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German Pages 384 Year 2019
Martin Mauersberg Die »griechische Kolonisation«
Histoire | Band 152
Für Robert
Martin Mauersberg (Dr. phil.), geb. 1980, promovierte und lehrt am Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik der Universität Innsbruck. Von 2012 bis 2014 war er Junior Fellow des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Seine Schwerpunkte sind die Wissens- und Rezeptionsgeschichte.
Martin Mauersberg
Die »griechische Kolonisation« Ihr Bild in der Antike und der modernen altertumswissenschaftlichen Forschung
Gefördert durch den Forschungsschwerpunkt »Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte« der Universität Innsbruck.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: »Agrigento Concordia Tempel mit Geruest« von Clemensfranz, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 Während der Restaurierung (2005-2007) des Tempels der Concordia in Agrigento auf Sizilien, der griechischen »Kolonie« Akragas, wurde auf der Front des Baugerüstes eine Reproduktion der Fassade in den ursprünglichen Farben angebracht. Eine (bildliche) Rekonstruktion über den antiken Überresten – dies versinnbildlicht wunderbar die Intention dieses Buches, die komplexe Verschränkung von Antikem und Modernem in der Wahrnehmung der »griechischen Kolonisation« zu durchleuchten. Lektorat: Angelika Wulff Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4689-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4689-8 https://doi.org/10.14361/9783839446898 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 9 Einleitung | 11
I. DAS ANTIKE WISSEN: »peri tas apoikias« »Über die Apoikien« Vorbemerkungen zu Teil I | 19 I.1
Spuren des zeitgenössischen Blicks? | 25
I.1.1
Wie funktioniert ein Mythos? Oder: Eine archaische Epistemologie | 26 Die diskursiven Überreste aus der Archaik | 33 Migration, ktisis und Identität | 41
I.1.2 I.1.3 I.2
Der Diskurs der klassischen Zeit zu Gründungen und Apoikien Querschnitt 1 | 51
I.2.1 I.2.2 I.2.3
Das diskursive Feld: Ursprünge der Vergangenheit | 52 Die Elemente der Aussagenebene | 66 Die determinierende Vergangenheit | 100
I.3
Der (Spät-)Hellenismus: Kontinuitäten und Brüche Querschnitt 2 | 113
I.3.1 I.3.2 I.3.3
Das diskursive Feld: »peri tas apoikias« | 113 Die Elemente der Aussagenebene | 126 Der Diskurs der (spät-)hellenistischen Zeit zu apoikiai | 166
»Die Geschichten der Griechen sind vielfältig…« Zusammenfassende Bemerkungen zu Teil I | 175
II. DAS MODERNE WISSEN: DIE »GRIECHISCHE KOLONISATION « »et avec leur ciment tout moderne…« Vorbemerkungen zu Teil II | 181 II.1
Eine Bestandsaufnahme des Wissens : Das 18. und frühe 19. Jahrhundert | 185
II.1.1 Antike »Kolonien« aus einer enzyklopädischen Perspektive | 185 II.1.2 Die erste monographische Studie zur »griechischen Kolonisation « | 188 II.1.3 Die contraction des europäischen Kolonialsystems und die »griechische Kolonisation « | 195 II.1.4 Überblickswerke: »Griechische Geschichten« | 206 II.1.5 Kolonisation unter universalhistorischer Perspektive: Arnold Heeren | 215 II.1.6 Zwei Monographien zur »griechischen Kolonisation« | 220 II.1.7 Die Entwicklung der »griechischen Kolonisation « als historiographisches Objekt | 234 II.2
Die »griechische Kolonisation« in den ersten altertumswissenschaftlichen Nachschlagewerken Querschnitt 1 | 237
II.2.1 Das diskursive Feld | 244 II.2.2 Zusammenfassung | 254 II.3
Die »griechische Kolonisation « im Age of Empire Querschnitt 2 | 257
II.3.1 Leitende Paradigmen | 261 II.3.2 Das diskursive Feld | 272 II.3.3 Zusammenfassung | 293 II.4
Neue Ordnungen? Die ersten Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg Querschnitt 3 | 295
II.4.1 Das diskursive Feld | 301 II.4.2 Zusammenfassung | 318 II.5
Die Evaluation des Wissens im neuen Jahrtausend Querschnitt 4 | 319
II.5.1 Die (sich auflösende) Ordnung des Wissens | 325 II.5.2 »the best term we have «? | 339
Das antike »peri tas apoikias« und die »griechische Kolonisation« Ein abschließender Überblick | 347 Bibliographie
Quellenverzeichnis | 351 Literaturverzeichnis | 367
Vorwort
Die Veröffentlichung dieses Buches zieht einen Schlussstrich unter mein Dissertationsprojekt. Von der initialen Phase des Materialsammelns und -sichtens an, der ersten Fassungen von Kapiteln und des Suchens nach geeigneten Erkenntnistools und Strukturierungsmöglichkeiten über deren Erprobung und Umsetzung in der Schreibpraxis bis zur Korrekturphase, dem Rigorosum und der finalen Umsetzung in ein Manuskript war meine Partnerin Kathrin eine stetige Anlaufstelle für inhaltliches Feedback sowie ein stetiger Hort von Ermutigung, Aufmunterung und notwendiger Ablenkung. Letzteres gilt auch für unseren Sohn Robert, dem dieses Buch gewidmet ist. Meinen Eltern möchte ich ebenfalls für ihren Rückhalt und ihre Unterstützung in dieser Lebensphase danken. Die Dissertation verdankt ihr Dasein in besonderem Maße der Begleitung meines Doktorvaters Christoph Ulf. Er hatte ein stets offenes Ohr für Fragen aller Art und seine Leseeindrücke und Anregungen waren von unschätzbarer Hilfe. Besonders für den mir gelassenen Freiraum beim Griff in die kulturwissenschaftliche Werkzeugkiste bin ich ihm sehr dankbar. Auch dem Zweitgutachter Erich Kistler bin ich für seine zahlreichen Anmerkungen sehr verbunden. Ohne folgende Institutionen und Personen wäre das Dissertationsprojekt in vorliegender Form nicht möglich gewesen. In chronologischer Reihenfolge ihrer Involvierung danke ich dem Vizerektorat für Forschung der Universität Innsbruck für die Förderung durch das Nachwuchsprogramm, genauso wie dem Büro für internationale Beziehungen für die Zuerkennung eines Stipendiums für einen kurzfristigen wissenschaftlichen Aufenthalt in Paris. Dort profitierte ich von der Gastfreundschaft von François de Polignac und dem Forschungsinstitut ANHIMA (Anthropologie et histoire des mondes antiques). Gleich zweimal konnte ich die anregende Atmosphäre dieser Institution genießen. Der Dialog mit Claude Calame, Cecilia D’Ercole und François de Polignac trug immens zum Gelingen der Dissertation bei. Eine besondere Rolle nahm das IFK in Wien ein, wo ich als Junior Fellow für ein Jahr die anregende Atmosphäre eines transdisziplinären kulturwissenschaftlich ausgerichteten Forschungsinstitutes genießen konnte. Den Direktoren Helmuth Lethen
10 | Die »griechische Kolonisation«
und Lutz Musner danke ich für ihre Unterstützung sowie die zahlreichen hilfreichen Hinweise und Rückmeldungen, meinen Mit-Junior Fellows Florian Baranyi, Rolf Bauer, Verena Bauer, Susanne Beiweis, Stefan Laube, Saša Miletić und Ulrich Schwarz für das amikale, offene und stets konstruktive Gesprächsklima. Das IFK gab mir zudem über das IFK_abroad Folgestipendium die Möglichkeit, für die Dauer eines Jahres an internationalen Forschungseinrichtungen zu arbeiten. Neben dem bereits erwähnten ANHIMA war dies zunächst die University of Chicago, wo mich Jonathan Hall betreute. Ich bin ihm tief dafür verbunden, wie ernst er diese Aufgabe nahm: Aus der Lektüre mehrerer Kapitel meiner Dissertation ergaben sich herausfordernde und fruchtbringende Diskussionen. Darüber hinaus profitierte ich von Gesprächen mit Alain Bresson, Michael Dietler, Lieve Donnellan sowie Michèlle Lowrie. Während meines Aufenthalts am nordamerikanischen Kontinent konnte ich zudem auf Einladung von Franco De Angelis an der University auf British Columbia (Vancouver) ein Kapitel meiner Dissertation vorstellen. Hierfür, und auch für sein ermutigendes Feedback, sei ihm gedankt. Während meines zweiten Paris-Besuchs ergab sich die Möglichkeit, an einer anderen Forschungseinrichtung, dem CIERA (Centre interdisciplinaire d’études et des recherches sur l’Allemagne), im Rahmen des séminaire des doctorants ein Kapitel zu präsentieren. Besonders Michael Werner und Anne Seitz möchte ich für ihre konstruktiven Anmerkungen danken. Bei der finalen Bearbeitung waren mir schließlich die Anmerkungen von Judith Welz zu Kapiteln des zweiten Teils sowie der Rat und die Unterstützung meiner Lektorin Angelika Wulff eine große Hilfe. Martin Mauersberg Innsbruck im April 2019
Einleitung
Diese Untersuchung befasst sich mit dem historischen Phänomen der punktuellen Besiedlung der Mittel- und Schwarzmeerküsten durch Personengruppen aus dem Ägäisraum zwischen der zweiten Hälfte des 8. und dem 6. Jh. v.Chr., das heute konventionellerweise als »griechische Kolonisation« bezeichnet wird. Der Ausgangspunkt des Buches ist die Feststellung, dass das moderne Bild der »griechischen Kolonisation« das Ergebnis einer doppelten Konstruktion ist: Die erste Ebene bilden die meist retrospektiven antiken Wahrnehmungen. Die zweite Ebene der Konstruktion entsteht, indem die Überreste des antiken Wissens durch die modernen Altertumswissenschaften aufgenommen und erneut in zeitgenössische Sinngebungsmuster eingebettet werden, wodurch das Phänomen überhaupt erst zur »griechischen Kolonisation« geworden ist.1 Um die Differenz zwischen der antiken und der modernen Wahrnehmung zu kennzeichnen, wird im Folgenden die retrospektiv auf die griechische Antike übertragene koloniale Terminologie in Anführungszeichen stehen. Das Ziel des Buches ist es, diese doppelte Konstruktion mittels einer Analyse der Entwicklung des Wissens und der ihm zugrundeliegenden Bedingungen in der Antike sowie in der modernen altertumswissenschaftlichen Forschung nachzuzeichnen. Es handelt sich somit um einen wissensgeschichtlichen Zugang, der Wissen nicht auf die beschreibbaren Inhalte reduziert, sondern die Frage nach seiner Konstitution und zeitgenössischen Verankerung stellt. Dies führt dazu, dass das Wissen als Summe seiner Bestandteile wahrgenommen, gewissermaßen diskursiviert wird, wodurch seine historischen Entwicklungen genau so in den Blickpunkt rücken wie die Praxen, die es hervorbringen. Zwei Analyseebenen sind somit vorgegeben: Eine synchrone, auf das Wissen und seine Bedingungen abzielende, und eine diachrone, die Entwicklung und Tradierung des Wissens betreffende Analyse. Neben dem in diesem Vorgang liegenden Erkenntniswert per se soll diese Untersuchung zwei im Brennpunkt der aktuellen Forschung zur »griechischen Kolonisation« stehenden Aspekte adressieren: Erstens die Frage nach der Berechtigung der
1
Vgl. hierzu auch Dietler 2010: 14 und Owen 2005: 11.
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modernen retrospektiven Bezeichnung des Phänomens mittels der kolonialen Terminologie. Zweitens das Patt innerhalb der Forschung aufgrund der spezifischen Quellensituation. Das Gros der von vorneherein geringen Menge an verfügbaren antiken Quellenäußerungen sind retrospektive Beschreibungen. Dieser Umstand bringt die drängende Frage nach der historischen Zuverlässigkeit dieser frühestens ab der klassischen Zeit aufgezeichneten Traditionen mit sich. Die doppelte Konstruktion Die soeben geschilderte Quellenproblematik liegt der doppelten Konstruktion, der das moderne Wissen über die »griechischen Kolonisation« unterworfen ist, zugrunde: Zur Organisation und Rekonstruktion dieses historischen Phänomens brauchte es Deutungsmuster, die die wenigen erhaltenen antiken Äußerungen nur unzureichend bieten konnten. Hierzu wurde traditionellerweise auf ein koloniales Deutungsparadigma zurückgegriffen, also eine Unterordnung des Phänomens unter ein verallgemeinertes (europäisches) Phänomen der »Kolonisation«. Seine Eigenschaften bilden somit die Richtschnur für die historische Beschreibung seiner individuellen Ausformungen. Für diesen Vorgang erhöhte sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte das Bewusstsein in der Forschung und vermehrt wurde Kritik laut, dass auf diese Weise anachronistische Elemente in die griechische Antike rückprojiziert werden. Exemplarisch sei Robin Osbornes Schlachtruf zitiert: »A proper understanding of archaic Greek history can only come when chapters on ›Colonization‹ are eradicated from books on early Greece.«2 Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz, dass die moderne Erforschung der »griechischen Kolonisation« durch die Wahrnehmungen der modernen Kolonisation geprägt worden ist. Uneinigkeit herrscht hingegen hinsichtlich der Auswirkungen dieses Einflusses und der Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind: Bei weitem nicht alle Altertumswissenschaftler_innen würden Osbornes radikale Haltung teilen.3 Die im zweiten Teil des Buches unternommene Analyse der Entwicklung des modernen Wissens über die »griechische Kolonisation« in den angelsächsischen, deutsch- und französischsprachigen Altertumswissenschaften bringt die konstituierenden Elemente und somit die Bedingtheiten des aktuellen Wissens zum Vorschein. Somit wird nicht zuletzt eine umfassende Bewertung der tatsächlichen Einwirkung des kolonialen Paradigmas auf die Rekonstruktionen der »griechischen Kolonisation« erreicht, was ein Beitrag zur aktuell virulenten Frage nach der Berechtigung der Bezeichnung des Phänomens mittels der kolonialen Terminologie ist. Grundsätzlich
2
Osborne 1998 (hier: 269). Siehe auch grundlegend Finley 1976 oder aktueller Owen 2005 und Dietler 2010: 14-19. Vgl. als Gegenposition Malkin 2016: 27-32.
3
Siehe etwa Tsetskhladze 2006b: xxv-viii, De Angelis 2009 und Malkin 2016: 27-31 für einen kurzen Abriss.
Einleitung | 13
schließt diese Untersuchung eine Forschungslücke,4 da zur modernen Rezeption der »griechischen Kolonisation« bislang primär Spezialstudien zu konkreten modernen Altertumswissenschaftlern und ihren Werken vorliegen.5 Das Quellenproblem Die Relevanz der Frage nach der Zuverlässigkeit der retrospektiven antiken Quellenäußerungen zeigt sich schon alleine dadurch, dass A.J. Graham seinem erstmals 1964 erschienenes Standardwerk Colony and Mother City in Ancient Greece eine über 20 Seiten starke »Prolegomena« voranstellte, um den Nutzen der retrospektiven antiken Quellenäußerungen zur Rekonstruktion der »griechischen Kolonisation« zu verteidigen. Bereits in den 50er und 60er Jahren war eine Färbung der Quellen durch zeitgenössische Vorstellungen immer vehementer in den Raum gestellt worden. Die Fronten zwischen jenen, die auf die Möglichkeit der Auffindbarkeit des berühmten wahren Kerns in den erhaltenen Quellenäußerungen vertrauen und jenen, die einen solchen Zugang aufgrund der vermuteten Überprägung durch spätere Färbungen zumindest skeptisch sehen, hat sich in den inzwischen vergangenen Jahrzehnten verhärtet.6 Grundlegend für die beiden Postionen ist die Antwort auf die Frage nach dem Funktionieren von Wissenstraditionen ausgehend von der Archaik: Hier die Annahme einer statischen, annähernd faktentreuen Weitergabe von Wissen, dort der Verweis darauf, dass gerade die oral tradition – und hiervon ist primär auszugehen – eine dynamische Art der Wissensweitergabe ist, was Anpassungen, Vergessen und Interpolationen im Zuge der Tradition bedeuten kann. Die Pattsituation, in der die Erforschung der »griechischen Kolonisation« steckt, ergibt sich aus dem Umstand, dass es aufgrund der rudimentären Quellenlage keine pauschale Antwort geben kann, ob Vergangenheitstraditionen historisch zuverlässig sind oder nicht. Weder kann a priori die Möglichkeit ausgeschlossen werden, dass der zeitgenössischen Erfahrung entsprungene Darstellungen historischer Ereignisse unter bestimmten Bedingungen einen längeren Zeitraum überdauern konnten. Noch darf die potentielle Dynamik der oral tradition außer Acht gelassen werden.7 Denn: Wie lässt sich das Alter einer spezifischen Vergangenheitsinformation bestimmen, wenn es meist keine Möglichkeit einer von ihr unabhängigen Überprüfung gibt? Wilfried Nippel bringt es auf den Punkt: »Unsere Berichte über Koloniegründungen stammen aus einer späteren Zeit; 4
Vgl. hierzu Nippel 2003: besonders 14 und bezugnehmend darauf De Angelis 2009: 52. Siehe auch Dietler 2010: 15 für die Notwendigkeit sich, im Sinne des »Foucaultian sense« von Archäologie, der Bedingtheiten des modernen Wissens bewusst zu werden.
5
Siehe etwa De Angelis 1998 oder den von Henry Hurst und Sara Owen herausgegebenen
6
Für einen Überblick über die Situation siehe Hall 2008 und Mac Sweeney 2013: 7-16.
Sammelband Ancient Colonizations. Analogy, Similarity & Difference (London 2005). 7
Grundlegend: Vansina 1985. Für die Antike siehe etwa Thomas 1992: 108-113 und Giangiulio 2010a: 13-27.
14 | Die »griechische Kolonisation«
es gibt keinen methodisch sicheren Weg, die ältesten Kerne dieser Überlieferungen zu identifizieren.«8 Besonders deutlich wird dies bei widersprüchlichen antiken Überlieferungen zu denselben Ereignissen: Wie ist zu bestimmen, welche die zutreffende ist? Dieses Grundproblem wird von Jonathan Hall verdeutlicht: »To maintain that literary traditions preserve the historical truth of a colony’s origins while simultaneously drawing arbitrary distinctions that ancient authors refused to make between more and less credible accounts is […] untenable from a methodological point of view and risks misunderstanding the purpose of foundation stories.«9
Umgekehrt lassen sich auch Verfremdungen in der Tradition nicht so einfach belegen, wenn das ›Original‹ nicht mehr verfügbar ist.10 Diese Situation kann in extremis so weit führen, dass ein und derselbe antike Bericht entweder als wahr oder als retrospektive Erfindung interpretiert werden kann: In jedem Fall muss auf Hypothesen zurückgegriffen werden, die über das verfügbare Quellenkorpus hinausgehen. 11 Diese Studie folgt a priori keinem der beiden Pole, sondern fragt im ersten Teil des Buches grundsätzlich nach den inhärenten Bedingungen und Spezifika der antiken Wahrnehmungen des Phänomens. Dazu gehören etwa die von Jonathan Hall angedeuteten Mittel der antiken Autoren, glaubwürdige Vergangenheitsnarrative zu verfassen oder die ebenfalls aufgeworfene Funktionalität von Gründungserzählungen. Was somit zur Hand gegeben wird, ist ein Mittel zur Rückbindung von spezifischen antiken Äußerungen an die sie leitenden diskursiven Formationen in ihrer jeweiligen zeitgenössischen Ausprägung. Hinzu kommt, dass über die diachrone Dimension der Analyse bestimmt werden kann, welche der die antiken Äußerungen prägenden Elemente der diskursiven Formationen Fluktuationen unterworfen waren beziehungsweise welche eine längere Kontinuität aufwiesen. Diese Untersuchung schafft somit eine zusätzliche Kontextualisierungshilfe, die eine individuelle und nuancierte Einschätzung des Quellenwerts von spezifischen Äußerungen erlaubt. Insgesamt richtet sich diese Studie nicht nur an Altertumswissenschaftler_innen, die sich mit dem Forschungsfeld der »griechischen Kolonisation« auseinandersetzen, sondern auch an jene, die ein Interesse daran haben, zu erfahren, unter welchen Bedingungen auf einer allgemeineren, wissensgeschichtlichen Ebene in der Antike Vergangenheitswissen zu einem konkreten Themenfeld generiert, tradiert und auch modifiziert worden ist. Zugleich wird beschrieben, wie dasselbe historische Phänomen etwa 2000 Jahre später zur »griechischen Kolonisation« gemacht worden ist und wie sich die altertumswissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Phänomen vom 18. Jh. 8
Nippel 2003: 16.
9
Hall 2008: 394.
10 Vgl. Hall 2008: 422. 11 Vgl. für ein konkretes Fallbeispiel Mauersberg 2015.
Einleitung | 15
bis in die Gegenwart entwickelt hat. Für die Wissenschaftsgeschichte der Altertumswissenschaften in den letzten 300 Jahren wird ein Streiflicht auf ihre Entwicklung mittels des Zugangs über ein konkretes thematisches Feld geworfen. Und zu guter Letzt spricht sie jene an, die sich mit der neuzeitlichen Kolonisation beschäftigen, da die Rolle (vermeintlicher) antiker Vorläufer für die Wahrnehmungen der neuzeitlichen Kolonisation thematisiert wird.
I. Das antike Wissen: »peri tas apoikias«
οἱ γὰρ Ἑλλήνων λόγοι πολλοι τε καὶ γελοῖοι, ὡς ἐμοὶ ϕαίνονται, εἰσίν. Die Geschichten der Hellenen sind vielfältig und, wie sie mir erscheinen, lächerlich. Hekataios von Milet FGrHist 1: F 1a.
»Über die Apoikien« Vorbemerkungen zu Teil I
Der im 2. Jh. v.Chr. in Rom wirkende griechische Historiker Polybios umschrieb den antiken Diskurs zu den Emigrationen der Hellenen, die zu Gründungen von Gemeinwesen im Mittel- und Schwarzmeerraum geführt hatten, mit der Wendung »peri tas apoikias« – über die Apoikien. Im Zentrum stand demnach die apoikia, ein Begriff mit einer retrospektiven Note: Das Präfix apo- weist auf ein Fernsein hin, in diesem Fall vom oikos, also einem »Zuhause«.1 Heute wird apoikia konventioneller Weise mit dem Begriff »Kolonie« übersetzt. Die Anwendung der modernen kolonialen Terminologie ist wohl das deutlichste Zeichen der doppelten Konstruktion. Diese klare Identifizierung eines spezifischen Diskurses durch Polybios kann jedoch für frühere Zeiten nicht vorausgesetzt werden. Vielmehr handelt es sich bei seiner Perspektive um das Produkt einer jahrhundertelangen Formierung und Tradierung von Wissen zu diesem Themenfeld rund um Emigration und Gründung. Den Weg dorthin wird die folgende Analyse rekonstruieren. Das zum Motto des ersten Teils erhobene Zitat des Hekataios von Milet (ca. 560-480 v.Chr. und somit einer der frühesten griechischen Historiographen) soll eines der leitenden Prinzipien dieser Analyse unterstreichen: Es gilt, die Vielfältigkeit und Heterogenität der antiken Äußerungen zum fraglichen Phänomen ernst zu nehmen. Es steht somit für die Fluktuation und Wandelbarkeit des antiken Wissens und verdeutlicht die dynamische Natur von Wissenstraditionen. Forschungsdesign Teil I Der erste Teil umfasst eine Analyse möglichst aller verfügbaren antiken Äußerungen von der Archaik, also dem Zeitraum von etwa 750 bis 500 v.Chr., bis in das 1. Jh. nach der Zeitenwende hinein, die im Zusammenhang mit dem modern als »griechische Kolonisation« bezeichneten historischen Phänomen stehen. Diese Äußerungen werden als Momentaufnahmen, Schnappschüsse einer lebendigen diskursiven Praxis
1
Siehe grundlegend Casevitz 1985: 120-130.
20 | I. Das antike Wissen
verstanden.2 Die Herausforderung besteht darin, mittels dieser rudimentären Momentaufnahmen den lebendigen Prozess der Kreation, Tradition und Modifikation von Vergangenheitswissen zu rekonstruieren. Das bearbeitete Quellenkorpus baut auf Vorgängerwerken auf, in denen die Quellen zur »griechischen Kolonisation« aus unterschiedlichen Perspektiven zusammengestellt und bearbeitet wurden. Zunächst ist Michel Casevitz’ philologisch-lexikographische Analyse Le vocabulaire de la colonisation en grec ancien (Paris 1985) zu nennen, in der untersucht wird, inwieweit sich ein konkret auf die »griechische Kolonisation« bezogenes Vokabular isolieren lässt. Sein Ziel war es zu klären, wann eine Übersetzung mit »Kolonie« beziehungsweise »kolonisieren« angebracht ist. Hierfür trennt Casevitz »Kolonisation« vom Phänomen der Migration insofern, als für ersteres Phänomen ein gewisser Organisationsgrad erkennbar sein müsse.3 Sodann stützt sich diese Arbeit auf zwei Studien, die sich den antiken Repräsentationen des Phänomens verschrieben haben: Carol Doughertys Poetics of Colonization (New York/Oxford 1993) ist eine narratologisch inspirierte Untersuchung der zentralen Topoi, die die antike Wahrnehmung zur »griechischen Kolonisation« prägten. Die griechische Kolonisation im Spiegel literarischer Zeugnisse (Tübingen 1997) von Theresa Miller ordnet die Quellen der archaischen und klassischen Zeit anhand der »wichtigsten literarischen Motive«4. In beiden Büchern manifestiert sich das in der Einleitung skizzierte Patt, da die konstruierte Seite der antiken Vergangenheitstraditionen betont wird. Dougherty beschreibt ihr Vorhaben folgendermaßen: »[…] I will explore how the ancient Greeks constructed their memory of founding new cities on foreign shores; this book is concerned with the representations – not the realia – of archaic colonization.«5 Auch Miller schlägt in diese Kerbe: »Im vorliegenden Buch soll versucht werden, das Bild herauszuarbeiten, das sich die Griechen in der Literatur der archaischen und klassischen Zeit vom Phänomen ›Kolonisation‹ zeichneten. Durch eine eingehende Betrachtung von Hauptmotiven, die in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielen, soll untersucht werden, was in diesen Berichten als bedeutsam hervorgehoben wird, oft geradezu im Widerspruch zum tatsächlichen Ablauf der Ereignisse.«6
Das Problem einer solchen Sichtweise zeigt sich im soeben zitierten letzten Satz: Die erhaltenen Quellenäußerungen dienen sowohl der Rekonstruktion der Repräsentationen als auch des »tatsächlichen Ablaufs«. Hinsichtlich des Patts wird zwar eine Po-
2
Vgl. hierzu auch Braund 1998.
3
Casevitz 1985: 75f. und 128-130.
4
Miller 1997: 6.
5
Dougherty 1993: 4.
6
Miller 1997: 2.
»Über die Ap oik ien « | 21
sition bezogen, die dem Patt zugrundeliegende Frage, welche Äußerungen nun welchem Bereich angehören, wird jedoch nicht berührt.7 Einer der Gründe hierfür liegt darin, dass das Ziel die Rekonstruktion einer verallgemeinerbaren antiken Wahrnehmung des Phänomens ist, sei es in Form eines allgemeinen Meta-Narrativs oder eines ktisis-Genres, einer spezifisch der Gründung (ktisis) von »Kolonien« gewidmeten literarischen Gattung. Michel Casevitz umreisst sie wie folgt: »[L]a κτίσις [ktisis] est une ›légende de formation‹ grâce à laquelle une cité s’ancre au fonds mythique qui garantit son ancienneté autant que son insertion dans le monde: un des moindres mérites d’une κτίσις n’est pas dʼ›expliquer‹ le nom d’une cité par le nom d’un fondateur, et le récit contient souvent un oracle, un voyage, des rites et l’adoption ou l’institution des lois de la cité.«8
Carol Dougherty bevorzugt es von einem »narrative pattern or plot of archaic colonization«9 zu sprechen: »Thus, as we will see, the Greeks represent colonization as a familiar story – crisis, Delphic consultation, and resolution – and this ›emplotment‹ of the colonial narrative is one of the ways the Greeks (as a culture) authorize their common past.«10 So wichtig das Herausarbeiten zentraler Elemente der antiken Wahrnehmung auch ist, die Gefahr einer homogenisierenden Rekonstruktion ist eminent.11 Dies gilt umso mehr, da Versuche, ein spezifisches ktisis-Genre bereits für die Archaik zu rekonstruieren, schon alleine aufgrund der dürftigen Quellenlage auf wackeligen Beinen stehen.12 Hinzu kommt, dass die Annahme eines allgemeinen narrativen Genres oder Meta-Narrativs eine kulturelle Homogenität im Ägäisraum impliziert. Insgesamt gibt es einen klaren heuristischen Zweck: Es lassen sich einheitliche Vorstellungen zu ktiseis rekonstruieren, da die wenigen erhaltenen Aussagen verallgemeinerbar werden.13 Wenig überraschend entsprechen die Rekonstruktionen der antiken Repräsentationen der »griechischen Kolonisation« auch den üblichen, auf denselben wenigen Quellen basierenden historischen Rekonstruktionen des Phänomens. Dies wird wohl auch dadurch bedingt, dass das zeitgenössische Wissen zur »griechischen Kolonisation« das Raster vorgibt, wonach auf der Repräsentationsebene Ausschau zu halten ist. Um das Patt aufzubrechen, muss es folglich das Ziel sein, von einer Verallgemeinerung Abstand zu nehmen und die Repräsentationen aufzubrechen. Die 7
Vgl. zu diesem Punkt Malkin 1998: 23.
8
Casevitz 1985: 55.
9
Dougherty 1993: 15.
10 Ebd.: 6. 11 Vgl. Hall 2008: 402. 12 Siehe hierzu Dougherty 1994. 13 Vgl. Hall 2008: 387.
22 | I. Das antike Wissen
Identifikation von Regelmäßigkeiten ist zwar ein wichtiger Baustein der historischen Diskursanalyse (nur durch sie kann überhaupt ein Diskurs identifiziert werden), allerdings werden diese Regelmäßigkeiten nicht zu verallgemeinerbaren Prinzipien erhoben. Im Gegenteil: Die Diskursanalyse ist skeptisch gegenüber Verallgemeinerungen, da es darum geht, die diskursive Praxis in ihrer Heterogenität abzubilden und keineswegs versucht werden soll, eine »verborgene Einheit« wiederherzustellen,14 etwa in der Form eines ktisis-Genres mit verallgemeinerbaren narrativen Mustern. Zudem ermöglicht ein diskursanalytischer Zugang ein Hinausgehen über die Identifizierung von narrativen Mustern, da er die Analyse der Bedingungen für das Auftreten von Äußerungen mit einschließt. Entscheidend dabei ist, dass diese Bedingungen hinsichtlich ihrer historischen Entwicklung befragt werden. Hierin liegt der Schlüssel zum Beitrag dieser Untersuchung zur Erforschung der »griechischen Kolonisation«: Es wird gezeigt, mit welchen Äußerungen zu welcher Zeit gerechnet werden kann. Und es wird bestimmt, welche Wissenselemente relativ konstant und welche mehr von Veränderung geprägt waren. Als Nebeneffekt ergibt sich zudem, dass anhand eines konkreten diskursiven Feldes nachgezeichnet werden kann, wie Tradition, verstanden als aktive Weitergabe von Wissen, funktioniert hat. Die Quellenäußerungen werden entsprechend dieses Programms nicht als Belege verallgemeinerbarer Wahrnehmungen verwendet, sondern als Spuren oder Überreste diskursiver Praxen. Somit werden die Äußerungsbedingungen sowie die Spielräume und auch ihre diachronen Veränderungen in den Vordergrund gerückt. Im Sinne der angestrebten Historisierung der antiken Wahrnehmungen werden die Äußerungen aufgrund der Clusterung ihres zeitlichen Auftretens auf drei Kapitel aufgeteilt. Dies bringt zwangsläufig mit sich, dass die an sich bereits geringe Menge an Äußerungen weiter fragmentiert wird. Dieser Nachteil wird allerdings aufgewogen durch das Erreichen einer historisierenden, nuancierten Analyse. Das erste Kapitel wird sich mit den Spuren eines möglichen zeitgenössischen Blicks auf das Phänomen der »griechischen Kolonisation« befassen. Das zweite Kapitel bietet einen ersten Querschnitt des antiken Wissens, der die klassische Zeit umfasst. Und im zweiten Querschnitt, rsepektive im dritten Kapitel des ersten Teils, richtet sich der Fokus primär auf das 1. Jh. v.Chr., aus dem ein Großteil des Quellenmaterials stammt. Bis in die römische Kaiserzeit und Spätantike soll nicht vorgerückt werden, da die These vertreten wird, dass es bereits im Laufe des im zweiten Querschnitt behandelten Zeitraums zu einer Kanonisierung des Wissens gekommen ist und somit kaum mehr größere Veränderungen zu erwarten sind. Das zeigt sich etwa daran, dass die relevanten spätantiken Äußerungen primär aus gelehrten Kompilationen des damals verfügbaren Wissens stammen.15 In der modernen Forschung spie-
14 Siehe Foucault 1969: 195-197. 15 Vgl. hierzu die Detailstudie zu Massalia, dem antiken Marseille, in Mauersberg 2015.
»Über die Ap oik ien « | 23
len sie dementsprechend mit Ausnahme der Datierungen in der Chronik des Eusebius keine große Rolle, was einen weiteren Grund für ihre Vernachlässigung hier darstellt. Innerhalb der Kapitel wird vor der eigentlichen Analyse der Aussagen auf die Bedingungen des Wissens eingegangen, was primär eine Beschreibung der Möglichkeiten, sich zur Vergangenheit zu äußern, meint. Im Sinne der angestrebten Rekonstrukion des antiken Wissens werden die in den Querschnitten behandelten Äußerungen hinsichtlich der Grundstruktur der antiken Vergangenheitswahrnehmung chronologisch aufgeteilt und nicht gemäß der modernen Unterteilung in vorhistorisch und historisch. Das bedeutet, dass die Quellenäußerungent aufgrund der chronologischen Verortung der von ihnen behandelten Ereignisse und Gegebenheiten unterschieden werden. Diese Einteilung erlaubt einerseits ein Hervortreten der antiken Einstufungen der Zuverlässigkeit der Äußerungen, andererseits eine Gegenüberstellung der konkreten Ausgestaltungen der Äußerungen in den unterschiedlichen Zeitstufen und somit insbesondere Rückschlüsse zur Korrelation zwischen der zeitgenössischen Erfahrung und dem tradierten Vergangenheitswissen. Anmerkungen zu Referenzmitteln Im ersten Teil wird in den Fußnoten aufgrund der Ausrichtung des Buches für ein breiteres Publikum auf die in den Altertumswissenschaften üblichen Abkürzungen der verwendeten antiken Autoren und Werktitel verzichtet: Beides wird ausgeschrieben. Für die Quellenzitate wird auf möglichst aktuelle und geläufige deutschsprachige Übersetzungen zurückgegriffen – die entsprechenden bibliographischen Angaben erfolgen im Quellenverzeichnis. In den wenigen Fällen, wo dies nicht möglich war, stammen die Übersetzungen vom Autor dieses Buches (dies wird in der Fußnote explizit gemacht). Innerhalb der zitierten Übersetzungen wird insbesondere dann, wenn die moderne koloniale Terminologie verwendet wird, die antike Begrifflichkeit in eckigen Klammern eingefügt. Da antike Quellen über Handschriften überliefert wurden, ergeben sich für moderne Quelleneditionen Probleme, die im Übersetzungstext kenntlich gemacht werden: Hierzu gehören Lücken (* *), Ergänzungen von solchen durch die Übersetzenden (⟨…⟩) oder unsichere Lesungen schwer entzifferbarer Worte oder Passagen (†…†). Die Quellenangaben zu den lediglich in Fragmenten erhaltenen antiken Werken erfolgen über ihre modernen Editionen. Dies ist meist Felix Jacobys Die Fragmente der griechischen Historiker (Berlin und Leiden 1923ff.), abgekürzt FGrHist mit der den Autoren zugeordneten Nummern. Alle weiteren mit Autorennamen oder -kürzeln angegebenen Fragmentsammlungen werden im Quellenverzeichnis aufgeschlüsselt. Zudem erfolgt die Angabe des Überlieferungskontextes der Fragmente, also von wem und in welchem antiken Werk („apud“) sie zitiert worden sind. Im Falle eines wörtlichen Zitates dieser Stelle, wird in der Regel die Übersetzung des Werkes, in der das Fragment eingebettet ist, verwendet.
24 | I. Das antike Wissen
Auch die in den Fußnoten abgekürzten Inschriftensammlungen werden im Quellenverzeichnis aufgelöst. Da Anführungszeichen im Text aufgrund der Hervorhebung der Übertragung der kolonialen Terminologie auf die griechische Antike bereits häufig verwendet werden, wird darauf verzichtet, dieses Mittel durchgängig zur Hervorhebung des zeitlich relativen Konstruktionscharakters von ethnisierten imagined communities16 wie der »Griechen« zu verwenden, um den Text nicht über Gebühr mit Anführungszeichen zu überfrachten. Diese Problematik ist dennoch im Hinterkopf zu behalten, wenn die Wahrnehmungen derartiger Kollektivsubjekte, insbesondere in Form von Ethnonymen, referiert werden. Dasselbe gilt auch für den Barbarenbegriff in der Antike, der ebenfalls Wandlungen unterworfen war.17 Hierbei ist besonders das Phänomen des Othering, der Differenzierung einer Fremdgruppe (in diesem Fall der »Barbaren«) von der Eigengruppe (den »Griechen« oder »Hellenen«), zu beachten.18 Dieses aus den postcolonial studies stammende Konzept und das Grundmuster einer differenzierenden Identitätswahrnehmung ist auch bei der Analyse antiker Wahrnehmung von Identität nützlich. Um auf diese Konzeptualisierung aufmerksam zu machen, werden die entsprechenden Begriffe kursiviert. Die Verwendung einer geschlechtergerechten Schreibweise ist in einem der Wiedergabe von Wahrnehmungen verpflichteten historischen Werk ein komplexes Thema: Die Sichtbarmachung von auf geschlechtlicher Differenzierung beruhenden Ausschlussmechanismus kann in Konflikt geraten mit dem Bestreben, diskursive Formationen (inklusive der dazugehörigen patriarchalen Perspektive) der Vergangenheit zu referieren. In vorliegendem Buch wird versucht, einen nuancierten Weg zu beschreiten. Das bedeutet etwa für Ethnonyme, dass lediglich die männliche Form verwendet wird, also der vergangene Sprachgebrauch referiert wird. Ähnliches gilt für antike Autoren oder auch Gründerfiguren, da es sich bis auf wenige Ausnahmen um Männer handelte. Ausnahmen werden natürlich hervorgehoben. Unmöglich pauschal zu bestimmen ist auch, inwieweit Frauen in der antiken Wahrnehmung Teil der aus dem Ägäisraum Emigrierenden waren. Im antiken Sprachgebrauch ist hier meist von »apoikoi«19 oder einfach einem »laos« (einer »Menge«) die Rede. Hier wird in der Regel ebenfalls von »Emigranten« oder Ähnlichem gesprochen aber die wenigen Ausnahmen, in denen die Quellen auch eine Partizipation von Frauen suggerieren, diskutiert.
16 Siehe grundlegend Anderson 1996 und auch Brubaker 2007. 17 Siehe grundlegend Vlassopoulos 2013. 18 Siehe etwa Bhabha 1994: 94-131 oder Hall 1994. Angewandt auf die Antike: Gruen 2012. 19 Casevitz 1985: 116-119.
I.1 Spuren des zeitgenössischen Blicks?
Aus der modernen Perspektive war die »griechische Kolonisation« neben der Entstehung der polis, des griechischen Stadtstaates, das prägnanteste historische Ereignis der Archaik.1 Es erscheint daher nur folgerichtig, dass das Phänomen der punktuellen Besiedlung der Mittel- und Schwarzmeerküsten durch Personengruppen aus dem Ägäisraum zwischen der zweiten Hälfte des 8. und dem 6. Jh. v.Chr. seinen Niederschlag in den schriftlichen Hinterlassenschaften dieser Zeit gefunden hat. Diese Quellen könnten somit unmittelbare Zeugnisse zur Verfügung stellen. Das Grundproblem ist allerdings, dass aus dieser Zeit insgesamt kaum Textzeugnisse erhalten sind und die wenigen heute verfügbaren Quellen nicht mit der Intention einer wirklichkeitsgetreuen Beschreibung soziopolitischer Gegebenheiten verfasst wurden. Somit gibt es so gut wie keine direkten Bezüge auf die Emigrationen und Ansiedlungen von Personengruppen aus dem Ägäisraum. Um dennoch die erhaltenen Äußerungen aus der Archaik, die von der modernen Forschung mit der »griechischen Kolonisation« in Verbindung gebracht werden, für ihre historische Rekonstruktion nutzbar zu machen, müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein: Zunächst muss ein »kolonialer« Blick der archaischen Griechen auf den Mittelmeerraum angenommen werden. Das heißt, es muss vorausgesetzt werden, dass es bereits in der Archaik ein Bewusstsein für ein eingrenzbares historisches Großereignis analog der modernen Wahrnehmung und damit verbundene grundlegende und verallgemeinerte Wahrnehmungsmuster gegeben hat. Sodann bedingt die prekäre Quellenlage die Einbeziehung zweier nicht-archaischer Interpretationshilfen, um die potentiell nutzbaren Äußerungen überhaupt für eine historische Interpretation aufschlüsseln und als Überreste eines »kolonialen« Diskurses verwerten zu können. Dies sind einerseits spätere Darstellungen ab der klassischen Zeit. Damit dieser Bereich ausgeschöpft werden kann, bedarf es eines
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Mehr noch: Die »Kolonisation« kann als wesentlicher Faktor bei der Entstehung der polis gesehen werden. Siehe etwa aktuell Malkin 2011: besonders 221f. und Vlassopoulos 2013: 322-324.
26 | I. Das antike Wissen
Kontinuitäts-Postulates: Die späteren Vorstellungen zu den Emigrationen der Archaik würden die zeitgenössischen fortschreiben. Geht man jedoch davon aus, dass Tradition ein flexibler Prozess ist, wird dieses Axiom problematisch.2 Andererseits ist es ein Allgemeinplatz, dass zwangsläufig moderne Vorstellungen durch unsere Interpretationen importiert werden: Wir entscheiden, was der ›wahre Kern‹ der erhaltenen Äußerungen ist und somit auch die Art ihrer Referenz auf die archaische Wirklichkeit. Der Verweischarakter der archaischen Äußerungen auf die retrospektiv als historiographisches Objekt bestimmte »griechische Kolonisation« entspringt folglich primär einer modernen Perspektive. Im Sinne der angestrebten diachronen Analyse des antiken Diskurses zu apoikiai soll im Folgenden das Kontinuitäts-Postulat vermieden werden. Es handelt sich um eine Bestandsaufnahme der diskursiven Spuren des Phänomens in den erhaltenen zeitgenössischen Quellen, genaugenommen in den verfügbaren Äußerungen zu den Themenkomplexen der Emigration, den damit einhergehenden ktiseis und Kontakten mit den Anderen. Die meisten finden sich in den homerischen Epen. Einen Großteil der restlichen schriftlichen Hinterlassenschaft bilden Fragmente, also Zitate verlorener Werke archaischer Dichtung in späteren Quellen. Im Unterschied zu den homerischen Epen fehlt hier der narrative Kontext, wodurch eine Rekonstruktion ihrer Verortung in der zeitgenössischen Wahrnehmung erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht wird. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es sich um epische und lyrische Texte handelt, in denen den archaischen Griechen die Wirklichkeit narrativ kodiert entgegentrat. Nachdem dies natürlich auch für die homerischen Epen gilt, muss zunächst geklärt werden, in welcher Relation diese Narrative zur Wahrnehmung der Wirklichkeit stehen.
I.1.1 WIE FUNKTIONIERT EIN MYTHOS? ODER: EINE ARCHAISCHE EPISTEMOLOGIE Im heutigen Alltagsverständnis bezeichnet der Begriff »Mythos« eine Erzählung mit irrealen oder fabelhaften Charakteristika. Im Folgenden soll Mythos allerdings primär als ein narrativer Modus verstanden werden und erst sekundär eine inhaltliche Bestimmung hinsichtlich der Referenz auf die Wirklichkeit erfolgen. Mythos signalisiert zunächst eine Distanz zur Wirklichkeit. 3 Er ist in einer transzendenten Sphäre
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Vgl. etwa auch die Kritik von Irad Malkin an Dougherty (1993): »Dougherty’s method involves creating a rather essentialist abstraction of ›Greek culture‹ and making her points by freely drawing from sources from the Archaic, Classical, and Hellenistic periods as representing Greek cultural poetics.« Malkin 1998: 23.
3
Siehe zur epischen Distanz grundlegend Bachtin 1989.
Spuren des zeitgenössischen Blicks? | 27
angesiedelt und verschließt sich somit einer unmittelbaren empirischen Überprüfbarkeit. Trotz dieser Distanzierung ist ein Mythos nicht von der Realität entkoppelt. Im Gegenteil: Mythische Narrative nehmen auf verschiedene Weisen Bezug auf die Wirklichkeit und ihrer diskursiven Ordnung. Dies ist schon alleine deshalb notwendig, um einerseits nachvollziehbar zu sein und andererseits, um relevant zu bleiben, was für ihre Tradition im Sinne der Weitergabe unabdingbar ist. Um die Möglichkeiten der Verwertbarkeit mythischer Narrative für historische Rekonstruktionen zu bestimmen, muss zunächst diese Verflechtung analysiert werden. Elemente der Distanzierung Roland Barthes definierte in seinen Mythologies einen Mythos als ein »système de communication«: »Le mythe ne se définit pas par l’objet de son message, mais par la façon dont il le profère«.4 Mythos, verstanden als narrativer Modus, signalisiert den Rezipierenden, dass ein Übertritt von der empirisch erfahrbaren Welt in eine transzendente Sphäre erfolgt und sich die Art des Verstehens beziehungsweise die Modi der Referenz auf die Wirklichkeit ändern. Zeichen dieses Übertritts sind Elemente der Distanzierung:5 Das können nun jene irrealen, fabelhaften Züge sein, die als kennzeichnend für einen Mythos angesehen werden. Das heißt, es gibt narrative Elemente, die so ausgestaltet sind, dass sie sich im deutlichen Gegensatz zur erfahrenen Wirklichkeit befinden. Ebenso kann dies eine markante räumliche und zeitliche Distanz sein: Etwa die Verortung der Erzählung in einer Vorzeit ohne klar bestimmbaren Abstand zur Gegenwart. In Vergangenheitsnarrativen mündlicher Gesellschaften etwa bildet ein floating gap eine solche zeitlich nicht fixierbare Barriere zwischen diesen Zeithorizonten.6 Es ist völlig unerheblich, wie viel früher die Heroen ihre Taten vollbracht haben, entscheidend ist, dass es sich dabei um eine transzendente Vergangenheit handelt, die sich einer linearen, chronologischen Verknüpfung mit der Gegenwart entzieht. Genauso wie auf der Zeitachse kann Transzendenz auch auf einer räumlichen Ebene erzeugt werden, wenn Ereignisse in einem utopischen Raum verortet werden. Hiermit ist im Folgenden ein im engen Wortsinn verstandener NichtOrt im Sinne eines nicht real erfahrbaren Raumes gemeint.7 Vor allem Homers Odys-
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Barthes 1957: 211f. Auch wenn Roland Barthes sich mit modernen »Mythen« beschäftigte und einen sehr weiten »Mythos«-Begriff verwendete (es ging Barthes um das Aufzeigen »naturalisierter«, unhinterfragter Elemente in der modernen Vorstellungswelt – somit bewegte er sich in Richtung eines Diskurs-Konzepts avant la lettre) –, so sind seine Überlegungen dennoch hilfreich für das Verständnis der Funktionsweise mythischer Narrative.
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Vgl. auch Raaflaub 1998: 169f. Grundlegend: Vansina 1985: 23f., Veyne 1983: 28f. und Thomas 1992: 112. Vgl. auch Hölkeskamp 2002: 300f., Bichler 2004: 215 und Ulf 2008: 3.
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Vgl. Saïd 1998: 81 und Calame 2011: 81-86.
28 | I. Das antike Wissen
see illustriert dies eindrücklich: Als Strafe für die Hilfe der Phaiaken bei der Heimkehr des Odysseus wurde ihre Insel Scheria, entsprechend einer Prophezeiung (wahrscheinlich, denn Homer ließ ihr Eintreten offen) mit einem hohen Gebirge umschlossen und war somit für »Sterbliche« nicht mehr erreichbar.8 Insgesamt wird dieses Spiel der Distanzierung in der Odyssee auf eine vielschichtige Manier betrieben: Die Irrfahrt des Odysseus hat die narrative Funktion, ihn in eine utopische Sphäre abdriften zu lassen.9 Gilt etwa aus der Warte des archaischen Publikums für die Phaiaken somit eine zeitliche wie auch eine räumliche Transzendenz, so sind die Ereignisse auf Ithaka nur mehr durch die zeitliche Kluft von ihrer Wirklichkeit abgetrennt. Überprüfbarkeit Dieses Verständnis von Mythos als narrativer Modus bedingt eine Differenzierung in real und irreal. Um dem Umstand gerecht zu werden, dass diese Differenzierung einem zeitlichen Wandel unterliegt – nicht zuletzt unterscheidet sich das moderne vom antiken Verständnis von Mythos10 – lohnt sich eine Anlehnung an Michel Foucaults Konzept des »régime de vérité«: »[…] c’est-à-dire les types de discours qu’elle accueille et fait fonctionner comme vrais; les mécanismes et les instances qui permettent de distinguer les énoncés vrais ou faux, la manière dont on sanctionne les uns et les autres; les techniques et les procédures qui sont valorisées pour l’obtention de la vérité; le statut de ceux qui ont la charge de dire ce qui fonctionne comme vrai.«11
Andernorts in seinem Spätwerk sprach Foucault auch von »jeux de vérité«12 (Wahrheitsspiele), diesem Begriff wird im Folgenden aufgrund des Verweises auf die Spielmetapher von Ludwig Wittgenstein und des damit implizierten Fokus auf die Äußerungspraxen als Zugang zu den Regeln sowie die ebenfalls implizierte Unterwerfung unter diese Regeln, um an einem Diskurs teilnehmen zu können, der Vorzug gegeben.13 Das wohl grundlegendste jeu ist eine Unterscheidung in erfahrbar versus transzendent, also nicht empirisch überprüfbar. In Anlehnung an ein zentrales Element 8
Homer Odyssee: XIII. 125-187. Vgl. zu diesem Aspekt auch Saïd 1998: 103f. und zum Auslöschen von Spuren dieser epischen Vergangenheit die Seiten 81f.
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Vgl. hierzu Bichler 1995: 19-39, Saïd 1998: 151f. und Ulf 2009b: 86.
10 Vgl. hierzu Calame 2011: 23-34 und Lincoln 1999: 3-43. Für eine Definition des Terminus »Mythos« siehe Saïd 2008: 7-12, Calame 2000: 11f. und 2011: 19-23 und 74f. 11 Foucault 1994a: 112. 12 Siehe Foucault 1994b: 632, 634, 709, 713, 718 und 724-26. 13 Siehe grundlegend Wittgenstein 2003. Zur Relation von Foucault zu Wittgenstein siehe auch Veyne 2008: 68 und 95.
Spuren des zeitgenössischen Blicks? | 29
antiker Historiographie wird diese Spielregel als jeu der Autopsie (das Selbst-Sehen) genannt: Es handelt sich um die unmittelbare Überprüfung von Sachverhalten mittels der eigenen Erfahrung. Diese Trennung lässt sich anhand der in der Odyssee geschilderten Bemühungen des Telemach, das Schicksal seines Vaters Odysseus mittels Augenzeugenberichten zu erfahren, veranschaulichen:14 Telemach befragt Menelaos und Nestor, welche aber lediglich zu dem Auskunft geben können, was sie selbst miterlebt hatten. Es handelte sich somit aus der Warte beider Heroen um unmittelbar überprüfbare Aussagen, was primär den Aspekt des Mit-eigenen-Augen-Sehens meint. Der Wahrheitswert ergibt sich folglich aus der unmittelbaren Übereinstimmung von Aussage und Erfahrung. Hiervon lässt sich eine zweite Gruppe von Aussagen abheben, die sich auf nichtdirekt überprüfbare Sachverhalte beziehen. Um beim Beispiel des Telemach zu bleiben: Für ihn ist das, was ihm Nestor und Menelaos erzählen, nur potentiell zutreffend, da eine zeitliche und/oder räumliche Distanz zu den geschilderten Ereignissen besteht, die sie einer unmittelbaren Überprüfung entzieht. Aufgrund dessen bedarf es zusätzlicher jeux de vérité, die ein Überbrücken dieser raum-zeitlichen Distanz ermöglichen. Aussagen können nun als wahrscheinlich erscheinen, wenn sie mit dem eigenen Wissen zur Wirklichkeit übereinstimmen. Somit könnte von einem jeu der Übereinstimmung gesprochen werden. Diese Spielregel kann allerdings nur auf einzelne Bausteine einer Aussage angewandt werden. Ein gutes Beispiel hierfür findet sich erneut in der Odyssee, und zwar in Form der falschen Identitäten, die sich Odysseus oder auch die Göttin Athena aneignen. Das Publikum der Odyssee weiß zwar ganz genau, dass es sich hierbei insgesamt um Lügen handelt. Diese müssen allerdings möglichst wahrscheinlich sein, damit diejenigen, die Odysseus belügt, sie als glaubwürdig empfinden.15 Dieses Beispiel verdeutlicht zudem, dass noch ein weiteres, ein ethisches jeu mitspielt, um solche Aussagen als wahrscheinlich einstufen zu können. Telemach muss Nestor und Menelaos vertrauen und erwartet, dass sie wahrheitsgemäß Auskunft zum Schicksal des Odysseus geben. Ähnliches gilt auch für die Personen, denen sich Odysseus mit falschen Identitäten vorstellt und denen wiederholt beteuert wird, die Wahrheit gesagt zu bekommen. Auf einer anderen Ebene ist auch die formelhafte Anrufung der Musen als authentifizierende Gewährspersonen durch einen Sänger wie Homer eine Spielart des ethischen jeu. Zugleich ist dies ein Sprechakt, der die Verortung der folgenden Erzählung in einer mythischen Ebene betont und somit ein Element der Distanzierung. Die ethische Komponente ergibt sich daraus, dass nicht unmittelbar überprüfbare Äußerungen durch die sie äußernde Instanz (Äode und Muse) Glaubwürdigkeit erhalten sollen, wobei dieses jeu ein mythisches Narrativ in seiner Gesamtheit die Kluft
14 Vgl. Saïd 1998: 83. 15 Siehe hierzu auch Saïd 1998: 171f.
30 | I. Das antike Wissen
überbrücken lassen will: Das, was für das Publikum nicht überprüfbar ist, kann geglaubt werden. Ein schönes Beispiel findet sich in Form des Lobes des Odysseus an den Sänger Demodokos, der das Schicksal der Achäer vor Troja in seinem Gesang so beschrieben hätte, als ob er es miterlebt oder erzählt bekommen habe, was ein besonderes Verhältnis zur Muse nahelegen würde.16 Dieses auf Vertrauen und (göttliche) Autorität beruhende Mittel der Überbrückung der Distanz spiegelt sich auch im archaischen Sprachgebrauch des Begriffs »Mythos«: »[M]ythos is an assertive discourse of power and authority that represents itself as something to be believed and obeyed.«17 Arten der mythischen Referenz Bei aller Distanzierung ist die mythische Sphäre nicht als völlig abgekoppelt von der Wirklichkeit zu sehen. Vielmehr handelt es sich um eine komplexe Dialektik von Distanz und Nähe zur Wirklichkeit.18 Eine mythische Erzählung kann auf mehreren Wegen Bezug auf die Erfahrung der Wirklichkeit nehmen. Eine direkte oder eine akzidentielle Referenz findet sich in jenen narrativen Bausteinen, die zur Nachvollziehbarkeit von Handlungen und Ereignissen auf soziokulturelle Strukturen Bezug nehmen, die der Erfahrung des Publikums entsprechen.19 Somit kann das jeu der Übereinstimmung greifen. Dieses jeu kann neben dem »background«20 oder dem »Kolorit«21, also dem akzidentiell Erzählten22, auch die geschilderten Ereignisse selbst betreffen: Sie können vor einem der Wirklichkeit entsprechenden Hintergrund als wahrscheinlich erscheinen.23 So sind etwa in der Odyssee die Ereignisse auf Ithaka wahrscheinlicher, als jene, die der utopischen Sphäre angehören. Aber selbst für Ithaka gilt: Die Kluft, die durch die zeitliche Distanzierung erzeugt wird, bleibt insgesamt präsent. Über eine Übereinstimmung hinaus geht die Aitiologie, die Erklärung der Gegenwart durch Ereignisse der Vergangenheit.24 Vorzeit konnte für die Gegenwart insofern bedeutsam sein, als sie als Ursprungszeit diente: Handlungen und Gegebenheiten 16 Homer Odyssee: IV. 487-491. Vgl. auch Thomas 1992: 113-17 und Lincoln 1999: 19-23. 17 Lincoln 1999: 17. Vgl. Barthes 1957: 230f.: »Le mythe a un caractère impératif, interpellatoire […].« 18 Vgl. Raaflaub 1998: 169f., 175-177 und 181f., Hölkeskamp 2002: 301, Ulf 2002: 337f., und Calame 2011: 81-86. 19 Vgl. Raaflaub 1998: 169f., 175-177 und 181f. sowie Ulf 2002: 337f. 20 Raaflaub 1998: 182. 21 Ulf 2002: 344f. bzw. 351. 22 Siehe Vansina 1985: 91-93. 23 Zu Recht hebt Veyne die Rolle der Analogie als Mittel der Verbindung der mythischen Sphäre mit der Wirklichkeit hervor: Veyne 1983: 28f. Vgl. auch Hölkeskamp 2002: 301. 24 Siehe zur Aitiologie in der Antike grundlegend Loehr 1996: 3-38.
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auf der vorzeitlichen Ebene wurden als Ursache gegenwärtiger Sachverhalte gesehen. Aus dieser Funktion für die Gegenwart ergibt sich, dass es sich zwar um Vergangenheitserzählungen handelt, ihr primäres Ziel jedoch die Erklärung der Gegenwart ist. Diese Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart ist typisch für die oral tradition. Jan Vansina sieht hier eine »intentional message« am Werk: »What we then mean by historical intentional message is that the performer intends to use history as an argument, as proof, as legitimacy.«25 Das aitiologische jeu geht somit über eine Übereinstimmung hinaus und konstruiert eine kausale Verknüpfung über die Distanz hinweg. Nicht nur die Übereinstimmung kann den Mythos bestätigen: Die Präsenz dieser Sachverhalte in der Wirklichkeit verifiziert ihre geschilderte Ursache, die als wahrscheinlich im Lichte des zeitgenössischen Wissens erscheinen muss. Ein Aition (altgriechisch für Ursache) wirkt also in beide Richtungen: Es erklärt Gegenwärtiges und legitimiert Erzählungen zu Ursachen, die bis in eine transzendente Zeitebene zurückreichen können. Eine indirekte, narrativ verklausulierte oder allegorische Referenz tritt vor allem dann ein, wenn die mythische Distanzierung ihre volle Wirkung entfaltet.26 Die Transzendenz der mythischen Sphäre schafft eine Begründungs- und Reflexionsebene für virulente Aspekte der gegenwärtigen Wirklichkeit. Mittels der idealtypischen Reflexion kann eine Konzentration auf verallgemeinerte, idealtypische Züge27 eines Objekts der Erfahrung erfolgen. Zu diesem Bereich können auch exempla gezählt werden, die vorbildliches Handeln illustrieren sollen. Gerade im Fall einer räumlichen Distanzierung greift die eng verwandte utopische Reflexion. Mit den Mitteln der Übertreibung oder der Verkehrung ins Gegenteil kann eine Karikatur zentraler soziokultureller Aspekte erfolgen, die nichtsdestotrotz einen reflexiven Charakter aufweist. Mythische Polysemie Mythische Narrative und die Wirklichkeit ordnende Diskurse befinden sich in einem konstanten Dialog. Auch die Art dieses Dialoges kann variieren, wie das soeben ausgebreitete Spektrum möglicher Referenzen mythischer Narrative auf die Wirklichkeit zeigt. Dies legt nahe, dass das Verständnis mythischer Narrative ein offener Prozess ist. Bereits das archaische Publikum dürfte einen individuellen Deutungsspielraum 25 Siehe hierzu Vansina 1985: 91-93 (Zitat auf S. 92). Vgl. auch Eric Hobsbawms (1983) »invented traditions« und das Konzept der »intentionalen Geschichte« von Hans-Joachim Gehrke (grundlegend 1994). 26 Vergleiche zum Folgenden auch die von Jonas Grethlein identifizierten verschiedenen Modi des Vergangenheitsbezugs in den homerischen Epen: Grethlein 2012: 17-20. 27 Dieses Weber’sche Konzept (ausgeführt in Weber 1988) kann hier über den Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis hinaus nutzbar gemacht werden.
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dabei gehabt haben, zu unterscheiden, welche Elemente eines mythischen Narratives glaubwürdig waren und welche in einem indirekten Verhältnis zu seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit standen.28 Die Kontingenz dieser Grenzziehung zeigt sich etwa in den unterschiedlichen Deutungen der homerischen Epen in der Antike. Dies gilt a fortiori für die moderne Homer-Rezeption.29 Nicht nur die verschiedenen Modi der Referenz auf die Wirklichkeit, sondern auch die dynamische Natur der soziokulturellen Ordnung, auf die mythische Narrative auf unterschiedliche Art und Weise Bezug nehmen, bedingen eine Heterogenität des Verstehens von Mythen.30 Und gerade die Erklärungsfunktion von mythischen Narrativen für die Gegenwart musste ein variables, aktualisierendes Verständnis bedingen. Für das moderne Verständnis der Überreste archaischer Diskurse kommt ihre geringe Anzahl erschwerend hinzu. Zur Rekonstruktion konkreter historischer Sachverhalte gibt es, wenn überhaupt, nur wenige explizite Äußerungen. Dass die erhaltenen Werke, trotz des Umfangs und der Komplexität der homerischen Epen, und Fragmente ein Panoptikum des archaischen Denkens bieten, ist kaum anzunehmen und die notwendige Intertextualität für ein möglichst umfassendes Verständnis der archaischen diskursiven Ordnungen der Erfahrung ist nicht erreichbar. Das bedeutet für die moderne Homer-Exegese, dass es oftmals kaum möglich ist, textimmanent zwischen einer direkten, deskriptiven Referenz auf die Wirklichkeit, die natürlich für die historiographische Praxis wertvoll wäre, und einer abstrahierenden, indirekten Referenz zu unterscheiden. Hierfür muss stets auf spätere antike Vorstellungen – was eine entsprechende Kontinuität voraussetzen würde – oder auf das moderne Wissen Rekurs genommen werden. Auch die Archäologie kann nur bedingt bei dieser Bewertung der archaischen Äußerungen helfen: Zwar können Elemente des in den Quellen geschilderten kulturellen backgrounds im archäologischen Befund identifiziert werden, bei der Rekonstruktion komplexerer Vorstellungen der Archaik zu soziokulturellen Gegebenheiten, wie konkret Emigrationen und ihre Begleitumstände, kann sie jedoch kaum die Schriftquellen ergänzen. Insbesondere die Lückenfüllung mittes des modernen Wissens ist jedoch nicht ungefährlich: Zunächst stellt sich die Frage, ob genau das gesehen wird, wonach gesucht wird. Traditionell herrscht in den Altertumswissenschaften die Überzeugung vor, dass neben der Entstehung der polis die »griechische Kolonisation« das prägende Ereignis der Archaik war. Ein dementsprechender Niederschlag wird in den zeitgenössischen Quellen erwartet. Zudem muss auf zirkuläre Argumentationen geachtet 28 Paul Veyne veranlasste das Oszillieren zwischen Distanz und Nähe im Mythos davon auszugehen, dass es parallel existierenden Wahrheiten gab, die auch die Erfahrung der Wirklichkeit in unterschiedlicher Weise prägen konnten: Veyne 1983: 32. 29 Siehe Ulf 2002 und Saïd 2008: 103-33. 30 Vgl. hierzu Barthes 1957: 225f. und auch Lincoln 1999: 150.
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werden: Wenn dieselben (wenigen) Quellenaussagen, die die Grundlage unseres Wissens zur Archaik bilden, gleichzeitig zur Bestätigung unserer Annahmen zur Archaik und zur »griechischen Kolonisation« herangezogen werden, kaschiert dies die Prekarität der Quellenbasis und die heuristische Rolle der Interpretationshilfen.31
I.1.2 DIE DISKURSIVEN ÜBERRESTE AUS DER ARCHAIK Das Korpus an archaischen Quellenäußerungen zu den Themenfeldern der Migration und der Gründung (ktisis) eines Ortes, auf das sich auch die modernen Rekonstruktionen der »griechischen Kolonisation« berufen, ist überschaubar. Dennoch kann grundsätzlich festgehalten werden, dass Migration und ktisis in der Vorstellungswelt der Archaik eng verknüpft gewesen sind: Die Gründerfiguren kamen eigentlich stets von woanders her. Es gab folglich immer einen anderen Ort oder Raum, auf den eine durch ihn gegründete Siedlung zurückgeführt werden konnte. Anders ausgedrückt: Orte hatten eine Genealogie, die wiederum mit der Genealogie von Heroen oder Göttern verbunden war. Diese Vorstellung bedingte zudem, dass im Zusammenhang der Schilderung einer ktisis der Aspekt der Ursache einer Migration thematisiert werden konnte. Neben der Herkunft und den Migrationsgründen bestand zudem ein Interesse an der Frage nach der Einrichtung eines neuen Ortes. Die Figur des Gründers verweist dabei auf jeden dieser Aspekte: Seine Genealogie unterstreicht den Faktor der Herkunft, sein persönliches Schicksal kann die Ursache einer Migration klären und er ist jene Instanz, die für die Einrichtung der Siedlung verantwortlich ist. Neben dem soeben umrissenen Feld an Äußerungen zu Migration und ktisis sollen im Folgenden auch jene berücksichtigt werden, die sich ausschließlich dem Thema der Migration widmen sowie auch Darstellungen interkultureller Kontakte und der damit verknüpften Identitätskonstruktionen. Bestandsaufnahme 1: Aussagen in vollständig erhaltenen Werken Im Rahmen des Schiffskatalogs der Ilias findet sich folgende Schilderung der Besiedlung von Rhodos durch den Heros Tlepolemos: »Und Tlepolemos, der Heraklide, der tüchtige und große, Führte [agō] aus Rhodos neun Schiffe der stolzen Rhodier, Die Rhodos rings bewohnten, dreifach aufgeteilt: Lindos, Ialysos und die weißschimmernde Kameiros. Von denen war Tleopolemos, der speerberühmte, der Anführer, Den Astycheia geboren hatte der Gewalt des Herakles – 31 Siehe hierzu auch Ulf 2009b: 82.
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Die hatte er mitgeführt aus Ephyra von dem Fluß Selleeis, Nachdem er viele Städte zerstört von zeusgenährten rüstigen Männern. Doch Tlepolemos, als er nun aufgenährt war in dem gutgezimmerten Haus, Tötete alsbald seines Vaters eigenen Mutterbruder, Den schon alten Likymnios, den Sproß des Ares. Und schnell zimmerte er Schiffe, und als er viel Volk [laos] versammelt, Ging er und floh über das Meer, denn ihn bedrohten die anderen Söhne und Söhnessöhne der Gewalt des Herakles. Doch er kam nach Rhodos, umgetrieben, Schmerz leidend. Und dreifach siedelten [oikeō] sie dort nach Stämmen und wurden geliebt Von Zeus, der über Götter und Menschen gebietet.«32
Ebenfalls aus der Ilias stammt folgender kurze Verweis auf den Mythos um den Zeussohn Dardanos, den Ahnherrn der Dardaner und in weiterer Folge Trojaner: »Den Dardanos zeugte zuerst der Wolkensammler Zeus, Und er gründete [ktizō] Dardanie(:), als noch nicht die heilige Ilios In der Ebene erbaut war als Stadt [polis] von sterblichen Menschen, Sondern noch bewohnten [oikeō] sie das untere Bergland des quellenreichen Ida.«33
Die ausführlichste Beschreibung eines Gründungsaktes findet sich in der Odyssee im Rahmen der Beschreibung der Besiedlung der Insel Scheria durch die Phaiaken: »Einstmals bewohnten sie Hypereía, das reigenplatzreiche, Nahe bei den Kyklopen, den übermächtigen Männern, Die sie immer beraubten; sie waren an Kraft überlegen. Dorther führte [agō] als Siedler Nausíthoos, göttlichen Anblicks, Sie nach Schéria hin, den mühsam lebenden Menschen Fern, umzog mit Mauern die Stadt, errichtete Häuser Und ließ Tempel der Götter erbaun und verteilte [dateomai] die Äcker.«34
Eine ktisis klingt ebenfalls in der Unterhaltung des Odysseus mit seiner Mutter in der Unterwelt an, wenn auf die Geschichte Thebens verwiesen wird: »Und Antiope sah ich sodann, die Tochter Asopos’, Die in den Armen des Zeus geruht zu haben sich rühmte; Und sie brachte zwei Söhne zur Welt, Amphion und Zethos, 32 Homer Ilias: II. 653-670. 33 Ebd.: XX. 215-18. 34 Homer Odyssee: VI. 4-10.
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Die als erste den Sitz des siebentorigen Theben Gründeten [ktizō] und umtürmten, da sie im reigenplatzreichen Theben nicht turmlos wohnen konnten, so stark sie auch waren.«35
Einige Zeilen später werden die Thebaner als »Kadmäer« bezeichnet, die Verknüpfung Thebens mit Kadmos evozierend, einer weiteren heroischen Figur mit Migrationshintergrund, konkret aus dem phönizischen Tyros stammend.36 Odysseus’ Musterung der Insel der Kyklopen hinsichtlich ihrer Eignung als potentielle Ansiedlung wird in der Forschung oftmals als Manifestation eines »kolonialen« Blicks interpretiert: »Weder von Herden besetzt ist sie, noch dient sie dem Landbau, Unbesät und ungepflügt durch alle die Tage Ist sie, von Menschen leer, nur Weide für meckernde Ziegen. Schiffe mit roten Planken besitzen ja nicht die Kyklopen Noch auch Schiffsbauleute, die ihnen die gutüberdeckten Schiffe machten, die jegliches auszurichten vermögen, Hin zu den Städten der Menschen zu fahren, wie ja doch oftmals Zueinander die Männer mit Schiffen das Meer überqueren. Diese könnten die Insel wohl auch zur wohlkultivierten [euktimenos] Machen; denn schlecht ist sie nicht und trüge alles beizeiten; Denn es sind Wiesen auf ihr an des grauen Meeres Gestaden, Wohlbewässert und weich; da könnten auch Reben gedeihen, Unvergänglich; und ebenes Feld, um hohes Getreide Abzumähen zur Zeit; denn fett ist der Boden darunter. Drauf ist ein guter Hafen, dort ist kein Haltetau nötig Noch den Anker zu werfen, noch anzubinden das Hecktau, Sondern man läuft nur ein und erwartet die Zeit, bis die Schiffer Treibt der eigene Mut und dazu blasen die Winde. Doch an des Hafens Kopf, da fließt mit herrlichem Wasser Aus einer Grotte ein Quell, und ringsum wachsen da Pappeln.«37
Der erst in späterer Zeit entscheidende Begriff »apoikia« findet sich in den homerischen Epen lediglich an einer Stelle der Odyssee als Verbform »apoikizō«.38 Es handelt sich um einen Verweis auf das Schicksal der Nymphen Lampetie und Phaëthusa, Töchter der Neaira: 35 Homer Odyssee: XI. 260-265. 36 Ebd.: XI. 275f. 37 Ebd.: IX. 122-141. 38 Vgl. Casevitz 1985: 130f.
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»Aber nachdem sie geboren und aufgezogen die Mutter, Sandte sie nach Thrinakia sie, in der Ferne zu wohnen [apoikizō], Um des Vaters gehörnte Rinder und Schafe zu hüten.«39
Und noch ein weiteres Zeugnis einer Individualmigration soll erwähnt werden: In Hesiods Erga erfahren wir Folgendes über das Schicksal seines Vaters: »So wie der Vater von mir und dir, Narr, großer du, Perses, Häufig zu Schiff unterwegs war, im Drang nach besserem Leben. Der kam einst auch hierher, nachdem er viel Wasser befahren, Ließ das aiolische Kyme und kam auf dunklen Schiffe, Nicht auf der Flucht vor der Fülle und nicht vor Reichtum und Segen, Nein, vor der Armut, der bösen, die Zeus austeilt an die Menschen; Ließ sich im traurigsten Dorf [kōmē] am Helikon nieder [naiō], in Askra, Übel im Winter, im Sommer verwünscht, und angenehm niemals.«40
Bestandsaufnahme 2: Fragmente 41 Fragmente bilden in mehrerlei Hinsicht eine methodische Herausforderung. Das Problem des fehlenden Kontexts bringt Ute Tischer auf den Punkt: »Als ›Bruchstücke‹ beziehen sie sich auf einen Textzusammenhang, dessen organischer Teil sie einst waren, der aber nicht mehr vorhanden ist. Indem sie Wissen voraussetzen, das der nun fehlende umgebende Text bereitgestellt hatte, verweigern sie dem Leser in oft eklatanter Weise Informationen, die zum Verstehen nötig erscheinen, und fordern ihn dazu heraus, das nicht mehr Vorhandene, aber für die Sinnkonstitution Unabdingbare – eben den ›Kontext‹ des Fragments – zu rekonstruieren.«42
Auch die Art und Weise des Zitierens durch antike Autoren umfasst sehr heterogene Praxen. Eine wortwörtliche Übernahme scheint eher die Ausnahme gewesen zu sein. Die Schwierigkeiten beginnen oftmals schon mangels klarer Kennzeichnung wo ein Zitat beginnt und endet. Grundsätzlich bleibt stets die Unwägbarkeit, wie groß der Einfluss des Zitierenden auf ein Zitat war, oder umgekehrt ausgedrückt, wie viel wir über den ursprünglichen Inhalt aussagen können.43 Im Fall vorliegender Untersu-
39 Homer Odyssee: XII. 134-136. 40 Hesiod Erga: 633-640. 41 Vgl. zu den meisten im Folgenden diskutierten Fragmenten grundsätzlich Dougherty 1994. 42 Tischer 2015: 333. 43 Siehe hierzu Brunt 1980.
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chung, die eine diachrone Analyse antiker Diskurse unternimmt, werfen diese Warnungen eine Frage auf: Welcher der analysierten Zeitebenen sollen Fragmente zugeordnet werden? Grundsätzlich werden Fragmente im Folgenden als Teil der sie tradierenden Werke behandelt. Diese bieten den narrativen Kontext und somit den Sinnzusammenhang, in den die zitierenden Autoren die Zitate einordneten. Somit werden sie primär als Elemente des zeitgenössischen Wissens des Zitierkontexts angesehen. Unter Vorbehalt werden Fragmente auf der Zeitebene ihrer Abfassung mitberücksichtigt. Sie komplett auszublenden erscheint bei allen Interpretationsproblemen wiederum auch nicht gerechtfertigt, da sie nichtsdestotrotz diskursive Spuren der Zeit ihrer ursprünglichen Abfassung sind, allerdings problematisiert durch ihren Status als bereits einmal überprägte und somit gewissermaßen verdoppelte diskursive Überreste. Möglicherweise bietet der in dieser Analyse gewählte Zugang sogar einen Mehrwert hinsichtlich der Einschätzung des Quellenwertes der Fragmente: Erstens wird die bestimmende Rolle des Zitierkontextes bei der Sinnrekonstruktion eines Fragments relativiert.44 Zweitens werden mögliche Anachronismen aufgrund des Rücktransports von durch den späteren Zitierkontext beeinflusste Deutungen durch die Gegenüberstellung mit der rekonstruierten diskursiven Formation zur Zeit der Abfassung besser identifizierbar. Somit ergibt sich ein Korrektiv, da festgestellt werden kann, ob Fragmente in den diskursiven Kontext der Zeit, der der Autor zugerechnet wird, passen oder eher wie Fremdkörper wirken. In letzterem Fall ist die Wahrscheinlichkeit einer markanten Überzeichnung durch den zitierenden Autor hoch. Zu Beginn eine terminologische Feststellung: Die älteste erhaltene Nennung des Begriffs »apoikia«, der heute üblicherweise als »Kolonie« übersetzt wird, ist wohl ein Fragment des Lyrikers Anakreon (6. Jh. v.Chr.), der nach Strabon Abdera als »schöne apoikia der Teier« bezeichnet haben soll.45 Der Dichter Archilochos von Paros (Mitte des 7. Jh. v.Chr.) wird in der modernen Forschung aufgrund seiner Biographie als »kolonialer« Poet adressiert:46 Archilochos, so wird anhand der Testimonia gemutmaßt, war unter anderem an der parischen »Kolonisation« von Thasos und möglicherweise an Kampagnen in Thrakien beteiligt. Kampf und ein unstetes Leben um und auf der Ägäis sind dementsprechend auch bevorzugte Inhalte der erhaltenen Fragmente. Zu Gründungen oder gar »Kolonisation« ist nichts erhalten.47 Vier Verszeilen sind etwa verfügbar, die von kriegerischen Auseinandersetzungen mit »Saiern«, wahrscheinlich in Thrakien berichten.48 Ob diese Stelle im Kontext
44 Siehe zu dieser Problematik Tischer 2015. 45 Anakreon: F 505a (PMG) apud Strabon: XIV. 1. 30. Vgl. hierzu Casevitz 1985: 120f. 46 Siehe etwa Miller 1997: 8 und D’Ercole 2012: 25. 47 Vgl. Tandy 2004: 184-187, Descœudres 2008: 290 und Bowie 2012: 84. 48 Archilochos: F 5 (IEG).
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einer (versuchten) Immigration zu sehen ist, lässt sich nicht klären. Drei weitere Fragmente könnten auf einen Migrationskontext verweisen: Strabon zitierte die Bemerkung, dass das »Elend« aller Hellenen auf Thasos zusammengetroffen sei.49 Und in Athenaios Naukratikos’ (Ende 2. Jh. v.Chr.) Deipnosophistai oder Das Gelehrtenmahl findet sich eine für dieses Werk um das Generalthema Genuss typische Anekdote. Eingebettet ist sie in andere Erzählungen zu Personen mit verschwenderischem Lebensstil, für den mitunter ein »Stück Land und [eine] Königsherrschaft« verkauft worden sei: »Eine solche Haltung nahm auch Aithiops aus Korinthos an, wie Demetrios aus Skepsis berichtet. Ihn erwähnt Archilochos. Aus Freude am Vergnügen und aufgrund mangelnder Selbstbeherrschung verkaufte auch dieser, als er mit Archias nach Sizilien fuhr und dieser Syrakusai zu gründen beabsichtigte, seinem Zeltgenossen für einen Honigkuchen das Landstück [klēros], das er in Syrakusai erhalten hatte und besitzen sollte.«50
Primär handelt es sich hierbei um ein Fragment des Demetrios von Skepsis51, eines Geographen aus dem 2. Jh. v.Chr. Athenaios bemerkte, dass auch Archilochos diesen Aithiops erwähnt hätte. Inwieweit bereits Archilochos weitere Elemente des Demetrios-Fragments in einem seiner Werke verarbeitet hatte, muss wohl offen bleiben.52 Ein weiteres hier relevantes Archilochos-Fragment wird durch Athenaios überliefert: »Der Dichter Archilochos hat das Land der Siris-Bewohner wegen ihres Wohlstands besonders bewundert. Jedenfalls spricht er von der Insel Thasos als einer geringeren Landschaft und bemerkt: ›Kein schöner Ort ist es, kein Land [chōros], nach dem man Sehnsucht hat und das man liebt wie das am Siris-Fluß.‹«53 Gemäß einem knappen Fragment des Mimnermos aus Kolophon oder Smyrna (2. Hälfte 7. Jh. v.Chr.) in Strabons Schilderung der hellenischen Besiedlung Kleinasiens sei Kolophon vom Pylier Andraimon (zu dem ansonsten nichts bekannt ist) gegründet (ktizō) worden.54 Etwas später bettete Strabon folgendes Mimnermos-Fragment ein, und erläuterte einführend, dass Mimnermos vor dieser Passage betont habe, dass Smyrna schon immer umkämpft gewesen sei: »[…] als wir, Pylos, des Neleus Veste, verlassend, Mit unseren Schiffen erreicht Asiens reizendes Land Und mit Waffengewalt uns niedergelassen im holden 49 Archilochos: F 102 (IEG) apud Strabon: VIII. 6. 6. 50 Ebd.: F 293 (IEG) apud Athenaios: 167d. 51 Demetrios von Skepsis: F 73 (Gaede). 52 Vgl. Dougherty 1994: 41. 53 Archilochos: F 22 (IEG) apud Athenaios: 523d. 54 Mimnermos: F 10 (IEG) apud Strabon: XIV. 1. 3.
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Kolophon, Anführer wir ruchloser Brutalität, Zogen von dort wir fort vom Flusse * * und Nahmen nach Götterbeschluss Smyrna in Aiolis ein.«55
Zwei durch Strabon erhaltene mögliche Fragmente des Kallinos von Ephesos (Mitte 7. Jh. v.Chr.) gehören ebenfalls in das Themenfeld der Migration. Das erste findet sich in Strabons Beschreibung der Troas, genauer im Rahmen des Berichts zur Emigration der Teukrer aus Kreta.56 Diese ist primär deshalb für Strabon von Interesse, da sie ein Aition für das Standbild des Sminthischen Apollon in Chrysa ist, zu dessen Füßen eine Maus (»sminthos« nach der von Strabon mitgelieferten Ethymologie) gelegen habe. Als Erklärung fungierte die Auflösung eines an die Teukrer gerichteten rätselhaften Orakelspruchs. Diese Passage bietet ein weiteres gutes Beispiel für die Problematik des Arbeitens mit Fragmenten: Nach wohlmeinender Lesart könnte die gesamte Schilderung des Orakels und seiner Auflösung auf Kallinos zurückgeführt werden. Strenggenommen verwendete Strabon den Verweis auf Kallinos jedoch als Beleg der Information, dass die Teukrer aus Kreta gekommen seien, und er führte kontrastierend eine alternative Variante an, die der Herkunft der Teukrer aus Kreta widerspricht: ein gewisser Teuker aus Attika sei immigriert. Eine Rückbindung der gesamten Orakel-Erzählung an Kallinos erscheint somit unsicher.57 Das zweite, nicht weniger problematische Fragment betrifft Wanderungen nach dem Trojanischen Krieg: »Herodot sagt, die Pamphylier gehörten zu der gemischten Schar die Amphilochos und Kalchas aus Troja gefolgt sei; die Meisten seien hier geblieben, nur Einige hätten sich über viele Orte der Erde verstreut. Kallisthenes sagt, Kalchas sei in Klaros gestorben und das Volk habe zusammen mit Mopsos den Tauros überschritten, worauf ein Teil in Pamphylien geblieben sei, und ein anderer sich über Kilikien und Syrien bis ganz nach Phönizien verteilt habe.«58
Strabon ging es hier erneut um die Kontrastierung divergierender Berichte zu Migrationsbewegungen von ethnē. Strittig ist die Frage der von ihm verwendeten Quelle: Die erhaltenen Handschriften weisen entweder Kallinos oder Kallisthenes von
55 Mimnermos: F 9 (IEG) apud Strabon: XIV. 1. 4. 56 Kallinos: F 7 (IEG) apud Strabon: XIII. 1. 48. 57 Vgl. hierzu Gierth 1971: 59-61, der Bedenken hinsichtlich der Rückführung auf Kallinos und die Verknüpfung mit Delphi anmeldet, und Fontenrose 1978: 395, der verneint, dass Kallinos das Orakel von Delphi konsultiert haben könnte. 58 Kallinos: F [8] (IEG) apud Strabon: XIV. 4. 3.
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Olynth (4. Jh. v.Chr.) als Zitierten aus.59 Wer immer der Urheber der zitierten Passage ist, es wird der Seherwettstreit zwischen Mopsos und Kalchas bei Kolophon (Kalchas starb nach/aufgrund seiner Niederlage) evoziert.60 Über Mopsos wird auch der Themenkomplex der Gründung von Kolophon respektive der Orakelstätte Klaros durch Manto, der Mutter des Mopsos, berührt.61 Hierzu erfahren wir mehr bei Pausanias, möglicherweise unter Rekurs auf das nicht erhaltene kyklische Epos Epigonen: Manto, die Tochter des Sehers Teiresias, wurde von den Epigonen nach deren Eroberung Thebens dem delphischen Apoll geweiht. Dieser sandte sie aus und die Orakelstätte Klaros bei Kolophon in Kleinasien wurde gegründet. 62 Ausgehend von den Pamphyliern wurde somit zur Gründungserzählung von Klaros übergeleitet, eine weibliche Gründungsfigur sowie ein delphischer Orakelspruch inkludiert.63 Welche Schlüsse für das Wissen der Archaik hieraus gezogen werden können, hängt davon ab, inwieweit konzediert wird, dass diese nur in der später zitierten Version erhaltenen Äußerungen denen entsprachen, die bereits in der Archaik kursierten.
59 Siehe Radt 2009: 96 und die Anmerkungen Wests (1992) zu Kallinos: F [8], der eher Kallisthenes als Urheber sieht. 60 Diese Erzählung war möglicherweise bereits in der Archaik bekannt: Hesiod Melampodia: F 278 (M/W) apud Strabon: XIV. 1. 27. 61 Siehe hierzu Mac Sweeney 2013: 104-22. 62 Pausanias: VII. 3. 1-3. Vgl. auch Epigoni: F3 (GEF) apud Scholien zu Apollonios von Rhodos: A 308b. Bei dieser Erzählung scheint weniger die Gründung im Mittelpunkt zu stehen, sondern der Kulttransfer von Delphi nach Klaros. Veit Rosenberger (2001: 25f.) hebt zu Recht hervor, dass sich in dieser Schilderung »die Konkurrenzsituation zwischen verschiedenen Orakeln« spiegelt und diesbezüglich klar Stellung bezogen wurde: »Ausgangspunkt und zugleich ältestes Orakel ist Delphi […]«. 63 Auf diesen Fragmenten wird aufgebaut, um bereits anhand archaischer Belegstellen eine Beteiligung des Orakels von Delphi an der »griechischen Kolonisation« zu zeigen. Siehe aktuell Scott 2014: 62, der auf Malkin 1987: 19 verweist, welcher wiederum auf Gierth 1971: 85 aufbaut. Gierth argumentierte, dass die Strabon-Erläuterung zu den Pamphyliern darauf hindeute, dass Kallinos die Erzählungen vom Seherwettstreit zwischen Mopsos und Kalchas und somit der Gründung von Klaros durch Manto auf apollonischen Geheiß gekannt habe. Contra: Wilson 2006: 50. Diese Argumentationsweise impliziert insgesamt eine statische Überlieferung über mehrere Jahrhunderte.
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I.1.3 MIGRATION, KTISIS UND IDENTITÄT In den soeben präsentierten Passagen und Fragmenten tritt uns eine Welt entgegen, in der Mobilität und Migration alltägliche Phänomene waren.64 Nicht nur die Texte, auch die Archäologie zeigt, dass das Mittelmeer der archaischen Zeit ein Kontaktraum war, der von vielfältigen Begegnungen zwischen verschiedenen seefahrenden und die Küsten und das Hinterland bewohnenden Gruppierungen geprägt war. Gerade die Odyssee vermittelt, dass das Mittelmeer mehr Verkehrsweg als Barriere war. Es wurde befahren zu Handelszwecken oder für Piraterie65, aufgrund militärischer Kampagnen oder für Plünderungszüge an fremden Küsten66. Aber nicht nur marodierende Hellenen – ein Umstand, auf den auch nicht-griechische Quellen hinweisen67 – treten in Erscheinung. Der Schweinehirt Eumaios wurde von phönizischen Seefahrern entführt68 und im Homerischen Hymnus 7 an Dionysos treten »Tyrsenoi«/Tyrrhener (möglicherweise Etrusker) als Entführer auf: »[...] Da stürmten Räuber – Tyrrhener – flugs aus festgezimmertem Schiffe – weinrot blinkt das Meer – ihr Schicksal trieb sie ins Unheil. Jetzt erblickten sie ihn: sie nickten sich zu und in Eile sprangen sie, packten sie, setzten ihn auf ihr Schiff voller Freude, meinten, ein Sohn von Königen sei er, göttlicher Herkunft, […]«69
Typen von Migrationen und ihre Ursachen Schiffe wurden aber genauso bestiegen, um irgendwo anders zu leben. Anhand der Äußerungen, die in der mythischen Sphäre angesiedelt sind, lassen sich drei Typen von Migrationen unterscheiden: Erstens wanderten Individuen, sprich mythisch-heroische Einzelfiguren (z.B. Dardanos, Kadmos, Amphion und Zethos); zweitens
64 Vgl. etwa Osborne 1998: 256f., Malkin 2002: 215 und Vlassopoulos 2013: 78-94. Ein Beispiel für eine Betrachtung der griechischen Antike unter einer Migrations-Perspektivierung ist Garland 2014. 65 Vgl. hierzu Scheid-Tissinier 1994: 65-74; Tandy 1997: 59-83 und 2004. 66 Siehe etwa Homer Odyssee: IV. 78-93 (Züge des Menelaos), IX. 39-42 (Beutezüge des Odysseus), XIV. 85-88 (Vergleich der Freier mit Seeräuber), XIV. 222-233 und XVII. 415444 (Odysseus falsche Identität als kretischer Abenteurer). Vgl. hierzu Tandy 1997: 73f. 67 Assyrische Quellen berichten etwa von Überfällen durch »Yamanāya« bzw. »Yamnāya« auf die Levanteküsten. Diese Bezeichnung entspricht auf einer linguistischen Ebene möglicherweise den Ioniern. Siehe Crielaard 1995: 230 und 2002: 264 sowie Rollinger 2011. 68 Homer Odyssee: XV. 403-484; vgl. auch XIV. 288-297 zu einem Phönizier als Entführer. 69 Homerischer Hymnus 7 an Dionysos: 5-10.
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führte etwa Tlepolemos eine Gruppe von Emigranten nach Rhodos; und drittens emigrierten die Phaiaken als Gesamtheit nach Scheria. Auch wenn es um die Schilderung des Ursprungs realer Orte geht, wie Tlepolemos’ Besiedlung von Rhodos, die Gründung Ilions durch Dardanos oder die Entstehung Thebens, so sind sie doch in der mythischen Vorzeit angesiedelt (wobei die Frage, inwieweit Ilion in der Archaik als realer Ort angesehen worden ist, ein Problem für sich darstellt70). Jan Vansina bezeichnet solche jenseits des floating gap angesiedelten Erzählungen als »traditions of origin«.71 Sie können durch »logical constructs« bestimmt sein. Im Fall einer detaillierteren Schilderung der Ereignisse gibt es etwa Hinweise, was die Emigration veranlasst hat: Bei den Phaiaken löste die Bedrohung durch die Kyklopen die Totalmigration aus, Tlepolemos musste hingegen aufgrund eines Verbrechens fliehen. Was Dardanos, Kadmos sowie Amphion und Zethos betrifft, so müssen wir auf spätere Quellen zurückgreifen, um mehr über sie zu erfahren: Bei Dardanos handelt es sich um ein Wandererschicksal, welches in der Troas ein Ende gefunden hat, wo er der eponyme Stammvater der Dardaner wurde. Die Figur des Kadmos weist ähnliche Charakteristika auf. Amphion und Zethos hingegen hatten als einzige bereits seit ihrer Geburt einen Bezug zum Ort (Theben), den sie später (neu-)gründeten: Sie kamen deshalb von außen, da sie als Kleinkinder ins Exil mussten. Entsprechend dem Emigrationstyp folgen die Ursachen somit einer inhärenten narrativen Logik: Steht eine Einzelfigur im Mittelpunkt der Erzählung, handelte es sich um persönliche Motive für eine Auswanderung. Damit eine Gruppe in ihrer Gesamtheit auswandert, braucht es andere Anstöße als die Befindlichkeit einer Einzelperson, etwa bei den Phaiaken die Verdrängung durch Andere, die Kyklopen. Äußerungen, die nicht explizit der mythischen Sphäre angehören, beziehen sich meist auf Individualmigrationen. Eine der falschen Identitäten des Odysseus tritt uns als Kreter entgegen, Sohn einer »gekauften Mutter«. Nach dem Tod des Vaters hätten die legitimen Söhne das Erbe geteilt und darüber das Los (klēros) geworfen, ihm jedoch nur einen kleinen Erbteil zugewiesen. Er sei weniger dem Bearbeiten des Landes zugeneigt gewesen, sondern bevorzugte ein schillerndes, wenn auch risikobehaftetes Leben in der Ferne.72 Hesiod präsentierte mit seinem Vater ebenfalls jemanden, der sich aufgrund drohender Armut genötigt sah, zu emigrieren, und auch in den Archilochos-Fragmenten klingen Individualmigrationen zum Zweck der Verbesserung der Lebensumstände an. Teilweise lässt sich eine deutlich agrarische Perspektive auf 70 Verwiesen sei auf die Forschungsdebatte, inwieweit die Handlung der Ilias auf einen konkreten geographischen Raum umgelegt werden kann. Siehe etwa Bichler 1995: 19-39, Saïd 1998: 67ff. und Ulf 2004. 71 Vansina 1985: 21-24. 72 Homer Odyssee: XIV. 191-359. Ein nahezu identisches Beispiel findet sich auch in der Ilias (XXIV. 398-400): Hier ist es der Gott Hermes, der sich einer solchen falschen Identität bedient.
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das Leben in der Fremde identifizieren. Dies gilt etwa für die Beschreibung der utopischen Kyklopen-Insel in der Odyssee.73 Die Beurteilung hinsichtlich ihrer Eignung als Siedlungsraum reflektierte somit Idealvorstellungen: Fruchtbarer Boden, ein guter Hafen und eine Quelle. Mehr noch: Die Welt der Kyklopen war in dieser Hinsicht eine Art Schlaraffenland: »Und zu der übergewaltigen, satzungslosen Kyklopen Land gelangten wir, die, den unsterblichen Göttern vertrauend, Weder Gewächse pflanzen mit ihren Händen noch pflügen; Sondern ohne zu säen und ohne zu pflügen, wächst alles, Weizen sowohl als Gerste und Reben, die ihnen bringen Große Trauben für Wein, die ihnen der Regen des Zeus mehrt.«74
Archilochos’ Kontrastierung von Thasos mit dem »schönen, anziehenden Land« bei Siris verrät ebenfalls diese Sehnsucht nach einem besseren, üppigeren Ort. Gründung Jede Siedlung verfügt über eine Gründung, einen punktuellen Startpunkt. Um Carol Dougherty zu zitieren: »In general, the Greeks loved to speculate about beginnings; the births of heroes, the origins of cults, and the founding of cities all formed part of their aetiological repertoire.«75 Die Präsentation von Gründungen hatte beide Seiten von Migration darzustellen: Jene der Emigration mittels der Bestimmung der Herkunft sowie jene der Immigration über die Schilderung der Entstehung des neuen Ortes. Dies zeigt sich auch anhand der Figur des Gründers, der mit einer doppelten Funktion ausgestattet ist: Er »führt« die Emigranten und steht somit für die Herkunft und er ist für die Einrichtung einer Siedlung zuständig. Diese Engführung von Gründer und Gründung konnte sich auch darin manifestieren, dass der Gründer auch dem neuen Ort seinen Namen gab, wofür sich etwa Ilos, der Gründer Ilions (Trojas), als Beispiel anführen lässt.76 Die Suche nach den archaischen Vorstellungen zu Gründungen beginnt bei der verwendeten Begrifflichkeit: Im Fall von Tlepolemos sowie der Phaiaken wurde ein simples »führen« verwendet, ansonsten treffen wir ktizō- beziehungsweise oikeōFormen an, beziehungsweise im Beispiel aus Hesiod das Verb »naiō«. Diese Begriffe verweisen auf ein relativ weites Feld an Bedeutungen: »Ktizō« kreist sowohl um das Kultivieren eines Raumes als auch um das Gründen im engeren Sinne. »Oikeō« und
73 Vgl. hierzu Bichler 1995: 19f. und Dougherty 2001: 75. 74 Homer Odyssee: IX. 106-111. 75 Dougherty 1994: 35. Siehe auch Veyne 1983: 36f. 76 Homer Ilias: X. 415. Vgl. hierzu Ulf 2009b: 90.
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auch »naiō« betreffen den umfangreichen Komplex des Bewohnens eines Ortes beziehungsweise Raumes. Letztere scheinen eher allgemein den Aspekt des Sich-Ansiedelns auszudrücken, wohingegen »ktizō« tendenziell auf die Einrichtung des neuen Siedlungsraumes verweist.77 Dies wird etwa deutlich im Fall der KyklopenInsel, wo Odysseus den Übergang von sprichwörtlich unberührter Natur zu kultivierter, »gut eingerichteter« (euktimenos) Natur gedanklich nachvollzieht. Eine ktisis konnte sich nicht nur auf Siedlungen beziehen. Michel Casevitz zeigt, dass »ktizō« sowohl im Fall der Gründung von Orten, von Heiligtümern sowie der Kultivierung von Räumen Verwendung finden konnte.78 Das Muster von Migration und Gründung fand demenstprechend auch bei der Schilderung der Gründung von Heiligtümern Anwendung, wie der Homerische Hymnus 3 an den delischen Apoll hinsichtlich der ktisis Delphis zeigt. In einem aitiologischen Sinn konnte die Organisation eines Ortes in sozialer und räumlicher Hinsicht auf seine Gründung zurückgeführt werden. Bemerkenswerterweise beinhalten die Quellenäußerungen der Archaik zur ktisis realer Orte keine detaillierten Informationen zum Ablauf der Gründung. Die diesbezüglich aussagekräftigeren Fälle beziehen sich auf Orte, die sich in der mythischen Sphäre befinden. Dieser Umstand macht ihre Interpretation bezüglich ihrer möglichen Aussagekraft zur Rekonstruktion der »griechischen Kolonisation« keineswegs einfacher, denn eine unmittelbare Referenz der geschilderten Ereignisse mit der Wirklichkeit anzunehmen, verbietet sich eigentlich durch ihre vollständige Verschiebung in eine transzendente Sphäre. Dies würde grundsätzlich auch für Ursprungserzählungen zu realen Orten gelten, hier liegt jedoch zumindest der Anknüpfungspunkt in der Wirklichkeit in Form der zeitgenössischen Siedlung, deren Ursprung es zu klären gilt. Dies ändert sich bei utopischen Orten, wo mit anderen Modi der Referenz auf die Wirklichkeit gerechnet werden muss. Das eröffnete einen gewissen Spielraum beim Verständnis dieser Narrative. Die Gründungserzählung Scherias ist klar in einer raum-zeitlichen getrennten, transzendenten Sphäre verortet. Die vom Gründer Nausithoos gesetzten Handlungen, sprich das Errichten von Mauern, Häusern und Tempeln sowie das Verteilen der Äcker, dürften somit primär idealtypischen Vorstellungen der Einrichtung eines Gemeinwesens entsprochen haben. Auch das Ilion, wie es uns in den homerischen Epen gegenübertritt, war ein utopischer Ort. Wenn das Publikum der Archaik auch möglicherweise eine vage Idee zur Lage Trojas hatte, so war das prächtige Ilion des Priamos doch der Schauplatz einer transzendenten Vergangenheit, der zudem auch noch zerstört worden war. Somit erhielten die Beschreibungen der vergangenen Größe Ilions ein utopisches Potential und konnten Idealvorstellungen von Städten widerspie-
77 Vgl. Casevitz 1985: 221-226. 78 Ebd.: 38f., 100 und 221.
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geln. In Troja finden sich folglich auch jene Elemente, die von Nausithoos auf Scheria installiert werden: Tempel und eine Mauer.79 Im Gegensatz zu dieser Pracht findet sich bei Hesiod die Schilderung des Schicksals seines Vaters, der sich nach seiner Emigration in einer kōmē angesiedelt habe, mehr ein Abbild zeitgenössischer Zustände. Dieser Begriff konnte zur Bezeichnung von losen Siedlungen ohne ein urbanes Zentrum, aber auch von Siedlungen ohne umgebende Mauern dienen.80 Der Alltag erscheint somit weniger glanzvoll im Vergleich mit den mythischen Narrativen, was wiederum Hesiods zyklischem Geschichtsbild entspricht, dass die Vergangenheitsphasen mit absteigender Chronologie immer düsterer erscheinen lässt. Waren diese Darstellungen von Gründungen nun darauf ausgerichtet, jenes Phänomen abzubilden, das wir heute als »große Kolonisation« bezeichnen? Vor allem das Beispiel Scherias wird aufgrund der detailreichen Schilderung als literarische Verarbeitung der »Kolonisation« herangezogen, – obwohl die Tlepolemos-Erzählung mehr entsprechen würde, da hier nur ein Teil der Bevölkerung emigrierte, wohingegen es sich bei der Besiedlung Scherias durch die Phaiaken um eine Totalmigration handelte. Carol Dougherty sieht Scheria als archetypische Darstellung einer kolonialen Gründung: »The description of Nausithous’ actions captures the essential activities of a colonial founder: he surrounds the city with a wall, builds houses, erects temples to the gods, and distributes plots of land to the settlers.«81 Diese Annahme setzt voraus, dass es bereits in der Archaik ein Bewusstsein für »essential activities« eines »kolonialen« Gründers gegeben habe. Eine andere Sichtweise vertritt Karl-Joachim Hölkeskamp, der Scheria als Idealpolis sieht. Die Phaiaken-Stadt wurde dementsprechend nach dem Muster der in der Archaik kursierenden grundlegenden Vorstellung von der Natur einer polis beschrieben und nicht im Sinne einer apoikia als eigener, separater Kategorie.82 Mauern beispielsweise würden gerade in den homerischen Epen prinzipiell als wesentlicher Teil einer polis präsentiert:83 »The Homeric polis is ›good to dwell in‹, ›well-founded‹ and ›well-built‹, and, above all, ›well-walled‹ and ›well towered‹. Its walls, gates and towers, ›high‹, ›steep‹ and, again, ›well-built‹ are particularly prominent as epitheta […].«84 Überhaupt keine unmittelbare Anknüpfung an die Wirklichkeit konstatiert hingegen Jean-Paul Descœudres: »[B]oth stories [die von Tlepolemos und Scheria, MM] are set in a mythical past, and can hardly be taken as reflecting a historical 79 Siehe auch Crielaard 1995: 244f. und Hölkeskamp 2002: 320-322. 80 Hansen 1995: 80f. 81 Dougherty 2001: 129. Auch Crielaard hält in diesem Sinne fest: »All in all, Scheria seems to mirror a western Greek foundation of the later 8th or the 7th century.« Crielaard 1995: 236-239 (hier: 238). 82 Hölkeskamp 2002: 321-325. 83 Vgl. auch Crielaard 1995: 244f. und Frederiksen 2011: 34f. 84 Hölkeskamp 2002: 320f.
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reality.«85 Der Interpretationsspielraum der archaischen Äußerungen zu ktiseis ist zwangsläufig breit gesteckt, da unser Wissen zu den soziokulturellen Gegebenheiten der Archaik begrenzt ist. Es fehlt ein außertextliches Korrektiv, da dieses Wissen, wie bereits betont, primär aus jenen wenigen erhaltenen textlichen Überresten stammt, die in konkreten Fällen, wie der Rekonstruktion der »griechischen Kolonisation«, wiederum als Belege für dieses Wissen herangezogen werden, was die Gefahr von Zirkelschlüssen beinhaltet. Der Mangel an Informationen aus der Archaik selbst bringt mit sich, dass spätere Vorstellungen bei der Interpretation ins Auge gefasst werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Antiochos-Fragment zum Tausch eines klēros gegen einen Honigkuchen. Ist das ein Beleg für die Existenz der Praxis der Landverteilung per Los (ebenfalls klēros) unter die »Kolonisten« vor der Abfahrt, wie sie etwa für die Kleruchien der klassischen Zeit belegt ist? 86 Falls diese Erzählung genau in dieser Form tatsächlich in das 7. Jh. v.Chr. zurückreicht, muss die Frage gestellt werden, welche Vorstellungen von klēros in dieser Zeit anzutreffen waren. Zwar findet sich bereits in den homerischen Epen die Doppelbedeutung »Grundbesitz« sowie »Los« für »klēros«, die Praxis einer Verlosung von Land ist jedoch nicht greifbar – auch nicht im Fall der Ankunft der Phaiaken auf der Insel Scheria: Hier verteilte Nausithoos die Äcker.87 Wenn es in den homerischen Epen zu einer Verlosung im Konnex mit (Grund-)Besitz kam, dann im Zusammenhang mit der Aufteilung eines Erbes. Auf entsprechende Beispiele ist weiter oben bereits eingegangen worden. Was die Implikation der Vorausplanung im Fragment betrifft, müsste einerseits geklärt werden, wieviel Archilochos in dem Fragment tatsächlich steckt. 88 Andererseits, welche Instanz im archaischen Griechenland solche Akte gesetzt haben könnte. Ein fiktives Königtum wie jenes der Phaiaken scheidet hierfür wohl aus. Somit sind wir auf die schwierige Frage der soziopolitischen Strukturen dieser Zeit zurückgeworfen. Identität 1: Herkunft Wer Emigration sagt, sagt Herkunft. In allen vorgestellten Fällen war bekannt, woher die Individuen oder Gruppen gekommen sind. Diese Rückbindung an einen Herkunftsort zeigt sich auch begrifflich: Wohnten die Nymphen Lampetie und Phaëthusa entfernt (apoikizō) von ihrer Mutter, so konnte dies zumindest ab dem 6. Jh. v.Chr. auch von ganzen Orten beziehungsweise ihrer Bevölkerung gesagt werden, wie im 85 Descœudres 2008: 290. 86 Etwa Malkin 2002: 215f. Siehe hierzu D’Ercole 2012: 51-56. 87 Homer Odyssee: VI. 10. Siehe zum Begriff »klēros« bei Homer Hennig 1980. 88 Vorstellbar wäre etwa, dass der erklärende Relativsatz zum klēros (»das er in Syraksuai erhalten hatte und besitzen sollte«) eine Ergänzung durch Demetrios war und auf ein spezifisches Verständnis zurückgriff, das typisch für die Gründungspraxis der hellenistischen Zeit war.
Spuren des zeitgenössischen Blicks? | 47
Fall Abderas, der »schönen apoikia der Teier«. Identitätskonstruktionen der archaischen Zeit waren somit von einem genealogischen Paradigma geprägt: Abstammungen und Verwandtschaftsverhältnisse waren zentrale Wissenselemente. Das galt auch für Orte, die ebenfalls in ein genealogisches Geflecht eingeordnet wurden, was primär über die Gründerfiguren oder auch über eine Abstammung von anderen Orten gelang. Dieses Mittel zur Erzeugung einer überregionalen Kohäsion89 brachte auch eine gewisse Offenheit mit sich: Zugehörigkeit war aufgrund der Variabilität von Genealogien und der Koppelung aitiologischer Erzählungen an zeitgenössische Erklärungsbedürfnisse anpassungsfähig.90 Die Erfahrung der Ansiedlung außerhalb des Ägäisraumes führte nicht unmittelbar zu einer hellenischen Meta-Identität, die durch eine Differenzierung mit den Anderen befeuert worden ist. Jonathan Hall betont: »[I]t seems inherently unlikely that when the first generations of Greek settlers set out for the west in the 8th century they carried with them a preconstituted consciousness of belonging to a wider Hellenic community.«91 Hier muss von einem graduellen und heterogenen Prozess der Entstehung einer griechischen Eigenidentität ausgegangen werden, der je nach Situation eine relativ flexible Selbsteinordnung ermöglichte.92 Identität 2: Die Anderen Die schriftlichen Hinterlassenschaften der Archaik zeugen von vielfältigen Kontakten, nicht zuletzt mit »anders redenden Menschen«93, wie die Göttin Athene, eine falsche Identität als Händler vorschiebend, berichtete.94 Analog zum Prozess einer erst sich allmählich entwickelnden hellenischen Meta-Identität fehlte in der Archaik ein abstrahierter Gegenentwurf von Nicht-Hellenen. Dementsprechend lassen sich anhand der Äußerungen zu outgoups in den homerischen Epen kaum Stereotype und erst recht keine essentialisierten, gar abwertenden Zuschreibungen nachvollziehen: In der Odyssee wurde etwa über Phönizier gesprochen wie über Kreter oder gar Phaiaken. Jan Paul Crielaard stellt bezüglich der Phönizier berechtigterweise fest: »They come to the fore in various ways: as skilled craftsmen, shrewd traffikers and esteemed xeinos-partner.«95 Auch die den westlichen Mittelmeerraum Bewohnenden finden
89 Jonathan Hall diagnostiziert hinsichtlich der Eigenidentität eine »aggregative self-definition«. Das bedeutet, dass die Verknüpfung kleinräumigerer Identitäten zu einer größeren Einheit durch gemeinsame Genealogien erfolgte. Siehe etwa Hall 1997: 47. 90 Siehe etwa Hall 2005, Ulf 2009c oder Giangiulio 2010a. 91 Hall 2004: 38. Vgl. auch Malkin 2001b: 13. 92 Siehe hierzu Hall 2002: 90f. und 2004. Contra: Dominguez 2006. 93 Homer Odyssee: I. 180-184. 94 Vgl. zum Faktor Sprache bei der Fremdwahrnehmung Hall 2002: 111-117. 95 Crielaard 1995: 227f. Siehe auch Gruen 2012: 116f.
48 | I. Das antike Wissen
Erwähnung: An einer Stelle wird beispielsweise von einer »sizilischen Frau« gesprochen, welche den Laertes pflegt.96 Sikeler werden noch ein zweites Mal genannt: Einer der Freier der Penelope schlägt dem Telemachos eine Sonderbehandlung bestimmter Gäste vor: »Werfen die Gäste wir doch in Ruderschiffe und senden Sie den Sikelern zu; das brächte dir guten Erlös ein.«97
Die Überlegung ist wohl zulässig, dass die Art der Kontakte, die mit den jeweiligen Anderen unterhalten worden sind, ihre Wahrnehmung beeinflusste. Daraus ergibt sich ein Spielraum für die Perzeptionen von outgroups, abhängig von konkreten raum-zeitlichen Konstellationen.98 Irad Malkin betont zu Recht »the ›active‹ role of myth in filtering, shaping, and mediating cultural and ethnic encounters«.99 Gerade wandernde mythisch-heroische Figuren, etwa die heimkehrenden Helden des trojanischen Krieges (die nostoi),100 konnten dazu dienen, fremde Räume in die griechische Vorstellungswelt einzuordnen. Aufgrund dieser Funktion könnte von Raumeinbindungsfiguren gesprochen werden.101 Das Axiom, dass Gründer immigrierten, korrelierte mit genealogische Identitätskonstruktionen: Outgroups konnten mittels Raumeinbindungsfiguren inkorporiert werden. Der knappe Verweis auf Kadmos, eines Phöniziers, im Rahmen der Äußerung zur Gründung Thebens zeigt zudem, dass dieses Denkmuster auch in die andere Richtung möglich war: Andere konnten eine hellenische Genealogie erhalten, genauso wie Hellenen von einem Anderen abstammen konnten.102 Hier gab es keine verabsolutierte Trennung.
96
Homer Odyssee: XXIV. 211f. Vgl. Crielaard 1995: 232f., auch zu weiteren Möglichkeiten von Anspielungen in der Odyssee auf den realen Westen.
97
Homer Odyssee: XX. 382f.
98
Vgl. Ulf 2009a: 92f., Giangiulio 2010b: 13f. und insbesondere Vlassopoulos 2013: 161-
99
Malkin 1998: 5. Aufgrund der Verknüpfung von Circe mit dem Westen in Hesiods The-
225. ogonie (1011-1016) vermutet Malkin, dass »[t]he process of grafting mythic scenes onto colonial topography seems to have been gradual and particular but may have started rather early. By the sixth century Italy and the western Mediterranean were full of such associations« Malkin 1998: 188f. (hier: 191). Vgl. zum Aspekt der Verortung mythologischer Stoffe in »kolonialen« Räumen auch die Überlegungen in Bowie 2012. 100 Siehe zu den nostoi Malkin 1998: 3. 101 Siehe auch Hall 2005: 264. 102 Vgl. Hall 2005: 281 und Gruen 2012: 223-243.
