sein soll im Menschen" 2 8 7 , sich aus den als konstant erkannten Zügen der Religion von selbst nahelegt. Zunächst ist an die Funktion des situativen Anlasses der religiösen Uraffektion zu erinnern: Diejenige bildliche Erscheinungsform, in der das endlich gebundene, affizierende Universum auf die individelle Disponiertheit des affizierten Subjektes trifft, determiniert die Perspek281
R 1 291 = K G A 1/2, 316,26-29
282
R 1 310 = K G A 1/2, 325,15f Will man aus d i e s e m Resultat F o l g e r u n g e n f ü r die interne argumentative Gestalt der Reden ziehen, s o wird man der alten, aber letzthin in Vergessenheit geratenen Interpretationstendenz etwas abgewinnen können, daß der G e s a m t d u k t u s nicht etwa in der zweiten R e d e seinen einzigen H ö h e p u n k t erreicht, sondern in der f ü n f t e n R e d e eine zweite H a u p t p o i n t e enthüllt. Diese T h e s e ist zuerst von A . Ritsehl im Blick auf die auch hier besprochene F u n k t i o n der Geschichte für das G a n z e der Religion vertreten w o r d e n (A. Ritsehl: R e d e n 4), w u r d e später mit d e m Ziel, die Christlichkeit der R e d e n zu erweisen, gelegentlich überstrapaziert (Wendland: E n t wicklung 9 8 f . l 4 6 - 1 5 0 und O t t o : R - R ü c k b l i c k 220-222) u n d wird in neuerer Zeit v o n Seifert u n d L a n g e insbesondere im Blick auf die erst v o n der fünften R e d e aus sich entdeckende planmäßige G e s a m t k o m p o s i t i o n der R e d e n wieder vertreten (Seifert: T h e o l o g i e 178-187; Lange: Schleiermacher-Strauß 27)
283
284
285 286 287
Vgl. z.B. M e c h a u : A u f f a s s u n g 40-42 o d e r O . Ritsehl: Schleiermachers Stellung z u m C h r i s t e n t u m 50 Vgl. z.B. H u b e r : E n t w i c k l u n g 35 Piper: Erlebnis 137 p a s s i m R 1 298 = K G A 1/2, 319,38-320,1
162
Zweites Kapitel: D i e Frömmigkeitstheorie in den R e d e n
tive, unter der das religiöse Subjekt fürderhin den Erscheinungen des Unendlichen im Endlichen gewahr werden wird. Die Kontinuität der individuellen Religion besteht also in dem von der affektiven, punktuellen Situation ausgehenden „immerwährenden Einfluß des Zustandes, in welchem sein [sc.: des affizierten Subjektes] Gemüth zuerst vom Universum begrüßt und umarmt worden ist, durch die eigene Art wie er die Betrachtung deßelben und die Reflexion darüber verarbeitet, durch den Charakter und Ton, in welchen dies die ganze folgende Reihe seiner religiösen Ansichten und Gefühle hineinstimmt, und welcher sich nie verliert (...)" 2 8 8 . U n d der Analogstruktur zwischen individueller und gemeinschaftlicher Religion entsprechend gilt diese prägende Wirkung der Fundamentalperspektive auch für die gemeinschaftliche Religion: Deren kontinuierlicher, von der Affektion ausgehender und ihrer Punktualität gleichwohl enthobener Charakter besteht ebenfalls in der „unendlichen Succeßion kommender und wieder vergehender Gestalten" 2 8 9 , die sämtlich - das ist das Entscheidende - auf den in der Zentralanschauung liegenden Mittelpunkt bezogen bleiben 2 9 0 . Doch ist die Kontinuität der Religion darüber hinaus auch durch ein zweites, im vorangehenden Abschnitt entwickeltes Moment gewährleistet: Die durch den Modus der religiösen Uraffektion inaugurierte, in der individuellen Selbstanschauung wie in der Gestaltbarkeit der Religionsgemeinschaft sich Ausdruck verschaffende Anbindung der Religion an die Strukturbedingungen der Geschichte garantieren deren Selbsterhaltung im zeitlichen Progreß. 291 Alle weiteren den Konstanzcharakter der Religion ebenfalls symbolisiernden Momente - Folgeaffektionen 2 9 2 , die Gestimmtheit des Subjekts 2 9 3 , die nachgängige Reflexion 2 9 4 lassen sich ursprünglich aus den beiden hier genannten, in der religiösen Uraffektion selbst angelegten Kontinuitätsmomenten der Religion ableiten. 288
R 1 267 = K G A 1/2, 306,27-32. Vgl. auch R 1 271 = K G A 1/2, 308,30-32: D e r „ R e i z ( . . . ) [wirkt] stark genug u m den Prozeß eines eignen und rüstigen religiösen Lebens einzuleiten."
289
R 1 260 = K G A 1/2, 303,38f
290
R 1 259-261 = K G A 1/2, 303,23-304,9 R 1 298f = K G A 1/2, 319,28-320,9
291 292 293
294
S.o. A n m . 285 S.o. A n m . 286. In R 3 stärkt Schleiermacher die Betonung dieses Kontinuitätsgrundes im Vergleich zu den vorangegangenen Auflagen: vgl. am deutlichsten R 3 (1821), ed. Pünjer 177 (Erläuterung N r . 4 zur dritten Rede). R 1 267 = K G A 1/2, 306,30
III. Das aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
163
E. Formbestimmtheit als das allgemeine Wesensmerkmal der Religion Schließlich komme ich auf das letzte und wesentliche Strukturmerkmal der Religion zu sprechen: deren Formbestimmtheit. Die für die religiöse Uraffektion erkannte prinzipielle Offenheit gegenüber einzelnen, sie entzündenden inhaltlichen Anlässen gilt nun in vermitteltem und erweitertem Maße auch für das Wesen der Religion überhaupt. Im Anhang der zweiten Rede illustriert Schleiermacher auf dem Hintergrund des zuvor entwickelten Wesensbegriffes der Religion die Verträglichkeit der dort entwickelten Form der Religion mit den traditionellen, in der Wesensbeschreibung der Religion ausgefallenen, die religiöse Form symbolisierenden religiösen Inhalten „Gott" und „Unsterblichkeit". 295 Den Grund für die mögliche, aber nicht notwendige Ausfüllung der Religion durch die genannten religiösen Inhalte hatte Schleiermacher an früherer Stelle innerhalb der zweiten Rede entfaltet 296 : Es ist ein wesenhafter Zug der Religion, ihre Unendlichkeit auch in der unendlichen Zahl möglicher (faktisch als gegenständliche Inhalte der Religion fungierender 297 ) Symbole dieser Unendlichkeit auszudrücken. Die Unendlichkeit als eines der Formelemente der Religion verlangt und verträgt die inhaltliche Undeterminiertheit. Es ist anzunehmen, daß diese Formbestimmtheit der Religion aus dem formbestimmenden Charakter der religiösen Uraffektion abgeleitet ist, und in der Tat bringt Schleiermacher innerhalb der hier betrachteten Passage auch beiläufig den Zusammenhang zwischen der inhaltlichen Freiheit des religiösen Affektionsgeschehens und dem Wesen der Religion zum Ausdruck. 298 295
296 297 298
R 1 123-133 = K G A 1/2, 242,36-247,11. Daß im Verlaufe der Argumentation der Unsterblichkeitsgedanke aus dem Reich der Religion ausgeschieden wird, unterstreicht die Intention, den formbestimmten Charakter der Religion hervorzuheben und berührt die Behauptung der Inhaltsoffenheit der Religion nicht. R 1 62-66 = K G A 1/2, 216,27-218,20 R 1 62 = K G A 1/2, 216,27-37 „Sie [sc.: die Religion] strebt wohl denen, welche noch nicht fähig sind das Universum anzuschauen, die Augen zu öfnen, (...) aber eben deswegen flieht sie mit Widerwillen die kahle Einförmigkeit, welche diesen göttlichen Überfluß wieder zerstören würde" (R 1 63f = K G A 1/2, 217,15-19). - Es ist das Verdienst von O. Piper, auf dem Formalcharakter des Schleiermacherschen Religionsbegriffes insistiert zu haben und deren Vorzüge gegen alle inhaltliche Bestimmtheit erkannt und betont zu haben (Piper: Erlebnis 62f. 90f). Freilich bezieht Piper trotz der Einsicht, daß die Formbestimmtheit nicht nur das sog. religiöse Erlebnis, sondern auch das Wesen der Religion ausmache („Damit ist allerdings Religion freigemacht von jeder inhaltlichen Bestimmtheit - eine Tatsache, die noch lange nicht genügend beachtet worden ist -,
164
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
Aber auch als das Spezifikum dieser Formbestimmtheit läßt sich nun wieder eine differenzierte duplizitäre Verfaßtheit der die Religion wesenhaft bestimmenden Konstitutionselemente ausmachen: Das Formprinzip der Religion wird, analog zur Formalstruktur der religiösen Uraffektion, wiederum durch eine solche Dualität gebildet, die man geradezu als die schlechterdings fundamentale religionskonstituierende Urdualität ansehen muß. Ihr Spezifikum möchte ich kurz als „disjunktive Polarität" bezeichnen, insofern die Pole einander in korrelativer, sich gegenseitig qualifizierender und auf einen identischen Ursprung hinweisenden Form entgegengesetzt sind. Diesem wesentlichen Sachverhalt will ich im folgenden nachgehen. F. Die konkrete Gestalt des Formprinzips der Religion
1. Zur Leitthese und zum
Vorgehen.
In diesem abschließenden Abschnitt möchte ich die Leitthese entfalten, daß den für die Religionstheorie der Reden wesentlichen bipolaren Grundverhältnissen ein identisches Konstruktionsprinzip zugrundeliegt, das als das die Religion wesenhaft bestimmende Formprinzip angesehen werden muß. Seinen ursprünglichen Sitz hat dieses Formprinzip in dem grundlegenden Korrelatsverhältnis zwischen dem Endlichen und Unendlichen, dort tritt es auch am deutlichsten auf. In stärker vermittelter Gestalt fundiert es aber auch das Verhältnis zwischen dem Universum und dem Menschen sowie das Binnenverhältnis der religiösen Funktionen des Menschen. Dieser Leitthese liegen drei voraussetzungshaltige Beobachtungen zugrunde. Erstens die subsidiäre These, daß das religionskonstituierende Formprinzip der Religion sich nicht als es selbst realisiert, sondern sich ausschließlich in gebundender Gestalt seinen mittelbaren Ausdruck verschafft. Zweitens die Beobachtung, daß die von Schleiermacher in die Reden als die höchsten und allgemeinsten Grundverhältnisse der Religion eingeführten Korrelatsverhältnisse (zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, zwischen dem Menschen und dem aber auf der anderen Seite ist doch durch diesen Formalcharakter viel gewonnen": a.a.O. 62,36-39), infolge seiner nicht durchgeführten Unterscheidung zwischen dem sog. religiösen Erlebnis und einem aus diesem Erlebnis ableitbaren Wesenbegriff der Religion diesen Formalcharakter der Religion lediglich auf die religiöse Uraffektion (a.a.O. 6 2 - 9 1 ) und führt also den pointenreichen Gedanken, zu dem er angesetzt hatte, nicht aus. Die methodische Schwachstelle der Piperschen Untersuchung, die vorausgesetzte unmittelbare Identifizierbarkeit eines Wesensbegriffes der Religion mit dem religiösen Erlebnis, verschafft sich hier in bedauerlicher Weise Geltung.
III. Das aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
165
Universum und zwischen Anschauung und Gefühl) weder in einer zweifelsfreien Weise inhaltlich bestimmt werden, noch miteinander zu konkurrieren scheinen, sondern vielmehr sämtlich als Universalausdrücke des alle relevanten Gegenstandsbereiche der Religion bestimmenden, identischen höchsten formalen Prinzips angesehen werden müssen. In dieser Voraussetzung nehme ich jene zahlreichen Hinweise Schleiermachers ernst, die das Proprium des Religiösen nicht in der Materie, sondern in den die Materie bestimmenden regelhaften Gesetzen und Ordnungen lokalisieren. 299 Und die dritte Teilvoraussetzung der Leitthese schließlich erkennt aus der Analyse der formalen Züge der genannten Korrelatsverhältnisse als das durchgängige Prinzip dieser Verhältnisse ein im folgenden näher zu bestimmendes disjunktives Korrelatsverhältnis der entgegengesetzten Pole. Aus dem skizzierten Gehalt dieser Leitthese ergibt sich der argumentative Gang dieses Abschnittes. Zunächst und hauptsächlich gilt es, die Funktion des Korrelatsverhältnisses zwischen Endlichem und Unendlichem in den Reden zu untersuchen (vgl. den folgenden Abschnitt 2). Dabei werde ich mich, dem methodischen Ansatz dieser Interpretation folgend, nicht dem begrifflichen Gehalt der Ausdrücke zuwenden 300 , sondern vorderhand nur die Prominenz dieses Korrelates dadurch vergegenwärtigen, daß ich die durch ihn in seiner begrifflichen Fassung als „Endliches" und „Unendliches" strukturierten Gegenstandsbereiche ordne. Dabei läßt sich folgendes zeigen: Erstens statuiert Schleiermacher in den Reden das Ineinander von Endlichem und Unendlichem als allgemeines ontologisches Prinzip (Abschnitt 2.a). Zweitens figuriert dieses als das in der menschlichen Seele angelegte, deren harmonische Grundstruktur begründende Prinzip (Abschnitt 2.b). Darüber hinaus hat das im Korrelatsverhältnis zwischen Endli299
300
Vgl. z.B. R 1 81-87 = K G A 1/2, 225,7-227,24; R 1 101 = K G A 1/2, 233,16-18; Vgl. auch R 1 260 = K G A 1/2, 303,36-38; R 1 281 = K G A 1/2, 312,24-28 Ein solches Verfahren wäre zum Scheitern verurteilt. Die gegensätzlichen Gliedbegriffe sind von Schleiermacher nirgends einer definitorisch haltbaren Bestimmung unterzogen worden, die Begriffspaare „Göttliches" und „Menschliches" (R 1 291 = K G A 1/2, 316,34) bzw. „das Einzelne" und „das Ganze" (R 1 268 = K G A 1/2, 307,4) bzw. „das unendlich Große" und „das unendlich Kleine" (R 1 168 = K G A 1/2, 262,22f) bzw. „das Geistige und Höhere" vs. das „Irdische[] und Sinnlichef]" (R 2 [1806], ed. Pünj er 155,35f; R 3 ebda.) haben dagegen eher als situativ applizierende Charakterisierungen zu gelten. Bereits die Suche nach definitorischen Substitutionen zeigt also, daß es mehr auf die Korrelationsstruktur als solche denn auf die inhaltliche Fixierung der Pole anzukommen scheint. Eine solche vollständige Gegenstandsbestimmung itiüßte denn auch, wie sich zeigen wird, nichtssagend allgemein ausfallen.
166
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
chem und Unendlichen gebundene Prinzip nun auch als das Formprinzip der Religion in deren statischer wie in deren dynamischer Gestalt zu gelten. Denn drittens muß das Innewerden der Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als inhaltlich gebundenes Prinzip des uraffektiven religionskonstituierenden Geschehens angesprochen werden (Abschnitt 2.c). Und auch als Formprinzip des - aus der religiösen Uraffektion sich ableitenden - religiösen Lebens ist das Korrelatsverhältnis zwischen Unendlichem und Endlichem einschlägig: Es findet sich als Formprinzip der individuellen religiösen Zentralanschauung (Abschnitt 2.d), als Formprinzip jeder gemeinschaftlichen Zentralanschauung (Abschnitt 2.e) und als reine Gestalt der christlichen Zentralanschauung (Abschnitt 2.f). Diese formstiftende Universalität des Korrelatsverhältnisses zwischen Endlichem und Unendlichem ist schließlich der Grund dafür, daß es in wechselnden Zusammenhängen als der Kern der Religion angesprochen werden kann (Abschnitt 2.g). Im Anschluß an diese umfangreiche Materialschau soll dann zunächst die alle Applikationen des Korrelatsverhältnisses gleichermaßen prägende identische Struktur des Verhältnisses beschrieben werden. Sodann muß das in dem Korrelatsverhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem erkannte Strukturprinzip mit dem Strukturprinzip des Verhältnisses zwischen Mensch und Universum und mit dem Strukturprinzip des Verhältnisses zwischen den religiösen Funktionen des Menschen verglichen werden. So läßt sich schließlich in diesem (in den Verhältnisstrukturen sichtbar werdenden) identischen Formprinzip das von Schleiermacher ins Auge gefaßte eigentliche Wesen der Religion erkennen (Abschnitt 3). 2. Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als das materiale Grundverhältnis der Religionstheorie in den Reden (Materialsammlung). a) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als allgemeines ontologisches Prinzip. Den Uberblick über die durch das Korrelatsverhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem301 strukturierten Gegenstandsbereiche ein301
Die konstitutive Funktion des Verhältnisses zwischen Endlichem und Unendlichem entfalten vor allem Dilthey: LS I 322-326, A. Ritsehl: Reden 31-39 und Süskind: Einfluß 20-27. Sie wird außerdem hervorgehoben bei O. Ritsehl: Stellung 46; Süskind: Christentum 12; Seifert: Theologie 79f und Eckert: Verhältnis 44-56
III. Das aus den Z ü g e n der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
167
leitend ist zunächst auf zwei Stellen in den Reden aufmerksam zu machen, an denen Schleiermacher dieses Korrelatsverhältnis als ein allgemeines ontologisches 3 0 2 und damit zugleich hermeneutisches 303 Schema in Anspruch nimmt. Schlechterdings alle Entitäten sind unter dem Gesichtspunkt ihrer Endlichkeit bzw. Unendlichkeit unterscheidbar und durch die Weise ihrer Entgegengesetztheit zugleich in bestimmter Weise aufeinander hingeordnet: so nämlich, daß das Endliche nur als Teil des Unendlichen und durch die Differenz konstituiert besteht - wie umgekehrt auch das Unendliche erst in der Differenz vom Endlichen als Unendliches besteht und wahrgenommen werden kann. Anders gewendet: Im Akt der gebundenen Erscheinung (bzw. des Erkanntwerdens in der gebundenen Erscheinung) an dem jeweiligen Gegenpol konstituieren und qualifizieren sich das Endliche bzw. das Unendliche als solche. Hervorzuheben sind diese Passagen in erster Linie deswegen, weil Schleiermacher in ihnen das Konstitutionsprinzip des Verhältnisses zwischen Endlichem und Unendlichem deutlich hervortreten läßt: Jeder der Korrelatspole besteht erst in der Unterschiedenheit vom je anderen Pol und kann auch nur als vom je entgegengesetzten Pol Unterschiedener in Erscheinung treten.
b) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als Prinzip der harmonischen Seelenstruktur des Menschen. Vom Textzusammenhang her ebenfalls der ontologischen Fundierung zugehörig ist die berühmte Passage der ersten Rede, die den Gegensatz zwischen Attraktion und Repulsion als den duplizitär verfaßten Grundimpuls alles dynamisch Seienden konstatiert. 304 Für unseren Zusammenhang einschlägig ist dabei die Tatsache, daß Schleiermacher die innerseelische Abbildung dieses Grundgegensatzes, den Gegensatz zwischen diastolischer und systolischer Tendenz des Seelenlebens, direkt auf das Korrelatsverhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem appliziert: D e r extensive Trieb der Seele „geht [ ] gerade aufs
302
„Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Gränzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müßen. N u r so kann es innerhalb dieser G r ä n z e n selbst unendlich sein und eigen gebildet werden, und sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begrifs." (R 1 53 = K G A 1 / 2 , 213,5-9)
303
„Freilich ist es eine Täuschung, das Unendliche grade außerhalb des Endlichen, das Entgegengesezte außerhalb deßen zu suchen dem es entgegengesezt wird;" ( R ' 145f = K G A 1/2, 252,41-253,1)
304
R
i
5_9
=
K G A
1/2,
191,10-192,39
168
Zweites Kapitel:
D i e Frömmigkeitstheorie in den Reden
Unendliche" 3 0 5 - der intensive Trieb dagegen ist auf das Endliche gerichtet, wird man aus den gegebenen positiven und kontrastierenden Bestimmungen 3 0 6 ergänzen dürfen. Diese Eingangsvermutung wird an späterer Stelle in expliziter Form wiederholt 3 0 7 und zugleich um den entscheidenden Hinweis bereichert, daß erst das Ineinander beider Tendenzen „das Gleichgewicht und die Harmonie seines [sc.: des Menschen] Wesens" 3 0 8 wiederherstellt. Im Gedanken der Wiederherstellung finden wir also das Bild einer ursprünglichen Harmonie, die sich erst in der Doppelaktivität zweier faktisch gegensätzlicher Kräfte realisiert. 309
c) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als Formprinzip der religiösen Uraffektion. Seine bereits aus dem bisher Entfalteten abzulesende Prominenz erweist dieses Korrelationsverhältnis nun auch dadurch, daß es gelegentlich als Grundschema zur Beschreibung des religionskonstituierenden uraffektiven Geschehens bemüht wird. In der fünften Rede beschreibt Schleiermacher zunächst das formale Geschehen der religionskonstituierenden Uraffektion als „Vermählung des Unendlichen mit dem Endlichen" 3 1 0 . Wenige Zeilen später werden die Formalbeschreibung des Geschehens und die Formalbeschreibung des Resultates miteinander identifiziert im Hinweis auf die Erinnerung daran, „wie auf einmal mitten unter dem Endlichen und Einzelnen das Bewußtsein des Unendlichen und des Ganzen sich [] entwikelt hat." 3 1 1 An früherer Stelle hatte Schleiermacher bereits, innerhalb der Diskussion der formalen Entstehungsbedingungen der Religion, „die erste Regung der Religion" 3 1 2 unter anderem mit jenem inneren Trieb des Menschen verknüpft, „mit dem Endlichen und Bestimmten zugleich (...) etwas Anders was sie ihm entgegensezen können" 3 1 3 zu finden.
305
R 1 7 = K G A 1/2, 191,39
306
R ' 7 = K G A 1/2, 191,32-192,1 R ' 115 = K G A 1/2, 239,16-23
307 308 309
R 1 115 = K G A 1/2, 2 3 9 , 2 l f Vgl. z u m G e s a m t k o m p l e x auch R 1 144-147 = K G A 1/2, 252,9-253,27
310
R ' 267 = K G A 1/2, 306,36f. Vgl. hierzu auch eine zweite Applikation der F o r m beschreibung des Geschehens auf das Verhältnis zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen in R 1 11 = K G A 1/2, 193,30f: Hier wird die religiöse A f f e k t i o n als „ A u s f l u g f ] seines [sc.: des Mittlers] Geistes ins U n e n d l i c h e " beschrieben.
311
R 1 268 = K G A 1/2, 307,3-5 R 1 145 = K G A 1/2, 252,35 R 1 145 = K G A 1/2, 252,30f
3.2 3.3
III. Das aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
d) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem prinzip der individuellen religiösen Zentralanschauung.
169
als Form-
Die Theorie der allgemeinen Prägewirkung der religiösen Urimpression auf das gesamte religiöse Leben erfährt ihre Konkretisierung nun unter dem hier betrachteten Gesichtspunkt der Formbestimmtheit: Die bestimmende Wirkung, die die religiöse Uraffektion auf den zentralen Inhalt der individuellen Religion ausübt, bildet sich auch darin ab, daß das die Uraffektion schematisch prägende Korrelatsverhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem sich nun als Schema der ersten bestimmten religiösen Ansicht wiederfindet. Gleichviel, an welchem konkreten inhaltlichen Anlaß die individuelle Religion sich entzündet und um welchen konkreten Inhalt sie ihre Folgeanschauungen gruppieren wird: Es läßt sich als identisches Strukturmerkmal der ersten bestimmten religiösen Ansicht - durch welche die individuelle Religion „einen eignen und bestimmten Charakter annimmt" 3 1 4 - doch dieses festhalten, daß es sich um einen Übergang „von der Anschauung des Endlichen zu der des Unendlichen" 3 1 5 handelt.
e) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als Formprinzip jeder Zentralanschauung gemeinschaftlicher Religion. Ebenso bestätigt sich die Einsicht in die Strukturanalogie zwischen einer individuellen religiösen Zentralanschauung und der Zentralanschauung einer gemeinschaftlichen Religion noch einmal durch den Blick auf das konstitutive Formprinzip. Denn auch die Zentralanschauung jeder gemeinschaftlichen Religion wird sich, ungeachtet ihres konkreten Inhaltes, dem Konstruktionsschema einer Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem verdanken - und zwar einer K o r relation, die dadurch bestimmt ist, daß das Unendliche sich in seiner Gebundenheit an Endliches als anschaubar erweist: „Vergeßt also nie, daß die Grundanschauung einer Religion nichts sein kann, als irgend eine Anschauung des Unendlichen im Endlichen" 3 1 6 . Diese allgemeine Aussage erfährt in der Diskussion der alttestamentlich-jüdischen Religion ihre Bekräftigung. Diese Diskussion illustriert in exemplarischer Weise die - die „besondere Bauart" 3 1 7 der Religion konstituierende Beziehung der konkreten inhaltlichen Gebundenheit der Zentralanschauung auf das leitende Formprinzip. Denn Schleiermacher bezieht 3H
R 1 221 = K G A 1/2, 285,32
315
R ' 220f = K G A 1/2, 285,30f R 1 283f = K G A 1/2, 313,30f R 1 286 = K G A 1/2, 314,24
316 3,7
170
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
nun die von ihm als Grundanschauung des Judentums namhaft gemachte, spezifisch inhaltlich konkretisierte Idee der Vergeltung auf das die Einzelreligion übergreifende formale Schema der Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem: „(...) welches ist die überall hindurchschimmernde Idee des Universums [in der alttestamentlichjüdischen Religion]? Keine andere, als die von einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaction des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche, das aus der Willkühr hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht als aus der Willkühr hervorgehend angesehen wird. So wird alles betrachtet (...)" 318 f ) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als die reine Gestalt der Zentralanschauung christlicher Religion. Zu den oben bereits genannten Gründen für die qualitative Herausgehobenheit des Christentums vor andere positive Religionen gesellt sich nun im vorliegenden Zusammenhang ein weiterer Grund: Im Christentum ist die Differenz zwischen dem Inhalt der gemeinschaftlichen Zentralanschauung und dem Formschema dieser Zentralanschauung aufgehoben. Denn der Inhalt der christlichen Zentralanschauung besteht in nichts geringerem als in der Idee des Korrelatsverhältnisses zwischen Endlichem und Unendlichem selbst·. In der Zentralanschauung des Christentums selbst verbinden sich die Idee der Differenz zwischen Endlichem und Unendlichem und die Idee der Vermittelbarkeit zwischen Endlichem und Unendlichem zur untrennbaren Einheit. 319 Mehr noch: nicht nur in der zentralen inhaltlichen Ansicht des Christentums, sondern in allen einzelnen inhaltlichen Ansichten erkennt Schleiermacher das im korrelativen Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem bestehende Formprinzip wirksam, indem er die formale Fähigkeit, der allgegenwärtigen Durchdrungenheit des
3,8 319
R 1 2 8 7 = K G A 1/2, 3 1 5 , 1 0 - 1 4 . Siehe dazu auch oben S. 159f „Sie [sc. die ursprüngliche A n s c h a u u n g des Christentums] ist keine andere, als die des allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen, und der A r t w i e die G o t t h e i t dieses Entgegenstreben behandelt, wie sie die Feindschaft gegen sich vermittelt, und der größer w e r d e n d e n Entfernung G r e n z e n sezt durch einzelne Punkte über das G a n z e ausgestreut, welche zugleich Endliches und Unendliches, zugleich Menschliches und Göttliches sind. Das Verderben und die Erlösung, die Feindschaft und die Vermittlung, das sind die beiden unzertrennlich mit einander verbundenen Seiten dieser Anschauung, und durch sie wird die Gestalt alles religiösen S t o f f s im Christenthum und seine ganze F o r m bestimmt." (R 1 291 = K G A 1/2, 3 1 6 , 2 9 - 3 8 )
III. Das aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
171
Endlichen durch das Unendliche Ausdruck zu verleihen, zum „eigentliche[n] höchste[n] Ziel der Virtuosität im Christenthum" 3 2 0 erklärt. N u n geht dieser Sachverhalt - ebenfalls in Analogie zum oben bereits festgestellten Zusammenhang zwischen der gemeinschaftlichen religiösen Zentralanschauung und der individuellen religiösen Zentralanschauung ihres Stifters - ursächlich wiederum auf die individuelle religiöse Zentralanschauung Jesu zurück. War als deren Inhalt das Gewahrwerden der in ihm selbst und durch ihn selbst ins Werk gesetzten Vermittlung zwischen Endlichem und Unendlichem erkannt worden 3 2 1 , so ist in diesem Inhalt bereits erstens der unmittelbare Zusammenhang mit dem die individuelle Zentralanschauung Jesu konstituierenden Formprinzip erschlossen, und zweitens ist in diesem Inhalt der daraus abgeleitete, mittelbare Zusammenhang mit dem die gemeinschaftliche Zentralanschauung des Christentums konstituierenden Formprinzip angelegt: „(...) das wahrhaft Göttliche ist die herrliche Klarheit, zu welcher die große Idee, welche darzustellen er gekommen war, die Idee daß Alles Endliche höherer Vermittlungen bedarf um mit der Gottheit zusammenzuhängen, sich in seiner Seele ausbildete." 3 2 2 Blickt man von dieser Verbindungslinie wieder zurück auf den Zusammenhang zwischen der inhaltlichen Zentralanschauung der christlichen Religion und dem dieser Zentralanschauung zugrundeliegenden Formprinzip, so ist folgendes festzuhalten: Mit der von Schleiermacher statuierten Identität von Inhalt und Formprinzip trägt die inhaltliche Zentralanschauung des Christentums zwar einerseits ein hochabstraktes und formales Gepräge, sichert sich aber andererseits durch ihre unmittelbare Identität mit dem ontologischen und psychologischen, dem individuell-religiösen und dem gemeinschaftlich-religiösen Formprinzip ihre universale Kompatibilität. Von hier aus gewinnt Schleiermachers das Christentum als die „Religion der Religionen" 3 2 3 qualifizierende Diktum einen zusätzlichen Sinn. Denn das Korrelatsverhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem ist nicht nur das Kennzeichen des Christentums, sondern das Formkennzeichen der Religion überhaupt:
320 R i 299 321 322 323
=
K G A 1/2, 320,9
S.o. S. 138 R' 301 = K G A 1/2, 3 2 1 , 1 4 - 1 7 R 1 3 1 0 = K G A 1/2, 325,15f. Vgl. dazu auch oben S. 160
172
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
g) Die Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem als materiale Mitte der Religion. Diejenigen Belege, in denen Schleiermacher das Korrelatsverhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem auf das Wesen der Religion überhaupt bezieht, sind nicht nur quantitativ hervorstechend, sondern auch in qualitativer Hinsicht am ergiebigsten. Denn aus ihnen läßt sich eine Gesamttheorie über den Zusammenhang zwischen den statischen und den dynamischen Zügen der Religion, den Zusammenhang zwischen der universalen und der individualisierten Gestalt der Religion gewinnen. Zunächst ist also auf eine Reihe von Belegen aufmerksam zu machen, in denen Schleiermacher förmlich definitorische, das Wesen der Religion unabhängig von ihrer Gebundenheit an einen personalen Träger beschreibende Bestimmungen vornimmt. In diesen Zusammenhängen wird die Religion regelmäßig selbst als der Korrelationspunkt des Endlichen und des Unendlichen vorgestellt. Wesentlich ist dabei, daß in der Religion Endliches und Unendliches stets „ungestört neben einander" 3 2 4 stehen, und zwar in der Weise, daß die Bezogenheit des Endlichen auf das Unendliche 325 und umgekehrt die Bezogenheit des Unendlichen auf das Endliche 326 sich einen harmonischen Ausdruck verschaffen. Mit dieser Formgestalt trägt die allgemeine Religion nun die formbestimmende Fähigkeit zu ihrer eigenen Individualisierung in sich: Im wesenbegründenden Korrelatsverhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem ist bereits das Muster vorgegeben, nach dem die Religion sich im einzelnen religiösen Menschen manifestieren wird. Der resultative Ausdruck dieser Manifestation wird in einer modifizierten Auffassung des religiösen Menschen vom Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem bestehen. Im einzelnen gestaltet dieser metamorphe Vorgang sich folgendermaßen: „Auf einen Punkt richtet sie [sc.: die Religion] zunächst das Gemüth des Menschen und dieser
324 325
326
R 1 64 = K G A 1/2, 217,26 „Alles was ist, ist für sie [sc.: die Religion] nothwendig, und alles was sein kann, ist ihr ein wahres unentbehrliches Bild des Unendlichen;" (R 1 65 = K G A 1/2, 218,1 lf. Vgl. auch R 1 51 = K G A 1/2, 211,40-212,1 und R 1 57 = K G A 1/2, 214,36-38). Z u m Wesen der Religion gehört es, daß „das Unendliche eine unvollkommene und beschränkte Hülle annimmt, und in das Gebiet der Zeit und der allgemeinen Einwirkung endlicher Dinge, u m sich von ihr beherrschen zu laßen, herabsteigt." (R 1 246 = K G A 1/2, 298,5-8. Vgl. auch R 1 67 = K G A 1/2, 218,35-37 und R 1 145f = K G A 1/2, 252,41-252,1)
III. Das aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
173
eine Punkt ist immer etwas endliches." 327 Doch geschieht diese Richtungsweisung mit dem einzigen didaktischen Ziel, die Unvollkommenheit dieses Aspektes zu pointieren. 328 Diese Unvollkommenheit besteht erstens darin, daß die innerseelischen Kapazitäten in dieser einseitigen Hingewiesenheit auf die endlichen Aspekte des Wahrnehmungspunktes nicht aufgehen. 329 Und sie besteht zweitens darin, daß auch die Kapazitäten des Wahrnehmungspunktes in der Fixierung auf dessen rein endliche Gestalt nicht aufgehen. 330 Damit erschließt sich dem Menschen die gleichursprüngliche Bestimmtheit sowohl des gegenständlichen Wahrnehmungspunktes als auch seiner eigenen harmonischen Seelenstruktur durch ein identisches Korrelatsverhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem. Und zusätzlich erschließt sich ihm der identische Urheber erstens des durch das nämliche Korrelatsverhältnis geprägten Naturzusammenhanges zwischen seiner eigenen Seele und den Gegenständen und zweitens des diesen Naturzusammenhang erschließenden Geschehens: Es ist, in beiden Fällen, das affizierende Unendliche selbst. 331 Doch greift dieses zweitgenannte, zusätzliche Moment des Erschließungsgeschehens streng genommen über die Betrachtung der formprägenden Wirkung des Korrelatsverhältnisses zwischen Endlichem und Unendlichem hinaus. Denn seinen unmittelbaren materialen Niederschlag findet das universale, sich in der skizzierten Weise individualisiert habende Formprinzip nun vor allem in der formalen Struktur derjenigen Haltung, mit der der Mensch fortan alles überhaupt Seiende betrachten wird 332 . Denn dieses wird ihm samt und sonders als etwas formal identisch Konstituiertes, nämlich als etwas durch das Korrelatsverhältnis zwischen 327 328 329
330
331
332
R 1 113 = K G A 1/2, 238,19-21 R 1 113f = K G A 1/2, 238,21-239,1 R 1 115 = K G A 1/2, 239,16-23. Vgl. im einzelnen oben S. 167f und weitere Stellen, die das Unendliche im Seeleninneren verorten, z.B. R 1 99 = K G A 1/2; 232,24-26 oder R 1 166 = K G A 1/2, 261,35-37 R 1 53 = K G A 1/2, 213,5-9. R 1 145f = K G A 1/2, 252,41-252,1. Vgl. im einzelnen oben S. 166f „So die Religion; dieselben Handlungen des Universums, durch welche es sich Euch im Endlichen offenbart, bringen es auch in ein neues Verhältniß zu Eurem G e m ü t h und Eurem Zustand;" (R 1 67 = K G A 1/2, 218,35-38). Vgl. dazu R 1 114 = K G A 1/2, 239,3f u n d unten S. 177ff „Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es d r ü k t ihre Beziehung auf ein unendliches Ganzes aus " (R 1 57 = K G A 1/2, 214,36-38). Vgl. z u m M o d u s individualisierter Religion auch: „(...) einzeln müßt Ihr nichts betrachten, aber erfreut Euch eines jeden an der Stelle w o es steht." (R 1 92 = K G A 1/2, 229,20f)
174
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
Endlichem und Unendlichem Bestimmtes, begegnen: Das scheinbar Uberweltliche 3 3 3 ebenso wie das scheinbar Innerweltliche 3 3 4 und nicht zuletzt auch sein eigenes menschliches Wesen 3 3 5 . U n d diese umfassende Deutung des Seienden als etwas formal identisch (durch ein korrelatives Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem) Konstituiertes wird von Schleiermacher als die angemessene Existenzform der individuellen Religion betrachtet. 336 3. Die aus der Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem ableitbare disjunktive Polarität als das formale Grundverhältnis der Religionstheorie in den Reden. a) Die Struktur des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem als disjunktive Polarität. Ich möchte mich in dem folgenden Teilabschnitt nun mit derjenigen Struktur des Korrelatsverhältnisses zwischen Endlichem und Unendlichem befassen, die hinter der oben referierten applikativen Beziehung des Korrelatsverhältnisses auf die genannten Gegenstandsbereiche erkennbar wird. Es gilt also, von den Entitäten „Endliches" und „Unendliches" zu abstrahieren und die Verhältnisstruktur der beiden Korrelatspole zueinander ins Auge zu fassen. N u r so kann die diese Interpretation leitende These - daß nicht das Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem selbst, sondern das dieses und andere Grundverhältnisse prägende Formprinzip als das Wesen der Religion betrachtet werden muß 3 3 7 - ihre Plausibilität gewinnen. Erstens: Zunächst ist der schlichte Sachverhalt zu betrachten, daß es sich in dem skizzierten Verhältnis nicht um ein Gegensatzverhältnis, sondern um ein Korrelatsverhältnis handelt. Denn obwohl die beiden Verhältnispole sich - begrifflich wie sachlich - in einem klassischen op333 334 335 336
337
R 1 246 = K G A 1/2, 298,5-8 R 1 166 = K G A 1/2, 261,37-262,2 R 1 166 = K G A 1/2, 261,32-37. R 1 99 = K G A 1/2, 232,24-28 Denn es gilt, in der individuellen Religion „den Punkt" zu finden, woraus die Beziehung des wirklich und möglich Seienden auf das Unendliche sich entdecken läßt: R 1 65f = K G A 1/2, 218,11-13. Vgl. auch die ausführliche Passage R 1 144-147 = K G A 1/2, 252,9-253,27, in der das Gedeihen individueller Religion von der ständigen Gebundenheit des Unendlichen an das Endliche abhängig gemacht wird. Und vgl. schließlich: „Die Unsterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine Aufgabe gewesen ist, die Ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblik, das ist die Unsterblichkeit der Religion." (R 1 133 = K G A 1/2, 247,8-11) Vgl. oben S. 164
III. Das aus den Zügen der U r a f f e k t i o n abstrahierbare Wesen der Religion
175
positiven Verhältnis befinden, legt Schleiermacher in der Beschreibung des Verhältnisses den Akzent doch eindeutig auf das stetige Zusammensein der Verhältnispole. Dies gilt sowohl für die sich primär dem Verhältnis selbst widmenden Beschreibungen 338 als auch für diejenigen Beschreibungen, die sich in erster Linie mit den durch das Verhältnis strukturierbaren Gegenstandsbereichen befassen 339 : Stets tritt der oppositive Aspekt weit hinter den korrelativen Aspekt zurück. Zweitens: Diese korrelative Struktur des Verhältnisses tritt nun zunächst als Bedingung der Möglichkeit des Erscheinens der einzelnen Verhältnispole auf: Jeder der beiden Pole ist in seiner spezifischen Eigentümlichkeit erst dann anschaubar, wenn er sich zur Darstellung seiner selbst mit seinem Korrelativum verbindet. 340 Sein jeweiliges Proprium (als sein individuell charakteristisches Kennzeichen) kommt erst auf der Folie der Gegenüberstellung mit seinem Gegenpol zur Darstellung und würde dagegen bei einem isolierten Auftreten des jeweiligen Einzelpoles überhaupt nicht kennzeichnend in Erscheinung treten können. Drittens: In dieser die Einzelpole als solche erst qualifizierenden Form der gemeinschaftlichen Erscheinung ist über den die Erscheinung betreffenden Aspekt hinaus aber auch ein die Konstitution der Einzelpole betreffender Aspekt enthalten. Denn erst in der gemeinschaftlichen Erscheinung bauen die Einzelpole einander gegenseitig auf als qualitativ voneinander unterschiedene. 341 Dieser Sachverhalt wird am deutlichsten wiederum im Blick auf die bipolar besetzten Entitäten: Erst indem das Ganze (bspw. der Seele) sich nicht anders denn als ein in seiner Einheitlichkeit bipolar Strukturiertes angemessen erfassen läßt 342 , konstituieren die jeweiligen Pole sich, indem sie Teilbereiche des Gegenstandes um sich gruppieren und als den pola-
338
Vgl. etwa R 1 53 = K G A 1/2, 2 1 3 , 5 - 9
339
Vgl. etwa die Beschreibung der harmonischen G r u n d s t r u k t u r der menschlichen Seele R ' 7 = K G A 1/2, 1 9 1 , 3 2 - 1 9 2 , 1 oder R 1 1 1 5 = K G A 1/2, 2 3 9 , 1 6 - 2 3 . Dies gilt, w i e w i r sahen, f ü r beide Pole ungeachtet ihrer qualitativen D i f f e r e n z : f ü r das Unendliche (z.B. R 1 6 7 = K G A 1/2, 2 1 8 , 3 5 - 3 7 ; R 1 145f = K G A 1/2, 2 5 2 , 4 1 2 5 3 , 1 ; R' 2 4 6 = K G A 1/2, 2 9 8 , 5 - 8 ) ebenso w i e f ü r das Endliche (R 1 51 = K G A 1/2, 2 1 1 , 4 0 - 2 1 2 , 1 ; R 1 5 7 = K G A 1/2, 2 1 4 , 3 6 - 3 8 ; R 1 65 = K G A 1/2, 2 1 8 , 1 l f ) . Vgl. exemplarisch w i e d e r u m R 1 53 = K G A 1/2, 2 1 3 , 5 - 8 : „Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Gränzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten w e r d e n müßen. N u r so kann es innerhalb dieser G r ä n z e n selbst unendlich sein und eigen gebildet werden" ( H e r v o r h e b u n g v o n mir). R 1 7 = K G A 1/2, 1 9 1 , 3 2 - 1 9 2 , 1
340
341
342
176
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
ren Sphären zugehörig qualifizieren 3 4 3 . Im Erscheinungsakt rufen die Teilpole einander also gegenseitig ins Leben. Viertens: Wenn und weil die Teilpole sich gegenseitig zu qualifizieren in der Lage sind, müssen sie selbst zu jedem Zeitpunkt ihres Bestehens qualitativ unterschieden sein und können niemals zur unterschiedslosen Einheit verschmelzen. Vielmehr wahren sie in allen aktuosen Phasen ihres Beieinanderseins ihre qualitative Differenz, indem es zwar zu ihrer Koinzidenz, aber nicht zu ihrer Identifikation kommt. 3 4 4 Ihr Korrelationsverhältnis enthält die Notwendigkeit eines über ihnen liegenden identischen Konstitutionsgrundes. Fünftens: Es lassen sich nun aus dem Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem noch zwei abgeleitete Folgerungen für die Binnenstruktur des Korrelationsverhältnisses der beiden Pole ablesen. Diese Bestimmungen der Binnenstruktur betreffen zunächst den deutlichen Primat des Korrelationspoles der Unendlichkeit: Seine Erscheinung und seine Konstitution bilden den eigentlichen Grund des Korrelationsverhältnisses. 345 Sodann lassen sich auch Bestimmungen über die Relativität der Differenz zwischen den Polen ableiten: Die Differenz besteht nicht als absolute, sondern im gemeinschaftlichen Gebundensein begreift ein jeder Korrelatspol charakteristische Aspekte seines Gegenpoles in sich. 346 N u n treten diese zuletzt genannten Aspekte des religiösen Formprinzips zwar auch in der hier zugrundeliegenden materialen Abbildung des Formprinzips im Korrelatsverhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem auf. Deutlicher zutage treten sie jedoch in der Darstellung des Formprinzips in weiteren prominenten, in den Reden entfalteten Korrelatsverhältnissen. So läßt sich der Primat des vorzüglich die nichtgegenständliche, unendliche Universalität repräsentierenden Poles am anschaulichsten in dem Korrelatsverhältnis zwischen Individuum und Universum erkennen, wohingegen die Bestimmungen über die Relativität und Nichtidentität der Korrelatspole in der Unterscheidung zweier Richtungen der einen religiösen Funktion des Menschen am greifbarsten werden. Ich werde mich daher zur vollständigen Erhebung des der Religionstheorie der Reden zugrundeliegenden Form343 344 345
346
R 1 115 = K G A 1/2, 239,16-23 Vgl. z.B. R 1 267 = K G A 1/2, 306,36f; R 1 268 = K G A 1/2, 307,3-5 Vgl. z.B. R ' 114 = K G A 1/2, 239,1-5; R 1 165f = K G A 1/2, 261,17-37; R 1 221 = K G A 1/2, 285,30-32 Vgl. z.B. R 1 65f = K G A 1/2, 218,11-13; R 1 133 = K G A 1/2, 247,8-11; R 1 145f = K G A 1/2, 252,41-253,1
III. Das aus den Zügen der U r a f f e k t i o n abstrahierbare Wesen der Religion
177
prinzips nun zunächst dem Verhältnis zwischen Individuum und Universum und dann dem Verhältnis zwischen Anschauung und Gefühl zuwenden. Das Erkenntnisziel in der Betrachtung beider Verhältnisse richtet sich dabei, dem methodischen Ansatz dieser Interpretation folgend, nicht primär auf die inhaltlichen Eigenschaften, die Schleiermacher den Korrelatspolen zuschreibt, sondern es soll das in diesen inhaltlichen Bestimmungen liegende Formprinzip des Korrelatsverhältnisses betrachtet werden. b) Die Struktur des Verhältnisses zwischen Individuum und Universum als disjunktive Polarität. Eine vollständige inhaltliche Diskussion des Universumsbegriffes der Reden ist im vorliegenden Zusammenhang nicht beabsichtigt. Zur Orientierung über die verschiedenen — auch kontroversen — Deutemuster, die der Universumsbegriff erfahren hat, verweise ich auf den oben 347 gegebenen forschungsgeschichtlichen Uberblick. Im vorliegenden Zusammenhang soll es indes nur um einen 7ez7-Aspekt des Universumsbegriffes gehen: seine formale Funktion im Verhältnis zum Individuumsbegriff. Wesentlich für das Gelingen der hier beabsichtigten Klärung der Verhältnisstruktur zwischen Universum und Individuum ist zunächst die Erinnerung daran, daß der Schleiermachersche Begriff des Universums nicht als der artifizielle Ausdruck eines in irgendeiner Weise gegenständlich oder personal bestimmten Sachverhaltes mißverstanden werden darf, sondern daß es sich beim Universumsbegriff um einen Strukturbegriff handelt. 348 Der konstitutive Gehalt dieser Strukturalität besteht dabei in dreierlei. Erstens: Das Universum wird niemals in objektiver Weise als es selbst sichtbar, sondern es realisiert sich nur in einer durch es selbst vermittelten, bildlichen Form. 3 4 9 Zweitens: In diesem Sachverhalt drückt sich bereits die dynamische und produktive Potenz der Universumsstruktur aus. 350 Das Universum be347
S. 11 Iff
348
Ich verweise exemplarisch auf Dilthey: LS I 3 2 6 - 3 3 0 ; Süskind: Einfluß 2 0 - 2 7 ; Hirsch: Geschichte IV 502.504; Hertel: D e n k e n 9 9 - 1 0 5 . D e r Versuch, in der stufenschematischen Entfaltung religionshaltiger Gebiete in der zweiten Rede (R 1 7 8 - 1 0 8 = K G A 1/2, 2 2 3 , 3 0 - 2 3 6 , 2 1 ) die genannten Kreise als lebensweltlich lokalisierbare inhaltliche Äquivalente des Universumsbegriffes verstehen zu w o l l e n (Seifert: Theologie 7 7 - 8 0 ; Beißer: Schleiermachers Lehre 2 6 - 3 2 ) konterkariert dagegen die z u v o r gewonnene Einsicht in den strukturellen C h a r a k t e r des Universumsbegriffes (Seifert: Theologie 6 6 - 7 7 ; Beißer: Schleiermachers Lehre 25).
349
In bewußter, vorläufiger Auslassung der zahlreichen Stellen, die das U n i v e r s u m in einen begrifflichen Zusammenhang mit dem Anschauungsbegriff stellen, verweise
178
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
steht wesentlich als handelnde
350
351
Struktur.351 Drittens: Betrachtet man
ich auf folgende Passagen: Das Universum ist Darstellung des Unendlichen (R 1 56 = K G A 1/2, 214,15); Darstellung seiner selbst (R 1 68 = K G A 1/2, 219,8; R 1 126 = K G A 1/2, 244,18-20; R 1 127 = K G A 1/2, 244,29; R 1 128 = K G A 1/2, 245,6f); es bildet sich im inneren Leben ab (R 1 87f = K G A 1/2, 227,30f); es wird in Bildern dargestellt (R 1 92 = K G A 1/2, 229,23-25; R 1 229f = K G A 1/2, 289,32); es wird ausgesprochen (R 1 182 = K G A 1/2, 269,25); es bildet Ansichten (R 1 202 = K G A 1/2, 278,2; R 1 205 = K G A 1/2, 279,15); es hinterläßt Spuren (R 1 160 = K G A 1/2, 259,14); es personifiziert sich (R 1 186 = K G A 1/2, 271,16). Vgl. auch die wichtige Passage der zweiten Rede, in der das Verhältnis der Menschheit zum Universum exemplarisch diskutiert wird: „(...) fühlt Ihr nicht daß sie [sc.: die Menschheit] dann unmöglich selbst das Universum sein kann? Vielmehr verhält sie sich zu ihm, wie die einzelnen Menschen sich zu ihr verhalten; sie ist nur eine einzelne Form deßelben, Darstellung einer einzigen Modification seiner Elemente (...)" (R 1 104 = K G A 1/2, 234,43-235,3). In besonderer Weise notierenswert ist auch diejenige Passage, die die Strukturalität des Universums als im situativen Anlaß der religiösen Uraffektion in ursprünglicher Weise anschaubar beschreibt: „Schnell und zauberisch entwikelt sich eine Erscheinung eine Begebenheit zu einem Bilde des Universums" (R 1 74 = K G A 1/2, 221,31f). Neben den zahllosen Stellen, die in wechselnder Terminologie den aktiv handelnden Charakter des Universums betonen, ist zunächst diejenige Stelle hervorzuheben, in denen die Selbstdarstellung des Universums als Produktion hervorgehoben wird: „Das Universum bildet sich selbst seine Betrachter und Bewunderer" (R 1 143 = K G A 1/2, 251,36). Ansonsten vgl.: Tat des Universums (R 1 17 = K G A 1/2, 196,1 Of; R 1 57 = K G A 1/2, 214,27); das Universum ist in ununterbrochener Tätigkeit (R 56 = K G A 1/2, 214,9f); das Universum offenbart sich (R 1 56 = K G A 1/2, 214,9f) bzw. es bringt Offenbarungen hervor (R 1 93 = K G A 1/2, 230,5); Handlung en des Universums (R 1 99 = K G A 1/2, 232,35f; R 1 126 = K G A 1/2, 244,13); Veranstaltung des Universums (R 1 100 = K G A 1/2, 233,8); Handeln des Universums (R 1 119 = K G A 1/2, 241,5; R 1 129 = KGA 1/2, 245,18); Einwirkungen des Universums (R 1 120 = K G A 1/2, 241,27f; R 1 178 = K G A 1/2, 267,38); Werk des Universums (R 1 143 = K G A 1/2, 251,44); das Universum wirkt (R 1 196 = K G A 1/2, 275,16) und handelt (R 1 130 = K G A 1/2, 245,39) und schafft (R 1 215 = K G A 1/2, 283,22) und bringt Formen hervor (R 1 254 = K G A 1/2, 301,7f). Eigens hingewiesen werden soll auf diejenigen Passagen, die die religiöse Uraffektion als Werk des Universums bezeichnen. So vgl. z.B. die Deutung des in R 1 142 = K G A 1/2, 251,20-24 angesprochenen uraffektiven Geschehens durch die unmittelbar nachfolgenden - bereits genannten Bestimmungen R 1 143 = K G A 1/2, 251,36 („Das Universum bildet sich selbst seine Betrachter und Bewunderer [...]") und R 1 143 = K G A 1/2, 251,43 („So ist Jeder und Jedes in Jedem ein Werk des Universums [...]"). Zum strukturellen Charakter des Universums gehört also der Sachverhalt, daß das Universum selbst wesenhaft Handeln ist (dies betont ausdrücklich z.B. auch Hertel: Denken 99-102). Das Universum darf also keinesfalls zugleich einerseits als apersonal und ungegenständlich, andererseits als personalisiertes Handlungssubjekt vorgestellt werden. Allerdings ist dieses paradoxale Mißverständnis (das z.B. bei Beißer: Lehre Schleiermachers 25.40 zum Ausdruck kommt) von Schleiermacher selbst vorgezeichnet; und zwar in der redeninternen Unaufgelöstheit des Widerspruches zwischen der bewußten Vermeidung des personalen Gottesbegriffes einerseits (R 1 124-130 = K G A 1/2, 243,22-246,8) und der personalisierten Terminologie im Zusammenhang der Entfaltung des Handlungsaspektes als wesentliche Eigenschaft des Universums andererseits.
III. Das aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
179
die Realisate des handelnden Universums, so läßt sich feststellen, daß sie sich sämtlich einer Bindung des Unendlichen an das Endliche verdanken: Im Begriff Gottes 3 5 2 und der Welt 353 , in Geschichte 354 und Natur 3 5 5 , in der Menschheit 356 und in jedem einzelnen Menschen 357 , in jeder gemeinschaftlichen Einzelreligion 358 wie sogar in der Kunst 359 verschafft sich eine je individuelle Erscheinung des Unendlichen im Endlichen Geltung 3 6 0 , die Universumsstruktur selbst ist dagegen der Sphäre des Unendlichen zuzuzählen. 361 Im Universumsbegriff findet die strukturelle, poietische Bedingung der Möglichkeit der Bindung des Unendlichen an das Endliche ihren begrifflichen Ausdruck. Die genannten Bestimmungen gelten nun in analoger Weise auch für den Individualitätsbegriff. Denn auch bei dem die Individualität abbildenden Begriff des Individuums handelt es sich um einen reinen Strukturbegriff. 362 Die Kennzeichen dieser Strukturalität können wiederum nach den drei oben genannten Gesichtspunkten geordnet benannt werden. Erstens: Jedes Individuum ist als gebunden realisiertes - nach einem Individualisierungsprinzip entstandenes 363 - Resultat aufzufassen. Das konkrete Individuum ist Erscheinung 364 oder D o k u 352
R1 R1 354 R1 355 R1 356 R 1 353
357
358
359 360
361
126-130 = K G A 1/2, 244,11-246,8 42 = K G A 1/2, 208,16-19 99-104 = K G A 1/2, 232,29-234,32 78-87 = K G A 1/2, 225,23-227,24 9 Q_ 9 8 = K G A I / 2 j 228,41-232,5
R 1 53 = K G A 1/2, 212,37-213,1; R 1 87f = K G A 1/2, 227,25-33; R 1 233 = K G A 1/2, 291,22f R 1 237f = K G A 1/2, 294,15-18; R 1 247 = K G A 1/2, 298,25f; R 1 248 = K G A 1/2, 298,39f R 1 166-170 = K G A 1/2, 262,2-263,15 So auch Dilthey: LS II/2 585 und Süskind: Einfluß 23-25. Daß der Universumsbegriff damit in genuiner Weise einem Sachverhalt Ausdruck gibt, der im traditionellen Gottesbegriff nicht notwendigerweise und in den Aquivalenzbegriffen überhaupt nicht zur Darstellung gelangt, läßt sich auch im umgekehrten Verfahren, über eine Aufstellung dieser Aquivalenzbegriffe (etwa bei Lasch: Religionsbegriff 7-10), erheben. R 1 117 = K G A 1/2, 240,25f; R 1 153 = K G A 1/2, 256,2-5; R 1 165 = K G A 1/2, 261, 20-22
362
363 364
Vgl. R 1 86 = K G A 1/2, 227,8. Deutlich wird dies auch bei dem Blick auf die Verschiedenheit der beiden Gegenstände, die als Individuen bezeichnet werden können: Der einzelne Mensch als Individuum der Menschheit (z.B. in dem Passus R 1 90-99 = K G A 1/2, 228,41-232,28) und die einzelne gemeinschaftlich organisierte Religionsform als Individuum der Religion insgesamt (z.B. in dem Passus R 1 242-279 = K G A 1/2, 296,24-311,23). R 1 241 = K G A 1/2, 296,3f; R 1 185 = K G A 1/2, 270,30-32 R 1 143 = K G A 1/2, 251,38f
180
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
mentation 365 oder Symbol 366 . Zweitens: In dieser Eigenschaft kommt bereits der produkthafte Charakter des Individuums zur Geltung. 367 Drittens: Der Individuumsbegriff bezeichnet das Ergebnis des Bindungsprozesses von Unendlichem an Endliches 368 , wobei das Individuum selbst (als die in der Erscheinung realisierte Verbindung) der Sphäre des Endlichen zuzuzählen ist. 369 Im Individuumsbegriff findet die strukturelle, phänomenologisierte Form der Wirklichkeit der Bindung des Unendlichen an das Endliche ihren begrifflichen Ausdruck. Wirft man nun von dieser Materialsammlung aus einen Blick auf das Verhältnis zwischen dem Universum und dem Individuum, so wird man keine vollständige Ausgewogenheit, sondern eine Teilparität im Korrespondenzverhältnis erkennen müssen. Zunächst finden sich die oben im Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem angetroffenen korrespondenten Züge des Formprinzips wieder. Erstens: Sowohl das Universum als auch das Individuum realisieren sich als je eigenständige Pole erst im Augenblick ihrer Verbindung. Das unendliche Universum gewinnt seine vom Individuum spezifisch unterschiedene Gestalt erst in der individualisierten Darstellung 370 , das endliche Individuum dagegen gewinnt seine vom Universum spezifisch geschiedene Gestalt ebenfalls erst in seiner Funktion als der einzig möglichen Ausdrucksgestalt von Universalität 371 . Damit fallen auch im Verhältnis zwischen dem Universum und dem Individuum der Konstitutionsakt und der Erscheinungsakt der jeweiligen Pole unterschiedslos in eins. Zweitens: Im Universumspol überwiegt zwar das Unendliche, das Endliche ist aber zumindest als Potenz in ihm enthalten, insofern das unendliche Universale sich nur als endliches Individuelles anschaulich realisiert. Umgekehrt läßt sich auch für den Individuumspol feststellen, daß in ihm das Endliche zwar überwiegt, das Unendliche aber zumindest als Potenz verortbar ist, insofern das endliche Individuelle sich stets nur als Darstellung des unendlichen Universalen anschaulich realisiert. Für den oppositiven Aspekt der Verhältnisstruktur bestätigt R 1 268 = K G A 1/2, 307,2 R 1 53 = K G A 1/2, 213,3-7 3 6 7 Das Individuum wird zustande gebracht (R 1 259 = K G A 1/2, 303,32) bzw. zur Welt gebracht (R 1 265 = K G A 1/2, 305,39-306,2) bzw. es kommt zur Existenz (R 1 271 = K G A 1/2, 3 0 8 , 2 1 0 bzw. es entwickelt sich (R 1 259 = K G A 1/2, 303,17-19). 3 6 8 R 1 268 = K G A 1/2, 307,1-5 369 R i 9 4 = K G A I / 2 ; 230,27-32; R 1 104f = K G A 1/2, 234,41-235,9; R 1 131 = K G A 1/2, 246,13-18 3 7 0 Vgl. z.B. R 1 257f = K G A 1/2, 302,32-35; R 1 265 = K G A 1/2, 305,39-306,2 3 7 1 Vgl. z.B. R 1 92 = K G A 1/2, 229,20-24; R 1 114 = K G A 1/2, 239,5-7 365
366
III. Das aus den Z ü g e n der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
181
dies, daß Individuum und Universum nicht in einem kontradiktorischen absoluten, sondern in einem korrespondierenden relativen G e gensatz zueinander stehen. 372 U b e r diese Bestätigungen der bereits oben am Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem erhebbaren Zügen des gesuchten F o r m prinzips hinaus läßt sich aus der Betrachtung der Relation zwischen Universum und Individuum freilich noch ein zusätzlicher Aspekt erheben, der die Priorität der Pole betrifft. Denn bereits beim Blick auf die unterschiedliche Produktivität der beiden Pole ist die Prävalenz des aktiv produzierenden Universums vor dem passiv produzierten Individuum erkennbar. So kann Schleiermacher dann auch nicht nur in Zusammenhängen, die die Geschöpflichkeit des individuellen Menschen betreffen 3 7 3 , sondern anderwärts (im Zusammenhang der Diskussion der Vorzüge des Universumsbegriffes vor dem traditionellen Gottesbegriff) auch dezidiert und grundsätzlich festhalten: „ ( . . . ) jede Gattung mit ihrem Individuum ist dem Universum untergeordnet" 3 7 4 . D e r stofflosen und aktiven, aus dem Unendlichen herkommenden Bedingung der Möglichkeit der Verbindung des Endlichen mit dem Unendlichen kommt der initiative Primat dieser Verbindung zu. Das Universum ist das aktiv handelnde Prinzip, das Individuum das gegenständlich passive Resultat derjenigen Verbindung, in der das Universum und die Verbindung zwischen Endlichem und Unendlichem allein angeschaut werden können.
c) Die Struktur des Binnenverhältnisses der religiösen Funktionen „Anschauung" und „ Gefühl" des Menschen als disjunktive Polarität. Auf die uneindeutige Gestalt, die die Entfaltung der religiösen Funktion des menschlichen Bewußtseins in ihrer Doppelbestimmung als „Anschauung" und „Gefühl" (bzw. als deren Substitutsbegriffe) 372
E c k : Individualität 3 3 - 4 0 . Dieser Zug des Verhältnisses wird auch nicht d u r c h die Passagen R 1 1 3 2 . 1 6 6 = K G A 1 / 2 , 2 4 6 , 3 4 - 3 6 . 2 6 1 , 3 2 - 3 7 in F r a g e gestellt, in denen von der sittlichen N o t w e n d i g k e i t des Strebens nach einer Vernichtung der Individualität zugunsten der Universalität die Rede ist. D e n n die genannten Passagen diskutieren die rein hermeneutischen F o l g e n der Einsicht in das Korrespondenzverhältnis zwischen U n i v e r s u m und Individuum, indem sie zu einer angemessenen - eben: nicht verabsolutierenden - F o r m der Selbstanschauung (als einer naheliegenden, aber komplizierten Sondergestalt der Betrachtung eines Individuums) auffordern. D a ß Schieiermacher in dieser hermeneutischen M a x i m e eine bereits im N e u e n Testament wurzelnde, ambivalente Bewertung des Ich aufnimmt, hält schon H u b e r : Entwicklung 2 7 f fest.
373
Vgl. z.B. R 1 143 = K G A 1 / 2 , 2 5 1 , 4 4
374
R 1 126 = K G A 1 / 2 , 2 4 4 , 5 f
182
Zweites Kapitel: D i e Frömmigkeitstheorie in den Reden
erhält, konnte bereits der oben 375 gegebene Auszug aus der Forschungsgeschichte aufmerksam machen. Im folgenden werde ich mich der Betrachtung ihres Korrelatsverhältnisses unter dem speziellen Gesichtspunkt widmen, inwiefern diese Verhältnisgestalt wesentliche Aspekte des religionskonstituierenden bipolaren Formprinzips akzentuiert und fortbildet. Dabei möchte ich die Leitthese entfalten, daß Schleiermacher die Pointe der Bestimmung der religiösen Funktion als des Ineinander von Anschauung und Gefühl - in der dieser Zusammenordnung zugrundeliegenden korrelativen Verhältnisstruktur untergebracht hat: Die den Einzelpositionen zugedachten funktionalen Aufgaben qualifizieren sich gegenseitig und lassen sich also auch nur im jeweiligen Kontrast verstehen. Zur Ausführung dieser These will ich mich dem Binnenverhältnis der religiösen Funktionen ein weiteres Mal nicht im primären Hinblick auf deren begriffliche Bestimmung nähern, sondern im Ausgang von ihrem gemeinsamen Sitz im religiösen Rezeptionsorgan. Diese Annäherung soll zunächst für die Erstauflage der Reden durchgeführt werden, anschließend sollen deren Ergebnisse kurz mit den in R 2 und R 3 herrschenden Verhältnissen verglichen werden. (1) Das Binnenverhältnis der religiösen Funktionen in der Erstauflage. Die Grundlage für das Verständnis der religiösen Funktionen des Menschen wird durch den weiteren Zusammenhang der Schilderung des „ersten geheimnisvollen Augenblickes" in der zweiten Rede gebildet 376 . Hier werden die religiösen Funktionen erstmals als äquivalente Teilfunktionen „Anschauung" und „Gefühl" benannt, hier werden deren Teilaufgaben fixiert und hier werden diese Teilaufgaben als nur in der vorauszusetzenden Einheit von Anschauung und Gefühl erkennbar bestimmt. Inwiefern der genannte Textkomplex damit also das thematische wie das hermeneutische Fundament der Betrachtung von Anschauung und Gefühl bildet, läßt sich in einer kurzen, unter dem hier fraglichen Gesichtspunkt durchgeführten Kompositionsanalyse des Textkomplexes R 1 71-78 erkennen: Zwischen die bewußtseinstheoretische Herleitung der religiösen Funktionen Anschauung 377 und Gefühl 3 7 8 und die applikative Ent375 376 377
378
S.o. S. 107ff R 1 71-78 = K G A 1/2, 220,29-222,20 R 1 55-66 = K G A 1/2, 213,34-218,20 (in der im Anhang beigegebenen Gliederung vgl. zur zweiten Rede den Pkt. 1.2.1.) R 1 66-71 = K G A 1/2, 218,20-220,29 (im Anhang Gliederungspkt. 1.2.2.)
III. D a s aus den Z ü g e n der U r a f f e k t i o n abstrahierbare Wesen der Religion
183
faltung einzelner religiöser Anschauungen 3 7 9 und Gefühle 3 8 0 schaltet Schleiermacher ein zweiteiliges Scharnierstück 3 8 1 . Dessen erster Teil 382 widmet sich den darstellungstechnischen Aspekten der Einheit von Anschauung und Gefühl, wohingegen der zweite Teil 383 die religiöse Uraffektion als Konstitutionsgrund und Erscheinungspunkt der Einheit von Anschauung und Gefühl benennt. Betrachtet man diesen Textkomplex nun einmal nur unter dem Gesichtspunkt, wie er in der Akzentuierung der Einheit von Anschauung und Gefühl gleichwohl die Bereiche funktionaler Korrelativität von Anschauung und Gefühl benennt, so lassen sich folgende Beobachtungen über die kunstvolle achtschrittige Komposition der Passage treffen: Der Abschnitt beginnt - in seinem hermeneutischen Teil - mit der einleitenden Versicherung der wesenhaften Ungetrenntheit von Anschauung und Gefühl 3 8 4 (a). Die für jede Betrachtung und Artikulation dieser Einheit unvermeidliche Zerlegung findet jedoch in zweierlei Hinsicht statt: sobald diese Einheit unter dem kategorialen Aspekt von Spontaneität und Rezeptivität reflektiert wird 3 8 5 (b), und sobald diese Einheit unter dem kategorialen Aspekt von Subjektivität und Objektivität reflektiert wird 3 8 6 (c). Den Ubergang zur Darstellung des uraffektiven Geschehens bildet wiederum die Betonung der Ungetrenntheit von Anschauung und Gefühl 3 8 7 (a). Darauf folgt die Wiederholung der beiden oben genannten Bereiche im Dreischritt: Ungetrennt (a) sind Anschauung und Gefühl sowohl im Blick auf ihre subjektiven bzw. objektiven Gehalte 3 8 8 (c) als auch im Blick auf ihre spontanen bzw. rezeptiven Gehalte 3 8 9 (b), erst im Moment ihrer Trennung erscheint die Differenz zwischen dem objektiven Gehalt der Anschauung und 379
R 1 78-108 = K G A 1/2, 223,20-236,21 (im Anhang Gliederungspkt. 1.4.1.)
380
R' R' R1 R1 R1
381 382 383 384
108-115 = K G A 1/2, 236,22-239,28 (im A n h a n g Gliederungspkt. 1.4.2.) 71-78 = K G A 1/2, 220,29-223,19 (im Anhang Gliederungspkt. 1.3.) 71-73 = K G A 1/2, 220,29-221,19 (im Anhang Gliederungspkt. 1.3.1.) 73-78 = K G A 1/2, 221,20-223,19 (im Anhang Gliederungspkt. 1.3.2.) 71f = K G A 1/2, 220,31-35
R 1 72 = K G A 1/2, 221,4f ( „ [ . . . ] der herrschenden und nach außen wirkenden, und der bloß zeichnenden und nachbildenden [ . . . ] " Tätigkeit) 386 R i 7 2 = K G A 1/2, 221,6-10 385
R 1 73 = K G A 1/2, 221,13-19 388 r i 73 _ K G A 1/2, 221,21f ( „ [ . . . ] w o der Sinn und sein G e g e n s t a n d gleichsam in einander gefloßen und Eins g e w o r d e n sind [ . . . ] " ) 387
389
R 1 74 = K G A 1/2, 221,36-40 ( „ [ . . . ] ich fühle alle ihre K r ä f t e und ihr unendliches Leben, wie mein eigenes [...], ihre innersten N e r v e n bewegen sich nach meinem Sinn und meiner A h n d u n g wie die meinigen [ . . . ] " )
184
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
dem subjektiven Gehalt des Gefühls 3 9 0 (c). Der hier einschlägige Abschnitt endet mit der wiederholenden Betonung der ursprünglichen Einheit und Ungetrenntheit von Anschauung und Gefühl 3 9 1 (a). Aus dieser, Leitmotive variierenden Komposition lassen sich nun die Gesichtspunkte für die Untersuchung des Binnenverhältnisses der religiösen Funktionen erheben. Ich will dieses Binnenverhältnis unter drei Aspekten untersuchen: Erstens im Blick darauf, in welcher Weise die religiösen Funktionen sich der Differenzierung zwischen Spontaneität und Rezeptivität verdanken, zweitens im Blick darauf, in welcher Weise die religiösen Funktionen darüber hinaus die Bipolarität zwischen Subjekt und Objekt aufnehmen und drittens im Blick darauf, in welcher Weise von den differenten religiösen Funktionen doch nicht anders als ungetrennt geredet werden kann. Erstens: Die den Reden zugrundeliegende Theorie des seelischen Lebens kennt bekanntlich zwei Grundkräfte, denen alles seelische Leben sich verdankt: einerseits die überwiegend aktive, spontane, sich selbst verbreitende, abstoßende Bewegung und andererseits die überwiegend passive, rezeptive, an sich ziehende, aneignende Bewegung. 3 9 2 Diese „beiden Urkräfte der Natur" 3 9 3 bestimmen nicht nur die wissende und die wollende Form des seelischen Lebens, sondern selbstverständlich auch die Binnengestalt der von diesen Formen unterschiedenen religiösen Form des seelischen Lebens. Denn dieser von Wissen und Wollen unterschiedene eigene Bereich diversifiziert sich in zwei differente Modi, in denen sich die rezeptive und die spontane Grundkraft realisieren: einen (präreflexiven und prävoluntativen) Aufnahmemodus und einen (präreflexiven und prävoluntativen) Gestaltungsmodus. Der erstgenannte wird von Schleiermacher als „Sinn" 394 bezeichnet, der zweitgenannte als „Phantasie" 3 9 5 . Das eigentümliche 390
391 392 393 394
395
l 7 4 _ k g A 1/2, 2 2 2 , 1 - 4 („[...] nun erst steht die Anschauung v o r mir als eine abgesonderte Gestalt [...], und nun erst arbeitet sich das G e f ü h l aus dem Innern e m p o r [...]") R 1 74 = K G A 1/2, 2 2 2 , 1 3 - 1 7 R ' 5 - 9 = K G A 1/2, 1 9 1 , 1 0 - 1 9 2 , 3 9
R
R 1 6 = K G A 1/2, 1 9 1 , 2 1 U n t e r den zahlreichen Bezugnahmen auf den Sinn greife ich die ausführlichste und detaillierteste Bestimmung in R 1 1 4 8 - 1 5 0 = K G A 1/2, 2 5 3 , 3 8 - 2 5 4 , 3 2 heraus. Vgl. ü b e r die berühmte Stelle R 1 128f = K G A 1/2, 2 4 5 , 1 6 - 3 0 hinaus auch die dezidierte Entgegenstellung der Phantasie z u m Sinn R 1 1 6 0 = K G A 1/2, 2 5 9 , 5 - 1 9 oder die Betonung des aktiv-willentlichen Zuges der Phantasie in R 1 60f = K G A 1/2, 2 1 6 , 6 - 8 ; R 1 84f = K G A 1/2, 2 2 6 , 1 8 - 2 1 . Ansonsten auch R 1 1 3 9 = K G A 1/2, 2 5 0 , 1 8 2 1 ; R 1 1 4 6 f = K G A 1/2, 2 5 3 , 3 - 3 8 ; R 1 182 = K G A 1/2, 2 6 9 , 2 6 - 3 0 ; R 1 2 6 7 = K G A 1/2, 3 0 6 , 3 4 - 4 0 .
III. Das aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
185
Wesen der Religion findet Schleiermacher nun nicht im religiösen Gestaltungsmodus, dessen in den Bereich der nachgängigen Reflexion übergehenden Produkten er vergleichsweise geringe, lediglich exemplarische Aufmerksamkeit widmet 396 , sondern in dem Aufnahmemodus der Religion, dem Sinn. Die Diversifizierung zwischen Spontaneität und Rezeptivität in ihrer Aufteilung auf Sinn und Phantasie trägt dabei nun nach der gedanklichen Konstruktion, die Schleiermacher später als den relativen, doppelten Gegensatz bezeichnet397 und deren Grundidee hier bereits wahrnehmbar ist, keinesfalls absoluten, sondern lediglich verhältnismäßigen Charakter. Denn daß die religiöse Phantasie als der spontane und der religiöse Sinn als der rezeptive Pol der Formen des religiösen Lebens nicht ausschließlich, sondern lediglich überwiegend spontane bzw. rezeptive Züge tragen, wird zunächst daran deutlich, daß dem Sinn durchaus auch spontan zu nennende398 und der PhantaAus den genannten Stellen wird unter anderem deutlich, daß mit dem eng gefaßten Begriff des „Sinnes" hier etwas anderes gemeint ist als mit dem weit gefaßten Begriff des Sinnes im Zusammenhang der Beschreibung der religiösen Uraffektion ( „ [ . . . ] wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam in einander gefloßen [ . . . ] sind": R ' 73 = K G A 1/2, 221,21f). Denn im ersten Falle bezeichnet Schleiermacher mit „Sinn" eine Teilfunktion der menschlichen Seele im Gegensatz zu einer anderen Teilfunktion, im zweiten Falle dient ihm der Sinnbegriff zur Unterscheidung des Ganzen der innerseelischen Funktionsweise von ihren außerseelischen Anlässen. Ich weise deswegen ausdrücklich auf diesen Sachverhalt hin, weil sich an diesem Fall noch einmal in exemplarischer Weise die gesamte Problematik der unscharfen Begrifflichkeit der Reden verdichtet. Erstens, weil sich zeigt, inwiefern die begriffsanalytisch gewonnenen Ergebnisse stets nur vorbehaltliche Geltung beanspruchen können (vgl. etwa die meiner Deutung widersprechende Zuordnung von Sinn, Phantasie und Anlage bei Seifert [Seifert: Theologie 68-72]). Zweitens, weil die Problematik der begrifflichen Unscharfe von Schleiermacher selbst nicht nur in allgemeiner Hinsicht erkannt und aufgenommen worden ist (vgl. oben S. 123), sondern weil sie im direkten Zusammenhang des Sinnbegriffes noch einmal eigens angesprochen wird. ( R 3 [1821], ed. Pünjer 135,2-15 [Erläuterung Nr. 2 zur zweiten Rede]). Und drittens läßt sich an diesem konkreten Begriffsproblem auch noch einmal exemplarisch die Sachgemäßheit des meine Interpretation leitenden methodischen Grundsatzes verifizieren, dem Duktus der Reden folgend von der Begriffsanalyse weitestmöglichen Abstand zu nehmen. Denn die behauptete grundsätzliche Korrelationsstruktur setzt Schleiermacher, wie aus anderen Zusammenhängen hervorging, ja in der Tat sowohl für das Binnenverhältnis zwischen den Teilfunktionen der Seele als auch für das Verhältnis zwischen Innerseelischem und Außerseelischem in identischer F o r m voraus - aber das ist eben nur in der Abstraktion von der konkreten, variierenden Begrifflichkeit wahrnehmbar. 396
397 398
Nämlich in der Diskussion des traditionellen Gottesbegriffes R 1 124-130 = K G A 1/2, 243,22-246,8. S.o. S. 38ff Vgl. z.B. R 1 148 = K G A 1/2, 2 5 4 , l f
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Zweites Kapitel:
Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
sie durchaus auch rezeptiv zu nennende 399 Eigenschaften zugeschrieben werden können. Dies erschließt sich in der Betrachtung der doppelten Bestimmheit des Sinnes. Denn der passive religiöse Sinn verfügt nach Schleiermacherscher Auffassung wiederum über zwei Funktionen - „Anschauung" und „Gefühl". Beide können von Schleiermacher sowohl als rezeptive wie auch als spontane Formen beschrieben werden. 400 Will man zur Bestimmung des hier interessierenden Verhältnisses der beiden Funktionen des religiösen Sinnes, „Anschauung" und „Gefühl", den Gegensatz zwischen Spontaneität und Rezeptivität als Parameter zugrundelegen, so ist festzuhalten: Beide Funktionen gehören zwar dem religiösen Sinn als dem - primär rezeptiven - Aufnahmemodus des religiösen Bewußtseins an; sie äußern sich jedoch beide in spontaner und rezeptiver Form. 401 Zweitens: Eine genaueres Bild der Zusammengehörigkeit beider Funktionen erschließt sich über die Betrachtung desjenigen Verhältnisses, in dem diese Funktionen zum Grundgegensatz zwischen Subjekt und Objekt stehen. Denn die Anschauung richtet sich ihrer ursprünglichen Funktion nach auf die gegenständlichen, außenweltlichen Objekte 4 0 2 , während das Gefühl seinen Ursprung im Inneren des Subjektes nimmt 4 0 3 . Die Anschauung bildet sich dadurch, daß Elemente des in sich einen Stoffes „zum Bilde eines Objekts" 4 0 4 zusammentreten und insofern die empirisch vermittelbare Gegenständlichkeit 405 des Stoffes repräsentieren, während das Gefühl sich dadurch entwickelt, daß die Elemente des einen Stoffes „zum Mittelpunkt unsers Wesens" 406 vordringen und insofern die innersubjektive 407 Präsenz des 399 400
401
R 1 93 = K G A 1/2, 2 3 0 , 3 - 9 So kann Schleiermacher das G e f ü h l z.B. in R 1 1 1 4 = K G A 1/2, 239,4f und in R 1 1 1 2 = K G A 1/2, 2 3 8 , 1 5 als überwiegend spontan beschreiben - daneben aber z.B. in R 1 1 2 0 = K G A 1/2, 2 4 1 , 2 7 f und in R 68f = K G A 1/2, 2 1 9 , 2 2 - 2 4 als rezeptive Form. Ebenso findet sich in R 1 55 = K G A 1/2, 2 1 3 , 3 8 - 2 1 4 , 1 eine den Spontaneitätscharakter der Anschauung betonende Beschreibung und in R 1 55f = K G A 1/2, 2 1 4 , 1 - 6 dagegen eine die Rezeptivität der Anschauung hervorhebende Beschreibung. D a ß der Gegensatz v o n Spontaneität und Rezeptivität zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Anschauung und G e f ü h l ungeeignet sei, hält auch Huber: Entwicklung 2 3 . 3 0 fest. Dagegen ordnet K. Barth der Anschauung den rezeptiven M o d u s und dem G e f ü h l den spontanen M o d u s zu (K. Barth: Schleiermacher 155). Vgl. auch die Beschreibungen der Entzündungsanlässe der Anschauung in R 1 7 8 - 1 0 8 = K G A 1/2, 2 2 3 , 2 0 - 2 3 6 , 2 1
403 404
R 1 1 2 0 = K G A 1/2, 2 4 1 , 2 9 f R 1 72 = K G A 1/2, 2 2 1 , 7 f
R 1 73 = K G A 1/2, 2 2 1 , 2 2 406 R 1 7 2 = K G A I / 2 ) 2 2 1 , 8 f 405
407
R ' 73 = K G A 1/2, 2 2 1 , 2 2
III. Das aus den Zügen der U r a f f e k t i o n abstrahierbare Wesen der Religion
187
Stoffes repräsentieren. So ist die Anschauung das Resultat der Tatsache, daß „Euere Organe [...] den Zusammenhang zwischen dem Gegenstande und Euch" 408 vermitteln, während das Gefühl als Ausdruck der Veränderungen „in Euerm innern Bewußtsein" 409 zeichnet. Indessen besteht die Relation zwischen Subjektivität und Objektivität nicht als ein Verhältnis des absoluten Gegensatzes. Schon die Tatsache, daß Subjektivität und Objektivität in der - unten zu betrachtenden - vermittelten Weise des Zusammenseins von Anschauung und Gefühl aufeinander hingeordnet sind, ließe erwarten, daß das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität sich einer die Gegensätzlichkeit relativierenden Korrelationsstruktur verdankt. Doch läßt sich auch vorher, auf der Seite der gegenstandsbezogenen Anschauung, sehen, daß nach Schleiermachers Meinung der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt nicht nur relativiert ist, sondern daß er nachgerade als aufgehoben gelten muß. Denn zum Inhalt der objektiven, gegenständlichen Wahrnehmung avanciert ein struktureller Sachverhalt, als dessen Wesen gerade dessen Nichtgegenständlichkeit festgehalten wurde: das Universum nämlich. Die Pointe des zur „allgemeinste[n] und höchste[n] Formel der Religion" 410 nobilitierten Ausdruckes „Anschauen des Universums" 411 besteht also gerade in seinem Paradoxalcharakter: Die innersubjektiv zu lokalisierende Bindung des Unendlichen und des Endlichen beansprucht die Evidenz des objektiven Gegenstandes. 412
408
R 1 6 6 = K G A 1/2, 2 1 8 , 2 2 f
409
R 1 66 = K G A 1/2, 2 1 8 , 2 5
410
R 1 55 = K G A 1/2, 2 1 3 , 3 5 f
4n
R ' 55 = K G A 1/2, 2 1 3 , 3 4 D a ß dieser G e d a n k e in der Formel „Anschauen des Universums" enthalten sei, betont im Zusammenhang der Diskussion des objektiven Gehaltes der A n s c h a u u n g auch G r a f : K o i n z i d e n z 1 5 7 A n m . 2 9 hin. Problematisch scheint dagegen die A r g u mentation Seiferts (Seifert: Theologie 72) und Hertels (Hertel: D e n k e n 102), die im nämlichen Zusammenhang eine briefliche Ä u ß e r u n g Schleiermachers an Sack (Briefe IV 305, v o m 2 8 . 1 2 . 1 8 2 2 ) zur Unterstützung anführen: „Ebenso wenig existirt f ü r mich der Gegensatz zwischen dem Objectiven und Subjectiven in dieser Beziehung. Denn das Subjective ist ja eben deshalb das Objective, weil es die göttliche O f fenbarung in dem Menschen ist (...)." Erstens unterschlagen beide Interpreten den Nachsatz der fraglichen Passage, die das Entfaltete gänzlich untauglich als K o m mentar zu den Reden macht: „(...) w i e ich in der Einleitung zur Dogmatik genauer auseinander sezen konnte, als in den Reden (...)". Zweitens ist zu fragen, o b in dem genannten Zusammenhang nicht in der Tat auf den G e d a n k e n der K o n s t i t u t i o n v o n Subjektivität im Innewerden der Frömmigkeit Bezug genommen wird, welcher G e d a n k e auch wirklich erst in der Glaubenslehre systematisch entfaltet wird, w i e zu zeigen sein wird.
4,2
188
Zweites Kapitel: D i e Frömmigkeitstheorie in den Reden
Drittens: D o c h alle diese Näherbestimmungen der Anschauung als der überwiegend objektbezogenen Funktion und des Gefühls als der überwiegend subjektbezogenen Funktion stehen unter der Voraussetzung, daß Anschauung und Gefühl stets gemeinsam bestehen. Jede Anschauung ist „ihrer Natur nach mit einem Gefühl verbunden" 4 1 3 , Anschauung und Gefühl sind „ursprünglich Eins und ungetrennt" 4 1 4 , sind „innig (...) verbunden" 4 1 5 . Sucht man daher nach Bestimmungen, die über die nähere Gestalt der Verbindung Aufschluß geben könnten, so läßt sich festhalten: Erstens, Anschauung und Gefühl erscheinen nicht nur stets miteinander, sondern sie stehen offensichtlich auch in einem gegenseitigen Konstitutionsverhältnis. Sie entstehen als sie selbst jeweils erst auf der Folie ihres Gegenpoles. 4 1 6 Zweitens, in der Entstehung der Verbindung von Anschauung und Gefühl liegt der Konstitutionsprimat auf Seiten der das Bild des affizierenden Gegenstandes vermittelnden Anschauung. „Vom Anschauen muß alles ausgehen" 4 1 7 , woraufhin erst aus den Anschauungen die Gefühle „nothwendig (...) herfließen" 4 1 8 werden. 4 1 9 Drittens, trotz des Konstitutionsprimates der Anschauung ist die Dynamik des Verhältnisses rein formal durch eine Äquivalenz der Pole geprägt: Stets herrscht ein relatives, niemals hingegen ein ausschließliches Uberwiegen des einen oder des anderen Poles. 4 2 0 Viertens, diese formale Äquivalenz erklärt sich mit der funktionalen Aufeinanderbezogenheit der Pole: Die Anschauung liefert der Religion den individuellen inititalen Inhalt, das Gefühl dagegen die individuell gewisse Form. 4 2 1 Freilich: als Verfikationsinstanz der genannten Bestimmungen über das Verhältnis zwischen dem subjektbezogenen Element in der Religion und dem primär objektbezogenen Element figuriert nun wie4.3
R 1 66 = K G A 1/2, 218,22
4.4
R 1 73 = K G A 1/2, 221,19; ebenso R 1 75 = K G A 1/2, 222,17 R 1 108 = K G A 1/2, 236,24
415 416
4.7 4.8 419
„ A n s c h a u u n g ohne G e f ü h l ist nichts und kann weder den rechten U r s p r u n g noch die rechte K r a f t haben, G e f ü h l ohne A n s c h a u u n g ist auch nichts ( . . . ) " (R 73 = K G A 1/2, 221,16-18) R 1 54 = K G A 1/2, 213,16 R 1 108 = K G A 1/2, 236,25 Vgl. auch R 1 66f = K G A 1/2, 218,20-35
420
„ N u r daß in der Religion ein anderes und festeres Verhältniß zwischen der Ans c h a u u n g u n d d e m G e f ü h l statt findet, und nie jene s o sehr überwiegt daß dieses beinahe verlöscht w i r d . " (R 1 67 = K G A 1/2, 218,39-219,1)
421
„ S o wie die besondere Art wie das U n i v e r s u m sich E u c h in Euren Anschauungen darstellt, das Eigenthümliche E u r e r individuellen Religion ausmacht, so bestimmt die Stärke dieser G e f ü h l e den G r a d der Religiosität. " (R 1 68 = K G A 1/2, 219,6-9)
III. Das aus den Zügen der Uraffektion abstrahierbare Wesen der Religion
189
derum die religionskonstituierende Uraffektion. Denn sämtliche Bestimmungen finden ihre Ableitung aus der Schilderung des „ersten geheimnisvollen Augenblickes". Betrachten wir noch einmal den Moment, in dem Anschauung und Gefühl sich verbinden, so ist festzuhalten, daß Anschauung und Gefühl in dem ihre temporäre Vereinigung beendenden Moment als eine abgesonderte, gegenständliche Gestalt 422 bzw. als ein innersubjektiver Zustand 423 „beide an ihren ursprünglichen Plaz zurükkehren" 4 2 4 . Nur in der Geschehensbeschreibung erschließt sich also die Grundvoraussetzung aller oben genannten Entfaltungen: daß es sich bei der unter dem Begriff der „Anschauung" gemeinten Objektivität und bei der als „Gefühl" zusammengefaßten Subjektvität um etwas kategorial Unterschiedenes handelt, das sich erst durch den Moment des gemeinsamen Erscheinens als das voneinander Unterschiedene qualifiziert. Die Pointe der Rede von „Anschauung" und „Gefühl" besteht also nicht darin, daß durch die genannten Begriffe spezifisch religiöse Sonder- oder Einzelfunktionen ausgedrückt wären, sondern vielmehr darin, daß in dem Korrelatsverhältnis von Anschauung und Gefühl das wechselseitige Qualifikationsverhältnis von Subjektivität und Objektivität als das Wesen der Religion behauptet wird. Dieses Wesen besteht darin, daß die für alles Wissen und alles Wollen fundamentalen Kategorien der Objektivität und der Subjektivität im religiösen Akt erschlossen und im religiösen Leben beansprucht werden. 425 (2) Das Binnenverhältnis der religiösen Funktionen in den Folgeauflagen. Der zuletzt genannte Grundgedanke wird nun in den Folgeauflagen der Reden keineswegs aufgegeben, sondern im Gegenteil noch verstärkt. Dieser Sachverhalt läßt sich durch den Blick auf die die Beschreibung des ersten geheimnisvollen Augenblicks enthaltende Passage verdeutlichen. Dabei ist zunächst daran zu erinnern, daß der kontextuelle Bezug der Beschreibung des „ersten geheimnisvollen Augenblickes" ja ausgedehnt worden war: Die religiöse Uraffektion figuriert 422 423 424 425
R 1 74 = K G A 1/2, 222,1-4 R 1 74 = K G A 1/2, 222,4 R 1 73 = K G A 1/2, 221,23 „Jener erste geheimniß volle Augenblik, der bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen, wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden sind (...), ich wollte (...) Ihr könntet ihn festhalten und auch in der höheren und göttlichen religiösen Thätigkeit des Gemiiths ihn wieder erkennen " (R 1 73 = K G A 1/2, 221,20-26; Hervorhebung von mir)
190
Zweites Kapitel:
D i e Frömmigkeitstheorie in den Reden
in R 2 f ausdrücklich als Ursprung der Einheit von präbewußter Religion, bewußtem Wissen und bewußtem Wollen und damit als der identische Ursprung der Religion und jedes Bewußtseins. 426 Es überrascht also nicht, daß Schleiermacher die eigentliche Schilderung der religiösen Uraffektion in einen weiteren Textzusammenhang 4 2 7 stellt. In diesem ist zunächst ausdrücklich betont, daß sich sowohl die Einheit als auch die Unterschiedenheit von Religion, Wissen und Wollen aus dem präbewußten Konstitutionsakt sollen erweisen lassen können. 4 2 8 Die eigentliche Hinführung zu jenem uraffektiven Konstitutionsakt bemüht nun die empirische Unterscheidung zweier Grundrichtungen in jedem Akt des seelischen Lebens: In jeder Objektbezogenheit läßt sich das Subjekt als Träger dieser Objektbezogenheit identifizieren, in jeder spontanen Tätigkeit läßt sich die rezeptive Haltung als das deren Ermöglichung erst bedingende Oppositum identifizieren. 4 2 9 Diese in jedem Akt des seelischen Lebens wahrnehmbare Vereinigung zweier gegensätzlicher Momente 4 3 0 wird nun exkursorisch noch auf den zeitlichen Verlauf des Lebens bezogen, das so als beständig sich durchdringende Bildung von Individualität und Universalität beschrieben werden kann. 431 Darauf erreicht der Abschnitt sein eigentliches argumentatives Ziel: All jene empirisch wahrnehmbaren Verhältnisse sind Ausdruck der einen identischen Verhältnisstruktur, deren Spuren sie in sich tragen. 432 Das Kennzeichen dieser Verhältnisstruktur besteht darin, daß das korrelativ Erscheinende sich einem vorbewußten identischen Konstitutionspunkt verdankt, in dem das Gegensätzliche sich durch sein „Ineinandergeflossen = und Einsgewordensein" 4 3 3 wechselseitig als Korrelationspol qualifiziert hat weswegen auch in jedem der aus diesem urkonstitutiven Verhältnis abgeleiteten, oben benannten Korrelationsverhältnisse „Eins nur mit dem Andern zugleich werden kann" 4 3 4 . Auf die Beschreibung des den identischen Konstitutionspunkt bildenden Momentes 4 3 5 läßt Schlei-
426
Siehe o b e n S. 132f
427
R 2 (1806), ed. Pünjer 53,18-57,24; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 53,18-37; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 53,38-54,26; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda.
428 429 430 431 432 433 434 435
R 2 (1806), ed. Pünjer 54,22f; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 54,29-36; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 54,26-29; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 54,7f; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 54,41f; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 55,9-37; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda.
III. Das aus den Zügen der U r a f f e k t i o n abstrahierbare Wesen der Religion
191
ermacher dann zunächst in unveränderter Weise das Auftreten der die Grundrichtungen repräsentierenden (im vorliegenden Zusammenhang wiederum „Anschauung" und „Gefühl" benannten) seelischen Funktionen folgen 436 - mit dem Zusatz, daß in beiden Funktionen ihr Produziertsein durch den ursprünglich einheitlichen Konstitutionsakt dargestellt werde 437 . In dem sich an diese Passage anschließenden Abschnitt benennt Schleiermacher dann ausdrücklich den weiten Erstreckungsbereich des Korrelationsverhältnisses der seelischen Funktionen. Denn nicht nur das religiöse Leben, sondern alle wissenden und wollenden Akte des seelischen Lebens unterliegen dem in den religiösen Funktionen ausgedrückten Korrelationsverhältnis von Subjektivität und Objektivität, von Spontaneität und Rezeptivität. 438 Dabei besteht also zunächst sowohl innerhalb des Wissens allein als auch innerhalb des Wollens allein, beide je für sich genommen, ein Korrelationsverhältnis der Funktionen. Aber insofern im wissenden Modus die Objektbezogenheit und die Rezeptivität des Menschen überwiegt 439 , wogegen im wollenden Modus die Subjektbezogenheit und die Spontaneität des Menschen dominiert 440 , stehen darüber hinaus auch das Wissen insgesamt und das Wollen insgesamt in einem Korrelationsverhältnis 441 . Die Pointe des Entfalteten besteht also in der Aussage, daß die als religionskonstituierend behaupteten Funktionen zugleich diejenigen Funktionen sind, denen sich alles Wissen und Wollen verdankt - umgekehrt: Daß der Blick auf den Ursprung der das Wissen und das Wollen ermöglichenden Funktionen ipso facto der Blick auf die Konstitution der Religion ist. 442 Als Ergebnis des von den Obliegenheiten der religiösen Uraffektion ausgehenden Blickes auf das Binnenverhältnis der religiösen Funktionen in den Folgeauflagen der Reden kann also zweierlei festgehalten werden. Erstens: Es ist kein grundsätzlicher Unterschied zwischen der in R 1 und der in R 2f vorausgesetzten prinzipiellen Verhältnisstruktur zu erkennen. Allen Auflagen der Reden gemeinsam ist die Vorstellung eines die Einzelpole qualifizierenden, darin die Korrelativität fundie436 437 438 439 440 441 442
R 2 (1806), ed. Pünjer 5 5 , 3 7 - 5 6 , 1 2 ; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 5 6 , 1 2 - 2 2 ; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 56,23-29; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 56,30-33; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 5 6 , 3 3 - 3 6 ; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 5 6 , 3 6 - 4 3 ; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda. R 2 (1806), ed. Pünjer 5 6 , 4 7 - 5 7 , 2 4 ; R 3 (1821), ed. Pünjer ebda.
192
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
renden und auf einen vorbewußten identischen Konstitutionspunkt hinweisenden Geschehens. Zweitens: Ebenfalls allen Auflagen liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Möglichkeit des Wissens und des Wollens durch die religiös fundierten seelischen Funktionen begründet ist. Doch sind die Folgeauflagen der Urauflage darin überlegen, daß dieser in R 1 noch eher implizit enthaltene Gedanke nun in R 2f explizit zum Ausdruck kommt. 443 Er läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Das Ansehen des Korrelationsverhältnisses zwischen den religiösen Funktionen beruht darauf, daß der religiöse Modus des Menschen einerseits in seiner Erscheinung als Anschauung und Gefühl die erkenntnistheoretisch einschlägigen Kategorien „Rezeptivität" und „Spontaneität" sowie „Subjektivität" und „Objektivität" aufnimmt. Insofern steht die durch Anschauung und Gefühl geprägte Religion als ein äquivalenter seelischer Modus gleichberechtigt neben Wissen und Wollen. Betrachtet man andererseits die Entstehung der individuellen Religion, dann sieht man, daß diese sich einem Moment verdankt, in dem die Differenz zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen Rezeptivität und Spontaneität gerade nicht gilt, sondern der erst - als seine notwendige reflexive Folge - ein Bewußtsein dieser Differenz entstehen läßt. Damit konstituiert die Religion ein durch den Gegensatz geprägtes und im Bewußtsein des Gegensatzes erst wissen könnendes und wollen könnendes Bewußtsein und steht insofern über Wissen und Wollen, indem sie erst die Bedingung der Möglichkeit für deren Wirksamkeit schafft. Die doppelgestaltige Verbindung zwischen der Religion einerseits und Wissen und Wollen andererseits besteht also über die seelischen Funktionen. 444
443
444
D a ß , w e r die Meinung der Reden z u m Verhältnis zwischen Wissen, Wollen und Religion erheben will, grundsätzlich v o r w i e g e n d die Folgeauflagen befragen sollte, ist das methodische Teilresultat der Untersuchung v o n Graf (Graf: K o i n z i d e n z 1 7 7 186). N a c h dem Entfalteten kann es also auch nicht zutreffend sein, eine in den Reden durchgängig vorausgesetzte unterschiedslose Identität v o n Anschauung und G e f ü h l zu behaupten - dies gilt w e d e r f ü r R 1 (gegen G r a f : K o i n z i d e n z 1 6 2 , 1 8 f ; 1 6 8 , 1 2 f ) noch f ü r die Reden überhaupt (gegen G r a f : a.a.O. 1 7 3 , 1 5 . 2 9 f ; 174,4f; 176,6f; 1 8 0 , 1 6 f . 2 0 f ) . Dagegen scheint mir das - auch das Verhältnis zwischen den religiösen Funktionen prägende F o r m p r i n z i p zutreffender beschrieben in dem A u s d r u c k ,,unmittelbare[] K o i n z i d e n z des Differenten" (Graf: a.a.O. 147; vgl. auch 183,2). Erst so läßt sich verstehen, w a r u m das sich in der religiösen U r a f f e k t i o n abbildende Formprinzip in widerspruchsfreier F o r m die Religion zugleich einerseits als das gleichberechtigte V e r m ö g e n neben Wissen und W o l l e n und andererseits als die Wissen und Wollen erst ermöglichende Funktion (Graf: a.a.O. 1 6 8 . 1 7 7 ) konstituiert. G r a f s These, daß Schleiermacher das in diesem F o r m p r i n z i p enthaltene Programm „letztlich nur postula-
III. Das aus den Zügen der U r a f f e k t i o n abstrahierbare Wesen der Religion
d) Zusammenfassung: Religion.
Disjunktive
Polarität als das formale
193
Wesen der
Fassen wir nun abschließend die hier vorgelegte Interpretation von dem in den Reden ausgedrückten Wesen der Religion zusammen, so ist zu sagen: Das von Schleiermacher ins Auge gefaßte Wesen der Religion liegt nicht in einem partikularen Gegenstandsbereich der Religion oder in partikularen religiösen Inhalten, es ist auch nicht in speziellen begrifflichen Bildern oder in speziellen Reflexionsgestalten zu Hause. Auch in den kirchlichen oder gemeinschaftlichen Organisationsformen der Religion drückt es sich nur in vermittelter Weise aus. Vielmehr muß man das Wesen der Religion in demjenigen Form-
prinzip suchen, das in allem überhaupt Seienden das wesenhaft voneinander Unterschiedene stabil aufeinander bezieht. Als den höchsten
Antagonismus alles Seienden bringt Schleiermacher die Unterscheidbarkeit zwischen Endlichem und Unendlichem in Anschlag, als abgeleitete Divergenzen kommen in den Reden die Unterschiedenheit zwischen Individuum und Universum, zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Spontaneität und Rezeptivität in Betracht. Als Kennzeichen dieses die Polarität strukturierenden Formprinzips konnten wir festhalten: Die Gegenpole stehen keinesfalls in einem absoluten, einander ausschließenden Verhältnis, sondern sie befinden sich stets in einem kooperativen Verhältnis zueinander. Diese Korrelatsstruktur recht eigentlich fundierend ist nun die Tatsache, daß die Korrelatspole in einem reziproken Qualifikationsverhältnis zueinander stehen: Die Konstitution und die Erscheinung eines jeden Einzelpoles ist auf die kontrastive Hilfe seines jeweiligen Gegenpoles angewiesen, so daß „Eins nur mit dem Andern zugleich werden kann" 445 . Die gegenseitige Durchdringung der Korrelatspole weiter kennzeichnend ist die Tatsache, daß sie bei aller Untrennbarkeit doch niemals unterschiedslos identisch sind, sondern daß ihr Zusammensein den Hinweis auf einen gemeinsamen, identischen Konstitutionspunkt enthält. Denn obwohl in den einzelnen Relationen ein Primat des Unendlichen, des Universums, des Objektiven, des Rezeptiven wahrgenommen werden konnte, fällt dieser Primat doch nicht in eins mit dem identischen Konstitutionspunkt der Korrelation. Diesen identischen Konstitutionspunkt der Korrelation haben wir vielmehr als den letzten Grund des religiösen
445
torisch anvisiert" (Graf: a.a.O. 182,31), muß also im Blick auf das in der religiösen U r a f f e k t i o n sich darstellende, komplexe F o r m p r i n z i p widersprochen werden. R 2 (1806), ed. Pünjer 5 4 , 4 1 f ; R 3 ( 1 8 2 1 ) , ed. Pünjer ebda.
194
Zweites Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in den Reden
Formprinzips der disjunktiven Polarität von Unendlichem und Endlichem, von Individuum und Universum, von Subjekt und Objekt, von Spontaneität und Rezeptivität. Wir haben ihn also auch als den letzten Grund der Vermittelbarkeit von Religion und Bewußtsein. Und wir haben ihn schließlich also auch als den letzten Grund der vermittelten Abbildbarkeit der Korrelativitätsstruktur in der religionskonstituierenden Uraffektion. Kurz: wir haben den identischen Konstitutionspunkt als die rein formale Möglichkeit von Korrelativität überhaupt. Darin liegt die Antwort, die uns die Reden auf die (die Frage nach den Göttern an Komplexität bekanntlich weit übertreffende) Frage, „ ,was die Religion ist' " 446 , als „Faden" 447 an die Hand geben.
446 447
R 1 38 = K G A 1/2, 206,6 R 1 3 0 0 = K G A 1/2, 320,36
Drittes Kapitel Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre I. Die systematische Funktion der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung" in die Glaubenslehre A. Die wissenschaftliche Gestalt der Glaubenslehre „Dogmatische Theologie ist (...) Wissenschaft" 1 . Dieser erste Teil des ersten Paragraphen-Leitsatzes der ersten Auflage der Glaubenslehre bietet dem von den Reden her kommenden, am interpretierenden Verständnis interessierten Leser eine wohltuende Entlastung. Denn diese „entschlossene Hinwendung zur wissenschaftlichen Theologie" 2 indiziert zum mindesten den Anspruch der Glaubenslehre, in rational diskursiver, also: logisch kohärenter, sprachlich exakter, intersubjektiv kommunikabler Form aufzutreten. 3 In ihrem ersten Satz ordnet die Glaubenslehre sich also einem Gebiet zu, das die Reden programmatisch nicht betraten. Die Reden enthielten eine Theorie der Frömmigkeit, deren Wesen in einem die Religion konstituierenden komplexen und differenzierten formalen Prinzip besteht. Zur Einsicht in die Gestalt dieses Formprinzips und zu seiner Beschreibung war allerdings die Aufbietung starker rekonstruktiver Kräfte vonnöten. So mußte die Interpretation in mehrfacher Hinsicht stark abstrahieren: vom Duktus ihres Grundtextes, von seiner literarischen Gattung und sogar von sei1
C G 1 § 1 Ls. = K G A 1/7.1, 9,3
2
Trillhaas: M i t t e l p u n k t 2 9 5 , 2 1 f Selbstverständlich ist der A u s d r u c k „Wissenschaft" im § 1 v o n C G 1 w i e in der gesamten Glaubenslehre in einem unten zu betrachtenden, wesentlich präziseren Sinne gemeint. A b e r es scheint mir legitim, hier zunächst auch jene weite Bedeutung aufzugreifen, zumal Schleiermacher selbst bekanntlich gelegentlich (vor allem im Zusammenhang der Universitätstheorie, so G e l G e d 5 5 6 f f ; vgl. aber auch Zweites Sendschreiben 4 8 6 f , K G A 1/10, 3 4 2 , 1 5 - 3 4 3 , 2 5 ) auch jene weitere Bedeutung kennt. Hier ist also zunächst n u r in den Blick genommen, daß die Glaubenslehre „auf Gelehrsamkeit (...) [und] auf systematische Einrichtung A n s p r u c h macht" ( C G 1 § 1.2, K G A 1/7.1, 1 1 , 7 f ) , o h n e daß darin bereits eine These über den Zusammenhang der weiten u n d der präzisen Bedeutung des Begriffs „Wissenschaft" impliziert w ä r e .
3
196
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
ner sprachlichen Form. Im voranstehenden zweiten Kapitel ist deutlich geworden, daß der sachliche Gehalt der Frömmigkeitstheorie der Reden diesen stark rekonstruktiv verfahrenden interpretatorischen Ansatz durchaus verlangt und verträgt. Die interpretierende Beschreibung der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre dagegen bedarf der Abstraktion und Rekonstruktion in weit weniger starkem Maße. Sie kann, ja: sie muß sich im Duktus und in der Begrifflichkeit ungleich enger an ihren Grundtext anlehnen. Denn durch die Zugehörigkeit der Glaubenslehre zum wissenschaftlichen Gebiet verringert sich die formale Differenz zwischen dem Grundtext und der diskursiven Interpretation. Anders als bei der Interpretation der Reden müssen im Falle der Interpretation der Glaubenslehre leitende methodische und hermeneutische Voraussetzungen nicht mehr rekonstruktiv erschlossen werden, sondern die Interpretation der Glaubenslehre kann in weit stärkerem Maße auf die metareflexiven Selbstauskünfte des Grundtextes zurückgreifen. Dabei sind es nicht nur Auskünfte über den allgemeinen Wert der gewählten Begrifflichkeit bzw. Auskünfte über den Stellenwert einzelner Begriffe, sondern vor allem die Hinweise auf die Inanspruchnahme bestimmter wissenschaftlicher Verfahren, Hinweise auf die der Glaubenslehre zugrundeliegende Gesamtdisposition und schließlich besonders die wissenschaftssystematischen Selbstlokalisierungen, die die Interpretation wesentlich erleichtern. Durch die Zugehörigkeit der Glaubenslehre zum wissenschaftlichen Gebiet ist dem Bemühen um das Verständnis eines ihrer Teilthemen also zunächst die Möglichkeit des direkteren Zugriffs auf den Grundtext gegeben. Doch auch noch in einer anderen Hinsicht erleichtert die wissenschaftliche Gestalt des Grundtextes die Interpretation: Schleiermacher selbst expliziert ausführlich die systematische Einbindung des Teilthemas in den Gesamttext und die Einbindung des Gesamttextes in das Gesamtsystem. Es ist also mit guten Gründen anzunehmen, daß die Nachzeichnung dieses Zusammenhanges erstens möglich und zweitens für ein vollständiges Verständnis nötig ist. Und was schon für die Interpretation der Reden galt, gilt nun erst recht für die Interpretation der Glaubenslehre: Das sachgemäße Verständnis eines einzelnen Textinhaltes ist gebunden an ein vorangehendes Verständnis a) seines Ortes im Text und b) der Form dieses Textes. Aber diese allgemeine, für jede Teil- oder Gesamtinterpretation der Glaubenslehre in besonderer Weise verbindliche interpretatori-
I. Die systematische F u n k t i o n der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
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sehe Maxime gewinnt im Falle der hier beabsichtigten Nachzeichnung der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre ein besonderes Gewicht. Denn Schleiermacher weist der Entfaltung der Theorie der Frömmigkeit einen speziellen, von der materialen Durchführung der Glaubenslehre kategorial unterschiedenen Ort zu, nämlich die „Einleitung" in die Glaubenslehre. Die Theorie der Frömmigkeit bildet nicht einen Bestandteil der Glaubenslehre, sondern einen ihrer Ermöglichungsgründe. Dieser für alles Nachfolgende grundlegende Sachverhalt wird vor aller rekonstruktiven Erschließung des internen Argumentationsganges bereits rein äußerlich, durch die Einordnung der Frömmigkeitstheorie in den Zusammenhang der die Glaubenslehre fundierenden Metatheorie, höchst anschaulich. Und auch die Entfaltung der Frömmigkeitstheorie selbst folgt den in der Einleitung genau lokalisierten dogmatikermöglichenden Prämissen und Methoden. Ohne deren Kenntnisnahme bleibt jedes Bemühen um Verständnis der Frömmigkeitstheorie vergeblich. Damit ist der Duktus dieses Kapitels vorgegeben: Die engere Nachzeichnung der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre (im Abschnitt II) und ihre knappe zusammenfassende Deutung (im Abschnitt III) muß also vorbereitet werden durch einen hinführenden Teil (I). Dieser hinführende Teil wird zunächst, vom Allgemeinen zum Besonderen voranschreitend, vier systematische Zusammenhänge in Erinnerung bringen müssen: Den Ort der Glaubenslehre in dem Schleiermacherschen Wissenschaftssystem (B), den Aufriß der Glaubenslehre (C), die Funktion der „Einleitung" in die Glaubenslehre (D) und schließlich den argumentativen Ansatz des ersten Kapitels der „Einleitung". (E) Diese Erörtertungsgänge wollen dabei selbstverständlich keine Vollständigkeit beanspruchen, sondern sie können lediglich mit dem Ziel stattfinden, den funktionalen Ort der Entfaltung der Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre aufzufinden, aus denen sich Konsequenzen für die Textgrundlage und das weitere Verfahren des Kapitels ergeben (F). Dabei beziehe ich mich in den Abschnitten Β bis Ε schon - wie im gesamten Kapitel - hauptsächlich auf die zweite Auflage. Dies legt sich gerade für eine Rekonstruktion der Frömmigkeitstheorie deswegen nahe, weil Schleiermachers Rekurs auf die Frömmigkeit im Rahmen der Gesamtdisposition von CG 2 in einer Weise erfolgt, die die sachliche Dominanz der Frömmigkeit stärker als CG 1 zum Ausdruck zu bringen bemüht ist. Dies zeigt sich vor allem in den Modifikationen, die der Aufbau der Einleitung und die
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Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
wissenschaftssystematische Verortung der Frömmigkeitstheorie in der zweiten Auflage erfahren haben. Diese Entscheidung kann jedoch erst im Anschluß an die Beobachtungen zur Funktion der Einleitung, also im Abschnitt F, begründet werden. 4 B. Der Ort der Glaubenslehre im Wissenschaftssystem Sind Organisation und Funktion der theologischen Wissenschaft oben im ersten Kapitel bereits ansatzweise beschrieben worden 5 , so läßt sich nun die eigentliche Frage dieses Abschnittes nach dem Ort der Glaubenslehre in der Theologie, also nach ihrer systematischen Verschränktheit in die positive Wissenschaft Theologie, beantworten. Festzuhalten ist zunächst, daß die Dogmatik keine normative Funktion zugesprochen erhält, sondern eine deskriptive Wissenschaft ist, insofern sie eine Teildisziplin der Historischen Theologie ist und also nun die Aufgabe zugewiesen bekommen hat, die Kenntnis „von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer bestimmten Zeit geltenden Lehre 6 zu ermöglichen. Genau gesehen gilt diese Aufgabenzuweisung aber nur für die eigentliche, materiale Dogmatik, wie sie in Schleiermachers eigener Glaubenslehre die Paragraphen CG 2 32-172 (bzw. CG 1 36-190) umfaßt. Diesem eigentlichen Corpus der Dogmatik stellt Schleiermacher nun bekanntlich die sogenannte „Einleitung" voran 7 . „Diese Einleitung hat keinen andern Zweck, als teils die dem Werke selbst zum Grunde liegende Erklärung der Dogmatik aufzustellen, teils die in demselben befolgte Methode und Anordnung zu bevorworten" 8 . Diesen Zweck erreicht die „Einleitung" dadurch, daß sie die für die materiale Durchführung der Dogmatik notwendigen Prinzipien und Methoden, wie sie in der Philosophischen Theologie aufgestellt werden, zusammenordnet. 9 Da4 5 6
7 8 9
S.u. S. 224ff S.o. S. 99ff C G 1 § 1 Ls. = K G A 1/7.1, 9,3-5; vgl. C G 2 § 19 Ls., Bd. I, 119,1-3. Daß mit dieser Zuordnung der Dogmatik zur historischen Theologie keinesfalls eine Entwertung, sondern gerade im Gegenteil durch ihre Inbezugsetzung zur Gegenwart eine A u f wertung der Dogmatik intendiert ist, hält H.-J. Birkner fest (Birkner: Schleiermachers „Kurze Darstellung" 73-75 und Birkner: Beobachtungen 124-126). C G 2 §§ 1-31; vgl. C G 1 §§ 1-35 C G 2 § 1 L s , Bd. I, 8,2-5. In dem Bemühen, den Gesamtzusammenhang der historisch-theologischen Disziplin „Dogmatik" und ihres philosophisch-theologischen Fundamentes zum Ausdruck zu bringen, liegt also auch der Sinn der Uberschrift des Gesamtwerkes, in dem der Begriff „Dogmatik" vermieden werüen mußte: vgl. C G 2 § 1.1, Bd. I, 9,7-17.
I. Die systematische F u n k t i o n der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
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mit gehört die „Einleitung" selbst eben keinesfalls zur eigentlichen Dogmatik, sondern sie bildet, wissenschaftssystematisch konsequent geordnet, deren sachliche Ermöglichungsgründe ab. 10 So läßt sich der Standort der Glaubenslehre im Rahmen der Theologie also folgendermaßen zusammenfassen: Die Glaubenslehre enthält die historischtheologische Disziplin „Dogmatik" und die zum Zweck dieser Darstellung notwendigen philosophisch-theologischen Grundlagen. 11 Mit dieser Gliederung bestätigt sie den positiven und zweckgebundenen Charakter der Theologie insgesamt. Doch damit habe ich genau genommen schon vorgegriffen. Die Beobachtungen können und müssen sich nun bestätigen zunächst durch einen genaueren Blick in den Aufriß der Glaubenslehre (C) und sodann durch eine Bestimmung der Funktion (D) und des argumentativen Ansatzes der „Einleitung" (E), deren untertreibende Bezeichnung nicht über die elementare Funktion dieser Paragraphen als das philosophisch-theologische Fundament der Dogmatik täuschen darf.
C. Der Aufriß der Glaubenslehre Die wichtigste Beobachtung zum Gliederungsaufriß der Glaubenslehre ist bereits getroffen worden: Die Glaubenslehre gliedert sich zunächst und hauptsächlich in zwei kategorial voneinander unterschiedene Teile, die eigentliche materiale Dogmatik (CG 2 §§ 32-172) und die dieser Entfaltung vorangestellte prinzipielle „Einleitung" (CG 2 §§ 1-31) 12 . Die eigentliche Dogmatik weicht dabei vom traditionellen Einteilungsprinzip der Dogmatik zwar in weniger starker Weise ab, als ein erster Blick vermuten lassen könnte 13 , folgt aber doch einem völlig eigenständigen, neungliedrigen ,,kunstvolle[n] systematische[n] Aufriß" 1 4 , dessen Wurzeln in der Schleiermacherschen Auffassung vom Wesen des Christentums und vom Wesen der Dogmatik liegen und dessen Prinzipien er in der Einleitung entfaltet. Sie muß daher zunächst betrachtet werden.
10 11 12 13 14
Vgl. dazu unten S. 206ff Vgl. dazu auch Birkner: Schleiermachers „Kurze Darstellung" 78,5f Z u m Begriff der „Einleitung" vgl. unten S. 208. Vgl. dazu Birkner: Beobachtungen 129,36-41 Hirsch: Geschichte V 324,4
200
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
Die Einleitung selbst gliedert sich ihrerseits zunächst in zwei Kapitel, deren erstes 15 eine „Erklärung der Dogmatik" 1 6 bietet, insofern in ihr eine kategoriale Verständigung darüber erzielt werden soll, „was es nun eigentlich sei, wodurch Sätze christlich religiösen Inhaltes dogmatische werden" 1 7 ; und deren zweites 18 die der so erklärten Dogmatik gemäße „Methode und Anordnung" 1 9 vorstellt. Nimmt man zu diesen beiden Kapiteln diese die Einleitung selbst erklärenden und gliedernden metatheoretischen Erwägungen des hier betrachteten § 1 hinzu (was sich deswegen empfiehlt, weil er in seiner Bestimmung der Funktion der Einleitung einen völlig eigenen systemtheoretischen Rang einnimmt 20 ), so erhält man also eine Dreiteilung der Einleitung in die §§ 1, 2-19 und 20-31. Betrachtet man nun zunächst den Aufbau des ersten Kapitels der Einleitung 21 , so lassen sich in ihm sechs Teile unterscheiden. Das erste Kapitel beginnt mit dem einleitenden § 2, in dem die Methode dieses ersten Kapitels der Einleitung erklärt wird: Schleiermacher bestimmt diejenigen wissenschaftlichen Disziplinen, aus denen für das Nachfolgende Lehnsätze entliehen werden. 22 Es folgen die drei Hauptabschnitte des ersten Kapitels der Einleitung: Als Einsatzpunkt des ersten Abschnittes 23 , der §§ 3-6, fungiert die grundlegende Zweckbezogenheit der Dogmatik auf die Kirche. Daher ist also zunächst der Begriff der Kirche zu bestimmen, und zwar seinerseits im Ausgang von der „Basis aller kirchlichen Gemeinschaften" 2 4 , der Frömmigkeit. Diese Entfaltung vollzieht sich (nachdem 15 16 17 18 19 20
21
22
23 24
CG 2 §§ 2-19 CG 2 § 1 Ls., Bd. I, 8,3f. Zum Begriff der „Erklärung" vgl. unten Anm. 64. C G 2 § 1.1, Bd. I, 8,16-18 C G 2 §§ 20-31 CG 2 § 1 L s , Bd. I, 8,4f Dies zeigt sich insbesondere im Vergleich mit anderen verfahrenstechnischen Erwägungen im Rahmen der Einleitung etwa in den §§ 2, 9.1, 11.1, 24.2 von CG 2 : Wird dort stets das im Einzelzusammenhang einzuschlagende Verfahren vorgestellt, werden also methodische Hinweise gegeben, so handelt der § 1 von der Notwendigkeit einer methodisch reflektiert verfahrenden Einleitung überhaupt, trägt also einen methodologischen, metatheoretischen Sinn. In diesem Abschnitt soll zunächst nur der Aufbau des ersten Kapitels der Einleitung im Gesamtkontext der Glaubenslehre vorgestellt werden. Ausführlicher gehe ich auf den argumentativen Ansatz des ersten Kapitels dann unten im Abschnitt Ε (S. 209) ein. Vgl. zum § 2 ausführlicher unten S. 209ff, zu den Lehnbereichen im einzelnen unten S. 214ff Vgl. zum ersten Lehnbereich ausführlicher unten S. 214ff C G 2 § 3 L s , Bd. I, 14,27f
I. Die systematische Funktion der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
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die Kirche „eine Gemeinschaft ist, welche nur durch freie menschliche Handlungen entsteht und nur durch solche fortbestehen kann" 2 5 ) in Lehnsätzen aus der philosophischen Ethik. In ihnen beschreibt Schleiermacher das die Frömmigkeit beherbergende psychische Vermögen, ihre bewußtseinstheoretische Verankerung und ihren intersubjektiven, gemeinschaftsfordernden Gehalt. 26 Damit ist also die Textgrundlage für das hier zur Verhandlung anstehende Thema erreicht. Der zweite Hauptabschnitt 27 des ersten Kapitels der Einleitung umfaßt die §§ 7-10. Auf die Ergebnisse des ersten Untersuchungsganges aufbauend, werden in ihm nun die verschiedenen in der Geschichte vorkommenden frommen Gemeinschaften ins Verhältnis zueinander gesetzt, und zwar im Rekurs auf Lehnsätze aus der Religionsphilosophie. Der darauf folgende, die §§ 11-14 umfassende dritte Hauptabschnitt 28 des ersten Kapitels vermag im Rückgriff auf die Wesensbestimmung der die fromme Gemeinschaft konstituierenden Frömmigkeit (§§ 3-6) und im Rekurs auf die schematische Nebeneinanderstellung der Typen frommer Gemeinschaften (§§ 7-10) nun die individuelle Besonderheit der christlich-frommen Gemeinschaft zu bestimmen (nämlich: daß in ihr „alles" 29 bezogen ist auf die in Jesus vollbrachte Erlösung), und zwar in Form von Lehnsätzen aus der Apologetik. Damit hat der Argumentationsgang des ersten Kapitels der Einleitung in die Glaubenslehre einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. In methodisch durchsichtiger und kontrollierbarer Weise vom Allgemeinen zum Besonderen vordringend, benennt Schleiermacher die die Dogmatik fundierenden Eckdaten im Hinblick auf ihre sachliche Valenz und ihren systematischen Ort. Das erste Kapitel der Einleitung wird jedoch durch einen vierten, die §§ 15-18 umfassenden Erörterungsbereich 30 abgeschlossen. In ihm erwägt Schleiermacher das sich aus den vorangegangenen Einsichten ergebende Verhältnis der Dogmatik zur christlichen Frömmigkeit. Diese Erwägungen bilden also in gewisser Weise die Schnittstelle zwischen den Ergebnissen der vorangegangenen, aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen entlehnten Überlegungen und der in der Einleitung intendierten Bestimmung des Wesens und der Methode der Dogmatik. Der ursprüngliche, wesens25 26 27 28 29 30
CG2 Vgl. Vgl. Vgl. CG2 Vgl.
§ 2.2, Bd. I, 1 2 , 1 4 - 1 6 dazu im einzelnen unten Abschnitt II (S. 231 ff) zum zweiten Lehnbereich ausführlicher unten S. 217f zum dritten Lehnbereich ausführlicher unten S. 218f § 11 Ls„ Bd. I, 74,30 zum vierten Bereich ausführlicher unten S. 2 1 9 f f
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Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
gemäße und zweckmäßige Sitz dieser Erwägungen liegt nun in der Einleitung in die Glaubenslehre selbst, d.h.: die Leitsätze sind nicht mehr aus anderen Disziplinen geborgt. Im § 19 schließlich ist der im § 1 vorgegebene und im § 2 verfahrenstechnisch vorbereitete funktionale Zielpunkt des ersten Kapitels der Einleitung, die „Erklärung der Dogmatik", erreicht: Der § 19 weist auf den § 2 zurück, indem er dessen vorläufige Erklärung der Dogmatik aufnimmt und um die in den vier Bereichen zusammengetragenen Einsichten präzisierend ergänzt: „Dogmatische Theologie ist die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre." 3 1 Für den Aufbau des ersten Kapitels der Einleitung ergibt sich damit eine Rahmung der vier Bereiche durch die §§ 2 und 19. 32 In dem die §§ 20-31 umfassenden zweiten Kapitel der Einleitung soll nun das dem entfalteten Wesen der Dogmatik gemäße Verfahren entwickelt werden. Dieses Kapitel ist in drei Abschnitte geteilt, eine Einleitung und zwei Hauptteile. Der einleitende § 20 entfaltet die doppelte Aufgabe des Kapitels, zunächst die Stoffmenge zu bestimmen und dann die Ordnungsprinzipien des Stoffes abzuleiten. Der ersten Teilaufgabe widmen sich die §§ 21-26 einesteils durch die Aussonderung der als ketzerisch zu bezeichnenden 3 3 bzw. zur christlichen Sittenlehre 3 4 gehörigen Themengebiete, andernteils durch die Eingliederung des den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus ermittelnden Sachgebietes 35 und schließlich durch die Betonung des (in ihrem geschichtlichen Charakter wurzelnden, in der jeweiligen thematischen Gewichtung ans Licht tretenden) individuellen Gepräges einer jeden Dogmatik 3 6 . Die Ordnungsprinzipien der Dogmatik werden dagegen im zweiten Hauptabschnitt in den §§ 27-31 entfaltet. Nach der Bestimmung der grundlegenden Bezugsinstanz 3 7 und der angemessenen Sprachform 3 8 der Dogmatik setzt Schleiermacher hier 3'
a.a.O. § 19 Ls., Bd. I, 1 1 9 , 1 - 3
32
Vgl. dazu z.B. Birkner: Beobachtungen 127f. A u c h T.H. Jergensen gelangt zu dem Ergebnis, daß das Verständnis des ersten Kapitels der Einleitung v o n C G sich erst v o n dessen viertem Abschnitt her vollständig erschließt (j0rgensen: O f f e n b a r u n g s verständnis 2 1 1 ) . Siehe hierzu auch unten S. 221 ff und A n m . 128. C G 2 §§ 21 und 22 C G 2 § 26
33 34 35 36 37 38
CG2 CG2 CG2 CG2
§§ 23 und 2 4 § 25 § 27 § 28
I. Die systematische Funktion der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
203
nun die im ersten Kapitel der Einleitung entwickelten, die Dogmatik bestimmenden Grundverhältnisse in inhaltsgliedernde Ordnungskriterien des dogmatischen Stoffes um. Aus diesen §§ 29-31 der Einleitung, die die Einleitung zugleich abschließen, läßt sich also ein Uberblick über den Aufbau des gesamten materialen Teiles der Glaubenslehre gewinnen. Diesen Uberblick möchte ich kurz geben, weil darin - nicht nur aus dem Blickfeld der Einleitung, sondern sozusagen auch aus der Gegenperspektive der durchgeführten Dogmatik - noch einmal deutlich werden kann, w a r u m in der Anlage der Glaubenslehre die die Entfaltung der materialen Dogmatik leitenden Bestimmungen der Frömmigkeit in dieser Dogmatik selbst tatsächlich keinen Ort mehr finden können: Sind dogmatische Sätze ihrem Wesen nach die reflektierte Darstellung des christlich-frommen Selbstbewußtsei.ns 39 , so hat dessen Struktur die Ordnungsgesichtspunkte des dogmatischen Stoffes zu liefern. Das allgemeinste Kennzeichen des christlich-frommen Bewußtseins ist dessen Bezogenheit auf die Erlösung, insofern sich das christlich-fromme Bewußtsein dem Gegensatz zwischen der je eigenen Erlösungsbedürftigkeit (als dem Bewußtsein der Sünde) und der mit Jesus Christus realisierten Wirklichkeit der Erlösung (als dem Bewußtsein der Gnade) verdankt. 4 0 Da das Sündenbewußtsein und das Gnadenbewußtsein aber nur in einem relativen Gegensatz zueinander stehen können, muß über diesen Gegensatz hinaus etwas allen christlich-frommen Bewußtseinszuständen als identisch Zugrundeliegendes angenommen werden. 4 1 So bietet sich als oberster 39
40 41
Vgl. C G 2 § 16 und dessen Zusammenfassung in dem berühmten, pointiert selbstauslegenden D i k t u m des Zweiten Sendschreibens: „ A b e r v o n meinem Buche [sc.: der Glaubenslehre] hätte ich gewünscht, es möchte (...) immer wieder das B e w u ß t s e y n hervorrufen, daß die Sätze nur das abgeleitete sind und der innere G e m ü t h s z u s t a n d das ursprüngliche." (Zweites Sendschreiben 487, K G A 1/10, 3 4 3 , 2 0 - 2 5 ) C G 2 § 1 1 . 2 u. 3, Bd. I, 7 6 - 7 9 Vgl. hierzu C G 1 § 33.1 = K G A 1/7.1, 1 1 5 , 3 3 - 1 1 6 , 8 : „Der Unterschied, auf den hier Bezug g e n o m m e n w i r d [sc.: der Gegensatz zwischen der eigenen Unfähigkeit und der durch die Erlösung mitgeteilten Fähigkeit, das f r o m m e Bewußtsein zu v e r w i r k lichen], ist allerdings nur ein fließender, indem es kein christlich f r o m m e s G e f ü h l geben kann, in w e l c h e m der Gegensaz ganz verschwände, und auch w i e d e r u m keines, w o r i n das H e r v o r t r e t e n desselben specifisch verschieden wäre v o n andern M o m e n ten; die hier angegebene Eintheilung hingegen will einen festen Gegensaz aufstellen (...). Eben weil der Unterschied nur ein fließender ist, muß das christlich f r o m m e G e f ü h l etwas in allen A b s t u f u n g e n des Gegensazes sich selbst gleiches und in sich selbst Eines enthalten, welches z w a r freilich nirgend abgesondert und f ü r sich gegeben ist, aber doch überall u m desto mehr hervortritt, je weniger der Gegensaz hervortritt (...)".
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Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
Ordnungsgesichtspunkt für die Darstellung des christlich-frommen Bewußtseins zunächst die Unterscheidung zwischen denjenigen Momenten des christlich-frommen Selbstbewußtseins, welche „durch jenen Gegensatz nicht bestimmt werden, sondern auf allen Stufen desselben unverändert bleiben" 42 einerseits und andererseits denjenigen Momenten des christlich-frommen Selbstbewußtseins, welche durch den Gegensatz selbst in je verschieden überwiegender Weise bestimmt werden 43 , an. Grundsätzlich muß das christliche Bewußtsein dabei also, in einer auf gegensätzliche Weise von der faktischen Mischgestalt der einzelnen Momente des religiösen Gefühls abstrahierenden Form 44 , zunächst einmal als vor dem Gegensatz und dann auch als unter dem Gegensatz stehendes Bewußtsein verstanden werden, woraus sich die beiden Hauptteile der Glaubenslehre ergeben. Dabei ist der zweite Hauptteil - thematisch naheliegend - wiederum in sich geteilt, so daß sich die folgenden drei großen Teile der Glaubenslehre ergeben: Das christliche Bewußtsein wird zunächst beschrieben unter Absehung von diesem Gegensatz 45 , sodann als unter dem Bewußtsein der Sünde stehendes 46 und schließlich als unter dem Bewußtsein der Gnade stehendes 47 . In allen drei Stadien sind nun wiederum drei Formen religiöser, in dogmatische Sätze überführbarer Aussagen denkbar: Aussagen über den Menschen, Aussagen über Gott und Aussagen über die Welt. 48 So entsteht also eine - aus der unmittelbaren Beschreibung der Gemütszustände abzuleitende, vollständig durchzuführende 49 Dreigeteiltheit jedes der drei Hauptteile der Glaubenslehre. 50 42 43 44 45 46 47
48 49 50
CG2 § 29.1, Bd. I, 161,36f C G 2 § 29.1, Bd. I, 161,37-162,2 Vgl. dazu Marg 568 = K G A 1/7.3, 102. und C G 2 § 29.1, Bd. I, 161,34-162,2 C G 2 , Erster Teil (§§ 32-61) C G 2 , erster Abschnitt des Zweiten Teiles (§§ 62-85) C G 2 , zweiter Abschnitt des Zweiten Teiles (§§ 86-169). - Zum intendierten Zusammenhang dieser drei Teile vgl. besonders Marg 565 = K G A 1/7.3, 101,17-19: „So daß die 3 Theile auch unter sich eine Reihe bilden. Das überall versuchte, das durch das Mißlingen sich entwikelnde Bewußtsein des Unvermögens, die Vollendung durch Christum." Vgl. C G 2 § 30 Vgl. C G 2 § 31 Im einzelnen enthält der erste Hauptteil die Beschreibung des menschlichen Selbstbewußtseins als Ausdruck des Verhältnisses zwischen Gott und Welt (§§ 36-49: Schöpfung, Engel, Teufel, Erhaltung), die Beschreibung der göttlichen Eigenschaften in Beziehung auf das christlich-fromme Selbstbewußtsein als Bestimmungsgrund des Verhältnisses zwischen Gott und Welt (§§ 50-56: Gottes Ewigkeit, Allgegenwart, Allmacht und Allwissenheit) und die Beschreibung der Welt in Beziehung auf das christlich-fromme Selbstbewußtsein als O r t des Verhältnisses zwischen Gott
I. Die systematische Funktion der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
205
Aus dieser kurzen Ubersicht über den Gliederungsaufriß der Glaubenslehre ergibt sich in bezug auf die Textgrundlage für das hier zur Verhandlung anstehende Thema also, daß bei aller Bezogenheit jedes einzelnen Satzes der Dogmatik auf das christlich-fromme Selbstbewußtsein doch alle für diese Entfaltung wesentlichen Bestimmungen der Frömmigkeit schon in den §§ 3-6 der Einleitung enthalten sein müssen. Denn in der materialen Dogmatik selbst kann auf diese Bestimmungen zwar bei Bedarf zurückverwiesen werden, aber weil diese Bestimmungen zu den Ermöglichungsbedingungen der Dogmatik überhaupt gehören und deren Aufriß mitbedingen, kann es für ihre umfassende Verhandlung in der materialen Dogmatik selbst gar keinen Ort mehr geben. Vielmehr können sie diesen Ort nur in der prinzipiellen, die Dogmatik fundierenden Einleitung haben. Vor den näheren Bestimmungen der Textgrundlage des Kapitels (und der E x egese der einschlägigen Passagen im Kapitelteil II) ist also zunächst in einer Verständigung über die Funktion der Einleitung deren fundamentaler Charakter genauer zu beschreiben.
und Welt (§§ 57-61: ursprüngliche Vollkommenheit der Welt, ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen). Der erste Abschnitt des zweiten Hauptteiles, der das christlich-fromme Selbstbewußtsein als erlösungsbedürftiges, unter der Sünde stehendes Bewußtsein betrachtet, beschreibt zunächst die Sünde als Zustand des Menschen (§§ 66-74: Erbsünde, Aktualsünde), sodann die Sünde als Beschaffenheit der Welt (§§ 75-78: das Übel) und schließlich diejenigen Eigenschaften Gottes, die sich auf das Bewußtsein der Sünde beziehen (§§ 79-85: Gottes Heiligkeit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit). Der zweite, das christlich-fromme Selbstbewußtsein als erlöstes, unter der Gnade stehendes Bewußtsein betrachtende Abschnitt des zweiten Hauptteiles beschreibt nun zuerst diejenigen für das christlich-fromme Selbstbewußtsein des Menschen, insofern er sich der göttlichen Gnade bewußt ist, wesentlichen Inhalte (§§ 91-112: Person und Werk Christi, Wiedergeburt und Heiligung des Christen), darauf folgt die Beschreibung der Beschaffenheit der Welt, insofern sie Ausdruck der göttlichen Gnade ist (§§ 113-163: auf Entstehens-, Bestehens- und Vollendungsphase im Leben der Kirche bezogen werden entfaltet: Erwählung und Geistgabe; Schrift, Verkündigung, Abendmahl, Taufe, Schlüsselgewalt und Gebet sowie sichtbare und unsichtbare Kirche; Wiederkunft Christi, Auferstehung, Gericht und Seligkeit); und endlich werden beschrieben diejenigen göttlichen Eigenschaften, die sich auf die Erlösung beziehen (§§ 164-169: Liebe und Weisheit Gottes). Den Schluß bildet ein Abschnitt „Von der göttlichen Dreiheit" (§§ 170-172). (Er nimmt deswegen eine Sonderstellung ein, weil er zwar den Zusammenhang der die frommen Gemütserregungen abbildenden dogmatischen Sätze zum Ausdruck bringt, selbst aber nicht als unmittelbare Abbildung einer frommen Gemütserregung gelten kann: C G 2 § 170 Ls., Bd. II, 458,3-8. Vgl. hierzu auch C G 2 § 17.2, Bd. I, 114,3-115,10.) „Eine kleine Unebenheit in dieser neungliedrigen Harmonie ist allein, daß im ersten Teil der zweite und dritte Abschnitt Platz und Nummer getauscht haben." (Hirsch: Geschichtc V 324, 20 23)
206
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
D. Der funktionale Stellenwert der „Einleitung" in die Glaubenslehre Der Abschnitt Β erinnerte an den positiven, zweckgebundenen Charakter der Theologie und daran, daß die Darstellung der historischtheologischen Dogmatik stets auf philosophisch-theologische Kategorien angewiesen ist. Die Gliederungserwägungen des Abschnittes C machten deutlich, daß diese Zusammenstellung der die Dogmatik leitenden Kategorien in der Einleitung vorgenommen wird: Dort werden die dogmatikbestimmenden ethischen, religionsphilosophischen und apologetischen Leitbegriffe entfaltet. Bestand der perspektivische Zielpunkt der beiden vorangegangenen Abschnitte dabei zuerst im Ganzen der Theologie und sodann im Ganzen der Glaubenslehre und wurden wir zum Verständnis beider Komplexe auf die Philosophische Theologie bzw. auf die sog. „Einleitung" gewiesen, so ist jetzt direkt nach der Einleitung selbst zu fragen: In welchem funktionalen Verhältnis zur Dogmatik steht sie aufgrund ihrer Aufgabe, eine Klärung des Wesens der Dogmatik zum Zwecke von deren durchsichtiger Darstellung herzustellen? Zur Beantwortung dieser Frage muß man an die in den vorstehenden Abschnitten ausgezogenen Gedankenreihen anknüpfen, wobei die Zielperspektive nun nicht in einer Einsicht in das nachgängige Wesen der Dogmatik besteht, sondern in der Beantwortung der Frage: welchen Weg schlägt die Einleitung ein, um das aller Dogmatik Vorgängige zu entfalten? Zur Beantwortung der Frage im vorliegenden Zusammenhang kann und braucht dabei keinesfalls ein vollständiges Referat der Einleitungsparagraphen gegeben zu werden, sondern ich will im folgenden lediglich an den Rang, den Schleiermacher der Einleitung beimißt, erinnern. In diesem Zusammenhang ist der gelegentliche Seitenblick auf die gerade für die Einleitungsparagraphen unschätzbaren selbstinterpretatorischen Passagen der beiden „Sendschreiben" an Lücke 51 notwendig. Die Bedeutung, die der Einleitung in die Glaubenslehre zukommt, erschließt sich am unvermitteltsten dadurch, daß man sich zunächst das wissenssystematische Verhältnis der Einleitung zur Dogmatik vor Augen führt. Dieses Verhältnis thematisiert Schleiermacher in dem methodologischen bzw. metatheoretischen Charakter tragenden § 1 K G A 1/10, 307-394. Eine historische Einführung mit besonderer Rücksicht auf die F u n k t i o n der Sendschreiben als Reaktion Schleiermachers auf die kritischen Voten gegen die erste Auflage seiner Glaubenslehre bietet der Bandherausgeber H.-F. Trauisen a.a.O. L X I V - L X X X V I I I .