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»Kolonisierte« Andere? Finden sich in der erhaltenen archaischen Äußerungen Hinweise auf eine Verarbeitung interkultureller Kontakte einer spezifisch »kolonialen« Situation? Der Befund ist ähnlich ambivalent wie beim Thema der Gründungen: Es gibt keine unmittelbaren Berichte, nur mögliche literarisch verformte Anklänge vor allem in der Odyssee. Carol Dougherty sieht hier zwei Kontaktmuster am Werk: Freundliche Aufnahme, manifestiert durch die Phaiaken, welche Heirat anbieten, und feindliche Kontakte, versinnbildlicht durch den Kannibalismus des Kyklopen Polyphem.103 Diese antithetische Darstellung in der Odyssee lädt allerdings auch zu anderen Lesarten ein. Évelyne Scheid-Tissinier bezeichnet dieses Epos etwa als »veritable manuel de l’hospitalité«: Kyklopen und Phaiaken repräsentieren nicht die Anderen im Kontext der Emigrationen, sondern die verschiedenen Pole der Befolgung des Gebots der Gastfreundschaft.104 Ganz grundsätzlich muss in Frage gestellt werden, dass die Kyklopen als Repräsentation einer outgroup im »kolonialen« Umfeld ausgestaltet worden sein könnten. Zunächst gibt es keine Belege in den Quellen der Archaik für die Grundbedingung für ein solches Verständnis, nämlich eine abstrahierte Vorstellung von sich selbst als zivilisiert und somit von den Anderen als unzivilisiert – eine solche Perspektive wird sich erst im Laufe der klassischen Zeit entwickeln. Es erscheint somit plausibler, die Beschreibung der Kyklopen primär als Reflexion der eigenen Lebensumstände zu sehen, und zwar im Sinne eines stark idealisierten Natur-Kultur-Gegensatzes. Die Kyklopen betreiben nur Viehzucht, aber keinen Ackerbau, weil das Land die Produkte von alleine hervorbringt, ohne bestellt werden zu müssen. Sie besitzen auch keine soziopolitische Ordnung. Dieses Ambiente erinnert mehr an utopische Schilderungen im Sinne eines Schlaraffenlandes, die einen von der Mühsal des Alltags unberührten Urzustand vor Augen führen.105 Auch diese Bandbreite an Lesarten durch die moderne Altertumswissenschaft ist symptomatisch für die Problematik, Identifikation von in einer mythischen Sphäre angesiedelten möglichen literarischen Referenzen auf konkrete zeitgenössische Gegebenheiten zu beziehen. Signifikanter für den Migrationskontext könnte hingegen der Verweis auf die Unbewohntheit utopischer Orte in der Odyssee vor ihrer (möglichen) Besiedlung sein: Dies gilt für die Unberührtheit der Ziegeninsel und die Abgelegenheit von Scheria. Ist dies als Hinweis im Sinne einer idealen Gründung zu verstehen, wo keine wie auch immer gearteten Auseinandersetzungen oder Arrangements mit einer lokalen Bevölkerung notwendig sind? Zugleich ermöglichte diese Unbewohntheit auch eine unmittelbare Verfügbarkeit über das Land: Es konnte verteilt werden, wie es im Fall 103 Dougherty 2001: 130-140. 104 Scheid-Tissinier 1994: 139-143. Vgl. auch Saïd 1998: 296-300 und Wagner-Hasel 2000: 84f. und 88. 105 Siehe etwa Saïd 1998: 156-158.
50 | I. Das antike Wissen
der Phaiaken geschah. Außerhalb der homerischen Epen könnte am ehesten das oben zitierte Mimnermos-Fragment einer »kolonialen« Besiedlung beziehungsweise Landnahme gemäß dem modernen Verständnis entsprechen. Nachdem der weitere Kontext fehlt – gegen wen sich die Gewalt gewendet hat, Hellenen und/oder NichtHellenen, wird nicht genauer bestimmt – ist es schwer, auf die Art und Weise der Verankerung dieser Aussage im Wissen der damaligen Zeit zu schließen, also inwieweit sie auf einem allgemeinen Diskurs zur Ansiedlung in der Fremde aufbaut.106 Dasselbe gilt für einige Archilochos-Fragmente, die als Verweise auf »koloniale« Unternehmungen auf Thasos und in Thrakien interpretiert werden.107 Ein zeitgenössischer Blick? Die erhaltenen Äußerungen der archaischen Zeit laden seit mehr als 200 Jahren zur Spekulation ein, inwieweit das als »griechische Kolonisation« isolierte Phänomen in ihnen seine Spuren hinterlassen haben könnte. Die Identifizierung eines spezifisch »kolonialen« Blicks sollte jedoch keineswegs als evident angesehen werden, da schon alleine die Voraussetzungen in Form von übergeordneten Perspektiven auf das Phänomen selbst, also die Eigen- und Fremdidentitäten fraglich sind. Für die erhaltenen Quellen der Archaik lässt sich in diesem Sinne kein einheitliches Meta-Narrativ ausmachen. Feststellbar sind jedoch basale Wahrnehmungsmuster, wenn es um die Phänomene der Migration und der Gründung geht. Hier ist sogar eine kausale Verknüpfung erkennbar, da es in den Äußerungen eigentlich keine Gründung ohne eine vorherige Immigration gibt. Dieser Befund beschränkt sich allerdings nicht auf das thematische Feld der Entstehung von Siedlungen außerhalb der Ägäiswelt, sondern entspricht einer allgemeineren Vorstellung. Bei der konkreteren Ausgestaltung derartiger Schilderungen lässt sich ein gewisser Spielraum feststellen, der von einer an die handelnden Figuren gekoppelten narrativen Logik wiederum eingegrenzt wird. Für die tiefgreifende Rekonstruktion einer spezifischen diskursiven Formation der archaischen Zeit ist jedoch insgesamt das Korpus an verfügbaren Äußerungen zu klein.
106 Unklar muss auch bleiben, ob es sich um die Beschreibung eines punktuellen Ereignisses handelte, oder ob dieses Fragment, entsprechend dem Kontext, in den Strabon diese Äußerung stellte, das Bruchstück der Beschreibung einer großangelegten Emigration nach Kleinasien war. Vgl. den Kommentar zu diesem Fragment in Allen 1993: 74-85 oder auch Dougherty 1994: 38f. und Mac Sweeney 2013: 121f. und 188f. 107 Vgl. Crielaard 2002: 263.
I.2 Der Diskurs der klassischen Zeit zu Gründungen und Apoikien Querschnitt 1
Dieser Querschnitt umfasst Äußerungen von Pindar (ca. 520-445 v.Chr.) bis Aristoteles (384-322 v.Chr.), was eine Zeitspanne von nicht ganz 200 Jahren ergibt. Im Unterschied zur Archaik änderte sich ab dem ausgehenden 6. Jh. v.Chr. die quantitative Ausgangslage beim Quellenkorpus markant: Es kann auf rund 170 Textstellen zurückgegriffen werden, welche die Themenkomplexe Migration und ktisis berühren. Wenn Pindar und Aristoteles als Eckpfeiler genannt werden, verweist das auf einen zentralen Aspekt der vorliegenden Analyse: Nämlich, dass es unerheblich ist, ob eine bestimmte Aussage aus einem historiographischen Werk oder etwa einem Theaterstück stammt, da beide dem zu rekonstruierenden Diskurs angehören. Anders ausgedrückt greifen sowohl der Historiograph Thukydides (ca. 460-400 v.Chr.) als auch der Komödiendichter Aristophanes (ca. 450-380 v.Chr.), wenn sie sich zu ktiseis äußerten, auf denselben Pool an Wissen und somit auch auf dieselbe diskursive Formation zurück: Ihr Spielraum bei der Gestaltung ihrer Äußerungen wird hiervon bestimmt und diesem Spielraum gilt es nachzuspüren. Innerhalb dieses diskursiven Feldes kann dann in einem weiteren Schritt wiederum sehr wohl auf unterschiedliche Weisen des Umgangs mit Vergangenheitsnarrativen eingegangen werden. Diese breite, genreübergreifende Anlage des Korpus bedeutet zudem, dass ein besonderes Augenmerk auf die ansonsten im Rahmen von Rekonstruktionen der »griechischen Kolonisation« eher unterrepräsentierten Quellen gerichtet wird. Besonders hervorzuheben sind hierbei die Schilderungen hypothetischer beziehungsweise utopischer Gründungen, wie sie in Platons Dialog Die Gesetze, Aristophanes’ Komödie Die Vögel und Xenophons Anabasis erhalten sind. In Platons (428/7-348/7 v.Chr.) Werk erörtern der Kreter Kleinias, Megillos aus Sparta und ein »Athener«, der der eigentliche Wortführer dieses Dialogs ist, zunächst die bestmögliche Verfassung einer polis. Nachdem Kleinias allerdings enthüllt, der »größte Teil von Kreta« beabsichtige eine apoikia zu gründen und dem dēmos von Knossos sei die Organisation übertragen
52 | I. Das antike Wissen
worden, welcher seinerseits ein Organisationskommittee von 10 Personen (unter anderen Kleinias) bestimmt habe, wird in einem Gedankenexperiment versucht, das theoretisch Erarbeitete auf dieses Vorhaben umzulegen. In der 414 v.Chr. erstmals aufgeführten aristophanischen Komödie Die Vögel verdingen sich der Athener Pisthetairos und sein Kompagnon Euelpides bei den Vögeln als Gründer der neuen Stadt »Nephelokokkygia« (meist übersetzt als das sprichwörtlich gewordene Wolkenkuckucksheim), um die ursprüngliche und somit rechtmäßige Weltherrschaft der Vögel wiederherzustellen. Und in Xenophons (ca. 430-354 v.Chr.) Schilderung des Rückmarsches der 10.000 griechischen Söldner nach der gescheiterten Erhebung des persischen Prinzen Kyros finden sich die Gedankenspiele des Autors zu Stadtgründungen während ihres Aufenthaltes an der südlichen Schwarzmeerküste.1 Diese drei Werke sind als Quellen für diese Untersuchung deshalb besonders wertvoll, weil aufgrund des hypothetisch-utopischen Charakters die Vorstellungswelt der klassischen Zeit hinsichtlich der Gründung neuer Siedlungen sehr ausführlich und detailreich präsentiert wird.
I.2.1 DAS DISKURSIVE FELD: URSPRÜNGE DER VERGANGENHEIT Platon lässt Hippias von Elis auf die Frage des Sokrates, was die Spartaner gerne hören würden, antworten: »Wenn ich ihnen spreche von den Geschlechtern [genē] der Heroen sowohl als der Menschen und von den Niederlassungen [katoikiseis], wie vor alters die Städte sind angelegt [ktizō] worden, und alles überhaupt, was zu den Altertümern [archaiologia] gehört, das hören sie am liebsten; so daß ich um ihretwillen genötigt worden bin, dergleichen Dinge zu erforschen und einzulernen.«2
Vom Geschichtsschreiber Hellanikos von Lesbos, ein wohl jüngerer Zeitgenosse Herodots (ca. 485-424 v.Chr.) von dem keine Werke erhalten sind, wurde in der Antike berichtet, er habe »Ktiseis«, Gründungserzählungen, verfasst.3 Vom Werk des Charon von Lampsakos, ein etwas älterer Zeitgenosse Herodots, dem eine »Ktisis poleōn« zugeschrieben wird, sind ebenfalls nur Fragmente erhalten.4 Und laut Strabon (1. Jh. v.Chr.) lobte Polybios (2. Jh. v.Chr.) Ephoros von Kyme (ca. 400-330 v.Chr.), ein weiterer nur durch Fragmente erhaltener Historiograph, da dieser »die 1
Xenophon Anabasis: V. 6. 15-18 und VI. 4. 3-6, 14.
2
Platon Hippias maior: 285df.
3
Hellanikos von Lesbos FGrHist 4: F 66-70.
4
Charon von Lampsakos FGrHist 262.
Der Diskurs der klassischen Zeit | 53
beste Schilderung über Gründungen (peri ktiseis), Abstammungen (syngeneiai), Wanderungen (metanastaseis) und Gründern (archēgetai)« gegeben habe.5 In jedem Fall isolierten Platon, möglicherweise auch Hellanikos, Charon und Ephoros, somit bereits in klassischer Zeit die Städtegründungen der Vergangenheit als spezifisches Themenfeld.6 Entsprechende Vergangenheitsdarstellungen konnten auch die Geschichte spezifischer Orte schildern: Der Poet Xenophanes von Kolophon (ca. 570467 v.Chr.) soll neben einer »Ktisis« seiner Heimatstadt auch ein als »apoikismos to Elea« – »Die Gründung Eleas« bezeichnetes episches Werk verfasst haben.7 Bei aller Vorsicht bezüglich späterer Titelzuschreibungen liegt hierin auch ein Hinweis vor, dass eine ktisis nach wie vor mit der Frage der Herkunft gekoppelt war. Mit einer gewissen Berechtigung macht Irad Malkin folgende drei zentrale Aspekte bei Erzählungen zu Gründungen aus: »The name of an oikist, the date of foundation, and the identity of the mother city (or cities) are the basic three categories of Greek collective memory associated with colonization.«8 Im Geschichtswerk Herodots finden sich etwa 30 Aussagen zur Gründung einer apoikia, bei Thukydidesʼ rund 50. In jedem dieser Fälle wird die Herkunft der Siedler angeführt,9 was die zentrale Rolle des Ursprungs in diesem Diskurs unterstreicht. Ein Gründer wird weitaus seltener genannt: Bei Herodot in 12 Fällen, bei Thukydides in 22 Fällen. 10 Hinsichtlich der Gründungsdaten werden in den erhaltenen Quellen selten konkrete Angaben gemacht. Wenn, dann lassen sich die Ereignisse mittels einer relativen Chronologie – durch die Anbindung an einen Ankerpunkt wie wichtige Persönlichkeit oder zentrale Ereignisse – nur annäherungsweise in der Vergangenheit verorten. Dieser quantitative Vergleich hinsichtlich des Informationsgehalts macht eine grundlegende Eigenschaft des zu untersuchenden Diskurses deutlich: Dem Wortsinn des nunmehr zentralen terminus technicus »apoikia« für das Resultat einer ktisis gemäß, bildet die Rückbindung an eine bestimmte Herkunft das Gravitätszentrum. Bereits im Begriff selbst ist der Ursprung präsent, da das Präfix »apo-« eine Entfernung von etwas ausdrückt, was stets auch ein impliziter Verweis auf eine Verbindung zu einer mētropolis 5
Polybios: XXXIV. 1 apud Strabon: X. 3. 5.
6
Siehe zu diesem Genre der griechischen Geschichtsschreibung Thomas 2014: 163-165.
7
Xenophanes von Kolophon FGrHist 450: T1. So diese späte Titelzuschreibung zutreffend ist: Warum gerade hier der Begriff »apoikismos« an Stelle des sonst üblichen »ktisis« verwendet worden ist, lässt sich nicht erschöpfend klären, nicht zuletzt, weil diese Spezialform nur noch einmal bei Aristotels zur Bezeichnung einer Gründung greifbar ist. Vgl. Casevitz 1985: 133.
8 9
Malkin 2002: 211. Vgl hierzu Hall 2008: 388-402. Vgl. auch Jonathan Halls (2008: 388-402) Statistiken zu den süditalienischen und sizilischen apoikiai. Hall nimmt allerdings ohne diachrone Unterscheidung sämtliche antiken Aussagen als Grundlage.
10 Vgl. Hall 2008: 399.
54 | I. Das antike Wissen
und somit auf eine bestimmte Herkunft und eine Zugehörigkeit war.11 Es vereinigen sich sowohl das Element der Emigration, da »apoikia« eine Auswanderung an sich meinen konnte, als auch jenes der ktisis, der Entstehung vor Ort, da »apoikia« ebenfalls das neu entstandene Gemeinwesen bezeichnen konnte.12 Im Unterschied zur Terminologie um den Begriff »ktisis«, lag der Akzent nunmehr auf der Identifikation einer klar zu benennenden Herkunft. Dieser Aspekt war in der klassischen Zeit von besonderer Relevanz: Einerseits diente er einer (Selbst-)Identifikation des als apoikia kategorisierten Gemeinwesen, andererseits einer übergeordneten Zuweisung zu primär auf ethnē-Zugehörigkeiten basierenden hellenischen Lagerunterteilung. Die Vergangenheit spielt hierbei eine zentrale Rolle, war doch die genealogische Logik in Form der aitiologischen Referenz am Werk, wo Gegenwärtiges über seinen Ursprung erklärt wird. Gründungserzählungen von apoikiai erfüllten genau diesen Zweck: Die Vergegenwärtigung des Anfangs in Form der Herkunft.13 Aus dieser Relevanz für die Gegenwart ergab sich auch ein dementsprechendes Interesse an solchen Narrativen. Und gerade in Zeiten des innergriechischen Konflikts waren Zugehörigkeiten durchaus relevante Informationen, was etwa auch Thukydides’ Exkurs zur Geschichte Siziliens zu Beginn des 6. Buches – einer der Hauptquellen der »griechischen Kolonisation« – in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges erklärt: Das Schildern der entsprechenden Informationen bevor er das Überschwappen dieses Konflikts in den westlichen Mittelmeerraum beschrieb. Die Ordnung der Vergangenheit (und der Gegenwart) Archaiologiai, Geschichten zu Genealogien und Ktiseis waren beim Publikum beliebte Vergangenheitsnarrative. Und Platons Hippias scheint hörbar aufzustöhnen ob der Menge des zu beherrschenden Materials. Das zum Motto des ersten Teils der Untersuchung erhobene Fragment aus dem Werk des Hekatiaos von Milet, einer der frühesten Prosa-Geschichtsschreiber, scheint in dieselbe Kerbe zu schlagen: »Die Geschichten [logoi] der Hellenen sind vielfältig und, wie sie mir erscheinen, lächerlich […]«.14 Dieser Befund entspricht der Struktur eines Vergangenheitsempfindens, das von maximal halbschriftlichen Gesellschaften zu erwarten wäre: Erzählungen zu den Ursprüngen nehmen viel Raum ein, genauso Berichte zur jüngeren Vergangenheit.15 Dies deckt sich mit dem Korpus zur »griechischen Kolonisation«: Wir erhalten einerseits Informationen zur meist weit zurückliegenden Gründung, andererseits sind
11 Siehe hierzu auch Malkin 2016: 36. 12 Casevitz 1985: 120-130. 13 Vgl. hierzu etwa Dougherty 1993: 5. 14 Hekataios von Milet FGrHist 1: F 1a. 15 Siehe grundlegend Vansina 1985: 23f.
Der Diskurs der klassischen Zeit | 55
die detailliertesten Informationen zu zeithistorischen Emigrationen und ktiseis erhalten. Eine derartige Ordnung der Vergangenheit funktioniert problemlos, so lange die ältere Vergangenheit primär als Ursprungszeit für die Gegenwart funktioniert, denn dies eröffnet einen Spielraum für Varianten und Interpretationen. 16 Wenn allerdings ein Interesse daran besteht, eine kohärente und chronologisch lineare Geschichtsdarstellung zu schaffen, werden die Heterogenität der vielen logoi und ihre unklare zeitliche Verortung problematisch. Dies zwingt zu einem auktorialen Eingriff, wie bereits Hekataios betonte: »Ich beschreibe diese Dinge, wie sie mir [Herv. MM] wahr zu sein scheinen.«17 bridging the gap Die Geschichtsschreibung der klassischen Zeit stand vor der Herausforderung einer Historisierung der Vergangenheit, also einer Ordnung der durch die verschiedenen Traditionen verfügbaren Ereignisse hinsichtlich ihrer chronologischen Verteilung und Beziehung zueinander. Dies galt sowohl für eine hellenische Meta-Ebene als auch auf kleinräumiger Ebene. Das bedeutete etwa die Notwendigkeit des Auffüllens der floating gaps, um die mythische Sphäre chronologisch mit der Gegenwart zu verknüpfen. Zudem mussten lokale Traditionen, die eine jeweils eigene Ursprungszeit hatten, mit der panhellenischen Geschichte in Korrespondenz gebracht werden. Es zeigt sich, dass die Werke von Herodot und Thukydides hinsichtlich ihrer Chronologisierungsversuche noch voller Reminiszenzen an das historische Empfinden nichtschriftlicher Gesellschaften sind, also die Bipolarität aus einer mythisch-vorhistorischen Zeitebene und der Ebene der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart noch greifbar ist.18 Diese Versuche der Fixierung des floating gaps lassen sich mittels der sogenannten »Archäologie« im Geschichtswerk des Thukydides gut nachzeichnen. Der Ausgangspunkt seines kursorischen Überblicks über die Vergangenheit bildete eine Zeit, in welcher das Land noch nicht fest besiedelt gewesen sei und somit »alle leicht ihren Wohnsitz verließen, wenn sie von den jeweils Mächtigeren bedrängt wurden.«19 Innerhalb dieser Vergangenheitsebene bildete der Trojanische Krieg einen wichtigen chronologischen Orientierungspunkt, da er die erste gemeinsame Unternehmung der Hellenen gewesen sei.20 Auch die Nachwirkungen dieses Krieges seien prägend für die Geschichte Griechenlands gewesen: Es wurde emigriert (metanistēmi) und sich angesiedelt (katoikizō). Die »späte Rückkehr der Hellenen von Ilion
16 Siehe Thomas 1992: 108-113. 17 Hekataios von Milet FGrHist 1: F 1a. 18 Vgl. Bichler 2004 zu den aus Herodot und Thukydides extrahierbaren Versuchen. Siehe auch Hornblower 1994: 14. 19 Thukydides: I. 2. 1. 20 Ebd.: I. 3.
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führte zu manchen Unruhen, es gab in den Städten meist Bürgerkrieg, und die Verbannten gründeten [ktizō] neue Städte.«21 Stasis (Bürgerkrieg) verursachte somit eine erneute Phase von Migrationen, deren letzte die der Dorier im Verbund mit den Herakliden gewesen sei.22 Insgesamt war diese Epoche gekennzeichnet durch Instabilität und Bevölkerungsverschiebungen. Diese bildeten den Ursprung des späteren, konsolidierten Hellas, des Zustandes seiner Räume, ethnē und poleis. Die darauffolgende Vergangenheitsebene könnte als Mittelzeit umschrieben werden: Sie funktionierte als Puffer zwischen der gesamthellenischen Ursprungszeit und der Gegenwart. In diesen Zeithorizont würden auch jene Ereignisse fallen, die aus der modernen Perspektive als die »griechische Kolonisation« angesprochen werden. Gemäß Thukydides grenzt sich diese mittlere Vergangenheitsebene folgendermaßen von der Vorherigen ab: »Als endlich nach langer Zeit Hellas zu dauerhaftem Frieden gelangte und nicht mehr durch Stammesaustreibungen erschüttert wurde, konnte es Auswanderer [apoikiai] entsenden; die Athener besiedelten [oikizō] Ionien und die meisten Inseln, die Peloponnesier und einige andere Hellenenstämme den Großteil Italiens und Siziliens. Alle diese Gebiete wurden aber erst nach dem Trojanischen Krieg besiedelt [ktizō].«23
Die Emigrationen veränderten sich, da sie nunmehr von sich stabilisierenden politischen Entitäten ausgingen. Zudem werden nunmehr explizit Ziele außerhalb des Ägäisraums genannt. Im Rahmen dieser Entwicklung betonte Thukydides die bestimmende Rolle der »Seemächte«:24 »Aber dennoch errangen die Staaten, die sich mit dem Seewesen befassten, eine nicht geringe Machtstellung, und zwar durch den Zufluss von Geld und durch Herrschaft über andere; sie segelten nämlich gegen die Inseln aus und unterwarfen sie, so vor allem, wenn ihr eigenes Gebiet nicht sehr ertragreich war. Landkrieg aber, der zu Machterweiterung geführt hätte, gab es nicht. Alle Kriege, wenn es doch zu welchen kam, waren Grenzhändel mit Nachbarn. Auswärtige Feldzüge, fern der eigenen Heimat zur Unterwerfung anderer, unternahmen die Hellenen nicht. Denn sie hatten sich noch nicht um die mächtigsten Staaten als Untertanen zusammengeschlossen, und auch selbständig und gleichberechtigt führten sie keine gemeinsamen Feldzüge durch, vielmehr bekämpften sich die Nachbarstädte gegenseitig.«25
Die gesamthellenische Mittelzeit spielte bei der Umwandlung in eine lineare Geschichtsdarstellung eine entscheidende Rolle. Dieser vage Zeitraum zwischen den 21 Thukydides: I. 12. 2. 22 Ebd.: I. 12. 3. Zu Herodots Sicht dieser Vergangenheitsebene vgl. Bichler 2004: 225. 23 Ebd.: I. 12. 4. 24 Ebd.: I. 13-15. 25 Ebd.: I. 15. 1f.
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Fixpunkten Trojanischer Krieg und Gegenwart nahm die verschiedenen lokalen Narrativen zu Ursprung und Gegenwart samt ihrer jeweiligen floating gaps auf. Er diente als Referenzrahmen, in dem diese verschiedenen Traditionen angeordnet und chronologisch miteinander in Beziehung abgestimmt werden konnten. Bei diesem Vorgang waren relative Chronologien von Bedeutung: Der Trojanische Krieg etwa war als das erste panhellenische Ereignis der Ankerpunkt par excellence.26 Lokale Ereignisse fanden vor respektive nach ihm statt. Hierbei halfen auch genealogische Bezüge auf die heroischen Figuren. Herodot, für den es weniger wichtig war, die einzelnen von ihm geschilderten Episoden der Frühzeit in eine generalisierte chronologische Beziehung mit der Gegenwart zu stellen, begnügte sich beispielsweise bei der chronologischen Verortung mit der Nennung einer Herrscherpersönlichkeit oder eines Heroen (z.B. Herakles 27 oder Kadmos28). Somit kann Rosalind Thomas feststellen: »There are certainly a very large number of origin stories in the Histories, and they often occur without any exact chronological link being made, apart from the idea that one was earlier, one later, between the origin and the next point or period for which he has information.«29
Durch diese interne relative Anordnung ergab sich das Potenzial der Erstellung linearer historischer Narrative, eben auch, weil die lokalen logoi Füllmaterial für eine panhellenische Geschichte boten.30 Gerade die Erstellung beziehungsweise Adaption von Genealogien spielten bei der Ordnung der Vergangenheit eine zentrale Rolle:31 Die Generationenzählung war das bevorzugte Mittel der Erstellung einer linearen Chronologie.32 In den Fällen, wo dies (noch) nicht möglich war, fielen die lokalen Ereignisse gewissermaßen lose in die gesamthellenische Mittelzeit. Auf diese Weise entstanden komplexe Gemenge von relativen Chronologien und Versuchen, eine durchgängige chronologische Linie zu ziehen, wie es etwa durch Ephoros von Kyme für die Distanz zwischen dem Trojanischen Krieg und der JetztZeit betrieben wurde. Gerade aus dem Themenfeld der Emigrationen und ktiseis gibt es zwei gute Beispiele für den Versuch, lokale Ursprungstraditionen nicht nur mit der Frühzeit zu verbinden, sondern auch an die Gegenwart zu knüpfen: Sizilien und die Gründung Theras beziehungsweise Kyrenes. Thukydides betonte grundsätzlich die 26 Vgl. hierzu Clarke 2008: 58. 27 Herodot: II. 44 und VI. 47. 28 Ebd.: IV. 147. 29 Thomas 2001: 201. 30 Vgl. Bichler 2004: 209 und 215. 31 Vgl. hierzu Ulf 1996 und Hall 2002: 56-89. 32 Nicht zu Unrecht wird in den Genealogien eine Vorform des historischen Denkens vermutet. Vgl. etwa Fowler 2001: 101-105 und Bertelli 2001.
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Posteriorität des Beginns der eigentlichen hellenischen Besiedlung Siziliens in Bezug auf den Trojanischen Krieg, schließt sie also explizit aus dieser frühen Vergangenheitsebene aus (wohingegen vorangegangene Besiedlungen, wie etwa jene der Elymer und Phoker wiederum in direkter Relation zum Trojanischen Krieg gestanden hätten). In seinem Sizilien-Exkurs wird die erste Ankunft der Hellenen nur in eine vage zeitliche Relation zur Frühzeit gesetzt: 300 Jahre nach den Sikelern, deren Ankunft zwar nach dem Trojanischen Krieg erfolgt sei, jedoch zeitlich nicht genauer mit diesem verknüpft wurde. Die Besiedlung durch die Hellen wurde gleichzeitig mittels eines verklausulierten Konglomerats an relativen Chronologien mit der jüngsten Vergangenheit verbunden: Es findet seinen Anknüpfungspunkt an die Zeitgeschichte mittels der Eroberung Megara Hyblaias durch Gelon von Syrakus. 33 Dank des späteren Historikers Dionysios von Halikarnassos (1. Jh. v.Chr.) sind einige andere Äußerungen zur Überfahrt der Sikeler überliefert: Hellanikos von Lesbos setzte sie in die dritte Generation und Philistos von Syrakus in das 80. Jahr vor dem trojanischen Krieg.34 Ephoros von Kyme hingegen klinkte die Ankunft der Hellenen selbst in die Frühzeit ein: Die Gründung von Naxos und Megara sei in der 10. Generation nach dem Trojanischen Krieg erfolgt.35 Die Überfahrt (und somit die Namensgebung der Insel!) und die Ankunft der Hellenen waren somit die zentralen lokalen Ereignisse, die es zu synchronisieren galt. Im Rahmen der Schilderungen der Gründungen Theras und Kyrenes erfolgte in ersterem Fall keine nähere zeitliche Verortung, sondern lediglich eine vage genealogische Verbindung mit der Gründung Kyrenes: Es war Grinnos, ein Nachkomme des Theras, der in Delphi das entscheidende Orakel zur Gründung Kyrenes erhalten habe, wobei nicht angegeben wird, wie viele Generationen zwischen Theras und Grinnos lagen.36 Hingegen wurde die Besiedlung Kyrenes mittels der Herrscherchronologie der Battiaden mit der Zeitgeschichte verknüpft. Und um dies noch in einen übergeordneten Zeit-Zusammenhang zu stellen, wurde schließlich diese Chronologie von Herodot im Rahmen seiner Schilderung des erneuten Zuzugs aus Griechenland mit der ägyptischen Pharaonenliste (Pharao Apries) in Verbindung gebracht.37 Kyrene wäre also ein Fall, wo mittels lokaler Chronologien eine lineare Verknüpfung von
33 Thukydides: VI. 4. 2. Vgl. Bichler 2004: 223f. und 237f. und Hall 2008: 405-408 zu den Problemen mit den Generationenzählungen. Zur Vermutung, dass Thukydides seine Gründungsdaten zu Sizilien aus dem verlorenen Werk des Antiochos von Syrakus bezogen hat vgl. Pearson 1987: 14f. und Hornblower 2008: 272-278. 34 Hellanikos von Lesbos FGrHist 4: F 79b und Philistos von Syrakus FGrHist 556: F 46 apud Dionysios von Halikarnassos: I. 22. 35 Ephoros von Kyme FGrHist 70: F 137a apud Strabon: VI. 2. 2. 36 Vgl. hierzu auch Calame 2011: 216f. 37 Vgl. Bichler 2004: 212-16, besonders 214, und 216.
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Ursprung und Gegenwart ermöglicht worden ist, für das weiter zurückliegende Ereignis der Gründung Theras hingegen gab es keinen Anhaltspunkt, um es in ein übergeordnetes Chronologisierungsschema einzuordnen. Der überwiegende Teil der Aussagen zu Gründungen ab der mittleren Vergangenheitsebene, und das gilt nicht nur für die Werke von Herodot und Thukydides, bietet keine derartige chronologische Verknüpfung mit der Zeitgeschichte.38 Das öffnet Raum für Spekulationen: Gab es in diesen Fällen keine Möglichkeiten der Einordnung in das übergeordnete chronologische Raster, weil allfällige floating gaps (noch) nicht fixiert werden konnten? Oder wurde eine tatsächlich verfügbare Information zur chronologischen Einordnung fallweise weggelassen, da sie für das konkrete Narrativ irrelevant war? Es kann wohl nur für jeden Einzelfall separat entschieden werden, ob es sich um eine nachträglich erstellte chronologische Verortung gehandelt hat, oder ob sie ein bereits bestehender Teil einer Tradition war, auf die der Autor der erhaltenen Äußerung zurückgegriffen hat. Von der Mittelzeit kann eine dritte, zeithistorisch-zeitgenössische Ebene unterscheiden werden. Diese ist gekennzeichnet durch die hellenische Erfahrung des Eintretens in die Interessenssphäre des persischen Reichs – eines der Hauptthemen des herodoteischen Geschichtswerks. Thukydides wertete die jüngste Vergangenheit bis herunter zu den Perserkriegen insofern als Einschnitt, als aus diesen Ereignissen zwei hegemoniale politische Einheiten (Athen und Sparta) hervorgingen. Zudem hätten sie eine neue Ära eingeleitet, da sich die Hellenen nunmehr »um die mächtigsten Staaten als Untertanen« gruppiert hätten und »auswärtige Feldzüge, fern der eigenen Heimat zur Unterwerfung anderer« unternommen werden konnten. Diese zeithistorische Ebene deckt sich mit dem auf soziale Interaktion innerhalb der lebenden Generationen aufbauenden kommunikativen Gedächtnis, wie es von Jan Assmann konzipiert wurde.39 Aus einer ethnologisch-anthropologischen Perspektive wird dieses etwa drei Generationen plus ein, bis zwei vorhergehende Generationen umfassende Fenster als jener Zeitrahmen angesehen, der eine relativ stabile Tradierung von Vergangenheitsinformationen gewährleisten würde. Ab dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die – positiv formuliert – gestalterischen Mechanismen der oral tradition auf Vergangenheitsnarrative eingewirkt haben.40
38 Vgl. zu Herodot: Bichler 2004: 216f. Auch Antiochos von Syrakus scheint sich, gemessen an den erhaltenen Aussagen, ähnlich wie Herodot relativer Datierungen bedient zu haben: Nach Großereignissen (Taras wird etwa relativ datiert über den Messenischer Krieg: FGrHist 555: F 13 apud Strabon: VI. 3. 2) oder zentralen Persönlichkeiten. 39 Siehe Assmann 1992: 48-55. 40 Vgl. hierzu Thomas 1992: 112. Grundlegend: Vansina 1985: etwa 192f.
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jeux de verité im Umgang mit Vergangenheitstraditionen Neben der Einordnung der mythischen Sphäre in einen kontinuierlichen historischen Ablauf ergab sich die Herausforderung, Ordnung in diese »vielfältigen« und »lächerlichen« Vergangenheitstraditionen zu bringen und sie hinsichtlich ihrer historischen Zuverlässigkeit zu bewerten. Grundbedingung hierfür war, dass die mythische Sphäre durch die Eingliederung in ein historisches Kontinuum potentiell ihrer transzendenten Qualität entledigt wurde.41 Die allegorischen Modi der Referenz konnten zu Gunsten eines Versuchs, den Wortsinn zu deuten, ausgeklammert werden: Die mythische Sphäre stand zur Disposition einer Befragung hinsichtlich ihrer Richtigkeit. War der Dichter der Archaik das Medium, durch den die Musen sprachen – Paul Veyne spricht von der Autorlosigkeit als Kennzeichen des Mythos, durch den er seine Autorität erhält42 – so bezogen die antiken Historiker den Wahrheitsanspruch ihrer logoi aus anderen Quellen, nicht zuletzt dem Qualitätsanspruch ihres persönlichen ordnenden Eingriffs. Zumindest in den Augen der antiken Historiker spielte die handwerkliche Kompetenz des Historiographen eine wichtige Rolle: Es galten die Prinzipien der Sachlichkeit, der methodischen Sorgfalt, aber auch ein ethisches jeu, dass die Redlichkeit des Historiographen betraf.43 Eine Folge der zeitlichen Bipolarität im verfügbaren Material zwischen mythischer Sphäre/Ursprungszeit und jüngster Vergangenheit war eine gewissermaßen methodisch basierte Unterscheidung in eine weiter zurückliegende Vergangenheit und eine durch Autopsie verifizierbare unmittelbarere Vergangenheit:44 Gegebenheiten, welche beispielsweise Herodot persönlich erleben und überprüfen konnte, hatten demnach einen höheren Wahrheitswert, als ihm zugetragenen Berichte. Der ägyptische logos gibt hierfür ein instruktives Beispiel. An einer Stelle bemerkt Herodot: »Was ich bisher erzählt habe, beruht auf eigener Anschauung oder eigenem Urteil oder eigener Erkundigungen. Nunmehr will ich mitteilen, was ich von der ägyptischen Geschichte erfahren habe.«45 Auch Thukydides betonte die Unzuverlässigkeit der tradierten logoi zu früheren Zeiten und unterscheidet seine sachliche Untersuchung von einer unreflektierten (abasanistos) Wiedergabe.46 Beide Historiker befinden sich somit in der Rolle des Telemach angesichts der Geschichten zur Vergangenheit: Es galt eigene Untersuchungen anzustellen – das Verb »historeō« bedeutet nicht umsonst im engeren Sinne »fragen, forschen«:
41 Vgl. zu diesem Prozess auch Gehrke 2014. 42 Veyne 1983: 34. Vgl. zur Autorität von mythos und logos Lincoln 1999: 3-43. 43 Vgl. Veyne 1983: 26 und Marincola 1997: 63-85. 44 Zur Autopsie siehe Marincola 1997: 63-85. 45 Herodot: II. 99. 46 Thukydides: I. 20. 1.
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»Wer aber nach den angeführten Zeugnissen [tekmēria] die Ereignisse sich doch etwa so vorstellt, wie ich sie berichtet habe, wird kaum fehlgehen. Er wird nicht blindlings den Dichtern [poiētai] glauben, die in ihren Hymnen alles mit höherem Glanze schmücken, noch den Geschichtenschreibern [logographoi], die in ihren Berichten mehr auf die Befriedigung der Hörlust achten als auf die Wahrheit – es handelt sich ja um unbeweisbare Dinge [onta anexelegkta], die zum Großteil durch die Zeit ins Unglaubwürdige [apistos] und Sagenhafte [mythōdēs] entartet sind; vielmehr wird er meinen, sie seien nach ihren sichtbaren Merkmalen [epiphanestaton sēmeion] für ihr Alter hinreichend genau erforscht worden.«47
Ein gutes Beispiel für dieses Verhältnis zur Vergangenheit ist etwa der ThukydidesExkurs zur Geschichte Siziliens. Die früheste Geschichte, also die homerischen Kyklopen und Laistrygonen, überlässt Thukydides den Dichtern: »Es möge genügen, wie es von den Dichtern [poiētai] berichtet ist und wie jeder darüber denken will.«48 In diesem Fall wird kein Versuch unternommen, die mythische Sphäre in ein historiographisches Narrativ einzubauen: Thukydides konstatiert den transzendenten Status dieser Ereignisse, da sie nicht widerlegbar (anexelenktos) sind. Diese skeptische Haltung konnte jedoch in der Praxis oftmals nicht durchgezogen werden, gab es doch ein manifestes Interesse an der Vergangenheit, und gerade an der weit zurückliegenden Ursprungszeit. Es darf nicht vergessen werden, dass wir für die Untersuchung der historiographischen Praxis der klassischen Zeit nur jene Historiker zur Verfügung haben, die primär zeithistorische Werke mit nur kursorischen Ausflügen in weiter zurückliegende Zeiten verfasst haben. Andere, nur fragmentarisch erhaltene Autoren wie Hekataios oder Hellanikos hatten weniger Berührungsängste mit archeologiai. Mittels welcher jeux de vérité versuchten nun Geschichtsschreiber den Traditionen die Wahrheit zu entlocken? Das wohl zentralste Mittel bestand in der Rationalisierung von tradierten mythischen Vergangenheitsnarrativen. Das bedeutet, dass die – aus der antiken Perspektive – irrealen Elemente extrahiert wurden, was etwa aus den mythisch/heroischen Figuren der Frühzeit ›normale‹ historische Akteur_innen machte. Kritik erfolgte an den Details, der Handlungsstrang an sich blieb bestehen. Hiermit kam das jeu der Übereinstimmung ins Spiel: Wahr konnte sein, was sich angesichts der Erfahrung beziehungsweise des Wissens der Gegenwart bestätigen ließ.49 Sodann sollten die tekmēria/Zeugnisse umfassend gesichtet und abgewogen werden. Im Sinne eines jeu der Kohärenz, das durch die Gegenüberstellung verschiedener Traditionen erst notwendig wurde, warfen Widersprüche ein Problem auf. Hier gab es unterschiedliche Möglichkeiten: Entweder wurden widersprüchliche Versionen von vergangenen Ereignissen nebeneinanderstellt, ohne eine Präferenz zu äußern. 47 Thukydides: I. 21. 1. Vgl. hierzu Calame 2011: 64-66. 48 Ebd.: VI. 2. 1. 49 Vgl. Veyne 1983: 63f. und 72-80.
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Ein für die vorliegende Untersuchung relevantes Beispiel dafür ist Herodots Bearbeitung der Gründungserzählungen Kyrenes, wo es auf Thera und in Kyrene selbst differierende Ansichten gegeben haben dürfte.50 Herodot wahrte somit eine gewisse Distanz zur Tradition: »Doch ist meine Pflicht, alles, was ich höre, zu berichten, freilich nicht, alles Berichtete zu glauben.«51 Andererseits konnte ein Vergangenheitsnarrativ veri- oder falsifiziert werden, je nachdem ob es dem Wissen zu den Zeitumständen entsprach oder nicht.52 Umso besser war es natürlich, wenn sich solche Erzählungen zusätzlich mittels Autopsie belegen ließen. Nehmen wir wiederum ein – zugegebenermaßen plakatives – Beispiel aus Herodots ägyptischem logos, um dies zu verdeutlichen: »Eine Stelle in Arabien gibt es, in der Nähe einer Stadt Buto gelegen, dahin bin ich gefahren, um Kunde einzuziehen. Es soll dort nämlich geflügelte Schlangen geben. Da sah ich denn Knochen und Gräten von Schlangen, mehr als ich beschreiben kann. Ganze Haufen von Rückenknochen lagen dort, große, kleinere und noch kleinere, in großer Zahl.«53
Weitere »sichtbare Merkmale« für wahre Erzählungen betrafen sprachliche Spuren: Nach Thukydides waren die ersten realen Bewohner Siziliens die Sikaner. Obwohl sie sich selbst als Ureinwohner angesehen haben sollen, sieht es Thukydides als »Tatsache« an, dass sie Iberer gewesen seien, und vom Sikanosfluss durch die »Ligyer« nach Sizilien vertrieben worden seien.54 Womit konnte Thukydides in diesem Fall argumentieren? Möglicherweise aufgrund der Namensgleichheit Sikaner – Sikanosfluss. Der Vorgang, die Sikaner in Sizilien mit dem Sikanosfluss in Iberien zu verbinden, schien ein zulässiges Schlussverfahren gewesen zu sein. Ein ähnliches Argument verwendete Herodot, wenn er annimmt, dass »Battos« eigentlich nicht der ursprüngliche Name des Gründers von Kyrene gewesen sei, sondern er diesen Namen erst erhalten habe, als er zum König in Libyen durch die Pythia auserkoren worden sei, da »Battos« auf lybisch König heißen würde.55 Namen konnten somit als Metapher gelesen werden, die Hinweise auf die Geschichte oder den Ursprung des durch sie Bezeichneten enthalten konnten. Das beste Beispiel hierfür sind eponyme Gründerfiguren: Ein Ortsname konnte somit den Verweis auf seinen Ursprung und seine Geschichte enthalten. Im Fall der Bezeichnung »Battos« hatte der Name zudem noch eine teleologische Funktion, da er bereits auf das Schicksal des Trägers verwies.
50 Herodot: IV. 150-58. 51 Ebd.: VII. 152. 52 Thukydides exemplifiziert diese Methode unter I. 20. 53 Herodot: II. 75. 54 Thukydides: VI. 2. 2. 55 Herodot: IV. 155.
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Dies berührt einen zentralen Aspekt der Vergangenheitswahrnehmung: Die Aitiologie, die Erklärung gegenwärtiger Zustände über ihre Vergangenheit beziehungsweise ihren Ursprung. Das konnte auch für Gründungserzählungen gelten: Sie nahmen bereits die Natur der Siedlung, wie sie aus der zeitgenössischen Warte gesehen wurde, vorweg und waren somit teleologisch. Eine aitiologische Erzählung hatte, wenn sie einen Umstand plausibel erklären konnte, bereits a priori einen gewissen Wahrheitswert, weshalb in diesem Sinn von einem aitiologischen jeu de verité gesprochen werden kann. Der sichtbare Beleg für ein solches Narrativ existierte schließlich in der Gegenwart – die Beweislast lag daher beim Skeptiker und tatsächlich waren diese logoi, sofern plausibel, unwiderlegbar (anexelenktos). Der Historiker, der Poet, das Publikum Die in der Äußerung von Platons Hippias anklingende Beliebtheit von archeologiai – Ursprungserzählungen – erklärt wohl Thukydides’ Frustration angesichts der logoi der Poeten und der von ihm despektierlich als »Logographen« (Geschichtenschreiber) bezeichneten Autoren: Die Meisten würden jede gehörte Überlieferung ungeprüft (abasanistos) akzeptieren.56 Wie bereits betont, war seine Rigorosität im Umgang mit der Tradition eher eine Minderheitenposition innerhalb der verschiedenen Möglichkeiten sich zur Vergangenheit zu äußern.57 Thukydides nennt neben den Logographen wohl nicht auch zufällig die Poeten als Konkurrenz: Auch diese bedienten das Interesse nach Vergangenheitsnarrativen. Historiographen zogen aus dem Umstand, dass sie sich gewissen methodischen und auch ethischen Zwängen unterwarfen, den Anspruch, zutreffender über die Vergangenheit zu berichten. Ein weiterer Unterschied lag auch im Zweck der jeweiligen Vergangenheitsdarstellungen. Maria Pavlou bemerkt etwa zum Poeten Pindar: »[W]e must not forget that Pindar’s aim and primary concern are to provide not an accurate but a ›usable‹ account of the past, an account that would meet the expectations of his laudandus and audience. This is not to say that his claims about the truthfulness of his poetry are merely a pretence, but rather that the ultimate yardstick against which he chooses what to remember and what to forget is not truthfulness but ›appropriateness‹.«58
Tatsächlich konnte auch Pindar eine kritische Position zu Vergangenheitstraditionen einnehmen und wie in seiner 7. Olympischen Ode betonen, dass er die verfügbaren
56 Thukydides: I. 20. 57 Siehe hierzu etwa Patterson 2010: 22-27 und Veyne 1983: 32. 58 Pavlou 2012: 110.
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Traditionen korrigieren (diorthoō) würde.59 Es muss davon ausgegangen werden, dass Historiker prinzipiell keine besseren Wissensquellen hatten. Bei der Befragung des Materials waren sie zudem denselben diskursiven Formationen, den Maßstäben des Sagbaren, unterworfen, wie die Verfasser anderer Genres von Vergangenheitsnarrativen. Sie waren allerdings aufgrund des ethischen jeu sicherlich bemühter, die »vielfältigen logoi« objektiv abzuwägen und Belege und Argumente zu suchen. Den Historiographen deshalb a priori einen exklusiveren Zugang zuzugestehen, birgt jedoch die Gefahr, zu sehr auf ihre selbstaffirmative Hervorhebung des ethischen jeu zu vertrauen. Der springende Punkt ist, dass Wissen zur Vergangenheit eine immense soziokulturelle Bedeutung hatte – man denke gerade an die Rolle der Ursprungserzählungen. Historische Narrative entstanden nicht im luftleeren Raum, sondern richteten sich an ein Publikum, Machthaber und/oder eine soziale Gruppe als Träger eines kollektiven Gedächtnisses, für die Vergangenheit Sinn und Identität stiften musste. Dies bedingte einen aktiven Dialog mit Vergangenheitstraditionen, denen sich auch Historiographen nicht entziehen konnten. Vergangenheitsdarstellungen umfassten somit sowohl die Wiedergabe des verfügbaren Wissens als auch die Einspeisung von Modifikationen in das kollektive Gedächtnis. Welche der erhaltenen Quellenäußerungen welchem dieser Pole angehörten, lässt sich aus der modernen Retrospektive kaum beantworten. Dies berührt des Weiteren die Frage, warum etwa bestimmte logoi zu bestimmten Zeiten Erfolg hatten, also weitertradiert wurden. Auch hierzu lassen sich nur annäherungsweise Antworten geben, da wir nur über Standbilder eines laufenden Prozesses der Deutung und Tradierung von historischem Wissen in Form der erhaltenen Quellen verfügen. Die dahinterliegenden Mechanismen lassen sich nur erahnen. Fest steht, dass sich durch einen historiographischen Blick auf die Vergangenheit insgesamt ein Spannungsfeld mit der nach wie vor gesellschaftlich relevanten Funktion der Vergangenheit als Ursprungszeit ergab. Die Anderen Bei der Repräsentation der Anderen konnte sowohl auf Exklusion/Differenz, als auch auf Inklusion über eine genealogische Verknüpfung zurückgegriffen werden. Durch Raumeinbindungsfiguren konnten Räume oder ethnē außerhalb der Ägäiswelt mittels einer der mythischen Sphäre zugehörenden Figur in das eigene Weltbild eingeordnet werden.60 Es bestand somit die Möglichkeit, hellenische Ursprünge zu postulieren, was etwa die iapygischen Messapier betraf, welche in Kämpfe mit Tarent verwickelt
59 Pindar 7. Olympische Ode: 21. Siehe auch Vöhler 2005 zu Pindars »Mythenkorrekturen« in der 1. Olympischen Ode und Pavlou 2012: 106-12 zu Pindars Position zur Tradition. 60 Vgl. hierzu etwa Malkin 1998: 1-5 oder Hall 2005.
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waren. Diese wurden als Nachfahren der Kreter angesehen: Herodot spricht hier expressis verbis von Kämpfen zwischen Hellenen.61 Dennoch sollte sich im Verlauf der klassischen Zeit verstärkt eine Dichotomisierung in Hellenen und »Barbaren« primär aufgrund zugeschriebener soziokultureller Eigenschaften bemerkbar machen.62 Bei Herodot findet sich noch ein Oszillieren zwischen einer individuelleren Behandlung fremder Gruppen und abstrahierenden, generalisierenden Eigen- beziehungsweise Fremdbildern.63 Die von ihm abgehandelten Kontakte weisen oftmals noch eine große Bandbreite an Ausformungen ohne Rekurs auf eine generalisierende Exklusion auf. Und im Fall der Ionier kritisiert er offen eine Identitätskonstruktion, die auf eine lineare, hellenische Abstammung aufbaute.64 Gerade aus einer athenischen Perspektive nahm jedoch die Hellenen-Barbaren-Dichotomisierung zu, was sich etwa deutlich in der Ideologie des Attisch-Delischen Seebunds manifestierte, der sich dem Kampf gegen die Barbaren verschrieben hatte. Besonders ab der Wende zum 4. Jh. v.Chr. wurde dieses Denkschema virulent, was die Wahrnehmung der Kontaktmöglichkeiten mit den Anderen aufgrund eines Überlegenheitsgefühls der Hellenen verengte.65 Dies verdeutlichen etwa Äußerungen von Xenophon und Isokrates (436-338 v.Chr.) hinsichtlich erstrebenswerter Gründungen im kleinasiatischen Raum:66 Xenophon befand, dass mit einer neuen Kolonie »Land und Macht für Hellas« zu gewinnen sei,67 natürlich auf Kosten der Barbaren. Besonders ausgeprägt ist dieses dichotomisierende Denken in den Aufrufen des Isokrates zur Eroberung und Besiedlung Thrakiens oder Kleinasiens. Diese wurde zwar als panhellenische Unternehmung gegen die Barbaren propagiert, was auch die Einigkeit unter den Hellenen wiederherstellen sollte, allerdings unter der Federführung Athens, das sich ja bereits früher als Eroberin von »Kolonien« hervorgetan hätte.68 Dies steht sinnbildlich für die
61 Herodot: VII. 170. Im Gegensatz dazu schrieb Antiochos von Syrakus (FGrHist 555: F 13 apud Strabon: VI. 3. 2) von friedlichen Verhältnissen zwischen Messapiern und Taras. 62 Zur Geschichte des Barbarenbegriffs als Gegenentwurf zu den Griechen siehe grundlegend Vlassopoulos 2013. 63 Man denke etwa an die Abgrenzung der Hellenen in der Rede der Athener: Herodot: VIII. 144. Vgl. etwa Hall 1997: 44f. und 2002: 181f. 64 Siehe hierzu im Detail Mac Sweeney 2013: 75-79. 65 Vgl. Saïd 2001, Hall 2002: 205-220 und Vlassopoulos 2013: 190-200. Für Versuche alternative Sichtweisen zu dieser Dichotomisierung, gerade außerhalb Athens, ausfindig zu machen siehe Mac Sweeney 2013 und Vlassopoulos 2013: 161-225, der in dieser Dichotomisierung nur ein mögliches »repertoire« in der Darstellung der Anderen sieht. 66 Vgl. hierzu Figueira 2008: 483-486. 67 Xenophon Anabasis: V. 6. 15. Vgl. grundsätzlich zu Xenophon: Hall 2002: 210f. 68 Isokrates Panathenaikos: 42-48, 164-167, 189-191 und Panegyrikos: 34-37; vgl. hierzu Saïd 2001: 270f. und 280f. und Hall 2002: 207-210.
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ideologische Funktion der Dichotomie, die, gerade wenn die Realpolitik Kooperationen mit den Persern erforderte, ebenso rasch wieder deaktiviert werden konnte.69 »Ferner streiten manche in den Volksversammlungen über hinterlegtes Geld oder beschimpfen die Bundesgenossen oder verleumden alle, die ihnen gerade in den Sinn kommen, während ich wegweisend wurde für Reden, die die Griechen zu gegenseitiger Eintracht und zu einem Feldzug gegen die Barbaren ermuntern. Diese Reden raten uns, Kolonien [apoikiai] in ein so großes Land von vorzüglicher Beschaffenheit auszuschicken, daß alle, sobald sie davon gehört haben, zustimmen würden, daß wir, wenn wir vernünftig sind und unserem wahnsinnigen Verhalten zueinander ein Ende machen, mühelos und ohne Gefahren in den Besitz dieses Landes kommen könnten, welches alle unter uns, die Mangel am Nötigsten leiden, ohne Schwierigkeiten aufnehmen dürfte. Niemals könnten wir, selbst wenn alle zusammen sich auf die Suche machten, bessere, bedeutendere und für uns alle nützlichere Unternehmungen ausfindig machen.«70
Die »vielfältigen logoi« eröffneten somit auch Spielräume zur Unterfütterung für Eigen- und Fremdkonstruktionen, die manchmal auch in den Augen des zeitgenössischen Publikums einen offensichtlich ideologischen Charakter haben konnten – man denke auch an Herodots Kritik an der Anmaßung der Ionier –, manchmal aber auch eine tiefere Wirkung auf das kollektive Gedächtnis hatten.71
I.2.2 DIE ELEMENTE DER AUSSAGENEBENE I.2.2.1 Die Darstellung der Emigrationen der Ursprungszeit Emigrationen und Ursprung Nach Thukydides befand sich Hellas ursprünglich in Bewegung, wobei sich die bereits in den Quellen der Archaik greifbaren drei Grundtypen von Migration unterscheiden lassen. Erstens wanderten Gruppen als Ganzes, »wenn sie von den jeweils Mächtigeren bedrängt wurden«.72 Diese Vorstellung, dass es eine Zeit von Wanderungen gab, bevor sich ein Siedlungsraum konsolidierte, traf nicht nur auf Griechenland selbst zu, sondern wies einen universellen Charakter auf. Sie findet sich auch in Thukydides’ Sizilien-Exkurs, wo die Migrationen der Sikaner und Sikeler durch die Vertreibung durch andere Gruppen ausgelöst wurden. Thukydides widersprach somit 69 Vgl. etwa Figueira 2008: 463f. 70 Isokrates Panathenaikos: 13f. Vgl. zu dieser Position auch Über den Frieden: 22-24 und Philippos: 120. 71 Siehe etwa auch Aristophanes’ satirischen Blick auf ähnliche Verwendungen der Vergangenheit: Henderson 2012. 72 Thukydides: I. 2.
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explizit der Behauptung der Sikaner, autochthon zu sein.73 Auch die auf Sizilien ansässigen Elymer seien eigentlich Troer,74 gemäß Hellanikos hingegen seien sie aus Italien vertrieben worden.75 Vergleichbares lässt sich für andere Räume des westlichen Mittelmeeres ausmachen: Die Tyrrhener (Etrusker) wurden mit einer Herkunft aus dem östlichen Mittelmeer versehen. Nach Hellanikos waren es aus Griechenland vertriebene Pelasger76, nach Herodot war die Hälfte des lydischen Volkes aufgrund einer Hungersnot ausgewandert, und zwar unter der Führung des eponymen Königssohnes Tyrsenos.77 Wenn also ein ethnos in seiner Gesamtheit emigrierte, kamen als logische Auslöser nur Ereignisse wie Verdrängung oder Naturkatastrophen in Frage. Zweitens gab es Erzählungen, die die Wanderungen von heroischen Einzelpersonen thematisierten. Die Ursachen für ihre Emigrationen waren in ihren persönlichen Schicksalen zu finden. Dies betraf etwa Flucht, Verbannung oder Sühne. Zwei weitere Beispiele seien angeführt: Akarnanien wurde durch Alkmeon besiedelt, dessen Sohn Akarnan dem Land seinen Namen gegeben habe. Apoll wies ihn dorthin, nachdem er seine Mutter ermordet hatte.78 Die Besiedlung von Tenedos wurde durch Aristoteles folgendermaßen geschildert: »Die Insel Tenedos wurde anfangs Leukophrys genannt, später, vor dem trojanischen Krieg, besiedelte sie Tennes, der sich mit seinem Vater entzweit hatte. Man sagt, daß er, von der Stiefmutter verleumdet und von einem Flötenspieler mit einer Falschaussage bezichtigt, sie vergewaltigt zu haben, vom Vater Kyknos in eine Kiste eingesperrt und ins Meer geworfen, unversehrt zu dieser Insel gelangte.«79
Dieses Beispiel bringt einen weiteren Aspekt ins Spiel, der in der Antike von großer Relevanz war: Die Frage nach der Etymologie von Ortsnamen. Diesen aus der Vergangenheit herzuleiten war eine Spielart des aitiologischen jeu. Hierbei gab es einen relativ großen Spielraum: Ein Ortsname konnte eine bestimmte Herkunft ausdrücken, wie etwa im Fall von Megara Hyblaia auf Sizilien, das auf das peloponnesische Megara als mētropolis verwies. Alternativ konnte eine namentliche Verknüpfung mit einer Figur der mythischen Sphäre bestehen, was ebenfalls die Herkunft und somit eine identitätsstiftende Verortung vermittelte. Wie im obigen Zitat dienten hierzu 73 Thukydides: VI. 2. Ebenso Hellanikos von Lesbos FGrHist 4: F 79b und Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 4 apud Dionysios von Halikarnassos: I. 22 sowie Ephoros von Kyme FGrHist 70: F 136 apud Strabon: VI. 2. 4. 74 Thukydides: VI. 2. 3. 75 Hellanikos von Lesbos FGrHist 4: F 79b apud Dionysios von Halikarnassos: I. 22. 76 Ebd.: F 4 apud Dionysios von Halikarnassos: I. 28. 77 Herodot: I. 94. 78 Thukydides: II. 102. 5f. 79 Herakleides-Epitome: 7. 22.
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manchmal Figuren, die außerhalb des lokalen Kontextes keine Rolle spielten und von denen oftmals kaum mehr bekannt ist als ihre Herkunft (und wenn doch, dann orientierten sich biographische Hinweise an gängige narrative Topoi80). Ihre Existenz verdanken sie wahrscheinlich meist der aus der Retrospektive angewandten aitiologischen Logik: Es musste einmal einen Tennes gegeben haben, sonst könnte Tenedos nicht so heißen. In anderen Fällen scheinen überregional bekannte Raumeinbindungsfiguren in Ortsnamen auf, so gibt es beispielsweise viele »Herakleias«. Die 10.000 griechischen Söldner des Kyros des Jüngeren passierten auf ihrem Rückmarsch nach der verlorenen Schlacht von Kunaxa (401 v.Chr.) unter Xenophon etwa ein Herakleia Pontike, eine polis an der südlichen Schwarzmeerküste, welche näher bezeichnet wurde als Ort, »[…] wo Herakles der Sage nach um den Kerberos in die Unterwelt hinabgestiegen ist; dort zeigt man auch heute noch als Zeichen seines Abstieges den Abgrund, der mehr als zwei Stadien tief ist«81. Die polis wurde zwar nicht durch den Heros gegründet, auf ihrem Territorium habe er früher allerdings eine seiner Taten vollbracht. Ein solcher Bezug konnte als Legitimation einer späteren Besiedlung dienen: Ein Beispiel hierfür ist die (gescheiterte) Inbesitznahme von Eryx auf Sizilien durch den Spartaner Dorieus unter Berufung auf eine frühere Landnahme durch Herakles.82 Des Weiteren konnten Ortsnamen verstanden werden als Betonung besonderer Aspekt der Vergangenheit oder als Verweis auf lokale Elemente. Erneut sei Megara Hyblaia mit dem Verweis auf den lokalen König Hyblon, der das Land zur Verfügung stellte, als Beispiel genannt. Und hinsichtlich Rhegions findet sich die Behauptung, dass der Name von einem einheimischen Heros stammte.83 Es konnte sich auch um topographische Benennungen handeln: Beispiele auf Sizilien waren Gela, benannt nach dem Fluss Gelas, und Akragas, das ebenfalls nach einem Fluss benannt worden ist, sowie Zankle, das den sikelischen Namen für Sichel erhalten haben soll, weil der besiedelte Ort sichelförmig war. 84 Ein interessanter Sonderfall war der Ortsname Emporion (im heutigen Spanien gelegen), da hiermit eine bestimmte Funktion des Ortes impliziert worden sein könnte: Ein emporion war ein Ort, an dem Handel stattfand. Zwischen den beiden Polen der Emigration ganzer Völker und dem Umherziehen von Heroen gab es noch einen dritten Weg, wie das Beispiel des Tlepolemos zeigte:85 80 Um das Beispiel des Tennes zu nehmen: Der narrative Topos von einer Tochter, die aufgrund eines verleumderischen Unzucht-Vorwurfs vom Vater dem Meer überlassen wird, findet sich auch in Herodots (IV. 154) Wiedergabe der kyrenischen Darstellung der Geschichte des Battos. 81 Xenophon Anabasis: VI. 2. 2. 82 Herodot: V. 39-48. 83 Herakleides-Epitome: 26. 55. 84 Thukydides: VI. 4. 85 Siehe auch Pindar 7. Olympische Ode: 20-32.
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Eine heroische Figur konnte zusammen mit einer begrenzten Gruppe emigrieren. Innerhalb dieser Hybridform gibt es verschiedene Ausformungen, die sich entweder mehr dem einen, oder dem anderen Pol zuneigen. Der Zug der Dorier unter den Herakliden geht mehr in Richtung der Wanderung von ethnē. Ein ähnliches Beispiel ist in einem Fragment aus einem Periplus, einer »Umschiffung« im Sinne einer Küstenbeschreibung, aus der Mitte des 4. Jh. v.Chr., der konventionellerweise als »PseudoSkylax« zitiert wird: Die illyrischen Hyller behaupteten, von Hyllos, dem Sohn des Herakles, angesiedelt worden zu sein.86 Für eine heroische Gründerfigur, die die Emigration einer Gruppe führte, finden sich für die Ursprungszeit neben Tlepolemos noch andere Beispiele: Thukydides hob hervor, dass es auch auf dieser Vergangenheitsebene bereits Akteure gab, die aus einer Position der Stärke heraus nach außen hin tätig werden konnten. Der Erste, der sich mehr dem Seewesen verschrieben hatte, sei Minos gewesen. Durch seine Flotte konnte er die Kykladen besiedeln und »[a]uch das Seeräuberwesen beseitigte er, wie leicht zu vermuten, nach Kräften in weiten Teilen des Meeres, um seine Einkünfte zu erhöhen.«87 Minos fungierte somit als Kulturheros, denn durch die Befriedung des Meeres wurden nun auch Städte an den Küsten gegründet und durch den Aufschwung des Handels begannen einige Orte mächtiger zu werden. Minos konnte zudem auch als Raumeinbindungsfigur für den westlichen Mittelmeerraum eingesetzt werden: Zum einen unternahm er einen Kriegszug nach Sizilien, bei dem er ums Leben kam.88 Zum anderen gelangten nach seinem Tod heimsegelnde Kreter nach Süditalien und siedelten sich in der Nähe des späteren Tarents an.89 In diese Phase der Entwicklung fiel der Trojanische Krieg, 90 und somit auch weitere Fälle von Emigrationen unter der Ägide einer heroischen Figur: »Ja sogar nach dem Trojanischen Krieg gab es in Hellas Wanderungen [metanistēmi] und Neugründungen [katoikizō], sodass es nicht in Ruhe wachsen konnte. Denn die späte Rückkehr der Hellenen von Ilion führte zu manchen Unruhen, es gab in den Städten meist Bürgerkrieg, und die Verbannten gründeten [ktizō] neue Städte.«91
Dies betraf etwa Amphilochos, der, nachdem ihm nach seiner Rückkehr nach Argos die dortigen Zustände missfallen hatten, ein neues Argos in Amphilochien gegründet
86 Pseudo-Skylax: 22. 87 Thukydides: I. 4. Siehe auch I. 8. Bei der Beschreibung dieses Freibeuterwesens erweist sich Thukydides als genauer Leser Homers: Siehe besonders VI. 5. 2. 88 Herodot: VII. 170 und Aristoteles Politik: 1271b, 20-40. 89 Herodot: VII. 170. Anders dargestellt von Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 13 apud Strabon: VI. 3. 2. 90 Thukydides: I. 8f. 91 Ebd.: I. 12. 1f. Vgl. hierzu auch Platon Die Gesetze: 682e-683a.
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habe.92 Oder jene Elymer und Phoker, von denen Thukydides berichtete, dass es sie nach dem Trojanischen Krieg nach Sizilien verschlagen hatte.93 Diese verschiedenen Elemente umreißen die Bandbreite an Möglichkeiten, mit der die Ursprünge von poleis beziehungsweise das ethnische Setting bestimmter Räume rekonstruiert werden konnten. Wandernde ethnē und/oder Heroen ermöglichten ihre Verortung. Auf der mythischen Sphäre angesiedelte Erzählungen wurden somit nicht nur in eine chronologisch geordnete Vergangenheit eingereiht, sondern konnten auch der näheren Bestimmung von geographischen Räumen im westlichen Mittelmeer und im Schwarzmeergebiet dienen: Sie wurden zu Schauplätzen der Fahrten von Heroen. Neben dieser Verortungsfunktion konnte durch eine bis in diese Frühzeit zurückreichende Geschichte Autorität und Legitimität vermittelt werden. Gute Beispiele hierfür wären etwa die Berufung der Korkyraier auf die Phaiaken als erste Besiedler, wodurch sie sich von ihrer mētropolis Korinth distanzieren konnten.94 Oder auch Skione, das 423 v.Chr. zu Brasidas überlief mit dem Hinweis, dass sie eigentlich Pallener aus dem Peloponnes seien, deren Vorfahren auf der Rückfahrt von Troja dorthin verschlagen worden wären.95 Je nach Situation konnte die Geschichte eines Ortes somit flexibel in ein System von mythologischen Verweisen eingeordnet werden.96 ktisis Weil das Hauptinteresse der Aussagen zu den Emigrationen der Frühzeit in der Klärung der Herkunftsfrage bestand, gab es kaum nähere Informationen zu Gründungen im engeren Sinne oder gar zu Gründungsakten. Lediglich im Fall der zu Etruskern gewordenen Lyder werden organisatorische Details geschildert, etwa die Ermittlung der Emigranten mittels eines Losentscheids.97 Zweimal wird ein Apollo-Orakel erwähnt, und zwar in Pindars Verarbeitung des Tlepolemos-Stoffes und bei Thukydides’ Schilderung der Besiedlung Akarnaniens durch Alkmeon.98 In beiden Fällen geschah ein Mord und der Heros befragt Apollon nach einer Sühneleistung, welche auf die Besiedlung eines Landes hinausläuft.99 Im Fall des Tlepolemos ist auffällig, dass
92 Thukydides: II. 68. 3. 93 Ebd.: VI. 2. 3. 94 Ebd.: I. 25. 95 Ebd.: IV. 120. 1. 96 Vgl. etwa Ulf 2009c: 236-244. 97 Herodot: I. 94. 98 Pindar 7. Olympische Ode bzw. Thukydides: II. 102. 5f. 99 Vgl. zu diesem narrativen Muster grundsätzlich Dougherty 1993, die hierin das Grundschema von ktisis-Erzählungen ausmacht.
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bei Homers Schilderung kein Orakel vorkommt.100 Es war somit gemäß Pindars Darstellung nicht mehr die Entscheidung des Heros selbst, nach Rhodos zu flüchten, sondern diese Lösung wurde ihm vom Gott Apollon aufgetragen, der somit die Besiedlung initiierte. Aufgrund dieser signifikanten Änderung des Handlungsablaufs kann diese Diskrepanz nicht durch eine Weglassung dieser Information durch Homer erklärt werden: Es handelt sich folglich wahrscheinlich um eine spätere Anpassung des Stoffes. I.2.2.2 Die in der Mittelzeit angesiedelten Emigrationen Ursprung Das Gros der Aussagen aus der klassischen Zeit zu Emigrationen und Gründungen ist dieser mittleren Vergangenheitsebene zuzurechnen. Damit korrespondiert allerdings nicht automatisch die größte Informationsmenge, denn von diesen rund 70 Textstellen besteht nicht ganz die Hälfte aus der Formel »polis x ist die apoikia von y«. Dies trifft besonders auf die zeithistorischen Werke von Thukydides und Herodot zu, die zurückliegende Ereignisse nur kursorisch schilderten und dementsprechend die Informationen auf das Wesentliche beschränkten. Somit ist dieser Befund nicht ohne Aussagekraft, macht er doch erneut den Stellenwert des Faktors des Ursprungs deutlich. Bereits die Begrifflichkeiten gibt dies wieder: Auf die Implikationen des Terms »apoikia« wurde bereits eingegangen und auch im Begriff »mētropolis«, in dem »mētēr«/»Mutter« steckt, ist die Bedeutung der Herkunft angelegt. Die häufige Verwendung von Eltern-Kind-Metaphern bei der Darstellung des Verhältnisses von apoikia und mētropolis ist ein weiteres Indiz.101 Wenn die Aussagen zur mittleren Vergangenheitsebene weitere Informationen preisgeben, so betreffen sie meist den oikistēs. Dies war das nächstwichtigste Wissenselement in diesem Diskurs. Zum einen dürfte dies mit der Rolle des oikistēs als Organisator der Besiedlung zusammenhängen: Er war der Hauptverantwortliche für das Gelingen einer apoikia. Zum anderen war der oikistēs ein Hinweis auf den Ursprung einer apoikia. Sowohl die mētropolis als auch der oikistēs konnten folglich als Variablen im Spiel der Zuordnung einer apoikia dienen. Der Fall Epidamnos Für eine Rekonstruktion der Wahrnehmung von apoikiai der Mittelzeit lohnt es sich, die Ausführungen des Thukydides zum Konflikt zwischen Epidamnos und seiner mētropolis Korkyra im Detail zu betrachten. Aufgrund seiner zentralen Stellung in
100 Siehe auch Dougherty 1993: 123f. und Wilson 2006: 41-44. 101 Vgl. grundsätzlich Miller 1997: 246-257.
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seinem Geschichtswerk als konkreter Auslöser des Peloponnesischen Krieges widmete Thukydides dieser verfahrenen Situation viel Aufmerksamkeit.102 Ein zentrales Thema hierbei war der Widerspruch zwischen dem normativen Anspruch »alter Sitten« und der gelebten Praxis. Wie präsentierte er die Faktenlage? Ausgangspunkt war die Vertreibung der »Mächtigen« durch den dēmos in Epidamnos um 433 v.Chr. Die Vertriebenen verbündeten sich mit den illyrischen Barbaren und griffen Epidamnos an. Die Epidamnier wandten sich daraufhin an die mētropolis Korkyra um Hilfe, wurden aber abgewiesen. Thukydides lieferte keine Gründe hierfür und ließ diesen Befund unkommentiert. Im weiteren Verlauf der Schilderung wird allerdings ersichtlich, dass er dies als ersten Fehltritt Korkyras wertete. Thukydides schrieb, dass der nicht namentlich genannte oikistēs von Epidamnos gemäß einer »alten Sitte« (palaios nomos) aus der mētropolis von Korkyra, also Korinth geholt worden sei.103 Des Weiteren fügte er hinzu, dass auch Korinther und andere Dorier unter den Siedlern waren. Diese »alte Sitte« ermöglichte es nun den Epidamniern, sich den Korinthern zuzuwenden: Sie holten sich die Bestätigung durch das Orakel von Delphi, die Korinther als Gründer anzusehen. Dieser Wechsel der mētropolis war somit dreifach legitimiert: Wegen des aus einer »alten Sitte« beruhenden korinthischen oikistēs, der Anwesenheit korinthischer apoikoi sowie mittels des Orakelspruchs. Korinth akzeptierte diese Rolle, einerseits gemäß Thukydides aufgrund ihrer Beteiligung an der ktisis zu Recht (dikaios), aber andererseits auch, weil sie die Korkyräer »haßten«. Diese würden sie nämlich, obwohl sie ihre apoikoi wären, missachten, »denn weder erwiesen sie ihnen bei den gemeinsamen Festen die üblichen Ehren, noch überließen sie einem Korinther den ersten Opferteil«104. Somit wird ein ritualisiertes Naheverhältnis einer apoikia mit ihrer mētropolis beschrieben, welches von Thukydides erneut als Norm beschrieben worden ist und welches auch von den »anderen apoikiai« geachtet worden sei. Somit hätten wir einen zweiten Fehltritt hinsichtlich der nomoi. Für die Zuwiderhandlung durch die Korkyräer lieferte Thukydides einen Grund: Hybris. »[S]ie behandelten sie vielmehr mit Geringschätzung, da sie dank ihrer Geldmacht den reichsten Griechenstädten ebenbürtig waren, in der Kriegsrüstung sie sogar übertrafen; im Seewesen vollends, rühmten sie sich bisweilen, allen weit überlegen zu sein, auch unter Hinweis auf die frühere Besiedelung der Insel durch die Phaiaken, die in hohem Ruf standen wegen ihrer Seetüchtigkeit.«105
102 Thukydides: I. 23. 6. 103 Ebd.: I. 24. 2. 104 Ebd.: I. 25. 3f. 105 Ebd.: I. 25.
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Die exilierten Epidamnier machten nun ihrerseits die Herkunftsbande geltend, als sie in Korkyra nach Unterstützung suchten. Diese doppelte Berufung beider Konfliktparteien auf dasselbe Prinzip warf natürlich die Frage auf, wer es zu Recht bemühte. Die Korkyräer, die den Anspruch Korinths auf Epidamnos natürlich nicht akzeptieren konnten, boten im Zuge der Eskalation des Konflikts an, diese Frage entweder dem Schiedsgericht anderer peloponnesischer poleis zu unterwerfen, oder die Entscheidung erneut in die Hand der Pythia zu legen.106 Nachdem dieses Angebot von den Korinthern ausgeschlagen worden war, diese aber in einer Seeschlacht geschlagen wurden und Epidamnos von den Korkyräern erobert wurde, gelangte die Frage, wer zu Recht als mētropolis von Epidamnos gelten könne, vor die Volksversammlung von Athen, da Korkyra aus Furcht vor einem Gegenschlag der Korinther Verbündete suchte. Ihre Rechtfertigung lautete wie folgt: »Sollten (die Korinther) aber entgegnen, es sei nicht recht, dass ihr Bürger ihrer Tochterstädte [apoikia] bei euch aufnehmt, so sollen sie zur Kenntnis nehmen: jede Tochterstadt [apoikia] wird, gut behandelt, die Mutterstadt [mētropolis] ehren, widerfährt ihr aber Unrecht, wird sie sich ihr entfremden; denn nicht als Sklaven, sondern gleichberechtigt mit den Zurückgebliebenen werden Siedler ausgesandt.«107
Inwiefern sie schlecht behandelt wurden, erfahren wir nicht. Der Großteil ihrer Rede entfällt allerdings auf die Hervorhebung des Machtzugewinns, den die Athener durch einen Verbündeten wie Korkyra erhalten würden. Die korinthischen Gesandten konterten mit folgender Darstellung der Sachlage: »[O]bwohl ein Pflanzvolk [apoikoi] von uns, sind sie seit jeher abtrünnig, und jetzt führen sie sogar Krieg gegen uns mit der Begründung, nicht um Unrecht zu leiden seien sie ausgesandt worden. Aber auch wir sind der Meinung, sie nicht angesiedelt zu haben, um von ihnen verhöhnt zu werden, sondern um ihre Führer [hēgemones] zu sein und die gebührende Achtung zu genießen. Die anderen Pflanzstädte [apoikiai] jedenfalls ehren uns, und wir sind bei ihnen sehr beliebt. Und es ist klar, wenn alle mit uns zufrieden sind, so sind allein jene wohl nicht zu Recht mit uns unzufrieden; […].« 108
Zur Debatte stand die Frage des Machtverhältnisses zwischen apoikia und mētropolis. Die anderen korinthischen apoikiai begnügten sich offensichtlich mit einer untergeordneten Rolle, nur Korkyra besaß die Hybris, dagegen aufzubegehren. Thukydides beschrieb somit das Spannungsverhältnis zwischen einem als Norm geltenden Bündnis zwischen apoikiai und mētropoleis aufgrund ihrer Genealogie und 106 Thukydides: I. 28. 1f. 107 Ebd.: I. 34. 1. 108 Ebd.: I. 38.
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einer gelebten Praxis, wo dieses Verwandtschaftsverhältnis etwa aufgrund einer heterogenen Zusammensetzung der apoikoi weniger evident war oder machtpolitische Überlegungen mit dem Ideal kollidierten. Die Korkyraier achteten weder die Verpflichtungen gegenüber ihrer apoikia Epidamnos, noch gegenüber ihrer mētropolis. Mehr noch, sie hatten sich sogar eine eigene, unabhängige und ältere Genealogie zurechtgelegt, welche sie mit den Phaiaken verband. Wie sich die Athener entschieden, ist bekannt: Der Wert Korkyras als Verbündeter überwog die von den Korinthern vorgebrachten Argumente, welche mehrfach die Unrechtmäßigkeit des korkyrischen Unterfangens hervorhoben. Thukydides schien für sich die Frage beantwortet zu haben, wie Recht und Unrecht verteilt waren: Er stand auf der Seite der »alten Sitten« und nicht auf jener der Realpolitik. Er endete seine Beschreibung der Volksversammlung und der Beweggründe der Athener bedeutungsschwanger mit folgender Bemerkung: »Darüberhinaus erschien ihnen die Insel [Korkyra, MM] als ideal gelegen für eine Landung in Italien und Sizilien.«109 Hiermit verwies er auf den Kulminationspunkt seines Geschichtswerkes: Der desaströsen athenischen Kampagne auf Sizilien. Thukydides’ Überblick über die unterschiedlichen Allianzen bei diesem Kriegszug auf der Mittelmeerinsel durchweht ein ähnlicher Gedanken: »Denn so viele Völker kämpften vor Syrakus gegen und um Sizilien, um der einen Seite bei der Eroberung des Landes, der anderen bei der Rettung beizustehen, zusammengeschlossen nicht so sehr durch Vertrag oder Verwandtschaft [syngeneia], sondern wie es für alle der Zufall fügte, wegen eines Vorteils oder durch Zwang.«110
Dies betraf etwa: »Die Rhodier, der Abstammung [genos] nach Argeier, kämpften unter Zwang gegen die dorischen Syrakusaner, ja sogar gegen die Geloer, die Bürger ihrer eigenen Tochterstadt [wörtl.: ihre apoikoi], die mit den Syrakusanern verbündet waren.« Oder »[d]ie Kerkyraier, nicht nur Dorer, sondern sogar Korinther, leisteten ganz entschieden Kriegsfolge gegen die Korinther und Syrakusaner, obwohl sie Tochterstadt [apoikoi] der einen, der anderen Stammverwandten [syngenēs] waren […]«111. Dies kann durchaus als wertkonservativer Kommentar Thukydides’ gelesen werden, vor allem, wenn er kurzsichtige Beweggründe hervorhob: »Bei den anderen war der Feldzug schon mehr eigener Entschluss; so die Argeier: weniger wegen des Bündnisses, sondern aus Hass gegen die Lakedaimonier, jeder Einzelne in der Hoffnung auf raschen persönlichen Gewinn, deshalb leisten sie als Dorer gegen Dorer an der Seite der ionischen Athener Kriegsfolge; die Mantineer und andere arkadische Söldner, gewohnt, diejenigen anzugreifen, die man ihnen jeweils als Feinde zeigte, betrachteten auch damals die 109 Thukydides: I. 44. 3. 110 Ebd.: VII. 57. 1. 111 Ebd.: VII. 57.
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mit den Korinthern eingetroffenen Arkader ohne Bedenken um des Gewinnes willen für ihre Feinde, auch Kreter und Aitoler waren gleichfalls mit Geld gewonnen. So kam es, dass die Kreter, die gemeinsam mit den Rhodiern Gela gegründet hatten, nicht mit ihrer Tochterstadt, sondern gegen sie kämpften, aus eigenem Entschluss, um Sold gedungen.«112
Auch bei Herodot finden sich zwei Beispiele für diese Vorstellung hinsichtlich des Bandes zwischen apoikiai und mētropoleis und ihrer Instrumentalisierung: Aristagoras von Milet suchte Verbündete gegen die Perser und nachdem(!) er in Sparta keinen Erfolg hatte, ging er nach Athen, wo er darauf verwies, »dass Milet eine athenische Kolonie sei, und dass es ihre Pflicht sei, die Stadt zu retten, wozu sie vollauf die Macht hätten.«113 Ob dieses Argument nun den Ausschlag für die Entsendung einer athenischen Flotte gab, ist nicht bestimmbar. Wichtig ist, dass es einen validen Sprechakt darstellte, auf eine obligatorische Beistandspflicht hinzuweisen. An einer anderen Stelle wird der Spieß umgedreht: Hier ist es der Athener Themistokles, der an die ionischen Verbündeten der Perser appellierte und Aristagoras echote: »Ioner! Es ist nicht recht, dass ihr gegen eure Vorfahren [pateres] ins Feld zieht und Hellas in Knechtschaft bringt. […] Vergesset nie, dass ihr unseres Stammes seid und dass ihr es ursprünglich waret, die uns in den Krieg mit dem Perserkönig getrieben haben [sic!].«114
Andernorts hatte Herodot jedoch das Ioniertum dieser kleinasiatischen »Stammesverwandten« relativiert.115 Zu ihrem Ausmaß bestand in der klassischen Zeit kein common sense, stattdessen konnte sie den Umständen entsprechend betont werden. Kausalitäten Im Diskurs der klassischen Zeit scheint die Nennung von Ursachen für die Entstehung einer apoikia mehr eine Zusatzinformation gewesen zu sein. Herodot gibt immerhin für die Hälfte der Fälle Gründe für den Auszug von Siedlern an, Thukydides liefert diese Information weitaus seltener. Aus den erhaltenen Äußerungen ergibt sich ein recht heterogenes Bild. Dies hing zum einen vom Faktor ab, welches Gewicht der oikistēs hatte. Bei einem Fokus auf eine ›starke‹ Gründerfigur konnten ähnliche Ursachen greifen, die bereits heroische Figuren in die Ferne getrieben hatten: Ihr per-
112 Thukydides: VII. 57. Vgl. hierzu Ulf 2015: 13-15. 113 Herodot: V. 97. 114 Ebd.: VIII. 22. Siehe auch den teleologischen Verweis Herodots in V. 97: »Diese Schiffe [die die Athener zu Unterstützung des Aristagoras entsandten – eine Hilfe, die die Perserkriege mitauslösen sollten, MM] wurden verhängnisvoll, für die Hellenen sowohl für die Barbaren.« 115 Herodot: I. 146. Siehe hierzu Mac Sweeney 2013: 75-79.
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sönliches Schicksal gab den Ausschlag zur Emigration. Im Großen und Ganzen geben die Äußerungen Carol Dougherty Recht, dass es meist eine »crisis« war, die Emigrationen veranlasste, was im Umkehrschluss bedeutete, dass diese nicht unbedingt freiwillig erfolgte.116 Dennoch gibt es verschiedene angeführten Ursachen, die gemäß der Art der Emigration geordnet werden können: Es kann eine geplante, konsensuale Emigration von einem konfliktuellen Typ unterschieden werden. In letzterem Fall gab es eine Gruppe von Ausgestoßenen, die die Gemeinschaft verlassen musste. In den Quellen wird oftmals eine stasis als Ursache für die Emigration eines Teils der Bevölkerung geschildert,117 repräsentative Beispiele sind etwa die Gründungen Theras118 oder Tarents119. Bei absichtsvoll und konsensuell initiierten Emigrationen wurden meist übergeordnete Push- und Pull-Faktoren angeführt. So waren es Flucht und Überbevölkerung, die nach Thukydides zur Besiedlung Ioniens geführt hatten, da im Zuge der sagenhaften Wanderungen viele nach Attika gelangt wären.120 Isokrates griff ein Jahrhundert später – allerdings aufgrund anderer Prämissen – auf diese Vorstellung zurück.121 Thukydides konstatierte außerdem, dass sich der Machtzuwachs einiger Städte einerseits durch Handel ergab, andererseits durch Eroberungen. Dies sei vor allem dann geschehen, »wenn ihr eigenes Land nicht sehr ertragreich war«.122 Und etwas verklausuliert könnte als Ursache für die Gründung Zankles angenommen werden, dass diese apoikia wegen der Bedrohung durch Seeräuber entstanden sei.123 Diese Aspekte berühren einen zentralen Topos in Thukydides’ Archäologie: dem Übergang von früherem Chaos, bestimmt durch Seeräuberei und der Anlage von Siedlungen im Landesinneren, zur Ordnung, gekennzeichnet durch Handel und der Städtegründung an den Küsten. Hierbei hätten auch strategische Überlegungen eine Rolle gespielt, »wegen des Übergewichtes gegenüber den jeweiligen Nachbarn.«124 Dies galt etwa nach Antiochos von Syrakus für die Gründung von Metapont, da von den Sybariten Achäer zur Besetzung dieses Ortes ins Land gerufen wurden, damit er nicht an das spartanische Tarent falle.125 Zur Besiedlung von Rhegion hätten zwei 116 Siehe etwa Dougherty 1993: 16-18. 117 Vgl. hierzu grundlegend Bernstein 2004, der in inneren Krisen im Zuge der polis-Entwicklung die Hauptursache der »griechischen Kolonisation« sieht. 118 Herodot: IV. 146f. 119 Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 13 apud Strabon: VI. 3. 2 und Aristoteles Politik: 1306b, 27-31. 120 Thukydides: I. 2. 6. 121 Isokrates Panathenaikos: 164-167 und 189-191. 122 Thukydides: I. 15. 1. 123 Ebd.: VI. 4. 5. 124 Ebd.: I. 7. 125 Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 12 apud Strabon: VI. 1. 15.
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Gründe geführt: Chalkidier wanderten wegen einer Hungersnot aus und sie beteiligten Messenier an der Gründung, die wegen eines Frevels an spartanischen Jungfrauen emigrierten.126 Ähnlich gelagert war der Fall Kyrenes: Auch hier spielte eine Hungersnot eine Rolle. Hinzu kommt, dass das Orakel von Delphi wie bei Kyrene den unmittelbaren Anstoß für eine Emigration geben konnte. Und auch der erneute Zustrom an Siedlern wurde von der Pythia empfohlen.127 Einen Sonderfall bildet Naukratis. Einerseits werden Handelsinteressen angedeutet,128 andererseits fungiert hier der Pharao Amasis gewissermaßen als Gründer: Er organisierte die Ansiedlung. Eine ähnliche Konstellation habe sich bereits früher ergeben, als Psammetich ionische (und karische) Söldner ansiedelte,129 und auch das Angebot des Königs von Tartessos an die Phokäer, sich in seinem Land anzusiedeln, würde in diese Kategorie passen, wo der Impuls zur Ansiedlung von außen kam. 130 Identitäten: Die Eigenen Wie der Fall Epidamnos zeigt, war die Identität einer apoikia, genealogisch verstanden, nicht unbedingt eine klare Angelegenheit. Beide Fälle waren möglich: Eine homogene Gruppe von apoikoi aus einer mētropolis wie auch Synoikismen, also der Herkunft aus verschiedenen poleis. Nach Thukydides waren etwa auf Sizilien Naxos, Syrakus, Leontinoi und Katane Gründungen von apoikoi mit derselben Herkunft, wohingegen die Megarer eine Zeitlang mit den Chalkidiern Leontinoi bewohnten, bevor sie Megara Hyblaia gründeten. Gela wurde von Rhodiern und Kretern, Zankle von Chalkidiern aus Kyme und zusätzlichen Siedlern aus Euboia besiedelt.131 Auch Naukratis war ein Konglomerat von Siedlern aus verschiedenen Orten. Eine apoikia musste also gemäß der Vorstellung dieser Zeit keinesfalls automatisch eine homogene Herkunft haben. Auch die delphische Aufforderung an alle hellenischen Städte, Siedler nach Libyen zu entsenden, belegt dies.132 Und auf einer reflexiven Ebene machte Aristoteles bei Synoikismen, aufbauend auf den beispielhaften apoikiai Sybaris beziehungsweise Thurioi, Byzantion, Zankle, Apollonia Pontica, Syrakus und Amphipolis, ein Problem für die Kohäsion eines Gemeinwesens aus.133 Auch das unterstreicht, dass Synoikismen ein Teil der antiken Realität waren, sie wurden jedoch als problematisch für die innere Stabilität einer polis angesehen.134 Idealerweise 126 Herakleides-Epitome: 26. 55. 127 Herodot: IV. 150, 155 und 159. Siehe auch Pindars 4. Pythische Ode: 4-11 und 48-63. 128 Herodot: II. 178f. 129 Ebd.: II. 154. 130 Ebd.: I. 163. 131 Thukydides: VI. 3f. 132 Herodot: IV. 159. 133 Aristoteles Politik: 1303a 26-1303b 3. 134 Siehe auch das Für- und Wider zu Synoikismen in Platon Die Gesetze: 707e-708d.
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musste aus dieser Warte ein Ausgleich angestrebt werden, damit die bestehenden kinship-Strukturen nicht mit dem Wohl des Gemeinwesens kollidierten. Dies galt für Siedlungen mit von vorneherein gemischter Herkunft, genauso wie für solche mit Nachzüglern (epoikoi).135 Identitäten: Die Anderen Die Darstellung der Kontakte zu Nicht-Hellenen in der Mittelzeit weist ebenfalls heterogene Züge auf und umfasst die gesamte Bandbreite von Konflikt bis zu freundlicher Aufnahme und intermarriages.136 Einerseits gibt es die Bemerkung von Thukydides, dass sowohl Archias, der oikistēs von Syrakus, als auch Thukles, der Gründer von Leontinoi, die Sikeler vertrieben hatten.137 Ähnliches berichtet auch Xenophon für Kotyora, Kerasos und Trapezunt, den Gründungen Sinopes.138 Und im Fall Kyrenes wurde für die Neuankömmlinge eines zweiten Zuzugs der lokalen Bevölkerung das Land abgenommen.139 Ein erfolgreicher Widerstand gegen die hellenischen Neuankömmlinge wird in den Beschreibungen der ktiseis der mittleren Vergangenheit nicht thematisiert. Lediglich Herodots Schilderung der Besiedlung Kyrenes lässt etwas in diese Richtung erahnen: Hier täuschen die Libyer die Neuankömmlinge, indem sie jene nachts durch die besten Siedlungsgegenden führen, um sie ihnen vorzuenthalten.140 Andererseits kam auch der entgegengesetzte Fall vor: So sollen laut einem von Strabon übermittelten Antiochos-Fragment die Besiedler von Tarent sowohl von den Iapygiern als auch von den dort schon länger lebenden Kretern (aufgrund der Kampagne des Minos im westlichen Mittelmeer) mit offenen Armen empfangen worden seien.141 Ähnliches gilt für Theras, der die dort ansässigen Phönikier nicht vertreiben, sondern mit ihnen leben wollte.142 Im Unterschied zu Isokrates zeichnete Herodot auch ein differenzierteres Bild von der Besiedlungsgeschichte Ioniens: Neben Fällen von brutaler Eroberung wie bei Milet wird auch die Vermischung der Ankömmlinge mit der dort ansässigen Bevölkerung thematisiert, wobei sich einige der ionischen Städte sogar lykische Könige gegeben hätten. 143
135 Siehe auch Herodots Schilderung der Gründung Kyrenes (IV. 161): Der Gesetzgeber Demonax organisierte die Besitztümer und Phylen. 136 Siehe auch Dougherty 1993: 67 und 2001: 130f. 137 Thukydides: VI. 3; vgl. Ephoros von Kyme FGrHist 70: F 137a apud Strabon: VI. 2. 2. 138 Xenophon Anabasis: V. 5. 9. 139 Herodot: IV. 159f. 140 Ebd.: IV. 158. 141 Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 13 apud Strabon: VI. 3. 2. 142 Herodot: IV. 148. 143 Ebd.: I. 146f. Herodots Bericht, dass die Athener bei der Besiedlung Milets die männliche Bevölkerung getötet hätten, griff Isokrates in einer historischen Analogie bereitwillig auf,
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Ein besonderer Fall guter Beziehungen ist der Topos des indigenen Herrschers, der den Neuankömmlingen Land zur Verfügung stellt. Dies stellt die der Eroberung entgegengesetzte Variante der Landnahme dar. In gewissem Sinne klang es bereits bei Herodots Schilderung der ersten Besiedlung Kyrenes an, nur geschah hier die Landzuweisung nicht ganz uneigennützig, da man das bessere Land für sich behalten wollte. Hinsichtlich Megara Hyblaia berichtete Thukydides keine Hintergedanken des (eponymen) Königs Hyblon, im Gegenteil:144 Dieser »führte« (kathēgeomai) die Hellenen an den Ort des späteren Megara Hyblaia. 145 Ein weiteres Beispiel findet sich in der von Aristoteles oder einem seiner Schüler aufgenommenen Gründungserzählung Massalias: Auch hier stellt der indigene König Nanos das Land zur Verfügung, nachdem es zu einer intermarriage zwischen dem Gründer Euxenos (dem »guten Fremden«!) und seiner Tochter Petta gekommen war.146 ktisis Der Aspekt der Gründung und der Organisation einer apoikia ist in den erhaltenen Äußerungen weitaus besser vertreten als in den archaischen Quellen. Besonders eine Gründung ist in großem Detail überliefert: Kyrene.147 Battos, beziehungsweise König Grinnos – je nach Tradition –, erhielt vom Orakel von Delphi den Auftrag in Libyen eine Stadt zu gründen. Nach einer durch die Götter bestraften Untätigkeit und einer erneuten Aufforderung durch die Pythia, wurde die Destination ausgekundschaftet und die zukünftigen Siedler ausgewählt: Aus allen sieben Gemeinden Theras sollte immer je einer von zwei Brüdern nach Libyen gehen, woraufhin zwei Pentekontere abfuhren. Nach einigen Fehlschlägen siedelten sie sich in Kyrene an. Die Erzählung konzentriert sich primär auf die Emigration, weshalb zur ktisis selbst keine Informationen gegeben werden. Die mehrfache Konsultation des Orakels von Delphi nimmt hierbei die zentrale Rolle ein: Es initiierte die Auswanderung und wählte den oikistēs.148 Diese ktisis-Erzählung enthielt somit folgende Elemente: Die mētropolis, den oikistēs, eine Konsultation der Pythia, die Auswahl der Siedler sowie die Kontakte mit der lokalen Bevölkerung. Dies ist auch eines der raren Beispiele, die explizit Auskunft über das Geschlecht der Ausgesandten geben: Nur Söhne wurden eingezogen. um seine Agenda zu untermauern: Bereits früher wurde Ionien durch die Athener von den Barbaren gewonnen (Isokrates Panathenaikos: 164-167 und 189-191). 144 Außer das Verb »prodidōmi« wird in einem negativen Sinn aus der Perspektive der Sikeler als »preisgeben«, »verraten« verstanden. Siehe hierzu Hornblower 2008: 287f. 145 Thukydides: VI. 4. 1. 146 Aristoteles: F 549 (Rose) apud Athenaios: 576af. 147 Herodot: IV. 150-158. 148 Ebd. IV. 150 und 155; siehe auch Pindars 4. Olympische Ode und die Gründungsurkunde von Kyrene (SEG IX 3; siehe Brodersen/Günther/Schmitt 1992: 4-6).
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Neben Herodots Beschreibung verfügen wir über eine – aufgrund der verwendeten Schrift in das 4. Jh. v.Chr. datierte – Marmor-Stele, die Rechtsbestimmungen hinsichtlich neuer Siedler aus Thera festhält.149 Im Inschriftentext wird die Gründungsübereinkunft zwischen den Theraiern und den Emigranten zitiert, wobei die Authentizität dieser vorgeblich ursprünglichen Übereinkunft in der Forschung umstritten ist.150 Diese Gründungserklärung stimmt mit dem von Herodot geschilderten Handlungsablauf im Großen und Ganzen überein: Sie beginnt mit der Prophezeiung und der Bestimmung von Battos zum archēgetēs und basileos. Aus jeder Familie solle ein Sohn lossegeln, zusätzlich könne noch jeder bereitwillige freie Theraier mitziehen, wobei alle gleichberechtigt seien. Die Frage der Landverteilung wird thematisiert, wobei sich auch hier das Ideal der Isonomie widerspiegelt. Die entscheidende Passage, gemessen am Kontext, in dem das Zitat steht, ist wohl, dass später nachziehende Theraier volles Bürgerrecht genießen und ihnen ein Stück noch unbesetzten Landes zugewiesen werden solle. Die vermeintlich ursprüngliche Übereinkunft entsprach somit der etwa von Aristoteles angeregten Regelung des Status von epoikoi/Nachzüglern zur Vorbeugung von innenpolitischen Unruhen.151 Hervorhebenswert sind auch folgende Regelungen: Wenn im Zeitraum von fünf Jahren nicht die Ansiedlung gelingen sollte, könnten die Aussiedler zurückkehren. Eine Verweigerung der Emigration wurde unter Todesstrafe gestellt.152 Dieser Passus wirft ein schiefes Licht auf die Authentizität dieser vermeintlich ursprünglichen Übereinkunft. Die für die Intention der Stele aus dem 4. Jh. v.Chr. zentrale Klausel zu den nachziehenden Theraiern fügt sich somit in Regelungen ein, die gewissermaßen prophetisch den Ablauf der Ereignisse nachvollziehen und in Klauseln ummünzen, wie er auch von Herodot geschildert worden ist, inklusive der versuchten Rückkehr und deren gewaltsamen Vereitelung durch die Theraier. Die Übereinkunft entspricht somit dem Wissen zur Gründung Kyrenes, wie wir es für das 5. Jh. v.Chr. greifen können. Wenn von einer statischen Tradition von Wissen zu Gründungen ausgegangen wird, erzeugt dieser Befund kein Problem. Wenn Tradition jedoch als aktiver Prozess aufgefasst wird, drängt sich die Vermutung nach einer retrospektiven Ausgestaltung dieser Übereinkunft auf. Auf einer allgemeinen Ebene lässt sich zudem festhalten, dass wir derartige formalisierte und detailliert ausgeführte Gründungsurkunden erst aus der klassischen Zeit kennen. Dieses mögliche Beispiel aus der Zeit der Gründung Kyrenes, der zweiten Hälfte des 7. Jh. v.Chr., sticht somit markant hervor und würde eine lange Tradition dieser Praxis von Gründungsübereinkünften suggerieren, die noch 149 SEG IX 3 (siehe Brodersen/Günther/Schmitt 1992: 4-6). 150 Siehe etwa die Diskussionen in Graham 1960, Walter 1993: 141-144, Osborne 1998: 255f. und 2009: 13f., Malkin 2003: 166-170, Bernstein 2004: 171-222, Hall 2007: 101f., Calame 2011: 236-241 und D’Ercole 2012: 31. 151 Aristoteles Politik: 1303a 26 – 1303b 3. 152 Siehe zum Aspekt der Rückkehrrechte Malkin 2016: 39-47.
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weiter in die Archaik zurückreichen müsste, da die Kyrene-Gründungsurkunde bereits vorhandenen Mustern zu folgen scheint. Es muss auch die Frage nach der ›Archivierung‹ der Gründungsübereinkunft gestellt werden, also wie im 4. Jh. v.Chr. eine Vereinbarung aus dem 7. Jh. v.Chr. zitiert werden konnte. Insgesamt ist die Praxis der Errichtung von Stelen mit öffentlichen Inschriften eine jüngere: Die ältesten Exemplare datieren in das 6. Jh. v.Chr.153 Dieser Weg scheint somit auszuscheiden, wie auch überhaupt die Frage offen bleiben muss. Die Erwähnung von Orakeln bei Erzählungen zu Gründungen der mittleren Vergangenheitsebene erfolgte auffällig selten, gerade gemessen an der Prominenz dieses Themas in der modernen Forschung.154 Zudem sind neben dem prominenten Fall Kyrene oder der Schilderung der Gründung Eleas, beide in Herodot, der Großteil lediglich als Fragmente, also spätere Zitate aus verlorenen Werke, erhalten.155 Dies kann natürlich ein Überlieferungszufall sein, ist aber jedenfalls bemerkenswert. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten: Meist holte der oikistēs das Orakel ein oder die Prophezeiung, die zur Gründung aufforderte, erfolgte wie im Fall Kyrenes ohne entsprechende Anfrage, sondern im Rahmen einer anderweitigen Konsultation. In der von Strabon überlieferten Schilderung der Gründung von Taras/Tarent durch Antiochos von Syrakus war es der oikistēs Phalantos, der nach Delphi ging, um die Pythia zu befragen.156 Ein weiteres Beispiel ist ein Aristoteles-Fragment zur Gründung Rhegions, bei dem auch ein Orakelspruch die Siedler an ihren Bestimmungsort weist: »Und sie bekamen ein Orakel, dort ⟨zu siedeln⟩, wo eine Frau einen Mann * *. Und als sie eine Rebe um einen Steineichenstamm herumgewachsen sahen, begriffen sie, daß dies der Ort war.«157 Es verdient bemerkt zu werden, dass direkte Belege für ktisis-Orakel der Mittelzeit in Vers- und Rätselform eigentlich nur als Fragmente, also spätere Zitate heute verlorener Werke aus der klassischen Zeit überliefert sind. In den erhaltenen Quellen der klassischen Zeit werden Orakel nacherzählt. Einrichtungen vor Ort Für Handlungen, wie sie beispielsweise in der Odyssee dem Gründer Scherias zugeschrieben wurden, gibt es für diese Vergangenheitsebene nur sehr marginale Hinweise. Der Aspekt der Landverteilung wurde bereits im Rahmen der Diskussion der 153 Thomas 1992: 66. 154 Auch Jonathan Hall (2008: 400) hält aufgrund seiner Untersuchung der ktisis-Erzählungen zu den apoikiai Süditaliens und Siziliens fest: »Finally, despite the relatively widespread belief that ›it was part of the ritual of founding a colony that the founder should ask the blessing of the Pythian Apollo before setting out‹, consultation of the Delphic Oracle is mentioned in connexion with just five (18.5%) of the 27 colonies.« 155 Vgl. hierzu auch Hall 2008: 400f. 156 Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 13 apud Strabon: VI. 3. 2. 157 Herakleides-Epitome: 26. 55.
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Kyrene-Urkunde angeschnitten. Hauptsächlich sind allerdings Hinweise zur kultischen Einrichtung erhalten: Thukydides berichtet von der Errichtung eines Altars für Apollon Archegetes durch Thukles, den oikistēs von Naxos.158 Zur Rolle des Gründers in der Vergangenheitsbewahrung durch eine apoikia verfügen wir über eine Aussage von Aristoteles, der festhält, dass in Apollonia und Thera die Abkömmlinge der ersten Gründer einen besonderen Status genossen.159 Dies deutet darauf hin, dass Isonomie möglicherweise mehr eine Idealvorstellung war. Und in der 5. Pythischen Ode Pindars wird darauf hingewiesen, dass Aristoteles/Battos in der Agora von Kyrene sein Grabmal hatte und als Heros verehrt worden ist.160 Auch die Hinweise zur soziopolitischen Einrichtung wurde eng mit dem Ursprung einer apoikia verknüpft. Verwiesen sei auf die Idee, dass eine apoikia die Gesetzgebung der Metropole übernimmt. Für Sizilien hält dies Thukydides in drei Fällen fest: In Gela sollen dorische Gesetze gegolten haben,161 in Akragas wurden die Gesetze Gelas (der mētropolis) übernommen,162 und in Himera wurde die chalkidische Gesetzgebung als Vorbild genommen,163 was wiederum eine Unterordnung unter eine mētropolis signalisierte. Im Fall von Rhegion wird durch Aristoteles der Name eines Gesetzgebers überliefert: Charondas von Katania, ebenfalls eine auf Chalkis zurückführbare apoikia.164 Diese rudimentären Auskünfte zum Ablauf einer ktisis vor Ort unterstreicht einmal mehr die Gewichtung der Informationselemente im Rahmen von Äußerungen zu ktiseis. I.2.2.3 Die Darstellung zeithistorischer Gründungen Ursprung und Zugehörigkeit Im Unterschied zu den Äußerungen, die auf weiter zurückliegende Gründungen bezogen waren, rückte hinsichtlich der Darstellungen von zeitgenössischen apoikiai der Aspekt des Verhältnisses zu den mētropoleis mehr in den Vordergrund. An die Stelle der Vorstellung einer idealisierten Verbundenheit aufgrund des Verwandtschaftsverhältnisses trat ein praxisnäheres, pragmatischeres Verständnis. Dies zeigt sich etwa in folgender Passage aus Platons Die Gesetze: »Der Athener: Ich behaupte, dieser Staat [polis], den wir zu gründen [oikizō] im Begriff sind, hat sozusagen keinen Vater und keine Mutter außer eben dem Staat, der ihn gründet [katoikizō],
158 Thukydides: VI. 3. 1. 159 Aristoteles Politik: 1290b 6-20. 160 Pindar 5. Pythische Ode: 88-100. 161 Thukydides: VI. 4. 3. 162 Ebd.: VI. 4. 4. 163 Ebd.: VI. 5. 1. 164 Herakleides-Epitome: 26. 55.
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obschon ich nur zu gut weiß, daß viele von den neugegründeten Staaten mit ihren Gründerstaaten, manche sogar mehrmals, in Zwist geraten sind und geraten werden. Jetzt aber, in der gegenwärtigen Lage, steht es damit wie mit einem Kind: selbst wenn dieses einmal mit seinen Erzeugern in Zwist geraten sollte, so liebt es sie dennoch in der gegenwärtigen Hilflosigkeit seines kindlichen Alters und wird auch von seinen Eltern geliebt, und indem es stets zu seinen Angehörigen seine Zuflucht nimmt, findet es einzig in den Verwandten seine Verbündeten.«165
In dieser Passage wird, ähnlich wie bei Epidamnos, ein Aufeinanderprallen von Theorie und Praxis deutlich: Die Praxis habe gelehrt, dass die Entwicklung dieser Beziehung nicht vorhersehbar ist. Ein instruktives Beispiel hierfür ist der Seitenwechsel von Amphipolis (gegründet 437/6 v.Chr. von Athen) im Peloponnesischen Krieg:166 »Danach bestatteten alle Verbündeten Brasidas, wobei sie ihm mit ihren Waffen das Geleit gaben, in Form eines Staatsbegräbnisses in der Stadt vor dem Platz, wo jetzt die Agora ist; die Bewohner von Amphipolis – sie hatten eine Einfriedung um sein Grabmal gezogen – opferten ihm seither als Heros und haben zu seinen Ehren Wettkämpfe und jährliche Festopfer eingeführt, betrachteten ihn auch als Gründer [oikistēs] ihrer Siedlung; sie rissen Hagnons Bauten nieder und beseitigten alles Vorhandene, was an ihn als Gründer erinnern konnte, denn einerseits meinten sie, Brasidas sei ihnen zum Retter geworden, und sie legten zum gegenwärtigen Zeitpunkt aus Furcht vor den Athenern großen Wert auf das Bündnis mit den Lakedaimoniern, andererseits werde Hagnon nach dem Ausbruch der Feindschaft mit den Athenern die Ehrungen nicht zum Vorteil für sie und auch nicht sehr gern empfangen.«167
Amphipolis wechselte also nicht einfach nur die Seite, es wurde aktiv und performativ eine Umgestaltung der Vergangenheit vorgenommen. Zudem wird deutlich, dass in der klassischen Zeit Zugehörigkeit eine unübersehbare realpolitische Bedeutung hatte: Mētropoleis konnten Kapital aus ihrer Dominanz ziehen, die oftmals über ein mētropolis-apoikia-Verhältnis legitimiert wurde. Auf den Hegemonieanspruch der Korinther gegenüber ihren apoikiai wurde bereits hingewiesen. Ganz besonders praktiziert wurde dies jedoch von Athen:168 Der Redner Andokides (440-nach 390 v.Chr.) verwies in seiner Rede Über den Frieden zurückblickend auf die Zeit des Nikiasfriedens auf die Tribute aus den athenischen apoikiai,169 womit er die Zahlungen der Mitglieder des unter athenischer Hegemonie stehenden Attischen Seebundes umschrieb.
165 Platon Die Gesetze: 754b-d. 166 Zu Amphipolis als athenische apoikia siehe Figueira 2008: 445. 167 Thukydides: V. 11. 1. 168 Siehe hierzu Figueira 2008. 169 Andokides Über den Frieden: 3. 8f.
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Ursprung und Identität Die Rolle des Ursprungs für die Eigenidentität wurde bereits erörtert. Ein eng damit verbundener Aspekt, der in den Passagen zur jüngeren Vergangenheit und Gegenwart eine wichtige Rolle spielte, war die Frage der Homo- beziehungsweise Heterogenität der apoikoi. In Platons Dialog Die Gesetze wird ein Synoikismos erwogen: Der »größte Teil Kretas« und fakultativ zusätzliche Siedler aus dem Peloponnes aufgrund der ethnischen Verwandtschaft sollen rekrutiert werden: »Der Umstand nämlich, daß ein Stamm [genos] eine Einheit mit gleicher Sprache und gleichen Gesetzen bildet, erzeugt eine gewisse freundschaftliche Verbundenheit, da er gemeinsam an den Opfern und allem Derartigen teilnimmt; abweichende Gesetze aber und andere Verfassungen als die in der Heimat läßt er sich nicht so leicht gefallen; vielmehr macht bisweilen ein solches Volk, wenn es wegen der Schlechtigkeit seiner Gesetze in Aufruhr entzweit war und aus Gewöhnung auch weiterhin dieselbe Lebensweise fortzusetzen begehrt, durch die es schon früher einmal zugrunde gerichtet wurde, dem Gründer und Gesetzgeber Schwierigkeiten und wird widerspenstig. Andererseits wird ein buntgemischtes, an einen Ort zusammengeströmtes Volk zwar vielleicht eher geneigt sein, neuen Gesetzen zu gehorchen; daß es aber eine geistige Einheit bildet und wie ein Pferdegespann, wie man so sagt, im gleichen Takt schnaubt, das erfordert viel Zeit und ist höchst schwierig. Doch Gesetzgebung und Gründungen [oikismos] von Staaten erfordern eben in der Tat Männer, die hinsichtlich der Tüchtigkeit die allervollkommensten sind.«170
Im Unterschied zur auf historischen Beispielen beruhenden Analyse des Aristoteles hatten hier Synoikismen nicht mehr per se eine destabilisierende Wirkung. Es ging Platon nicht um eine historische Analyse, sondern um ein utopisches Gedankenexperiment, dass um eines der zentralen Themen seiner Philosophie kreiste: der besten Einrichtung eines Gemeinwesens. Konkrete Beispiele für Synoikismen waren Herakleia Trachis, wohin die Spartaner zwar eigene Siedler sendeten, aber genauso Periöken und »jeden der will« (außer »Ionier, Achaier und einige andere Volksstämme«).171 Auch zur Besiedlung von Amphipolis entsandten die Athener zusätzlich noch Bundesgenossen.172 Es scheint die Regel gewesen zu sein, dass zumindest ethnos-Grenzen berücksichtigt worden sind, was angesichts der Relevanz, die dieser Aspekt in der klassischen Zeit erhält, wenig überrascht. Einen Sonderfall in dieser Hinsicht bilden die theoretischen Gründungen Xenophons und Isokrates’: Hätte Xenophon an der südlichen Schwarzmeerküste eine apoikia gegründet, hätten ihm ein bunt zusammengewürfelter Haufen an Siedler_innen173 unterstanden. Xenophon hätte in 170 Platon Die Gesetze: 708c-d. 171 Thukydides: III. 92. Siehe zu Herakleia Trachis Figueira 2008: 480-483. 172 Ebd.: I. 100. 3. und IV. 102. 2. 173 Xenophon berichtete auch von Frauen im Troß der Zehntausend: etwa Anabasis: V. 3. 1.
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diesem Fall ganz Griechenland als mētropolis angesehen, geht es schließlich darum, »Land und Macht für Griechenland zu gewinnen«.174 Hierbei hätte es sich allerdings aufgrund der besonderen Umstände eher um eine aus der Not geborene apoikia gehandelt, als um eine geplante Aussendung. Auch Isokrates’ politische Vision der Gründung von panhellenischen Siedlungen wurde nicht umgesetzt. Hierbei war Athen aufgrund der langen Erfahrung mit Gründungen eine zentrale Rolle zugedacht worden.175 Isokrates musste jedoch seine Pläne den neuen politischen Verhältnissen anpassen: Im Philippos etwa adressiert er direkt Philipp II. von Makedonien, um ihn zur Gründung einer panhellenischen Kolonie in seinem Sinne zu gewinnen. Die soziale Zusammensetzung der Siedler wäre in diesen Fällen diametral entgegengesetzt gewesen: Hätte Isokrates primär sozial Bedürftige entsandt, handelte es sich bei den 10.000 Xenophons explizit nicht um Menschen aus der Unterschicht. Ein wichtiges Element in diesem Spiel der Zuordnung mittels des Ursprungs war der oikistēs, wie das Beispiel Amphipolis zeigt: Nicht nur die mētropolis, auch der Gründer wurde ausgetauscht. Brasidas wurde ein Heroenkult gewidmet, mit jährlichem Opferfest und Wettkämpfen. Dieser Anlass erinnerte zugleich an die Herkunft der apoikia. Ähnliches geschah im Fall des Miltiades auf dem Chersonesos: »Dem Toten bringen die Bewohner der Chersonesos als dem Gründer der Kolonie Opfer und veranstalten Wagenrennen und gymnische Spiele ihm zu Ehren […].«176 Und der dialogführende Athener in Platons Die Gesetze spornt Kleinias folgendermaßen an: »Dir aber, Kleinias, lege ich die Sache ans Herz. Denn wenn du den Staat der Magneten oder wonach sonst die Gottheit ihn benennen mag, in der rechten Weise einrichtest, so wirst du den höchsten Ruhm erlangen oder zumindest nicht dem Ruf entgehen, der mutigste Mann von allen zu sein, die nach dir geboren werden.«177
Auch Xenophon hätte sich selbst als Gründer »Namen und Macht« verschafft.178 Verwiesen sei auch auf den Gründer von Aristophanesʼ Wolkenkuckucksheim, der im
174 Xenophon Anabasis: V. 6. 15. 175 U.a. Isokrates Panathenaikos: 13f., Philippos 120 und Über den Frieden 24. 176 Herodot: VI. 38. Thomas J. Figueira spricht in seiner Untersuchung der athenischen Kolonisation im Fall der Gründungen durch Mitglieder der Elite von einer »patronal Colonization«. Für die Wende zum 5. Jh. v.Chr. nimmt er einen strukturellen Wandel an: »As the sixth century closed, the older tradition of patronal colonization was giving way before the necessary integration of powerful nobles into the network of the institutions of their home or original polis.« Figueira 1991: 138. 177 Platon Die Gesetze: 969a. 178 Xenophon Anabasis: V. 6. 17.
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Endeffekt gar an die Stelle von Zeus selbst rückt. Ein bemerkenswerter Fall des Gedenkens an einen Gründer bei gleichzeitiger Einbindung in ein identitätsstiftendes Netz, ist die Gründung Aitnes (475 v.Chr.) durch Hieron I. von Syrakus.179 Pindar schrieb mit der 1. Pythischen Ode ein Panegyrikon zu diesem Ereignis:180 »Laß uns, Zeus, dir wohl gefallen, der Du dieses Gebirge [der Ätna, MM] betreust, fruchtbaren Erdreiches Stirn; nach ihm trägt den Namen die Stadt, Die geehrt hat ihr berühmter Gründer [oikistēr], die Nachbarin; denn in der pythischen Rennbahn nannt’ ihren Namen der Herold, ausrufend Hierons glanzvollen Sieg mit Seinem Gespann. […] Drum für Aitnas König, wohlan, laß uns ein freundlich Chorlied finden; Ihm hat jene Stadt mit gottgeordneter Freiheit gemäß Den Gesetzen Hyllischer Richtschnur gegründet Hieron; es wollen des Pamphilos Und der Herakleiden Enkel, an Hängen des Taygetos wohnend, ständig den Satzungen treu sein des Aigimios als Dorier.«181
Es verdient hervorgehoben zu werden, dass der Bezugspunkte der apoikia nicht Syrakus (theoretisch die mētropolis) war, sondern primär der Gründer Hieron. In zweiter Linie wurde dann die dorische ethnos-Zugehörigkeit unterstrichen: Einerseits über die Herakliden (Hyllos), andererseits über die Nachfahren des Doros (Aigimios und Pamphylos).182 In Platons Die Gesetze wurde betont, dass sich die neue Stadt bei den olympischen Spielen präsentieren sollte.183 Und genau hierauf verwies auch Pindar: Der siegreiche Hieron nahm am Wagenrennen bei den Pythischen Spielen (470 v.Chr.) als Hieron von Aitne teil. Hierbei ging es nicht nur um den persönlichen Ruhm Hierons, sondern auch um eine offizielle Präsentation der neuen polis in einem panhellenischen Rahmen. Mittels der von Pindar proklamierten ethnos-Zugehörigkeit konnte Aitne verortet werden. Eine ähnliche Funktion hatte möglicherweise auch das verlorene Stück Die Aitnerinnen von Aischylos, welches ebenfalls anlässlich der
179 Siehe hierzu Lomas 2006: 101f. und Figueira 2008: 493-495. 180 Siehe auch Miller 1997: 230f. 181 Pindar 1. Pythische Ode: 29-33 und 60-65. 182 Siehe Ulf 2009c: 231-236. 183 Platon Die Gesetze: 950e.
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Gründung Aitnes entstanden sein soll.184 Diese propagandistische Funktion von Dichtung fand auch Einzug in Aristophanes’ Die Vögel, in Form des Auftritts eines schnorrenden Poeten im Zuge der Gründung: »Poet: Gedichtet hab ich Lieder auf Wolkenkuckucksheim, Entzückend schöne Preisgesänge ohne Zahl Für Jungfraunchöre im Stile des Simonides. Ratefreund: Wie lang ist’s her denn, daß du dies gedichtet hast? Poet: Lang, lang ist’s her, seit langem preis ich diese Stadt. Ratefreund: Ja, aber eben hab ich sie doch erst getauft Und habe kaum den Namen gefunden für das Kind. Poet: Flink gar ist der Musen Sang Wie der Rosse Blitzeschnelle. Doch du, Vater, Gründer Aitnas Herrlicher Heiligtümer Heiland, Gib mir, ich bitte dich, gib, Was du geneigten Hauptes Gnädig zu geben gewillt bist.«185
Das Ziel von Aristophanes’ Spott ist offensichtlich, er bemüht sich auch gar nicht es zu verbergen: Gerade die Zeilen 926 bis 928 stimmen relativ wortgetreu mit dem Fragment eines Hyporchemas Pindars, einer Tanzode, überein.186 Aber genauso war die 1. Pythische Ode oder auch die 1. Olympische Ode wohl eingeschlossen in dieser Parodie Pindars: In letzterer, anlässlich des Sieges Hierons beim olympischen Wagenrennen gedichtet, hatte Pindar Hieron mit Pelops gleichgesetzt, der von ihm als Gründer Olympias bezeichnet worden ist.187 Der schnorrende Poet vollzog dieselbe Übereinstimmung zweier oikistai: Hieron und Pisthetairos. Im selben Zug wird auch die bricolage-Technik der Poeten angegriffen, die ihre Lobgesänge aus Versatzstücken zusammengesetzt hätten. Vergleicht man die drei unterschiedenen Zeitebenen, blieb die narrative Ausgestaltung von Äußerungen zu Gründungen relativ stabil: Einer apoikia wurden in der überwiegenden Zahl der Fälle eine mētropolis und ein Gründer zugeordnet. Dies galt auch für Synoikismen. Was bei den zeithistorischen Reflexionen zum Verhältnis einer apoikia zu ihrer mētropolis hinzukam, war ein merkliches Auseinanderklaffen 184 Vgl. sowohl zu Pindars als auch zu Aischylos’ Werk zu Aitne: Dougherty 1991 und PoliPalladini 2001. 185 Aristophanes Die Vögel: 917-930. 186 Pindar: F 81 apud Strabon: VI. 2. 3. Siehe Dunbar 1995: 532f. 187 Zu diesem poetischen Referenzsystem vergleiche grundlegend Calame 2011: 91-199, ausgeführt anhand der Oden zu Kyrene.
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zwischen einer idealisierten und einer pragmatischen, realpolitischen Dimension: Mētropoleis wurden gewechselt und den »alten« Banden wurde in einer als von Machtpolitik geprägt gesehenen Gegenwart nachgetrauert. Im Gegensatz zur Hervorhebung einer heterogenen Zusammensetzung der apoikoi bei Gründungen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart zeichnen sich die Schilderungen zu ktiseis der zwei Vergangenheitsebenen dementsprechend durch eine eindeutigere und zugleich formalisiertere Beschreibungsart aus: Es gab eine Herkunft beziehungsweise mētropolis, einen Gründer und eine Ursache für die Emigration. Kausalitäten Was die in den Quellen greifbaren Kausalitäten betrifft, lässt sich eine ähnliche Entwicklung wie bei der Frage des Ursprungs nachzeichnen. Für weiter zurückliegende Gründungen war stets eine klar greifbare Kausalität verfügbar: Ein konkreter Umstand x verursachte die Gründung einer bestimmten apoikia. Hierbei lässt sich ein Rückgriff auf ein fixes Repertoire beobachten, entsprechend dem verfügbaren Wissen zu diesen Phänomenen. Platon lässt in Die Gesetze den Athener konkrete Emigrationstypen mit ihren Kausalitäten aufzählen: »Nun wird die Gründung einer Kolonie [katoikismos] den Staaten nicht ebenso leichtfallen, wenn sie nicht nach Art der Bienenschwärme stattfindet, also ein einziger Volksstamm aus einem einzigen Landstrich, Freunde von Freunden, wegzieht und sich ansiedelt, weil er durch die Enge des Landes bedrückt oder durch andere Unannehmlichkeiten dieser Art dazu genötigt wurde. Bisweilen kann auch durch innere Unruhen ein Teil des Staates gewaltsam gezwungen werden, anderswohin auszuwandern; ja manchmal hat schon die gesamte Bürgerschaft eines Staates ihre Heimat verlassen, weil sie von einem übermächtigen Krieg gänzlich überwältigt wurde.«188
Im Fall von Gruppenmigrationen wird also der Typus der geplanten Aussendung von Siedlern (stenochōria/Überbevölkerung) und der konfliktueller Typ (stasis) genannt, ebenso die Emigrationen der Gesamtheit (Flucht). Die Ursachen zeitgenössischer ktiseis entsprachen im Großen und Ganzen diesem Grundmuster: Strukturelle Ursachen nannte Xenophon, wenn er Armut als einen Emigrationsgrund angab.189 Dasselbe Thema findet sich im politischen Programm des Isokrates zur Versorgung von Bedürftigen mittels der Eroberung neuen Siedlungslandes.190 Stasis führte zum Auswanderungszug des Spartaners Dorieus ca. 515/4 v.Chr., der sich seinem Halbbruder (dem »schwachsinnigen« Kleomenes) nicht unterordnen wollte, auch wenn in diesem 188 Platon Die Gesetze: 708bf. Auch im Kriton (51d) wird Auswanderung als Option für mit der politischen Situation Unzufriedenen genannt. 189 Xenophon Anabasis: VI. 4. 7f. 190 Isokrates Über den Frieden: 22-24, Philippos: 120 oder Panathenaikos: 13f.
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Fall eine einvernehmliche Emigration erfolgte.191 Ein ähnlich gelagerter Fall war des Atheners Miltiades ktisis im (thrakischen) Chersonesos in der Mitte des 6. Jh. v.Chr. Hier wurde der oikistēs Miltiades einerseits durch den göttlichen Willen, manifestiert in einem Spruch der Pythia, erwählt, andererseits war ihm »die Herrschaft des Peisistratos sehr zuwider«.192 Erwähnung finden kann auch die samische Gründung Kydonia auf Kreta, wohin die innenpolitischen Gegner des Polykrates emigrierten. 193 Insgesamt war allerdings stasis als Ursache einer zeitgenössischen apoikia seltener als bei den Schilderungen der Emigrationen der Vergangenheit. Der Großteil der geschilderten zeitgeschichtlichen Emigrationen hängt mit Flucht und Vertreibung zusammen und hat vor allem mit der Expansion des persischen Reichs in Kleinasien zu tun. Dementsprechend wurden nicht mehr kleine Grüppchen von einer polis entsandt, sondern meist wird der Auszug der gesamten polis geschildert. Im Zuge der ersten Kampagne unter Kyros II. flohen etwa die Teier nach Abdera (ca. 543 v.Chr.).194 Auch die Phokäer entwichen zunächst in ihrer Gesamtheit. Die Hälfte sei dann aber doch nach Phokaia zurückgekehrt, während die andere Hälfte nach Ala-lia und schlussendlich nach Elea zog.195 Infolge des ionischen Aufstands (500/499-494 v.Chr.) und der darauf folgenden Strafexpeditionen unter dem Perserkönig Dareios erfolgte ebenfalls eine Emigrationswelle: Die Samier (mit einigen Milesiern) flohen nach Sizilien und eroberten dort Zankle,196 andere Milesier versuchten sich (vergeblich) unter Aristagoras in Myrkinos anzusiedeln197 und die Byzantioner und Kalchedonier flohen in das Schwarze Meer nach Mesambria. 198 Im Rahmen dieser Ereignisse kam es auch zu Zwangsemigrationen: Die Milesier wurden ans Rote Meer umgesiedelt199 und die Eretrier nach Arderikka (bei Ekbatana).200 Bei der Lektüre des platonischen Werks sollte stets im Hinterkopf behalten werden, dass es sich hierbei um normative Aussagen handelt. Platon lässt seine Protagonisten über die Welt sprechen, wie sie sein sollte. Seine Überlegungen zur idealen apoikia waren in dieser Hinsicht eine Stellungnahme gegen die Realpolitik seiner Zeit. Liest man zwischen den Zeilen, ergeben sich dementsprechend Hinweise, was letztere ausmachte: Machtpolitik war demnach ein zentraler Anreiz zur Gründung 191 Herodot: V. 39-48. 192 Ebd.: VI. 34-36. 193 Ebd.: III. 44 und 59. 194 Ebd.: I. 168. 195 Ebd.: I. 161-170. Vgl. Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 8 apud Strabon VI. 1. 1. 196 Ebd.: VI. 22-24. 197 Ebd.: V. 11 und 124-126. 198 Ebd.: VI. 33. 199 Ebd.: VI. 20. 200 Ebd.: VI. 119. Zudem berichtete Herodot (VI. 3) von dem Gerücht, dass Dareios die Ionier in Phönikien und vice versa ansiedeln wollte.
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neuer Städte. Eine auf die Spitze getriebene Manifestation findet sich in Aristophanesʼ Die Vögel: Die Stadtgründung dient der Erlangung von absoluter Hegemonie – eine Karikatur der hegemoniale Politik Athens. Realiter zeigt sich diese Vorgangsweise Athens in den thukydideischen Beschreibungen der Ansiedlung athenischer Siedler in eroberten Orten.201 Auch für Sparta machte Thukydides strategische Absichten bei der Gründung von Herakleia Trachis aus: 202 »Die Lakedaimonier hörten sie an und waren fest entschlossen, eine Tochterstadt zu gründen [wörtl.: eine apoikia zu entsenden (ekpempō), MM], weil sie den Trachiniern und Dorern einerseits Sicherheit verschaffen wollten, zugleich aber passte ihnen die Anlage einer Stadt vorzüglich angesichts des Krieges mit Athen.«203
In dieser Passage wird die von den Spartanern empfundene Beistandspflicht gegenüber den dortigen Doriern als eine weitere Motivation der ktisis erwähnt. Thukydides spricht explizit von der mētropolis der Spartaner (wegen des Herakles-Exils beim mythischen dorischen Stammvater Aigimios). In diesem Fall verband sich Realpolitik mit einer Legitimation, die auf genealogische Traditionen fußen konnte. Der Seehandel spielt in den Quellen auf den ersten Blick so gut wie keine Rolle.204 Seine Bedeutung in der Gegenwart zeigt sich jedoch allein in Platons Gebot, dass die neue polis vom Meer mit seinen schädlichen Einflüssen auf die Sitten fernzuhalten sei:205 »Denn die Nähe des Meeres ist für ein Land zwar angenehm für das tägliche Leben, in Wahrheit aber ist dies eine recht salzige und bittere Nachbarschaft; indem das Meer nämlich die Stadt mit Großhandel und mit Geldgeschäften infolge des Kleinhandels überschwemmt und dadurch verschlagene und unzuverlässige Gesinnungen in den Seelen erzeugt, macht es die Stadt mißtrauisch und unfreundlich gegen sich selbst und ebenso auch gegen die anderen Menschen.«206
Diese ethische Überlegung steht im Gegensatz zum Faktum, dass sich der Großteil der apoikiai tatsächlich am Meer befand. Und Thukydides wie auch Herodot sahen
201 Thukydides: I. 98, II. 70. 4 (Poteidaia), II. 27 (Aigina), III. 50 (Mytilene), V. 116. 3f. (Melos). In diesen Kontext passt auch die Ansiedlung der geflüchteten aufständischen Messenier in Naupaktos durch Athen (Isokrates Panathenaiokos: 94). 202 Siehe zu Herakleia Trachis Figueira 2008: 480-483. 203 Thukydides: III. 92. 4. 204 Siehe hierzu auch Miller 1997: 1 und 39-46. 205 Siehe zu diesem Thema auch Aristoteles Politik: 1327b. 206 Platon Die Gesetze: 705a.
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die Handelsschifffahrt als eines der Hauptanliegen der Seefahrt ihrer Zeit. 207 Zudem weist etwa die Benennung von Eion am Strymon als emporion durch Thukydides auf die Funktion einer Siedlung als Handelsort hin.208 Unterstrichen wird dies durch eine Passage in Xenophons Anabasis, die die Folge des Gerüchts schildert, dass das am (natürlichen) Hafen Kalpe lagernde Söldnerheer eine Stadt gründen wolle: »Schon herrschte Überfluß an allem; denn Kaufgüter wurden angeboten von überall her aus den griechischen Städten, und die Vorüberfahrenden legten gerne an, da sie hörten, daß hier eine Stadt gegründet [oikizō] werde und ein Hafen vorhanden sei.«209 Die Anderen Hinsichtlich von in der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit erfolgten Gründungen gibt es einige Aussagen zum Widerstand der lokalen Bevölkerung sowie zu gescheiterten Gründungsunternehmungen. Dorieus hatte es zunächst in Libyen, am Fluss Kinyps, versucht, von dort wurde er von den Makern und den Karthagern vertrieben. Dann wandte er sich nach Sizilien, wo er gegen die Phönizier und Egestaier Schlacht und Leben verlor.210 Die vor den Persern geflüchteten Phokäer mussten infolge der Seeschlacht vor Alalia erneut auswandern,211 und auch die Geschichte der Besiedlung von Amphipolis durch Athen war von einer Serie von Fehlschlägen gekennzeichnet.212 Angesichts dieser prekären Erfahrungen überrascht es nicht, dass das Aufeinandertreffen mit der bereits vorher ansässigen Bevölkerung als Bedrohung wahrgenommen werden konnte. Platon betonte in Die Gesetze, dass die Bevölkerung der fiktiven neuen apoikia groß genug sein müsse, um feindlichen Angriffen widerstehen und den Nachbarn in einem solchen Fall helfen zu können. 213 Ähnliche Vorbehalte finden sich im Brea-Dekret, einer inschriftlich festgehaltenen Gründungsübereinkunft zwischen Athen und seiner apoikia Brea in Thrakien aus dem 5. Jh. v.Chr.,214 in Form einer festgeschriebenen Beistandspflicht für den Fall eines An-
207 Siehe etwa Thukydides: I. 2-19, oder Herodots Kommentar zu einer Aussage des Kyros über die Hellenen: »Diese verächtlichen Worte waren gegen die Hellenen im ganzen gerichtet, weil sie Märkte haben und ein handeltreibendes Volk sind.« (I. 153). 208 Thukydides: IV. 102. 3. Siehe zum Begriff »emporion« Bresson 1993 und Hansen 2006. 209 Xenophon Anabasis: VI. 6. 3. 210 Herodot: V. 39-48. 211 Ebd.: I. 165-167. 212 Thukydides: I. 100. 3, IV. 102. Vgl. auch Isokrates Philippos: 5. Weitere Beispiele sind das von Thrakern eroberte Abdera (Herodot: I. 168) oder der in Thrakien besiegte und gefallene Aristagoras (Herodot: V. 124-126). 213 Platon Die Gesetze: 737d. 214 Über diesen Ort in Thrakien ist relativ wenig bekannt, nicht einmal die exakte Lokalisierung ist gesichert. Bekannt wurde er primär aufgrund des fragmentarisch erhaltenen
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griffs auf attische Siedler. Bei Xenophons vermeintlicher Besiedlung des augenscheinlich unbesiedelten natürlichen Hafens Kalpe klingt dieses Bedrohungsszenario ebenfalls an: »Es schickten aber auch schon die Feinde, die in der Nähe wohnten, Gesandte zu Xenophon, da sie gehört hatten, er wolle an diesem Platz eine Stadt gründen; sie ließen fragen, was sie tun müssten, um als Freunde zu gelten.«215 Das deutet auch die Möglichkeit von friedlichen Arrangements an. Ein Extremfall in dieser Hinsicht ist Isokrates mit seinen Plänen zur Eroberung von Land für Griechenland: Ein Scheitern schien angesichts der Unterlegenheitsvorstellung hinsichtlich der Barbaren nicht in Frage zu kommen.216 Hierbei kann darauf verwiesen werden, dass Isokrates am Ende der klassischen Zeit steht, in der sich ein Wandel in der Einstellung der Hellenen gegenüber den Anderen abzeichnete.217 Das soll nicht heißen, dass es nicht bereits im 5. Jh. v.Chr. vergleichbare Aussagen zu Eroberungen gegeben hat, wofür der von Herodot festgehaltene Rat des Bias von Priene an die von den Persern bedrängten Ionier ein Beispiel wäre: sich Sardinien zu unterwerfen, um dort eine panionische Stadt zu gründen.218 Die diametral entgegensetzte Kontaktart mit Anderen als Verbündete findet sich etwa in Herodots Schilderung des Schicksals des Miltiades auf dem Chersonesos:219 Er wurde von den thrakischen Dolonkern zum König gemacht, als diese von einem anderen thrakischen Stamm bedroht waren. Nach seinem Tod übernahm sein Neffe Stesagoras seine Rolle und nach dessen gewaltsamen Tod schließlich dessen Bruder Kimon. Nun kam es zu einer intermarriage, indem er die Tochter eines thrakischen Königs ehelichte. In Xenophons Anabasis wird beschrieben, wie die hellenischen Söldner auf Seiten des thrakischen Königs Seuthes gegen dessen Feinde kämpften.220 Auch Kooperation mit dem Perserreich lassen sich anführen: Histiaios von Milet erbat sich von Perserkönig Dareios die Landschaft Myrkinos in Thrakien, um eine Stadt zu gründen, und Koes von Mytilene die Herrschaft über seine Heimatstadt.221 ktisis Besonders die Passagen aus Aristophanes’ Die Vögel und Platons Dialog Die Gesetze vermitteln den Eindruck, dass ktiseis einen hohen Grad an Organisation wie auch
Dekrets (IG I2 45; siehe Brodersen/Günther/Schmitt 1992: 58f.), welches eines der zentralen epigraphischen Zeugnisse einer Stadtgründung darstellt. 215 Xenophon Anabasis: VI. 6. 4. 216 Etwa Isokrates Panathenaikos: 13f. oder Philippos: 120. 217 Siehe hierzu Vlassopoulos 2013: 190-200. 218 Herodot: I. 170. 219 Ebd.: VI. 34-39. 220 Xenophon Anabasis: VII. 221 Herodot: V. 11.
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Performanz aufwiesen: Die zu vollführenden Akte waren administrativer wie ritueller Natur. Beides sollte dazu beitragen, dass eine apoikia euktimenos, gut gegründet, war, was sowohl soziopolitische als auch religiöse Aspekte betraf. Hinsichtlich der Darstellung der oikistai lässt sich eine markante Entwicklung feststellen: Früher gab es ausschließlich ›starke‹ Gründerfiguren. In der Gegenwart trat ein anderer Typ an ihre Seite: Ein von einer polis ernannter, funktionärsartiger Gründer. Hagnon, der oikistēs von Amphipolis, wurde von Athen entsandt, benannte dann die neue Stadt und befestigte sie.222 Gleichwohl erhielt er heroische Ehren wie ein ›starker‹ oikistēs. In Platons Dialog haben die fiktive Figur Kleinias und seine neun Amtskollegen die Funktion für die Organisation und die Erstellung der Gesetze zu sorgen (wobei eine genauere Amtsbezeichnung unterbleibt) vom dēmos der Knosier übernommen.223 Zur Gründung von Herakleia Trachis wurden durch Sparta gleich drei oikistai entsandt224 – keineswegs das einzige Beispiel für mehr als einen Gründer.225 Und im Brea-Dekret wurden ein Demokleides als autokrator bezeichnet sowie neben ihm noch andere Funktionsträger (wie etwa apoikistai) aufgelistet.226 Im Fall der versuchten Neubesiedlung von Epidamnos durch Korinth erwähnte Thukydides nicht einmal einen oikistēs227, genauso wenig wie Herodot bei seiner Schilderung der Besiedlung Eleas durch die Phokäer.228 Hier ging die Initiative klar von den poleis aus: Thukydides’ verallgemeinernde Rekonstruktion eines Übergangs der Urheberschaft von apoikiai auf die konsolidierten poleis vollzog in seinem kurzen Abriss der griechischen Geschichte diesen Trend nach. Es gab aber auch nach wie vor ›starke‹ oikistai wie etwa Dorieus, der seine Unternehmungen eigenständig durchführte. Er musste jedoch einen laos, eine nicht näher bestimmte Menschenmenge, von den Spartiaten erbitten.229 Ein besonderer Fall ist Hieron I., der als monokratischer Repräsentant der polis einerseits die ktisis initiierte, andererseits in Personalunion ihr oikistēs war. Für die Gründungen der Gegenwart gab es somit ein Nebeneinander von poleis und oikistai als Betreiber von ktiseis, entsprechend jeweiligen politischen Verhältnisse in der mētropolis. Ein zentraler Punkt war die göttliche Sanktionierung des Unterfangens. Xenophon etwa brachte Opfer, um die Meinung der Götter zu seiner Idee der Gründung 222 Thukydides: IV. 102. 223 Platon Die Gesetze: 702cf. 224 Thukydides: III. 92. 5. 225 Etwa Massalia (Simos und Protis: Justin: XLIII. 3) oder Gela (Antiphemos aus Rhodos und Entimos aus Kreta: Thuykdides: VI. 4. 3) und Himera (Eukleides, Simos und Sakon: Thukydides: VI. 5. 1). 226 IG I2 45 (siehe Brodersen/Günther/Schmitt 1992: 58f.). 227 Thukydides: I. 27. 1. 228 Herodot: I. 167. 229 Ebd.: V. 42. 2.
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einer Stadt am Schwarzen Meer einzuholen. Hierbei fungierte ein mantis als Interpret:230 »Dafür ließ er Opfer darbringen, bevor er irgendeinem Soldaten davon mitteilte, und ließ hieraus Silanos aus Amprakia rufen, der der Seher [mantis] des Kyros gewesen war. Silanos aber fürchtete, dieser Gedanke könnte verwirklicht werden und das Heer irgendwo zurückbleiben; daher verbreitete er im Lager das Gerücht, Xenophon wolle das Heer zurückhalten, eine Stadt gründen [oikizō] und sich Namen und Macht verschaffen.«231
Ähnliches wiederholte sich beim Hafen Kalpe: »Danach ließen die Strategen Opfer darbringen, als Seher [mantis] war der Arkader Arexion dabei. Silanos aus Amprakia hatte schon das Weite gesucht, nachdem er sich ein Schiff aus Herakleia gemietet hatte. Als sie für den Abzug opferten, fielen die heiligen Zeichen nicht günstig aus. Daher warteten sie noch einen Tag. Einige wagten zu behaupten, Xenophon wolle diesen Landstrich besiedeln [oikizō] und habe den Seher überredet, er solle sagen, die Opferzeichen seien für einen Abmarsch nicht günstig.«232
Gerade der letzte Satz verweist auf ein Glaubwürdigkeitsproblem – in diesem Fall aufgrund der möglichen Korrumpierbarkeit von weissagender Instanzen. 233 Diese Einholung der göttlichen Bestätigung ist auch der erste Formalakt, der in Aristophanesʼ Die Vögel aufscheint: Das Opfer, welches die (neuen!) Götter gnädig stimmen soll.234 Auch das Gründungsdekret von Brea verzeichnete »glückverheißende« Opfer235 und in Platons Werk Die Gesetze bezeichnet Kleinias, das Mitglied der Kommission zur Gründung einer kretischen apoikia, sein Zusammentreffen und das daraus resultierende Gespräch mit Megillos und dem Athener als gutes Omen (oiōnos – genaugenommen ein Vogelzeichen)236. Neben erfolgversprechenden Zeichen spielten Orakel eine wichtige Rolle. Zu den Störenfrieden, welche von Aristophanes’ oikistēs Pisthetairos fortgejagt werden, zählt ein chrēsmologos, der durch die Auslegung eines Orakels des Bakis sich Kleidung und Nahrung zu erschleichen versucht. 237
230 Siehe hierzu etwa Fontenrose 1978: 143. 231 Xenophon Anabasis: V. 6. 15-17. 232 Ebd.: VI. 4. 13f. 233 Siehe etwa den Fall des Kleomenes: Herodot: VI. 66-80. 234 Aristophanes Die Vögel: 809-811. 235 IG I2 45 (siehe Brodersen/Günther/Schmitt 1992: 58f.). 236 Platon Die Gesetze: 702b. 237 Aristophanes Die Vögel: 960-991. Vgl. zu dieser Passage Fontenrose 1978: 154f. und Dunbar 1995: 542. Auch Herodot nannte mehrere Bakis-Orakelsprüche. Diese dürften
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Pisthetairos kontert mit einem der Situation entsprechenden Delphi-Orakel und verprügelt ihn. Bereits diese kurze Episode zeigt die Bandbreite bei der Konsultation von Orakeln: Entweder gab es Spezialisten, die auf kursierende Orakelsprüche zurückgriffen beziehungsweise bei der Interpretation von eingeholten Gründungsorakeln halfen, oder es war der oikistēs selbst, der einen Orakelspruch einholte, was vorwiegend die Konsultation der Pythia bedeutete. Beides kam auch bei Herodots Schilderung der Unternehmungen des Dorieus (ca. 515-510 v.Chr.) zur Sprache:238 Hinsichtlich des ersten und gescheiterten Gründungsversuchs in Libyen bemerkte Herodot, dass Dorieus weder das Orakel von Delphi konsultierte, noch die »anderen Gebräuche« befolgt habe. Aber Dorieus erwies sich als lernfähig: »Nun riet ihm ein Orakeldeuter, Antichares aus Eleon, auf Grund der Orakelsprüche des Laios, er solle das Land des Herakles in Sizilien kolonisieren [ktizō]. Das ganze Land am Eryx, sagte er, gehöre den Herakliden, denn Herakles habe es besessen. Als Dorieus das hörte, ging er nach Delphi, um dort anzufragen, ob das Land, das er besiedeln wolle, sein Eigen werden würde. Die Pythia antwortete, ja, er werde es erobern. Dorieus fuhr also mit denselben Auswanderern, die er nach Libyen geführt hatte, an Italien vorüber nach Sizilien.«239
Ein weiteres aufschlussreiches Beispiel für die Vorstellungen zur Rolle von Orakeln bei ktiseis ist die ebenfalls bei Herodot greifbare Schilderung der Gründung Eleas. Nach ihrer Flucht vor den Persern hatten sich die Phokäer zunächst nach Alalia auf Korsika (Kyrnos) gewandt, waren von dort aber nach der Seeschlacht gegen die Karthager und Etrusker nach Rhegion geflohen. Herodot schrieb zum weiteren Verlauf: »Die anderen, die sich nach Rhegion geflüchtet hatten, zogen von dort aus wieder ab und eroberten im Lande Oinotrien die Stadt, die jetzt Hyele heißt. Diese Stadt besiedelten [ktizō] sie deshalb, weil ein Mann aus Poseidonia ihnen sagte, die Pythia hätte mit ihren Orakelspruch den Heros Kyrnos, nicht die Insel Kyrnos gemeint.«240
Es erfolgte einerseits eine Neuinterpretation des pythischen Spruchs, was Herodot andererseits als eine Begründung des Scheiterns der Ansiedlung in Alalia auffassen konnte: Nicht nur eine nicht erfolgte Konsultation des Orakels von Delphi, sondern auch dessen inkorrekte Auslegung waren schädlich für eine ktisis. Auch im Rahmen der spartanischen Gründung von Herakleia Trachis wurde der Gott in Delphi befragt, gerade in Athen einer gewissen Beliebtheit gehabt haben. Siehe hierzu Maurizio 1997: 326-329. 238 Herodot: V. 39-48. 239 Ebd.: V. 43. 240 Ebd.: I. 167. 3f.
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der sie dazu ermunterte.241 Bemerkenswert ist, dass in diesem Fall, genauso wie bei Dorieus’ Befragung oder der Neubesiedlung von Epidamnos, die Pythia mit einer konkreten Ja-/Nein-Frage konfrontiert wurde. Der Plan der ktisis war bereits vorhanden, er musste nur noch sanktioniert werden. Im Unterschied dazu werden gerade detailliertere Orakelsprüche dann angeführt, wenn eine zentrale Information bei einer Gründung fehlte. Oftmals betraf dies den Ort, wie im Fall von Alalia oder dem Zug des Dorieus. Ein weiteres Beispiel ist Miltiades und der Chersonesos: Hier fehlte zunächst ein oikistēs, weshalb er durch die Pythia auserkoren wurde. Dies sicherte Miltiades Legitimität. Er selbst konsultierte die Pythia zur Sicherheit erneut, diesmal zum bereits gefassten Plan und mittels einer Ja-/Nein-Frage. Diese Unsicherheit aufgrund des Fehlens eines Bestandteils einer ktisis eröffnete einen Interpretationsspielraum, wo etwa unterstützend auch auf kursierende Orakelsprüche, wie etwa jene des Bakis oder des Laios, zurückgegriffen werden konnte. Die Ordnung des Raumes und des Zusammenlebens Genauere Hinweise zur Zusammensetzung der emigrierenden Gruppe bietet die Gründungsurkunde von Brea, einer apoikia Athens in Thrakien aus dem 5. Jh. v.Chr. Es wurde festgeschrieben, dass die Siedler aus den niederen Zensusklassen der Theten und Zeugiten rekrutiert werden, wobei besonders betont wird, dass sich auch aus der Armee zusätzliche Siedler anschließen können.242 In diese Richtung zielten auch Isokrates’ Gründungspläne: Siedlungen zu schaffen für Mittel- und Heimatlose.243 Auf eine grundsätzliche Offenheit der Teilnahme verweist etwa das Beispiel der Neubesiedlung von Epidamnos durch Korinth, wo es geheißen habe, dass jeder teilnehmen könne und dieselben Rechte genießen würde.244 Eine eigene Konstellation ergab sich natürlich im Fall der Emigration ganzer poleis. Hier emigrierten alle, also auch »mit Frauen und Kindern«.245 Die Beteiligung von Frauen an Emigrationszügen wurde nur äußerst selten und dann in indirekter Form thematisiert.246 Angesichts der stark patriarchal ausgerichteten Gesellschaft dürften Frauen aber kaum als eigenständige Rechtspersonen an einer ktisis teilgenommen oder gar Landlose erworben haben. Die Ordnung des Zusammenlebens nimmt in Platons Die Gesetze viel Raum ein. Eine der zentralen Aufgaben seiner 10er-Kommission ist die Erstellung eines Gesetzeskatalogs. In weiterer Folge sollten 100 Emigranten und zusätzlich 100 Bürger aus Knossos eine Kommission bilden, um die Dinge in der neuen Siedlung zu ordnen. 241 Thukydides: III. 92. 5. 242 IG I2 45 (siehe Brodersen/Günther/Schmitt 1992: 58f.). 243 Isokrates Philippos: 120 und Über den Frieden: 22-24. 244 Thukydides: I. 27. 1. 245 Herodot: VIII. 62: Themistokles droht die Auswanderung der Athener nach Siris an. 246 Vgl. Hall 2002: 100.
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Anschließend wäre eine 37er-Kommission (die nomophylakes: 752e) übergangsmäßig für die Einhaltung der Gesetze zuständig.247 In keiner anderen Quelle der klassischen Zeit gibt es Hinweise auf derartige Kommissionen. Inwieweit dies auf eine allgemeine (athenische) Praxis zurückgreift, lässt sich somit kaum bestimmen. Realiter wird eine apoikia oftmals die nomoi und die gesetzliche Ordnung der mētropolis übernommen haben,248 oder es erfolgte, gerade im Fall eines Synoikismos, eine Ausverhandlung dieser Regelungen vor Ort, wahrscheinlich unter Aufsicht der gründenden Personen und/oder eines beauftragten Experten.249 Gerade die epigraphischen Quellen verweisen auf die große Bedeutung der Regelung der gegenseitigen Rechte und Pflichten von mētropolis und apoikia:250 Die erhaltenen Gründungsurkunden von Brea und Naupaktos und auch das Kyrene-Dekret beinhalten Übereinkünfte zu diesem Verhältnis sowie zum rechtlichen Status der entsendeten Siedler. Vor allem das Dekret von Naupaktos ist in dieser Hinsicht eindeutig: Es wurde genau geregelt, welche Rechte und Verpflichtungen Bürger der apoikia und der mētropolis haben.251 Eine ähnliche Regelung findet sich auch in den ersten 20 Zeilen der Kyrene-Inschrift, bevor die ursprüngliche Gründungsvereinbarung zitiert wird. 252 Aristophanes griff in Die Vögel beides auf: Der schlussendlich ebenfalls verprügelte Gesetzhändler versucht der neuen Stadt Gesetze zu verpassen, welche die Beziehungen zur vermeintlichen mētropolis Athen regeln, beziehungsweise sogar die Übernahme der Regelungen der mētropolis vorschreiben: »Gesetzhändler (vorlesend): ›Wenn aber ein Wolkenkuckucksheimer einen Athener beleidigt –‹ Ratefreund: Schon wieder so ein Scheusal! Was will er mit dem Buch? Gesetzhändler: Ein Gesetzhändler bin ich und biete euch Eine Sammlung neuer Gesetze an zum Kauf. Ratefreund: Laß sehn! Gesetzhändler: ›Die Wolkenkuckucksheimer sollen gleiches Maß, Gewicht und Recht haben wie die Eulenstädter‹.«253
247 Platon Die Gesetze: 754d. 248 Siehe hierzu, mit Beispielen, A.J. Graham 1964: 100, 163, 200-210. 249 Siehe etwa Graham 1964: 40-68 und 98-117. 250 Vgl. hierzu auch Malkin 2016: 39-46. 251 SIG 47 (siehe Brodersen/Günther/Schmitt 1992: 11f.). Apoikia der hypoknemidischen Lokrer (vermutlich im ersten Viertel des 5. Jh. v. Chr. entstanden). Vgl. Graham 1964: 45-61, 226-228. 252 SEG IX 3 (siehe Brodersen/Günther/Schmitt 1992: 4-6). 253 Aristophanes Die Vögel: 1034-1041.
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Landverteilung Die Gründungsurkunde von Brea nennt 10 geonomoi, die für die Aufteilung des Bodens zuständig waren und bei Platons utopischer ktisis sollten 10 Personen (unter anderen) mit der Einteilung der Stadt und der gerechten Landvergabe betraut werden. Ein Geometer hat auch in Die Vögel seinen Auftritt, wo er die Vermessung der Luft und Einteilung der Stadt in Angriff nehmen will, ehe auch er verjagt wird. Weitere Hinweise auf eine Landverteilung gibt es bei der versuchten Neubesiedlung von Epidamnos, wo jene Korinther, die nicht unmittelbar in die apoikia aufbrechen konnten oder wollten, mit 50 korinthischen Drachmen einen Anteil erwerben konnten. Und der entscheidende Passus der Gründungsübereinkunft auf der Kyrene-Stele sieht vor, dass Nachzügler aus Thera das volle Bürgerrecht sowie noch unbesetztes Land im selben Ausmaß zugelost erhalten sollen.254 Das Thema der Landvergabe spielt auch eine Rolle in der Schilderung der Ereignisse nach der athenischen Eroberung von Mytilene auf Lesbos durch Thukydides.255 Er berichtete, dass anstelle einer Abgabe (phoros) das Land in 3000 Grundstücke (klēroi) aufgeteilt und unter den Athenern verlost wurde, die somit zu sogenannten klērouchoi wurden.256 Mytilene und ähnlich eingerichtete Siedlungen257 werden deshalb von der modernen Forschung als Kleruchien kategorisiert und von apoikiai unterschieden. Inwieweit bereits in der klassischen Zeit konzeptuell zwischen apoikiai und klērouchiai als Siedlungstypen unterschieden worden ist, ist aufgrund der dürftigen Quellenbasis unbeantwortbar. 258 Im Fall von Mytilene erfolgte die Verteilung eroberten Landes. Ähnliches wäre wohl 254 SEG IX 3 (siehe Brodersen/Günther/Schmitt 1992: 4-6). 255 Thukydides: III. 50. 256 Laut Thukydides verpflichteten sich die Lesbier für diese Grundstücke jährlich einen Zins von 2 Minen zu zahlen und bebauten das Land selbst. Die Eigentümer dieser Landlose (klērouchoi) betreffend stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich emigrierten. Thukyides schrieb zwar, dass sie entsendet (apopempō) wurden, der Umstand, dass die Lesbier das Land weiter bebauten, schürt Zweifel. 257 Vgl. auch Herodot: V. 77. 2: 4000 klērouchoi wurden in Chalkis installiert. 258 Dem Forschungsproblem, inwieweit eine Subkategorie der Kleruchien innerhalb der »griechischen Kolonisation« identifizierbar ist, wird im zweiten, forschungsgeschichtlichen Teil mehr Raum gegeben. Vgl. hierzu Figueira 1991: 7-11 und 41-48 sowie 2008: 435-440 und Cargill 1995: xxiff. Auf einer praktischen Ebene identifiziert Thomas Figueira (2008: 437) den Unterschied zwischen athenischen apoikiai und klērouchiai darin, dass bei letzteren der Akzent auf der Inbesitznahme und Verteilung von Land an Athener lag, bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Bildung eines Gemeinwesens. Diese Politik muss vor allem vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die athenische Bevölkerung nach Zensusklassen eingeteilt wurde, die in Korrelation mit der Aufstellung des Heeres standen: Die Bürger sorgten selbst für ihre Ausrüstung. Mehr Bürger in höheren Zensusklassen bedeuteten somit mehr Schwerbewaffnete.
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auch bei einem Erfolg des Spartaners Dorieus passiert. Bei Epidamnos musste die Neugründung zugleich auch eine zumindest partielle Neuverteilung des Landes nach sich ziehen, was sicherlich aufgrund der Vertreibung der herrschenden Schicht ermöglicht wurde. Grundlage einer Landverteilung war somit eine Revidierung der alten (Besitz-)Ordnung, was folglich als ein wichtiger Faktor im Rahmen einer (Neu)Gründung wahrgenommen worden sein dürfte. Ein weiterer, in den Quellen greifbarer Punkt ist die Abtrennung von heiligen Bezirken, was in Platons Dialog Die Gesetze, in der Brea-Gründungsurkunde oder auch im Fall Mytilenes erwähnt wird, wo explizit 300 Grundstücke als heilige Bezirke abgesondert worden sind.259 Der Fall Thurioi Thurioi wurde unter athenischer Federführung um 445 v.Chr. als Nachfolgerin des um 510 v.Chr. durch Kroton zerstörten Sybaris gegründet.260 Direkte zeitgenössische Quellen gibt es nur in Form von knappen Verweisen in Aristoteles’ Politik. Ein umfassender Bericht ist erst durch Diodor (1. Jh. v.Chr.) erhalten, weshalb ich mir in diesem Fall einen Vorgriff auf eine spätere Quelle erlaube. Bei dieser (Neu-)Gründung ging einiges schief: »Doch nur kurze Zeit lebten die Thurier friedlich zusammen, dann gerieten sie in einen schweren Bürgerkrieg, und dies nicht ohne Grund: Die früheren Sybariten verteilten nämlich die bedeutendsten Ämter unter sich, die geringeren aber an jene Bürger, die erst später aufgelistet worden waren. Auch ihre Frauen, glaubten sie, müßten bei den Opfern für die Götter den ersten Rang unter den Bürgerinnen einnehmen, einen niedrigeren Rang aber jene, die erst später hinzugekommen waren; des weiteren teilten die das stadtnahe Land in Losen [klēroucheō] unter sich, das entfernt liegende Gebiet aber unter die Neuankömmlinge. Als es aus den erwähnten Gründen zum Streit gekommen war, erwiesen sich die Bürger, die erst später in den Listen aufgenommen worden waren, als zahlreicher und stärker, sie töteten daher fast alle ursprünglichen Sybariten und nahmen die Kolonisation [katoikeō] selbst in die Hand.«261
Aristoteles geht auf die beiden zentralen Elemente, die zum soeben beschriebenen Desaster geführt hatten, ein: Zunächst ist Thurioi in seiner Politik ein Beispiel für die Problematik von synoikismoi, also einer Bevölkerungszusammensetzung aus verschiedenen ethnē. Das zweite Problem resultierte aus dem ersten: »Und auch in Thurioi gerieten die Sybariten mit ihren Miteinwohnern in Streit, indem diese geltend machten, daß ihnen das Land gehöre, und sie auf Grund dessen höhere Ansprüche
259 Thukydides: III. 50. 260 Vgl. zu Thurioi auch Figueira 2008: 444f. 261 Diodor: XII. 11. 1f.
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machten, was denn zu ihrer Vertreibung führte.«262 Die Sybariten ereilte somit ein weniger drastisches Schicksal wie in der Schilderung Diodors. Das Beispiel Thuriois führte den Zeitgenossen eindringlich vor Augen, welche Gefahren in einer ungerechten soziopolitischen Ordnung lagen. Auffällig ist, dass gerade diese Aspekte auch zentral bei der idealen Einrichtung einer apoikia in Platons Die Gesetze waren. Dort war eine Unterteilung der »gemischten« Schar der Siedler in 12 Phylen vorgesehen. Diese sollten ohne Berücksichtigung der ethnē zusammengestellt und nach Göttern benannt werden, um Partikularismen zu vermeiden und einen völligen Neustart einzuleiten mit dem Ziel einer unvoreingenommenen Gesetzgebung.263 Besonders detailliert befasste sich Platon deshalb mit der Landvergabe, die nach einem komplexen, auf strenge Gleichberechtigung abzielenden Vergabeschlüssel erfolgen sollte, wobei auch eine Unterscheidung in stadtnahe und entfernter liegende Grundstücke eine wichtige Rolle spielte. Seine Lösung war die Verknüpfung je einer nahegelegenen und entfernten Parzelle zu einem Los. Mit diesem Verteilungsschlüssel hing auch die laut Platon ideale Bürgeranzahl von 5040 zusammen, da sie durch alle Zahlen von 1-12 (außer 11) geteilt werden kann.264 Die Landneuverteilung in Thurioi erfolgte nach dem Prinzip der Isonomie, welches auch Platon später als erstrebenwertes Ideal ausgearbeitet hatte.265 Aufgrund dieser thematischen Überschneidungen könnte die These aufgestellt werden, dass diese praktischen Erfahrungen mit Thurioi unmittelbare Anstöße für Platons Reflexionen waren.
I.2.3 DIE DETERMINIERENDE VERGANGENHEIT Eine ktisis beziehungsweise ihre Darstellung musste mehrere Zeitebenen adressieren: Die Vergangenheit aufgrund der Frage der Herkunft; die Gegenwart aufgrund der Einrichtung des Gemeinwesens; die Zukunft aufgrund der in einer »gut« durchgeführten Gründung – erinnert sei an das homerische »euktimenos« – liegenden Sicherheit hinsichtlich des Fortbestehens. Aus diesen Elementen ergibt sich auch die Relevanz von Gründungserzählungen: Sie dienten aufgrund der Genealogie einer apoikia ihrer Verortung in der hellenischen Welt. Die gegenwärtige Ordnung eines Gemeinwesens wurde in ihrer ktisis grundgelegt und präfiguriert; und die Berufung auf ihre gute Durchführung garantierte ihren weiteren Erfolg. Insgesamt hatte eine ktisis somit eine affirmative Funktion für die Gegenwart, was durch das aitiologische Paradigma eine besondere Dynamik erhielt. Der Erfolg im Sinne des Fortbestehens der gegründeten Siedlung wurde dadurch zu einem Beleg für die Wahrscheinlichkeit der 262 Aristoteles Politik: 1303a 31f. 263 Platon Die Gesetze: 707e-708d und 745b-747d. 264 Ebd.: 745b-747d. 265 Ebd.: 737e-738e.
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geschilderten ktisis. Diese aitiologische Logik brachte zudem mit sich, dass eine Veränderung der gegenwärtigen soziopolitischen Situation einer polis Auswirkungen auf die Präsentation ihres Ursprungs haben konnte, wie es das Beispiel von Amphipolis vorführt. Hier erfolgte keine Geschichtsfälschung im Verborgenen, sondern die Vergangenheit wurde offiziell mit großem performativem Aufwand aktualisiert. In den Quellen lassen sich noch weitere Berichte zu Neugründungen finden, wie die Geschichte Kamarinas bei Thukydides: »Als aber die Kamariner in einem Krieg von den Syrakusanern vertrieben wurden, weil sie abgefallen waren, erhielt einige Zeit später Hippokrates, der Tyrann von Gela, als Lösegeld für kriegsgefangene Syrakusaner das Land der Kamariner; er besiedelte als Gründer nun selbst Kamarina. Abermals von Gelon zerstört, wurde es zum dritten Mal von Geloern besiedelt.«266
Die Formulierung »er besiedelte als Gründer« verweist auf einen spezifischen Gründungsakt. Hippokrates habe die Stadt in der Funktion des oikistēs besiedelt. Sowohl in der Passage zu Amphipolis als auch in jener zu Kamarina gebrauchte Thukydides das Verb katoikizō, welches in diesem Zusammenhang als »erneut besiedeln« oder »erneut gründen« verstanden werden kann, also ebenfalls auf einen aktualisierten Gründungsakt verweist.267 Ein weiteres Beispiel aus dem Werk des Thukydides ist die Umbenennung von Zankle in Messene: »Die Samier aber vertrieb nicht viel später der Tyrann von Rhegion, Anaxilas, besiedelte selbst die Stadt mit einer vermischten Bevölkerung und benannte sie in Messene um nach seiner alten Heimat.«268 Wiederum besiedelte ein Tyrann eine eroberte Stadt neu und gab ihr sogar einen Namen, der abermals eine genealogische Verknüpfung mit dem peloponnesischen Messene, welches ja bereits an der Gründung Rhegions beteiligt gewesen sein soll, 269 ermöglichte. Ein durch Strabon überliefertes Antiochos-Fragment gibt Auskunft über eine Neubesiedlung von Siris, wobei ebenfalls eine Aktualisierung anklingt: »Und Antiochos sagt, die Tarantiner seien, als sie mit den Thuriern und ihrem Feldherrn Kleandridas, einem aus Sparta Vertriebenen, Krieg um Siris führten, zu einem Vergleich gekommen und hätten es zwar gemeinsam mit ihnen besiedelt [synoikizō], doch sei die Gründung [apoikia] den Tarantinern zuerkannt worden; später habe es sowohl den Namen als die Stelle gewechselt und sei Herakleia genannt worden.«270
266 Thukydides: VI. 5. 3. 267 Vgl. Casevitz 1985: 165-169. 268 Thukydides: VI. 4. 6. 269 Herakleides-Epitome: 26. 55. 270 Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 11 apud Strabon: VI. 1. 14.
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Dieser ständige Dialog zwischen den verschiedenen Zeitebenen in einer ktisis musste Spannungen erzeugen: Die starke aitiologische Verankerung von Gründungserzählungen in der Gegenwart machte sie anfällig für Aktualisierungen. Zugleich folgten diese auf der performativen Ebene einem vorgegebenen, »alten« Muster. Die entsprechenden nomoi fanden sich in den »vielfältigen« Traditionen. Diese Anknüpfung der Akteure einer Neugründung, sei es der dēmos oder die Machthaber, an die Vergangenheit folgte jedoch keinem Selbstzweck, sondern erfüllt konkrete Aufgaben: Sie diente der Stabilisierung und Legitimation der (neuen) Ordnung. Durch eine vollzogenen ktisis entstand eine Verpflichtung gegenüber den formal und rituell erfolgten Einrichtungen sowie auch gegenüber den damit verknüpften, und somit affirmierten und als traditionell empfundenen Gebräuchen. Die Beispiele zeigen, dass eine ostentative ktisis gerade dort vollzogen wurde, wo es im Zuge von größeren Umwälzungen einen erhöhten Legitimationsbedarf gegeben hat. Dies fiel auch Zeitgenossen auf: Aristophanes machte eine (Über-)Betonung der performativen Seite einer ktisis durch den oikistēs Hieron I. zur Zielscheibe seines Spotts. Aufgrund der offensichtlich legitimierenden Funktion überrascht es nicht, dass ein Eindruck der Beliebigkeit entstehen konnte, beziehungsweise dass es neben einer offiziellen Berufung auf Gründungsgebräuche auch Raum für eine diese weniger ernst nehmende Perspektive gab.271 Zugleich galt die Befolgung und Aufrechterhaltung der nomoi als Garant für das Gedeihen der apoikia. Dies klingt auch in Platons Betonung der Verbindlichkeit einmal eingerichteter, althergebrachter religiöser Institutionen an: »Mag jemand einen neuen Staat von Anfang an gründen oder einen alten verdorbenen Staat wiederherrichten, so wird doch hinsichtlich der Götter und Heiligtümer – nämlich bei der Frage, welche im Staat von den einzelnen Abteilungen zu errichten und nach welchen Göttern oder Dämonen sie zu benennen sind – niemand, der Verstand besitzt, an dem zu rütteln wagen, was Sprüche von Delphi oder Dodona oder vom Ammon oder sonst irgendwelche alten Aussprüche angeraten haben […].«272
Gesetze können angepasst werden, die göttlichen Garanten des Gemeinwesens waren jedoch tabu. Die Allgemeingültigkeit dieser nomothetischen Äußerung Platons für die gelebte Praxis ist jedoch zu hinterfragen, was etwa Prekarität von Orakelsprüchen, die ebenfalls aktualisierenden Neudeutungen unterworfen werden konnten, zeigt oder auch die im Werk des Thukydides deutlich merkliche Ambivalenz zwischen den nomoi und der Zuwiderhandlungen »alter Sitten« in einer von Machtpolitik gekennzeichneten Gegenwart. Hier konnten die klaren Verhältnisse, die die Traditionen zu weiter zurückliegenden Ereignisse aufwiesen, eine Antithese bieten. Wie 271 Zu dieser »Vergegenwärtigung« im Sinne der Herabstufung einer mythisch-epischen Vergangenheit siehe Bachtin 1989: besonders 230-233. 272 Platon Die Gesetze: 738bf.
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»alt« die nomoi tatsächlich waren, konnte allerdings wohl Thukydides selbst nicht eruieren – es sei denn, er verfügte über eine heute verlorene aitiologische Erzählung zu ihrer Entstehung. Aber möglicherweise verlieh diese zeitliche Unbestimmtheit – immerhin konnten sie bis in die mythische Sphäre zurückverfolgt werden – den »alten Sitten« eine zusätzliche Autorität. Herkunft: apoikia und mētropolis Auch wenn die zu Beginn des Kapitels zitierten antiken Werktitel zu Erzählungen von Gründungen noch primär die »ktisis«-Begrifflichkeit verwendeten, kann dennoch für die klassische Zeit von einem Diskurs zu apoikiai gesprochen werden. Dies zeigt sich schon anhand der zentralen Rolle, die die Begrifflichkeit um »apoikia« eingenommen hat. Im Unterschied zu »ktisis« trifft der Begriff »apoikia« mit seiner »heimwärts«-gerichteten Konnotation den Kern der Sache: Die Relation apoikiamētropolis und die daraus genealogisch ableitbare Zugehörigkeit bekommt in der klassischen Zeit mit ihren permanenten Konflikten eine eminent wichtige Bedeutung, die weit über eine identitätsstiftende Funktion hinausgeht, nicht zuletzt bei der ideologischen Unterfütterung von Machtansprüchen. Über das Axiom, dass an jedem Anfang eine Immigration und somit ein Woher stand, konnte im Endeffekt jede ktisis diesem Komplex zugeordnet werden, was etwa das Beispiel der Gründung von Herakleia Trachis illustriert: Die mētropolis Sparta wird ihrerseits als trachinische apoikia bezeichnet – die ktisis Spartas entsprang somit gleichfalls einer Immigration. Realiter bedeutete dies natürlich keine Unterordnung Spartas, sondern ermöglichte eine ideologische Untermauerung der Inbesitznahme eines strategisch wichtigen Ortes. Der Diskurs zu apoikiai deckte somit ein weites chronologisches Feld ab, das bis in die Ursprungszeit reichte. Die Gründung von apoikiai war zudem kein reines Vergangenheitsphänomen, sondern betraf auch die Gegenwart. Geographisch gab es ebenfalls keine Eingrenzung, wie sie die moderne Vorstellung von der »griechischen Kolonisation« kennt: Auch hellenische Räume konnten apoikiai beherbergen, wie erneut die Gründung von Herakleia Trachis doppelt belegt: Sparta wird als trachinische apoikia angesehen und Herakleia befand sich ebenfalls innerhalb des Ägäisraums. Der Diskurs zu apoikiai ermöglichte Äußerungen zu Filiation und Zugehörigkeit. Die erhalten Quellenpassagen zeugen hierbei von einer gewissen Flexibilität, die die »vielfältigen« kursierenden logoi ermöglichten und zugleich mehrten. Es gab einen großen Spielraum für aktualisierende Rekonstruktionen, wo im Modifikationsfall kaum etwas erfunden, sondern primär neue Zusammenhänge hergestellt werden konnten.273 Zwei Beispiele mögen diesen Aspekt verdeutlichen: Bei der Darstellung der Besiedlung der Insel Rhodos durch Tlepolemos von Homer und Pindar erfolgte 273 Siehe zu dieser Flexibilität auch Mac Sweeney 2013: 14f. Vgl. zu derartigen Umdeutungen auch Ulf 1996 und 2009c: 238-241 sowie Braund 1998.
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eine Berufung auf die Herakliden-Genealogie und somit ein Einklinken der rhodischen Gründungen in diesen Stammbaum. Ein Interesse an der daraus resultierenden Verknüpfung mit dem dorischen ethnos dürfte für die Zeit Pindars gegeben gewesen sein, im Falle Homers allerdings eher weniger.274 Bemerkenswert ist in diesem Kontext eine Variation: So wird etwa der Name der Mutter des Heros ausgewechselt. In der bei Pindar greifbaren Fassung wurde Tlepolemos auf diese Weise an die thessalischen Amyntoriden angebunden. Friedrich Prinz mutmaßt hierzu, dass diese Genealogie aus der Sicht der Rhodier der klassischen Zeit eine attraktivere Option gewesen sein dürfte, als die Verbindung mit der weniger prominenten Astyocheia bei Homer.275 Das zweite Beispiel bildet die Gegenüberstellung zweier verschiedener Versionen der Gründung Kyrenes durch Herodot. Der Hauptunterschied betrifft erneut die Genealogie des Battos:276 In der kyrenischen Variante wird diese durch eine weitere Facette angereichert, denn seine Mutter war eine aus Oaxos auf Kreta verstoßene Prinzessin, was auf den Versuch der Inkorporation einer kretischen Verbindung in die eigene Geschichte hindeuten könnte. Die Kehrseite dieses Spielraums bei der Rekonstruktion genealogischer Verknüpfungen war die Erzeugung von widersprüchlichen Traditionen, was etwa Herodots Probleme mit den widersprüchlichen Angaben zu Kyrene illustrieren. Neben Abweichungen im Detail konnte sich auch ein Konflikt mit der diskursiven Regel ergeben, dass einer apoikia eine mētropolis zuzuordnen war. Die Frage des Ursprungs musste klar beantwortet werden. Ein illustratives Beispiel hierfür ist Amphipolis, das nicht nur die Seite wechselte, sondern hochoffiziell auch den oikistēs und somit die mētropolis. Alles, was an die alte Herkunft erinnerte, wurde beseitigt. Ein Problem für die erforderliche eindeutige Zuordenbarkeit ergab sich bei Synoikismen, also einer unterschiedlichen Herkunft der Siedler. Wie die zahlreichen Beispiele belegen, war dies keineswegs die Ausnahme. Die Äußerungen lassen auch hier ein Bemühen zu Tage treten, eine konkrete mētropolis zu benennen, um in das Spiel der Zuordnungen eintreten zu können. Hierbei konnte etwa die Herkunft des oikistēs den Ausschlag geben. Neben der Zugehörigkeit war die Art der Beziehung einer apoikia zu ihrer mētropolis ein weiteres zentrales Thema. Für vergangene Zeiten gibt es hierzu kaum Äußerungen, außer den Verweisen auf die »alten Sitten« im Kontext der Abhandlung des zeitgenössischen Falls Epidamnos durch Thukydides. Diese nomoi umfassten explizit Ehrenrechte sowie die Bestellung eines oikistēs aus der mētropolis im Falle der Gründung einer sekundären apoikia. Auch die Verwendung der Eltern-Kind-Metapher deutet auf Vorstellung eines Verhältnisses hin, welches mehr der identitätsstiftenden Funktion der Herkunft entsprach: Man war durch eine Genealogie verbunden, 274 Vgl. Ulf 1996. 275 Prinz 1979: 78-96. 276 Vgl. hierzu Calame 2011: 211f.
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was aber nicht automatisch eine Hegemonie der mētropolis implizierte. Eher wurden daraus Prinzipien wie Beistandspflicht und die Ächtung von – so gesehen – inneren Konflikten oder auch die Legitimation von interkommunalen Regelungen und Übereinkünften abgeleitet.277 Die Realpolitik der Gegenwart stellte dieses in der Praxis früherer Zeiten wohl eher ideelle und lockere Verhältnis auf die Probe, wie sich etwa in den diametral entgegengesetzten Positionen der Korinther und der Korkyräer zeigt oder noch deutlicher in der Politik Athens gegenüber seinen apoikiai während des Peloponnesischen Krieges. form follows function Sobald sich die erhaltenen antiken Äußerungen auf die jüngere Vergangenheit und Gegenwart bezogen, nahmen Detailinformationen zu den mit einer ktisis verknüpften Regelungen zu. Zudem bekommen sie einen technischeren Charakter, da sie auf die Lösung nach wie vor aktueller praktischer Probleme ausgerichtet waren, wie etwa jene, die sich für Bürger bei einem Übertritt in ein anderes Gemeinwesen – jenes der apoikia – ergeben können.278 Ein weiterer thematisierter Komplex ist die Frage, wer emigrierte. Hierzu gab es im Falle von Gruppenmigrationen in den Äußerungen der klassischen Zeit zur Gegenwart und jüngeren Vergangenheit durchaus unterschiedliche Ansätze: Neben Aufforderungen an jeden Willigen werden in der Brea-Inschrift explizit die niederen Zensusklassen genannt. Isokrates wiederum suchte Lösungen für mittellose Hellenen. Auf Sizilien wiederum gab es massive Bevölkerungsverschiebungen und auch Ansiedlungen von Söldnern aufgrund der Politik der Loyalitätssicherung der Tyrannen.279 Diese Beispiele zeigen, dass die Zusammensetzung von Siedlern an konkreten Bedürfnissen und Absichten ausgerichtet war und keine verallgemeinerbaren Muster erwartet werden sollten. Die raren detaillierteren, auf frühere Zeiten bezogenen Äußerungen stehen hierzu mit ihren gewissermaßen fabelhaften, streng mathematisch-formalen Mechanismen in einem deutlichen Kontrast: Bei der Auswanderung der Lyder nach Italien wurde das Volk von seinem König in zwei Hälften geteilt und per Los entschieden (klēroō), welcher Teil auswandern solle.280 Im Falle Kyrenes beschrieb Herodot einen ähnlichen Zwangs-Automatismus: Aus allen sieben Gemeinden Theras sollte im Falle zweier Brüder je einer auswandern. In beiden Fällen wurde das Auswahlverfahren durch eine Notlage (Hungersnot respektive sieben Jahre Trockenheit) erforderlich, die durch ein Opfer der Gemeinschaft beendet wurde. Freiwilligkeit war somit durch die Umstände ausgeschlossen. Diese Willkür wurde jedoch in beiden Fällen abgemildert: Durch Zufall beziehungsweise durch eine delphische Legitimation des Unterfangens. 277 Siehe hierzu auch Malkin 2016. 278 Vgl. hierzu Malkin 2016: 39-46. 279 Vgl. hierzu Lomas 2006 und Figueira 2008: 492-505. 280 Herodot: I. 94.
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Ein weiterer Aspekt, der in den Quellen der klassischen Zeit von Relevanz ist, ist die Frage der Landnahme. Die Landnahme war auch jene Zusatzinformation, die Thukydides in seiner Schilderung der hellenischen Besiedlung Siziliens neben der zentralen Trias Datierung, Herkunft, oikistai fallweise anführte. Die Inbesitznahme des Landes war die Vorbedingung seiner Verteilung im Zuge der ktisis. Es darf nicht vergessen werden, dass für die Bürgerheere der klassischen Zeit ein klēros eine vitale Rolle spielen konnte, da nur die oberen Zensusklassen als Schwerbewaffnete in Frage kamen.281 In Thukydides’ Exkurs zur Geschichte Siziliens handelte es sich fast immer, außer bei Megara Hyblaia, um eine gewaltsame Landnahme. Auch Herodot schrieb bei seiner Beschreibung des zweiten Zuzugs nach Kyrene: »So kam eine große Menge Volks in Kyrene zusammen, und nahm den benachbarten libyschen Stämmen und ihrem König namens Adikran einen großen Teil ihres Landes weg.«282 Die Quellen zeigen, dass dies aus der Perspektive der klassischen Zeit aber nur eine Option war, neben der Besiedlung von noch ungenutztem Land oder einer Übereinkunft mit der dort bereits ansässigen Bevölkerung. Hier waren die lokalen Gegebenheiten ausschlaggebend. Das etwa von Platon exzessiv verfolgte Ideal der Isonomie und die in den Quellen oftmals betonte Gleichberechtigung zeigen eine Tendenz zu einer demokratischen Perspektive – man denke auch an die entsprechenden Regelungen in der Inschrift des mittlerweile demokratisch regierten Kyrene. Zur Verteilung gemäß anderer politischer Voraussetzungen fehlen die Informationen: Hier gibt es nur verstreute Hinweise auf Besserstellungen der ersten Besiedler eines Ortes wie im Falle Thuriois. Orakel Von den etwa 170 erhaltenen Äußerungen der klassischen Zeit zu apoikiai beinhalten 16283 die Verknüpfung einer ktisis mit einem Orakel. Die Ursprungszeit betreffen zwei, die mittlere Vergangenheitsebene vier und die Zeitgeschichte und Gegenwart sieben. Die restlichen drei beziehen sich auf hypothetische oder fiktive Gründungen. Diese relativ geringe Anzahl sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade die Äußerungen zur jüngeren Vergangenheit und Gegenwart Weissagungen, gerade Orakeln, eine wichtige Rolle einräumen. Sie wurden als integraler Teil der nomoi 281 Siehe hierzu Figueira 2008: 458f. 282 Herodot: IV. 159. 283 Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 10 (Kroton), F 13 (Tarent); Pindar 4. Pythische Ode (Kyrene), 7. Olympische Ode (Tlepolemos); Herodot: I. 165-64 (Elea), IV. 145-61 (Kyrene), 178 (Phla), V. 39-48 (Dorieus), VI. 34-39 (Miltiades), VIII. 62 (Athen und Siris); Thukydides: I. 25 (Epidamnos), II. 102 5f. (Alkmeon), III. 92 (Herakleia Trachinia); Aristophanes Die Vögel: (960-991); Herakleides-Epitome: 26. 55 (Rhegion); SEG IX 3 (siehe Brodersen/Günther/Schmitt 1992: 4-6) (Kyrene). Vgl. hierzu auch Londey 1990: 118f.
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einer ktisis gesehen, was nicht zuletzt Herodots Schilderung des Schicksals des Dorieus illustriert. Auch Platon lässt im Dialog Die Gesetze über die Erfolgsrezepte der Spartaner mitteilen, dass sie »viele Seher befragt hätten, unter anderen namentlich auch den delphischen Apollon«.284 Insgesamt wurde vorausgesetzt, dass bereits in den frühesten Zeiten gerade das delphische Orakel eine Rolle bei ktiseis spielen konnte. Platon führte neben Delphi noch weitere Orakelorte an, und zwar die beiden Zeus-Heiligtümer Dodona in Nordwestgriechenland und jenes des Zeus Ammon in der Oase Siwa (heute Ägypten). Herodot erwähnte mit dem Orakel der Branchiden (Didyma) ein weiteres wichtiges Heiligtum: »Dort war nämlich ein altes Orakel, das alle Ioner und Aioler zu befragen pflegten. Der Ort liegt im Gebiet von Milet, landeinwärts vom Hafen Panormos.«285 Neben diesen Orakelstätten mit überregionaler Ausstrahlung gab es noch eine Vielzahl kleinerer von lokaler Bedeutung (etwa Olympia, Delos oder Klaros). Als alternative Möglichkeiten, den Götterwillen zu erkunden, konnten Seher und Propheten sowie die Spruchsammlungen prominenter Seherfiguren wie Bakis oder Laios konsultiert werden,286 die zu einem nicht näher bestimmbaren Pool an verfügbaren, noch uneingelösten Weissagungen gehörten.287 Wenn in manchen Fällen Quellenäußerungen zwar auf ein Orakel verweisen, jedoch keinen Ursprung des Spruchs angeben, mag dies auch an diesem reichhaltigen Angebot gelegen haben. Prestigeträchtige Orakelsprüche waren jedoch nur bei den big players zu erlangen und ab dem 6. Jh. v.Chr. nahm hierbei Delphi noch einmal eine Sonderstellung ein, nicht zuletzt aufgrund der Entlegenheit Dodonas und Siwas und dem Umstand, dass Didyma seit dem Ende des Ionischen Aufstandes unter persischer Oberhoheit stand.288 Die Frage der tatsächlichen Funktionsweise von Orakeln ist ein komplexes Feld: Einerseits ist die wenig aussagekräftige Quellenlage ein Problem. Konkrete Berichte über Delphi finden sich erst spät und was die erhaltenen Orakelsprüche betrifft, so handelt es sich dabei im Prinzip um Fragmente, da unmöglich bestimmbar ist, wie korrekt die zitierenden Quellen die Konsultation wiedergaben.289 Andererseits auch aufgrund der Erklärungsbedürftigkeit des Erfolgs von Orakelstätten wie Delphi: Die Forschung muss ihn plausibel machen, ohne auf antike Vorstellungen von göttlicher
284 Platon Die Gesetze: 686a. 285 Herodot: I. 157. 286 Siehe hierzu Fontenrose 1978: 145-165 und Rosenberger 2001: 25-28 und 167. 287 Siehe etwa Herodot: IV. 178: Insel Phla (evtl. heutiges Tunesien) und VIII. 62: Orakel an die Athener hinsichtlich einer Ansiedlung in Siris. 288 Siehe Rosenberger 2001: 145-147 und Scott 2014: 89f. 289 Siehe hierzu Londey 1990 und grundlegend Maurizio 1997. Lisa Maurizio verweist zudem darauf, dass weiter zurückliegende Weissagungen einen Prozess der oral tradition durchliefen, bevor sie schriftlich aufgenommen wurden.
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Vorhersehung zurückzugreifen.290 Die in den Quellen greifbaren Konsultationspraxen erweisen sich zudem als sehr heterogen: Dies liegt zum einen an den verschiedenen Möglichkeiten, den Götterwillen einzuholen. Zum anderen lassen sich drei Optionen bei den geschilderten Befragungen ausmachen: Entweder wurde die Sanktionierung eines bereits fertigen Plans zur ktisis einer apoikia eingeholt, die Absicht einer ktisis bestand, es fehlten jedoch Informationen oder das Orakel gab gewissermaßen ungefragt, »spontan« Auskunft, wie im Fall von Kyrene.291 Diese Optionen korrelieren mit der Zeitebene, auf die sich die jeweilige Äußerung bezog: Von den sieben zeithistorischen Äußerungen entfallen sechs auf die Pythia. Hierbei erfolgte in fünf Fällen eine Sanktionierung der ktisis. Lediglich einmal, im Falle des Miltiades, wird der oikistēs durch einen Orakelspruch identifiziert. Diese Einholung des göttlichen Willens gab Prestige, Legitimation und auch eine Versicherung gegen Fehlschlag aufgrund der Befolgung der nomoi. Dies korrespondiert mit Joseph Fontenroses allgemeiner Einschätzung der Orakeltätigkeit in Delphi ab der klassischen Zeit: »The analysis of modes and topics points to a conclusion that from the fifth century onward, whatever may have happened earlier, the Delphic Oracle’s responses were mostly, if not entirely, (1) commonplace sanctions of sacred laws and occasionally of other sorts of legislation, of cult-foundations, proposed festivals, changes in cult practices, and sometimes of colonization, war, or other enterprise; (2) commonplace prescriptions of cult-foundations, sacrifices, or offerings, usually when the question was something other than a request for approval; (3) a residue of safe statements about the past, present, or future, in answer to specific questions.«292
Fünf von sechs Aussagen zur weiter zurückliegenden Vergangenheit nennen die Pythia als Urheberin des Orakelspruchs und bei allen wurde durch eine Ortsangabe eine Informationslücke geschlossen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf 290 Siehe etwa Fontenrose 1978: 5-7, Rosenberger 2001: 48-64, Hall 2014: 17-34. 291 Vgl. hierzu Dougherty 1993: 18-21. 292 Fontenrose 1978: 34. Zu einer Kritik an Fontenroses Vorgehensweise bei dieser Rekonstruktion siehe Maurizio 1997: 310f. Vgl. zur Orakelpraxis auch Rosenberger 2001: 178: »Natürlich kann man zweifeln, ob die Götter den Menschen Antworten erteilen, aber wer zu einem Orakel geht, hat gute Aussichten, die Antwort zu erhalten, die er begehrt. Diese Ambiguität finden wir in den Orakeltechniken wieder. Auf der einen Seite gab es die in Mythen, Bildern und sogar in der Geschichtsschreibung vertretene Vorstellung, daß die Fragenden durch inspirierte Seher oder Prophetinnen Antworten auf ihre Anfragen erhalten. Auf der anderen Seite erkennen wir bei den halbwegs nachvollziehbaren Orakeltechniken relativ nüchterne Vorgehensweisen. Man fragte nach Zustimmung oder Ablehnung, wobei wohl immer Wiederholungen vorstellbar sind, bis das gewünschte Ergebnis erzielt war […].«
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den verwandten delphischen Hinweis an die Spartaner zum Verbleib der Gebeine des Orestes.293 Dieser Topos der Einholung göttlichen Ratschlags bei der Ortsfindung findet sich zudem bereits in der Archaik: In der Odyssee befragt etwa der thesprotische König das benachbarte Orakel von Dodona, wie Odysseus am besten in seine Heimat gelänge.294 Bemerkenswert ist, dass Ortsangaben bei ktiseis oftmals nicht einwandfrei funktionierten, was gerade die Gründungserzählung zu Kyrene zeigt, das auch einen der wenigen Fälle für ein unaufgefordertes Orakel hinsichtlich einer Gründung darstellt: Hier musste der oikistēs, der üblicherweise als befragende Instanz auftritt, erst durch das Orakel bestimmt werden. »Sie fuhren davon in der Richtung auf Libyen, aber da sie nicht anders konnten, kehrten sie wieder zurück nach Thera. Die Theraier aber schossen auf sie und ließen sie nicht landen. Sie mussten zurückfahren! Notgedrungen fuhren sie nun wieder zurück und besiedelten jene Insel an der libyschen Küste, die, wie oben erwähnt, Platea hieß. Diese Insel soll ebenso groß sein wie die heutige Stadt Kyrene. Hier wohnten sie nun zwei Jahre, aber es ging ihnen auch hier schlecht, und sie fuhren, unter Zurücklassung eines einzigen Mannes, sämtlich davon nach Delphi, dort fragten sie das Orakel und sagten, sie hätten sich in Libyen angesiedelt [oikeō], aber es erginge ihnen darum noch um kein Haar besser. Darauf erteilte ihnen die Pythia folgenden Orakelspruch; ›Wenn du das herdengesegnete Libyen besser als ich kennst, ohne gesehen es zu haben, muß ich deine Weisheit bewundern.‹ Als das Battos und seine Schar hörten, fuhren sie wieder zurück; denn der Gott bestand so lange auf der Auswanderung [apoikia], bis sie nach Libyen selber gingen. Sie segelten nach der Insel, nahmen die Zurückgebliebenen an Bord und siedelten [ktizō] sich in Libyen selber an, gegenüber jener Insel.«295
Vor allem die beiden Antiochos von Syrakus zugeschriebenen Fragmente zu den Gründungen von Tarent und Kroton296 sowie ein Aristoteles-Fragment zur Gründung von Rhegion297 beinhalten Zielangaben in Rätselform:298 Der Ort war somit nicht evident, sondern musste erst durch Interpretation eruiert werden. Im Falle Eleas erklärt die Missinterpretation eines Orakels beziehungsweise der von ihm verwendeten Bezeichnung »Kyrnos« deshalb auch das Scheitern Alalias und eine Neuinterpretation den darauf folgenden Ortswechsel nach Elea. Effektiv konnte die Pythia somit nicht falsch liegen: Hätte es die Seeschlacht vor Alalia nicht gegeben, wäre ihr Hinweis, nach Korsika zu fahren, richtig gewesen. Und mit der Umdeutung hin zum Heros 293 Herodot: I. 66-68. 294 Homer Odyssee: XIV. 327f. und XIX. 296f. 295 Herodot: IV. 156f. 296 Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 10 (Kroton) und F 13 (Tarent) apud Strabon: VI. 1. 12 und 3. 2f. 297 Herakleides-Epitome: 26. 55. 298 Zu Orakeln in Rätselform siehe etwa Rosenberger 2001: 172-175 und Hall 2014: 29f.
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Kyrnos behielt sie ebenfalls Recht. Es greift auch hier das aitiologische Paradigma: Rätselhafte Orakel werden erst dann zutreffend, wenn die Lösung gefunden ist, also aus der Retroperspektive der Gegenwart, die folglich im Orakelspruch prophetisch vorweggenommen worden ist. Somit müssen wir bei antiken Berichten zu Orakelkonsultationen davon ausgehen, oftmals nur das (provisorische) Endergebnis eines Interpretationsprozesses vor uns zu haben,299 vorausgesetzt natürlich sie sind keine retrospektiven Erfindungen. Komplexe Gegenwart – einfache Vergangenheit Mehrfach konnte gezeigt werden, dass es einen Unterschied macht, ob sich Äußerungen zu apoikiai auf die Vergangenheit oder die Zeitgeschichte und Gegenwart beziehen. Diese Differenz spielt auch bei der Debatte um den Quellenwert der antiken retrospektiven Äußerungen zur »griechischen Kolonisation« eine zentrale Rolle. Robin Osborne konstatierte eine Färbung der Quellen zu archaischen apoikiai durch ein »classical model«, die »Kolonisation« der klassischen Zeit, dessen Eigenschaften er vor allem aufgrund der epigraphischen Quellen wie folgt umreißt: »state-led, at a prechosen site, for military and/or agrarian ends«300. Irad Malkin weist zu Recht darauf hin, dass dieses Modell sich nicht komplett deckungsgleich mit den Äußerungen zu apoikiai der Vergangenheit ist, was etwa die divergierende ›starke‹ Rolle der oikistai zeigt.301 Dem lässt sich anfügen, dass die Gründungen der klassischen Zeit selbst viel heterogener waren, als es das classical model auf den ersten Blick vermuten ließe. Nur in einigen, gerade organisatorischen Details wie der Landnahme und -verteilung (das Ideal der Isonomie!) könnten retrospektive Interpolationen in die Traditionen zu ktiseis plausibel gemacht werden.302 Im Umkehrschluss validieren die beobachtbaren Unterschiede zwischen den Gründungen der klassischen Zeit und den Schilderungen früherer Gründungen jedoch nicht letztere. Carol Dougherty hält bezüglich der Gründung Aitnes fest: »Although this is a fifth-century colonial foundation, Hieron adheres closely to the model and duties of an archaic founder or oikist.«303 Der Modellwirkung der in den Traditionen greifbaren vergangenen Muster kann zugestimmt werden, auch ohne Doughertys Prämisse eines einheitlichen und stabilen »›plot‹ of archaic colonization« zu teilen. Statt ein fertiges Muster zu übernehmen, suchte sich Hieron I., etwa mit Pindars Expertenhilfe, jene Elemente aus den verfügbaren Traditionen heraus, die seinem Ziel der Selbstinszenierung als oikistēs und des Erlangens 299 Vgl. Maurizio 1997: 320. 300 Osborne 1998: 255. 301 Malkin 2002: 208f. Siehe auch Malkin 2016: 31. 302 Für die pauschale Annahme, etwa durch Irad Malkin, dass Emigranten der Archaik »expected an egalitarian kleros« (Malkin 2002: 215), ist zu wenig über die soziopolitischen Strukturen der Archaik bekannt. 303 Dougherty 1993: 84f.
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des entsprechenden Prestiges sowie der Legitimität seiner Herrschaft auch über Sizilien hinaus entsprachen. Hierons ktisis weist tatsächlich mehr Übereinstimmungen mit den Darstellungen der ktiseis der weiter zurückliegenden Vergangenheit auf, als mit jenen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart. Das Grundmuster einer Gruppenmigration unter einem ›starken‹ oikistēs war bereits in der Archaik verfügbar. Mittels der aus dieser Zeit verfügbaren Quellen lässt sich am besten anhand der Gründungen des Heros Tlepolemos auf Rhodos exemplifizieren, weshalb von einem Tlepolemos-Modell gesprochen werden könnte. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Äußerungen zur jüngeren Vergangenheit und Gegenwart detaillierter und vielfältiger sind, weil sie sich größtenteils auf konkrete, individuelle und auch heute noch nachvollziehbare historische Umstände beziehen. Äußerungen zu weiter zurückliegenden ktiseis erscheinen hingegen beliebiger, unkonkreter, stereotypisierter. Dies ist ein Anzeichen für die Einwirkung des Mechanismus von oral tradition, dass Vergangenheitswissen im Laufe seiner Tradition mittels typisierender Vorstellungen und topoi vereinheitlicht wird.304 Im Rahmen des Diskurses zu apoikiai konnte das Tlepolemos-Modell diese Rolle erfüllen, das nicht zuletzt ein Mittel bei der Ausgestaltung von ktisis-Erzählungen der Vergangenheit zur Hand gab. Dies lässt sich etwa anhand der angeführten Kausalitäten illustrieren: »Früher« gab es klare, punktuelle Anlässe für die Gründung einer apoikia, die meist mit der Biographie des ›starken‹ oikistēs verknüpft waren oder auch Krisensituationen betrafen. Natürlich gab es analoge Anlässe auch in der Gegenwart, dennoch wird deutlich, dass Emigrationen größerer Gruppen nicht infolge eines punktuellen auslösenden Ereignisses »passierten« – außer im Falle der Vertreibungen durch die Perser beispielsweise, auch das ist ein klar greifbares historisches Ereignis –, sondern das Resultat grundlegender, aber doch konkret-historischer soziopolitischer Strukturen waren. Diese Vielfalt an Ausgestaltungsmöglichkeiten im Detail zeigt, dass es kein fixes emplotment gab, sondern ein Grundmuster, dass mittels verschiedener Elemente, wie den verfügbaren Elementen und Topoi des Vergangenheitswissens oder Elementen der zeitgenössischen Vorstellungswelt, ausgestaltet werden konnte. Es handelt sich somit um eine komplexe Dialektik zwischen Gegenwart und Vergangenheit, einerseits über Rückprojektionen aufgrund der Mechanismen der oral tradition oder der Aitiologie und andererseits über eine bewusste Anknüpfung an die Vergangenheit etwa über eine Berufung auf aus ihr abgeleitete nomoi oder eine Verwendung von Elementen des Vergangenheitswissens bei einer Aktualisierung von Vergangenheitstraditionen. Herodot berichtete etwa, dass die von den Persern vertrieben Bewohner von Teos sich in Abdera ansiedelten und dort Timesios aus Klazomenai als Heros verehrten, der als erster Gründer Abderas galt, allerdings von den Thrakern
304 Vgl. zu den Mechanismen, denen Narrative im Laufe der Zeit ausgesetzt sind Vansina 1985: 105f. zur »Idealization« und 160-173 allgemeiner.
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vertrieben worden sei.305 Nachdem es sich um eine Flucht und nicht um die geplante ktisis einer apoikia gehandelt hat, wurde der fehlende, aber doch obligatorische oikistēs in der Vergangenheit gesucht.
305 Herodot: I. 168.
I.3 Der (Spät-)Hellenismus: Kontinuitäten und Brüche Querschnitt 2
Schwerpunktmäßig fallen die erhaltenen Quellenäußerungen des Hellenismus zum untersuchten Themenfeld um apoikiai in das 1. Jh. v.Chr. Dies liegt an den in dieser Zeit entstandenen zentralen Quellen zur antiken Geschichte wie Strabons Geographie, Diodors Universalgeschichte, die Bibliothēkē, oder dem Geschichtswerk des Dionysios von Halikarnassos. Nur punktuell kann auf frühere Äußerungen der hellenistischen Zeit zurückgegriffen werden, etwa aus einer konventionellerweise als »Pseudo-Skymnos« zitierten Periegesis, eines literarischen Genres von »herumführenden« geographischen Werken. Es handelt sich hierbei um eine literarische Umschiffung des Mittelmeeres, die sukzessive und knapp die relevanten Orte und ihre Geschichte darstellt und einem König Nikomedes gewidmet war (möglicherweise Nikomedes II. von Bithynien: regiert 149-128/27 v.Chr.). Ebenfalls wichtig ist das Geschichtswerk des Polybios (ca. 200-120 v.Chr.). Diese Quellen sind aber insofern von besonderer Bedeutung, als sie gewissermaßen einen Brückenkopf zwischen den aufgrund der Quellenlage besser beschreibbaren Polen der klassischen Zeit und dem Späthellenismus bilden. Somit kann einerseits fallweise eine genauere zeitliche Verortung möglicher Veränderungen in der diskursiven Formation unternommen, andererseits Kontinuitäten festgestellt werden.
I.3.1
DAS DISKURSIVE FELD: »peri tas apoikias«
Polybios listete zu Beginn des neunten Buches seiner Historiai die Themen auf, die in den Darstellungen der weiter zurückliegenden Vergangenheit vorherrschend waren: Genealogien (genealogiai), Mythen und apoikiai sowie Verwandtschaften
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(syngeneiai) und Gründungen (ktiseis).1 Polybios isolierte somit apoikiai als eigenständiges historiographisches Objekt innerhalb einer Gruppe von Themen, die sich mit Ursprüngen beschäftigten und die nach wie vor ein zentraler Bestandteil des Vergangenheitswissens waren. In der Einleitung zur Periegesis des »Pseudo-Skymnos« wird dieses Themenfeld um apoikiai näher bestimmt: »[…] welche Städte der Griechen in jedem von beiden [die ›zwei Erdteile‹ Europa sowie Asien inklusive Afrika, MM] liegen, welche Persönlichkeiten sie gegründet und zu welchen Zeiten sie sie besiedelt haben, welche Griechen jeweils vom selben Stamm und welche in ihrem Gebiet Ureinwohner sind, welche Barbarenstämme ihnen benachbart sind […].«2
Entsprechend diesem Programm wurde stets die mētropolis genannt, wodurch eine apoikia aufgrund ihrer spezifischen Genealogie innerhalb der hellenischen Welt zuordenbar wurde. Die zentrale Bedeutung dieser Information zeigt sich auch in den fragmentarisch erhaltenen Aitia des Kallimachos von Kyrene (ca. 310-245 v.Chr.): Die angeführten apoikiai sind mit dem Hinweis auf die mētropoleis sowie auf die Gründer verknüpft,3 die ebenfalls eine Variable in diesem Spiel der Zuordnung waren. In der Periegesis finden sich oikistai entgegen der Ankündigung nur in Einzelfällen. Dasselbe gilt für Datierungen. In Fällen, wo weitere detaillierte Hinweise zur ktisis angeführt wurden, betraf das die Rolle von Orakelsprüchen und die etymologische Klärung der Herkunft des Namens der apoikiai. Die Ordnung der Vergangenheit War die Vergangenheitswahrnehmung zumindest zu Beginn der klassischen Zeit noch stark von den beiden Polen Vorzeit beziehungsweise Ursprungszeit und Zeitgeschichte bestimmt, so war mittlerweile die Vergangenheit zumindest vordergründig als eine kontinuierliche Linie konstituiert worden. Das bedeutet, dass die Kluft zwischen der Ursprungszeit und der Gegenwart bemessen sowie inhaltlich gefüllt und somit nivelliert worden ist. Das hieß auch, dass die früher bestehende Funktion dieser Ursprungszeit als transzendente Reflexionsebene nicht mehr in dem Ausmaß gegeben war. Diese Nivellierung galt sowohl für die panhellenische Geschichte, als auch für lokale logoi. Gerade für die hellenistische Zeit ist ein Boom an Lokalgeschichten nachweisbar.4 Auch die Verknüpfbarkeit dieser beiden Ebenen hatte an Stabilität gewonnen: Nicht zuletzt seit der (heute verlorenen) Universalgeschichte des Ephoros von Kyme (4. Jh. v.Chr.) lag ein Referenzwerk zumindest zurück bis
1
Polybios: IX. 2. 1f.
2
Pseudo-Skymnos: 76-80.
3
Siehe etwa Kallimachos Aitia: 2.
4
Meister 1990: 81.
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zum Heraklidenzug vor, über welches lokale Geschehnisse mit überregionalen Ereignisse zumindest zeitlich abgestimmt werden konnten. Insgesamt konnte Polybios somit behaupten, dass zu den zentralen Themen der Vergangenheit bereits alles hinreichend ausgeführt worden sei: Viele hätten vielfältig darüber berichtet. 5 Autoren seiner Zeit würden somit vor dem Dilemma stehen, entweder das Werk anderer als ihr eigenes verkaufen zu müssen, oder »zugestandenermaßen Dinge darstell[en] und sich mit ihnen beschäftig[en], die von den Vorgängern ausreichend behandelt und der Nachwelt überliefert sind.«6 Polybios Verdikt war klar: Eine Beschäftigung mit weiter zurückliegenden Ereignissen sei entweder ein schamloses oder unnützes Unterfangen. Entgegen dieser Desavouierung und trotz der vordergründigen Ablösung des Vergangenheitsempfindens oraler und halbschriftlicher Gesellschaften durch die Etablierung eines historischen Kontinuums wirkte die bipolare Vergangenheitswahrnehmung jedoch weiter: Das Gros des Wissens betraf die entgegengesetzten Pole des Ursprungs sowie der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart, für die zudem seit dem 5. Jh. v.Chr. detaillierte, zeithistorische Schriften verfügbar waren. Dies spiegelt sich auch in Polybios’ Charakterisierung der von der Geschichtsschreibung seiner Zeit behandelten Themenfelder: Den größten Unterhaltungswert hätten genealogiai, das Ziel strebsamer Gelehrsamkeit sind die Geschichten zu apoikiai, ktiseis und syngeneiai wohingegen politisch Interessierte sich mit den Taten der ethnē, poleis und Herrscher beschäftigen würden.7 Die beiden ersten Themenfelder berühren die Geschichte der Ursprünge. Praktisch veranlagte, wie Polybios, würden sich hingegen mit politischer Geschichte beschäftigen, die der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart zugewandt sei. Diese Grenzziehung hatte für Polybios auch einen epistemischen Charakter. Er radikalisierte die Skepsis, die bereits bei Herodot und mehr noch Thukydides hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeit der weiter zurückliegenden Vergangenheit greifbar war: »Die Wahrheit dagegen bei diesen Dingen an irgendeinem Punkt zu ermitteln, ist sogar grundsätzlich unmöglich.«8 Diese kategorische Absage muss allerdings cum grano salis genommen werden. Polybios selbst kam nicht gänzlich ohne Exkurse in weiter zurückliegende Zeiten aus, um gegenwärtige Zustände zu erklären: Er betrieb Geschichtsschreibung innerhalb der grundlegenden aitiologischen Logik wie alle anderen auch. Zugleich war er aber auch Advokat seiner Art der Geschichtsschreibung: Der Kontext dieser Äußerung ist eine Polemik gegen den von ihm zu seiner Nemesis stilisierten Timaios von Tauromenion (ca. 350-260 v.Chr.), die nicht zuletzt dazu diente, seinen eigenen Zugang zu positionieren.9 Dass seine Einstellung 5
Polybios: IX. 2. 1.
6
Ebd.: IX. 2. 1f.
7
Ebd.: IX. 1. 4.
8
Ebd.: XII. 7.
9
Vgl. Pearson 1987: 98-105 und Baron 2013: 58-88.
116 | I. Das antike Wissen
zur weit zurückliegenden Vergangenheit allerdings keine Mehrheitsmeinung war, musste Polybios selbst konzedieren: Seine politische Geschichte jüngerer Ereignisse, genaugenommen der Punischen Kriege, käme »nur einer einzigen Art von Lesern entgegen, während wir der Mehrzahl keine Lektüre anzubieten haben, die sie fesseln könnte.«10 Identität Identität in Form der Verortung über die Ursprünge war auch in diesem Untersuchungszeitraum das zentrale Wissenselement im Diskurs »peri tas apoikias«, was Polybios’ Einschätzungen hinsichtlich der Interessenlage des Publikums von Vergangenheitsdarstellungen oder auch die Organisation des Materials in der Periegesis zeigt. Für das Gros des Publikums war historiographisch-methodische Skepsis nicht von Relevanz. Was zählte, war vielmehr die Fähigkeit eines logos, die Gegenwart plausibel aber auch unterhaltsam zu erklären. Neben diesem grundlegenden Interesse an den Ursprüngen und an Unterhaltung häufen sich in den Quellen nunmehr die Belege, dass derartige Vergangenheitsdarstellungen bewusst für realpolitische Zwecke eingesetzt werden konnten.11 Polybios berichtete etwa folgendes Ereignis: »Als diese Anordnungen schon getroffen waren, erschienen die Rhodier noch einmal vor dem Senat und baten für Soloi in Kilikien: sie hielten es für ihre Pflicht, so sagten sie, für diese Stadt einzutreten, da sie mit ihnen stammverwandt sei. Soloi sei nämlich ebenso eine Kolonie von Argos wie Rhodos. Sie seien also miteinander verwandt wie Brüder mit Brüdern.«12
Genauso setzte sich Massalia in Rom für ihre mētropolis Phokaia ein.13 Und Strabon bemerkte zu Cäsars Aufenthalt bei Ilion: »Caesar aber, der nicht nur ein Alexanderfreund war sondern für seine Verwandtschaft mit den Iliern auch sehr bekannte Beweise hatte, wurde mächtig zur Wohltätigkeit getrieben (erstens weil er Römer war und die Römer den Aineias als ihren Ahnherrn betrachten, sodann weil er Iulius hieß nach einem Vorfahren Iulus, dieser aber so genannt worden war nach Ilos, da er einer der Nachkommen des Aineias war). So wies er ihnen Land zu und wahrte ihnen ihre Freiheit und ihre Verschonung von öffentlichen Leistungen, und das ist ihnen bis heute erhalten geblieben.«14
10 Polybios: IX. 1. 11 Vgl. hierzu Hall 2002: 223f. 12 Polybios: XXI. 24. 11. 13 Justin: XXVII. 1. 14 Strabon: XIII. 1. 27.
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Die drängende Frage, ob dieses Verbundenheitsgefühl als echt empfunden worden ist, lässt sich nur schwerlich beantworten. Deutlich wird jedenfalls, dass die »vielfältigen logoi« ausreichend Spielraum boten, um solche Zusammenhänge herzustellen.15 Dass hierbei der Willkür jedoch nicht Tür und Tor geöffnet waren und man sich der Möglichkeit des Missbrauchs der Traditionen zur Herkunft bewusst war, zeigen zwei Beispiele aus Strabons Geographie: »Auf diese Geschichte [Strabon sieht Ephoros als Urheber der betreffenden Tradition, MM] haben sich wahrscheinlich die Akarnanen gestützt als sie, wie man sagt, die Römer überlisteten und sich ihre Selbständigkeit von ihnen erwirkten indem sie sagten, sie hätten als einzige nicht an dem Kriegszug gegen ihre Vorfahren [am Trojanischen Krieg, MM] teilgenommen: sie würden ja weder in dem ätolischen Katalog noch einzeln für sich genannt; überhaupt käme dieser Name ja in den Epen nicht vor.«16
Die »vielfältigen logoi« waren insofern ein zweischneidiges Schwert, als auch, wie in diesem Fall, Argumente für eine andere Version der Ereignisse aus der Tradition gezogen werden konnten.17 Auch das jeu de vérité der sichtbaren Spuren konnte ins Unglaubwürdige übertrieben werden, wie Strabon festhielt: »Als Beweis für die Besiedlung [Herakleias in der Magna Graecia, MM] durch die Trojaner beruft man sich auf das Kultbild der Athena Ilias, das dort steht und von dem man fabelt, es habe die Augen geschlossen als die Schutzflehenden von den Ioniern weggerissen wurden die die Stadt erobert hatten (diese seien nämlich fliehend vor der Herrschaft der Lyder als Siedler dorthin gekommen, hätten die Stadt, die den Chonern gehörte, mit Gewalt genommen und sie Polieion genannt); noch jetzt habe das Kultbild das man zeigt die Augen geschlossen. Nun ist es schon dreist so stark zu fabeln dass man nicht nur sagt, das Bild habe die Augen geschlossen – wie auch das Kultbild in Ilion sich bei Kassandras Vergewaltigung abgewandt haben soll –, sondern auch, das Bild das man zeigt habe geschlossene Augen; viel dreister aber ist es noch die Zahl der aus Ilion gebrachten Kultbilder so groß zu machen wie die Schriftsteller berichten: wird Athena doch sowohl in Rom als in Lavinium, in Luceria und in Siritis Ilias genannt, was doch sagen soll dass sie von dort gebracht worden ist.«18
Strabons Kritik enthält zwei Komponenten: Zunächst stößt er sich an einer irrealen und somit unglaubwürdigen Komponente: Ein Kultbild habe die Augen verschlossen. Hinzu kommt ein offensichtlich inflationärer Gebrauch gewisser narrativer Topoi.19 15 Vgl. hierzu Braund 1998. 16 Strabon: X. 2. 25. 17 Strabons Position in dieser Angelegenheit: X. 2. 8. 18 Ebd.: VI. 1. 14. 19 Siehe auch im direkten Anschluss an das obige Zitat in Strabon: VI. 1. 14.
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Dieser Kritikpunkt funktioniert nur aus einer Metaperspektive, also wenn die gewaltige Materialmenge, über die Strabon gebot, berücksichtigt wurde. Für die lokale Ebene kann angenommen werden, dass der Großteil des Publikums dieser logoi kaum Kenntnis von der vielfältigen Iteration bestimmter topoi hatte. Entscheidend war ihre Funktion als sinnstiftende Erklärung der Gegenwart. Mehr noch: In dieser Erklärungskraft lag ihr inhärenter Beleg. Ein Überblick über die jeux de vérité 1: Der Fall Lokris Polybios’ Absicht, Timaios als schlechten Historiographen zu entlarven, verdanken wir einen methodischen Exkurs in seinem Geschichtswerk, der im Themenfeld »peri tas apoikias« verortet ist. Polybios diskutierte die variierenden überlieferten ktisisErzählungen zur süditalienischen apoikia Lokroi Epizehyrioi. Timaios wurde von Polybios folgendermaßen charakterisiert: »Mit seinen Phantastereien und seiner Rechthaberei hat er auf die meisten seiner Leser Eindruck gemacht, hat sich durch den Anschein der Wahrheitsliebe, den er sich zu geben wußte, Beachtung verschafft und manche auch durch seine scheinbar zwingende Beweisführung für sich gewonnen. Und zwar dankt er diesen Ruf vor allem seinen Berichten über Kolonisation, Städtegründung und Stammesverwandtschaften. Hier macht er von der Genauigkeit seiner Angaben so viel Wesens, ist so scharf in der Kritik der anderen, daß man meinen sollte, alle Historiker sonst hätten die Geschichte verschlafen oder sich ihre Erzählungen von den Ereignissen aus den Fingern gesogen; er allein habe alles sorgfältig geprüft und methodische Kritik der Quellen getrieben, in denen allerdings zwar vieles Richtige, aber auch vieles Falsche steht.«20
Gemäß dieser Beschreibung erfüllte Timaios die Anforderungen an einen Historiographen, da er die Traditionen akribisch hinterfragte. Dieser offensiv betriebenen Auseinandersetzung verdankte Timaios seinen Ruf, wahrheitsgemäß zu berichten. Das ethische Paradigma der Redlichkeit war nach wie vor mit dem handwerklichen Geschick des Historikers verknüpft. Dies konnte auch Polybios nicht bestreiten. Was er allerdings kritisierte, war Timaios’ Übertreibung dieses Habitus des redlichen Geschichtsschreibers: Polybios charakterisierte Timaios als »streitlustig«. Er kritisiere andere Autoren nur um des Kritisierens willen. Im Fall der ktisis des epizephyrischen Lokris war die entsprechende Erzählung des Aristoteles das Ziel von Timaios’ Kritik. Bei der Rekonstruktion der jeweiligen Positionen sind wir auf Polybios’ Diskussion angewiesen, da neben dem Geschichtswerk des Timaios auch das (unbekannte) Werk des Aristoteles, welches die entsprechenden Passagen enthalten hat, verloren ist. Aristoteles dürfte berichtet haben, dass im Zug des Messenischen Krieges die lokrischen Frauen aufgrund der Abwesenheit der Männer mit Sklaven Kinder gezeugt
20 Polybios: XII. 26d.
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hätten. Infolgedessen hätten sie alle auswandern müssen und gründeten das epizephyrische Lokris. Diese Erzählung weist somit große Ähnlichkeit mit der ktisis-Erzählung zu Tarent auf: In beiden Fällen entstand wegen der Abwesenheit der Männer aufgrund des Messenischen Krieges eine Gruppe, die emigrieren musste. Timaios zerpflückte diese Schilderung wohl folgendermaßen: Er habe vor Ort Untersuchungen durchgeführt und in Lokris eine erhaltene »schriftliche Übereinkunft« mit den »Weggeschickten« eingesehen, die mit »Als Eltern für die Kinder« begann. Hinzu kamen Beschlüsse, die den Bewohnern beider Orte gegenseitiges Bürgerrecht gewährten. Mehr noch: »Überhaupt hätten sie [die Lokrer, MM], als sie die Darstellung der Koloniegründung bei Aristoteles hörten, ihre Verwunderung über die Frechheit dieses Autors zum Ausdruck gebracht.«21 Eine weitere Argumentationslinie hing mit der Sklaven-Komponente zusammen: Timaios hielt fest, dass die Hellenen früher keine Sklaven gehabt hätten. Zudem habe er auch im epizephyrischen Lokris Untersuchungen durchgeführt und sich dort überzeugen können, dass die Gesetze nicht denen von Sklaven, sondern einer apoikia von Freien entsprechen würden. Es gäbe nämlich Strafen für Sklavenhändler, Ehebrecher und entlaufene Sklaven, was nicht der Fall sein könnte, wenn die epizephyrischen Lokrer tatsächlich Abkömmlinge von Sklaven und verheirateten Frauen gewesen seien. Timaios hob auch hervor, dass das epizephyrische Lokris dieselben Gesetze wie die mētropolis habe,22 was schwer vorstellbar sei, wenn die Aristoteles-Version stimmen würde. Ein weiterer Kritikpunkt beruht auf dem Bündnis von Lokris sowie des epizephyrischen Lokris mit Sparta und der Gegnerschaft des epizephyrischen Lokris mit den Athenern im Peloponnesischen Krieg: Dies könne nur der Fall sein, wenn das epizephyrische Lokris eben nicht von Sklaven gegründet worden wäre. Nach der Logik des Timaios hätten sich nämlich Sklaven eher gegen ihre ehemaligen Herren und somit auch deren Verbündete, also Sparta, gewandt. Timaios hatte augenscheinlich die durch Aristoteles niedergeschriebene ktisis-Erzählung einer sorgfältigen Kritik unterworfen: Er begutachtete Dokumente vor Ort und identifizierte unwahrscheinliche Aspekte mittels des verfügbaren Wissen zur Vergangenheit von Lokris und seiner apoikia sowie auch mittels der allgemeinen Vorstellungen seiner Zeit über apoikiai: Er berief sich auf die Prämisse der Verbundenheit zwischen einer apoikia und ihrer mētropolis, für die es in diesem Fall sogar schriftliche Belege gäbe. Polybios versuchte nun seinerseits Argumente für die Version des Aristoteles zu finden. Er betonte, dass er des Öfteren in Lokroi Epizephyrioi war. Mehr noch:
21 Polybios: XII. 9. 22 Infolgedessen wären auch die Zweifel des Timaios am Gesetzgeber Zaleukos nur konsequent. Timaios von Tauromenion FGrHist 566: F 130a und b apud Cicero De legibus: II. 15, Epistulae ad Atticum: VI. 1. 18.
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»Die Lokrer hatten es mir zu verdanken, daß sie von der Stellung eines Flottenkontigents zu dem Krieg in Spanien und Dalmatien, wozu sie durch den Vertrag mit den Römern verpflichtet waren, befreit wurden. Dafür, daß ihnen auf diese Weise nicht geringe Strapazen, Gefahren und Kosten erspart blieben, haben sie mir durch Aufmerksamkeiten und Ehrungen aller Art ihren Dank abgestattet. Ich fühle mich daher verpflichtet, über die Lokrer eher Günstiges zu sagen als das Gegenteil. Trotzdem habe ich kein Bedenken getragen, zu erklären, daß die von Aristoteles gegebene Darstellung der Gründungsgeschichte dieser Stadt richtiger ist als die des Timaios. Die Einwohner geben nämlich selbst zu, wie ich aus ihrem eigenen Munde weiß, daß ihnen von den Vorfahren der Bericht über die Entstehung der Kolonie überliefert ist, den sich Aristoteles zu eigen gemacht hat, nicht der des Timaios.«23
Seine eigene Redlichkeit konnte Polybios damit begründen, dass er eigentlich keinen Grund hätte, den epizephyrischen Lokrern etwas Übles zu wollen. Und auch diese selbst würden die Existenz der Aristoteles-Version bestätigen. Somit stünde Aussage gegen Aussage, da die Lokrer in Hellas wiederum diese Version abgestritten hätten. Polybios führte einen weiteren Beweis an: »Der Ruhm eines Geschlechts« beruhe auf der Abstammung von bestimmten Frauen, nämlich Angehörigen der »hundert Häuser«, den vornehmsten Familien der mētropolis, und ein Teil der Emigrant_innen seien eben Frauen aus diesen Familien gewesen. Polybios drehte somit ein Argument des Timaios um: Jener hatte geschlossen, dass sich die epizephyrischen Lokrer, so sie tatsächlich von Sklaven abstammen würden, wohl kaum an die Lokrer als mētropolis angelehnt hätten. Für Polybios löst sich dieser Widerspruch jedoch auf: »Nicht nur die freundschaftlichen Verbindungen, sondern auch die Gastfreundschaften und verwandtschaftlichen ihrer Herren versuchen die Sklaven, wenn sie unverhofft zu Wohlstand gelangt sind und einige Zeit darüber hingegangen ist, ihrerseits wieder anzuknüpfen und für sich in Anspruch zu nehmen, mehr als die Beziehung zu ihren eigenen Blutsverwandtschaften, um dadurch den Makel ihrer verachteten sozialen Stellung von ehedem auszulöschen; denn sie wollen lieber als deren Abkömmlinge denn als ihre Freigelassenen gelten. Im Falle der Lokrer aber ist dies besonders wahrscheinlich. Denn da sie sich weit von denen entfernt hatten, die sie kannten, und die lange Zeit, die inzwischen verstrichen war, ihnen dabei zu Hilfe kam, waren sie nicht so töricht, etwas zu tun, wodurch die Erinnerung an ihren früheren Stand wachgehalten wurde, sondern im Gegenteil nur das, was geeignet war, ihn in Vergessenheit geraten zu lassen. Daher haben sie auch wohlweislich ihre Stadt nach den Frauen benannt und Verwandtschaft mit den anderen Lokrern nur in weiblicher Linie behauptet, die auf dieser Beziehung beruhten.«24
23 Polybios: XII. 5. 24 Ebd.: XII. 6.
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Polybios argumentierte mit der Möglichkeit einer retrospektiven, intentionalen Gestaltbarkeit von Vergangenheitsdarstellungen: Eine Rückbindung an die mētropolis wäre in diesem konkreten Fall aus der Perspektive der ehemaligen Sklaven erst recht erstrebenswert, da so ihr niedriger Status verschleiert werden konnte. Diese Vermutung rückt auch Polybios’ Bemerkung ins rechte Licht, dass die von ihm befragten epizephyrischen Lokrer die Existenz dieser Tradition zwar bestätigten. Ob sie ihr zustimmten, geht jedoch nicht hervor. Die allgemeine Prämisse der Rückbindung einer apoikia an ihre mētropolis lässt sich somit für beide Varianten ins Feld führen. Ähnliches gilt für das Axiom der Übernahme von Sitten und Gesetzen aus der mētropolis. Vorausgeschickt werden sollte, dass dies keine verabsolutierte Obligation war, wie Strabon im Zuge seiner Diskussion der Verwandtschaft der Gesetze Spartas mit jenen einiger kretischer Städte festhielt: Apoikiai mussten die Sitten der mētropolis nicht beibehalten.25 Dieser Pragmatismus zeigt sich auch im hier diskutierten Fall, wo dieses Axiom ebenfalls unterschiedlich angewandt werden konnte: Timaios ging von einer Übernahme aus, Polybios hingegen davon, dass die epizephyrischen Lokrer von den durch sie vertriebenen Sikulern Sitten übernommen hätten, »weil sie selbst nichts dergleichen als Erbe aus ihrer Heimat mitbrachten«26. Die Übernahme war nicht möglich, da es sich um eine konfliktuelle Emigration gehandelt hatte: Die mētropolis sorgte nicht für die Einrichtung der neuen apoikia. Polybios führte hinsichtlich der Sitten noch einen besonderen Fall an: Bei den Sikulern habe es eine Prozession gegeben, wo ein Knabe aus einer der vornehmsten Familien vorangeschritten sei. Entsprechend den besonderen Umständen der Gründung des epizephyrischen Lokroi wurde dieser Brauch jedoch abgeändert, dass »sie nicht einen Knaben die Schale tragen lassen, sondern eine Jungfrau, weil sich bei ihnen der Adel von den Frauen herleitet«27. Diese Argumentation illustriert erneut die Janusköpfigkeit aitiologischer Erzählungen: Gegenwärtige Umstände können auf diese Weise erklärt werden und rechtfertigen gleichzeitig auch Vergangenheitsnarrative. Dadurch, dass sich Timaios und Polybios derselben Methoden bedienten, um ein Vergangenheitsnarrativ zu veri- beziehungsweise zu falsifizieren, war eine PattSituation entstanden. Aber das könnte auch Polybios’ Punkt gewesen sein: Es lassen sich – nicht zuletzt aufgrund der Heterogenität der Traditionen – genauso gut Argumente für beziehungsweise gegen eine konkrete ktisis-Erzählung anführen. Dies würde wiederum seine Position untermauern, dass es unmöglich sei, wahrheitsgemäß über eine weiter zurückliegende Vergangenheit zu berichten. Polybios wollte allerdings auch aufzeigen, dass Timaios unsauber gearbeitet hat, von einer inhaltlichen Kritik ging er somit über zu einer handwerklichen. Hierbei kam ihm zugute, dass es keine Einhelligkeit hinsichtlich der Herkunft der epizephyrischen Lokrer gab. Um 25 Strabon: X. 4. 17f. 26 Polybios: XII. 5. 27 Ebd.