I. Die systematische F u n k t i o n der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
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der Glaubenslehre, und es ist durch zwei einander wechselseitig auslegende Voraussetzungen bestimmt. Die erste Voraussetzung betrifft den funktionalen Bezug der Einleitung auf die materiale Dogmatik und kommt schon in der noch allgemein gehaltenen Aufgabenbestimmung der Einleitung zum Ausdruck: In der „Erklärung der Dogmatik" und in der Bevorwortung von „Methode und Anordnung" 5 2 liegt ihr Zweck. Weder ist also, so muß man verstehen, ein einvernehmliches Verständnis vom Wesen der Dogmatik als gegeben anzunehmen, noch ist andererseits die Dogmatik selbst in der Lage, sich innerhalb ihrer selbst über ihr eigenes Wesen zu verständigen: Dem Verständnis innerdogmatischer Sätze muß eine außerdogmatische Klärung des Wesens dogmatischer Sätze vorausgegangen sein. 53 Damit ist bereits die zweite wesentliche Voraussetzung benannt: „Es folgt übrigens hieraus von selbst, da das, was der Erklärung einer Wissenschaft vorangeht, nicht zur Wissenschaft selbst gehören kann, daß alle Sätze, welche hier vorkommen werden, nicht selbst auch dogmatische sein können." 5 4 Auf diese Weise ist der funktionale Stellenwert der Einleitung vorläufig und in allgemeiner Weise bestimmt: Sie hat eine Erklärung der Dogmatik zu liefern, die aber selbst noch nicht Teil der Dogmatik sein kann. Zwar ergibt dieser fundamentale Sachverhalt sich aus der in der Kurzen Darstellung entfalteten Vorstellung von der Organisation der theologischen Wissenschaft und der dort ablesbaren Differenz zwischen historisch-theologischer, deskriptiver Dogmatik und vorauszuschickender philosophisch-theologischer Fundierung der Dogmatik eigentlich von selbst. 55 Andererseits zeigen zahlreiche Mißverständnisse, denen die Erstauflage der Glaubenslehre ausgesetzt war und die einheitliche Entgegnung, die diese in den Sendschreiben erfahren 56 , daß der bloße Verweis auf die Kurze Darstellung eine ausreichende Berücksichtigung des Unterschiedes zwischen Einleitung und Dog-
52 53 54 55
56
CG 2 § 1 Ls., Bd. I, 8,3f CG 2 § 1.1, Bd. I, 8,6-9,13 CG 2 § 1.1, Bd. I, 9,13-17 Vgl. dazu nur die folgenden Stellen am Anfang und am Ende der Einleitung von C G 1 , an denen explizit auf die ausführlicheren Bestimmungen in KD 1 verwiesen wird: In der Anmerkung zu CG 1 § 1 Ls. auf KD 1 56 « 3; in CG' § 1.5 auf K D ' 24f § 3; KD 1 28f §§ 15.18.19 und KD 1 61 § 26f; in C G ' § 32 auf KD 1 § 33f. Vgl. z.B. Zweites Sendschreiben 513. 515. 517. 518 = KGA 1/10, 370,25f. 371,31372,1. 372,6-9. 374,10-12. 376,22f
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Drittes Kapitel:
Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
matik nicht sicherstellt 57 und legt insofern eine Wiederholung und Betonung dieser wissenschaftssystematischen Vorbedingungen gleich zu Beginn der Glaubenslehre zweiter Auflage nahe: Weder ist der deskriptive Charakter der Dogmatik noch der kategoriensetzende Charakter der Einleitung zu verstehen, wenn man nicht stets ihre Differenz im Blick behält. Das heißt also: der Begriff Einleitung ist von Schleiermacher nicht in einem unspezifischen Sinne, in allgemeiner Weise einen Auftakt bezeichnend, gemeint. Sondern der Begriff der Einleitung hat, für die Glaubenslehre wie für alle in Schleiermachers Gesamtsystem ausgeführten „Einleitungen", einen sehr präzisen Sinn, indem er die systematische Begründung der Einzelwissenschaft bezeichnet. 58 Diese systematische Fundierung erweist die Bezogenheit jedes Einzelwissens der Wissenschaft auf ein höheres und „zuletzt auf ein höchstes Wissen" 5 9 und sichert ihr damit ihre Legitimität im Reich des Wissens 60 , ihren fest umrissenen Gegenstandsbereich und ihre Methode. In dieser Funktion ist die „Einleitung" von der Einzelwissenschaft zwar unbedingt zu unterscheiden, aber keinesfalls zu trennen. Bezogen auf die Glaubenslehre bedeutet dies: Eine fundierende Funktion für die nachfolgende materiale Dogmatik in den §§ 32-172 erfüllen die voranstehenden §§ 2-31 also dadurch, daß sie in einem ersten Kapitel eine „Erklärung" der Dogmatik geben, die diese Disziplin mit den notwendigen, außerhalb der Disziplin selbst zu findenden Kategorien ausstattet und in einem zweiten Kapitel die sich aus dieser Erklärung ergebende Methode und Gliederung der Dogmatik entfalten. Dabei ist die zweite Teilaufgabe als Implikat der ersten zu verstehen, insofern in der systematisch ableitenden Fundierung der 57
Vgl. Zweites Sendschreiben 5 1 9 = K G A 1 / 1 0 , 3 7 7 , 2 8 - 3 7 8 , 2 : „Ich dachte freilich, meine kurze Darstellung etc. w ü r d e hoffentlich Andeutungen genug hiezu [sc.: z u m Z u s a m m e n h a n g der D o g m a t i k mit den anderen theologischen Wissenschaften] geben, aber der Leser selbst blieb allerdings mehr, als nöthig war, auf etwas außer dem B u c h e selbst verwiesen."
58
A m deutlichsten ist diese fundamentale Funktion der „Einleitung" und der spezifische Sinn des Begriffs aus der Einleitung in die Ethik 1 8 1 2 / 1 3 ablesbar: Ethik (Einl u. G t l ) 1 8 1 2 / 1 3 , Ε 2 4 5 - 2 5 8 (§§ 1 - 1 0 8 ) . In metatheoretischem oder methodologischem Sinne am ausführlichsten reflektiert ist die F u n k t i o n der „Einleitung" in der Einleitung in die Ethik 1 8 1 6 / 1 7 : Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 1 7 - 5 2 4 (§§ 1-21).
59
Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 5 1 7 (§ 1)
60
Dies gilt auch für die „Einleitung" in die Glaubenslehre, insofern hier, „wie dies auch eigentlich für die Einleitung gehört, der Zusammenhang dieser besonderen theologischen Disciplin [sc.: der D o g m a t i k ] mit denjenigen allgemeinen Wissenschaften, an welche sie sich ihrer wissenschaftlichen F o r m wegen vorzüglich zu halten hat, unmittelbar hervortreten wird": Zweites Sendschreiben 5 1 9 = K G A 1 / 1 0 , 3 7 7 , 2 4 - 2 8
I. D i e systematische F u n k t i o n der Frömmigkeitstheorie in der „ E i n l e i t u n g "
209
Dogmatik bereits die Grundzüge von Methode und Aufbau begriffen liegen und lediglich entfaltet werden müssen. D a es mir hier auch keinesfalls auf eine vollständige Exegese der Einleitung ankommt, sondern lediglich auf eine Nachzeichnung ihres argumentativen Ansatzes mit dem Ziel, die Funktion der Frömmigkeit für die Fundierung der Dogmatik zu erkennen, werde ich mich im folgenden auf die Hauptaufgabe und den Hauptteil der Einleitung, auf deren erstes Kapitel, beschränken. E. Der argumentative Ansatz des ersten Kapitels der „Einleitung" Der oben beschriebene Charakter der Einleitung legt, deren erstes Kapitel betreffend, zwei Fragen nahe: Zunächst die Frage, welchen Weg das Kapitel zur Aufstellung dieser Fundierung der Dogmatik einschlagen wird (1.), genauer: In welcher Weise dieser Weg methodisch abgesichert ist (2.). An diese erste Frage schließt sich die zweite Frage nach dem inneren wissenschaftssystematischen Verhältnisgefüge an, das durch den Zusammenhang der vier Bereiche begründet ist (3.). (1.) Zur Beantwortung der Frage nach der Methode der Einleitung 61 schaltet Schleiermacher dem eigentlichen materialen Teil des ersten Kapitels der Einleitung (§§ 3-18) einen methodische Erwägungen beinhaltenden Einführungsparagraphen, den § 2, vor. In ihm unternimmt Schleiermacher den Versuch, aus der konkreten Erkenntnisaufgabe der Einleitung (der „Erklärung der Dogmatik" 6 2 ) und einem als unbestritten angenommenen vorläufigen, weiten Begriff der Dogmatik (die Dogmatik ist eine theologische Disziplin 6 3 ) den argumentativen G a n g der Einleitung und damit auch ihren sachgemäßen Anfangspunkt zu entwickeln. 64 Diese Bestimmung vollzieht sich in einer Implikations61
C G 2 § 2.2 u n d Zusätze, B d . I, 12,7-14,25
62
C G 2 § 1 Ls., Bd. I, 8,3f C G 2 § 2 L s , B d . I, 10,9 In einer teilweisen V o r w e g n a h m e des unten näher A u s z u f ü h r e n d e n kann also bereits an dieser Stelle festgehalten werden, daß Schleiermacher in der im § 2 gegebenen vorläufigen B e s t i m m u n g des dogmatischen Wissensgebietes demjenigen Verfahren folgt, das der f o r m a l e Teil der Dialektik als das objektive architektonische Verfahren der K o m b i n a t i o n des Wissens bezeichnet hatte (Dial 1814/15, T1.2 § 110 D A 2 115 [ D J 303 dort § 340]; siehe auch o b e n S. 37f): A u s einer vorläufigen, heuristisch gegebenen begrifflichen Einheit wird - im Rückgriff auf die induktiven und deduktiven K o n s t r u k t i o n s g e s e t z e des Wissens - die aneinanderreihende R e k o n s t r u k t i o n der in der vorläufigen begrifflichen Einheit mitrepräsentierten, auf denselben G e g e n s t a n d bezogenen, präziseren Einzelerkenntnisse durchgeführt, w o r a u s sich ein streng u m grenztes, objektives Wissensgebiet - die einzelne Wissenschaft - bestimmen läßt (vgl.
63 64
210
Drittes Kapitel:
D i e Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
kette, die bei dem enzyklopädisch bestimmten Dogmatikbegriff einsetzt und von ihm aus auf das in diesem Begriff Vorausgesetzte zurückschließt: Die Dogmatik ist eine theologische Disziplin 6 5 , als eine solche theologische Disziplin ist sie eine positive Wissenschaft 66 , der gemeinsame Bezugspunkt der in der positiven Wissenschaft „Theologie" zusammengefaßten Einzelwissenschaften ist die christliche Kirche 6 7 , über den Begriff der christlichen Kirche ist eine Verständigung nur zu erzielen durch eine Klärung des allgemeinen Begriffes der Kirche 6 8 , eine Ermittlung des Allgemeinbegriffes der Kirche ist nur in der Bestimmung des ,,Sich-überall-Gleiche[n]" 6 9 im Unterschied zum Veränderlichen als „Basis" 7 0 der kirchlichen Gemeinschaften überhaupt durchführbar. Damit ist der Anfangspunkt der materialen Einleitung im Leitsatz des § 3 vorgezeichnet: als eine derartige „Basis aller kirchlichen Gemeinschaften" 7 1 kann nichts anderes als die Frömmigkeit angenommen werden. So wird also der Weg zum Anfangspunkt der materialen Einleitung im Leitsatz des § 3, der Weg zum Begriff der Frömmigkeit als dem notwendigen Einsatzpunkt für eine „Erklärung der Dogmatik", im Ausgang vom wissenschaftlichen Eigencharakter der D o g matik selbst genommen. Notierenswert ist also zweierlei: Zunächst, daß die Argumentationskette des § 2 bei der Bestimmung des Anfangspunktes der materialen Einleitung den argumentativen Bogen
hierzu die am relativ ausführlichsten gehaltene Erörterung in Dial 1818 [Ns.], DJ 3 0 3 - 3 0 8 ) . Z w a r trägt diese Beobachtung zum inhaltlichen Verständnis der Erklärung der Dogmatik wenig bei, weil der allgemeine Charakter der hochkomplexen K o m binationsregeln noch keine Sicherheit über die sachliche Zugehörigkeit des in die Erklärung der Dogmatik aufzunehmenden Einzelwissens verschafft. Aber zum formalen Charakter der Dogmatik-Erklärung läßt sich doch immerhin soviel festhaken, daß die „Erklärung" einer Wissenschaft offensichtlich nicht einem begriffsbildenden, induktiv definitorischen Verfahren (Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T1.2 § 3 4 - 3 9 D A 2 9 3 - 9 5 [DJ 2 1 5 221 dort § 2 6 3 - 2 6 8 ] ; vgl. hierzu auch oben S. 3 3 ) folgt, sondern sich als gegenstandsbezogenes, zirkulär präzisierendes Fortschreiten vom allgemeinen zum besonderen Wissen vollziehen wird. Daher scheint es auch sinnvoll, den Begriff „Erklärung" aus C G 2 § 1 u.ö. nicht in einem allgemein weiten und restringierten Sinne, etwa als „informative Verdeutlichung", zu verstehen, sondern als eine exakt und elaboriert gemeinte Bezeichnung für die im oben genannten Sinne regelhaft hergeleitete Konstitutionsformel eines Wissensgebietes aufzufassen. 65
C G 2 § 2 Ls, Bd. I, 10,9
66
C G 2 § 2.1, Bd. I, 10,16f führt den expliziten Rekurs auf K D 1 1 § 1 ein.
67
C G 2 § 2 Ls., Bd. I, 10,10
68
C G 2 § 2.2, Bd. I, 12,12
69
C G 2 § 2.2, Bd. I, 12,29f
70
C G 2 § 2.2, Bd. I, 12,29
71
C G 2 § 3 Ls, Bd. I, 14,27f
I. Die systematische F u n k t i o n der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
211
der material einleitenden §§ 3-18, von der empirischen Faktizität der Frömmigkeit bis zur Bestimmung des Wesens der dogmatischen Theologie, bereits - rückwärts vorangehend - zusammenfassend vorwegnimmt. Und außerdem ist festzuhalten, daß der § 2 von CG 2 damit jenen Argumentationsansatz wiederholt, dem der - weder methodologisch noch methodisch eingeleitete - umweglose inhaltliche Auftakt der Einleitung von CG 1 durch den Einsatz beim Begriff der Dogmatik in den dortigen §§ 1-4 folgte und dessen MißVerständlichkeit Schleiermacher bekanntlich dadurch zu beheben suchte, daß er den Block der Dogmatik-Erklärung aus der Eingangsposition der Einleitung an das Ende von dessen erstem Kapitel verschob. 72 Aber trotzdem stellt der argumentative Gang des § 2 von CG 2 damit weder eine tautologische Vorwegnahme von CG 2 §§ 3-18 noch eine problematische Wiederholung des Argumentationsganges von CG 1 dar. Dies ist aus zwei eng miteinander zusammenhängenden Gründen ausgeschlossen. Erstens: Der Leitsatz des § 2 setzt ja keinesfalls den erst innerhalb der materialen Einleitung als deren Ergebnis zu entwickelnden präzisen Begriff der Dogmatik, wie er in CG 2 § 1973 (bzw. in CG 1 § l 7 4 ) formuliert ist, voraus, sondern er operiert seinerseits mit einem außerhalb der materialen Einleitung und auch außerhalb der theologischen Wissenschaft, nämlich in der Enzyklopädie aufgestellten vorläufigen und allgemeinen Begriff der Dogmatik. Die Dogmatik wird im Leitsatz des § 2 zunächst nur als eine theologische Disziplin und also eine am wissenschaftssystematischen Ort der Theologie partizipierende Teilwissenschaft verstanden. Dieser allgemeine, vorläufige und weite Begriff des zu Erklärenden wird fürs erste angenommen, um im Laufe des Erörterungsganges präzisiert zu werden und auf eine tragfähige Begriffsbestimmung zu zielen. Die Struktur dieses (einen Bogen vom § 2 zum § 19 schlagenden) Verfahrens erschließt sich am besten, wenn wir uns an die allgemeinen, in der Dialektik entwickelten Regeln zur Aufstellung gehaltvollen, be-
72
„Vielleicht ist schon das nachtheilig gewesen, daß die Einleitung [sc: die Einleitung in C G 1 ] gleich mit einer vollständigen Erklärung der D o g m a t i k anhebt. D e n n n u n konnte man leicht denken, nachdem diese gegeben w o r d e n , hebe auch die D o g m a t i k an, und bedachte nicht, daß das Folgende eigentlich der Erklärung hätte vorangehen sollen (...)" (Zweites Sendschreiben 5 1 8 , K G A 1/10, 377,1-5). Vgl. z u m Fortschritt der zweiten A u f l a g e gegenüber der ersten im einzelnen unten S. 2 2 4 f f u n d J u n k e r : Urbild 33-37
73
C G 2 § 19 Ls., Bd. I, 1 1 9 , 1 - 3 C G 1 § 1 Ls., K G A 1/7.1, 7,3-5
74
212
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
grifflichen Wissens erinnern. 75 Dort entwickelte Schleiermacher das oszillierend voranschreitende Erkenntnisverfahren als ein aus der bipolaren Struktur des Wissens selbst abzuleitendes Verfahren. Im vorliegenden Zusammenhang ist dabei nun vor allem der Anfangspunkt dieses Erkenntnisverfahrens von Interesse. Denn kennzeichnend für das Verfahren war unter anderem die Unmöglichkeit eines absoluten Anfanges bzw. die Unvermeidlichkeit eines Anfanges aus der Mitte. 76 (Im Rahmen der „Erklärung" einer Wissenschaft tauchte dieses wissenstheoretische Grundproblem ausführlich in der Einleitung in die Dialektik auf, in der Schleiermacher die „schwere Aufgabe einen Anknüpfungspunkt zu finden"77 mit der zirkulären Struktur des Erkennens 78 begründet.) Wie jeder materiale Erkenntnisakt hat also auch die Erklärung einer Wissenschaft mit einer allgemeinen und vorläufigen, zu kontrollierenden und zu präzisierenden Setzung zu beginnen, „und je kleiner das Capital ist, womit wir anfangen, desto n o t w e n diger ist es, daß wir dieses recht sicher haben." 79 75 76 77 78
79
Vgl. dazu insgesamt oben S. 28ff Dial 1814/15, T1.2 § 62 DA 2 104 (DJ 250 dort § 291) Dial 1814/15, Einl. § 1 DA 2 3 (DJ 1) „Zuvörderst sollte wol eine Erklärung gegeben werden. Andrerseits ist deutlich, daß die Erklärung das lezte ist, das ganze Erkennen. Denn ist sie rechter Art: so giebt sie den das Wesen des Gegenstandes darlegenden Begriff, und damit nicht nur sein Verhältniß zu allen anderen, sondern auch seinen rechten Gebrauch. Soll man also mit ihr anfangen: so dreht man sich im Kreise. Demohnerachtet muß man mit ihr beginnen; es ist dies die cyclische Natur des Erkennens, und es giebt kein Erwerben im Gebiet des Wissens so, daß ein Wissen vom andern abgeschnitten wäre, sondern nur so, daß eine allmählige Verklärung des Wissens entsteht, indem deutlicher bestimmter sicherer wird, was man auf einer niedrigen Stufe des Bewußtseins auch schon hatte." (Dial 1818 [Ns.], DJ 1) - D. Offermann (Offermann: Einleitung 32) stellt ebenfalls den Zusammenhang zwischen der Einleitung in die Glaubenslehre und der Einleitung in die Dialektik her, bezieht den Zirkulärcharakter des Erkennens freilich nur auf das gegenseitige Auslegungsverhältnis der drei Lehnsatzbereiche, während die zirkulär-progressive Struktur des Erkenntnisganges m.E. darüber hinaus vor allem den Bogen von der vorläufigen Erklärung der Dogmatik im § 2 zur präzisen Funktionsbestimmung der Dogmatik im § 19 zu deuten in der Lage ist - vgl. dazu unten Anm. 128. Dial 1818 (Ns.), DJ 40. - Detailliert und auf den konkreten Zweck bezogen hat Schleiermacher die materiale Gestalt des Erkenntnisverfahrens, die sich aus den hier erwähnten wissenstheoretischen Grundbedingungen ergibt, in der Entfaltung des kritischen Verfahrens behandelt. Ein ausführliches Eingehen auf das kritische Verfahren verbietet sich der gebotenen Kürze dieses lediglich eine Nachzeichnung des argumentativen Ansatzes der Einleitung intendierenden Abschnittes halber. Ich gehe auf die notwendigsten Bestimmungen des kritischen Verfahrens unten S. 217f ein. Vgl. zum weiteren Zusammenhang die grundlegenden Ausführungen in Ethik (Einl, I.B.) 1816/17, Ε 549f (§ 109), KD 5 § 32, Theol. Enzyklopädie 33,24-36,6 (zu KD 2 § 32); z u m Ganzen ausführlich Rössler: Programm der Philosophischen Theologie,
I. Die systematische Funktion der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
213
Zweitens: Die Verwechslung des § 2 mit dem materialen Einsatzpunkt des ersten Kapitels der Einleitung ist aber darüber hinaus auch durch die formale Trennung des die Einleitung einführenden § 2 von der materialen Durchführung des ersten Einleitungs-Kapitels in den §§ 3-18 ausdrücklich ausgeschlossen. Denn die den Anfangspunkt der Einleitung fixierende Implikationskette des § 2 bildet selbst ja noch nicht einen Teil der materialen Einleitung, sondern sie gehört noch zu den Präliminarien der Einleitung. Der den Anfangspunkt der Einleitung bildende Begriff der „Frömmigkeit" im Leitsatz des § 3 ist nicht etwa aus dem virtuell vorweggenommenen präzisen Begriff der Dogmatik, wie er im § 19 zum Ausdruck kommt, erschlossen. Vielmehr muß schon das im § 2 ausgedrückte allgemein-enzyklopädische Verständnis der Dogmatik, das auf jede innerhalb der theologischen Wissenschaft zu treffende Distinktion noch völlig verzichtet (und die Dogmatik einstweilen in einem kommunen Sinne als eine theologische Disziplin auffaßt), als den allgemeinsten Ermöglichungsgrund dieser faktisch bestehenden Wissenschaft die Positivität der Frömmigkeit voraussetzen. Diese ist daher an den Anfang der (dann innertheologischen, aber noch außerdogmatischen) genaueren Erklärung der Dogmatik zu setzen. Daher ist mit Nachdruck festzuhalten: Dadurch, daß die zur Frömmigkeit führende Gedankenkette des § 2 ihre Heimat nicht innertheologisch in der Einleitung, sondern außertheologisch in den wissenssystematischen Ermöglichungsbedingungen der Einleitung hat, gewinnen ihre Aussagen im Vergleich zu den Aussagen von CG 2 §§ 3-18 und CG 1 §§ 1-4 einen eigenen wissenschaftssystematischen Rang und genau damit einen eigenen Sinn. Zusammengefaßt: Der einheitliche Rahmen des ersten Kapitels der Einleitung besteht darin, daß am Anfang - im § 2 - eine vorläufige und allgemeine Funktionsbestimmung der Dogmatik (Dogmatik ist eine theologische Disziplin) aufgenommen wird, aus der sich eine in den Leitsatz des § 19 eingeflossene präzise Funktionsbestimmung entwickeln läßt. Weder im § 2 noch im § 19 wird dabei eine inhaltlich orientierte Bestimmung des Gegenstands der Dogmatik vorgenommen, sondern es wird lediglich ihr funktionaler Bezugsrahmen umrissen.80
80
außerdem j0rgensen: Offenbarungsverständnis 2 0 4 - 2 0 6 und Offermann: Einleitung 139-152. Vgl. z.B. die explizite Rückbindung der Aufgabe und des Verfahrens der Dogmatik an die Verkündigung in C G 2 § 19.1, Bd. I, 1 1 9 , 1 0 - 1 2 ; auch schon in a.a.O. § 18.3, Bd. I, 1 1 7 , 3 3 - 1 1 8 , 8 .
214
Drittes Kapitel: D i e Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
(2.) Eng verknüpft mit diesem Weg des § 2 zur Bestimmung des Anfangspunktes der materialen Einleitung ist die Zusammenstellung der in Anspruch zu nehmenden wissenschaftlichen Teildisziplinen (Lehnbereiche), die sich ebenfalls im § 2 findet.81 Denn auch diese Zusammenstellung der Disziplinen partizipiert an denselben vier Voraussetzungen, von denen sich bereits die Bestimmung des Anfangspunktes hatte leiten lassen. Erstens: Die Zusammenstellung der Disziplinen setzt bei der enzyklopädischen Einsicht in die Positivität der theologischen Wissenschaft ein. Zweitens: Die Zusammenstellung findet statt mit dem Ziel, eine Erklärung des Wesens der Dogmatik aufzustellen, hat also einen funktionalen Zweck. Drittens: Die Zusammenstellung selbst ist noch kein Teil der materialen Einleitung, sondern sie gehört zu den die materiale Einleitung fundierenden Präliminarien. Hinzu tritt eine vierte, aus der Bestimmung des Anfangspunktes sich ergebende Voraussetzung: Die Zusammenstellung hat sich an den in der Bestimmung des Einleitungs-Anfangspunktes für die Einleitung als zweckmäßig erkannten Argumentationsgang zu halten: vom Allgemeinen, Bedingenden - der Frömmigkeit - aus ist das Besondere, Bedingte - das Wesen der Dogmatik - zu entwickeln, indem die Koordinaten „Der allgemeine Begriff der Kirche", „Die Verschiedenheit der einzelnen kirchlichen Gemeinschaften", „das eigentümliche Wesen der christlich-kirchlichen Gemeinschaft" und „Die Funktion der Dogmatik in der christlich-kirchlichen Gemeinschaft" in eben dieser Reihenfolge abgeschritten werden. Damit kann Schleiermacher nun, wiederum ausschließlich im Rückgang auf die enzyklopädischen Grundbestimmungen, die Lehnbereiche festlegen. Ich stelle zunächst die Aufgabe und die Methode der zu beleihenden wissenschaftlichen Disziplinen im Blick auf ihren funktionalen Wert für die Einleitung je einzeln vor, um dann aus dem Uberblick über ihren Zusammenhang Schlüsse auf die von Schleiermacher für die Einleitung insgesamt vorgesehene Methode ziehen zu können. a) Erstens: Klarheit über den allgemeinen Begriff der Kirche kann man, nachdem die Kirche zum wenigsten und unbestreitbar als eine sich dem menschlichen Handeln verdankende Gemeinschaftsform aufzufassen ist 8 2 , nur im Rekurs auf diejenige reine Wissenschaft gewin-
81 82
C G 2 § 2.2 und Zusätze, Bd. I, 12,7-14,25 C G 2 § 2.2, Bd. I, 12,14-16
I. D i e systematische F u n k t i o n der Frömmigkeitstheorie in der „ E i n l e i t u n g "
215
nen, die eine „Darstellung der Vernunft in ihrer Gesamtwirksamkeit" 8 3 enthält - die spekulative Ethik. Warum dieses Bezugsfeld für den dann in den §§ 3-6 faktisch durchgeführten Untersuchungsgang das angemessene ist, erschließt sich dabei aber noch nicht aus den spärlichen Bestimmungen des § 2, sondern erst durch die Vergegenwärtigung des enzyklopädischen Zusammenhanges, den Schleiermacher offensichtlich vor Augen hat. 84 Denn die (ihrerseits spekulative) Bestimmung der Ethik als das „Handeln der Vernunft auf die N a t u r " 8 5 bzw. als die „Gesamtheit der Begriffe von den Wirkungen der menschlichen Vernunft in aller irdischen N a t u r " 8 6 wird in der Kurzen Darstellung wiederholt (in der „Ethik als Wissenschaft der Geschichtsprinzipien" wird das „Werden[] eines geschichtlichen Ganzen (...) auf allgemeine Weise" dargestellt 8 7 ), und erfährt in diesem Zusammenhang auch ihre funktionale Konkretion: Die Ethik weist die Legitimität menschlicher Gemeinschaftsformen und die Universalität der konstitutiven Elemente des menschlichen Geistes ipso actu dadurch nach, daß sie das vollständige Deckungsverhältnis zwischen den die Entwicklung des geschichtlichen Ganzen leitenden Prinzipien und den notwendigen Elementen des menschlichen Geistes beschreibt. Dies geschieht in beiden Richtungen, nämlich einerseits so, daß die die Entwicklung des geschichtlichen Ganzen leitenden Prinzipien als notwendige Elemente des menschlichen Geistes nachgewiesen werden 8 8 , andererseits aber auch durch den Aufweis, daß „jedes wesentliche Element der menschlichen Natur auch Basis einer Gemeinschaft" werden könne. 8 9 Damit stehen die Umrisse der Aufgabe und der Funktion der aus dem Lehnbereich „Ethik" zu entleihenden Lehnsätze zunächst fest. 83 84
C G 2 § 2 Zs. 2, Bd. I, 14,20f D . O f f e r m a n n hat in ihren Einleitungserwägungen z u m Lehnbereich „ E t h i k " ( O f f e r mann: Einleitung 33-38), denen sie vorwiegend die F o r m einer A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Interpretation F. Flückigers gibt, darauf hingewiesen, daß der R e k u r s auf den Lehnbereich Ethik hier unbedingt v o n der Vermittlung durch die im § 2 benannte theologisch-enzyklopädische Z w e c k b e s t i m m u n g her zu verstehen ist - wohingegen jeder auf diese B r ü c k e n b e s t i m m u n g verzichtende Versuch einer direkten Ableitung der funktionalen A u f g a b e der ethischen Lehnsätze aus der (in der Einleitung zur philosophischen Ethik enthaltenen) B e s t i m m u n g der G e s a m t a u f g a b e der vollständigen reinen Wissenschaft „spekulative E t h i k " k a u m einer Fehlgewichtung entgehen kann.
85
Ethik (Einl) 1813(16), Ε 498 (§ 51)
86
Ethik (Gtl, I.B.) 1816/17, Ε 561,8f (§ 1) K D 2 § 35
87 88 89
Theol. E n z y k l o p ä d i e 39,4-31 zu K D 2 § 35; vgl. auch K D 1 6 § 23 C G 2 § 6.2, Bd. I, 42,16f
216
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
Auch die zur Erfüllung der Aufgabe adäquate Methode wird der erste Lehnsatzkomplex seinem Bezugsbereich, der Ethik entlehnen, indem er ein spekulatives 9 0 Verfahren einschlagen wird. Dieses spekulative Verfahren der Ethik steht dabei aber im Verhältnis fortwährender gegenseitiger Kontrolle und Weiterbildung mit dem empirischen Verfahren der Geschichtskunde. Schon in der Ableitung des Wissenschaftssystems wurden die Ethik und die Geschichtskunde ja in ein komplexes gegenseitiges Bedingungsverhältnis gestellt 91 : Die in der Idee des Wissens selbst enthaltene, unhintergehbare Verschränkung von Vernunft und Natur, von Spekulation und Empirie kommt im System der Wissenschaften - noch vor der Einführung der kritischen bzw. technischen Disziplinen, die dieses gegenseitige Bedingungsverhältnis in materialer, konstruktiver Weise realisieren - dadurch zum Ausdruck, daß die spekulative Ethik und die empirische Geschichtskunde im Verhältnis der „lebendigen Wechselwirkung" 9 2 zueinander stehen, daß sie „durch einander bedingt und meßbar" 9 3 sind. Dieses Verhältnis hatte ich oben 9 4 durch das Prinzip des doppelten, relativen Gegensatzes zu deuten versucht: Ethik und Geschichtskunde sind immer zugleich in kategorialer Weise voneinander unterschieden und in substantieller Weise aufeinander bezogen. 95 Gewissermaßen stehen sie dadurch also in einem förmlichen „Entsprechungsverhältnis" 9 6 zueinander. Für das spekulative Verfahren der Ethik bedeutet dies, daß die Erkenntnis der Prinzipien in „Gestalt" 9 7 und „Inhalt" 98 auf die „Gewährleistung" 9 9 durch die individuell-empirischen Daten der Geschichtskunde angewiesen bleibt. Bezieht man diese allgemeine Methodenbestimmung der Ethik nun auf die konkrete, oben beschriebene Aufgabe des ersten Lehnsatzbereiches, so ergibt sich, daß die spekulative Erkenntnis des leitenden Prinzips der kirchlichen Gemeinschaft (als eines notwendi90 91 92
C G 2 § 2 Zs. 2, Bd. I, 14,20 Vgl. z.B. Ethik (Einl, I.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 536 (§ 60) Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 5 4 0 (§ 74)
93
Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 538 (§ 65)
94
S.o. S. 97f Vgl. die prägnante Zusammenfassung in Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 549 (§ 108 Zs.): „Sittenlehre u n d Geschichtskunde bleiben immer f ü r sich selbst gesondert; f ü r einander sind sie die Geschichtskunde das Bilderbuch der Sittenlehre, und die Sittenlehre das Formelbuch der Geschichtskunde." Rössler: P r o g r a m m der Philosophischen Theologie 2 1 6 Ethik (Einl, l.B.) 1 8 1 6 / 1 7 , Ε 539 (§ 70)
95
96 97 98 99
A . a . O . § 71 Ebda.
I. D i e systematische Funktion der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
217
gen Elementes des menschlichen Geistes) auf die fortwährende Impulsgabe und Kontrolle durch die empirische Anschauung der kirchlichen Gemeinschaft und des menschlichen Geistes angewiesen sein wird. 1 0 0 b) Zweitens: Den Uberblick über die Verschiedenheit der einzelnen kirchlichen Gemeinschaften kann man nur durch deren Vergleich gewinnen, also durch die methodisch geordnete Beurteilung der individuellen historisch-empirischen Gestaltungen kirchlicher Gemeinschaft unter Zuhilfenahme der spekulativ gewonnenen elementaren Kriterien eines Allgemeinbegriffes der Kirche. Dies wird in einer zweckbezogenen kritischen Disziplin, der Religionsphilosophie, geleistet. 101 Die Aufgabe dieses zweiten Lehnbereiches ist also im Vergleich zur Aufgabe des ersten Lehnbereiches enger begrenzt: der Vergleich erfolgt mit dem Ziel, „das Eigentümliche der christlichen [Kirche]" 1 0 2 methodisch zuverlässig zu bestimmen. Bereits in der Ableitung des Wissenschaftssystems lag der eigentümliche Wert der kritischen Disziplinen ja in ihrer Methodik: Sie zeichneten sich dadurch aus, daß sie in jedem denkbaren Gegenstandsbereich unter Rekurs auf die spekulativ gewonnenen Prinzipien das empirisch gegebene Mannigfaltige als individuelle Darstellung des Allgemeinen ordnen; sie vermögen die individuellen Gestaltungen in Rücksicht auf deren jeweilige Eigentümlichkeit und auf die Art der Darstellung des gemeinsamen Prinzips in ein geordnetes Verhältnis zueinander zu setzen. 1 0 3 Dieser Grundbestimmung kritischer Disziplinen entspricht zunächst die der „Religionsphilosophie" in der Kurzen Darstellung zugewiesene Aufgabe 1 0 4 , sodann wird sie aber vor allem durch die ausführlichen 100
Beispiele für einen solchen Rückgriff auf empirische Daten finden sich im Argumentationsgang des ethischen Lehnbereiches z.B. in C G 2 § 4.1, Bd. I, 25,9; a.a.O. § 6.2, Bd. I, 43,10-12; a.a.O. § 6.4, Bd. I, 44,25-28. D a dieser Rekurs auf empirisches Material also einerseits im spekulativen Verfahren selbst bereits vorgesehen ist, andererseits die kritischen Disziplinen in einem eigenen komplex differenzierten Verfahren Empirie und Spekulation regelhaft ausmitteln, für das Schleiermacher selbst die Bezeichnung „kritisches Verfahren" vorgesehen hat, sollte man diesen Begriff auch für die Prozedur der kritischen Disziplinen reservieren, und nicht (wie z.B. Offermann: Einleitung 27-29, 108, 326-328 u.ö. mit der Absicht, Schleiermacher vor dem Vorwurf ungeschichtlich-spekulativer Konstruktion in Schutz zu nehmen) auf die Methode der „Einleitung" insgesamt ausdehnen.
101
Auf die präzise Bedeutung, die der Allgemeinbegriff „Religionsphilosophie" damit gewinnt, geht Schleiermacher in K D 2 § 23 Zs. und in C G 2 § 2.2, Bd. I, 13,4-20 und 14,21-24 ein. Vgl. auch Zweites Sendschreiben 516f, K G A 1/10, 374,3-7. C G 2 § 2.2, Bd. I, 12,16 Ethik (Einl) 1813(16), Ε 505 (§ 92f). Ethik (Einl, l.B.) 1816/17, Ε 549f (§ 109) K D 2 § 23
102 103 104
218
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
Erwägungen, die Schleiermacher im § 2 der Einleitung in die Glaubenslehre macht, ergänzt. Denn dort wird die Notwendigkeit, das empirische und das spekulative Erkenntnisverfahren in einer eigenen Disziplin miteinander zu verknüpfen, mit der Unangemessenheit eines ausschließlich spekulativ bzw. ausschließlich empirisch verfahrenden Lösungsversuches der konkreten Aufgabe begründet: Der Versuch einer ausschließlich spekulativen Ableitung des Eigentümlichen einer Kirchengesellschaft kann deren individuelle Gestalt nicht vollständig erreichen, weil er eventuelle Abweichungen des geschichtlich Gegebenen vom Konstruierten nicht berücksichtigen kann 1 0 5 ; die rein empirische Auffassung hingegen wird das Eigentümliche deswegen nicht sicher treffen können, weil ihr „Maß" und „Formel" fehlen, um das „Wesentliche und Sichgleichbleibende von dem Veränderlichen und Zufälligen" 1 0 6 sicher zu unterscheiden. N u r im sich aufeinander beziehenden und einander wechselseitig ergänzenden Zusammenwirken von spekulativem und empirischem Erkenntnisgang läßt sich die spezielle Aufgabe der Religionsphilosophie lösen, „die Gesamtheit aller durch die eigentümliche Verschiedenheit ihrer Basen voneinander gesonderten Kirchengemeinschaften nach ihren Verwandschaften und Abstufungen als ein geschlossenes den Begriff erschöpfendes Ganze darzustellen ( . . . ) " 1 0 7 . c) Drittens: Der dritte Lehnbereich, in dem eine Verständigung über das eigentümliche Wesen der christlich-kirchlichen Gemeinschaft erfolgen soll, nimmt in gewisser Hinsicht eine Sonderstellung ein. Denn während die vorangegangenen Lehnbereiche auf solche wissenschaftlichen Disziplinen zurückgingen, deren methodische Grundzüge sich unmittelbar aus dem System der reinen Wissenschaften ableiten ließen, beleiht der dritte Bereich nun mit der Apologetik einen wissenschaftlichen Zweig, dessen Elemente ihrerseits bereits unter einem bestimmten zweckbezogenen Gesichtspunkt, nämlich mit dem Bezug auf die Bedürfnisse der Kirchenleitung, zusammengestellt sind: die Apologetik. Diese greift, als Subdisziplin der Philosophischen Theologie 1 0 8 , auf diejenigen in der Religionsphilosophie erzielten Ergebnisse der vergleichenden Wertung verschiedener kirchlicher Gemeinschaften zurück, die für die Wesensbestimmung des Christentums relevant 105 106 107 ,08
C G 2 § 2.2, Bd. I, 12,18-25 A.a.O. 12,25-27 A.a.O. 13,4-7 Vgl. oben S. lOlf
I. Die systematische Funktion der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
219
sind 1 0 9 und stellt unter ihrer Zuhilfenahme eine die Eigentümlichkeit des Christentums fixierende sog. Formel auf 1 1 0 . Im Vergleich zur Religionsphilosophie läßt sich sagen: Die (kritische) 111 Methode der A p o logetik ist aus der Religionsphilosophie übernommen, ihre Aufgabe dagegen ist im Vergleich zu derjenigen der Religionsphilosophie noch einmal unter funktionalem Aspekt zugespitzt. N u n setzt diese Idealvorstellung allerdings das Bestehen einer materialen Religionsphilosophie, auf die in der Apologetik zurückgegriffen werden kann, voraus. Da es aber in der theologischen Wissenschaft realiter an einer solchen ausgeführten Religionsphilosophie fehlt, hat die Apologetik sich die für sie relevanten religionsphilosophischen Grundlagen im „abgekürzte(n) Verfahren" selbst zu erstellen, indem sie „alles dasjenige unausgeführt zur Seite liegenfläßt], was nicht z u r Ausmittelung des Christentums unmittelbar beiträgt." 1 1 2 Aus diesem Hinweis lassen sich über die allgemeinen wissenschaftssystematischen Bestimmungen hinaus insbesondere Anhaltspunkte für die schlüsselhafte Funktion der Apologetik im Ganzen des ersten Kapitels der Einleitung ziehen. 1 1 3 d) Viertens: Damit ist der Kreis der zu beleihenden wissenschaftlichen Disziplinen vollständig. Im ersten Kapitel der materialen Einleitung folgt jedoch auf die Entfaltung der drei Lehnbereiche Ethik, R e ligionsphilosophie und Apologetik in den §§ 3-6, 7-10 und 11-14 noch ein vierter Bereich, dessen Leitsätze zwar keinem eigenen Lehnbereich entnommen sind und deren Aufgabe und Provenienz von Schleiermacher im § 2 auch nicht zur Sprache gebracht wird. Aber diese Nichterwähnung darf keinesfalls über die tatsächliche Bedeutung dieses Bereiches hinwegtäuschen. Denn erst in diesem vierten Bereich werden die aus den ersten drei Bereichen entlehnten kategorialen Bestimmungen nun auch tatsächlich als Beitrag zu einer Erklärung der Dogmatik ausgewertet. Die Aufgabe des vierten Bereiches besteht in der Bestimmung der Funktion der Dogmatik in der christlich-kirchlichen Gemeinschaft: Das Verhältnis der materialdogmatischen Sätze zur Basis der christlich-kirchlichen Gemeinschaft, der christlichen Frömmigkeit, muß geklärt werden. Diese Klärung erfolgt in mehreren thematisch 109 1,0 n l 112 1,3
K D 2 § 43 A.a.O. § 44 A.a.O. § 44 Zs. Vgl. hierzu auch Offermann: Einleitung 2 3 9 - 2 4 1 C G 2 § 2.2, Bd. I, 13,24-32 Vgl. dazu unten A n m . 129
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Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
motivierten Gedankenschritten, in denen sämtliche Bezugspunkte der vorangegangenen Lehnbereiche Ethik, Religionsphilosophie und Apologetik auftauchen und in denen die dort erzielten Resultate nun zu einer Erklärung der Dogmatik beitragen. Ein kurzer Uberblick über die Hauptthemen des vierten Abschnittes soll dies verdeutlichen. Zunächst benennt Schleiermacher im § 15 das Verhältnis dogmatischer Sätze zur Frömmigkeit in allgemeiner Weise: Dogmatische Sätze sind einerseits als Folgeerscheinungen der im Wesen der Frömmigkeit selbst angelegten Tendenz nach kommunikativer Selbstdarstellung zu verstehen 114 ; andererseits unterscheidet ihr stets abgeleiteter Charakter sie in kategorialer Weise von dieser Frömmigkeit selbst, was bereits an der Vielfalt der sprachlichen Ausdrucksgestalten dieser Frömmigkeit abgelesen werden kann 115 . Im § 16 wird die sprachliche Form dieser dogmatischen Sätze näher bestimmt, und zwar hauptsächlich durch deren Unterscheidung von der sprachlichen Form der Selbstverkündigung Christi 116 und von der sprachlichen Form der philosophischen Spekulation 117 . Der § 17 bietet dann eine affirmative Bestimmung der Bezugnahme dogmatischer Sätze auf diese beiden Bezugsgrößen: Für jeden dogmatischen Satz muß sich der Bezug auf die (in die apologetische Formel aufgenommene) Erlösungstätigkeit Christi und damit auf die als Gemeinschaft der Erlösungsgläubigen konstituierten christlichen Kirche herstellen lassen. Und das Maß, in dem der propositionale Gehalt der frommen Gemütserregung zur Abbildung gekommen ist, begründet den kirchlichen Wert eines jeden dogmatischen Satzes. 118 Daneben muß jeder dogmatische Satz aber auch eine feste Stelle im vollständigen dogmatischen Gesamtsystem belegen und erkennen lassen. Und in dieser den Zusammenhang darstellenden Potenz liegt der wissenschaftliche Wert jedes einzelnen dogmatischen Satzes. 119 Der § 18 schließlich erweist die Notwendigkeit des systematischen Charakters dogmatischer Satzsysteme als ein Implikat der Notwendigkeit der dogmatischen Satzbildung überhaupt und erklärt beide für den primären frommen Gemütszuständen nachgängig. Damit weist der § 18 auf den den Bereich einleitenden § 15 zurück und präzisiert dessen vorläufige Bestimmung zugleich. 1,4 115 116 117 118 119
CG 2 § A.a.O. A.a.O. A.a.O. A.a.O. A.a.O.
15.1, Bd. I, 105,13-106,24 § 15.2, Bd. I, 106,25-107,26; bes. 107, 20-26 § 16.2, Bd. I, 108,31-109,22 § 16.Zs., Bd. I, 110,25-112,34 § 17.1, Bd. I, 113,1-114,2 § 17.2, Bd. I, 114,3-115,10
I. D i e systematische F u n k t i o n der Frömmigkeitstheorie in der „ E i n l e i t u n g "
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In seiner Methode folgt der vierte Erweisgang damit ebenfalls einem oszillativ voranschreitenden Verfahren. Denn die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dogmatischen Sätzen und dem christlichfrommen Selbstbewußtsein vollzieht sich in der Schwebe zwischen den spekulativen Kriterien für die Angemessenheit dogmatischer Sätze und der empirisch gegebenen Mannigfaltigkeit dogmatischer Sätze. Im vierten Abschnitt wird nicht nur ein Normenkatalog für die Aufstellung von adäquaten dogmatischen Sätzen aufgestellt, sondern es werden damit zugleich auch N o r m e n für die Uberprüfung der Sachgemäßheit empirisch gegebener dogmatischer Sätze bereitgestellt. 120 Die Aufgabe, die Themen und das Resultat des vierten Abschnittes machen also deutlich, daß die Leitsätze des letzten Abschnittes dieses ersten und wesentlichen Kapitels der Einleitung tatsächlich ebenfalls ihren ursprünglichen Sitz in der „Einleitung" haben. Denn die Klärung des Verhältnisses zwischen der Dogmatik und der christlichen Frömmigkeit mit dem Ziel einer Erklärung der Dogmatik, im Rekurs auf ethische, religionsphilosophische und apologetische Grundsätze und zur Vorbereitung der materialen Dogmatik kann einzig und allein Sache der Einleitung in die Dogmatik sein, in der die durchgeführten Überlegungen daher ihre ursprüngliche wissenschaftssystematische Heimat haben. 121 (3.) Damit möchte ich mich nun abschließend dem Verhältnis zwischen den vier Bereichen des ersten Einleitungskapitels zuwenden. Dieses Verhältnis ist m.E. durch zwei Aspekte bestimmt: einerseits folgen alle vier Bereiche einem vergleichbaren Binnenverfahren, andererseits bilden die vier Bereiche eine abgestuft aufeinander aufbauende Reihe. Diese beiden Aspekte bestätigen einander. Zunächst zum Binnenverfahren: Alle vier Abschnitte folgen einer zwischen spekulativer und empirischer Erkenntnisform oszillierenden, vom vorläufig Allgemeinen zum abschließend Besonderen voranschreitenden Methode. Jedoch ist das Mischungsverhältnis zwischen 120
Übersichtlich wahrnehmbar ist dieses duplizitäre Verfahren in einer rein f o r m a l e n Betrachtung b s p w . der Gegenüberstellung von C G 2 § 15.1 und 15.2 oder von C G 2 § 18.2 und 18.3, in denen die jeweils ersten Unterabschnitte eher zur selbsttätigen Bildung dogmatischer Sätze anzuleiten scheinen, während die jeweils zweiten A b schnitte dagegen eher Regeln zur Bewertung der Legitimität empirisch vorfindlicher dogmatischer Sätze zu bilden scheinen.
121
Dieselbe wissenschaftssystematische Z u o r d n u n g gilt f ü r das zweite Kapitel der E i n leitung, die §§ 20-31, das hier freilich aus dem oben S. 208f genannten G r u n d unberücksichtigt bleibt.
222
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
dem spekulativen und dem empirischen Element unterschiedlich, und zwar abhängig vom Allgemeinheitsgrad des Gegenstandsbereiches eines jeden Abschnittes: Der erste Lehnbereich, der es mit dem verhältnismäßig allgemeinsten Thema (nämlich: der allgemeinen Bestimmung der zur Kommunikation tendierenden Frömmigkeit als eines notwendigen Elementes des menschlichen Geistes) zu tun hat, bedient sich in methodischer Ubereinstimmung mit seinem Heimatbereich überwiegend der spekulativen Methode, während empirische Daten in nachgeordneter Weise zur Kontrolle dienen. 122 Der zweite Lehnbereich folgt dagegen dem kritischen Verfahren und hält in der religionsphilosophischen Ausmittlung des Zusammenhanges der verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften das „Gleichgewicht des Geschichtlichen und Spekulativen" 1 2 3 . Auch der dritte Bereich, der die Lehnsätze aus der Apologetik enthält und eine Wesensdarstellung des Christentums intendiert, folgt der kritischen Methode. 1 2 4 Der vierte Bereich schließlich geht in der Bestimmung des Verhältnisses der Dogmatik zur Frömmigkeit ebenfalls komparativ vor 1 2 5 ; doch tritt in ihm die eigenständige spekulative Konstruktion noch stärker als im apologetischen Lehnbereich hinter die Aufgabe zurück, das mannigfaltige empirische Material aufeinander zu beziehen. Damit läßt sich zusammenfassend sagen: Alle vier Bereiche wählen zur Lösung ihrer jeweiligen Aufgabe ein oszillierendes, komparatives Verfahren. Dieses erreicht seine ausgewogenste Gestalt im kritischen Verfahren der Religionsphilosophie, in deren Zusammenhang es von Schleiermacher auch am ausführlichsten entfaltet wird. 1 2 6 Die Religionsphilosophie kann, unter methodischem Gesichtspunkt, insofern also tatsächlich als das eigentliche Zentrum der Einleitung verstanden werden. 1 2 7 Aber gleichzeitig muß man festhalten, daß alle vier Bereiche des ersten Kapitels der Einleitung einen individuell abgestuften Gebrauch dieses die Empirie und die Spekulation aufeinander beziehenden Verfahrens machen. Denn im Verlaufe des Gedankenganges, vom thematisch weit gehaltenen ersten Bereich bis hin zum thematisch eher speziellen letzten Bereich, läßt sich ein allmähliches Zurücktreten des begrifflich-spekulativen Elementes zu122 123 124 125 126
127
S.o. S. 216 C G 2 § 2.2, Bd. I, 13,17f; vgl. auch oben S. 218 S.o. S. 219 S.o. S. 221 Vgl. dazu z.B. K D 2 § 32, Theol. Enzyklopädie 33,24-36,6 (zu K D 2 § 32), siehe auch oben Anm. 79. Offermann: Einleitung 33,10f und 139-152
I. Die systematische Funktion der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
223
gunsten einer Stärkung der geschichtlich-empirischen Auffassung beobachten. 128 Diese Beobachtung eines abgestuften Verhältnisses der vier Bereiche wird nun ergänzt und bestätigt durch die Beobachtung des inhaltlichen Zusammenhanges der vier Bereiche. Dieser Zusammenhang besteht zunächst und in äußerlicher Weise darin, daß einerseits keiner der vier Bereiche in die Dogmatik selbst gehört, andererseits die Dogmatik zur Entwicklung ihres Selbstverständnisses aller vier Bereiche bedarf. Die besondere Gestalt dieses Zusammenhanges läßt sich am besten dadurch erkennen, daß man aus der Perspektive der Dogmatik selbst einen Blick auf die vier Bereiche wirft: Dann benötigt die 128
Im H i n b l i c k auf d e n m e t h o d i s c h e n Z u s a m m e n h a n g d e r vier A b s c h n i t t e des e r s t e n E i n l e i t u n g s - K a p i t e l s ist a u c h an die T h e s e D. O f f e r m a n n s z u m z i r k u l ä r e n C h a r a k ter des ersten K a p i t e l s d e r E i n l e i t u n g z u e r i n n e r n , d i e sich d o r t f r e i l i c h n u r auf d i e drei L e h n s a t z b e r e i c h e b e z i e h t . O f f e r m a n n nennt die B e w e g u n g s r i c h t u n g des (hier als v o m v o r l ä u f i g A l l g e m e i n e n z u m a b s c h l i e ß e n d B e s o n d e r e n b e s c h r i e b e n e n ) V e r f a h r e n s „ z i r k u l ä r " u n d e r k e n n t diese z i r k u l ä r e B e w e g u n g erstens in j e d e m e i n z e l n e n L e h n s a t z b e r e i c h u n d z w e i t e n s in d e m B o g e n v o m § 3 z u m § 14: „ E i n m a l sind d i e drei E r ö r t e r u n g s g ä n g e als drei g l e i c h s a m ü b e r e i n a n d e r g e z o g e n e Z y k l e n z u v e r s t e hen; d e r j e w e i l s letzte L e h n s a t z eines jeden B e r e i c h s f ü h r t auf den j e w e i l s e r s t e n z u r ü c k , i n d e m er d e s s e n A u s g a n g s p u n k t in die eigene Z i e l a u s s a g e einholt u n d so e r k e n n e n läßt, d a ß d e r Z u s a m m e n h a l t v o m je g e s e t z t e n Teilziel her g e g e b e n ist. D i e A b f o l g e d e r drei G ä n g e b i l d e t ü b e r d i e s einen Z y k l u s z w e i t e r O r d n u n g , d e r die z w ö l f P a r a g r a p h e n z u e i n e m G a n z e n f ü g t ; der letzte S a t z - § 14 - m a c h t d e u t l i c h , d a ß das I n t e n t u m d e r L e h n s ä t z e ü b e r h a u p t , d i e H e r l e i t u n g des B e g r i f f s . c h r i s t l i che K i r c h e ' , den i m ersten Satz - § 3 - bei der . F r ö m m i g k e i t ' als d e r . B e s t i m m t h e i t des G e f ü h l s ' b e z o g e n e n A u s g a n g s o r t f o r d e r t " ( O f f e r m a n n : E i n l e i t u n g 3 2 3 , 3 4 - 3 2 4 , 7 ) . N u n s c h e i n t m i r aber, d a ß diese k o m p o s i t o r i s c h e B e o b a c h t u n g O f f e r m a n n s s t a r k an P l a u s i b i l i t ä t g e w i n n t , w e n n m a n sie nicht auf d i e drei L e h n s a t z b e r e i c h e b e s c h r ä n k t , s o n d e r n auf das g e s a m t e erste Kapitel d e r E i n l e i t u n g a u s d e h n t : D e r z i r k u l ä r e C h a r a k t e r d e r e i n z e l n e n B e r e i c h e ist auch i m vierten B e r e i c h z u e r k e n n e n , i n d e m die i m L e i t s a t z des § 15 g e g e b e n e v o r l ä u f i g e B e s t i m m u n g des Verhältnisses d e r D o g m a tik z u r c h r i s t l i c h e n F r ö m m i g k e i t i m L e i t s a t z des § 18 p r ä z i s i e r t w i r d . D e r „ Z y k l u s z w e i t e r O r d n u n g " , d e m das erste Kapitel der E i n l e i t u n g f o l g t , erstreckt sich d a g e gen nicht v o m § 3 z u m § 14, w i e auch das I n t e n t u m d e r L e h n s ä t z e nicht in e i n e r H e r l e i t u n g des B e g r i f f s d e r c h r i s t l i c h e n K i r c h e gesehen w e r d e n d a r f . B e i d e s w i d e r s p r i c h t d e r S c h l e i e r m a c h e r s c h e n Intention. D i e L e h n s ä t z e w e r d e n v i e l m e h r m i t d e m Z w e c k einer F u ' n k t i o n s b e s t i m m u n g der D o g m a t i k b e m ü h t , d e r e n i n t e n d i e r t e „ E r k l ä r u n g " in e i n e m d e n vier B e r e i c h e n ü b e r g e o r d n e t e n B o g e n i m § 2 a n s e t z t u n d sich i m § 19 schließt. Es b l i e b e also i m R a h m e n einer a u s f ü h r l i c h e r e n U n t e r s u c h u n g d e r E i n l e i t u n g z u f r a g e n , ob nicht erst hier, i m § 19 d e r E i n l e i t u n g , d e r u r s p r ü n g liche s a c h l i c h e u n d f u n k t i o n a l e Z i e l p u n k t d e r E i n l e i t u n g , d e n die vier v o r a n g e g a n gen E r ö r t e r u n g s k r e i s e v o r z u b e r e i t e n hatten, e r r e i c h t w i r d (s.o. S. 202). L i e ß e sich diese F r a g e b e j a h e n , m ü ß t e das R e s u l t a t d e r U n t e r s u c h u n g O f f e r m a n n s , d a ß in d e r E i n l e i t u n g einerseits alles auf den Begriff d e r christlichen K i r c h e als M ö g l i c h k e i t s g r u n d d e r D o g m a t i k h i n w e i s t , d i e s e r H i n w e i s andererseits a b e r u n a u s g e f ü l l t b l e i b e (vgl. die p r ä g n a n t e Z u s a m m e n f a s s u n g in O f f e r m a n n : E i n l e i t u n g 3 3 2 , 7 - 1 2 ) e b e n s o in F r a g e gestellt w e r d e n w i e d i e d a n n p r o b l e m a t i s c h e B e s c h r ä n k u n g d e r I n t e r p r e t a t i o n d e r E i n l e i t u n g auf die § § 3 - 1 4 .
224
Drittes Kapitel: D i e Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
Dogmatik, um eine Erklärung ihrer selbst zu erhalten, zunächst eine Verständigung über ihre eigene Funktion in der christlich-kirchlichen Gemeinschaft, deren ursprünglicher Sitz in der Einleitung der D o g matik ist. Zur Klärung der ihr aufgegebenen Frage bedarf die Einleitung ihrerseits dann zunächst einer Klärung des Eigentümlichen der christlich-kirchlichen Gemeinschaft, die sie aus der Apologetik bezieht. Die Apologetik wiederum entnimmt ihren Begriff der christlichkirchlichen Gemeinschaft nur als Auszug aus der Religionsphilosophie, die eine vergleichende Ordnung aller kirchlichen Gemeinschaften herstellt. Deren Ordnungsprinzip entlehnt sie dem allgemeinen Begriff der Kirche, wie er in den ethischen Lehnsätzen als in der Frömmigkeit gründend nachgewiesen wird. Damit erweisen sich die mit einer Wesensbestimmung der Frömmigkeit einsetzenden Lehnsätze aus der Ethik also nicht nur vom § 2 der Einleitung aus, sondern auch noch einmal von der Dogmatik selbst aus als legitimer Einsatzpunkt einer Erklärung des Wesens der Dogmatik. 1 2 9 F. Der unterschiedliche Stellenwert der Frömmigkeit in den beiden Auflagen der „Einleitung" Die vorstehende Beschreibung des funktionalen Ortes der Frömmigkeitstheorie im Gesamtaufbau der Glaubenslehre machte unter anderem deutlich, warum die Einleitung in die Glaubenslehre notwendigerweise auch alle wesentlichen systematischen Bestimmungen der Frömmigkeit enthalten muß. Sind „die Sätze nur das abgeleitete und der innere Gemüthszustand das ursprüngliche" 1 3 0 bzw. umgekehrt: wird man, „wenn nicht unmittelbar, doch mittelbar von jedem dog129
130
Wollte man über die wissenschaftssystematische Lokalisierung der Lehnbereiche hinaus weitere wissenschaftstheoretische Zuordnungen im ersten Kapitel der Einleitung feststellen wollen, so würde man zwei Feststellungen treffen müssen: Erstens, daß die die vier Bereiche rahmenden §§ 2 und 19 ihrem Wesen nach der Enzyklopädie zuzuzählen wären, insofern sie die funktionale Erklärung der Dogmatik als B e s t i m m u n g des positiven Wissensgebietes aus den kategorialen Daten übergeordneter Wissensgebiete vornehmen und damit ordnende Funktionen erfüllen, selbst aber kein neues Wissen hervorbringen. Zweitens könnte man auch das erste Kapitel der Einleitung als geschlossene Einheit betrachten, u m ihm seinen O r t im Ganzen der theologischen Wissenschaft zuzuweisen: Dann müßte man entfalten, daß Schleiermacher im ersten Kapitel der Einleitung die Dogmatik-Erklärung als eine zweckbezogene Wesensbestimmung des Christentums durchführt, indem er in den ersten drei Bereichen in fragmentarischer Weise an die der Philosophischen Theologie, genauer: deren Subdisziplin Apologetik zugewiesene A u f g a b e anknüpft. Vgl. hierzu j0rgensen: Offenbarungsbegriff 21 lf. Zweites Sendschreiben 487, K G A 1/10, 343,24f
I. Die systematische F u n k t i o n der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
225
matischen Satz auf das durch ihn repräsentirte unmittelbare Selbstbewußtseyn zurückgeführt" 1 3 1 , so hat auch die materiale Untersuchung der Frömmigkeitstheorie sich an die Einleitung der Glaubenslehre zu halten. Ich werde mich im folgenden also auf den ethischen Lehnbereich und dort insbesondere auf die Paragraphen 3 und 4 zu konzentrieren haben. Zu begründen bleibt dies allerdings noch hinsichtlich der Option für die zweite Auflage der Glaubenslehre. Denn zunächst scheinen allgemein vergleichende Beobachtungen für eine Bevorzugung der Erstauflage zu sprechen: Hier sei die Schleiermachersche Theologie in ihrer ursprünglichen und authentischen, auch wirkungsgeschichtlich einschlägigen geschlossenen Urfassung zu finden132, die sich nicht zuletzt auch deswegen leichter erschließe 1 3 3 , weil sie im Gegensatz zur Zweitauflage nicht durch die Erwiderung und (übertriebene 1 3 4 ) R ü c k sichtnahme auf Kritik den Blick auf die ursprüngliche Intention verstelle. Abgesehen davon, daß in einer durch Kritik veranlaßten Selbstkorrektur nicht unbedingt ein prinzipieller Nachteil gesehen werden muß, sprechen nun aber insbesondere Detailbeobachtungen für eine Bevorzugung der Zweitauflage. 1 3 5 Diese Einzeluntersuchungen richten sich vorwiegend auf die Einleitung in die Glaubenslehre, die in der Zweitauflage - neben der Christologie 1 3 6 - die stärksten Umarbeitungen erfahren hat. Die signifikanten Veränderungen der Einleitung verdanken sich dabei dem Grundmotiv, die speziellen Eigenheiten von der Funktion, vom O r t und vom Verfahren der Einleitung, aber auch der Dogmatik selbst stärker zum Vorschein treten zu lassen, um dadurch die Ursächlichkeit und normative Potenz der Frömmigkeit noch stärker zu unterstreichen. 1 3 7 131
Zweites Sendschreiben 504, K G A 1/10, 3 6 1 , 1 0 - 1 2
132
Stange: Vorbemerkung in C G S V i f
133
Kirn: Art. Schleiermacher 6 0 1 , 6 - 8
134
Wehrung: Dialektik 2 3 9 f
135
Dabei sind diese Forschungsergebnisse vielfach erst ermöglicht w o r d e n durch die Neuedition v o n C G 1 in K G A 1 / 7 . 1 - 2 : vgl. z.B. Gerdes: Christologie 112.
136
Vgl. hierzu Gerdes: Christologie bes. 1 1 6 - 1 2 2 und Junker: Urbild 1 7 3 - 2 0 5
137
Vgl. noch einmal die folgenden Passagen aus dem Zweiten Sendschreiben, das sich in der F o r m der Reaktion auf Kritik an der Erstauflage - durchgängig der B e leuchtung dieses Motivs widmet: „ A b e r von meinem Buche [sc.: C G ] hätte ich gewünscht, es m ö c h t e dieses in einem höhern Grade, als es der Fall ist, und nicht nur durch seine ganze Anlage, sondern auch bei dem einzelnen leisten, nämlich gegen die ausschließliche Vertiefung in den systematischen Z u s a m m e n h a n g bewahren, und immer wieder das B e w u ß t s e y n hervorrufen, daß die Sätze nur das abgeleitete
226
Drittes Kapitel:
Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
Diese Grundintention kommt nun vor allem in der Umgestaltung des Aufbaus der „Einleitung" zum Ausdruck. Während in den einzelnen inhaltlichen Bestimmungen vergleichsweise zurückhaltende sachliche Umakzentuierungen vorgenommen werden, läßt der neue Aufbau von CG 2 erkennen, daß der Rekurs auf die Frömmigkeit unter einer anderen Fragestellung erfolgt als in CG 1 und vom Bemühen geprägt ist, die „Einleitung" in organischer Weise auch mit der Entfaltung des sachlichen Urgrundes der Dogmatik - der Frömmigkeit einsetzen zu lassen. Um diese These belegen zu können, möchte ich zunächst einen kurzen Uberblick über den Aufbau der CG 1 Einleitung im Vergleich zur CG 2 -Einleitung geben, um dann den jeweiligen Ort und vor allem die jeweilige Fragestellung, unter der die Frömmigkeit innerhalb der Gesamtgliederungen der Einleitungen von CG 1 und von CG 2 eingeführt wird, beurteilen zu können. 138 Die Einleitung in CG 1 kann in fünf Abschnitte geteilt werden: die ] §§ 1-4 führen die einleitende Dogmatik-Erklärung des 1 auf die christlich-fromme Gemütserregung zurück; die folgenden drei Abschnitte bieten dann eine Charakterisierung dieser frommen Gemütsverfassung in bezug auf ihre allgemein übereinstimmende ( ! § § 5-11), ihre individuell vielgestaltige ( ] § § 12-17) und ihre speziell christliche ( ! § § 18-22) Ausprägung. Die J §§ 23-35 enthalten Grunderwägungen zur Vorgehensweise im materialen Teil. Fragt man nun zunächst, wie diese Themenkomplexe in den Aufbau der Einleitung in CG 2 eingegangen sind, so bietet sich folgendes - notwendig stark schematische Bild: Der erste Abschnitt j § § 1-4 ist in den das Verhältnis der Dogmatik zur Frömmigkeit bestimmenden Bereich 2 §§ 15-19 eingeflos-
sind und der innere Gemüthszustand das ursprüngliche." (Zweites Sendschreiben 4 8 7 , K G A 1/10, 343,20-25). Vgl. darüber hinaus auch a.a.O. 485, K G A 1/10, 3 4 1 , 2 3 25; 4 8 6 , K G A 1/10, 3 4 2 , 1 1 - 1 4 ; 4 9 2 f , K G A 1/10, 3 4 9 , 1 2 - 1 4 ; 504, K G A 1/10, 3 6 1 , 5 - 1 2 ; 5 1 3 f , K G A 1/10, 3 7 0 , 2 7 - 3 7 1 , 1 0 . 138
F ü r den U b e r b l i c k über die möglicherweise nicht auf den ersten Blick sichtbaren (Zweites Sendschreiben 518, K G A 1/10, 3 7 7 , 1 1 - 1 4 ) , aber doch vorhandenen O r d nungskriterien ist der Blick in Schleiermachers eigene, selbstrekonstruktive Gliederungserwägungen in Marg 9 . 4 9 . 1 6 9 f . 3 0 0 . 4 8 8 , K G A 1/7.3, 4 f . 1 4 . 4 0 f . 6 1 . 8 9 (in A u s w a h l ) hilfreich, vgl. außerdem auch Junker: Urbild 3 1 - 3 3 . Die hier gegebene Gliederungsübersicht weicht v o n den d o r t v o r g e n o m m e n e n A b g r e n z u n g e n nur insofern ab, als sie 1 § 18 im Blick auf seinen die '§§ 1 9 - 2 2 einleitenden Charakter keine Sonderstellung innerhalb eines Komplexes '§§ 5 - 1 8 zuweist, sondern ihn dem K o m p l e x ' §§ 1 9 - 2 2 zuschlägt. A u f diese Weise w i r d die dreiteilige Binnengliederung des K o m plexes ' § § 5 - 1 8 zu einer zweiteiligen Gliederung, die aufgelöst werden kann und es ergibt sich f ü r die Einleitung erster A u f l a g e insgesamt eine Fünfteilung, deren p r o totypischer C h a r a k t e r f ü r die Einleitung zweiter A u f l a g e deutlich erkennbar ist.
I. D i e systematische F u n k t i o n der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
227
sen. Der zweite, dritte und vierte Abschnitt findet in den drei Lehnbereichen 2 §§ 3-14 seine Wiederaufnahme, und zwar mit folgender Detailverteilung: Der erste Abschnitt 5-11) schlägt sich im ethischen Lehnbereich 2 §§ 3-6 nieder, der zweite Abschnitt ('§§ 12-17 [mit 19] 1 3 9 ) wird im religionsphilosophischen Bereich 2 §§ 7-10 wieder aufgenommen und der vierte Abschnitt ('§§ 20-22 [mit 18]) ist im apologetischen Lehnbereich 2 §§ 11-14 ausführlicher entfaltet. Der fünfte Abschnitt ! § § 23-35 schließlich ist in das zweite Einleitungskapitel von C G 2 , in die 2 §§ 20-31 übernommen worden. Die Pointe der gliederungstechnischen Veränderung springt also ins Auge: Der erste Abschnitt der CG 1 -Einleitung, die Rückführung der Dogmatik auf die Frömmigkeit, ist in der CG 2 -Einleitung ans Ende der Wesenserklärung der Dogmatik gerückt, wodurch die Frage nach dem Gegenstand der Dogmatik an das Ende der Einleitung gesetzt ist, die Frage nach dem Wesen der Frömmigkeit hingegen an den Anfang gerückt ist. 140 Diese Umpositionierung muß nun als Ausdruck einer veränderten Fragestellung, unter der auf die Frömmigkeit rekurriert wird, verstanden werden. Denn die leitende Fragestellung der Einleitung in C G 1 lautete ganz offensichtlich: Worin besteht der Gegenstand der Dogmatik? Mit diesem Frageansatz ist der Einsatz bei einer Erklärung der Dogmatik 1) vorgegeben; von ihr aus können die einzelnen Voraussetzungen der Erklärung thematisiert werden, indem zunächst das Verhältnis der Dogmatik zu anderen theologischen Disziplinen erwähnt wird ( ! § 1.5), dann ist das Verhältnis der Dogmatik zur Philosophie ('§ 2) und zur christlichen Frömmigkeit 3) bzw. das Gleichmaß ihres kirchlichen und wissenschaftlichen Wertes ('§ 4) zu thematisieren. Nun erst kann die Bedingtheit der Dogmatik durch die ihr vorausgehende Frömmigkeit thematisch werden ('§ 5), es folgen überwiegend methodische ('§ 6) bzw. überwiegend methodologische ('§ 7) Erwägungen über die diesen Ermöglichungsgrund angemessen ausdrückende Gegenstandsbeschreibungen der Dogmatik, worauf der materiale Entfaltungsgang mit der Wesensbestimmung der Frömmigkeit im ! § 8 beginnen kann. Die Frömmigkeit taucht in dem Darstel,:J9
Über das Detailproblem der Zuordnung der ' § § 18 und 19 informieren Marg 170 u. 300, K G A 1/7.3, 40f.61; die sachlichen Gründe dieses Bereichswechsels müssen hier unberücksichtigt bleiben.
140
Die mit dieser Verschiebung intendierte argumentative Gegenläufigkeit wird auch dadurch noch einmal augenfällig, daß das erste Kapitel der C G -Einleitung im Leitsatz des 2 § 19 fast wörtlich endet mit dem ursprünglichen Anfang der C G 1 Einleitung im Leitsatz des ' § 1 .
228
Drittes Kapitel:
Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
lungsgang der Einleitung von CG 1 also primär unter dem Gesichtspunkt auf, der inhaltlich bestimmende Gegenstand der Dogmatik zu sein, und sie wird genau dort thematisch, wo eine das Thema der Dogmatik erklärende Einleitung ohne die Wesensbestimmung dieses Dogmatik-Gegenstandes nicht mehr auskommt. Der Vorzug dieses Ansatzes liegt darin, daß die Wesensbestimmung der Frömmigkeit in die Hauptaufgabe der Einleitung, eine Erklärung der Dogmatik zu liefern, deutlich eingegliedert bleibt. Dieser Vorzug wird dadurch erkauft, daß die sachliche Vorrangigkeit der Frömmigkeit vor der sachlichen Nachgängigkeit der Dogmatik darstellungstechnisch undeutlich bleiben muß. Dagegen ist die leitende Fragestellung der Einleitung in CG 2 nun deutlich modifiziert. Denn, um Zweifel an dem Primat der Frömmigkeit zu zerstreuen 141 , wird hier nun mit der Frage eingesetzt: Was ist das der Dogmatik Zugrundeliegende? Die „Erklärung" der Dogmatik soll in sachlich angemessener Reihenfolge die Ermöglichungsbedingungen der Dogmatik beschreiben und mit einer Erklärung der Dogmatik enden. Dazu wird - präliminarisch - der institutionelle Bezugsrahmen der Dogmatik, Kirche und Christentum, im 2 § 2 abgesteckt, um dann die Einzelkoordinaten in der Reihenfolge ihres sachlichen Ranges abzuschreiten: Zunächst wird das allgemeine Wesen der Frömmigkeit bestimmt, ( 2 §§ 3-4), es werden Stufen der Frömmigkeit ( 2 § 5) und die nach institutioneller Verankerung verlangende interaktive Tendenz der Frömmigkeit ( 2 § 6) erkannt; es kann das Phänomen verschiedener Frömmigkeitsausprägungen ( 2 § 7-10) und das Spezifikum der christlichen Frömmigkeit ( 2 § 11-14) bzw. ihres Verhältnisses zur Dogmatik ( 2 § 15-18) in sachlicher Reihenfolge gewürdigt werden, um schließlich mit einer vollständigen Erklärung der Dogmatik ( 2 § 19) zu enden. Die Frömmigkeit taucht in dem Darstellungsgang der Einleitung von CG 2 also primär unter dem Gesichtspunkt auf, der Dogmatik sachlich vorgängig zu sein, und sie wird genau dort thematisch, wo der Erweis der sachlichen Vorgängigkeit der Frömmigkeit ohne eine Benennung der der Frömmigkeit nachgängigen Phänomene nicht mehr auskommt. Bis zum 2 § 15 verzichtet die Einleitung in CG 2 auf den Hinweis, daß die Frömmigkeit den inhaltlichen Bestimmungsgrund der dogmatischen Sätze bildet. Der Vorzug dieses Ansatzes liegt also darin, daß die sachliche Vorrangigkeit der Frömmigkeit vor dem nachgängigen Charakter der Dogmatik deutlich betont wird. Dieser 141
Zweites Sendschreiben 4 8 7 , K G A 1 / 1 0 , 3 4 3 , 2 4 f
I. Die systematische F u n k t i o n der Frömmigkeitstheorie in der „Einleitung"
229
Vorzug wird dadurch erkauft, daß die eigentliche Aufgabe der Einleitung, eine „Erklärung" der Dogmatik zu liefern, organisatorisch in den Hintergrund tritt. Schon diese allgemeine Beobachtung zu den Unterschieden zwischen der „Einleitung" erster und zweiter Auflage legt es also nahe, jeder enzyklopädisch oder material dogmatisch interessierten Interpretation die „Einleitung" erster Auflage zugrunde zu legen: die funktionale Aufgabe der Einleitung tritt eindrücklicher hervor, die Gegenstände der Einleitung werden deutlicher unter ihrem Aspekt, Ermöglichungsgründe der Dogmatik zu sein, thematisiert.142 Dagegen wird eine Interpretation, die am sachlichen Gehalt der Frömmigkeit interessiert ist und deren fundierenden Bezug auf die Dogmatik also ohnehin nur als Teilaspekt behandeln darf, unbedingt die Zweitauflage der „Einleitung" in die Glaubenslehre zur Grundlage ihrer Deutung wählen. Aber auch ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Auflagen spricht dafür, in einer Untersuchung der Frömmigkeitstheorie die Zweitauflage zu befragen. Dieser Unterschied betrifft den intentionalen und argumentativen Ansatz der beiden Auflagen. Denn während die Analyse des frommen Selbstbewußtseins in x §§ 8 und 9 einem eher empirisch bzw. phänomenologisch zu nennenden Ansatz folgt, trägt die Analyse in 2 §§ 3 und 4 ein spekulatives Gepräge: Es werden nicht mehr lediglich die faktischen Vollzüge des Selbstbewußtseins angeführt, sondern es werden die Ermöglichungsgründe dieser Vollzüge untersucht.143 Gab die Erstauflage sich noch mit dem Nachweis zufrieden, daß die Frömmigkeit ein mögliches Element des Selbstbewußtseins bildet, läßt sich für die Zweitauflage eine Ausweitung des Anspruches feststellen: es wird nun erwiesen, daß die 142
So legt z.B. Rössler: P r o g r a m m der Philosophischen Theologie auch konsequenterweise überall dort, w o er die Entfaltung des P r o g r a m m e s der Philosophischen Theologie in der Glaubenslehre-Einleitung untersucht, die Erstauflage zugrunde.
143
Diesen U n t e r s c h i e d weist Junker: Urbild 5 5 - 5 8 an zwei Beispielen nach. Erstens: Das Bewußtsein unserer selbst als des sich immer gleichbleibenden ist in C G 2 nicht mehr nur ein E l e m e n t des Selbstbewußtseins, sondern der die Einheit des Selbstbewußtseins ermöglichende G r u n d (vgl. C G 1 § 9.1 = K G A 1 / 7 . 1 , 3 1 , 6 - 2 6 mit C G 2 § 4.1, Bd. I, 2 4 , 1 - 2 4 ; dazu J u n k e r : Urbild 55f und C r a m e r : Prämissen 140). Z w e i tens: D e r Gegensatz zwischen Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit verändert seinen kategorialen Rang, indem er nicht mehr nur als ein faktischer A u s d r u c k der W e sensvollzüge des Selbstbewußtseins aufgefaßt wird, sondern als ein notwendiges, das Selbstbewußtsein erst begründende „Subjekt" dieser Wesensvollzüge fungiert (vgl. C G 1 § 9.2 = K G A 1 / 7 . 1 , 3 1 , 2 7 - 2 9 mit C G 2 § 4.1, Bd. I, 2 4 , 2 4 - 2 5 , 7 ; dazu J u n k e r : Urbild 57).
230
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
Frömmigkeit ein notwendiges Element des Selbstbewußtseins darstellt. Der Theoriestatus wandelt sich damit von einer deskriptiven Analyse zu einer transzendentalen Analyse. 144 Diese Veränderung muß aber als Implikat des modifizierten wissenschaftstheoretischen Ansatzes der Einleitung insgesamt gelten. Denn in der Zweitauflage der Einleitung will Schleiermacher nicht mehr nur das allen Äußerungen der Frömmigkeit Gemeinsame aufsuchen 145 , sondern das die menschlichgeschichtliche Gemeinschaftsform „Kirche" notwendigerweise erfordernde ethische Prinzip: Die Frömmigkeit soll als ein „für die Entwicklung des menschlichen Geistes notwendiges Element" 1 4 6 erwiesen werden. 1 4 7 Der zweite Teil meiner Interpretation soll also seinen Ausgang von den intentional und inhaltlich präzisierten §§ 3-6 der Zweitauflage 148 nehmen, um gleichzeitig die Formulierungen der Erstauflage stets dort zu Rate zu ziehen, wo sie die Interpretation der Zweitauflage erleich144 145 146 147
Junker: Urbild 58 C G 1 § 7 = K G A 1/7.1, 23-25 K D 2 § 22. Vgl. C G 2 § 2.2, Bd. I, 12,7-16 und a.a.O. § 3.1, Bd. I, 15,1-16,1 Auf einige weitere Detailgründe, die im Zusammenhang der Rekonstruktion der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre ebenfalls für eine Bevorzugung von C G 2 ins Feld geführt werden könnten, will ich hier nur summarisch aufmerksam machen. Bezogen auf den formalen Rahmen der Frömmigkeitstheorie ist zunächst auf die Erwägungen zum eigentümlichen Sprachgebiet der Dogmatik hinzuweisen: Konnten die Ausführungen der Erstauflage eher noch so mißverstanden werden, als ob Schleiermacher den Grund der Dogmatik in der Verbindung zweier gleichwertiger, aber gegenläufiger Impulse, der frommen Gemütserregung und des wissenschaftlich systematisierenden Triebes, bestimmt sehen wollte ( C G 1 § 3, K G A 1/7.1,16f), so unterscheidet die Zweitauflage an entsprechender Stelle genauer den sachlichen Primat des frommen Impulses von der nachgängigen Inanspruchnahme wissenschaftlicher Methoden ( C G 2 § 15.2, Bd. 1,106f). D e r Sinn dieser feineren Differenzierung besteht also in der Ermöglichung eines präzisierten, instrumentalisierten Gebrauches wissenschaftlicher Vernunft ( C G 2 § 16, Bd. I, 107-112; vgl. auch Zweites Sendschreiben 519-523, K G A 1/10, 378-382), nicht aber in einer die Intention von C G 1 revozierenden Verringerung der wissenschaftlichen bzw. spekulativen Einflußnahme auf die F o r m der Dogmatik. (So Junker: Urbild 35 im Anschluß an Wehrung: Dialektik 2390 Weitere inhaltliche Präzisionen liegen sodann erstens in dem weiteren Kontext der Wesensbestimmung der Frömmigkeit, in den der fromme Gemeinschaften (und eine Dogmatik) überhaupt erst verlangende Wesenszug der Frömmigkeit zur K o m munikation ausführlicher integriert ist (vgl. hierzu Junker: Urbild 36 und Riemer: Bildung 264f.278-294). Zweitens ist eine komplexere Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Begriff des Gefühls und dem des unmittelbaren Selbstbewußtseins festzuhalten (vgl. hierzu Offermann: Einleitung 41-43) und drittens eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit und dem Bewußtsein der Abhängigkeit von G o t t (vgl. hierzu Cramer: Prämissen 137 Anm. 11).
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der §§ 3 - 6 von C G 2
231
tern. Dabei möchte ich so vorgehen, daß ich zunächst die Grundzüge des in der Einleitung aufgestellten Frömmigkeitsbegriffes in Anlehnung an den Duktus seiner Entfaltung in den 2 § § 3-6 entfalten möchte (II), wobei das Hauptgewicht naturgemäß auf den Paragraphen 3 und 4 liegen wird. 1 4 9 Im Anschluß daran möchte ich dann auf den meines Erachtens wesentlichen systematischen Gehalt dieses Begriffes der Frömmigkeit hinweisen (III), auf die das unmittelbare Selbstbewußtsein bestimmende ,,innere[] Polarität" 1 5 0 .
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der Frömmigkeitstheorie in den §§ 3-6 von CG 2 A. Einführung In den §§ 3-6 der Glaubenslehre muß der allgemeine Begriff der Kirche so begründet werden, daß deren ethische Legitimität nachgewiesen wird: die empirisch-geschichtliche Positivität dieser Gemeinschaftsform muß spekulativ abgehärtet werden, so daß ihr Bestehen als eine in der Konstitution des menschlichen Geistes vorgegebene Notwendigkeit begriffen wird. Die intendierte allgemeine Bestimmung der Kirche muß sich darum als Beschreibung des menschlichen Geistes vollziehen, genauer: als Aufweis desjenigen Konstitutionselementes menschlicher Subjektivität, das das Bestehen einer frommen Gemeinschaft überhaupt erst erforderlich macht. So bildet also die Frömmigkeit den eigentlichen inhaltlichen Gegenstand der §§ 3-6, während der aus ihr abzuleitende allgemeine Begriff der Kirche den formalen Anlaß und den Bezugsrahmen dieser Erörterung darstellt. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich der Inhalt des ethischen Lehnbereiches, über den eine kurze erste Ubersicht gegeben werden muß. Der § 3 bietet, in Anknüpfung an die Aufgabe der Bestimmung des Kirchenbegriffes, die Lokalisierung der Frömmigkeit in den seelischen Grundvermögen des Menschen: Die Frömmigkeit ist weder ein Wissen noch ein Handeln, sondern eine Bestimmtheit 148
In der Edition Martin Redekers (vgl. Literaturverzeichnis): C G 2 § 3 - 6 , Bd. I, 1 4 - 4 7 . U b e r die V o r z ü g e und Nachteile weiterer Editionen orientiert die „Einleitung des Bandherausgebers", H . Peiter, in K G A 1/7.1, L V I I I - L X .
149
Z u m E r m ö g l i c h u n g s g r u n d der engen Anlehnung des Interpretationsganges an den Argumentationsgang des Grundtextes vgl. oben S. 195ff
150
Offermann: Einleitung 3 2 8 , 2 8
232
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
des Gefühls bzw. des unmittelbaren Selbstbewußtseins. Im § 4 wird der substantielle Charakter der Frömmigkeit als Gefühl bestimmt: Frömmigkeit ist das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Der § 5 entfaltet den bewußtseinskonstituierenden Gehalt der Frömmigkeit als unmittelbares Selbstbewußtsein: Frömmigkeit ist die höchste Stufe des Selbstbewußtseins. Und im § 6 kann dann der Bezug zwischen der Frömmigkeit und der Kirche hergestellt werden: Die fromme Gemeinschaft ist die im Wesen der Frömmigkeit selbst geforderte Ausdrucksform des intersubjektiven Gehaltes der Frömmigkeit. Die Gedankenführung der vier Paragraphen setzt dabei ein mit dem allgemeinen Postulat der fundierenden Funktion, die die Frömmigkeit für die kirchliche Gemeinschaft hat 151 . Darauf bestimmt er den Begriff der Frömmigkeit zunächst im Blick auf deren äußeres Verhältnis zu anderen menschlich-geistigen Vollzügen 152 , anschließend im Blick auf deren interne Struktur 153 , um ihr schließlich ihren sachgemäßen O r t in einer Theorie des Bewußtseins zuweisen zu können 154 . Auf diese Weise bildet Schleiermacher einen solchen Begriff der Frömmigkeit, der im § 6 schließlich das allgemeine Postulat des § 3 argumentativ einholt und präzisierend zu bestätigen vermag. Diesen Gedankengang möchte ich im folgenden nachzeichnen, wobei diese Nachzeichnung sich als ein überwiegend textimmanentes, durch die gedankliche Abfolge der §§ 3-6 bzw. ihrer Unterabschnitte bestimmtes Referat vollziehen soll. Ich verzichte also vorläufig auf eine systematisch zusammenfassende Interpretation 155 , ebenso auf die Uberprüfung der ergänzenden, erläuternden und akzentuierenden Funktion, die die Bestimmungen der Dialektik für die Ausführungen der Glaubenslehre haben kann, um die Aussageintention und den gedanklichen Duktus der §§ 3-6 um so deutlicher herausstellen zu können. B. Der § 3: Die Frömmigkeit ist eine Bestimmtheit des Gefühls bzw. des unmittelbaren Selbstbewußtseins Der Leitsatz des § 3 - „Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder 151 152 153 154 155
C G 2 § 3 Ls., Bd. I, 14,27f; a.a.O. § 3.1, Bd. I, 15,1-3 C G 2 § 3.2 - 3.5, Bd. I, 16-23 C G 2 § 4, Bd. I, 23-30 C G 2 § 5, Bd. I, 30-41 S.u. S. 258ff
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der §§ 3-6 von CG 2
233
des unmittelbaren Selbstbewußtseins." 156 - wird von Schleiermacher in fünf Schritten expliziert. Der erste Abschnitt 157 stellt den thematischen Zusammenhang zwischen der Kirche und der Frömmigkeit heraus. Der zweite Abschnitt 158 nimmt die affirmative Zuordnung der Frömmigkeit zum Gefühl bzw. unmittelbaren Selbstbewußtsein auf. Die folgenden drei Abschnitte greifen dann auf das dreiteilige psychische Funktionsschema Wissen - Handeln - Fühlen zurück, indem zunächst im dritten Abschnitt 1 5 9 dieses Funktionsschema ins Verhältnis zum seelischen Grundgegensatz zwischen Rezeptivität und Spontaneität gesetzt wird, während im vierten 160 und fünften 1 6 1 Abschnitt das Gefühl als die die beiden anderen Funktionen umgreifende Grundfunktion herausgestellt wird. Der gesamte Paragraph hat dabei, wie zu zeigen sein wird, einen vornehmlich propädeutischen Sinn, indem er das Arrangement der im folgenden § 4 zu leistenden inhaltlichen Näherbestimmung der Frömmigkeit und der im § 5 zu leistenden bewußtseinstheoretischen Verankerung der Frömmigkeit bereitstellt. Der erste Abschnitt greift die postulatorische Behauptung des Fundiertseins der Kirche in der Frömmigkeit aus dem Leitsatz auf, um für sie universale Evidenz zu beanspruchen: Daß eine Kirche „nichts anderes ist als eine Gemeinschaft in Beziehung auf die Frömmigkeit", ist nicht nur „für uns evangelische Christen (...) außer allen Zweifeln gesetzt" 162 , sondern das „Erhalten, Ordnen und Fördern der Frömmigkeit" 163 ist als Zweck aller kirchlicher Gemeinschaften zu betrachten. Das Ziel dieses einleitenden Abschnittes besteht also noch nicht in einer Explikation, sondern zunächst nur in einer Themenangabe: Der vorgegebene Bezugsrahmen „Klärung des allgemeinen Begriffs der Kirche" verlangt die Durchführung dieser Klärung als Verständigung über das Wesen der Frömmigkeit mit dem Ziel der Bestätigung des aufgestellten Postulates. Wird die Frömmigkeit auf diese Weise zum Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses, so ist - im Blick auf die Aussageintention der folgenden Abschnitte - vorsorglich an eine kategoriale epistemische Differenz zu erinnern: Die Frömmigkeit 156 157 158 159 160 161 162 163
CG 2 CG 2 CG 2 CG 2 CG 2 CG 2 CG 2 CG 2
§ § § § § § § §
3 Ls., Bd. 3.1, Bd. I, 3.2, Bd. I, 3.3, Bd. I, 3.4, Bd. I, 3.5, Bd. I, 3.1, Bd. I, 3.1, Bd. I,
I, 14,27-30 15,1-16,8 16,9-17,19 17,20-19,4 19,5-21,32 22,1-23,23 15,1-3 16,7f
234
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
kann zum thematischen Gegenstand des Wissens werden, ohne daß jedoch deshalb auch ihr Wesen selbst im Wissen bestehen müßte. 164 Setzte der erste Abschnitt also bei der ersten Aussage des Leitsatzes ein, so knüpft der zweite Abschnitt an dessen Schlußfeststellung an, in der die Frömmigkeit als „eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins" 165 aufgefaßt wird. 166 Die Erläuterung stellt dabei den explikativen Gehalt der Verbindung der näherbestimmenden Ausdrücke „Gefühl" und „unmittelbares Selbstbewußtsein" durch die Konjunktion „oder" heraus: Beide Ausdrücke legen einander in wechselseitig ergänzender Weise aus. 167 Der Zweck dieser Zusammenordnung besteht darin, daß so zugleich der umfassende, alle Lebensmomente bestimmende Charakter der Frömmigkeit ausgedrückt und der bewußtseinstheoretische Ort der Frömmigkeit umrissen ist. Obwohl Schleiermacher aus diesem Grund im zweiten Abschnitt zunächst auf eine Hervorhebung der je einzelnen explikativen Leistung des Gefühlsbegriffs und des Selbstbewußtseinsbegriffs verzichtet und sie ausschließlich in ihrer wechselseitigen Bezogenheit entfaltet, wird der Sinn dieser Wechselbeziehung deutlicher, wenn man zunächst die Akzentuierungen der je einzelnen Erklärungswerte zu rekonstruieren versucht, um sie erst dann aufeinander zu beziehen. Zunächst verbinden sich mit der Erläuterung der Frömmigkeit durch den „in der Sprache des gemeinen Lebens längst auf unserm Gebiet gebräuchlich[en]" 168 Gefühlsbegriff offensichtlich drei Pointen: Das Gefühl vermag zeitlich fixierbare Augenblicke des seeli164 165 166
167 168
C G 2 § 3.1, Bd. I, 1 5 , 1 2 - 1 4 C G 2 § 3 Ls., Bd. I, 14,29f D e r A u s d r u c k „Bestimmtheit" drückt dabei zunächst und allgemein aus, daß zwischen „Frömmigkeit" und „Gefühl" bzw. „unmittelbarem Selbstbewußtsein" nicht etwa ein Identitätsverhältnis, sondern ein Teilmengenverhältnis besteht - vgl. auch die Formulierung D. Offermanns: „Gefühl ist nicht als solches schon f r o m m , und nicht jede Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins ist Frömmigkeit." (Offermann: Einleitung 47,14f). Darüber hinaus lassen die weiteren A u s f ü h r u n gen Schleiermachers erkennen, daß das „Gefühl" bzw. das „unmittelbare Selbstbewußtsein" offensichtlich als weiter, formaler Rahmen f ü r den konkreten inhaltlichen Gegenstand „Frömmigkeit" gedacht ist. Dies wird aus der Konkretisierung des f r o m m e n Gefühls im § 4 deutlich, aber auch aus denjenigen Formulierungen, die das Gefühl als „Siz" ( C G 1 § 8 A n m . = K G A 1/7.2, 26,12; s.a. das Blatt aus den Vorarbeiten zur Glaubenslehre „Es giebt nur Gefühl, Wissen und Thun . . . " in K G A 1/7.3, 657,3.12) oder „Ort" ( C G 2 § 3.3, Bd. I, 18,2) der Frömmigkeit beschreiben. So daß man demnach den Ausdruck „eine Bestimmtheit" synonym setzen könnte mit dem Term „eine von mehreren möglichen inhaltsvollen Realisierungsgestalten". Vgl. C G 2 § 3.2, Bd. I, 16,15 und a.a.O. 16,29f C G 2 § 3.2, Bd. I, 16,12f
II. D i e inhaltlichen B e s t i m m u n g e n der §§ 3-6 von C G 2
235
sehen Lebens so zu erfüllen, daß andere seelische Funktionen in den Hintergrund treten 1 6 9 ; in dieser Dominanzstruktur des Gefühls verschafft sich aber nicht etwa ein seelisches Akzidens ungebührliches Ubergewicht, sondern der wesenhaften Einheit des ganzen Menschen mit allen seinen Funktionen wird ein in organischer Weise präsenter Ausdruck verliehen. 170 Doch der hauptsächliche Zweck des Rückganges auf den Gefühlsbegriff scheint in der Betonung der intentionalen Selbstbezüglichkeit der Frömmigkeit zu bestehen: das Gefühl hat keinen außerhalb des Subjektes objektivierbaren Gegenstand, der in seiner dinglichen, vom Subjekt unterschiedenen Qualität den G e genständen des Wissens oder Wollens vergleichbar wäre. 1 7 1 Dagegen verbinden sich mit der Erläuterung des Begriffs der Frömmigkeit durch den des unmittelbaren Selbstbewußtseins genau gegenläufige Tendenzen: Das Selbstbewußtsein hat keinen dominierenden, sondern begleitenden Charakter 1 7 2 ; das heißt, es manifestiert sich nicht punktuell, sondern in zeitlicher Kontinuität 1 7 3 und es faßt die anderen seelischen Funktionen nicht zusammen, sondern gesellt sich ihnen bei 1 7 4 . Schließlich aber handelt es sich - darin liegt der hauptsächliche Erklärungswert dieses Rückganges auf den Begriff des Selbstbewußtseins - bei der Frömmigkeit keinesfalls um einen bewußtlosen Zustand 1 7 5 , sondern sie ist in konstitutiver Weise auf die beiden anderen, durch die Weise ihrer Gegenstandsbezüglichkeit definierten Funktionen des Bewußtseins, nämlich das Denken und das Wollen, bezogen. . Ein adäquates Verständnis der Frömmigkeit ergibt sich nun aber erst dann, wenn die beiden explikativen Werte so aufeinander bezogen werden, daß ihre gegenläufigen Tendenzen als wechselseitige Präzisionen aufgefaßt werden können. 1 7 6 Zu diesem Zweck 169
Vgl. C G 2 § 3.2, B d . I, 16,28-34; vgl. auch C G 1 § 8 A n m . = K G A 1/7.2, 26,3f
170
Vgl. Schleiermachers Verweis auf Steffens' E r k l ä r u n g des G e f ü h l s und das Teilzitat „ D i e unmittelbare G e g e n w a r t des ganzen ungeteilten D a s e i n s etc." in C G 2 § 3.2 A n m . , Bd. I, 17,13f; anmerkungsweise ist in der Edition Redekers a.a.O. 17,26-33 auch der vollständige Wortlaut der Erklärung S t e f f e n s ' mitgeteilt, ebenso in a u s f ü h r licher F o r m in K G A 1/7.3, 632. Vgl. C G 2 § 3.2, B d . I, 16,21-23; C G 2 § 3.2 A n m . , Bd. I, 17,18f. Vgl. hierzu a u c h C r a m e r , Prämissen 130,12-131,16. C G 2 § 3.2, B d . I, 16,28 C G 2 § 3.2, B d . I, 16,25f
171
172 173 174 175 176
C G 2 § 3.2, B d . I, 16,34-17,3 C G 2 § 3.2, Bd. I, 16,17 In diesem wechselseitigen Auslegungsverhältnis muß ein Fortschritt v o n C G 2 im Vergleich zu C G 1 gesehen werden: Bestand dort noch ein einseitiges A u s l e g u n g s -
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Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
ist zunächst eine terminologisch abgrenzende Klarstellung erforderlich: Der Gehalt des Ausdrucks „Gefühl" wird dahingehend festgelegt, daß aus ihm bewußtlose Zustände ausgeschlossen sind 177 ; dem Ausdruck „Selbstbewußtsein" wird das Attribut „unmittelbar" hinzugefügt, so daß aus ihm jedes gegenständlich selbstwahrnehmende Bewußtsein ausgeschlossen ist 1 7 8 . Dabei ist also die behauptete Unmittelbarkeit dieser Form des Sich-seiner-selbst-gewahr-werden des Subjektes zunächst rein negativ, als Abgrenzung von vermittelten Formen des Selbstbewußtseins, bestimmt. U m den affirmativen Gehalt dieser Bestimmung zu rekonstruieren, muß man zunächst nach dem übereinstimmenden Wesen der (abgewiesenen) vermittelten Formen des Bewußtseins fragen. Als solche vermittelten Formen des Bewußtseins führt Schleiermacher die wissende bzw. denkende Bewußtseinsfunktion einerseits und die wollende bzw. handelnde Bewußtseinsfunktion andererseits an. 1 7 9 Diese Bewußtseinsfunktionen stimmen darin überein, daß in ihnen zu jeder Zeit die Relationalität von Subjekt und Objekt vorausgesetzt wird: Subjekt und Objekt sind zugleich unterschieden und untrennbar. Dagegen ist die Unmittelbarkeit des unmittelbaren Selbstbewußtseins eben gerade dadurch gekennzeichnet, daß seine Form der Selbstgewahrwerdung unabhängig
177 178
179
Verhältnis, insofern der Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins zur Präzisierung des Gefühlsbegriffs herangezogen wurde (CG 1 § 8 Ls. und Anm. = KGA 1/7.2, 26,2-9), so werden hier beide Begriffe in gleichwertiger Weise bemüht. C G 2 § 3.2, Bd. I, 16,15-18 C G 2 § 3.2, Bd. I, 16,18-23. Diese Einteilung ist insbesondere im Blick auf die §§ 4 und 5 wichtig und daher noch einmal explizit festzuhalten. Schleiermacher unterscheidet hier grob zwei Typen des Selbstbewußtseins: Erstens den Typus der empirisch vermittelten, gegenständlichen und objektiven Selbstwahrnehmung und zweitens einen Typus des nichtanschaulichen, sozusagen immateriell evidenten Sichselbsthabens, das hier „unmittelbares Selbstbewußtsein" genannt wird. Meinem Verständnis zufolge ist in den gesamten folgenden Ausführungen an keiner Stelle mehr die Rede von jenem ersten, hier ein für alle Mal ausgeschlossenen ersten Typus, dagegen beziehen sich alle Folgeaussagen durchgängig auf den zweiten Typus des Selbstbewußtseins, das unmittelbare Selbstbewußtsein - und zwar auch dort, wo Schleiermacher in abkürzender Weise nur noch vom „Selbstbewußtsein" spricht. Diese Interpretation wird vor allem durch die Aussagen des § 4.1 nahegelegt, dessen Bestimmungen sich ganz offensichtlich auch dort auf das unmittelbare Selbstbewußtsein beziehen, wo nur noch vom „Selbstbewußtsein" die Rede ist. Eine solche Interpretation wird aber auch durch den § 5.2 bestätigt. Versteht man umgekehrt das strikt gegenständliche Selbstbewußtsein des ersten Typus hier nicht ein für alle Mal ausgeschlossen, wird man spätestens im § 4.1 in Verlegenheit geraten und komplizierte Bemühungen zur Aufklärung vermeintlicher syntaktischer Undeutlichkeiten unternehmen müssen. (So Offermann: Einleitung 51,31-52,16; 54,7-27; 55,14-56,3) Z.B. C G 2 § 3.2, Bd. I, 16,26. Ebenso Marg 80 = K G A 1/7.3, 24
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der §§ 3-6 von CG 2
237
von dieser Relationalität besteht. Die affirmative Bestimmung dieses Verhältnisses zwischen dem unmittelbaren Selbstbewußtsein und den vermittelten Formen des Selbstbewußtseins, auf die hier vorgreifend aufmerksam zu machen ist, liefert Schleiermacher nun erst im § 5.2.: Die Pointe der „unmittelbar" genannten Form des Selbstbewußtseins besteht darin, daß die in ihm aufgehobene Relationalität einerseits allen Akten des vermittelten Selbstbewußtseins zugrundeliegt, andererseits aber diese Relationalität niemals selbst zum Gegenstand relational bestimmter Bewußtseinsakte werden kann. Die relational bestimmten Formen des Bewußtseins sind dem Subjekt erst dadurch gewährleistet, daß es dieser Relationalität in einer nicht relational verfaßten F o r m des Bewußtseins gewahr wird. Die Unmittelbarkeit bzw. nichtrelationale Verfaßtheit der höchsten Form des Selbstbewußtseins garantiert die Zuverlässigkeit der Mittelbarkeit bzw. relationalen Verfaßtheit der wissenden und wollenden Bewußtseinsfunktionen. 180 Zurück zum § 3.2. Sind in der o.g. Präzisierung zwar nicht der allgemeine Begriff des Selbstbewußtseins und der allgemeine Begriff des Gefühls, sondern - wie wir verstehen müssen - der präzisierte enge Gefühlsbegriff und der präzisierte Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins als gleichgeltend nebeneinandergestellt 181 , so besteht der Gewinn dieser Operation darin, daß beiden Ausdrücken nun eine genauer deutende Qualität zukommt: Sie erlauben es nämlich, eine dop180
Die übliche Form der Kritik gegen diesen Gedanken der Unmittelbarkeit besteht in dem Vorwurf, daß die behauptete Unmittelbarkeit nur in einer reflektierten, also: selbst vermittelten Weise gedacht werden könne (Pannenberg: Anthropologie 246 Anm. 33; Wagner: Theologie im Banne 931 f; Wagner: Dialektik 180-186; Lehnerer: Kunsttheorie 69-75). Der Anspruch der Schleiermacherschen Konzeption der Unmittelbarkeit besteht aber nicht in der Forderung, die theoretische Reflexion über die Ermöglichungsbedingungen theoretischer Reflexion und diese Ermöglichungsbedingungen selbst unterschiedslos in eins fallen zu lassen. Sondern der Anspruch dieser Konzeption der Unmittelbarkeit besteht vielmehr darin, die Faktizität der Struktur des vermittelten Selbstbewußtseins als eine außerhalb dieses vermittelten Selbstbewußtseins liegende, für es unverfügbare, gleichwohl in allen Vollzügen des Selbstbewußtseins unweigerlich in Anspruch genommene Faktizität zu erkennen (vgl. Cramer: Prämissen 156-160). Denn im Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins beschreibt Schleiermacher eine solche Form der Selbstbeziehung, in der das Subjekt seiner eigenen vernünftigen Verfaßtheit in einer zwar realen (durch Unterscheidbarkeit und Beziehbarkeit geprägten), aber gleichwohl nichtgegenständlichen, also nicht unabhängig von der Vorstellung selbst existierenden Form gewärtig wird (vgl. U. Barth: Hirsch/Schleiermacher 126-129). Besteht die Pointe der von Schleiermacher im Unmittelbarkeitsbegriff vorausgesetzten Struktur der Selbstbeziehung des Subjekts also darin, die Unhintergehbarkeit der Faktizität der Vernunft zu konstatieren und zu begründen, so müßte die Aufgabe einer Kritik darin bestehen, diese Faktizität in einer nicht selbstwidersprüchlichen Form anzuzweifeln.
181
CG 2 § 3.2, Bd. I, 16,9-12
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Drittes Kapitel: D i e Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
pelte Erfahrung sachgemäß zu interpretieren, insofern sie lehren, daß diejenigen Augenblicke, in denen alles Denken und Wollen hinter eine undeutliche Selbstbezüglichkeit des Subjektes zurücktritt und diejenigen Phasen, in denen eine undeutliche Selbstbezüglichkeit des Subjektes neben Denken und Wollen unverändert fortdauert 1 8 2 , ihrerseits keinesfalls in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen, sondern als Ausdruck eines zweiaspektigen, aber in sich einheitlichen, gleichursprünglichen Sachverhaltes gesehen werden müssen. Mit dem Ubergang zum dritten Abschnitt des § 3 nimmt Schleiermacher die im Leitsatz enthaltene Verhältnisbestimmung des unmittelbaren Selbstbewußtseins bzw. Gefühls zu Wissen und Tun auf. Das argumentative Ziel dieser Bezugnahme besteht dabei jedoch nicht primär in dem Erweis der Vollständigkeit des dreiteiligen psychischen Funktionsschemas Wissen - Handeln - Fühlen, sondern vor allem in der Einführung des die seelischen Funktionen strukturierenden Grundgegensatzes zwischen Rezeptivität und Spontaneität, dem Erweis der Vollständigkeit dieses Grundgegensatzes und dem Aufweis des einheitsstiftenden Ortes dieses Grundgegensatzes. 1 8 3 Die Zurechnung der Frömmigkeit zum Gefühl bzw. unmittelbaren Selbstbewußtsein wird von diesem Argumentationsgang nicht mehr in Frage gestellt: Sie bildet den assoziativen Anlaß, aber nicht die zu erklärende Hypothese des Abschnittes. 1 8 4 Der Grundgegensatz selbst ist der Grundgegensatz allen seelischen Lebens: Er bezeichnet die beiden Grundrichtungen des seelischen Lebens und besteht in der Entgegensetzung von „Insichbleiben" und „Aussichheraustreten" des Subjekts, von Rezeptivität und Spontaneität, Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit. 185 Durch diesen Grund182
C G 2 § 3.2, Bd. I, 16,31-17,3
183
D i e s e s Ziel hält auch D . O f f e r m a n n ( O f f e r m a n n : Einleitung 44f) als den faktischen Sinn des Abschnittes fest, ohne darin allerdings auch die intentionale Absicht des G e d a n k e n g a n g e s zu erkennen, weswegen Irritationen über die E i n f ü h r u n g des G e dankenganges unaufgelöst bleiben müssen. D e n n es ist festzuhalten, daß der Erweis der Vollständigkeit der Trias Wissen - H a n d e l n - Fühlen einen Fortschritt gegenüber der A r g u m e n t a t i o n der Erstauflage bedeutet: K o n n t e dort der N a c h w e i s der faktischen Vollständigkeit des F u n k t i o n s s c h e m a s u n d dessen faktischer Bezogenheit auf den G r u n d g e g e n s a t z zwischen Aktivität und Passivität für ausreichend gelten ( C G 1 § 8.1 = K G A 1/7.1, 26,21-30), so wird in C G 2 die Vollständigkeit jener Trias wegen deren B e z o g e n h e i t auf den G r u n d g e g e n s a t z als notwendiges Implikat der Struktur v o n Subjektivität erwiesen, indem als einheitlicher O r t beider Vollständigkeiten nur das Subjekt in F r a g e k o m m t ( C G 2 § 3.3, Bd. I, 18,26-32). Vgl. d a z u oben S. 229f, außerdem J u n k e r : U r b i l d 47-49 und Ebeling: Wirklichkeitsverständnis 164-168.
184
C G 2 § 3.3, B d . I, 18,11-13 C G 2 § 3.3, Bd. I, 18,13-15
185
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der §§ 3-6 von CG 2
239
gegensatz lassen sich die drei F o r m e n des seelischen Lebens - Wissen, H a n d e l n u n d F ü h l e n - n u n je nach dem U b e r w i e g e n ihres selbsttätigen o d e r ihres empfänglichen Gehaltes unterscheiden. Dabei steht gleichbleibend das H a n d e l n auf der Seite der Selbsttätigkeit, das F ü h l e n auf der Seite d e r Empfänglichkeit. D a s W i s s e n hingegen kann, s o f e r n es als E r k e n n e n a u f g e f a ß t w e r d e n m u ß , auf die Seite der Selbsttätigkeit t r e ten; s o f e r n es als E r k a n n t h a b e n aufgefaßt w i r d , tritt es auf die Seite d e r Empfänglichkeit. Es sind also stets beide P o l e des Gegensatzes besetzt: E n t w e d e r stehen ü b e r w i e g e n d aktives W i s s e n u n d Tun dem ü b e r w i e gend passiven Fühlen gegenüber o d e r es stehen ü b e r w i e g e n d passives W i s s e n u n d F ü h l e n d e m ü b e r w i e g e n d aktiven Tun gegenüber. 1 8 6 In jedem Falle ist also erstens die Subsumierbarkeit der drei seelischen F u n k t i o n e n u n t e r die beiden G r u n d r i c h t u n g e n des seelischen Lebens d e u t l i c h . 1 8 7 Z w e i t e n s erweist sich, daß s o w o h l die drei seelischen G r u n d f u n k t i o n e n als auch die beiden Z u s t a n d s f o r m e n des seelischen Lebens ü b e r einen identischen Einheitspunkt v e r f ü g e n , der keinesfalls als vierte F u n k t i o n b z w . dritte F o r m neben die anderen zu stellen ist, „ s o n d e r n diese Einheit ist das W e s e n des Subjektes selbst" 1 8 8 .
186
187 188
CG 2 § 3.3, Bd. I, 18,15-26. - Eine andere Zusammenordnung nimmt G. Ebeling (Ebeling: Wirklichkeitsverständnis 167-172; vgl. auch Ebeling: Abhängigkeitsgefühl 98 Anm. 29) vor: Er unterscheidet zwischen den „Formen der Lebensbewegungen", „Insichbleiben" und „Aussichheraustreten"; den „Formen der Lebensgenera", „Empfänglichkeit" und „Selbsttätigkeit"; und den „Formen der Lebensmodi", „Wissen", „Tun" und „Gefühl". Nach meinem Eindruck wird jedoch in dieser Unterscheidung die Differenz zwischen „Insichbleiben" und „Empfänglichkeit" bzw. zwischen „Aussichheraustreten" und „Selbsttätigkeit" stärker als bei Schleiermacher, die Differenz zwischen „Empfänglichkeit" und „Selbsttätigkeit" bzw. „Insichbleiben" und „Aussichheraustreten" einerseits und „Wissen", „Tun" und „Gefühl" andererseits schwächer als bei Schleiermacher betont. Denn erstens bezeichnen „Insichbleiben" und „Aussichheraustreten" sowie „Selbsttätigkeit" und „Empfänglichkeit" formale Zustände des Bewußtseins, während „Wissen", „Tun" und „Gefühl" dagegen inhaltlich bestimmte Funktionen des Bewußtseins bezeichnen. Zweitens wiegt die Gemeinsamkeit der beiden Gegensatzpaare „Insichbleiben" vs. „Aussichherausgehen" und „Empfänglichkeit" vs. „Selbsttätigkeit" - nämlich der gemeinsame Teilungsgrund „Externität", wie auch Ebeling selbst feststellt (a.a.O. 168,21-25) stärker als die von Schleiermacher nirgends ausdrücklich bemühte Unterschiedenheit der Gegensatzpaare. Eine solche Entgegengesetztheit der Gegensätze selbst ließe sich dagegen eher konstatieren im Verhältnis von dem (alles Bewußtsein gliedernden) Gegensatz zwischen „Selbsttätigkeit" und „Empfänglichkeit" einerseits zu dem diesem Gegensatz subordinierten, ausschließlich auf das zeitliche Selbstbewußtsein sich richtenden Gegensatz zwischen „Sichselbstsetzen" und „Sichselbstnichtsogesetzthaben" andererseits (CG 2 § 4.1, Bd. I, 24,10-25,7; bes. 24,21-26). CG 2 § 3.3, Bd. I, 18,26-31 CG 2 § 3.3, Bd. I, 18,32
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Drittes Kapitel:
D i e Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
U n d drittens zeigt sich aus dem Vorangegangenen bereits die Relativität des Gegensatzes bzw. des Tripels. 189 Obwohl das im Leitsatz sich ausdrückende eigentliche argumentative Ziel des Paragraphen - nämlich: das Gefühl bzw. das unmittelbare Selbstbewußtsein als Sitz der Frömmigkeit zu erweisen - und sein methodisches Subziel - nämlich: die für den zentralen vierten Paragraphen elementaren Distinktionen und Gegensatzformeln einzuführen - mit dem zweiten oder spätestens dem dritten Abschnitt im wesentlichen als erreicht gelten dürfen, widmet Schleiermacher sich im vierten und fünften Abschnitt des § 3 noch einmal eingehend der Verhältnisbestimmung der Frömmigkeit zu Wissen und Tun. 1 9 0 Lag in den vorangehenden Abschnitten der Akzent auf der Selbständigkeit der Frömmigkeit, so geht es in Abschnitten 3.4. und 3.5. um die Beschreibung des Gesamtverhältnisses zwischen Frömmigkeit, Wissen und Tun. Schleiermachers Vorstellung dieses Verhältnisses wird dabei durch die Zusammenschau der die beiden Abschnitte jeweils einleitenden Passagen am deutlichsten ausgedrückt: Das unmittelbare Selbstbewußtsein als kontinuierlich wirksames Moment des seelischen Lebens vermittelt innerhalb der durch das Subjekt selbst gebildeten Einheit des seelischen Lebens die Ubergänge zwischen den nur relativ gegensätzlichen Funktionen Wissen, Tun und Gefühl 1 9 1 , ohne dabei aber dem Wissen und Tun subordiniert bzw. aus ihnen ableitbar zu • 192 sein . Die Verhältnisbeschreibung selbst vollzieht sich dann in zwei Schritten, die im Gesamtduktus des auf den § 4 hinführenden § 3 also eher anmerkungsweise abhärtenden Charakter tragen: Der Abschnitt 3.4. führt einen im wesentlichen apagogischen Beweis, der Abschnitt 3.5. schließt eine affirmative Beschreibung des Verhältnisses an. Dabei wird zunächst festgehalten, warum die Frömmigkeit nicht im Wissen aufgehen kann: Weder ist aus dem Grad des Wissens ein Maßstab für 189 190
191 192
C G 2 § 3.3, B d . I, 18,35-19,2 D i e vergleichsweise hohe A u f m e r k s a m k e i t , die Schleiermacher diesem thematischen K o m p l e x entgegenbringt, erklärt sich am ehesten mit d e m in der zeitgenössischen theologischen D i s k u s s i o n s l a g e naheliegenden Erfordernis, die F r ö m m i g k e i t von allen moralistischen und intellektualistischen Einschlägen freizuhalten. Einen exemplarischen E i n d r u c k von T h e m e n , Positionen und Argumentationsfiguren und auch von der klimatischen Einheitlichkeit dieser D e b a t t e vermitteln Braniß: Schleiermachers G l a u b e n s l e h r e und Mulert: A u f n a h m e I, bes. 110-114 und 133-139, und ders.: A u f n a h m e II. C G 2 § 3.4, B d . I, 19,9-22 C G 2 § 3.5, B d . I, 22,1-7
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der §§ 3-6 von C G 2
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den Grad der Frömmigkeit zu deduzieren,193 noch läßt sich aus dem Wissen die der Frömmigkeit eigene Gewißheit herstellen 194 . Bezogen auf das Handeln ist dagegen zu sagen: Weder aus dem Handlungsimpuls, noch aus dem Handlungserfolg als den einzigen Kriterien zur Beurteilung einer Handlung lassen sich Kriterien für den frommen Gehalt einer Handlung gewinnen. 195 Ist also die Frömmigkeit weder aus dem Wissen noch aus dem Tun vollständig ableitbar, so gilt umgekehrt: Alles vollendete Wissen enthält in sich gefühlte Gewißheit und Handlungsimpulse196; alles Tun enthält in sich einen gewußten Zweckbegriff der Handlung und die gefühlte Zufriedenheit über die Entsprechung zwischen Absicht und Erfolg der Handlung 197 . Das Gefühl als unmittelbares Selbstbewußtsein erweist sich so also nicht als eine Funktion neben Wissen und Tun, sondern als die die wissende und handelnde Funktion gleichermaßen umgreifende Grundfunktion. 198 Damit möchte ich abschließend auf die eingangs geäußerte These vom vornehmlich propädeutischen Charakter des § 3 zurückkommen: Uber die Lokalisierung der Frömmigkeit in dem als unmittelbares Selbstbewußtsein charakterisierten Gefühl und die darin enthaltene Abgrenzung von Wissen und Tun hinaus besteht die Pointe des § 3 darin, daß Schleiermacher hier diejenigen Distinktionen und Grundgegensätze einführt, auf die er in den beiden folgenden Paragraphen zurückgreifen wird, in denen die bewußtseinstheoretische Verankerung der Frömmigkeit ansteht. So kann der in § 3.2. als Grundgegensatz eingetragene Gegensatz zwischen Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit vom § 4.1. an regelmäßig beansprucht werden. Die ebenfalls im § 3.2. getroffene Unterscheidung zwischen dem nichtgegenständlichen Gefühl und dem gegenständlichen Bewußtsein wird im § 4.3. wieder aufgenommen, der sich aus dieser Unterscheidung entwickelnde Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins ist ab dem § 4.1. für die gesamte folgende Entfaltung tragend. Daß das Gefühl und das unmittelbare Selbstbewußtsein als seelische Grundfunktionen anzusehen sind, wie Schleiermacher in den Abschnitten § 3.4. und 193 194 195
196 197 198
C G 2 § 3.4, Bd. I, 20,1-14 C G 2 § 3.4, Bd. I, 20,14-34 C G 2 § 3.4, Bd. I, 21,8-21. Vgl. auch die empirische Abhärtung: „ ... denn die Erfahrung lehrt, daß neben dem Vortrefflichsten auch das Scheußlichste, neben dem Gehaltreichsten auch das Leerste und Bedeutungsloseste als fromm und aus Frömmigkeit getan wird." ( C G 2 § 3.4, Bd. I, 21,5-8) C G 2 § 3.5, Bd. I, 22,13-21 C G 2 § 3.5, Bd. I, 22,8-13 C G 2 § 3.5, Bd. I, 23,6-23; vgl. Offermann: Einleitung 46,26-29
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Drittes Kapitel:
D i e Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
3.5. entwickelt, kann in den Abschnitten § 5.2. und 5.3. wieder aufgenommen werden. Die spezifisch übergangsvermittelnde Aufgabe dieser Grundfunktionen (vgl. § 3.4.) beschreibt Schleiermacher im § 5.3. näher. Auf die Relativität des Gegensatzes zwischen Rezeptivität und Spontaneität im § 3.3. wird Schleiermacher in der Beschreibung des Verhältnisses zwischen begrenztem Abhängigkeits- und begrenztem Freiheitsgefühl im § 4.2. rekurrieren können. U n d die Notwendigkeit des wechselseitigen Bezogenseins von höherem und sinnlichem Selbstbewußtsein, die im § 5.3. genauer bestimmt wird, erschließt sich auf der Folie der jedermann zugemuteten, im § 3.2. beschriebenen doppelten Erfahrung des Selbstbewußtseins. 1 9 9 C. D e r § 4: Der Inhalt des frommen Gefühls ist das Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit Hat Schleiermacher also im § 3 der Frömmigkeit zunächst ihren O r t im Rahmen der seelischen Funktionen des Menschen zugewiesen, indem er sie zunächst formal als eine eigentümliche „Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins" charakterisierte, so ist nun im § 4 die Frömmigkeit in inhaltlicher Weise zu bestimmen. Es muß der das Wesen der Religion fundierende, allen ihren einzelnen Erscheinungsformen in identischer Weise zugrundeliegende Kern begrifflich erfaßt werden. Zur Aufstellung einer solchen Formel weist Schleiermacher in einem ersten Abschnitt 2 0 0 nach, daß auch das unmittelbare Selbstbewußtsein sich in allgemeinster Weise durch den Grundgegensatz zwischen Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit strukturieren läßt. In einem zweiten Abschnitt 2 0 1 entwickelt er aus diesem Grundgegensatz den Gegensatz zwischen relativem Freiheitsgefühl und relativem Abhängigkeitsgefühl, in einem dritten Abschnitt 2 0 2 wird dann das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl als im Gegensatz zwischen begrenztem Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl notwendig Mitgesetztes 199
Schon auf dem Hintergrund dieser Beobachtungen ist also der Einschätzung D. O f fermanns zu widersprechen, daß sich im § 4 eine „völlig neue Ausgangsposition" (Offermann: Einleitung 47,26f) feststellen lasse, die den Eindruck einer „Unstetigkeit" (a.a.O. 47,31), ja: eines „Sprungfes]" (a.a.O. 47,32) im Ubergang vom § 3 z u m § 4 nahelege. Aber auch inhaltliche Gründe sprechen gegen die Annahme eines solchen Hiatus: Denn im § 4 wird, wie unten zu zeigen sein wird, die inhaltliche Füllung des im § 3 formal bestimmten unmittelbaren Selbstbewußtseins bzw. Gefühls vorgenommen.
200
C G 2 § 4.1, Bd. I, 24f
201
C G 2 § 4.2, Bd. I, 2 5 - 2 7
202
C G 2 § 4.3, Bd. I, 27f
II. D i e inhaltlichen B e s t i m m u n g e n der §§ 3-6 von C G 2
243
erwiesen. Ein vierter Abschnitt 2 0 3 stellt den Bezug zwischen diesem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl und dem begrifflichen Gottesgedanken her. Als vorweggenommenes Resultat des Paragraphen kann dann im vorangestellten Leitsatz erklärt werden: „Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind." 2 0 4 Der zu dieser Erklärung führende Gedankengang muß jetzt rekonstruiert werden. Als selbstverständlich vorausgesetzt ist im folgenden zumindest zweierlei: Erstens, daß das Selbstbewußtsein sich seiner eigenen Bewußtseinszustände auch als seiner eigenen inne werden kann und zweitens, daß es dabei sich selbst als den identischen Bezugspunkt dieser wechselnden Bewußtseinszustände auffaßt. 205 Unter diesen Voraussetzungen kann Schleiermacher den ersten Abschnitt des Paragraphen mit der Anknüpfung an die jedes ,,wirkliche[] Bewußtsein" 2 0 6 also zunächst alle Formen des Bewußtseins in ihrem dynamischen Progreß 207 - überhaupt erst konstituierende Relationalität 208 des Selbstbewußtseins einleiten: „In keinem wirklichen Bewußtsein, gleichviel ob es nur ein Denken oder Tun begleitet, oder ob es einen M o ment für sich erfüllt, sind wir uns unsres Selbst an und für sich, wie es immer dasselbe ist, allein bewußt, sondern immer zugleich einer 203 204
205 206 207 208
C G 2 § 4.4, B d . I, 28-30 C G 2 § 4 Ls., B d . I, 23,24-29. - Z u r Begriffsgeschichte des A u s d r u c k s „schlechthinnig" in b e z u g auf C G 2 ist dabei festzuhalten: D a s A d v e r b „schlechthin", in der romantischen B i l d u n g s s p r a c h e mit der B e d e u t u n g „einfach" oder „ o h n e U m s t ä n d e " unterlegt, ist der philosophischen Schulsprache spätestens seit K a n t im Sinne von „ a b s o l u t " , „ b e d i n g u n g s l o s " oder „ e i n s c h r ä n k u n g s l o s " vertraut (vgl. d a z u im „ D e u t schen W ö r t e r b u c h " von J. und W. G r i m m Bd. X V , Sp. 542). In diesem Sinne verwendet Schleiermacher den Begriff auch z.B. in C G 1 § 9 Ls. = K G A 1/7.2, 31,3. A u f diese Passage b e z u g n e h m e n d bildet Ferdinand D e l b r ü c k in seiner B e s p r e c h u n g der Glaubenslehre erster A u f l a g e das Adjektiv „schlechthinnig" ( K G A 1/10, 511,6 u.ö.), worauf Schleiermacher in C G 2 anmerkungsweise z u s t i m m e n d verweist, u m sich in der Zweitauflage des Adjektivs fortan auch selbst zu bedienen ( C G 2 § 4 A n m . , B d . I, 23,30-34. Vgl. z u m intendierten Bedeutungsgehalt auch a.a.O. 23,35 die v o n T h ö n e s mitgeteilte handschriftlich angemerkte Definition Schleiermachers: „Schlechthinnig gleich absolut."). Vgl. C r a m e r : Prämissen 139 C G 2 § 4.1, B d . I, 24,1 Vgl. O f f e r m a n n : Einleitung 52f Diesen A s p e k t der Relationalität des unmittelbaren Selbstbewußtseins hebt auch Ebeling: Wirklichkeitsverständnis 176f hervor.
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Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
wechselnden Bestimmtheit desselben." 2 0 9 Dieser relationale Charakter gilt auch für das unmittelbare Selbstbewußtsein, das im folgenden allein zur Betrachtung ansteht. 210 In ihm besteht der relationale Charakter aber nicht in einer gegenständlich bestimmten Weise, sondern im Verhältnis zwischen dem Identitätsbewußtsein einerseits und den wechselnden Bewußtseinszuständen andererseits. Das heißt: Die Relationalität des Selbstbewußtseins, von der im folgenden die Rede sein wird, resultiert nicht aus einer Beziehung zwischen den gegenständlichen Impulsen der wechselnden Bewußtseinszustände und diesen Bewußtseinszuständen selbst und auch nicht aus Beziehungen zwischen den wechselnden Bewußtseinszuständen, sondern ausschließlich aus der Bipolarität zwischen Identitätsbewußtsein einerseits und wechselnden Bewußtseinszuständen andererseits. Als Teilungsgrund dieser Bewußtseinsformen fungiert dabei die auch das Selbstbewußtsein bestimmende kategoriale Differenz zwischen Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit: Die wechselnden Bewußtseinszustände verdanken ihr „Irgendwiegewordensein" 2 1 1 primär äußerlich-gegenständlichen Impulsen (von deren Betrachtung im Zusammenhang der Beschreibung des unmittelbaren Selbstbewußtseins indes ja völlig abgesehen werden soll); das Identitätsbewußtsein dagegen beruht auf einem primär sichselbstsetzenden Akt des Subjektes. Dieser zuletzt genannte Bewußtseinsakt drückt „das Sein des Subjektes für sich" 2 1 2 aus, die wechselnden Bewußtseinszustände dagegen drücken das „Zusammensein [des Subjektes] mit anderem" 2 1 3 aus. Insofern das Subjekt dabei also durch die wechselnden Bewußtseinszustände bestimmt ist, überwiegt seine Empfänglichkeit; sofern es umgekehrt durch das Bewußtsein seiner Identität in den wechselnden Bewußtseinszuständen bestimmt ist, überwiegt seine Selbsttätigkeit. Dabei stehen Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit in einem reziproken Abhängigkeitsverhältnis, dessen innere Struktur durch die Momente des wechselseitigen Einschlusses, der wechselseitigen Einflußnahme und der wechselseitigen Qualifikation geprägt ist. 214 Dieser Grundgegensatz des unmittelbaren Selbstbewußtseins wird im zweiten Abschnitt des § 4 um die Explikation der in ihm enthalte209 210 211 212 213 214
CG2 CG2 CG2 CG2 CG2 CG2
§ § § § § §
4.1, 4.1, 4.1, 4.1, 4.1, 4.1,
Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.