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Pseudo-Skymnos zu zitieren: »In der Nähe wohnen die sogenannten Epizephyrischen Lokrer. […] Sie sind Kolonisten [apoikoi] der Opuntischen Lokrer; einige aber behaupten, der Lokrer †in Ozolai†.«28 Polybios konnte also unterstellen, dass Timaios, wenn überhaupt, seine Nachforschungen im falschen Lokris angestellt haben könnte, da er keine genaueren Angaben zum Ort gemacht habe. Zudem seien Polybios keine Abkommen zwischen dem epizephyrischen Lokris und der mētropolis bekannt, ein weiteres Argument dafür, Timaios der vorsätzlichen Täuschung zu bezichtigen. »Von den beiden Sinnesorganen, durch die wir alles erfahren und erforschen, Gehör und Gesicht, und von denen das letztere nach einem Wort Heraklits bedeutend zuverlässiger ist – die Augen, so sagt er, sind genauere Zeugen als die Ohren –, unter diesen hat Timaios den zwar angenehmeren, aber untauglicheren Weg für sein Forschen gewählt. Seine Augen zu gebrauchen nämlich unterläßt er gänzlich und hält sich anstatt dessen an das Gehör. Und da man sich auch dieses Mittels auf doppelte Weise bedienen kann, erstens dadurch, daß man sich aus Bücher vorlesen ⟨oder zweitens von Gewährsmännern berichten läßt, hat er auch hier nur das erstere getan⟩, auf die persönliche Erkundigung dagegen, wie ich oben dargelegt habe, gar keine Mühe verwandt.«29
Polybios versteht Autopsie in einem strengen Sinne: Hörensagen reicht nicht aus. Aus dieser methodischen Argumentation ergeben sich Zweifel an den Ausführungen des Timaios. Wohl aus diesem Grund sieht er die Plausibilität eher auf Aristoteles’ Seite.30 Aber Polybios zieht noch ein weiteres Register: Neben Timaios’ Unredlichkeit gibt es ein zusätzliches Argument gegen seine Art der Darstellung: »Nehmen wir aber auch an, die Wahrscheinlichkeit sei auf Seiten des Timaios größer: ist es deshalb nötig, daß Historiker, die in ihrem Werk weniger Wahrscheinliches sagen, Schimpfworte und Schmähungen jeder Art zu hören bekommen und daß man ihnen beinahe einen Prozeß auf Tod und Leben macht? Ich denke, nein. Denen, die aus Unkenntnis Falsches berichten, muß man, wie ich gesagt habe, wohlwollende Belehrung und Nachsicht zuteil werden lassen; nur wer es bewußt tut, verdient schonungslose Verurteilung. Entweder müßte also gezeigt werden, daß Aristoteles in diesem Sinne um Gunst und Geld oder aus Feindschaft so über die Lokrer geschrieben hat, oder, wenn man das nicht zu behaupten wagt, muß man zugeben, daß die, welche die anderen mit solcher Schärfe und Gehässigkeit angreifen wie Timaios den Aristoteles, übel beraten sind und sich ins Unrecht setzen.«31
28 Pseudo-Skymnos: 312-317. 29 Polybios: XII. 27. 30 Ebd.: XII. 7. 31 Ebd.: XII. 7f.
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Polybios hielt fest, dass beide Autoren darum bemüht waren, ihre Berichte wahrheitsgemäß zu verfassen.32 Inhaltlich vermochte er nicht zu entscheiden, wem Recht zu geben sei. Was Timaios in seinen Augen jedoch disqualifizierte, war neben dessen unsauberer Methodik der Mangel an Mäßigung. jeux de vérité 2: Was tun mit widersprüchlichen Traditionen? Für diejenigen unter den antiken Autoren, die sich hauptsächlich mit weiter zurückliegenden Ereignissen befassten, war Polybios’ grundlegender Skeptizismus keine Option. Nichtsdestotrotz waren auch sie sich der Problematik bewusst, dass die verfügbaren Traditionen zu weit zurückliegenden Ereignissen einen prekären Status hatten, insbesondere bei fabelhaften Zügen, die ihrem Wortsinn nach nicht als historische Äußerungen genommen werden konnten. Dies zeigt sich auch daran, dass Autoren wie Diodor und Strabon sich veranlasst sahen, ihre weiten zeitlichen Rückgriffe zu rechtfertigen. Diodor schrieb: »Ich weiß nur zu gut, daß jenen Männern, welche die alten Sagengeschichten [mythologiai] zusammenstellen, bei der Niederschrift einer Menge von Schwierigkeiten begegnen: Erstens erschwert der große zeitliche Abstand der zu schildernden Ereignisse ein Zurechtfinden und bringt die Verfasser in große Verwirrung, zweitens gestattet die zeitliche Datierung der Geschehnisse keine ganz genaue Festlegung und veranlaßt die Leser, gering von der Geschichte zu denken. Des weiteren macht die bunte Fülle der Heroen, Halbgötter und übrigen Menschen, deren Genealogien aufgestellt werden müssen, ihre Darstellung zu einer kaum lösbaren Aufgabe. Das größte und allerschwierigste Hindernis aber besteht darin, daß die Gewährsleute, welche die ältesten Taten und Sagengeschichten aufzeichneten, sich gegenseitig widersprechen. Deshalb haben die angesehensten unter den späteren Historikern sich angesichts der genannten Schwierigkeiten mit der alten Mythologie gar nicht beschäftigt, sich vielmehr daran gemacht, die neueren Geschehnisse zur Darstellung zu bringen. Als zum Beispiel Ephoros von Kyme, ein Schüler des Isokrates, die Abfassung seiner Universalgeschichte unternahm, überging er die alten Sagengeschichten, faßte vielmehr nur die Ereignisse seit der Rückkehr der Herakliden zusammen, um sie zum Ausgangspunkt seiner Geschichte zu machen. Gleichermaßen beschäftigten sich auch seine Zeitgenossen Kallisthenes und Theopompos nicht mit alten Mythen. Wir aber vertreten hierzu einen gegenteiligen Standpunkt, wir nahmen die aus solch einer Schilderung erwachsende Mühe auf uns und wandten den alten Geschichten unsere ganze Sorgfalt zu; haben doch die Heroen, die Halbgötter und viele andere wackere Männer sehr zahlreiche Großtaten vollbracht und ihre Nachfahren sie wegen dieser allgemeinen Verdienste teils mit Opfern, wie sie Göttern entsprechen, teils mit Heroenehren ausgezeichnet; alle zusammen aber feierte die Stimme der Geschichtsschreibung für ewige Zeiten mit den gebührenden Lobesworten.«33 32 Polybios: XII. 7. 33 Diodor: IV. 1.
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Die widersprüchlichen Traditionen zur weit zurückliegenden Vergangenheit wurden von Diodor als zentrales Problem der Historiographie identifiziert. Diese Feststellung zeigt erneut die Heterogenität des Materials, dem sich antike Autoren ausgesetzt sahen, aber auch das Vorhandensein der Absicht, es zu einem homogenen historischen Narrativ zusammenzufügen. Diodor sieht gerade in den Schwierigkeiten angesichts des Materials den Anreiz für eine solche Aufgabe, vor der die »angesehensten Historiographen« zurückschreckten. Im Gegensatz zu Polybios hatte Diodor keine Vorbehalte, beziehungsweise wurden diese aufgewogen durch seine Mission, das Andenken an die großen Werke der Vergangenheit aufrecht zu erhalten.34 Angesichts der zentralen Funktion die Wissen zur Vergangenheit für die Gegenwart hatte, geht dieses Interesse über eine rein belehrende Funktion von Geschichte hinaus. Gerade der Verweis auf Opfer und Heroenehren evoziert Ursprungserzählungen und das performative Aufrechterhalten der Erinnerung an die Grundlagen gegenwärtiger soziopolitischer Zustände. Polybios hatte sich bei seinem Unterfangen, die Aristoteles vor Timaios’ Attacken zu verteidigen, derselben Mittel wie Timaios bedient: Ihre Plausibilität wurde mittels des zeitgenössischen Wissens überprüft. Dieser Methodik folgte im Prinzip auch Diodor, wenn er die Wahrscheinlichkeit tradierter mythologiai einschätzte. Der Unterschied bestand im Grad an Wahrscheinlichkeit, der als ausreichend angesehen wurde, um eine Tradition als wahr zu akzeptieren. Hiermit war noch ein zweiter Analyseschritt verbunden: Mythisch-heroische Erzählungen wurden rationalisiert. Das heißt, dass die in ihnen geschilderten Ereignisse ihres fabelhaften Kolorits beraubt wurden, um zu rekonstruieren, wie es gewesen sein könnte. Als Blaupause hierfür diente das zeitgenössische Wissen zu den in den Vergangenheitserzählungen anklingenden soziopolitischen Gegebenheiten. Antike Autoren wie Diodor, Dionysios von Halikarnassos35 und Strabon bedienten sich ausgiebig dieser Methode. Letzterer reflektierte auf einer allgemeinen Ebene die Möglichkeit, gerade die Epen der Archaik als Quelle zu nutzen: Für Strabon war Homer der erste, der eine Erdbeschreibung angestrebt hätte. Um dieses Vorläuferwerk seiner eigenen Geographie nutzen zu können, musste Strabon Homer gegen Skeptiker wie Eratosthenes (2. Jh. v.Chr.) verteidigen und zeigen, dass die homerischen Epen trotz ihrer fabelhaften Züge Beschreibungen tatsächlicher Räume beinhalten. Er musste sich folglich auf die Suche nach dem wahren Kern machen und Methoden finden, Homers Fabeln zu decodieren:
34 Siehe hierzu Sacks 1990: 23-35 und Calame 2011: 60-63. Vgl. zur belehrenden Funktion der Vergangenheit auch Strabon: I. 1. 23. Siehe hierzu Engels 1999: 91f. Für Dionysios von Halikarnassos siehe Delcourt 2005: 46f. 35 Vgl. die entsprechende Analyse von Anouk Delcourt (2005: 58-60) zum Werk des Dionysios von Halikarnassos.
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»Und zwar sei zuerst darauf hingewiesen dass nicht nur die Dichter sich gern der Fabeln [mythoi] bedient haben sondern viel früher schon – wegen ihrer Nützlichkeit – die Staaten und die Gesetzgeber im Hinblick auf die natürliche Eigenschaft des vernunftbegabten Geschöpfes. Denn der Mensch hat Freude am Wissen, und die Vorstufe dazu ist die Freude an Fabeln: damit fangen daher die Kinder an, länger zuzuhören und an Gesprochenem teilzunehmen. Der Grund ist dass die Fabel etwas Neues erzählt: sie handelt nicht von dem Bestehenden sondern von Dingen die anders sind, und das Neue und bisher Unbekannte erfreut (eben das ist es auch was wissbegierig macht); wenn aber auch noch das Erstaunliche und das Wunderbare hinzukommt, erhöht das die Freude, die den Ansporn zum Lernen bildet. Am Anfang muss man sich daher solcher Köder bedienen, und bei vorrückendem Alter dann zum Erlernen der Wirklichkeit führen, wenn das Denkvermögen kräftig geworden ist und keine Schmeichler mehr braucht. Auch jeder ungebildete Durchschnittsmensch ist in gewissem Sinne ein Kind und hat dieselbe Freude an Fabeln, und ebenso der mäßig Gebildete: auch bei ihm ist das folgerichtige Denken nicht stark entwickelt, und hinzu kommt noch die Gewohnheit seiner Kinderjahre. […] Da die Fabeldichtung [mythopoiia] so beschaffen ist und in die gesellschaftliche und politische Ordnung des Lebens und in die Erkundung der Wirklichkeit ausläuft, haben die Alten die kindliche Erziehung bis ins Erwachsenenalter beibehalten und gemeint, jedes Alter werde durch die Dichtung hinreichend zur Besonnenheit gebracht; später kamen dann die Geschichtsschreibung [historia] und die heutige Philosophie auf. Diese wendet sich nun freilich nur an Wenige; die Dichtung dagegen ist nützlicher für das Volk und vermag ganze Theater zu füllen, und die Dichtung Homers übertrifft darin Alles (auch die ersten Historiker [historikoi] und Naturforscher [physikoi] waren Fabelschreiber [mythographoi]). Da also der Dichter die Fabeln auf die Erziehung abstimmte, war er weitgehend auf die Wahrheit bedacht, fügte aber auch Lüge hinzu; jene bejahte er, diese benutzte er um die Menge zu führen und zu überlisten: ›wie wenn ein Mann umgießt mit feinem Golde das Silber‹36 […], so hat er den tatsächlichen Geschehnissen die Fabel hinzugefügt um seine Darstellung zu würzen und zu schmücken, dabei aber dasselbe Ziel verfolgt wie der Historiker und der der die Wirklichkeit darstellt. So denn hat er den Trojanischen Krieg als etwas tatsächlich Geschehenes aufgegriffen und mit der Erdichtung von Fabeln geschmückt, und ebenso die Irrfahrt des Odysseus; an nichts Tatsächliches anknüpfend bloß Wunderdinge zu erzählen ist nicht Homers Sache.«37
»Fabelschreiber« (mythographoi) schmücken also Tatsächliches aus, um ein größeres Publikum zu gewinnen. Historiographie hingegen ziele auf ein spezielles, gebildetes Publikum ab. Eine ähnliche Diagnose hatte auch Polybios gestellt. Seine Konsequenz war, diese mythoi als inintelligibel zu betrachten und nur ein bestimmtes
36 Siehe Homer Odyssee VI. 232 und XXIII. 159. 37 Strabon: I. 2. 8f.
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Publikum zu adressieren. Strabon hingegen ging den entgegengesetzten Weg: Aufgrund seines Wissens zur Funktion von »Fabeldichtung« sei er in der Lage, dieses Material zu bearbeiten.38
I.3.2 DIE ELEMENTE DER AUSSAGENEBENE I.3.2.1 Die Zeit der Götter und Heroen Die Vorstellungen von Wanderungen gesamter ethnē diente nach wie vor der Erörterung sowohl barbarischer Räume,39 als auch der Bestimmung der Herkunft der hellenischen ethnē. In beiden Fällen unterstand die wandernde Gruppe meist einer Heroenfigur, die im Fall barbarischer ethnē oftmals eine eponyme Funktion haben konnte. Für die Gründung von Orten in der Frühzeit waren somit primär ›starke‹ oikistēs verantwortlich. Nach wie vor präsent waren Figuren mit notorischer Wanderungstätigkeit wie nostoi oder der kretische König Minos. Vermehrt treten ab der hellenistischen Zeit auch die Argonauten als Raumeinbindungsfiguren und Gründer in Erscheinung, und zwar nicht nur für den Osten,40 beziehungsweise das Schwarzmeergebiet, sondern auch für den westlichen Mittelmeerraum. 41 Die Figur des solitär umherziehenden Heros rückte hingegen in den Hintergrund. Vormals allein wandernde Heroen wie Herakles wurden infolge einer Rationalisierung entsprechender Narrative einer Gruppe vorangestellt. Dionysios von Halikarnassos beispielsweise deutete die Herakles-Mythen folgendermaßen: »Der eher wahre Bericht, den viele derer verwendet haben, die seine Taten in Form einer historischen Darstellung beschrieben haben, ist folgender: Herakles war der mächtigste Heerführer aller seiner Zeitgenossen geworden und durchzog an der Spitze einer großen Streitmacht das gesamte Land diesseits des Ozeans. Dabei stürzte er jede Alleinherrschaft, die für die Untertanen beschwerlich und leidvoll war, jede Bürgerschaft, die ihre Nachbargemeinden mit Hochmut und Schmach behandelte, und jeden Menschenschlag, der ein rohes Leben führte und widerrechtlich seine Gäste mordete. Stattdessen setzte er rechtmäßige Königsherrschaften, gemäßigte Verfassungen und menschenfreundliche und auf Mitgefühl beruhende Lebensweisen ein; außerdem mischte er Griechen und Nichtgriechen und Bewohner der Küste und des Inlandes, die bisher nur mit Misstrauen und ohne gegenseitige Anteilnahme miteinander umgegan-
38 Vgl. Engels 1999: 92f. 39 Siehe etwa Dionysios von Halikarnassos: I. 22. 40 Zur Verknüpfung von Medien mit Medea siehe Strabon: XI. 13. 10 und allgemeiner Justin: XLII. 2f. Zu Indien siehe Strabon: XV. 1. 8f. und Diodor: II. 38f. 41 Siehe etwa Strabon: V. 2. 7 zu Korsika.
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gen waren, gründete [enidryō] in menschenleeren Gebieten Städte, leitete Flüsse um, die Ebenen überfluteten, schlug Wege durch unbegehbare Gebirge und ersann sonstige Maßnahmen, damit das gesamte Land und Meer zum Gemeingut für die Befriedigung der Bedürfnisse aller werde.«42
Auch Diodor sah Herakles an der Spitze eines Heeres seine Taten vollbringen, die ihn rund um den Mittelmeerraum führten.43 Herakles wurde somit zu einem Kulturheros und einer Art Weltpolizist avant la lettre stilisiert, wobei er auch als Städtegründer fungierte. Einen guten Überblick über die verschiedenen immer wiederkehrenden Migrations-Topoi ermöglicht die durch Diodor geschilderte Frühgeschichte von Rhodos. Zugleich bietet seine Darstellung die Möglichkeit des Vergleichs mit den entsprechenden Äußerungen der archaischen und klassischen Zeit.44 Diodor beschrieb minutiös die verschiedenen Besiedlungsphasen, weshalb Tlepolemos nur einer unter Vielen war. Dies unterstreicht erneut, dass es eine Vielfalt an Traditionen zu einem einzelnen Ort geben konnte, die im Zuge der Erstellung eines kohärenten historischen Narrativs zusammengefügt werden mussten. Strabon wählte hingegen einen anderen Zugang, indem er die verschiedenen mythischen Akteure zwar chronologisch zu ordnen versuchte, die unterschiedlichen Traditionen aber nebeneinanderstellte, ohne die Widersprüche aufzulösen.45 Die Besiedlungsgeschichte bei Diodor begann mit dem ethnos der Telchinen, den Söhnen der Thalatta. Von ihnen wurde Poseidon erzogen. »Als nun Poseidon, wie uns der Mythos überliefert, zum Manne herangereift war, verliebte er sich in Halia, die Schwester der Telchinen, vermählte sich mit ihr und zeugte sechs Kinder männlichen Geschlechts, dazu eine Tochter Rhodos, von der die Insel ihren Namen erhielt.« Somit war das für derartige Narrative obligatorische eponyme Element angeführt. Sodann kam es zu einer Flut, die zur Emigration der meisten Telchinen führte.46 »Helios aber verliebte sich, wie wir dem Mythos entnehmen, in die Rhodos, nannte nach ihr die Insel Rhodos und ließ das noch stehende Wasser verschwinden. Die wahre Erklärung aber besagt, daß bei der ersten Schöpfung der Welt die Insel noch sumpfig und weich gewesen sei, 42 Dionysios von Halikarnassos: I. 41. 1. Vgl. hierzu Delcourt 2005: 58-60. Siehe auch Strabon: VII. F 14 für eine ähnliche Deutung von Herakles-Mythen. 43 Diodor: IV. 16-38. Strabon rekonstruierte die Geschichte Herakles nie als eigene Erzählung. Er widmete sich nur fallweise einzelnen Episoden. Die Tradition zum Diebstahl der Rinder des Geryones etwa wird von ihm als Fabel bezeichnet (Strabon: III. 2. 13; V. 3. 3 und 4. 6), was belegt, dass auch er den Rationalisierungsmustern seiner Zeit folgte. 44 Diodor: V. 55-59. 45 Strabon: XIV. 2. 6-13. 46 Vgl. ebd.: XIV. 2. 7.
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die Sonne aber die viele Feuchtigkeit ausgetrocknet und das Land mit Lebewesen bevölkert habe; und so entstanden auch die nach ihm benannten Heliaden, sieben an der Zahl, und in gleicher Weise noch andere autochthone Völker. [...] So lautet denn der Bericht bestimmter Mythographen über die alten Einrichtungen bei den Rhodiern.«47
Unter den Heliaden kam es in weiterer Folge zum Brudermord, weshalb ein Teil von ihnen die Insel verlassen musste. Der Rest blieb auf Rhodos. Einer von ihnen, Kerkaphos, wurde König. »Nach seinem Tod ging die Herrschaft an seine drei Söhne, den Lindos, Ialysos und Kameiros, über. Während der Zeit kam es zu einer riesigen Überschwemmung und Kyrbe wurde, unter den Fluten begraben, zum menschenleeren Gebiet. Nun teilten die drei Brüder das Land und jeder gründete eine Stadt, die seinen Namen erhielt.«48
Zu dieser Zeit hielt sich Danaos kurz mit seinen Töchtern auf Rhodos auf, bevor er nach Argos weiterfuhr und errichtete einen Athenatempel. Ebenso legte Kadmos auf Rhodos an und baute einen Poseidontempel.49 Diese Passagen belegen erneut den engen Zusammenhang zwischen den Vorstellungen zur Entstehung von Städten und Tempeln: Beide konnten auf legendäre Gründer zurückgeführt werden. Kadmos »ließ einige Phönizier zurück, die sich darum sorgen sollten. Diese vermischten sich mit den Ialysiern und lebten dauernd unter ihnen als Mitbürger«50. »Als späterhin das Land Rhodos riesige Schlangen hervorbrachte, kam es dazu, daß viele Einwohner von ihnen getötet wurden. Die Überlebenden schickten deshalb einen Gesandten nach Delphi mit der Frage an den Gott, wie man sich den von dieser Plage befreien könne. Und Apollon erteilte ihnen den Auftrag, sie sollten den Phorbas mit seinen Begleitern bei sich aufnehmen und mit ihnen zusammen die Insel Rhodos bewohnen – diese war der Sohn des Lapithes und hielt sich auf der Suche nach Siedlungsland in Thessalien auf.«51
Nach seinem Tod wurden Phorbas Heroenehren zuteil. Auch bei der nächsten Immigration spielte das Orakel von Delphi eine Rolle: »Danach erhielt Althaimenes, der Sohn des Kreterkönigs Katreus, als er das Orakel wegen einiger anderer Dinge anging, die Antwort, daß es ihm vom Schicksal bestimmt sei, seinen Vater eigenhändig zu töten. Da er diesem Verbrechen entgehen wollte, floh er in Begleitung derer, 47 Diodor: V. 56. 6f. Vgl. Strabon: XIV. 2. 8. 48 Diodor: V. 57. 8. Vgl. Strabon: XIV. 2. 8. 49 Diodor: V. 58. 1f. 50 Ebd.: V. 58. 2. 51 Ebd.: V. 58. 4.
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die – eine größere Schar – mit ihm auf Fahrt gehen wollten, freiwillig aus Kreta. Und so landete er in Kameiros auf Rhodos und errichtete auf dem Berge Atabyros einen Tempel des Zeus, der den Beinamen Atabyrios trägt. Aus diesem Grund erfreut sich das Heiligtum selbst heute noch besonderer Verehrung, liegt es doch auf einem hohen Gipfel, von dem aus Kreta zu sehen ist. Althaimenes ließ sich samt seinen Begleitern in Kameiros nieder und wurde von den Einwohnern in Ehren gehalten. Sein Vater Katreus indes, ohne männliche Nachkommen und von heißer Liebe zu Althaimenes erfüllt, fuhr nach Rhodos und wollte seinen Sohn finden und nach Kreta heimführen. Doch der Schicksalszwang blieb in Kraft: Katreus landete nachts mit einigen Leuten auf Rhodos, es kam zu einem Handgemenge mit den Einwohnern und Althaimenes, der ihnen zur Hilfe eilte, schleuderte seine Lanze und ohne zu wissen verletzte er damit tödlich seinen eigenen Vater. Als Althaimenes erkannte, was er getan hatte, vermochte er die Größe seines Unglücks nicht zu ertragen, er mied die Begegnung und den Umgang mit Menschen, begab sich an einsame Orte und irrte allein umher, bis er aus Schmerz den Tod fand. Später empfing er auf einen Orakelspruch hin die Ehren eines Heros.«52
Schlussendlich kam Tlepolemos: »Kurz vor dem Troianischen Krieg floh Tlepolemos, der Sohn des Herakles, der ob der ungewollten Tötung des Likymnios in Verbannung hatte gehen müssen, freiwillig aus Argos. Nachdem er einen Orakelspruch zur Gründung einer Kolonie [apoikia] empfangen hatte, landete er mit einigem Volk auf Rhodos, ward freundlich von den Einwohnern aufgenommen und nahm dort seinen Wohnsitz. Er wurde sogar König der ganzen Insel, teilte das Land in gleiche Lose [(kata)klēroucheō] auf und führte auch sonst jederzeit ein maßvolles Regiment.«53
Wie bei Pindar ging die Initiative zur Gründung von der Pythia aus. Was bei Diodors Schilderung hinzukam, war das Thema der Verteilung von Landlosen. Dafür fehlte der Aspekt der Gründung der Städte Lindos, Ialysos und Kameiros. Diese bestanden in dieser Schilderung bereits, und wurden auf ältere eponyme Gründerfiguren zurückgeführt. Strabon wies auf diesen Widerspruch in der Tradition hin: Neben den Söhnen des Kerkaphos und der Kydippe soll auch Tlepolemos diese Orte gegründet und sie nach Töchtern des Danaos benannt haben.54 Grundsätzlich blieb Strabon Homers Angaben treu, da in seiner gerafften Darstellung auch das Orakel von Delphi nicht vorkam.55 Die Kombination der vielfältigen Traditionen resultierte in der Schilderung einer Vorgeschichte, die durch sukzessive Migrationen gekennzeichnet war, 52 Diodor: V. 59. 1f. 53 Ebd.: V. 59. 5f. 54 Strabon: XIV. 2. 8. 55 Ebd.: XIV. 2. 6. Was Strabon weiter hervorhob war, dass diese Gründung, so Tlepolemos tatsächlich von Argos und Tiryns aufgebrochen sei, nicht dorisch sein könne, da sie vor der Rückkehr der Herakliden stattgefunden habe.
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ein Prozess, der erst mit Tlepolemos und der dorischen Einwanderung endete. Die Einbeziehung dieser mythischen Sphäre in ein kontinuierliches historisches Kontinuum ermöglichte einerseits eine Rationalisierung und somit eine dem gegenwärtigen Wissen angemessene Darstellung dieser Ereignisse, andererseits behielt sie eine gewisse zeitliche Unbestimmbarkeit, wodurch sie theoretisch ad infinitum mit Figuren und ihnen zugeordneten Ereignissen bevölkert werden konnte. Die narrative Ausgestaltung all dieser Ereignisse zeigt, dass bei der Darstellung weit zurückliegender Emigrationen ein relativ fixes Programm, das mit gängigen Topoi ausgeschmückt worden ist, befolgt wurde: Aufgrund der mittlerweile offensichtlich kaum mehr überblickbaren Vielfalt an Migrationsnarrativen musste das Ziel der Identifizierung einer klaren Genealogie und somit einer politischen Zugehörigkeit in den Hintergrund rücken. Wichtiger war es aitiologisch bestimmen zu können, welche Einzelfigur einen in der Gegenwart präsenten Ort oder eine religiöse Stätte gegründet hat.56 Hierbei waren nunmehr eponyme Figuren von großer Bedeutung. Diese Fixierung auf oikistai und ihre persönlichen Schicksale, die einzelne Migrationen und Gründungen erklärten, war auch die Ursache für die inflationäre Verwendung immer wiederkehrender narrativer Topoi, was im Endeffekt zu einer Stilisierung und völligen Austauschbarkeit der handelnden mythischen Personen führte. Die verlängerte Vergangenheit Dieses im Detail ausgeführte Beispiel illustriert mehrere markante Aspekte des hellenistischen Diskurses zu apoikiai. Ein Punkt ist, dass es ein vermehrtes Auftreten von Fällen gibt, in denen apoikiai mit einer Vorgeschichte versehen wurden, die in die Zeit der Heroen und Wanderungen zurückreichte. 57 Demnach konnte es vor der eigentlichen ktisis bereits eine Verbindung des jeweiligen Raumes mit der hellenischen Welt geben. Hierbei spielten Raumeinbindungsfiguren eine bedeutende Rolle: Diese nahmen entweder einen Raum in Besitz, bereiteten seine Kultivierung vor oder gründeten selbst Städte. Dieses narrative Muster ist an sich nichts Neues, erinnert sei an Herodots Erzählung des Dorieus-Zuges nach Sizilien, der sich auf eine vorzeitliche Landnahme durch Herakles berufen konnte. Auch auf Korkyra sei verwiesen, dass seine Geschichte auf die Phaiaken zurückgeführt hatte.58 Dieses Spiel der Einordnung von Räumen gerade außerhalb der Ägäiswelt scheint nun zu einem verallgemeinerbaren Muster geworden zu sein. Zu Sinope etwa ist aus der spätklassischen Zeit nur eine kurze Notiz von Xenophon erhalten, wonach es eine
56 Siehe zur Rolle dieser sichtbaren Zeichen bei Strabon Engels 1999: 106-9. 57 Vgl. Leschhorn 1984: 116f., Pearson 1987: 42 und auch die Überlegungen in Yntema 2011 zu diesen Traditionen. 58 Vgl. zu diesem Muster in der westgriechischen Historiograhie Pearson 1987: 53-90.
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apoikia von Milet war.59 Für diesen Querschnitt verfügen wir über zwei sich widersprechende Erzählungen zu seiner Vorgeschichte. Pseudo-Skymnos’ Überblick über die Phasen der Besiedlung lautet: »Sinope ist nach einer der Amazonen benannt, die in der Nähe siedelten. Früher einmal bewohnten es einheimische Syrer, danach aber, wie man sagt, diejenigen von den Griechen, welche gegen die Amazonen nach Kleinasien übergesetzt waren, die Thessalier Autolykos und Phlogios sowie Deileon, daraufhin Abron, seiner Abstammung nach ein Milesier – dieser scheint von Kimmeriern getötet worden zu sein –, nach den Kimmeriern dann Kretines aus Kos ⟨und⟩ diejenigen von den Milesiern, die aus ihrer Heimat vertrieben worden waren: Die Letztgenannten gründeten Sinope gemeinsam, als das Heer der Kimmerier über Asien hinweggefegt war.«60
Apollonios von Rhodos schrieb hingegen, dass Sinope, die Tochter des Asopos, dort von Zeus angesiedelt worden sei: erneut eine eponyme Figur.61 Strabon notierte, ähnlich wie Pseudo-Skymnos auf die Tradition um Herakles und Jason verweisend, dass Autolykos in Sinope als Gründer angesehen worden sei, ihm dort ein Heroenkult mit Statue gewidmet war und auch ein Orakel des Autolykos existiert habe.62 Es könnte an dieser Stelle eingewendet werden, dass diese quantitative Differenz der verfügbaren aufgezeichneten Traditionen zwischen der klassischen Zeit und dem (Spät-)Hellenismus auch mit der Überlieferungssituation erklärt werden könnte. Erhaltene umfangreiche Werke, die auch die frühere Vergangenheit beschrieben, stammen erst aus der späteren Zeit. Angesichts des Umstands, dass es gerade in hellenistischer Zeit einen signifikanten Zuwachs an lokalgeschichtlichen Werken gegeben hat und eingedenk des Spielraums, den die diskutierten Mechanismen der antiken Vergangenheitsbetrachtung boten, erscheint eine Multiplikation des verfügbaren Materials, auf das späthellenistische Autoren zurückgreifen konnten, allerdings durchaus plausibel. Kroton verfügte laut Strabon ebenfalls über eine Vorgeschichte: »Die erste ist Kroton, hundertundfünzig Stadien vom Lakinion, und ein Fluss und Hafen Aisaros und ein weiterer Fluss Neaithos, der so genannt worden sein soll nach dem was sich dort ereignet hat. Einige der von der Trojanischen Flotte abgekommenen Achaier nämlich, sagt 59 Xenophon Anabasis: VI. 1. 15. Vgl. auch Ephoros von Kyme FGrHist 70: F 183 apud Athenaios: 523ef.) zu einem Hinweis auf Milet und ihre Kolonisation des Hellesponts und Schwarzmeergebietes. 60 Pseudo-Skymnos: F 27 (986-997). 61 Apollonios von Rhodos Argonautika: II. 946-954. Weitere Beispiele eponymer Heroen: Diomedes in Pseudo-Skymnos: 430f. und 664f. oder Amphilochos in Pseudo-Skymnos: 455f. 62 Strabon: XII. 3. 11.
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man, seien hierher getrieben worden und zur Auskundschaftung der Gegend an Land gegangen: da hätten die mit ihnen fahrenden Trojanerinnen, als sie bemerkten dass sich keine Männer auf den Schiffen befanden, sie in Brand gesetzt, weil sie des Fahrens überdrüssig waren, und so waren jene gezwungen zu bleiben, zumal sie auch sahen dass das Land nicht zu verschmähen war. Und sofort seien dadurch dass noch mehrere Andere ankamen und es infolge der Stammesgemeinschaft jenen gleichtaten viele Siedlungen entstanden, von denen die meisten nach Flüssen benannt wurden.«63
Dionysios von Halikarnassos berichtete hingegen, dass Kroton eigentlich eine Stadt der Umbrier gewesen sei, dann allerdings von den Pelasgern erobert wurde. 64 Für die Verwendung von Figuren des Trojanischen Krieges als Gründer im westlichen Mittelmeerraum gibt es viele Belegstellen. 65 Pompeius Trogus listete gleich zwei Beispiele für die Magna Graecia auf: »Die Stadt Thurii hat nach der Überlieferung Philoket gegründet; und dort ist noch heute sein Denkmal zu sehen und die Pfeile des Herakles im Apollontempel, die Troja zum Verhängnis wurden. Auch die Bewohner von Metapont zeigen noch im Minervatempel die eisernen Werkzeuge, mit denen Epeos, von dem sie gegründet wurden, das Trojanische Pferd gezimmert hat.«66
Im Unterschied dazu schrieb Strabon zu Metapont: »Es soll eine Gründung der Pylier sein die mit Nestor aus Ilion geschifft waren und mit Ackerbau zu einem solchen Wohlstand gelangt sein sollen dass sie in Delphi eine goldene Ernte weihten. Als Zeichen für diese Gründung weist man auf das Totenopfer für die Neleiden.«67
Nach dieser kurzen Notiz fuhr Strabon mit der späteren, lange nach dem Trojanischen Krieg erfolgten Gründung fort, und zwar unter expliziter Berufung auf Antiochos. Dies ist ein Indiz, dass Antiochos diese vorzeitige Gründung nicht erwähnt haben dürfte und Strabon zwei Traditionen zusammengefügt hat. 63 Strabon: VI. 1. 12. Vgl. etwa auch Metapont – eine Ansiedlung der Pylier unter Nestor (Strabon: VI. 1. 15), oder Eryx und Aigesta (Strabon: VI. 2. 5). Weitere Orte, die eine Vorgeschichte hatten: Kyme (Diodor: V. 15) oder etwa Akragas (Grab des Minos mit Aphroditetempel: Diodor IV. 79). 64 Dionysios von Halikarnassos: I. 20 und 26. 65 So zum Beispiel Diomedes (Strabon: VI. 3. 9) oder Aeneas (Strabon: XIII. 1. 53 und auch Dionysios von Halikarnassos: I. 49ff.). Zu nostoi in Iberien siehe etwa Strabon: III. 2. 13 und 4. 3. 66 Justin: XX. 1f. 67 Strabon: VI. 1. 15.
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Schien es in der klassischen Zeit noch meist möglich gewesen zu sein, einer apoikia eine klare Genealogie zuzuschreiben, so zeigen diese Beispiele einen mittlerweile schier unüberblickbaren Pool an verfügbaren Traditionen im (Spät-)Hellensimus. Das kann als Hinweis auf die in den vergangenen Jahrhunderten erfolgten Rekonstruktionen der Vergangenheit gewertet werden, die entsprechend der Zeitläufte Aktualisierungen beinhalten konnten. Eine verlängerte Vergangenheit konnte einer polis größeres Gewicht und ein eigenständiges Profil verleihen.68 Hierbei dürfte eine Rolle gespielt haben, wie eng die ideologischen Bindungen zu einem traditionell identifiziertem Herkunftsort aufrechterhalten worden sind oder umgekehrt, wie sehr sich eine polis als eigenständig darstellen wollte beziehungsweise alternative Zugehörigkeiten hervorgehoben werden sollten. What’s in a name? – Die Funktion eponymer Figuren Die Beschäftigung mit der Bedeutung von Ortsnamen scheint sich in der hellenistischen Zeit verstärkt zu haben. Benennungen waren hierbei nichts Zufälliges, sondern verbargen aitiologisch Hinweise auf die Vergangenheit. Der frühhellenistische sizilische Geschichtsschreiber Timaios scheint sich in dieser Hinsicht besonders hervorgetan zu haben, da die Etymologie in seinem nur fragmentarisch erhaltenen Werk eine wichtige Rolle als Beleg für Vergangenheitsnarrative gespielt haben dürfte.69 Ein Ortsname erhielt somit eine tiefgehendere Zeichenfunktion, da auf spezifische Aspekte der Vergangenheit verwiesen werden konnte. Dass Ortsnamen durch eine gleichlautende Benennung als Verweis auf die somit gleichnamige mētropolis gelesen werden konnten, zeigt etwa der Fall von Lokris. Auch bekannte eponyme Figuren wie Herakles wurden bereits thematisiert. Was hier näher beleuchtet werden soll, sind eponyme Figuren, die man auch als narrative Platzhalter bezeichnen könnte. Es handelt sich hierbei gewissermaßen um Variablen, die auf konkreten Ortsnamen aufbauend in das Geflecht mythischer Erzählungen und Genealogien eingefügt werden konnten. Oftmals waren es sekundäre göttliche Figuren oder Abkömmlinge beziehungsweise auch Kindsmütter von Göttern. Ein Beispiel wäre etwa die eponyme Nymphe Kyrene.70 Es sind Figuren, die primär einem narrativen Ziel dienten, etwa als eine eponyme Figur zu fungieren. Somit wurden sie den gängigen narrativen Topoi entsprechend ausgestaltet, hatten also keine Individualität und waren völlig austauschbar. Eine weitere Funktion konnte Raumeinbindung oder natürlich die Hervorhebung einer bestimmten Genealogie sein. Ein schönes Beispiel findet sich bei Diodor:
68 Vgl. auch Pearson 1987: 42. 69 Ebd.: 43 und 65. 70 Apollonios von Rhodios Argonautika: II. 500-510.
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»Nun aber wollen wir wiedergeben, was uns die Mythen von Orion erzählen! Er soll an Körpergröße und Körperkraft allen Heroen, von denen wir wissen, weit überlegen, ein Freund der Jagd und wegen seiner großen Stärke und Ruhmsucht der Schöpfer gewaltiger Werke gewesen sein. So legte er in Sizilien für Zanklos, den damaligen König über die seinerzeit nach ihm Zankle, heute Messene genannte Stadt, neben anderem den Hafen an, indem er die sogenannte Akte zur Mole aufschüttete.«71
Eine alternative Möglichkeit der Benennung waren topographische Ortsnamen. Zankle ist ein Beispiel für die Substitution einer topographischen Benennung durch eine eponyme: Thukydides hatte geschrieben, dass der Name vom sikelischen Begriff herstammt und auf die sichelförmige Topographie des Ortes gemünzt war.72 Hellenisierung und Barbarisierung Das Muster der verlängerten Vergangenheit konnte auch zur Beschreibung barbarischer ethnē herangezogen werden. Diese konnten mittels Raumeinbindungsfiguren hellenisiert werden. So verfügen etwa bei Pseudo-Skymnos die barbarischen ethnēAhnherren Latinus und Auson über eine hellenische Genealogie: Sie waren Söhne des Odysseus.73 Daraus ergibt sich die Option, dass in früheren Zeiten emigrierte Hellenen durch den Kontakt mit den Barbaren barbarisiert wurden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Ansiedlung der Nachkommen des Herakles unter Iolaos auf Sardinien: »Denn nachdem er seine Arbeiten vollbracht hatte, bedeutete ihm der Gott in einem Orakel, daß es für ihn gut sei, vor seiner Versetzung unter die Götter eine Kolonie [apoikia] nach Sardinien zu entsenden und seine Söhne, die ihm die Töchter des Thespios geboren hätten, zu Führern [hēgemones] diese Ansiedlung zu bestellen. Da aber diese noch sehr jung waren, beschloß Herakles, mit ihnen zusammen seinen Neffen Iolaos auszuschicken. [...] Was die sonstigen Thespiaden anlangte, so nahm sie Ioalos zusammen mit vielen anderen, die auch an der Koloniegründung [apoikia] teilnehmen wollten, mit auf die Reise und fuhr nach Sardinien. Dort besiegte er die Eingeborenen in einer Schlacht und verteilte in Form von Losen [(kata)klēroucheō] den besten Teil der Insel, insbesondere das ebene Gelände, das man bis auf die Gegenwart Iolaeion heißt. Er kultivierte das Land, bepflanzte es mit Fruchtbäumen und machte es dadurch zu einem Streitobjekt; denn ob der Fülle ihrer landwirtschaftlichen Erträgnisse wurde die Insel so berühmt, daß die Karthager späterhin, als ihre Macht gewachsen war, nach ihr strebten und wegen ihres Besitzes viele Kämpfe und Gefahren auf sich nahmen. […] Ein besonderes, staunenswertes Ereignis trug sich aber in Verbindung mit der Gründung dieser Kolonie [apoikia] (in Sardinien) zu; hatte doch der Gott den Einwohnern prophezeit, daß alle, die daran teil genommen hätten, samt ihren Nachkommen für alle Zeit dauernd freie Männer 71 Diodor: IV. 85. 1. 72 Thukydides: VI. 4. 73 Pseudo-Skymnos: 226-230.
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bleiben würden – und der Ausgang in diesem Falle bewahrheitete sich entsprechend dem Orakel bis auf unsere Tage. Denn die Bevölkerung wurde, da die Barbaren unter den Koloniegründern die Mehrzahl ausmachten, durch die Länge der Zeit barbarisiert, wanderte daher ins Bergland aus und ließ sich an schwer zugänglichen Orten nieder.«74
Eine Hellenisierung eines barbarischen ethnos signalisiert ein Interesse, diese den Hellenen anzunähern. Besonders intensiv wurde dies hinsichtlich Roms betrieben, am konsequentesten wohl von Dionysios von Halikarnassos: Ihm ging es darum, mittels früherer Immigrationen aus Griechenland gleich mehrere genealogische Verbindungslinien zwischen Römern und Hellenen zu ziehen.75 Das optionale Bild der Barbarisierung von Hellenen zeugt von der Bemühung, vorhandene Traditionen zu früheren Immigrationen von Hellenen, etwa zur Raumeinbindung, mit einer fehlenden zeitgenössischen Präsenz von Griechen in Einklang zu bringen. Als Belege der eigentlich hellenischen Abstammung einer lokalen Bevölkerung konnten etwa Übereinstimmungen in Sitten und Gebräuchen, aber auch sprachliche Indizien dienen.76 Eine gewisse Ambivalenz bestand gegenüber den Kulturen des Ostens. Die Traditionen zu barbarischen Gründern der mythischen Vergangenheitsebene von Orten in Griechenland selbst waren immer noch präsent. Dies betraf etwa die Figur des Kadmos77 oder die Vorstellung von ägyptischen Gründungen.78 Andererseits zeigte etwa Diodor auch die Möglichkeit, den Spieß umzudrehen, und die kulturelle Überlegenheit der Hellenen mittels der Vergangenheit abzusichern: »Die Heliaden, schon von Geburt an vor allen anderen Menschen ausgezeichnet, taten es ihnen gleichermaßen sowohl an Bildung als insbesondere in der Sternkunde zuvor. Sie führten nämlich im Seewesen viele neue Verfahrensweisen ein und unterteilten die Tage in Stunden. Tenages war von Natur aus am besten begabt und wurde deshalb von seinen Brüdern aus Neid ermordet. Als der Anschlag ruchbar wurde, mußten alle, die am Mord beteiligt waren, in die Verbannung gehen. Von ihnen kam Makar nach Lesbos, Kandalos nach Kos, Aktis fuhr nach Ägypten und gründete hier die Stadt mit Namen Heliopolis, die er nach seinem Vater hieß. Die Ägypter aber lernten von ihm die Gesetze der Sternkunde. Als es indes später bei den Griechen eine Überschwemmung gab und wegen der Menge des Regens die Mehrzahl der Menschen
74 Diodor: IV. 29 und 30. 4f. Siehe auch die Kurzfassung bei Strabon: V. 2. 7. Weitere Beispiele: Die vom Herakles-Sohn Hyllos abstammenden Hyller (Pseudo-Skymnos: 405-412) oder die Eleer im Schwarzmeergebiet (Dionysios von Halikarnassos: I. 89). 75 Siehe hierzu Delcourt 2005: 105-114. 76 Vgl. etwa die Argumentation von Dionysios von Halikarnassos bezüglich der Herkunft der Tyrrhener: I. 27ff. 77 Strabon: IX. 2. 3 und Diodor: IV. 2. 78 Diodor: I. 28 und 29.
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ums Leben kam, da geschah es, daß gleichermaßen auch die schriftlichen Aufzeichnungen zugrunde gingen. Dies gab den Ägyptern eine günstige Gelegenheit, die Erkenntnisse der Astronomie als eigene Leistung zu erklären und da die Griechen aus Unwissenheit keine Ansprüche mehr auf schriftliche Zeugnisse erheben konnten, setzte sich die Meinung durch, daß die Ägypter als erste die Entdeckung der Sterne gemacht hätten. Ebenso mußten die Athener, die doch in Ägypten eine Stadt namens Sais gegründet hatten, wegen der Überschwemmung unter der gleichen Unwissenheit leiden. Aus diesen Gründen nahm man viele Generationen später an, daß Kadmos, der Sohn des Agenor, als erster aus Phönizien die Buchstaben nach Griechenland gebracht habe. Seitdem verbreitete sich weiterhin bei den Griechen die Meinung, daß sie unausgesetzt irgendwie Neuentdeckungen auf dem Gebiete des Schreibens machten, da eine gewisse Art allgemeiner Unwissenheit (der tatsächlichen Verhältnisse) sie gefangen hielt.«79
I.3.2.2 Die Darstellung der Emigrationen nach dem Trojanischen Krieg Der Trojanische Krieg bildete im Hellenismus nach wie vor einen zentralen zeitlichen Ankerpunkt. Die Vorstellung war aufrecht geblieben, dass es im Gefolge dieses Großereignisses zu einer letzten großen Welle von Migrationen gekommen sei, wozu der Heraklidenzug sowie die äolische, ionische und dorische Besiedlung der Ägäisinseln und Kleinasiens gezählt werden können. Als Ergebnis dieser Wanderungen wurde die endgültige räumliche Verteilung der hellenischen ethnē gesehen. Auch die Vorstellung, dass nach der Phase der Wanderungen sich die poleis konsolidieren und ihrerseits apoikiai initiieren konnten, war nach wie vor aktiv. Die für den Diskurs zu apoikiai relevanten Äußerungen dieser mittleren Vergangenheitsebene betreffen somit zwei distinkte, sukzessive Migrationsphasen: Zum einen jene in den Osten auf die Ägäisinseln und Kleinasien, zum anderen die zeitlich jüngere in den westlichen Mittelmeerraum. Die restlichen Räume, wie etwa das Schwarzmeergebiet, wurden in den erhaltenen Quellen kaum eingehender behandelt. Dies weist auf eine untergeordnete Rolle in der Wahrnehmung hin. Für beide Migrationsbewegungen wurde die Begrifflichkeit um »apoikia« verwendet. Dieser Terminus bezeichnete nach wie vor nicht nur das Endergebnis einer Emigration, die Gründung einer polis, sondern auch die Wanderung in einen anderen Raum selbst. Die Äolischen, Ionischen und Dorischen Wanderungen Als Exempel für die Art der Darstellung dieser heute allgemein als unhistorisch angesehenen Ereignisse kann auf Strabon zurückgegriffen werden:
79 Diodor: V. 57.
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»Die Äolische Kolonisation [apoikia] soll nämlich vier Generationen älter sein als die Ionische und Unterbrechungen und längere Zeiträume gekannt haben. Denn Orestes habe mit der Expedition angefangen; als er in Arkadien gestorben war, habe sein Sohn Penthilos die Führung übernommen und sei bis Thrakien gekommen, sechzig Jahre nach dem Trojanischen Krieg, genau zu der Zeit der Rückkehr der Herakliden in den Peloponnes; darauf habe Archelaos, sein Sohn, die äolische Schar in das heutige Kyzikenische bei Daskylion herübergeführt; Gras, sein jüngster Sohn, sei bis zu dem Flusse Granikos vorgedrungen, habe, besser ausgerüstet, den größten Teil des Heeres nach Lesbos hinübergeführt und dies in Besitz genommen. Kleues, Doros’ Sohn, und Malaos, ebenfalls Nachkommen Agamemnons, hätten um dieselbe Zeit wie Penthilos ihr Heer versammelt, aber Penthilos’ Schar sei vor ihnen aus Thrakien nach Asien übergesetzt, und jene hätten sich lange Zeit in Lokris und bei dem Phrikion-Gebirge aufgehalten, seien später übergesetzt und hätten Kyme gegründet, das nach dem lokrischen Gebirge das Phrikonische genannt wurde.«80
Zur Beschreibung der ionischen Besiedlung Kleinasiens griff Strabon auf Angaben des Pherekydes von Athen (1. Hälfte 5. Jh. v.Chr.) zurück:81 »Von dieser Küste [der ionischen, MM] sind nach Pherekydes […] Milet, Myus und das Gebiet um Mykale und Ephesos früher von Karern, die anschließende Küste bis Phokaia sowie Chios und Samos (über das Ankaios herrschte) von Lelegern bewohnt gewesen; beide seien von den Ioniern vertrieben worden und in die übrigen Teile Kariens ausgewichen. Den Anfang mit der Ionischen Kolonisation [apoikia] – die später stattfand als die Äolische – habe Androklos, ein echter Sohn des Kodros, des Königs von Athen, gemacht und dieser sei der Gründer von Ephesos gewesen (daher soll der Königssitz der Ionier dort entstanden sein; und noch heute werden die Angehörigen des Geschlechts ›Könige‹ genannt und besitzen bestimmte Privilegien: den Sitz auf dem ersten Rang bei Wettspielen, den Purpur als Kennzeichen ihres königlichen Geschlechts, einen Stab – anstelle des Zepters – und Zeremonien der Eleusinischen Demeter). Milet wurde von Neleus gegründet, der aus Pylos stammte (die Messenier und Pylier machen Anspruch auf eine gewisse Verwandtschaft – daher die jüngeren Dichter Nestor auch als Messenier bezeichnen – und behaupten dass zusammen mit Melanthos, dem Vater des Kodros, und seinen Leuten auch viele Pylier nach Athen ausgewandert seien: diese ganze Gefolgschaft habe dann gemeinsam mit den Ioniern die Kolonisierung unternommen); als eine Stiftung des Neleus wird ein Altar auf dem Posideion gezeigt. Kydrelos, ein unechter Sohn des Kodros, gründete Myus, Andropompos Lebedos (an einem Ort Artis, den er in Besitz genommen hatte). Kolophon wurde gegründet von dem Pylier Andraimon, wie auch Mimnermus in der ›Nanno‹ sagt82 […]; Priëne von Neleus’ Sohn Aipytos, dann später von Philotas mit einer
80 Strabon: XIII. 1. 3. 81 Siehe auch Pherekydes von Athen FGrHist 3: F 155. 82 Siehe Mimnermos: F 10 (West).
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Gefolgschaft aus Theben; Teos früher von Athamas (weshalb es von Anakreon […] ›das Athamanische‹ genannt wird83), bei der Ionischen Kolonisation von Nauklos, einem unechten Sohn des Kodros, und nach ihm von den Athenern Poikes und Damathos und von Geren aus Böotien; Erythrai von Knopos, ebenfalls einem unechten Sohn des Kodros; Phokaia von den Athenern unter Philogenes; Klazomenai von Paralos; Chios von Egertios, der eine gemischte Schar mitbrachte; Samos von Tembrion, dann später von Prokles.«84
Zentrales narratives Element ist die Rückbindung an die Herkunft, sei es über den Ursprung der Gruppe oder über den oikistēs. Aus diesem Grund passte nach wie vor »apoikia« als Sammelbegriff für diese Wanderbewegungen. Die Herkunft verweist primär auf die ethnos-Zugehörigkeit, fallweise auch auf eine konkrete mētropolis. Besonders Athen sticht hier hervor, das es geschafft hatte, als mētropolis, sprich Akteur, in diesem Besiedlungsprozess angesehen zu werden. Was die Darstellung der handelnden Akteure betrifft, entspricht sie dem Emigrationstypus der Züge von heroischen Figuren an der Spitze einer Gruppe. Dies zeigt sich besonders im Fall des Orestes und seiner Nachkommen, deren Wanderung die Konnotation einer militärischen Kampagne erhalten hatte, wie sie bei den Rationalisierungen der Züge des Herakles greifbar ist. Entsprechend diesem Muster sei es auch zur Verdrängung der vorher ansässigen Bevölkerung gekommen. Viele Gründer fungieren offensichtlich als genealogische Platzhalter, die eine Rückführung auf prominente Figuren wie eben Orestes oder den mythischen athenischen König Kodros erlaubten. Die späteren ktiseis Der große Unterschied in der Darstellung späterer ktiseis zu diesen Wanderungen ist, dass der großräumige und prozesshafte Charakter wegfällt und es sich nunmehr um punktuelle, unzusammenhängende Gründungen handelt. Zur Erinnerung noch einmal die gerafften Informationen des Thukydides zu den ktiseis auf Sizilien, um sie mit denjenigen aus diesem Querschnitt zu vergleichen: »Von den Hellenen kamen als erste die Chalkidier von Euboia und gründeten unter Thukles [als oikistēs, MM] Naxos […] Syrakus gründete im folgenden Jahr Archias aus dem Geschlecht der Herakliden von Korinth. Er vertrieb zunächst die Sikeler von der Insel, auf der, nicht mehr von Wasser umspült, jetzt die Innenstadt liegt; später wurde auch die Außenstadt, weil in den Mauerring einbezogen, volkreich. […] Zur selben Zeit kam auch Lamis aus Megara mit Siedlern nach Sizilien, gründete oberhalb des Pantakyasflusses den Platz namens Trotilos, von dort wandte er sich zu den Chalkidiern nach Leontinoi und siedelte mit ihnen kurze Zeit gemeinsam, wurde von ihnen vertrieben und gründete Thapsos; er selbst starb dort, die anderen verließen 83 Siehe Anakreon: F 463 (PMG). 84 Strabon: XIV. 1. 3.
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Thapsos wieder, und da ihnen der Sikelerkönig Hyblon Land anwies und ihnen dazu riet, gründeten sie Megara, genannt das hybläische. […] Zankle wurde zuerst von Kyme, einer chalkidischen Stadt im Opikerland, besiedelt [oikizō], da Seeräuber dorthin gekommen waren; als dann später auch von Chalkis und dem übrigen euboiischen Land eine große Menge einwanderte, bebauten und nutzten sie das Land gemeinsam. Gründer waren Perieres und Krataimenes, der eine aus Kyme, der andere aus Chalkis.«85
In Pseudo-Skymnos’ Periegesis wurde die Geschichte der apoikiai Siziliens stark verknappt wiedergegeben: »Danach wurden auf ihr griechische Städte gegründet, nachdem, wie man sagt, in der zehnten Generation nach den Ereignissen um Troja Theokles hierzu von den Leuten aus Chalkis eine Flotte erhalten hatte; er selbst war seiner Abstammung nach jedoch Athener. Mit ihm zogen, wie es heißt, ionische, dann auch dorische Siedler. Als jedoch Streit unter ihnen entstand, gründeten die Leute aus Chalkis Naxos, die aus Megara Hybla, den Ort bei Zephyrion in Italien aber nahmen [die] Dorier in Besitz; diese nahm Archias aus Korinth unter seinen Befehl und gründete so mit Doriern eine Stadt, die von dem ihr benachbarten See ihren Namen erhielt und nun bei ihnen Syrakus heißt.«86
Die Datierung erfolgte im Unterschied zu Thukydides in Relation zum Trojanischen Krieg. Lediglich die Gründungen von Naxos, Megara Hyblaia und Syrakus wurden erörtert und zusätzlich eine provisorische Ansiedlung am Kap Zephyrion im heutigen Kalabrien. Als Akteure wurden nur mehr Theokles und Archias genannt. Die Megarer wurden Theokles unterstellt und Lamis, der Anführer der Megarer, wurde ebenso übergangen wie der Ort Leontinoi, wo gemäß Thukydides nach der Gründung von Naxos der Zwist zwischen Chalkidiern und Megarern ausgebrochen war. Die Art der Darstellung glich sich somit mehr jener der Besiedlung Kleinasiens und somit dem Typus von Gründungen durch ›starke‹ oikistai an der Spitze von nunmehr heterogenen Gruppen an. In Kallimachos’ »Aitia« wird die Gründung Zankles dahingehend thematisiert, als geklärt werden musste, wer als oikistēs angesprochen werden sollte. Spannend ist diese Passage auch insofern als einige Handlungen aufscheinen, die bei der ktisis vorgenommen worden sind. Kallimachos ließ die Muse Klio fragen, wer denn der Gründer von Zankle sei, da beim dortigen oikistēs-Kult sein Name nicht verkündet wird: »Männer aus Kyme und Männer aus Chalkis, die Perieres Führte, der Wille des großmächtigen Krataimenes auch, Auf Trinakria landend, begannen Mauern zu bauen. 85 Thukydides: VI. 3f. 86 Pseudo-Skymnos: 271-282.
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Unter den Vögeln jedoch achteten Harpasos nicht, Schlimmsten Feind der Gründer, wenn nicht ein Reiher vorbeifliegt. Dieser nämlich behext einen entstehenden Turm, Auch die Vermesser, wenn diese die Schnüre der Reihe nach legen, Engen und breiten Wegs Richtung zu graben bemüht.«87
Die Organisation des Mauerbaus und die Befragung der Omina werden hier als wichtige Elemente dargestellt. Hierbei gab es jedoch einen Fehltritt – erinnert sei an die Konsequenzen der Nichtbefolgung von Sitten durch Dorieus –, da das schlechte Omen des Vogels Harpasos nicht beachtet worden ist. Möglicherweise wird dies als Begründung angedeutet für den später entstehenden Zwist, wer von den beiden oikistai als alleiniger, offizieller Gründer fungieren dürfe. Das daraufhin konsultierte Orakel von Delphi entschied: »[…] nach Perieres als Stadtherrn Heiße nimmer der Ort, auch nach Krataimenes nicht.«88
Strabons Schilderung weist wie jene durch Pseudo-Skymnos eine Vereinfachung des Handlungsablaufes auf. Für Naxos und Megara könnte sich Strabon auf Ephoros berufen haben – zumindest nennt er ihn explizit als Quelle für die Datierung dieser Ereignisse, auf die wohl auch der Verfasser der Periegesis zurückgegriffen hat. Ephoros dürfte für die Autoren der hellenistischen Zeit eine aufschlussreichere Quelle als Thukydides knapper Exkurs gewesen sein, da er wahrscheinlich mehr Informationen geboten hat. »Theokles aus Athen aber, der von Winden nach Sizilien verschlagen worden war, habe erstens die Unbedeutendheit der Leute, sodann aber auch die Vortrefflichkeit des Landes festgestellt; zurückgekehrt habe er zwar die Athener nicht überreden können, sei aber mit einer großen Zahl Chalkidiern aus Euboia und einigen Ioniern und auch Doriern (von denen die meisten Megarer waren) dorthin gesegelt; die Chalkidier hätten Naxos gegründet und die Dorier Megara, das früher Hybla geheißen hätte. Die Städte freilich existieren nicht mehr, aber der Name Hybla lebt noch fort dank der trefflichen Qualität des Hybläischen Honigs. […] Syrakus hat Archias gegründet, der um dieselbe Zeit von Korinth geschifft kam als Naxos und Megara besiedelt wurden. Es sollen Myskellos und Archias gleichzeitig nach Delphi gekommen sein, und als sie sich an das Orakel wandten, habe der Gott gefragt ob sie Reichtum oder Gesundheit wählten. Da habe Archias den Reichtum und Myskellos die Gesundheit gewählt: jenem habe er daher die Gründung von Syrakus, diesem die von Kroton gegeben. Und so sei es gekommen dass die Krotoniaten eine so gesunde Stadt bewohnten wie wir erzählt haben, und Syrakus zu solchem 87 Kallimachos Aitia: II. 58-65. 88 Ebd.: II. 76f.
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Reichtum gelangte dass auch der Name seiner Bürger im Sprichwort verbreitet wurde, indem man zu allzu luxuriösen Leuten sagte, ihnen würde der Zehnte der Syrakusier nicht * *. Auf seiner Fahrt nach Sizilien soll Archias Chersikrates aus dem Geschlecht der Herakliden mit einem Teil des Heeres zurückgelassen haben um die jetzt Kerkyra, früher Scheria genannte Insel zu besiedeln. Jener habe nach Vertreibung der Libyrner, die sie in Besitz hatten, die Insel besiedelt, Archias aber sei am Zephyrion gelandet, wo er einige von den Doriern antraf die aus Sizilien, von denen her die Megara gegründet hatten, dorthin gekommen waren: die habe er mitgenommen und zusammen mit ihnen Syrakus gegründet.«89
Im Großen und Ganzen entspricht dies der Darstellung durch Pseudo-Skymnos, nur in größerem Detail: Erneut wurden lediglich die Gründungen von Naxos, Megara Hyblaia und Syrakus geschildert, deren Gründungen als synchron angenommen wurden. König Hyblon fehlte in dieser Tradition völlig, stattdessen wurde nur mehr von einer vorherigen Siedlung Hybla gesprochen, die den Beinamen »Hyblaia« erklären sollte. Von Thukydides’ verschlungener relativer Chronologie ist hier keine Spur zu finden. Anstatt seiner Schilderung mehrerer unabhängig voneinander agierender Gruppen, gab es zwei Kampagnen unter Theokles und Archias. Hat bei Thukydides noch die mētropolis zumindest gleichwertig neben dem oikistēs gestanden – im Fall von Zankle wurde die mētropolis sogar vorrangig behandelt – so verschob sich bei dieser Darstellung die Gewichtung hin zu den beiden oikistai. Theokles und Archias waren nunmehr die Urheber mehrerer Gründungen. Nach Strabon wurde auch Zankle von den Naxiern gegründet – diese ursprünglich als separat wahrgenommene Gründung wurde hier ebenfalls inkorporiert.90 Archias veranlasste die Gründung Korkyras und beteiligte weitere Dorier an seiner Gründung von Syrakus. Zudem wurde seine Konsultation des Orakels von Delphi mit jener des Myskellos verknüpft. Auch in diesem Fall wurden zwei Gründungsunternehmungen gekoppelt. Eine weitere sizilische apoikia, zu der Informationen sowohl aus der klassischen wie auch aus späterer Zeit verfügbar sind, ist Gela. Bereits bei Thukydides und Herodot ergeben sich Widersprüche. Letzterer berichtet in seiner Erläuterung der Herkunft Gelons, des Tyrannen von Gela und Syrakus: »Der Ahnherr dieses Gelon, jener der nach Gela auswanderte, stammte von der Insel Telos, die an dem Vorgebirge Triopion liegt. Er beteiligte sich an der Gründung der Stadt Gela, die von den Lindiern aus Rhodos und von Antiphemos ausging.«91 Thukydides hingegen beschrieb Gela als Synoikismos: »Gela gründeten Antiphemos aus Rhodos und Entimos aus Kreta gemeinsam – hierfür hatten sie Siedler herangeführt – vierundvierzig Jahre
89 Strabon: VI. 2. 2 und 4. 90 Ebd.: VI. 2. 3. 91 Herodot: VII. 153.
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nach der Besiedlung von Syrakus. Die Stadt erhielt nach dem Fluss Gelas ihren Namen […].«92 Leider nur unvollständig erhalten sind die Äußerungen Diodors zu Gela. Folgendes Fragment gibt primär den Spruch der Pythia wieder: »Als Antiphemos und Entimos, die Gründer von Gela, die Pythia befragten, erteilte sie ihnen folgenden Bescheid: ›Entimos, du auch verständiger Sohn des ruhmvollen Kraton, Beide geht nach Sizilien, bewohnet die herrliche Erde, Baut eine Stadt zusammen mit Kretern und Rhodiern bei der Mündung des heiligen Gela, im Namen gleichend dem Flusse!‹«93
Weder Herodot noch Thukydides überliefern eine Konsultation der Pythia – was angesichts der Knappheit ihrer Aussagen zunächst nicht viel heißen muss. Bemerkenswert ist jedoch, dass diese Passage exakt denselben Informationsgehalt aufweist, wie das Thukydides-Zitat, nur dass der Großteil der Informationen in den Orakelspruch verpackt worden ist. Dieser sehr sachlich gehaltene Spruch könnte auf eine nachträgliche Ausformung anhand des verfügbaren Wissens hindeuten. Auch zu Lipara gibt es eine kurze Notiz des Thukydides: »Bewohner von Lipara bebauen diese als Auswanderer aus Knidos. Sie wohnen nur auf einer der Inseln, die nicht groß ist und Lipara heißt. Die Bewirtschaftung der anderen: Didyme, Strongyle und Hiera, betreiben sie von Lipara aus.«94 Diodor war etwa ausführlicher: »Es heißt, daß die Inseln des Aiolos in alter Zeit unbesiedelt gewesen seien; späterhin jedoch wurde Liparos, wie man ihn nannte, der Sohn des Königs Auson, von seinen rebellierenden Brüdern besiegt, konnte sich aber einiger Kriegsschiffe und Soldaten versichern und von Italien aus nach Lipara flüchten, das nach ihm bezeichnet wurde. Dort gründete er die nach ihm benannte Stadt und sorgte für die Kultivierung der übrigen schon erwähnten Inseln. Liparos war schon ein Greis, als Aiolos, der Sohn des Hippotes, mit einigen Gefährten auf Lipara landete und Kyane, die Tochter des Liparos heiratete; und er veranlaßte seine Leute mit den Eingeborenen zusammen einen Staat zu bilden und machte sich zum König über die Insel. […] Dies ist der Aiolos, zu dem nach dem Bericht der Mythen Odysseus auf seiner Irrfahrt gelangte. Wie es heißt, soll er fromm und gerecht, dazu auch gegen Fremde menschenfreundlich gewesen sein. Außerdem führte er bei den Seefahrern den Gebrauch von Segeln ein und konnte aufgrund langer Beobachtungen dessen, was das Feuer (des Vulkans) vorausdeutete, die einheimischen Winde genau ankünden. Daher bezeichnete ihn der Mythos als den Verwalter der Winde; wegen seiner beispiellosen Frömmigkeit aber erhielt er den Namen ›Freund der Götter‹. […]
92 Thukydides: VI. 4. 3. 93 Diodor: VIII. F 23. 1. 94 Thukydides: III. 88. 2.
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Danach übertrugen die Sikeler die jeweilige Führung den fähigsten Männern, während sich die Sikaner um die Herrschaft stritten und lange Zeit gegenseitig bekriegten. Viele Jahre indessen nach diesen Ereignissen, als sich die Inseln wieder andauernd mehr und mehr entvölkerten, entschlossen sich einige Einwohner von Knidos und Rhodos, unzufrieden mit den harten Regime der Könige in Asien, eine Kolonie [apoikia] auszusenden. So stellten sie denn als Führer [hēgemōn] an ihre Spitze den Knidier Pentathlos, der seine Abkunft auf Hippotes, den Nachkommen des Herakles, zurückführte – dies geschah während der 50. Olympiade [580 v.Chr., MM], bei der Epitelidas aus Lakonien den Sieg im Stadion errang – und nun fuhren Pentathlos und seine Leute nach Sizilien in das Gebiet von Lilybaion, wo sie die Egestaner und Selinuntier im Krieg miteinander antrafen. Sie ließen sich dafür gewinnen, an der Seite der Selinuntier zu kämpfen, erlitten aber in der Schlacht große Verluste und auch Pentathlos selbst zählte zu den Gefallenen. So beschloß denn der Rest, da die Selinuntier geschlagen waren, wieder nach Hause zurückzukehren. Sie wählten den Gorgos, Thestor und Epithersides, Verwandte des Pentathlos, zu Führern [hēgemones] und segelten über das Tyrrhenische Meer. Als sie aber auf Lipara an Land gingen und hier freundliche Aufnahme fanden, ließen sie sich dafür gewinnen, gemeinsam mit den Einwohnern von Lipara dort Aufenthalt zu nehmen; waren doch von den Leuten des Aiolos nur noch etwa fünfhundert übrig. Als sie aber in der Folgezeit von den Tyrrhenern, welche auf dem Meer Seeräuberei trieben, bedrängt wurden, rüsteten sie eine Flotte aus und teilten sich in zwei Gruppen; die eine machten die Insel zum Gemeinschaftsbesitz und bebauten sie, während sich die andere Gruppe den Piraten entgegenstellte; auch machten sie ihre Besitztümer zum Gemeineigentum, lebten in der Form der Wohngemeinschaft und verbrachten einige Zeit ihr Dasein in solch kommunistischer Form. Später teilten sie Lipara, wo auch ihre Stadt lag, unter sich auf, bebauten jedoch gemeinsam die übrigen Inseln. Zuletzt verteilten sie sämtliche Inseln unter sich auf zwanzig Jahre, um nach Ablauf dieses Zeitraums immer wieder das Los [klēroucheō] darüber zu werfen. Sie besiegten sodann die Tyrrhener in zahlreichen Seeschlachten und schickten mehrfach von ihrer Beute beachtliche Zehnten als Weihegaben nach Delphi.«95
Zunächst wird die Vorgeschichte mittels einer eponymen Gründerfigur geschildert, die auch als Kulturheros stilisiert worden ist. Zudem gab es vor der knidischen Gründung bereits eine frühere durch Aiolos. Auch hier erfolgte also eine Verlängerung der Geschichte mittels der Anwesenheit einer mythischen Raumeinbindungsfigur. Das Schicksal der Gründerfigur Pentathlos erinnert stark an jenes des Dorieus, beide starben vor der Gründung sowie im selben geographischen Raum. Auch die Ursache der Auswanderung – Flucht vor der Bedrängung durch asiatische Könige – ist wohlbekannt und der Aspekt von Seeschlachten gegen die Etrusker kommt ebenfalls bei den Darstellungen zu den Phokäern des westlichen Mittelmeerraumes vor.96 Insgesamt erscheint diese Vergangenheitsdarstellung als eine Iteration bereits vorhandener 95 Diodor: V. 7. 5-7 und V. 9. 96 Siehe Justin: XLIII. 5.
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Topoi. Lediglich ein Orakelspruch fehlt, der im Falle einer Flucht jedoch nicht unbedingt notwendig war. Delphi Das Orakel von Delphi ist in den Äußerungen zu den ktiseis der mittleren Vergangenheitsebene omnipräsent, was die zentrale Bedeutung dieses Wissenselements zeigt. Es ist vielsagend, dass die entsprechenden Schilderungen Diodors, die aus einem nur fragmentarisch erhaltenen Teil seines Werkes stammen, primär die Orakelsprüche erhalten sind. Auch Pausanias setzte in seiner Beschreibung Griechenlands diese Zuspitzung konsequent um: In seinen Schilderungen waren die Herkunft der apoikia, der oikistēs und der Spruch der Pythia die zentralen Informationen. Auch in diesem Fall muss aufgrund der Quellenlage vorausgeschickt werden, dass das Alter dieser spezifischen Traditionen zur Rolle von Delphi unmöglich zweifelsfrei zu bestimmen ist. Teilweise wurden sie explizit Antiochos von Syrakus zugeordnet, eine Überprüfung dieser Quellenangabe ist allerdings nicht zu bewerkstelligen, da die Geschichtswerke dieses sizilischen Historikers aus dem 5. Jh. v.Chr. nicht erhalten sind. Auf einer allgemeinen Ebene ist einerseits klar, dass bereits Herodot die Position vertreten hatte, dass es zu einer erfolgreichen Gründung die Befragung der Pythia bedürfe. Anderseits lässt sich für die klassische Zeit feststellen, dass insgesamt Orakelsprüche bei Gründungserzählungen relativ selten waren. Dies hatte sich im Hellenismus geändert: Die Autoren dieses Querschnitts hatten großes Interesse daran, Orakelsprüche anzuführen. Hinsichtlich des Umgangs mit Orakelsprüchen ist es im Fall von Tarent möglich, fünf Schilderungen der Gründungen vergleichen zu können.97 Der ausführlichste Bericht stammt von Strabon, der sich hierbei eben auf Antiochos berief.98 Ausgangspunkt ist eine stasis: Die Parthenier, während des Messenischen Krieges, also der Abwesenheit der Männer, geborene Kinder, die infolgedessen (hierzu gibt es verschiedene Versionen) nicht dieselben Rechte hatten, wollten revoltieren. Der Aufstand scheiterte und ihr Anführer Phalanthos wurde nach Delphi gesandt, um Instruktionen bezüglich einer apoikia einzuholen. Die Pythia bestimmte in diesem Fall den Ort: »Sátyrión ich schenk’ und das fette Land dir von Taras Zum Bewohnen; du sollst das Verderben sein der Iapygier.«99
97 Vgl. auch die Analyse in Hall 2007: 111-14. 98 Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 13 apud Strabon: VI. 3. 2f.. 99 Ebd.: VI. 3. 2.
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Der Eigenname »Taras« wurde von Strabon auf einen eponymen Heros zurückgeführt. Bemerkenswert ist das Element, wonach die Neuankömmlinge zum »Verderben« der Iapygier werden sollten, denn Strabon fügte in seiner Darstellung an, dass die Parthenier von letzteren (sowie von den dort schon länger aufgrund der Kampagne des Minos lebenden Kretern) mit offenen Armen empfangen worden seien. Dieser Widerspruch im Detail illustriert möglicherweise eine Facette einer potentiellen retrospektiven Ausgestaltung von Orakelsprüchen mittels eines ›echten‹ prophetischen Elements: Für die klassische Zeit belegte Konflikte zwischen Hellenen und der lokalen Bevölkerung100 könnten in den Spruch der Pythia rücktransferiert worden sein. Strabon erwähnte glücklicherweise noch eine weitere, im Detail abweichende Version der ktisis-Erzählung, die er Ephoros zuschrieb. In ihr findet sich ebenfalls das Element der kriegerischen Auseinandersetzung bei der Ankunft, die Konsultation der Pythia fehlt jedoch: »Die Anderen aber überredeten sie [die Spartaner] durch ihre Väter zu einer Aussiedlung fortzuziehen: wenn der Ort den sie in Besitz nehmen würden befriedigend wäre, sollten sie dort bleiben; andernfalls sollten sie zurückkommen und den fünften Teil Messeniens unter sich verteilen. Sie fuhren davon, trafen die Achaier im Kampf mit den Barbaren an, standen ihnen bei in den Gefahren und gründeten dann Taras.«101
Folgender Orakelspruch findet sich in Diodors fragmentarisch erhaltenem achtem Buch: »Die Epeunakten aber schickten Gesandte nach Delphi und ließen den Gott fragen, ob er ihnen die Landschaft Sikyon geben wolle. Darauf antwortete die Priesterin: ›Prächtig fürwahr ist das Land von Sikyon hin bis Korinthos, Doch keine Heimat für dich und wär’st du mit Erz auch umpanzert, An Satyrion denk’, an Taras’ schimmernde Fluten, An seinen Hafen zur Linken, wo Böcke mit salzigen Wogen Gern und mit Lust sich benetzen die Spitze des graulichen Bartes! Taras begründe mir dort, es steh’ auf Satyrions Boden!‹ Als die Gesandten diese Antwort vernahmen, konnten sie diese nicht verstehen; doch da ließ sich die Priesterin deutlicher aus: ›Schenk’ ich dir Satyrion und Taras’ ertragreiche Erde, Sie zu bewohnen, und so ein Leid dem iapygischen Volke.‹«102
100 Herodot: VII. 170. 101 Strabon: VI. 3. 3. 102 Diodor: VIII. F 21. 3.
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Der erste von Diodor geschilderte Spruch enthält zwei inhaltliche Elemente: Die Epeunakten, jene Heloten, die mit den spartanischen Frauen die Parthenier gezeugt hatten, überlegten, das in der Nähe von Korinth liegende Sikyon zu besiedeln. Die Pythia implizierte Konflikte mit den Korinthern und schlug eine Alternative vor, die mit den Toponymen Satyrion und Taras sowie mit dem rätselhaften Verweis auf die Ziegen näher bestimmt wurde. Der zweite, erklärende Spruch der Pythia stimmt im altgriechischen Original nahezu wortgleich mit jenem überein, den auch Strabon überlieferte. Als zusätzliche Information dienten die Iapygier, die somit als erklärender Hinweis verstanden worden sein mussten. Auffällig ist, dass Phalanthos bei Diodor fehlte: Nicht er, sondern die Epeunakten holten den Orakelspruch ein. Dennoch erfolgte die Anrede der Pythia im Singular. Die vierte Schilderung stammt von Dionysios von Halikarnassos. In seiner Darstellung werden die durch Diodor zitierten Sprüche kombiniert: »Weil es zu Streit gekommen war, zogen die unterlegenen Parthenier freiwillig aus der Stadt ab und erhielten, nachdem sie nach Delphi gesandt hatten, den Orakelspruch nach Italien zu segeln, den Ort der Iapygier Satyrion und den Fluss Taras zu finden und sich dort niederzulassen, wo sie einen Ziegenbock den Bart im Meer befeuchten sehen. Als sie übergesetzt waren, fanden sie den Fluss und sahen beim Meer eine Weinrebe, die einen Feigenbaum überwucherte und dass von diesen Trieben [epitragoi] ein herabhängender das Meer berührte. Darin sahen sie den Ziegenbock [tragos], der, wie der Gott ihnen prophezeit hatte, seinen Bart im Meer befeuchtet, bekriegten dort bleibend die Iapygier und erbauten [hidruyō] eine Stadt benannt nach dem Fluss Taras.«103
Die Hinweise in dieser Version des Spruches sind dieselben, zusätzlich kamen noch die Iapygier aus dem zweiten, erläuternden Spruch der anderen Versionen hinzu. In dieser Passage lag somit eine ungefähre Ortsangabe vor, die durch das Ziegen-Rätsel präzisiert wurde. Im Unterschied zum Diodor-Fragment erfolgte hier auch eine Auflösung des Rätsels mit den Böcken. Dies entspricht einem geläufigen Topos bei Erzählungen um rätselhafte Orakel: Vor Ort erschließt sich der Sinn scheinbar sinnloser Orakelsprüche.104 In diesem Fall wurde auch eine andere eponyme Deutung des Ortsnamens vorgenommen: Die apoikia erhielt ihren Namen vom Fluss. Bei Pausanias schließlich findet sich ein komplett anderslautendes Orakel in Rätselform: »Tarent gründeten [apoikizō] aber die Lakedaimonier. Der Gründer [oikistēs] war jedoch der Spartaner Phalanthos. Als Phalanthos indessen wegen der Gründung [apoikia] auszog, kam aus Delphoi der Spruch, wenn er unter heiterem Himmel den Regen spüre, dann solle er ein Land und eine Stadt erobern. Er aber prüfte weder selbst sogleich den Orakelspruch, noch legte er 103 Dionysios von Halikarnassos: XIX. 1. 2 (Übers. MM). 104 Siehe zu rätselhaften Orakeln Fontenrose 1978: 79-83 und Dougherty 1993: 45ff.
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ihn den Auslegern [exēgētēs] vor, sondern fuhr mit seinen Schiffen nach Italien; als er dann die Barbaren besiegte, aber dennoch weder eine ihrer Städte erobern, noch ein Land in Besitz nehmen konnte, erinnerte er sich an den Spruch, und er glaubte, der Gott habe ihm etwa Unmögliches geweissagt; denn bei reinem und klarem Himmel werde er niemals vom Wind beregnet werden. Als ihn aber seine Frau so mutlos sah – sie war ihm nämlich von zu Hause gefolgt –, liebkoste sie ihn unter anderem dadurch, daß sie seinen Kopf auf ihr Knie legte und ihm Läuse las; und da kamen der Frau aus Mitgefühl die Tränen, als sie sah, daß die Vorhaben ihres Mannes keine Fortschritte machten. Sie vergoß ihre Tränen aber reichlich, und so regnete es auf das Haupt des Phalanthos, und da verstand er das Orakel, denn seine Frau hieß Aithra, und in der folgenden Nacht eroberte er die größte und reichste Küstenstadt der Barbaren. Der Heros Taras soll aber ein Sohn des Poseidon und einer einheimischen Nymphe gewesen sein, und von dem Heros sollen die Stadt und der Fluß ihre Namen erhalten haben.105
Erneut handelt es sich um ein Beispiel für ein sich vor Ort auflösendes Rätsel, wobei nunmehr die gesamte Darstellung der ktisis um den Prozess dieser Lösung organisiert worden ist. Phalanthos bekommt durch diesen Spruch und seine Auflösung eine ganz zentrale Rolle zugewiesen, etwa ganz im Unterschied zur Schilderung des Dionysios, wo auf Phalanthos komplett verzichtet werden konnte. Dies ist auch einer der ganz raren Fällen, wo explizit das Mitnehmen einer Frau thematisiert wurde: Dieser eingeschobene erklärende Hinweis ist ein Indiz dafür, dass apoikiai im Sinne von Emigrationszügen zumindest in dieser Vergangenheitsebene primär männlich gedacht worden sind. Tarent ist in dieser Darstellung zudem keine Neugründung, sondern eine bereits bestehende Stadt wurde den Barbaren gewaltsam entrissen. Pausanias vereinigte auch beide Traditionen hinsichtlich des Namens: Sowohl der Heros als auch der gleichnamige Fluss finden in seine Erzählung Eingang. Diese verschiedenen Schilderungen der Orakelkonsultation und Gründung im Falle Tarents verdeutlichen den Spielraum, den antike Autoren bei der Ausgestaltung entsprechender Vergangenheitsnarrative hatten. Die in den verschiedenen Traditionen greifbaren Wissenselemente konnten selektiert und rekombiniert werden. 106 Ein Leitfaden hierbei war, worauf sich das Narrativ konzentrieren sollte: Auf die Umstände in der entsendenden mētropolis, den oikistēs oder auf die in dieser Vergangenheitsebene obligatorische Wiedergabe des Spruchs der Pythia. Dieser Spielraum zeigt sich auch in anderen Fällen: Erneut sei das von Strabon geschilderte Doppelorakel für Archias, den Gründer von Syrakus, und Myskellos, den Gründer von Kroton, zitiert: »Es sollen Myskellos und Archias gleichzeitig nach Delphi gekommen sein, und als sie sich an das Orakel wandten, habe der Gott gefragt ob sie Reichtum oder Gesundheit wählten. Da habe
105 Pausanias: X. 10. 6-8. 106 Vgl. Londey 1990: 122-126.
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Archias den Reichtum und Myskellos die Gesundheit gewählt: jenem habe er daher die Gründung von Syrakus, diesem die von Kroton gegeben. Und so sei es gekommen dass die Krotoniaten eine so gesunde Stadt bewohnten wie wir erzählt haben, und Syrakus zu solchem Reichtum gelangte dass auch der Name seiner Bürger im Sprichwort verbreitet wurde, indem man zu allzu luxuriösen Leuten sagte, ihnen würde der Zehnte der Syrakusier nicht * *.«107
Dieser Spruch nahm aitiologisch über die Vorlieben der oikistai spätere Attribute der jeweiligen poleis vorweg und kann somit als retrospektive ›echte‹ Prophezeiung angesehen werden. Eine weitere Darstellung zu Syrakus findet sich als kurze Notiz des Pausanias im Rahmen seiner Diskussion der antiken Annahme der Verbindung des peloponnesischen Flusses Alpheios mit der Quelle Arethusa in Syrakus: »[…] daß aber der Alpheios durch das Meer hindurchfließe und sein Wasser hier mit der Quelle vereinige, das nicht zu glauben, habe ich keinen Grund, da ich weiß, daß der Gott in Delphi darin mit ihnen übereinstimmt, der den Korinthier Archias zur Gründung [oikismos] der Kolonie Syrakus aussandte und auch diese Verse sagte: ›Ortygie liegt im dämmernden Meer Über Trinakie, wo des Alpheios Mündung aufsprudelt, Sich mischend mit den Quellen der schön fließenden Arethuse.‹«108
Auch hier scheint ein Rätsel hinsichtlich der Identifizierung des Ortes vorgelegen zu haben. Dieses Rätsel muss keiner differierenden Version entstammen, sondern ist durchaus kompatibel mit der Vorauswahl der Orte durch die Pythia: In einem zweiten Schritt konnten sie näher bestimmt werden. In diesem Fall würde es sich um eine selektive Wiedergabe der entsprechenden Tradition durch Strabon und Pausanias handeln, gerade im Fall des Letzteren offensichtlich aufgrund der narrativen Funktion als argumentativer Beleg. Zu Myskellos’ Gründung von Kroton sind mehrere Quellen mit Orakeln erhalten. Strabon berief sich auf Antiochos von Syrakus: »Antiochos sagt, als der Gott den Achaiern durch ein Orakel befohlen hatte Kroton zu gründen [ktizō], sei Myskellos abgereist um die Gegend auszukundschaften, und als er sah dass dort bereits Sybaris – benannt nach dem Fluss in der Nähe – gegründet [ktizō] worden war, hätte er dieser Stadt den Vorzug gegeben; zurückgekehrt habe er deshalb den Gott gefragt ob es besser sei diese statt jener zu besiedeln [ktizō]; der aber habe geantwortet (Myskellos war etwas bucklig109)
107 Strabon: VI. 2. 4. 108 Pausanias: V. 7. 3. 109 Dieser Einschub Strabons soll wohl das folgende »brachynotos« (brachys bedeutet eigentlich kurz, klein) im Zitat erklären.
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›Myskellos brachynotos, am Gott vorbei suchest du Andres: Tränen jagest du nach; zufrieden sei mit dem Geschenkten.‹ Zurückgekehrt habe er Kroton gegründet [ktizō], wobei auch Archias, der Besiedler [oikizō] von Syrakus, ihm half, der zufällig herangeschifft kam als er auf dem Wege zur Besiedlung [oikismos] von Syrakus war.«110
Strabon zitiert an dieser Stelle eine andere Konsultation. Wie im Fall von Syrakus musste dies nicht das Aufgreifen einer anderen Tradition bedeuten, sondern könnte ebenfalls als Fortführung der Schilderung gesehen werden: Nach der Zuweisung der Orte durch das Orakel, die im ersten Satz konstatiert wurde, erfolgte die nähere Bestimmung des Ortes. Der Topos der Gleichzeitigkeit der Gründung von Kroton und Syrakus ist jedenfalls auch hier greifbar. Falls Strabon hier und im Rahmen seiner Schilderung der Gründungen auf Sizilien dieselbe Tradition aufgegriffen hat, würde diese sogar ein doppeltes Kreuzen der Wege der beiden oikistai beinhalten. Ein Fragment aus dem achten Buch des Geschichtswerks Diodors beinhaltet folgende Fassung: »Myskellos, ein geborener Achaier, begab sich von Rhype aus nach Delphi und fragte den Gott wegen Zeugung von Kindern. Pythia aber erteilte ihm folgenden Bescheid: ›Myskellos, du mit dem Buckel, dich liebt der Schütze Apollon. Nachwuchs wird er dir schenken, doch lautet zuvor seine Weisung: Gründen sollst du das mächtige Kroton im schönen Gefilde.‹ Da aber Myskellos von Kroton nichts wußte, sprach erneut die Pythia: ›Selber kündet es dir der Ferntreffer, so höre: Hier liegt taphisches Land, noch ungepflügt, dort aber Chalkis, Da der Kureten ... heiliger Boden, Hier die Echinadeninseln und links die riesige Salzflut. So verfehlst du wohl nicht – mein Wort – die lakinische Spitze, Auch nicht das heilige Krimise, dazu des Aisaros Fluten.‹ Obwohl das Orakel dem Myskellos befahl, Kroton anzulegen, wollte er doch aus Bewunderung für das Land um Sybaris dort eine Gründung vornehmen; daraufhin wurde ihm folgendes Orakel zuteil: ›Buckliger Myskellos, wider die Gottheit suchst du Tränen And’res vergeblich. So lobe des Gottes freundliche Gabe!‹«111
Zwischen dieser Version und jener Strabons (und somit des Antiochos?) lassen sich deutliche Unterschiede festmachen. Gemäß Strabon befragten die Achäer und Myskellos die Pythia wegen der Gründung einer apoikia. Nach Diodor war es 110 Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 10 apud Strabon: VI. 1. 12. 111 Diodor: VIII. F 17.
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Myskellos, der das Orakel wegen eines anderen Grundes aufgesucht hatte. Die Ähnlichkeiten mit den Orakeln zu Kyrene sind offensichtlich: Das Orakel beauftragte die ktisis ungefragt; die neuerliche Befragung war nötig aufgrund der rätselhaften ersten Angabe und der Ortsunkenntnis (bei Strabon ist der Ort klar, die zweite Konsultation ergibt sich aufgrund eines alternativen Siedlungsortes); auch das Motiv des körperlichen Gebrechens ist präsent; erst zum Schluss, bei der dritten Konsultation wurden die auch durch Strabon Version zitierten zwei Verse in den Handlungsablauf mit aufgenommen. Die bei Diodor auf drei Konsultationen angewachsene Involvierung des Orakels von Delphi beruht somit möglicherweise auf der Kombination verschiedener verfügbarer Traditionen, wovon eine hinsichtlich der Orakelkonsultation bis ins Detail einem narrativen Muster folgt, das auch bei der bereits in klassischer Zeit greifbaren Darstellung der ktisis von Kyrene Anwendung gefunden hatte. Bei der Deutung des Ortsnamens Kroton gab es ebenfalls unterschiedliche Varianten: Er bezeichne zugleich einen Fluss112 oder aber eine dort bereits früher angelegte Siedlung, entweder durch Achaier, die nach dem Trojanischen Krieg dort strandeten, 113 oder durch Pelasger.114 Als letztes Beispiel soll die ktisis Rhegions dienen. Strabon schrieb: »Gegründet [ktisma] wurde Rhegion von den Chalkidiern, die aufgrund eines Orakels wegen Misswachs als Zehnt dem Apollon geweiht worden und später aus Delphi hierher ausgewandert sein sollen, wobei sie auch Andere aus der Heimat mitnahmen; nach Antiochos hatten die Zanklaier die Chalkidier hergebeten und Antimnestos als Gründungsleiter [oikistēs] eingesetzt. An der Gründung [apoikia] beteiligten sich auch die Flüchtlinge der Messenier im Peloponnes, die im politischen Streit von denen besiegt worden waren die den Spartanern keine Genugtuung geben wollten für die in Limnai vorgefallene Schändung der Jungfrauen (sie hatten nicht nur diese selber, die zur Verrichtung der heiligen Riten dorthin geschickt worden waren, vergewaltigt sondern auch die zur Hilfe Eilenden getötet). Die Flüchtlinge wichen daher nach Makistos aus und schickten zum Gott, wobei sie Apollon und Artemis vorwarfen dass dies ihr Lohn dafür sei dass sie ihnen zu ihrem Recht hatten verhelfen wollen, und fragten wie sie sich aus ihrem Verderben retten könnten. Apollon befahl ihnen zusammen mit den Chalkidiern nach Rhegion zu fahren und seiner Schwester dankbar zu sein: denn sie seien nicht ins Verderben gestürzt sondern gerettet, da sie ja nicht zusammen mit ihrer Heimat vernichtet werden würden, die bald von den Spartiaten erobert werden würde; und sie gehorchten. Daher wurden die Führer [hēgemones] der Rheginer bis Anaxilas immer aus dem messenischen Stamm bestallt.«115
112 Dionysios von Halikarnassos: XIX. 1 und Strabon: VI. 1. 12. 113 Strabon: VI. 1. 12. 114 Dionysios von Halikarnassos: I. 26. 115 Strabon: VI. 1. 6.
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Strabon verwies auch hier auf unterschiedliche Traditionen. Eine rekonstruierte die Emigration als ver sacrum116 aufgrund einer Naturkatastrophe unter Mitwirkung eines Orakelspruchs. Seine Wiedergabe von Antiochos’ Schilderung umfasste hingegen nicht unmittelbar ein Orakel, erst der Hinweis auf die Beteiligung messenischer Flüchtlinge – ob er nun auf Antiochos zurückgeht oder nicht muss unklar bleiben – erzeugte einen Konnex mit Delphi. Einen anderen, bereits diskutierten Typ von Orakelspruch überlieferte Dionysios von Halikarnassos. Auch hier geht die Initiative auf den oikistēs über, der zudem einen anderen Namen erhält: »Artemides der Chalkidier hatte den Orakelspruch dort, wo er die Frau den Mann begattend findet, zu bleiben und nicht weiter zu segeln. Als er um Pallantion in Italien segelte, sah er eine Weinrebe ⟨einen Feigenbaum überwuchern; er interpretierte die Weinrebe als Frau,⟩ den Feigenbaum als Mann und das Hineinwachsen als Begatten, womit der Orakelspruch erfüllt war: Also vertrieb er die den Ort innehabenden Barbaren und siedelte [oikeō] dort. Der Ort heißt Rhegion, entweder wegen einer dortigen hohen Klippe oder weil sich dort die Erde aufgetan und Italien vom nunmehr gegenüberliegenden Sizilien getrennt hatte oder weil ein Herrscher diesen Namen getragen hat.«117
Die verklausulierte Ortsangabe unter Verwendung des Topos des von Wein überwachsenen Feigenbaums, der bereits in einem Aristoteles-Fragment zu Rhegion118 und auch auch in einer Version der ktisis-Erzählungen zu Tarent aufscheint, löste sich vor Ort auf. Der letzte Satz verweist zudem erneut auf eine Vielzahl von mittlerweile verfügbaren Deutungen des Ortsnamens. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Orakel für die mittlere Vergangenheitsebene als obligatorisch angesehen wurden, wobei nahezu ausschließlich das Orakel von Delphi als verantwortlich angesehen worden ist. Als große Konstante seit der klassischen Zeit erweist sich die Konsultation und Auskunft hinsichtlich der Bestimmung des Ortes der zukünftigen apoikia. Die Einholung dieser Auskunft konnte unterschiedlich erfolgen: Entweder gab es eine gezielte Befragung wegen einer ktisis, oder der Auftrag erfolgte bei einer Konsultation aufgrund eines anderen Anlasses. Mittlerweile herrschte Übereinstimmung, dass diese Ortsangaben in Vers116 Das ver sacrum, Frühlingsopfer, bezeichnet einen in den antiken Quellen primär für Italien geschilderten, historisch kaum belegbaren Brauch, nach dem die in einem bestimmten Jahr Geborenen dazu bestimmt worden sind, auszuziehen, um eine neue Ansiedlung zu gründen. Siehe etwa Strabon: V. 4. 12 zu den Samniten und Dionysios von Halikarnassos: etwa I. 16-21 und 23-26. Insgesamt spielte dieser Brauch im Rahmen der Darstellungen von apoikiai keine große Rolle. 117 Dionysios von Halikarnassos: XIX. 2 (Übers. MM). 118 Siehe Seite 81.
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und Rätselform abgegeben worden sind. Bei der Lösung der Rätsel gab es auch zwei Möglichkeiten: Entweder durch eine erneute Befragung oder durch eine Auflösung vor Ort. Zur Funktion der Orakelsprüche fasste Plutarch das vorherrschende Bild in einem seiner Pythischen Dialoge wie folgt zusammen: »Keinen größeren Nutzen gibt es sodann, den die Rede von der Dichtkunst empfängt, als den, daß das Gesagte, durch das Silbenmaß gebunden und in sich verflochten, leichter dem Gedächtnis eingeprägt und behalten wird. Die Leute von damals mussten ein gutes Gedächtnis haben. Denn viele Merkzeichen von Örtlichkeiten wurden ihnen gegeben, Anhaltspunkte für Unternehmungen, Heiligtümer von Göttern fern über Meer und Gräber von Heroen, verborgen und schwer aufzufinden für Leute, die weither von Griechenland gefahren kamen. Ihr kennt ja die Geschichten von Teukros, Kretines, Gnesiochos, Phalanthos und vielen andern Führern [hēgemones] von Kolonistenflotten [stoloi], nach wie vielen Merkzeichen sie den einem jeden bestimmten und zukommenden Siedlungsort auffinden mußten.«119
oikistai, mētropoleis und apoikiai Insgesamt verraten die Darstellungen von ktiseis der mittleren Vergangenheitsebene eine Konzentration auf wenige, zentrale Wissenselemente, die einen nahezu obligatorischen Status eingenommen haben. Hierzu gehörte insbesondere die Angabe der mētropolis und des oikistēs, die die Bestimmung der Herkunft der apoikia betrafen. In diesen Ursprungs-Konnex gehört auch die Herleitung des Namens einer apoikia. Des Weiteren die zeitliche Verortung der ktisis und nunmehr auch der Spruch der Pythia. Allfällige Zusatzinformationen umfassten die Ursachen der Emigration und die Art der Kontakte am Zielort. Bei der Bestimmung der genealogischen Zugehörigkeit ergab sich eine Konkurrenzsituation zwischen den mētropoleis und den oikistai: Die Initiative zu einer ktisis konnte prinzipiell von beiden ausgehen, weshalb die Zugehörigkeit sowohl über die Herkunft der Siedler als auch über die Herkunft der Gründerfiguren hergeleitet werden konnte. Tendenziell liegt die Gewichtung jedoch mehr auf den oikistai, deren Darstellung dem Tlepolemos-Modell entspricht. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass in den Quellen vermehrt heterogene Siedlergruppen auftreten. Der Fall Tarents zeigt jedoch, dass dieses Nebeneinander durchaus auch die Traditionen zu ein und derselben apoikia betreffen konnte. Diese Heterogenität innerhalb einer sich verfestigenden diskursiven Formation kann als Symptom der verfügbaren »vielfältigen logoi« gesehen werden, die ihre Existenz überhaupt unter anderem der divergierenden Fokussierungen auf mētropoleis beziehungsweise oikistai verdanken. Die feststellbare Homogenisierung der Darstellung von Ereignissen einer mittlerweile weiter entfernten Vergangenheit sowie die zeitliche und inhaltliche Verknappung der Traditionen entsprechen den Erkenntnissen der
119 Plutarch Moralia – De Pythiae oraculis: 27.
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oral tradition-Forschung zu den Modifikationen von Wissen im Verlauf einer längeren Überlieferung.120 I.3.2.3 Gründungen ab der klassischen Zeit Für Gründungen der klassischen Zeit gibt es die Möglichkeit des Vergleichs früherer, zeitgenössischer Schilderungen mit retrospektiven Darstellungen aus der (spät-)hellenistischen Zeit. Dies ermöglicht eine Erhebung der Modifikationen, denen das Wissen im Laufe der vergangenen Zeit ausgesetzt war. Ein Beispiel ist die ktisis von Herakleia Trachis, die bereits Thukydides recht ausführlich behandelt hatte. 121 Auch Diodor berichtete hierzu: »Gleichzeitig mit diesen Ereignissen besiedelten die Lakedaimonier die sogenannte Trachis und gaben ihr den neuen Namen Herakleia, dies aus folgenden Gründen: Die Trachinier hatten mit ihren Nachbarn, den Oitaiern, viele Jahre hindurch im Krieg gelegen und dadurch die Mehrzahl ihrer Bürger verloren. Da ihre Stadt verödet war, hielten sie es für angebracht, daß die Lakedaimonier als Kolonisten [apoikoi] von Trachis sich der Stadt annähmen. Und sowohl wegen ihrer Verwandtschaft als auch wegen der Tatsache, daß Herakles, ihr Urahn, sich in alten Zeiten zu Trachis aufgehalten hatte, beschlossen diese, den Ort zu einer großen Stadt zu entwickeln. Deshalb schickten sowohl die Lakedaimonier wie auch die Peloponnesier viertausend Siedler aus und nahmen auch von den übrigen Griechen alle auf, die an der Besiedlung teilhaben wollten; deren waren nicht weniger als sechstausend. So konnten sie Trachis zu einer Stadt mit zehntausend Einwohnern machen, und nachdem sie das Gebiet in Ackerlose [kataklēroucheō] eingeteilt hatten, gaben sie dem Ort den Namen Herakleia.«122
Diese Darstellung folgte ausschließlich einer genealogischen Logik: Bestimmendes Element ist das Verwandtschaftsverhältnis und die damit verknüpfte Vorstellung, dass eine apoikia gegenüber der mētropolis eine Art Verpflichtung hätte. Die Annahme Thukydides’, auch strategische Gründe hätten Sparta zur ktisis bewogen, ließ Diodor unter den Tisch fallen. Folgende Elemente der Darstellung von Thukydides fehlen ebenfalls bei Diodor: Die Namen der oikistai (bei Diodor gingen alle Aktionen von den Lakedaimoniern selbst aus), die Absegnung des Unternehmens durch das Orakel von Delphi sowie den Bau von Mauern und Schiffswerften. Eine neue Information bei Diodor ist, dass da Land mittels Landlosen verteilt worden ist. Auch die Angabe der Anzahl der apoikoi ist neu, ihre Zusammenstellung hingegen wurde analog zu Thukydides geschildert. Thukydides hatte diesbezüglich noch explizit hervor-
120 Vgl. hierzu etwa Vansina 1985: 105f. 121 Thukydides: III. 92. Siehe zu Herakleia Trachis Figueira 2008: 480-483. 122 Diodor: XII. 59. 3-5.
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gehoben, dass »Ionier, Achaier und einige andere Volksstämme« ausgeschlossen waren.123 Dieser Ausschluss war im Kontext des Peloponnesischen Krieges konsequent, in der Zeit Diodors hatte er an politischer Relevanz verloren. Ähnliches könnte auch für Diodors Beschreibung von Amphipolis gelten: Thukydides hatte geschildert, wie der ursprüngliche oikistēs Hagnon zugunsten des Spartaners Brasidas fallengelassen worden war. Im Rahmen von Diodors Erzählung war diese Umwidmung zu Brasidas kein Thema mehr, obwohl er dessen Kampagne bis zu seinem Tod vor Amphipolis ausführlich beschrieb.124 Daraus ließe sich ableiten, dass diese Umorientierung der polis zu Diodors Zeiten nicht mehr von Bedeutung war. Auch zur ktisis von Thurioi gibt es Vergleichsquellen aus der klassischen Zeit. Erneut kann Diodor zitiert werden:125 »Es währte nicht lange, da wurde die Stadt [Sybaris] an einen anderen Platz verlegt und erhielt auch einen neuen Namen; Gründer [ktistai] waren Lampon und Xenokritos. Die näheren Umstände, unter denen das geschah, waren folgende: Die zum zweiten Mal [durch die Krotoniaten] aus ihrer Heimat verjagten Sybariten schickten Gesandte zu den Lakedaimoniern und Athenern nach Griechenland mit der Bitte, sie bei der Rückkehr zu unterstützen und sich an der Besiedlung [apoikia] zu beteiligen. Während die Lakedaimonier ihnen kein Gehör schenkten, versprachen ihnen die Athener ihre Mithilfe. Sie bemannten zehn Schiffe und schickten sie unter der Führung [ageomai] des Lampon und Xenokritos aus; des weiteren ließen sie an die peloponnesischen Städte wegen der Koloniegründung [apoikia] eine Bekanntmachung ergehen, wonach jeder, der da wolle, sich beteiligen könne. Und viele folgten der Aufforderung und empfingen von Apollon das Orakel, wonach sie eine Stadt an der Stelle gründen [ktizō] sollten, die sie bewohnen könnten, ›trinkend in Maßen das Wasser, doch maßlos essend vom Brote‹. Und so landeten sie denn in Italien, begaben sich nach Sybaris und suchten nach dem Orte, den zu besiedeln der Gott ihnen aufgetragen hatte. Unweit von Sybaris fanden sie denn auch eine Quelle namens Thuria, die ein ehernes Rohr besaß, welches die Einwohner des Landes Medimnos hießen. Die Siedler glaubten, daß dies der vom Gotte bezeichnete Platz sei, umgaben ihn daher mit einer Mauer und gründeten eine Stadt, der sie nach der Quelle den Namen Thurioi gaben. Die Stadt selbst teilten sie der Länge durch vier Straßen, von denen sie die erste Herakleia, die zweite Aphrodisia, die dritte Olympias und die vierte Dionysias benannten, in der Breite teilten sie die Siedlung in drei Straßen, von denen die erste die Bezeichnung Heroa, die zweite Thuria und die letzte Thurina erhielt. Da die Quartiere mit ihren Häusern bedeckt waren, erschien die Stadt wohl angelegt.
123 Thukydides: III. 92. 124 Diodor: XII. 74. 125 Vgl. die geraffte Fassung dieser Geschichte bei Strabon: VI. 1. 13.
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Doch nur kurze Zeit lebten die Thurier friedlich zusammen, dann gerieten sie in einen schweren Bürgerkrieg, und dies nicht ohne Grund: Die früheren Sybariten verteilten nämlich die bedeutendsten Ämter unter sich, die geringeren aber an jene Bürger, die erst später aufgelistet worden waren. Auch ihre Frauen, glaubten sie, müßten bei den Opfern für die Götter den ersten Rang unter den Bürgerinnen einnehmen, einen niedrigeren Rang aber jene, die erst später hinzugekommen waren; des weiteren teilten sie das stadtnahe Land in Losen [klēroucheō] unter sich, das entfernt liegende Gebiet aber unter die Neuankömmlinge. Als es aus den erwähnten Gründen zum Streit gekommen war, erwiesen sich die Bürger, die erst später in den Listen aufgenommen worden waren, als zahlreicher und stärker, sie töteten daher fast alle ursprünglichen Sybariten und nahmen die Kolonisation selbst in die Hand. Da aber viel gutes Land vorhanden war, ließen sie aus Griechenland eine Menge von Siedlern kommen, teilten die Stadt unter sich und gaben jedem gleichen Anteil von Lande. Diejenigen, die dauernd in Thurioi wohnten, erwarben sich in Kürze große Reichtümer, sie schlossen auch Freundschaft mit den Krotoniaten und hielten ihr Staatswesen in guter Ordnung. Sie gaben sich eine demokratische Verfassung, teilten die Bürger in zehn Phylen und verliehen allen der ethnischen Herkunft nach entsprechende Bezeichnungen: drei Phylen, die sich aus Leuten von der Peloponnes zusammensetzten, nannten sie die arkadische, die achaische und die eleische; die gleiche Zahl, zusammengesetzt aus Gleichstämmigen außerhalb der Peloponnes, hießen sie die boiotische, die amphiktyonische und die dorische Phyle. Die restlichen vier Phylen, bestehend aus sonstigen Volksgruppen, bekamen die Bezeichnung ionische, athenische, euboische und insulanische. Sie wählten auch zum Gesetzgeber den besten der ob ihrer Bildung bewunderten Bürger, und dies war Charondas. Nachdem dieser die Gesetzeswerke aller Völker überprüft hatte, wählte er die besten Grundsätze aus und brachte sie in seine Gesetze ein […].«126
Strukturell gesehen entspricht diese Darstellung in vielen Elementen den Schilderungen zeitgenössischer ktiseis der klassischen Zeit: Die oikistai sind von der initiierenden mētropolis entsandte Funktionäre. Dies konnten Anführer (hēgemōn) der apoikia, verstanden als Emigrationszug, sein und oikistēs im Sinne der Einrichtung der apoikia vor Ort. Im Fall Thuriois waren Lampon und Xenokritos einerseits die von Athen ernannten »Anführer« (Diodor verwendete das Verb hēgeomai),127 zugleich wurden sie auch als »ktistai« bezeichnet. Zumindest im Fall des Lampon kann davon ausgegangen werden, dass er nach getaner Arbeit wieder nach Athen zurückgekehrt war.128 Gleiches galt auch für Hagnon, den Gründer von Amphipolis. Die Siedler rekrutierten sich nicht nur aus der mētropolis, sondern ein Aufruf zur Beteiligung erging an alle Hellenen. Der pythische Spruch in Versform hingegen diente zwar einerseits der göttlichen Bestätigung eines bereits vor der Konsultation beschlossenen 126 Diodor: XII. 10. 3. – XII. 11 127 Zur Unterscheidung von oikistēs und »Führer für die Fahrt« siehe auch Graham 1964: 35-39, Fontenrose 1978: 143 und Malkin 2011: 187. 128 Vgl. etwa Graham 1964: 36f. und Fontenrose 1978: 156.
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Unternehmens, andererseits lieferte das Orakel eine verschlüsselte punktgenaue Ortsangabe, wobei der zu besiedelnde Raum bereits feststand. Die als Indikator genannte Quelle Thuria bildete zugleich ein eponymes Element. Die Authentizität dieses Orakelspruchs ist schwer zu klären: Einerseits spiegelt er die erst in hellenistischer Zeit klar verallgemeinert greifbare Vorstellung von Orakeln in Rätselform. Andererseits ist der Spruch hinreichend ergebnisoffen hinsichtlich seiner Auslegung, was die Schilderung seiner Umsetzung vor Ort auch illustriert: Er weist somit eine ausreichende Praxisnähe auf.129 Bemerkenswert ist die eingehende Schilderung vieler Details zur politischen und städtebaulichen Einrichtung der neuen polis. Hinsichtlich der Verteilung der Landlose ist das bestimmende Thema ihre gerechte Aufteilung. Der Auslöser des Zwistes bei der Gründung, in dessen Verlauf die sybaritischen Bürger getötet werden sollten (zur Erinnerung: gemäß Aristoteles sind sie exiliert worden), war eine diesbezügliche Schieflage: Die Sybariten, als ursprüngliche Ansiedler, beanspruchten die zentralen Ämter sowie das stadtnahe Land für sich. Für Aristoteles war der Umstand des Synoikismos verschiedener ethnē noch ein weiterer Teil des Problems von Thurioi gewesen.130 Aus Diodors Warte war dies kein relevantes Hemmnis, da die stasis primär aus dem Verteilungsproblem resultiert habe. Insgesamt tendieren die Darstellungen von Gründungen seit der hellenistischen Zeit dazu, den Aspekt der Landvergabe durch Los als einen fixen Bestandteil anzuführen. Dies brachte die Frage mit sich, wie das zu verteilende Land verfügbar gemacht worden ist. Einerseits ging dies Hand in Hand mit der Vorstellung, dass Emigrationen und Gründungen den Charakter militärischer Kampagnen hatten und folglich das Land erobert worden ist. Dieser Trend macht sich auch bei den Schilderungen weit zurückliegender Gründungen bemerkbar, was erneut als Folge einer zunehmenden Homogenisierung entsprechender Narrative gewertet werden kann. Andererseits, im Falle späterer (Neu-)Gründungen, brauchte es einen Umsturz der alten Ordnung, wie eben in Thurioi. Jedenfalls spiegelt sich hier die zentrale Aufgabe einer ktisis: Die Grundlegung eines Gemeinwesens. Diese Darstellung der Geschichte Thuriois durch Diodor weist Parallelen zur idealen ktisis in Platons Die Gesetze auf. Zuvorderst das Ideal der Isonomie, der Gleichberechtigung der Bürger, was sich insbesondere in der Frage der Landverteilung niederschlug. Bereits für Platon hatte eine Unterscheidung in stadtnahe und entfernter liegende Grundstücke eine wichtige Rolle bei seinen Überlegungen zur gerechtesten Landverteilung gespielt. Seine Lösung war die Verknüpfung je einer nahegelegenen und entfernten Parzelle zu einem Los.131 Dies wirft die Frage auf, inwieweit die zeitgenössischen Erfahrungen in Thu-
129 Zur Praxis der Orakelbefragung siehe Maurizio 1997. 130 Aristoteles Politik: 1307a 27-33. 131 Platon Die Gesetze: 745b-747d.