I, I, I, I, I, I,
24,1-5 24,15-17 24,12 24,23 24,23f 24,24-25,7
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der §§ 3-6 von CG 2
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nen Differenz zwischen Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl ergänzt. In diesem Gegensatz wird das Verhältnis zwischen Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit durch ein neues Begriffspaar illustriert, ohne daß das logische Verhältnis der Pole eine Veränderung erfahren würde: Bereits von den oben genannten, im § 3 zusammengefaßten Daten aus ließe sich der Gedanke eines „schlechthinnigen Empfänglichkeitsbewußtseins" entwickeln, das sämtliche Bestimmungen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls in sich aufweisen könnte. Denn das aus der Selbsttätigkeit entspringende Freiheitsgefühl und das aus der Empfänglichkeit sich ableitende Abhängigkeitsgefühl stehen im selben Verhältnis zueinander wie die seelischen Grundrichtungen, denen sie sich verdanken: Sie befinden sich im Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit und Beeinflussung 215 , während die Aktivitäten des Selbstbewußtseins in keinem von beiden Elementen allein aufgehen, sondern sich nur innerhalb der zweifachen Bestimmtheit durch beide Pole hinreichend erfassen lassen. 216 In der Struktur des Verhältnisses zwischen Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit ist also die Struktur des Verhältnisses aller weiteren denkbaren gegensätzlichen subjekttheoretischen Impulse vorgegeben. 217 215
216 217
Cramer: Prämissen 142 u.ö. kann diesen Gegensatz auch als „Interdependenz von Independenz und Dependenz" bezeichnen, wodurch - über den explikativen Fortschritt hinaus - auch noch einmal unterstrichen wird, daß es hier weniger auf die Bezeichnungen als auf die Struktur des innersubjektiven Grundgegensatzes ankommt. CG 2 § 4.2, Bd. I, 26,7-27,22 Dies bedeutet, daß Schleiermacher prinzipiell auch die im folgenden Abschnitt entfaltete Unmöglichkeit eines „schlechthinnigen Freiheitsgefühls" in anderer Terminologie entfalten könnte. So ließe sich die Unmöglichkeit schlechthinniger Aktivität auch mit der Struktur relativer Passivität begründen - oder die Undenkbarkeit schlechthinniger Selbsttätigkeit mit der Relativität der Empfänglichkeit begründen. Daß Schleiermacher in den Paragraphen-Abschnitten 4.2 und 4.3 aber gleichwohl die Impulsbegriffe „Freiheitsgefühl" und „Abhängigkeitsgefühl" einträgt, mag sich mit dem Bedürfnis begründen lassen, den aus der Tradition zugespielten Begriff der „Freiheit" aufzunehmen und einzuordnen. Entsprechendes ist für den Begriff der „Abhängigkeit" vermutet worden - vgl. den begriffsgeschichtlichen Abriß bei Scholtz: Philosophie Schleiermachers 135ff. Unübersehbar bleibt freilich der Nachteil von Schleiermachers Rekurs auf den Begriff der Abhängigkeit und der Nachteil des Verzichtes darauf, das intendierte Verhältnis in rein struktureller Weise zu entfalten. Denn möglicherweise hätte die Entfaltung über den Begriff des „schlechthinnigen Empfänglichkeitsgefühls" den damit gemeinten Grundsachverhalt - das Innewerden des notwendigen Rekurses auf Vorgegebenes - deutlicher hervortreten lassen können, als dies in der Entfaltung über den Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls möglich ist. Dagegen haben die negativen Konnotationen des Begriffs der Abhängigkeit die Ausleger der Glaubenslehre immer wieder dazu ermuntert, die von Schleiermacher gemeinte strukturelle Identität des Bewußtseins relativer Freiheit mit dem Bewußtsein schlechthinni-
246
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
Im dritten Abschnitt führt Schleiermacher diese strukturelle Abhängigkeit beider Gegensatzpole aufeinander durch, um die Undenkbarkeit eines schlechthinnigen Freiheitsgefühls zu erweisen: Jeder selbsttätige, ein Freiheitsgefühl in sich bergende Akt ist auf einen Gegenstand seiner Selbsttätigkeit angewiesen und trägt insofern den Keim des Abhängigkeitsgefühls in sich. 218 (Ebenso ließe sich umgekehrt entwickeln, daß jeder Abhängigkeit ausdrückende Akt der Empfänglichkeit diese spezifische Qualität erst dadurch gewinnt, daß er von seinem Gegenteil, dem Freiheit ausdrückenden Akt der Selbsttätigkeit, unterschieden werden kann.) In dieser Einsicht in die Struktur des Gegensatzes zwischen Freiheit und Abhängigkeit liegt nun die Pointe des gesamten Gedankenganges beschlossen: Das gesamte Selbstbewußtsein (das in wechselnden Bewußtseinszuständen sich selbst als identisch voraussetzt) gehorcht der Struktur des relativen Gegensatzes und erkennt die Struktur des relativen Gegensatzes als unhintergehbar. In keinem Akt des Bewußtseins kommt einer der Pole Selbsttätigkeit oder Empfänglichkeit (bzw. Freiheitsgefühl oder Abhängigkeitsgefühl) je isoliert vor; noch läßt sich ein Bewußtseinszustand vorstellen, in dem einer der Pole gänzlich zum Verschwinden gebracht werden könnte. Umgekehrt: In jedem selbsttätigen und rezeptiven Akt nimmt das Subjekt begrenzte Freiheit (oder begrenzte Abhängigkeit) in Anspruch - dies aber so, daß es gar nicht anders könnte, als stets begrenzte Freiheit (oder begrenzte Abhängigkeit) in Anspruch zu nehmen. Die funktionale Einheit aus Freiheit und Unfreiheit ist dem Subjekt also vorgegeben, und zwar so vorgegeben, daß es von ihr schlechterdings Gebrauch machen muß. Genau dieses Bewußtsein nun kann „Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit" genannt werden. Erstens im Blick auf seinen Inhalt, weil es den Primat der Abhängigkeit, der Empfänglichkeit, des ,,Sichselbstnichtsogesetzthaben[s]" 219 , ger Abhängigkeit (vgl. C G 2 § 4.3, Bd. I, 28,27: „ ... ist schon an und für sich ... " ) zu übersehen und statt dessen die von Schleiermacher gerade nicht gemeinte angebliche Unterscheidung zwischen dem via negationis erhobenen Befund des Vorgegebenseins endlicher Freiheit und der vermeintlich positiv-affirmativen Begründung dieses Befundes als absolute Abhängigkeit zum Zielpunkt der Kritik zu erheben. (Diese verbreitete F o r m der Kritik am Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls findet sich m.W. zuerst bei J.F. Röhr [Röhr: Rezension von CG 1 393, vgl. K G A 1/7.3, 517f]; sie ist wiederholt bei Wagner: Theologie im Banne 933-937 und neuerdings z.B. auch wieder bei Junker: Urbild 79-81.) Dieses Mißverständnis hat Schleiermacher aber durch den Eintrag des negativ besetzten Abhängigkeitsbegriffes selbst heraufbeschworen. 218
C G 2 § 4.3, Bd. I, 27,23-28,15
219
C G 2 § 4.1, Bd. I, 24,1 lf
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der §§ 3-6 von C G 2
247
des „Irgendwiegcwordensein[s]" 220 erkennt. 221 Zweitens aber, und das ist das Entscheidende, auch im Blick auf seine formale Struktur: Das Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit kann nur im Rekurs auf die duplizitäre Struktur des Selbstbewußtseins Zustandekommen, es ist selbst aber überhaupt kein duplizitär verfaßtes Bewußtsein mehr, sondern dem einmal seienden Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit fehlt eben gerade jedes Korrelat. 2 2 2 Das heißt: Das duplizitär verfaßte Selbstbewußtsein rekurriert, will es sich über seine eigene Verfaßtheit Klarheit verschaffen, mit innerer Notwendigkeit auf einen Bewußtseinszustand, in dem es seiner selbst als auf schlechterdings unverfügbare Weise erzeugtes bewußt wird. Darin ist das Selbstbewußtsein „schon an und für sich ein Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit." 2 2 3 Es erhebt sich an dieser Stelle die Frage, in welchem Verhältnis diese an ihre eigenen Grenzen stoßende Form des unmittelbaren Selbstbewußtseins zu den übrigen Vollzügen des Selbstbewußtseins steht. Eine Antwort auf diese Frage könnte zugleich eine Begründung dafür liefern, daß Schleiermacher dieses Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit problemlos auch als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit bezeichnen kann. 2 2 4 Doch bevor Schleiermacher diesen Faden im § 5 aufnimmt, widmet er sich im vierten Abschnitt des § 4 der im Leitsatz des § 4 enthaltenen Parallelisierung zwischen dem Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit und dem Bewußtsein der Beziehung mit Gott. Diese Parallelität wird von Schleiermacher folgendermaßen entfaltet: Grundsätzlich gilt, daß der Ausdruck „Gott" als Bezeichnung des dem schlechthinnigen Abhängigkeitsbewußtsein fehlenden
220
C G 2 § 4.1, Bd. I, 24,12
221
Diesen Aspekt hebt Jergensen: Offenbarungsverständnis 214-218 hervor. Diesen Sachverhalt hebt Cramer: Prämissen 152.156.160 als entscheidendes Strukturmerkmal des Bewußtseins schlechthinniger Abhängigkeit hervor. Vgl. auch Lange: Das fromme Selbstbewußtsein 191 Anm. 5
222
223
C G 2 § 4.3, Bd. I, 28,27f. - Die Pointe des Schleiermacherschen Gedankenganges besteht also darin, die jederzeitige, faktische Unhintergehbarkeit des Subjekt-ObjektGegensatzes zum Ausdruck gelangen zu lassen - und zwar auch und gerade in jedem metatheoretischen Diskurs über diesen Gegensatz und dessen Unhintergehbarkeit. N u r wenn man den hinter diesem Stellenwert stehenden Anspruch nicht beachtet und also übersieht, daß der Gegensatz damit - unter anderem - als Ermöglichungsbedingung von Logizität überhaupt und nicht als Resultat eines logischen Schlußverfahrens eingeführt wird, wird man zu dem Urteil gelangen können, das Entfaltete sei „offenkundig falsch" (Röhls: Frömmigkeit 251).
224
Vgl. C G 2 § 4.3, Bd. I, 28,15f.32. Diese synonyme Verwendung der Ausdrücke war ja bereits im Leitsatz des § 3 vorbereitet worden.
248
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
Korrelates, also als Bezeichnung des „Woher" 2 2 5 des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühles oder des im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl ,,Mitgesetzte[n]" 226 verstanden werden muß. 227 Darin ist also im Blick auf die vorangegangenen Ausführungen bereits eingeschlossen, daß der Ausdruck „ G o t t " als Bezeichnung für den Ursprung des schlechthinnigen Abhängigkeitgefühles nichts Innerweltliches und auch nichts innerhalb des selbstbewußten Subjektes Gelegenes bezeichnen kann. 228 Darin ist aber auch ein Konstitutionsverhältnis zwischen dem Ausdruck „ G o t t " und dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit eingeschlossen: Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ist das Ursprüngliche, wogegen der Versuch einer sprachlichen Erfassung dieses ursprünglichen Gefühls durch den Ausdruck „ G o t t " dessen nachgängige Erscheinung ist. 229 N u n ist aber das ursprüngliche Gefühl nicht nur in konstitutiver Weise überhaupt auf einen Ausdruck angewiesen, um je zum bewußten Inhalt des Selbstbewußtseins werden zu können, sondern es ist darüber hinaus auf einen adäquaten Ausdruck angewiesen, der seine Universalität angemessen zur Geltung bringt. Genau diese Funktion erfüllt der Gottesbegriff, für den insofern - unter der Kautel, daß er ein begrifflicher Ausdruck ist - alle Bestimmungen, die dem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl zugesprochen werden können, ebenfalls in Anspruch genommen werden müssen. 2 3 0 Es ist also festzuhalten, daß die im Leitsatz des § 3 vorgenommene Identifikation sich strikt und eindeutig auf das „Sich-schlechthin-abhängig-Fühlen" und das „Sich-seiner-selbst-alsin-Beziehung-mit-Gott-bewußt-Sein" 231 bezieht und also eine strukturelle Identität zwischen diesen Akten des Selbstbewußtseins behauptet. Dagegen sind aus der Parallelisierung alle kausativen Zusammenhänge zwischen Gott und dem menschlichen Abhängigkeitsgefühl ausgeschlossen: Keinesfalls darf diese Formulierung so mißverstanden werden, daß Gott als der objektivierbare, bewirkende Grund des Gefühls der Abhängigkeit eingetragen wird 2 3 2 - dieses Mißverständ225 226
227 228 229 230 231 232
C G 2 § 4.4, Bd. I, 28,35. Im Original hervorgehoben. S o die handschriftliche Anmerkung Schleiermachers nach Thönes: vgl. C G 2 § 4.4, Bd. I, 28,39 (Anm.) C G 2 § 4.4, Bd. I, 28,33-29,2 C G 2 § 4.4, Bd. I, 29,2-10 C G 2 § 4.4, Bd. I, 29,10-24 C G 2 § 4.4, Bd. I, 29,24-30,24 C G 2 § 4.4, Bd. I, 30,9f So konnte die entsprechende Formulierung der ersten Auflage noch mißverstanden werden, in der es hieß: „ ... daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der §§ 3-6 von C G 2
249
nis stellt die Pointe der Ausführungen der ersten drei Abschnitte des vierten Paragraphen in C G 2 komplett auf den Kopf. Umgekehrt kann sich ein sachgemäßes Verständnis des Grundgedankens der vorangegangenen Abschnitte - nämlich: die faktische Schlechthinnigkeit des Abhängigkeitsbewußtseins zeigt sich gerade darin, daß die Erkenntnis seines ursächlichen Korrelates unmöglich ist - auch nur in der strukturparallelen Transformierbarkeit dieses Grundgedankens in die christlich-kirchliche Sprachform bestätigen. 233 D. Der § 5: Als das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ist die Frömmigkeit die höchste Form des Selbstbewußtseins Im § 5 nimmt Schleiermacher den durch § 4.4. unterbrochenen Faden wieder auf, indem er sich den im Anschluß an § 4.3. zu stellenden Fragen zuwendet: In welchem Zusammenhang steht das Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit mit den einzelnen, zeitlich bestimmten und duplizitär verfaßten Momenten des Selbstbewußtseins und wie
2ii
bewußt sind, das heißt, daß wir uns abhängig fühlen von Gott" (CG 1 § 9 Ls. = K G A 1/7.2, 31,3-5). Den ungleich präziseren, ein objektivierendes Mißverständnis ausschließenden Gehalt der Formulierung der Zweitauflage betont auch Cramer: Prämissen 137 Anm. 11. Jedenfalls ist durch die Formulierung des Leitsatzes in C G 2 § 4 und die Erläuterung in C G 2 4.4 das ebenso verbreitete wie mißliche Verständnis, Schleiermacher erkläre die Frömmigkeit als das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit von Gott (so - stellvertretend für viele - z.B. Hirsch: Geschichte V 304,17, Scholtz: Philosophie Schleiermachers 130,34 oder Tice: Conception 355f) definitiv ausgeschlossen. Diesen Sachverhalt betont in anderem Zusammenhang, nämlich bereits zu 2 § 4.1, M. Junker (Junker: Urbild 56 Anm. 86): „Vor allem trifft es nicht zu, daß schon das Element des ,Irgendwiegewordenseins' sich direkt auf das ,Woher' allen Daseins beziehen ließe. Der Befund, daß das Selbstbewußtsein sich als immer schon bestimmtes vorfindet, erschließt die Welt als Grund dieses Abhängigseins." Den Grund für die weite Verbreitung des Mißverständnisses, Gott sei das umweglose „Woher" des Abhängigkeitsgefühls, benennt R. Odebrecht (Odebrecht: Gefüge 297,2-4) in der ihm eigenen Weise: „Die banale Kausalitätsbezogenheit des Wortsinnes ermuntert geradezu, das Intentionalitätsproblem zu verschleiern (...)". Siehe dazu auch oben Anm. 217. An dieser Parallelisierung des Leitsatzes wie an dem Einschub des § 4.4 läßt sich damit noch einmal die Zweckbezogenheit des Rekurses auf die ethischen Lehnsätze im Rahmen einer Einleitung in die Glaubenslehre ablesen (vgl. dazu C G 2 § 2 Zs. [1], Bd. I, 14,13-18). Denn anders als der Begriff der transzendenten Voraussetzungshaltigkeit des empfänglichen und selbsttätigen Selbstbewußtseins läßt dessen symbolischer Ausdruck, der Gottesbegriff, sich überhaupt nicht aus den ethischen Kategorien selbst entwickeln, sondern muß als begriffliches Interpretament dieses ethischen Strukturgesetzes angesehen werden. Als solches gehört er eben keinesfalls in die reine Wissenschaft „Ethik", aber unbedingt in einen funktionalen Beleihungsvorgang der reinen Wissenschaft „Ethik", in dem immer auch schon mögliche Formen des symbolisierenden Ausdrucks der ethischen Strukturgesetze entwickelt bzw. überprüft werden müssen.
250
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
verhält sich die Charakterisierung des Bewußtseins schlechthinniger Abhängigkeit als „Gefühl" zu diesem Zusammenhang? Die Antwort nimmt der Leitsatz zumindest teilweise vorweg: „Das Beschriebene bildet die höchste Stufe des menschlichen Selbstbewußtseins, welche jedoch in ihrem wirklichen Vorkommen von der niederen niemals getrennt ist, und durch die Verbindung mit derselben zu einer Einheit des Momentes auch Anteil bekommt an dem Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen." 234 Damit greift die Antwort auf die folgenden in Unterabschnitten entfalteten Gedanken zurück: Im ersten Abschnitt 235 entwickelt Schleiermacher ein dreigliedriges Modell des Selbstbewußtseins, um das unmittelbare Selbstbewußtsein als dessen höchste Stufe verorten zu können. Im zweiten Abschnitt 236 gewinnt die Charakterisierung des höchsten Selbstbewußtseins als „Gefühl" plausible Gestalt. Der dritte 237 , vierte 238 und fünfte 239 Abschnitt bilden dann das eigentliche argumentative Zentrum des Paragraphen, indem der Zusammenhang zwischen dem unmittelbaren höchsten Selbstbewußtsein und dem duplizitär verfaßten, sinnlichen Selbstbewußtsein unter verschiedenen Gesichtspunkten hergestellt wird. Ein den Paragraphen abschließender Zusatz 240 stellt wiederum die Ubereinstimmung zwischen den bewußtseinstheoretischen Einsichten über das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit und der Vorstellung von Gott her. Das argumentative Ziel besteht also in dem Aufweis der durchgängigen Bestimmtheit aller Momente des Selbstbewußtseins durch das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl: obwohl das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl selbst der Duplizitärstruktur nicht gehorcht, bestimmt es doch die duplizitär verfaßten Momente des Selbstbewußtseins. Damit greift Schleiermacher also ein von ihm selbst im § 4.3. benanntes Problem auf. 241 Um den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen des Selbstbewußtseins erweisen zu können, ist zunächst ihr Unterschied 234 235 236 237 238 239 240 241
C G 2 § 5 Ls., Bd. I, 30,36-31,3 C G 2 § 5.1, Bd. I, 3 1 , 1 - 3 3 , 7 C G 2 § 5.2, Bd. I, 33,8-34,11 C G 2 § 5.3, Bd. I, 34,12-36,26 C G 2 § 5.4, Bd. I, 36,27-39,19 C G 2 § 5.5, Bd. I, 39,20-40,14 C G 2 § 5 Zs., Bd. I, 4 0 , 2 5 - 4 1 , 1 7 Weil das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl der Struktur von Wirkung und G e genwirkung nicht unterliegt, „kann es, auch, streng genommen, nicht in einem einzelnen Momente als solchem sein, weil dieser seinem Gesamtinhalt nach immer durch Gegebenes bestimmt ist (...)": C G 2 § 4.3, Bd. I, 28,21-24.
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der §§ 3-6 von C G 2
251
zu beschreiben. Dazu entwickelt Schleiermacher im ersten Abschnitt des Paragraphen, deduktiv verfahrend, ein Stufenmodell des Selbstbewußtseins. Den Teilungsgrund bildet dabei der bereits aus dem § 4 bekannte Gegensatz zwischen Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit. Dieser Gegensatz tritt zunächst auf der unteren Stufe des Selbstbewußtseins noch nicht auf: in ihr sind „das Gegenständliche und das In-sich-Zurückgehende (...) nicht gehörig auseinander[ge]treten, sondern noch unentwickelt ineinander verworren." 242 Es handelt sich also um eine evolutionäre Vorstufe des Selbstbewußtseins und wird daher von Schleiermacher auch in das kindliche Bewußtsein überwiesen - bei fortschreitender Entwicklung des Menschen zieht dieser Zustand sich dagegen in die träumerischen Momente, welche die Ubergänge zwischen Wachen und Schlaf vermitteln, zurück. 243 Dieser untersten Stufe des Selbstbewußtseins folgt dessen mittlere Stufe: In ihr sind spontane und rezeptive Bestimmtheiten des Selbstbewußtseins klar voneinander geschieden, es handelt sich um diejenige Stufe des Selbstbewußtseins, in der die bedingten Freiheitsgefühle bzw. die bedingten Abhängigkeitsgefühle ihren Ursprung haben. Hier hat also das gesamte Weltverhältnis des Menschen seinen Ort, sofern es auch das subjektive Selbstbewußtsein des Menschen betrifft. 244 Die höchste Stufe des Selbstbewußtseins schließlich wird durch das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl gebildet: In ihm ist der Gegensatz zwischen dem die Selbsttätigkeit Affizierenden und dem die Empfänglichkeit Affizierenden insofern wieder aufgehoben, als hier „alles, dem sich das Subjekt auf der mittleren Stufe entgegensetzte, als mit ihm identisch zusammengefaßt" 245 ist. 246 Die Pointe dieses Stufenmodells besteht also in einer Qualifizierung des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls: Es entwickelt sich aus der mittleren Stufe des Selbstbewußtseins als dessen Vollendung und ist damit also vor der Verwechslung mit anderen, nicht durch den Gegensatz bestimmten Formen des Selbstbewußtseins - denen der untersten Stufe - bewahrt. 247
242 243 244 245 246 247
C G 2 § 5.1, Bd. I, 31,22-24 C G 2 § 5.1, Bd. I, 3 1 , 1 0 - 2 9 C G 2 § 5.1, Bd. I, 31,29-32,25 C G 2 § 5.1, Bd. I, 33,5-7 C G 2 § 5.1, Bd. I, 32,25-33 Offermann: Einleitung 97 sieht die Funktion der Einführung des Stufenschemas darüber hinaus in einer Vorbereitung des dreistufigen Schemas der Religionen in dem der Religionsphilosophie entlehnten § 8.
252
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
Der zweite Abschnitt widmet sich dann hauptsächlich dem Nachweis, daß nur das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit als materiale Füllung der höchsten Stufe des Selbstbewußtseins in Betracht komme, keinesfalls aber ein anderes - Wissen oder Tun begleitendes - höchstes Selbstbewußtsein. Dazu setzt Schleiermacher ein mit der aus dem vorangegangenen Abschnitt sich ergebenden Feststellung, als höchstes Selbstbewußtsein komme nur eine solche Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins in Betracht, in der der Gegensatz zwischen Freiheitsgefühl und Abhängigkeitsgefühl wieder verschwunden sei. Als solche Bestimmtheit wurde im Vorangegangenen - weil es ein schlechthinniges Freiheitsgefühl überhaupt nicht geben kann stets das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl gesetzt. Zu überprüfen bleibt freilich, ob es andere - dem Wissen oder Tun angehörige - Bestimmtheiten des Selbstbewußtseins geben kann, in denen der Gegensatz zwischen Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit aufgehoben ist. 248 Diese Uberprüfung wird zunächst für das Wissen durchgeführt und fällt negativ aus: Zwar ist ein höchstes, alle Gegensätze umfassendes Wissen denkbar, das aber als sich auf Gegenstände beziehend auf dem Gebiet des objektiven Bewußtseins bleiben muß. Auch ist zwar ein das höchste Wissen begleitendes, dessen Gewißheit ausdrückendes unmittelbares Selbstbewußtsein denkbar, das allerdings ebenfalls durch das gegenständliche Wissen aktiviert ist und also dem Gegensatz verhaftet bleibt. 2 4 9 In analoger Weise muß das ein höchstes Tun begleitende Selbstbewußtsein als unter dem Gegensatz stehend aufgefaßt werden. 2 5 0 Gilt diese Gebundenheit an den Gegensatz schon für das das höchste Wissen bzw. das höchste Tun begleitende Selbstbewußtsein, so gilt sie erst recht für jedes denkbare Einzelwissen oder Einzeltun, so daß als höchstes Selbstbewußtsein überhaupt kein sich an ein Wissen oder Tun anschließendes Selbstbewußtsein in Betracht kommt, sondern nur das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl. 2 5 1 Die Pointe dieses unscheinbaren zweiten Abschnittes ist also darin zu sehen, daß für Schleiermacher auf apagogischem Wege erwiesen ist, warum als die höchste Stufe des Bewußtseins nur eine Bestimmtheit des Gefühls in Betracht kommen kann: N u r das Gefühl ist in der Lage, die Selbstbezogenheit des höchsten Selbstbewußtseins angemessen zu
248 249 250 251
CG2 CG2 CG2 CG2
§ § § §
5.2, 5.2, 5.2, 5.2,
Bd. Bd. Bd. Bd.
I, I, I, I,
33,8-18 33,21-30 33,30-34,6 34,6-11
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der §§ 3-6 von CG 2
253
repräsentieren, indem es die Realität des Bezugspunktes - des Selbstbewußtseins - verbürgt, ohne daß der Bezugspunkt dabei zum objektivierten Gegenstand avancieren müßte. 252 Die Differenz zwischen Erkennen und Erkanntem bzw. zwischen Handeln und Behandeltem ist in der Identität von Fühlen und Gefühltem überwunden: D e r G e gensatz zwischen Subjekt und O b j e k t ist im Gefühl aufgehoben. Das Stufenschema des Selbstbewußtseins und die Qualifizierung des höchsten Selbstbewußtseins als Gefühl bilden nun den H i n tergrund des dritten Abschnittes, in dem Schleiermacher eine Antwort auf die Frage nach dem stetigen Charakter des unmittelbaren Selbstbewußtseins gibt. Dazu faßt er zunächst die Gegebenheitsweise des schlechthinnigen Abhängigkeitsbewußtseins zusammen: 253 Das schlechthinnige Abhängigkeitsbewußtsein ist unabhängig von temporär gegebenen Gegenständen; es unterliegt nicht der Duplizitätsstruktur, sondern ist in sich einfach; seiner Erscheinungsweise eignet eine gewisse Stabilität, insofern es auch im Wechsel der Zustände sich selbst gleich ist; 254 und schließlich besteht das so beschriebene schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl parallel zu dem die verschiedenen Momente des Wissens und Handelns begleitenden, sinnlichen Selbstbewußtsein der mittleren Stufe 2 5 5 Daraus ergibt sich also die Notwendigkeit, das höhere Selbstbewußtsein als mit dem sinnlichen Selbstbewußtsein zugleich gesetzt zu denken. 256 Die nähere Gestalt dieser Verbindung besteht dabei keinesfalls in einer Verschmelzung des höheren Selbstbewußtseins mit dem sinnlichen Selbstbewußtsein, sondern in einem solchen „Zugleichsein" 2 5 7 beider, in dem die je eigenen Formen des Selbstbewußtseins aufeinander bezogen sind: Sie sind als eigenständige Teilformen erkennbar, treten jedoch nie einzeln, sondern nur in verschiedener Relation zueinander auf. Jeder durch den einzelnen Zustand geprägte Moment des sinnlichen Selbstbewußtseins partizipiert an der im höheren Selbstbewußtsein dargestellten Kontinuität des Selbstbewußtseins, umgekehrt realisiert sich das schlecht252 253 254 255 256
257
CG 2 § 3.2, Bd. I, 16,15-28 CG 2 § 5.3, Bd. I, 34,12-35,13 CG 2 § 5.3, Bd. I, 34,16-24 CG 2 § 5.3, Bd. I, 35,1-10. CG 2 § 5.3, Bd. I, 35,10-13. In dieser aus phänomenologischer Betrachtung sich speisenden „Forderung" (a.a.O. 35,10) rekurriert Schleiermacher also auf die bereits im § 3.1 (16,28-17,3) eingetragene „doppelte Erfahrung", daß die gesuchte Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins sowohl neben Denken und Wollen als auch vor Denken und Wollen ihre Präsenz erweisen kann. CG 2 § 5.3, Bd. I, 35,1«
254
Drittes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
hinnige Abhängigkeitsbewußtsein erst durch eine Bestimmtheit des sinnlichen Selbstbewußtseins. 258 Das heißt: „Dieses Bezogenwerden des sinnlich bestimmten auf das höhere Selbstbewußtsein (...) ist der Vollendungspunkt des Selbstbewußtseins." 2 5 9 Diese Vollendung wird von Schleiermacher nun in das Stufenschema des Selbstbewußtseins eingeordnet und erfordert in jedem Falle das Uberwundensein der niedersten Stufe des Selbstbewußtseins. Dann läßt sie sich in zweifacher Perspektive beschrieben, „von unten herauf" 2 6 0 als Qualitätsoptimierung des mittleren Selbstbewußtseins durch das zunehmende Streben des mittleren Selbstbewußtseins nach der Aufhebung des Gegensatzes im höheren Selbstbewußtsein 2 6 1 , „von oben herab" 2 6 2 als Quantitätsoptimierung des höheren Selbstbewußtseins durch die zunehmende Verbreitung des höheren Selbstbewußtseins in den Zuständen des mittleren Selbstbewußtseins 2 6 3 . Diese Korrelation zwischen dem sinnlichen und dem höheren Selbstbewußtsein wird von Schleiermacher dann im vierten Abschnitt wieder auf die phänomenologische Erscheinungsweise des frommen Bewußtseins bezogen. Zunächst: erst das Wechselverhältnis des duplizitär verfaßten sinnlichen Selbstbewußtseins 264 und des gegensatzlos verfaßten höheren Selbstbewußtseins 2 6 5 vermag das fromme Bewußtsein als in verschiedenen Momenten einheitliches zu konstituieren. 266 Sodann, auch die das fromme Bewußtsein prägende Duplizität von Freude und Leid läßt sich erst in der Vermittlung durch das beschriebene Wechselverhältnis angemessen erkennen: Das Mischungsverhältnis von freudvoller und leidvoller Empfindung in der frommen Erregung setzt sich zusammen aus dem Grad der Leichtigkeit, mit der die Bestimmtheit des höheren Selbstbewußtseins sich im je einzelnen Moment Geltung zu verschaffen vermag, und dem Maß angenehmer oder unangenehmer Empfindungen des einzelnen Momentes. 2 6 7 Weiter: auch der Verlauf des religiösen Lebens als Wechsel zwi258 259 260 261 262 263 264 265 266 267
CG2 CG2 CG2 CG2 CG2 CG2 CG2 CG2 CG2 CG2
§ § § § § § § § § §
5.3, 5.3, 5.3, 5.3, 5.3, 5.3, 5.4, 5.4, 5.4, 5.4,
Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.
I, I, I, I, I, I, I, I, I, I,
35,13-24 35,24-26 36,9 36,9-16 36,16 36,16-26 36,27-31 36,31-37,4 37,4-21 37,21-38,35
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der §§ 3-6 von C G 2
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sehen stärker und schwächer hervortretendem frommen Bewußtsein ist nur als wechselndes Uberwiegen des höheren bzw. des sinnlichen Selbstbewußtseins zu verstehen. 268 Und schließlich gibt das beschriebene Wechselverhältnis auch den Grund der Kontinuierlichkeit des religiösen Lebens ab, wie Schleiermacher dann im fünften Abschnitt des Paragraphen ausführt. 269 Der Zusatz erklärt auch die Unvermeidbarkeit von Anthropomorphismen in der Artikulation des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühles als Gottesbewußtsein mit dem unaufhebbaren Beieinander des sinnlichen und des höheren Selbstbewußtseins in allen Momenten frommer Erregung. 270 Mit diesen Bestimmungen des § 5 ist also der systematische Gehalt des Begriffes der Frömmigkeit im wesentlichen vollständig entfaltet: Erst hier wird der im § 3 eingeführte Begriff der „Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins oder Gefühls" seinerseits so abgegrenzt, daß seine explikative Funktion deutlich wird. 271 Uber den Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins wird die duplizitäre Verfaßtheit der zeitlich hervortretenden frommen Erregungen bewußtseinstheoretisch abgehärtet. Bevor ich diese duplizitäre Verfaßtheit des frommen Selbstbewußtseins im Abschnitt III zusammenfassend betrachten möchte, lassen sich hier bereits die Bestimmungen, die Schleiermacher dem Ausdruck „unmittelbares Selbstbewußtsein" beilegt, bündeln. Das unmittelbare Selbstbewußtsein tritt sowohl auf der mittleren als auch auf der höchsten Stufe des Selbstbewußtseins auf. 272 Es ist dabei sowohl von der empirisch vermittelten, gegenständlichen Selbstwahrnehmung 2 7 3 als auch vom gegenstandsbezogenen, Wissen und Tun begleitenden Selbstbewußtsein 274 zu unterscheiden. Es begleitet aber alle Formen des Bewußtseins, insofern es deren überwiegend gegenstandsunabhängige Beziehung auf das Subjekt vermittelt und in dieser Funktion erst die Gewißheit der gegenständlichen Bewußtseinsinhalte herstellt. 275 Die höchste Form des unmittelbaren Selbstbewußtseins ist 268 269 270 271
272 273 274 275
C G 2 § 5.4, Bd. I, 38,35-39,19 C G 2 § 5.5, Bd. I, 39,20-40,14 C G 2 § 5 Zs., Bd. I, 40,15-41,17 Insofern kann sich auch von hier aus noch einmal der enge Zusammenhang des § 5 nicht nur mit dem § 4 (vgl. Offermann: Einleitung 65), sondern auch mit dem § 3 erweisen. Vgl. Offermann: Einleitung 55,5-9 C G 2 § 3.2, Bd. I, 16,21-28 C G 2 § 4.1, Bd. I, 24,10-21 C G 2 § 5.2, Bd. I, 33,25-30
256
Drittes Kapitel:
D i e Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
die völlige Gelöstheit von gegenständlicher Bestimmtheit und die reine Bezogenheit auf das Subjekt, in der es im Grad dieser Bezogenheit auf das Subjekt dem Gefühl vergleichbar ist. 276 Diese höchste Stufe des unmittelbaren Selbstbewußtseins ist im Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit erreicht, das also ebensogut „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" genannt werden kann. E. Der § 6: Die Frömmigkeit ist notwendig gemeinschaftsbildend Im § 6 ordnet Schleiermacher den in den §§ 3-5 entwickelten Begriff des frommen Selbstbewußtseins in die Zielvorgabe des ethischen Lehnbereiches ein, nämlich in dem Nachweis, daß das Bestehen der Kirche eine in der Verfaßtheit des menschlichen Geistes gesetzte N o t wendigkeit ist. Damit ist zwar ein im Begriff der Frömmigkeit selbst enthaltenes Element aufgenommen, dieses Element wird von Schleif ermacher aber unter völliger Absehung seines systematischen Gehaltes für den spekulativen Gesamtbegriff der Frömmigkeit und unter zweckbezogener Rücksichtnahme auf den funktionalen Stellenwert dieses Elementes für das Ganze der Einleitung in die Glaubenslehre in die Untersuchung eingetragen. Es scheint mir daher sachlich geboten, den § 6 einerseits als den Kulminationspunkt des ethischen Lehnbereiches in seiner Funktion für die Glaubenslehre-Einleitung anzuerkennen 2 7 7 , andererseits aber auf seine ausführlichere Berücksichtigung im Zusammenhang der hier intendierten Zusammenfassung des wesentlichen systematischen Gehaltes im Frömmigkeitsbegriff zu verzichten. Denn zum systematischen Gehalt der Frömmigkeit gehört zunächst nur ihre überhaupt auf Vergemeinschaftung zielende Tendenz. Diese Tendenz teilt sie mit anderen wesentlichen Elementen der menschlichen Natur, was in der Ethik zu erweisen ist. 278 Die Realisierung dieser Tendenz in der konkreten Gemeinschaftsform „Kirche" ist hingegen in der Idee der Frömmigkeit nicht wesensnotwendig gesetzt. Vielmehr sind für Schleiermacher grundsätzlich auch andere Realisierungen dieser Tendenz denkbar. 2 7 9 Die ausführliche, die Ethik beleihende Betrachtung der kirchlichen Realisierungsgestalt der Frömmigkeit in der Glaubenslehre-Einleitung muß vielmehr mit der Kirchbezogenheit der Dogmatik begründet werden. Weil die D o g 276 277 278 279
CG2 Vgl. CG2 Vgl.
§ 3.2, B d . I, 16,9-28 die ausführliche B e g r ü n d u n g bei O f f e r m a n n : Einleitung 109-113 § 6.2, Bd. I, 42,16-20 Birkner: Christliche Sittenlehre 110; R e n d t o r f f : Kirche und T h e o l o g i e 151-153
II. Die inhaltlichen Bestimmungen der §§ 3-6 von CG 2
257
matik im Dienst dieser menschlichen Gemeinschaftsform steht, muß auch die kirchliche Realisierungsgestalt der Gemeinschaftstendenz der Frömmigkeit thematisch werden. In der Erhebung der systematischen Gehalte des Frömmigkeitsbegriffes kann die kirchliche Realisierungsgestalt dagegen nur als ein möglicher Ausdruck dieser Vergemeinschaftungstendenz gelten und muß daher ausgeblendet bleiben. Ein kurzer Inhaltsüberblick soll diese Entscheidung begründen und das hier gegebene Referat abschließen. Den Rekurs auf den Begriff der Kirche nimmt Schleiermacher in fünf Schritten vor. Sie sind größtenteils wiederum im Leitsatz des § 6 vorgegeben: „Das fromme Selbstbewußtsein wird wie jedes wesentliche Element der menschlichen Natur in seiner Entwicklung notwendig auch Gemeinschaft, und zwar einerseits ungleichmäßig fließende, andrerseits bestimmt begrenzte, d.h. Kirche." 280 Der erste Abschnitt 281 befaßt sich dabei zunächst mit der Diskrepanz zwischen der spekulativ als universal zu setzenden Vergemeinschaftlichungstendenz des frommen Selbstbewußtseins und der empirisch als eingeschränkt wahrnehmbaren Realisierungsgestalt dieser Tendenz. Dazu hält Schleiermacher fest, daß diese Diskrepanz keinesfalls die spekulative Prämisse der Notwendigkeit in Frage stellt, sondern mit der faktisch unentwickelten N a t u r des frommen Selbstbewußtseins zu begründen ist. Der zweite Abschnitt 282 bietet dann die spekulative Ableitung der im Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls liegenden Tendenz zur Vergemeinschaftung. Dabei verbinden sich nach Schleiermachers Auffassung das menschliche Gattungsbewußtsein als die notwendige Bedingung und das Bedürfnis nach einer Äußerung innerseelischer Vorgänge als die hinreichende Bedingung miteinander. 283 Dieser Außerungsvorgang wird darauf als Form nachbildenden H a n delns eingrenzend beschrieben. 284 Die beiden folgenden Abschnitte nehmen dann die Subsumierung empirisch vorfindlicher Gestaltungen kirchlicher Gemeinschaft unter den zuvor entwickelten Begriff vor: Der dritte Abschnitt 285 begründet den graduell variablen Charakter der Gemeinschaft, der vierte Abschnitt 286 dagegen begründet die fest280 281 282 283 284 285 286
CG 2 CG 2 CG 2 CG 2 CG 2 CG 2 CG 2
§ § § § § § §
6 Ls., Bd. I, 41,18-21 6.1, Bd. I, 41,22-42,15 6.2, Bd. I, 42,16-43,19 6.2, Bd. I, 42,31-34 6.2, Bd. I, 43,1-16 6.3, Bd. I, 43,20-44,22 6.4, Bd. I, 44,23-45,20
258
Drittes Kapitel: D i e Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
stehenden Verhältnisse innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft. D e r den ethischen Lehnbereich insgesamt abschließende Z u s a t z 2 8 7 bietet schließlich eine Zusammenstellung des vielfältigen begrifflichen G e haltes, der dem A u s d r u c k „ R e l i g i o n " zu eigen ist und damit zugleich eine B e g r ü n d u n g für den von Schleiermacher geleisteten Verzicht auf den Begriff. 2 8 8
III. Zusammenfassung: Die bewußtseinstheoretische Gestalt der Theorie der Frömmigkeit Schleiermacher entfaltet die Theorie der Frömmigkeit in den §§ 36 der Einleitung in die Glaubenslehre zweiter Auflage, im ethischen Lehnbereich, als eine Theorie des Selbstbewußtseins. Ermöglicht wird dieses Verfahren dadurch, daß nach Schleiermacherscher A u f f a s s u n g im f r o m m e n Gefühl und im sich auf sich selbst beziehenden Selbstbewußtsein ein und derselbe Sachverhalt zur Darstellung kommt: ein unmittelbares Innewerden des Subjektes über seine eigene Verfaßtheit. E r f o r d e r t wird das Verfahren dadurch, daß sich nur durch die Transf o r m a t i o n der Frömmigkeitstheorie in eine begrifflich-spekulative 287
C G 2 § 6 Ls., B d . I, 45,21-47,6
288
Im einzelnen unterscheidet Schleiermacher folgende Bedeutungen des A u s d r u c k s Religion: Erstens kann „ R e l i g i o n " die allgemeine Richtung des menschlichen G e m ü t e s mit der Tendenz auf K o m m u n i k a t i o n im Sinne von „Religion schlechth i n " ( C G 2 § 6 Zs., Bd. I, 46,7-15) bezeichnen. Zweitens kann der A u s d r u c k den Inhalt der allen Mitgliedern einer kirchlichen G e m e i n s c h a f t gemeinsamen f r o m m e n Vorstellungen bezeichnen und kennzeichnet dann eine - konfessionell organisierte „ b e s t i m m t e R e l i g i o n " im Unterschied zu ihrem E r m ö g l i c h u n g s g r u n d , der zuerst genannten „ R e l i g i o n schlechthin" (a.a.O. 45,25-32). Drittens ist ein verwirrender S p r a c h g e b r a u c h zu konstatieren, der den A u s d r u c k „ R e l i g i o n " zur Bezeichnung auch solcher andächtiger E r r e g u n g e n verwendet, die keinen notwendig gemeinschaftsbildenden Z u g in sich tragen, s o beispielsweise im Falle des unsachgemäßen A u s d r u c k s „natürliche R e l i g i o n " (a.a.O. 46,2-7). Viertens dient der A u s d r u c k „ R e l i g i o n " auch z u r U n t e r s c h e i d u n g des Allgemeingehaltes einer bestimmten Religion von ihrer individuell-persönlichen A u s p r ä g u n g und hebt also die „subjektive Relig i o n " von der „objektiven R e l i g i o n " ab (a.a.O. 46,18-29). U n d fünftens wird innerhalb der b e s t i m m t e n Religion die G e s a m t m e n g e f r o m m e r Erregungen von den zu G e g e n s t ä n d e n der K o m m u n i k a t i o n gewordenen f r o m m e n Erregungen unterschieden und durch die begriffliche Trennung zwischen „innerer R e l i g i o n " und „äußerer R e l i g i o n " ausgedrückt (a.a.O. 46,29-36). D i e Vielfältigkeit des Bedeutungsgehaltes im A u s d r u c k „ R e l i g i o n " und die U n m ö g l i c h k e i t , diese Vielfältigkeit in geordneter Weise durch einen einzigen A u s d r u c k zu bezeichnen (z.B. a.a.O. 46,2-7.17f.22-25), läßt es geraten erscheinen, „ i m wissenschaftlichen G e b r a u c h sich dieser Bezeichnungen lieber zu enthalten" (a.a.O. 47,4f).
III. Z u s a m m e n f a s s u n g
259
Theorie des Selbstbewußtseins die Struktur dieser Frömmigkeit unabhängig von jeder einzelnen religiösen Uberzeugung plausibel machen läßt. In der bewußtseinstheoretischen Gestalt der Theorie der Frömmigkeit finden dabei die folgenden wesentlichen Konstitutionselemente der Frömmigkeit als Konstitutionselemente des Selbstbewußtseins Aufnahme: Der Anlaß des frommen Selbstbewußtseins im Bezogensein des Menschen auf die Welt, also im Weltbewußtsein; der Inhalt des frommen Selbstbewußtseins als Bewußtsein der Bezogenheit von Subjektivität auf etwas außerhalb ihrer selbst und außerhalb der Welt Liegendes; die relational bestimmte Struktur des frommen Selbstbewußtseins als die in der Weise ihrer Gegenstandsbezogenheit vorgegebene notwendige Gestalt; und die Notwendigkeit der Artikulation des Inhaltes des frommen Selbstbewußtseins im Ausdruck „Gott". Der Anlaß des frommen Selbstbewußtseins ist das Weltbewußtsein: Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl als Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins vermag sich nur in der Korrespondenz mit dem die innerweltlichen Gegenstände vermittelnden, sinnlichen Selbstbewußtsein zu entwickeln. Erst in der ständigen Korrespondenz gewinnen sinnliches und höchstes Selbstbewußtsein ihre je eigene Gestalt, erst in dieser Korrespondenz wird deutlich, inwiefern Frömmigkeit alles Wissen und Tun notwendig begleitet, aber weder in ihnen aufgeht noch aus ihnen ableitbar ist. 289 Der Inhalt des frommen Selbstbewußtseins, das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, ist vermittelt und ermöglicht durch eben diese Duplizität des Selbstbewußtseins, geht aber in dieser Duplizität nicht auf. Das Erfassen der Duplizitärstruktur des Bewußtseins vollzieht sich als Innewerden des selbst nicht duplizitär verfaßten Erfassungsmodus dieser Duplizität. Insofern konstituiert das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit das Ich, aber nicht als absolutes Ich, sondern als immer schon in Beziehung stehendes Ich. 290 Weil also dem frommen Selbstbewußtsein als dem intentional unbestimmten Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit einerseits zwar der Grund der Abhängigkeit unerkennbar bleibt, andererseits aber mit dem Gefühl der Abhängigkeit das Gefühl der Vermitteltheit dieses Abhängigkeitsgefühls selbst durch ein objektivierbares „Außeruns" 2 9 1 289
Ebeling: A b h ä n g i g k e i t s g e f ü h l 124
290
C r a m e r : P r ä m i s s e n 155; Scholtz: Philosophie Schleiermachers 130 C G 2 § 4.2, B d . I, 26,20
291
260
Drittes Kapitel: D i e Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre
unterschiedslos in eins fällt, ist die Artikulation dieser Unterschiedslosigkeit nur durch einen quasi-objektiven Ausdruck möglich. Der Ausdruck „ G o t t " ist die angemessene Artikulationsform dieser Unterschiedslosigkeit des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit selbst und der Vermitteltheit des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit. 2 9 2 In der Gestalt des frommen Selbstbewußtseins als dem durchgängig duplizitär bestimmten, aber auf seinen nichtduplizitär bestimmten Verfassungsgrund hinweisenden unmittelbaren Selbstbewußtsein bilden sich der Anlaß, der Gegenstand und die Artikulationsgestalt des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit ab: die relationale Gestalt besteht als die durchgängige, aber nicht verabsolutierbare Form des frommen Gefühls. 2 9 3
292 293
Wagner: T h e o l o g i e im Banne 930f; Ebeling: Abhängigkeitsgefühl 122f Ebeling: Wirklichkeitsverständnis 177f
Viertes Kapitel Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik I. Zur Leitfrage und zum Interpretationsansatz Z u m A b s c h l u ß dieser Arbeit müssen wir uns nun ein zweites M a l der Dialektik zuwenden. D e n n auch die A u s s a g e n der Dialektik z u m R e p r ä s e n t a n z m o d u s des transzendenten G r u n d e s im unmittelbaren Selbstbewußtsein b z w . im G e f ü h l können als Beitrag zu einer T h e o r i e der F r ö m m i g k e i t verstanden werden. D a m i t verändert sich also das Leitinteresse, mit d e m jetzt ein zweites M a l auf die Dialektik z u r ü c k gegriffen wird: Fragten wir im ersten Kapitel nach den prinzipiellen und methodischen E c k d a t e n des sich im System der Wissenschaften abbildenden gesamtsystematischen R a h m e n s und mußten in diesem Z u s a m m e n h a n g die Idee des Wissens und die Figur des höchsten G e gensatzes aus der Dialektik erheben, so fragen wir jetzt danach, wie Schleiermacher in der Dialektik die Gewißheit der Bezogenheit des Bewußtseins auf das Sein begründet. D i e Leitfrage hat sich also im Vergleich z u m ersten Kapitel gewandelt - dementsprechend werden auch andere Textpassagen zu befragen sein. Darauf k o m m e ich s o f o r t zurück. Z u v o r ist j e d o c h an einen anderen Unterschied z u erinnern. A u c h die Dialektik beantwortet, wie zu zeigen sein wird, die Frage nach d e m G r u n d der gewissen Bezogenheit des Bewußtseins auf das Sein mit einer Theorie des identischen transzendenten G r u n d e s f ü r das Wissen wie für das Wollen, die als Theorie der Repräsentanz des transzendenten G r u n d e s im Selbstbewußtsein durchgeführt ist. D i e strukturelle Verwandtschaft mit d e m B e g r ü n d u n g s g a n g der Glaubenslehre k o m m t auch darin z u m A u s d r u c k , daß in beiden Z u s a m m e n h ä n g e n die B e griffe des „unmittelbaren Selbstbewußtseins" und des „ G e f ü h l s " eine tragende F u n k t i o n übernehmen. D e r signifikante Unterschied zwischen der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre und der F r ö m m i g keitstheorie der Dialektik besteht dabei nun aber wiederum vor allem in d e m anderen funktionalen Kontext, in den diese Theorie in der D i a -
262
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
lektik gestellt ist. 1 Denn in der Einleitung der Glaubenslehre betrachtete Schleiermacher die Struktur des unmittelbaren Selbstbewußtseins, insofern dessen Faktizität den konstitutiven Grund für die Ausbildung einer Dogmatik darstellt. Der im Abschnitt II des dritten Kapitels 2 inhaltlich referierten Frömmigkeitstheorie kam also diejenige funktional bestimmte, tragende Rolle zu, die zunächst im Abschnitt I des Kapitels 3 umrissen werden mußte. In der Dialektik hingegen entwickelt Schleiermacher die Frömmigkeitstheorie in einem gänzlich anderen Kontext: Im Zusammenhang der Erwägung der Ermöglichungsbedingung des Wissens überhaupt muß ein transzendenter Grund durchaus angenommen werden - und als Seitengedanke wird dann im Zusammenhang der Erwägung der Notwendigkeit des transzendenten Grundes auch auf die Struktur der Repräsentanz des transzendenten Grundes im unmittelbaren Selbstbewußtsein eingegangen. Die Frömmigkeitstheorie übernimmt also in der Dialektik auch keinesfalls die Rolle des Grundthemas, sondern es handelt sich um ein funktional bestimmtes Unterthema. Um die in der Dialektik vorgetragene Theorie der Frömmigkeit wieder im ganzen zu erfassen, also: sowohl im Blick auf ihren systematischen Ort als auch im Blick auf ihre inhaltlichen Schwerpunkte, legt sich auch wieder eine Zweiteilung des Kapitels nahe. Schleiermachers Ausführungen zur Repräsentanz des transzendenten Grundes im Gefühl müssen in einem ersten Interpretationsschritt auf ihren Bezugsrahmen, den Gesamtzusammenhang der Dialektik, hin befragt werden. Denn der sachliche Gehalt der Ausführungen ist nur dann verständlich, wenn deren systematische Funktion 1
Dieser Unterschied ist zugleich der Grund dafür, daß die beiden Aussagenreihen nicht in umwegloser Weise miteinander verglichen werden können. Die parallele Verwendung verwandter oder sogar derselben Begriffe im Dialektik-Entwurf von 1822 und in der Glaubenslehre (vgl. z.B. das Auftauchen der Begriffe „unmittelbares Selbstbewußtsein" in Dial 1822 [Ms.], LI. Stunde, D O 288 [DJ 429] und „allgemeines Abhängigkeitsgefühl" in Dial 1822 [Ms.], LI. Stunde, D O 290 [DJ 430]) lädt zwar zu einem Vergleich ein. So wirft Offermann: Einleitung 66-84 im Rahmen ihrer Interpretation der Glaubenslehre-Einleitung den vergleichenden Blick auf die Dialektik, umgekehrt analysiert Wagner: Dialektik 172-210 die Bestimmungen der Glaubenslehre aus der Perspektive des Dialektik-Interpreten. Aber die hinreichend berücksichtigte Festellung innerer Bedeutungsdifferenzen läßt dabei zu leicht in Vergessenheit geraten, daß das unmittelbare Selbstbewußtsein der Glaubenslehre eine andere Systemstelle innehält als das unmittelbare Selbstbewußtsein der Dialektik; Entsprechendes gilt für das Verhältnis zwischen dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit der Glaubenslehre und dem allgemeinen Abhängigkeitsgefühl der Dialektik.
2
S.o. S. 231ff S.o. S. 195ff
3
I. Z u r Leitfrage und z u m Interpretationsansatz
263
und deren systematischer Ort im Rahmen des Aufbaus und des Aussagezieles der sie beheimatenden Dialektik deutlich geworden ist. Es muß also zunächst der Ort der Anmerkungen zum transzendenten Grund in einem Referat des Argumentationsganges des ersten Teiles der Dialektik aufgesucht werden (Abschnitt II). In diesem Referat werde ich an einige bereits oben im ersten Kapitel getroffene Grundbestimmungen zum Charakter und zur Funktion der Dialektik anknüpfen können, diese Bestimmungen müssen jedoch immer dann noch einmal eine Erwähnung finden, wenn dies zum Verständnis des Ortes und der Funktion der Frömmigkeitstheorie im Gesamtrahmen der Dialektik unabdingbar ist. An dieses Referat anschließend können dann die inhaltlichen Grundzüge dieser Theorie referiert werden (Abschnitt III). Wie schon im ersten Kapitel, so werde ich auch der hier im vierten Kapitel vorgelegten Interpretation grundsätzlich die DialektikVorlesung in der Fassung von 1814/15 als Rahmen zugrundelegen und deren Feststellungen zur Repräsentanz des transzendenten Grundes im Gefühl durch die in diesem Zusammenhang ausführlichsten und komprimiertesten Erläuterungen der Dialektik-Fassung von 1822 ergänzen. 4 Auf diese Weise können die Vorzüge beider Fassungen miteinander verbunden werden. Denn bestand das Gewicht der Fassung von 1814/15 ja zunächst rein äußerlich darin, daß sie die grundlegende Fassung der Dialektik bildet 5 , so ist der hohe Wert der Fassung von 1822 im Zusammenhang des hier zur Untersuchung anstehenden Themas vor allem darin zu sehen, daß die Theorie des unmittelbaren Selbstbewußtseins dort eine ungleich breitere Aufmerksamkeit erfährt: Den Themenbestand von 1814/15 ausdehnend, widmet Schleiermacher sich 1822 nicht nur dem Erweis der Notwendigkeit des transzendenten Grundes, sondern ausführlich auch der realen Manifestationsform des transzendenten Grundes im Bewußtsein des wissenden bzw. wollenden Subjektes. Daß die Frage, wie der transzendente Grund „zu einer Einheit des wirklichen Bewußtseins" 6 gelangen könne, gerade 1822 eine ausführliche Erwägung findet, wird man in der Tat mit der zeit-
4
5 6
Vgl. hierzu o b e n S. 2 I f f . In der sich mit der T h e o r i e des unmittelbaren Selbstbewußtseins nach der Dialektik befassenden Literatur ist die Präferenz für die 1822er F a s s u n g unstrittig - vgl. O f f e r m a n n : Einleitung 68; Wagner: Dialektik 152f A n m . 17; Reuter: Einheit 211; Lehnerer: Kunsttheorie 63. S.o. S. 68 A n m . 291 Dial 1822 (Ms.), L . Stunde, D O 284,41 f (DJ 4 2 8 , 2 7 0
264
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
liehen Nähe zur Erstauflage der Glaubenslehre begründen müssen. 7 Denn hatte Schleiermacher in der Einleitung in die Glaubenslehre den Versuch unternommen, die (dogmatikerfordernde) Frömmigkeit mit dem Instrumentarium einer Theorie des Bewußtseins zu beschreiben und als eine Tatsache des Bewußtseins zu begründen, so legt es sich nahe, die (wissensermöglichende) Realität eines transzendenten Grundes nun ebenfalls auf die Präsenz des transzendenten Grundes im Bewußtsein hin zu untersuchen. Dennoch bleibt zu beachten, daß die Beobachtung der zeitlichen, thematischen und terminologischen Berührung zwischen der Einleitung in die Glaubenslehre und der Dialektik 1822 sich zunächst lediglich auf das auch hier zur Verhandlung anstehende Teilthema der Präsenz des transzendenten Grundes im Bewußtsein bezieht. Rein vom Textumfang her gesehen betrifft diese Verwandtschaftsfeststellung dabei lediglich die Korrespondenz zwischen den §§ 8-10 von CG 1 (bzw. den §§ 3-5 von CG 2 ) einerseits und den Ausführungen der LI. Stunde der Dialektik-Vorlesung von 1822 andererseits. Das bedeutet: So wenig eine die Glaubenslehre-Einleitung und die Dialektik nebeneinanderstellende Interpretation der Schleiermacherschen Theorie der Präsenz des transzendenten Grundes im Bewußtsein an den in der Dialektik 1822 getroffenen Feststellungen vorbeisehen kann, so wenig wird sie zugleich aus den dieses Teilthema betreffenden Berührungen weiterreichende Schlüsse über das grundsätzliche Verhältnis zwischen Glaubenslehre und Dialektik, das grundsätzliche Gewicht der Dialektik-Fassung von 1822 im Vergleich zu ihren Schwesterfassungen und den grundsätzlichen Rang der Teilthematik im Gesamtkontext der Schleiermacherschen Dialektik ziehen dürfen. Die selektive Inanspruchnahme von Teilpassagen der Dialektik 1822 (zumal in der problematischen 8 Edition R. Odebrechts) darf über folgende interpretatorische Grundsätze nicht hinwegtäuschen. Erstens: Eine prinzipielle Vorstellung von dem Schleiermachers Ausführungen stets leitenden Verhältnis der Glaubenslehre zur Dialektik läßt sich nur über die Einsicht in die wissenschaftssystematische Zusammmenordnung beider Disziplinen gewinnen. 9 Zweitens: Der sachliche Gehalt und der forO f f e r m a n n : Einleitung 66-68. Eckert: G o t t - G l a u b e n und Wissen 9 S.o. S. 23 A n m . 3 7 und 38; außerdem unten A n m . 11 Dagegen leiden z.B. s o w o h l Wehrungs Behauptung des Ergänzungsverhältnisses zwischen Dialektik und Glaubenslehre (Wehrung: Dialektik 1 7 9 - 1 9 2 ; 2 3 4 u.ö.) als auch Odebrechts Behauptung des Widerspruchs zwischen Dialektik und Glaubenslehre (Odebrecht: G e f ü g e 2 9 5 f f ) schon rein f o r m a l gesehen daran, daß sie den wis-
I. Zur Leitfrage und zum Interpretationsansatz
265
male Rang eines Einzelthemas der Dialektik läßt sich nur im Blick auf den basalen Themenbestand der Schleiermacherschen Dialektik und im Blick auf die Gebundenheit des Einzelthemas in den Gesamtkontext der Dialektik erkennen. 10 Drittens: Die Einsicht in den Themenbestand und das kontextuelle Gefüge der Schleiermacherschen Dialektik hat dabei auch in der parallelen Verwendung verschiedener Fassungen von der durch Schleiermacher selbst indizierten Idee des Zusammenhanges der verschiedenen Fassungen und von dem durch Schleiermacher selbst geübten Verfahren des stetigen Bezuges auf die Fassung von 1814/15 ihren Ausgang zu nehmen. 11 Aus diesen Grundsätzen ergeben sich die den beiden Hauptteilen des Kapitels zugrundezulegenden Textkomplexe: im Abschnitt II werde ich mich überwiegend auf die Fassung des Jahres 1814/15 stützen - im Abschnitt III müssen dagegen insbesondere Schleiermachers Ausarbeitungen des Jahres 1822 berücksichtigt werden.
II. Der Ort der Anmerkungen zum transzendenten Grund der Identität des Wissens und des Seins im Kontext der Dialektik A . Die Aufgabe der Dialektik Unter den wissenschaftlichen Arbeitsgebieten Schleiermachers ist die Dialektik dem grundlegendsten Problem gewidmet, das im wissenschaftlichen Kontext überhaupt gestellt werden kann. Denn die A u f -
10
11
senschaftssystematischen Zusammenhang außer acht lassen und ihnen daher zur Deutung von Divergenzen in Schleiermachers Behandlung der Einzelthemen keine andere Möglichkeit als die der wertend verallgemeinernden Ausdehnung ihrer konkreten, einzelthematischen Teilbefunde auf das Gesamtverhältnis zwischen Dialektik und Glaubenslehre bleibt. Das theologisch (oder auch: durch Schleiermachers Glaubenslehre) motivierte Interesse an Teilthemen der Dialektik ist also unvermeidlich und auch so lange unproblematisch, wie es nicht zu einer perspektivisch verengenden Beschränkung des Interpretationsverfahrens führt (vgl. hierzu Arndt: Einleitung in DA2 X l f ) . Diese Zusammenhänge verschleiert Odebrecht, wenn er seine These einer durch die Beschäftigung mit der Hermeneutik 1822 ausgelösten Wende in editorischer Weise dadurch zu unterstützen sucht, daß er die Notizen der Vorlesung von 1822 von ihrem Bezugstext, dem Vorlesungsheft aus dem Jahre 1814/15 trennt und forsch von einem ,,neue[n] Vorlesungsentwurf" spricht, „der den Rahmen des früheren sprengt und nur noch in lockeren Paragraphenverweisungen die Fäden z u m alten Gespinst von 1814 hinüberwirft" (Odebrecht: Einleitung in D O XXI; vgl. dazu auch Arndt: Einleitung in DA2 Xlf).
266
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
gäbe der Dialektik besteht in der Klärung der Ermöglichungsbedingungen von Wissen überhaupt und in der Darstellung der Realisierungsgestalten des Wissens. Aus dieser prinzipiellen Funktion ergibt sich zunächst der (ja bereits oben im ersten Kapitel beschriebene 12 ) wissenschaftssystematische Ort der Dialektik: Die Dialektik vertritt die Stelle einer „obersten Wissenschaft" 13 , der alle Einzelwissenschaften subordiniert sind. Aus dieser prinzipiellen Funktion ergibt sich aber auch die sachliche Qualität der Dialektik: Sie hat den Status der „Selbstbesinnung" 14 . Damit ist bereits die erste und grundsätzliche Schwierigkeit der „,Elementarphilosophie'" 15 oder „,Wissenschaftslehre'" 16 „Dialektik" angedeutet: Diese Schwierigkeit besteht darin, daß „ ... der Gegenstand derselben gar nicht außerhalb der Untersuchung vorhanden ist also beide Eins und dasselbe sind." 17 Das heißt einerseits: die Dialektik profitiert selbst nicht von derjenigen Objektivierbarkeit ihres Gegenstandes, der für die aus der Dialektik ableitbaren Wissenschaftsgebiete gemeinsam konstitutiv ist. Vielmehr wird die Gegenstandsbezogenheit der realen Wissenschaften überhaupt erst sichergestellt werden können durch die die Ermöglichungsbedingungen sicherer Gegenstandsbezogenheit reflektierende, selbstbezügliche Dialektik. Damit trägt die Dialektik in der Tat ein „formales Gepräge" 18 , das sie von den ihr subordinierten Einzelwissenschaften kategorial unterscheidet. Andererseits liegt in dieser Selbstbezüglichkeit der Dialektik auch der Schlüssel zu ihrer Verbundenheit mit den Einzelwissenschaften. Denn die Selbstbezüglichkeit ist keinesfalls ein Selbstzweck - vielmehr steht die Aufgabe der Dialektik, die Ermöglichungsbedingungen und die Realisierungsgestalten des Wissens überhaupt zu erheben, in einer funktionalen Beziehung zu den Einzelwissenschaften. Denn die Notwendigkeit einer Wissenschaft von den Prinzipien des Wissens ergibt sich erst im Zusammenhang der Hervorbringung von Einzelwissen. Das Bestreben, sicheres Wissen zu produzieren, wirft die Frage nach dem Kriterium dieser Sicherheit auf (und wird als ein solches Doppelkriterium teils die Korrelation eines einzelnen Wissens mit einem ein12 13
S.o. S. 9 6 Birkner: Christliche Sittenlehre 3 1 , 1 0
14
D i l t h e y LS II/l 73.98
15
Scholtz: Philosophie Schleiermachers 104,5
16
Ebda. Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 2 D A 2 3 (DJ 1) Birkner: Christliche Sittenlehre 32,28
17 18
II. D e r O r t der A n m e r k u n g e n zum transzendenten G r u n d
267
zelnen Sein und teils die Korrelation des einen einzelnen Wissens mit einem anderen einzelnen Wissen erkennen). Damit sind also sowohl der äußere Anlaß der Dialektik als auch das Ziel der „Kunstlehre" 1 9 Dialektik praktisch motiviert, indem sie auf die Produktion realen Einzelwissens bezogen sind: Die Hervorbringung des Einzelwissens muß regulären Prinzipien folgen, um die die Sicherheit des Einzelwissens gefährdenden Differenzen zwischen Einzelwissen und Einzelwissen bzw. Wissen und Sein zu überwinden. Indem die Dialektik diese Prinzipien enthält 2 0 , schafft sie die Bedingung der Möglichkeit, den inneren Zusammenhang alles Einzelwissens herzustellen 2 1 und so die Sicherheit des Wissens zu gewährleisten. 2 2 Damit habe ich über den Anfang der Dialektik bereits weit hinausgegriffen. Doch scheint es mir aus vier Gründen gerechtfertigt, diese allgemeine und zugleich vorwegnehmende Aufgabenbestimmung der Dialektik an den Beginn des Referates zu setzen. Erstens besteht in der der Dialektik eigenen funktionalen Beziehung auf die Einzelwissenschaften die Begründung für die These, daß kein Teil des Schleiermacherschen Systems ohne die Kenntnisnahme der Dialektik vollständig verstanden werden könne. Die schlüsselhafte Funktion der Dialektik für das Schleiermachersche Gesamtsystem ist in der die Sicherheit jedes einzelnen Wissens in jeder einzelnen Disziplin entfaltenden Aufgabe der Dialektik begründet. Zweitens, der sich aus der funktionalen Anbindung der Dialektik an die Einzelwissenschaften ergebende enge systematische Zusammenhang weist auf einen signifikanten Unterschied zwischen dem Schleiermacherschen Programm einer Elemen19
20
Vgl. Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 56 D A 2 1 0 (DJ 24) u.ö. Vgl. dazu auch a.a.O. § 1 7 D A 2 4 (DJ 8) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 3 D A 2 3 (DJ 2)
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Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 4 D A 2 3 (DJ 2)
22
Man wird aus dieser A u f g a b e der Dialektik, „ G r u n d s ä t z e und Regeln f ü r das richtige D e n k e n zu entwickeln" (Birkner: Christliche Sittenlehre 36,2f), allerdings keine Fehlschlüsse auf das innerhalb der so funktionalisierten Dialektik eingeschlagene Verfahren ziehen dürfen. So gerät in der Einschätzung der Dialektik als „ .technische' Disziplin" (Herms: Psychologie 395) etwas aus dem Blick, daß innerhalb dieser funktionalisierten höchsten Wissenschaft dann natürlich auch ein transzendent b z w . transzendental argumentierender Untersuchungsgang seinen O r t hat, der als transzendentale Begründung f ü r die Idee des Wissens funktionalisiert wird. D e r A n spruch der Dialektik, eine transzendental argumentierende A r g u m e n t a t i o n v o r z u l e gen, bleibt auch unterbestimmt in den Überlegungen Benders, der die G r u n d l e g u n g des Systems b z w . des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls in Schleiermachers Psychologie sucht (Bender I, 3 - 7 2 ; Bender: Abhängigkeitsgefühl bes. 83). Vgl. z u r Funktion psychologischer A r g u m e n t e in transzendentalen Argumentationsgängen auch Scholz: C h r i s t e n t u m 12f und 51.