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rioi nicht Einfluss auf Platons utopische ktisis genommen haben. Gemäß Diodors Erzählung war der Synoikismos insofern nicht folgenlos, als die Frage erwachsen sei, wer nun eigentlich als mētropolis und oikistēs angesehen werden kann. Dass die damit korrelierende Frage der Zuordnung Thuriois in der Endphase der Pentekontaetie akut wurde, mag nicht überraschen. Auch die Lösung dieses Dilemmas ist nicht neu: Wie im Fall von Epidamnos war es das Orakel von Delphi, das als Schiedsstelle angerufen worden ist: »In diesem Jahre [434/3 v.Chr.] gerieten in Italien die Einwohner von Thurioi, die sich aus vielen Städten zusammensetzten, untereinander in Streit darüber, als Kolonisten [apoikoi] welcher Stadt die Thurier zu bezeichnen seien und welcher Mann mit Recht Gründer [ktistēs] der Stadt heißen dürfe. Die Athener erhoben nämlich Anspruch auf diese Siedlung [apoikia], indem sie erklärten, der Großteil der Einwohner sei aus Athen gekommen; daneben behaupteten aber die peloponnesischen Städte, die nicht wenige Leute aus ihrer Bürgerschaft zur Gründung von Thurioi beigesteuert hatten, die Anlage der Stadt [apoikia] müsse ihnen zugeschrieben werden. Und da ebenso viele tüchtige Männer am Aufbau der Kolonie [apoikia] beteiligt gewesen waren und ihr zahlreiche Dienste geleistet hatten, gab es lange Diskussionen, da jeder dieser Ehre teilhaftig werden wollte. Schließlich schickten die Thurier Gesandte nach Delphi mit der Frage, wen man denn für den Gründer [oikistēs] der Kolonie halten solle, worauf der Gott das Orakel erteilte, er selbst müsse dafür gelten. Auf diese Weise wurde der Streit beigelegt, so daß man nun Apollon für den Gründer [ktistēs] von Thurioi erklärte, und die breite Masse kehrte, vom Zwist befreit, zur alten Eintracht zurück.«132
Diese Passage macht erneut den Spielraum bei der Bestimmung der Zugehörigkeit deutlich. Sowohl die mētropolis als auch der oiktistēs konnten hierfür herangezogen werden und im Fall einer heterogenen Zusammensetzung der Bürger und mehreren funktionärsartigen oikistai vergrößerte sich dieser Spielraum zusätzlich. Die Verbindlichkeit der Entscheidung durch die Pythia sollte nicht überbewertet werden, da sie nicht hielt, wie die wechselhafte Geschichte Thuriois zeigt: Während der sizilischen Kampagne Athens schlugen sie sich auf diese Seite – ein Fingerzeig, wer im Endeffekt als mētropolis angesehen worden ist. Diodor betonte »der Großteil der Einwohner sei aus Athen gekommen«, was nicht unerheblich war, da es realpolitisch die Entscheidung des dēmos oder der Machthaber war, an wen eine Anknüpfung erfolgte. Eine weitere mehrfach überlieferte Gründungserzählung betrifft Hierons ktisis von Aitne. Pindar hatte dieses Ereignis in seiner 1. Pythischen Ode besungen. Strabon zitierte bei seiner Beschreibung dieser ktisis aus einem fragmentarisch erhaltenen Hyporchema Pindars, das bereits Aristophanes in Die Vögel als Vorlage verwendet hatte:133 132 Diodor: XII. 35. 133 Siehe Seite 87.
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»Auch Katana ist von denselben Naxiern, Tauromenion aber von den Zankläern in Hybla gegründet worden [Strabon verwendete das Nomen ktisma, MM]. Katane hat seine ursprünglichen Bewohner [oikētores] verloren als Hieron, der Tyrann der Syrakusaner, dort andere ansiedelte [katoikizō] und die Stadt Aitne statt Katane nannte; dies ist auch die Stadt als deren Gründer [ktistōr] Pindar ihn bezeichnet wenn er sagt: Begreife was ich dir sage, heiliger Opfer Namensträger, Vater, Gründer [ktistōr] Aitnes. Nach Hierons Tod kehrten die Katanäer zurück, vertrieben die Einwohner und gruben das Grab des Tyrannen um; die Aitnäer zogen ab, besiedelten das Bergland des Ätna das Innesa genannt wird, nannten den Ort Aitne – er ist achtzig Stadien von Katane entfernt – und erklärten den Hieron zum Gründer [oikistēs].«134
Aus Diodors Geschichtswerk lässt sich folgende Geschichte Aitnes extrahieren: »Hieron vertrieb die Einwohner von Naxos und Katane aus ihren Städten und schickte eigene Siedler [oikētores] dorthin. Dazu hatte er fünftausend Leute aus der Peloponnes zusammengebracht und ebenso viele andere aus Syrakus noch hinzugefügt. Auch benannte er Katane in Aitne um und verteilte nicht nur dessen Gebiet, sondern auch viel Nachbarland, das er hinzugeschlagen hatte, in Losen [klēroucheō] an die Neusiedler [oikētores], deren Zahl er bis auf zehntausend aufstockte. All dies tat Hieron aus dem Bestreben heraus, in kommenden Bedarfsfällen eine beachtliche Hilfstruppe zur Verfügung zu haben, zugleich wollte er aber auch durch die neugegründete Stadt mit ihren zehntausend Leuten die Ehrungen eines Heros erlangen. […] Und Hieron, der König von Syrakus, starb zu Katane und empfing die Ehren eines Heros, da er ja die Stadt gegründet hatte [ktistēs]. […] Gleichzeitig mit diesen Ereignissen zog Duketios, der Führer der Sikeler, voller Erbitterung gegen die Einwohner von Katana, welche die Sikeler ihres Landes beraubt hatten, mit einem Heer gegen sie. Und da die Syrakusaner gleichfalls eine Armee gegen Katana ins Feld schickten, so teilten sie und die Sikeler gemeinsam das Land unter sich in Ackerlose auf [klēroucheō] und bekriegten die vom Herrscher Hieron angesetzten Siedler [katoikizō]. Die Kataner stellten sich ihnen bewaffnet entgegen, unterlagen aber in mehreren Gefechten, worauf sie Katane räumen mußten und das heutige Aitne – zuvor hieß es Inessa – in Besitz nahmen und die ursprünglichen Einwohner von Katane nach langer Zeit ihre Vaterstadt zurückgewannen.«135
Die Gründung Aitnes wird hier explizit der ›originalen‹ Gründung gegenübergestellt, was einen Bruch mit der alten Ordnung verdeutlichte. Gemäß Diodor war Hierons Motivation zweigeteilt: Zum einen ging es ihm um die Anlegung einer Garnison.
134 Pindar: F 81 apud Strabon: VI. 2. 3. 135 Diodor: XI. 49. 1f., 66. 4 und 76. 3.
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Hierzu soll er 10.000 Menschen angesiedelt haben.136 Zum anderen wurde Hieron das Streben nach Nachruhm zugeschrieben. Pindars Gesänge dürften für diese Feststellung sicherlich ein Indiz gewesen sein. Auch die Betonung des Themas des oikistēs-Kults unterstreicht das Bewusstsein für die Bedeutung einer aktiven, performativen Vergangenheitspflege: Strabon etwa hob nicht umsonst den Umstand hervor, dass das Grabmal Hierons nach der Rückkehr der Katanier zerstört wurde und dass der Hieron-Kult von den Vertriebenen Aitnäern mitgenommen worden sei, was einer performativen Änderung der Vergangenheit gleichkommt. Diodors Schilderung illustriert eine spezielle Art von Neugründung, die als restaurative ktisis bezeichnet werden könnte, da die alte Ordnung wiederhergestellt wurde: »Nach diesen Geschehnissen kehrten die Bevölkerungen, die unter Hierons Herrschaft aus ihren eigenen Städten vertrieben worden waren, nun da sie die Hilfe von Mitstreitern gefunden hatten, in ihre Heimatorte zurück und verjagten ihrerseits jene daraus, die sich ungerechterweise die fremden Städte angeeignet hatten; zu ihnen zählten Bewohner von Gela, Akragas und Himera. In gleicher Weise vertrieben die Bewohner von Rhegion vereint mit denen aus Zankle die Söhne des Anaxilaos, die über sie herrschten, und befreiten so ihre Heimatstädte. Später teilten die Einwohner von Gela, die ursprünglich in Kamarina zu Hause gewesen waren, jenes Gebiet in Ackerlose auf [klēroucheō]. Und da so gut wie alle Städte den Kriegen ein Ende setzen wollten, faßten sie gemeinsam den Beschluß, wobei sie mit den Söldnern unter ihnen ein Abkommen trafen. Danach holten sie die Flüchtlinge heim und gaben den früheren Bürgern ihre Städte zurück, den Söldnern aber, die wegen der früheren Tyrannenherrschaften die fremden Städte in Besitz hatten, gestatteten sie, ihr Hab und Gut mitzunehmen und sich samt und sonders in Messina niederzulassen. Damit endeten die in den sizilischen Städten herrschenden Bürgerkriege und Unruhen, die Städte aber schüttelten fast ausnahmslos die ihnen von Fremden aufgenötigten Verfassungen ab und verteilten ihre eigenen Ländereien im Losverfahren [klēroucheō] unter ihre sämtlichen Bürger.«137
Diodors Beschreibung der Geschichte Siziliens ist voll solcher Reorganisationen der politischen Landschaft, sei es nach dem Tod Hierons durch Dionysios138, sei es nach dessen Herrschaft139 durch Timoleon140. Erneut ist die Landverteilung mittels Losen, in diesem Fall ermöglicht durch einen radikalen Bruch mit der politischen Ordnung,
136 Dieselbe Anzahl begegnete uns bereits bei Diodors Schilderung der Gründung von Herakleia Trachinia, aber genauso auch bei seinen Beschreibungen zu Städtegründungen Alexanders. Siehe etwa Diodor: XVII. 83. 2 und 102. 4. 137 Diodor: XI. 76. 4-6. 138 Ebd.: XIV. 78. 139 Ebd.: XVI. 7. 1. 140 Ebd.: XVI. 82. 5-7.
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ein zentrales Element der Erzählung. Weitere Beispiele für restaurative Gründungen waren Messene und Theben. Messene wurde durch Epameinondas rekonstituiert:141 »Epameinondas, dessen Sinn von Natur auf erhabene Ziele und dauernden Ruhm ausgerichtet war, empfahl den Arkadern und anderen Verbündeten die Neugründung [oikizō] von Messene, das ob seiner für einen Kampf gegen Sparta günstigen Position viele Jahre hindurch von den Lakedaimoniern unbewohnt gelassen worden war. Da man allseits diesem Vorschlag zustimmte, ließ Epameinondas nach den noch lebenden Messeniern suchen, nahm auch andere Beitrittswillige in die Bürgerlisten auf und gründete [ktizō] so Messene, dem er zahlreiche Siedler [oikētores] zuführte. Er verteilte die Ackerlose [kataklēroucheō] unter ihnen, ließ die Gebäude wiederherstellen und rief derart eine bedeutende griechische Stadt neuerdings ins Leben, was ihm bei allen Menschen hohes Ansehen eintrug.«142
Das durch Alexander zerstörte Theben errichtete Kassander von neuem: »Hier rief er von überall her die noch lebenden Thebaner zusammen und unternahm eine Wiederbesiedlung [katoikizō] von Theben. Er meinte nämlich, daß er die schönste Gelegenheit habe, eine ob ihrer Leistungen und der von ihr überlieferten Mythen weitberühmte Stadt wieder aufzurichten und wegen dieser wohltätigen Maßnahme unsterblichen Ruhm zu ernten. […] Im zwanzigsten Jahr danach baute Kasandros in seiner Ruhmsucht, nachdem er die Boioter für seinen Plan gewonnen hatte, die Stadt für die noch lebenden Thebaner wieder auf [anistēmi]. Auch von den Griechenstädten beteiligten sich viele, aus Mitleid mit den Unglücklichen und wegen des Ansehens der Stadt, an ihrer Wiederbesiedlung [synoikismos]. Die Athener zum Beispiel führten den Großteil der Mauer auf und von den restlichen Griechen, nicht nur von denen aus Griechenland, sondern auch den in Sizilien sowie in Italien wohnenden, errichteten die einen ihren Mitteln entsprechend Bauten, während die anderen für die dringenden Bedürfnisse Geld spendeten.«143
In beiden Fällen wurde von Diodor ein ausführlicher Exkurs in die Geschichte seit der Heroenzeit und des Ursprungs unternommen. Ein zentrales Thema war der Ruhm, den sich die Initiatoren der Neugründungen erwarteten. Die Neugründung Thebens etwa wurde als derart prestigeträchtig angesehen, dass sich auch verschiedene poleis daran beteiligten. Die Makedonen Mit den Makedonen erhielten ktiseis und das damit verknüpfte Erlangen von Prestige eine neue Qualität: Städte konnten den Namen des sie Errichtenden erhalten. Den 141 Siehe zur Lösung der Messene-Frage auch Diodor: XIV. 78. 142 Diodor: XV. 66. 1. 143 Ebd.: XIX. 53. 2 und 54. 1f.
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Anfang machte Philipp II., der das von Thasos gegründete Krenides nach dessen Eroberung seinerseits neu gründete, mit Siedlern versah und in Philippoi umbenannte.144 Massiv betrieben wurden Gründungen dann von seinem Sohn Alexander in den von ihm eroberten Gebieten.145 Das bestdokumentierteste Beispiel aus dieser Zeit ist die ktisis des berühmtesten Alexandria in Ägypten. Strabon schrieb: »Als aber Alexander kam und die günstige Lage sah, beschloss er, an dem Hafen die Stadt zu erbauen [teichizō]. Auf den Wohlstand, der der Stadt später zuteil geworden ist, soll, so berichtet man, etwas gedeutet haben was sich beim Abstecken des Grundrisses zutrug: als nämlich die Baumeister dabei waren die Linie der Ringmauer mit weißer Erde zu bezeichnen, ging ihnen die Erde aus als gerade der König kam; da stellten die Proviantmeister einen Teil des für die Arbeiter bereiteten Gerstenschrotes zur Verfügung, womit dann auch die meisten Straßen gezogen wurden; das sollen sie als günstiges Vorzeichen gedeutet haben.«146
Diodor verfasste eine längere Passage zu diesem Ereignis: »In diesem Land beschloß er, eine große Stadt zu gründen [ktizō] und erteilte jenen, die er mit der Erledigung dieser Aufgabe zurückließ, die Weisung, den Bau mitten zwischen Lagune und Meer durchzuführen. Nachdem er den Platz abgesteckt und geschickt in Viertel eingeteilt hatte, benannte er die Stadt nach sich Alexandreia. Sie war sehr günstig in der Nähe des Hafens Pharos gelegen, und außerdem sorgte Alexander durch treffliche Straßenführung dafür, daß die eteischen Winde die Stadt durchbliesen und, wenn sie nach ihrem Weg über das weite Meer einfielen, die Stadtluft abkühlten. So verschaffte er den Einwohnern ein sehr gemäßigtes Klima und gute Gesundheit. Auch was die Stadtmauern betraf, so gab er ihnen eine besondere Ausdehnung und bewundernswerte Festigkeit. Da sie nämlich zwischen einer großen Lagune und dem Meer liegt, besitzt sie vom Land her nur zwei schmale und recht leicht überwachbare Zugänge. In ihrem Umriß ähnelt die Stadt einer Chlamys und wird beinahe mittendurch von einer großen und schönen Hauptstraße geteilt. Von Tor zu Tor erstreckt sie sich in einer Länge von vierzig Stadien, ihre Breite beträgt ein Plethron, dazu schmücken sie in ihrer ganzen Länge kostbare Häuser- und Tempelfronten. Außerdem befahl Alexander noch den Bau eines Königspalastes von staunenswerter Größe und Festigkeit.«147
Das Hauptinteresse betraf die Einrichtung der Stadt, wobei Alexander als gewissenhafter Planer beschrieben wurde. Notiert wurde zudem, dass die göttliche Sanktionierung der Gründung durch ein gutes Omen erfolgte. Diesbezüglich ist festzuhalten,
144 Siehe Diodor: XVI. 3. 7. 145 Siehe etwa ebd.: VI. 95. 5, 102. 4, 104. 8, 111. 6 und XVII. 83, 89. 146 Strabon: XVII. 1. 6. 147 Diodor: XVII. 52.
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dass bei den Schilderungen von Gründungen der hellenistischen Zeit keine Konsultation des Orakels von Delphi mehr vorkommt. Stattdessen spielten eben Omina eine verstärkte Rolle. Dies korrespondiert damit, dass das Orakel von Delphi im Lauf der hellenistischen Zeit zunehmend an Bedeutung verloren hat.148 Gerade die Benennung einer neuen polis lag nunmehr einzig und allein in der Zuständigkeit des monokratischen Herrschers, der in Personalunion als Gründer auftrat. Dies galt auch für die ktiseis der Diadochen:149 »Dieser [Antigonos] hielt sich damals im oberen Syrien auf und war damit beschäftigt, eine Stadt [polis] beiderseits des Flusses Orontes zu gründen [ktizō], die er nach sich Antigonia benannte. Er legte sie aufwendig an und maß ihr den Umfang von 70 Stadien zu. Der Ort nämlich war gut geeignet für eine Kontrolle von Babylon und der oberen Satrapien, aber vor allem auch des unteren Syriens und der in Richtung Ägypten gelegenen Satrapien. Doch war der Stadt keine lange Dauer beschieden. Denn Seleukos riß sie nieder und verpflanzte die Einwohner in die von ihm gegründete [ktizō], nach ihm selbst Seleukeia benannte Stadt.«150
Auch andere Spielarten des eponymen Benennens kamen vor: So gründete Alexander etwa ein Bukephala zum Andenken an sein in der Poros-Schlacht getötetes Pferd.151 Eine andere Variante war die Benennung nach Frauen: Lysimachos benannte etwa Ephesos nach seiner Gemahlin Arsinoë, der Tochter des Ptolemaios, in Arsinoeia um.152 Arsinoë gründete laut Strabon zudem selbst eine Stadt neu, das in Arsinoeia umbenannte Konope in Ätolien,153 womit erstmals explizit eine Gründerin greifbar wurde. Eponyme Benennungen von Städten waren nicht präzedenzlos. Die betreffenden eponymen Figuren waren allerdings bislang in der mythisch-heroischen Vergangenheitsebene angesiedelt gewesen. Zudem erfüllten diese eponyme Figuren unterschiedliche Funktionen, nicht nur die von Gründern. Aber gerade diese Figur des gründenden Heroen dürfte als Vorbild für die Makedonenkönige gedient haben. Insbesondere Herakles war ein zentraler Referenzpunkt ihres Selbstbildes. Erinnert sei an die Rationalisierungen der Taten dieses Heroen: An der Spitze eines Heeres zog er durch die Welt und gründete Städte. Diese Darstellungen sind somit auch den Gegebenheiten der hellenistischen Zeit geschuldet, da sie den zeitgenössischen Vorstellungen gemäß rationalisiert wurden. Andererseits dienten die Taten von Heroen wie-
148 Siehe Fontenrose 1978: 5f. und Scott 2014: 183-202. 149 Siehe etwa auch Diodor: XX. 25. 1f. und 29. 1 sowie Strabon: VII. F 25 und XII. 4. 7. 150 Diodor: XX. 47. 5f. 151 Ebd.: XVII. 95. 5. Hier wird auch ein Nikia (nikē = Sieg) erwähnt. 152 Strabon: XIV. 1. 21. 153 Ebd.: X. 2. 22. Vgl. auch XII. 3. 10 zu einer weiteren Gründerin.
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derum als Handlungsmuster für spätere Zeiten: Gegenwart und Vergangenheit befanden sich in einem konstanten Dialog. Ein gutes Beispiel bietet etwa folgende Anekdote: »Wie es heißt, sollen diese Menschen [das Volk der Siber, MM] Nachkommen der Krieger sein, welche zusammen mit Herakles zum Felsen Aornos gezogen waren. Alexander schlug nun in der Nähe einer sehr ansehnlichen Stadt sein Lager auf, worauf die angesehensten Bürger zu ihm herauskamen. Man brachte sie vor den König, und nachdem sie ihre verwandtschaftlichen Beziehungen erneuert hatten, erklärten sie sich als seine Stammverwandten gerne zu jeder Hilfsleistung bereit; dazu übergaben sie prächtige Geschenke. Alexander ließ sich ihre Ergebenheit wohl gefallen, erklärte ihre Städte für frei und setzte seinen Marsch gegen die Nachbarvölker fort.«154
Herakles, die notorisch wandernde Raumeinbindungsfigur par excellence, war bereits vor Alexander in diesen Gegenden, was seinem Herrschaftsanspruch durchaus förderlich war. ktisis oder apoikia? Auffällig bei den Darstellungen der Gründungen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart ist das Fehlen des Begriffs »apoikia«. Explizit wurden poleis gegründet, beziehungsweise wurden die Orte als ktisma (Gründung) bezeichnet. Gemeinsam ist diesen Gründungen eines ›starken‹, monokratischen Gründers, dass eine mētropolis fehlte. Für Herakleia Trachis etwa war dies Sparta. Bei Thurioi war die Frage nach der mētropolis zwar umstritten, löste sich aber letztendlich durch die Realitäten. Aitne scheint bereits ein Grenzfall gewesen zu sein. Dieser Ort wurde in den erhaltenen Quellen nicht als »apoikia« adressiert, was allerdings auch Zufall sein könnte. Es gibt einen ähnlich gelagerten Fall aus der klassischen Zeit, wo beides zusammenfällt: Ein monokratischer oikistēs sowie eine explizite Einstufung als apoikia: Alaisa auf Sizilien (gegründet 403 v.Chr.). »Archonides, der Gebieter von Herbita, faßte, sobald das Volk von Herbita mit Dionysios Frieden geschlossen hatte, den Plan zur Gründung [ktizō] einer Stadt [polis]. Er war umgeben von vielen Söldnern und einer bunten Menschenmenge, die wegen des Krieges mit Dionysios in der Stadt zusammengeströmt war; auch viele der mittellosen Herbitaier versprachen ihm, sich an der Kolonie [apoikia] beteiligen zu wollen. So nahm denn Archonidas das zusammengewürfelte Volk, besetzte einen acht Stadien vom Meer entfernten Hügel und gründete darauf die Stadt Halaisa; da aber andere gleichnamige Städte in Sizilien bestanden, gab er der Neugründung seinen Namen: Halaisa Archonidios. In späteren Zeiten nahm die Stadt aufgrund ihres
154 Diodor: XVII. 96. 2f.
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Seehandels und der ihr von den Römern gewährten Abgabenfreiheit einen bedeutenden Aufschwung, und so wollten die Halaisier nichts mehr von einer Verwandtschaft [syngeneia] mit den Herbitaiern wissen, sahen vielmehr eine Schande darin, als Kolonisten [apoikoi] einer geringeren Stadt zu gelten. Gleichwohl bestehen bis auf den heutigen Tag zwischen beiden Bürgerschaften zahlreiche verwandtschaftliche Bindungen, und sie halten nach den nämlichen Riten die Opfer im Heiligtum des Apollon ab. Einige freilich behaupten, daß Halaisa von den Karthagern zu jenem Zeitpunkt gegründet worden sei, als Himilkon mit Dionysios Frieden schloß.«155
Der Begriff »apoikia« diente hier explizit der Bezeichnung einer syngeneia, einer auf Abstammung basierenden Bindung. In diesem Fall ist unklar, wie groß der Anteil an Herbitäern an der »gemischten Menge« war. Dennoch ist der Status als apoikia auf Herbita als mētropolis bezogen, wobei die Rolle des monokratischen Herrschers als Initiator und Organisator, der zudem der Stadt seinen Namen als Epitheton gab, ausschlaggebend war. Diese Schilderung zeigt das Zusammenwirken eines ›starken‹ oikistēs und einer mētropolis: Archonides erhielt die Zusage der Herbitäer, dass sie sich an der ktisis beteiligen würden, womit ein klarer Bezug zu Herbita gegeben war. Hieraus kann insgesamt geschlossen werden, dass, wenn eine mētropolis greifbar war, sei es über die Herkunft (eines Großteils) der Siedler und/oder über den oikistēs, eine polis als apoikia bezeichnet werden konnte. Hinsichtlich beider Anknüpfungspunkte – mētropolis und oikistēs – waren die Gründungen der Makedonen und Diadochen unzureichend: Die angeführten späteren Gründungen monokratisch herrschender Gründer wurden vielmehr als deren persönliche Unternehmungen betrachtet. Keine klar identifizierbare mētropolis stand dahinter, sondern Herrscherdynastien. Der vage Rückgriff auf Makedonien oder Hellas, wie etwa bereits durch Xenophon angedacht, dass im Falle der Gründung einer Stadt durch ihn, ganz Griechenland als mētropolis zu verstehen wäre, wurde nicht unternommen. Auch die Herkunft der Siedler verlor ihre Verbindlichkeit: Angesichts der sich massiv verändernden soziopolitischen Umstände der hellenistischen Zeit war an eine Bevölkerung mit einer halbwegs homogenen Herkunft, gerade in entfernteren Regionen der Diadochenreiche, nicht zu denken. An die Stelle einer mētropolis als identitätsstiftender und politischer Bezugspunkt trat der Herrscher und Gründer.156
155 Diodor: XIV. 16. 156 Vgl. zur hellenistischen Praxis des Städtegründens Mileta 2009 und Mehl 2011.
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coloniae Abschließend soll ein Vergleich mit den Darstellungen römischer coloniae vorgenommen werden. Diese wurden aus der hellenischen Warte als »apoikiai« bezeichnet,157 also in dieselbe diskursive Formation eingeordnet. Im Anschluss an das oben Erörterte ist dies konsequent, da in diesem Fall mit Rom definitiv eine mētropolis gegeben war. Auch umgekehrt wurden apoikiai von römischen Autoren als »coloniae« bezeichnet.158 Es wurde bereits angeschnitten, dass sich aus der hellenischen Perspektive auf Rom die Frage nach den Ursachen für dessen Aufstieg und somit für die sukzessive Eingliederung Griechenlands in das Imperium stellte.159 Für Dionysios von Halikarnassos spielten hierbei die apoikiai eine Rolle: »Es gab aber noch eine dritte Einrichtung des Romylos, welche die Griechen von allen am meisten ausüben sollten, die, wie ich meine, wichtigste aller Einrichtungen, die auch den Grund der stabilen Freiheit der Römer darstellte und unter den Faktoren, die sie zur Herrschaft brachten, nicht der kleinste war, nämlich weder die waffenfähige Jugend in eroberten Städten niederzumetzeln noch die Einwohner zu versklaven, noch ihr Land als Viehweide brachliegen zu lassen, sondern Siedler in diese Städte zu entsenden, denen ein Teil des Landes zugelost worden war [wörtl.: klērouchoi hinschicken], und so die unterworfenen Städte zu römischen Kolonien [apoikiai] zu machen, einigen aber auch am Bürgerrecht Anteil zu geben. Durch solche und andere, diesen ähnlichen Einrichtungen machte er aus einer kleinen ein große Kolonie [apoikia], wie die Tatsachen selbst gezeigt haben. Diejenigen nämlich, die gemeinsam mit Romylos Rom gründeten [synoikizō], waren nicht mehr als 3000 Mann zu Fuß und weniger als 300 Reiter; die aber, die von ihm zurückgelassen wurden, als er aus den Reihen der Menschen verschwand, waren 46000 Mann zu Fuß und nur wenig unter 1000 Reitern. Nachdem jener den Anfang mit diesen Einrichtungen gemacht hatte, bewahrten sowohl die Könige, die nach ihm die Stadt führten, dieselbe Einstellung als auch diejenige, die die jährlichen Ämter innehatten,
157 Siehe etwa Strabon: III. 2. 1, IV. 6. 7, V. 1. 1 und 10, VI. 2. 4, VIII. 7. 5, X. 4. 9, XII. 3. 6 und 11, 8. 14, XIII. 1. 26 sowie XIV. 3. 3; Diodor: V. 38. 5, XII. 34. 5, XV. 27. 4, XVI. 7. 1 sowie XIX. 72. 8 und 105. 5; Dionysios von Halikarnassos: I. 26 und 71. 5 (Rom als apoikia Albas), II. 35f., III. 1, IV. 63, VII. 13, IX. 59, XVIII. 5. 158 Siehe etwa Velleius Paterculus: I. 4. oder Justins Epitome des Geschichtswerk von Pompeius Trogus: Zwei Begriffe wurden zur Bezeichnung der gegründeten (condere) Orte verwendet: urbs und colonia. Die Siedler werden als coloni bezeichnet: XIII. 7 (Kyrene), XVI. 3 (Herakleia Pontike) und XLIII. 3 (Massalia und seine Gründungen). 159 Siehe hierzu grundsätzlich Delcourt 2005: 93-104. Im Detail Engels 1999: 303-310 für Strabons Blick auf Roms Aufstieg Sacks 1990: 117-159 zu »Diodorus on Rome« und Delcourt 2005: 105-114 zu Dionysios von Halikarnassos.
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nahmen aber auch wohl die eine oder andere Ergänzung vor; so blieb das Volk der Römer zahlenmäßig hinter keinem auch noch so menschenreich scheinenden Stamm zurück.«160
Dionysios bemühte mehrere Argumentationsstränge: Ausgangspunkt ist ein Vergleich des Umgangs der Hellenen und der Römer mit eroberten Gebieten. Der Unterschied war nicht die Praxis der Aufteilung von Land in Landlose an sich,161 die ja auch als Bestandteil der hellenischen ktiseis angesehen worden ist. Vielmehr war es eine Frage des Umfangs dieser Maßnahme: Die Römer vergaben nur einen Teil des Landes. Des Weiteren wurde die männliche Bevölkerung weder getötet noch versklavt, sondern graduell inkludiert. Diese Maßnahmen sah Dionysios sowohl als Vorteil für das Land, das weiter bestellt wurde, als auch für Rom, dessen Bürgerschaft anwachsen konnte. Diese Rückbezüglichkeit neuer coloniae auf Rom stufte er folglich als gute Politik ein. Die hellenische Praxis der Landnahme hingegen hatte in Dionysisos’ Augen nachteilige Effekte. Das Bild von hellenischen Gründungen, das Dionysios insgesamt vor Augen hat, spiegelt wohl die verallgemeinernden Wahrnehmungen seiner Zeit, die von den zeithistorischen hellenistischen Gründungen geprägt waren und somit den Charakter von militärischen Kampagnen mit einer gewaltsamen Verdrängung der lokalen Bevölkerung hatten.
I.3.3 DER DISKURS DER (SPÄT-)HELLENISTISCHEN ZEIT ZU APOIKIAI Apoikiai blieben Migrationsphänomene, die einerseits das Element der Emigration umfassten. Im Diskurs »peri tas apoikias« bildete nach wie vor der Aspekt der Verbindung einer apoikia mit einer mētropolis, also die Klärung ihrer Genealogie, das Gravitätszentrum. Dies konnte einerseits über die Siedler und die sie entsendende polis erfolgen, andererseits auch über oikistai. Diodors Bemerkungen zu Alaisa illustrieren, dass eine syngeneia, ein Verwandtschaftsverhältnis zweier poleis, nicht einfach aufgekündigt werden konnte, sondern eine gewisse Verbindlichkeit hatte. Nicht umsonst wurde etwa von Strabon die Metapher der Familienbande für dieses
160 Dionysios von Halikarnassos: II. 16. 161 Gerade in Dionysios’ Beschreibung der römischen coloniae war der Aspekt der Landverteilung ein zentraler Faktor, nicht zuletzt, weil er als konstanter Streitpunkt zwischen Plebejern und Patriziern gesehen wurde. Siehe Dionysios von Halikarnassos: IV. 27, VI. 43, VII. 13f., IX. 59 und XVIII. 5. Auffällig ist auch die relativ synonyme Bezeichnung der Siedler als epoikoi, apoikoi oder klērouchoi. Siehe auch Diodor: XII. 34. 5, XIX. 101. 3 und Strabon: V. 4. 13.
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Verhältnis gewählt. Für eine Abstammung konnte es zudem sichtbare zeitgenössische Spuren in der Form geteilter soziokultureller Aspekte gegeben haben. Hierzu zählten Gesetze, Sitten und Kulte. Polybios etwa schrieb zu Agrigent: »Auf dem Gipfel der Burg ist ein Tempel der Athena und des Zeus Atabyrios errichtet, ebenso wie in Rhodos. Denn da Agrigent eine rhodische Kolonie ist [apoikizō], versteht es sich, daß dieser Gott hier denselben Beinamen trägt wie bei den Rhodiern.«162
Diese Vorstellung hatte einen axiomatischen Charakter und bildete ein wesentliches jeu de vérité. Diodor verwendete diesen Beleg als Einwand gegen die Bemühungen, sich von der mētropolis loszulösen. Seine letzten beiden Sätze könnten somit auf eine schwelende Debatte zu diesem Thema verweisen. Die Gegenposition greift ein schon erläutertes Manöver auf: Eine alternative Gründungserzählung wurde angeführt. Andererseits beinhaltete ein apoikia auch das Element der Immigration, manifestiert in der ktisis, der Einrichtung eines Gemeinwesens, oftmals in einem fremden Kontext. Ktisis und apoikiai sind jedoch nicht völlig deckungsgleich, sondern betreffen zwei sich stark überlappende, aber doch unterschiedliche diskursive Formationen. Der Unterschied liegt darin, welcher Aspekt betont werden sollte, was in der Darstellungspraxis jedoch oft gleichwertig behandelt wurde: Die Genealogie und somit die Rückbindung an eine Herkunft oder die aitiologische Erklärung der Einrichtung eines Gemeinwesens. Die Äußerungen der (spät-)hellenistischen Zeit zeigen, dass die Vorrangigkeit eines dieser beiden Aspekte auch damit zu tun haben, auf welcher Zeitebene sie angesiedelt waren, und somit damit, wie die soziopolitischen Zustände dieser Ebenen gesehen wurden. Für die weit zurückliegenden Vergangenheit der Götter und Heroen zeichnet sich eine Tendenz hin zur ktisis ab, in Form der Frage, wann eine heroische Figur Spuren hinterlassen hat und welche. Die Verknüpfungen mit derartigen Figuren waren mittlerweile so vielfältig geworden, dass Zuordnungen mit gegenwärtiger Relevanz zwar daraus gezogen werden konnten, allerdings die Identifizierung einer Herkunft kaum möglich war. Hierfür herangezogen werden konnte die mittlere Vergangenheitsebene, was in dieser Hinsicht eine Kontinuität der Wahrnehmung der klassischen Zeit bedeutete: Die Relation apoikia – mētropolis war hier am stärksten ausgeprägt. Für die Zeitgeschichte und Gegenwart rückte wiederum mehr der Aspekt der ktisis in den Vordergrund. Hier schließt sich die Frage an, ob apoikiai aus der Perspektive der (spät-)hellenistischen Zeit somit generell als Phänomene der Vergangenheit angesehen wurden. Dies kann verneint werden, da es auch in der Gegenwart vereinzelte hellenische apoikiai gab und mit Rom ein besonders eindrucksvolles Beispiel für eine mētropolis gegeben war. Gleichzeitig schien aber doch aus der Warte von Autoren wie Diodor, Dionysios oder Strabon der Prozess der Entstehung hellenischer 162 Polybios: IX. 27. 8.
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apoikiai sein Ende gefunden zu haben, sobald hellenische poleis nicht mehr die Möglichkeit hatten, mētropoleis zu sein. Die Frage der Gewichtung auf den Aspekt der ktisis oder der apoikiai korrelierte auch mit der Frage nach der Wahrnehmung der Akteure und zwar inwieweit der oikistēs oder die mētropolis bestimmend waren. Die Vergangenheitstraditionen und die zeitgenössischen Erfahrungen bestimmten die Bandbreite: Einerseits gab es das Tlepolemos-Modell und die umherziehenden Heroenfiguren sowie die zeitgenössischen ›starken‹ monokratischen Herrscher-oikistēs. Andererseits konnten die Gründer von der mētropolis eingesetzte Funktionäre sein, wofür die römische Praxis der Errichtung von coloniae ebenfalls ein Beispiel darstellte. In der Praxis konnten diese Optionen auch zu Problemen führen, wenn etwa das durch die älteren Traditionen vermittelte Bild, dass es einen oikistēs gegeben hat, der mit entsprechenden Funktionen und Ehrungen versehen war, mit der etwa in Thurioi greifbaren Praxis kollidierte. Besonders deutlich wird die Stereotypisierung der ktisis-Narrative anhand der prominenten Rolle von Versorakeln: Die Entstehung von apoikiai bis in die klassische Zeit war ohne eine Beteiligung des delphischen Orakels nicht mehr vorstellbar. Cicero (106-43 v.Chr.) fasste diese Bild in seinem Werk De divinatione folgendermaßen zusammen: »Griechenland vollends: Welche Kolonie [colonia] hat es nach Aeolien ausgesandt, nach Ionien, Asien, Sizilien, Italien, ohne das Orakel von Delphi oder Dodona oder das des Iuppiter-Ammon befragt zu haben?«163 Cicero nannte auch die Orakel von Dodona und Zeus-Ammon (Siwa), obwohl in den erhaltenen Äußerungen der (spät-)hellenistischen Zeit so gut wie ausschließlich das Orakel von Delphi angeführt wurde – wohl eine Konzession des historisch gebildeten Autors an die in den Traditionen erhaltenen vielfältigen Möglichkeiten, den göttlichen Willen einzuholen. Die Analyse der konkreten Quellenäußerungen suggeriert, dass Orakel nachträglich angepasst oder anhand der verfügbaren Traditionen und Wissenselemente zu apoikiai ausgeformt worden sind, damit ktisis-Erzählungen den allgemeinen Muster entsprachen. Ein weiteres zentrales Axiom der (spät-)hellenistischen Zeit war, dass die Gründung einer apoikia oder polis der Eroberung des betreffenden Raumes folgte. Dies war die Grundbedingung für die als obligatorisch gesehen (Neu-)Verteilung von Landlosen. Der Akzent verschob sich auch hier tendenziell hin zum Gründer, was auch der zeitgenössischen Erfahrung mit hellenistischen Herrscher als denjenigen, die die Befugnisgewalt über das Land hatten, entsprach. Die hellenistischen Gründungen erklären auch, warum Synoikismen bei weitem weniger als Abweichung von der Norm aufgefasst wurden als noch in der klassischen Zeit. Nachdem die Oberhoheit über ein Gemeinwesen letztinstanzlich nach außen verlagert war, konnte ein Synoikismos auch nicht mehr dieselbe politische Sprengkraft wie früher haben.
163 Cicero De divinatione: I. 3.
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Die Kausalitäten, die zu einer apoikia führten, rückten auf der zeithistorischen und zeitgenössischen Ebene vermehrt in den Hintergrund der Darstellung. Dies ist wohl weniger einem geringeren Interesse zuzuschreiben, als vielmehr einer Verfestigung der traditionellen Erklärungsmuster. Für Migrationen – egal welcher Vergangenheitsebene – konnten dieselben narrativen Topoi ins Treffen geführt werden: Entweder handelte es sich um Einzelschicksale, wenn sich das Narrativ auf den oikistēs bezog, oder um allgemeine Push- und Pull-Faktoren, wenn die entsendende beziehungsweise entsendete Gruppe die Akteursrolle innehatte. Je jünger die beschriebenen Ereignisse waren, desto mehr verschoben sich die geschilderten Ursachen in Richtung der Push- und Pull-Faktoren. Seneca (1-65 n.Chr.) verdanken wir einen verallgemeinernden Überblick zu den Anlässen von Migrationen: »Wohlan, so wende Dich von Himmlischem dem Irdischen zu: Du wirst sehen, daß Stämme und ganze Völker sich eine neue Heimat suchten. Was sollen inmitten von Barbarenländern griechische Ansiedlungen [Graece urbes]? Was unter Indern und Persern die makedonische Sprache? Das Skythenland und jenes ganze Gebiet der wilden und unbändigen Völker kann sich hellenischer Städte [civitates Achaiae] rühmen, die an der Küste des Schwarzen Meeres errichtet wurden. Nicht der grimmige ewige Winter, nicht das Wesen der Menschen, das gleich dem Klima abstoßend ist, hielten die Leute ab, ihren Wohnsitz zu wechseln. Athener gibt es in Kleinasien die Menge. Milet hat die Bevölkerung von 75 Städten in die Ferne entsandt. Die ganze Flanke Italiens, die das Tyrrhenische Meer bespült, war einst Großgriechenland! Die Etrusker nimmt [sic!] Kleinasien für sich in Anspruch; Tyrier siedeln in Afrika, in Spanien Karthager; Griechen sind in Gallien eingedrungen, ins Land der Griechen Gallier. Die Pyrenäen konnten den Durchmarsch der Germanen nicht aufhalten. Durch weglose, durch unbekannte Gegenden zogen Menschen ganz unbekümmert. Ihre Kinder und Frauen und hochbetagten Eltern schleppten sie mit. Die einen Völker hatten auf langer Irrfahrt schwer zu leiden und suchten sich ihren Wohnsitz nicht nach reiflicher Überlegung aus, sondern nahmen in ihrer Erschöpfung den ersten besten; andere verschafften sich mit den Waffen Gastrecht in fremdem Land. Manche verschlang auf ihrem Weg ins Unbekannte das Meer, manche siedelten sich da an, wo sie der Mangel an allem Nötigen stranden ließ. Sie hatten auch nicht alle denselben Grund, eine Heimstatt aufzugeben und zu suchen: Die einen stieß Zerstörung ihrer Städte, wenn sie den Schwertern der Feinde entronnen waren, in die Fremde, ihres Eigentums beraubt, andere vertrieb innerer Zwist, wieder andere ließ allzugroßer Bevölkerungsüberschuß fortziehen, um den Druck zu mildern, andere zwangen Seuche oder häufiges Erdbeben oder irgendwelche unerträglichen Mängel eines kargen Bodens zur Flucht; manche verführte auch die Kunde von einer fruchtbaren, über die Maßen gepriesenen Küste. Die einen riefen diese, die anderen jene Gründe aus ihrer Heimat fort; das jedenfalls ist klar, daß nichts an eben dem Ort blieb, an dem es entstand. Ununterbrochen zieht die Menschheit hin und her. Jeden Tag verändert sich etwas in dieser weiten Welt. Die Grundsteine neuer Städte werden gelegt, neue Nationen entstehen, weil ältere ausgerottet oder genötigt wurden, sich einer mächtigeren anzuschließen. Und alle
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diese Völkerbewegungen [populorum transportationes] – was sind sie anderes als massenweises Exil?«164
In diesen letzten Zeilen griff Seneca das gängige Geschichtsbild der Antike hinsichtlich Emigrationen auf, demzufolge an jedem Ursprung eine Wanderung stand: »So war es der Wille des Schicksals, daß kein Ding stets an derselben Stelle gedeiht.«165 Hellenen und Barbaren Eine detailliertere Beschäftigung mit der Art der Kontakte zwischen ankommenden Hellenen und lokaler Bevölkerung fand in diesem Querschnitt kaum noch statt. Das Axiom, dass das Land durch Eroberung gewonnen wurde, gab hier eine pauschale Antwort, die im Falle von Strabons Beschreibung der Besiedlung Siziliens durch Theokles und der apoikiai Milets im Schwarzmeergebiet nahezu gleichlautend ausfiel: »Theokles aus Athen aber, der von Winden nach Sizilien verschlagen worden war, habe erstens die Unbedeutendheit der Leute, sodann aber auch die Vortrefflichkeit des Landes festgestellt […]«166 Auch das Schwarzmeergebiet sei wegen natürlicher Vorteile und einer leicht unterwerfbaren Bevölkerung ein geeignetes Ziel für Eroberungen gewesen.167 Der diesbezügliche common sense wird auch dadurch unterstrichen, dass einige prominente Beispiele für freundschaftliche Beziehungen aus dem Diskurs der klassischen Zeit nicht mehr präsent waren: Bei den Beschreibungen der hellenischen Besiedlung Siziliens fehlt der wohlmeinende König Hyblon. Dasselbe gilt für den König von Tartessos, Arganthonios, der den Phokäern gemäß Herodot angeboten habe, sich in seinem Reich niederzulassen. Strabon konnte sich im Rahmen seiner Beschreibung Spaniens dessen namentliche Nennung bei Herodot nur mit dem Umstand seiner durch Herodot festgehaltenen Langlebigkeit erklären. Die Verknüpfung mit den Phokäern wurde ignoriert.168 Dennoch finden sich noch einzelne Berichte zu ursprünglich friedlichen Kontakten. Dies könnte einerseits auf das Beharrungsvermögen von Traditionen hinweisen. Im Fall von Marseille etwa schlug eine erste freundliche Aufnahme, wie sie bereits Aristoteles geschildert hatte, noch binnen der ersten Generation in kriegerische Konflikte um.169 Andererseits könnte die Schilderung ursprünglich freundschaftlicher Kontakte zeitgenössischen Zwecken dienen, um spätere gute Beziehungen einer apoikia zur umgebenden Bevölkerung oder gar eine Kohabitation zu untermauern. Folgende Erzählung Strabons zu den Samniten unterstreicht diesen Punkt: 164 Seneca Ad Helviam matrem de consolation: 7. 165 Ebd. 166 Strabon: VI. 2. 2. 167 Ebd.: XII. 3. 11. 168 Ebd.: III. 2. 14. 169 Justin: XLIII. 3-5.
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»Manche sagen, auch Spartaner hätten sich zusammen mit ihnen hier angesiedelt und deshalb seien sie griechenfreundlich gewesen; einige seien auch Pitanater genannt worden (dies scheint eine Erfindung der Tarantiner zu sein, die damit ihren mächtigen Nachbarn schmeicheln und sie zugleich für sich gewinnen wollten: konnten sie doch einst nicht weniger als achtzigtausend Mann Fußvolk und achttausend Reiter auf die Beine bringen).«170
Ein Novum in diesem Querschnitt ist die starke Präsenz des Themas der »Mischung« von Hellenen und Barbaren. Dieses war meist mit monokratisch organisierten ktiseis verbunden. Erinnert sei etwa auf die Vorstellung, dass Herakles die Völker »mischte«. Auch der sich als Epigone des Heroen stilisierende Alexander wurde eng mit diesem Thema verknüpft. Symptomatisch hierfür ist etwa Diodors Bericht zu den Überlegungen nach Alexanders Tod, nämlich inwieweit dessen Absichten weiterverfolgt werden sollen. Dazu zählte auch: »[…] die Gründung von Städten [synoikismos] sowie Menschenumsiedlungen von Asien nach Europa und in umgekehrter Richtung von Europa nach Asien, um so die größten Kontinente (Erdteile) durch gegenseitige Heiraten [epigamia] und Familienbande [oikeiōsis – ›miteinander bekannt machen‹] zu allgemeiner Eintracht und verwandtschaftlicher Verbundenheit [syngenikē philia] zusammenzuführen. […] Nachdem diese Aufzeichnungen vorgelesen worden waren, zollten die Makedonen ihrem Alexander Beifall, mußten jedoch einsehen, daß die Projekte übergroß und kaum ausführbar seien, und beschlossen daher, nichts von dem Erwähnten zu verwirklichen.«171
Alexanders Pläne wurden als zu utopisch für seine Nachfolger dargestellt. Im konkreten Fall stand wohl auch das Überlegenheitsgefühl der Hellenen dieser Absicht der – im engen Wortsinn – Verbrüderung der Menschheit entgegen. Dieses Spannungsfeld von Eroberung, der gelebten Praxis des interkulturellen Zusammenlebens, sowie der auf kulturellen Kriterien aufbauenden Dichotomisierung in Hellenen und Barbaren bestimmte den nunmehr zentralen Topos: Die unter hellenischem Einfluss ihren Lebensstil ändernden Barbaren. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Charakterisierung der milesischen Besiedlung des Schwarzmeerraumes durch Pseudo-Skymnos: »Sie entsandten nämlich die meisten Kolonien [apoikiai] aus Ionien ins Gebiet des Schwarzen Meeres und brachten es dahin, dass dieses, das zuerst aufgrund der Barbarenüberfälle ›das Ungastliche‹ geheißen hatte, die Bezeichnung ›das Gastliche‹ erhielt.«172 170 Strabon: V. 4. 12. 171 Diodor: XVIII. 4. 4. 172 Pseudo-Skymnos: 734-737. Die Doppeldeutigkeit im Wortspiel Pseudo-Skymnos’ weist auf mehr hin, als nur eine freundliche Aufnahme der Hellenen: Die Sitte der xenia, der
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Das aus der Anlegung von apoikiai resultierende Nebeneinander von Hellenen und Barbaren habe somit zu einer Kultivierung letzterer geführt.173 Diodor beschrieb diese Entwicklung auf Sizilien folgendermaßen: »Zuletzt entstanden auf Sizilien beachtliche griechische Kolonien [apoikiai] und wurden Städte am Meer angelegt [ktizō]. Hierbei trat eine gegenseitige Vermischung [anamisgō] ein und da Griechen in Massen auf die Insel kamen, lernten die Eingeborenen deren Sprache; nach griechischer Lebensweise mit ihnen zusammen erzogen, gaben sie schließlich ihre Barbarensprache und ihren Namen auf und heißen nun allgemein Sikelioten.«174
Auch hier findet sich das Thema der sprachlichen Anpassung und kulturellen Erziehung als Folge der »Vermischung«. Aus dieser Vorstellung von »Mischung« folgte die Möglichkeit von – modern ausgedrückt – Hybridität, wenn auch eine einseitige Akkulturation der »Barbaren« vorwiegend der Denkweise dieses Querschnitts entsprach. So beschrieb Strabon die Stadt Emporion folgendermaßen: »Die Emporiter bewohnten erst eine kleine vorgelagerte Insel, die jetzt Palaiapolis (›Altstadt‹) genannt wird; jetzt wohnen sie auf dem Festland. Emporion ist eine durch eine Mauer geteilte Doppelstadt: früher hatten sie unmittelbar neben sich die Indiceter wohnen, die, obwohl sie ein eigenes Gemeinwesen bildeten, trotzdem um der Sicherheit willen eine gemeinsame Ringmauer mit den Griechen, und zwar eine doppelte, d.h. durch eine Zwischenmauer getrennte, gewünscht hatten; im Laufe der Zeit haben sie sich dann zu ein und demselben aus barbarischen und griechischen Gebräuchen gemischten Gemeinwesen vereinigt, wie das auch bei vielen Anderen geschehen ist.«175
In diesem Querschnitt ist allerdings auch die entgegengesetzte Vorstellung der Barbarisierung von Hellenen häufig anzutreffen. Für die Gegenwart war hierfür die Anerkennung der gegenwärtigen realpolitischen Zustände verantwortlich: »Heute dagegen ist es so dass abgesehen von Taras, Rhegion und Neapolis alles barbarisch geworden und im Besitz teils der Lukaner und der Brettier, teils der Kampaner ist – d. h. sie sind dem Namen nach die Besitzer: in Wirklichkeit sind es die Römer (auch selber sind sie ja Römer geworden).«176 Gastfreundschaft, wurde von den dortigen Barbaren übernommen. Vergleiche hierzu schon die Polyphem-Episode in der Odyssee. Diese Anpassung der Barbaren meint somit primär die Frage des Lebensstils. 173 Vgl. hierzu Hall 2002: 210f. 174 Diodor: V. 6. 5. 175 Strabon: III. 4. 8. 176 Ebd.: VI. 1. 2.
Der (Spät-)Hellenismus | 173
Gerade dort, wo in der Gegenwart apoikiai sich mit der umgebenden Bevölkerung arrangieren mussten oder überhaupt nicht mehr als hellenisch angesehen wurden, wurde über die verlängerte Vergangenheit oftmals ein hellenischer Konnex des Raumes hergestellt und/oder eine lokale Bevölkerung mit einer hellenischen Genealogie versehen. Über den Topos der Barbarisierung wurde dann die hellenische Absenz im weiteren Geschichtsverlauf erklärt. Im Fall von Tarent wurde etwa ein kretisches Element eingefügt, das im strabonischen Gründungsbericht anklingt. Bereits Herodot hatte darauf verweisen können, dass die iapygischen Messapier eigentlich Kreter seien.177 Kyme war gemäß obigem Zitat barbarisch geworden, da die Kampaner diese apoikia beherrschten.178 Diodor berichtete zur Frühgeschichte dieser Region, dass die Thespiaden, jene Herakliden, die mit Iolaos nach Sardinien gezogen waren, nach Italien verdrängt worden seien, und sich in der Umgebung von Kyme angesiedelt hätten.179
177 Herodot: VII. 170. Vgl. auch Antiochos von Syrakus FGrHist 555: F 13 apud Strabon: VI. 3. 2. 178 Strabon: V. 4. 4. 179 Diodor: V. 15. 6.
»Die Geschichten der Hellenen sind vielfältig…« Zusammenfassende Bemerkungen zu Teil I
Das Ziel der Analyse ist es, auf zwei Herausforderungen einzugehen: Es gilt, die Frage nach der synchronen Konstitution von Vergangenheitswissen und jene nach seiner Tradierung, die die Grundlage der aktuellen Pattsituation in der Erforschung der »griechischen Kolonisation« bildet, zu beantworten. Der Diskurs »peri tas apoikias«, wie er uns für die klassische und (spät-)hellenistische Zeit entgegentritt, lässt sich nicht so ohne Weiteres auf einige wenige persistierende Inhalte reduzieren, die einen unmittelbaren Blick auf die Realitäten der Archaik offenlegen würden. Zutreffender ist es, von diskursiven Funktionen zu sprechen, die den Spielraum des Wissens sowohl ermöglichten als auch eingrenzten. Hinsichtlich apoikiai war es die Darstellung einer syngeneia, einer genealogisch bestimmten Zugehörigkeit, die die Äußerungen bestimmte. Hinzu kam die Überlappung mit dem antiken Diskurs zur ktisis, der den Ursprung und die Einrichtung von Gemeinwesen oder auch religiösen Stätten aitiologisch zu klären hatte. Es wird deutlich, dass es sich um einen Dialog von Vergangenheit und Gegenwart handelt, dessen dynamisierende Funktion für die Kreation, Tradition und Modifikation des Wissens anhand vieler Beispiele gezeigt werden konnte. Die Untersuchung bietet zwar für die konkreten späteren und somit retrospektiven Äußerungen zu diesen Themenfeldern eine Rückbindung an die sie bestimmenden Wissensbedingungen, hinsichtlich der Pattsituation kann jedoch keine eindeutige Lösung geboten werden. Eine klare Antwort auf die Frage, ob die späteren Quellen die zeitgenössischen archaischen Wahrnehmungen der »griechischen Kolonisation« wiedergeben, wird durch das Fehlen ihrer Überreste und der ebenfalls auf diesem Quellenproblem beruhenden modernen Unkenntnis hinsichtlich der Möglichkeiten der Wissenstradierung verunmöglicht.1 Eine frühe schriftliche Fixierung und Weitergabe des Wissens zur Entstehung von
1
Siehe zu diesem Punkt Hall 2008: 402-411 und 422.
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apoikiai erscheint unwahrscheinlich.2 Ein weiterer möglicher Kontext wäre ein ritualisiertes, performatives Gedenken3 der Gründung, etwa in der Form eines jährlichen oikistēs-Kults.4 Dies muss jedoch Spekulation bleiben, da es hierfür keine stichhaltigen Belege aus der Archaik gibt.5 Erst in späteren Quellen gibt es Hinweise, etwa den Heroenkult für Battos in Kyrene. Aber auch diese sind insgesamt zu spärlich, um daraus eine allgemeine Praxis ableiten zu können, schon gar nicht eine, die eine lange, bis in die frühe Archaik zurückreichende Tradition aufweisen würde.6 Auf einer hypothetischen Ebene könnte mit Jan Assmann zwar konzediert werden, dass Feste und Riten einen stabilisierenden Einfluss auf Erinnerung haben können,7 Jan Vansina hält jedoch fest, dass eine rituelle Aufführung keine Garantie für eine getreue Informationswiedergabe ist.8 Dies hängt nicht zuletzt mit der Relevanz des Vergangenheitswissens für die Gegenwart zusammen. Aufgrund dieser zentralen Bedeutung der apoikia und der ktisis konnte die Verortung und Konstitution eines Gemeinwesens zwar affirmativ wiederholt werden, aber eben auch, wie bei Neueinrichtungen, im Bedarfsfall einer Aktualisierung unterzogen werden. Folglich kann die These aufgestellt werden, dass ein stabiles Gemeinwesen eher eine stabile Tradition von Vergangenheitswissen begünstigte. Umgekehrt zog eine soziopolitische Veränderung oder gar ein Umbruch wahrscheinlich eine Modifikation im Vergangenheitswissen nach sich, um weiterhin der aitiologischen Logik der Klärung gegenwärtiger Zustände über ihren Ursprung gerecht zu werden. In jedem Fall würde ein offizielles Gedenken der Ursprünge allerdings Kontinuität suggerieren.9 Christoph Ulf fasst dies folgendermaßen zusammen: »Die ›Wahrheit‹ des dabei jeweils bewusst gesetzten Anfangs, aber auch die weiteren Etappen der ›historischen‹ Entwicklungen wurden in einer Verbindung von monumentalem Gedächtnis
2
Hall 2008: 404f. und grundlegend Thomas 1992.
3
Vgl. hierzu grundlegend Vansina 1985: 33-56 und 91f.
4
Siehe zum oikistēs-Kult grundlegend Malkin 1987: 189-240.
5
Siehe hierzu Dougherty 1994: 43f. und Hall 2008: 410f. In der Ilias wird das Zeichen (sēma) des eponymen Gründers Ilos, das außerhalb Ilions liegt, als Treffpunkt der Trojaner genannt (Homer Ilias: X. 415 und XXIV. 349). Ein sēma kann als Grabmal verstanden werden, was auf die Pflege seines Andenkens – um das starke Wort Kult zu vermeiden – hinweisen könnte. Insgesamt gibt es auch kaum archäologische Befunde, die überzeugend auf einen oikistēs-Kult hinweisen würden.
6
Hall 2008: 404-411. Siehe zum Heroon (ein Grabdenkmal) des Battos in Kyrene: Kreutz 2016.
7
Assmann 1992: 88f.
8
Vansina 1985: 39-42.
9
Siehe hierzu auch Hobsbawm 1983.
»Die Geschichten der Hellenen sind vielfältig…« | 177
und mündlicher (Pseudo-)Erinnerung durch Gedenktage, Feste, Zeremonien und Rituale am Leben erhalten.«10
Die Crux mit der Quellenlage ist, dass die verfügbaren Momentaufnahmen es verunmöglichen, Modifikationen in der Vergangenheitsdarstellung nachzuvollziehen: Einerseits vermittelt gerade die antike Historiographie nur Standbilder des Prozesses der Wissenstradition in der Form abgeschlossener und erfolgreicher Vergangenheitsnarrative die Teil der Tradition geworden sind.11 Die erhaltenen Quellenäußerungen, etwa die Äußerungen des Thukydides zu den sizilischen apoikiai, geben sich als Repräsentationen historischer Fakten. Selbst wenn sich antike Historiographen dieses Umstandes bewusst waren, war ihnen eine retrospektive Korrektur oder gar Auffindung des ›Originals‹ wohl kaum möglich. Andererseits können auch aus der modernen Retrospektive aufgrund der rudimentären Quellenlage soziopolitische Wandlungen gerade in der Archaik oftmals kaum nachvollzogen werden. Manchmal kann die Archäologie hier aushelfen.12 Auffällig ist jedenfalls, dass dort, wo es verschiedene retrospektive Quellenäußerungen zu ein und derselben apoikia gibt, eigentlich stets Widersprüche gegeben sind. Dies kann als Symptom des Spielraums der diskursiven Formationen gewertet werden und zugleich als Spuren von Aktualisierungen der Vergangenheit. Gerade die Beobachtung, dass es im Fall von Quellenäußerungen zu denselben apoikiai aus der klassischen Zeit und aus dem (Spät-)Hellenismus gravierende Modifikationen gegeben hat, illustriert die Dynamik von Wissenstradition in einem halbschriftlichen Umfeld. Warum sollte dies bei der Tradition von Vergangenheitswissen von der Archaik in die klassische Zeit anders gewesen sein? Die Konsequenz, die hieraus zu ziehen ist, ist eine Umkehr der Beweislast: Eine statische Wissenstradition sollte nicht als der Normalfall angesehen werden, sondern als fallweise zu belegender Umstand. Wenn die Annahme zutrifft, dass Aktualisierungen von Vergangenheitswissen die Regel waren, ergibt sich nach einem modernen Verständnis von Geschichtsschreibung ein Paradox: Wie konnten Modifikationen dann in das kollektive Gedächtnis als zutreffende Darstellungen aufgenommen werden? Irad Malkin formuliert dies so: »Yet historical inventions need an agent and an audience, i.e., someone doing the inventing, and some community that believes and sustains the invented story as a tradition.«13 Malkin hat insofern Recht, als Vergangenheitsnarrative nicht einfach so erfunden werden konnten. Sie mussten grundsätzlich konsensfähig, also dem aktuell gültigen Wissensstand gemäß wahrscheinlich sein, um Teil der Vergangenheitstraditionen zu werden. Hinzu kam der Spielraum, den die antiken diskursiven 10 Ulf 2008: 4. Vgl. hierzu auch Lowrie 2008. 11 Vgl. hierzu Braund 1998. 12 Siehe für konkrete Fallstudien etwa Yntema 2000 oder Hall 2008: 412-421. 13 Malkin 2016: 34. Siehe auch Malkin 2002: 208f.
178 | I. Das antike Wissen
Formationen boten. Hierzu gehörte das aitiologische Paradigma, das die Rückprojektion der Gegenwart in die Vergangenheit erlaubte. Somit kann für die Antike ein etwas anderer, gewissermaßen funktionalistischer Anspruch von Authentizität diagnostiziert werden. Lisa Maurizio bemerkt beispielsweise zur Glaubwürdigkeit von Orakeln: »Authenticity as defined by the ancient audience/authors of oracles, then, was implicitly conferred (or denied) during the complex and contested exchanges of an oracular performance. In this context, authenticity means that an oracle was judged relevant or true and hence a bonafide member of the Delphic tradition.«14
Dies lässt sich auch auf Gründungserzählungen umlegen: Sie wurden durch das Milieu, in dem sie kursierten, authentifiziert. Kriterien für ihre Glaubwürdigkeit waren ihre Relevanz für die Gegenwart über ihre Erklärungskraft zeitgenössischer Umstände und die Übereinstimmung mit den diskursiven jeux de vérité und Mustern. Gerade ihre Stereotypisierung machte Erzählungen authentischer, da sie den Erwartungen an derartige Narrative entsprach.15
14 Maurizio 1997: 317. 15 Vgl. hierzu die Überlegungen von Lisa Maurizio (1997: 324) zu den entsprechenden Mechanismen bei Orakelsprüchen.
II. Das moderne Wissen: Die »griechische Kolonisation«
[O]n a fait comme ces archéologues qui vont ramasser de vieilles pierres aux quatre coins du champ de fouille, et avec leur ciment tout moderne mettent debout un délicat reposoir de Sésostris, ou encore qui reconstituent une religion morte il y a deux mille ans en puisant au vieux fonds de la sagesse universelle, qui n’est en fait que leur sagesse à eux, élaborée dans les écoles de la IIIe République. Roland Barthes Mythologies: 47
»et avec leur ciment tout moderne…« Vorbemerkungen zu Teil II
Was der erste Teil hinsichtlich des antiken Wissens zu apoikiai geleistet hat, setzt der zweite Teil für die zweite Ebene der doppelten Konstruktion fort: Es handelt sich um eine vom 18. Jh. ausgehende transnationale Analyse der Entwicklung des modernen Wissens über die »griechische Kolonisation« in den angelsächsischen, deutsch- und französischsprachigen Altertumswissenschaften. Die Voraussetzungen einer solchen Untersuchung haben sich gravierend geändert: Im Unterschied zur Quellenlage für die Antike erhöht sich für die Analyse des modernen altertumswissenschaftlichen Bildes das verfügbare Aussagenmaterial signifikant. Konnten im ersten Teil noch sämtliche relevanten Äußerungen herangezogen werden, muss nunmehr eine Auswahl getroffen werden. Für die Zusammenstellung eines repräsentativen samples dienen Nachschlagewerke wie Enzyklopädien und Handbücher als Ausgangsmaterial. Sie sind ein prädestinierter Leitfaden durch die Entwicklung des modernen Wissens zur »griechischen Kolonisation«, da sie darauf ausgerichtet sind, den Wissensstand überblicksmäßig wiederzugeben. Sie wurden oftmals aktualisiert, um sich einem neuen Wissensstand anzupassen, und meist bibliographische Angaben zu weiterführender Literatur beinhalten, wodurch das Korpus erweitert wird. Die Untersuchung setzt mit der Mitte des 18. Jh. ein und reicht bis in die Gegenwart und gliedert sich, wie im ersten Teil, in als Querschnitte bezeichnete Momentaufnahmen des Wissens über die »griechischen Kolonisation« in bestimmten Zeitfenstern. Ihre zeitliche Verortung ergibt sich aus der Clusterung des Auftretens des Grundmaterials in Form der untersuchten Nachschlagewerke beziehungsweise ihrer Neuauflagen. Lediglich das erste Kapitel wird etwas aus diesem Rahmen fallen, da es sich um eine zeitlich weiter gefasste Bestandsaufnahme des Wissens der Zeit vor beziehungsweise während der Ausbildung einer universitären Historiographie im deutschsprachigen Raum handelt. Dies ermöglicht eine Bewertung, inwieweit die Verwissenschaftlichung Auswirkungen auf die Forschungspraxis und somit das Erkenntnisobjekt »griechische Kolonisation« hatte, und wirft ein Licht auf die grundlegende Axiomatik der entstehenden Geschichtswissenschaften. Insgesamt wird neben
182 | II. Das moderne Wissen
den fachlichen Bedingtheiten des Wissens auch ein besonderes Augenmerk auf die Korrelation des Wissens zur modernen Kolonisation, das ebenfalls zeitlichen Veränderungen entworfen war, mit jenem zur »griechischen Kolonisation« gerichtet. Der geographische Fokus umfasst die angelsächsischen, deutschsprachigen und französischen Altertumswissenschaften. Eine transnationale Perspektive bedeutet, diese drei Wissensräume nicht isoliert voneinander zu analysieren, da es sich – bildlich gesprochen – um kommunizierende Gefäße handelt.1 Wissen hielt sich an keine Grenzen und vom Beginn des untersuchten Zeitraums an lässt sich eine Vernetzung zwischen diesen Räumen feststellen. Zugleich ermöglicht es erst dieser transnationale Zugang, nationale Forschungstraditionen über ihre Kontextualisierung klar bestimmen zu können. Die Untersuchung will über die mittlerweile allseits anerkannte Färbung der Erforschung der »griechischen Kolonisation« durch ein koloniales Paradigma hinausgehen. Zum einen ist letztere nur ein Teil der modernen Axiomatik. Nicht nur der moderne Kolonialdiskurs, auch andere diskursive Formationen – die Verwissenschaftlichung und Institutionalisierung wurde schon genannt – spielten eine Rolle bei der Konstituierung des wissenschaftlichen Objekts »griechische Kolonisation«. Im Zentrum stehen somit die Entwicklung des Wissens zur »griechischen Kolonisation« und die es bestimmenden zeitbezogenen Bedingtheiten, nicht das Aneinanderreihen von zentralen Forscher_innenpersönlichkeiten. Es geht um die Rekonstruktion des Spielraums für Äußerungen zum fraglichen Phänomen und weniger um die Frage nach den individuellen Entscheidungen spezifischer Autor_innen bei der Nutzung dieses Spielraums. Zum anderen greift die Wahrnehmung des Eindringens eines klar identifizier- und abgrenzbaren Wissensbereichs (moderne Kolonisation) in einen anderen (»griechische Kolonisation«) zu kurz. Wenn dem so wäre, wäre die aktuelle Debatte durch ein simples Eliminieren der Fremdkörper einfach zu beenden. Ihre Persistenz und Heftigkeit zeigt allerdings, dass unser Wissen über die »griechische Kolonisation« ein komplexes Geflecht von Wissenselementen und Grundannahmen ist. Für ein Reset gilt es dieses zu entwirren und gerade die Auswirkungen des kolonialen Paradigmas klar zu identifizieren. Es geht wie im ersten Teil darum, persistierenden, modifizierten und verschwundenen Wissenselementen nachzuspüren, sowie die Frage zu beantworten, welche Wissenselemente wie und in welcher Art und Weise auf dem antiken Wissen beziehungsweise auf modernen Deutungsmustern aufbauen. Im Endeffekt dient dies einer fundierten wissensgeschichtlichen Verortung aktueller Positionen. Um eine, dem ersten Teil vergleichbare, rasche Unterscheidung von Quellen und Sekundärliteratur in den Fußnoten zu ermöglichen, werden im Folgenden die Autoren
1
Siehe grundlegend Werner/Zimmermann 2004.
»et avec leur ciment tout moderne…« | 183
der Quellen in Kapitälchen gedruckt. Die Analyse beruht zudem nicht unbedingt immer auf den Erstauflagen. Dies liegt zum einen daran, dass eine spätere Auflage in einem engeren zeitlichen Zusammenhang zum Zeitraum des Querschnitt steht, oder es hat pragmatische Gründe, die mit der Verfügbarkeit der jeweiligen Werke zusammenhängen.
II.1 Eine Bestandsaufnahme des Wissens: Das 18. und frühe 19. Jahrhundert
II.1.1 ANTIKE »KOLONIEN« AUS EINER ENZYKLOPÄDISCHEN PERSPEKTIVE Für eine erste Bestandsaufnahme des Wissens bieten sich folgende Nachschlagewerke an: Neben dem wohl berühmtesten enzyklopädischen Werk der Aufklärung, der Encyclopédie Diderots und d’Alemberts (erschienen zwischen 1751 und 1780), die 1728 in London veröffentlichte zweibändige Cyclopedia: or, an Universal Dictionary of Arts and Sciences von Ephraim Chambers (1680-1740) sowie Johann Heinrich Zedlers (1706-1751) Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste (Halle und Leipzig 1732-1754). Definitionen Der Ökonom François Véron Duverger de Forbonnais (1722-1800), Autor des Beitrags »Colonie« im 1753 erschienen dritten Band der Encyclopédie1, und Ephraim Chambers2 legten die Kategorie »Kolonie« so breit wie möglich an, um alle verschiedenen Ausformungen der Menschheitsgeschichte subsumieren zu können. Forbonnais definierte »Kolonie« folgendermaßen: »[O]n entend par ce mot le transport d’un peuple, ou d’une partie d’un peuple, d’un pays à un autre.« Chambers Definition ist nur geringfügig spezifischer: »Colony, a Plantation, or Company of People, of all Sexes and Conditions, transported into a remote Province, in order to cultivate and inhabit it.« Als Kolonie wurde somit grundsätzlich das Ergebnis einer Gruppenmigration verstanden, wobei bei Chambers noch eine Funktion hinzukam: Die Nutzung des neubesiedelten Landes. Unter dem Lemma »Plantation« gab er folgende Auskunft: »a spot of Ground which some Planter or Person arrived in a new Colony,
1
FORBONNAIS 1753: 648-651, auch alle weiteren Zitate.
2
CHAMBERS 1728b: 257f., auch alle weiteren Zitate.
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pitches on to cultivate and till for his own Use.«3 Beide Elemente waren relevant für Zedler, der bereits in seiner Grunddefintion zwei Arten von Kolonien unterschied: »Colonie heißt eine Anzahl Menschen, welche einen wüsten oder unbewohnten Ort anbauen. Dergleichen die Spanier, Engelländer und Holländer in Ost- West-Indien anlegen, siehe auch oben Colonia von denen Römischen Colonien. Ingleichen diejenigen Familien einer fremden Nation, welche in einem schon bevölckerten und angebaueten Lande oder Stadt wohnen; mit besonderen Vor-Rechten aufgenommen werden, und ihr besonderes Wesen behalten. Dergleichen Colonien, sonderlich Französischer Nation, seither etwas dreyßig Jahren in Deutschland und anderen Reichen viel gepflanzet worden sind, als La Colonie Francoise de Magdebourg &c.«4
Der erste Typus greift den Aspekt der Kultivierung auf, wobei ein Grundzug besonders betont wurde: Die Vorstellung, dass der entsprechende Raum vorher »wüst«, also unkultiviert war. Im Fall des zweiten Typs stand der Raum hingegen nicht zur völligen Disposition der Neuankömmlinge, was sie zu einer Minderheit machte. Dennoch behielt sie als solche ihr spezifisches »Wesen«, also eine kulturelle Rückbindung an die Herkunftsgesellschaft, bei. Zedlers Beispiel der Ansiedlung französischer Glaubensflüchtlinge bei Magdeburg ab 1685 macht deutlich, dass nicht notwendigerweise ein politisches Verhältnis zur Ursprungs-»Nation« vorliegen muss, um von einer Kolonie zu sprechen. Auch für Forbonnais und Chambers war Domination kein grundlegender Faktor. Vordergründig spielten zwei im weitesten Sinne kulturelle Aspekte eine wichtigere Rolle: Die Identifizierbarkeit der Emigranten aufgrund ihrer Herkunft beziehungsweise ihre Unterscheidung von einer lokalen Bevölkerung sowie die Kultivierung, also Nutzung des neubesiedelten Raumes. Letzteres war bereits in der Neuzeit eine zentrale Rechtfertigung der europäischen Landnahme in Übersee, verweist also zumindest implizit auf ein Machtverhältnis.5 Die (universalhistorische) Verortung der »griechischen Kolonisation« Zur Aufschlüsselung der Kategorie »Kolonie« orientierten sich Chambers und Forbonnais primär an ihrer Funktion. Chambers unterschied erstens in solche, die einem Bevölkerungsüberschuss entgegenwirken sollten, wofür er als Beispiele das Ausschwärmen der Nachfahren Noahs sowie das Ende des römischen »empire« durch die Völkerwanderung angab. Auch die »Phenicien and Grecian Colonies« wurden hier eingereiht, »without mentioning anything of [them]«, obwohl »so famous in ancient History«. Zweitens Kolonien zur Herrschaftssicherung in eroberten 3
CHAMBERS 1728c: 832.
4
ZEDLER 1733: 726f., auch alle weiteren Zitate.
5
Vgl. hierzu Pagden 1998: 76f. und Gosden 2004: 114-152 zur »terra nullius«.
Eine Bestandsaufnahme des Wissens | 187
Gebieten, was die römischen coloniae umfasste. Und schließlich: »Colonies of Commerce are those establish’d by the English, French, Spaniards, Portuguese, and other Nations within these two last Centuries [...].« Ihr Zweck sei »either to keep up a regular commerce with the Natives, or to cultivate the Grounds by planting Sugar-Canes, Indigo, Tobacco, and other Commodities.« In der Encyclopédie wurde mehr ein historisch-genetischer Zugang gewählt, um sechs chronologisch aufeinanderfolgende Typen von Kolonien zu unterscheiden. Zur ersten Ausformung, der Verbreitung der unterschiedlichen »tribus« nach der Sintflut wurde bemerkt: »le besoin l’occasionna; son effet particulier fut la subdivision des tribus ou des nations.« Die »colonies« der Griechen fielen zusammen mit jener der Phönizier, in die zweite Gruppe. Grundsätzlich wurde auch hier der Zweck der Bekämpfung von Überbevölkerung als Ursache gesehen, aber zugleich auch andere, akzidentiellere Ursachen zugelassen: »La multiplicité des citoyens dans un territoire borné ou peu fertile, allarmoit la liberté: la politique y remédia par l’établissement des colonies. La perte même de la liberté, les révolutions, les factions, engageoient quelquefois une partie du peuple à quitter sa patrie pour former une nouvelle société plus conforme à son génie. Telle est entr’autres l’origine de la plûpart des colonies des Grecs en Asie, en Sicile, en Italie, dans les Gaules. Les vûes de conquête & d’aggrandissement n’entrerent point dans leur plan: quoiqu’assez ordinairement chaque colonie conservât les lois, la religion, & le langage de la métropole, elle étoit libre, & ne dépendoit de ses fondateurs que par les liens de la reconnoissance, ou par le besoin d’une défense commune: on les a même vûes dans quelques occasions, assez rares il est vrai, armées l’une contre l’autre. Cette seconde espece de colonies eut divers motifs; mais l’effet qui la caractérise, ce fut de multiplier les sociétés indépendantes parmi les nations, d’augmenter la communication entr’elles, & de les polir.«
Der dritte Typ umfasste Eroberungskolonien. Als Beispiele dienten Alexander der Große sowie die römische Kolonisation. Das zentrale Unterscheidungskriterium zur vorigen Untergruppe war somit der Aspekt des Verhältnisses der Kolonien zu den Metropolen, jeweils bedingt durch die konkreten Motive zu kolonisieren: »Le vainqueur, pour assûrer ses frontieres, dispersoit les vaincus dans les terres de son obéissance, & distribuoit les leurs à ses propres sujets; ou bien il se contentoit d’y bâtir & d’y fortifier des villes nouvelles, qu’il peuploit de ses soldats & des citoyens de son état.« Der vierte Typ betraf die Völkerwanderung, deren Merkmal es sei, dass wandernde Völker Länder eroberten, »pour partager les terres avec les vaincus, & n’y faire qu’une nation avec eux«. Der fünfte waren Handelskolonien. Forbonnais sah diesen Typus bereits für die Antike gegeben: »Tyr, Carthage, & Marseille, les seules villes de l’antiquité qui ayent fondé leur puissance sur le commerce, sont aussi les seules qui ayent suivi ce plan dans quelques-unes de leurs colonies. […] Marseille, colonie des Phocéens chassés de leur pays & ensuite de l’île de Corse par les
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Tyriens, ne s’occupa dans un territoire stérile que de sa pêche, de son commerce, & de son indépendance. Ses colonies en Espagne & sur les côtes méridionales des Gaules, n’avoient point d’autres motifs. […] La forme de ces colonies répondoit assez à celles des nations commerçantes de l’Europe en Afrique & dans l’Inde, elles y ont des comptoirs & des forteresses, pour la commodité & la sûreté de leur commerce. Ces colonies dérogeroient à leur institution, si elles devenoient conquérantes, à moins que l’état ne se chargeât de leur dépense; […].«
Diese Einstufung fußte auch auf antiken Quellen, in denen eine Charakterisierung der Phönizier als Händler bereits greifbar war.6 Ähnliches galt für die Phokäer und insbesondere ihre apoikia Massalia. Gleichzeitig zeigt sich hierbei auch eine nationale Perspektive, da sich ein besonderes Augenmerk auf die französische unter den griechischen »Kolonien« richtete. Die sechste Art von Kolonie waren schlussendlich die europäischen. Allgemein gelte: »Toutes celles de ce continent ont eu le commerce & la culture tout-à-la-fois pour objet de leur établissement, ou s’y sont tournées: dès-lors il étoit nécessaire de conquérir les terres, & d’en chasser les anciens habitans, pour y en transporter de nouveaux. Ces colonies n’étant établies que pour l’utilité de la métropole, il s’ensuit: 1. Qu’elles doivent être sous sa dépendance immédiate, & par conséquent sous sa protection. 2. Que le commerce doit en être exclusif aux fondateurs.«
Im Unterschied zu Chambers wurde die moderne Kolonisation nicht primär als Handelskolonisation charakterisiert, sondern zumindest im selben Ausmaß auch als Eroberungskolonisation, gerade zur Verfügbarmachung des Raumes.
II.1.2 DIE ERSTE MONOGRAPHISCHE STUDIE ZUR »GRIECHISCHEN KOLONISATION« Jean-Pierre de Bougainville (1722-1763) gewann 1745 mit einer Dissertation zum titelgebenden Thema Quels étoient les droits des métropoles grecques sur leurs colonies; les devoirs des colonies envers les Métropoles; & les engagemens réciproques des unes & des autres den Preis der Académie royale des inscriptions et belles lettres. Diese Art der Forschungsförderung durch die Vergabe von Preisen, die an konkrete Fragestellungen geknüpfte waren, stellten eine der zentralen Aufgaben der Académie dar. Vor der Institutionalisierung einer universitären Geschichtswissenschaft stellte sie somit Rahmenbedingungen für Forschung zur Verfügung und hatte zugleich eine gewisse Steuerungsfunktion:7 Die Académie zielte mit den Preisausschreiben oftmals 6
Siehe hierzu Gruen 2012: 116-122.
7
Vgl. Lingelbach 2003: 33f.
Eine Bestandsaufnahme des Wissens | 189
darauf ab, Wissenslücken zu schließen. In diesem Fall gab es bereits Werke humanistischer Gelehrter zum rechtlichen Status der römischen coloniae, was fehlte, war eine entsprechende Abhandlung zu den »droits« und »devoirs« griechischer »Kolonien«.8 Dieses Werk war zudem Bougainvilles Einstieg in das System der Académie: 1746 wurde er zu ihrem Mitglied gewählt. Sein Ergebnis nahm Bougainville bereits im Vorwort vorweg und bezog klar Stellung gegen die Vorstellung von der Unabhängigkeit griechischer »Kolonien«, wie sie etwa bei Forbonnais anzutreffen war: »Ces liens mutuels des Métropoles & des colonies, étoient si forts, & nous en avons tant des vestiges épars dans les anciens auteurs, qu’il y a lieu des s’étonner qu’ils ayent en quelque sorte échappé à presque tous ceux qui ont écrit sur l’histoire Grecque.«9 Auch im Fall der »griechischen Kolonisation« sei somit ein Machtverhältnis gegeben. Bougainvilles Ausgangspunkt war die Identifizierung gemeinsamer Züge im ansonsten politisch heterogenen antiken Griechenland. Er verwendete die Körpermetapher zur Illustration der griechischen »nation«, deren verschiedenen Untergruppen (»etats«/»républiques«) die verschiedenen, distinkten Teile dieses Körpers bildeten. Kohäsion erzeugend seien gewesen: »la langue de tous les habitans de ce pays étoit la même: une religion semblable pour le fond, […] un amour égal de la liberté, […] une haine naturelle contre les peuples qu’ils appelloient barbares«.10 Besonders einen Faktor hob er hervor: »Deux villes dont l’une étoit la tige de l’autre devoient naturellement être unies, & cette union en donnant à la premiere une véritable superiorité sur la seconde, mettoit celle-ci dans une subordination qui n’allarmoit point sa liberté, parce qu’elle paroissoit volontaire.«11 Ihrem Wesen nach hätten die Griechen zwar die Freiheit geliebt, im Falle des Verhältnisses einer apoikia zu ihrer mētropolis, beziehungsweise eines »citoyens« zur seinem »Vaterland« wirkte jedoch ein naturrechtliches Band, eine »alliance naturelle«. Dieses relativierte die Freiheit, allerdings in einem Ausmaß, der als freiwillige, natürliche Unterordnung gesehen wurde, »sans avoir besoin d’être marquée par aucun traité positif«12. Zur Beschreibung dieses Bandes bemühte Bougainville die Metapher der Elternliebe, für die er auf viele antike Zeugnisse verweisen konnte: 8
Bougainville schrieb hierzu »Aucun moderne n’a encore traité ce sujet, du moins d’une maniere qui répondît à son étendu. M. de Valois & le Baron de Spanheim sont les seuls qui en ayent parlé […] mais le premier n’a fait que l’indiquer; le second, quoiqu’il s’arrête advantage sur cette matiere, en effleure a peine une partie, parce que ce n’étoit pas son objet principale.« BOUGAINVILLE 1745: ixf. Gemeint waren die Edition von Fragmenten antiker Historiographen von Henri Valois (1603-1676) und die Dissertatio de praestantia et usu numismatum antiquorum von Ezechiel Spanheim (1629-1710).
9
BOUGAINVILLE 1745: ix.
10 Ebd.: vf. 11 Ebd.: viiif. 12 Ebd.
190 | II. Das moderne Wissen
»Tout est renfermé dans le titre de Métropoles, ou de Villes-Meres. Les liens qui subsistoient entr’elles & leurs colonies, sont précisément les mêmes que ceux don’t la trame formée par les mains de la nature unit les peres & les enfans: sortis de la même source, ils produisoient des devoirs absolument semblables.«13
Als Belegstellen für das enge Band zwischen Kolonie und Metropole nutzte Bougainville vor allem Beispiele aus der klassischen Zeit, aus welcher Reflexionen zum Verhältnis von apoikia und mētropolis greifbar waren:14 Themistokles’ Appell an die ionischen Verbündeten der Perser, der Abfall der Lesbier im Peloponnesischen Krieg aufgrund der Blutsverwandtschaft mit den Doriern (über Penthilos, dem Sohn des Orestes), die Verbundenheit Potidaias mit Korinth während des Korkyra-EpidamnosKonflikts oder das Schicksal Melos’, um die von Bougainville als zentral erachteten Exempel anzuführen. Insgesamt gab es jedoch ein Quellenproblem beim Unterfangen, ein allgemeingültiges, enges politisches Verhältnis zwischen apoikia und mētropolis zu rekonstruieren – der Nachteil, wenn von einer naturrechtlichen Grundlage ohne »traité positif« ausgegangen wird. Bougainville griff deshalb auf einen Analogieschluss zurück: »La manière dont les Européens ont formé la plûpart de ces établissemens, peut nous donner une idée des moyens que les Grecs employoient pour composer quelques unes de leurs colonies.«15 Und weiter heißt es: »Les mœurs d’une colonie offroient presque toujours une image fidele de celles de sa Métropole; comme on voit aujourd’hui les loix, le caractere, & la langue des principales nations de l’Europe se perpétuer dans les divers établissemens dont elles ont rempli le nouveau monde, influer même sur les mœurs & sur le génie des naturels, qui civilisés insensiblement par la societé de leurs maîtres, deviennent hommes en cessant d’être libres.«16
Besonders deutlich wird dieses Verständnis von Freiheit und Abhängigkeit bei der Charakterisierung der weiteren Entwicklung. Sollte diese in der Encyclopédie im Sinne eines Verlustes der Freiheit gesehen werden, deutete Bougainville diesen Prozess anders. Er sah eine zunehmende Auflösung des auf Naturrecht fußenden engen Bandes: »l’union des Métropoles et des colonies a cessé de produire des effets reéls
13 BOUGAINVILLE 1745: 2. Siehe auch 73f. und 114f. Bougainville nannte als Quellen Pindar 4. Pythische Ode: 34, Thukydides: I. 24, Polybios: XII, Livius: XXXVII. 97 und Plutarchs Timoleon. Hier und im Folgenden wird stets so gut wie möglich versucht, die teilweise nur rudimentären und auf früheren Editionen beruhenden Quellenangaben so gut es geht in die entsprechenden heutigen Angaben zu übertragen. 14 Ebd.: 73ff. 15 Ebd.: vii. 16 Ebd.: xif.
Eine Bestandsaufnahme des Wissens | 191
dans la Grece«17. Mit dem Verlust der Unabhängigkeit der Metropolen unter der makedonischen Herrschaft verfügten diese nicht mehr über die notwendige Autonomie, um neue Gründer, Heerführer oder Gesetzgeber zu entsenden, oder gar um militärischen Beistand zu leisten. Was übrig geblieben wäre, seien nur die Ehrenrechte der Metropole, das heißt eine ideelle Bezugnahme, die keinerlei Realitätseffekte, also praktische Konsequenzen mehr in der griechischen Geschichte gehabt habe.18 Der historische Ablauf der »griechischen Kolonisation« Seine knappe historische Skizze der Kolonisationsgeschichte Griechenlands19 begann Bougainville mit dem Verweis auf die erste »colonie« nach der biblischen Sprachverwirrung. Die weitere Entwicklung war »inculte«, gehüllt in »ténébres imprénétables«. Als Leitlinie konnte zumindest an Thukydides’ »Archäologie« angeknüpft werden: Die Hellenen legten nach und nach ihren unzivilisierten Lebensstil ab und wurden sesshaft. Allerdings war diese Phase geprägt von ununterbrochenen Wanderungen und internen Kämpfen, da es weder Handelsverbindungen gegeben hat, die zu Übereinkommen zwischen den verschiedenen Untergruppen geführt haben könnten, noch Gesetze. In dieser Frühphase war Griechenland selbst das Ziel von »Kolonisation«, was zu seiner Zivilisierung geführt habe: Argos und Athen seien ägyptische Gründungen und Theben eine phönizische. Sodann erfolgte eine Binnenkolonisation durch die von den drei Söhnen Hellens abstammenden ethnē. 80 Jahre nach dem Trojanischen Krieg, mit der Rückkehr der Herakliden begann die »transmigration des Grecs dans les pays étrangers«: Auf die Inseln der Ägäis, die kleinasiatischen Küste und in den westlichen Mittelmeerraum. In diesem Ausgreifen über Griechenland selbst lag für Bougainville das Kriterium der Unterscheidung der »griechischen Kolonisation« von den vorherigen Ereignissen. Bougainville sah diese »griechische Kolonisation« grundsätzlich als heterogenes Phänomen: »[…] toutes les Colonies Grecques n’étoient pas d’une même espéce: aussi ces établissemens avoient-ils entr’eux des différences essentielles, qui naissoient de la nature même des lieux pour lesquels ils étoient destinés, & des raisons qui les occasionnoient«20. Meist sei es Überbevölkerung gewesen, die zum Ausgreifen auf Kleinasien und den westlichen Mittelmerraum geführt hat. Gleichzeitig führte Bougainville aber auch andere Ursachen für Emigrationen an, entsprechend dem heterogenen Bild, das die verschiedenen erhaltenen antiken Äußerungen übermitteln (ohne genauere Quellenangaben anzuführen): Der Druck von außen genauso wie innerer Migrationszwang (etwa stasis), Naturkatastrophen, Aufforderungen durch Orakel, etc. 21 Hiervon wurde eine 17 BOUGAINVILLE 1745: 152. 18 Ebd.: 152f. 19 Ebd.: 7ff. 20 Ebd.: 20f. 21 Ebd.: 16f.
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zweite Phase unterschieden: Nach den Perserkriegen kam es zu Siedlungskolonisationen zur Sicherung von eroberten Gebieten.22 Aufgrund dieser Zweiteilung konnte er zwei unterschiedliche antike Begrifflichkeiten aufgreifen und sie systematisch voneinander abheben: Zunächst apoikiai, als Bezeichnung für in barbarische oder wüste Landstriche ausgesandte »colonies« mit dem Ziel ihrer Besiedlung, wohingegen später klērouchoi zur Machtsicherung ausgesandt wurden.23 Gründung Für eine weitere typologische Unterscheidung nutzte Bougainville das Kriterium der Organisation. Hinsichtlich der Gründungsgebräuche bemerkte er: »Il me reste un mot à dire sur les cérémonies usitées dans l’établissement des colonies. Elles étoient uniformes par toute la Grece. Je ne parle ici que des colonies envoyées au nom de la République: car pour ces troupes errantes, que l’attachement à un Chef rebelle ou mécontent, l’amour de la nouveauté, ou d’autres motifs semblables éloignoient de leur patrie; on sent bien que leur sortie n’étoit rien moins que publique, & qu’elle avoit plûtôt l’air d’une fuite que d’un voyage.«24
Somit wurde eine klare Trennung in planvolle »Kolonisation« und Abspaltung vollzogen.25 Für den ersten Fall machte sich Bougainville daran, mittels des antiken Quellenkorpus jene Sitten zu sammeln, die im Falle einer Gründung zur Anwendung kamen,26 und welche wiederum ihrerseits als Argument für die Vorherrschaft der mētropoleis dienten, wie etwa der Fall Epidamnos: »[…] il prouve que les Fondateurs d’une ville, en se séparant d’une partie de leurs citoyens, loin de consentir à les perdre sans retour, avoient grand soin de conserver la trace de leur origine, d’entretenir avec eux une correspondance intime, & de se les unir par des liens qui marquassent la dépendance des uns, & la supériorité des autres, comme le disent expressément les Députés de Corinthe dans l’assemblée publique du peuple d’Athenes.«27
Das Quellenkorpus war nicht sehr umfangreich und zeitlich weit gefasst: Von Homer bis zum spätantiken Rhetor Libanios. Gerade zum Gründungsritus wurde viel von Dionysios von Halikarnassos übernommen, der zwar primär die Gebräuche bei den
22 BOUGAINVILLE 1745: 19f. 23 Ebd.: 21f. 24 Ebd.: 27f. 25 Ebd.: 33. 26 Ebd.: 28ff. 27 Ebd.: 33.
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Aussendungen der römischen Kolonien beschrieben hatte, da Rom allerdings ihrerseits eine trojanisch/hellenische »Kolonie« gewesen sei – was nicht zuletzt Dionysios selbst nachzuweisen gesucht hatte – erschien ein Rückschluss auf die »griechische Kolonisation« gerechtfertigt. Grundsätzlich handelte es sich meist um Äußerungen zu konkreten Ereignissen, da verallgemeinernde antike Reflexionen zum Phänomen die Ausnahme waren. Die moderne Verarbeitung dieser Äußerungen war von einem eklektischen und in gewissem Sinne apologetischen Zugang bestimmt: Dem Korpus an verfügbaren, a priori als zuverlässig eingestuften antiken Quellen, also jenen, die ihrem Wortsinn gemäß verwendet werden konnten, wurden die thematisch relevante Äußerungen entnommen. Peter Burke bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: »[T]he task […] was to expound the views of the authorities«28. Diese Äußerungen wurden allerdings kaum kontextualisiert oder gar in Frage gestellt, denn nicht ihr Wahrheitsgehalt stand zur Disposition, entscheidender war ihre Verallgemeinerbarkeit, was mittels zeitgenössischer Axiome wie der »alliance naturelle« und der wesenhaften Homogenität eines »peuple« oder dem allgemeinen Wissen über die Griechen gerechtfertigt werden konnte. Im Folgenden sei eine ausführliche Auflistung der Sitten und der unmittelbar angeführten Belegstellen erlaubt, da Gründungsgebräuche ein konstantes Thema sein werden.29 Ein »chef« der Emigration wurde bestimmt, dessen »patrie« stets die Metropole der neuen Stadt war – hierbei wurde besonders auf das Beispiel Athens als Metropole der ionischen poleis verwiesen, da ihre Gründer sich genealogisch auf Kodrus zurückführen ließen (angeführte Quellen: Herodot, Thukydides, Pausanias). Eine Liste wurde durch Konskription erstellt; vor dem Auszug der Siedler wurde den Göttern geopfert und Auguren und Seher befragt (Dionysios von Halikarnassos); zudem wurden sie vom »etat« mit Waffen und Proviant versehen (Libanios30); ein Gründungsdekret wurde ihnen übergeben (Valerius Harpokration31); »Commissaires« zur Einrichtung der neuen Siedlung und zur Regelung der Landvergabe wurden mitgesandt (Platon Die Gesetze); »Ministres dépositaires du culte de la patrie« zogen mit den Götterbildern und dem heiligen Feuer aus dem Prytaneion voran
28 Burke 2000: 33f. 29 BOUGAINVILLE 1745: 27ff. 30 Libanios Argumenta orationum Demosthenicarum 7. Über den Chersonesos: »(2.) Denn es war alte Sitte bei den Athenern, all jene, die arm und ohne Hausbesitz waren, als epoikoi aus der Stadt zu senden; und die Ausgesandten bekamen Waffen und Reiseversorgung aus dem öffentlichen Gut.« (Übers. MM) 31 Im Lemma »Ἀποικία [Apoikia]« des Lexikon zu den zehn Rednern dieses kaiserzeitlichen alexandrinischen Grammatikers wird unter Verweis auf den Redner und Politiker Hypereides (390/89-322 v.Chr.) festgehalten, dass damit auch die den apoikoi ausgestellte Gründungsurkunde bezeichnet wurde.
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(Herodot32). Als Sonderfall wurde angefügt, dass im Falle eines Bevölkerungsüberschusses (wegen zu großer Zunahme oder einer Katastrophe) den Göttern so viele Personen, wie in einem Jahr geboren wurden, geweiht wurden, welche dann emigrierten (Dionysios von Halikarnassos33). Auf analoge Weise rekonstruierte Bougainville auch die Gebräuche hinsichtlich des weiteren Verhältnisses.34 Als universell erachtete er die jährliche Gesandtschaft aus einer Kolonie, um den Göttern der »patrie« zu opfern (Diodor) und ihnen die Erstlinge des Ertrags darzubieten (Isokrates Panegyrikos, Aelius Aristides [ein Rhetor des 2. Jh. n.Chr.] Eleusinios); im Falle des Erlöschens des heiligen Feuers musste dieses aus der mētropolis geholt werden (der Verweis »Etymolog. auctor.« kann aufgrund gleichartiger Angaben in späteren Werken als Etymologicum Magnum, ein byzantinisches etymologischen Lexikon aus dem 12. Jh., identifiziert werden); und auch die Priester mussten aus der mētropolis kommen: Diese Information stammte aus den Scholien (antike Sammlungen von Erläuterungen und Kommentaren zu bedeutenden Werken) zu Thukydides35 und Bougainville bemerkte wohl, dass es sich hierbei um die einzige Belegstelle dieser Praxis handelte. Aber nachdem er darauf verweisen konnte, dass Milet die Priester für das Orakel von Klaros (bei Kolophon, das als milesische »Kolonie« angesehen wurde) stellte, sah er eine Verallgemeinerung als gerechtfertigt an. Bei der Aufteilung der Opfer in einer »Kolonie« mussten die Bürger der mētropolis als erste bedacht werden und ihnen standen auch Ehrenplätze bei öffentlichen Anlässen zu (Thukydides); »usage« war es auch, die Tempel der mētropolis mit Weihgaben zu versehen (Pausanias); aufbauend auf der Praxis, dass viele griechische Städte jährlich an Athen als Ehrengabe für den Olivenbaum eine gewisse Menge Olivenöl zudachten, aber auch, weil Ehrengaben in der modernen Kolonisation üblich wären, schloss Bougainville, dass die Metropolen ähnliche Ehrengaben aus ihren »Kolonien« erhielten. Anschließend identifizierte er einige Rechte von Bürgern der mētropolis in den »Kolonien«. Die Pflichten und Rechte der Metropole36 umfasste die Stellung eines Gesetzgebers, auch zu späteren Anlässen. Zudem bemerkte Bougainville, dass die Metropolen das Recht gehabt hätten, Nachzügler in die »Kolonien« zu entsenden, die dort an den Besitztümern beteiligt werden sollten. Auch hier musste er konzedieren, dass es keine direkte Belegstelle gäbe, jedoch verwies er auf Textstellen, die eine entsprechende praktische Durchführung belegen würden (etwa in Libanios Argumenta orationum Demosthenicarum). Des Weiteren holten die »Kolonien« im Falle einer eigenen Gründung die »chefs« aus der Metropole (Thukydides; Strabon; Velleius Paterculus). 32 In Herodot: I. 146 wird dies allerdings nur angedeutet: »Diejenigen Ioner aber, die einst direkt vom Prytaneion in Athen herübergekommen waren […].« 33 Hiermit ist das ver sacrum gemeint: Siehe Fn. 116 auf Seite 151. 34 BOUGAINVILLE 1745: 37ff. 35 Scholien zu Thukydides: I. 25. 36 BOUGAINVILLE 1745: 49ff.
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Auch Heerführer konnten aus der Metropole kommen (Thukydides; Diodor; Plutarch Timoleon). »Kolonien« waren darüber hinaus zu militärischem Beistand verpflichtet, wofür Bougainville neben Herodot und Thukydides auch den Flottenkatalog in der Ilias als Beleg anführte.
II.1.3 DIE CONTRACTION DES EUROPÄISCHEN KOLONIALSYSTEMS UND DIE »GRIECHISCHE KOLONISATION« Christian Gottlob Heyne wählte anlässlich des Amtswechsels des Prorektors der Universität Göttingen im Jahr 1766 De veterum coloniarum iure eiusque caussis als Thema einer prolusio, einer kurzen Abhandlung, die als Beilage der Einladung zur entsprechenden akademischen Feier erschienen war.37 Das Verfassen solcher Universitätsprogramme gehörte zu Heynes Aufgaben als professor eloquentiae,38 ein Amtstitel, der in der Tradition der Verortung der Geschichte als Teilgebiet der Rhetorik stand.39 Dieses Präludium diente nun nicht einer reinen historiographischen Skizze der »Rechte und Ursachen der Kolonien der Alten«, sondern nutzte diese als Sprungbrett für eine Erörterung gegenwärtig relevanter Umstände: »Gerade in diese [die Frage nach den Rechten der Kolonien, MM] kann der Verstand um so leichter hineinstürzen oder hingeführt werden als wir hören, dass in dieser Zeit unter den Briten viel über die Rechte der Kolonien diskutiert wird.«40 An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass Georg August, Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg und Stifter der Universität von Göttingen, als Georg II. britischer König war.
37 Einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde diese Schrift zunächst in einer deutschen Kurzfassung in den Göttingischen Anzeigen (2) 1766 (S. 633-636) und schließlich im ersten Band seiner Opuscula Academica (Göttingen 1785). Im Folgejahr zu demselben Anlass erschien ein zweiter Teil (Heyne 1785b), der sich eingehender mit der Rückbindung der griechischen »Kolonien« an ihre metropoleis auseinandersetzte. Siehe auch die Göttingischen Anzeigen (1) 1767 (S. 41-44). 38 Siehe hierzu Lehmann 2014: 68f. Seit 1763 war Heyne der Nachfolger von Johann Matthias Gesner. Er blieb bis zu seinem Tod 1812 Professor für Eloquenz und Dichtkunst, beziehungsweise Professor der Beredsamkeit, wie der Titel ebenfalls im Deutschen wiedergegeben wird. Zudem bekleidete er an der Universität Göttingen die Posten des Oberbibliothekars und des Leiters des Philologischen Seminars. Siehe Leonhardt 2012. 39 Siehe hierzu Muhlack 1991: 58f. 40 HEYNE 1785a: 292: »in quam quidem animus sive incidere sive deduci tanto facilius poterat, quo plura hoc tempore inter Britannos de coloniarum iuribus disceptari audivimus« (Übers. MM)
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Ohne das Gravitätszentrum einer institutionalisierten altertumswissenschaftlichen Wissensproduktion war das Wissensgebiet der »griechischen Kolonisation« noch ein relativ offenes Betätigungsfeld für Autoren, die sich mit der Geschichte beschäftigten. Heynes Literaturangaben nennen etwa die bereits behandelte Monographie von Bougainville,41 den Artikel »Colonie« aus der Encyclopédie, Montesquieus De l’esprit des loix (Paris 1748) oder den Essai politique sur le commerce (Paris 1736) von Jean François Melon. Diese wenigen Beispiele verdeutlichen bereits die Heterogenität der Rekurse auf die Vergangenheit: Von monographischen Spezialstudien über universalhistorische Beschreibungen eines Phänomens zu moralphilosophisch-politischen Stellungnahmen. Die Antike nahm insbesondere eine exemplifizierende Rolle im Sinne der historia als magistra vitae ein.42 Dementsprechend betonte Heyne, dass man in der Antike noch den Beispielen aus der Vergangenheit eingedenk war und die entsprechenden Lehren gezogen hätte, wohingegen diese Lehren in den ersten Jahrhunderten der neuzeitlichen Kolonisation ignoriert worden wären, was zu gravierenden Fehlentwicklungen geführt hätte.43 Diese Geschichtsvergessenheit sollte sich angesichts des zeitgenössischen Disputs zwischen der britischen Krone und den Neuenglandkolonien nicht wiederholen. Großbritannien war zwar siegreich aus dem Siebenjährigen Krieg (1756-63) hervorgegangen und konnte sich den Großteil der französischen Kolonien in Amerika sichern, zugleich hatten jedoch die immensen Kriegskosten ein Loch in die Staatskassen gerissen, zu deren Sanierung auch Abgaben aus den Kolonien beitragen sollten. Insbesonders die Neuenglandstaaten beanspruchten allerdings infolge ihrer Beteiligung am Krieg mehr Selbstbestimmung. Heyne sah nun keine unmittelbaren Übereinstimmungen zwischen der »griechischen Kolonisation« und den gegenwärtigen Zuständen: Primär wegen der Unabhängigkeit der griechischen »Kolonien«44 und den geänderten Rahmenbedingungen aufgrund den Entwicklungen in der Seefahrt, die eine engere Bindung von Kolonien an ihre Metropolen ermöglichten.45 Zunächst, so Heyne, würde die Vergangenheit grundsätzlich lehren, dass eine Anpassung des Kolonialwesens an zeitgenössische Umstände und Bedürfnisse möglich ist. In dieser 41 Wobei Heyne bemerkte, dass er dieses Werk nicht zur Hand hatte, jedoch dessen Argumente aus den Mémoires pour lʼHistoire Des Sciences & des beaux-Arts kannte, einer von Mitgliedern des Jesuitenordens in Trevoux monatlich herausgegebenen Zeitschrift zur Vorstellung und Diskussion wissenschaftlicher Neuerscheinungen. Die genaueren bibliographischen Angaben Heynes sind unklar, gemeint war wohl die Präsentation von Bougainvilles Werk in der Januarausgabe von 1746 (S. 52-67). 42 Vgl. hierzu Koselleck 1979: 38-46, Hardtwig 1990: 62f. und 73, Muhlack 1991: 44-63 oder Nippel 1993: 307ff. und 2013: 27-33. 43 HEYNE 1785a: 306. 44 Ebd.: 292f. 45 Ebd.: 299f.
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Hinsicht sei es Recht und Pflicht der Metropole, ohne eine Schlechterstellung der Kolonisten oder gar militärische Machtausübung auszukommen, wobei Heyne jedoch konzediert, dass im Sinne eines prinzipiellen Fortschritts die mētropolis auch den Interessen der Kolonisten zuwiderhandeln könne. Ein drastischer Schritt wie die Entlassung in die Unabhängigkeit war allerdings für Heyne im Jahr 1766 noch keine Option.46 Aufgrund der grundsätzlichen Annahme von der Unabhängigkeit der griechischen »Kolonien« bot sich gerade diese »Kolonisation« der Vergangenheit als Exempel für eine Abhandlung der Rechte von Kolonien an, umso mehr, wenn ein Gegenmodell zur neuzeitlichen Kolonisation gebraucht wurde. Dies galt auch für Adam Smith, der dem Thema Kolonisation in seiner erstmals 1776 erschienenen Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations ein eigenes Kapitel (»Of Colonies«, Kapitel 7 im 4. Buch) gewidmet hat. Im Fall der »griechischen Kolonisation« befand er sich mit dem in der Encyclopédie ausgebreiteten Bild im Einklang, wie seine Auslegung der Eltern-Metapher verdeutlicht: »The mother city, though she considered the colony as a child, at all times entitled to great favour and assistance, and owing in return much gratitude and respect, yet considered it as an emancipated child, over whom she pretended to claim no direct authority or jurisdiction. The colony settled its own form of government, enacted its own laws, elected its own magistrates, and made peace or war with its neighbours, as an independent state, which had no occasion to wait for the approbation or consent of the mother city.«47
Von der griechischen hob Smith die römische Kolonisation ab, welche als Eroberungs- und Siedlungskolonisation beschrieben wurde. Coloniae konnten im Unterschied zu griechischen »Kolonien« nie Unabhängigkeit erlangen, eine Unterscheidung, die Smith nicht zuletzt durch die antiken Begrifflichkeiten stützte: »A Roman colony, therefore, whether we consider the nature of the establishment itself, or the motives for making it, was altogether different from a Greek one. The words, accordingly, which in the original languages denote those different establishments, have very different meanings. The Latin word (colonia) signifies simply a plantation. The Greek word (apoikia), on the contrary, signifies a separation of dwelling, a departure from home, a going out of the house.«48
46 HEYNE 1785a: 307f. Zu späteren Positionsnahmen Heynes in dieser Frage siehe Lehmann 2014: 72f. 47 SMITH 1776: 146f. 48 Ebd.: 148.
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Die »griechische Kolonisation« konnte folglich als prinzipieller Gegenpol zur römischen gesehen werden und somit beide Ausformungen als Metaphern für ein liberales beziehungsweise restriktives Kolonialsystem fungieren: »In the plenty of good land, the European colonies established in America and the West-Indies resemble, and even greatly surpass those of ancient Greece. In their dependency upon the mother state, they resemble those of ancient Rome.«49 Diese Differenzierung war für Smiths Denksystem zentral: Die Freiheit der »griechischen Kolonien« war einer der Faktoren ihrer Prosperität. Die anderen waren die Verfügbarkeit von ausreichend fruchtbarem Land und der Umstand, dass sie »among savage and barbarous nations« angelegt wurden. Smith folgte somit der Vorstellung von Kolonien als plantations im Sinne der Aneignung und Kultivierung eines fremden Gebiets, inklusive der Idee der Überlegenheit der Kolonisatoren. Diese naturräumlich-strukturellen Gegebenheiten hätten ganz prinzipiell für Kolonien mehrere Vorteile: Zum einen konnte das Land, wenn es nur dünn besiedelt war, leicht in Besitz genommen werden, was zu einem Überfluss an Land führte. Zum anderen veranlasste die Nähe zu den »Wilden«, dass Staatlichkeit nur in jenem Maße errichtet wurde, die zum Schutz der Kolonie nötig war. Die Kolonisten konnten somit große ökonomische und politische Freiheiten genießen. Diese Faktoren trafen nun nach Smith in idealtypischer Weise im Fall der griechischen »Kolonien« zu: »All those colonies had established themselves in countries inhabited by savage and barbarous nations, who easily gave place to the new settlers. They had plenty of good land; and as they were altogether independent of the mother city, they were at liberty to manage their own affairs in the way that they judged was most suitable to their own interest.«50
Mit diesen Reflexionen zu Freiheit und politischer Abhängigkeit kann an die Beobachtung angeknüpft werden, dass in dieser Zeit die Frage des machtpolitischen Verhältnisses von Kolonien zu ihren Metropolen eine besondere Relevanz hatte. David Abernethy charakterisiert die letzten Jahrzehnte des 18. und die ersten des 19. Jh. als eine Phase der »contraction« des europäischen Kolonialsystems. Schwerpunktmäßig betraf dieser Verlust von kolonialen Gebieten Spanien und Portugal. Aber auch England musste 1783 die Unabhängigkeit der 13 Neuenglandstaaten hinnehmen und Frankreich verlor bis zum Ende des napoleonischen Zeitalters einen Großteil
49 SMITH 1776: 160. Noch ein weiterer Unterschied wurde konstatiert: Smith sah als Ursache der Emigrationen aus dem Ägäisraum »necessity«: Überbevölkerung gepaart mit zu wenig verfügbarem Raum. Die moderne Kolonisation hingegen sei nicht auf »necessity« zurückzuführen, sondern auf »utility«. 50 Ebd.: 159f.
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seiner überseeischen Besitzungen, meist an Großbritannien.51 Diese territorialen Verluste relativierten sich auf einer ideologischen Ebene allerdings insofern, als die Kolonialpolitik der damaligen Zeit weniger auf Siedlungskolonisation ausgerichtet war, sondern mehr auf den Seehandel. Handelsposten und Plantagenökonomie wurden als wichtiger eingestuft, als die territoriale Eroberung großer Landstriche zur Gewinnung von Siedlungsräumen für die eigene Bevölkerung.52 Das hatte auch Auswirkungen auf das Bild der »griechischen Kolonisation«: Sie wurde zumindest partiell als durch Handelsinteressen geprägt wahrgenommen, auch wenn der Überbevölkerung und damit verbundenen Notlagen eine größere ursächliche Wirkung zugeschrieben wurde.53 Bereits in der Encyclopédie wurde der »griechischen Kolonisation« der Effekt »d’augmenter la communication« beigemessen, wenngleich im Fall der modernen Kolonisation noch in merkantilistischer Manier konstatiert wurde, »[q]ue le commerce doit en être exclusif aux fondateurs.« Gerade Adam Smith war hingegen einer der Hauptproponenten eines freien Kolonialhandels. Unter dieser Prämisse konnte »Handel nicht als eine notwendige Komponente des Kolonialismus [gesehen werden], sondern als seine Antithese. Der Handel war der Austausch von Gütern – und vielem anderen – zwischen freien und gleichen Individuen.«54 In der Gegenwart konnte somit die französische und britische Kolonialpolitik positiv dargestellt und von der als blutig und despotisch charakterisierten spanischen Form von Kolonisation abgegrenzt werden.55 Die Dichotomie Eroberungs- und Handelskolonisation bekam somit auch ein ideologisches Gewicht. Die »griechische Kolonisation« eignete sich folglich gleich in doppelter Hinsicht als Ideal einer aufklärerischen Perspektive auf das Phänomen der Kolonisation: Auf einer ersten, machtpolitischen Ebene konnten die Auswüchse der modernen, das Gebot der Freiheit missachtenden Kolonisation kritisiert werden. Auf einer zweiten Ebene konnte der Aspekt der positiven Auswirkungen des Handels illustriert werden. Wenn Freiheit als notwendige Grundbedingung des Handels verstanden wird, wird eine solche Argumentation aus der Warte der Metropole hinsichtlich der Frage der Unabhängigkeit von Kolonien zu einem zweischneidigen Schwert.56 Smith interpretierte die contraction als positive, notwendige Entwicklung. Sein Werk erschien zu den Anfängen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, weshalb wohl nicht zufällig die Neuenglandstaaten einen besonderen Platz in seinen Überlegungen einnahmen: »But there are no colonies of which the progress has been more rapid than that of the English in North America. Plenty 51 Abernethy 2000: 64-80 und Etemad 2007: 138-152. 52 Etemad 2007: 146f. Vgl. Pagden 2002: 118 und 124f. 53 Vgl. auch HEYNE 1785a: 296-301. 54 Pagden 2002: 118. 55 Siehe etwa SMITH 1776: 161-185, zusammengefasst 184f. 56 Sie zum Niederschlag des Widerstreits zwischen einer imperialen und einer auf (Frei-)Handel bedachten Position in der britischen Historiographie des 18. Jh. Ataç 2006.
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of good land, and the liberty to manage their own affairs their own way, seem to be the two greatest causes of the prosperity of all new colonies.«57 Die Übereinstimmung mit der griechischen »Kolonien« ist hier offensichtlich. Smith lobte nun zwar das Kolonialsystem Englands wegen der relativen Liberalität, 58 andererseits hob er die Handelseinschränkungen als Faktor der Unterscheidung der Neuenglandstaaten von unabhängigen Ländern hervor59 – im Endeffekt sollten diese dann einer der Auslöser des Unabhängigkeitskrieges werden.60 Besonders aufschlussreich sind in dieser Hinsicht seine hypothetischen Überlegungen: Was wäre, wenn England den Neuenglandstaaten ihre Unabhängigkeit gewähren würde?61 Durch den dann tatsächlich freien Handel würde es mehr profitieren, als vorher. »By thus parting good friends, the natural affection of the colonies to the mother country, which, perhaps, our late dissensions have well nigh extinguished, would quickly revive. It might dispose them not only to respect, for whole centuries together, that treaty of commerce which they had concluded with us at parting, but to favour us in war, as well as in trade, and, instead of turbulent and factious subjects, to become our most faithful, affectionate, and generous allies; and the same sort of parental affection one the one side, and filial respect on the other, might revive between Great Britain and her colonies, which used to subsist between those of ancient Greece and the mother city from which they descended.«62
Smith hatte die Verbindung der Neuenglandstaaten mit der »griechischen Kolonisation« zu einem Zeitpunkt auf die Schiene gebracht, als ihr Konflikt mit der Metropole kurz davor stand, offen auszubrechen. Der Weg, den Polemiken in dieser Sache nehmen mussten, war somit vorgezeichnet. Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg und die »griechische Kolonisation« 1777 erschien in London die anonyme Schrift History of the Colonization of the Free States of Antiquity, Applied to the Present Contest between Great Britain and her American Colonies. Heute wird sie dem schottischen Gelehrten William Barron
57 SMITH 1776: 166. 58 Ebd.: 184f. 59 Ebd.: 181-184. 60 Als Vorwegnahme dieser Entwicklung kann seine explizite Warnung mit Verweis auf das Beispiel Roms gesehen werden, das auch seinen Untergebenen Rechte verweigert hatte, was zu Kriegen führte. SMITH 1776: 231f. 61 Smith glaubte allerdings selbst nicht daran, dass so etwas möglich wäre: SMITH 1776: 224f. 62 SMITH 1776: 224f.
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(gest. 1803) zugeschrieben.63 Sie wurde bereits ein Jahr später in deutscher und französischer Übersetzung veröffentlicht, was erneut die transnationale Dimension des Wissens zu Kolonisationen unterstreicht. Barron versuchte im Unterschied zu seinem schottischen Landsmann Smith mittels Beispielen aus der Antike (Karthago, Griechenland und Rom), die Politik Großbritanniens zu legitimieren und den rebellischen Neuenglandstaaten als mahnendes Beispiel das Schicksal gescheiterter antiker Abspaltungsversuche vor Augen zu halten. Hierbei ging es Barron auch darum, die Frage der Steuerpraxis zu erörtern. In diesem Sinne erfolgte auch die Untersuchung der phönizischen »Kolonisation«, da er dort die – beispielgebende – Praxis der Besteuerung der Kolonien und der Einschränkung des Handels vorfand. 64 Grundsätzlich versuchte Barron zu belegen, dass bereits in der Antike die Beziehungen zwischen Kolonien und Mutterland weniger frei waren, als üblicherweise angenommen. Diese Vorstellung war mittlerweile so dominant geworden, dass er nicht einfach zur von Bougainville postulierten und naturrechtlich begründeten engen Verbundenheit zurückkehren konnte, denn gerade das Argument des Naturrechts hatte in dieser Hinsicht in der Aufklärung die Fronten hin zur Freiheit gewechselt. Folglich musste er anders vorgehen: Er unterschied wie Bougainville die »griechische Kolonisation« in zwei Phasen und konzedierte, dass die griechischen »Kolonien« zunächst große politische Freiheiten genossen, da ihre Ursache im Entsenden eines Bevölkerungsüberschusses beziehungsweise der daraus resultierenden Unzufriedenen gelegen sei. Insofern habe kein großes Interesse der Metropolen am weiteren Schicksal der »Kolonisten« bestanden.65 Der Charakter der »griechischen Kolonisation« habe sich aber im Laufe der Zeit geändert, da durch das Hegemoniestreben Athens und Spartas andere Voraussetzungen entstanden wären. Bündnisse wurden geschmiedet: »The object of these alliances afforded a pretext for taxation both of allies and colonies, which Sparta and Athens, but particularly the latter, seized with avidity.« Auch hieraus könne eine Lehre gezogen werden: Hätten Athen und Sparta ihre Macht maßvoll eingesetzt, hätte die Geschichte ein besseres Ende gefunden.66 Für seine Zwecke musste Barron sich also gegen die deduktive, aufklärerische Universalisierung des Freiheitsprinzips und eine entsprechende Perspektive auf die griechische Antike wenden und stattdessen eine historisch-genetische Position einnehmen: Die Abkehr von der Freiheit im Verlauf der »griechischen Kolonisation« war dann keine Deviation von diesem Grundprinzip, sondern Teil einer den Umstän-
63 Ebenso wie eine 1780 erschienene History of the Political Connection between England and Ireland. Seit 1778 war Barron Professor für Logik, Rhetorik und Metaphysik an der St. Andrews Universität. 64 Siehe etwa BARRON 1777: 130f. 65 Ebd.: 31f. und 73f. 66 Ebd.: 33f. (Zitat 33) und 74-77.
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den geschuldeten Entwicklung, was sich wiederum ebenfalls in der Gegenwart wiederholen konnte. Aus dieser Perspektive verlor dieser historische Prozess seine ethisch-normative Konnotation. Dieser Perspektivenwechsel ermöglichte es Barron zudem Vergleichsbeispiel in der griechischen Geschichte aufzufinden: der Aufstand auf Lesbos während des Peloponnesischen Krieges.67 Bereits Bougainville hatte dieses Ereignis genutzt, um ein enges Verhältnis zwischen apoikiai und mētropoleis zu rekonstruieren, Barron folgte ihm hierin, auch wenn er nicht mehr auf das Gesamtphänomen rückschließen konnte: »The Lesbians also, like the Americans, had formed a plan to render themselves independent of their parent state, and they waited only for a proper opportunity to put it in practice. They complained loudly of the tyranny and encroachments of the administration of Athens, that systems of slavery and despotism pervaded all her councils, and that she misapplied and squandered the money she levied from her colonists on spectacles and favourites, and neglected the interest of the public. The true meaning of this language was, not that the councils of the Athenians were more corrupted and tyrannical than usual, but that the Lesbians aspired after independence, and thought the occasion most seasonable to urge that claim. The Athenians were engaged in a formidable war with Sparta and her allies, for the sovereignty of Greece. They could scarcely support themselves against their foreign enemies, far less could they vindicate their authority over their colonists. If Athens should not yield to their pretensions, they needed only to throw themselves in the arms of Sparta, who would afford them their protection. This plan was exceedingly plausible and flattering, and was readily embraced at Lesbos. The activity, however, of the Athenians anticipated the execution of it, and the Lesbians had much reason to repent their treachery.«68
Der direkte Bezug zwischen Lesbos und den aufrührerischen amerikanischen Kolonien sollte letzteren einen Spiegel vorhalten. Zwar hätten die Griechen, außer den Athenern in dieser spezifischen Phase, nie versucht, ihren Kolonien Steuern aufzuzwingen, das habe aber nicht daran gelegen, dass diese – und das ist der entscheidende Punkt – ein solches Vorgehen als tyrannisch angesehen hätten, sondern weil schlicht und einfach die Voraussetzungen nicht bestanden hätten. Die griechischen »Kolonien« gehörten ursprünglich, anders als die Neuenglandstaaten, nicht zum Territorium der Metropolen und unterstanden folglich auch nicht deren Jurisdiktion. 69 Diese Situation habe sich allerdings durch die persische Bedrohung geändert: »American colonies resemble that of the colonists of Athens, posterior to the Persian expedition. They have been planted on territories within the dominions of the parent state. They have 67 Siehe auch BARRON 1777: 56. 68 Ebd.: 128f. 69 Ebd.: 142f.
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received from here encouragement, protection, and support, and they have shared every advantage, consistent with their situation, she had to bestow. That the Athenians would have subjected such colonists to taxation, no doubt can exist. That they would have employed the sword, as Great Britain has done, to vindicate her authority and procure obedience, the whole history of their colonization evinces.«70
Nicht die »griechische Kolonisation« insgesamt wäre also mit den nordamerikanischen Kolonien vergleichbar, sondern lediglich die athenischen »Kolonien«. Somit konnte Barron die Vorbildwirkung der Unabhängigkeit der »griechischen Kolonisation« relativieren. Zudem ergab sich aus seinem Vergleich eine Legitimation der militärischen Reaktion Großbritanniens auf die Separationsbestrebungen seiner Neuengland-Kolonien.71 Kolonien konnten nicht einerseits den Schutz und den Beistand der Metropole beanspruchen, andererseits aber die Oberhoheit abschütteln beziehungsweise nicht ihren Beitrag leisten wollen, der die Metropole erst dazu befähigen würde. Dieser Vergleich hatte noch weitreichendere zeitgenössische Implikationen. So kann Sparta hier durchaus als Platzhalter für Frankreich angesehen werden, welches auf Seiten der »Rebellen« stand. Die Antwort kam 1779 auch aus Frankreich in Form von De l’état et du sort des colonies, des anciens peuples von Guillaume-Emmanuel-Joseph Guilhem de Clermont-Lodève, Baron de Sainte-Croix (1746-1809), wie Bougainville ein Académien.72 Sainte-Croix hatte ursprünglich sein Werk als Universalgeschichte der Kolonisation, also inklusive der europäischen, konzipiert. Nach eigenem Bekenntnis lagen mit Guillaume-Thomas Raynals Histoire des deux Indes (Amsterdam 1770) sowie William Robertsons The History of America (die ersten acht Bände waren 1777 veröffentlicht worden) zwei Werke vor, welche ihm sein Unterfangen überflüssig erscheinen ließen, weshalb er in einem letzten Kapitel nur kurz auf die neuzeitliche Kolonisation einging.73 Beginnen ließ er sein Werk mit einem Kapitel zur phönizischen »Kolonisation«. Die Phönizier hätten neben den Ägyptern mittels der Anlage von »Kolonien« in Griechenland die Rolle von Kulturbringern gespielt und veranlassten die Griechen, die Wälder zu verlassen und sich dem Ackerbau zu widmen – es erfolgte die Transition von Pelasgern zu Griechen. Mit den 60 Jahre nach dem Trojanischen Krieg einsetzenden Wanderungen sei schließlich der Prozess der »griechischen Kolonisation« angestoßen worden.74 Zur Beschreibung dieses Phänomens 70 BARRON 1777: 134. 71 Ebd.: 141-144. 72 Er hatte 1772 für eine Arbeit zu »heidnischen« Mysterienkulten der Antike einen Preis der Académie royale des inscriptions et belles-lettres erhalten und wurde 1777 in den Mitgliedsstand erhoben. Bouillet 1878: 1680. 73 SAINTE-CROIX 1779: vii-xii. 74 Ebd.: 65-73.
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suchte Sainte-Croix zunächst seine allgemeinen Charakteristika zu bestimmen. Im Gegensatz zu Barron wollte er nachzuweisen, dass das Band, welches die griechischen »Kolonien« mit den mētropoleis verband, keineswegs ein enges war. Auch er bemühte die Eltern-Metapher und legte sie wie Adam Smith aus: »Les anciens comparoient ordinairement les devoirs des colonies envers leur mere patrie, à ceux des enfans envers leurs peres. Dans l’ordre de la nature, les membres d’une famille dispersés & formant chacun de nouveaux établissemens, sont tous dans l’indépendance & ne restent plus liés à leur pere commun, que par le respect & la reconnoissance. Or si ces sentimens dont essentiellement libres, ce qui est incontestable, ils ne peuvent donc jamais être des engagemens de servitude. D’après ce principe, l’antiquité pensoit que le pouvoir absolu des métropoles n’étoit par sa nature ni légal, ni vrai, ni juste.«75
Wie Bougainville und im Unterschied zu Barron konnte Sainte-Croix das Naturrecht bemühen. Allerdings hatten sich die Sichtweisen geändert: Bougainville hatte aus dem Naturrecht noch ein natürliches Herrschaftsverhältnis abgeleitet, Sainte-Croix hingegen nur ein Verhältnis des Respekts und der Anerkennung sowie Dankbarkeit, denn das grundlegende Prinzip, welches die »griechische Kolonisation« bestimmt hätte, war jenes der Freiheit. Sainte-Croix wandte sich explizit gegen Bougainville und stellte fest, dass die Übernahme politischer und religiöser Regelungen durch die »Kolonien« kein hinreichender Beleg für ein Dominationsverhältnis sei.76 Darüber hinaus unterzog er die von Bougainville rekonstruierten Sitten – ebenfalls ein Argument für enge Bande – einer Evaluierung. Auf diese Weise wurde etwa die Ansicht revidiert, dass die »Kolonien« ihre Priester aus den Metropolen holten, genau so die Annahme, dass die Kolonisten im Fall des Erlöschens des heiligen Feuers im Prytaneion aus der mētropolis eine neue Flamme hätten holen müssen. In ersterem Fall wurde auf die Zuverlässigkeit der Verallgemeinerungen einiger Einzelfälle durch den Scholiasten der Thukydides-Passage abgezielt und antike Gegenbeispiele angeführt, anhand derer gezeigt werden konnte, dass dies keine allgemeine Regel gewesen sei.77 Ähnlich ging Sainte-Croix im zweiten Fall vor: »M. de Bougainville rapporte encore, sur la foi seule d’un ancien lexicographe, que si le feu sacré venoit par malheur à s’éteindre dans les colonies, elles ne pouvoient le rallumer que dans le Prytanée de leurs fondateurs. Quand Hérodote nous dit que les Ioniens étoient venus de celui d’Athenes, il n’a point fait allusion à cet usage, comme le savant académien l’imagine; cet ancien historien s’est seulement servi d’une expression consacrée pour désigner l’envoi d’une colonie, ou d’un certain nombre de personnes qui sortoient du sein d’une ville. Celles de Rhodes 75 SAINTE-CROIX 1779: 125. 76 Ebd.: 117f. 77 Ebd.: 116.
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& de Milet avoient des Prytanées célébres; nous ne trouvons cependant aucun exemple qu’elles ayent envoyé rallumer à Athenes ou à Delphes leur feu sacré. Elles y procédoient sans doute, suivant l’usage général de la Grece, par la réflexion des rayons solaires sur des vases coniques rectangles.«78
Hierbei handelt es sich somit um eine methodische Argumentation: Die Art der Verallgemeinerungen wurde in Frage gestellt. Einerseits unterschied Sainte-Croix zwischen späteren Kommentaren und den eigentlichen Primärquellen. Andererseits glich er einzelne Äußerungen mit anderen antiken Quellen oder dem zeitgenössischen Wissen zu den allgemeinen soziokulturellen Gegebenheiten ab. Viel grundsätzlicher allerdings wurde Bougainville von Sainte-Croix Befangenheit vorgeworfen: Hätte dieser sein Werk im Wissen um den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg geschrieben, wären ihm diese Fehler nicht unterlaufen, die über eine falsche Auslegung hinaus zur Legitimierung der britischen Politik dienen konnten, wie es von einem »zélé Tory« betrieben worden ist.79 Hiermit war wohl unzweifelhaft William Barron gemeint. Dieser gehöre zu einer parteilichen Schar: »plus jaloux de favoriser le despotisme de quelques nations modernes, & de le concilier avec les principes d’un droit imaginaire, que de suivre le code de la nature & de la raison«80. Sainte-Croix rekurrierte also auf zwei Verbündete: Das Naturrecht und die Gesetze der Vernunft. Bougainville verstieß primär gegen letztere, da er noch nicht die Einsichten der Nachgeborenen gehabt hätte. Barron hingegen verletzte beide Prinzipien, letzteres aufgrund seiner selektiven Argumentation, da er jene Phase der griechischen Geschichte heranzog, als das Prinzip der Freiheit bereits mit Füßen getreten worden sei. Auch Sainte-Croix konstatierte diese Zäsur in der Geschichte der »griechischen Kolonisation«, allerdings war diese Entwicklung aus seiner Warte eine abnorme Tendenz: »Le systême des métropoles changea à leur égard; elles voulurent les opprimer & en établir de nouvelles, pour être les instruments de leur ambition.«81 Sainte-Croix ließ die Entschuldigung nicht gelten, die Barron im Bedrohungsszenario durch die Perser sah. Das Verhalten Athens sei grundsätzlich ungerechtfertigt,82 genauso wie das Verhalten Großbritanniens gegenüber seinen nordamerikanischen Kolonien. Der eigentliche Todesstoß für die Freiheit sei jedenfalls mit Alexander dem Großen gekommen: »Les colonies que Timoléon fit venir à Syracuse & dans quelques autres villes de la Sicile, paroissent avoir été les dernieres qui soient sorties de la Grece, sous les auspices de la liberté & sans aucunes vues d’intérêt ni d’ambition de la part de leur métropole. Elles déterminerent 78 SAINTE-CROIX 1779: 118f. 79 Ebd.: ixf. 80 Ebd.: 126. 81 Ebd.: 131. 82 Ebd.: 161 und 324-336.
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Alexander à fonder un grand nombre de villes, pour s’assurer de la fidelité des peuples vaincus. L’orgueil y eut aussi quelque part. Ce prince s’imaginoit que ces villes seroeint comme autant de monumens de ses conquêtes, dont ils transmettroient le souvenir jusqu’à la postérité la plus reculée. [...] Les Romains perfectionnerent le systême d’Alexandre & de ses successeurs.«83
Gleichzeitig muss betont werden, dass auch von Sainte-Croix die »griechische Kolonisation« nicht als makellos wahrgenommen worden ist. Im Unterschied zu Smith manifestierte sich hier eine grundlegende kolonialkritische Position, die das Schicksal der Kolonisierten mitdachte. Hinsichtlich der bei Pausanias geschilderten gewaltsamen Landnahme des Neleus bei der Gründung Milets kommentierte er: »L’origine des colonies a donc offert de tous les tems, des spectacles de cruauté & de barbarie. Ces animaux amphibies qui nous étonnent par leur intelligence & leur industrie seroient-ils plus sages que nous? Ils ne songent point à bâtir & à se réunir en société, qu’ils n’habitent un pays libre & désert, & qu’ils n’y soient parfaitement tranquilles. Heureux si nous eussions suivi de pareilles lecçons plus utiles à l’humanité que tous les ouvrages de nos publicites! La nature semble nous indiquer par cet instinct admirable cette vérité éternelle qu’on ne doit jamais occuper un terrein qui est déja possédé par un autre peuple.«84
Kolonisation stelle zwangsläufig eine Korrumpierung des Prinzips der Freiheit dar – wobei die französische Kolonisation noch am ehesten akzeptiert werden könne –, welches im Endeffekt obsiegen wird.85 Folgenden Rat gab Sainte-Croix den Briten: »Ouvrez les annales de Carthage, celles d’Athènes, &c. vous y lirez votre destiné.«86 Grundsätzlich konnte im Fall des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges von offizieller britischer Seite diese konsequente Anwendung des Freiheitsprinzips auf Kolonialpolitik kaum verfolgt werden, wohingegen die französische Seite, die die Aufständischen unterstützte, weniger Probleme damit hatte.
II.1.4 ÜBERBLICKSWERKE: »GRIECHISCHE GESCHICHTEN« Ein weiteres Vehikel für Historiographie waren historische Überblickswerke. Beispielsweise veröffentlichte Charles Rollin (1661-1741), seit 1688 Professeur d’éloquence am Collège royal in Paris und seit 1701 Mitglied der Académie royale des
83 SAINTE-CROIX 1779: 293f. 84 Ebd.: 213f. 85 Ebd.: 303-336. 86 Ebd.: 336.
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inscriptions et médailles,87 zwischen 1730 und 1738 eine 13 bändige Histoire Ancienne des Egyptiens, des Carthaginois, des Assyriens, des Babyloniens, des Medes et des Perses, des Macedoniens, des Grecs. Bis zu seinem Tod gab er zudem die ersten fünf Bände einer Histoire romaine depuis la fondation de Rome jusqu’à la bataille d’Actium heraus. Im Vorwort seiner Histoire Ancienne unterstrich er den belehrenden Nutzen der Beschäftigung mit Geschichte: »Voilà les grands objets que nous présente l’histoire ancienne, en faisant passer comme en revue devant nous tous les royaumes et tous les empires de l’univers, et en même temps tous les grands hommes qui s’y sont distingués de quelque manière que ce soit, et en nous instruisant, moins par des lecons que par des exemples, sur tout ce qui regard l’art de régner, la science de la guerre, les principes du gouvernement, les règles de la politique, les maxims de la société civile et de la conduite de la vie pour tous les âges et pour toutes les conditions.«88
Geschichte wurde als Abfolge von Reichen wahrgenommen, deren politische Geschichte und die Taten der »großen Männer« das Potential hatten, die Gegenwart mit lehrreichen Beispielen für alle Lebensbereiche zu versorgen. Aufgrund dieser Grundstruktur wurde die »griechische Kolonisation« nicht als kohärentes Phänomen hervorgehoben und beschrieben, sondern fand nur fallweise Erwähnung im Zuge der Schilderung der politischen Geschichte Griechenlands. Zugleich war dies auch eine Folge des Zugangs, sich eng an die verfügbaren antiken historiographischen Narrative zu halten, wobei es eben keine das historiographische Objekt »griechische Kolonisation« organisierende und zusammenhängend schildernde Quelle gegeben hat. Gut exemplifiziert wird dies am Beispiel der vorklassischen Geschichte Siziliens. Hier übernahm Rollin die narrative Herangehensweise von Thukydides: »Avant que d’entrer dans la description de la guerre de Sicile, il ne sera pas hors de propos de tracer un plan du pays, & des peuples qui l’habitent: c’est par où Thycidide commence.«89 Ähnliches galt für das erste einer langen Reihe von englischsprachigen Überblickswerken zur »History of Greece«. 1774 gab der Literat Oliver Goldsmith (1728-74) eine zweibändige Grecian History. From the Earliest state to the Death of Alexander the Great heraus. Bereits 1769 war eine Geschichte Roms vorausgegangen, also ein Vorgängerwerk von Edward Gibbons berühmter The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (erschienen 1776-88). Er war der erste Inhaber des Lehrstuhls für Antike Geschichte und Literatur an der Royal Academy of Arts in
87 Rollin studierte Theologie an der Sorbonne, machte allerdings keine Karriere in der Kirche. Stattdessen bekleidete er zunächst Lehrposten an seinem ehemaligen Collège, dem Collège du Plessis-Sorbonne. Bouillet 1878: 1625. Siehe auch Ceserani 2011: 145-148. 88 ROLLIN 1730-38: I. o.S. 89 Ebd.: III. 654.
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London, die 1768 von George III. ins Leben gerufen wurde.90 In seiner Grecian History gab es ebenfalls kein separates Kapitel zur »griechischen Kolonisation«, da auch hier der Fokus auf die politischen Ereignisse in Griechenland gerichtet war. Die Kapiteleinteilung zur vorklassischen Geschichte illustriert dies: »Of the earliest State of Greece«; »Lykurg and Sparta«; »Solon and Athens«; »Survey of the State of Greece before the Persian War«. Nur, wenn es inhaltlich angebracht war, erfolgte eine Erwähnung von Gründungen. Beispielsweise wurde etwa Tarent im Zuge der Abhandlung zur spartanischen Geschichte abgehandelt. Im Unterschied zu Rollin erfolgte allerdings die explizite Verknüpfung einer Reflexion zur Auswertbarkeit der Quellen zur frühen Geschichte Griechenlands mit der Ausgestaltung seines Geschichtswerks. Goldsmith schrieb hierzu: »The first notices we have of every country are fabulous and uncertain. Among an unenlightened people every imposture is likely to take place, for ignorance is the parent of credulity. Nothing therefore which the Greeks have transmitted to us concerning their earliest state can be relied on. Poets were the first who began to record the actions of their countrymen, and it is part of their art to strike the imagination even at the expence of probability. For this reason, in the earliest accounts of Greece we are presented with the machinations of gods and demigods, the adventures of heroes and giants, the ravages of monsters and dragons, and all the potency of charms and enchantments. [...] It would be vain, therefore, and beside the present purpose, to give an historical air to the accounts which were never meant to be transmitted as true. Some writers indeed have laboriously undertaken to separate the truth from the fable, and to give us an unbroken narrative from the first dawning of tradition to the display of undoubted history; they have levelled down all mythology to their own apprehensions; every fable is made to look with an air of probability; instead of a golden fleece, Jason goes on pursuit of a great treasure; instead of destroying a chimera, Bellerophon reclaims a mountain; instead of an hydra, Hercules overcomes a robber. Thus the fanciful pictures of a strong imagination are taught to assume a serious severity, and tend to deceive the reader still more, by offering in the garb of truth what had been only meant to delight and allure him. The fabulous age, therefore, of Greece, must have no place in history; it is now too late to separate those parts which may have a real foundation in nature, from those which may owe their existence wholly to the imagination. There are no traces left to guide us in that intricate pursuit; the dews of the morning are past, and it is vain to attempt continuing the chace in meridian splendor. It will be sufficient, therefore, for us to observe, that Greece, like most other countries of whose origin we have any notice, was at first divided into a number of petty states, each commanded by its own sovereign.«91 90 Stephen 1890. Neben seiner literarischen Tätigkeit und den beiden bereits angeführten historischen Werken publizierte er (mit Joseph Collyer) eine abgekürzte Ausgabe von Plutarchs Lives (1762), eine mehrbändige History of England (1764-71) sowie eine ebenfalls mehrbändige History of the Earth and Animated Nature (1774). 91 GOLDSMITH 1774: 1-3.
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Diese Skepsis gegenüber einer nur mittels mythischer Narrative tradierten Vorgeschichte war ein Charakteristikum der britischen Beschäftigung mit der Vergangenheit.92 Goldsmith kritisierte alle Versuche, aus diesen »Fabeln«, »which were never meant to be transmitted as true«, durch Rationalisierungen historische Erkenntnis zu gewinnen. Diese Kategorisierung und die damit verbundene Differenzierung von antiken Quellen mit erkennbar seriösem, historiographischem Charakter eröffnete die Frage nach dem Umgang mit den fabelhaften Narrativen. Hierbei gab es zwei Möglichkeiten: Entweder wurden diese von vorneherein komplett ausgeklammert, oder es wurde versucht, mittels verschiedener jeux de vérité das wahrscheinliche vom unwahrscheinlichen zu scheiden.93 Goldsmith selbst beschränkte sich in seiner wenige Seiten umfassenden Skizze der Vorgeschichte auf eine grobe Entwicklungsgeschichte der zentralen »petty states« mittels der Nennung von Herrscherpersönlichkeiten. Nachdem dies der allgemeinen Vorstellung zum »Ursprung« der meisten »countries« entsprach, stufte er zumindest diese Informationen als wahrscheinlich ein. Ein Komplettverzicht auf »Fabeln« war somit eher eine hypothetische Option, da sie im Endeffekt dem Ziel einer historiographischen Beschreibung der Vergangenheit widersprach. Diese Skepsis wurde darüber hinaus gepaart mit einer engen, politischen Auffassung von Geschichte: »In those early times, kingdoms were but inconsiderable: a single city, with a few leagues of land, was often honoured with that magnificent appellation; it would, therefore, embarrass history to enter into the domestic privacy of every little state, as it would be rather a subject for the oeconomist than the politician.«94
Aufgrund dieser bescheidenen Ausgangsposition erschien die historische Leistung der Griechen natürlich umso bemerkenswerter: »Of such a narrow extent, and so very contemptible, with regard to territory, was that country, which gave birth to all the arts of war and peace, which produced the greatest generals, philosophers, poets, painters, architects, and statuaries, that ever the world boasted; which overcame the most powerful monarchs, and dispersed the most numerous armies that ever were brought into the field, and at last became the instructor of all mankind.«95
Erst mit dem Entstehen eines geregelten politischen Systems im Inneren der »petty states« und bezüglich der Beziehungen nach außen war eine eigentliche Historizität gegeben. Der Fokus auf die Gesetzgeber Lykurg und Solon kam dementsprechend 92 Vgl. etwa Kenyon 1983: 11 und 15 und Nippel 2000: 76. 93 Vgl. hierzu Calame 2011: 23-25. 94 GOLDSMITH 1774: 4. 95 Ebd.: 3.
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nicht von ungefähr. Die frühe Geschichte Griechenlands wurde folglich als Aufstieg von einer vorpolitischen, anarchischen »infancy« zur späteren politischen Großmacht der Antike geschrieben: »Such is the picture Greece offers in its earliest infancy. A combination of little states, each governed by its respective sovereign, yet all uniting for their mutual safety and general advantage. Still, however, their intestine contentions were carried on with great animosity; and, as it happens in all petty states under the dominion of a single commander, the jealousies of the princes were a continual cause of discord. From this distressful situation those states, by degrees, began to emerge: a different spirit began to seize the people; and, sick of the contentions of their princes, they desired to be free. A spirit of liberty prevailed all over Greece, and a general change of government was effected in every part of the country, except in Macedonia. Thus monarchy gave way to a republican government, which, however, was diversified into as many various forms as there were different cities, according to the different genius and peculiar character of each people.«96
Zwar bestand Griechenland noch in seiner historischen Phase aus verschiedenen »little states«/»cities«, dennoch wurden, wie in dieser Zeit üblich, einigende »nationale« Bande konstatiert: »All these cities, though seemingly different from each other in their laws and interests, were united with each other by one common language, one religion, and a national pride, that taught them to consider all other nations as barbarous and feeble. Even Egypt itself, from whence they had derived many of their arts and institutions, was considered in a very subordinate light, and rather as an half-barbarous predecessor, than an enlightened rival.«97
Diese Faktoren der Kohäsion entsprechen genau jenen, die auch Bougainville identifiziert hatte. Darüber hinaus hätte es aber auch institutionelle Klammern gegeben: »To make this union among the states of Greece still stronger, there were games instituted in different parts of the country, with rewards for excellence in every pursuit. These sports were instituted for very serious and useful purposes; they afforded an opportunity for the several states meeting together; they gave them a greater zeal for their common religion; they exercised the youth for the purposes of war, and increased that vigour and activity, which was then of the utmost importance in deciding the fate of a battle. But their chief bond of union arose from the council of the Amphictyons, which was instituted by Amhictyon, king of Athens, as has been
96 GOLDSMITH 1774: 9f. 97 Ebd.
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already mentioned, and was appointed to be held twice a year at Thermophylae, to deliberate for the general good of those states of which deputies it was composed.«98
Zwei etwas später nahezu zeitgleich veröffentlichte Überblickswerke stellten sich in diese Tradition: William Mitfords (1744-1827) History of Greece erschien als fünfbändiges Werk zwischen 1784 und 1810. Mitford war zwischen 1761 und 1763 zwar am Queen’s College in Oxford, verließ die Universität allerdings ohne Abschluss, um sein Erbe anzutreten, was ihm seine umfangreiche Forschungstätigkeit zur antiken Geschichte ermöglichte. Er war, mit Unterbechung, Mitglied des britischen Parlaments von 1785-1818. Nach seinem endgültigen Rückzug erhielt er den Posten des Professor of Ancient History an der Royal Academy of Arts, den bereits Goldsmith innegehabt hatte.99 Eine weitere, dreibändige, History of Ancient Greece von John Gillies (17471836) erschien 1786. Gillies studierte an der Universität von Glasgow und lebte einige Jahre in Deutschland. 1789 wurde er zum Fellow der Royal Society gewählt, gewissermaßen ein Pedant zur Académie. Nach dem Tod von William Robertson im Jahre 1793 wurde er sein Nachfolger als Historiographer Royal der schottischen Krone.100 Diese beiden Biographien, wie auch jene Oliver Goldsmiths, enthalten typische Elemente einer Historiographen-Karriere in Großbritannien: Ausgebildet an einer der Universitäten verfassten sie ihre historischen Arbeiten als Privatiers, um infolge ihrer Bekanntheit und oft auch kommerziellen Erfolges später Posten im Bereich der durch den Monarchen geförderten institutionalisierten Wissenserzeugung und -vermittlung zu erhalten.101 Beide Publikationen räumten der »griechischen Kolonisation« mehr Raum ein als ihre Vorgängerwerke. Mitford widmete ihr ein eigenes Unterkapitel in seinem fünften Kapitel zur Geschichte Griechenlands bis zur »first public Transaction with Persia«: »Section II: Grecian ilands: Aeolic and ionic Migrations: Grecian Colonies in Asia minor, Thrace, Cyprus, Africa, Sicily, and Italy«. Für Gillies galt diese verstärkte Berücksichtigung der »griechischen Kolonisation« in noch größerem Maße, was sich bereits am Titel seines Werks zeigt: History of Ancient Greece, its Colonies and Conquests. Die griechische Geschichte wurde von ihm mit jener ihrer »colonies« übereingestimmt. In seinem Vorwort schrieb er:
98
GOLDSMITH 1774: 9f.
99
Zu Mitford siehe Wroth 1894 sowie auch Kenyon 1983: 62f. und Nippel 2013: 191-193.
100 Zu beiden Autoren und ihren Werken siehe Ataç 2006 und Ceserani 2011: 141-144. 101 Siehe etwa Kenyon 1983: 47-84 exemplifizierend am Beispiel David Humes und auch 96f.
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»The following History commences with the infancy of Greece, and describes its gradual advancement towards civilization and power. But the main design of my Work is confined to the space of seven centuries, which elapsed from the settlement of the Ionians in Asia Minor till the establishment of the Macedonian empire in the East; during which memorable period, the arts and arms of the Greeks, conspiring to excite the admiration and terror of the ancient world, justly merit the attentive study of the present age, and posterity.«102
Seine eigentliche Geschichte der Griechen begann mit ihrem Ausgreifen über Griechenland hinaus. Wie bereits bei Goldsmith war es die Geschichte eines Aufstiegs zur Großmacht, wobei Gillies diesen Prozess explizit mit der »Kolonisation« verknüpfte. Im Unterschied zu den von der Aufklärung geprägten Einschätzungen, die ab der klassischen Zeit ein Ende der auf dem Prinzip der Freiheit basierenden historischen Bedeutung der »griechischen Kolonisation« diagnostizierten, war diese Erfolgsstory Gillies’ mehr von einer Kontinuität bis zu den Makedonen geprägt: War die Lektion gemäß Sainte-Croix ein Niedergang, so war sie nach Gillies der Aufstieg zu »power« und »civilization«. Der hierin angelegte implizite historische Vergleich mit dem Aufstieg des eigenen Empires ist überdeutlich. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass die bisher diskutierten Werke überwiegend einen typologischen Zugang zur »griechischen Kolonisation« hatten. Das heißt, dass es darum ging, die grundlegenden Eigenschaften dieses Phänomens zu erörtern. Eine im engeren Sinn historisch-chronologische Beschreibung fand sich bislang nur in Sainte-Croix’ Buch. Die stärkere Berücksichtigung dieses Phänomens durch Mitford und Gillies bedingte, dass sie dieses Phänomen in ein eigenes historisches Narrativ gießen sowie in ihre Gesamtgeschichte integrieren mussten. Im Endeffekt war es Mitford, der seiner Schilderung der »griechischen Kolonisation« mehr Eigenständigkeit einräumte. Gillies bediente sich hingegen der bereits von Goldsmith angewandten Struktur, und handelte die »griechische Kolonisation« fallweise ab: »The history of all these colonies, some of which rivalled in arts, and others in arms, the glory of the mother country, will merit our attention, in proportion as they emerge from abscurity, and take station in the general system of Grecian politics.«103 Im Unterschied zur Vorgeschichte waren für die »griechische Kolonisation« antike Äußerungen verfügbar, die grundsätzlich als historiographisch zuverlässig eingestuft wurden. Beide standen allerdings vor der Situation, »that our materials for the first portion of Grecian history, are more copious than consistent«104. Mitford vermerkte zur »Kolonisation« Kleinasiens: »Of those extraordinary and important events, no ancient author having left any complete account, it must be endeavored to connect the scattered information remaining from writers of best authority, among whom Strabo will be our principal 102 GILLIES 1786: v. 103 Ebd.: 75. 104 Ebd.: 2.
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guide.«105 Auch hier manifestierte sich somit die grundlegende Skepsis gegenüber frühen, legendenhaften Äußerungen. Es war nicht zulässig, einfach die antiken Äußerungen zu übernehmen, denn historisches Arbeiten umfasste ein Befragen des Materials hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit. Dies galt etwa auch für die Beschreibung der Besiedlung in des Westens: »The calamities and various confusion insuing from the Trojan war are said to have occasioned the first Grecian migrations to those countries [Italien und Sizilien, MM]: which appears highly probable, tho we should not implicitly believe the traditions which name the leaders and the spots on which they severally settled. But while we doubt whether Diomed, after having established colonies of his followers in Arpi, Canusium, and Sipontum in Apulia, really penetrated to the bottom of the Adriatic gulph, and became master of the country about the mouth of the Po; whether Pisa in Tuscany was built by those Peloponnesian Pisaeans who followed Nestor to the siege of troy; and whether, as report says, at a still earlier day, the Arcadian Evander founded that village on the bank of the Tiber, which afterward became Rome; still we learn with unquestionable certainty that, if these were not facts, yet Grecian colonies were settled in various parts of Italy at a very early period: so early, that tho we can trace them very high, yet their origin lies beyond all investigation. The reputation was hence acquired by Cuma, on the Campanian coast, of being the oldest of all the Grecian towns both in Italy and Sicily; because it could with the greatest certainty refer its foundation to the remotest era. It was a colony led by Megasthenes and Hippocles from Chalcis and Cuma in Euboea, not a great while, according to Velleius Paterculus, after the founding of those towns by the Athenians.«106
Es erschien zwar wahrscheinlich, dass nach dem Trojanischen Krieg Emigrationen in den Westen erfolgten, die in den Quellen erhaltenen Details wurden dennoch in das Reich der Legende verwiesen. Andererseits akzeptierte Mitford Strabons Erzählung zu den Elymern: »[B]ut some Phocian soldiers, in returning from the siege of troy, being driven by stress of weather to the coast of Africa, and unable, in the imperfection of navigation, thence directly to reach Greece, crossed to the Sicilian coast. It happened that there they fell in with some Trojans, who, after the overthrow of their city, had wandered thus far in quest of a settlement. brotherhood in distress united them; they found means to make alliance with the Sicans in the western part of the iland; and, establishing themselves there, Trojans, Greeks, and Sicans, formed together a new people, who acquired the new name of Elymians.«107
105 MITFORD 1808: 252. 106 Ebd.: 256f. 107 Ebd.: 258.
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Diese beiden Beispiele zeigen, dass es kein klares Kriterium der Unterscheidung in Geschichte und »Fabel« gab. Rein von der narrativen Struktur her unterschieden sich die antiken Berichte nicht. Warum Mitford die Genese der Elymer als wahrscheinlich erscheint, die Traditionen zu den frühen Emigrationen nach Italien aber nicht, lässt sich im Detail nicht nachvollziehen. Was eine allgemeine Charakterisierung der »griechischen Kolonisation« betraf, ging Mitford von einer naturräumlich-strukturellen Feststellung aus: »It is indeed remarkable that the Greeks seem never to have coveted inland territories: their active temper led them always to maritime situations; and if driven from these, they sought still others of the same kind, however remote from their native country, rather than be excluded from the means which the sea affords for communication with all the world.«108
Dieser Konnex zwischen dem Umstand, dass »griechische Kolonien« stets »von Meer bespült werden«, und dem Seehandel war schon von Cicero hergestellt worden.109 Was ihre Funktionsweise betrifft, konnten aufgrund struktureller Ähnlichkeiten Analogieschlüsse gezogen werden: »Few of the Grecian colonies were founded with any view to extend the dominion of the mother-country. Often the leaders were no more than pirates, not unlike the buccaneers of modern times. On a savage coast they seized a convenient port, set slaves to cultivate the adjoining lands, and themselves continued their cruise. When a state by a public act sent out a colony, the purpose was generally no more than to deliver itself from numbers too great for its territory, or from factious men, whose means of power as home were unequal to their ambition.«110
Einerseits waren es Abenteurer, die »Kolonien« gründeten, andererseits »states«, wobei in diesem Fall Überbevölkerung oder die Ambitionen einzelner Individuen als Ursachen identifiziert wurden. Die erhaltenen Quellenäußerungen und allgemeine Vorstellungen zu Kolonisationen flossen zu diesem Bild zusammen, was sich auch anhand der Charakterisierung der durch die Griechen »Kolonisierten« zeigt: »Thus great and thus widely spred were the early Grecian colonies eastward, northward, and southward; and yet they were exceeded, in historical importance at least, by those planted toward the west. Italy and Sicily were, in Homer’s time scarcely known but by name. They were regions of imaginary monsters and real savages; and the great poet has described these as accurately, as he has painted those fancifully. ›Neither plowing nor sowing,‹ he says, ›they feed on the spontaneous productions of the soil. They have no assemblies for public debate; no 108 MITFORD 1808: 383. 109 Cicero De republica: II. 9. 110 MITFORD 1808: 260.
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magistrates to inforce laws; no common concerns of any kind: but they dwell in caverns on mountaintops; and every one is magistrate and lawgiver to his own family.‹«111
Die Darstellung der Kyklopen in der Odyssee wurde gemäß der zeitgenössischen Vorstellungen als antike Repräsentation von kolonisierten »Wilden« interpretiert. Die Überlegenheit der griechischen »Kolonisten« gegenüber der lokalen Bevölkerung klingt bei den Schilderungen der Geschichte der einzelnen Ansiedlungen an, wo die Urbevölkerung entweder vertrieben oder ein Landstrich erobert wird.112 In diesen Passagen zeigt sich somit eine enge Verflechtung des kulturellen Verständnisses von Kolonisation, sowohl im Sinne des Kultur-Bringens als auch im Sinne der kulturellen Rückbezüglichkeit, mit dem machtpolitischen.
II.1.5 KOLONISATIONEN UNTER UNIVERSALHISTORISCHER PERSPEKTIVE: ARNOLD HEEREN Arnold Herrmann Ludwig Heeren (1760-1842), von 1799 bis zu seinem Tod Professor für Geschichte in Göttingen,113 beschäftigte sich in mehreren Werken mit der welthistorischen Rolle der Kolonisation.114 Im Zentrum seines Interesses standen, angeregt etwa durch Montesquieu oder Adam Smith, die Wechselwirkungen zwischen den wirtschaftlichen Verhältnissen und den »Staatsverfassungen«. Ähnlich wie Sainte-Croix, dessen »sehr schätzbaren Erläuterungen«115 Heeren ausdrücklich würdigte, war Heeren primär durch ein universalhistorisches Interesse geleitet, und im Unterschied zum französischen Gelehrten setzte er dieses auch in die Tat um. Heerens erstes Werk zur Kolonisation, die Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt, erschien in einer ersten Auflage 1793. Im Titel angelegt ist der doppelte Fokus Heerens sowohl auf »Staatsverfassungen« als auch auf »Handelsverhältnisse«.116 Zunächst wurde in zwei Bänden die Geschichte der nicht-griechischen antiken »Völker« behandelt, erst 1812 folgte der erste Teil eines dritten Bandes zu den »europäischen Völkern« inklusive der Griechen. Konzipiert waren zudem ein – nie erschienener – zweiter Teil, welcher sich speziell dem Themenbereich Handel und Kolonisation widmen sollte, sowie eine eigene Abhandlung der Geschichte Spartas und Athens. Auch Abhandlungen zur Geschichte des makedonischen Griechenlands sowie des römischen Reiches waren vorgesehen, 111 MITFORD 1808: 256. 112 Vgl. etwa GILLIES 1786: 72-74 zur Eroberung Kleinasiens. 113 Vgl. Christ 1999: 9-11 und Crusius 1969. 114 Zum Geschichtswerk Heerens siehe etwa Muhlack 1991: 126-129. 115 HEEREN 1810: 195. 116 HEEREN 1824: v.
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sind aber nie verwirklicht worden. Dem Themenfeld der »griechischen Kolonisation« wurde somit in der Rumpffassung des dritten Bandes, der sich primär mit der politischen Geschichte befasste, eine eher allgemein gehaltene Beschreibung der Zeit des »Heldenalters«, der »Zeiten nach dem Heldenalter«, also der »Wanderungen«, sowie der »Entstehung der Republikanischen Staatsformen« zugedacht.117 Zur eigentlichen »griechischen Kolonisation« gab es nur rudimentäre allgemeine Überlegungen, es lässt sich allerdings anhand eines anderen Werkes Heerens nachvollziehen, was der nie veröffentlichte zweite Teil des dritten Bandes der Ideen zu diesem Phänomen enthalten gehabt haben könnte: 1799 erschien erstmals das Handbuch der Geschichte der Staaten des Alterthums, mit besonderer Rücksicht auf ihre Verfassung, ihren Handel und ihre Colonien, und 1809 folgte das Schwesterwerk zur neuzeitlichen Kolonisation, das Handbuch der Geschichte des europäischen Staatensystems und seiner Kolonien. Bereits der Titel des dritten Bandes der Ideen macht deutlich, dass mit den Griechen eine neue Epoche der »Kolonisation« einsetzte, und zwar jene der »Völker« Europas. Dies impliziert einen Bruch zu vorherigen Formen und zugleich eine historische Kontinuität von der Antike in die Moderne. Diese habe sich nicht zuletzt darin gezeigt, dass die Vorherrschaft der europäischen Staaten bereits in der griechischen Antike ihren Ursprung hatte: »Haben gleich seine [Europas, MM] Bewohner auch zu gewissen Zeiten ihre Wohnsitze verändert; so waren sie doch nie eigentliche Nomaden. Sie wanderten um zu erobern, um anderswo sich niederzulassen, wo Beute, wo größere Fruchtbarkeit lockte. [...] Konnte gleich Europa sich selber nur weniger ausgezeichneter Erzeugnisse rühmen; vielleicht keines einzigen das ihm ausschließend eigen gewesen wäre; mußten auch keine edelsten Producte erst aus fernen Ländern dahin verpflanzt werden; so erzeugte doch auch eben dieses wiederum die Nothwendigkeit sie zu pflegen, sie zu ziehen. So mußte sich die Kunst mit der Natur verbinden; und eben diese Verbindung ist die Mutter der fortschreitenden Bildung unseres Geschlechts.«118
Heeren zeigte hier primär ein naturräumliches Verständnis von Europa, dass sich auf den Charakter der diesen Erdteil bewohnenden »Völker« niederschlug: Die Notwendigkeit bedingte eine ständige Erarbeitung und Pflege der kulturellen Errungenschaften, worin zugleich die Grundlage des Erfolgs lag. Diese – modern ausgedrückt – anthropologische Konstante des Fortschritts durch Notwendigkeit sah Heeren auch in den »Colonien« am Werk: »Es liegt in der Natur der Colonien, daß in ihnen die Frucht der Freiheit reift. Jenseits des Meeres kann nicht Alles bleiben, kann nicht Alles wieder werden, wie es im Vaterlande war. 117 HEEREN 1826: 121. 118 Ebd.: 9.
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Mit der Auswanderung wurden die alten Bande, die an den Boden, die an die alten Verhältnisse knüpften, gelöst; der Geist fühlt sich freier in dem neuen Vaterlande; die Anstrengung erfordert neue Kräfte; der Erfolg belebt sie. Wo jeder der Arbeit seiner Hände lebt, entsteht Gleichheit, wenn sie auch im Vaterlande nicht war. Jeder Tag bringt hier neue Erfahrung; und das Bedürfniß der gemeinschaftlichen Verteidigung macht sich fühlbarer in Ländern, wo die neuen Ankömmlinge schon alte Einwohner finden, die sich ihrer zu entledigen wünschen. Dürfen wir uns wundern, wenn die Herrschaft der Stifter, auch wo sie anfangs bestand, der Freiheit wich?«119
Ähnlich wie für Smith fungierten auch für Heeren Kolonien gewissermaßen als utopische Orte der Freiheit. Es liegt kein verabsolutiertes Freiheitsprinzip vor, sondern vielmehr eine genetisch-teleologische Sichtweise: Freiheit lag zwar in der Natur der Sache, war aber der Endpunkt einer notwendigen Entwicklung. Mit dem fait accompli der Unabhängigkeit der amerikanischen Neuenglandstaaten war hierfür mittlerweile auch ein handfestes historisches Beispiel verfügbar. Diesem Fortschrittsdenken geschuldet war Heerens Würdigung der herausragenden Rolle der »griechischen Kolonisation« innerhalb der griechischen Geschichte: »Kein Volk der alten Welt hat so viele Colonieen ausgeführt, als die Griechen; und diese Colonieen sind in mehrerer Rücksicht so wichtig geworden, daß man die frühere Weltgeschichte im Ganzen gar nicht übersehen kann, ohne Kenntniß von ihnen zu haben. Denn an ihnen hängt nicht nur großentheils: a. Die Geschichte der Bildung des Mutterlandes; sondern auch b. die Geschichte des früheren Welthandels; so wie auch c. einzelne dieser Pflanzstädte so mächtig geworden sind, daß sie den größten Einfluß auf politische Geschichte hatten.«120
Die Eingrenzung des Phänomens und seine Typologie Heeren bestimmte das von ihm untersuchte chronologische Feld der »Colonieen der Griechen« im Einklang mit seinen Vorgängern als dasjenige zwischen »den Zeiten der Dorischen Wanderung bis herunter auf die Macedonische Periode«121. Er betonte, dass wahrscheinlich bereits vorher »Colonisten« der Pelasger oder auch der Griechen nach Italien gezogen seien, »allein theils ist das Genauere davon unbekannt; theils bleiben diese auch späterhin nicht mehr Griechen«122. Ein zentrales Kriterium war neben der Verfügbarkeit von historiographisch auswertbarem Material somit auch der Aspekt der kulturellen Rückbindung: Die Griechen mussten Griechen bleiben. In den Ideen ging Heeren noch auf frühere Ereignisse ein. Hier war es ihm wichtig, den
119 HEEREN 1826: 125. 120 HEEREN 1810: 195. 121 Ebd.: 196. 122 Ebd.
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Zeitpunkt festzustellen, ab wann die Griechen ihre Seefahrten begonnen hätten, beziehungsweise ihr »Hang zu außerordentlichen zu kühnen Unternehmungen« erwacht sei. Auslöser seien die zu ihnen gedrungene Sagen und Mythen gewesen. Die neuen Entdeckungsfahrten beförderten ihrerseits wiederum die Entstehung neuer Sagen.123 »Aber die Thaten der ältesten Heroen der Griechen, eines Meleager, Tydeus, und anderer, vor Herkules und Jason, waren einheimische Thaten; selbst die dem Herkules außerhalb Griechenland beigelegten, sind wahrscheinlich spätere Dichtung, als man ihn an dem Argonautenzuge Antheil nehmen ließ; und der griechische Herkules mit dem phönicischen verwechselt ward. Erst mit Jason und dem Argonautenzuge heben die auswärtigen Abentheuer an; die bald eine allgemeine Vereinigung der Nation zu einem Kriege jenseits des Meers zur Folge haben sollten. So weit wir bei so ungewissen Zeitbestimmungen zu urtheilen im Stande sind, scheint dieser Geist der Abentheuer also erst in dem Jahrhundert erwacht zu seyn, welches dem Trojanischen Kriege zunächst vorhergieng. Nach den möglichen chronologischen Combinationen müssen wir in dieses Zeitalter den Zug der Argonauten, die Unternehmung des Theseus gegen Creta setzen; denen die Herrschaft des Meers, welche Minos von dieser Insel aus gründete, nicht lange vorangieng.«124
Diese Fahrten der Helden hätten kumulativ die Kenntnisse der Griechen erweitert und bildeten somit die Grundlage der späteren Gründungen. Sei in der Neuzeit die Handelstätigkeit der einzelnen Nationen ein bestimmender Faktor für deren Politik geworden, so war dieser Aspekt in der Antike noch nicht so ausgeprägt gewesen. Heeren zog dementsprechend im Vorwort zur zweiten Auflage des Handbuchs der Geschichte der Staaten des Alterthums eine Trennlinie zwischen der Antike und der Moderne: Hätte es dort noch mehr oder weniger unabhängig voneinander agierende »Staaten« gegeben, beginnt in der Moderne, mit heutiger Begrifflichkeit ausgedrückt, die globale Vernetzung durch den Handel. Im Vorwort zu den Ideen meinte er folglich, dass sich die »Menschheit gewissermaßen zu einer großen Nation gebildet«125 habe. Dennoch habe es bereits in der Antike manche »Staaten« gegeben, wo eine engere Symbiose zwischen Handel und Politik bestanden hätte. Mit dieser Ansicht stand er nicht allein. John Gillies schrieb etwa zu den Ioniern Kleinasiens: »It is sufficient at present to observe, that its Ionian inhabitants, possessing the mouths of great rivers, having convenient and capacious harbours before them, and behind, the wealthy and populous nations of Asia, whose commerce the enjoyed and engrossed, attained such early and 123 HEEREN 1826: 101f. 124 Ebd. 125 HEEREN 1824: 2.
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rapid proficiency in the arts of navigation and traffic, as raised the cities of Miletus, Colophon, and Phocaea, to an extraordinary pitch of opulence and grandeur. Their population increasing with their prosperity, they diffused new colonies every where around them. Having obtained footing in Egypt, in the eighth century before Christ, they acquired, and thenceforth preserved, the exclusive commerce of that ancient and powerful kingdom.«126
Heerens Einstufung der Handelstätigkeit als zentrales Movens des Geschichtsverlaufs führte zu einer Evaluierung der Ursachen der »griechischen Kolonisation«: »Auch die Griechischen Colonieen wurden theils aus politischen Gründen, theils des Handels wegen gestiftet. Das Erste gilt fast ohne Ausnahme von allen Pflanzstädten, welche das Mutterland selber anlegte; das Andere von denen die wiederum Töchter von Pflanzstädten waren, welche durch ihren Handel sich schon aufgeschwungen hatten; – und fast alle Griechischen Colonieen sind mehr oder weniger Handelsstädte geworden, wenn sie auch bey ihrer Anlage nicht dazu bestimmt waren.«127
Auch wenn ursprünglich andere Gründe zur »griechischen Kolonisation« geführt hätten, so war sie schlussendlich ihrem Zweck nach doch eine Handelskolonisation. Diese Bewertung äußert sich auch bei Heerens Charakterisierung des Verhältnisses von Kolonie und Metropole. Erneut sind Anklänge an Adam Smith kaum zu übersehen: »Das Verhältnis zwischen den Colonieen und den Mutterstädten bestimmte sich schon großentheils durch die Veranlassung der Anlage. Wo eine Stadt durch mißvergnügte oder vertriebene Emigranten gestiftet wurde, fand schon von selbst keine Abhängigkeit statt; aber auch selbst bey Handelscolonieen war diese Abhängigkeit nur sehr schwach, und nirgends leicht von Dauer; weil es den Mutterstädten, wenn auch nicht an gutem Willen, doch an Kraft fehlte, sie zu behaupten. Allein eben durch diese Unabhängigkeit so vieler Pflanzstädte, die fast ohne Ausnahme in den glücklichsten Gegenden der Erde, unter dem schönsten Himmel angelegt, und durch ihre Lage selbst zur Schiffahrt und zum Handel aufgefordert waren, mußte die Cultur der Hellenischen Nation überhaupt nicht nur die größten Fortschritte machen, sondern auch eine Vielseitigkeit erhalten, wie sie die Cultur keiner anderen Nation der damaligen Welt erhalten konnte.«128
126 GILLIES 1786: 214f. 127 HEEREN 1810: 196f. 128 Ebd.: 197f.
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II.1.6 ZWEI MONOGRAPHIEN ZUR »GRIECHISCHEN KOLONISATION« II.1.6.1
Hegewisch’s Geographische und historische Nachrichten, die Kolonien der Griechen betreffend
Dietrich Hermann Hegewisch (1746-1812), seit 1782 Professor für Geschichte in Kiel,129 veröffentlichte 1808 eine monographische Studie zur »griechischen Kolonisation« mit dem Titel Geographische und historische Nachrichten, die Kolonien der Griechen betreffend. Dieses Buch beruhte auf einer früheren Abhandlung »Ueber die Kolonien der Griechen« in einer Ausgabe der Berlinischen Monatsschrift, dem Organ der Berliner Mittwochsgesellschaft, einer spätaufklärerischen Gesellschaft, aus dem Jahr 1792.130 Dieser Text war voll der Bewunderung für das gute Beispiel, welches die »griechische Kolonisation« gegeben habe: »Was wir am wenigsten von den Griechen kennen, ist ihr Verdienst um den Anbau der Erde durch ihre Kolonieen. Diesen Punkt scheinen mir die forschenden Männer, durch welche die Vortrefflichkeit des Griechischen Nationalcharakters in sein verdientes Licht gesetzt ist, am wenigsten nach Würden ausgeführt zu haben: ob es gleich auf der einen Seite an Nachrichten und Denkmälern nicht fehlt, woraus sich durch richtige Folgerungen der vorzügliche Charakter der Griechen auch in diesem Stücke schätzen läßt; und auf der anderen Seite Kolonieen, so wie die Griechen sie anlegten, der größte und rühmlichste Beweis sind, welchen eine Nazion von ihrer edlen, durch Gerechtigkeit, Weisheit und Menschlichkeit geleiteten Thätigkeit geben kann.«131
Anders als Sainte-Croix begann Hegewisch seine bereits 1792 angekündigte Monographie nicht mit allgemeinen Überlegungen zum Charakter der »griechischen Kolonisation«, sondern mit einem historischen Abriss des Phänomens. Das liegt primär daran, dass er nicht wie sein Vorgänger mit der Frage nach den Beziehungen zwischen Kolonien und Metropolen ein konkretes Problem erörtern wollte, sondern dezidiert von den individuellen Ausprägungen auf die allgemeinen Eigenschaften der »griechischen Kolonisation« schließen wollte.132 Chronologisch gesehen unterschied Hegewisch zwei Phasen, vor allem im Hinblick auf den Organisationsgrad der Gemeinwesen in Griechenland selbst. Thukydides’ »Archäologie« spielte somit auch
129 Siehe Carstens 1880 und Ulf 1995: 131. 130 HEGEWISCH 1792. 131 Ebd.: 171. 132 HEGEWISCH 1808: 4f.
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hier eine bestimmende Rolle in der Wahrnehmung der Entwicklung des Ägäisraums. Es gab somit: »[…] erstlich die Epoche, die vor der Organisation der griechischen Staaten herging, und in der die Griechen erst anfiengen, aus dem nomadischen Hirtenleben zum Ackerbau, der feste Sitze und Landeigenthum einführt, überzugehn, und zweitens die Epoche, in der schon die Staaten regelmäßig eingerichtet, und schon die Städte theils mit landbegüterten Bürgern, wie Lacedämon, theils mit Handlung, Schiffahrt, Künste und Handwerk treibenden, wie Athen, angefüllt waren.«133
Diese Beschreibung stützt sich besonders auf die griechischen »Staaten« als Akteure und korrespondierte mit einer Wahrnehmung von Kolonisation als organisierter Unternehmung ausgehend von einem staatlichen, kolonialen Zentrum. War in den zu Beginn diskutierten Nachschlagewerken eine Kolonie noch mehr oder weniger synonym mit Emigration gesehen worden, so verengte sich die Definition zunehmend im Zusammenwirken mit dem Aufschwung des machtpolitischen Aspekts im Kolonialdiskurs. Diese Tendenz führte allerdings zu einem Problem bei der Wahrnehmung der »griechischen Kolonisation«, da die Inkorporierung der gewissermaßen vorstaatlichen »Kolonien« der Äolier, Ionier und Dorier in Frage gestellt wurde. So weit wollte Hegewisch nicht gehen, weshalb er sich genötigt sah, auf den Einwurf zu antworten, dass diese »nicht eigentlich Colonieen, sondern Völkerwanderungen genannt werden müßten«134. Hegewisch bemühte, wie Heeren vor ihm, zu diesem Zweck die kulturell-rückbezügliche Definition von Kolonisation: »Man kann es bei dem klaren allgemeinen Begriff bewenden lassen, jede große Anzahl Menschen, die aus einem Lande, wo sie lange wohnten, weggeht und sich in einem andern Lande niederläßt, eine Colonie zu nennen, so lange sie die aus ihrem Vaterlande mitgebrachten Sitten und Sprache behalten. Sobald sie diese fahren lassen, und ganz die Sprache und Sitten des Volkes annehmen, unter dem sie seit ihrer Auswandrung wohnen, hören sie auf, eine Colonie zu heißen.«135
Diese Rückbezüglichkeit untermauerte auch eine Differenzierung von den Anderen: »Nach allen Weltgegenden hin wanderten die fleissigen Griechen, und füllten bis
133 HEGEWISCH 1808: 145. 134 Ebd.: 148. 135 Ebd.: 148f.
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dahin von rohen Barbaren bewohnte Länder, wo noch keine Spur menschlicher Industrie zu finden war, mit volkreichen, blühenden Städten an.«136 Das kulturelle Verständnis von Kolonisation hatte den Effekt, dass Hegewisch, wie bereits Zedler mit der »Colonie Francoise de Magdebourg &c.«137, Beispiele bemühen konnte, die einen Bezug zur deutschen »Nation« hatten: »So sind z. E. die von den salzburgischen und pfälzischen Emigranten abstammenden Deutschen in Georgien eine deutsche Colonie, ob sie gleich nicht mehr die geringste politische Verbindung mit Deutschland haben, und man wird sie deutsche Colonieen nennen, so lange sie die deutsche Sprache und deutsche Sitten behalten.«138
Auch wenn es keine nominelle Oberhoheit beispielsweise über die Gebiete der sogenannten Ostkolonisation gab, konnte gewissermaßen die deutsche »Nation« dennoch als koloniales Zentrum gesehen werden.139 Hinsichtlich der ereignisgeschichtlichen Beschreibung der ersten Phase beschränkte sich Hegewisch auf eine Charakterisierung der Naturgegebenheiten Kleinasiens und der drei ethnē Äoler, Ionier, Dorier, sowie der verschiedenen neu entstandenen poleis. Auf konkrete Ereignisse im Zuge der Gründungen ging er nicht ein.140 Diese Zurückhaltung hing auch hier mit der Skepsis gegenüber der mündlichen Tradition von Frühgeschichte und dem Fehlen von »hinlänglichen Nachrichten« zusammen.141 Die Skepsis bezüglich der Quellen hatte sich somit erweitert: Hatten seine Vorgänger noch das Gefühl, zumindest für diese Phase der Geschichte über halbwegs zuverlässige Informationen zu verfügen, so verstärkte sich hier die Vorsicht, was sogar die Quellen zu den »Kolonien« der zweiten Phase einschließen konnte. Zur Geschichte Tarents bemerkte er etwa: »Die Auswanderungsgeschichte der jungen Lacedämonier nach Tarent wird, wie alle Begebenheiten, deren Andenken aus uralten Zeiten sich nur durch mündliche Ueberlieferung erhalten hat, ganz romanhaft erzählt.«142 Auch hier greift der Faktor der Art der narrativen Ausgestaltung als Unterscheidungskriterium von unglaubwürdiger, fabelhafter Erzählung und Historie, der am Beispiel John Gillies’ bereits erläutert wurde: Alles, was nicht als tatsachenorientierte Schilderung erschien, war prekär, weil es narrativ verfremdet wurde. Dies basierte auf
136 HEGEWISCH 1808: 172. 137 Siehe ZEDLER 1733. 138 HEGEWISCH 1808: 148f. 139 Siehe auch ebd.: 156f. 140 Ebd.: 5-30. 141 Ebd.: 33. 142 Ebd.: 109.
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grundlegenden Annahmen zur Art und Weise von mündlicher Überlieferung.143 Hegewischs Konsequenz war, dass auch im Fall der Quellenäußerungen zu jüngeren Ereignissen diese systematisch einem Bearbeitungsprozess unterzogen werden mussten. Er wählte gewissermaßen eine strukturalistische Zugangsweise: Entsprechend dem Wissen zu den soziopolitischen Umständen in den jeweiligen mētropoleis wurden die antiken Erzählungen rationalisiert und Mutmaßungen zum Hergang angestellt. Im Fall Tarents wurde etwa die Auswanderung einer »Parthei« wegen innerer Unstimmigkeiten, eine der akzeptierten Ursachen der »griechischen Kolonisation«, als tatsächlicher Anlass der Gründung vermutet. Was die chronologische Untergrenze der »griechischen Kolonisation« betrifft, griff auch Hegewisch die Vorstellung des grundlegenden politischen Wandels durch die Politik der Makedonenherrscher auf:144 »Man muß nehmlich die Colonieen unterscheiden, die vor und die nach Alexander dem Großen gestiftet wurden. Jene wurden von bürgerlichen Menschen, entweder nach selbstgewählten Planen, in der Absicht ihr eigene Glück zu machen, oder unter der Leitung bürgerlichfreier Regierungen in friedfertigen Absichten angelegt; dieses gilt wenigstens von den meisten; in der Folge, als die größeren Republiken herschsüchtig wurden, haben sie auch wohl Colonieen zur Ausbreitung und Befestigung ihrer Herrschaft gestiftet; aber die Stifter der ältesten, der meisten und der blühendsten Colonieen hatten wohlthätigere Zwecke. Nach Alexandern aber, und schon unter ihm (er machte den Anfang dazu) wurden die Colonieen auf Befehl und nach den Planen der Monarchen errichtet, in militairischer oder politischer Absicht, und wenn gleich diese solchergestalt gestifteten Colonieen oft reichlich Gelegenheit zum Fortkommen, zum Glück ihrer Anbauer gaben, und daher viel freiwillige Griechen hinlockten, so hing doch die ganze Einrichtung dieser Pflanzstädte von dem Willen, von den besonderen Absichten und von der eigenthümlichen Denkart der willkührlichen Alleinherrscher ab.«145
Innerhalb der prae-Makedonischen Phase erfolgte nach wie vor die Unterteilung in »Colonieen« aus »friedfertigen Absichten« und »wohlthätigeren Zwecke[n]« sowie Eroberungskolonien. In diesem Rahmen reagierte Hegewisch auf eine nähere Begriffsbestimmung durch Sainte-Croix, der für die vierte Auflage (1798) von JeanJacques Barthélemy’s (1716-1795) fiktiven Reisebereicht Voyage du jeune Anacharsis en Grèce146 einen Anhang zur Geschichte der »griechischen Kolonisation« angefügt hatte, in der er analog zu Bougainville eine Unterscheidung in apoikiai und 143 Vgl. hierzu Carhart 2007: 105-115. 144 Dieser historischen Epoche widmete Hegewisch ein eigenes Werk: Über die griechischen Colonieen seit Alexander dem Großen (Altona 1811). 145 HEGEWISCH 1808: 3f. 146 Dieses Werk erschien erstmals 1788 und wurde zu einem wahren Bestseller. Es handelt sich dabei um die fiktiven Reiseerzählungen des Anacharsis welcher von 363 bis 336
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klēruchiai vorgenommen hatte. Letztere setzten zeitlich mit dem Peloponnesischen Krieg ein und waren im Unterschied zu den Apoikien von der Heimat abhängig. 147 Hegewisch hielt dem entgegen, dass Strabon alle Kolonien als »apoikiai« bezeichnet hätte, ebenso Thukydides, selbst dort, wo es nach Sainte-Croix’ Definition zutreffender gewesen wäre, den Begriff »klērouchia« zu verwenden. Anhand Thukydides’ Beschreibung des Schicksals von Lesbos nach seiner Eroberung durch Athen versuchte Hegewisch, die tatsächliche Bedeutung des Begriffs »klērouchia« zu ergründen und kam zu dem Schluss, dass es auf »klēros«, das Los und somit auf Personen (»klērouchos«), welche per Los lesbisches Land zugeteilt bekommen hätten, zurückzuführen sei. Diese Personen könnten aber nicht als »Kolonisten« angesehen werden, da sie sich nicht unbedingt in Lesbos angesiedelt hätten, sondern das Land etwa an Lesbier weiterverpachten und in Athen bleiben konnten. Hegewisch hielt folglich eine Unterscheidung, wie sie Sainte-Croix vorgenommen hatte, für einen »Irrthum«148 und klassifizierte Kleruchien nicht als Spielart von »Kolonisation«, sondern als Ergebnis der Verteilung eroberten Landes ohne Einrichtung einer eigentlichen »Kolonie«. Kausalitäten, Typus, Zweck Den Gründen der Griechen »Kolonien« auszusenden widmete Hegewisch ein eigenes Kapitel. Einleitend führte er jene an, die Barthélemy in einem Exkurs zu den »Colonies grecques« im zweiten Kapitel des zweiten Bandes seiner Voyage du jeune Anacharsis en Grèce aufgelistet hatte, gefolgt von einer Wiedergabe Senecas verallgemeinernden Bemerkungen in dessen Trostschrift an seine Mutter Helvia anlässlich seiner eigenen Verbannung nach Korsika: 149 »Es sind – zu hoch gestiegene Bevölkerung in einer Stadt oder in einem Lande – der Ehrgeiz angesehner Männer – Freiheitsliebe einzelner Menschen […] – anstehende, oft wiederkommende Krankheiten – trügliche Orakel – unüberlegte Gelübde. Diesen sechs Veranlassungen scheint Barthelemy die frühern Auswanderungen und Coloniestiftungen beizumessen; denn er fügt als die siebente Veranlassung hinzu, die spätern Colonieen wären aus commerciellen oder politischen Absichten angelegt worden. Seneca hat schon ein ähnliches Verzeichniß der allgemeinen Beweggründe, wodurch die Menschen in den frühesten Zeiten sollen bewogen seyn,
v.Chr. Griechenland bereiste. Im Gewande dieser Reiseerzählung schrieb Barthélemy, Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles-lettres, gewissermaßen eine Kulturgeschichte Griechenlands, welche sich schwerpunktmäßig mit der klassischen Zeit beschäftigte. 147 SAINTE-CROIX 1789: speziell 119. 148 HEGEWISCH 1808: 151-154. 149 BARTHÉLEMY 1789: II. 37-49 bzw. Seneca Ad Helviam matrem de consolation: 7.
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ein Vaterland, das sie schon hatten, zu verlassen, um ein neues zu suchen – Flucht vor siegenden grausamen Feinden – bürgerliche Unruhen – übermäßige Volksmenge – Unfruchtbarkeit, Ungesundheit des Landes, wo sie wohnten – Zerstörung desselben durch Erdbeben, durch Wasserfluten – der zu ihnen gekommenen Ruf von der größern Fruchtbarkeit, von der Vortrefflichkeit andrer Länder.«150
Hegewisch kritisierte, dass Barthélemy gerade zu diesem zentralen Aspekt der »Kolonisation« weder nähere Erläuterungen noch Beispiele folgen ließ und auch keine Belegstellen anführte. Etwas süffisant merkte er an: »Gern hätte ich ein Exemple gelesen, daß ein Orakel die Anlegung einer Colonie directe befohlen, oder daß ein Anführer aus purem Ehrgeiz, Stifter einer Colonie zu heissen, Vorschläge zum Auswandern gethan und Beifall mit seinen Vorschlägen gefunden hätte. – Die Orakel wurden freilich befragt, wenn eine Colonie gestiftet werden sollte, ob das Vorhaben gedeihen würde; aber die Orakel wurden über jedes wichtige Geschäft, über jedes Unternehmen ungewissen Ausgangs befragt, von Regierungen über ihre öffentlichen, von Privatpersonen über ihre besonderen Angelegenheiten. Bloß da, wo er den Ehrgeiz der Anführer nennt, verweiset Barthelemy auf den Herodot. Aber in der citirten Stelle redet Herodot von einem einzelnen, sonderbaren Falles, wo zwar der Ehrgeiz eines Anführers eine Auswanderung veranlaßt, der Ehrgeiz aber dieses Anführers nicht auf die Gründung einer Colonie, sondern auf einen andern Gegenstand gerichtet ist. Wir hoffen, die Mittheilung der sonderbaren Geschichte dieses Falles werde unsern Lesern keine Langeweile machen. […] Hier sehen wir an dem Dorieus freilich einen Ehrgeizigen, dessen Ehrgeiz aber nicht directe auf die Stiftung einer Colonie, sondern auf die Vermeidung einer Erniedrigung, die er in seiner Vaterstadt glaubte erlitten zu haben, gerichtet war.«151
Zur näheren Illustration sei erneut auf das Beispiel Tarents und den »Ehrgeiz angesehener Männer« verwiesen: Statt der »romanhaften« ktisis-Erzählung um Phalantos erachtete Hegewisch eine stasis, die den »Staat« zum Handeln zwangen, als wahrscheinlicher. Das Orakel von Delphi war erst recht kein akzeptabler Akteur: Dass die Griechen als role model der Aufklärung sich ihre Taten durch Orakel diktieren ließen, war nicht vorstellbar. Hegewischs Äußerungen hierzu in der Berlinischen Monatsschrift sind unmissverständlich: »Was die Orakel, oder eigentlich die Orakelfabrikanten betrifft; so waren sie viel zu schlaue Leute, als daß sie in den Tag hinein die Menschen zum Verlassen ihres Vaterlandes und zum Beziehen fremder, oft entfernter Gegenden hätten bereden sollen. Man weiß, dass die Orakel nur als Instrumente von klugen Obrigkeiten, Staatsmännern und Feldherrn gebraucht wurden, 150 HEGEWISCH 1808: 140f. 151 Ebd.: 141-145.
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um den ihnen untergebenen Völkern die Gesinnungen einzuflößen, welche zur Erreichung gewisser Zwecke nöthig waren. Gelübde, eine neue Pflanzstadt anzulegen, werden schwerlich eher geschehen sein, als wenn schon eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß solches bald geschehen könne, vorhanden war.«152
Somit wurde eine Rationalisierung entsprechender Quellenäußerungen notwendig. Etwa im Fall Kyrenes, wo Herodot explizit geschrieben hatte, dass die Pythia den Auftrag zur Entsendung der apoikia gegeben hat. Aufgrund der Skepsis gegenüber den unter diesen Prämissen legendenhaften Äußerungen war diese Abkehr vom Wortsinn der antiken Quellen und ihre historiographische Neubewertung gerechtfertigt. Auf einer grundsätzlichen Ebene gab es für Hegewisch im Rahmen einer »Kolonisation« nur einen Akteur: die »Nation«. Dementsprechend waren nur jene Ursachen plausibel, die eine Nation dazu veranlassen konnte, Kolonien zu entsenden. Die von Seneca angeführten Gründe zuzüglich der Herrschaftssicherung und Handelstätigkeit für spätere antike »Kolonien« entsprachen diesem Kriterium.153 Aus den Faktoren der Organisation, der Ursachen und des Zwecks ergaben sich drei Haupttypen. Der erste betraf die vorstaatlichen Emigrationen: Die daraus resultierenden »Kolonien« waren völlig unabhängig, nur eine gewisse »wehmüthige Erinnerung an ihren vaterländischen Boden« konnte in Erzählungen erhalten bleiben.154 Die anderen beiden entstanden »unter Autorität und mit Unterstützung des Mutterstaats«. Der zweite Typ waren »Colonieen« mit »friedfertigen Absichten« und »wohlthätigeren Zwecke[n]«. Hiermit meinte Hegewisch solche, die zur Lösung des Problems von Überbevölkerung gegründet wurden. Diese Ursache, und auch jene, die die Grundlage des dritten Typs war, verknüpfte er mit essentialisierten Eigenschaften der beiden zentralen griechischen ethnē: Dorier und Ionier. »Der erste dieser beiden Beweggründe war die Besorgniß, daß der Staat mit den Bürgern, die kein Landeigenthum hätten, möchte überfüllt werden. Diese Besorgniß herrschte insbesondere in den Republiken vom dorischen Stamm, weil sie sich weniger auf Handlung und Industrie, als auf Ackerbau und Viehzucht legten, und die Nachtheile einer die Ernährungsfähigkeit des Bodens übersteigenden Volksmenge bey einem bloß Ackerbau und Viehzucht treibenden Volke einleuchtender ist, als bei einem andern, wo Handlung und Industrie immer neue Nahrungsquellen zu eröffnen scheinen, bis man erst spät die oft traurige Entdeckung macht, daß diese Quellen sich nicht bis ins Unendliche vermehren lassen. Daß die griechischen Republiken eine für die Ernährungsfähigkeit des Landes zu hochgestiegene Bevölkerung für ein großes
152 HEGEWISCH 1808: 182f. 153 Ebd.: 145-147. 154 Ebd.: 155f.
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Übel hielten, den sie durch weise Maaßregeln vorbauen müßten, hat aus Aristoteles Politik längst bekannt seyn können.«155
In diesem Fall hätten die betreffenden »Republiken«, um potentielle Auswanderer nicht zu verschrecken, den Kolonien weitreichende politische Unabhängigkeit gewährt. Lediglich die moralischen Bande, das Pietätsverhältnis zwischen Eltern und Kind, wirkten: »So wie die eigentlichen Töchter, wenn sie heirathen, feierlich aus dem mütterlichen Hause entlassen und ausgestattet wurden, so geschah auch die Absendung der Colonisten mit gewissen Feierlichkeiten, und sie wurden bei der Abreise mit den erforderlichen ersten Unterstützungsmitteln versehen.«156
Die Gründungsgebräuche und der Pflichtenkatalog einer apoikia wurden wiederum analog zu den bisherigen Darstellungen zusammengestellt,157 wobei Hegewisch derselbe Vorwurf gemacht werden könnte, den er gegenüber Barthélemy erhoben hat: Er führte so gut wie keine Belegstellen an. Zu Sainte-Croix gibt es hierbei eine Abweichung im Detail: Hegewisch nahm das Wiederentzünden eines eventuell erloschenen heiligen Feuers mittels der »Lampe des Mutterstaates« wieder in den allgemeinen Katalog an Gebräuchen auf, was Sainte Croix hingegen nicht als allgemeinen Usus gelten lassen hatte. Beim dritten Typ war das Ziel einer Gründung die Errichtung einer »Garnison« in einem eroberten Land, die Sicherung eines für den Handel vorteilhaften Hafens oder von fischreichen Gewässern, wobei auch hier Überbevölkerung eine Grundbedingung war. In diesem Fall sei ein bestimmtes Maß an politischer Abhängigkeit notwendig gewesen. Als Beispiele führte Hegewisch einige »Kolonien« Korinths wie Epidamnus und Potidäa an sowie die syrakusische »Kolonie« Kamarina.158 In puncto Handel seien es Korinth, aber vor allem die Ionier gewesen, welche sich hervorgetan hatten.159 Diese Strukturierung der Arten von »griechischer Kolonisation« gemäß den durchführenden ethnē und ihren Eigenschaften brachte mit sich, dass die Abtrennung dieses abhängigen Typs von »Kolonie« vom zweiten Typ, den autonomen »Kolonien«, weniger einer chronologischen Grenzziehung folgte, wie es in den Vorgängerwerken noch der Fall war. Besonders Athen sei durch den Mangel an Land genötigt gewesen, sich »durch Seehandel und manufacturirenden
155 HEGEWISCH 1808: 157. 156 Ebd.: 158. 157 Siehe ebd.: 158-160, 162f. und 165f. 158 Ebd.: 165f. 159 Ebd.: 170f.
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Fleiß ihren Unterhalt zu verschaffen«. Demzufolge musste ihr Bevölkerungsüberschuss durch neue Absatzmärkte für ihre Produkte sowie durch ihren Tausch gegen Nahrungsmittel und Rohstoffe kompensiert werden.160 »Die Intelligenz also der Griechen, ihre praktischen geographischen Kenntnisse, zu deren Erwerbung das Bedürfniß neuer, ergiebiger Handelsquellen sie antrieb, ihr geübter Blick, die in Handelsrücksichten vortheilhafte Lage der Oerter und Gegenden zu erkennen, ihre zu gleicher Zeit mehr vervollkommnete Kriegskunst, insbesondre in Befestigung und Vertheidigung der Städte auf der einen Seite, auf der andern die Unwissenheit und Unerfahrenheit aller jener Völker in diesen Dingen, macht das schnelle Gedeihen und den großen, fortdauernden Wohlstand der griechischen Colonieen aus so natürlichen Ursachen leicht begreiflich.«161
Für diesen Typ wählte Hegewisch erneut einen Vergleich mit der eigenen Geschichte: Auch die Handelstätigkeit der »von den Deutschen im Mittelalter in Preussen und Liefland angelegten Städte« brachte diesen »fortdauernden Wohlstand«.162 II.1.6.2
Das Standardwerk
Monumentaleren Ausmaßes als Hegewischs Buch war die 1815 erschienene vierbändige Histoire critique de l’établissement des colonies grecques von Désiré RaoulRochette (1790-1854). Es ist die Publikation seines preisgekrönten Mémoire sur les colonies grecques, das er aufgrund der Ausschreibung der Classe d’histoire et de litérature ancienne (die Bezeichnung der Académie des inscriptions et belles lettres zwischen 1803 und 1816) für eine Arbeit mit dem Ziel »[…] de rechercher tout ce que les anciens auteurs et les monuments peuvent nous apprendre sur l’Histoire de l’établissement des Colonies grecques« aus dem Jahr 1813 eingereicht hatte.163 Raoul-Rochette, Absolvent der École normale supérieur, bekleidete Posten an den prestigeträchtigen Pariser Institutionen der sekundären und tertiären Bildung: Ab 1813 war er Professor für Geschichte am Lycée Louis-le-Grand und ab 1815 hatte er für zwei Jahre eine Vertretungsprofessur für Histoire moderne an der Sorbonne inne. 1816 wurde er Mitglied der Académie des inscriptions et belles-lettres.164 160 HEGEWISCH 1808: 173-175. 161 Ebd.: 175. 162 Ebd.: 175. 163 RAOUL-ROCHETTE 1815: I. viif. 164 Seit 1817 war Raoul-Rochette zudem Redaktionsmitglied des Journal des savants. 18181848 hatte er die Nachfolge von Aubin-Louis Millin als Conservateur du Cabinet des Médailles et des Antiques de la Bibliothèque du roi und als Inhaber eines dort angesiedelten Lehrstuhls für Archäologie angetreten. 1838 wurde er in die Académie des beauxarts aufgenommen. Siehe Gran-Aymerich 2001: 559-62 und Sternke 2012.
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Die Histoire critique de l’établissement des colonies grecques sollte zu einem Standardwerk werden: Bis in das 20. Jh. hinein war es fixer Bestandteil der Bibliographien zur »griechischen Kolonisation«. Wilhelm Wachsmuth konstatierte, dass wegen Raoul-Rochettes Werk Hegewischs Buch »jetzt überflüssig geworden« sei. Hiermit meinte er jedoch lediglich die beiden letzten Bände, welche die »historische Zeit« behandelten.165 Zu den ersten beiden Bänden bemerkte er: »Ich verzichte auf eine Erörterung der Sagen von Colonieen vor der dorischen Wanderung, die mit unverwüstlicher Altgläubigkeit Raoul-Rochette zur Füllung von fast zwei Bänden verarbeitet hat […].«166 Hierin liegt tatsächlich der große Unterschied zu den Vorgängerwerken. Raoul-Rochette legte seiner Untersuchung ein sehr weites Verständnis von Kolonisation zu Grunde: Sämtliche vom Ägäisraum ausgehenden Emigrationsbewegungen, ungeachtet ihrer zeitlichen Verortung, wurden von ihm erfasst. Der erste Band widmet sich, nach einer allgemeinen Einführung in die »griechische Kolonisation«, den Gründungen der Pelasger. Von dieser ersten Phase trennte er die »Kolonisation« der Hellenen, dem »Volk«, das nach einer turbulenten Zeit an Stelle der Pelasger als Besiedler Griechenlands hervorgetreten sei.167 Band zwei umfasst somit die hellenischen »Kolonien« von der Zeit des mythischen Urahnen Hellen bis zur Rückkehr der Herakliden. Kolonisation wurde folglich erneut mehr als synonym mit Emigration aufgefasst, da eine kulturelle oder machtpolitische Rückbezüglichkeit keine notwendige Bedingung war. Dieser weite zeitliche Rückgriff hing zudem mit dem Ausschreibungstext zusammen: Alles, was die antiken Autoren zur »griechischen Kolonisation« berichteten, sollte erfasst werden. Zugleich isolierte Raoul-Rochette auch ein bis in die früheste Zeit zurückreichendes Charakteristikum der Griechen, der sie zur »Kolonisation« prädestinierte: »Il n’est point de nations qui aient produit autant de colonies que la nation grecque; l’inquiétude et l’infatigable activité, qui furent dans tous les temps les traits les plus marqués du caractère de ses citoyens, la disposition même des lieux qu’ils habitaient, et l’avantage qu’ils eurent de recevoir les premiers germes de la civilisation des Phéniciens, peuple industrieux et navigateur, toutes ces causes dûrent sans doute, dès les plus anciennes époques de son histoire, occasioner de fréquentes émigrations.«168
Diese Konstante der Rastlosigkeit suchte er nachzuzeichnen, genauso wie die anderen grundlegenden Ursachen der »kolonisatorischen« Leistung der Griechen: Die naturräumlichen Gegebenheiten und den Import der Zivilisation durch ein ähnlich prä-
165 WACHSMUTH 1844: 95. 166 WACHSMUTH 1826: 49. 167 RAOUL-ROCHETTE 1815: I. 13. 168 Ebd.: I. 1.
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disponiertes »Volk«. Bei seinem Unterfangen, hierzu weit in die Vergangenheit zurückzugehen, konnte Raoul-Rochette sich nicht einfach über die zeitgenössischen Gepflogenheiten der Behandlung von Quellen hinwegsetzen: »[…] les fables de leur mythologie, et les inventions de leurs poètes, ont trop souvent dénaturé les faits les plus intéressants de leurs anciennes annales. Cependant, convaincu, par une étude longue et approfondie, que ces traditions mythologiques, si absurdes en apparence, sont loin d’être aussi méprisables que l’ont pensé quelques critiques modernes, j’ai cru que je pouvais, sur l’autorité et à l’exemple de Strabon, tirer parti même de la fable et de l’allégorie pour parvenir à la connaissance de la vérité.«169
Es war für ihn somit keine Option, die Vorgeschichte zu übergehen. Dies musste er allerdings methodisch legitimieren, weshalb er sich mit Strabon auf eine antike Autorität berief, die ebenfalls darum bemüht war, den »traditions mythologiques« reale Gegebenheiten zu entlocken: »Ce serait sans doute se jouer de la patience ou de la crédulité de ses lecteurs que d’appuyer, sur de semblables chimères, des conjectures historiques; mais lorsque les témoignages des auteurs se trouvent d’accord avec tous les monuments et avec la vraisemblance pour constater la réalité de certains événements de l’histoire poétique, tels que les expéditions de Jason, de Persée, et quelques autres encore, je pense qu’il faut se tenir en garde contre un excès d’incrédulité non moins injuste et non moins dangereux peut-être que le défaut opposé.«170
Wie Strabon wollte er die narrativen Ausschmückungen und das Unwahrscheinliche substrahieren, um das Übriggebliebene mit den erhaltenen »Monumenten« abzugleichen. Im dritten Band wurde die »Kolonisation« ab der Rückkehr der Herakliden bis zur Schlacht von Chaironeia bearbeitet, also bis zum Sieg Philipps II. von Makedonien über eine Allianz um Athen und Theben, gleichbedeutend mit dem Beginn seiner Hegemonie über Griechenland. Innerhalb dieses Zeitraumes zog Rochette noch eine weitere Unterteilung ein: Den Beginn der Olympiadenzählung, da damit Dank einer nunmehr verfügbaren Chronologie größere historische Gewissheit erreicht werden könne: »L’établissement des Olympiades est moins remarquable par le événemens historiques qui l’accompagnèrent, que parce qu’elles offrent à la chronologie des ressources dont elle était privée auparavant. Ainsi, quoique cet événement n’ait exercé par lui-même aucune influence sur les
169 RAOUL-ROCHETTE 1815: I. 7f. 170 Ebd.: I. 10.
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colonies issues de la Grèce, nous avons cru devoir y rapporter notre cinquième époque, la première qui soit véritablement historique par la certitude qui règne en général dans les dates des établissemens qui l’ont suivie.«171
Im vierten und letzten Band wurde diese Phase fortgeführt und den Abschluss bildet ein Kapitel zur hellenistischen »Kolonisation«. Die Unterscheidung der letzteren folgte wieder dem bekannten Muster, indem sie sich auf die Diagnose eines fundamentalen Wandels in den Beziehungen zwischen apoikiai und mētropoleis stützte: »Les liens qui unissaient les anciennes colonies avec leurs métropoles furent brisés sans retour; et les nouvelles, formées sous les auspices de la violence et du despotisme, ne dépendaient plus que de l’autorité d’un maître absolu dans son pouvoir.«172 Die ursprüngliche Harmonie, »l’affection mutuelle des colonies et des métropoles […] la plus inviolable des lois qui leur étaient communes«173, wurde bereits vorher durch das Machtstreben einzelner Orte pervertiert, wobei der Beginn dieser Entwicklung von Athen ausgegangen sei.174 Raoul-Rochette betonte hierbei besonders einen Aspekt: Nach der Unterwerfung des freien und unabhängigen Griechenlands wurde die Aussendung von Kolonisationszügen »sous la direction de ses dieux« unterbunden.175 »considerations générales« Dem Werk vorangestellt waren »considerations générales«. Zu Beginn umriss RaoulRochette die beiden wichtigsten Wurzeln der »griechischen Kolonisation«: »C’était aux nombreuses colonies dont les Grecs avaient couvert une grande partie de la terre habitée, que, dans les fréquens accès de leur vanité nationale, ils attribuaient la naissance et les progrès de la civilisation universelle. Cette prétention, fondée à plusieurs égards, nous est attestée par un passage curieux de Celse, conservé dans Origène, où, après avoir parlé de l’utile influence que les anciens oracles exercèrent sur la destinée des peuples, il ajoute que les oracles des Grecs ont peuplé la terre entiére de leurs colonies […]. L’empereur Julien exprime la même idée d’une manière plus formelle et plus précise encore; il met au premier rang des services qu’Apollon a rendus à l’humanité, les innombrables colonies envoyées par ses ordres et sous ses auspices, qui civilisèrent la plus grande partie de la terre […] Enfin Plutarque, qu’on n’accusera pas d’avoir été dominé par des préjugés superstitieux, au même point que l’auteur dont nous venons d’alléguer le témoignage, le sage Plutarque s’est attaché, dans son traité sur l’Oracle d’Apollon Pythien, à confirmer par des faits la réalité de cette opinion; et Cicéron, 171 RAOUL-ROCHETTE 1815: III. 161. 172 Ebd.: I. 4. 173 Ebd.: I. 31. 174 Ebd.: I. 43-45. 175 Ebd.: I. 4.
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qu’on doit encore moins soupçonner de prévention en faveur des Grecs, était à cet égard dans les mêmes sentimens, lorsqu’il s’écrie: Quam vero coloniam Graecia misit in Aeoliam, Ioniam, Asiam, Siciliam, Italiam, sine Pythio? Nous pouvons conclure aussi de toutes ces autorités, que la religion eut la première part aux colonies émanées de la nation grecque, et que ces émigrations n’étaient pas moins l’effet de sa piété que de sa politique.«176
Im Unterschied zu Hegewisch war somit neben dem »Nationalcharakter« auch die Religion, inkorporiert durch das Orakel von Delphi, ein zentraler Akteur der »griechischen Kolonisation«. Raoul-Rochette verfolgte keine aufklärerische Agenda mehr. Er war ein Mann der Restauration, der seinen Sitz in der Académie just zu dem Zeitpunkt und sogar durch dieselbe königliche Verordnung erhalten hatte, mit der sie unter Ludwig XVIII. wieder in Académie des inscriptions et belles-lettres umbenannt worden ist (allerdings ohne das »royal«). Dementsprechend wurde er auch in einer posthumen Würdigung durch die Académie als »légitimiste et catholique« bezeichnet.177 Dieser Wandel in der Wahrnehmung der Griechen von Helden der Aufklärung zu gottesfürchtigen Apollo-Jüngern entsprach somit dem Zeitgeist und einer Reaktion auf den radikalen Atheismus der französischen Revolution. Nachdem es sich um eine monographische Studie mit einem konkreten Fokus auf die Griechen handelt, spielten im Zuge der Charakterisierung verallgemeinernde und überzeitliche Überlegungen zum Phänomen der Kolonisation eine untergeordnete Rolle. Raoul-Rochette identifizierte in diesem Sinne zwei Gruppen von Ursachen der »griechischen Kolonisation«. Zunächst benannte er allgemeine Beweggründe: Die im griechischen Charakter anzutreffende Unruhe und Tüchtigkeit sowie ihre Pietät. An zweiter Stelle konnten induktiv akzidentielle Auslöser wie Überbevölkerung, Verbannungen, die Errichtung von Barrieren gegen vordringenden Barbaren sowie interne politische Streitigkeiten angeführt werden.178 Hinzu kamen: »La fertilité du sol, les avantages d’une situation commerciale, des relations plus ou moins directes d’intérêt ou d’amitié, étaient encore autant de motifs qui portaient des peuplades entières à s’arracher de leurs foyers pour s’établir dans des régions nouvelles; et souvent plusieurs de ces causes réunies et combinées opéraient, parmi les citoyens d’une même cité ou de villes différentes, une détermination qui eût résisté à l’une sans le concours de l’autre.«179
176 RAOUL-ROCHETTE 1815: I. 2f. 177 Perrot 1906: 643. Die Protektion des bourbonischen Königshauses verlor er jedoch wieder mit dessen endgültigem Aus in der Julirevolution von 1830. Siehe Gran-Aymerich 2001: 560f. 178 Vgl. RAOUL-ROCHETTE 1815: I. 15-23. 179 Ebd.: I. 23.
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Auf den grundlegenden den Griechen inhärenten Triebkräften aufbauend, wurde somit ein heterogenes Panorama an unmittelbaren Anlässen gezeichnet. Auf diese Weise konnte Raoul-Rochette dem Umstand Rechnung tragen, dass die in den antiken Quellen auffindbaren Ursachen dort so gut wie nie den Status einer allgemeinen Regel hatten, sondern immer Teil der Beschreibung einer individuellen Gründung waren. Auch die bereits erwähnte Seneca-Passage hatte mehr den Charakter eines Entweder-Oder, wohingegen die von Raoul-Rochette kompilierten antiken Aussagen zum delphischen Orakel einen verallgemeinernden Charakter besaßen. Seine »considerations générales« unterfütterte Raoul-Rochette, entsprechend dem Auftrag, akribisch mit Quellenpassagen. Bei ihrer Konsultation zeigte er sich weniger skeptisch hinsichtlich der Verallgemeinerbarkeit als etwa Sainte-Croix, womit er den eklektischen Zugang fortführte. Die bekannten Positionen, etwa hinsichtlich der Gründungsgebräuche, wiederholen sich folgerichtig, nunmehr gestützt auf eine gestiegene Anzahl von Belegstellen.180 In Raoul-Rochettes Quellenarbeit liegt wohl einer der Gründe, warum diese vier Bände (genau genommen die letzten beiden) zu einem Standardwerk wurden: Das Quellenkorpus zur »griechischen Kolonisation« wurde in einer Form konstituiert, die im Folgenden mehr oder weniger konstant bleiben sollte. Was sicherlich auch eine Rolle spielte war, dass Raoul-Rochettes Identifikationen der grundlegenden griechischen Charakteristika mehr dem konservativen Zeitgeist entsprachen, als etwa Hegewischs Rekonstruktionen. 180 RAOUL-ROCHETTE 1815: I. 31-43 und 53-59: Das Pietätsverhältnis der »Kolonien« zu ihren Metropolen (Platon Die Gesetze, Livius: XXVII. 9, Dionysios von Halikarnassos: III. 7, Polybios: XII, Herodot: VII. 22, Thukydides: I. 24f., 107, III. 61, V. 104-12, VI. 5, Diodor: XII. 27f.); die Übernahme der Kulte und Gesetze aus der Heimat (Platon Die Gesetze, Thukydides: III. 24, VI. 4f., Strabon: IV. 1. 4, VIII. 6. 10 und 22, Silius Italicus Punica: XV. 171, Livius: XXXVII. 54, Isokrates Panathenaikos, Didor: XII. 35, Pausanias: IV. 23, Polybios: IX. 21, Dionysios von Halikarnassos: I. 9-21); die Einholung der göttlichen Zustimmung über das Orakel von Delphi (Thukydides: VI. 3, Kallimachos Hymnus auf Apollon: 65ff., Pausanias: VII. 2. 5, Herodot: V. 42); die Mitnahme von Kultbildern (Pausanias: VII. 2) sowie des Feuers aus dem Prytaneum (Herodot: I. 146); die Versorgung der »Kolonisten« (Libanios Argumenta orationum Demosthenicarum); die Entsendung von Delegationen aus apoikiai zu religiösen Festen (Diodor: XII. 30, Thukydides: I. 25 und die Scholien, Isokrates Panegyrikos, Scholien zu Aristophanes Wolken: 385); die Einrichtung eines Heroenkults nach dem Tod des oikistēs (Diodor [genaue Stellenangaben unklar, MM], Cicero De natura deorum: III. 15, Herodot: I. 168, VI. 38, Strabon: XII. 3. 11, Pausanias: III. 1); die Anforderung eines oikistēs aus der mētropolis im Fall einer eigenen Gründung (Thukydides: I. 24); die Bestellung von Oberpriestern aus der mētropolis (Scholien zu Thukydides: I. 25, Tacitus: II. 54, ohne nähere Nennung des Werkes).
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II.1.7 DIE ENTWICKLUNG DER »GRIECHISCHEN KOLONISATION« ALS HISTORIOGRAPHISCHES OBJEKT Die Wahrnehmung der »griechischen Kolonisation« unterlief im Zeitraum, den die Bestandsaufnahme abdeckt, einem signifikanten Wandel. Dies lag daran, dass die Konstitution als historiographische Objekt von mehreren Faktoren bestimmt war, die ebenfalls Modifikationen erfahren haben. Zunächst nahm das schon länger im Fokus gelehrter Aufmerksamkeit stehende Objekt der römischen Kolonisation eine Vorbildrolle ein. Die Beschäftigung mit ihr war nicht zuletzt davon geprägt, dass sie als Muster für die neuzeitliche Kolonisation verwendet werden konnte, was sich etwa ganz grundsätzlich anhand der Begrifflichkeit zeigt, die auf dem lateinischen Term »colonia« aufbaute. Gerade das konkrete Interesse an den Rechtsverhältnissen zwischen Kolonie und Metropole prägte somit auch den Umgang mit der »griechischen Kolonisation«, insbesondere dann, als ein Gegenmodell zu einem kolonialen Dominationsverhältnis eine Rolle zu spielen begann. Auf einer allgemeinen Ebene spiegelt sich hierin auch ein zentrales Muster im Umgang mit der Antike, die als Reflexionsebene für zeitgenössisch relevante Themen diente.181 Michel Foucault wies darauf hin, dass Vorstellungen zu Kolonien aufgrund der räumlichen Distanz ein utopisches Potential innehaben können.182 Im Rahmen der »hétérotopie« »griechische Kolonisation« konnte sich dieser Effekt noch verstärken, da zur räumlichen auch noch die zeitliche Dimension hinzutrat. In der »griechischen Kolonisation« fand somit gerade der Kolonialdiskurs der europäischen Aufklärung ein Gegenmodell zum »Despotismus« Roms und der modernen Kolonialmächte. Konkrete zeitbezogene Kolonialfragen waren somit ein Auslöser mit einer eingehenderen Beschäftigung mit der »griechischen Kolonisation«. Dies brachte mit sich, dass die Evolution des Wissens, insbesondere seine Nuancierung, auch eine Folge des Widerstreits verschiedener Perspektiven auf das moderne Kolonialsystem war. Er befeuerte eine Dialektik zwischen einer deduktiven Ebene, geprägt von den verallgemeinerten Vorstellungen zur Kolonisation, und einer induktiven Ebene seiner konkreten Ausformungen. Ermöglicht wurde diese Dynamik auch weil die Beschäftigung mit der Vergangenheit noch ein relativ offenes Feld war, das noch keine Exklusion von Äußerungen zur Geschichte aufgrund einer mangelnden Qualifikation oder fehlenden Zugehörigkeit zu einer professionalisierten Historiographie kannte. Geschichte stand, als magistra vitae, allen offen, die sie sich zunutze machen wollten. Dieser problemorientierte Rückgriff auf die Vergangenheit half sicherlich auch bei der grundsätzlichen Weiterentwicklung historiographischer
181 Siehe hierzu grundlegend Morley 2009. 182 Foucault 2004.
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Narrative von Kompilationen des verfügbaren antiken Vergangenheitswissens hin zu eigenständigen Untersuchungen. Ein zusätzlicher Impetus bei der Evolution des Wissens zur »griechischen Kolonisation« ist auch der bereits in diesem Zeitraum greifbare internationale Austausch, was die Bezugnahmen auf fremdsprachige Autoren und die Übersetzungen von Werken illustrieren. Auch auf persönlicher Ebene gab es Kontakte: In einer der Neuauflage von Mitfords History of Greece von 1835 vorgeschalteten Biographie des Verfassers wurde vermerkt, dass er auch Reisen nach Frankreich unternommen und sich mit dortigen Gelehrten getroffen hatte: »The enthusiasm of the Baron de St. Croix and M. de Villoison for the Greek language and literature tended to increase similar feelings in his mind, and engaged him more ardently to pursue his studies [...].«183 Dieser Austausch erhöhte grundsätzlich den Pool an verfügbaren Vorläuferwerken und konnte zugleich auch, wie im Fall von Barron und Sainte-Croix, Reaktionen herausfordern. Der Spielraum der Konstitution des Wissens zur »griechischen Kolonisation« war auch vorgegeben durch die rudimentäre Überlieferungslage der antiken Äußerungen zu diesem Phänomen: Ein Korpus, das erst im Entstehen war. Der Umgang mit den Quellen zeichnete sich ebenfalls durch eine gewisse Heterogenität aus. Sie ergab sich aus den unterschiedlichen Zugängen und den Modifikationen hinsichtlich der Frage, welche Quellen ihrem Wortsinn gemäß verwendet werden konnten und welche deutungsintensiver beziehungsweise überhaupt unzuverlässig seien. Hiervon hing die Bestimmung des Korpus, aus dem die relevanten Quellenäußerungen entnommen werden konnten sowie ihre Verallgemeinerbarkeit ab. Besonders die chronologische Grenzziehung zwischen historisch beschreibbaren und mythischen, fabelhaften Zeiten stand zur Disposition: Sie verschob sich tendenziell in immer jüngere Zeiten. Spielräume ergaben sich auch durch die verschiedenen Zugänge zur vorhistorischen Zeit, die zwischen den beiden Polen der kompletten Ausblendung aller fabelhaften Äußerungen und des Versuchs ihrer Auswertung mittels entsprechender jeux de vérité pendelten. Gerade in der angelsächsischen Historiographie war der Skeptizismus gegenüber Traditionen zu unhistorischen Phasen tief verankert. Bezogen sich antike Äußerungen auf Ereignisse und Gegebenheiten der historischen Zeit, herrschte ein eklektischer Zugang vor: Ihr Wahrheitsgehalt wurde kaum in Frage gestellt, weshalb sie dem antiken Quellenkorpus entnommen, also gewissermaßen entkontextualisiert werden konnten, um konkrete Fragestellungen erörtern zu können. Die Verallgemeinerbarkeit dieser meist auf konkrete Ereignisse bezogenen Äußerungen war durch übergeordnete Denkmuster zum universalisierten Phänomen Kolonisation, dem kolonialen Paradigma, oder zur essentiellen Wesenheit der Griechen als homogenes »Volk« sichergestellt. Wandlungen dieser Vorstellungen färbten somit
183 MITFORD 1835: o.S.
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auch auf das Wissen zur »griechischen Kolonisation« ab. Die grundsätzliche Definition von »Kolonisation« beispielsweise oszillierte zwischen einer kulturellen und einer politischen Auffassung, wobei der zweite Faktor aufgrund der Zeitläufte zunehmend an Bedeutung gewann. Das Zusammenspiel von verallgemeinerten Prinzipien und antiken Quellen zeigt sich auch anhand der Rekonstruktionen der Kausalitäten, wo einerseits die Frage des prinzipiellen Zwecks von Kolonisation eine Rolle spielte, andererseits aber auch eine quellenbasierte Berücksichtigung antiker Gegebenheiten. Hierbei lässt sich festmachen, dass neben der Überbevölkerung der Aspekt des Handels nach und nach eine größere Bedeutung erhielt.
II.2 Die »griechische Kolonisation« in den ersten altertumswissenschaftlichen Nachschlagewerken Querschnitt 1
Dieser erste Querschnitt des zweiten Teils umfasst jenes Jahrzehnt ab den 30er-Jahren des 19. Jh., in welchem die ersten rein altertumswissenschaftlichen Nachschlagewerke erschienenen sind. Sie zerfallen in zwei Gruppen: alphabetisch nach Lemmata geordnete Enzyklopädien sowie thematisch-chronologisch systematisierte Handbücher. Zusätzlich kann die in diesem Zeitraum veröffentlichte achtbändige History of Greece von Connop Thirlwall (1797-1875) zur Vertiefung der Analyse hinzugezogen werden. Enzyklopädien Die erste speziell auf die Altertumswissenschaften ausgerichtete Enzyklopädie war die von August Friedrich Pauly (1796-1845) ab 1837 herausgegebene Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Pauly starb 1845 und sah deshalb sein auf 6 Bände angelegtes Werk, an welchem bis zu seinem Abschluss etwa 30 Gelehrte mitarbeiteten, nicht mehr zur Vollendung kommen.1 Dafür sorgten nach Paulys Tod ab Band 4 der Philologe Wilhelm S. Teuffel (1820-1878) sowie der Archäologe Christian Walz (1802-1857), der sich jedoch krankheitsbedingt zwischen 1847 und 1851 nicht an der Redaktionsarbeit beteiligen konnte. Unter der Ägide beider Herausgeber wurde schließlich 1852 der 6. und letzte Band abgeschlossen. 1842 erschien in England ein von William Smith (1813-1893) veröffentlichtes Dictionary of Greek and Roman Antiquities. Smith sollte eigentlich eine theologische Laufbahn einschlagen, gelangte dann allerdings als autodidakter Philologe an die University College School in London. Im Laufe seines Lebens brachte er mehrere lexikalische Werke 1
Siehe zur Biographie Paulys: Kaiser/Kipf 2012.
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heraus, beginnend mit dem Dictionary of Greek and Roman Antiquities.2 Im Gegensatz zur Real-Encyclopädie war es ein einbändiges Werk, für welches nichtsdestotrotz neben Smith selbst noch 19 weitere Autoren, größtenteils mit Universitätsaffiliationen, Beiträge verfassten. Sowohl Pauly als auch Smith legten Wert auf knapp gehaltene Einträge. Der größere Umfang der Real-Encyclopädie liegt an der, dem Unterschied zwischen einer Enzyklopädie und einem Dictionary geschuldeten, etwas ausführlicheren Gestaltung der Einträge, aber auch an dem Umstand, dass es neben »Antiquitäten« auch Artikel zu historischen Persönlichkeiten enthält. Grundsätzlich sollte die Form der Real-Encyclopädie ihrer Funktion folgen: »Da nur bei einem mäßigen Umgang eine allgemeinere Nutzbarkeit eines solchen Hülfsbuches sich erwarten läßt, so ist zunächst bündige Kürze, doch ohne Dürftigkeit, zum Gesetz gemacht. Nicht die Untersuchungen selbst können hier geführt, sondern nur ihre Resumés, oft auch nur die bloßen Ergebnisse, geboten werden. Wo verschiedene Meinungen obwalten, werden – wenn der Gegenstand von einiger Wichtigkeit ist – die erheblichsten derselben mit ihren Hauptgründen aufgeführt, überall aber – und dies ist ein Hauptaugenmerk – die classischen Stellen und die bedeutendste neuere Literatur zu weiterer Belehrung des Lesers nachgewiesen.«3
Die Real-Encyclopädie sollte also ein »Hülfsbuch« zur »Belehrung« sein, »[…] welches, zunächst für das Bedürfnis des Studierenden und des mit literarischen Hülfsmitteln minder ausgerüsteten Lehrers berechnet, zugleich geeignet wäre auch dem eigentlichen Gelehrten in einzelnen Fällen ein unbequemeres anderweites Nachschlagen für den augenblicklichen Bedarf zu ersparen.«4
Pauly, selbst Gymnasiallehrer an verschiedenen Schulen im Königreich Württemberg, stellte seine Enzyklopädie explizit in die Tradition zweier für Schulzwecke edierter Lexika: Zum einen das Reale Schullexikon (Leipzig 1717) des Lexikographen Benjamin Hederich (1675-1748), zum anderen das Neue Realschullexikon (Braunschweig 1805) von Karl Philipp Funke (1752-1807). Der Sinn dieser Nachschlagewerke war es, beim Verständnis der antiken Texte eine Hilfestellung zu leisten, was etwa anhand des Titels eine älteren französischen Nachschlagewerks
2
Es folgten 1849 das Dictionary of Greek and Roman Biography and Mythology (London) und 1857 das Dictionary of Greek and Roman Geography (London). Zudem veröffentlichte er mehrere Schulbücher und Nachschlagewerke mit kirchlichem Fokus, wie das Dictionary of the Bible (London 1860-1887) und das Dictionary of Christian Antiquities (London 1875-1880).
3
PAULY 1837: o.S.
4
Ebd.
Erste altertumswissenschaftliche Nachschlagewerke | 239
exemplifiziert werden kann: Das 37-bändige Dictionnaire pour l’intelligence des auteurs classiques, grecs et latins, tant sacrés que profanes, contenant la géographie, l’histoire, la fable, et les antiquités, welches ab 1766 von François Sabbathier (17351807), ein am Collége Châlons-sur-Marne unterrichtender professeur, herausgegeben worden ist. Es ging um mehr, als eine Erläuterung historischer Ereignisse und Persönlichkeiten, denn eine fremde Welt musste gewissermaßen den Schülern nähergebracht werden, weshalb auch »Realien« und »Antiquitäten« erklärt wurden. Pauly definierte »Antiquitäten« folgendermaßen: »Am Schwierigsten ist eine strenge Auswahl unter den zahlreichen Einzelheiten deren Inbegriff man mit dem Namen der Antiquitäten belegt, dem vagen Ausdruck für Alles das, was von den Grundsätzen, den Formen und Organen der Staatsverwaltung und Rechtspflege, von dem Kriegswesen, den religiösen Gebräuchen und dem häuslichen Leben der Alten bekannt und wissenswerth ist.«5
Diese Beschäftigung mit »Antiquitäten« hing mit einem Wandel in den Anforderungen an die Wissensvermittlung und -erarbeitung zusammen: Für ein erschöpfendes Verständnis der Antike wurde ein reines Faktenwissen nicht mehr als ausreichend angesehen. Smith betonte in diesem Sinne die Notwendigkeit einer »lebendigen« Darstellung der Antike: »The earlier writers on the subject, whose works are contained in the collections of Gronovius and Graevius,6 display little historical criticism, and give no comprehensive view or living idea of the public and private life of the ancients. They were contented, for the most part, with merely collecting facts, and arranging them in some systematic form, and seemed not to have felt the want of anything more: they wrote about antiquity as if people had never existed: they did not attempt to realize to their own minds, or to represent to those of others, the living spirit of Greek and Roman civilization. But by the labours of modern scholars life has been breathed into the study: men are no longer satisfied with isolated facts on separated departments of the subject, but endeavour to form some conception of antiquity as an organic whole, and to trace the relation of one part to another.«7
Im Unterschied zu den Vorläuferwerken, die sich explizit an ein schulisches Publikum wandten, erfolgte im Fall von Pauly und Smith die explizite Ausweitung der
5
PAULY 1837: v.
6
Gemeint waren Jakob Gronovius’ (1645-1716) Thesaurus Graecarum antiquitatum (Leiden 1697ff.) und Johann Georg Graevius’ (1632-1703) Thesaurus Antiquitatum Romanorum (Leiden 1694ff.).