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Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
tarphilosophie und den von Schleiermachers philosophischen Zeitgenossen vorgestellten Konzeptionen einer höchsten Wissenschaft hin: Die Schleiermachersche Philosophie kennt keinen voraussetzungslosen, absoluten Anfang über den Einzelwissenschaften, sondern findet ihren Anfang in jedem Einzelwissen selbst 23 ; sie schafft das Prinzip des Wissens nicht eigenhändig, sondern rekonstruiert dieses Prinzip als immer schon wirksames. Drittens erschließt sich der Sinn des Aufbaus, den Schleiermacher der Dialektik gegeben hat, erst über die Einsicht in den funktionalen Charakter der Dialektik. Nicht nur die Zusammenstellung der Logik mit der Metaphysik, sondern auch die Gleichrangigkeit des Kriteriums der Intersubjektivität des Wissens mit dem Kriterium der Objektivität verdankt sich dem funktionalen Rahmen der Dialektik. Und viertens schließlich erleichtert die Einsicht in die für die Dialektik grundlegende Ubereinstimmung von Selbstbezogenheit und Gegenstandsbezogenheit den Einstieg in die Lektüre dieses rauhen Textes. Denn eben diese Ubereinstimmung bedingt die eigentliche Anfangslosigkeit und den notwendig zirkulären Charakter der Dialektik, anders gesagt: sie erklärt die unumgänglich introvertierte und hermetische äußere Textgestalt ebenso wie die im Falle der Dialektik gänzlich unvermeidbare Schwierigkeit der Aufgabe, „einen Anknüpfungspunkt zu finden."24 B. Die in der „Einleitung" in die Dialektik funktional begründete Doppelgestalt der Dialektik Ihren ersten, signifikanten Ausdruck verschafft diese Schwierigkeit sich darin, daß die doppelte Aufgabe der Dialektik und ihre sich daraus ergebende Zweiteilung auf keinen äußerlich feststehenden Kriterien beruht, sondern gerade solchen Grundsätzen folgt, die erst innerhalb der Dialektik zu gewinnen sind. Auch die Begründung von Form und Aufgabe der Dialektik ist also „gar nicht außerhalb der Untersuchung vorhanden" 25 , sondern wird zentrale Thesen der materialen Dialektik vorwegnehmen müssen: In der Struktur des Wissens selbst müssen die Ermöglichungsgründe dafür liegen, die Dialektik unter Wahrung ih-
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Scholtz: Schleiermacher-Dilthey 1 7 2
24
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 1 D A 2 3 (DJ 1) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 2 D A 2 3 (DJ 1)
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II. Der Ort der Anmerkungen zum transzendenten Grund
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res einheitlichen Wesens als Metaphysik und als Logik durchzuführen. Diesem Nachweis dient die „Einleitung" 2 6 in die Dialektik. 27 26
In dem hier zu gebenden Überblick über die „Einleitung" in die Dialektik möchte ich das meines Erachtens wesentliche Thema der Einleitung, die mit dem funktionalen Bezug der Dialektik auf die beiden konstitutiven Elemente des Einzelwissens begründete Doppelgestalt der Dialektik, in den Vordergrund stellen. Selbstverständlich behandelt Schleiermacher dieses Thema in den Einleitungsparagraphen in unterschiedlicher Intensität und aus verschiedenen Perspektiven. Um den Uberblick zu erleichtern, scheint es mir sinnvoll, zunächst denjenigen Gliederungsaufriß der Einleitung kurz vorzustellen, an den sich meine Interpretation anlehnt. Die Einleitung der Dialektik-Fassung von 1814/15 besteht aus neun Hauptteilen. In den §§ 1-9 thematisiert Schleiermacher die Selbstbezogenheit der Dialektik. In den §§ 10-12 stellt er den Zusammenhang zwischen der Dialektik und dem Einzelwissen her. In den §§ 13-16 werden die beiden Teile der Dialektik aus den beiden Elementen des Wissens abgeleitet. Der § 17 rundet die ersten drei Einleitungsteile ab, indem er die Bezeichnung „Dialektik" begründet. Es folgen zwei Begründungsgänge für den Zusammenhang der beiden Teile der Dialektik: Der erste Begründungsgang wird durch die §§ 18-33 gebildet, indem Schleiermacher die qualitative Unterschiedenheit der höchsten Wissenschaft Philosophie von den realen Einzelwissenschaften unter Zugrundelegung der Parameter der Kenntnis der Wissensprinzipien („Wissenschaft") und der Anwendung der Wissensprinzipien („Kunst") beschreibt: Daß in der Philosophie (als Dialektik Schleiermacherschen Gepräges) die Kenntnis und die Anwendung der Wissensprinzipien nicht auseinandertreten, begründet ihren prinzipiellen Charakter. In den §§ 34-44 schiebt Schleiermacher eine philosophiegeschichtliche Selbstverortung des von ihm intendierten Dialektik-Programmes ein. Der zweite Begründungsgang für den Zusammenhang des transzendentalen und des formalen Teiles der Dialektik findet sich in den §§ 45-54: Die Dialektik als Ganze ist „Kunst des Gedankenwechsels" (§§ 45-51 a), ihre beiden Teile werden durch eine Zusammenstellung der Wissensprinzipien und eine Zusammenstellung der Konstruktionsformeln für das Wissen gebildet (§§ 51b-54). In den §§ 55-68 relativiert Schleiermacher wiederum den Gegensatz zwischen dem höchsten Wissen und dem Einzelwissen, indem er nun die Angewiesenheit der höchsten Wissenschaft auf das als Einzelwissen bereitgestellte Material akzentuiert. Die §§ 69-74 bieten erneut philosophiegeschichtliche Abgrenzungen, und in den §§ 75-85 werden aus der in der Einleitung statuierten Korrespondenz zwischen der höchsten Wissenschaft und dem Einzelwissen verfahrenstechnische Grundsätze für die beiden Hauptteile der Dialektik abgeleitet: Wissensprinzip und Verknüpfungsregeln sind in jedem Einzelwissen enthalten und müssen also aus jeder empirisch gegebenen realen Wissensform erhoben werden können. Der Gegensatz zwischen transzendentalem und formalem Teil besteht nur als relativer Gegensatz. Zur terminologischen Durchführung der Einleitung ist anzumerken: Schleiermacher bedient sich in der Entfaltung einer Reihe von terminologischen Zusammenordnungen, die nicht erklärend eingeführt werden, sondern erst im Verlaufe der Argumentation nachträglich erschlossen werden können. Obwohl die gewählte Begrifflichkeit in der Tat für den Grundgedanken der Einleitung keine tragende Funktion hat, seien der Leseerleichterung halber die wichtigsten terminologischen Distinktionen bereits hier mitgeteilt: Schleiermacher unterscheidet zwischen dem Philosophieren als dem wissenserzeugenden Akt und der Philosophie als dem wissenbeinhaltenden Zustand (Dial 1814/15, Einl. §§ 4-6 DA 2 3 [DJ 2f]). Im Philosophieren sind in allgemeinster Hinsicht zwei gleichberechtigte Tätigkeiten zu unterscheiden, die Prinzipienkenntnis und die Prinzipienanwendung, „Theorie" und
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Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
Im Rahmen dieser Einleitung kommt nun den §§ 13-16 eine zentrale Funktion zu 2 8 , insofern sich hier der Kern des den Nachweis tragenden Gedankenganges findet. Dieser Gedankengang wird durch die voranstehende Passage der §§ 10-12 vorbereitet, in denen Schleiermacher den funktionalen Bezug der die Wissensprinzipien enthaltenden höchsten Wissenschaft „Dialektik" auf das Einzelwissen zunächst thetisch behauptet: Um die ungeordnet gesammelten Daten in reales Einzelwissen zu überführen, bedarf es der philosophischen Durchdringung der Wahrnehmungen des Bewußtseins. Der Philosophie obliegt die Ordnung und Bewertung des Wissensmaterials als Vergegenwärtigung des inneren Zusammenhanges alles einzelnen Wissens. So verwandelt sie traditionelles Wissen in reales Wissen. 29 Der § 13 knüpft an diesen funktionalen Bezug an und leitet dessen Begründung durch die Benennung der beiden wesentlichen „Elemente der Natur des Wissens" 30 ein: „Jedes einzelne Wissen hängt auf eine zwiefache Weise vom Philosophischen ab; in wiefern es sich auf früheres Wissen bezieht als Verknüpfung und in wiefern es sich auf einen Gegenstand bezieht als den innersten Gründen des Wissens und seines Zusammenhanges mit dem Sein unterworfen." 3 1 Festzuhalten ist also zunächst, daß Schleiermacher zwei Wesensmerkmale alles Einzelwissens statuiert, nämlich dessen Bezogenheit auf anderes Einzelwissen und dessen
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28 29 30 31
„ A u s ü b u n g " (Dial 1814/15, Einl. § 32 D A 2 6 [ D J 14]). Entsprechend besteht die Philosophie aus den beiden Zweigen „Wissenschaft" und „Kunst" (Dial 1814/15, Einl. § § 18-21.33.34 D A 2 5-7 [ D J 9f.l5]). Das - unter anderem die Bezeichnung gebende - S p e z i f i k u m der Dialektik besteht nun darin, daß in ihr beide philosophierende Tätigkeiten b z w . beide philosophische Z w e i g e vereinigt sind (Dial 1814/15, Einl. § § 3 f . l 7 . 5 1 b - 5 2 . D A 2 3f.9f [ D J 2.8.22]). Dieser A u f g a b e der „Einleitung" halber scheint mir auch das Vorgehen Reuters (Reuter: Einheit) problematisch, auf die Berücksichtigung der Einleitung zu verzichten. D e n n Reuters Vermutung, daß sich „im immanenten Vollzug der Gedank e n e n t w i c k l u n g des Hauptteils der Dialektik diejenigen Gesichtspunkte einstellen w e r d e n , die in der Einleitung abstrakt u n d thetisch angesprochen sind" (a.a.O. 20,47), ist völlig zutreffend - aber der von ihm vermutete Sachverhalt ist eben gerade durch den selbstbezüglichen, metareflexiven C h a r a k t e r der Dialektik insgesamt determiniert u n d könnte also im R a h m e n einer ,,systematische[n] Interpretation" der D i a l e k t i k (a.a.O. 17; vgl. auch den Untertitel der A r b e i t ) als deren erste sachliche Pointe E r w ä h n u n g finden. D a r ü b e r hinaus birgt die Vernachlässigung der Einleit u n g s p a r a g r a p h e n auch die Gefahr einer U n t e r s c h ä t z u n g von F u n k t i o n und Rang des f o r m a l e n Teiles der Dialektik, dessen Interpretation von Reuter dann auch ausgespart w i r d . Die zentrale Stellung der § § 13-16 belegt auch Scholtz: Schleiermacher-Dilthey 177. Dial 1814/15, Einl. § 3-12 D A 2 3f ( D J 2 - 5 ) So später Dial 1814/15, Einl. § 21 D A 2 5 (DJ 10) Dial 1814/15, Einl. § 13 D A 2 4 ( D J 6)
II. D e r O r t der A n m e r k u n g e n z u m transzendenten G r u n d
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Bezogenheit auf einen Gegenstand. Damit betrifft das erste Merkmal den syntaktischen Aspekt des Einzelwissens, das zweite Merkmal seinen semantischen Aspekt. Jedes Einzelwissen ist deshalb in eine doppelte Relationalität eingebunden, indem es einen Wissensbezug und einen Seinsbezug aufweist. 3 2 N u n bestehen beide Relationen aber keinesfalls in kontingenter Weise, sondern sie sind Ausdruck der Idee des Wissens bzw. der Idee des Seins: Die Verknüpftheit des Einzelwissens ist Ausdruck der inneren Einheitlichkeit des Wissens, die Gegenstandsbezogenheit des Einzelwissens ist Ausdruck der Einheit von Wissen und Sein. Wollte man diese Relationen zum Gegenstand der philosophischen Reflexion machen, so hätte man zwei traditionelle Disziplinen zu bemühen: Die Einheit von Wissen und Sein wäre das Thema der Metaphysik, die innere Kohärenz des Wissens wäre das Thema der Logik. So enthält jedes Einzelwissen einen zweifachen Bezug auf die Philosophie. An diese Bestandsaufnahme knüpft der folgende Paragraph an. Er entfaltet die für die gesamte Dialektik zentrale These Schleiermachers: Die Verknüpfung des Gewußten entspricht der Verknüpftheit des Seienden. Die Verknüpfungen, die das Wissen vornimmt, folgen derjenigen Ordnung, in denen die Dinge immer schon stehen: „Die Regeln der Verknüpfung wenn man sie wissenschaftlich besizen will, sind nicht von den innersten Gründen des Wissens zu trennen. Denn um richtig zu verknüpfen kann man nicht anders verknüpfen als die Dinge verknüpft sind, wofür wir keine andere Bürgschaft haben als den Zusammenhang unseres Wissens mit den Dingen." 3 3 Eine zentrale Stellung ist dieser These m.E. deswegen zuzuschreiben, weil aus ihr der thematische Ansatz, die materiale Durchführung und das notwendige Ziel der Dialektik bereits ablesbar sind. Denn erstens spiegelt sich in ihr die leitende philosophische Grundposition Schleiermachers wider: Das Wissen vermag über die Erscheinungswelt hinaus die Dinge an sich selbst zu erfassen, bedient sich dabei aber einer außerhalb seiner selbst und außerhalb der Dinge liegen32
Schleiermacher nimmt hier also bereits die Theorie der beiden konstitutiven Elemente des Wissens v o r w e g , die er erst unten, im transzendentalen Teil der Dialektik, wird z u s a m m e n h ä n g e n d entfalten können: Dial 1814/15, T l . l §§ 87ff D A 2 16ff ( D J 43ff); vgl. d a z u auch Scholtz: Philosophie Schleiermachers 104f. D a m i t finden also bereits hier die vorangegangenen A u s f ü h r u n g e n über die Anfangslosigkeit und Selbstbezüglichkeit der Dialektik und ihre daraus sich ergebende n o t w e n d i g antizipatorische Gestalt eine erste Bestätigung: Dial 1814/15, Einl. §§ 1.2.7.8 D A 2 3 ( D J 1.3).
33
Dial 1814/15, Einl. § 14 D A 2 4 ( D J 7)
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Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
den vergewissernden Instanz. 3 4 Zweitens: Ist damit eine Identität der Seinsformen und der Denkformen behauptet, so gilt es, diese Behauptung von beiden Seiten aus zu belegen: Es ist zu zeigen, daß nicht nur keine Formen des Seins denkbar sind, denen eine Entsprechung in den F o r m e n des Denkens fehlte, sondern daß sich auch keine Form des Denkens aufweisen läßt, der nicht eine Form des Seins korrespondieren würde. Damit ist der Argumentationsgang der Dialektik vorgezeichnet. Schließlich drittens wirft die skizzierte Grundposition die Frage nach dem Gewißheitsgrund für den Realgehalt des Gewußten in einer komplexen Weise auf: Bezieht sich das Wissen nicht nur auf die Erscheinungswelt, sondern auf die Dinge selbst, so ist eine Instanz anzunehmen, die a) die Realität des Gewußten und b) die Realität des Seienden als eine einzige, einheitliche Realität erschließt. Diese realitätsgarantierende Instanz kann also weder aus dem Wissen noch aus dem Sein allein abgeleitet werden, sie muß vielmehr als Realität schlechthin erschlossen werden, und ihr muß ein Manifestationsort im sowohl wissenden als auch seienden Subjekt zugewiesen werden können. D o c h zunächst greift der folgende § 15 die Behauptung der Identität zwischen Wissensformen und Seinsformen auf und präzisiert sie: „Die Einsicht in die N a t u r des Wissens als auf die Gegenstände sich beziehend kann sich in nichts anderem aussprechen und verkörpern als in den Regeln der Verknüpfung. Denn Sein und Wissen kommen nur vor in einer Reihe von verknüpften Erscheinungen." 3 5 Damit wiederholt Schleiermacher die bereits aus dem § 14 bekannte Eingangsthese vom unlöslichen Zusammenhang zwischen Wissen und Sein, aber er trägt sie aus der entgegengesetzten Perspektive vor: Wurde im § 14 die Frage nach den Regeln der Verknüpfung des Wissens mit dem Hinweis auf die Verknüpftheit der Dinge beantwortet, so wird im § 1 5 die Frage nach der Struktur der Verknüpftheit der Dinge mit 34
35
D a ß diese Leitthese in einer durch die Kantische Philosophie geprägten Atmosphäre entstanden ist und zugleich als deren Uberbietungsversuch verstanden werden muß, springt ins Auge. D o c h liegt eine philosophiegeschichtlich einordnende Würdigung dieser Leitthese außerhalb des hier beabsichtigten Uberblicks und außerhalb des A n satzes dieser Arbeit. Inwiefern diese Leitthese durch die Kantische Philosophie m o tiviert ist, akzentuiert am deutlichsten Dilthey: LS I I / l 67-227; inwiefern sie als Weiterentwicklung der Philosophie Jacobis zu verstehen ist, entfaltet Herms: H e r k u n f t . Einen Kurzüberblick über die hier angesprochenen verwandtschaftlichen Beziehungen bietet Scholtz: Philosophie Schleiermachers 104-108 u n d ders.: SchleiermacherDilthey 171-183. Dial 1814/15, Einl. § 15 D A 2 4 (DJ 7)
II. Der Ort der Anmerkungen zum transzendenten Grund
273
dem Hinweis auf die Verknüpfungsregeln des Wissens beantwortet. Dennoch folgt Schleiermachers Argumentation keiner tautologischen Zirkelstruktur. Vielmehr ist in den beiden perspektivisch unterschiedenen Aussagen durchgängig der Primat der Verknüpftheit der Dinge vorausgesetzt, wogegen die Verknüpfungsregeln des Wissens als der abgeleitete Ausdruck der Verknüpftheitsstruktur des Seins aufgefaßt werden müssen. Im § 16 bezieht Schleiermacher die vorangegangenen Leitgedanken dann auf die Gegenstände der klassischen philosophischen Disziplinen und entwickelt deren wissenschaftstheoretischen Zusammenhang: Fallen die Regeln der Verknüpfung des Wissens in das Gebiet der Logik bzw. der formalen Philosophie und gehört die Struktur der Verknüpftheit des Seienden zum Themenbestand der Metaphysik bzw. der transzendentalen Philosophie, so gilt: „Also Logik, formale Philosophie, ohne Metaphysik, transcend[entale] Philosophie ist keine Wissenschaft und Metaphysik ohne Logik kann keine Gestalt gewinnen als eine willkührliche und fantastische." 3 6 Dieses Postulat gewinnt seine Gültigkeit durch den Bezug auf das Axiom der Korrespondenz zwischen Wissen und Sein und muß folgendermaßen begründet werden: Der innere Grund des Wissens, die Entsprechung zwischen Wissen und Sein, verbietet eine isolierte Entfaltung der Transzendentalphilosophie ohne Rekurs auf deren logischen Gesetze, denn die Metaphysik wäre eine Sammlung unkontrolliert verknüpften Einzelwissens. Ebenso gilt umgekehrt: Der innere Grund des Wissens, die Entsprechung zwischen Wissen und Sein, verbietet eine separate Bearbeitung der Logik ohne die Berücksichtigung ihrer transzendentalen Fundiertheit, denn die Logik verlöre die Sicherheit ihres Gegenstandes. Damit ist der Zielpunkt dieses wesentlichen Abschnittes §§ 13-16 erreicht. Zwei Ergebnisse sind zu notieren: Erstens konnte Schleiermacher die Gliederung der Dialektik in zwei gleichrangige Hauptteile, nämlich in einen transzendentalen und in einen formalen Teil, aus der Idee des Wissens selbst entwickeln. Zweitens ist es Schleiermacher gelungen, die Funktion der Dialektik für das Einzelwissen auf beide Elemente der Natur des Wissens zu beziehen: Während die Logik die Verknüpfung des Einzelwissens mit anderem Einzelwissen vornimmt, überprüft die Metaphysik den Gegenstandsbezug des Einzelwissens. Erst die doppelte Durchdrungenheit des Einzelwissens in der Logik
36
Dial 1814/15, Einl. § 16 D A 2 4 (DJ 7)
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Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
und in der Metaphysik, in der formalen und in der transzendentalen Philosophie, stellt die Entsprechung des Wissens mit dem Sein sicher. Die folgenden Abschnitte der Einleitung füllen nun den in den §§ 13-16 gewonnenen Rahmen, indem sie teils die Einzelaufgaben beider Teile und teils auch die die Eigenart des Schleiermacherschen Dialektik-Programmes ausmachende funktionale Einheit beider Teile unter verschiedenen Perspektiven eingehender beschreiben. 37 Dabei möchte ich kurz auf folgende mir für den hier vorliegenden Zusammenhang relevant erscheinenden Punkte hinweisen: Zum einen spezifiziert Schleiermacher die jeweilige Funktion und das jeweilige Ziel der beiden (vorläufig ja in schematischer Weise mit den traditionellen Bezeichnungen versehenen) Hauptteile. Dem ersten (transzendentalen) Teil kommt dabei überwiegend eine fundierende Funktion zu: Er untersucht die allgemeinen Ermöglichungsgründe des Wissens, er enthält eine Theorie der Prinzipien und der Gründe des Wissens. Dem zweiten (formalen) Teil weist Schleiermacher dagegen eine überwiegend praktische Aufgabe zu: er soll die Regeln zur Wissensproduktion enthalten. Damit umfaßt der erste Teil also eine Grundlagentheorie des Wissens. Seine Funktion besteht darin, die letzten Prinzipien alles Wissens 3 8 , den Grund alles Wissens 3 9 zur „Klarheit" 4 0 zu bringen. Dagegen wird der zweite Teil als Anweisung zur Hervorbringung realen Wissens zu verstehen sein. Seine Aufgabe besteht darin, die Konstruktion 4 1 des Wissens zu ermöglichen. Zum anderen widmet Schleiermacher dem Korrespondenzgefüge beider Dialektik-Teile ausführliche Aufmerksamkeit. Die doppelgestaltige, paritätische Durchführung der höchsten Wissenschaft hat Schleiermacher selbst zur obersten Forderung an jedes Konzept einer Fundamentalphilosophie erhoben und zum Leitgesichtspunkt des Aufbaus seiner Dialektik gemacht. 42 Entsprechend gewissenhaft ist die Begründung dafür, warum keiner der beiden Teile auf den je anderen Teil verzichten kann, so daß beide Teile einander bedingen und erfordern. In dieser Begründung kreuzen sich zwei miteinander verschränkte Gedankengänge. Der erste betrifft die innere Angewiesen37 38 39 40 4' 42
Z u m U b e r b l i c k über diese Abschnitte s.o. A n m e r k u n g 2 6 Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 52 D A 2 9 (DJ 22) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 4 6 D A 2 8 (DJ 18) Dial Dial Vgl. (DJ
1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 52 D A 2 9 (DJ 22) 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 4 7 . 5 1 b D A 2 8f (DJ 19.22) den philosopiegeschichtlichen Abschnitt Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. §§ 34-44 D A 2 7f 15-17)
II. D e r O r t der A n m e r k u n g e n z u m transzendenten G r u n d
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heit des je einen Teiles auf den je anderen, die sich aus dem Binnencharakter jeder Teilfunktion ergibt. Der zweite betrifft die Ausgangssituation des Philosophierens überhaupt und das zur Bewältigung dieser Ausgangssituation erforderte allgemeinste Ziel der Dialektik. Zunächst der erstgenannte Gedankengang 4 3 , der den inneren Zusammenhang beider Teile der Dialektik betrifft: Die Prinzipien des Wissens können nur als konstruiertes Wissen zur beabsichtigten Klarheit gebracht werden - umgekehrt lassen sich die Konstruktionsregeln nur aufstellen in der Anknüpfung an die Prinzipien des Wissens. Anders gewendet: Die Erhebung der Prinzipien des Wissens dient in vermittelter Weise selbst auch der Produktion von Wissen - wie umgekehrt die Produktionsregeln auch Regeln zur Erhebung der Prinzipien des Wissens sind. Jedes dialektische Wissen ist zugleich gewußtes und angewandtes Wissen, ist zugleich „Theorie" und „ A u s ü b u n g " 4 4 - der theoretische und der poietische, der wissenschaftliche und der künstlerische Aspekt sind im philosophischen Wissen nicht zu trennen. 45 Der zweite Gedankengang 4 6 begründet das Wechselverhältnis der beiden Disziplinen mit dem Einsatzpunkt und dem Zielpunkt des in der Dialektik anvisierten Philosophierens überhaupt. Die Ausgangssituation besteht in dem empirischen Nebeneinander einander widerstreitender Gedanken 4 7 , die in ein widerspruchsfreies Verhältnis zueinander gebracht werden müssen: Es gilt, die „Differenz des Denkens" zur „Uebereinstimmung" 4 8 zu bringen. 49 Der Zielpunkt des einheit43 44 45 46 47
Dial 1814/15, Einl. §§ 17-33 D A 2 4-7 ( D J 8-15) Dial 1814/15, Einl. § 32 D A 2 6 ( D J 14) Dial 1814/15, Einl. § 33 D A 2 6f ( D J 15) Dial 1814/15, Einl. § 45-54 D A 2 8-10 ( D J 17-23) Darin ist also bereits der erst im transzendentalen Teil der Dialektik zu entfaltende Unterschied zwischen D e n k e n und Wissen v o r w e g g e n o m m e n : D e r G e d a n k e ist vorläufiges Wissen, dessen Intersubjektivität oder dessen Objektivität noch nicht sicher erwiesen ist. (Vgl. hier den ersten Abschnitt des transzendentalen Teiles Dial 1814/15, T l . l §§ 86-137 D A 2 15-28 [ D J 39-78])
48
Dial 1814/15, Einl. § 45 D A 2 8 ( D J 17)
49
D e r klassische Sitz dieses Vorganges ist in der Tat die Situation des G e s p r ä c h e s , die Schleiermacher insbesondere 1822 (Dial 1822 [Ms.], I-III. Stunde, D O 48-57 [ D J 370-374]) und 1833 (Einleitung in die Dial 1833, § 1, D A 2 117-126 [ D J 568577]) als den charakteristischen situativen Einsatzpunkt des dialektischen Vorgehens beschrieben hat. D o c h zeigt der T e x t b e f u n d , daß Schleiermacher die G e s p r ä c h s s i t u a tion zwar als den signifikanten, aber keinesfalls als den einzigen Manifestationsort gedanklicher D i f f e r e n z kennt. D i e monologischen F o r m e n der R e f l e x i o n werden ausdrücklich als die zwar abgeleiteten, aber für die Entstehung des Wissens doch fundamentalen F o r m e n bestimmt: „ D i e K u n s t des G e s p r ä c h f ü h r e n s ist auch die des Lesens und Schreibens, was die G e d a n k e n betrifft, ja auch die der eignen G e d a n k e n -
276
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
l i e h e n V e r f a h r e n s b e s t e h t in d e r „ C o n s t r u c t i o n d e s O r g a n i s m u s Wissens"
50
als d e m I n b e g r i f f des n a c h U m f a n g u n d
des
Zusammenhang
v o l l s t ä n d i g e n , m a n n i g f a l t i g e n E i n z e l w i s s e n s . D a z u ist also
zunächst
die K e n n t n i s v o n W i s s e n s p r i n z i p i e n v o n n ö t e n : als M a ß s t a b z u r k r i t i s c h e n B e u r t e i l u n g des ( d i f f e r e n t e n ) E i n z e l w i s s e n s e b e n s o w i e als M o tiv d e r W i s s e n s k o n s t r u k t i o n . 5 1 D a r ü b e r h i n a u s b e d a r f es a b e r a u c h d e r K e n n t n i s d e r K o m b i n a t i o n s g e s e t z e d e s W i s s e n s : Sie d i e n e n ebenfalls gleichermaßen d e m kritischen wie d e m konstruktiven Gebrauch.52 D i e „ E i n l e i t u n g " s t a t u i e r t also e i n e v o l l s t ä n d i g e
Gleichwertigkeit
beider Teilaufgaben und beider Teilabschnitte der Dialektik. N a c h d e m i c h i m f o l g e n d e n A b s c h n i t t ( C ) ja k e i n e s y s t e m a t i s c h e
Interpretation
d e r D i a l e k t i k b e a b s i c h t i g e , s o n d e r n eine V e r o r t u n g d e r in der D i a l e k tik e n t h a l t e n e n A u s f ü h r u n g e n z u r R e p r ä s e n t a n z d e s
transzendenten
G r u n d e s i m G e f ü h l leisten will, w e r d e i c h m i c h n u n a u s s c h l i e ß l i c h a u f
entwicklung und Gedankenänderung. Wenn wir nun aber denken einige in einigem bis dahin gekommen, daß sie zu wissen (d.h. ihre Gedanken nicht mehr ändern zu können) glauben, und ist dies wirklich wahr, so sind sie zu diesem Wissen nur gekommen durch die Kunst des Gesprächführens in jener weiteren Bedeutung." (Dial 1822 [Ms.], II. Stunde, D O 52,23-30 [DJ 371]). Ebenso 1833: „Aehnlicherweise wird auch der Ausdrukk Gesprächführung in dem weiteren Sinne verstanden, in welchem dabei nicht schlechthin wenigstens zwei denkende Einzelwesen vorausgesetzt werden, sondern einer auch Gespräch mit sich selbst führen kann, sofern nur zwei verschiedene und auseinandergehaltene Folgen von Denkthätigkeiten wechselnd auf einander bezogen werden." (Einleitung in die Dial 1833, § 1.1, DA 2 117 [DJ 568f]; Hervorhebung im Original) Die klassische Gesprächssituation wird von Schleiermacher also mit vorwiegend erläuternder Absicht eingeführt: In beispielhafter Weise wird der Sachverhalt der gedanklichen Differenz in der intersubjektiv dialogischen Kommunikationssituation anschaulich. Doch scheint es mir verfehlt, unter Berufung auf diese Veranschaulichung die Dialektik in die Nähe einer Gesprächstheorie zu rücken (so z.B. Odebrecht: Einleitung V - X I X ; Pohl: Studien 39-49; Pohl: Sprache 303f; Kaulbach: Schleiermachers Idee der Dialektik 226-228 und 254-260; Kimmerle: Dialektik 4446). Diese Auffassung deutet die Dialektik einseitig von der Hermeneutik her und verbindet sich im extremen Falle auch mit dem Bemühen, die Hermeneutik als adäquaten wissenschaftlichen „Gegenpol" zur Dialektik etablieren zu wollen (so z.B. Odebrecht: a.a.O. XXIII.; Potepa: Hermeneutik und Dialektik). Dies ist jedoch - abgesehen von internen sachlichen Gründen - schon aus wissenschaftssystematischen Gründen ausgeschlossen, nachdem Schleiermacher die Hermeneutik eindeutig den technischen Disziplinen zurechnet (vgl. Ethik [Einl u. Gtl] 1812/13, Ε 356 [§ 189]; K D 2 § 132. Dazu auch Wagner: Dialektik 30). Zur wissenschaftssystematischen Stellung der Hermeneutik vgl. Dilthey: LS II/2, 691-698; den exemplarischen Charakter der Gesprächssituation und die sachliche Verwandtschaft der Dialektik-Definitionen vor und nach 1822 hält auch Wagner: Dialektik 29-31 in überzeugender Weise fest. 50 51 52
Dial 1814/15, Einl. § 47 DA 2 8 (DJ 19) Dial 1814/15, Einl. §§ 48.52 DA 2 8f (DJ 20.22) Dial 1814/15, Einl. §§ 47.51b DA 2 8f (DJ 19f.22)
II. D e r O r t der A n m e r k u n g e n z u m transzendenten G r u n d
277
den ersten, transzendentalen Teil der Dialektik konzentrieren müssen. Dabei muß als Ergebnis des Uberblicks über die Einleitung in die Dialektik aber der zweckbestimmte, funktionale Charakter sämtlicher Ausführungen des ersten Teils festgehalten werden: Alle dort gebotenen Darlegungen Schleiermachers verdanken sich - wie in der Einleitung deutlicher ausgesprochen wird als im ersten Teil selbst - dem Zweck, Anleitungen zur Produktion sicheren Wissen und Anleitungen zur Beurteilung der Gewißheit des gegebenen Wissens bereitzustellen. Die Ausführungen auch des ersten Teils der Dialektik wollen in ihrem notwendig selbstbezüglichen und permanent antizipierenden Charakter doch stets als „Organon" 5 3 bzw. als „Mittel" 5 4 verstanden werden. C. Die Leitgedanken des ersten, transzendentalen Teiles der Dialektik Zu Beginn des ersten, transzendentalen Teiles 55 benennt Schleiermacher eine Reihe von Grundunterscheidungen, die im Verlauf der Entfaltung beider Dialektik-Teile eine tragende Funktion übernehmen werden. Deren erste betrifft den Unterschied zwischen D e n ken und Wissen und bestimmt das Wissen als die zum Abschluß gelangte Sonderform des Denkens 5 6 : Wissen ist dasjenige Denken, dessen Inhalt intersubjektiv identisch produziert wird und dessen Inhalt eine objektive, vollständige Entsprechung mit dem gedachten Gegenstand aufweist. 57 Wie aber kommen Intersubjektivität und Objektivität zustande? Zur Beantwortung dieser Frage ist der Akt der Wissensproduktion, der Vorgang des Denkens zu betrachten. Für diesen Denkvorgang ist nun eine weitere an den Anfang des transzendentalen Dialektik-Teiles gestellte Grundunterscheidung einschlägig: In Anknüpfung an die Kantische Unterscheidung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit 58 bestimmt Schleiermacher das Denken als 53
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 5 1 b D A 2 9 ( D J 2 2 )
54
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Einl. § 52 D A 2 9 ( D J 2 2 )
55
Ich orientiere mich in dem Referat der Leitgedanken des ersten Teiles der Dialektik an der oben im ersten Kapitel (S. 68ff) gegebenen Gliederungsübersicht, hebe jedoch auch hier die mir für den vorliegenden Z u s a m m e n h a n g wesentlich erscheinenden und auf das mich hier beschäftigende T h e m a hinführenden Gedankengänge hervor. Ein systematisch erschöpfendes Referat des ersten Dialektik-Teiles liegt außerhalb des Interesses und außerhalb der Möglichkeit dieses Abschnittes.
56
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l §§ 8 6 . 1 0 0 D A 2 1 5 f . l 8 (DJ 3 9 - 4 2 . 5 2 f )
57
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 87 D A 2 16 ( D J 4 3 )
58
Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft, zweite Auflage, Riga 1 7 8 7 , 2 9 f . 3 3 . 7 5 f u.ö.; vgl. Dilthey L S I I / l 1 0 9 - 1 1 8
278
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
Verknüpfung der beiden elementaren Erkenntnisfunktionen, der intellektuellen Funktion und der organischen Funktion. 59 Dabei ist die organische Funktion für die Rezeption der Sinneseindrücke zuständig. So gibt sie dem Denken seinen Stoff und vermittelt dessen unbestimmte Mannigfaltigkeit. Das Produkt der organischen Funktion besteht in den Urteilen. 60 Die intellektuelle Funktion dagegen ist für die Ordnung des sinnlich vermittelten Materials zuständig. Sie überführt den Stoff des Denkens in eine strukturierte Einheit bzw. Vielheit und bestimmt so die Form des Denkens.61 Die charakteristische Leistung der intellektuellen Funktion besteht in der Bildung der Begriffe.62 Jede schematische Deutung des Verhältnisses von intellektueller und organischer Funktion wird freilich als Mißverständnis abgewehrt. In jedem wirklichen Denkakt sind beide Denkfunktionen in konstitutiver Weise aufeinander angewiesen: Tritt eine der beiden Funktionen isoliert auf, so wird ihre Verrichtung nicht mehr als Denken verstanden werden können 63 , das Ziel des Wissens wird verfehlt werden müssen64 und weder Begriff noch Urteil werden produziert werden können 65 . Andererseits werden beide Funktionen nicht immer in völlig ausgewogener Weise nebeneinander agieren, sondern in der Mehrzahl der Denkakte wird das Uberwiegen entweder der intellektuellen oder der organischen Funktion zu bemerken sein.66 Damit hat Schleiermacher die Grunddaten der transzendentalen Erörterung fixiert. Sie tragen einen programmatischen Charakter, und in ihnen ist zugleich die Hauptaufgabe des transzendentalen DialektikTeiles vorgezeichnet. Es gilt, die Behauptung von der Objektivität des Wissens argumentativ zu untermauern - der transzendentale Teil wird die Frage nach dem Gewißheitsgrund der Entsprechung von Wissen und Sein zu beantworten haben. In dieser Behauptung wird man die Kernthese des ersten Teiles der Dialektik zu erblicken haben67, 59
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l §§ 92.98 D A 2 17f (DJ 4 7 . 5 1 f )
60
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 189f D A 2 49f (DJ 1 2 2 f )
61
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 1 1 8 f D A 2 22f (DJ 6 3 f ) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 175f D A 2 3 9 - 4 1 (DJ 1 0 2 - 1 0 6 )
62 63
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l §§ 1 0 7 - 1 0 9 . 1 1 4 D A 2 2 0 . 2 2 (DJ 55-57.60)
64
Vgl. Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 1 3 0 D A 2 2 6 (DJ 7 4 f ) mit Dial 1814/15, Tl.l § 1 1 5 D A 2 2 2 (DJ 61 f ) Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 1 7 7 . 1 9 1 D A 2 41.50f (DJ 1 0 6 - 1 0 8 . 1 2 4 )
65 66 67
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 1 1 5 - 1 1 7 D A 2 22f (DJ 6 1 f ) A u f die philosophiegeschichtliche Dimension dieser Kernthese - nämlich: ihren G e halt als Uberbietungsversuch Kants - machen Pohl: Studien 8 2 - 8 9 und bündig auch Scholtz: Schleiermacher-Dilthey 174f aufmerksam.
II. Der Ort der Anmerkungen zum transzendenten Grund
279
und Schleiermacher ist sich des hohen Anspruches dieser Kernthese bewußt gewesen. Gleich zu Beginn des transzendentalen Teiles antizipiert er eine Reihe von denkbaren Einwänden gegen diese Kernaussage und beantwortet sie - in zunächst noch nur thetischer Weise - mit dem Ort der Entsprechung von Wissen und Sein. D e m (in verschiedener Ausprägung vorgetragenen 6 8 ) Einwand der kategorialen Verschiedenartigkeit von Wissen und Sein und daraus folgend dem Einwand der logischen Unzulässigkeit ihrer Identifikation 6 9 begegnet Schleiermacher mit dem stereotypen Hinweis auf die Vermitteltheit von Wissen und Sein im Selbstbewußtsein: die Zusammenstimmung von Wissen und Sein, 70 die Unterschiedenheit des Wissens vom Sein 71 und das Korrespondenzverhältnis von Wissen und Sein 72 sind im Selbstbewußtsein unabweisbar gegeben. Daraus ergibt sich das Verfahren und das argumentative Ziel des transzendentalen Dialektik-Teiles: Der Erweis der Korrespondenz zwischen Wissen und Sein wird auf dem komplizierten Wege des Einzelnachweises durchzuführen sein, indem die Entsprechung der einzelnen Wissensformen mit den einzelnen Seinsformen („die reale Beziehung in welcher die Totalität des Seins mit der Organisation steht" 7 3 ) belegt werden muß. Dabei wird sich die Eigentümlichkeit ergeben, daß Wissens- und Seinsformen sich einerseits lückenlos entsprechen, andererseits ein diese Entsprechung garantierender innerer Grund weder aus dem Wissen noch aus dem Sein selbst ableitbar sein wird, sondern als die das Wissen und das Sein umfassende und sie überschreitende, transzendente Größe angenommen werden muß. 74 Schleiermachers Hauptaufmerksamkeit gilt dabei dem Einzelnachweis der Entsprechung zwischen Wissensformen und Seinsformen, der naturgemäß den größten Raum des ersten transzendentalen Teiles der Dialektik einnimmt. D a das Ziel der hier zu gebenden Hinführung lediglich in der Lokalisierung der Ausführungen zum identischen transzendenten Grund für Wissen und Sein besteht, muß ein summarischer Uberblick hinreichen: Schleiermacher führt den Detailnachweis der Entsprechung zwischen Wissen und Sein als Nachweis von Ent68 69 70 71 72 73 74
Dial Dial Dial Dial Dial Dial Dial
1814/15, 1814/15, 1814/15, 1814/15, 1814/15, 1814/15, 1814/15,
Tl.l Tl.l Tl.l Tl.l Tl.l Tl.l Tl.l
§ § § § § § §
101.193 D A 2 18f (DJ 53) 102 D A 2 19 (DJ 53) 101 D A 2 18f (DJ 53) 102 D A 2 19 ( D J 53) 103 D A 2 19 (DJ 53) 106 D A 2 19 (DJ 54) 105 D A 2 19 (DJ 54)
280
Viertes Kapitel:
D i e Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
sprechungsverhältnissen. Solche Entsprechungsverhältnisse bestehen dabei zunächst zwischen einzelnen Wissensformen und Seinsformen. So entspricht z.B. der logischen Grundform des Begriffes (als Einheit von Allgemeinem und Besonderem) der ontologische Grundgegensatz der substantiellen Formen „Kraft" und „Erscheinung". 75 Der logischen Grundform des (Mannigfaltiges verknüpfenden) Urteils entspricht der ontologische Grundgegensatz der kausalen Formen „Ursache" und „Wirkung". 76 Entsprechungsverhältnisse bestehen dabei aber auch zwischen den grundlegenden logischen und ontologischen Binnenrelationen: Begriff und Urteil einerseits stehen in dem selben relativen Gegensatz 77 zueinander wie das System substantieller Formen und das Kausalitätssystem andererseits.78 Freilich darf die Vielzahl der relativen Gegensätze 79 und Entsprechungsverhältnisse nicht zur Annahme der inneren Disparatheit des Wissens oder Seins führen. Vielmehr drückt sich in den gerade durch relative Entgegensetzungen bestimmten einzelnen Wissens- und Seinsformen jeweils die Einheitlichkeit alles Wissens bzw. die Einheitlichkeit alles Seins aus.80 Wissen und Sein entsprechen sich also zunächst ihrer internen, gegensätzlich organisierten Struktur nach. Der duplizitären Verfaßtheit des in sich einheitlichen Wissens entspricht die duplizitäre Verfaßtheit des in sich einheitlichen Seins. Die Gegensätzlichkeitsstruktur des Wissens ist identisch mit der Gegensätzlichkeitsstruktur des Seins. Damit hat sich die zu Beginn des transzendentalen Teiles der Dia75 76
Dial 1814/15, T l . l §§ 180-182 D A 2 43f ( D J 111-113) D i a l 1814/15, T l . l § 193f D A 2 51-53 ( D J 125-127)
77
Z u r S t r u k t u r und konstitutiven F u n k t i o n des relativen Gegensatzes vgl. oben S. 38ff
78
Vgl. z u m Binnenverhältnis zwischen Begriff und Urteil Dial 1814/15, Tl.l §§ 140.142.172 D A 2 29f.38 ( D J 82f.98), z u m Binnenverhältnis zwischen substantiellen u n d kausalen F o r m e n Dial 1814/15, T l . l §§ 194.3; 203.1; 209.2 D A 2 52f; 58f; 60f ( D J 127; 138; 142) und Dial 1818 ( N s . ) , D J 142f
79
A l s weitere unter die Seinsform subsumierbare G r u n d g e g e n s ä t z e nennt die Dialektik z . B . den G e g e n s a t z von R u h e und B e w e g u n g (Dial 1814/15, T l . l § 196 D A 2 53f P J 129f]) o d e r den G e g e n s a t z von Freiheit u n d N o t w e n d i g k e i t (Dial 1814/15, T l . l § 197 D A 2 55f [ D J 132]). A u s der W i s s e n s f o r m ableitbar sind z.B. die wissenschaftssystematisch einschlägigen G e g e n s ä t z e v o n Spekulation und E m p i r i e (Dial 1814/15, T l . l § 197.209.211 D A 2 54f.60f. [ D J 130f.142f.147]) von Ethik u n d Physik (Dial 1814/15, T l . l § 187 D A 2 48 P J 120]) oder auch die Entwicklung der Idee der Kritik (Dial 1814/15, T l . l § 210 D A 2 61 [ D J 144]). Ein ausführliches Eingehen auf Ableitung u n d F u n k t i o n dieser Gegensätze verbietet sich im Z u s a m m e n h a n g des vorliegenden U b e r b l i c k e s , auf die wissenschaftssystematischen Distinktionen bin ich oben S. 87ff eingegangen.
80
Vgl. z.B. Dial 1814/15, T l . l §§ 172-174 u n d 195-198 D A 2 38 u n d 53-56 ( D J 99-102 u n d 127-132)
II. D e r O r t der A n m e r k u n g e n z u m transzendenten G r u n d
281
lektik programmatisch eingetragene Idee des höchsten Gegensatzes 8 1 also bezüglich der identischen Strukturiertheit von Wissensform und Seinsform bestätigt - die Entsprechung der Gegensatzsysteme 8 2 darf als gesichert gelten. In der Idee des höchsten Gegensatzes war aber zugleich auch die Idee des identischen Einheitspunktes von Wissen überhaupt und Sein überhaupt enthalten gewesen: Die Entsprechung der Wissensformen und der Seinsformen stellt nicht nur Wissen und Sein als je Ganze unter den nämlichen höchsten Gegensatz, sondern sie verweist auch auf eine höchste Identität des Wissens überhaupt und des Seins überhaupt. 8 3 Die Realität des Wissens vermittelt sich in der Entsprechung der Gegensatzsysteme, begründet ist sie hingegen in der transzendentalen Identität von Wissen und Sein. Im Zusammenhang der Entfaltung des höchsten Gegensatzes hatte auch die Statuierung der „höchsten Einheit" 8 4 einen eher thetischen Charakter behalten. Deren Anerkennung war, wie die Anerkennung des höchsten Gegensatzes überhaupt, letztlich nicht eine Frage der reflexiven, sondern der sittlichen Stringenz geblieben 85 - als Bekenntnis zu dem allem Denken als dessen Ermöglichungsgrund notwendig vorausliegenden „Glaube[n] an das Wissen" 8 6 . N u n , gegen Ende des transzendentalen Teiles der Dialektik und auf den Entsprechungsnachweis der Gegensatzsysteme folgend, stellt sich die Frage nach der Einheit des höchsten Gegensatzes als Frage nach dem Einheitspunkt von Wissen und Sein erneut. Sie hat sich zu einer (ihrerseits wiederum die ontologische und die erkenntnistheoretische Fragestellung verbindenden) Doppelfrage konkretisiert: Kann der Einheitspunkt - als die gesuchte Entsprechung des Wissens und des Seins verbürgend - selbst als Realisat des Wissens oder des Seins bestehen? Und kann er selbst im Modus des Wissens oder des Seins begriffen werden? U m die Beantwortung dieser Doppelfrage bemüht Schleiermacher sich im letzten großen Abschnitt des ersten Teiles der Dia81
82 83 84 85 86
Dial 1814/15, T l . l § 132-137 D A 2 27f ( D J 75-78). Z u r systematischen D e u t u n g der Schleiermacherschen K o n z e p t i o n des höchsten G e g e n s a t z e s s.o. S. 77ff. Ich k o m m e hier auf die Idee des höchsten G e g e n s a t z e s nur insoweit z u r ü c k , als in ihr die D o p p e l b e g r ü n d u n g der E n t s p r e c h u n g von Wissen und Sein via A u f w e i s der E n t s p r e chung einzelner Wissens- und Seinsformen und via A u f w e i s des identischen Einheitspunktes von Wissen überhaupt und Sein überhaupt angelegt ist. Dial 1814/15, T l . l § 135 D A 2 28 ( D J 77) Dial 1814/15, T l . l § 136 D A 2 28 ( D J 77) Dial 1814/15, T l . l § 137 D A 2 28 ( D J 78) Dial 1814/15, T l . l § 134 D A 2 27f ( D J 76f) Dial 1814/15, Einl. § 74 D A 2 13 ( D J 33)
282
Viertes Kapitel:
D i e F r ö m m i g k e i t s t h e o r i e in der D i a l e k t i k
lcktik. 8 7 Dieser Abschnitt seinerseits umfaßt drei Teile: Der erste Unterabschnitt widmet sich der Frage nach der Parallelstruktur der Bewußtseinsfunktionen „Wissen" und „Wollen" im Blick auf deren transzendente Fundierung 8 8 , der zweite Unterabschnitt enthält die Ausführungen zum Repräsentanzmodus des transzendenten Grundes im Bewußtsein 8 9 und der dritte Unterabschnitt erweist dann, daß die begriffliche Schematisierung des transzendenten Grundes sich am angemessensten im Modell der Korrelativität zwischen der Idee Gottes und der Idee der Welt ausdrücken läßt. 9 0 Dabei kommt dem ersten Gedankengang hauptsächlich ein exkursorischer, den zweiten Gedankengang vorbereitender Charakter zu. D e r Ausgangspunkt der Überlegung liegt in der Beobachtung der Strukturidentität zwischen der wissenden und der wollenden Bewußtseinsfunktion: Die kennzeichnenden Merkmale des Wollens sind, wie schon beim Wissen, dessen Intersubjektivität und dessen Objektivität 9 1 , der alles Wollen strukturierende Grundgegensatz läßt sich ebenfalls auf den Gegensatz zwischen Vernunft und Organisation zurückführen. 9 2 So ist erstens aus denselben Gründen, die schon für das Wissen galten, ein den Gegenstandsbezug des Wollens sichernder transzendenter Grund anzunehmen; zweitens kann der Grund dieser transzendentalen Einheit keinesfalls in einer Form des Wollens selbst bestehen und drittens muß dieser Grund für den Seinsbezug des Wissens und für den Seinsbezug des Wollens, damit er wirklich als höchster Grund angesehen werden kann, ein und derselbe sein. 93 Der vorbereitende Charakter dieses Gedankenganges liegt also darin, daß er das für die Bestimmung des transzendenten Wissens-Grundes erhobene Kriterium der Wissensunabhängigkeit durch die Anwendung auf die Bewußtseinsform des Wollens abhärtet und zugleich die Möglich-
87
D i a l 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l §§ 2 1 1 - 2 2 7 D A 2 6 1 - 7 3 ( D J 1 4 7 - 1 7 1 )
88
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l §§ 2 1 1 - 2 1 4 D A 2 6 1 - 6 4 ( D J 1 4 7 - 1 5 1 )
89
D i a l 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l §§ 2 1 5 - 2 1 7 D A 2 6 4 - 6 8 ( D J 1 5 1 - 1 6 0 )
90
D i a l 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l §§ 2 1 8 - 2 2 7 D A 2 6 8 - 7 3 ( D J 1 6 1 - 1 7 1 )
91
D i e s erschließt sich s c h o n , auf rein p h ä n o m e n o l o g i s c h e m Wege, ü b e r die E r k e n n t n i s der B e g l e i t u n g alles Wollens durch das auch das Wissen begleitende U b e r z e u g u n g s gefühl, w e l c h e s seinerseits A u s d r u c k s o w o h l der Intersubjektivität als auch der O b jektivität ist: V g l . D i a l 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 2 1 2 . 1 D A 2 61 ( D J 148) mit a.a.O. § 88 D A 2 16 ( D J 4 4 - 4 6 ) und § 9 5 D A 2 17 ( D J 49f). Vgl. aber auch ausdrücklich Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 2 1 2 . 2 D A 2 62 ( D J 148).
92
Dial 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 2 1 1 ; 2 1 4 . 1 D A 2 61; 63 ( D J 147; 150)
93
D i a l 1 8 1 4 / 1 5 , T l . l § 2 1 4 D A 2 6 3 f ( D J 150f)
II. D e r O r t der A n m e r k u n g e n z u m transzendenten G r u n d
283
keit ausschließt, dieser transzendente Grund könnte sich in einer F o r m des Wollens darbieten. Der dritte Gedankengang knüpft an die Ausführungen des zweiten Unterabschnittes an. Schleiermacher zieht dort eine logische Konsequenz aus der Idee der im transzendenten Grund vermittelten Realität des Wissens, indem er den in der Idee der „Realität" enthaltenen Gedanken der Korrelativität ausführt: Das im transzendenten G r u n d enthaltene Prinzip der Möglichkeit des Wissens muß stets bezogen sein auf ein Prinzip der Wirklichkeit des Wissens. 94 Seine Durchführung erfährt dieser Gedanke in der Aufnahme der traditionellen - nunmehr unproblematischen, weil in ihrer eingeschränkten bildhaften Geltung 9 5 erkannten - Termini „ G o t t " 9 6 und „Welt" 9 7 . Der Kern dieses Gedankenganges besteht in der Entfaltung des Verhältnisses zwischen der Idee Gottes und der Idee der Welt: Sie sind als nichtidentische, aber notwendig zusammengehörige Korrelata zu denken. 9 8 Denn die Durchführung ihrer jeweiligen Funktion für das Zustandekommen des Wissens 9 9 läßt erkennen, daß sowohl der Gottesidee als auch der Weltidee eine wissenskonstitutive Funktion zuerkannt werden muß, während sie andererseits selbst niemals zum adäquat erfaßbaren Gegenstand des Realwissens avancieren können. Damit eignet beiden Ideen ein transzendentaler Charakter: „Wie die Idee der Gottheit der transcendentale terminus a quo ist, und das Princip der Möglichkeit des Wissens an sich: so ist die Idee der Welt der transcendentale termi-
94 95
Dial 1814/15, T l . l § 222 D A 2 70 ( D J 164f) Dial 1814/15, T l . l § 217 D A 2 67f ( D J 159f)
96
Dial 1814/15, T l . l § 215.2 D A 2 64f ( D J 152)
97
Dial 1814/15, T l . l § 218.3 D A 2 68 ( D J 161) Dial 1814/15, Tl.l § 219 D A 2 68f ( D J 162)
98 99
Hauptsächlich macht Schleiermacher hier die folgenden A u s f ü h r u n g e n : Er b e s t i m m t die F u n k t i o n beider Ideen für die F o r m des Wissens (Die Idee G o t t e s determiniert die F o r m des Wissens an und für sich, die Idee der Welt dagegen die F o r m der V e r k n ü p f u n g des Wissens: Dial 1814/15, Tl.l § 226 D A 2 72 [ D J 169]), er b e s t i m m t das Verhältnis beider Ideen z u m realen Wissen (Die Idee G o t t e s ist schlechthin unerreichbar, der Idee der Welt dagegen nähert das D e n k e n sich in seinem geschichtlichen Verlauf z u n e h m e n d an: Dial 1814/15, T l . l § 222.2 D A 2 70f [ D J 164fJ), er charakterisiert beide Ideen unter k o s m o l o g i s c h e n G e s i c h t s p u n k t e n ( D i e Idee G o t t e s ist räum- und zeitlos, die Idee der Welt dagegen räum- und zeiterfüllend: Dial 1814/15, Tl.l § 219.1 D A 2 68 [ D J 162]) und er bestimmt ihre G r e n z f u n k t i o n im S y s t e m der G e g e n s ä t z e ( D i e Idee G o t t e s bildet die Einheit aller G e g e n s ä t z e , die „Einheit ohne Vielheit", die Idee der Welt die Totalität aller G e g e n s ä t z e , die „Vielheit ohne Einheit": Dial 1814/15, T l . l § 219.1 D A 2 68 [ D J 162]).
284
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
nus ad quem und das Princip der Wirklichkeit des Wissens in seinem Werden." 100 Zwischen diesen beiden Gedankengängen liegen die knappen Ausführungen Schleiermachers zur Repräsentanzform des transzendenten Grundes. Diesen Ausführungen kann ich mich jetzt zuwenden.
III. Der Gehalt der Anmerkungen zum transzendenten Grund der Identität des Wissens und des Seins als Beitrag zu einer Theorie der Frömmigkeit A. Das interpretatorische Grundproblem der Anmerkungen Der vergleichsweise geringe quantitative Umfang und die vergleichsweise uneinheitliche terminologische Gestalt der Schleiermacherschen Anmerkungen zum transzendentalen Grund der Identität des Denkens und des Seins innerhalb der Dialektik dürfen keinesfalls über deren gesamtsystematische Bedeutung und Stringenz täuschen. Vielmehr muß der Grund dieser Phänomene zunächst in der Sache selbst gefunden werden 1 0 1 : Daß der Realitätsgrund des Wissens sich einer begrifflichformalen Eindeutigkeit und Ausführlichkeit entzieht, muß gerade als Ausdruck seiner wissenskonstitutiven Funktion gelten. Es ist, wie ich zeigen möchte, kein Widerspruch, sondern die Pointe des in Frage stehenden Aussagezusammenhanges, daß das Wissen des Subjektes von seinem Wissenkönnen nur als Nichtwissenkönnen, als „gelehrtes Nichtwissen" 1 0 2 besteht. Damit ist aber weder die Artikulation dieses Sachverhaltes noch die Interpretation dieser Artikulationsgestalten generell gefährdet, sondern nur in die jeweiligen Schranken gewiesen: Die Artikulation wird sich selbst als vermittelte, die unmittelbare Gegenwärtigkeit ihres Ermöglichungsgrundes nur bildhaft ausdrückende Artikulation verstehen müssen; die Interpretation wird demzufolge auch nur die Gelungenheit der Artikulationsgestalt beurteilen können, aber nicht ihrerseits die Faktizität des Artikulationsgrundes erweisen wollen. Mit dieser Absicht würde sie nicht nur grundsätzlich ihre Kompetenz überschreiten, sondern im vorliegenden Falle auch Inhalt und Intention ihres Interpretandum ins Gegenteil verkehren. 100 101 102
Dial 1814/15, Tl.l § 222 D A 2 70 (DJ 164) Lehnerer: Kunsttheorie 64 Reuter: Einheit 52.229
III. Der Gehalt der Anmerkungen zum transzendenten Grund
285
Eine zweiter Grund für die rudimentäre Gestalt des in Frage stehenden Textkomplexes ist aber auch in dessen Formgebundenheit zu sehen: Es handelt sich (wie bei nahezu allen Dialektik-Fragmenten Schleiermachers 103 ) auch in den hier zu betrachtenden Passagen des Entwurfes von 1822 eben um Schleiermachers Notizen für den auf den Vorlesungszweck bezogenen Eigengebrauch. Anders als die bisher betrachteten näheren Beiträge zur Frömmigkeitstheorie in den Reden und in der Glaubenslehre sind die Ausführungen der Dialektik von Schleiermacher nicht zum Druck und damit auch nicht zur Lektüre bestimmt, sondern ihr Zweck bestand einzig darin, dem frei Vortragenden den Faden seines Vortrages vor Augen zu halten. Sie dienten der konzeptionellen Vorbereitung der Vorlesungen und der gedanklichen Stütze während des Vortrages. Im Vergleich zu den bisher betrachteten Explikationen der Frömmigkeitstheorie bedeutet dies: Die Notizen der Dialektik sind ihrer Form halber einerseits in größerem Maße als die bisherigen Texte der Interpretation bedürftig - andererseits sind sie dieser Interpretation auch nur in geringerem Maße fähig. Ihre thematische Komplexität steht im Gegensatz zu ihrer formalen Hermetik. Zur Lösung dieser eigentümlichen Verschränktheit von sachlichen und formalen Problemen möchte ich in der Interpretation einen Mittelweg zwischen der fortlaufenden Kommentierung des Grundtextes 104 und der begrifflichen Rekonstruktion des Gemeinten einschlagen. Einerseits gilt es, den komprimierten Charakter des Grundtextes, seine terminologische Vielfältigkeit und seine reichhaltigen inhaltlichen Verhältnisbestimmungen selbst zum Ausdruck gelangen zu lassen. Andererseits bedarf der Text gerade seiner Kontextgebundenheit, seiner gedanklichen Dichte und seiner begrifflichen Mannigfaltigkeit wegen der rekonstruktiven Interpretation, die sich vorzüglich an Sachfragen orientiert. Der thematische Leitfaden ist dabei insbesondere durch den oben im Abschnitt II referierten Gesamtkontext der Dialektik vorgegeben: Schleiermachers Anmerkungen zur 103 104
S.o.S. 2Iff Es handelt sich bei diesem Grundtext um die vergleichsweise ausführlichste Version der Anmerkungen zum transzendentalen Identitätsgrund des Wissens und des Seins im Dialektik-Entwurf von 1822 (vgl. dazu oben S. 263ff), hier Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,22-290,44 (DJ 428,30-431,3). Der Interpretation liegen dabei selbstverständlich Schleiermachers eigene Notizen zugrunde, die von R. Odebrecht kompilierten Vorlesungsnachschriften können nur in Zweifels- und Ausnahmefällen berücksichtigt werden (vgl. dazu oben S. 23 Anm. 37 und 38). Zu Einzelfragen sollen dann aber auch die anderen Entwürfe herangezogen werden.
286
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
Repräsentanz des transzendenten Grundes im Gefühl haben ihren Zweck in der Erklärung der Ermöglichungsbedingung realen Wissens. Daran ist trotz aller Versuchungen zur Uberinterpretation von Einzelanmerkungen zur religiösen Verträglichkeit oder zur praktischtheologischen Anwendbarkeit des Dialektik-Programmes, die sich gerade im Zusammenhang des Dialektik-Entwurfes von 1822 unvergleichlich reichhaltig finden105, festzuhalten. Natürlich besteht eine Wechselbeziehung zwischen der Erklärung des transzendentalen Identitätsgrundes für das Wissen und das Sein innerhalb der Dialektik einerseits und der philosophisch-theologischen Phänomenologie der Frömmigkeit andererseits - aber diese Wechselbeziehung bildet nicht das Grundthema der höchsten Wissenschaft „Dialektik" und auch nicht das Grundthema der 51. Stunde der Dialektik-Vorlesung von 1822. Für das Interpretationsverfahren im engeren Sinne leite ich aus dieser Verbindung des referierenden und des rekonstruierenden Interesses folgendes Vorgehen ab: Zunächst gebe ich knapp den Gedankengang der zugrundezulegenden, kurzen und konzentrierten Textpassage wieder (B). In dieser Passage taucht eine Reihe von mehr oder weniger prominenten begrifflichen Motiven auf, deren Bedeutung für den Gehalt des Entfalteten jedoch unterschiedlich groß ist. Daher will ich im darauffolgenden Abschnitt das begriffliche Inventar der Theorie zum transzendentalen Grund der Identität des Denkens und des Seins auf dem Hintergrund des Gesamtkontextes der Dialektik ordnen (C). Dann möchte ich mich dem m.E. zentralen Begriff dieser Anmerkungen, dem Begriff des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl" zuwenden (D), und zwar so, daß zunächst dessen abgrenzender Gehalt von verwandten Bestimmungen (1) und sodann dessen affirmativer Gehalt zur Sprache kommt (2). Dabei soll gezeigt werden, daß das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" von Schleiermacher als der identische Konstitutionspunkt der Bewußtseinsformen und der Bewußtseinsmomente vorgestellt wird (a-c) und daher auch als Analogat zum transzendenten Grund verstanden wird (3).
105
A l s Beispiele seien hier genannt: Dial 1822 (Ms.), XLV. Stunde, D O 261 (DJ 42 lf); XLVI. Stunde, D O 2 6 5 - 2 6 7 (DJ 422-424); LH. und LIII. Stunde, D O 294 (DJ 431f); LV. Stunde, D O 3 0 8 - 3 1 3 (DJ 435f); LVI. Stunde, D O 320 (DJ 437).
III. D e r Gehalt der A n m e r k u n g e n z u m transzendenten G r u n d
287
B. Der Gedankengang Den Einsatzpunkt der Erwägungen über den transzendentalen Identitätsgrund von Wissen und Sein 106 bildeten die Überlegungen zur Vergleichbarkeit des Wissens und des Wollens. Für die Gewißheit des Wissens war notwendig ein transzendenter Grund anzunehmen, der sich der Erfassung durch das Wissen jedoch entziehen muß. 107 Das duplizitär strukturierte Wissen vermag den es bedingenden Gegensatz zwischen Denken und Gedachtem nicht zu überschreiten. In exkursorischer Weise hatte Schleiermacher diese Probe auch für das Wollen durchgeführt, um nun zu folgenden Ergebnis zu gelangen: Die beiden objektiven Bewußtseinsfunktionen „Denken" und „Wollen" haben ein strukturell identisches Fundierungsgefüge: Sie bedürfen zu ihrer funktionalen Gewährleistung einer transzendentalen Fundierung, können ihr Fundiertsein jedoch nicht innerhalb ihrer Funktionen selbst erfassen. Das Konstituiertsein des Wissens und des Wollens kann selbst nicht gewußt oder gewollt werden. Als Nebenergebnis war darüber hinaus festzuhalten, daß der Konstitutionsgrund des Wissens und des Wollens ein und derselbe sein muß. 108 Daran schließt sich der hier zu betrachtende Gedankengang an, der sich vorderhand folgendermaßen referieren läßt: Muß der Konstitutionsgrund des Denkens und des Wollens ein und derselbe sein, so wird man einen Identitätspunkt des Denkens und des Wollens vermuten müssen. 109 Ein solcher Moment der Identität des Denkens und des Wollens ist dabei zunächst im zeitlich bestimmten, modalen Wechsel vom Denken zum Wollen und umgekehrt gegeben. Die Annahme, daß zwischen dem aufhörenden Denken und dem anfangenden Wollen kein „Nullpunkt" zu vermuten ist, sondern ein Moment des Uberganges, basiert dabei auf der Beobachtung, daß das Denken und das Handeln sich in einem kontinuierlichen, gegenseitigen Bezugsverhältnis befinden. Dieses Bezugsverhältnis definiert sich über den jeweiligen Seinsbezug: Im Denken ist das Sein der Dinge in uns gesetzt, im Wollen wird unser Sein in die Dinge gesetzt. N u n vollzieht sich, wie die Dialektik in anderem Zusammenhang entfaltet 110 , dieses Set106
107 108 109 110
Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,22-290,44 (DJ 428,30-431,3). Das folgende Referat wird die einzelnen Sinnabschnitte deutlicher hervortreten lassen. S.o. S. 282f; vgl. auch Dial 1822 (Ms.), XLVI. Stunde, D O 266 (DJ 423f) S.o. S. 282f; vgl. auch Dial 1822 (Ms.), L. Stunde, D O 283f (DJ 426-428) Vgl. den ersten Abschnitt Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,22-24 (DJ 428,30f) Siehe dazu oben S. 38ff und S. 87.
288
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
zen und Gesetztwerden des Seins freilich nicht als reine Aktivität bzw. reine Passivität, sondern beide Bewußtseinsfunktionen verdanken sich einem je individuellen Zusammenspiel von Aktivität und Passivität, Spontaneität und Rezeptivität. Die einander relativ entgegengesetzten Pole dieser Funktionen befinden sich in einem situativ und funktional definierten, je individuellen Mischungsverhältnis sowohl auf Seiten des Subjekts also auch auf Seiten des Objekts. Also geschieht beides, Gesetztwerden des Seins im Denken und Setzen des Seins im Wollen, immer auch „auf unsere Weise" 111 : beide Funktionen haben einen einheitlichen Bezugspunkt im Bewußtsein des Subjektes. 112 Als Bezugspunkt oder Ort dieser Kontinuität ist nun dasjenige Moment des Bewußtseins anzunehmen, das Schleiermacher das „unmittelbare Selbstbewußtsein" nennt. Dieses wird von Schleiermacher mit dem „Gefühl" gleichgesetzt und ist damit zunächst durch Abgrenzungen bestimmt: Es ist weder mit dem reflektierten Selbstbewußtsein noch mit der Empfindung gleichzusetzen. 113 Die affirmative Bestimmung des unmittelbaren Selbstbewußtseins setzt mit der rückverweisenden Anknüpfung an zuvor aufgestellte Zielperspektiven ein und sieht deren Einlösung zunächst durch den Eintrag des Gefühlsbegriffes bzw. den des unmittelbaren Selbstbewußtseins gegeben: Das Gefühl ist der Ort der Zusammenstimmung von Wollen und Denken und damit der analogische Repräsentant des gesuchten transzendenten Grundes. Zur Plausibilisierung dieser Feststellung ist freilich zunächst wiederum eine Abgrenzung erforderlich, die einem sich durch den bisherigen Gedankengang möglicherweise nahelegenden Mißverständnis vorbeugt: Das unmittelbare Selbstbewußtsein bzw. Gefühl manifestiert sich keinesfalls nur im Ubergang vom Denken zum Wollen, sondern es begleitet alle Momente des Denkens und alle Momente des Wollens in zeitlich bestimmter Weise. Dabei ist das Bild der „Begleitung" wörtlich zu nehmen: Weder das unmittelbare Selbstbewußtsein noch Momente des Denkens und Wollens treten jemals isoliert auf, sondern stets im Verbund. Das unmittelbare Selbstbewußtsein, auf das es hier ankommt, vermag also wohl in den Vordergrund bzw. in den Hintergrund zu
111 112
113
Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,29f (DJ 429,3f) Vgl. den zweiten Abschnitt Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,24-34 (DJ 428,31429,8) Vgl. den dritten Abschnitt Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,34-289,19 (DJ 429,817)
III. Der Gehalt der Anmerkungen zum transzendenten Grund
289
treten, aber es wird niemals völlig verschwinden und niemals separat hervortreten. 114 Das unmittelbare Selbstbewußtsein bezeichnet also den innersubjektiven identischen Konstitutionsort von Denken und Wollen als dem identischen Konstitutionsort von individueller Spontaneität und Rezeptivität, von individuellem Setzen und Gesetztsein. Nun kann das unmittelbare Selbstbewußtsein damit selbst aber der Gegensatzstruktur von Setzen und Gesetztsein nicht mehr unterliegen: Es könnte dann ja keinesfalls die Einheit von Setzen und Gesetztsein verbürgen. Indem es diese Gegensatzstruktur überwunden hat, kann es aber sein eigenes Setzen und sein eigenes Gesetztsein selbst nicht mehr vollständig erfassen. Dem unmittelbaren Selbstbewußtsein ist ein Bewußtsein seiner eigenen Konstitutionsweise unmöglich. Vielmehr erfährt es sich selbst als auf eine transzendente (und zugleich transzendentale)115 Weise einheitlich begründet: In einer Weise nämlich, die a) selbst dem Gegensatz von Setzen und Gesetztsein ebenfalls nicht mehr unterliegt (denn sonst wäre das unmittelbare Selbstbewußtsein nicht die Identität des Setzens und des Gesetztseins), sondern selbst als die nämliche Identität von Setzen und Gesetztsein besteht. Und zugleich b) in einer Weise, die gleichwohl individuell fixierbares Setzen und individuell fixierbares Gesetztsein als gleichursprünglich konstituiert. Damit ist das unmittelbare Selbstbewußtsein analoger Repräsentant der Identität von Setzen und Gesetztsein überhaupt. Den Grund dieser Konstitutionsweise nennt Schleiermacher dabei den „transzendenten Grund". Die unmittelbare Gegenwärtigkeit dieser transzendenten Konstituiertheit des unmittelbaren Selbstbewußtsein im unmittelbaren Selbstbewußtsein wird dagegen als „allgemeines Abhängigkeitsgefühl" bezeichnet.116 Uber den Begriff des allgemeinen Abhängigkeitsgefühls läßt sich nun der Bezug der traditionellen religiösen Formeln auf das individuelle Selbstbewußtsein herstellen - und zwar von beiden Richtungen her. Denn zum einen müssen die traditionellen religiösen Formeln als vermittelte, bildhafte Ausdrücke für die ihrer Unmittelbarkeit halber nicht adäquat darstellbaren Repräsentanz des transzendenten Grundes im Gefühl gedeutet werden. Zum anderen läßt sich aber auch der Inhalt des unmittelbaren Selbstbewußtseins nur dadurch ausdrücken, 114 115 116
Vgl. den vierten Abschnitt Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 289,19-34 (DJ 429,17-33) S.o. S. 69 Anm. 299 Vgl. den fünften Abschnitt Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 289,35-290,26 (DJ 429,33-430,17)
290
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
daß sein unmittelbarer Gehalt mit einem Bild zur vermittelten Formel zusammentritt. 1 1 7 C . Das begriffliche Inventar auf dem Hintergrund des Gesamtkontextes der Dialektik In diesem Abschnitt will ich zunächst die in der betrachteten Textpassage von Schleiermacher zum Einsatz gebrachten Begriffe im Hinblick auf ihre sachliche Valenz ordnen. Dazu ist das Verhältnisgefüge, in das Schleiermacher die Begriffe stellt, in seinem Aufriß zu rekonstruieren. Zunächst ist festzuhalten, daß über das Denken und das Wollen selbst keinerlei Aussagen mehr getroffen werden. Die Suche nach dem Identitätspunkt des Denkens und Wollens bildet den Anlaß, aber nicht das Ziel des Gedankenganges. Das gesuchte Ziel besteht vielmehr in dem Grund der Ubereinstimmung des Denkens und des Seins. Im Rahmen dieser Überlegungen steht nun der Term „unmittelbares Selbstbewußtsein = Gefühl" 1 1 8 im Zentrum. Meine Interpretation basiert dabei auf der Annahme, daß die Ausführungen Schleiermachers als Erläuterung des gesamten, zweipoligen Terms verstanden werden müssen. 1 1 9 Die Bezeichnung des innersubjektiven Ubereinstimmungsgrundes als „unmittelbares Selbstbewußtsein = Gefühl" signalisiert die Identität des im Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins und des im Begriff des Gefühls Gemeinten. Damit ist aber vorausgesetzt, daß es sich um zwei zumindest in der Beschreibbarkeit voneinander zu unterscheidende Größen handelt 1 2 0 , die als identisch gesetzt werden sollen. Andernfalls gäbe es zur Aufstellung der Gleichung weder Grund noch Anlaß. Die aufgestellte Gleichung signalisiert also m.E., daß es sich bei dem innersubjektiven Grund der Ubereinstimmung des Denkens und des Seins um einen in sich einheitlichen Sachverhalt handelt, der in sei" 7 Vgl. den sechsten Abschnitt Dial 1 8 2 2 (Ms.), LI. Stunde, D O 2 9 0 , 2 7 - 4 4 (DJ 4 3 0 , 1 8 431,3) 1 1 8 Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,34f (DJ 429,9) 1 1 9 D a m i t soll das V o r k o m m e n des v o n Schleiermacher in seinen Manuskripten häufig und in verschiedenem Sinne eingesetzten mathematischen Gleichheitszeichens nicht ü b e r b e w e r t e t w e r d e n (vgl. auch z.B. Dial 1 8 2 2 [Ms.], LI. Stunde, D O 288,36 [DJ 4 2 9 , 1 0 ] ; Dial 1 8 2 2 [Ms.], X L V . Stunde, D O 2 6 1 , 2 2 u.36 [DJ 4 2 1 , 1 7 u.31]; Dial 1 8 1 4 / 1 5 , Tl.l § 2 2 9 . 2 D A 2 74f [DJ 1 7 2 ] und öfter), andererseits aber doch die K o n sequenz aus der dieser Gleichsetzung entsprechenden Behandlung der Sache in den nachfolgenden A u s f ü h r u n g e n Schleiermachers gezogen werden. 120
Vgl. auch die Überlegungen Reuters z u m relationalen A s p e k t der Identität (Reuter: Einheit 2 1 9 f ) .
III. D e r Gehalt der A n m e r k u n g e n z u m transzendenten G r u n d
291
ner phänomenologischen Erscheinungsweise als unmittelbares Selbstbewußtsein und als Gefühl aufzufassen ist, jedoch in keiner dieser beiden Formen einzeln aufgeht, sondern nur in der Gleichsetzung beider zunächst zu unterscheidenden Formen. 1 2 1 Ihre Bestätigung erfährt diese Interpretationshypothese in der von Schleiermacher gegebenen Beschreibung: Der innersubjektive Grund der Ubereinstimmung des Denkens und des Seins, das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl", wird unter zwei verschiedenen Aspekten erläutert, die sich einerseits auf dessen Herkunft aus dem Gefühl und andererseits auf dessen Herkunft aus dem Selbstbewußtsein beziehen und miteinander identifiziert werden. Kann der Term „unmittelbares Selbstbewußtsein = Gefühl" so als Schlüsselbegriff der Schleiermacherschen Ausführungen zum transzendentalen Grund der Identität des Wissens und des Seins aufgefaßt werden, so ergibt sich hieraus der systematische Stellenwert weiterer Begriffe in der betrachteten Passage: Besondere Aufmerksamkeit ist zunächst der Abgrenzung des „unmittelbaren Selbstbewußtseins" vom „reflektierten Selbstbewußtsein" und des „Gefühls" von der „ E m p findung" zu widmen. 1 2 2 Zur Feststellung des Unterscheidungsgrundes von „unmittelbarem Selbstbewußtsein" und „Gefühl" ist sodann auf den Gegensatz zwischen „setzendem Sein" und „gesetztem Sein" zu rekurrieren. 123 Zur Feststellung ihrer Identität ist dagegen die Beziehung des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl" zum „transzendenten G r u n d " zu betrachten. 124 121
In dieser Interpretationshypothese sind überdies zwei forschungsgeschichtlich unausgeglichene M o t i v e verbunden: In der H y p o t h e s e wird s o w o h l Schleiermachers Intention der Identifikation R e c h n u n g getragen (ohne die spezifischen Unterschiede zwischen beiden F o r m e n zu nivellieren), als auch Schleiermachers B e t o n u n g der Unterschiede beider F o r m e n ausgedrückt (ohne jedoch damit die intendierte Ineinssetzung als unmöglich erklären zu müssen). In der Forschungsgeschichte hat sich weitgehend ein U b e r w i e g e n des einen o d e r des anderen Motives G e l t u n g verschafft: E n t w e d e r herrscht die B e t o n u n g der Identität vor, die dann freilich mit einer unkritischen B e h a n d l u n g der Unterschiede einhergeht (Pohl: Studien 140; Kaulbach: Schleiermachers Idee der Dialektik 251; weitere Literaturbeispiele bei Wagner: D i a lektik 158 A n m . 24) - oder die D i f f e r e n z beider F o r m e n wird s o stark betont, daß dem allgemeinen Abhängigkeitsgefühl kein systematischer O r t in der Dialektik mehr zugestanden werden kann (Schultz: Verhältnis 129f; O f f e r m a n n : Einleitung 81f; Wagner: Dialektik 157-163). D a s B e m ü h e n u m einen Ausgleich beider M o t i v e findet sich dagegen auch bei Reuter: Einheit 236 u n d - unausgesprochen, aber der Sache nach - bei Lehnerer: Kunsttheorie 66-69 und 78f.
122
Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,35-289,19 ( D J 429,10-17)
123
Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,28-34 ( D J 429,2-8)
124
Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 289,35-290,26 ( D J 429,33-430,17)
292
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
Dagegen wird der Begriff des „Überganges" 125 kaum Aufmerksamkeit beanspruchen können. 126 Denn der Ubergang ist wohl der Identitätspunkt des Denkens und des Wollens und damit einer der Manifestationsorte des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl" bzw. durch das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" allererst konstituiert - aber er ist nicht mit dem „unmittelbaren Selbstbewußtsein = Gefühl" gleichzusetzen. Seine Leistung besteht darin, daß er das Gegebensein eines Identitätsgrundes für das Wissen und das Sein durch den Aufweis des Gegebenseins dieses Grundes im Umschlag vom Wissen zum Wollen veranschaulicht. 127 Aber er bleibt so ein zeitlich bestimmter Moment des menschlichen Lebens und ist damit qualitativ von dem „unmittelbaren Selbstbewußtsein = Gefühl" unterschieden. D. Der Schlüsselbegriff: Das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl"
1. Die Negativbestimmungen Gefühl".
des „ unmittelbaren
Selbstbewußtseins
=
In einem ersten Gedankengang grenzt Schleiermacher das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" nach zwei Richtungen ab: Einerseits gegen das reflektierte Selbstbewußtsein 128 und andererseits gegen die Empfindung 129 . Dabei spezifiziert die erste Abgrenzung insbesondere den Selbstbewußtseinscharakter des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl", die zweite Abgrenzung dagegen seinen Gefühlscharakter. Zunächst zur Abgrenzung vom reflektierten Selbstbewußtsein: Der formale Zielpunkt dieser Abgrenzung besteht in einer ersten Näherbestimmung der Unmittelbarkeit des unmittelbaren Selbstbewußtseins. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß das „Selbstbewußtsein" in einer noch weiten, unbestimmten Form bereits dem 125 126
127 128 ,29
Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,25.26f; 288,24 (DJ 428,32; 429,1.23) Die Bedeutung des Ubergangs ist zuerst ausführlich von M.E. Miller (Miller: Ubergang) herausgestellt worden. Auf die gelegentlichen Uberzeichnungen dieser Interpretation, insbesondere die Identifikation des unmittelbaren Selbstbewußtseins mit dem Ubergang, macht Wagner: Dialektik 139-141, bes. Anm. 3 aufmerksam; philosophie- und werkgeschichtliche Bedeutungsaspekte dieses Begriffes faßt Reuter: Einheit 2 1 2 - 2 1 5 zusammen. Vgl. dazu auch Reuter: Einheit 226 und Lehnerer: Kunsttheorie 67 Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,35-39 (DJ 429,10-13) Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,39-289,19 (DJ 429,13-17)
III. Der Gehalt der Anmerkungen zum transzendenten Grund
293
Dialektik-Entwurf von 1814/15 als Zielbegriff zugrundelag: In ihm sollte sich die Einheit des Denkens und des Seins erweisen. 130 Diesen Ansatz präzisiert Schleiermacher nun, indem er zwei Formen des Selbstbewußtseins unterscheidet: das reflektierte Selbstbewußtsein und das unmittelbare Selbstbewußtsein. 131 Dabei wird unter dem reflektierten Selbstbewußtsein diejenige Selbstbewußtseinsform verstanden, welche „die Identität des Subjekts in der Differenz der M o mente" 132 aussagt, also als Bewußtsein der Unterschiedenheit des Ich vom Nichtich verstanden werden muß. „Vermittelt'^] 133 ist es dadurch, daß es sich stets als Relationalitätsbewußtsein präsentieren wird: Es wird sich unter den Bedingungen von Raum und Zeit am Bewußtsein des Gegensatzes von Subjekt und Objekt entzünden. Dieser Akzent findet sich auch in der zweiten Abgrenzung, die den Gefühlscharakter des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl" durch die Abgrenzung von der „Empfindung" spezifiziert. Auch der Gefühlsbegriff fand sich im Zusammenhang des hier in Frage stehenden Aussagezusammenhanges bereits im 1814er Entwurf 1 3 4 - und ebenfalls kannte Schleiermacher neben diesem speziellen Sinn des Gefühlsbegriff auch einen weiten, unspezifischen Sinn. 135 Der U n terschied der Empfindung zum Gefühl besteht nun darin, daß die Empfindung „mittelst der Affektion" 1 3 6 gesetzt ist, also als organische 130 131
132 133 134 135
136
Dial 1814/15, Tl.l §§ 101-103 DA 2 18f (DJ 53) Den entwicklungsgeschichtlichen Aspekten des Begriffs „unmittelbares Selbstbewußtsein" widmen sich Wagner: Dialektik 139 Anm. 2, vgl. auch a.a.O. 72ff und Reuter: Einheit 217, vgl. auch a.a.O. 42ff in ausführlicher Weise. Zusammenfassend ist m.E. festzuhalten, daß der Begriff des „Selbstbewußtseins" 1811 noch fehlt und 1814/15 in zunächst unbestimmtem, weitem Sinne verwendet wird. 1818 kündigt sich dann die Unterscheidung zwischen reflektiertem und unmittelbarem Selbstbewußtsein an (Dial 1818 [Ns.], DJ 54-56), die Schleiermacher ab 1822 feststeht. Dabei ist es also m.E. keinesfalls ausgemacht, daß Schleiermacher 1814, wo er von Selbstbewußtsein spricht, stets das später so genannte reflektierte Selbstbewußtsein meint (Wagner: Dialektik 72). Vielmehr wird man verstehen müssen, daß Schleiermacher 1814/15 noch ununterschieden läßt, was er ab 1818 differenziert. Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,36f (DJ 429,1 l f ) Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,39 (DJ 429,13) Dial 1814/15, Tl.l § 215 DA 2 64 (DJ 151) Vgl. z.B. Dial 1814/15, Tl.l § 125.1 DA 2 25 (DJ 68); a.a.O., T1.2 § 43.1 DA 2 96 (DJ 225 dort § 272.1). Beide von Schleiermacher 1822 unterschiedenen Perspektiven, das Gefühl als Sonderfunktion des Bewußtseins und das Gefühl als das die Gewißheit des Wissens sichernde Vermögen sind 1814/15 im Begriff des Uberzeugungsgefühls verbunden: vgl. z.B. Dial 1814/15, Tl.l §§ 59; 168.2 DA 2 11; 36 (DJ 25; 95); a.a.O., T1.2 §§ 7-10 DA 2 78-81 (DJ 182-188 dort §§ 236-239) Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,40-289,17 (DJ 429,15)
294
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
Funktion aufgefaßt werden muß. Sie verdankt sich damit ebenfalls dem Gegensatz von Subjekt und Objekt. 137 Die Intention der Abgrenzungen, die Schleiermacher hier vornimmt, besteht demzufolge also darin, das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" als dem Gegensatz von Subjekt und Objekt entnommen vorzustellen: Die Unmittelbarkeit des ins Auge gefaßten Selbstbewußtseins bzw. Gefühls besteht zunächst und zum mindesten darin, daß in ihm die relationale Struktur aufgehoben ist. Zwei Pointen verbinden sich mit diesem Gedanken. Erstens: Das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" ist selbst nicht mehr gegenständlich-inhaltlich bestimmt. Darin liegt eine notwendige Bedingung seiner Funktion als Ermöglichungsgrund der Gegenständlichkeit, der Seinsbezogenheit des Wissens. Zweitens: das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" entzieht sich selbst der Wißbarkeit. Mit der Aussage, daß das einheitliche Fundament des Wissens und des Seins nicht im reflektierten Selbstbewußtsein bestehen kann, vermeidet Schleiermacher eine zirkuläre, aporetische Begründungsstruktur, die voraussetzen würde, was erst begründet werden soll: das Wissen nämlich. 138 Auch in dieser Bestimmung liegt eine notwendige Bedingung seiner Funktion als Ermöglichungsgrund von Wissen, von der Wißbarkeit des Seienden.
2. Die affirmativen seins = Gefühl".
Bestimmungen
des „ unmittelbaren
Selbstbewußt-
Doch spitzt sich in diesen Vorgaben auch das zu lösende Problem zu. Es besteht in der Begründbarkeit und in der Erfaßbarkeit dieser Relationslosigkeit - genauer: Schleiermacher wird auszuführen haben, wie das relationslos bestehende „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" bestehen und erfaßt werden kann, wo doch alle Seinsmodi und alle Bewußtseinsmodi sich der relationalen Struktur verdanken. Die Modalität der Nichtvermitteltheit des Selbstbewußtseins bzw. der Nichtaffiziertheit des Gefühls muß affirmativ so begründet werden, daß diese Begründung nicht ipso actu aufhebt, was begründet 137
138
Dazu kommt, daß die Empfindung als „subjektiv Persönlichefs]" (Dial 1822 [Ms.], LI. Stunde, D O 288,40 [DJ 429,14]) nicht als intersubjektiv identisches Bewußtseinskonstitutivum verstanden werden kann. Die philosophiegeschichtliche Herkunft und die innere Struktur dieses notwendig zirkulären Charakters aller Versuche der reflexiven Selbstbegründung des Selbstbewußtseins sind in der Sekundärliteratur ausführlich beleuchtet worden: Reuter: Einheit 221-224; Eckert: Gott, Welt und Mensch 282-288, Lehnerer: Kunsttheorie 69-75.
III. Der Gehalt der Anmerkungen zum transzendenten Grund
295
werden soll. Schleiermacher wird die Vermeidung des oben genannten, die Unmöglichkeit reflexiver Selbstbegründung des Selbstbewußtseins betreffenden Zirkels nicht durch den Eintrag eines zweiten, die Unmöglichkeit nichtreflexiver Selbstbegründung des Selbstbewußtseins konstituierenden Zirkels, erkaufen dürfen. 139 Der Lösungsweg, den Schleiermacher hier beschreitet, besteht meines Erachtens nun weder in der Konstruktion eines sich selbst setzenden Selbstbewußtseins 140 noch im Postulat der Vermittelt,39
140
Dieser - von der oben genannten zu unterscheidenden - zirkulären Struktur widmet Wagner: Dialektik 141-151 und 210-214 seine vorrangige Aufmerksamkeit. Diese Ansicht - und darüber hinaus die Ansicht der Mißlungenheit dieser Konstruktion - vertritt Wagner: Dialektik 141-146.210-214.275-278. Ihm schließt sich Lehnerer: Kunsttheorie 66-75 an. Dagegen wird hier die Auffassung vertreten, daß der Gedanke des sich-selbst-setzenden Selbstbewußtseins, die zentrale Deutekategorie der Wagnerschen Interpretation, weder in der Anlage der Dialektik noch in der zur Betrachtung anstehenden Textpassage motiviert ist. Denn einmal abgesehen davon, daß der o.a. Deutung der rein exegetische Anhalt fehlt, scheint mir eine der Hauptabsichten der Schleiermacherschen Ausführungen gerade darin zu bestehen, die Aufgehobenheit aller kausalen Relationen im transzendenten Grund bzw. seinem Repräsentationsmodus, dem unmittelbaren Selbstbewußtsein, zu betonen. Ubersieht man dagegen die konstitutive Funktion, die diese Idee der Aufgehobenheit der kausalen Relationen für die Idee der realitätsermöglichenden verknüpfenden Aufhebung des höchsten Gegensatzes im transzendenten Grund und für die Idee des Analogieverhältnisses zwischen dem transzendenten Grund und dem unmittelbaren Selbstbewußtsein hat, so wird man eben diese zuletzt genannte Idee nicht mehr systematisch verorten können und also der Idee des sich-selbstsetzenden Bewußtseins keinerlei wissenskonstitutive Funktion zuerkennen können, mithin das Unternehmen der Dialektik als gescheitert ansehen müssen. Genau diesen Weg nimmt die Wagnersche Interpretation: Sie versteht die Idee des transzendenten Grundes als funktionales Konstrukt des Selbstbewußtseins (a.a.O. 163-168), deutet folglich auch die Idee des Analogieverhältnisses zwischen transzendentem Grund und unmittelbarem Selbstbewußtsein als überflüssiges reflexives Ornament (a.a.O. 151-156) und muß also zu dem Schluß kommen, daß eine letzte Sicherheit für die Realität des Wissens in der Dialektik nicht benannt ist. Denn, so die Wagnersche Interpretation, das Wissen produzierende, sich-selbst-setzende Bewußtsein muß sich zwar als Wissen produzierendes, sich-selbst-setzendes Bewußtsein voraussetzen, erfaßt jedoch nicht sich selbst im Medium des Wissens als sich-selbst-setzendes Bewußtsein (a.a.O. 210-214.275-278). Aber dieser gesamte Gedankengang läßt sich eben nur gegen Schleiermachers Argumentationsabsicht durchführen: Wenn man nämlich den Gegensatz zwischen Setzen und Gesetztsein eisern absolut setzt, obwohl dieser von Schleiermacher doch gerade als notwendigerweise im letzten Grunde vermittelt erwiesen werden soll. Damit scheint mir die Interpretation Wagners auch grundsätzlich auf einem fragwürdigen Verfahrensansatz zu basieren. Denn Wagner trägt mit der Idee des sichselbst-setzenden Bewußtseins einen der Fichteschen Wissenschaftslehre von 1794 entnommenen Gedanken in den Schleiermacherschen Gedankenkreis der Dialektik ein (a.a.O. 146-149) und statuiert ihn als die vermeintliche Zielperspektive der Schleiermacherschen Dialektik. Abgesehen davon, daß dieser Eintrag im konkreten Falle etwas unvermittelt ist, weil er die Intention der Dialektik in ihr Gegenteil verkehrt
296
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
heit Gottes im Gefühl 141 , sondern in der Entfaltung der Identität des Bewußtseinsgehaltes und des Gefühlsgehaltes im „unmittelbaren Selbstbewußtsein = Gefühl". Denn das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" gründet einerseits in dem denkenden und wollenden Bewußtsein, insofern es die „Indifferenz beider Formen" 1 4 2 ist; und es gründet andererseits im Gefühl, insofern es „beständig jeden Moment, sei er nun vorherrschend denkend oder wollend, immer begleite[t]" 1 4 3 . Doch geht es in keiner dieser beiden Formen auf; vielmehr besteht sein eigentümliches Wesen eben in der Einheit von Indifferenz und Begleitung aller Momente des Bewußtseins. U m dieses zu verdeutlichen, muß zunächst der Versuch unternommen werden, den affirmativen Gehalt des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl", sofern es den Indifferenzpunkt der Bewußtseinsformen bildet und den affirmativen Gehalt des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl", sofern es die Begleitung aller Bewußtseinsmomente bildet, zu unterscheiden. a) Das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" als Indifferenzpunkt der Bewußtseinsformen. Dieser Aspekt des affirmativen Gehaltes des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl" beruht auf der Unterscheidung zwischen „setzendem Sein" und „gesetztem Sein" 1 4 4 . Damit geht es in dieser Unund die Schleiermachersche Absicht der Abgrenzung von Fichte nicht genügend berücksichtigt, ist es auch prinzipiell problematisch, die Ausführungen des Autors Α am Zielbegriff des Autors Β zu messen, um von hier aus auf die „Aussichtslosigkeit ( . . . ) , die im Ansatz" der Ausführungen des Autors Α „schon ( . . . ) mitgesetzt ist", zu schließen (a.a.O. 278,17f). Wagner wiederholt damit - seine eigenen Prinzipien und Einsichten auf den Kopf stellend - einen methodischen Fehler, dem schon die von der sog. Dialektischen Theologie vorgebrachte Schleiermacher-Kritik verfallen war, indem deren Interpretationsansatz den eigenen Lesehinsichten und Verstehensvoraussetzungen einen höheren Wert beimaß als dem äußeren historischen Kontext und den inneren systematischen Intentionen des Schleiermacherschen Werkes. 141
Diese Auffassung legt die Darstellung Eckerts (Eckert: Gott, Welt und Mensch 288291) nahe. Sie untergräbt aber Schleiermachers Absicht der ausdrücklichen Unterscheidung zwischen der Idee des nichtduplizitären transzendenten Grundes und den begrifflichen Bildern als den duplizitär verfaßten Ausdrücken dieser Idee des transzendenten Grundes (vgl. z.B. Dial 1822 [Ms.], L I I . und LIII. Stunde, D O 294,31-40 [ D J 431,13-23]).
142
Dial 1822 (Ms.), L I . Stunde, D O 288,33f ( D J 429,8)
143
Dial 1822 (Ms.), L I . Stunde, D O 289,26-28 ( D J 429,25f)
144
Dial 1822 (Ms.), L I . Stunde, D O 288,28-34 ( D J 429,2-8): „Im Denken ist das Sein der Dinge in uns gesetzt auf unsere Weise, im Wollen ist unser Sein in die Dinge gesetzt auf unsere Weise. Also, sofern nicht mehr das Sein der Dinge in uns gesetzt wird, wird unser Sein in die Dinge gesetzt. Aber unser Sein ist das setzende, und
III. D e r Gehalt der A n m e r k u n g e n z u m transzendenten G r u n d
297
terscheidung um das Verhältnis des Subjektes zu seiner Außenwelt. Schleiermacher knüpft in dieser Unterscheidung an diejenige Grundunterscheidung an, der bereits in der Entfaltung des höchsten Gegensatzes leitende Funktion zuerkannt worden war: 1 4 5 Indem „das Sein der Dinge in uns gesetzt ist" und „unser Sein in die Dinge gesetzt ist", sind wir für uns genau diejenige Identität des Denkens und des Seins, von der die Statuierung des höchsten Gegensatzes ausgehen mußte. 1 4 6 Zunächst also rekurriert das Subjekt, insofern es „setzendes Sein" ist nämlich: denkendes und wollendes Sein - stets auf die Möglichkeit der Einheit von Denken bzw. Wollen und Sein. Mit der Idee des „Setzens" verbindet sich aber für Schleiermacher stets produktive Tätigkeit: 1 4 7 „Setzend" ist das Subjekt im Denken und im Wollen, indem es das es umgebende Sein denkend erfaßt, vor allem aber: indem es das umgebende Sein wollend verändert. Daran ist zweierlei festzuhalten: Erstens, will man dem „Setzen" als einer Funktion des Bewußtseins seinen Ort innerhalb der drei geistigen Funktionen „Denken", „Wollen" und „Fühlen" zuweisen, so muß es natürlich auch dem Denken, primär aber dem Wollen zugeschlagen werden, während es dem Fühlen entzogen ist: „(...) im Wollen ist unser Sein in die Dinge gesetzt (.,.)" 1 4 8 . Zweitens, das „Setzen" ist immer eine ideale Tätigkeit, die sich auf real Gegebenes richtet. 149 In diesem Bezug des idealen Setzens auf real Seiendes ist also der höchste Gegensatz als der Gegensatz des Idealen und des Realen vermittelt. Das setzende Sein muß als ursprüngliche Einheit von Setzen und Gesetztem, von Subjekt und Objekt verstanden werden. 1 5 0 N u n ist das Verhältnis des Subjektes zu den „Dingen" aber nicht nur dadurch bestimmt, daß es als das das Sein der Dinge setzende dieses bleibt im N u l l p u n k t übrig; also unser Sein, als setzend, in der Indifferenz beider F o r m e n . " 145 146
147
148
Vgl. S. 77ff Vgl. die F o r m u l i e r u n g in Dial 1822 (Ms.), X X V I I I . Stunde, D O 175,39-41 ( D J 397,25): „ G e h e n wir nun darauf z u r ü c k , daß wir für uns und für einander die Identität sind des D e n k e n s u n d des G e d a c h t e n oder Seins, indem wir denkendes Sein sind und seiendes D e n k e n ( . . . ) . " Vgl. z.B. Dial 1814/15, T l . l § 94 D A 2 17 ( D J 48). Dial 1814/15, T l . l § 108.2 D A 2 20 ( D J 57). Dial 1822 (Ms.), X X . Stunde, D O 137-139 ( D J 386f). Dial 1828, 19. Stunde, D J 453 spricht explizit v o m „ S e z e n der A u ß e n w e l t " . Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,29f ( D J 429,3f)
,49
Reuter: Einheit 225f; Lehnerer: Kunsttheorie 68
150
Vgl. auch Wagner: Dialektik 151. Z u diesem Resultat gelangt Wagner, o b w o h l er das „setzende Sein" als „sich-selbst-setzendes Sein" des Selbstbewußtseins auffaßt u n d damit m.E. mißversteht. Siehe d a z u o b e n A n m . 140.
298
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
Sein aufgefaßt wird, sondern zugleich ist das Sein der Dinge auch in das Sein des Subjektes gesetzt. Auch darin ist das Subjekt auf die Möglichkeit der Einheit von Denken bzw. Wollen und Sein bezogen. Allerdings in umgekehrter Weise, als dies oben im Falle der das Sein setzenden Funktion gegeben war: Denn insofern das Sein der Dinge in das Subjekt gesetzt ist, ist das Subjekt passiv, Sein aufnehmend. Bezogen auf die Bewußtseinsfunktionen bestimmt das Gesetztsein der Dinge selbstverständlich auch das Wollen, vor allem aber das Denken und keinesfalls das Fühlen: „Im Denken ist das Sein der Dinge in uns gesetzt (.,.)" 151 . Damit hat das Subjekt zugleich auch realen, objektiven Charakter, ist Gegenstand idealer Setzung. In dieser Bezogenheit ist also ebenfalls der höchste Gegensatz als der Gegensatz des Idealen und Realen vermittelt. Das Gesetztsein der Dinge ins Sein muß ebenfalls als ursprüngliche Einheit von Setzen und Gesetztem, von Idealem und Realem, von Subjekt und Objekt verstanden werden. Halten wir fest: Denken und Wollen als Funktionen des Bewußtseins verdanken sich einer stets vorausgesetzten und in Anspruch genommenen, ursprünglichen und Korrelativität ermöglichenden Einheit von Subjekt und Objekt. Daß diese Einheit im Prozess des Denkens (und Wollens) in Anspruch genommen wird, in diesem Prozess des Denkens (und Wollens) aber selbst nicht mehr fundiert werden kann, konnte als Ergebnis der ersten vier Themenkreise der Dialektik gelten. Dieses Ergebnis wird in der hier betrachteten Passage unter Zugrundelegung der Parameter „setzendes Sein" und „gesetztes Sein" nun aber insofern spezifiziert, als die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt hier nun speziell die Außenverhältnisse des Subjektes betrifft: Das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" verbürgt als Indifferenzpunkt der Bewußtseinsformen die Einheit von Subjekt und Objekt, insofern in ihm das Sein der Dinge in uns und unser Sein in den Dingen korrelativ sind. b) Das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" als Begleitung aller Momente des Bewußtseins. Ansatzpunkt dieses zweiten Aspektes des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl" ist dessen zeitlich bestimmte Gestalt: Als Indifferenzpunkt von Wissen und Wollen kann das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" nur solange aufgefaßt werden, wie Wissen und Wollen als Moderatoren des Verhältnisses zwischen Sein und 151
Dial 1 8 2 2 (Ms.), LI. Stunde, D O 288,28f (DJ 429,2f)
III. Der Gehalt der Anmerkungen zum transzendenten Grund
299
Bewußtsein aufgefaßt werden. Werden Wissen und Wollen dagegen unabhängig von ihrem Außenverhältnis, also rein subjektbezogen als Vermögen oder Funktionen des Bewußtseins betrachtet, so zeigt sich, daß das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" „beständig jeden Moment, sei er nun vorherrschend denkend oder wollend", begleitet. Dieser Aspekt scheint also, das legt Schleiermachers Formulierung nahe, in der Gefühlshaltigkeit des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl" zu wurzeln. 152 Der Kern des Gedankens besteht jedoch darin, daß das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt, sofern er als innersubjektiver Gegensatz angesehen werden kann, dadurch aufhebt, daß es als eine zeitlich bestimmte Begleitung aller Momente des Bewußtseins besteht. c) Das „unmittelbare Selbstbewußtsein - Gefühl" als Identität von Indifferenz und Begleitung. Die im „unmittelbaren Selbstbewußtsein = Gefühl" präsente Aufhebung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt besteht also in zweigestaltiger Weise: als Indifferenz der Formen des Bewußtseins und als Begleitung der Momente des Bewußtseins. Im Begriff des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl" sind beide Aspekte miteinander identifiziert: Für das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl", sofern es der Indifferenzpunkt des wissenden und wollenden Bewußtseins ist, ist die Einheit von Subjekt und Objekt unverfügbar. Für das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl", sofern es alle Momente des Denkens und Wollens begleitet, ist die Einheit von Subjekt und Objekt unhintergehbar. In der als „unmittelbares Selbstbewußtsein = Gefühl" bestimmten Identität von Indifferenz und Begleitung der Bewußtseinspunkte liegt diejenige Ubereinstimmung von Subjekt und Objekt, die die denkende und die wollende Bewußtseinsfunktion als Bedingung ihrer Realitätsbezogenheit immer schon als gegeben voraussetzen und in Anspruch nehmen. Nun besteht das Problem dieser Erklärung aber darin, daß sie die Frage nach der Garantie für die Ubereinstimmung der 152
Vgl. vor allem die Vorlesungsnachschrift: „Dieses unmittelbare Selbstbewußtsein, als wirklich erfüllte Zeit gesetzt, wollen wir durch den Ausdruck ,Gefühl' bezeichnen." (Dial 1822 [Ns.], LI. Stunde, D O 287,10-12). Aber auch Schleiermachers Handschrift legt diese Zuordnung nahe: „Das unmittelbare Selbstbewußtsein ist aber nicht nur im Ubergang; sondern, sofern Denken auch Wollen ist und umgekehrt, muß es auch in jedem Moment sein. Und so finden wir auch das Gefühl als beständig jeden Moment, sei er nun vorherrschend denkend oder wollend, immer begleitend." (Dial 1822 [Ms.], LI. Stunde, D O 289,23-28 [DJ 429,22-26], Hervorhebung von mir)
300
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
Bewußtseinsfunktionen mit dem außerhalb des Bewußtseins liegenden Sein einstweilen durch den Hinweis auf den innersubjektiven Ort dieser Ubereinstimmung beantwortete. Die Frage nach dem Grund, der Identität von Subjekt und Objekt wurde als Frage nach der diese Identität verbürgenden Funktion behandelt: „Im Gefühl sind wir uns die Einheit des denkend wollenden und wollend denkenden Seins irgendwie, aber gleichviel wie, bestimmt." 153 Schon aus der Formulierung154 spricht eine Vorläufigkeit, die es im folgenden einzulösen gilt. Im einzelnen bleiben zwei Punkte ungeklärt. Der erste betrifft das Verhältnis der (die Außenverhältnisse des Subjekts betreffenden) Auflösung des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt im indifferenten „unmittelbaren Selbstbewußtsein = Gefühl" einerseits zur innersubjektiven Aufhebung des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt im begleitenden „unmittelbaren Selbstbewußtsein = Gefühl" andererseits. Denn auch die Identifizierung beider Einheitspunkte könnte, weil vorläufig nur innerhalb des Bewußtseins angesiedelt, den Grund dieser Aufhebung als einen in der Differenz zwischen Innenwelt und Außenwelt vermittelten Grund erscheinen lassen. Auch die zweite Frage betrifft die innersubjektive Lokalisierung der Aufhebung der Gegensätze. Denn diese Lokalisierung wirft außerdem die Frage auf, ob die Wissen ermöglichende, Realität garantierende Ubereinstimmung von Subjekt und Objekt als eine ursprünglich innerhalb des Bewußtseins angesiedelte Funktion aufzufassen ist. Ist das Bewußtsein als der Manifestationsort oder als der Konstitutionspunkt der Ubereinstimmung aufzufassen? Diesen für die Gültigkeit der Vorstellung des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl" entscheidenden Fragen widmet Schleiermacher nun in der Theorie der analogischen Repräsentanz des transzendenten Grundes im „unmittelbaren Selbstbewußtsein = Gefühl" seine Aufmerksamkeit. 3. Zusammenfassung: Die analogische Repräsentanz des transzendenten Grundes im „unmittelbaren Selbstbewußtsein = Gefühl". Halten wir noch einmal den Einsatzpunkt dieses Gedankenganges fest: Das Subjekt ist stets durch die Einheit des Idealen und Rea153
Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 289,19-21 (DJ 429,17-19)
154
Auf die grammatikalische Eigentümlichkeit des Satzes stützt Lehnerer sein Verständnis der Pointe (und seine Kritik) des Gedankens: „In diesem Gedanken, daß wir zwar durch uns und für uns die Einheit (das Subjekt) sind, darin bestimmt, aber nicht durch uns, liegt der eigentümliche Lösungsweg, den Schleiermacher zur problematischen Begründung des Subjekts beschreitet." (Lehnerer: Kunsttheorie 76; Hervorhebung im Original)
III. Der Gehalt der Anmerkungen zum transzendenten Grund
301
len bestimmt. Im Gesetztsein der Dinge wie im Setzen der Dinge, im Gesetztsein unseres Seins wie im Setzen unseres Seins ist die Ubereinstimmung von Subjekt und Objekt vorausgesetzt. Diese Ubereinstimmung von Subjekt und Objekt muß nach zwei Richtungen gelten: Sie muß einerseits als Aufhebung des innersubjektiv manifesten, bewußtseinstheoretischen Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt in den Bewußtseinsfunktionen, also als identische Konstituiertheit der innersubjektiven Bewußtseinsfunktionen gelten können. Sie muß andererseits als Aufhebung des objektiv manifesten Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt, also als Aufhebung des ontologischen Gegensatzes zwischen Bewußtsein und allem übrigen Sein gelten. Daraus ergaben sich zwei Probleme: Ist der Gegensatz ein und derselbe höchste Gegensatz, so muß auch der Grund der Aufhebung ein und derselbe sein; und ist der Grund der Aufhebung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt jenseits von Subjekt und Objekt, so wird er sich allen durch den Gegensatz von Subjekt und Objekt konstituierten Erfassungsmodi (Denken, Wissen, Wollen, Empfinden etc.) entziehen müssen. Beide Probleme sind dabei darin miteinander verschränkt, daß es für ihre Lösung nur einen einzigen Grund geben kann: Den identischen Grund der ,,aufhebende[n] Verknüpfung der relativen Gegensätze" 155 . Diesen identischen Grund nennt Schleiermacher den „transzendenten Grund". Der Weg zur Annahme der Transzendenz des Grundes für die Ubereinstimmung des Wissens (und Wollens) mit dem Sein führt dabei über die Frage der Erkennbarkeit bzw. Wißbarkeit dieses Grundes. Der transzendente Grund ist nicht „ein funktionales Konstrukt" 156 des Selbstbewußtseins in dem Sinne, daß dieses nun eine ontologische Instanz rekonstruierte, der es sein eigenes Sein kausal verdankt. Vielmehr ist die Annahme des transzendenten Grundes eine Konsequenz aus der Selbstbeobachtung des Wissens in dem Sinne, daß das Wissen sich seiner eigenen Möglichkeit und seiner' eigenen Beschränktheit, seiner eigenen Bedingtheit und Bestimmtheit 157 bewußt wird. Auch in den Ausführungen über die Transzendenz des Grundes der Ubereinstimmung von Wissen und Sein bleibt Schleiermacher also dem Erkenntnisziel der Dialektik treu. Dies soll die Rekonstruktion des Gedankenganges zeigen: 155 156 157
Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 289,22f (DJ 4 2 9 , 2 l f ) Wagner: Dialektik 163-168 passim Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 289,28f (DJ 430,2f)
302
Viertes Kapitel: Die Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
Das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" garantierte zunächst als innersubjektive Funktion die Einheit der Bewußtseinsfunktionen. Indem es selbst nicht durch den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt bestimmt ist, erfüllt es eine erste notwendige Bedingung dafür, tatsächlich auch zum Garanten der innersubjektiven Einheit zu taugen. Diese innersubjektive Einheit ist nun zwar innersubjektiv garantiert, aber nicht innersubjektiv konstituiert. Die Korrelativität von Subjekt und Objekt verdankt sich ihrerseits einem außerhalb des Gegensatzes von Subjekt und Objekt liegendem Grund. Uber diesen Grund ist keine der gegenständlichen Erkenntnis vergleichbare Erkenntnis zu erzielen, kein reales Wissen möglich: Der Grund ermöglicht gegenständliche Erkenntnis, indem er die Korrelativität von Subjekt und Objekt konstituiert; aber als Konstitutionsgrund dieses Gegensatzes, als Einheitspunkt dieses Gegensatzes geht er selbst in dem Schema des Subjekt-Objekt Gegensatzes nicht auf. Er ist „transzendent" in dem Sinne, daß er reales Wissen als Korrelation von Subjekt und Objekt überschreitet und „transzendental" in dem Sinne, daß er reales Wissen als Korrelativität von Subjekt und O b jekt ermöglicht. 158 Dem Subjekt präsentiert sich dieser transzendente Grund darum auch nur auf analogische Weise: Im „unmittelbaren Selbstbewußtsein = Gefühl" „haben"159 wir „die Analogie mit dem transzendenten Grunde, nämlich die aufhebende Verknüpfung der relativen Gegensätze" 160 . Indem der so im Gefühl abgespiegelte 161 oder repräsentierte 162 transzendente Grund also selbst nicht mehr ein „im Gegensatz Begriffenes" 163 ist, ist eine weitere notwendige Bedingung für die Realität des Wissens, für die Korrelativität von Subjekt und Objekt erfüllt. Dieses „Haben" des transzendenten Grundes ist nun nicht als realer Inhalt des „unmittelbaren Selbstbewußtseins = Gefühl" zu erfassen. Der Repräsentanzmodus des transzendenten Grundes entzieht sich mit Notwendigkeit jeder auf dem Gegensatz zwischen Subjektivität und Objektivität beruhenden Erfaßbarkeit. Wir „haben" die Ga158 159
160 161 162
163
S.o. S. 69 A n m . 299 Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 289,21 (DJ 429,20). Das Verb „haben" verwenden an entsprechender Stelle auch Dial 1814/15, Tl.l § 215 LS D A 2 64 (DJ 151), Dial 1818 (Ns.), DJ 153,6, Dial 1828, 50. Stunde, DJ 475,5. Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 289,21-23 (DJ 429,20-22) Dial 1822 (Ns.), LH. Stunde, D O 295,3 Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 289,35 (nachträglich angefügte Randbemerkung, fehlt in DJ) Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 289,39 (DJ 430,3f)
III. D e r Gehalt der A n m e r k u n g e n z u m transzendenten G r u n d
303
rantie für die aufhebende Verknüpfung aber in unserem Bewußtsein selbst: „Diese Aufhebung der Gegensätze könnte aber nicht unser Bewußtsein sein, wenn wir uns selbst darin nicht ein Bedingtes und Bestimmtes wären und würden." 1 6 4 Aber nicht bedingt und bestimmt durch etwas selbst im Gegensatz Begriffenes - das war bereits deutlich geworden - und auch nicht bedingt und bestimmt als etwas selbst im Gegensatz Begriffenes: Sondern bedingt und bestimmt insofern, als „in unserem Selbstbewußtsein auch das Sein der Dinge, wie wir selbst, als Wirkendes und Leidendes gesetzt ist, also sofern wir uns dem Sein der Dinge und dieses uns identifizieren." 1 6 5 Bedingt und bestimmt ist unser Bewußtsein also nicht in dem Sinne, daß es Gegenstand einer Setzung wäre, passives Objekt eines kausalen Aktes. Bedingt und bestimmt ist unser Bewußtsein auch nicht in dem Sinne, daß es Urheber einer Setzung wäre, aktives Subjekt eines kausalen Aktes. Sondern bedingt ist die Realitätshaltigkeit unseres Bewußtseins durch die Relativität der Gegensätze und bestimmt ist unser Bewußtsein dadurch, daß es dieser Relativität der Gegensätze als der Bedingung der Möglichkeit von Realität in einer selbst nicht gegensätzlichen Weise gewärtig wird. Denn in jedem seiner Akte nimmt unser Bewußtsein die Korrelativität von Subjekt und Objekt, von Aktivität und Passivität als gleichermaßen unverfügbar und unhintergehbar immer schon in Anspruch. Sucht man überhaupt nach einem ontologischen Manifestationsindiz des transzendenten Grundes, so würde man die Aufhebung der Kausalitätskategorie als charakteristisches Kennzeichen benennen müssen. 1 6 6 D o c h liegen derartige ontologische Beschreibungen abseits vom Interesse der Dialektik. Vielmehr konzentriert sich Schleiermachers Bemühen auch an diesem Punkt auf eine Beschreibung des bewußtseinstheoretischen Niederschlages dieser Aufhebung aller Kausalität, auf die Beschreibung des innersubjektiven Repräsentanzmodus dieser Ermöglichungsbedingung der Verknüpfung aller Gegensätze. Im Selbstbewußtsein selbst ist, weil „in unserem Selbstbewußtsein auch das Sein der Dinge, wie wir selbst, als Wirkendes und Leidendes 164
Dial 1822 (Ms.), L I . Stunde, D O 289,36-38 ( D J 429,33-430,2) ( H e r v o r h e b u n g im Original)
,65
Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 290,20-23 ( D J 430,11-14)
166
Vgl. Reuter: Einheit 211.243. In diese Richtung scheint auch die Interpretation R . O d e b r e c h t s zu gehen, wenn er das im unmittelbaren Selbstbewußtsein artikulierte Kausal- und Relationengefüge v o r einem je einseitigen Verständnis als „Passivität" b z w . als „Intentionalität" zu bewahren sucht (Odebrecht: G e f ü g e 286).
304
Viertes Kapitel: D i e Frömmigkeitstheorie in der Dialektik
gesetzt ist" und wir also „uns dem Sein der Dinge und dieses uns identifizieren" 1 6 7 , diese Aufgehobenheit der Kausalkategorie ablesbar. Erfährt das wissenwollende Subjekt diesen transzendenten Grund der verknüpfenden Aufhebung der relativen Gegensätze und damit die Ermöglichungsbedingung alles realen Wissens als gleichermaßen unverfügbar und unhintergehbar, so liegt darin die „transzendente Bestimmtheit des Selbstbewußtseins" 1 6 8 oder, wie Schleiermacher auch sagen kann, die „religiöse Seite" 1 6 9 des Gefühls. Denn das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" stellt sich als Abspiegelung des Ermöglichungsgrundes von (wissensermöglichender) Korrelativität überhaupt nicht mehr als punktuell identifizierbare Form des Bewußtseins oder Bestimmtheit des Gefühls dar. Es ist, nachdem es in keinerlei Kausalzusammenhänge mehr einzuordnen ist, sondern den gleichermaßen transzendenten wie transzendentalen Grund der Korrelativität überhaupt repräsentiert, auch nicht einfach als ein spezifisches Bewußtsein (oder ein spezifisches Gefühl) der Abhängigkeit beschreibbar. Vielmehr wird es von Schleiermacher als „allgemeines Abhängigkeitsgefühl" 1 7 0 bezeichnet. Damit zeigt sich nun zum Schluß aber, daß das „allgemeine Abhängigkeitsgefühl" sehr wohl aus der Anlage der Dialektik motiviert ist, ja: sogar eine konstitutive Funktion einnimmt und auch eine sinnvolle terminologische Gestalt trägt, die die Differenz zu den duplizitär verfaßten Formen des Bewußtseins oder des Gefühls deutlich herausstellt. 171 Betrachtet man abschließend noch einmal die selbstgestellte Aufgabe der Dialektik, nämlich die Ermöglichungsbedingungen von realem Wissen zu erheben, so ist als Ergebnis festzuhalten, daß die Bedingung der Möglichkeit von Wissen überhaupt sich einem gleichermaßen transzendenten wie transzendentalen Grund verdankt, der sich selbst der wissenden Erfassung entzieht. Dieser Grund ist aber andererseits innerhalb des Selbstbewußtseins als Grund von Realität überhaupt172 unabweisbar präsent, nämlich im „unmittelbaren Selbst167 168 169 170 171
172
Dial 1822 (Ms.), LI. Stunde, D O 290,20f ( D J 4 3 0 , l l f ) Dial 1822 (Ms.), L I . Stunde, D O 290,17 ( D J 430,8) Dial Dial Dies 163;
1822 (Ms.), L I . Stunde, D O 290,18 ( D J 430,9) 1822 (Ms.), L I . Stunde, D O 290,25f ( D J 430,16f) m u ß im Widerspruch gegen O f f e r m a n n : Einleitung 81 f; Wagner: Dialektik 157Schultz: Verhältnis 129f betont werden.
Vgl. die prägnante Z u s a m m e n f a s s u n g G . Scholtz': „ I m unmittelbaren Selbstbewußtsein ist die Realität des eignen Selbst, die Realität der Außenwelt und die Realität schlechthin, das Sein G o t t e s , gleichursprünglich erschlossen und verbürgt." (Scholtz: Schleiermacher-Dilthey 175). H e r m s : H e r k u n f t 136-138 sieht in Schlei-
III. Der Gehalt der Anmerkungen zum transzendenten Grund
305
bewußtsein = Gefühl". Denn die Ermöglichung von Korrelativität im „unmittelbaren Selbstbewußtsein = Gefühl" muß als strukturidentisch mit der Ermöglichung von Korrelativität überhaupt verstanden werden. Was also die Erscheinungsweise des „unmittelbaren Selbstbewußtsein = G e f ü h l " betrifft, so kann es als die die Korrelativität überhaupt begründende Funktion aus konstitutiven Gründen selbst durchaus nicht duplizitär verfaßt sein und es kann darum auch niemals für sich allein zum Vorschein kommen, sondern nur in Verbindung mit Momenten b z w . Formen des Bewußtseins. U n d was schließlich die Artikulierbarkeit des Innegewordenseins dieser schlechterdings konstitutiven Funktion betrifft, so kommt in der Bezeichnung des „unmittelbaren Selbstbewußtsein = Gefühl" als „allgemeines Abhängigkeitsgefühl" dann jedenfalls eines ganz deutlich zum Ausdruck: D a ß das „unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl" die die Stabilität der Weltund Selbstverhältnisse des Subjektes begründende Funktion und das heißt: die das Subjekt erst als solches konstituierende Funktion ist aber daß das Subjekt dieses seines eigenen Konstitutionsmodus doch nur in einem selbst noch nicht duplizitär verfaßten Modus inne werden kann.
ermachers Jacobi-Studium den Ursprung dieser Einsicht in die den Realitätsbezug vermittelnde Funktion des unmittelbaren Selbstbewußtseins.
Schluß In diesem Schluß abschnitt möchte ich weder eine „Zusammenfassung" noch eine abschließende Bewertung der Einheitlichkeit der Schleiermacherschen Frömmigkeitstheorie bieten. Bestand der argumentative Ansatz des in dieser Arbeit eingeschlagenen Verfahrens darin, die Hauptpointen der jeweiligen Passagen auf der Folie ihres jeweiligen funktionalen Kontextes und ihres wissenschaftlichen Ortes zu rekonstruieren, so wird man dessen Resultate zum Schlüsse nicht durch den Eintrag schlichter Identifikationen oder Divergenzfeststellungen nivellieren dürfen. Vielmehr möchte ich in diesen abschließenden Bemerkungen einige Schlaglichter auf diejenigen Ergänzungen, Entsprechungen und Präzisierungen werfen, die sich eben gerade auf dem Hintergrund der funktionalen und wissenschaftssystematischen Differenzen feststellen lassen. 1 Daß darin weder eine Vollständigkeit noch eine Wiederholung, sondern lediglich eine pointierende, sich an den Leitgesichtspunkten der oben vorgelegten Gesamtinterpretation orientierende Auswahl intendiert sein kann, dürfte selbstverständlich sein. Dabei möchte ich so vorgehen, daß ich zuerst das Verhältnis zwischen der Frömmigkeitstheorie der Reden und derjenigen der Glaubenslehre ins Auge fasse (I). Daran anschließend soll auf zwei Aspekte des Verhältnisses zwischen der Frömmigkeitstheorie der Reden und derjenigen der Dialektik hingewiesen werden (II) und schließlich will ich einige Bemerkungen zu den Grundlinien des Verhältnisses zwischen der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre und der Frömmigkeitstheorie der Dialektik treffen (III). Ein Ausblick soll diesen Schluß und diese Arbeit beenden (IV).
F ü r andere, dezidiert vergleichende, z.T. wesentlich stärker begrifflich orientierte Interpretationsansätze verweise ich auf folgende Autoren: Z u m Verhältnis zwischen R e d e n und Glaubenslehre auf H u b e r ( H u b e r : Entwicklung 287-292) und Ebeling (Ebeling: Religionsbegriff 78-81); z u m Verhältnis zwischen Glaubenslehre und D i a lektik auf O f f e r m a n n ( O f f e r m a n n : Einleitung 66-84) u n d Wagner (Wagner: Dialektik 172-210).
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I. Das wechselseitige Ergänzungsverhältnis zwischen der Frömmigkeitstheorie der Reden und der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre Hier ist zunächst eine wesentliche Ubereinstimmung zu notieren: Sowohl in den Reden als auch in der Glaubenslehre erfährt die Frömmigkeit keine primär inhaltlich-gegenständliche Beschreibung, sondern die formale Struktur der Bewußtseinsfunktion „Frömmigkeit" wird als deren eigentliches proprium hervorgehoben. Im einzelnen entfaltet Schleiermacher das Wesen der Frömmigkeit als diejenige Teilfunktion des menschlichen Bewußtseins, die das Prinzip des Verhältnisses des Subjektes zu den Objekten des Wissens und des Handelns zu erfassen sucht. In beiden Fassungen besteht die Pointe darin, daß die Struktur der Bezogenheit des Bewußtseins auf den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt in übereinstimmender Weise bestimmt wird: Das Bewußtsein muß den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt einerseits als Ermöglichungsbedingung der wissenden bzw. handelnden Bewußtseinsfunktion voraussetzen und andererseits zugleich hinnehmen, daß der identische Konstitutionspunkt dieses Gegensatzes sich der Erfassung durch eben diese Bewußtseinsfunktionen entzieht. Das Bewußtsein muß sich in allen seinen Momenten der durchgängig duplizitär oder korrelativ bestimmten Struktur alles Seienden und auch seiner eigenen Funktionen bedienen, ohne daß es doch den Grund dieser durchgängig vorausgesetzten und in Anspruch genommenen Duplizität in einer duplizitär verfaßten Funktion des Bewußtseins erfassen könnte. Anders gesagt: Wenn man der unhintergehbaren, zugleich stets vorausgesetzten und stets unverfügbaren Korrelativität von Subjekt und Objekt gewahr wird, geschieht dies als Gewahrwerden eines Identitätspunktes von Subjekt und Objekt und in einer Bewußtseinsfunktion, die selbst dem Gegensatz von Subjekt und Objekt enthoben ist und „Frömmigkeit" genannt werden kann. Dabei ist daran zu erinnern, daß diese frommen Regungen des Bewußtseins immer nur an und mit anderen Funktionen des Bewußtseins hervortreten können, aber niemals isoliert und rein für sich. Ihre Isolierung zum Zwecke der Darstellung verdankt sich einer künstlichen Abstraktion. Dieser grundsätzlich formalen, abstrakten Bestimmung der Frömmigkeit sind nun zwei hauptsächliche Unterbestimmungen der konkreten Ausdrucksgestalt individueller Frömmigkeit beigesellt. Die erste betrifft das Verhältnis der individuellen Frömmigkeit zum Got-
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tesbegriff bzw. zur Gottesvorstellung: Schleiermacher hält daran fest, daß die sprachliche Vergegenständlichung der individuellen Frömmigkeit eine der ursprünglichen frommen Affiziertheit nachgängige, notwendige Erscheinung darstellt. Die zweite Unterbestimmung betrifft die soziale Gestalt der individuellen Frömmigkeit: Die individuelle Frömmigkeit bedarf aus Gründen, die in ihrem Konstitutionsmodus liegen, der Bestätigung und Belebung in empirischen, geschichtlichen Gemeinschaftsformen. Neben dieser grundsätzlichen und wesentlichen Entsprechung zwischen der Frömmigkeitstheorie der Reden und der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre lassen sich dabei einige unterschiedliche Nuancierungen feststellen, die die Auffassung nahelegen, daß beide Fassungen der einen Frömmigkeitstheorie sich gegenseitig auslegen, ergänzen und präzisieren. So beleuchtet die Frömmigkeitstheorie der Reden stärker noch den einzelnen religiösen Augenblick: Dessen Struktur, dessen Verankerung im Leben des individuellen Subjektes und dessen Gehalt widmet Schleiermacher in den Reden die vergleichsweise größere Aufmerksamkeit. Damit wird erstens der Frömmigkeit ihr individuell-subjektiver Manifestationsort zugewiesen und dem frommen Subjekt ein Verifikationsort seiner eigenen Frömmigkeit angeboten. Damit wird zweitens aber auch der individuelle und autonome Charakter der Frömmigkeit hervorgehoben. Demgegenüber beleuchtet die Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre stärker noch als diejenige der Reden den systematischen Ort des frommen Gefühls im Zusammenhang aller Funktionen des Bewußtseins. Hatten die Reden stärker die individuelle Struktur der je einzelnen frommen Erregung zu beschreiben, so bemüht Schleiermacher sich in der Glaubenslehre nun darum, dem frommen Gefühl seinen Sitz im Ganzen der Funktionen des Bewußtseins zuzuweisen. Lag der Akzent der Reden überwiegend auf der qualitativen Unterschiedenheit der Frömmigkeit von der erkennenden und handelnden Bewußtseinsfunktion, so kann Schleiermacher in der Glaubenslehre nun die konstitutive Funktion der Frömmigkeit für die übrigen Bewußtseinsfunktionen genauer beschreiben. Damit ist es ihm nun möglich, sich der Frage nach der Sozialität und der Kommunikabilität der Frömmigkeit in einer grundsätzlicheren, spekulativ begründenden Weise zu widmen. Dies weist nun hin auf einen sich bereits in der äußeren Gestalt der Textkomplexe ausdrückenden Unterschied in dem diskursiven An-
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spruch der Frömmigkeitstheorie in den Reden bzw. in der Glaubenslehre. Trägt die Frömmigkeitstheorie in den Reden eine stärker programmatische, das einzelne Subjekt zur Schärfung seiner Wahrnehmungskompetenz anregende Gestalt, so verdankt die Entfaltung der Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre sich demgegenüber dem Ziel, die normative Funktion der indivduellen Frömmigkeit für die Lehre und das Leben der Kirche in systematischer Weise aufzuweisen. D o c h wäre es insgesamt verfehlt, das Verhältnis zwischen der Frömmigkeitstheorie der Reden und der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre als ein divergentes zu deuten. Das Maß der Differenz in den äußeren Textformen, in der Terminologie und in der sachlichen Akzentuierung macht vielmehr deutlich, daß Schleiermachers Frömmigkeitstheorie in den Reden und in der Glaubenslehre als eine in sich einheitliche und konsistente Beschreibung verstanden werden muß. Die übereinstimmende Pointe des in den Reden und in der Glaubenslehre entfalteten Wesens der Frömmigkeit - nämlich: die den identischen Grund aller Korrelativität abbildende, selbst nicht duplizitär verfaßte Funktion des Bewußtseins zu sein - kommt in den je unterschiedlichen und sich wechselseitig ergänzenden Textfassungen um so deutlicher zum Ausdruck. Diese Auffassung des wechselseitigen Auslegungsverhältnisses zwischen den Reden und der Glaubenslehre entspricht der Schleiermacherschen Selbsteinschätzung, wie sich dem folgenden Passus im Begleitbrief zur Ubersendung der Drittauflage der Reden an Brinckmann vom 19.2.1822 entnehmen läßt: „Ich wollte meine Dogmatik wäre auch fertig: D u hättest dann zusammen was sich gegenseitig ergänzt und könntest mir sagen, wie sich der oft grell genug hervortretende scheinbare Widerspruch, der für die Meisten doch nicht hinreichend gehoben sein wird, und die innerste Einheit, welche nur Wenige, die mich genauer kennen, heraus finden können, gegen einander stellen, und Dir zusammenklingen." 2
2
Briefe IV 2 8 8 , 1 4 - 1 9
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II. Das Verhältnis zwischen der Frömmigkeitstheorie der Reden und der Frömmigkeitstheorie der Dialektik Obwohl zwischen der Entfaltung der Frömmigkeitstheorie in den Reden und derjenigen in der Dialektik auf den ersten Blick keine direkte Korrelation besteht, sondern die systematischen Aspekte dieses Zusammenhanges erst über die als Brücke fungierende GlaubenslehreEinleitung sichtbar werden können, wie ich im nächsten Abschnitt zusammenfassen werde, möchte ich doch auf zwei mir wesentlich erscheinende inhaltliche Präzisierungen hinweisen, die die Dialektik an den Programmaussagen der Reden vornimmt. Dabei ist erstens an die Präzisierung der grundsätzlichen hermeneutischen Grenze zu erinnern: Während die Reden in apodiktischer Weise daran festhalten, daß die Religion nur aus sich selbst heraus und in Anknüpfung an das je individuelle religiöse Erlebnis verstanden werden könne, entfaltet die Dialektik die im Ausgang vom allgemeinen Wahrheitsbewußtsein vprzunehmende Annahme der Notwendigkeit eines transzendenten Grundes, in der die Anschauung Gottes „indirecter Schematismus"3 bleiben muß. Damit gibt Schleiermacher einerseits eine zweite Möglichkeit des Zugangs zum transzendenten Grund zu, unterstreicht andererseits die unüberbietbare Qualität des im Erlebnis wurzelnden, spezifisch religiösen Zuganges. Wollte man den gedanklichen Ort dieser Präzisierung, vor jeder wissenschaftssystematischen Lokalisierung, im Horizont der Reden (und in der Begrifflichkeit der Reden-Interpretation) beschreiben, so könnte man sagen: Die in den Reden postulierte Autonomie der Religion neben Metaphysik und Moral begründet zugleich eine Autonomie der Metaphysik, auf die in der Dialektik rekurriert werden kann. Eine zweite wesentliche Präzisierung läßt sich in bezug auf das Grundthema „Duplizitätsstruktur" feststellen. Bereits in den Reden hatte Schleiermacher auf der durchgängigen Bestimmtheit alles welthaft Seienden durch eine Grundgegensätzlichkeit insistiert und die Aufgehobenheit dieser Urdualität als das Grundkennzeichen des religiösen Erlebnisses betont. In postulatorischer Weise hielt Schleiermacher dabei also zugleich an der Allgeltung und an der Aufhebbarkeit des Gegensatzes (als dem Ort seiner eigenen Konstitution) fest. Damit sind in den Reden die Umrisse derjenigen antipositionalistischen Theorie fixiert, die Schleiermacher in der Dialektik als die Theorie 3
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vom höchsten Gegensatz durchführt. In der Dialektik wird also die zugleich formallogische und transzendentale Begründung für das in den Reden programmatisch beschriebene Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt gegeben. Das programmatische Postulat der Reden - daß der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt einerseits omnivalent, andererseits relativ sei - findet in der Dialektik seine argumentative Entfaltung: Der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt ist ein doppelter, relativer, vom höchsten Gegensatz und dessen identischem Konstitutionspunkt abhängiger Gegensatz.
III. Das wechselseitige Ergänzungsverhältnis zwischen der Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre und der Frömmigkeitstheorie der Dialektik Fragt man nach dem Verhältnis der Theorie der Frömmigkeit in der Glaubenslehre und der Theorie der Frömmigkeit in der Dialektik, so wird man nicht an die sich teilweise überschneidende Verwendung der tragenden Terminologie anknüpfen dürfen. Vielmehr habe ich oben deutlich gemacht, daß der jeweilige funktionale Kontext, in dem die die Frömmigkeitstheorie entfaltenden Passagen stehen, als der Schlüssel zum Verständnis der jeweiligen Bestimmungen anzusehen ist. Dies wird sich jetzt auch in der Nebeneinanderstellung beider Aussagenreihen bestätigen. In der Glaubenslehre stellt Schleiermacher das Gefühl als das allen frommen Erregungen Zugrundeliegende vor. In jeder frommen Erregung verbinden sich ein sinnliches, also: durch den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt bestimmtes Gefühl und das die Vorgegebenheit und Unhintergehbarkeit des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt abbildende schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl. Dabei ist im Gefühl schlechthinninger Abhängigkeit immer auch das „Woher" unserer schlechthinnigen Abhängigkeit als das außerobjektive und außersubjektive, jenseits des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt Gelegene und diesen erst Konstituierende mitgesetzt. Im unmittelbaren Selbstbewußtsein bzw. im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ist also die absolute, allgemeine Abhängigkeit des gesamten subjektiven Seins als das Repräsentiertsein des „Woher" des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühles im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl selbst abgebildet.