7
SMITH 1842b: vii
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Adressat_innen. Auch die »eigentlichen Gelehrten« bedurften eines derartigen Hilfswerks, nicht zuletzt wegen der Zunahme des Wissens: »The Study of Greek and Roman Antiquities has, in common with all other philological studies, made great progress in Europe within the last fifty years.«8 Der Erfolg, der diesen Werken am Buchmarkt beschieden war, belegt darüber hinaus, dass sich nicht nur Schulen und Universitäten ihrer bedienten. Diese Nachfrage zeigt sich gerade an den relativ raschen Neuauflagen, was vor allem für Smiths Enzyklopädien galt. Derartige Werke erfuhren auch eine grenzüberschreitende Verbreitung, was etwa Sabbathiers Beschwerde über qualitativ minderwertige Nachdrucke seines Dictionnaire im Ausland im zeigt.9 Aufgrund der Antikenbegeisterung im europäischen Bürgertum gab es auch außerhalb der institutionalisierten Wissensvermittlung und -erarbeitung ein großes Interesse an derartigen Überblickswerken.10 Dies lag auch an einer Entwicklung, die in der Bestandsaufnahme bereits anklang: Die Beschäftigung mit der Antike war über ein Rezipieren der antiken Autoritäten hinausgegangen, da eigenständige Erörterungen zu konkreten, an das Material gestellte Fragen zugenommen hatten. Es ging darum zu verstehen, wie die antiken Gesellschaften als organisches Ganzes funktioniert haben. Das zeitgenössische Bewusstsein für diesen Wandel drückte sich, wie im Fall Smiths, in der Dichotomisierung in »collectors« und »modern scholars« aus. Handbücher Ein neues Genre bildeten altertumswissenschaftliche Handbücher, die einen systematischen Überblick zum Wissen und zugleich auch zum Fach geben sollten. Zwei zentrale Beispiele werden herangezogen: Wilhelm Wachsmuth (1787-1866), seit 1825 Professor für Geschichte in Leipzig,11 veröffentlichte die erste Auflage seiner Hellenische Alterthumskunde aus dem Gesichtspunkte des Staates im Jahre 1826. Von Carl Friedrich Hermann (1805-1855), der ab 1832 die philologische Professur in Marburg und ab 1842 die Professur der Philologie und Archäologie in Göttingen bekleidete,12 stammte das Lehrbuch der griechischen Staatsalterthümer, welches erstmals 1831 erschien. Wie die Titel verraten, folgen beide Werke demselben Strukturierungsgedanken. Das Wissen zur Antike wurde unter »dem Gesichtspunkte des Staates« dargestellt, was auch Paulys Definition von Antiquitäten geprägt hatte: Die antiken »Nationen« oder »Staaten« sollten als eigenständige Entitäten in ihrer Gesamtheit erfasst werden, was einem tiefergehenden Verstehen der Antike dienen
8
SMITH 1842b: vii. Ähnlich auch PAULY 1837: o.S.
9
Siehe das »Avertissement« zum Bd. 11 (1772): iii.
10 Siehe Grell 1998: 151ff., Marchand 2003: 3-7. 11 Wegele 1896. 12 Baader 1969.
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sollte. Dieser holistische Zugang wurde nunmehr explizit zur Grundlage der historischen Erkenntnis. Hermann grenzte diesen Zugang wie Smith – letzterer ließ sich wahrscheinlich von dieser Passage inspirieren, wie sich auch andernorts Passagen seines Werks wie gekürzte Übersetzungen von Auszügen aus Hermanns Werk lesen – von einem früheren, nunmehr überholten Umgang mit der Antike ab: »Bevor man daher dem griechischen Alterthume als solchem die Ahnung eines eigenen Alles durchdringenden Volksgeistes abgewann, beschränkte sich, was man griechische Antiquitäten nannte, größtentheils auf gelehrte, aber geistlose Compilationen, wie es die meisten der von Jac. Gronovius gesammelten älteren Schriften des Meursius u. s. w. sind, und wie sie auch noch den systematischen Werken dieser und der folgenden Zeit zu Grunde liegen, welchen die äußerliche Eintheilung in gottesdienstliche, häusliche, Staats- und Kriegsalterthümer keinen Ersatz für den Mangel des inneren Lebens gibt, und deren Unkritik nicht selten die Irrthümer ihrer Vorgänger Jahrhunderte lang fortgepflanzt hat.«13
Es habe ein übergeordneter Sinnzusammenhang gefehlt, in dem die antiken Äußerungen zu ihrem besseren Verständnis sowie zu einer auf ihnen beruhenden eigenständigen Rekonstruktion der Antike eingeordnet werden konnten. Der somit denunzierte eklektische Zugang der Vorgänger, der darin bestanden habe, mechanisch jene antiken Quellenaussagen kritiklos heranzuziehen, die zur Behandlung einer bestimmten Fragestellung nötig waren, wurde nunmehr als unzureichend wahrgenommen. Der Ausweg aus der diesem Zugang inhärenten Beliebigkeit lag darin, die antiken Quellenäußerungen als Bausteine der Rekonstruktion eines großen Ganzen anzusehen. Hierdurch entstünde erst die Möglichkeit, die Bausteine in quellenkritischer Weise zu evaluieren. Dieses Ganze waren »Nationen« beziehungsweise »Staaten« im Sinne von naturalisierten Einheiten mit essentialisierten Qualitäten. Das vorrangige Ziel war es somit, gewissermaßen die Verfassungen dieser Entitäten zu rekonstruieren, die zugleich auch zu zentralen Akteuren der Geschichte wurden.14 Dieses etatistische Paradigma betraf nicht nur die Altertumswissenschaften, sondern wurde grundsätzlich die Basis der Vergangenheitswahrnehmung.15 Die Rolle des zeitgenössischen Strebens nach einer nationalen Vereinigung innerhalb des politisch zersplitterten deutschsprachigen Raums war bei dieser Entwicklung wohl von zentraler Bedeutung.16 Wachsmuth formuliert dieses Paradigma folgendermaßen: »Sollte demnach – wozu die innere Stimme rief und sie Wissenschaft, welche das alterthümliche Leben in seiner Einheit auffassen will, einlud – eine Gesamtbehandlung statt finden, so 13 HERMANN 1836: 4. 14 Siehe hierzu auch Nippel 2013: 137f. 15 Siehe zur Rolle des Kategorie Nation etwa Iggers 1994 und Weber 2002: 347f. 16 Siehe hierzu etwa Berger 1997: 21-48, Weber 2002 und Lenhard-Schramm 2014: 26-39.
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mußte ein neuer Gesichtspunkt gefaßt werden. Dieser ist auf dem Titel [des Handbuchs, MM] angedeutet worden und verlangt hier eine Erklärung. Es ist versucht worden, die hellenische Alterthumskunde unter den Gesichtspunkte des Staates zu stellen. Damit zwar würde nichts gewonnen seyn, wenn der Staat nur als die Form, welche die gesamten Erscheinungen des menschlichen Lebens der Hellenen in sich begriff, aufgefaßt und diese ohne inneren Zusammenhang, nur äußerlich eingegrenzt, behandelt würden. Nun aber ist der Staat in seiner lebendigen, befruchtenden, bildenden und erhaltenden Thätigkeit zu denken, und so ergibt sich die begehrte Einheit der Auffassung und zugleich die Mark für Gehöriges und Ungehöriges. Nehmlich in den dadurch bestimmten Kreis der Behandlung fällt Alles das, was entweder als wesentlicher Bestandtheil zu der waltenden Macht des Staates selbst gehört, oder von dieser unterworfen, durchdrungen und gestaltet wird. Ausgeschlossen dagegen ist, was als nach Willkühr und Einfall des Einzelnen hervorgebracht und vereinzelt dasteht, von Staate aber nicht beachtet wird, und auf die Gestaltung desselben und des Staatslebens keine rückwirkende Kraft äußert.«17
Statt einer fallweisen Konsultation der antiken Äußerungen zur Bekräftigung oder Bekämpfung von kursierenden Ansichten – was der mittels der antiken »Kolonisationen« ausgetragene Disput um den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg illustriert – sollte eine Untersuchung der Quellen hinsichtlich ihrer Verknüpfung mit dem großen Ganzen erfolgen. Die Rekonstituierung der Antike wurde somit zu einem Selbstzweck und an die Stelle des »Kompilators«, der sich der antiken Quellen unsystematisch bedient habe, sollte ein »Wissenschaftler« mit einem eigenen Kompetenzbereich treten. Wolfgang Hardtwig fasst diesen Prozess folgendermaßen zusammen: »Die kritischen Mittel, ursprünglich eingesetzt entweder nur zur Kritik oder zur Kritik der Kritik vorausgesetzter Wahrheiten und Normen, verselbständigen sich zu einem Tätigkeitsbereich sui generis, der sich seine Regeln selbst vorgibt. Das kritisch-methodische Wissen bestimmt sich schließlich selbst als Fundament und als Horizont, die vorschreiben, was Wahrheit ist. Die Kritik wird zu einem Instrument für die autonome Herstellung wahrer Sätze durch den Wissenschaftler.«18
Sainte-Croix beispielsweise hatte noch im Sinne der Aufklärung von den Gesetzen der »raison« gesprochen, hier findet sich eine klar definierte, autonome historische Wissenschaft, die den Rahmen ihrer Erkenntnis aus einem Oszillieren zwischen der induktiven Anschauung der antiken Quellen und einer umfassenden, vorgeblich einerseits auf den Quellen, andererseits auf überhistorischen Kategorien beruhenden Perspektivierung bezog. Diese methodische Setzung hatte Konsequenzen für das
17 WACHSMUTH 1826: xi. 18 Hardtwig 1990: 83f.
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Feld der Geschichtsschreibung. Die angeführten Äußerungen verraten zwei Abgrenzungsstrategien: Ganz grundsätzlich wurde eine Trennlinie zwischen Experten und Laien gezogen. Nicht jeder war befähigt, Geschichte zu schreiben. Hierfür brauchte es das entsprechende Wissen, wofür nunmehr auch »Hülfsbücher« zur Verfügung gestellt wurden, und eine methodische Schulung. Darüber hinaus ging es darum, die historische (Altertums-)Wissenschaft zu isolieren und durch eine distinkte Methodik zu legitimieren, um sie etwa von der bislang auf dem Gebiet der Antikenforschung bestimmenden Philologie abzugrenzen.19 Für diese Geschichtswissenschaft brauchte es auch Gründerfiguren, der sie ihre Existenz verdankte und in deren Tradition man sich stellen konnte: Friedrich August Wolf (1759-1824) und Barthold Georg Niebuhr (1776-1831) sollten diese Rolle im 19. Jh. ausfüllen. Hermann würdigte etwa Wolfs Rolle bei der Entwicklung einer neuen kritischen Geschichtsschreibung: »Was aber hier Fr. A. Wolf, zwar minder als Schriftsteller denn als akademischer Lehrer gesäet hat, ist unter den belebenden Einflüssen einer an großen Erfahrungen reichen Zeit zur herrlichsten Blüthe erwachsen, und die Bemühungen unserer Tage, alle Einzelheiten des reichen hellenischen Lebens in geschichtlicher Auffassung unter dem Brennpuncte des Nationalgeistes und der Idee des Staats zu concentrieren, werden stets als classische Denkmale eines ächt wissenschaftlichen Bestrebens betrachtet werden müssen.«20
Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Punkt ist, dass auf diese Weise eine »deutsche« Schule aufgebaut werden konnte. Erhellend sind die Bewertungen, welche Hermann und Wachsmuth in ihren Werken zu ihren Vorgängern vornahmen. Beide betonten, dass bei den Überblickswerken zur griechischen Geschichte bislang die Engländer die wichtigsten Werke vorgelegt hätten.21 Bezüglich einzelner »Puncte der inneren Staatsverhältnisse Griechenlands« gäbe es auch wichtige Studien aus Frankreich, vor allem aus dem Umfeld der Académie. Hierzu dürfte wohl auch Raoul-Rochettes Standardwerk zur »griechischen Kolonisation« gezählt worden sein. Schlussendlich stehe aber fest, dass infolge der »erwähnten Richtung«, sprich des neuen Selbstverständnisses der Altertumswissenschaften, die »deutsche Literatur« alle übertreffe.22 Sieht man von diesem nationalen Überschwang ab, kann doch konstatiert werden, dass hier das Interesse an und die Beschäftigung mit der Antike am konsequentesten in eine institutionelle Form gegossen wurden: Die philologischen und historischen Lehrstühle schufen die Rahmenbedingungen für eine im engen 19 Siehe hierzu Weber 1984: 26 und Hardtwig 1990: 82. 20 HERMANN 1836: 5. Siehe hierzu Hardtwig 1990: 82, Nippel 1993: 307f. und 2013: 122133. 21 WACHSMUTH 1844: 5 und HERMANN 1836: 7. 22 HERMANN 1836: 7.
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Wortsinn professionelle Wissensproduktion. Auch über Deutschland hinaus wurde diese Entwicklung als deutsche Errungenschaft gefeiert. So hob Smith die Pionierleistungen der deutschen Altertumswissenschaftler besonders hervor: »There is scarcely a single subject included under the general name of Greek and Roman Antiquities, which has not received elucidation from the writings of the modern scholars of Germany. The history and political relations of the nations of antiquity have been placed in an entirely different light since the publication of Niebuhrs’s Roman History, which gave a new impulse to the study, and has been succeeded by the works of Böckh, K. O. Müller, Wachsmuth, K. F. Hermann, and other distinguished scholars.«23
II.2.1 DAS DISKURSIVE FELD Die soeben skizzierte Entwicklung, insbesondere die Tiefenwirkung des etatistischen Paradigmas, lässt sich anhand des Wissens zur »griechischen Kolonisation« exemplifizieren. In den Lexika wurde nach wie vor die »griechische Kolonisation« unter das Lemma »colonia« subsumiert, also mit einer Behandlung der römischen Kolonisation verknüpft. In Paulys Real-Encyclopädie findet sich unter diesem Schlagwort zunächst eine Abhandlung zur »griechischen Kolonisation«, anschließend zur römischen. Erstere wurde von Anton Westermann (1806-1869) verfasst, welcher ab 1832 die Professur der klassischen Philologie in Leipzig innehatte. 24 Nahezu dieselbe Anordnung findet sich in Smiths Dictionary, wobei unter »colonia« der von William Smith selbst verfasste Beitrag zur »griechischen Kolonisation« jenem zur römischen Ausformung nachgereiht war. Smith begnügte sich mit einer knappen Darstellung der allgemeinen Charakteristika der »griechischen Kolonisation«, weshalb die römische den größten Teil des Eintrags für sich beanspruchte. Auch im Pauly wurde Letzterer beträchtlich mehr Raum gegeben: Hier beträgt das Seitenverhältnis 13 zu 2. Nach wie vor waren somit die Hierarchie und das Wissensgefälle zwischen den beiden antiken »Kolonisationen« deutlich ausgeprägt. Sowohl Wachsmuths als auch Hermanns Nachschlagewerk hingegen räumten der »griechischen Kolonisation« mehr und einen eigenständigen Raum ein. Hermann widmete ihr in seinem Lehrbuch das Kapitel »Uebersicht der griechischen Colonien und ihrer Staatsverhältnisse« und Wachsmuth behandelte sie in seinem ersten Kapitel, welches sich mit den Eigenheiten des Landes und des »Volkes« beschäftigte. Dieser Abschnitt wurde in der zweiten, erweiterten Auflage von 1844, die in dieser Untersuchung verwendet wird, noch erheblich erweitert. Ganz grundsätzlich ist zu bemerken, dass in diesen Werken das
23 SMITH 1842b: vii. 24 Ulf 1995: 186.
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Wissen gemäß dem Programm, gewissermaßen ein positives Abbild der »Staatsalterthümer« zu bieten, in Paragraphen gegliedert ist. Systematisierung 1: Chronologie und grundlegende Eigenschaften Durch den methodischen Fokus auf essentialisierte ethnische beziehungsweise staatliche Entitäten wurde die bereits vorher greifbare Skepsis hinsichtlich der Zuverlässigkeit sagenhafter, vorhistorische Erzählungen zementiert. Karl Friedrich Hermann formulierte seine Zweifel gegenüber der Möglichkeit von historischer Erkenntnis zur frühen Geschichte Griechenlands folgendermaßen: »Mögen auch unter den Nachrichten aus früherer Zeit nicht wenige thatsächlichen Grund haben, und Spuren und Reste wahrhaft geschichtlicher Erinnerungen enthalten, so sind sie doch theils so sehr mit Mythen durchflochten und verwebt, theils selbst so sehr in mythisches Gewand gehüllt, daß auch der scharfsichtigste Forscher nicht mehr im Stande seyn möchte, sie zu einem vollkommen zusammenhängenden geschichtlichen Ganzen wieder herzustellen. Rücksichtlich der inneren Geschichte gilt dieses noch bei weitem mehr. Kein Volk kann eher eine innere Geschichte als solches haben, als bis es sich in eigener selbstthätiger Entwicklung zu der Höhe nationaler Individualität heraufgebildet hat, auf welcher es sich durch das Gepräge eines eigenthümlichen Charakters von allen anderen Nationen unterscheidet. Bei dem griechischen Volke kann dieser Charakter aber nur erst als eine Folge der stürmischen Bewegungen, Umwälzungen und Wanderungen betrachtet werden, als deren letzte Erscheinungen der Heraklidenzug und die ihn begleitenden und zunächst vorhergehenden Begebenheiten in der Geschichte dastehen.«25
»Volk« und »Nation« waren insofern synonym, als letztere eine historische Endstufe darstellen würde. Auch die Griechen mussten diesen Schritt vollziehen, woraus sich auch die zeitliche Obergrenze der »griechischen Kolonisation« ergab: »Die Geschichte der griechischen Colonisation fängt, wie die des Mutterlandes, erst mit dem Zuge der Herakliden und dessen Folgen an; die älteren, welche die Sage meldet, sind theils in jene Zeit hineingedichtet, theils, wenn auch geschichtlich nicht zu bezweifeln, doch als der Entstehung des eigentlich hellenischen Volkscharakters vorhergehend dem Kreise der Darstellung fremd.«26
Selbst wenn es bereits vorher historisch nachvollziehbare Emigrationen gegeben habe, so ließen sie sich nicht unter der Kategorie der »griechischen Kolonisation« 25 HERMANN 1836: 9f. 26 Ebd.: 158.
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subsumieren, da es sich um eine »vollkommne Secession« gehandelt habe, dem »Verzicht auf die heimatliche Landschaft und Lösung der an sie knüpfenden Bande, was zu vollkommner Entfremdung vom gesamten hellenischen Wesen« führte.27 Die bereits in der Bestandsaufnahme beobachtbare Tendenz zu einer verstärkten Abgrenzung der »Wanderungen« – eine Tendenz, der etwa Hegewisch versucht hatte entgegenzuwirken – wurde somit durch das etatistische Paradigma untermauert. Wilhelm Wachsmuth ist in seiner Charakterisierung der ersten Phase merklich auf Distanzierung aus: Es habe sich gehandelt um eine »Ausfahrt von Stämmen, welche vor Bildung des städtischen Wesens stattfand; […] Hier ist mehr Absonderung von Brüdern, als Scheiden der Tochter von der Mutter.«28 Mangelnde politische Organisation war auch ein Faktor bei Smith, der – wohl durchaus im Anschluss an Mitford und Gillies – die ersten »Kolonisten« als »mere bands of adventurers, who left their native country, with their families and property, to seek a new home for themselves«29 beschrieb. Die definitorischen Kriterien von politischer Organisation und zumindest kultureller Rückbezüglichkeit gingen somit Hand in Hand bei der Eingrenzung der »griechischen Kolonisation«. Hegewisch hatte ja noch den ersten Faktor ausgeblendet, um die »Wanderungen« noch hineinzunehmen. Beide Elemente gingen in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften aufgrund des etatistischen Paradigmas eine Symbiose ein, da die »griechische Kolonisation« ein Paradoxon darstellte: Es gab eigentlich keinen »griechischen Staat« als koloniales Zentrum, sondern nur »Staaten«: »Stadt und Staat ward gleichbedeutend«.30 Es gab allerdings den griechischen »Volkscharakter« als verbindende Klammer, weshalb doch eine griechische »Nation« gegeben war. Als essentieller Teil des »Volkscharakters« wurde dementsprechend ein ausgeprägter Partikularismus gesehen, also die Zersplitterung in einzelne »Staaten«. Diese Art der Rekonstruktion der Wesenheit der griechischen »Nation« traf wohl gerade im politisch heterogenen Deutschen Bund einen Nerv. 31 Dieser typisch griechische Partikularismus habe sich nicht zuletzt in der »griechischen Kolonisation« manifestiert: Das Wissenselement der Unabhängigkeit der griechischen »Kolonien« wurde somit als historisches Faktum untermauert. »Durch die Wanderungen und durch das sie erzeugende und begleitende, oder aus ihnen selbst hervorgehende Streben nach Selbständigkeit musste sowohl das uralte brüderliche Verhältniss
27 WACHSMUTH 1844: 99. 28 Ebd. 29 SMITH 1842c: 261. 30 WACHSMUTH 1844: 145. 31 Siehe hierzu auch Lenhard-Schramm 2014: 89f.
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der Stämme sich auflösen, als das jüngere Band zwischen Mutter und Tochterstaaten ein nur lockeres werden.«32
Dieses »Pietätsverhältnis«33 konnte rückwirkend wiederum den verallgemeinerten griechischen »Volkscharakter« bestätigen: Der Grieche war ein zōon politicon, ein politisches Wesen, das zwar nach eigenständigen Gemeinwesen strebte, aber zugleich doch mit der »Heimat« verbunden blieb: »Diesem Streben, aus einer drückenden Gegenwart loszukommen, dem Princip der Negation, der Secession, lag sehr nahe der Geist der Abenteuer, der in dem elastisch kühnen und jugendlich kräftigen hellenischen Sinne üppig wucherte, aber doch – zum Unterschiede von der romantisch-ritterlichen Abenteuerlust – immerfort begleitet war von dem Sinne für Gründung eines politischen Vereins, von dem Bewusstseyn der politischen Productionsfähigkeit und dem bestimmten Streben nach positiven Gestaltungen, und nicht im blossen Umherschwärmen aufging. Der Hellene trug einen politischen Fruchtstock mit sich fort; was aus der Heimat fortgelockt ward, ging nicht so verloren, wie in der Zeit des endlichen Verfalls der hellenischen Staaten, wo durch ganz Vorderasien hellenische Söldner heimatlos verkehrten; sondern es bewies sich als bewunderungswürdiges Talent, das Vaterländische auf fremdem Boden, in neuen Naturbedingungen, wie aus neuer Wurzel aufsprossen zu lassen.«34
So hing auch die Blüte der »griechischen Kolonisation« mit dieser essentialisierten Verwurzelung der rastlosen Griechen zusammen. Die gerade in der Zeit der Spätaufklärung gezeichnete Erfolgsstory der politischen und kommerziellen Freiheit der griechischen »Kolonien« rückte somit in den Hintergrund zu Gunsten einer Betonung der »nationalen« Bande, welche die »Kolonien« mit dem »Mutterland« Griechenland unterhielten. Die dem etatistischen Paradigma inhärente Zirkularität wird hier besonders deutlich: Die wenigen antiken Quellenäußerungen waren zugleich Baustein als auch Beleg dieser primär auf einer zeitgenössischen Axiomatik beruhenden Rekonstruktion allgemeiner Wesenheiten. In der History of Greece Connop Thirlwalls, eines weiteren Beispiels für einen britischen Gelehrten, der sich neben einer Priesterlaufbahn der Antike widmete,35 wurde dieses Pietätsverhältnis ebenfalls als die Regel 32 WACHSMUTH 1844: 144. 33 WESTERMANN 1842: 503; HERMANN 1836: 154ff.; WACHSMUTH 1844: 99; SMITH 1842c: 261: »filial affection«. 34 WACHSMUTH 1844: 97. 35 Thirlwall studierte zunächst Theologie am Trinity College in Cambridge, absolvierte dann allerdings dort ein Jura-Studium. In weiterer Folge kehrte er zu seiner ursprünglichen Berufung zurück und schlug die Priesterlaufbahn ein. Nebenbei widmete er sich stets der Antike: So übersetzte er 1828 Niebuhrs Römische Geschichte ins Englische. In weiterer Folge kehrte er nach Cambridge zurück, wo er von 1832 bis 1834 die Position eines Assistant
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für das Verhältnis von »Kolonie« zur Metropole präsentiert, allerdings wurde hierbei deutlich weniger stark auf das Konzept des »Volkscharakters« rekurriert: »There was in most cases nothing to suggest the feeling of dependence on the one side, or a claim of authority on the other. The sons, when they left their home to shift themselves on a foreign shore, carried with them only the blessing of their fathers, and felt themselves completely emancipated from their controul. Often the colony became more powerful than its parent, and the distance between them was generally so great as to preclude all attempts to enforce submission. But though they were not connected by the bands of mutual interest, or by a yoke laid by the powerful on the weak, the place of such relations was supplied by the gentler and nobler ties of filial affections and religious reverence, and by usages which, springing out of these feelings, stood in their room, and tended to suggest them, where they were wanting. Except in the few cases where the emigrants were forced, as outcasts, from their native land, they cherished the remembrance of it as a duty, prescribed not merely by nature, but by religion.«36
Hier ging es um die Darstellung des Sonderfalls einer »Kolonisation« ohne ein rückbezügliches politisches Verhältnis. Stattdessen herrschten eine »filial affection« und eine religiös unterfütterte Rückbesinnung auf den Ursprung vor. Nach wie vor wurde für die Spätphase der »griechischen Kolonisation« ein Wandel wahrgenommen: »[d]ie planmässige Aussendung eines Theils der Bürgerschaft zur Amplification des Besitzthums und der Macht der Metropolis, zur Unterstützung und Förderung des Handels u. s. w.«37. Auch hier hatte die aufklärerische Perspektive in der Form des Bedauern des Freiheitsverlustes seinen Sinn verloren. Aus der Bestimmung einer grundlegenden Wesenheit der Griechen folgte allerdings doch auch die Konstatierung eines Verlustes hinsichtlich der chronologischen Untergrenze der »griechischen Kolonisation«: Anstelle des Verlustes der politischen Freiheit sprach etwa Wachsmuth von einem »Verfall« der »hellenischen Staaten« im Zuge der makedonischen Hegemonie, wodurch die Griechen die Befähigung verloren hätten, »das Vaterländische« in der »Fremde« gedeihen zu lassen: Sie waren »heimatlos« geworden. Dies war mit dem Verlust des »Volkscharakters« gleichzusetzen: dem Streben nach Partikularität bei gleichzeitiger kultureller Rückbezüglichkeit. Hinzu kam auch das Denkmuster des Lebenszyklus eines »Volkes«, illustriert durch die Betonung des jugendlichen Elans der archaischen Griechen. Auch dekadenztheoretische Elemente
College Tutors bekleidete. Später übernahm er eine Gemeinde in Yorkshire und wurde 1840 zum Bischof von St. David’s (Wales) ernannt. Clark 1898; siehe auch Nippel 2013: 179f. u. 194f. 36 THIRLWALL 1835-47: II. 97f. 37 WACHSMUTH 1844: 99.
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mögen bei dieser Periodisierung eine Rolle gespielt haben, werden doch etwa Entwicklungen wie die Zulassung der »Menge« zur Politik aufgezeigt.38 Diese Sichtweise weist allerdings durchaus Ähnlichkeiten mit dem Verlust der »alliance naturelle« auf, den Bougainville diagnostiziert hatte: In beiden Fällen wurde eine natürliche Verbundenheit der apoikiai mit den mētropoleis betont, die mit dem Ende des griechischen »Staatswesen« zu existieren aufhörte. Bougainville hatte sich auf das Naturrecht berufen können, nunmehr erhielt das Pietätsverhältnis seinen allgemeinen Charakter durch die essentialisierte Wesenheit der Griechen. Systematisierung 2: Typologie Neben der chronologischen Eingrenzung waren es vor allem die Emigrationsursachen, die eine nähere Bestimmung der »griechischen Kolonisation« erlaubten. Hierbei wurde nach wie vor in ältere, eher anarchische, und jüngere, organisierte »Kolonisationen« unterschieden: »1) solche, welche die Nothwendigkeit herbeiführte, indem ein Theil der Bewohner durch Kriegsunglück oder durch inneren Zwiespalt ausgetrieben wurde und so gezwungen war, neue Wohnsitze zu suchen, wohin die sämmtlichen ältesten Niederlassungen gehören; diese standen zu den Mutterstaaten, obgleich nicht selten späterhin die Stammesverwandtschaft geltend gemacht wurde, eigentlich in keinem Rechtsverhältnisse; 2) solche, welche unter Auctorität des Staates selbst begründet wurden, mochten nun dabei politische Absichten (z. B. der übergroßen Zunahme der Bürgerzahl zu steuern, wie es in oligarchischen Staaten zuweilen vorkam) oder, was meist der Fall war, weshalb auch die meisten Colonien an der Meeresküste lagen, commercielle Zwecke oder auch militärische Rücksichten obwalten. Der Tochterstaat stand dann zum Mutterstaate nicht in einem Verhältnisse der Abhängigkeit, sondern in einem reinen Pietätsverhältnisse, welches die Alten selbst gern mit dem des Kindes (und zwar des mündigen) gegen die Eltern vergleichen, ein Verhältnis, welches sich sowohl im Allgemeinen in freundlicher, fried- und dienstfertiger Gesinnung, als auch in gewissen äußeren Zeichen der Verehrung aussprach […]«39.
Diese interne Unterteilung wurde durch den Fokus auf essentialisierte politische Entitäten zusätzlich akzentuiert: Kolonisation war ein staatliches Unterfangen. »The migrations of the Greek colonists were commonly undertaken with the approbation and encouragement of the states from which they issued«40 schrieb auch Connop Thirlwall. Hieraus folgte, dass die Ursachen in jenen Umständen gesucht wurden, die einen Staat veranlassten, Kolonien auszusenden. Benjamin Jowett (1817-1893), eine 38 WACHSMUTH 1844: 97 und 120f. Vgl. zum Topos der Dekadenz Carhart 2007: 207-210. 39 WESTERMANN 1842: 503. Vgl. auch WACHSMUTH 1844: 99 und HERMANN 1836: 157. 40 THIRLWALL 1835-47: II. 97.
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der prägenden Figuren der Classics in Oxford in der zweiten Hälfte des 19. Jh., charakterisierte im Lemma »Κληροῦχοι [Klērouchoi]« von Smiths Dictionary die vorhergehende »griechische Kolonisation« folgendermaßen: »The only object of the earlier colonies was to relieve surplus population, or to provide a home for those whom internal quarrels had exiled from their country. Most usually they originated in private enterprise, and became independent of, and lost their interest in, the parent state.« 41
Auch in dieser Passage zeigt sich die Vorstellung der Evolution der »griechischen Kolonisation« hin zu einem immer höheren Grad an Organisiertheit. Die Betonung der grundsätzlichen Staatlichkeit war zwar in der englisch- wie der deutschsprachigen Forschung deckungsgleich, dennoch unterschieden sich die Prämissen. Auf der jenseitigen Seite des Kanals entfaltete das etatistische Paradigma nicht jene essentialisierende Wirkung, die die Basis der Verallgemeinerungen der griechischen Wesenheiten bildete.42 Mindesten gleichbedeutend war hier das koloniale Paradigma in der Form des Musters, das die eigene koloniale Vergangenheit vorgab: Der Übergang von Kolonisation als privater Unternehmung hin zu einem staatlichen Unterfangen. Erinnert sei an die Privatiers und Abenteurer, die ab dem Ende des 16. Jh. ihr Glück an den Küsten Amerikas suchten.43 Dieser Unterschied in der Herangehensweise an antike »Kolonisationen« zeigt sich auch anhand der Zuweisung bestimmter Ursachen an bestimmte ethnē. Handel wurde etwa aufgrund der in den Quellen greifbaren großen Zahl an den milesischen apoikiai primär mit den Ioniern verknüpft. Gerade die Dorier hingegen galten als Ackerbauern. Überbevölkerung, beziehungsweise der daraus abgeleitete Effekt innenpolitischer Probleme, waren auch für sie mittels antiker Quellenäußerungen gut belegbar. Thirlwall sah nun primär Überbevölkerung als Ursache, wobei er dieses Denkmuster der Verknüpfung spezifischer ethnē mit bestimmten Eigenschaften aufgriff: »On the other hand the inferior degree in which the Dorians and Aeolians were animated with the spirit of commercial adventure, may have been owing to their political institutions, not less than to a difference in their national character.«44 Weniger die Wesenheit als vielmehr strukturelle Gegebenheiten wurden als Grundlage der Argumentation verwendet.
41 JOWETT 1842: 242. 42 Vgl. hierzu Berger 1997: 9-11. 43 Siehe hierzu etwa Etemad 2007: 138f. 44 THIRLWALL 1835-47: II. 105.
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Der Gründungsakt Im Fall einer geplanten Aussendung handelte, wurden »die vielgerühmten Gebräuche, unter denen man der Heimat Lebewohl gesagt und die Weihe zum neuen Staatsleben empfangen habe« wirksam: »Das Religiöse vertrat die Stelle des Politischen«45. Das etatistische Paradigma verstärkte die Verallgemeinerbarkeit der entsprechenden akzidentiellen antiken Äußerungen zusätzlich: Was im Fall einer individuellen apoikia galt, musste auch für die gesamte griechische »Nation« gegolten haben. Die »Ceremonien der Absendung«46 konnten dementsprechend den früheren Rekonstruktionen entnommen und fortgeschrieben werden.47 In weiterer Folge sei das Band durch die »Theilnahme der Colonie an den Festen des Mutterstaats durch Gesandtschaften u. s. w.« aufrecht erhalten worden;48 »and also by bestowing places of honour and other marks of respect upon the ambassadors and other members of the parent state, when they visited the colony at festivals and similar occasions.«49 Als weitere verbindende Elemente wurden »die Annahme derselben Embleme auf Münzen« gesehen,50 sowie »Erinnerungen an das Oertliche durch gleichnamige Bezeichnungen in der neuen Heimat vergegenwärtigt.«51 »In the same spirit, it was considered a violation of sacred ties for a mother-country and a colony to make war upon one another.«52 Andererseits konnte aber nicht mehr jede überlieferte Quellenaussage als verallgemeinerbar aufrechterhalten werden. Dies zeigt sich etwa bei Westermann: »man wird daher die jährliche Besetzung des obersten Magistrats in Potidäa von Corinth aus (Thuc. I, 56.) und die des Oberpriesterhums in den Colonien durch den Mutterstaat (Schol. Thuc. I, 25.) nur für einzelne Fälle halten können«.53 Diese Skepsis betraf jene »Ceremonien«, welche die Aufrechterhaltung von Beziehungen zwischen der einmal gegründeten apoikia und ihrer mētropolis regelten. Die Unabhängigkeit einer apoikia galt nach wie vor als Grundprinzip der »griechischen Kolonisation«. Diese Vorstellung wurde durch ihre Verankerung im Wesen der Griechen noch zusätzlich verstärkt, was dazu führte, dass die Gründungsgebräuche insgesamt mehr als Symptome des Pietätsverhältnisses gesehen wurden, die allerdings durch den im 45 WACHSMUTH 1844: 100. 46 WESTERMANN 1842: 503. 47 Siehe HERMANN 1836: 155f.; WESTERMANN 1842: 503; SMITH 1842c: 261 und WACHSMUTH 1844: 147.
48 WESTERMANN 1842: 503. Siehe auch HERMANN 1836: 156 und WACHSMUTH 1844: 147. 49 SMITH 1842c: 261. Siehe auch HERMANN 1836: 156. 50 HERMANN 1836: 156. 51 WACHSMUTH 1844: 147. 52 SMITH 1842c: 261. 53 WESTERMANN 1842: 503. Ähnlich aber mit der Wendung »einer Nachricht zufolge« HERMANN
1836: 156. Nahezu identisch wie Hermann: SMITH 1842c: 261.
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hellenischen Wesen verankerten Partikularismus ausgehebelt werden konnten. Wilhelm Wachsmuth meinte etwa, dass »diese in älterer und neuerer Zeit oft aufgezählten Leistungen der Pflanzstädte dennoch meistens unerfüllt blieben.«54 Somit wurde auch eine historisch-genetische Perspektive auf die »griechische Kolonisation« und ihre Einzelfälle möglich: Die aufstrebenden »Colonien« überflügelten oftmals ihre »Mutterstaaten«, was dazu führte, dass flexibel und bedürfnisorientiert mit dem Pietätsverhältnis umgegangen worden sei.55 Westermann ging noch weiter und stellte das Pietätsverhältnis selbst zur Disposition: »Wenn dennoch dieses Pietätsverhältnis nicht selten gelockert oder ganz gebrochen wurde, so lag der Grund theils in der Gemischtheit der Colonisten, theils in der zum Handel günstigen Lage, wodurch die meisten Colonien schnell zu hohem Wohlstande gediehen, jeglicher beistand von Seiten des meist ärmeren Mutterstaats entbehrlich und die Colonie selbst in ihrer politischen Entwicklung rascher vorwärts getrieben wurde, theils endlich in dem Uebermuthe und der Gewaltthätigkeit von der einen oder der anderen Seite.«56
Eine zentrale Stellung im Zuge der »griechischen Kolonisation« bekam das Orakel von Delphi zugeschrieben. Dies lag vor allem an der Bemühung, bei allem Partikularismus dem griechischen »Volk« gemeinsame, verbindende Einrichtungen zu identifizieren. Auch hierfür wurde auf die religiöse Sphäre Rekurs genommen: »Festgemeinschaften«/Panegyreis und Amphiktyonien wurden eine zentrale Rolle als vermittelnde Elemente zwischen den einzelnen »Staaten« eingeräumt.57 Auch für die »griechische Kolonisation« war mit dem delphischen Orakel eine panhellenische Instanz greifbar, das als Fixpunkt einer »kolonialen« Aussendung gesehen werden konnte. »In dieser Zeit war Befragung des delphischen Oracels gebräuchlich, das früher mehrmals ihm zur Verfügung gestellte Mannschaft ausgesandt hatte, und auf dessen Weisung jetzt geweihte Zehntscharen […] nach Art des altitalischen Ver sacrum, in die Fremde geschickt wurden; die delphische Priesterschaft, sicherlich in der Erdkunde jener Zeit nicht unerfahren, war wohl im Stande guten Rath zu geben.«58
Gerade der letzte Satz beinhaltet jene Rationalisierung der Fähigkeit des Orakels, die es erlaubte, die Sprüche der Pythia als Ursache für die »griechische Kolonisation«
54 WACHSMUTH 1844: 147. 55 Ebd.: 147-149. 56 WESTERMANN 1842: 503f. 57 Siehe hierzu etwa WACHSMUTH 1844: 149-152. 58 WACHSMUTH 1844: 99 und auch HERMANN 1836: 157.
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akzeptieren zu können: In Delphi hatte sich ein entsprechendes Wissen über die Gegebenheiten des Mittel- und Schwarzmeerraumes akkumuliert. 59 Den antiken Äußerungen, die von der Konsultation von Orakeln durch die oikistai berichteten, konnte somit Vertrauen geschenkt werden. Barbaren Im Unterschied zu den Vorgängerwerken, wo oftmals lediglich beiläufig das Bild unzivilisierter »Wilder« gezeichnet wurde, wurde nun auch das Verhältnis der griechischen »Kolonisatoren« zu den Barbaren stärker berücksichtigt. Dies hing auch mit der Systematisierung des Wissens gemäß dem Ordnungsmuster des Staatswesens zusammen: Für die Beschreibung einer »Kolonisation« galt es sowohl die Beziehungen zur Metropole zu klären, als auch zu den Anderen. Die den Barbaren gewidmeten Passagen blieben in der Regel knapp gehalten. Die Rollen waren allerdings auch klar verteilt, wie bei Benjamin Jowett: »Nature herself seemed to intend that the Greek should rule and the barbarian obey«60. Er lieferte somit auch eine explizite Begründung, indem er die Überlegenheit der Griechen als »natürlich« einstufte. Wir befinden uns somit auf der Schwelle zur biologistisch-rassistisch argumentierten Überlegenheit der »Europäer«. Die Phase der contraction des europäischen Kolonialsystems lag hinter diesen Autoren. Nunmehr wurde erneut expandiert, was besonders für den britischen Vormarsch am indischen Subkontinent und der französischen Eroberung Algeriens galt und was auch Auswirkungen auf die Repräsentationen der Anderen hatte.61 Dementsprechend fiel auch Thirlwalls Charakterisierung dieses Verhältnisses aus: »With regard to the position of the colonists in their new country, it must be observed, that they almost everywhere established themselves as conquerors, in a land already inhabited and cultivated, and partially if not entirely dispossessed its ancient owners. The terms on which they might live with those of the old inhabitants who were suffered to remain, would depend on an infinite variety of circumstances. But in general it may be safely presumed, that even where the first people was not reduced to bondage or to absolute subjection, the conquerors would maintain a superior station in their political institutions.«62
59 Wachsmuth berief sich hierbei auf Wilhelm Göttes Das delphische Orakel in seinem politischen, religiösen und sittlichen Einfluß auf die alte Welt (Leipzig 1839), genaugenommen auf die Seiten 239-253. 60 JOWETT 1842: 242. 61 Siehe etwa Pagden 2003: 140-145 und Fredrickson 2004: 53-100. Vgl. auch Snodgrass 2005: 50f. 62 THIRLWALL 1835-47: II. 99.
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Aufälligerweise war die deutschsprachige Altertumswissenschaft in dieser Frage weniger apodiktisch. Zwar wurde die grundsätzliche Überlegenheit der Griechen nicht in Frage gestellt, der Ausgang des Aufeinandertreffens wurde jedoch offener gehalten, was sich auch anhand der Quellen untermauern ließ. Karl Friedrich Hermann schrieb etwa: »Fast alle Colonien finden sich deshalb an der Küste und hatten nicht selten an den Einwohnern des Binnenlandes hartnäckige Feinde; überwanden sie dieselben, so trat gewöhnlich ein Periökenverhältnis ein [in einer Fußnote wird auf Strabon: VI. 2. 2. verwiesen, MM]; manche wurden auch früher oder später ein Opfer dieses Kampfes.«63
II.2.2 ZUSAMMENFASSUNG Es sind weniger inhaltliche Modifikationen bei den Betrachtungen der »griechischen Kolonisation«, die diesen Querschnitt kennzeichnen. Eines der wenigen Beispiele ist der größere Raum, der dem Griechen-Barbaren-Gegensatz, gewidmet wurde, wobei sich inhaltlich lediglich eine Zuspitzung der griechischen Überlegenheit bemerkbar macht. Gravierender – gerade für die deutschsprachige Forschung – war die Einordnung des Wissens in einen neuen Deutungsrahmen, den das etatistische Paradigma bot, was nicht zuletzt der Legitimierung und Professionalisierung des Faches diente: Die Abgrenzung von den »geistlosen Compilationen« der Vorgänger sollte die rigorose Unterwerfung unter eine paradigmatische Ordnung des Wissens zur Vergangenheit verdeutlichen. Dies bedeutete ein Ende der Beliebigkeit im Umgang mit der Antike, wie sie etwa durch Wilhelm Wachsmuth illustriert worden ist: »Amerika’s Kampf gegen das Mutterland hat, wie Schriften über Colonien, so Parteilichkeit darin erzeugt. Heyne […] legt zu viel Gewicht auf der Korinthier anmassende Reden, Sainte-Croix erklärt sich in seiner Parteischrift für Amerika […] für die möglichste Zerrissenheit der Colonialbande.«64 Allen diesen Werken habe der objektivierende Fokus auf eine Rekonstruktion der »Staatsverhältnisse« gefehlt, weshalb es zu einer tendenziösen Auslegung der antiken Quellen gekommen sei. Das Beispiel der Rekonstruktionen der »griechischen Kolonisation« zeigt, dass der Effekt dieser Wissensordnung keine völlige Umwälzung des Wissens war, sondern er in der Praxis unterschiedlich ausfallen konnte. Grundsätzlich wirkten sich diese Modifikationen mehr auf die heuristische Organisation des Materials als auf konkrete Inhalte aus. Aus diesem Grund behielt auch Raoul-Rochettes vierbändige Untersuchung nach wie vor den Status eines Referenzwerks: In allen vier untersuchten Nachschlagewerken wurde es angeführt und Hermann hob es sogar gesondert als primäre Sekundärliteratur zur »griechischen Kolonisation« hervor. Und um erneut Wilhelm Wachsmuths 63 HERMANN 1836: 157. 64 WACHSMUTH 1844: 147, Fn. 22.
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Einschätzung zu zitieren: »Ich verzichte auf eine Erörterung der Sagen von Colonieen vor der dorischen Wanderung, die mit unverwüstlicher Altgläubigkeit Raoul-Rochette zur Füllung von fast zwei Bänden verarbeitet hat […].«65 Die Art und Weise, wie Raoul-Rochette die antiken Quellen zur als rekonstruierbar erachteten griechischen Vergangenheit verarbeitet hatte, war nicht in Widerspruch zu den Deutungsmustern geraten. Hinsichtlich vieler Wissenselemente, wie etwa der Unabhängigkeit der apoikiai, kam es zu einer Festigung bereits kommonsensualer Positionen. Ähnliches galt auch für die Wahrnehmung des Griechen-Barbaren-Gegensatzes aus der britischen Perspektive, wobei hierbei die zeitgenössischen Ausformungen des kolonialen Paradigmas entscheidend waren. Insgesamt lässt sich ableiten, dass bei jenen Elementen, die mit den Deutungsparadigmen konform gingen, deduktiv-verallgemeinernd vorgegangen werden konnte. Wissenselemente, die weniger den Paradigmen entsprachen, wurden freigegeben für eine genauere Quellenanalyse, was wie im Fall der rückbezüglichen Gebräuche nach der Gründung einer apoikia durchaus zu einer Nuancierung der historischen Rekonstruktionen führen konnte. Für die antiken Quellenäußerungen bedeutete dies entweder, dass sie die auf den Paradigmen beruhenden Vorstellungen belegten, oder aber in ihrer Individualität ernst genommen werden konnten, wenn dies keiner allgemeinen Vorstellung widersprach.
65 WACHSMUTH 1826: 49.
II.3 Die »griechische Kolonisation« im Age of Empire Querschnitt 2
Dieser Querschnitt umfasst das letzte Viertel des 19. Jh., in dem die universitäre Institutionalisierung altertumswissenschaftlicher Fächer auch außerhalb des deutschsprachigen Raums vorangetrieben wurde.1 Die der »europäischen« Antike gewidmete Wissenserzeugung und -vermittlung erhielt somit die ihrer Rolle im bürgerlichen Bildungskanon entsprechende strukturelle Absicherung. Die Zahl der in diesem Bereich tätigen Personen, der Publikationsmöglichkeiten und folglich auch der Publikationen wuchs besonders im deutschsprachigen Raum an. 2 Dies betraf auch die »griechische Kolonisation«, was sich anhand der entsprechenden Literaturverweise in den der Antike gewidmeten Überblickswerken zeigt: Nunmehr konnte auf eine größere Zahl an rein dieses Themenfeld behandelnde Werke wie Dissertationsschriften3 oder Abhandlungen in den Programmschriften von Gymnasien verwiesen werden.4 Letztere belegen auch den engen Konnex zwischen sekundärem und tertiärem
1
Siehe grundlegend Middell/Lingelbach/Halder 2001: 31f. Zu Frankreich siehe etwa Raphael 1993: 110. Zu den Reformen des Bildungsministers und Althistorikers Victor Duruy und seiner Nachfolger Lingelbach 2003: 96-130 und 195-206. Zu Großbritannien Kenyon 1983: 144-183 und Osterhammel 1993: 163.
2 3
Vgl. Christ 2006: 15. Hierunter fallen: Gustav Diesterweg: De jure coloniarum Graecarum (Berlin 1865) sowie die auf altgriechisch verfasste Dissertationsschrift mit dem (lateinischen) Titel De conditorum coloniarum Graecarum indole praemiisque et honoribus (Leipzig 1873) von Spyridon Lambros (1851-1919), der nach seinem Studium in Leipzig und weiteren Studienaufenthalten 1890 an die Universität von Athen berufen wurde.
4
Hierzu zählen: Albert Friedrich Gottschick (1807-71): Beiträge zur Geschichte und Bedeutung der hellenischen Colonien im Programm des königlichen Pädagogiums zu Putbus von 1856, angeführt durch OEHLER 1894: 2828 und BUSOLT 1887: 69. Zudem wurde in der RE
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Bildungssektor. Die belehrende Vermittlung der Antike beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Jugend: Deutschsprachige Handbücher zur Altertumskunde führen in den Bibliographien zur »griechischen Kolonisation« meist auch die Rede Die Griechen als Meister der Colonisation von Ernst Curtius an, gehalten am 22. März 1883 anlässlich des Geburtstages von Kaiser Wilhelm I. in der Berliner Akademie der Wissenschaften und in weiterer Folge publiziert in einer gesammelten Ausgabe seiner Schriften.5 Die Expansion der Wissensproduktion war verknüpft mit einem Gefühl des Fortschritts in den Altertumswissenschaften. Dies drückte sich wiederum im Bedürfnis aus, die Überblickswerke zu aktualisieren. Dieser Querschnitt kann deshalb an einen Zeitpunkt andocken, zu dem im deutsch-, englisch- und französischsprachigen Raum Neuauflagen und Neuerscheinungen von Nachschlage- und Überblickswerken veröffentlicht wurden. William Smith schrieb etwa im Vorwort zur dritten Auflage seines Dictionary von 1890: »[T]hese years have been a period of quite exceptional activity both in classical research and exploration; and in most, and indeed nearly all, the subjects treated in this work, recent treatises and recent discoveries have amplified or superseded much of the information which was available for the writers of the articles in the former Editions.«6
Die aufblühende archäologische Forschung war hier mit eingeschlossen, für das engere Themenfeld der »griechischen Kolonisation« spielte sie allerdings zu dieser Zeit nur eine marginale Rolle. Iwan Müller (1830-1917), der Herausgeber des Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft, fügte dieser Fortschrittseuphorie eine kritische Note hinzu, wenn er eine weitere Motivation für eine Aktualisierung von Überblickswerken anführt: »Angesichts der seit Jahrhunderten aufgestapelten Litteratur und der durch die monographische Schriftstellerei unserer Tage beförderten Zersplitterung der Wissenschaften diese Notwendigkeit zu leugnen, würde geistige Blindheit verraten oder die hochmütige Unempfindlichkeit der
auf den Artikel Über die Colonisation bei den alten Hellenen von Hellmuth Dondorff aus den Neue Jahrbücher für Philologie und Paedagogik 62, 1892 (S. 37ff., 82ff. und 117ff.) verwiesen, eine von Alfred Fleckeisen und Hermann Masius herausgegebene Zeitschrift die – wie der Titel verrät – an der Schnittstelle zwischen Gymnasium und Universität angesiedelt war. 5
CURTIUS 1892: Angeführt durch OEHLER 1894: 2828 und BUSOLT 1887: 69. Eine weitere erwähnte Schrift Ernst Curtius’ ist Die Griechen in der Diaspora (CURTIUS 1882).
6
SMITH 1890: vii. Vgl. auch das Editorial von Georg Wissowa (WISSOWA 1894: iii) zur Konstatierung der Notwendigkeit der Neubearbeitung der Realencyclopädie.
Die »griechische Kolonisation« im Age of Empire | 259
reinen Spezialisten kennzeichnen, die unbekümmert um das, was ausserhalb ihres Einzelzweiges liegt, weder der Entwicklung des grossen Ganzen noch auch der übrigen Zweige ihrer Wissenschaft Verständnis und Interesse entgegenbringen.«7
Überblickswerke sollten also einerseits der gesellschaftlichen Wissensvermittlung und somit der Überbrückung der wachsenden Kluft zwischen professionalisierten Historikern und außerwissenschaftlichem Publikum dienen. Anderseits sollten sie für das Fach selbst Orientierung bieten und zwischen Detailstudien und dem »grossen Ganzen« vermitteln. Dies umso mehr, als dieses »grosse Ganze« auf das Engste mit dem wissenschaftlichen Anspruch der Altertumswissenschaften verknüpft war: Ein lebendiges, vollständiges Abbild der Griechen zu rekonstruieren. Ein halbes Jahrhundert nach den ersten Auflagen der Enzyklopädien Paulys und Smiths erfuhren beide eine umfassende Neubearbeitung. Ab 1890 hatte der klassische Philologe Georg Wissowa (1859-1931) die Aufgabe übernommen, den Pauly neu herauszugeben – ein Mammutprojekt, das nahezu ein Jahrhundert in Anspruch nehmen sollte: Der letzte Band von Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften (RE) mit dem Buchstaben Z erschien 1972. Ebenfalls 1890 wurde die mittlerweile dritte Überarbeitung von Smiths Dictionary aufgelegt, das auf zwei Bände angewachsen war.8 Eine Neuerscheinung war hingegen das Produkt eines französischen Prestigeprojekts der Erstellung einer eigenen, der Antike gewidmeten Enzyklopädie: Das Dictionnaire des Antiquités Grecques et Romaines von Charles Daremberg (1817-1872) und Edmond Saglio (1828-1911), vollendet vom Kunsthistoriker und Archäologen Edmond Pottier (1855-1934), wurde zwischen 1877 und 1919 in fünf Bänden aufgelegt. 9 Unter dem Lemma »colonia« wurden im
7 8
MÜLLER 1886: vf. Für die dritte Ausgabe fungierten neben William Smith selbst William Wayte (1829-1898) und George Eden Marindin (1841-1939; zu dieser Zeit am University College London tätig) als Herausgeber. Wayte repräsentiert ein Spezifikum der britischen Historiographie: Er war ein Geistlicher, der seit 1876 Professor of Greek am University College war. Auf der Insel bestand somit nach wie vor eine enge Verknüpfung von geistlicher Laufbahn, Wissensvermittlung und Historiographie. Vgl. Stray 1998: 221.
9
Die Ursprünge reichen weiter zurück: Ein erster Vertrag mit dem Verlag wurde 1855 geschlossen. Daremberg war von der universitären Ausbildung her Mediziner und Saglio Jurist. Dennoch gelangten beide in das Feld der historischen Forschung und Saglio wurde 1887 Mitglied der Académie des inscriptions et belles-lettres. Siehe Valenti 2006. Ihre Biographien zeugen von den noch begrenzten Möglichkeiten einer universitären Laufbahn in Frankreich. Erst in der Generation Pottiers gab es diesbezüglich allmählich Veränderungen. Er selbst wurde an der École française d’Athènes unterrichtet, eine der zentralen Ausbildungsstätten für Spezialisten in Alter Geschichte, Archäologie und Philologie, die seit
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Dictionary wie im Dictionnaire sowohl die griechischen als auch die römischen »Kolonien« abgehandelt. Im Fall der dritten Auflage des Dictionary verfasste Louis Claude Purser (1854-1932), Fellow am Trinity College in Dublin, den Eintrag.10 Im französischen Dictionnaire (der entsprechende Beitrag erschien 1887 im zweiten Teilband des ersten Bandes) war es Exupère Caillemer (1837-1913), eigentlich ein Jurist, aber auch Mitglied der Académie des sciences, belles-lettres et arts in Lyon. Im Anschluss daran verfasste der Assyriologe und Archäologe François Lenormant (1837-83), der zwischen 1879 und 1883 in Süditalien Ausgrabungen durchgeführt hatte,11 einen Abschnitt zu »Monnaies des colonies grecques«.12 Lediglich in der RE wurde der »Ἀποικία [Apoikia]« ein eigenständiger Artikel zugewiesen (im zweiten Teilband des ersten Bandes von 1894), den Johann Oehler (1857-1921), zu diesem Zeitpunkt Gymnasiallehrer in Linz, geschrieben hatte. Aus dem Bereich der Handbücher soll ein zentrales deutschsprachiges Beispiel herangezogen werden (in Frankreich und England gab es zu diesem Zeitpunkt keine im Umfang und Anspruch vergleichbare Projekte): Der bereits zitierte Iwan Müller editierte ab 1886 sein Handbuch der klassischen Altertumswissenschaften in systematischer Darstellung. Dieses Werk erlangte den Status eines Klassikers und existiert als Handbuchreihe unter dem Titel Handbuch der Altertumswissenschaft bis heute. Unter diesem Dach verfasste einerseits Robert Pöhlmann (1852-1914), zu diesem Zeitpunkt Professor für Alte Geschichte in Erlangen, 13 die »Grundzüge der politischen Geschichte Griechenlands« im dritten Band zur Geographie und politische Geschichte des klassischen Altertums, andererseits Georg Busolt (1850-1920; zu diesem Zeitpunkt Professor für Alte Geschichte in Kiel)14 den Abschnitt zu den »Staatsund Rechtsaltertümern« im Band 4/1: Die griechischen Staats-, Kriegs- und Privat-
1850 der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres unterstellt war. Siehe hierzu Lingelbach 2003: 52ff. Zur Biographie Pottiers: Gran-Aymerich 2001: 543f. Die Académie erfüllte somit nach wie vor die Aufgabe, gewisse Strukturen für wissenschaftliche Forschung zu bieten. Ein Beispiel aus dem Forschungsfeld der »griechischen Kolonisation« sind etwa Wladimir Brunet de Presles’ (1809-1875) Recherches sur les établissements des Grecs en Sicile (Paris 1845), die 1842 den Preis der Académie des inscriptions et belles-lettres gewonnen hatte. 10 Der colonia-Artikel in Smiths Dictionary war bereits für die zweite Auflage von 1849 einer Aktualisierung unterzogen worden, verfasst von Benjamin Jowett. Dieser wich jedoch kaum von Smiths Eintrag aus der ersten Auflage ab. Angefügt wurde allerdings Jowetts Beitrag zu Kleruchien, der in der ersten Ausgabe noch eigenständig war (JOWETT 1842). 11 Gran-Aymerich 2001: 406f. 12 LENORMANT 1887. 13 Siehe Christ 1999: 125-150 und 2006: 30f. sowie Schneider 2012. 14 Siehe Christ 1999: 52-58 und 2006: 28f. sowie Linke 2012.
Die »griechische Kolonisation« im Age of Empire | 261
altertümer. Die internationale Wertschätzung der deutschsprachigen altertumswissenschaftlichen Nachschlagewerke war nach wie vor hoch.15 Von deutscher Seite wiederum wurde ein Nachholbedarf gegenüber den britischen, die politische Geschichte Griechenlands überblickenden Werken eingeräumt, als deren Kulminationspunkt George Grotes (1794-1871) mehrbändige History of Greece angesehen wurde.16 Erstmals veröffentlicht 1846-1856, erlebte sie mehrere Neuauflagen. Im Folgenden wird dem Zeitrahmen des Querschnitts entsprechend auf eine Ausgabe von 1888 zurückgegriffen. Die breit angelegte Auseinandersetzung Robert Pöhlmanns mit diesem Werk im Rahmen seiner Besprechung der vorliegenden Literatur zur Geschichte Griechenlands illustriert eindrücklich die Rolle des etatistischen Paradigmas gerade für die deutschen Altertumswissenschaften.
II.3.1 LEITENDE PARADIGMEN Robert Pöhlmann fand für die Popularität dieses Werks in der Einleitung seiner Grundzüge der politischen Geschichte Griechenlands folgende Erklärung: »Sind es doch die Engländer, welchen eine hochentwickelte, dem Weltverkehr zu verdankende geographische Phantasie, sowie die Analogien des heimischen Lebens: Staatsberedsamkeit und Volksgerichte, die freieste Entfaltung des politischen Parteilebens, die maritime und merkantile Entwicklung, die Kolonisation, – alles typische Momente auch der hellenischen Volksgeschichte – das Verständnis der letzteren in ganz besonderem Grade nahe bringen mussten.«17
Diese Äußerung zeigt einerseits das Gewicht, das der »griechischen Kolonisation« im Rahmen der griechischen Geschichte beigemessen wurde. Andererseits den Topos der Ähnlichkeit Großbritanniens mit dem antiken Griechenland. Als Konsequenz hätten die britischen Gelehrten die hermeneutischen Prädispositionen, um sich in die griechische Geschichte hineinversetzen zu können. Dies habe besonders für Grote gegolten: »Bei Grote verbindet sich die staatsmännische Auffassung des in einer langjährigen parlamentarischen Schule gereiften Politikers mit dem klaren und scharfen Blick des praktischen Geschäftsmannes, eine Vereinigung, aus der sich – bei den Analogien englischen und hellenischen Lebens – eine wahrhaft lebendige Anschauung der politischen, wie der sozialen Zustände des Altertums ergab.«18 15 Siehe etwa SMITH 1890: viiif. 16 Siehe Christ 1999: 23-25 und Nippel 2013: 190-213. 17 PÖHLMANN 1889: 355. 18 Ebd.: 357.
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Diese Passagen verweisen auf die beiden leitenden Paradigmen, die die Erforschung der »griechischen Kolonisation« betrafen: Zunächst die tief verwurzelte Überzeugung, dass die moderne Kolonisation ein Deutungsmuster für die antiken »Kolonisationen« war. Zugleich spielt bei dieser Darstellung auch das etatistische Paradigma eine Rolle. Pöhlmann betonte auch in diesem Kontext die Vorreiterrolle der deutschsprachigen historischen Wissenschaft: Die britische Historiographie habe »auf den von der deutschen Spezialforschung gelegten Grundlagen« aufbauen können.19 Zudem verrät der Blick des deutschen Universitätsprofessors Pöhlmann auf Grote, der erst nach seinem Ausstieg aus der väterlichen Bank und der Beendigung einer politischen Laufbahn sich dem Studium der Antike gewidmet hatte, das Selbstbewusstsein eines Vertreters eines methodisch eingehegten Faches: Grote blieb doch ein Laie. Hierbei ist anzumerken, dass im Unterschied zu Deutschland die britische Historiographie nie dieselbe hegemoniale Position erlangte. Jürgen Osterhammel bemerkt hierzu, »daß in Großbritannien akademische Historiker niemals ein Monopol auf gesellschaftlich akzeptierte Geschichtsdeutung erlangt haben. Außeruniversitäre Geschichtsschreibung wurde und wird in höherem Maße anerkannt als auf dem Kontinent. Als ›historian‹ galt und gilt, wer sich nach ernsthafter Bemühung um die Tatsachen verständlich über Geschichte zu äußern versteht.«20
Das etatistische Paradigma Das Selbstverständnis der deutschsprachigen Historiographen beruhte nicht zuletzt auf dem etatistischen Paradigma, das einen übergeordneten methodologischen Verstehensrahmen geschaffen hatte, der auch zur Abgrenzung von Uneingeweihten dienen konnte: »Freilich ist auf der anderen Seite nicht zu verkennen, dass in der Art, wie es Grote gelingt, den widerspruchsvollen und lückenhaften Quellen Ergebnisse von einleuchtender Wahrheit abzugewinnen, mehr der geniale kritische Takt, der grosse und sichere historische Blick sich dokumentiert, als eine methodische Durchbildung der Quellenkritik. Es ist Grote doch nicht so ganz mit Unrecht ein gewisser Probabilismus in der Auswahl und Beurteilung der Quellenzeugnisse vorgeworfen worden […] der Mangel an einer genügenden Prüfung der gesamten schriftstellerischen Individualität und allgemeinen Glaubwürdigkeit der Autoren. Auch ist die Unbefangenheit des Urteils keineswegs immer so weit gewahrt, als es bei dem aufrichtigen Streben des Verfassers nach historischer Objektivität scheinen möchte.«21 19 PÖHLMANN 1889: 357. 20 Osterhammel 1993: 165. 21 PÖHLMANN 1889: 357f.
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Trotz des Pochens auf die Wissenschaftlichkeit altertumswissenschaftlicher Erkenntnis, wo der »Probabilismus« durch quellenkritische Kohärenz ersetzt worden sei, kam Pöhlmann nicht umhin, Grotes Werk dennoch zumindest eine Ebenbürtigkeit einzuräumen: »Bei alledem bleibt aber das Buch ein standard work und steht – im Ganzen genommen – noch immer unübertroffen da, so bedeutsame Nachfolger es auch – insbesondere in Deutschland gefunden hat.«22 Dies lag wohl eben an der inhaltlich gelungenen, einfühlenden Rekonstruktion, gekennzeichnet durch eine »grossartige Auffassung der Geschichte als einer kontinuierlichen Kulturgeschichte« und eine »umfassende und eindringende Kenntnis des gesamten Quellenmaterials«.23 Werden die konkreten Rekonstruktionen der »griechischen Kolonisation« selbst betrachtet, so lassen sich zumindest auf dieser Ebene keine vermeintlich methodischqualitativen Unterschiede feststellen. Eine der wohl bekanntesten Werke zur Griechischen Geschichte des deutschsprachigen Raums stammte von Ernst Curtius (1814-1896; seit 1868 Professor für Archäologie in Berlin).24 Dieses Werk war – wie jenes von Grote – ein großer publizistischer Erfolg: Erstmals veröffentlicht 1857, fiel die sechste, überarbeitete Auflage von 1887 in den Zeitraum dieses Querschnitts. Curtius’ Außenwirkung war generell beachtlich, was ihm nicht zuletzt den Posten des Hoflehrers von Kronprinz Friedrich Wilhelm einbrachte. Sein Philhellenismus und seine offensiv betriebene Indienststellung des Wissens der Antike für die Gesellschaft wurde jedoch fachintern auch kritisch gesehen, was eine Friktion zwischen dem nüchternen und objektiven Habitus eines Universitätsprofessors mit der Rolle der Altertumswissenschaften als Vermittlerin von Orientierungswissen für die Gesellschaft anzeigt. 25 Pöhlmann bemängelte in diesem Sinne, dass »[…] die populäre Tendenz der Weidmann’schen Sammlung, zu welcher das Buch gehört, eine eigentliche Beweisführung und kritische Erörterungen nicht gestattet, sondern nur eine möglichst anziehende erzählende Darstellung, über deren Begründung der Leser im Unklaren bleibt: Ein Übelstand, der durch die vom Verfasser später zur Rechtfertigung und Erläuterung hinzugefügten Anmerkungen nur sehr teilweise ausgeglichen wird.«26
Erneut war Pöhlmanns Bewertung zwiespältig. Einerseits war er voll des Lobes: »Hier treten auch alle Vorzüge der Curtius’schen Geschichtsschreibung glänzend zu Tage: die Feinfühligkeit für alle kulturgeschichtlichen Probleme, die lebendige Veranschaulichung der 22 PÖHLMANN 1889: 358. Siehe hierzu Nippel 2013: 210f. 23 PÖHLMANN 1889: 357. 24 Siehe zu Curtius: Christ 1999: 32-42, Marchand 2003: 77ff. und Joho 2012. 25 Siehe etwa Marchand 2003: 78 und 108f. und Christ 2006: 24. 26 PÖHLMANN 1889: 360.
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treibenden Kräfte und Ideen, die feinsinnige Würdigung der leitenden Individuen, die treffende Charakteristik des Volkstümlichen, insbesondere der eigenartigen Sonderentwicklungen innerhalb des Volksganzen, der Stämme und Städte. Dabei hat Curtius auch vor Grote und Duncker den Vorzug voraus, dass er infolge eines mehrjährigen Aufenthalts in Hellas die eindringendste persönliche Kenntnis der hellenischen Landesnatur und des südlichen Lebens besitzt; – eine Kenntnis, die, wie schon in dem schönen Buche über den Peloponnes, so auch in seiner griechischen Geschichte zum glänzendsten Ausdruck kommt.«27
Das (antike) jeu de vérité der Autopsie spielte somit auch bei dieser Würdigung eine Rolle: Curtius sah Hellas mit eigenen Augen, was ihm ein besseres Einfühlungsvermögen verschafft hätte – ähnlich dem Einfühlungsvermögen der Briten, die ja gewissermaßen eine analoge Geschichte erlebten. Allerdings hat Curtius’ Geschichte andererseits die entscheidende Schwäche, dass sie nur eine oberflächliche Beschreibung Griechenlands biete, also dem etatistischen Paradigma nicht vollständig entsprach: »Schade, dass hinter der lebendigen Vergegenwärtigung von Land und Leuten die Behandlung des höchsten Organismus der Gesellschaft, des Staates, beträchtlich zurückbleibt. Was die Schärfe und Klarheit der staatsrechtlichen Begriffe und die staatswissenschaftliche Bildung überhaupt betrifft, kann sich Curtius mit Historikern wie Grote und Duncker doch nicht messen. Die Auffassung der politischen Vorgänge hat etwas Äusserliches und Schematisches.«28
In diesem Fall schien das an der politischen Praxis geschulte Staatsverständnis Grotes die altertumswissenschaftliche Schulung von Ernst Curtius auszustechen. Die zuletzt zitierte Passage macht jedenfalls deutlich, was die deutsche Historiographie als ihr Alleinstellungsmerkmal begriff: Das Bemühen, die essentialisierte Entität »Staat« in all ihren Ausformungen zu beschreiben und zu verstehen. Aus dieser wirkmächtigen Axiomatik ließ sich auch die Praxis der Deutung von Einzelphänomenen der griechischen Geschichte als konstituierende Elemente eines organischen griechischen Staatswesens ableiten. Die rudimentären Quellenäußerungen zu soziopolitischen Gegebenheiten stellten dementsprechend verallgemeinerbare Rohdaten für eine induktive Erschließung der dem hellenischen Staat inhärenten Gesetzmäßigkeiten dar. Dieser Vorgang war das Antidot gegen den »Probabilismus« von Laien wie Grote oder eine scheinbar nur oberflächliche historische Durchdringung wie sie Curtius im obigen Zitat vorgehalten worden ist. Es wurde nunmehr nicht willkürlich verallgemeinert, sondern methodisch und zielgerichtet auf das Wesentliche: den »höchsten Organismus« in Form des Staats. Ein spezifischer Verstehensrahmen wurde geschaffen, was zugleich ein Ausschlusskriterium für jene bedeuten konnte, die nicht über eine 27 PÖHLMANN 1889: 360. 28 Ebd.
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entsprechende Ausbildung in diesen Verstehensrahmen initiiert worden sind: Nicht mehr jeder war befähigt, über die Antike zu sprechen, was einen signifikanten Bruch zum 18. Jh. darstellt. Wie bereits im letzten Kapitel betont wurde, war dieses Interesse an der Entität eines ein »Volk« umfassenden »Staates« mit der Wahrnehmung der Zersplitterung der deutschen »Nation« verknüpft, wofür die »Staatenwelt« Griechenlands einen historischen Präzedenzfall darstellte. Dies blieb auch zeitgenössischen Beobachtern aus dem Ausland nicht verborgen. Fustel de Coulanges (1830-1889)29 schrieb 1872 – also kurz nach der Zäsur des Deutsch-Französischen Krieges und der deutschen Reichgründung 1871 in Versailles – über die Historiker des Nachbarlandes: »L’érudit allemand a une ardeur de recherche, une puissance de travail qui étonne nos Français; mais n’allez pas croire que toute cette ardeur et tout cette travail soient pour la science. La science ici n’est pas le but; elle est le moyen. Par delà la science, l’Allemand voit la patrie; ces savants sont savants parce qu’ils sont patriotes. L’intérêt de l’Allemagne est la fin dernière de ces infatigables chercheurs. On ne peut pas dire que le véritable esprit scientifique fasse défaut en Allemagne; mais il y est beaucoup plus rare qu’on ne le croit généralement. La science pure et désintéressée y est une exception et n’est que médiocrement goûtée. L’Allemand est en toutes choses un homme pratique: il veut que son érudition serve à quelque chose, qu’elle ait un but, qu’elle porte coup. Tout au moins faut-il qu’elle marche de concert avec les ambitions nationales, avec les convoitises ou les haines du peuple allemand.«30
Auch wenn diese stark verallgemeinernden Zeilen sicherlich geprägt waren von der Verbitterung über die Niederlage, entbehren diese Beobachtungen Coulanges’ hinsichtlich des Zusammenhangs von Geschichtsschreibung und Zeitläuften nicht einer gewissen Grundlage.31 Das koloniale Paradigma Was für die Entität Staat galt, galt auch für das Phänomen der Kolonisation, das ebenfalls zu einem überhistorischen, quasi-natürlichen historischem Faktum abstrahiert wurde. Der Historiker und Ökonomen Wilhelm Roscher (1817-1894)32 strebte dementsprechend in seinem Buch Kolonien, Kolonialpolitik und Auswanderung die »Grundzüge einer Naturlehre der Kolonien« an, wofür die antiken griechischen und römischen genauso wie die modernen Ausprägungen als Grundlage dienten. Gerade 29 Siehe Christ 1999: 42-6. 30 COULANGES 1893: 10. 31 Vgl. auch den ähnlichen Nationalismus-Vorwurf gegenüber der deutschen Historiographie des britischen Gelehrten John Acton: Tulloch 2000. 32 Siehe Kurz 2005.
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in seiner allgemeinen Typologie nimmt er stark auf die Antike Bezug (und lobt des Öfteren die Vorbildwirkung des Thukydides).33 Wohl nicht zuletzt deshalb wird auf dieses Buch in Smiths Dictionary und von Pöhlmann, der zudem bei Roscher in Leipzig studiert hatte, verwiesen.34 Gerade Pöhlmann suchte, mit expliziter Referenz auf Roscher, den »allgemeinen Entwicklungsgesetzen, welche das koloniale Leben beherrschen«, nachzuspüren.35 Die Grundlage der Übereinstimmung von griechischer und römischer »Kolonisation« mit der modernen europäischen Ausformung lag in der kulturellen Kontinuität, die zwischen Antike und Moderne gesehen wurde. Das Fortschrittsnarrativ der Moderne setzte bei den Griechen an, denen Europa seine Zivilisation verdankt habe. Edward A. Freeman (1823-1892), Regius Professor of Modern History in Oxford, drückte dies in seiner Rede Greater Greece and Greater Britain, gehalten am 22. Dezember 1885 vor der Students’ Association in Edinburgh, folgendermaßen aus: »The great thing to remember in these matters is that the men of the earliest days of civilized Europe, the elder brethren of the great historic family of which we ourselves are members, were neither, as men seemed to think a few generations back, being of a race above us, nor yet, as some seem inclined to think now, beings so far below us, or in a position so unlike our own, that their experience can be of no use to us. Either of these mistakes is alike fatal to a general grasp of the unbroken history of the world which the earliest days of Greece are one stage and the most modern days of England are another.«36
Neben einer kulturellen Auffassung von der europäischen Zivilisation kam in dieser Zeit noch eine weitere Komponente verstärkend hinzu: Zwischen Europa und dem Rest wurde nicht nur eine kulturalisierte Trennlinie gezogen, sondern auch eine rassifizierte. Edward J. Payne (1844-1904; Fellow in Oxford), der eine kompakte History of European Colonies (London 1877) verfasste, gab folgenden kurzen Überblick über die europäische Frühgeschichte: »First, we must figure to ourselves the peoples of Western Europe as a group apart from the rest of the world. Somewhere about 3,000 years ago certain peoples belonging to what is called the Aryan family of peoples started westward from the plateaux of Central Asia, and wandered into the southern parts of that great Asiatic peninsula which is called Europe. Others followed 33 Siehe ROSCHER/JANNASCH 1885: 2-51. Zu Roscher und seiner Rezeption der Antike vgl. Morley 2009: 22-47. 34 PURSER 1890: 474 sowie PÖHLMANN 1889: 374 und 78. 35 PÖHLMANN 1889: 378. 36 FREEMAN 1886: 60. Siehe zudem zu Freeman’s Bild der »griechischen Kolonisation« Shepherd 2005: 25-29 und insgesamt zum mittels der Antike, besonders Rom, unterfütterten imperialen Diskurs Vasunia 2013: 119-155.
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them, and settled in the middle and northern parts of the said peninsula; and those were the beginnings of the Greek, Roman, Celtic, and Teutonic peoples.«37
Payne fasste Europa zugleich auch als kulturellen Raum auf und hob explizit die Beiträge der Phönizier (Navigation, Kolonisation und Alphabet) und des Judentums (Monotheismus) hervor.38 Die Griechen bildeten somit sowohl in kultureller Hinsicht als auch gemäß der genealogisch-rassistischen Vorstellungen den Nukleus Europas. Das somit verstärkte historische Kontinuum seit der europäisierten Antike untermauerte die Heranziehung des Wissens zum verallgemeinerten, ebenfalls europäisierten Phänomen Kolonisation als Deutungshilfe beziehungsweise als Lückenfüller für das rudimentäre Quellenkorpus. Gleichzeitig wurde auch die Verwendbarkeit der antiken Ausprägungen für den zeitgenössischen Kolonialdiskurs gestützt. Curtius bemerkte in seiner Rede: »Die Geschichte der klassischen Völker ist eine Weltgeschichte im Kleinen, so inhaltreich und übersichtlich, daß wir auch für die Aufgaben unserer Zeit immer Neues lernen, je eifriger wir nachforschen, wie es den Alten gelungen ist, die von der Natur dargebotenen Vortheile zu verwerthen und die Gefahren zu vermeiden.«39
Im Age of Empire war der Kolonialdiskurs, insbesondere in seiner legitimierenden Funktion, von besonderer Relevanz.40 Für die dritte Auflage von Roschers Buch (Leipzig 1885) wurde ein zusätzliches Kapitel zu den »Deutschen Aufgaben in der Gegenwart« angefügt (verfasst vom Roscher-Schüler Robert Jannasch). Roscher bemerkte hierzu: »Die beiden ersten Ausgaben dieses Werks, 1848 und 1856 erschienen, waren bloß für die Gelehrtenwelt bestimmt, wie sich denn auch zu jener Zeit, bei aller Stärke der deutschen Auswanderung, nur ein sehr kleiner Theil unseres Volkes wissenschaftlich für die Kolonisation interessirte. Das ist Gottlob heutzutage anders geworden. In Reichstagsverhandlungen wie in Wahlreden, in Zeitungsartikeln wie in gesellschaftlichen Unterhaltungen spielt ›die Kolonialfrage‹ jetzt eine Hauptrolle.«41
Fustel de Coulange hatte 1872 den Gegensatz zwischen der deutschen und französischen Historiographie folgendermaßen auf den Punkt gebracht:
37 PAYNE 1877: 3f. 38 Ebd.: 7f. 39 CURTIUS 1892: 96. 40 Siehe etwa Hobsbawm 1989: 56-83 und Osterhammel 2009: 112-118. 41 ROSCHER/JANNASCH 1885: o.S.
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»L’histoire allemande avait, depuis cinquante ans, uni et aguerri l’Allemagne; l’histoire française, œuvre des parties, avait divisé nos cœurs, avait enseigné à se garder du Français plus que de l’étranger, avait accoutumé chacun de nous à préférer son parti à la patrie.«42
Tatsächlich kam es in der Troisième République zu einer verstärkten Hinwendung der französischen Historiographie auf die eigene Nation.43 Auch die koloniale mission civilisatrice sollte die Nation einen.44 Der Ökonom Paul Leroy-Beaulieu (18431916) schrieb im Vorwort zur zweiten Auflage von 1882 seines Werks De la colonisation chez les peuples modernes: »Chaque jour qui s’écoule nous convainc de plus en plus de l’importance de la colonisation en général, de son importance surtout pour la France. Aussi chaque occasion qui s’offre à nous faire comprendre à notre pays sa grande mission colonisatrice, nous la saissons avec empressement, par la parole et par la plume. Articles de journaux et livres de doctrine, allocutions ou cours publics, nous employons tous les moyens pour rappeler à la France qu’elle a été une grande puissance coloniale, qu’elle peut et doit le redevenir. […] La colonisation est pour la France une question de vie ou de mort: ou la France deviendra une grande puissance africaine, ou elle ne sera dans un siècle ou deux qu’une puissance européenne secondaire; elle comptera dans le monde, à peu près comme la Grèce ou la Roumanie compte en Europe.«45
Zur Verdeutlichung des Zusammenwirkens der Paradigmen des Staatswesens und der Kolonisation, sowie auch der wissenschaftlichen Befassung mit der Vergangenheit und ihrer Orientierungsfunktion kann Ernst Curtius’ Rede Die Griechen als Meister der Colonisation herangezogen werden. Diese Rede wurde eineinhalb Jahre vor der Kongokonferenz (Ende 1894/Beginn 1895) und dem eigentlichen Beginn der Annexion überseeischer Kolonialgebiete durch das Deutsche Reich gehalten. Dementsprechend kreiste sie primär um die Themen der Einheit des »Volkes« im Zusammenhang mit Emigrationen – baut also mehr auf einem kulturellen Verständnis von Kolonisation auf – und noch nicht so sehr um eine dezidiert imperiale Politik. »Nächst den Griechen hat kein Volk der Erde das, was es an Kraft besitzt, so zu einem Gemeingute der Menschheit gemacht, wie die Deutschen. Nach allen Richtungen haben sie den Ocean, der unser Mittelmeer ist, überschritten; in allen überseeischen Continenten haben sie die Wälder gelichtet, den Boden urbar gemacht, den Samen ausgestreut. Vaterlandslos, wie sie waren, haben sie sich unter fremdem Volk verloren und bei dem Ausbau fremder Staaten als 42 COULANGES 1893: 12. 43 Siehe Raphael 1993: 111-115. 44 Siehe hierzu Conklin 1997, Stuchtey 2010: 298-313 und auch Dietler 2010: 38f. 45 LEROY-BEAULIEU 1882: v und viiif.
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tüchtigste Werkmeister gearbeitet. Seit Kaiser Wilhelm ist es anders geworden. Seit er das Reichsbanner entfaltet hat, verläugnen die Überseeischen ihr Vaterland nicht mehr; sie fühlen sich stolz als Deutsche, sie reichen uns über den Ocean brüderlich die Hand, sie theilen mit uns Freude und Leid. Aber immer noch sind sie, wie die Hellenen an den etruskischen Küsten, Colonisten der Diaspora, kraftvolle Zweige vom Baum geschnitten, auf fremden Stamm gepfropft, um seine Krone zu füllen, Bausteine fremdländischer Staatengründungen, und wir fühlen Alle, wie schwierig es für uns ist das nachzuholen, was in günstigen Zeiten zu erreichen uns versagt war. Wenn es uns aber gelingen wird – und an Kaiser Wilhelm’s Geburtstag haben wir hohen Muth und starke Hoffnung –, daß der Ueberschuß deutscher Volkskraft in überseeischen Ansiedelungen beisammen bleibt und selbständig wirkt, dann sollen die Griechen in der rastlosen Energie, in dem steten Zusammenhange, den sie unterhielten und in der unauslöslichen Heimathstreue uns ein Vorbild sein, wenn wir auch keinem Volke wünschen können, daß die Colonieen eine solche Rolle bei ihm spielen wie bei den Hellenen. Bei ihnen ist ein übergroßer Theil des Volkslebens in Colonialgeschichte aufgegangen und darum von auswärtigen Verwicklungen abhängig gewesen. Darum sind alle größeren Volkskriege, der troische, der lelantinische, der persische und der peloponnesische, Colonialkriege gewesen und die Politik der hervorragendsten Städte war wesentlich Handels- und Colonialpoltik, weil sie, wie heute die englische Mutterinsel, ohne die Pflanzstädte gar nicht bestehen konnten. Das innere Gebirgsland war wie ein Magazin, in welchem sich, von städtischem Leben entlegen, unverbrauchte Naturkraft erhielt, wie noch heute das dortige Volksleben darauf beruht, daß aus dem Hochlande die begabteren Leute in die Küstenstädte zuwandern, das Volksleben erfrischen und dann selbst wieder in das Seevolk aufgehen. Wer kann verleugnen, daß die hellenische Volksentwickelung keine normale war, daß die excentrische Richtung des Volkslebens überwucherte und daß die Unzulänglichkeit des eigenen Bodens eine dauernde Unruhe hervorgerufen hat, wie sie ähnlich bei den Phöniziern stattgefunden hatte, und eine weite Zerstreuung der besten Volkskräfte, die für die Nachwelt ein Segen war, für das Volk selbst ein Keim des Untergangs! Haben wir doch den Eindruck, als wenn es mehr für Andere als für sich selbst gelebt und gearbeitet hätte! Unser Volk in seinem großen binnenländischen Vaterland bildet den vollkommensten Gegensatz zu hellenischer Landbildung mit ihren Vortheilen und Gefahren. Uns ist es nicht so leicht geworden, wie den glücklicher gestalteten Nachbarländern an Seefahrt, Welthandel und der damit verbundenen Blüthe einheimischer Gewerbe Theil zu nehmen.«46
Die Lektion, die daraus gezogen werden muss, ist, dass die Einheit des »Volkes« der Kolonisation vorausgehen sollte, damit das »Volk« von einer überseeischen Expansion profitieren kann. Kolonisation bedarf nicht nur einer politischen, sondern auch einer kulturelle Rückbezüglichkeit auf ein koloniales Zentrum sowie eines Gleichgewichts zwischen innerer Stabilität und Engagement nach außen. Neben dieser Übereinstimmung auf einer allgemeinen Ebene wurden auch konkretere Aspekte der griechischen Geschichte zur Verdeutlichung relevanter Lehren herangezogen. Curtius 46 CURTIUS 1892: 107-109.
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wechselte, je nachdem worauf er hinaus wollte, die Register. So konnte etwa der Gegensatz zwischen Vorreitern und Nachzüglern hervorgehoben werden: »Darum aber glaube man nicht, daß den Hellenen ihre Erfolge mühelos in den Schoß gefallen seien. Sie haben saure Lehrjahre durchgemacht und die Meeresnähe lange Zeit wie einen Fluch empfunden. Das mußte sie ihnen sein, so lange fremde Völker das Meer beherrschten, phönikische Kaperschiffe urplötzlich im Morgennebel auftauchten, die Eingeborenen mit buntem Tand an den Strand lockten, die Söhne und Töchter des Landes in unerreichbare Ferne fortschleppten. Auch in größerer Zahl wurden sie fortgeführt, um fremder Colonialpolitik als Material zu dienen, bis sie allmählich ihren Feinden das Handwerk ablernten, eigene Schiffe zimmerten und sich schaarenweise zusammenthaten, um in steten Beutezügen die erlittene Unbill an den älteren Seevölkern zu rächen.«47
Zudem bot sich der Gegensatz zwischen dem aufgrund seiner Lage notwendigerweise nach außen gerichteten Korinth, wo »die Politik des Staats wesentlich Colonialpolitik« war, und der »Landstadt« Athen an:48 »Als aber Athen aus seinen engeren Kreisen heraustrat und seemächtig wurde, waren nach zwei Jahrhunderten rastloser Colonisationsthätigkeit alle wohlgelegenen Küsten dicht besetzt. Es kam also darauf an, andere Ansprüche als die der Mutterstadt geltend zu machen, um weitzerstreute Küstenorte zu einem Ganzen zu vereinigen. Das war der nationale Gedanke, den die kleine Bürgergemeinde am Ilisos aufnahm; es war die heilige Pflicht der Abwehr gegen das Vordringen der Barbaren, die nur gelingen konnte, wenn die vereinzelt wehrlosen Städte den einzigen zur Fühlung berufenen Staat als Vorort anerkannten.«49
Mittels des Attischen Seebundes trat »an [die] Stelle einer auf Geldwirthschaft gegründeten Kaufmannspolitik eine nationale Aufgabe ersten Rangs, die Freiheit des griechischen Mannes, die Sicherheit hellenischer Cultur den ländergierigen Barbaren gegenüber«50. Auch dieser Vergleich ließ die Vorherrschaft Großbritanniens und den Unterschied, den man zwischen sich und dem British Empire ausmachte, anklingen. Aus der britischen Perspektive ergab sich aus den unterschiedlichen Umständen ein etwas anderes Interesse am antiken Griechenland. Hier waren es tatsächlich mehr die sozioökonomischen Gegebenheiten, auf die der Fokus lag. Edward J. Payne schrieb: »The shores of the Mediterranean have been the school of the world. It was here that most of the arts and sciences were first cultivated, and the first commercial supremacy was established. 47 CURTIUS 1892: 97f. 48 Ebd.: 101-105. 49 Ebd.: 102. 50 Ebd.: 102f.
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Commercial supremacy is always shifting, or tending to shift, from one nation to another: and the change in commercial supremacy is generally followed by a corresponding change in the supremacy of arts and sciences. Such a change, on a great scale, followed the enterprise of the Western European peoples on the Atlantic.«51
»Commercial supremacy« wurde eng mit Kolonisation verknüpft. Aus der britischen Perspektive ergab sich jedoch eine andere Interpretation: »Ever since the end of the fifteenth century the lead of the world in everything has been gradually transferring itself to the shores of the Atlantic; first to the western shores of Europe, and thence to the eastern shores of America.«52 Vergleiche mit der griechischen und der römischen »Kolonisation« dienten aufgrund der ihnen beigeordneten unterschiedlichen Eigenschaften auch unterschiedlichen Zwecken. In ersterer waren die »Kolonien« autonom, was dem Handel und der zivilisatorischen Entwicklung zu Gute kam. Das Imperium Romanum hingegen verfolgte eine Herrschaftspolitik. Aus einer das imperiale System befürwortenden Perspektive gab es somit ein klarer artikuliertes Interesse am Imperium Romanum und seinen Mechanismen zur Aufrechterhaltung seiner Hegemonie. Gut ersichtlich wird dies anhand der Rede Edward Freemans, der Vergleiche mit Rom dann zog, wenn es um das politische Verhältnis von Metropolen zu ihren Kolonien ging.53 Griechenland hingegen wurde bemüht, wenn es um Überlegungen zum politischen System (Stichwort Demokratie), um die europäische Zivilisation und ihre Ausbreitung ging,54 oder auch imperialismuskritische Positionen bezogen worden sind.55 Auch im prominentesten Überblickswerk zur griechischen Geschichte aus französischer Feder, Victor Duruys (1811-1894)56 Histoire Grecque (neu aufgelegt als dreibändige Histoire des Grecs im Jahre 1887-1889), findet sich diese Zweiteilung. Sein Kapitel zur »Grandeur et civilisation des colonies grecques« leitete er folgendermaßen ein: »Pour les rapports de la colonie avec la métropole, la Grèce et Rome représentent deux politiques contraires. L’une a obéi à l’esprit de liberté et y gagné de la gloire, l’autre à l’esprit de commandement et y a gagné de la force.«57 Eine besondere Pointe erhielt die Verknüpfung von Classics und Kolonisation im britischen Fall dadurch, dass bei der Gewichtung der Prüfungsfächer bei den Zulassungsprüfungen zum Indian Civil Service die Classics eine wichtige Rolle innehatten. Der
51 PAYNE 1877: 4. 52 Ebd.: 4f. 53 Siehe FREEMAN 1886: 55ff. 54 Ebd.: 10, 14 und 60f. 55 Vgl. Stuchtey 2010: 315 und ausführlicher Vasunia 2013: besonders 119-155. 56 Siehe Christ 1999: 25f. 57 DURUY 1887: 588.
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in Oxford lehrende Benjamin Jowett, der in der zweiten Auflage von Smith’s Dictionary den Eintrag zu »colonia« aktualisiert hatte, war einer derjenigen, die für die große Bedeutung des Wissens zur griechischen und römischen Sprache und Kultur eifrig lobbyierten. Dies hatte mehrere Hintergründe: Zunächst verhalf es den Absolventen der Universitäten, vor allem Oxford, gefolgt von Cambridge, Zugang zu prestigeträchtigen und gut bezahlten Posten in der Kolonialverwaltung. Zugleich wurde eine Schulung in Classics als Voraussetzung für einen gentleman angesehen. Nicht minder bedeutend war, dass diese zentrale Rolle der Classics ein Ausschlussmechanismus war: Nur mit dem entsprechenden Zugang zu Bildung war eine Karriere möglich. Dieser Mechanismus traf nicht zuletzt indische Bewerber, deren Anteil in der Kolonialverwaltung somit bewusst klein gehalten werden sollte.58
II.3.2 DAS DISKURSIVE FELD Systematisierung 1: Chronologie und grundlegende Eigenschaften In dieser Phase verstärkte sich der Ansatz, die Besiedlung Kleinasiens vom Phänomen der »griechischen Kolonisation« auszunehmen. Hatte Victor Duruy noch im ersten Band seiner Histoire des Grecs von 1887 die »colonies d’Asie mineure« als integralen Teil der »griechischen Kolonisation« behandelt und in ereignisgeschichtlicher Manier beschrieben,59 so hob Caillemer im Dictionnaire die Besiedlung der Ägäisinseln und der kleinasiatischen Küste von der eigentlichen »griechischen Kolonisation« ab und kategorisierte ersteren Prozess als »migrations«. Diese Abgrenzung ergab sich nicht zuletzt aus einer zunehmend (macht)politisch bestimmten Vorstellung der Relation einer kolonialen Metropole zu ihren Kolonien: Im Fall von Migrationen gäbe es keine wirkmächtigen Rückbindungen an ein koloniales Zentrum. Hinzu kam die Überzeugung, dass es sich um Gesamtemigrationen ganzer »Stämme« oder »Völker« gehandelt habe, angestoßen durch den Druck anderer ethnē (vor allem der Dorier), oder um Sezessionen aufgrund innerer Konflikte, was den Bruch mit dem Herkunftsort zusätzlich verstärkte. 60 Diese Argumentation kulminierte in der rhetorischen Frage: »Peut on regarder comme de vraies colonies tous ces établissements fondés sine consilio publico, sans l’assentiment, sans le patronage d’un État grec?«61 Eine derartige Unterscheidung einer absichtsvoll durchgeführten »colonisa-
58 Symonds 1986: 185ff., Stray 1998: 53f. und insbesondere Vasunia 2013: 193-235. 59 DURUY 1887: 537-587. 60 CAILLEMER 1887: 1297. 61 Ebd.: 1298.
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tion«, ausgehend von einem »staatlichen« kolonialen Zentrum von früheren »migrations«, vollzog auch Purser im Dictionary, wobei er explizit auf das zeitgenössische Verständnis von Kolonie verwies: »The Greek colonies, according to Wachsmuth [1844: 99f.], may be divided into three classes: (1) those settlements founded by whole races, such as the Aeolian, Ionian, and Dorian colonisation of the islands of the Aegean Sea and of the coast of Asia Minor; (2) city-colonies founded by cities, which comprise the trading factories which afterwards became cities; (3) cleruchies. With the first we are little concerned, for they are rather migrations of races than foundations of colonies; they did not start as a small section from a larger unity at home, but were rather parts of the great inner movement of the Greek races in early times. Besides, it is not to them that our thoughts turn when we speak of the Greek colonies. We think rather of the second class, and it is of these that we shall especially treat here.«62
Diese Frage der Eingrenzung des Phänomens war stets auch verknüpft mit der Perspektive, unter der Kolonisation betrachtet wurde. Ein breiteres Verständnis von Kolonisation lag daher dem universalisierenden Zugang Wilhelm Roschers zu Grunde: »A. daß ein mehr oder weniger altes Volk ein mehr oder weniger junges Land in Besitz nimmt; B. daß ein Theil des Volkes sich vom Ganzen ablöst.«63 Deutschsprachige Altertumswissenschaftler bauten zwar auch auf die Dichotomisierung in Wanderungen und ›eigentliche‹ Kolonisation auf, nahmen aber weniger eine typologische, sondern mehr eine historisch-genetische Position ein. Busolt schrieb: »Die Anfänge der griechischen Kolonisation reichen in die Zeiten der Völkerwanderung zurück, aus der die historischen Staaten hervorgingen. Fortsetzungen und Ausläufer der grossen Wanderung sind die Ansiedelungen auf den Inseln des aigaiischen Meeres und an der Westküste Kleinasiens. […] Als die Verhältnisse in Hellas eine festere Gestalt angenommen hatten, und die Pflanzstädte auf den Inseln und auf der Westküste durch Handel und Industrie aufblühten, da begann zugleich mit dem Rückgange der phönikischen Handelsmacht und dem Aufschwunge der hellenischen Schiffahrt eine neue Epoche der Kolonisation. Sie war bedingt einerseits durch die Interessen des Handels, der sich neue Gebiete zu eröffnen suchte, anderseits durch wirtschaftliche und politische Verhältnisse.«64
Die »Pflanzstädte auf den Inseln und der Westküste« wurden insofern als Teil des Phänomens gesehen, als sie sich am Übergang der formativen Phase zum historischen Griechenland befanden und zudem selbst Ausgangspunkte von »Kolonisation« waren. Insgesamt wurde aber ebenfalls zwischen den »Anfängen« – auch hier fiel der 62 PURSER 1890: 472f. 63 ROSCHER/JANNASCH 1885: 1. 64 BUSOLT 1887: 64f.
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Begriff »Wanderungen« – und der »neuen Epoche der Kolonisation« unterschieden: Die Rahmenbedingungen hatten sich grundlegend geändert und somit auch die Art der Entsendung von »Kolonien«. Neben Thukydides’ Schilderung der Frühgeschichte und den allgemeinen Vorstellungen von Kolonisation baute diese Wahrnehmung auch auf einer qualitativen Einschätzung des Erkenntniswertes der Quellen auf. Oehler notierte hinsichtlich dieser Frühphase in der RE: »Diese ältesten Ansiedlungen sind in das Gewand der Sage gehüllt und lassen sich der Zeit nach nicht bestimmen.«65 Beim Umgang mit diesen Quellen gab es eine relativ große Bandbreite: Victor Duruy goss die antiken Äußerungen in eine faktische, historiographische Schilderung und hielt an den traditionell etablierten Daten fest, setzte also die äolische Migration um 1054 v.Chr. an und die ionische um 1044 v.Chr. Lediglich die dorische Wanderung sah er sich nicht imstande zu datieren.66 Im Gegensatz dazu war es besonders George Grote, der rigoros die in den Quellen geschilderten Ereignisse vor der Einführung der Olympiadenzählung als »legends« einstufte, wo Fakten untrennbar mit Fiktion verwoben worden sind:67 »The times which I thus set apart from the region of history are discernible only through a different atmosphere, – that of epic poetry and legend. To confound together these disparate matters is, in my judgment, essentially unphilosophical. I describe the earlier times by themselves, as conceived by the faith and feeling of the first Greeks, and known only through their legends, – without presuming to measure how much or how little of historical matter these legends may contain. If the reader blame me for not assisting him to determine this, – if he ask me why I do not undraw the curtain and disclose the picture, – I reply in the words of the painter Zeuxis, when the same question was addressed to him on exhibiting his master-piece of imitative art: ›The curtain is the picture.‹ What we now read as poetry and legend was once accredited history, and the only genuine history which the first Greeks could conceive or relish of their past time: the curtain conceals nothing behind, and cannot, by ingenuity, be withdrawn. I undertake only to show it as it stands, – not to efface it, still less to repaint it.«68
Auch Grote konnte diese »legends« nicht komplett übergehen, weshalb er sie explizit als unsichere Traditionen gekennzeichnet nacherzählte, etwa mit Zusätzen wie »it is said« – eine Praxis, die bereits in der antiken Historiographie zur Wiedergabe von Traditionen angewandt worden ist. Die Einführung der Olympiadenzählung markierte den Zeitpunkt, ab dem echte Geschichtsschreibung möglich wurde. Und diese zeitliche Wasserscheide prägte auch seine Beschreibung der »griechischen Kolonisation«: 65 Siehe etwa auch PÖHLMANN 1889: 372f. 66 DURUY 1887: 539ff. 67 GROTE 1888: I. 469. 68 Ebd.: I. viif.
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»We thus have the Aeolic, the Ionic, and the Doric colonial establishments in Asia, all springing out of the legendary age, and all set forth as consequences, direct or indirect, of what is called the Return of the Herakleids, or the Dorian conquest of Peloponnesus. According to the received chronology, they are succeeded by a period, supposed to comprise nearly three centuries, which is almost an entire blank, before we reach authentic chronology and the first recorded Olympiad, – and thus form the concluding events of the mythical world, out of which we now pass into historical Greece, such as it stands at the last-mentioned epoch. It is by these migrations that the parts of the hellenic aggregate are distributed into the places which they occupy at the dawn of historical daylight, – Dorians, Arcadians, Aetolo-Eleians, and Achaeans, sharing Peloponnesus unequally among them, – Aeolians, Ionians, and Dorians, settled both in the islands of the Aegean and the coast of Asia Minor. The Return of the Herakleids, as well as the three emigrations, Aeolic, Ionic, and Doric, present the legendary explanation, suitable to the feelings and the belief of the people, showing how Greece passed from the heroic races who besieged Troy and Thebes, piloted the advenurous Argo, and slew the monstrous boar of Kalydon, to the historical races, differently named and classified, who furnished vistors to the Olympic and Pythian games.«69
Lediglich der status quo beim Eintritt in das »historische Griechenland«, sprich die Verteilung der ethnē, ließe Rückschlüsse auf die Frühgeschichte zu. Wie bereits die antiken Historiographen vor ihm nutzte Grote derartige Zeichen in historisch sicherer Zeit als Ausgangspunkt für Mutmaßungen zur weiter zurückliegenden, unsichereren Vergangenheit. In diesem Zusammenhang wandte auch Grote sich explizit gegen Raoul-Rochettes historischer Rekonstruktion dieser frühen Zeitphasen.70 Auch für die Beschreibung der »Kolonisation« des westlichen Mittelmeerraumes galt diese Herangehensweise: »The stream of Grecian colonisation to the westward, as far as we can be said to know it authentically, with names and dates, begins from the 11th Olympiad. But it is reasonable to believe that there were other attempts earlier than this, though we must content ourselves with recognising them as generally probable. There were doubtless detached bands of volunteer emigrants or marauders, who, fixing themselves in some situation favourable to commerce or piracy, either became mingled with the native tribes, or grew up by successive reinforcements into an acknowledged town. Not being able to boast of any filiation from the Prytaneium of a known Grecian city, these adventurers were often disposed to fasten upon the inexhaustible legend of the Trojan war, and ascribe their origin to one of the vistorious heroes in the host of Agamemnon, alike distinguished for their valour and for their ubiquitous dispersion after the siege. Of such alleged settlements by fugitive Grecian or Trojan heroes, there were a great
69 GROTE 1888: I. 467. 70 Ebd.: I. 467ff.
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number, on various points throughout the shores of the mediterranean; and the same honourable origin was claimed even by many non-Hellenic towns.«71
Bei Grotes Rationalisierung der von ihm als legendenhaft eingestuften Erzählungen flossen wiederum jene Bilder ein, die bereits bei den älteren Exemplaren einer History of Greece präsent waren: Die Vorstellung von einer anarchischen, von Abenteurern geprägten Frühphase. Grote lieferte zugleich auch eine Erklärung für die Legenden: Aus der Retrospektive konnten die Traditionen der Etablierung »honourable origins« dienen, um auf diese Weise nicht hinter den richtigen »Kolonien« zurückzustehen, die ihren Ausgangspunkt im Prytaneion einer polis hatten. Diese organisierte Kolonisation wurde als Idealtyp gesehen, nach dem bereits in der Antike Narrative geformt worden seien. Weniger nacherzählend, sondern lediglich die groben Züge skizzierend, gingen Pöhlmann und Busolt vor. Die Frühgeschichte, also die Wanderungen der Äolier, Ionier und Dorier, wurde tentativ in ihren Grundzügen umrissen, ohne auf konkrete Ereignisse, Akteure oder Daten einzugehen.72 Pöhlmann bezeichnete Grotes Skeptizismus als übertrieben, Curtius anderseits ging ihm in seinen Versuchen aus dem »Mythen« historische Fakten zu gewinnen zu weit: »Die Entsagung, welche Grote’s Kritik gegnüber der ›legendary history‹ geübt hat, mag zu weit gehen, und es mag prinzipiell nicht zu verwerfen sein, dass Curtius, wie ja auch Duncker, selbst für die sog. mythische Zeit gewisse geschichtliche Thatsachen zu ermitteln sucht. Allein wenn nun aus einzelnen Angaben einer mehr oder minder späten Litteratur, deren Wert meist höchst problematisch ist, […] die kühnsten Kombinationen herausgesponnen werden, so ist das um so bedenklicher […].«73
Diese Kritik zielte nicht zuletzt auf Curtius’ »Ionierhypothese« ab, wonach die Ionier ursprünglich aus Kleinasien nach Griechenland eingewandert seien und folglich die »Ionische Wanderung« eigentlich eine Heimkehr gewesen sei.74 Aufgrund der prekären Quellenlage konnten solche Hypothesen nicht der methodischen Rigorosität genügen und erschienen zu »probabilistisch«. Was die chronologische Abgrenzung des Phänomens der »griechischen Kolonisation« nach unten betrifft, so hatte sich die Abkoppelung der Kleruchien und späterer Ereignisse etabliert: »Um die Mitte des sechsten Jahrhunderts gelangte die Kolonisation im wesentlichen zum Abschluss.«75 Keine neuen apoikiai wurden mehr angelegt und das Verhältnis der Metropolen zu 71 GROTE 1888: III. 163. 72 PÖHLMANN 1889: 362-72 und BUSOLT 1887: 64-69. Siehe auch BUSOLT 1885: I. 181-222. 73 PÖHLMANN 1889: 360. 74 Siehe etwa CURTIUS 1887: 110f. 75 BUSOLT 1887: 66. Zur »besonderen Kategorie« der Kleruchien siehe 68f.