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In der Dialektik erweist Schleiermacher das Gefühl nun als den Ort der Repräsentanz des transzendenten Grundes für das Wissen, der aber selbst dem Wissen nicht zugänglich ist. Genauer: Der die Unterscheidbarkeit von Subjekt und Objekt konstituierende, die Gegenstandsbezogenheit des Erkennens und Handelns sichernde transzendente Grund für die Ubereinstimmung des Wissens und Handelns mit dem Sein ist der erkennenden und handelnden Bewußtseinsfunktion selbst nicht zugänglich, sondern im unmittelbaren Selbstbewußtsein bzw. im Gefühl repräsentiert. Im unmittelbaren Selbstbewußtsein bzw. im Gefühl ist also die Ermöglichungsbedingung für die Ubereinstimmung des Wissens und Handelns mit dem Sein (als transzendente Begründung von Realität überhaupt) als das Repräsentiertsein des transzendenten Grundes im unmittelbaren Selbstbewußtsein bzw. Gefühl abgebildet. Die entscheidende inhaltliche Pointe der Schleiermacherschen Theorie der Frömmigkeit besteht nun in der Ubereinstimmung dieser beiden Gegebenheiten: Das allen frommen Erregungen zugrundeliegende Gefühl als Repräsentanzort des „Woher" des subjektiven und objektiven Daseins ist zugleich der Repräsentanzort des transzendenten Grundes für die Ubereinstimmung des Wissens mit dem Sein. Dasselbe anders gesagt: Das „Woher" unseres schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls ist identisch mit dem transzendenten Grund für die jederzeit in Anspruch genommene, aber niemals selbstgesetzte Ubereinstimmung des Wissens und Handelns mit dem Sein - der Grund dieser Ubereinstimmung ist dem Wissen und Wollen nicht zugänglich, sondern ist uns in einer unmittelbaren Weise präsent. Dieser Grundgedanke der Schleiermacherschen Theorie der Frömmigkeit hat weitreichende Implikationen. Richtet man den Blick zunächst auf den Ort der Repräsentanz selbst, das Gefühl, so muß man feststellen: Das Gefühl oder unmittelbare Selbstbewußtsein als Manifestationspunkt des „Woher" unserer schlechthinnigen Abhängigkeit ist zugleich das Gefühl oder unmittelbare Selbstbewußtsein als Manifestationspunkt des transzendenten Grundes für das Wissen. Fragt man anschließend nach dem Charakter des im Gefühl Abgebildeten, so ist zu sagen: das „Woher" unseres selbsttätigen und empfänglichen Daseins ist identisch mit dem transzendenten Grund für die Ubereinstimmung des Wissens und Tuns mit dem Sein. Denn der identische Konstitutionspunkt für den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt ist zugleich einerseits der Grund für die unsere Frömmigkeit
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weckende schlechthinnige Abhängigkeit und andererseits der Grund für die das Wissen (und Handeln) ermöglichende Ubereinstimmung des Wissens mit dem Sein. Und bezieht man den Kern der Schleiermacherschen Frömmigkeitstheorie sodann auf die Funktionen des Selbstbewußtseins, so stellt man fest: das Innewerden schlechthinniger Abhängigkeit ist zugleich das Innewerden der Zuverlässigkeit von Realität. Abschließend könnte man einen Schritt zurücktreten und nach dem Gehalt und dem Umfang der Frömmigkeitstheorie selbst fragen - und folgende Antwort geben müssen: Die Schleiermachersche Frömmigkeitstheorie ist eine Theorie des Selbstbewußtseins, in der die Konstitutionsweise und die Realitätshaltigkeit des Selbstbewußtseins mit demselben Grund erklärt werden. Der Kern der Schleiermacherschen Theorie der Frömmigkeit besteht dabei also formal gesehen in der Figur der Übereinstimmung einer mit unterschiedlichem Akzent entfaltbaren, ursprünglich identischen Gegebenheit. Die Frömmigkeitstheorie der Glaubenslehre und die Frömmigkeitstheorie der Dialektik stehen einander in einer relativ zu nennenden Weise gegenüber - sie ergänzen und präzisieren sich gegenseitig, indem sie in verschiedener Weise und in verschiedenem Zusammenhang auf einen identischen Sachverhalt hinweisen. Dieser Befund bietet nun nach den Darstellungen der voranstehenden Kapitel keinen Anlaß mehr zur Irritation. Wir haben im ersten Kapitel den doppelten relativen Gegensatz als Grundfigur des Schleiermacherschen Denkens kennengelernt 4 , wir haben uns die Notwendigkeit eines höchsten Gegensatzes mit einem identischen, verborgenen Konstitutionspunkt vor Augen geführt 5 und wir haben uns vergegenwärtigt, unter welchen Gesichtspunkten Schleiermacher im System der Wissenschaften Einzelwissen zu Wissenschaften zusammenfaßt 6 . Wir haben im zweiten Kapitel festgestellt, daß bereits die Erstgestalt der Schleiermacherschen Theorie der Frömmigkeit im romantischen Frühwerk, den „Reden", die Gestalt einer Strukturtheorie trägt, nachdem das die Frömmigkeit konstituierende Formprinzip sich stets auf eine Urpolarität bezieht. 7 Diese Teilergebnisse festhaltend, haben wir im dritten Kapitel zunächst ausführlich den funktionalen Kontext der Frömmigkeitstheorie in der Glaubenslehre beschrieben 8 , bevor wir uns der 4 5 6 7 8
S.o. S.o. S.o. S.o. S.o.
S. S. S. S. S.
38-54 77-87 87-98 174-194 195-231
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Struktur des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls im Ganzen der Bewußtseinsfunktionen zuwandten 9 . Ebenso haben wir uns im vierten Kapitel zunächst eingehend das Erkenntnisinteresse der Dialektik vergegenwärtigen müssen 10 , bevor wir Schleiermachers Ausführungen über die Obliegenheiten des unmittelbaren Selbstbewußtseins sinnvoll beschreiben konnten 11 . Und so läßt sich nun auch eine bündige Erklärung für das Auftreten zweier widerspruchsfreier, verschieden akzentuierender und stets getrennt ausgeformter Gestaltungen einer einheitlichen Theorie der Frömmigkeit in der Glaubenslehre und in der Dialektik liefern: In der Glaubenslehre-Einleitung untersucht Schleiermacher das unmittelbare Selbstbewußtsein bzw. Gefühl und erweist in diesem Zusammenhang dessen konstitutive Funktion für die Struktur des objektiven Bewußtseins. In der Dialektik dagegen untersucht Schleiermacher das objektive Bewußtsein und benennt dessen konstitutive Voraussetzung, die nur im unmittelbaren Selbstbewußtsein abgespiegelt ist. Das heißt: In der Glaubenslehre-Einleitung bildet die Frage nach dem unmittelbaren Selbstbewußtsein den Anlaß und den Gegenstand der Untersuchung - und das objektive Bewußtsein wird nur insofern thematisch, als das fromme Selbstbewußtsein sich ausschließlich in wirklich zeiterfüllenden Bewußtseinszuständen ausdrückt. Dagegen setzt die Dialektik bei der Frage nach der Struktur des objektiven Bewußtseins ein und konstatiert im Zusammenhang der Unterfrage nach der Gegebenheitsweise des Grundes für die Objektivität des Bewußtseins dessen Repräsentanz im unmittelbaren Selbstbewußtsein. Das Vorhandensein zweier Aussagenreihen und das Fehlen ihrer Synthetisierung als einen bedauerlichen Mangel zu werten, hieße also, die entscheidende Pointe der Schleiermacherschen Frömmigkeitstheorie mißzuverstehen. Vielmehr muß die Duplizität selbst als Reflexionsresultat verstanden werden, als Bewußtsein der Differenz im leitenden Erkenntnisinteresse der jeweiligen Wissensgebiete. Denn die Durchführung der evidenten thematischen Parallelen 12 versagt Schleiermacher sich mit dem Hinweis auf die kategoriale Differenz der Wissensgebiete: „Ich läugne 1.) 9
S.o. S. 231-260
10
S.o. S. 265-284 S.o. S. 284-305 I m Z u s a m m e n h a n g der Glaubenslehre vgl. d a z u z.B. den H i n w e i s C G 2 § 34 Zs., B d . I, 180,1-17: „ E s kann wohl nicht unrecht sein, an dieser Stelle, wiewohl als ganz außerhalb unseres gegenwärtigen Verfahrens liegend, dennoch zu bemerken, daß es ein ebensolches Mitgesetztsein G o t t e s im objektiven Bewußtsein geben kann, auch als nicht an und für sich in der F o r m eines zeiterfüllenden Bewußtseins erscheinend,
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daß es in der Philosophie zu einer bestimmten Gotteslehre komme (...); vielmehr kommt es nur zu einer bestirnten Weltlehre und Gott bleibt die ewige Voraussezung. 2. daß dies (...) nur ein Unterschied in der empirischen Gestaltung sei daß die eine Lehre vom Fühlen ausgeht und die andre vom Wissen; denn die eine ist Grundconstruction einer Productivität, die andere Aussage über eine Receptivität. In der Religionslehre kommt dagegen gar keine Weltlehre vor als nur in Bezug auf Gott." 1 3 Die hier vorgetragene Rückführung der kategorialen Differenz zwischen der „Weltlehre" und der „Religionslehre" auf einen relativen Grundgegensatz muß schließlich auch als die einzig denkbare formallogische Begründung für Schleiermachers Charakterisierung des Verhältnisses seiner Dogmatik und seiner Philosophie als widerspruchsfrei und einander zirkulär präzisierend gelten, wie sie in dem berühmten Diktum des Briefes vom 30.3.1818 an Jacobi zum Ausdruck kommt: „Meine Philosophie also und meine Dogmatik sind fest entschlossen sich nicht zu widersprechen, aber eben deshalb wollen auch beide niemals fertig sein, und so lange ich denken kann, haben sie immer gegenseitig an einander gestimmt und sich auch immer mehr angenähert." 14
IV. Ausblick Damit muß Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit nun abschließend als eine solche wissenschaftliche Theorie verstanden wer-
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das aber auf ähnliche Weise durch die sinnliche Wahrnehmung erweckt u n d zur Erscheinung gebracht werden kann u n d aller wissenschaftlichen G e s t a l t u n g s o w o h l auf d e m G e b i e t der N a t u r als auf d e m der Geschichte z u m G r u n d e liegt. Allein wie es der Wissenschaft nur z u m Schaden gereichen könnte, wenn man sich für sie wollte auf die A u s s a g e n des f r o m m e n Selbstbewußtseins berufen o d e r der Wissenschaft etwas aus diesem G e b i e t beimischen, ebenso kann es auch für den G l a u b e n und die G l a u b e n s l e h r e nur nachteilig sein, wenn man sie mit wissenschaftlichen Sätzen durchschießt o d e r sie von der G r u n d l a g e der Wissenschaft abhängig machen will. D e n n die Glaubenslehre hat es ebensowenig mit d e m objektiven Bewußtsein unmittelbar zu tun als die reine Wissenschaft mit d e m subjektiven." Im Z u s a m m e n h a n g der Dialektik vgl. dagegen z . B . den folgenden H i n w e i s : „Wenn nun das G e f ü h l von G o t t das religiöse ist: s o scheint deshalb die Religion über der Philosophie zu stehen, wie auch viele behaupten. E s ist aber nicht so. Wir sind hieher g e k o m m e n , ohne v o n d e m G e f ü h l ausgegangen zu sein, auf rein p h i l o s o p h i s c h e m W e g e . " (Dial 1814/15, T l . l § 215.2 D A 2 64f P J 152]) M a r g 625 = K G A 1/7.3, 112f Zitiert nach C o r d e s : D e r Brief Schleiermachers an J a c o b i 209,32-35 (Vgl. Briefe II 351,8-12)
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den, deren einheitliches Thema aus konstitutionellen Gründen in verschiedener Gestalt, mit verschiedenen Akzenten und in verschiedenen Zusammenhängen zum Ausdruck kommen muß. Mit anderen Worten: Die Vielgestaltigkeit der Schleiermacherschen Frömmigkeitstheorie muß als das im Schleiermacherschen Gesamtsystem vorgesehene und im Gesamtsystem aufgefangene ureigenste Kennzeichen dieser Theorie gelten. Besteht die Differenz zwischen den Reden einerseits und der Glaubenslehre und der Dialektik andererseits in der Differenz zwischen wissenschaftlicher und literarischer Form, so ist die wesentliche Ubereinstimmung in der Entfaltung der Frömmigkeitstheorie, nämlich die gleichmäßige Bezogenheit aller Funktionen des Bewußtseins auf die formale Struktur des höchsten Gegensatzes, doch im Gesamtsystem an oberster Stelle als dessen Ermöglichungsgrund angesiedelt. Besteht die Differenz zwischen den Reden und der Glaubenslehre einerseits und der Dialektik andererseits in der Differenz zwischen der „Religionslehre" und der „Weltlehre", zwischen Spontaneität und Rezeptivität, so ist diese Differenz doch im System der Wissenschaften, das aus dem höchsten Gegensatz zwischen Idealem und Realem abzuleiten ist, lokalisierbar. Dort nämlich ist der Unterschied erst an der systemtheoretischen Stelle der Unterscheidung zwischen der höchsten Wissenschaft Dialektik und der die Reden und die Glaubenslehre beherbergenden „Philosophischen Theologie" als einer Subdisziplin der positiven Wissenschaft „Theologie" virulent. Darüber hinaus thematisiert sich in der Schleiermacherschen Theorie der Frömmigkeit aber auch die Frage nach dem Grund und dem Gehalt des Systems der Wissenschaften als dem Ausdruck des einheitlichen Gesamtzusammenhanges alles überhaupt Realen. Denn nach der Schleiermacherschen Auffassung entsprechen sich - auf Seiten des subjektiven Bewußtseins - die faktische Inanspruchnahme von Realität überhaupt als der Ausdruck der Anerkenntnis eines transzendent gegründeten höchsten Gegensatzes und die Realgestalt der Frömmigkeit als der Ausdruck der Anerkenntnis absolutallgemeiner Abhängigkeit von diesem transzendenten Grund. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl und das Realitätsbewußtsein sind Ausdruck ein und derselben, transzendent begründeten Bestimmtheit des Bewußtseins. Freilich: der Preis für die in der Struktur des Bewußtseins verbürgte Zuverlässigkeit der Realität überhaupt besteht in der reflexiven Unerfaßbarkeit des Grundes dieser Realität, demgegenüber das Bewußtsein des Subjektes sich nur schlechterdings
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abhängig fühlen kann. Denn indem „Gott (...) zugleich der höchste, Grund und Grenze des Wissens bezeichnende Gedanke des wissenschaftlichen Bewußtseins und der letzte, im Gefühl uns gegenwärtige (...) Grund und Ursprung der religiösen Erfahrung" 15 ist, ist „der letzte Grund des Wissens, der auch der des Wollens ist, (...) zugleich der Bezugspunkt für das religiöse Gefühl der Abhängigkeit. Philosophie und Religion scheiden sich hier so, daß die Religion diesen Grund (Gott) zwar im Gefühl präsent weiß und ihn sozusagen ,hat', aber nie isoliert, sondern immer zusammen mit weltlichem Bewußtsein; wohingegen die Philosophie diesen Grund isolieren will, sich deshalb aber begnügen muß, ihn als solchen für jedes Wissen als notwendige Bedingung anzunehmen." 16 In diesen Sätzen haben wir den Kern der Schleiermacherschen Frömmigkeitstheorie. Die bündigste Formulierung dieses Kerns findet sich jedoch in Schleiermachers Dialektik selbst. Dort heißt es in schlichter, nun nicht mehr änigmatischer Sprache: „Die Gottheit ist eben so gewiß unbegreiflich als ihre Erkenntniß die Basis aller Erkenntniß ist." 1 7 Wirft man, zum Ausklang, von diesem Zentrum der Schleiermacherschen Theorie der Frömmigkeit aus den Blick zurück auf die anfangs angedeutete grundlegende propädeutische Aufgabe jeder gegenwärtigen systematischen Theologie, so läßt sich nun sagen: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit löst die Aufgabe, das Verhältnis zwischen Glaube und Theologie, zwischen individueller Frömmigkeit und überindividueller Vernunft zu bestimmen, auf eine ihrerseits unhintergehbare Weise. Denn Frömmigkeit und Vernunft sind dadurch in ein widerspruchsfreies Verhältnis gesetzt, daß ihre Gleichursprünglichkeit erwiesen wird. Die Wirklichkeit der Frömmigkeit erschließt sich als Innewerden der Faktizität der Vernunft - und die Inanspruchnahme der Vernunft bedeutet ipso facto das Innewerden der Faktizität der Frömmigkeit. Damit weisen die Autonomie der Frömmigkeit und die Autonomie der Vernunft jeweils auf einen identischen, gleichermaßen transzendenten wie transzendentalen Grund hin, der die Gegensätzlichkeit von Vernunft und Frömmigkeit sowohl konturiert als auch relativiert. Die Rückbesinnung der gegenwärtigen systematischen Theologie auf Schleiermacher erfolgt also zu Recht. 15
Hirsch: Geschichte V 283
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Scholtz: Philosophie Schleiermachers 109 Dial 1811 (Ms.), 17. Stunde, DAi 25 (DJ 322)
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Denn jede neuzeitliche, den Glauben und die Theologie ins Verhältnis setzende Selbstverortung mißt sich ipso facto an Schleiermachers Erweis der gleichursprünglichen Realitätsbezogenheit von Frömmigkeit und Vernunft. Und darum kann das Selbstverständnis neuzeitlicher Theologie sich wohl mit Schleiermacher oder gegen Schleiermacher seinen Ausdruck suchen - aber aus dem Verhältnis zu ihm kommt es nicht heraus.
Literaturverzeichnis Auf die von Schleiermacher verfaßten Texte wird in der vorliegenden Arbeit durch die Angabe von Sigla Bezug genommen, die diesen Quellenangaben in eckigen Klammern beigefügt sind. Sie können auch über das Verzeichnis der Sigla (s.o. S. XIII) aufgeschlüsselt werden. Auf die Sekundärliteratur wird durch die in eckigen Klammern am Schluß des jeweiligen Eintrags verzeichneten Kurztitel verwiesen. (Eine Ausnahme bildet der Exkurs im ersten Kapitel, in dem die Quellen und die Sekundärliteratur an O r t und Stelle in ausführlicher Form verzeichnet sind.) Alle weiteren Kürzel für Zeitschriften, Serien, Lexika und Quellenwerke folgen: Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, zusammengestellt von Siegfried Schwertner, Berlin-New York 1976.
I. Quellen A. Werkausgaben Friedrich Schleiermacher's Sämmtliche Werke. Erste Abteilung: Zur Theologie, erster bis dreizehnter Band (neunter und zehnter Band nicht erschienen), Berlin 1836-1864 [SW 1/1 - 1/13] Zweite Abteilung: Predigten, erster bis zehnter Band, Berlin 1834-1856 [SW II/l - 11/10] Dritte Abteilung: Zur Philosophie, erster bis neunter Band, Berlin 18351862 [SW III/l - III/9] Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Hans-Joachim Birkner und Gerhard Ebeling, Hermann Fischer, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge, Berlin-New York 1980ff. Bisher sind erschienen: Erste Abteilung. Schriften und Entwürfe: - Band 1: Jugendschriften 1787-1796, hg. v. G. Meckenstock, Berlin-New York 1984 [KGA 1/1] - Band 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799, hg. v. G. Meckenstock, Berlin-New York 1984 [KGA 1/2]
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Literaturverzeichnis
- Band 3: Schriften aus der Berliner Zeit 1800-1802, hg. v. G. Meckenstock, Berlin-New York 1988 [KGA 1/3] - Band 7: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22). Teilbände 1 und 2 hg. v. H. Peiter, Berlin-New York 1980. Teilband 3: Marginalien und Anhang hg. v. U. Barth, Berlin-New York 1984 [KGA 1/7,1 - 1/7,3] - Band 10: Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. v. H.-F. Trauisen, Berlin-New York 1990 [KGA 1/10] Fünfte Abteilung. Briefwechsel und biographische Dokumente: - Band 1: Briefwechsel 1774-1796 (Briefe 1-326), hg. v. A. Arndt und W. Virmond, Berlin-New York 1985 - Band 2: Briefwechsel 1796-1798 (Briefe 327-552), hg. v. A. Arndt und W. Virmond, Berlin-New York 1988
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Anhang Die Gliederung der ersten Auflage der Reden In diesem Anhang soll die meiner Interpretation der Reden zugrunde liegende Gliederung beigeben werden. Damit möchte ich zum einen die Uberprüfung der oben gegebenen Interpretation erleichtern und meine These untermauern, daß den Reden ein systematisch motiviertes Kompositions- und Argumentationsprinzip zugrunde liegt; zum anderen möchte ich einen von den Gliederungen R. Ottos 1 und F. Hertels 2 teilweise abweichenden Gliederungsvorschlag unterbreiten, der sich - wie diese - als eine Lektüreerleichterung versteht. Zuvor soll ein kurzer Uberblick über die Textgrundlage gegeben werden.
I. Uberblick über die Textgrundlage Schleiermachers Schrift „Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" erschien erstmals 1799. Schleiermacher publizierte diese 312 Druckseiten umfassende Erstlingsschrift anonym 3 und ohne Vorrede bei dem Berliner Verleger Johann Friedrich Unger. Eine stilistisch gestraffte, umfänglich erweiterte und z.T. auch sachlich anders akzentuierende zweite Auflage, deren Haupttext - ohne 1
Ottos Gliederung ist (in der von ihm edierten Ausgabe der Reden erster Auflage) als fortlaufender Kommentar zum Grundtext abgedruckt in: Friedrich Schleiermacher: U b e r die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Zum Hundertjahr-Gedächtnis ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprünglichen Gestalt neu herausgegeben von R . O t t o , Göttingen 1899; 6. Aufl. Göttingen 1967
2
Hertel: Denken 281-286
3
U b e r die Gründe für dieses Stilmittel unterrichten beiläufig der Briefwechsel Schleiermachers mit G . Reimer (Vgl. insbesondere Briefe II 57,18-21; siehe auch Briefe II 82,1 l f , Briefe IV 371,21-23) und Briefe III 285,34-286,5 (ohne Datum) an Sack. Diesen Passagen folgend läßt sich die fehlende Namensnennung als Ausdruck der Ehrfurcht vor der Autonomie des in den Reden behandelten Gegenstandes verstehen. Hinzu tritt möglicherweise das sich in der Widmung der - unten vorgestellten zweiten Auflage der Reden ausdrückende Bewußtsein von der Eigendynamik jeder Publikation, nachdem sie „einmal in den freien Gemeinbesitz Aller hingegeben" ist: R 2 (1806), ed. Pünjer I X , 3 0 f .
334
Anhang
die ebenfalls neu hinzugekommene achtseitige Widmung an K.G. v. Brinckmann - nun auf 372 Seiten anwuchs, ließ Schleiermacher dann 1806 in der von dem Berliner Verleger Georg Reimer geführten Realschulbuchhandlung erscheinen. Die dritte, 1821 ebenfalls bei Reimer publizierte Auflage sticht weniger durch Änderungen des Haupttextes als vielmehr durch die vorausgeschickte Vorrede und durch die jeder Rede angehängten ausführlichen Erläuterungen hervor, deren Funktion im wesentlichen darin besteht, die Verbindung zur 1821 erschienenen Erstauflage der Glaubenslehre herzustellen. Diese dritte Auflage umfaßt nun 461 Seiten, hinzu treten 18 Seiten Vorrede und die erweiterte Widmung. Die vierte und letzte zu Schleiermachers Lebzeiten veranstaltete Ausgabe legte Reimer 1831 auf. Die Eingriffe in den Text sind unbedeutend, notierenswert ist der Wegfall der Vorrede. In der Gestalt der vierten Auflage sind die „Reden" dann 1834 in den ersten Band der ersten Abteilung der „Sämmtlichen Werke" 4 eingegangen. Unter editorischen Gesichtspunkten bemerkenswert ist darüber hinaus die 1879 von Bernhard Pünjer besorgte synoptische Edition 5 der ersten drei 6 Auflagen auf der Grundlage des Textes der Urauflage, die indessen ihrer unübersichtlichen äußeren Gestalt halber - Pünjer teilt die zahlreichen Veränderungen nicht im Spaltendruck, sondern anmerkungsweise mit - ihrerseits einer Verbesserung harrt. Sodann ist die 1899 von Rudolf Otto „zum HundertjahrGedächtnis ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprünglichen Gestalt" 7 veranstaltete Wiederauflage von R 1 insbesondere im Blick auf ihre Wirkungsgeschichte hervorzuheben: Diese Edition hat maßgeblichen Anteil an der bis heute aus gutem Grund herrschenden forschungsgeschichtlichen Konzentration auf die Erstauflage der Reden. Die gegenwärtig und fürderhin maßgebliche Textgestalt der Erstausgabe der Reden findet sich indessen im Band 1/2 der Kritischen Gesamtaus4
S W 1/1, 1 3 3 - 4 6 0
5
Friedrich Schleiermacher's Reden U e b e r die Religion. Kritische Ausgabe. Mit Zugrundelegung des Textes der ersten A u f l a g e besorgt v o n G e o r g Christian Bernhard Pünjer, Braunschweig 1879
6
T. Tice (Tice: Schleiermacher Bibliography 14,8) u n d G . Meckenstock (Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, in: K G A 1/2, L X X V I I I , 1 9 ) vermuten irrtümlich, daß Pünjer auch die Modifikationen der vierten A u f l a g e berücksichtigt habe, was indessen nicht der Fall ist (vgl. Pünjer: Einleitung V ; vgl. auch 1 - 3 0 6 passim).
7
Friedrich Schleiermacher: U b e r die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Z u m Hundertjahr-Gedächtnis ihres ersten Erscheinens in ihrer u r sprünglichen Gestalt neu herausgegeben v o n R. O t t o , Göttingen 1899; 6. A u f l . Göttingen 1967
Die Gliederung der ersten Auflage der Reden
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gäbe 8 , dort sollen im Band 1/12 auch die Folgeauflagen zugänglich gemacht werden. Die „Einleitung des Bandherausgebers" in K G A 1/2 gibt darüber hinaus eine die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Reden nachzeichnende historische Einführung und unterrichtet außerdem über weitere Editionen. 9
II. Die Gliederung A. Der Aufbau des Gesamtwerkes Einleitung: Erste Rede. Die formalen Ausgangsbedingungen der intendierten Bestimmung eines Realbegriffes der Religion werden zusammengetragen. Erster Hauptteil: Zweite Rede. Das Wesen der Religion wird auf spekulativem Wege bestimmt: Die Religion ist eine selbständige Funktion des Bewußtseins, in der sich die Vermitteltheit des Endlichen und des Unendlichen darstellt und ausdrückt. Zwischenstück: Die dritte und die vierte Rede bilden einen metadiskursiven Einschub. Der Gehalt des spekulativ gewonnenen Wesensbegriffes der Religion (als dessen Bestandteil unter anderem die kommunikative Unverfügbarkeit der faktischen Wirkmächtigkeit der Religion erkannt wurde) wird unter dem Gesichtspunkt der in ihm angelegten Notwendigkeit religiöser Kommunikation (dritte Rede) und unter dem Gesichtspunkt der Realisierungsmöglichkeiten religiöser Kommunikation (vierte Rede) untersucht. Zweiter Hauptteil: Fünfte Rede. Der spekulativ erhobene Wesensbegriff wird auf empirische Weise abgehärtet: Daß das in der zweiten Rede bestimmte Wesen der Religion anschaulich nur in einer an die Ausformungen der Einzelreligionen gebundenen Weise erscheint, wird als ein Bestandteil des Wesens der Religion und als eine notwendige Bedingung der Möglichkeit religiöser Kommunikation erwiesen.
8 9
K G A 1/2, 185-326 G. Meckenstock: Einleitung des Bandherausgebers, Abschnitt 11. Uber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: K G A 1/2, LIII-LXXVIII
336
Anhang
Β. Die Detail-Gliederung 1 0 Einleitung des Gesamtwerkes: Erste Rede „Apologie"; R 1 1-37 (= KGA 1/2, 189,1-205,2)" Thema: Die formalen Ausgangsbedingungen der intendierten Bestimmung eines Realbegriffes der Religion. [Dieses Thema wird in drei Themenkreisen verhandelt, deren sachliche Hauptpointen in den Exkursen liegen.] 1. Die Qualifiziertheit des Redners 1-15 (189,3-195,24) 1.0. Einleitung: Die Erfolgsaussichten des Unternehmens 1-3 (189,3-190,8) 1.1. Die berufsbedingte Qualifiziertheit des Redners über die Religion 3-5 (190,9-191,10) Erster Exkurs: Die duplizitäre Verfaßtheit des Seienden begründet die Notwendigkeit einer Vermittlung 5-14 (191,10-195,2) (a) Die duplizitäre Verfaßtheit alles Seienden als ontologischer Grundsachverhalt 5-9 (191,10-192,39) (b) Die in diesem ontologischen Grundsachverhalt wurzelnde Notwendigkeit der Vermittlung, bezogen auf das projektierte Unternehmen 9-14 (192,40-195,2) 1.2. Die biographische Qualifiziertheit des Redners über die Religion 14-15 (195,2-24) 2. Die Qualifiziertheit der Hörer 15-20 (195,25-197,9) Zweiter Exkurs: Das Ziel und die Methode der Reden 19-20 (197,10-30) 3. Die Qualifiziertheit des Gegenstandes 20-37 (197,31-205,2) 3.1. Die Haltung der Hörer zum Gegenstand als Einsatzpunkt des Unternehmens 20-29 (197,31-201,38) 3.1.1. Die Notwendigkeit, bei der Verachtung der Hörer für die Religion einzusetzen 20-21 (197,31-198,5) 3.1.2. Die Formen der Annäherung an die Religion, die die Hörer kennen: spekulativ und empirisch 21-29 (198,5-201,22) 3.1.2.1. Die Problematik der einseitig spekulativen Vorgehensweise 21-24 (198,5-199,15) 3.1.2.1.1. Die von den Grenzpunkten ausgehende spekulative Annäherung 21-23 (198,5-42) 3.1.2.1.2. Die vom Mittelpunkt ausgehende spekulative Annäherung 23-24 (198,42-199,15) 3.1.2.2. Die Problematik der einseitig empirischen Vorgehensweise 24-29 (199,16-201,22) 10
In dieser Detailgliederung gehe ich den feinen Verästelungen des Schleiermacherschen Gedankenganges mit unterschiedlicher A u s f ü h r l i c h k e i t nach, je nach dem, w i e gewichtig mir der jeweilige Passus f ü r den Gesamtduktus der Reden zu sein scheint.
11
D e r z u w a h r e n d e n Übersichtlichkeit halber w i r d in den folgenden Stellenverweisen dieser Gliederung nicht mehr eigens notiert, daß der Hauptnachweis stets die in K G A 1/2 am Textrand beigegebenen Seitenzahlen der Urauflage angibt, die in K l a m m e r n beigegebenen Stellennachweise dagegen durchgängig die entsprechenden eigenen Seiten- und Zeilenzahlen in K G A 1/2 belegen.
Die Gliederung der ersten Auflage der Reden
337
3.2. D i e methodischen und sachlichen Leitlinien des projektierten Unternehmens 29-37 (201,22-205,2) 3.2.1. D e r methodische Ansatzpunkt des Unternehmens: D i e Beobachtung der Manifestationsart der Religion als einzig angemessener Einsatzpunkt der Betrachtung 29-31 (201,22-202,10) 3.2.2. Zur Selbstverortung des Unternehmens im Rahmen zeitgenössischer Religionstheorien: D i e Unabhängigkeit der Religion von der Moral 31-37 (202,10-204,34) 3.2.3. D a s Leitziel des Unternehmens: D e r Erweis der innerseelischen Unhintergehbarkeit und A u t o n o m i e der Religion 37 (204,34-205,2) Erster Hauptteil des Gesamtwerkes: Zweite Rede „ U b e r das Wesen der Religion"; 38-133 (206,1-247,11) Thema: D i e spekulativ verfahrende inhaltliche Bestimmung des Realbegriffes der Religion 0. Die Einleitung: Hermeneutische Schwierigkeiten 38-50 (206,3-211,26) 0.1. D i e intendierte unmittelbare Wesensschau der Religion verlangt in erkenntnistechnischer Hinsicht idealiter, die Religion aus sich selbst zu verstehen 38-39 (206,3-207,4) 0.2. Dieser A n s a t z wird indes methodisch erschwert und sachlich fragwürdig dadurch, daß die Religion indes realiter nie rein und unvermischt erscheint 40-41 (207,4-35) 0.3. D i e abgrenzende Wesensbestimmung. Ihr G a n g verdankt sich dieser in der Differenz von Wesen und Erscheinung liegenden hermeneutischen Ambivalenz: D i e Religion ist wesenhaft unterschieden von Metaphysik und Moral 41-50 (207,36-211,26) 0.3.1. Dieser Unterschied besteht nicht im (identischen) Gegenstand, sondern im (differenten) Habitus 41-43 (207,36-208,28) 0.3.2. D i e D i s k u s s i o n zweier sich gegen diese negative Wesensbestimmung nahelegenden Einwände, die faktisch nicht reine, sondern stets gebundene Erscheinung der Religion betreffend 43-50 (208,28211,26) 0.3.2.1. D i e Religion ist wesenhaft auch kein Konglomerat metaphysischer und moralischer Versatzstücke, sondern die Differenz zu Metaphysik und Moral besteht in kategorialer Hinsicht. 43-47 (208,28-210,22) 0.3.2.2. D i e faktisch gebundene Erscheinung der Religion in den religiösen U r k u n d e n entspringt einer - in ihrer Wirkung allerdings pervertierten - pädagogischen Absicht. 47-50 (210,22-211,26) 1. D a s Hauptstück: D i e affirmative Wesensbestimmung der Religion 50-115 (211,27-239,28) 1.1. D e r relationale Argumentationsgang: D a s Verhältnis der Religion zu Metaphysik und Moral 50-55 (211,27-213,33) 1.1.0. D i e konstruktive, programmatische Wesensbestimmung der Religion als Anschauung und Gefühl 50-51 (211,27-212,1)
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Anhang
1.1.1. Das Gegensatzverhältnis zu Metaphysik und Moral 51-52 (212,21.1.1.1. Die konstruktive Bestimmung des Gegensatzverhältnisses zur Metaphysik 51 (212,2-10) 1.1.1.2. Die konstruktive Bestimmung des Gegensatzverhältnisses zur Moral 51-52 (212,10-15) 1.1.2. Das Komplementärverhältnis zu Metaphysik und Moral 52-55 (212,15-213,33) 1.1.2.1. Die konstruktive Bestimmung des Komplementärverhältnisses zu Metaphysik und Moral 52-53 (212,15-32) 1.1.2.2. Die konstruktive Bestimmung des Komplementärverhältnisses zur Moral 53 (212,32-213,9) 1.1.2.3. Die konstruktive Bestimmung des Komplementärverhältnisses zur Metaphysik 53-55 (213,9-33) 1.2. Der autogene Argumentationsgang: Die unmittelbare Wesensschau 5571 (213,34-220,29) 1.2.1. Die Anschauung des Universums 55-66 (213,34-218,20) 1.2.1.1. Erste Bestimmung der Anschauung im allgemeinen: Der zugleich aktive und passive, reziproke, nicht erkenntnismäßige Charakter aller Anschauung im allgemeinen 55-56 (213,34-214,9) 1.2.1.2. Beziehung dieses ersten Wesenszuges der Anschauung im allgemeinen auf die religiöse Anschauung des Universums: Das Gegensatzverhältnis zwischen echter religiöser Anschauung und leerer Mythologie als begrifflich-deduktive Applikation dieses Anschauungsbegriffes auf Religion und Mythologie 56-58 (214,9215,3) darin: historisch-empirische Exemplifikation des Erweisganges (214,18-36) 1.2.1.3. Zweite Bestimmung der Anschauung im allgemeinen: Der individuelle, unsystematische Charakter aller Anschauung 58 (215,3-7) 1.2.1.4. Beziehung dieses zweiten Wesenszuges der Anschauung im allgemeinen auf die religiöse Anschauung: Der Anlaß, der Inhalt und die Geltung der religiösen Anschauung bestehen in deren individueller Spezifität 58-61 (215,7-216,17) 1.2.1.5. Dritte Bestimmung der Anschauung im allgemeinen: Die formale und inhaltliche Unbeschränktheit aller Anschauung 61-62 (216,17-27) 1.2.1.6. Beziehung dieses dritten Wesenszuges der Anschauung im allgemeinen auf die religiöse Anschauung: Der integrale und universale Charakter der religiösen Anschauung 62-66 (216,27218,20) 1.2.1.6.0. Einleitung: Das Formprinzip der Unendlichkeit der religiösen Anschauung begründet deren inhaltliche Undeterminiertheit 62 (216,27-37)
Die Gliederung der ersten Auflage der Reden
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1.2.1.6.1. Die individuelle religiöse Anschauung verhält sich nicht interventionistisch gegen andere persönlich gebildete religiöse Anschauungen 62-64 (216,37-217,19) 1.2.1.6.2. Die individuelle religiöse Anschauung verhält sich nicht dogmatisch gegen andere geschichtlich gebildete religiöse A n schauungen 64 (217,20-35) 1.2.1.6.3. Zusammenfassung: Diese universale inhaltliche Kompatibilität gründet in der formbestimmten Unbegrenztheit der möglichen Anschauungsparameter 64-66 (217,35-218,20) 1.2.2. Das Gefühl 66-71 (218,20-220,29) 1.2.2.1. Die Bestimmung des Gefühls: Der stets an eine Anschauung gebundene, zugleich aktive und passive Charakter des Gefühls 66-67 (218,20-35) 1.2.2.2. Die Beziehung dieses Wesenszuges auf das religiöse Grundverhältnis: Die inhaltgebende Anschauung und das formgebende Gefühl bilden das feste Konstitutionsschema der individuellen Religion 67-68 (218,35-219,15) 1.2.2.3. Die Illustration des vermittelt aktivierenden, formgebenden Charakters des religiösen Gefühls in der Abgrenzung von unmittelbar handlungsmotivierenden Gefühlen 68-78 (219,15-220,29) 1.3. Scharnierstück: Der religiöse Ureindruck als Grund der Einheit von Anschauung und Gefühl 71-78 (220,29-223,19) 1.3.1. Der Gegensatz zwischen der faktischen Einheit von Anschauung und Gefühl und der darstellungstechnisch notwendigen Einzelbetrachtung als hermeneutisches Problem 71-73 (220,29-221,19) 1.3.2. Die Manifestation der ursprünglichen Wesenseinheit von A n schauung und Gefühl: Der „erste geheimnisvolle Augenblick" als der religiöse Ureindruck 73-78 (221,20-223,19) 1.3.2.1. Der Versuch einer Geschehensbeschreibung des Ureindrucks 73-75 (221,20-222,8) 1.3.2.2. Die prägende Gebundenheit des Ureindrucks an den persönlich je eigenursprünglichen Erschließungsvorgang 75-78 (222,8-223,19) 1.4. Der konnexive Argumentationsgang: Die inhaltlich füllende Applikation der Wesensbeschreibung auf einzeln erscheinende religiöse A n schauungen und Gefühle 78-115 (223,20-239,28) 1.4.1. Die objektive Seite der Einheit von Anschauung und Gefühl: Die Entzündungsanlässe echter religiöser Anschauungen im skizzierten Sinne, in drei konzentrischen Kreisen vorgestellt 78-108 (223,20236,21) 1.4.1.1. Religiöse Anschauungen der äußerlich-gegenständlichen Natur 78-87 (223,20-227,24) 1.4.1.1.1. Abgrenzende Bestimmung 78-82 (223,20-225,23) 1.4.1.1.1.1. Echte religiöse Anschauungen lassen sich nicht aus den sichtbaren Naturkräften gewinnen 78-81 (223,20-225,6)
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Anhang 1.4.1.1.1.2. Echte religiöse Anschauungen lassen sich auch nicht aus der sichtbaren Fülle des Natürlichen gewinnen 81-82 (225,7-23) 1.4.1.1.2. Affirmative Bestimmung: Religiöse Anschauungen lassen sich bestenfalls in dem Eindruck des gesetzmäßigen Zusammenhanges und des Aufeinanderabgestimmtseins alles Natürlichen gewinnen 82-87 (225,23-227,24) 1.4.1.1.2.1. Der gesetzmäßige Zusammenhang als teleologische Ordnung: Die Gesetze des Werdens 82-86 (225,23-227,1) 1.4.1.1.2.2. Der gesetzmäßige Zusammenhang als ontologische Ordnung: Das Sein des Gewordenen 86-87 (227,1-24) 1.4.1.2. Uberleitendes Zwischenstück: Die Anschauung der äußeren Natur und die Anschauung der Menschheit sind mit einer in der Intersubjektivität wurzelnden hermeneutischen Notwendigkeit in der Selbstanschauung impliziert 87-89 (227,25-228,23) 1.4.1.3. Religiöse Anschauungen der Menschheit als Anschauungen des intersubjektiv Identischen 89-104 (228,24-234,32) 1.4.1.3.1 Abgrenzende Bestimmung: Das Interesse an der Menschheit ist kein moralisch motiviertes Interesse 89-90 (228,24-41) 1.4.1.3.2. Affirmative Bestimmung: In der Anschauung der Menschheit entdeckt die Individualität des Einzelnen sich selbst als Ausdruck eines übergreifenden Naturzusammenhanges 90-104 (228,41-234,32) 1.4.1.3.2.1. Der übergreifende Naturzusammenhang als ontologische Ordnung: Das Sein der Individualität in der Menschheitsidee 90-98 (228,41-232,5) 1.4.1.3.2.2. Exkursorisches Zwischenstück, in dem das bisher in 1.4.1.3. Entwickelte an 1.4.1.2. angeknüpft wird: Die religiöse Anschauung der menschheitlichen Individualität findet ihre Verifikation in der Selbstanschauung 98-99 (232,528) 1.4.1.3.2.3. Der übergreifende Naturzusammenhang als teleologische Ordnung: Die Bildung der Individualität in der Menschheitsgeschichte 99-104 (232,29-234,32) 1.4.1.4. Religiöse Anschauungen noch höherer Einigungen des Endlichen mit dem Unendlichen selbst 104-108 (234,33-236,21) 1.4.1.4.1. Sie manifestieren sich einerseits als Ahnung des zielhaften Wesens der Religion auch im Gemüt der Hörer, entziehen sich andererseits (ihrer maximalen Entferntheit von aller Gegenständlichkeit halber) aber der affirmativen Beschreibung 104-106 (234,33-235,34) 1.4.1.4.2. Abgrenzende Bestimmung von möglichen Zuordnungen dieser Anschauungen zur Moral 106-108 (235,34236,21)
Die Gliederung der ersten Auflage der Reden
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1.4.2. Die subjektive Seite der Einheit von Anschauung und Gefühl: Die Selbstbezüglichkeit des echten religiösen Gefühls im skizzierten Sinne 108-115 (236,22-239,28) 1.4.2.1. Traditionelle religiöse Gefühle als Ausdruck der in der Selbstanschauung vermittelten religiösen Anschauung 108-111 (236,22237,32) 1.4.2.2. Abgrenzende Bestimmung von möglichen Zuordnungen der religiösen Gefühle zur Moral 111-112 (237,32-238,14) 1.4.2.3. Zusammenfassend abschließende Wesensbestimmung der Religion im Kontrast zu Metaphysik, Moral und Kunst: Das Affiziertwerden des Menschen durch die Religion gestaltet sich als Begleitung der auf das Endliche gerichteten erkennenden und gestaltenden Wirksamkeit des Menschen durch das Innewerden des unendlichen Zusammenhangs dieser Wirksamkeit. Darin vollendet die Religion das menschliche Wesen als Einheit von Individualität und Universalität. 112-115 (238,14-239,28) 2. Das Nebenstück: Die Leistungen der skizzierten Wesensbestimmung der Religion illustriert am Verhältnis des religiösen Wesens zum traditionellen D o g m a 115-123 (239,29-242,35) 2.1. Der nachgängige, reflexive Charakter der dogmatischen Erkenntnis im Verhältnis zur vorgegebenen Faktizität des Religiösen 115-116 (239,29240,7) 2.2. Die Kompatibilität der dogmatischen Erkenntnis mit den allgemeinwissenschaftlichen Erkenntnisprinzipien 116-117 (240,7-21) 2.3. Durchführende Exemplifikation dieses allgemein-reflexiven Charakters der dogmatischen Erkenntnis an ausgewählten dogmatischen Begriffen 117-119 (240,21-241,15) 2.4. Zusammenfassung: Der Primat des authentischen religiösen U r eindrucks vor dessen Vermittlungs- und Reflexionsgestalten 119-122 (241,15-242,23) 2.5. Appellativer Schluß: Die Kompatibilität des Universalitätscharakters der Religion mit dem Universalitätscharakter der Bildung der Hörer 122-123 (242,23-35) 3. Der Anhang (Vorsorgliche Abwehr eines naheliegenden Einwandes): D i e traditionellen Begriffe Gottes und der Unsterblichkeit sind mit der skizzierten Wesensbestimmung der Religion vereinbar 123-133 (242,36-247,11) 3.1. Einleitende, aus dem bisher Entfalteten folgende These: „ G o t t " und „Unsterblichkeit" sind begriffliche Ausdrücke einzelner, unabhängiger religiöser Anschauungsarten 123-124 (242,36-243,21) 3.2. Argumentative Durchführung der These 124-133 (243,22-247,4) 3.2.1. Zum Gottesbegriff 124-130 (243,22-246,8) 3.2.1.1. Abgrenzende Bestimmung: Schon aus Gründen der skizzierten Konstitutionsweise der religiösen Anschauung kann der G o t tesbegriff nicht der konstruierte Begriff eines anthropomorphen Menschheitsgenius sein. 124-126 (243,22-244,11)
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Anhang
3.2.1.2. Affirmative Bestimmung: Die skizzierte Konstitutionsweise erlaubt dagegen die Anschauung einer wie auch immer benannten, sich stufenschematisch vollendenden Universumsanschauung 126-128 (244,11-245,16) 3.2.1.3. Die Verbindung dieser Anschauung mit dem traditionellen Gottesbegriff bleibt dabei ein legitimes Produkt der Phantasie ohne einen eigenen religionskonstituierenden Anschauungswert 128-129 (245,16-33) 3.2.1.4. Ergänzender Nachtrag: Die Vereinbarkeit des skizzierten, auch gottesbegrifflich faßbaren Gehaltes der Universumsanschauung mit dem Gedanken des handelnden Gottes 130 (245,33-246,8) 3.2.2. Zum Unsterblichkeitsbegriff: Die Wertlosigkeit der Unsterblichkeitsidee als Quelle echter religiöser Anschauung im skizzierten Sinne 130-133 (246,9-247,4) 3.3. Abschluß: Der Bezug der beiden religiösen Anschauungsarten „ G o t t " und „Unsterblichkeit" auf den religionsweckenden Ureindruck 133 (247,4-11) Zwischenstück des Gesamtwerkes (Metadiskursiver Einschub): Die innere Notwendigkeit und die äußerlich gestaltenden Realisierungsmöglichkeiten der intersubjektiven religiösen Kommunikation (Dritte Rede „Über die Bildung zur Religion" und Vierte Rede „Uber das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priesterthum") A. Dritte Rede: „ Ü b e r die Bildung zur Religion"; 134-173 (248,1-265,8) Thema: Die Bestimmung der Notwendigkeit religiöser Kommunikation innerhalb der sich aus der Wesensbestimmung der Religion ergebenden Grenzen 1.Themabestimmung 134-143 (248,3-252,8) 1.1. Abgrenzende Themabestimmung: Die Unmöglichkeit, religiöse Affektion in willentlicher Weise zu produzieren 134-142 (248,3-251,31) 1.1.1. Der Redner will Religion nicht produzieren 134-138 (248,3249,36) 1.1.2. Denn religiöses Erleben ist prinzipiell in keiner intersubjektiven Mitteilung produzierbar 138-142 (249,37-251,31) 1.2. Affirmative Themabestimmung: Der Nachweis, daß die religiöse Empfänglichkeit des Menschen (als ein im skizzierten Modus der Selbstpräsentation des Universums eingeschlossenes Werk des Universums) der intersubjektiven religiösen Kommunikation zur Pflege gegeben ist 142-144 (251,32-252,8) 2. Abgrenzende Entfaltung: Formen des nicht wesensgerechten, entfaltungshemmenden Umganges mit der religiösen Anlage durch deren Träger 144162 (252,9-260,11) 2.1. Außerhalb der religiösen Funktion: Indem das sich dem religiösen Sinn präsentierende Material eine metyphysisch oder moralisch motivierte Zerlegung erfährt 144-156 (252,9-257,21)
Die Gliederung der ersten Auflage der Reden
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2.2. Innerhalb der religiösen Funktion: Indem der Anlaß der religiösen Anschauung, die Selbstanschauung, nicht überschritten wird 156-162 (257,21-260,11) 3. Affirmative Entfaltung: Die Notwendigkeit der Pflege des religiösen Rezeptionsvermögens in der intersubjektiven religiösen Kommunikation 162-173 (260,12-265,8) 3.1. Die Form des ungehemmten religiösen Sinnes seiner Intensität nach 162-165 (260,12-261,22) 3.1.1. Benennung der verschiedenen Gradationen des religiösen Sinnes 162-163 (260,12-26) 3.1.2. Die verschiedene Formen der Intensität bedürfen zur Förderung der ursprünglichen, wesensnotwendigen Ungehemmtheit des religiösen Sinnes der kommunikativen Vermittlung 163-165 (260,26261,22) 3.2. Die Form des ungehemmten religiösen Sinnes seiner Extensität nach 165-173 (261,22-265,8) 3.2.1. Entfaltung der verschiedenen Richtungen des religiösen Sinnes in Selbstanschauung, Weltbetrachtung und schließlich Kunstbetrachtung als Verbindung der beiden erstgenannten 165-170 (261,22263,15) (darin Exkurs: Die Kunstbetrachtung als eigene Richtung des religiösen Sinnes scheidet vorläufig als phänomenologisch noch nicht verortbar aus 166-170 [262,2-263,15]) 3.2.2. Verschiedene Formen der Extensität bedürfen ebenfalls zur Förderung der ursprünglichen, wesensnotwendigen Undeterminiertheit des religiösen Sinnes der kommunikativen Vermittlung 170-173 (263,16-265,8) B. Vierte Rede: „Uber das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priesterthum"; 174-234 (266,1-292,3) Thema: Die Bestimmung der notwendigen äußeren Gestalt der realen religiösen Kommunikation 0. Bestimmung des methodischen Ansatzes 174-176 (266,5-267,15) 0.1. Abgrenzende Ansatzbestimmung: Es soll nicht das empirisch wahrnehmbare faktische Leben der Kirche betrachtet werden 174-176 (266,5267,12) 0.2. Affirmative Ansatzbestimmung: Es soll vielmehr die in der Wesensbestimmung der Religion implizierte Kommunikationsgestalt bestimmt werden 176 (267,12-15) 1. Die Sammlung der zur Bestimmung der Wirklichkeitsgestalt religiöser Kommunikation einschlägigen anthropologischen und religiösen Parameter 176-184 (267,16-270,13) 1.1. Die anthropologischen Parameter 177-179 (267,16-268,14) 1.1.1. Aktives Mitteilungsbedürfnis als anthropologische Notwendigkeit 177-178 (267,16-268,3)
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Anhang
1.1.2. Passives Empfangsbedürfnis als anthropologische Notwendigkeit 178-179 (268,3-14) 1.2. Die religiösen Parameter 179-184 (268,14-270,13) 1.2.1. Der Gegenstand der religiösen Kommunikation verlangt der gleichzeitigen Notwendigkeit und Diffizilität seiner Kommunikation halber eine eigene Organisationsform 179-181 (268,14-269,13) 1.2.2. In Grund und Gestalt ihrer Eigengesetzlichkeit ist die Organisationsform religiöser Kommunikation auf das Wesen des religiösen Ureindrucks selbst bezogen 181-184 (269,13-270,13) 2. Die Beschreibung der so gewonnenen idealen Zweckgestalt religiöser Kommunikation in kontrastiver Abweisung der traditionellen, gegen das reale Leben der Kirche erhobenen Vorwürfe 184-190 (270,13-273,10) 2.1. Das überkommene hierarchisierende Stufenschema der amtlich sanktionierten Grade religiöser Begabung wird zur facettenreichen Gesamtgestalt religiöser Formen 184-185 (270,13-24) 2.2. Das überkommene Konkurrenzschema zwischen religiösen Anschauungsgehalten wird zur facettenreichen Gesamtgestalt religiöser Inhalte 185-187 (270,24-271,36) 2.3. Der (sich aus den oben genannten Gegensatzformen herleitende) überkommene kommunikationstechnische Gegensatz zwischen Mitteilung und Empfang relativiert sich zur ausgeglichenen Gesamtgestalt der Kommunikation 187-190 (271,36-273,10) 3. Die Ausführung des Entwurfs: Die Realisierbarkeit der Idealgestalt religiöser Kommunikation im realen kirchlichen Rahmen 190-234 (273,11292,3) 3.1. Programmatische These: Diese Idealgestalt religiöser Kommunikation hat ihre Realgestalt bereits in der religiösen Kommunikation der wahren, triumphierenden Kirche 190-192 (273,11-44) 3.2 Einschub: Kontrastierende Deutung der von der wahren Kirche abweichenden Defizienzgestalt der äußeren Kirche 192-232 (274,1-290,38) 3.2.1. Die Differenzursache besteht nicht in der Religion selbst, sondern in der Haltung der Kirchenmitglieder zur Religion: sie haben sie nicht, sondern suchen sie einstweilen noch falsch 192-199 (274,1276,36) 3.2.2. Die ihre Existenz rechtfertigende Aufgabe der äußeren Kirche besteht in der religionsuchende und religionhabende Menschen verbindenden Funktion 199-203 (276,37-278,17) 3.2.3. Diese verbindende Funktion kann die äußere Kirche zur Zeit nicht wahrnehmen, und zwar wiederum nicht aus im Wesen der Religion liegenden inneren Gründen, sondern aus dem äußeren Grund staatlicher Eingriffe in das Leben der Kirche 203-232 (278,18-290,38) 3.2.3.1. Beschreibung der mißlichen Eingriffe im einzelnen (analytischer Teil) 203-218 (278,18-284,21)
D i e G l i e d e r u n g der ersten A u f l a g e der R e d e n
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3.2.3.2. A u s der Wesensbestimmung der Religion sich nahelegende Vorschläge zur Aufhebung der skizzierten sinnwidrigen Ungestalt der äußeren Kirche (konstruktiver Teil) 218-226 (284,22-288,9) 3.2.3.3. Aus der Wesensbestimmung der Religion sich nahelegende Strategien der Bewältigung der sinnwidrigen Züge der äußeren Kirche bis zur Aufhebung jener Züge (paränetischer Teil) 226232 (288,10-290,38) 3.3. Rekursiver Blick auf die wahre Kirche: Die dort herrschende Gestalt religiöser Kommunikation trägt aus dem Wesen der Religion abgeleitete und für die äußere Kirche normative Züge 232-234 (290,39-292,3) Zweiter Hauptteil des Gesamtwerkes: Fünfte Rede „Uber die Religionen"; 235-312 (293,1-326,9) Thema: Die empirische Wahrnehmbarkeit des einheitlich und anschaulich erscheinenden Wesens der Religion in den Gestalten der Einzelreligionen als Implikat der (in der zweiten Rede entfalteten) Wesensbestimmung der Religion und als notwendige Bedingung der Möglichkeit der (in der dritten und vierten Rede exkursiv entfalteten) religiösen Kommunikationsgestalt 0. Prolegomena: Die Bestimmung der Verstehenskategorien 235-286 (293,3314,25) 0.1. Das sich aus den vorangegangenen Reden ergebende Untersuchungsthema der fünften Rede 235-238 (293,3-294,21) 0.1.1. (Anknüpfende Zusammenfassung an das Ergebnis der dritten und vierten Rede und an die Leitthese der zweiten Rede:) Die Religion verschafft sich selbst Wirkung, lediglich die Hilfe zur Überwindung von disponentiellen Fehlerwartungen der religiösen Empfänglichkeit fällt in den Aufgaben- und Möglichkeitsbereich der Kommunikation 235-237 (293,3-294,13) 0.1.2. (Themenangabe der fünften Rede:) Unter der so bestimmten strukturellen Einschränkung, daß das Erscheinen der einzelnen Religion nur aus ihrer ursprünglichen Selbstmanifestation verstanden werden kann, wird die fünfte Rede die wesenimmanenten Kategorien zum Verständnis der anschaulichen Erscheinungsweise des (in der zweiten Rede bestimmten) allgemeinen Wesens der Religion in den je besonderen Einzelreligionen bereitstellen 237-238 (294,14-21) 0.2. Die aus den vorangegangenen Reden folgende Begründung der Korrespondenz des empirisch gegebenen Untersuchungsgegenstandes mit der spekulativen Wesensbestimmung der Religion 238-242 (294,22-296,23) 0.2.0. Thetisch-zusammenfassende Formparallelisierung: So, wie die Vielzahl der Kirchen als dem Wesen der Religion widersprechend erkannt werden konnte, muß nun die Vielzahl der Einzelreligionen als im Wesen der Religion liegende sachliche Gebotenheit erkannt werden 238-240 (294,22-295,16) 0.2.1. Weil das unendliche Wesen der Religion nur in den an die Bedingungen der Endlichkeit gebundenen Formen erscheinen kann,
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individualisiert dieses Wesen sich in stufenschematisch aufeinander hingeordneten, persönlich erscheinenden und gemeinschaftlich organisierten Formen 240-241 (295,17-33) 0.2.2. Das Komplementärverhältnis zwischen der empirischen Untersuchung und der spekulativen Wesensschau, in dem Komplementärverhältnis zwischen dem unendlichen Wesen und der endlichen Erscheinungsform der Religion selbst angelegt, bestimmt dabei das Verfahren und das Ziel der Untersuchung 241-242 (295,33296,23) 0.2.2.1. Das Verfahren: die Prüfung der Frage, ob die einzelne Erscheinungsform der Religion als Erscheinungsform des Individuationsprinzips gelten kann 241-242 (295,33-296,13) 0.2.2.2. Das Ziel: ein vollständiges Verständnis des Wesens der Religion 242 (296,13-23) 0.3. Der aus den vorangegangenen Reden folgende Untersuchungsgegenstand 242-279 (296,24-311,23) 0.3.1. Affirmative Bestimmung: die positiven Religionen 242-272 (296,24-308,32) 0.3.1.0. Einleitende relationale Bestimmung: Der wesenhafte Gehalt der Religion ist nur in den positiven Religionen, nicht aber in der natürlichen Religion anschaubar 242-244 (296,24-297,14) (Dieser Abschnitt weist auf 0.3.2. voraus) 0.3.1.1. Antizipierende Nennung möglicher Einwände gegen die Wahl dieses Untersuchungsgegenstandes, die sämtlich die ausgeprägte Spezifität der positiven Religionen anführen 244-246 (297,15-38) 0.3.1.2. Gegenargument: Verweis darauf, daß das ursprünglich unverstellte Wesen der Religion gerade in der Spezifität der positiven Religionen gefunden werden soll (Diese programmatische Erwiderung der o.g. Einwände fungiert zugleich als thetisch einleitender Auftakt zweier das Gegenargument erst material entfaltender Einschübe, die mittelbar die Tauglichkeit der positiven Religionen als Untersuchungsgegenstand erweisen) 246-247 (297,39-298,26) 0.3a (Erster Einschub:) Die aus den vorangegangenen Reden folgende Untersuchungsmethode (Dieser Einschub weist zugleich auf 0.4. voraus): die positiven Religionen muß der Hörer in selbständiger Verstehensbemühung aus ihrem inneren Wesen selbst verstehen - hier können nur Verstehenskategorien bereitgestellt werden, keinesfalls aber kann eine vollständige Schau geleistet werden 247-249 (298,26-299,5) 0.3b (Zweiter Einschub:) Die aus den vorangegangenen Reden folgenden Untersuchungsvoraussetzungen 249-272 (299,6-308,32) 0.3b.0. Einleitungsthese 249-250 (299,6-25) 0.3b.0.1. Die Bezogenheit der gemeinschaftlichen Einzelreligion auf das Wesen der Religion ist strukturidentisch mit der Bezogenheit
D i e G l i e d e r u n g der ersten A u f l a g e der R e d e n
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der individuell-persönlichen Religion des einzelnen auf das Wesen der Religion 249-250 (299,6-21) 0.3b.0.2. Die gesuchte Zusammenfaßbarkeit verschiedener individuell-persönlicher religiöser Anschauungen zu einer gemeinschaftlichen Einzelreligion kann also nicht in einer inhaltlichen, sondern nur in der formalen Hinsicht bestehen 250 (299,21-25) 0.3b. 1. Abgrenzende Bestimmung 250-259 (299,26-303,22) 0.3b. 1.1. Das die Einzelreligion konstituierende Prinzip der Zusammenfaßbarkeit kann nicht in der inhaltlichen Quantifizierbarkeit des religiösen Stoffes liegen 250-255 (299,26-301,32) 0.3b.1.1.1. Spekulativ argumentierender Erweisgang 250-253 (299,26-301,7) 0.3b.1.1.2. Empirisch erhärtender Argumentationsgang 253-255 (301,7-32) 0.3b. 1.2. Das Prinzip der Zusammenfaßbarkeit kann nicht durch das Drei-Stufen-Schema der Universumsanschauung gebildet werden (ad 244,11-245,16) 255-256 (301,33-302,13) 0.3b.1.3. D a s Prinzip der Zusammenfaßbarkeit kann nicht durch das Zwei-Formen-Schema der Gottesvorstellung gebildet werden (ad 245,16-33) 256-259 (302,13-303,22) 0.3b.2. Affirmative Bestimmung: In der Erhebung einer Einzelanschauung zum Vermittlungspunkt zwischen der individuell-persönlichen Religion der einzelnen und dem allgemeinen Wesen der Religion besteht das dem Konstitutionsprinzip der individuell-perönlichen Religion strukturanaloge formale Konstitutionsprinzip einer gemeinschaftlichen Religion 259-272 (303,23-308,32) 0.3b.2.1. (Vorgreifende Zusammenfassung:) In der nobilitierenden Erhebung einer Einzelanschauung zur Zentralanschauung besteht die Konstitutionsweise der gemeinschaftlichen Religion 259-261 (303,23-304,9) 0.3b.2.2. So ist die Verbindbarkeit der individuell-persönlichen Religion des einzelnen mit der gemeinschaftlichen Religion in der Strukturanalogie ihrer Konstitutionsweisen gegeben 261-264 (304,9-305,19) 0.3b.2.2.1. Die Notwendigkeit einer solchen Verbindung 261 (304,9-19) 0.3b.2.2.2. Die (im normativen Gehalt des je individuellen religiösen Ureindrucks liegende) formale Ubereinstimmung aller je individuellen Verbindungen 261-264 (304,19-305,19) 0.3b.2.3. Die gemeinschaftliche Religion als Lebens- und Entfaltungsraum der individuell-persönlichen Religion des einzelnen 264-272 (305,20-308,32) 0.3b.2.3.1. Thetisch zusammenfassende Einleitung 264 (305,20-26) 0.3b.2.3.2. Spekulativer Hauptteil und Wiederholung: Zweite Beschreibung der Konstitutionsweise der individuell-persönli-
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Anhang
chen Religion des Einzelnen durch den prägenden Empfang eines religiösen Ureindrucks 264-268 (305,26-307,16) 0.3b.2.3.3. Empirische Abhärtung: Die empirische Wahrnehmbarkeit der Prägewirkung des anschaulich gegebenen religiösen Ureindrucks auf alle Formen des religiösen Lebens eines religiösen Menschen 268-271 (307,16-308,14) 0.3b.2.3.4. Abschließende Applikation der beschriebenen Strukturanalogie auf den übergeordneten Argumentationszusammenhang: Die Manifestation der Strukturanalogie ist nur im Reich der positiven Religionen möglich 271-272 (308,14-32) 0.3.2. Abgrenzende Bestimmung: die Untauglichkeit der natürlichen Religion als Untersuchungsgegenstand gründet dagegen gerade in deren unspezifischer Allgemeinheit 272-279 (308,33-311,23) 0.4. Fazit: Die aus den vorangegangenen Reden sich ergebenden hermeneutischen Regeln der Untersuchung sind zugleich die hermeneutischen Regeln jeder sachgemäßen Wahrnehmung der Einzelgestalt der Religion 279-286 (311,24-314,25) 0.4.0. Uberleitung zur Zusammenfassung der Regeln für jede materiale Einzelbetrachtung 279-280 (311,24-312,6) 0.4.1. Erste Regel: Der Gegenstandsbereich der Betrachtung des Unendlichen darf ausschließlich das empirisch, endlich Erscheinende umfassen 280-281 (312,6-20) 0.4.2. Zweite Regel: Die Behandlungsweise des Gegenstandes darf ausschließlich in der Suche nach einer konkreten, gestaltprägenden Grundanschauung bestehen 281-282 (312,21-36) 0.4.3. Dritte Regel: Es muß damit gerechnet werden, daß die Zentralanschauung einer gemeinschaftlichen Religion nicht unbedingt identisch ist mit der Zentralanschauung der individuell-persönlichen Religion des einzelnen 282-284 (312,36-313,34) 0.4.4. Vierte Regel: Die stets gebundene Erscheinungsweise der Religion muß durchschaut werden 284-285 (313,34-314,7) 0.4.5. Fünfte und wichtigste Regel: Die Religion muß unterschieden werden von der erst durch sie ermöglichten und ihr also nachgängigen Reflexion des Religiösen 285 (314,7-20) 0.4.6. Schluß: Die ideale, freilich nicht einklagbare Voraussetzung für das geforderte Verstehen der Religion aus sich selbst wäre, selbst eine zu haben 285-286 (314,21-26) 1. Die materiale Exemplifikation der Verstehenskategorien 286-312 (314,25326,9) 1.0. Begründung der angestrebten Beschränkung auf das Christentum mit dem persönlichen Engagement des Redners 286 (314,25-35) 1.1. Die Einzelreligion des alttestamentlichen Judentums 286-291 (314,36316,25)
D i e G l i e d e r u n g der ersten A u f l a g e der R e d e n
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1.1.0. Einleitung: Weil die Zentralanschauung der alttestamentlich-jüdischen Religion verblaßt ist, eignet sie sich als Negativbeispiel 286-287 (314,36-315,10) 1.1.1. Die Zentralanschauung der alttestamentlich-jüdischen Religion: Die Idee des Universums als Vergeltung 287-289 (315,10-35) 1.1.2. Die religionsphänomenologische Erscheinungsweise dieser Zentralanschauung in der Weissagung 289-290 (315,35-316,9) 1.1.3. Weil die Zentralanschauung den Komplexitätsansprüchen der Realität nicht gerecht wird, tritt sie hinter metaphysische und moralische Versatzstücke zurück 290-291 (316,9-25) 1.2. Die Einzelreligion des Christentums 291-310 (316,26-325,19) 1.2.1. Die allgemeine Zentralanschauung der christlichen Religion: Die Korrespondenz zwischen der Erlösungsbedürftigkeit des Endlichen und der Erlösungskraft des Unendlichen 291-293 (316,26-317,33) 1.2.2. Die religionsphänomenologische Erscheinungsweise dieser Zentralanschauung: 293-299 (317,33-320,9) 1.2.2.1 in der Selbstanschauung der Religion 293 (317,33-38) 1.2.2.2. im intensiv-polemischen Charakter 294-298 (317,38-319,28) 1.2.2.3. im extensiv-apologetischen Charakter 298-299 (319,28-320,9) 1.2.3. Das die allgemeine Zentralanschauung begleitende allgemeine Grundgefühl: heilige Wehmut über den beständig gefühlten Mangel 299 (320,10-22) 1.2.4. Der Zusammenhang der individuell-persönlichen Religion Jesu von Nazareth mit der von ihm initiierten gemeinschaftlichen Religion 299-305 (320,22-323,9) 1.2.4.1. Das die individuell zentrale religiöse Anschauung begleitende Grundgefühl: heilige Wehmut als das vorherrschende Gefühl Jesu 299-300 (320,22-31) 1.2.4.2. Exkursorisches Zwischenstück, das die laufende Exemplifikation auf die oben (279-280 [311,24-312,6]) gegebenen hermeneutischen Regeln bezieht 300-301 (320,32-321,4) 1.2.4.3. Die die individuell-persönliche Religion Jesu ureindrücklich prägende Anschauung des Universums in der abstrahierten Gestalt, in der sie zur Zentralanschauung der von ihm initiierten gemeinschaftlichen Religion des Christentums avanciert ist 301 (321,4-17) 1.2.4.4. Der religiöse Ureindruck Jesu 301-305 (321,17-323,9) 1.2.4.4.1. Der Anlaß und der Zeitpunkt des die individuelle Religion initialzündenden Ureindrucks sind im Falle Jesu nicht bestimmbar 301-302 (321,17-24) 1.2.4.4.2. Der Inhalt des religiösen Ureindrucks als anschaulicher, zentraler Gegenstand der persönlichen Religion Jesu: Jesu Glaube an seine eigene Mittlerfunktion 302-303 (321,24322,4)
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Anhang
1.2.4.4.3. Die Äußerungen dieser so bestimmbaren, ureindrücklichen Anschauung: Die messianischen Selbstprädikationen Jesu 303 (322,4-16) 1.2.4.4.4. Die kategoriale Differenz zwischen dem konkreten, die individuelle Religion prägenden anschaulichen Ureindruck Jesu und der Zentralanschauung der gemeinschaftlichen Religion des Christentums 303-305 (322,16-323,9) 1.2.5. Die prinzipielle Offenheit der Zentralanschauung der gemeinschaftlichen Religion des Christentums für Um- und Weiterbildungen durch ureindrückliche Anschauungen individuell-persönlicher Religion als Strukturmoment der christlichen Zentralanschauung 305-310 (323,9-325,19) 1.2.5.1. Exemplifikationen für die Offenheit der Zentralanschauung 305-307 (323,9-35) 1.2.5.2. Die im Offenheitscharakter der Zentralanschauung liegende sichselbsterhaltende Funktion des Christentums 307-309 (323,36325,2) 1.2.5.3. Der im Offenheitscharakter der Zentralanschauung liegende metareligiöse Zug des Christentums 309-310 (325,3-19) 1.3. Schluß 310-312 (325,20-326,9)