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ihren »Kolonien« habe sich grundlegend geändert. Oehler identifizierte deshalb eine dritte Phase der »griechischen Kolonisation« ab etwa 580 v.Chr. bis zur Zeit Alexanders des Großen.76 Die Unabhängigkeit der griechischen »Kolonien« Das zentrale Merkmal der »griechischen Kolonisation« wurde nach wie vor in der politischen Autonomie der griechischen »Kolonien« gesehen: »Die griechische Colonie, wesentlich unterschieden von der phoinikischen und römischen, ist eine Niederlassung von Griechen im fremden Lande, die ein selbständiges Staatswesen, eine Politie, bildet, unabhängig von der Mutterstadt, und ein neues Bürgerrecht begründet; sie unterscheidet sich dadurch vom ἐμπόριον [emporion], der Handelsfactorei, die keine eigene Gemeinde bildete, und von der κληρουχία [klērouchia], in der die Bürger ihr altes Bürgerrecht behielten.«77
Wie im vorigen Querschnitt ausgeführt, stellte diese Autonomie keinen Widerspruch zur Annahme eines kolonialen Zentrums als Ausgangspunkt der »griechischen Kolonisation« dar. Die Vorstellung von der kulturellen Rückbezüglichkeit, worauf etwa Curtius in seiner Rede vehement hinwies, indem er die Heimatverbundenheit der Griechen hervorhob, löste nach wie vor dieses Problem. Oehler bemerkte hierzu: »In der Zerstreuung über den ganzen Länderkreis des Mittelmeeres fand ja der dem Griechen eigentümliche Trieb nach individueller Gestaltung des Gemeinwesens die reichste Befriedigung. Trotz der Zerstreuung in Colonien und fernen Ländern blieben die Griechen doch ihrer Nationalität möglichst getreu und nahmen Teil an den Nationalfestspielen.«78
Diese Heimatverbundenheit wurde nach wie vor als Pietätsverhältnis, aufbauend auf einer »natürlichen« Mutter-Kind-Relation beschrieben, welches ebenso durch den Verweis auf das griechische Wesen in Form ihres »Trieb[es] nach individueller Gestaltung des Gemeinwesens«, unterstrichen werden konnte. Auch Purser hob dies, neben dem Verweis auf die Praktikabilität und die Heterogenität, hervor: »The distances were generally too great, the interests too varied, and the autonomy of each community was a principle too deeply rooted in every Greek mind to admit of voluntary dependence.«79 Dieser Grundannahme entsprechend wurde auch die Relation der apoikia zu ihrer mētropolis rekonstruiert:
76 OEHLER 1894: 2824. 77 Ebd.: 2823. 78 Ebd.: 2826. 79 PURSER 1890: 475.
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»Das Verhältnis zwischen Mutterstadt und Kolonie wurde im allgemeinen als Pietätsverhältnis aufgefasst und mit dem zwischen Eltern und Kindern verglichen. Die Mutterstadt hatte als solche ein Anrecht auf gewisser Ehrenbezeugungen. Zu ihren Hauptfesten schickte die Kolonie Festgesandte und Opfertiere; andererseits kamen bei den Festen und Opfern der Kolonie den Angehörigen der Mutterstadt besondere Ehrenrechte zu. [In der Fußnote unter anderen der Verweis auf die Brea-Inschrift, MM] Begründete die Pflanzstadt ihrerseits eine Kolonie, so war es Sitte, dass sie den Oikisten von der Mutterstadt erbat. In politischer Hinsicht nahm die Kolonie mit einzelnen Ausnahmen eine selbständige und gleichberechtigte Stellung ein, doch war es natürlich, dass sich eine vom Feinde bedrängte oder von inneren Wirren heimgesuchte Pflanzstadt häufig an die Mutterstadt wandte. Man betrachtete es als Pflicht der Pietät, dass Streitigkeiten zwischen Kolonie und Mutterstadt möglichst auf friedlichem Wege ausgeglichen wurden.«80
Die antiken Quellen, vor allem Thuykdides’ Abhandlung zum Konflikt zwischen Korinth und Korkyra, stützten die Vermutung, dass es ein generalisierbares Pietätsverhältnis als Ausformung der als definitorisch notwendig erachteten Rückbindung einer »Kolonie« an ihre »Mutterstadt« gegeben habe. Auch für Purser war klar, dass sich die Pflichten einer apoikia gegenüber ihrer mētropolis nur auf die religiösen Sitten beschränken konnte: »This dutiful reverence was not required outside the sphere of religious worship«.81 Trotz des wesenhaften Partikularismus sei gerade zur Zeit der »griechischen Kolonisation« ein den einzelnen mētropoleis übergeordnetes »Nationalbewußtsein« entstanden, weshalb neben dem konkreten Pietätsverhältnis gegenüber der mētropolis auch ein panhellenisches »koloniales« Zentrum gegeben gewesen sei: »Trotz alledem ist nun aber doch in dieser Epoche ein gewisses Erstarken des Nationalbewusstseins unverkennbar. Wenn sich seit dieser Zeit (sicher seit dem 7. Jhdt.) ein Gesamtname des Hellenenvolkes findet, so zeigt dies untrüglich, dass demselben inmitten seiner Zersplitterung die Idee der Nation, der Begriff eines gemeinsamen Vaterlandes aufgegangen ist. Der sichtbarste Ausdruck dieses Gefühles der Zusammengehörigkeit ist die Entwicklung der grossen panhellenischen Feste und die Stellung, welche Delphi gewissermassen als die geistliche Hauptstadt der hellenischen Welt gewann, ›als der gemeinsame Herd von Hellas:‹ Eine Stellung, welche es der delphischen Priesterschaft ermöglichte, Jahrhunderte hindurch neben den religiösen zugleich einen bedeutenden politischen Einfluss auf die Gestaltung der äusseren und inneren Verhältnisse der hellenischen Staaten auszuüben.«82
80 BUSOLT 1887: 67f. 81 PURSER 1890: 474. 82 PÖHLMANN 1889: 377.
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Die Pythia erhielt somit eine weitere Aufwertung, indem sie als institutionalisierte Manifestation eines panhellenischen kolonialen Zentrums stilisiert wurde. Die potentiell einigende Wirkung von Kolonisation war gerade für französische und deutschsprachige Beobachter der Antike von Bedeutung. Im Fall der Griechen habe diese Einigungswirkung allerdings im Endeffekt nicht gegriffen, was sich wiederum auf ihren inhärenten Partikularismus zurückführen ließ. Auch aus dieser »triste histoire« konnten aber gemäß Duruy Lehren gezogen werden. Angesichts der Eroberung Ioniens durch die Perser bemerkte er: »L’esprit d’union leur manqua, et pour n’avoir pas voulu sacrifier une partie de cette liberté dont ils avaient si bien usé, ils perdirent tout.«83 Systematisierung 2: Typologie Die grundsätzliche typologische Unterscheidung in Ackerbaukolonien und Handelskolonien wurde insgesamt aufrechterhalten, auch wenn es leichte Verschiebungen in der Gewichtung gab, die nicht zuletzt davon abhing, ob deduktiv den vermuteten allgemeinen Regelmäßigkeiten von Kolonisation gefolgt oder eher induktiv auf den konkreten Fall der »griechischen Kolonisation« eingegangen wurde. Diese grundlegende binäre Typologisierung wurde ergänzt durch weitere Anlässe für Emigrationen, die sich in antiken Quellen finden ließen, nicht zuletzt Platons Auflistung in Die Gesetze84 oder jene Senecas85. Roscher baute in seiner »Naturlehre« explizit auf Heerens Überlegungen zu den universellen Ursachen von Kolonisation auf und unterschied in vier Arten von Kolonien gemäß ihres Zwecks: 86 Eroberungskolonien (mit den antiken Beispielen der Makedonen und Roms), Handelskolonien (Phönizier und Griechen – speziell im Schwarzmeergebiet), Ackerbaukolonien (Kleinasien, Sizilien und Unteritalien sowie die Kyrenaika in der Unterkategorie Viehzuchtkolonien) sowie Pflanzungskolonien, also Kolonien »zur Hervorbringung jener Luxusartikel, die man vorzugsweise Kolonialwaren nennt«. Innerhalb dieses Typus unterschied Roscher wiederum vier Untergruppen nach ihren Ursachen: Überbevölkerung (die Kleruchien Athens), Überfüllung mit Kapital, politische Unzufriedenheit (Äolier und Ionier in Kleinasien – Flucht vor »heraklidischen Rittern aus Nordgriechenland«, Tarent – Parthenier, und auch Syrakus sowie die Phokäer, aber auch Messene in der Unterkategorie Seeräuberkolonien) und Kolonisierung aus religiöser Begeisterung, wo er natürlich auf Delphi verwies und Kyrene als Beispiel genannt wurde, das zu-
83 DURUY 1887: 654. 84 OEHLER 1894: 2824. 85 PURSER 1890: 474. 86 ROSCHER/JANNASCH 1885: 2-43.
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gleich auch als Pflanzungskolonie behandelt wurde. Zu diesem Typ bemerkte Roscher und illustrierte somit zugleich die Rolle des kolonialen Paradigmas als Deutungsmuster: »Im Alterthume konnte natürlich von dieser Klasse der Kolonien wenig die Rede sein, weil die sämmtlichen Kulturvölker jener Zeit eines beinahe übereinstimmenden Klimas genossen, mit gleichen Producten etc. Nur in Kyrene läßt sich die vornehmste Production, der Anbau des beliebten Gewürzes Silphium, einigermaßen mit unseren Zuckerplantagen vergleichen. Aus Stengel und Wurzel preßte man den Saft, kochte ihn ein und verkaufte ihn dann in großen Quantitäten als Gewürz, Arzenei u.s.w. Auch hier scheinen Negersklaven die Hauptarbeit verrichtet zu haben.«87
Gerade der Typ der Pflanzungskolonien umfasste eine sehr heterogene Gruppe an Beispielen, da hierunter alles subsumiert wurde, was nicht in die anderen drei Gruppen passte – ein Kollateralschaden des Versuchs einer Systematisierung. Purser erstellte für das Dictionary eine ähnliche Systematisierung der »griechischen Kolonisation«, wobei er explizit auf Roschers Typologie verwies. Dessen vierte Gruppe, die Pflanzungskolonien, wurde allerdings übergangen, was eine etwas andersartige Zuweisung der Fallbeispiele bedingte: Für den Typus der Eroberungskolonie habe es im frühen Griechenland kein Beispiel gegeben, lediglich die athenischen »Kolonien« unter Perikles und die Kleruchien wurden als Manifestationen der Untergruppe der Militärkolonien gesehen. Ackerbaukolonien waren die »Kolonien« der Magna Graecia und Siziliens und die Kyrenaika ein Exempel der Untergruppe »Pastoral Colony«. Zusätzlich fügte Purser hier die plantations ein, wozu Kyrene wegen des SilphiumAnbaus gerechnet wurde. Oehlers Charakterisierung der »griechischen Kolonisation« in der RE unterscheidet, dass hier weiterhin eine Aufteilung nach ethnē erfolgte: Die Ionier (und auch Korinth) waren Händler, wohingegen die Achaier Ackerbau betrieben hätten.88 Auch Busolt ging nach diesem Schema vor: »Im achten Jahrhundert wurden im Westen die Küsten Italiens und Siciliens, im Osten die der Propontis und des Pontos der hellenischen Seefahrt und Kolonisation erschlossen. Dort übernahmen die Handels- und Industrie-Städte Chalkis und Korinthos die Führung, doch folgten ihnen bald die Achaier, deren Pflanzstädte am tarantischen Golfe vorwiegend, wenngleich nicht ausschließlich, durch Ackerbau und Viehzucht reich wurden. Hier gingen die Milesier voran, welche die Küsten des Pontos mit zahlreichen Faktoreien besetzten, aus denen sich ein reicher Kranz von Pflanzstädten entwickelte.«89
87 ROSCHER/JANNASCH 1885: 26. 88 OEHLER 1894: 2824. 89 BUSOLT 1887: 65.
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Diese Unterscheidung deckte sich natürlich geographisch relativ gut mit der von Purser vorgenommenen Aufteilung, verrät aber eine unterschiedliche Perspektivierung: Nahm Purser mehr eine typologisierende, zweckorientierte Position ein, spielten bei Busolt und Oehler die essentialisierten Eigenschaften der ethnē eine zentrale Rolle bei der Ordnung des Wissens. Der Handel und die koloniale Fortschrittslehre Ackerbaukolonisation und die damit verknüpften Push-Faktoren wie Bodenmangel beziehungsweise Überbevölkerung konnten mit antiken Belegstellen unterfüttert werden, wohingegen Handel in den Quellen kaum eine Rolle spielt. Das Argument der Überbevölkerung hatte zudem den Vorteil, dass die Quellenbeispiele, die innenpolitische Verwerfungen als Auslöser einer Emigration nennen, als seine Folgen interpretiert werden konnten. Im Fall eines mehr induktiven Zugangs wurde somit eher Überbevölkerung als die vorherrschende Ursache der »griechischen Kolonisation« angenommen: »Die Colonien haben das überbevölkerte Griechenland gerettet. Denn bei der außerordentlichen Produktivität, welche das griechische Volk vom achten bis sechsten Jahrhundert zeigt, würden die Staaten an Menschenfülle gleichsam erstickt oder in inneren Unruhen zu Grunde gegangen sein, wenn nicht die Colonisation die überschüssige Kraft ausgeführt und in wohlthätiger Weise verwendet hätte, indem sie zugleich der Mutterstadt Zuwachs an Macht und Handelsverbindungen verschaffte. Nicht selten sind daher die Colonisten absichtlich als politische Heilmittel angewendet und vom delphischen Orakel verordnet worden, um bei fieberhafter Aufregung als Aderlass zu dienen.«90
Kolonisation war primär ein staatliches, politisches Unterfangen. Somit galt nach wie vor, dass eher jene Ursachen Sinn machten, die dem vitalen Interesse eines Staates dienen konnten. Handel war aus dieser Perspektive lediglich ein angenehmer Nebeneffekt. Diese Unterordnung des Faktors Handel konnte wie in Oehlers Beurteilung des Phänomens zu einer Unterscheidung von eigentlichen »Kolonien«, also eigenständigen poleis, und »Handelsfactoreien« führen, diese emporia sind als isoliertes Phänomen in einem eigenen Lemma behandelt worden.91 Gerade Seehandel wurde somit als eher anarchisches Unterfangen gesehen, welches sich an den lokalen Gegebenheiten orientieren musste. Eine weniger rigorose Unterscheidung traf Purser: »Such factories, a little more fully developed, become commercial colonies.«92 Sie unterschieden sich also von den bewusst gegründeten »Kolonien« in ihrer graduellen
90 CURTIUS 1887: 449. 91 Siehe WACHSMUTH 1905. 92 PURSER 1890: 473.
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Entwicklung hin zu einer polis, gehörten aber dennoch zu den »griechischen Kolonien«. Auch Caillemer vertrat diese Position: »Toutes les colonies grecques n’ont pas d’ailleurs été fondées par des Grecs; beaucoup d’entre elles avaient une origine plus ancienne. Dans une cité barabare existant depuis plus ou moins longtemps, des négociants grecs, attirés par leurs affairs, établissaient des comptoirs ou créaient des habitations pour eux et leur famille. D’autres Grecs, encouragés par le succès de leurs compatriots, suivaient leur example. Peu à peu, l’élément grec se renforçait, sans que la mère patrie s’en aperçût. L’influence de cette nouvelle population, plus civilisée que celle au milieu de laquelle elle vivait, ne tardait pas à s’exercer sur les naturels du pays. […] Bien que ceux-ci eussent agi comme de simples particuliers et sans mandat officiel, la cité à laquelle ils appartenaient devenait la métropole de la ville grécisée.«93
Als Beispiele führte Caillemer die Schwarzmeersiedlungen Sinope und Herakleia Pontike an. Dies lässt auf folgende Daumenregel schließen: Dort, wo die Quellen hinsichtlich einer ktisis stumm waren, konnte eine graduelle Entwicklung angenommen werden. Nicht zuletzt, wenn es sich um milesische »Kolonien« handelte, eine Handelsmetropole par excellence. Wenn dem Handel insgesamt eine zentrale Rolle bei der »griechischen Kolonisation« zugeschrieben wurde, musste eine Begründung anderweitig gesucht werden. Caillemer nahm diese Position ein, »bien que les auteurs anciens mentionnent très rarement ce point de vue«. Die zeitgenössischen Erfahrungen mit Kolonisation legten indessen eine gewichtige Rolle von Handel nahe. Alleine der Befund, dass sämtliche »Kolonien« an den Küsten angelegt wurden, würde für sich sprechen.94 Victor Duruy vertiefte diese naturräumlich-strukturelle Argumentation: »Prise dans son ensemble, la Grèce n’était pas assez fertile pour nourrir ses habitants dans l’oisiveté, et elle n’était pas assez pauvre pour les contraindre à dépenser toute leur activité dans la recherche des moyens de subsistance. La diversité du sol, plaines et montagnes, celle du climat, qui varie des neiges du Pinde aux cultures presque asiatiques du Péloponnèse, leur imposaient cette multiplicité de travaux qui développe les facultés et provoque la variété des idées par celle des connaissances, c’est-à-dire la civilisation. De leur sol les Grecs reçurent bien plus qu’aucun autre peuple l’obligation d’être à la fois pâtres et laboureurs, surtout marchands. Avec du blé et du bétail, un peuple peut vivre enfermé chez lui. Les Grecs en avaient peu, mais ils produisaient beaucoup de vin et d’huile, denrées essentiellement échangeables et qui exigent une main-d’œuvre intelligente. Le commerce fut donc pour eux une nécessité.«95
93 CAILLEMER 1887: 1297. 94 Ebd.: 1298. 95 DURUY 1887: 24.
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Die Griechen hatten somit keine andere Wahl, als Händler zu sein. Gleichzeitig lieferte die Handelstätigkeit auch eine Begründung für die Prosperität der »Kolonien«: »La colonie devenait alors une sorte d’entrepôt international, et, si l’emplacement choisi était favorable, elle devait arriver promptement à un état de bien-être et de prospérité, que la métropole aurait pu, à bien droit, lui envier.«96 Hier manifestiert sich ein übergeordnetes koloniales Muster mit einer spezifischen, sozioökonomischen kolonialen Fortschrittslehre. Auch der mit Quellen belegbare Faktor der Überbevölkerung konnte inkorporiert werden: Massenemigrationen in die europäischen Kolonien (vor allem nach Amerika) waren schließlich ein prägendes Phänomen des 19. Jh. Caillemer etwa verwies explizit auf ein »Proletariat«, welches sein Glück woanders suchte. Auch Purser vermutete im wirtschaftlichen Aufschwung aufgrund von Kolonisation und einem liberalen kolonialen Umfeld einen entscheidenden Faktor: Bei Überbevölkerung habe es eine Aussendung zur Verhinderung von stasis gegeben, aufgrund »the consequent poverty and unevenness of wealth which arise in such a community. Then the wealthy and the upper classes urged the poor to emigrate, and the latter generally were willing enough to do so, impelled by hope of better fortunes and love of adventure«97. Die antiken Berichte von Gründungen wegen innerer Zwistigkeiten oder Verbannungen konnten als Folge und zugleich wieder als Beleg der kolonialen Logik mit der ihr inhärenten sozio-ökonomischen Dynamik angeführt werden. Ähnliches galt auch für Emigrationen »infolge eines Gelübdes oder auf Geheiss des Gottes«. Es konnte nicht darüber hinweggesehen werden, dass die antiken Quellen diesen Aspekt beinhalteten. Mit dem Faktor der Überbevölkerung war jedoch ein Mittel zu ihrer Rationalisierung verfügbar: »Sometimes religion seems to have had an influence in colonisation, as when the god used to order that a tenth of the inhabitants should leave the country and found a colony, as in the case of Rhegium: this was, however, due to over-population and bad seasons [Verweis auf Strabon: VI. 1, MM].«98 In den Kolonien seien die Chancen auf Aufstieg besser gewesen, was zu einer dynamischeren Gesellschaft in den Kolonien führen musste, die somit die mētropoleis überflügeln konnten: »Everyone had before him the prospect of success in the race for wealth: the struggle came to be between the rich and the poor, as always in commercial communities. […] In the colonies then, just as now the dollar is almighty, so ›money, money was the man,‹ as Pindar [2. Isthmische Ode: 11], quoting ›the Argive man‹ Aristodemus, reminded Xenocrates of Agrigentum.
96 CAILLEMER 1887: 1298. 97 PURSER 1890: 474. 98 Ebd.: 473. Siehe auch CAILLEMER 1887: 1298.
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And there was plenty of it: hence more beautiful cities and a more brilliant and heightened life than in the mother-country.«99
Gleichzeitig wirkte dieser Fortschritt auch auf Griechenland zurück, ja bildete die notwendige Grundbedingung für das klassische Griechenland. In den »Kolonien« bildete sich jene Zivilisation heraus, die dann, gerade nach dem Ende der Freiheit der Kolonien wieder ins das Zentrum zurückstrahlen konnte: »Tout à l’heure il n’y avait de lumière qu’aux extrémités du monde grec, maintenant elle se condense au centre et va y briller d’un éclat incomparable.«100 Dieses Denkmuster konnte auch mit der politischen Entwicklung gekoppelt werden: »A population like that of the Greek colonies, originally mixed, mixed still further by intercourse with the natives, not tied down by any feeling of reverence for or submission to the laws and customs of priests and nobles, with wealth ever increasing, vigorous, independent, could not tolerate an aristocratic system of government; it had to yield to the timocratic: the aristocracy of birth and worth gave place to the oligarchy of wealth. This important step on the road to democracy brought with it one great advantage, viz. codification and publication of the laws.«101
Diese koloniale Fortschrittslehre fand auch ihren Niederschlag in den deutschsprachigen Werken, erhielt jedoch aufgrund des nationalen Paradigmas eine eigene Note: Die Emigrationen wurden zwar auch als Folge einer Dynamisierung der Gesellschaft gesehen, allerdings weniger als Resultat eines Strebens nach individueller sozioökönomischer Besserstellung. Weniger die wirtschaftliche Strukturen sondern mehr die allgemeine politische Entwicklung bestimmte das Bild. So etwa Pöhlmann: »Hier [in Kleinasien, MM] machten sich die mannigfachen Motive, welche der weiteren Ausdehnung der griechischen Kolonisation zu Grunde liegen, am frühesten und stärksten geltend. Zunächst liess das ungewöhnlich rasche materielle Gedeihen und das sehr starke Bevölkerungswachstum, wie es schon Adam Smith als Eigentümlichkeit kolonialer Entwicklung hervorgehoben hat, das Bedürfnis der Kolonisation hier besonders lebhaft empfinden. Dazu kam die politische Raschlebigkeit der Kolonien. Das asiatische Hellas hatte schon alle Entwicklungsstufen des Verfassungslebens durchlaufen, war bis zur ärgsten heimischen Tyrannei und zur Unterjochung durchs Ausland herabgesunken, als das Mutterland noch nicht einmal seine höchste Blüte erreicht hatte. Diese politischen Entwicklungsphasen aber haben sich in Hellas in der Regel unter wütenden Parteikämpfen vollzogen, welche einen wichtigen Hebel der Aus-
99
PURSER 1890: 476.
100 DURUY 1887: 717. Siehe auch CURTIUS 1887: 455f. 101 PURSER 1890: 476.
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wanderung bildeten. Wenn dieselbe schon in der Zeit, als sich das – in den Kolonien naturgemäss am frühesten und stärksten hervortretende – demokratische Element überhaupt erst zu regen begann, durch die Förderung von Seiten der herrschenden Aristokratien, einen lebhaften Impuls erhielt, so war dies in noch höherem Grade der Fall, als der Sieg der Tyrannis über den alten Adel und die erbitterten Kämpfe des letzteren mit den Gemeinen immer wieder von Neuem zu Emigrationen führten.«102
Kolonisation, wirtschaftlicher Aufschwung und Überbevölkerung gingen zwar auch hier Hand in Hand, auch unter Verweis auf Adam Smith, der Fokus richtete sich jedoch klar auf die Beschreibung des politischen Gemeinwesens als historische Entität: »Schon die allgemeine Eigentümlichkeiten des Koloniallebens: die mannigfache Mischung, grössere Vielseitigkeit, Selbständigkeit und Beweglichkeit der Kolonistenbevölkerung, das Fehlen ehrwürdiger Traditionen, besonders in den Siedlungen des Westens, der naturgemäss mehr rationalistische Charakter von Staatseinrichtungen, die auf neuem Boden neu geschaffen waren, all das musste dazu beitragen, die privilegierte Stellung der Aristokratie frühzeitig zu untergraben. Dazu kamen die demokratisierenden Wirkungen des Seeverkehres, der nicht nur an den Stätten der höchsten merkantilen und industriellen Thätigkeit, wie im ionischen Kleinasien, sondern auch in Ackerbaukolonien, wie in Unteritalien ein glänzendes Städtewesen, ein kräftige Bürgertum emporblühen liess.«103
ktisis Das Aufblühen der Archäologie im Laufe des 19. Jh. führte nicht zuletzt dank neugefundener Inschriften zu einer Erweiterung des Quellenkorpus zur Erforschung der »griechischen Kolonisation«. Zwischen 1825 und 1877 war in Berlin bereits der Corpus Inscriptionum Graecorum (CIG) herausgegeben worden. Die Neufunde erforderten jedoch bald eine Neubearbeitung. Den Anfang machte der Corpus Inscriptionum Atticarum (CIA) zwischen 1873 und 1888. Diese Editionen von Inschriften ermöglichten den Rückgriff auf in Stein gemeißelte Übereinkünfte zwischen apoikiai und mētropoleis. Auch wenn die Ältesten lediglich aus der klassischen Zeit stammten, so dienten diese nunmehr verfügbaren Quellen zur Zementierung der Vorstellung von einer grundsätzlich organisierten und gelenkten Kolonisation und somit auch der Untermauerung der rekonstruierten Gründungsgebräuche. Besonders die Gründungsurkunde von Brea fand viel Beachtung, wobei Purser diese Gründung explizit als Kleruchie kategorisierte. Er schien sich als einziger daran gestört zu haben, dass eine
102 PÖHLMANN 1889: 373f. 103 Ebd.: 379.
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Gründung nach dem Ende der eigentlichen »griechischen Kolonisation« zu ihrer Beschreibung beiträgt.104 Busolt nutzte die neuen Quellen zur Unterfütterung der bereits bekannten Auflistung von Gründungsgebräuchen: »Selten wurde in historischer Zeit die Begründung einer Pflanzstadt ohne Befragung des delphischen Gottes unternommen. Es bestimmten dazu nicht bloss religiöse Gründe, man konnte in Delphi bei den weitreichenden Beziehungen der dortigen Priesterschaft im allgemeinen auch gute Auskunft erhalten. Sofern nicht eine bestimmte Partei, wie die Parthenier in Sparta, welche Taras begründeten, zur Auswanderung genötigt war, so beteiligten sich am Auszuge zur Begründung einer Pflanzstadt gewöhnlich diejenigen, welche sich infolge einer Aufforderung der Behörde dazu gemeldet hatten [Fußnotenverweis auf die Inschriften von Brea und Naupaktos sowie auf Thukydides: I. 27, MM]. Es kam auch vor, dass wenn der Staat die Aussendung einer Kolonie beschlossen hatte, aus den Häusern, die mehrere Söhne hatten, einer durch das Los ausgehoben wurde. Bisweilen forderte man auch Angehörige befreundeter Staaten zur Teilnahme auf. Zur Leitung des Unternehmens wurde ein oikistés mit unumschränkter Vollmacht ernannt, wenn nicht ein solcher Führer durch die Natur der Verhältnisse bereits gegeben war.«105
Zudem wurde »das heilige Feuer vom Staatsherde, dem Prytaneion, der Mutterstadt zur Entzündung des Feuers auf dem Staatsherde der neuen Stadt mitgenommen«106. Oehler hielt bezüglich der Gründungsgebräuche fest, dass »[w]ie die Veranlassung verschieden war, so auch der Vorgang bei der Aussendung und Einrichtung. Doch hatte sich wohl durch das Herkommen eine gewisse Ordnung festgesetzt, die Herodot V 42 als τὰ νομιζόμενα [ta nomizomena] bezeichnet«107. Wie für die »griechische Kolonisation« selbst, wurde auch hier eine graduelle Entwicklung zugelassen, die allerdings mit dem Einsetzen der eigentlichen »griechischen Kolonisation«, also der absichtsvollen Entsendung durch eine mētropolis, zu einem Abschluss gekommen sei. Eine ktisis im strengen Sinn war auch für Purser nur im Fall einer staatlichen »Kolonisation« denkbar: »Of course this can only apply to a colony regularly sent out by the order and approval of the state; otherwise the foundation depended more or less on accidents, and could not follow any fixed method. Even when a colony went forth despatched with the good wishes of the mothercity, we know but imperfectly the exact method followed.«108
104 PURSER 1890: 474. 105 BUSOLT 1887: 66. 106 Ebd. 107 OEHLER 1894: 2824. 108 PURSER 1890: 474.
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Der Pythia wurde nach wie vor eine zentrale Rolle zugewiesen zugemessen. Wie erörtert, war dies möglich durch die Rationalisierung, der das Orakel von Delphi unterzogen wurde: »Les temples grecs tels que le temple d’Apollon Pythien étaient constamment remplis de gens venus de tous les points de l’horizon. Cette affluence d'étrangères permettait aux prêtres de se renseigner exactement sur les besoins de chaque région et d’apprécier les chances de succès que pouvaient avoir des émigrants, suivant qu’ils prendraient telle ou telle route. En consultant les dieux, les futurs colons étaient donc assurés d’obtenir de précieuses indications, sans lesquelles leur entreprise aurait peut-être échoué et qu’ils auraient difficilement trouvées ailleurs. Les prêtres, de leur côté, avaient un grand intérêt à ne donner que d’utiles renseignements. Car, en dirigeant sur des points favorables les migrations de leurs compatriotes, non seulement ils étendaient l’influence de la Grèce, mais encore ils prouvaient que le dieu dont ils étaient les interprètes méritait toute confiance.«109
Die Befragung des Orakels und diese moderne Deutung finden sich auch in Pursers Beitrag, der hierbei auf Ernst Curtius verwies.110 Tatsächlich verdankte dieses Bild der Funktion des Orakels von Delphi nicht zuletzt dessen »Griechischer Geschichte« seine Verbreitung.111 Allerdings wurde Curtius’ Einschätzung mittlerweile hinterfragt. Pöhlmann bemerkte in einer Fußnote zur Rolle Delphis: »Eine – allerdings vielfach und stark übertriebene, aus den Quellen nicht zu begründende – Schilderung des panhellenischen Wirkens der delphischen Priesterschaft gibt Curtius […] Freilich wird auch dieser Einfluss außerordentlich überschätzt. Von einer förmlichen Leitung der Kolonisation, wie sie z.B. Curtius annimmt, kann offenbar keine Rede sein.«112
Der »besonnene« Blick auf die Quellen belegt zwar die Rolle Delphis, allerdings nicht in dem Ausmaß, wie ihn Curtius rekonstruierte. Vor allem die angeführten Gründungsurkunden erwähnen Delphi mit keinem Wort. Was geschah bei einer Gründung vor Ort: »Nach der Besitzergreifung des zur Ansiedlung bestimmten Platzes erbaute man die neue Stadt und verteilte das okkupierte Land in gleichen Losen an die Kolonisten, nachdem bestimmte Ländereien für die Götter vorweg genommen waren. Mit der Vermessung und Verteilung des Landes wurde eine gewöhnliche Kommission von geonómoi beauftragt [Fußnotenverweis auch auf die Brea-Inschrift, MM]. Der Oikist richtete das neue Gemeinwesen ein. Nach seinem Tode 109 CAILLEMER 1887: 1298. 110 PURSER 1890: 474. 111 Siehe CURTIUS 1887: 493-496. 112 PÖHLMANN 1889: 377
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wurden ihm die Ehren und Opfer eines Heros zu Teil. Die Kolonisten behielten die Stammphylen ihrer Mutterstadt bei und auch manche Verfassungsinstitute. […] Ebenso verpflanzte man die Hauptkulte der Mutterstadt nach der Kolonie. Häufig wurde Apollon, unter dessen Auspizien der Auszug und die Begründung der Stadt erfolgt war, als archegétes besonders verehrt.«113
Zivilisierungsmission In den bereits zitierten Äußerungen klang bereits ein wesentliches Merkmal der Rekonstruktionen von interkulturellen Kontakte an: Die natürliche Überlegenheit der Kolonisatoren. In der Zeit des Hochimperialismus musste sich dieser Zug noch einmal verstärken, da er zu einem zentralen Legitimationsmittel überseeischer Herrschaft wurde. Wie bereits betont, eigneten sich besonders die Griechen als Spiegelbild der europäischen Zivilisationsaufgabe in der Welt, da sie es gewesen seien, die die Zivilisation im Mittelmeerraum verbreitet hätten. Besonders die französische Dritte Republik schöpfte aus dieser mission civilisatrice die Berechtigung zu kolonisieren, was auch mit den Maximen der Revolution in Einklang gebracht werden konnte: »Représentez-vous ces villes, ces temples élevés sur tous les promontoires; les terres assainies, cultivées; les mœurs adoucis; les peuples barbares amenés à la civilisation. Que d’efforts, de courage et d’habileté exigèrent ces fondations audacieuses! Que de Vasco de Gama et de Cortez inconnus sortirent de ces petites cités! Et quelle reconnaissance ne mérite pas cette race entreprenante qui sillonna tant de mers de la proue de ses navires, commença vraiment pour l’homme la conquête de la terre par l’intelligence et la liberté, et alluma, au pourtour de la Méditerranée, tant de flambeaux dont l’éclat illumina le monde!«114
Die »griechische Kolonisation« war eine »große weltgeschichtliche That«115. Curtius bemerkte hierzu in seiner Rede: »Die Colonisationsarbeit, die das achte und siebente Jahrhundert ausfüllte, war eine Heldenzeit der Hellenen, eine ununterbrochene Reihe von Feldzügen, in denen sie die Gluth tropischer Sonne wie des Nordens Winterkälte ertragen und die wildesten Völker bändigen lernten. Es war die Zeit, wo sie aus der Enge ihrer Heimatskreise heraus Natur und Menschenwelt überblicken lernten.«116
113 BUSOLT 1887: 66f. 114 DURUY 1887: 587. 115 PÖHLMANN 1889: 373. Vgl. auch CURTIUS 1892: 97. 116 CURTIUS 1892: 100.
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Dieser implizit auch auf die Deutschen gemünzte Helden-Topos wird sich auch in Werner Sombarts Schrift Händler und Helden: Patriotische Besinnungen von 1915 finden, worin die Briten den Konterpart »Händlervolks« einnahmen.117 Andernorts betonte Curtius in seiner Griechischen Geschichte, dass es auch viele Fehlschläge im Verlauf der »griechischen Kolonisation« gegeben habe.118 Im Rahmen dieser Rede war es natürlich weniger opportun, darauf aufmerksam zu machen. Im Unterschied zu den späteren Kolonisatoren sei es allerdings nicht das Ziel der Griechen gewesen, »die Hinterlande ihrer Kolonien in beträchtlicher Tiefe zu hellenisieren oder grosse Eroberungskolonien zu gründen.«119 Das war auch angesichts der Natur der »griechischen Kolonisation« nicht notwendig: »Ein ausgedehntes Landgebiet wurde nur von den achaeischen Colonien in Italien und einigen dorischen erworben, in denen die einheimische Bevölkerung zu einer den Heloten ähnlichen Stellung herabgedrückt wurde; sonst bildeten sie die Stapelplätze für den Handel und Absatzgebiete für die Industrie der Mutterstadt, was besonders von den milesischen Colonien am Pontos gilt.«120
Es erfolgte aber doch zumindest eine »Besitzergreifung« (Busolt) der Küstenpositionen, da die Überlegenheit der Griechen sie zu Eroberern machen musste. Purser zitierte in seiner allgemeine Definition von »colony« extensiv aus dem Essay on the Government of Dependencies (London 1841) des britischen Staatsmanns George Cornwall Lewis (1806-1863)121, einer systematischen Analyse der möglichen Beziehungen von Kolonien zu ihren Metropolen. Somit griff auch Purser auf eine idealtypische, allgemeine Vorstellung von Kolonisation zurück, gemäß der, wie auch in Roschers bereits zitierte Definition, eine, wenn nötig, gewaltsame Landnahme ein integraler Bestandteil war: »›A colony,‹ says Sir G. C. Lewis [1841: 170], ›properly denotes a body of persons belonging (mainly) to one country and political community, who, having abandoned that country and community (hence ἀποικία [apoikia]), form a new and separate society, independent or dependent, in some district which is wholly or nearly uninhabited, or from which they expel the ancient inhabitants.‹«122 117 SOMBART 1915. Siehe hierzu Stuchtey 2010: 230. 118 CURTIUS 1887: 450. 119 PÖHLMANN 1889: 374. 120 OEHLER 1894: 2825. 121 Lewis hatte wie viele Zeitgenossen seines Standes eine Ausbildung in Classics erhalten (in Oxford). Darüber hinaus hatte er August Böckhs Die Staatshaushaltung der Athener und Karl Otfried Müllers Geschichte der griechischen Literatur übersetzt. 122 PURSER 1890: 473.
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Die wenigen antiken Quellenäußerungen zu diesem Themenfeld spielten bei dieser Frage eine ambivalente Rolle. Einerseits konnte auf Thukydides verwiesen werden, wenn es um die gewaltsame Landnahme in Sizilien ging. Ein gutes Beispiel hierfür ist George Grotes Beschreibung dieser Episode:123 »[…] Theoklês (an Athenian or a Chalkidian – probably the latter), being cast by storms on the coast of Sicily, became acquainted with the tempting character of the soil, as well as with the dispersed and half-organised condition of the petty Sikel communities who occupied it. [Fußnotenverweis auf Thukydides: VI. 3. und Strabon: VI. 2. 2., MM] The oligarchy of Chalkis, acting upon the information which he brought back, sent out under his guidance settlers, Chalkidian and Naxian, who founded the Sicilian Naxos. Theoklês and his companions on landing first occupied the eminence of Taurus, immediately overhanging the sea […]; for they had to make good their position against the Sikels, who were in occupation of the neighbourhood, and whom it was requisite either to dispossess or to subjugate. After they had acquired secure possession of the territory, the site of the city was transferred to a convenient spot adjoining; but the hill first occupied remained ever memorable, both to Greeks and to Sikels. On it was erected the altar of Apollo Archêgetês, the divine patron who (through the oracle at Delphi) had sanctioned and determined Hellenic colonization in the island. The altar remained permanently as a sanctuary, common to all the Sicilian Greeks […] To the indigenous Sikels who maintained their autonomy, on the other hand, the hill was an object of lastin but odious recollection, as the spot in which the Grecian conquest and intrusion had first begun; so that at the distance of three centuries and a half from the event, we find them still animated by this sentiment in obstructing the foundation of Tauromenium. […] In the very next year to the foundation of Naxos, Corinth began her part in the colonization of the island. A body of settlers, under the Œkist Archias, landed in the islet Ortygia […], expelled the Sikel occupants, and laid the first stone of the mighty Syracuse. […] There yet remained room for new settlements between Naxos and Syracuse; and Theoklês, the œkist of Naxos, found himself in a situation to occupy part of this space only five years after the foundation of Syracuse: perhaps he may have been joined by fresh settlers. He attacked and expelled the Sikels [Fußnotenverweis auf Polyainos strategemata: V. 5. 1.: einer Darstellung der dabei angewandten Taktik, MM] from the fertile spot called Leontini […] and also from Katana […].«124
Andererseits gab es aber auch antike Äußerungen zu einer friedlichen Aufnahme der Neuankömmlinge durch die lokale Bevölkerung. Beispielsweise musste Grote festhalten, dass die Besiedlung Megara Hyblaias aus dem Rahmen fiel:
123 Vgl. auch BUSOLT 1885: 281. 124 GROTE 1888: III. 174-177.
Die »griechische Kolonisation« im Age of Empire | 291
»This incident is the more worthy of notice, because it is one of the instances which we find of a Grecian colony beginning by amicable fusion with the pre-existing residents: Thucydidês seems to conceive the prince Hyblôn as betraying his people against their wishes to the Greeks.«125
Grote konnte mit dieser Interpretation dem Gegensatz zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten doch noch gerecht werden. Auch Curtius brachte diese antiken Äußerungen mit dem Bild der prinzipiellen Überlegenheit von Kolonisierenden in Einklang: Die Griechen hätten es verstanden »Barbarenstämme durch Klugheit zu gewinnen oder durch Gewalt zu zähmen«.126 Ersteres galt besonders dann, wenn es um Handelsinteressen ging: »Im Allgemeinen aber kann Handelsvölkern nur mit friedlichen Verhältnissen gedient sein, und darum suchten sich die ionischen Griechen auch mit den Barbaren baldmöglichst auf Friedensfuß zu stellen. Sie kamen nicht als Eroberer; sie wollten die Eingeborenen nicht austreiben, sie traten überall mit geringer Mannschaft großen Massen gegenüber. Darum mussten sie dieselben zu gewinnen, sich ihnen dienstfertig und nützlich zu erweisen suchen; darum verschmähten sie es nicht, die nächsten Verbindungen mit ihnen einzugehen. Die Ionier hielten nicht auf Reinheit des Bluts; sie fanden ihre Weiber, wo sie sich ansiedelten, zwischen Kelten, Skythen und Libyern. […] Auf diese Weise bildete sich in allen Barbarenländern, wo die Griechen festen Fuß fassten, ein Geschlecht von Mischlingen, ein gewandtes, vielgeschäftiges Volk, das für den weiteren Verkehr von größter Wichtigkeit war. Es waren die geborenen Vermittler, die Dolmetscher und Agenten der griechischen Handelshäuser; sie verbreiteten, wie ihre Zahl anwuchs, griechische Sitte und Sprache unter ihrem Volke. Von ihren eigenen Landsleuten, welche tiefer im Lande wohnten und an altem Herkommen festhielten, gehasst und angefeindet, sahen sie sich im eigenen Interesse auf einen nahen Anschluß an die Hellenen hingewiesen.«127
Gerade die Begrifflichkeit der »Mischung« oder der »Reinheit des Blutes« verweist auf einen am zeitgenössischen imperialistischen Denkmuster geschulten Blick. Ein ähnliches Bild der »kolonialen« Bevölkerung zeichnete etwa auch Purser, der sie wegen des »intercourse with the natives« als »originally mixed« beschrieb. Kolonisation brächte dementsprechend zwei genealogisch-rassisch distinkte Gruppen in Kontakt miteinander, was auch für die Griechen und Barbaren gegolten habe. Dies ging Hand in Hand mit dem Bild der Überlegenheit der »Kolonisierenden«, die somit als natürlich gesehen und legitimiert werden konnte. Aus dieser Perspektive stellten gerade
125 GROTE 1888: III. 178. 126 CURTIUS 1887: 448. 127 Ebd.: 450f.
292 | II. Das moderne Wissen
intermarriages, Stichwort »Rassenreinheit«, eine Herausforderung dar.128 Beim Umgang mit dem ›Faktum‹ der essentialisierten, distinkten »Völker« gab es einen Spielraum, der auch davon abhing, ob die jeweiligen Grundannahmen zur Determinierung eines »Volkes« mehr auf rassisch-biologistischen oder auf kulturellen und naturräumlichen Kriterien aufbauten. Edward Payne hatte etwa im Zuge seiner Definition von Europa betont, dass letztere gravierender seien: »This is not the place to resolve the European type of character into its elements; let us only notice that it is not a matter of race, but of physical and moral habits, of climate and laws, of manners and customs.«129 Diese Unterscheidung sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch kulturelle Eigenschaften »in solchem Maße essentialisiert werden, daß sie die gleiche deterministische Wirkung [haben] wie die Hautfarbe.«130 Dies galt besonders dann, wenn kulturelle Eigenschaften wiederum auf rassische Dispositionen zurückgeführt wurden. Ein Weg mit antiken kolonialen Kontakten umzugehen, war die Berücksichtigung der besonderen Umstände: Die Griechen »kolonisierten« andere »Aryans«. Edward A. Freeman machte in seiner Rede auf diesen Umstand aufmerksam, als er die »griechische Kolonisation« mit der modernen Ausführung verglich: »[T]he earlier inhabitants whom the Greek settlers found in Southern Italy were indeed unlike those whom the English settlers found in America and Australia. Not very far removed, so some have thought, from the Greeks in blood, in any case belonging to the same great branch of the human family, the nations of the extreme south of Italy, like their neighbours of Sicily, had a special power of adapting themselves to Greek ways, of adopting Greek culture, of making themselves in short Greeks by adoption. They did not die out before the new settlers, like the savages of America or Australia; they were able to rise to the higher civilization of the strangers who settled among them, and to become members of the same body.«131
Die für die Wahrnehmung der zeitgenössischen Kolonisation bestimmende rassifizierte Dichotomisierung wurde nicht auf die griechische Antike angewandt, das Gefälle in soziokultureller Hinsicht blieb hingegen gültig. Die unterlegenen »Kolonisierten« waren somit befähigt, sich zu assimilieren, was jedoch nicht als Wahl dargestellt wurde, sondern gewissermaßen als kolonialer Automatismus. Die Beschreibung durch Ernst Curtius scheint hingegen darauf hinzuweisen, dass die Trennung im Endeffekt nie ganz aufgehoben werden konnte: Die »Mischlinge« waren weder das eine noch das andere, so sehr sie sich auch um die Verbreitung der griechischen Kultur verdient gemacht haben. Dies zeigt auch der umgekehrte Fall: »Es gab Hellenen, die, von ihren Stapelorten vertrieben, in das Binnenland gedrängt waren, unter 128 Vgl. hierzu Snodgrass 2005: 50f. und auch Pagden 1998: 149f. 129 PAYNE 1877: 8. 130 Fredrickson 2004: 172; siehe zu diesem Spielraum auch 53-100. 131 FREEMAN 1886: 6f.
Die »griechische Kolonisation« im Age of Empire | 293
Barbaren ansäßig und allmählich verwildernd.«132 Barbaren, welche sich an die griechische Kultur assimilierten, ja sogar »Mischlinge«, blieben Barbaren. Aber Griechen, die »verwilderten« blieben Griechen, ein »gottbegnadigtes Geschlecht, körperlich wie geistig zur Herrschaft berufen«133.
II.3.3 ZUSAMMENFASSUNG In der zweiten Hälfte des 19. Jh. kam es über Deutschland hinaus zu einer normalwissenschaftlichen Konsolidierung der Altertumswissenschaften, aber besonders im deutschsprachigen Raum führte die Entstehung althistorischer Professuren zu einer Zementierung der Methodik und somit auch der Inhalte und Paradigmen. Auch das zusätzlich verfügbare Inschriftenmaterial wurde ihnen untergeordnet und in das bestehende Wissen eingefügt. Die Situation in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften erhielt dadurch eine ambivalente Note: Die angestrebte Einfühlung in das Ganze, also die Wesenheit der griechischen »Nation« gab einen Deutungsrahmen vor, der in seinem Inneren eine durchaus historisierende und induktive, mehr auf individuelle Quellenäußerungen bedachte, Rekonstruktion zuließ. Dennoch hatte sich das Wissen zur »griechischen Kolonisation« kaum verändert. Dies weist darauf hin, dass der Deutungsrahmen eine rigide Struktur vorgab, die keine Abweichungen zuließ. Das Paradigma wirkte gewissermaßen selbstimmunisierend: Diejenigen Quellenäußerungen, die die dem Paradigma entsprechenden Grundvorstellungen zu den Wesenheiten der Griechen stützten, konnten verallgemeinert werden. Durch den Status dieser Grundvorstellungen als Manifestationen natürlicher Wesenheiten konnten sie sich überhistorisch geben – in Wirklichkeit waren sie jedoch geprägt vom nationalistischen Zeitgeist. Die restlichen Quellenäußerungen konnten als Belege historischer, individueller Erscheinungen schadlos eingeordnet werden.134 Wenn es insgesamt leichte Verschiebungen im Wissen zur »griechischen Kolonisation« gab, so lag dies primär an den Wandlungen im kolonialen Paradigma. Hierbei ist besonders die Verschärfung eines rassistischen Diskurses hervorzuheben. Es lässt sich aber auch eine markante Verschiebung des Akzents hin zur machtpolitischen Perspektive auf das Phänomen Kolonisation beobachten, was in der Zeit des Imperialismus wenig überrascht. Dies verstärkte den Sonderfallstatus der »griechischen Kolonisation«. Die »Griechen« blieben jedoch nachahmenswert als Patrioten, als Demokraten und Freiheitsliebende sowie insbesondere als Kulturbringer, je nachdem, für welche Position ein Vorbild gebraucht wurde. 132 CURTIUS 1887: 451. 133 CURTIUS 1892: 100. 134 Vgl. zu einer ähnlichen Beobachtung Hayden Whites Analyse der Historiographie Rankes: White 2014: 163-190, bes. 189.
II.4 Neue Ordnungen? Die ersten Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg Querschnitt 3
Der Sprung der Untersuchung vom Ende des 19. Jh. in die 50er- und 60er-Jahre des 20. Jh. bedeutet einen Sprung vom Hochimperialismus in die Zeit der Dekolonisation. Neben dieser weltpolitischen Umwälzung hatte sich auch die Verankerung der Geschichtswissenschaften in der Gesellschaft verändert: Die unbestrittene Rolle der Geschichte als magistra vitae war verlorengegangen. Nicht zuletzt hing dies mit der Desavouierung des europäischen Fortschritts- und Zivilisationsdiskurses aufgrund der katastrophalen Ereignisse der Zwischenzeit zusammen. Die große zeitliche Lücke zwischen diesem Querschnitt und dem vorangegangenen ergibt sich deshalb, weil erst in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine größere Anzahl von relevanten Nachschlagewerken erschienen ist.1 Das einbändige Oxford Classical Dictionary (im folgenden OCD) wurde bereits vor dem Krieg als Nachfolgewerk für Smiths Dictionaries zur Antike konzipiert. Der Zweite Weltkrieg sollte jedoch die Herausgabe bis in das Jahr 1949 verzögern.2 Den Artikel zu »Colonization, Greek« verfasste Andrew Robert Burn (1902-1991), Senior Lecturer in Ancient History an der University of Glasgow. Die Kürze dieses Werkes ermöglichte bereits im Jahre 1970 eine Neuauflage, also während die letzten Bände der RE noch im Erscheinen begriffen waren. Diesmal stammte der Eintrag von Alexander John Graham, einer zentralen Figur für das Forschungsfeld der »griechischen Kolonisation«. Von 1964 bis 1975 wurde der fünfbändige »Kleine Pauly« herausgegeben. Dieser sollte »in 1
Primär die Cambridge Ancient History, ein Überblickswerk zur »continuous history of European peoples«, fiel in diese Lücke. 1925 war der dritte Band mit einem Abschnitt zur »colonial expansion of Greece« (S. 631-686), verfasst von John L. Myres (1869-1954, bis 1939 Wykeham Professor of Ancient History in Oxford) erschienen.
2
CARY 1949b: v.
296 | II. Das moderne Wissen
knappster Form alles bieten, was zu den Grundlagen des Wissens über die Welt der Antike gehört« und richtete sich an alle »an der Welt der Antike Interessierten, welche sich die Anschaffung des – demnächst an 80 Bänden umfassenden – ›Großen Pauly‹ [gemeint ist die RE, MM] aus räumlichen und finanziellen Gründen versagen müssen«3. Als Herausgeber fungierten der Göttinger Altphilologe Konrat Ziegler (1884-1974), der auch seit 1946 die Herausgeberschaft der RE innehatte, und der klassische Philologe und Gymnasiallehrer Walther Sontheimer (1890-1984). Anneliese Mannzmann, die 1960 mit einer Studie zu griechischen Stiftungsurkunden an der Universität Münster promovierte, verfasste das Lemma »Ἀποικία [Apoikia]« im ersten Band von 1964. Als Quelle aus dem Genre Handbuch soll Hermann Bengtsons (1909-1989) Griechische Geschichte dienen, die 1950 (zu diesem Zeitpunkt im Rahmen des Handbuchs der Altertumswissenschaft als Band 3/4) erstmals erschienen ist, dessen Herausgeber Bengtson zudem ab 1953 war. Seine Griechische Geschichte ersetzte in dieser Reihe somit jene Robert von Pöhlmanns, die zuletzt 1914 aktualisiert worden war. Dieser Band entstand zwischen 1946 und 1949, also während des Berufsverbots aufgrund seiner Rolle im NS-System.4 1960 und 1965 wurde es jeweils neu herausgegeben. Zur »griechischen Kolonisation« selbst waren in der Jahrhundertmitte vor allem Monographien zum westlichen Mittelmeerraum erschienen. Hierunter fallen Thomas J. Dunbabins (1911-1955) The Western Greeks. The History of Sicily and South Italy from the Foundation of the Greek Colonies to 480 B.C. (Oxford 1948)5 und Jean Bérards6 (1908-1957) La colonisation grecque de l’Italie méridionale et de la Sicile dans l’Antiquité (Paris 1941). Erst posthum wurde Bérards Überblickswerk L’Expansion et la colonization Grecques jusqu’aux guerres Médiques (Paris 1960) veröffentlicht. Dieses Buch stieß in eine von den Zeitgenossen bemängelte Lücke, da seit Raoul-Rochettes vierbändigem Werk kein monographischer Überblick zum Gesamtphänomen herausgegeben worden war.7 Diesen Bedarf deckten zudem zwei 1964 erschienene Monographien ab: John Boardmans (1927-) The Greeks Overseas (Hammondsworth 1964) und A.J. Grahams (1930-2005) Colony and Mother City in Ancient Greece (Manchester 1964), die den Status von Standardwerken erhalten sollten. Hierbei handelt es sich gewissermaßen um komplementäre Werke: Boardman umriss sein Forschungsvorhaben kurz und bündig wie folgt: »This book deals with 3 4
ZIEGLER/SONTHEIMER 1964: v. Siehe BENGTSON 1960: viiif. Zu Bengtsons Rolle im NS-System siehe Rebenich 2009. Zu seiner Biographie siehe Christ 1999: 314-324 und 2006: 106-8 sowie Horst 2012.
5
Siehe die ausführlichen Besprechungen in De Angelis 1998, Shepherd 2005: 30-37 und D’Ercole 2012: 13f.
6 7
Siehe Gran-Aymerich 2001: 64f. Siehe die entsprechenden Bemerkungen von BÉRARD 1960: 9, BENGTSON 1960: 87 und GRAHAM 1964: xviii.
Die ersten Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg | 297
the material evidence for the early relations between Greeks and barbarians.«8 Graham hingegen konzentrierte sich auf die andere Seite kolonialer Verhältnisse, die bislang in der Forschungsgeschichte im Zentrum des Interesses stand: Dem Verhältnis von griechischer »Kolonie« und Metropole. Weniger stark rezipiert als die beiden Bücher von Boardman und Graham wurde Claude Mossés (1924-)9 La Colonisation dans l’Antiquité (Paris 1970). Spätere Überblickwerke zur Antike führten dieses Buch zwar kaum als weiterführende Literatur zur »griechischen Kolonisation« an, dennoch soll es im Folgenden herangezogen werden, um ein möglichst breites transnationales Panorama des Wissens zu diesem Phänomen im untersuchten Zeitfenster zu bieten. Schon Dunbabins und Bérards Monographien konnten auf der steigenden Anzahl an verfügbaren Grabungsbefunden aus antiken griechischen »Kolonien« aufbauen, gerade was Sizilien und die Magna Graecia betraf. An dieser verstärkten, systematischen Grabungstätigkeit waren auch italienische Forscher beteiligt, auf deren Beitrag aufgrund des Fokus vorliegender Arbeit nicht näher eingegangen werden kann. 10 Diese größere Menge an Informationen zu den materiellen Überresten griechischer »Kolonien« ermöglichte eine verstärkte Gegenüberstellung mit den schriftlichen Hinterlassenschaften, wobei das Primat bei letzteren blieb: Die Archäologie war für Historiker noch eine Hilfswissenschaft.11 Diese disziplinäre Trennung und Hierarchisierung zeigt sich etwa im Vorwort zur zweiten Auflage des OCD: »The editors have introduced only a few changes. They have allowed a little more space for the archaeological background, without departing from the principle that this is a classical and not an archaeological dictionary.«12 Der Ausgangspunkt der Beschäftigung mit der »griechischen Kolonisation« blieb das Quellenkorpus, was auch Grahams Überblick über die Forschungsgeschichte und Rechtfertigung seines Buchs Colony and Mother City zeigt: »The collection of the relevant passages in ancient authors may be said to have been virtually completed by J. P. de Bougainville in 1745 with the first separate book on the subject. Later in the same century the topic received special attention owing to the conflict between Britain and her American colonies. Many pamphlets were written both in French and English with the aim
8
BOARDMAN 1964: 21.
9
Siehe zu Claude Mossé: Polignac 2014.
10 Für mehr Informationen siehe D’Ercole 2012: 15-17. 11 Siehe zur Kombination von Quellenaussagen und archäologischen Befunden bei Dunbabin De Angelis 1998: 540. Franco De Angelis sieht bei der verstärkten Inkorporation der Archäologie Dunbabins Western Greeks als Pionierwerk. Siehe zu dieser Einschätzung auch Shepherd 2005: 30 und D’Ercole 2012: 13. 12 HAMMOND/SCULLARD 1970b: v.
298 | II. Das moderne Wissen
of finding justification in the practices of the ancients for whatever view their authors supported. The scholarly search for truth was not the guiding principle of these works, and the bias and irrelevance which they introduced into the investigation found their way into later compilations. The first considerable work of more than antiquarian interest today is the thesis of G. Diesterweg. For this is the first full treatment which can be called modern in precision and logical approach. If the literary evidence alone were available the only advance on Diesterweg possible would be by reinterpretation. This might well represent real advance, but it is the archaeological, and especially the epigraphic, evidence which has most clearly enlarged the material available for the study this question and provides the special justification for a new treatment.«13
Das Quellenkorpus stand eigentlich spätestens seit Raoul-Rochette fest und Graham bemerkte völlig zu Recht, dass sich das Wissen zur »griechischen Kolonisation« seither als eine Reihe von Interpretationen konstituiert hatte. Eine ernstzunehmende Neubewertung würde erst durch das ergänzende, durch die Archäologie bereitgestellte Material möglich sein, wobei Graham besonders die epigraphischen Funde, genaugenommen die Gründungsurkunden, im Auge hatte. Ihre Rolle wurde bereits im letzten Querschnitt thematisiert, inzwischen hatte sich ihre Anzahl geringfügig erweitert. Nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Forschungsfrage sah Boardman hingegen das Verhältnis von textlichen und materiellen Überresten anders: »The testimony of ancient historians will also be used. More than most ›archaeological‹ histories of ancient cultures, this should be read as a supplement to what is known from other sources, although our evidence may often fill gaps in the record or even correct it.«14 Diese Passage zeugt vom eigenständigen Profil, welches die Archäologie mittlerweile erlangt hatte: Zwar ein »supplement«, aber doch eine auf archäologischen Ergebnissen basierende Untersuchung, die eigenständig neben die Untersuchungen der Classicists trat. Mehr noch: »Unser« Wissen ergänzt, wenn nicht korrigiert »ihr« Wissen. Boardman konnte die, gerade in der angelsächsischen Tradition fest verankerte, Skepsis gegenüber den erhaltenen »legends« gegen das Primat der Schriftquellen bei der Rekonstruktion der »griechischen Kolonisation« wenden und zu einem Atout des archäologischen Zugangs machen, nicht zuletzt wenn es um die frühesten Phasen dieses Phänomens ging: »There are no contemporary Greek historical records of the centuries which most concern us, although some asides by early poets are relevant to our theme […].«15 Während Classicists bemüht sind »to rescue the history of the illiterate centuries from the myths and poems remembered and recorded by 13 GRAHAM 1964: xviif. Warum Graham diesen Qualitätssprung gerade bei Diesterweg und nicht bei einer der anderen Dissertationen der zweiten Hälfte des 19. Jh. (siehe Fn. 3 auf Seite 257) festgemacht hat, müsste im Detail geklärt werden. 14 BOARDMAN 1964: 22. 15 Ebd.: 35.
Die ersten Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg | 299
later generations«16, würden Archäolog_innen über einen direkteren Zugang zu dieser Zeit verfügen.17 Dies galt umso mehr für Boardmans Forschung, die sich auf einen Aspekt konzentrierte, der in den antiken schriftlichen Quellen stark unterrepräsentiert ist, den »early relations between Greeks and barbarians«. Gerade für diesen Bereich, der bislang vom kolonialen Paradigma als Lückenfüller beherrscht war, stellte der Aufschwung der archäologischen Forschung nunmehr das notwendige Material zur Verfügung. »The evidence in ancient historians for the foundation and early history of the colonies [im Westen, MM] is well set out in other works, and this is no place for an account of their internal politics and wars. Here our main interest is in the physical history of the colonies in their earliest days, their relations both with native populations and rivals like the Phoenicians, and the characteristics of the art which they derived from homeland Greece and then developed independently. It is in these matters that the archaeologist can hope to fill out the literary record, and for some problems – of relations with foreigners and even relative dates of foundations – his evidence may sometimes claim priority; remembering, of course, how much his chronology still depends on the ancient historian’s dates for some colonial foundations.«18
Zugleich erscheint es naheliegend, dass in der Zeit der Dekolonisation ein gesteigertes Bewusstsein für diesen Themenkomplex herrschte: Die europäischen Kolonisatoren waren konfrontiert mit der Emanzipation der ehemaligen kolonialen Objekte: Ein vormals evidentes Verhältnis musste neu verhandelt werden. Claude Mossés Beschreibung der Quellensituation ihrerseits war um Ausgewogenheit bemüht. Die Vor- und Nachteile beider Quellengattungen wurden beleuchtet, ohne sich auf eine Gewichtung festzulegen: »En effet les sources littéraires, les documents officiels ne nous donnent souvent qu’une information limitée et des indications imprécises, et ne s’intéressent le plus souvent qu’au colonisateur, jamais ou très exceptionnellement au colonisé. Force est donc de faire appel à d’autres sources, et singulièrement aux sources archéologiques. Ce sont elles et elles seules qui nous permettent de suivre les premières navigations en Méditerranée des marins phéniciens, qui précèdent les Grecs dans l’exploration des routes méditerranéennes. Ce sont elles qui nous permettent de dater les premiers établissements, de suivre l’évolution des rapports entre les colons et le milieu indigène. Mais on voit bien qu’elles ne peuvent tout nous dire, et que des pans entiers de l’information nous échappent. A cela s’ajoute le fait que la prospection archéologique, si elle a fait de considérables progrès depuis un quart de siècle, grâce à l’emploi de 16 BOARDMAN 1964: 42f. 17 Siehe zu dieser Dichotomisierung »historian« und »archaeologist« auch BOARDMAN 1964: 30f. oder das 2. Kapitel »The Background« (39-56). 18 BOARDMAN 1964: 175.
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techniques nouvelles et aussi grâce à un esprit de recherche plus systématique, n’est pas encore menée partout avec la même vigueur.«19
Mossé nutzte in ihrem Buch den vergrößerten Rekonstruktionsspielraum, der sich aus dem verfügbaren archäologischen Material und den damit einhergehenden Möglichkeiten der Erstellung eines nuancierten Bildes ergab. Die von Graham identifizierte Färbung der Rekonstruktionen durch die moderne Kolonisation sah Mossé nach wie vor am Werk. Allerdings stand der Kolonialdiskurs mittlerweile unter geänderten Vorzeichen – Mossé vertrat eine deutlich politischere Perspektive als Graham, der sich mehr in einen wissenschaftlichen Fortschrittsdiskurs eingeschrieben hatte: »La colonisation est un problème qui a pris au XXe siècle des dimensions particulières. Au moment en effet où s’effondrent les anciens empires coloniaux, les problèmes que pose la coexistence de deux civilisations différentes, placées dans un rapport de dominateur à dominé, ont suscité bien des controverses, soulevé bien des discussions, destinées tantôt à ›justifier‹ la colonisation, tantôt au contraire à en dénoncer les méfaits. Or le ›colonialisme‹ n’est pas né au XIXe siècle, pas même au XVIe siècle. Quand Bugeaud rêvait d’établir en Algérie des colons soldats, il se réclamait de l’exemple de Rome, et tous les enfants des écoles ont appris qu’un jour des Grecs venus d’Asie Mineure débarquèrent sur le sol gaulois et y fondèrent la ville de Marseille. L’étude de la colonisation antique peut donc être riche d’enseignements. Car, si elle soulève des questions comparables à celles que pose toute entreprise coloniale: rapport avec les indigènes, statut des colons par rapport à la métropole, contacts de civilisations, phénomènes d’acculturation, elle présente des caractères spécifiques qui tiennent à la fois à la nature des peuples colonisateurs, à leur état de développement économique, social et politique, aux circonstances générales qui prévalaient alors dans le bassin de la Méditerranée.«20
Die Frage nach dem Verhältnis Kolonisierende – Kolonisierte steht hier an erster Stelle, vor jenem zwischen Kolonien und ihren Metropolen. Mossé ist es wichtig zu betonen, dass es nicht um die Rekonstruktion von der Kolonisation inhärenten, allgemeinen Eigenschaften gehen könne. Zwar wurden auch von ihr die antiken »Kolonisationen« als Teil eines übergeordneten Phänomens gesehen, gleichzeitig aber ihre Alterität explizit gemacht: Andere Antworten auf ähnliche koloniale Fragen seien zu erwarten. Bei Kolonisation handelt es sich folglich primär um die Beschreibung konkreter Konfigurationen um die Aspekte Emi- und Immigration und den daraus resultierenden rückbezüglichen und externen Verhältnisse, also des Aspekts der Kulturkontakte. Mossé ist eine Vertreterin der École de Paris der historischen Anthropologie um Jean-Pierre Vernant und Pierre Vidal-Naquet. Die Antike wurde hier 19 MOSSÉ 1970: 4f. 20 Ebd.: 4.
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zum Objekt eines ethnologisch-anthropologischen Blicks auf eigenständige, »fremde« Gesellschaften. Dies befördert eine Dissoziation der »griechischen Kolonisation« von der modernen, europäischen Kolonisation und somit vom kolonialen Paradigma. Sie wurde von einem Vorläufer, Sonderfall oder gar Vorbild zu einem Vergleichsbeispiel für ein Kontaktphänomen, aus dem aber durchaus Lehren gezogen werden können.
II.4.1 DAS DISKURSIVE FELD Systematisierung 1: Chronologie und Autonomie Für die chronologische Eingrenzung der »griechischen Kolonisation« hatten die Entdeckungen des »genialen Außenseiters«21 Schliemann folgenreiche Konsequenzen. Schliemann selbst glaubte zwar, das Troja Homers entdeckt zu haben, in der altertumswissenschaftlichen Forschung setzte sich jedoch die Meinung durch, dass ein Blick auf die mediterranen Gesellschaften des zweiten vorchristlichen Jahrtausends eröffnet wurde. Aufgrund der über den Mittelmeerraum verstreuten bronzezeitlichen Funde griechischer Provenienz konnte insgesamt eine lange Kolonisationsgeschichte rekonstruiert werden. A.J. Graham umriss den Zeitraum der »griechischen Kolonisation« im OCD folgendermaßen: »Colonization was always a natural activity for Greeks, living in a poor country. Mycenaean colonies of the Late Bronze Age have been revealed by archaeologists (e.g. at Miletus), the coast of Asia Minor and the islands off it were settled at the beginning of the Iron Age, and there was much colonizing in Asia under Alexander and in the Hellenistic period. Nevertheless, the greatest colonizing achievement, by which Greek cities were spread out around the coasts of the Mediterranean and Pontus, is that of the archaic period, c. 750-c. 550.«22
Die Zeit vor der Archaik war in der Zeit des vorigen Querschnitts aufgrund der prekären Quellenlage chronologisch gesehen als eine relativ vage Sphäre, also eigentlich noch als Vorzeit, wahrgenommen worden. Dies änderte sich nun durch die Entdeckung des bronzezeitlichen Ägäisraums grundlegend und mit dem archäologisch greifbaren Besiedlungsende der mykenischen Befestigungsanlagen in Kombination mit vorderasiatischen, vor allem ägyptischen Texten zum sogenannten »Seevölkersturm« wurde ein fixer zeitlicher Ankerpunkt ermittelt, der an den Beginn des 12. Jh. v.Chr. gesetzt wurde. Hier habe der Übergang von der Bronzezeit zur Eisenzeit eingesetzt und die dark ages begannen: Der »flourishing Bronze Age civilization«, der 21 BENGTSON 1960: 6. 22 GRAHAM 1970: 264. Vgl. MANNZMANN 1964.
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Tage der »Minoan palaces and Mycenaean citadels« wurde durch das »débâcle« der dorischen Wanderung ein Ende gesetzt. 23 Der mykenischen »Handelskolonisation«24 der späten Bronzezeit konnten somit chronologisch die »Wanderungen« angeschlossen werden, die zur Besiedlung der Ägäis und Kleinasiens führten. Wie Graham sah auch Bengtson bereits hier eine Art von »Kolonisation«, der »natural activity« der Griechen: »Bereits das zweite Jahrtausend v.Chr. enthüllt als Grundzug der griechischen Geschichte die enge Verflochtenheit des Schicksals der Hellenen mit dem sie umgebenden Meere. Ihre eigentliche Erfüllung findet die Geschichte des hellenischen Volkes in der Kolonisation. Sowohl die Achäer wie die Stämme der Ioner, Äoler und Dorer, die einen am Ausgang des mykenische Zeitalters, die anderen im Anschluß an die Dorische Wanderung, haben das Meer überquert und außerhalb der Grenzen des engen Mutterlandes neue Niederlassungen gegründet mit dem Ergebnis, daß die Ägäis zu Beginn des 1. Jahrtausends ein griechisches Meer geworden ist.«25
Das teilweise als 1. Kolonisation bezeichnete Phänomen der Besiedlung der kleinasiatischen Küsten26 wurde somit auf den Zeitraum vom 11. bis in das 9. Jh. v.Chr. eingegrenzt.27 Zudem bedeutete es nicht mehr den Startpunkt, sondern ein Wiederaufnehmen der überseeischen Aktivität der Griechen beziehungsweise ihrer Vorläufer. Diese Neuordnung des Wissens zur vormaligen Vorzeit hatte auch methodische Konsequenzen: Nunmehr war mit den archäologischen Befunden ein Korrektiv zur Hand, das beim Unterfangen des Aufspürens des wahren Kerns helfen konnte. John Boardman etwa vermutete ein »grain of truth« in den Traditionen zu den Migrationen nach Kleinasien, betonte aber gleichzeitig, dass diese Traditionen an sich heterogene Emigrationszüge als homogene, organisierte Bewegungen wiedergaben.28 Jean Bérard machte von diesem jeu de vérité am ausgiebigsten Gebrauch, sah er doch das »substrat historique« der »légends« als erwiesen an:29 »Depuis la fin du siècle dernier, ces traditions ont paru très suspectes et leur témoignage a été mis en doute, tant en ce qui concerne l’origine des colons que pour la date et les modalités de cette triple colonisation dans le bassin égéen. Si beaucoup de lacunes et d’incertitudes subsistent dans les données qui nous viennent de la tradition antique, nous croyons cependant pour notre part qu’elles nous ont transmis de ces événements un souvenir plus fidèle qu’on ne l’a 23 Siehe BOARDMAN 1964: 39-44. Vgl. auch BENGTSON 1960: 20 und BÉRARD 1960: 33-35. 24 BENGTSON 1960: 45f. 25 Ebd.: 20f. und auch 17f. 26 Etwa MANNZMANN 1964: 435. 27 BOARDMAN 1964: 44f. und BENGTSON 1960: 56. 28 BOARDMAN 1964: 44f. 29 BÉRARD 1960: besonders 19-35.
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pensé, et leurs indications semblent en particulier trouver confirmation en d’autres témoignages, notamment dans le résultat les plus récents de l’exploration archéologique.«30
Für ihn war der Zeitraum ab der »invasion dorienne« historisch beschreibbar geworden, was dieses Ereignis zur Scheidemarke zum »âge pleinement préhistorique« machte.31 Indem er sich mit dieser Quellenexegese in die Tradition Duruys einreihte, folgte Bérard im Unterschied zu den anderen hier behandelten Überblickswerken einem der ansonsten vorherrschenden Skepsis diametral entgegengesetzten Zugang zu den Textzeugnissen: Niemand anderer übernahm aus ihnen so viel zur Beschreibung dieser frühen Ereignisse. Die »große griechische Kolonisation« Zur Unterscheidung dieser »griechischen Kolonisationen« wurde die ›eigentliche‹ »griechische Kolonisation« mit dem Zusatz »große« versehen.32 Andrew Burn behandelte in der ersten Auflage des OCD von 1949 gar nur diese »Kolonisation« von 750 bis 500 v.Chr. Die Griechen machten sich auf zu »those ventures overseas which were to help fashion Greece’s new ›Cassical‹ civilization, and […] to begin the spread of that new civilization to all corners of the western world«33. Ihre »Größe« wurde nunmehr durch den Umstand verstärkt, dass sie das Wiederaufblühen der »griechischen Zivilisation« nach den dark ages einleitete und dort anknüpfte, wo die mykenischen »Achäer« unterbrochen worden waren. Die »griechische Kolonisation« war somit nach wie vor ein Zivilisationsvehikel und die mit ihr einhergehende »neue« griechische »Zivilisation« an eine homogene kulturelle Entität geknüpft. Ein weiteres zentrales Merkmal dieser »griechischen Kolonisation« blieb die Organisation. Es galt weiterhin die grundsätzliche Unterscheidung zwischen früheren Emigrationen und späteren Gründungen durch »Städte«: 30 BÉRARD 1960: 49. Im Kontrast zu Bérard siehe gerade Mossé mit einer weniger textorientierten Einstellung: MOSSÉ 1970: 12-16. 31 BÉRARD 1960: 20. 32 Siehe BENGTSON 1960: 66: »Das Zeitalter der Grossen griechischen Kolonisation (800500 v.Chr.)«; BÉRARD 1960: 17: »Une période particulière de l’histoire grecque, la période archaïque, est communément présentée comme la grande époque de la colonisation«; GRAHAM
1964: 1: »great colonizing movement«; MOSSÉ 1970: 27: »grand mouvement de co-
lonization«; Anneliese Mannzmann (MANNZMANN 1964: 435) spricht hingegen von »den 3 großen Kolonisationsbewegungen: der Ausbreitung griech. Stämme (etwa 1200 bis 1000), bes. über die Inseln des Ägäischen Meeres nach der W.-Küste Kleinasiens hin, der Besiedlung der mittelmeerischen Küsten (Sizilien, Unteritalien, Ligurien, Spanien) und des Schwarzen Meeres um 750-550 v.Chr. und der hellenist. Expansion im Gefolge der Alexanderzüge«. 33 BOARDMAN 1964: 56.
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»Mais peut-on vraiment à leur propos parler de colonisation? En réalité, il s’agit plutôt de la dernière phase de l’établissement des Hellènes dans le bassin de la mer Égée. En dépit de la tradition, il ne semble pas que cette migration ait été le moins du monde organisée. […] De fait, la seconde vague d’expansion grecque, qui débute vers le milieu du VIIe siècle, se présente dans des conditions sensiblement différentes. Certes, là aussi, légendes et réalités se mêlent inextricablement, et dans les nombreux récits de fondation que nous ont transmis les auteurs anciens, il n’est pas toujours aisé de faire la part du mythe et celle de l’histoire proprement dite. Un fait demeure cependant qu’on ne peut nier: à l’origine de cette nouvelle expansion, il y a des cités et non plus des groupes ethniques vaguement désignés. […] C’est dans la mesure où il existe désormais des États grecs que l’on peut véritablement parler de colonisation organisée.«34
Auch für Claude Mossé blieb der Nukleus der »griechischen Zivilisation« die polis. Bemerkenswert ist hier die Distanz zu Bérard hinsichtlich der Bewertung der Texte: Noch in den schriftlichen Traditionen zur ›eigentlichen‹ »griechischen Kolonisation« vermischen sich »Mythos« und »Geschichte«. Die Unabhängigkeit der »griechischen Kolonien« A.J. Graham führte den bisherigen Fokus auf das (macht)politische Verhältnis zwischen »Kolonie« und Metropole fort. Dieser Aspekt bestimmte für ihn nach wie vor den »essential character of Greek colonization«35. Was die frühesten aus dem 5. Jh. v.Chr. stammenden antiken Äußerungen zu diesem Verhältnis betraf, räumte auch Graham ein, dass diese problematisch, weil ideologisch durch die Machtpolitik der hellenischen poleis gefärbt sind.36 Die Archäologie könne allerdings bei der Erforschung dieses Aspektes keine Hilfestellung leisten: »But there are ways of escaping in part from the stranglehold of the fifth-century sources. The most obvious is to use the archaeological evidence from the earlier period. While this has the great advantage that it is primary and unaffected by the ideas of later periods, the information yielded by material objects must remain very limited. Occasionally they show artistic connections between a colony and its mother city.«37
Aus dieser Warte blieb die Archäologie eine Hilfswissenschaft zur Veri- oder Falsifizierung von aus den Textquellen gewonnenem Wissen. So betonte Graham etwa, dass die Gründungsdaten für die sizilischen »Kolonien« durch die Archäologie im
34 MOSSÉ 1970: 29. 35 GRAHAM 1964: 1. 36 Siehe vor allem ebd.: 2. 37 Ebd.: 13.
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Großen und Ganzen bestätigt werden.38 Grundsätzlich galt nach wie vor die Vorstellung von der Autonomie der apoikiai. Graham allerdings optierte für eine Nuancierung dieses Bildes. Er reagierte mit seinem Buch explizit auf den Artikel »Sur l’évolution des rapports entre colonies et métropoles en Grèce à partir du VIe siècle« von Edouard Will, der von einer politischen Unabhängigkeit der archaischen »Kolonien« ausging.39 Im OCD beschrieb Graham das »normale« Verhältnis einer apoikia zu ihrer mētropolis folgendermaßen: »Normally, a colony formed a new polis. However, the unity of colony and mother-city was symbolized by common participation in cults, by kindling the fire at the sacred hearth (Hestia) of the colony from that of the metropolis, and by summoning a founder from the metropolis when a colony itself colonized. The primacy of the metropolis in general terms was normally recognized, so that it was natural for a colony to return to the mother-city for help in war or internal troubles. Thus, when circumstances were favorable, as when the distance was small or the mother city a sea-power, close associations of colonies and mother-cities and dependent colonies are found.«40
Graham schränkte somit die Autonomie der »colonies« etwas ein: Neben der kulturellen Rückbindung identifizierte er eine grundlegende, ideelle »primacy«. Eine apoikia sei zwar eine neue polis, wie Bougainville und Barron vor ihm – natürlich unter anderen Vorzeichen – wollte er die Autonomie allerdings nicht als grundlegendes Prinzip sehen, sondern nur als Folge der Umstände. Im Umkehrschluss waren dann spätere, durch antike Texte belegbare, engere Bindungen keine Ausnahmen, sondern ein Resultat der »primacy« wie auch von günstigeren Bedingungen für bestimmte mētropolis eine direktere Kontrolle auszuüben. Annelise Mannzmann hingegen definierte »Apoikia« klar als »Auswanderung mit dem Ziel, eine von der Mutterstadt unabhängige Tochterstadt zu gründen«:41 »Im Gegensatz zur apoikia und epoikia ist die emporia als bloße Handelskolonie, Faktorei und die klerouchia als ›Wehrbürgerkolonie‹ durch gemeinsames Bürgerrecht mit der Heimatgemeinde verbunden. Diese staatlich unselbständigen Gemeinden sind im griech. Sinne keine echten Kolonien, sondern verlängerte Arme der Metropolis, während die autonome apoikia wie ein Kind im Organismus der Mutterstadt sich bildet (manchmal werden auch Bürger verschiedener Städte zusammengenommen oder eine revoltierende Gruppe trennt sich gewaltsam von
38 GRAHAM 1970: 264. Vgl. auch BÉRARD 1960: 69. 39 WILL 1954. Siehe Grahams Bemerkungen zu diesem Artikel: GRAHAM 1964: 12f. und 211. 40 GRAHAM 1970: 264, detaillierter 211-217. Vgl. auch BOARDMAN 1964: 178. 41 Siehe auch BÉRARD 1960: 14 und 89-91.
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den übrigen), unter einer eigenen Ordnung selbständig wird und damit Eigenleben begründet.«42
Gemäß dieser idealtypischen Vorstellung von apoikia war nach wie vor eine kategorische Unterscheidung von verwandten Phänomenen möglich. 43 Diese zweite »griechische Kolonisation« sei im Unterschied zur ersten und der dritten, der hellenistischen, »die charakteristischste, weil ohne irgendeine autoritative Lenkung […] der Stadtstaat, die Polis, sich überall, wo griech. Siedler hinkommen, verwirklicht und zum Ferment für seine Umgebung wird«44. Hier zeigt sich der dem etatistischen Paradigma, das besonders tief in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften verwurzelt war, inhärente Mechanismus der Identifizierung typischer Eigenschaften. Auch gemäß Bengtson war es »der ausgeprägte politische Individualismus der Griechen, der im allgemeinen eine Beherrschung der Kolonie durch die Mutterstadt verhindert hat.«45 Graham hingegen folgte nicht dieser essentialisierenden Verallgemeinerung des Prinzips der Autonomie. Im Gegenteil: Das Pietätsverhältnis war für ihn die minimalste Manifestation und zugleich der Beleg einer ursprünglichen Intention, die Beziehungen zwischen »Kolonie« und mētropolis zu regeln.46 Er baute diese Argumentation einerseits auf die epigraphischen Quellen auf. Bereits im letzten Querschnitt hatte gerade die Brea-Inschrift zu einer Bestätigung des Kataloges an Gründungsgebräuchen geführt. Nunmehr traten an die Seite der Brea-Urkunde vor allem jene zu Naupaktos und das Kyrene-Dekret.47 Gerade die Regelungen hinsichtlich des zukünftigen Verhältnisses in diesen Gründungsdekreten sah Graham als Hinweis auf die grundsätzliche »primacy«. Wie stark diese dann schlussendlich in der Praxis ausgeprägt war, hing von den jeweiligen Umständen ab.48 Andererseits zeige der Umstand, dass die »religious relations« im 5. Jh. v.Chr. ernst genommen wurden, »the depth
42 MANNZMANN 1964: 434. 43 Siehe auch BÉRARD 1960: 17f. 44 MANNZMANN 1964: 434. 45 BENGTSON 1960: 89. 46 Siehe etwa GRAHAM 1964: 28 und 67f. 47 Siehe vor allem GRAHAM 1964: 40-68. Grundvoraussetzung war natürlich, dass die Kronzeugin, dass Kyrene-Dekret, authentisch war. Siehe hierzu die dieser Frage gewidmeten Einzeluntersuchung GRAHAM 1960. 48 Siehe etwa GRAHAM 1964: 215f. Vgl. auch MOSSE 1970: 42 zu ihrer Auseinandersetzung mit Grahams Position und ihrer pragmatischen Konklusion: »En tout cas il ressort de cette analyse que l’expérience politique grecque dans le domaine coloniale a été extrêmement variée, et que les circonstances ont amené métropoles et colonies à adopter des attitudes souvent différentes et parfois rigoreusement opposées.«
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and antiquity of this kind of relation«.49 Thukydides’ Unbehagen hinsichtlich des Aufbrechens »alter« Bündnisse im Zuge des Peloponnesischen Krieges war für Graham ein deutlicher Beleg: »It should now be clear why Thukydides was shocked at the violation of the relations of kinship between colonies and mother cities in the Sicilian campaign. The League of Delos, being based in his view on ancient Ionian kinship, did not generally flout such ties, but there were many individual instances where political alignments of the later fifth century cut across the old relationships, which he regarded as traditional and right. His basic ideas are the product of traditions from an older Greek world, which were no longer always effective in the times that he described.«50
Ähnliches galt für die Privilegien, die einer mētropolis eingeräumt wurden – und die somit die »primacy« unterstrichen –, wie sie von Thukydides anlässlich des Konfliktes zwischen Korkyra und Epidamnos thematisiert worden waren.51 Seine akribische Analyse des mittlerweile verfügbare epigraphischen Materials ermöglichte es Graham, zunächst ein stimmiges Bild der Vorstellungen der klassischen Zeit zum Verhältnis von Colony and Mother City zusammenzufügen. Zur Rechtfertigung von Rückschlüssen auf die Archaik musste er allerdings aufgrund der in der Wissenschaft mittlerweile selbstverständlich gewordenen Skepsis gegenüber den Traditionen einen relativ großen argumentativen Aufwand betreiben.52 Ein jeu de vérité war das Axiom der kulturellen Kontinuität. Wurden im 19. Jh. Sitten und Gebräuche explizit als natürlicher Bestandteil einer essentialisierten Entitäten »Volk« gesehen, so verschwand nun diese Rhetorik zwar, das Denkmuster blieb allerdings aktiv. Gerade die Vorstellungen zur religiösen Sphäre waren hiervon geprägt, bildete sie doch die Antithese zur »aufgeklärten« Moderne und wurde als Grundprinzip vormodernen Denkens und folglich als »primitive« Ausdrucksform politischer Gegebenheiten gesehen. Angesichts der sonstigen politischen Zersplitterung in poleis konnte somit nach wie vor über Amphiktyonien und Kultgemeinschaften bereits für die frühe Archaik ein übergeordnetes, homogenes Griechentum kreiert werden:53 »The earliest way in which Greek communities were joined with each other was by having the same sanctuary and the same cults. Thus the early Greek leagues were religious leagues in the
49 GRAHAM 1964: 216. 50 Ebd.: 217. 51 Siehe etwa ebd.: 100 und 163f. 52 Siehe vor allem ebd.: 8-22. 53 Vgl. hierzu auch BENGTSON 1960: 66f.
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sense that they were based on a common religious centre and worship. The religious function of such leagues and political aspects were originally not separate.«54
In dieses sinngebende Muster konnte das neue, epigraphischen Material eingefügt und als weitere Belege für die »alten Sitten« genutzt werden. Systematisierung 2: Typologien Im letzten Querschnitt wurden primär zwei Ursachen für die Gründung von apoikiai angeführt: Überbevölkerung, verknüpft mit kolonialer Landnahme zu agrarischen Zwecken, oftmals ausgelöst durch innere politische Unruhen, sowie Handel. Diese beiden Ursachen waren nicht als sich gegenseitig ausschließend gesehen worden, was sich auch in diesem Querschnitt fortsetzte. Beiden Kausalitäten konnten griechische »Kolonien« zugewiesen werden, was sich etwa bei Bérard, Bengtson und Mannzmann zeigt.55 Im Fall von Bengtson machte sich zudem der essentialisierende Zug gerade der deutschsprachigen Altertumswissenschaften bemerkbar. Er sah die »griechische Kolonisation« auf einer grundsätzlicheren Ebene als Ausdruck eines allgemeinen Lebensgefühls. Den Griechen habe das Emigrieren im Blut gelegen: »Sie wird von den breitesten Schichten des griechischen Volkes, vom Adel bis zu den Menschen ohne Ar und Halm, dem ländlichen Proletariat, getragen. In ihrer Entstehung und in ihrem Verlauf ist sie ein Phänomen, das letztlich jeder historischen ›Erklärung‹ spottet. Sie ist, welche Gründe man auch immer anführen mag, vor allem der Ausdruck eines elementaren neuen Lebensgefühles, dem die Grenzen der Heimat zu eng geworden sind.«56
Eine strukturalistische, aber ebenso deduktive Argumentation, die stark die naturräumlichen Gegebenheiten – gewissermaßen die mediterrane longue durée – berücksichtigte, war besonders ausgeprägt bei Claude Mossé: »[C]’est l’unité géographique que constitue le bassin de la Méditerranée. Et nous verrons au cours de notre dévéloppement qu’à ce lien primitif s’ajoutent des similitudes plus profondes qui tiennent à la nature de l’économie et des sociétés antiques. Il n’en reste pas moins vrai que les mobiles de l’entreprise coloniale ont varié d’une époque à l’autre, et que, si le besoin de terres nouvelles apparaît comme un des éléments fondamentaux de la colonisation antique, il n’exclut ni la recherche du profit, ni le souci de défense. D’où l’extrême diversité de la colonisation antique, des formes qu’elle a revêtues et de ses conséquences […].«57 54 GRAHAM 1964: 216. 55 BÉRARD 1960: 60f., BENGTSON 1960: 98 und MANNZMANN 1964. 56 BENGTSON 1960: 88. 57 MOSSÉ 1970: 5.
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Claude Mossé war darum bemüht, die Heterogenität des Phänomens der »griechischen Kolonisation« herauszuarbeiten. Sie unterteilte sie einerseits chronologisch, wie schon Bérard vor ihr, in eine Frühphase (Mitte 8. bis Mitte 7. Jh. v.Chr.) und eine zweite »Welle« (bis zum Beginn des 5. Jh. v.Chr.), andererseits in die zwei Haupttypen »colonies agraires« und »colonies commerciales«. Somit konnten diesen vier Untergruppen je nach den konkreten Gegebenheiten unterschiedliche Charakteristika zugewiesen werden. Für die zweite »Welle« schrieb sie auf diese Weise den Handelsinteressen ein größeres Gewicht zu. In der angelsächsischen Forschung entwickelte sich hingegen eine gegensätzliche Diskussion hinsichtlich der Ursachen. In seinem Artikel The Character of Greek Colonisation hatte Aubrey Gwynn 1918, gestützt auf den Kronzeugen Thukydides58, argumentiert, dass »the need for land« das zentrale Movens bei der Besiedlung des Mittelmeerraumes war und den Handel zumindest für die frühe Phase ausgeschlossen:59 »No one can dispute for a moment that the Greeks were by instinct a race of traders, and that this instinct was nowhere more conspicuously shown than in the history of their colonization. But we must distinguish carefully between two stages in that history. […] Was the Greek instinct for commerce sufficiently developed at that early date to act as a compelling motive in a great migratory movement? If the answer is negative, it is because the evidence of archaeology seems to prove that the Greeks had not so early at their disposal the materials requisite for large industrial or mercantile enterprises. In the recent edition of his ›Griechische Geschichte‹ Dr. Beloch has pointed out how small were the industries and how inadequate the shipping of the Greek world during the era of the earliest settlements. Thucydides himself dates the first great advances made by the Greeks in the art of navigation two or three generations later than the traditional date of the first Ionian settlements, and we can safely say that not until the second half of the seventh century did commerce and industry begin to play a dominant part in Greek life and history. The earlier Greeks were, in the main, not traders but peasants, and the first Greek colonies did not owe their existence to reasons of commerce, as do to-day, for example, the States of North America.«60
Auf der anderen Seite musste jedoch die Präsenz des über den gesamten Mittelmeerraum verstreut zu Tage geförderten griechischen Materials erklärt werden. Handel galt hierbei als plausibelste Erklärung. In Reaktion auf Gwynn vertrat Alan Blakeway (1932/33) in seiner Prolegomena to the Study of Greek Commerce with Italy, Sicily and France in the Eighth and Seventh Centuries B.C. die Ansicht, dass »the colonisation of the West was not only caused by over-population and land-hunger but also 58 Besonders Thukydides: 1. 15, sekundiert durch Platon Die Gesetze: 708b und 740e. 59 GWYNN 1918: 88f. Siehe zu Gwynn auch Shepherd 2005: 29f. 60 GWYNN 1918: 92.
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by the development of Greek trade«.61 Die Überbevölkerung wurde nicht bestritten, stelle sie doch eine Grundbedingung zur Entsendung von Siedler dar. Durch den Handel mit dem Westen war aber einerseits das notwendige Wissen zu den dortigen Beschaffenheiten verfügbar und zugleich eine Motivation, dort apoikiai zu gründen: »the flag followed trade«.62 Thomas J. Dunbabin folgte Blakeway. Gerade Pithekoussai und Kyme, also gerade die als die ältesten eingestuften »Kolonien« im westlichen Mittelmeerraum, dienten ihm als Beispiele für Handelskolonien, da sie nicht in einer sonderlich für Landwirtschaft geeigneten Umgebung angelegt worden sind.63 Auch John Boardman nahm diese Argumentation auf64 und erhob sie zu einem grundsätzlichen Prinzip bei der Bestimmung des Zwecks einer konkreten apoikia: Ein guter Hafen sei ein Anzeichen für eine Handelskolonie, gutes »farmland« ein Indikator für eine Siedlungskolonie.65 Graham hingegen beschrieb im OCD die Kausalitäten folgendermaßen: »The character of Greek colonization reflects that of the city-states from which it arose. Their economy was based on agriculture, and the overriding cause of the Greek colonizing movement was land hunger. Trade frequently followed the establishment of colonies and became very important for some, but colonies founded consciously for trade were exceptional, as, e.g., those of the northern Pontus, which Herodotus called emporia.«
Aubrey Gwynn verdanke man eine »necessary correction of earlier ideas of colonization for trade, which arose largely from misapplying the analogy of modern colonization«.66 Mit diesem Vorwurf der »bias« fuhr Graham ein schweres Geschütz auf, um die Vorrangigkeit der Ursache der Überbevölkerung zu verteidigen. Wenn nun beide Seiten grundsätzlich übereinstimmten, dass sowohl Überbevölkerung als auch Handel wichtige Faktoren der »griechischen Kolonisation« waren, stellt sich die Frage, warum die Verfechter der Überbevölkerung nicht auf die offene Argumentation eingehen konnten, also dass fallweise zu entscheiden sei, ob Handelsinteressen oder die Entsendung eines Bevölkerungsüberschusses im Zentrum des Interesse standen. Stattdessen wurde diese vehemente Abwehrhaltung bezogen. Hierbei spielten verschiedene Faktoren eine Rolle: Zunächst war es die grundlegende methodische Frage des Primats von schriftlichen oder archäologischen Quellen, was mit der Diversifizierung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Antike gerade im angelsächsischen Raum zu tun hatte. Die schriftlichen Quellen thematisierten Handel als 61 BLAKEWAY 1932/33: 206. 62 Ebd.: 202. 63 DUNBABIN 1948: 7. 64 BOARDMAN 1964: 176f. 65 Siehe etwa ebd.: 182-200, 236f. oder 253-256. 66 GRAHAM 1964: 5.
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Ursache von apoikiai eigentlich nie, die in ihren Überresten anzutreffende Keramik suggerierte allerdings anderes. Aus der Warte Gwynns und Grahams stand allerdings mehr auf dem Spiel, als die Frage ob Texte oder Scherben besser als Basis historiographischer Aussagen zur »griechischen Kolonisation« geeignet seien: Gewissermaßen stand die idealtypische apoikia und mit ihr die polis, neben der »Kolonisation« die zweite große Errungenschaft der archaischen Griechen, zur Disposition. Das obige Zitat von Graham macht das Axiom deutlich, dass ein »city-state« eine weitere polis gründete. Die »griechische Kolonisation« galt ihm als Kolonisation im neuzeitlichen Sinn und somit ein bewusstes politisches Unterfangen der Entsendung eines Teils der Bevölkerung zur Schaffung einer separaten, homogenen politischen Entität. Überspitzt formuliert ging es also weniger darum, warum, sondern wie und als was griechische »Kolonien« entstanden: »It is therefore still necessary to stress that most Greek colonies were founded to be self-sufficient Greek poleis […].«67 Die antiken Texte sprechen eben von der punktuellen Entstehung von poleis, nicht von kumulativ entstandenen »trading stations« oder emporia. Für Bengtson war dieser Umstand zudem integraler Teil der griechischen Zivilisierungsmission: »Für die Geschichte der abendländischen Welt ist es von weitreichender Fernwirkung gewesen, daß mit den griechischen Auswanderern zugleich die politischen Institutionen in die Ferne verpflanzt wurden, insbesondere der Typus des Gemeindestaates, die Polis; sie hat auch in fremder Umwelt ihre Lebenskraft bewiesen. Erst durch die große Kolonisation sind die Griechen zu einem wahrhaft führenden Volk der Alten Welt geworden; das Schicksal der griechischen Nation war von nun an untrennbar mit dem des Ostens und des Westens verflochten.«68
Zum Vergleich: Claude Mossé war hier weniger strikt. Diese unmittelbare Intention der Gründung einer autonomen polis wurde von ihr insofern abgeschwächt, als dies zwar der Endpunkt war, der Weg dorthin allerdings verschiedene Ausformungen haben konnte: »[Q]uelles qu’aient été les circonstances qui présidèrent à la fondation de ces colonies, elles aboutirent toujours à la naissance d’une cité, d’une polis, c’est-à-dire d’un État autonome qui, tout en conservant avec sa métropole des liens dont il va nous appartenir de définir la nature, a sa vie propre et se développe indépendamment de cette métropole.«69
Eine Argumentation, die im letzten Querschnitt bezüglich »Handelskolonien« angewandt worden ist. Sie wurde nunmehr allerdings ausgeweitet, was Blakeways Annahmen zu Kyme illustrieren: 67 GRAHAM 1964: 5. 68 BENGTSON 1960: 88f. 69 MOSSÉ 1970: 36.
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»If then there is any connection at all between Greek commerce and Greek colonisation we should expect to find that the character of the colony at Cumae and the character of its foundation reflected the character of the commercial conditions of that time. And this, I think, is what we do find in the literary tradition. For Cumae was not the parthenogenetic daughter of one Greek state but the bastard offspring of at least three, Chalcis, Eretria and Aeolian Cyme.) Further, a mixed origin for Cumae is, I think, demanded by the mixed alphabet of the earliest Cumaean inscriptions.«70
»Kolonien« mit Siedlern aus verschiedenen poleis konnten somit als Anzeichen für eine Ansiedlung aufgrund von Handelsinteressen verstanden werden. Dies bedeutete einen Angriff auf das oben skizzierte Grundprinzip anhand der laut antiken Quellen ältesten apoikia: Die klare typologische Trennung in eine »Kolonie« als planvolle, punktuelle Gründung und einem eher improvisiertem emporion geriet in Gefahr.71 Diese Haltung zeigt sich etwa auch bei Claude Mossé, auch wenn sie sie etwas flexibler anlegt: »En effet, un fait paraît maintenant admis: la colonisation grecque de l’époque archaïque n’a pas été le fait de pirates ou d’aventuriers, mais une entreprise organisée par la ou les métropoles, même si l’établissement définitif de la colonie a souvent été précédé d’une sorte de reconnaissance des lieux, voir d’un établissement provisoire.«72
Der Prozess der Entstehung einer apoikia im Sinne einer polis musste nicht geradlinig und von vorneherein determiniert sein. Gerade eine »Handelskolonie« »peut rester longtemps un comptoir sans véritable statut politique, davantage lié par conséquent à sa ou ses métropoles«73. Es verdient hervorgehoben zu werden, dass für Blakeway die schriftlichen Quellen in einer affirmativen Rolle dienten, was eine Umkehrung der traditionellen Rollenverteilung bedeutete. Auch Boardman setzte diese Herangehensweise Blakeways konsequent um, in dem er zu jeder apoikia Überlegungen zur möglichen Herkunft der Siedler basierend auf der vorgefundenen Keramik anstellte 70 BLAKEWAY 1932/33: 200f. 71 Siehe GRAHAM 1964: 109. Vgl. auch Gwynn der bemerkte, dass Handelsinteressen einen »less regular type« von »Kolonie« vorbringen konnte: emporia. »These settlements were made in the late seventh and early sixth centuries, when Greek colonisation had become almost entirely a policy of commercial interests, and it is probable that the trading-station was then as common as the regular colony along more distant trade-routes; but in the earlier period of colonisation it is more likely that the full type of ἀποικíα [apoikia] prevailed. Naucratis is not, we must repeat, in any way characteristic of Greek methods of colonisation.« GWYNN 1918: 106. 72 MOSSÉ 1970: 29. 73 Ebd.: 36.
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und diese Erkenntnisse mit den antiken Äußerungen abglich. 74 Somit standen zwei Arten antiker »Äußerungen« Seite an Seite: materielle Überreste und Textquellen. Auch unter diesem Lichte ist folgende Bemerkung Grahams im OCD zu sehen: »Archaeologists have striven to improve our knowledge, often most successfully. Interpretation of archaeological material, however, is often marred by the abuse of the dangerous argument from absence of finds, and the creation of bold theories of commercial, and even political connections on the sole basis of painted pottery.«75
ktisis Bei der Rekonstruktion des typischen Verlaufs einer ktisis war die Konsequenz aus der verstärkten Problematisierung der Quellenäußerungen eine Evaluierung ihrer Verallgemeinerbarkeit. Ein Kernelement des Wissens zur »griechischen Kolonisation«, der Katalog an Gründungsgebräuchen, stand zur Disposition und insgesamt lässt sich ein Abrücken von ihm ausmachen: Im Unterschied zum letzten Querschnitt wurde größerer Abstand von Verallgemeinerungen genommen. Dies vollzieht am deutlichsten Claude Mossé, die statt der Rekonstruktion der »griechischen Kolonisation« von vorneherein verschiedene Ausformungen unterschied und somit sehr vorsichtig hinsichtlich übergeordneter gemeinsamer Züge war. A.J. Graham hingegen blieb tendenziell bei dem Zugang, die »griechische Kolonisation« als homogenes Phänomen zu beschreiben. Dennoch sah er sich mit der Aufgabe konfrontiert, die Bedingungen der Verallgemeinerung der entsprechenden Quellenäußerungen herauszuarbeiten. Er baute auch hier auf die kulturelle Kontinuität: »Greek ideas and practices with regard to the act of founding a colony varied much less than the subsequent relations between colonies and mother cities. Generalization is therefore easier and more justified in discussing the former […]«76 Die nomima, Sitten, waren Konstanten: »As we should expect, it was normal for the colony to continue the cults, calendar, dialect, script, state offices and citizen divisions of its mother city.«77 Gerade religiösen Praxen wurde erneut eine lange Tradition eingeräumt: »The antiquity of these actions and beliefs is also suggested by their religious character.«78 Der Ablauf einer ktisis wurde von Graham folgendermaßen umrissen: »The process of founding a colonie became regular. A founder (oikistes) was appointed, who first sought sanction from Delphi (hence Delphi’s important role in colonization, though few, 74 Siehe etwa BOARDMAN 1964: 180-200 zu »Greek cities in Italy and Sicily«. 75 GRAHAM 1970: 264. 76 GRAHAM 1964: 4. 77 Ebd.: 14. 78 Ebd.: 25.
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if any, of the oracles preserved are authentic), then led the expedition, chose the site, divided the land, and received heroic honours at death. Often a small preliminary party would be reinforced by later emigrants from the mother-city.«79
Der oikistēs organisierte die Gründung, was »ritual acts« mit einschloss.80 Zu einem ähnlich Bild gelangte auch Claude Mossé: »La fondation d’une colonie apparaît d’abord comme un acte religieux, le transfert du culte de la métropole sur le territoire de la colonie, et l’oikiste était le personnage officiellement désigné pour accomplir ce rite qui marquait la naissance d’une nouvelle cité.«81 Wie bei Graham verlieh der rituelle Aspekt dieser Rekonstruktion eine größere Zuverlässigkeit. Mossé baute allerdings weniger auf der etablierten Vorstellung einer ktisis auf. Diese wurde von Graham und auch etwa Mannzmann insofern weitergeführt, als die einzelnen Elemente hinsichtlich ihrer Verallgemeinerbarkeit evaluiert wurden. Beibehalten wurden die Mitnahme des »Staatsherdfeuers«82 und der Götterbilder83. Gründungsurkunden selbst waren ebenfalls verallgemeinerbar: »[T]here is a little evidence to suggest that the colonists made an agreement on oath with the community they were leaving.«84 Den Beleg hierfür sah Graham vor allem in der Authentizität des KyreneDekrets. Was Graham hingegen ablehnte, war die Idee, dass der Oberpriester aus der mētropolis gekommen sei. Diese Vermutung beruhte auf einer scholiastischen Bemerkung zu Thukydides, die Graham als Missinterpretation des Scholiasten ansah.85 Zudem: »It too is unsupported by other evidence, and since it is a rather more striking practice than that reported by Thucydides it seems dangerous to accept it on the evidence of a single late and doubtful passage.«86 Somit verwendete Graham eine Argumentation, die bereits Sainte-Croix zur Hinterfragung dieses Wissenselements angewandt hatte, die allerdings in der Zwischenzeit außer Kraft gesetzt worden ist aufgrund der paradigmatisch gewordenen Verallgemeinerung der entsprechenden antiken Äußerungen. Mossé hingegen war von vorneherein skeptischer, was die Rekonstruktion einer typischen ktisis im Rahmen der »griechischen Kolonisation« betraf: »En dehors de cette fonction religieuse, nous ne savon malheureusement que peu de
79 GRAHAM 1970: 264f. Siehe auch MANNZMANN 1964: 434. 80 Siehe detaillierter GRAHAM 1964: 29-39. Im Fall einer Gründung durch eine apoikia, wurde er aus der mētropolis geholt: GRAHAM 1964: 2 und MANNZMANN 1964: 434. 81 MOSSÉ 1970: 37. 82 MANNZMANN 1964: 434 und GRAHAM 1964: 25, der jedoch den prekären Charakter dieser Information betont. 83 MANNZMANN 1964: 434. 84 GRAHAM 1964: 27 und auch MANNZMANN 1964: 434. 85 GRAHAM 1964: 160. 86 Ebd.: 160f.
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chose sur le rôle propre de l’oikiste.«87 Erneut war es das Wissen zu den soziokulturellen Strukturen der Archaik, das Anhaltspunkte bot: »En réalité, il est assez vraisemblable de penser que les oikistes de l’époque archaïque ont exercé des pouvoirs quasi monarchiques, politiques, militaires et religieux, même si seulement quelquesuns d’entre eux ont réussi à se maintenir au pouvoir, voire à fonder une dynastie.«88 Es galt, die konkrete »koloniale« Situation vor Ort zu rekonstruieren, um zuverlässige, Rückschlüsse gewinnen zu können.89 Hinsichtlich der Rolle des Orakels von Delphi änderte sich nicht viel: Nach wie vor wurde meist von einer obligatorischen Befragung ausgegangen und diesem Vorgang eine lange Tradition bis in die Anfänge der »großen Kolonisation« eingeräumt.90 Dennoch wurde auch hier begonnen, Fragen aufzuwerfen, etwa ab wann Delphi einen panhellenischen Status erhielt. Mossé war etwa weniger generalisierend: »Quant au rôle de l’oracle de Delphes dans le choix du site de la future colonie, souligné par tous les récits de fondation, il a été contesté par une partie de la critique moderne, mais admis par un grand nombre d’auteurs qui pensent que les prêtres de Delphes avaient rassemblé un certain nombre de connaissances géographiques, et cela dès une époque ancienne, et ont pu ainsi orienter l’établissement des colons. Certes, ils n’ont sans doute pas eu le rôle directeur qu’on serait parfois tenté de leur attribuer et il est incontestable que certains oracles ont été forgés après coup pour justifier le choix d’un site. Pour reprendre l’expression d’un historien anglais, le clergé de Delphes a plutôt donné à la colonisation une ›sanction religieuse‹ sans en assumer vraiment la direction. Il est cependant vraisemblable que Delphes a fini par acquérir une position d’arbitre en matière coloniale, et de nombreux exemples, tardifs il est vrai, tendent à prouver que l’oracle pouvait intervenir en cas de conflit: ainsi lorsqu’Epidamne voulut devenir colonie de Corinthe aux dépens de sa métropole Corcyre, ou encore dans les relations entre Thasos et ses colonies.«91
Die Griechen und die Barbaren Es war die Archäologie, die diesem Themenkomplex zu einer größeren Beachtung verhalf: Nunmehr waren die notwendigen Quellen verfügbar, um weitreichendere Angaben zu machen. Dies bedeutete allerdings nicht, dass automatisch das pauschalisierende koloniale Deutungsparadigma hinterfragt worden wäre. Vielmehr dienten die archäologischen Befunde oftmals dazu, die Vorstellung von der kulturelle Über-
87 MOSSÉ 1970: 37. 88 Ebd.: 37. 89 Siehe etwa ebd.: 38. 90 Siehe etwa die Bemerkungen von GRAHAM 1964: 25f. und BENGTSON 1960: 86. 91 MOSSÉ 1970: 29.
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legenheit der Griechen und ihrer »unter welthistorischen Gesichtspunkten hochbedeutende[n] Kulturmission«92 zu zementieren. Gerade John Boardman entwickelte eine mediterrane Fortschrittslehre mit Griechenland als Drehscheibe: »It must be remembered that this is only part of the story of the Greek renaissance, and can take little account of the Greeks’ own genius except in so far as it led them to explore and learn from older civilizations. With so much left unsaid it might even seem that classical Greece could have been nothing without this inspiration, but we have only to look at what the Greeks made of what they had borrowed and how soon they outshone their models. […] Then there is the other side to the story. With their colonizing and trade in the west and the north, the Greeks made contact with people who were less advanced culturally, and we are able to observe the beginnings of the spread of Greek civilization into Italy and Western Europe.«93
Der griechische »native genius«94 erlaubte ihnen die Entwicklung einer »civilization«, die sie mittels des Vehikels des Handels und ihrer »Kolonisation« über den Mittelmeerraum verbreiteten.95 Die Rollen waren klar verteilt: Hier das griechische entrepreneurship, das das Potential der »markets« im Westen erkannte und nutzte, dort die lokale Bevölkerung, die, »willig die Geschenke einer höheren Zivilisation«96 annehmend, die griechischen Luxusgüter gegen Rohstoffe eintauschten.97 Die Regeln des kolonialen Handels galten sowohl für die Antike, als auch für das Commonwealth, das in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an die Stelle des Empires getreten war. Dieser allmähliche Wechsel von formal zu informal empire im modernen Kolonialsystem fand somit auch seinen Niederschlag in der Wahrnehmung der »griechischen Kolonisation«. Ihre kulturelle Überlegenheit habe ihnen zur Kontrolle der »Barbaren« gereicht, ohne große territoriale Gebiete militärisch kontrollieren zu müssen: »The colonies generally formed enclaves of Hellenism on the edge of barbarian hinterlands, which were sometimes hostile; but friendly commercial relations were probably more usual. Mixed communities of Greeks and barbarians sometimes occured, e.g. in Chalcidice, and the Pontus.«98 Ähnlich pragmatisch sah auch Mossé die Situation. Im Fall von »colonies de peuplement« war je nach den lokalen Umständen eine große Bandbreite an Beziehungen von »hostilité souvent agressive« bis
92 BENGTSON 1960: 21. 93 BOARDMAN 1964: 22. 94 Ebd.: 80. 95 Siehe auch BÉRARD 1960: 12. Vgl. De Angelis 1998: 542 und Shepherd 2005: 30-7 zu Dunbabins Sichtweise der »purity of Greek culture«. 96 BENGTSON 1960: 93 zu Unteritalien. 97 Vgl. hierzu De Angelis 1998: 546f., Shepherd 2005: 30f. und D’Ercole 2012: 14. 98 GRAHAM 1970: 264.
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zu einer »pénétration pacifique« möglich.99 An der grundlegenden Annahme der Richtung des kulturellen Flusses änderte das neue Material nichts: »Pendant longtemps en effet, les problèmes des rapports entre indigènes et colons a été vu sous l’angle restreint des rapports de civilisation, artistiques et religieux. De plus en plus aujourd’hui, on s’efforce de dégager non seulement les voies de pénétration de ces influences, la plus ou moins grande perméabilité des indigènes à l’hellénisme, mais encore les modifications que des rapports plus ou moins réguliers ont entraînées dans les structures des sociétés indigènes.«100
Für »colonies commerciales« habe gegolten: »En effet l’installation, sur un territoire généralement exigu, suppose de bonnes relations avec les indigènes de l’arrièrepays.«101 Dies wirkte sich auch auf den Grad der kulturellen Durchdringung aus: »Si l’aire d’expansion de son influence est plus vaste, cette influence demeure néanmoins superficielle et n’entame pas vraiment la cohésion ou l’originalité du monde indigène.«102 Im Gegensatz dazu hatte Jean Bérard ein Jahrzehnt zuvor noch stärker die belliköse Seite der »Kolonisation« – auch im Fall von Handelskolonien – betont. Erinnert sei daran, dass gerade Frankreich in dieser Zeit sich militärisch gegen den Verlust seiner Kolonien stemmte. »De plus, la civilisation de ces populations indigènes était moins avancée. De ce fait, dans le domaine militaire notamment, sur mer comme sur terre, les Hellènes avaient une nette supériorité. Leur flotte leur permettait, à Pithécusses, d’être à l’abri des attaques des indigènes du continent. Sur terre, ils se trouvaient les plus forts par leur armement et par leur technique de combat plus savante; [...] Aussi, lorsque les indigènes tentèrent de s’opposer à l’établissement des nouveaux arrivants, – ce qui ne fut pas toujours le cas, – cette résistance fut-elle aisément brisée par la force. A Locres et à Léontinoi même, où indigènes et colons grecs firent cité commune pendant un bref laps de temps, l’élément indigène fut vite éliminé, et sans peine, par la ruse.«103
Grundsätzlich galt, dass Hybridität nur die lokale Bevölkerung betraf und nicht die Griechen.104 Bérard schrieb hinsichtlich der »Kolonisation« von Thasos und Thrakien: »Ils semblent au demeurant avoir pris femme dans la population indigène avec laquelle des accords intervinrent peut-être, sans pourtant qu’on puisse envisager qu’il
99
MOSSÉ 1970: 35f., 45f. und 50.
100 Ebd.: 44. 101 Ebd.: 36. 102 Ebd.: 66. 103 BÉRARD 1960: 87. Bérard sah aber auch die Möglichkeit von Allianzen: 88f. 104 Siehe etwa MOSSÉ 1970: 66ff.
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y ait eu, ni à l’origine ni même par la suite, cité commune entre Grecs et Thraces.«105 Intermarriage hieß hier das Einbeziehen nicht-griechischer Frauen in eine ansonsten griechische polis. Wenn eine Kohabitation konstatiert wurde, dann betraf es das Hinterland, wo die Gräberfunde entsprechend ausgelegt werden konnten. Zugleich konnte aber auch die Identifikation »griechischer« Gräber entsprechend den Vorstellungen auch als Hinweise auf Eroberungen gesehen werden.106
II.4.2 ZUSAMMENFASSUNG Was sich in diesem Querschnitt abzeichnete, war eine allmähliche Diversifizierung in den Vorstellungen zur »griechischen Kolonisation«. Das idealtypische Modell der organisierten, als polis eingerichteten apoikia, das sich einerseits wegen des Fokus auf politische Entitäten auf das etatistische Paradigma, andererseits wegen der Vorstellung von Kolonisation als zentral geplanten machtpolitischen Akt auf das koloniale Paradigma stützen konnte, geriet ins Wanken. Verantwortlich hierfür waren zum einen Verschiebungen innerhalb der Altertumswissenschaften: Die Erkenntnisse der Archäologie konnten teilweise in die bestehenden Deutungsmuster eingeordnet werden, wie etwa hinsichtlich des Verhältnisses der Kolonisierenden und der Kolonisierten Anderen. Zugleich ermöglichte das neue Material allerdings auch alternative Denkmöglichkeiten und Fragestellungen, was nicht zuletzt auch dazu genutzt werden konnte, eigenständige Wege zu beschreiten. Zugleich hatte sich die Skepsis gegenüber einer Verallgemeinerbarkeit der retrospektiven antiken Äußerungen durchgesetzt. Auch dies erlaubte teilweise ein Aufbrechen des Bildes der »griechischen Kolonisation«, insbesondere ein Abrücken von verallgemeinernden Positionen. Zum anderen brachte auch die Dekolonisation Modifikationen im allgemeinen Kolonialdiskurs mit sich, was ebenfalls eine Nuancierung der Wahrnehmung der Verhältnisse Metropole – Kolonie – Kolonisierte mit sich brachte. Trotz einiger Relativierungen im Detail änderte sich das Bild der »griechischen Kolonisation« jedoch insgesamt wenig. Zentrale Positionen hatten durch die nach wie vor wirkmächtigen, verallgemeinernden und homogenisierenden Paradigmen ein großes Beharrungsvermögen. Die Grundvorstellung von den Griechen als homogene soziokulturelle Einheit wirkte weiter, ebenfalls die Annahme eines grundlegenden kulturellen Gefälles. Dies scheint besonders in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften der Fall gewesen zu sein: Der Deutungsrahmen, den das etatistische Paradigma bot, erwies sich als zu rigide, um abweichende historische Interpretationen zuzulassen.
105 BÉRARD 1960: 93. 106 Siehe etwa MOSSÉ 1970: 46.
II.5 Die Evaluation des Wissens im neuen Jahrtausend Querschnitt 4
Im neuen Jahrtausend befindet sich die Forschung zur »griechischen Kolonisation« in einer Orientierungsphase. Das koloniale Paradigma wurde in den letzten beiden Jahrzehnten verstärkt hinterfragt und somit zentrale Elemente des modernen Wissens zu diesem Phänomen zur Disposition gestellt. Deutlichstes Symptom ist die Debatte um die Anwendbarkeit der mittlerweile als Anachronismus gesehenen Begrifflichkeit um »Kolonisation«. Insgesamt lässt sich eine deutliche quantitative Steigerung an Publikationen zu diesem Themenfeld feststellen. Das ist zum einen ein Resultat der steigenden Menge an einschlägigen Publikationsplattformen. Zum anderen ist dies auch eine Folge der Evaluation des Wissens. Neue Perspektiven und Fragestellungen eröffneten sich, nicht zuletzt etwa durch das Einsickern von Elementen der postcolonial studies.1 Dies ging Hand in Hand mit dem zunehmenden Ausschöpfen des Potentials der archäologischen Forschung, deren Erklärungspotential durch ethnologisch-anthropologische Erklärungsmodelle erweitert wird.2 Verstärkend wirkte, dass auf einer grundsätzlichen Ebene die Archäologie für Historiker_innen den Status einer Hilfswissenschaft verlor. Die im Vorwort zur zweiten Auflage des Oxford Classical Dictionary noch explizit betonte Trennung von Classics und Archaeology wurde im Vorwort zur dritten Auflage zurückgewiesen: »First, we have tried to give a voice to the increasingly interdisciplinary character of classical studies. Thus we reject the sharp distinction in the Preface of the second edition between ›classical‹ and ›archaeological‹. In keeping with modern trends in our discipline, we have tried to integrate archaeological and non-archaeological methods and evidence.«3
1
Vgl. etwa Malkin 2004 und Dietler 2010: 50f.
2
Vgl. etwa die Beiträge im Sammelband Stein 2005.
3
HORNBLOWER/SPAWFORTH 1996b: viii.
320 | II. Das moderne Wissen
Diese verschiedenen Faktoren führten zu einer Diversifizierung der Zugänge zur »griechischen Kolonisation« in Verbindung mit einem Bestreben, die Heterogenität dieses Phänomens hervortreten zu lassen. Monographische Publikationen beziehungsweise solche, die das Phänomen der »griechische Kolonisation« in ihrer Gesamtheit erfassen wollen,4 treten folglich quantitativ gegenüber Beiträgen in Sammelbänden, Handbüchern und Zeitschriften, die entweder einen gerafften Überblick geben oder sich auf einzelne Aspekte und Orte konzentrieren, in den Hintergrund.5 Die kaum überblickbare Menge an Publikationen zur »griechischen Kolonisation« macht für diesen Querschnitt eine Beschränkung auf Nachschlagewerke notwendiger denn zuvor. In puncto Enzyklopädien können sechs Exemplare – ebenfalls ein Zeichen der allgemeinen Expansion der Veröffentlichungen – herangezogen werden: Ab 1996 erschien ein mehrbändiges Nachfolgeprojekt der RE: Der Neue Pauly. Im Unterschied zu den Vorgängerwerken wurde die »griechische Kolonisation« nicht nur unter dem Lemma »Apoikia«, verfasst von Karl-Wilhelm Welwei (1930-2013), im ersten Band von 1996 abgehandelt, sondern auch in Band 6 (1999) als Teil eines separaten Eintrags zur »Kolonisation« in der Antike. Dies entsprach der im Vorwort angekündigten Absicht, »Dachartikel« hinzuzufügen, »welche die im ›Pauly‹ traditionell gegenstandsbezogene Nahsicht durch Überblicke ergänzen«.6 Die »griechische Kolonisation« wurde von Walter Eder (1941-2009) im Abschnitt »I. Allgemein«, »IV. ›Große‹ griechische Kolonisation« sowie »VI. Alexander der Große und Hellenismus« bearbeitet.7 1996 erfolgte auch eine dritte Neuauflage des Oxford Classical Dictionary unter der Herausgeberschaft von Simon Hornblower und Anthony Spawforth. David Ridgway (1938-2012, zum Erscheinungszeitpunkt Reader in Classics an der University of Edinburgh) verfasste zum einen den in dieser Auflage hinzugekommenen Eintrag »apoikia«, der eine knappe Begriffserklärung bietet, zum anderen das Lemma »colonization, Greek«. Diese Beiträge wurden unverändert in die Überarbeitung der dritten Auflage von 2003 übernommen und auch in der vierten 4
Hier sind zuletzt vor allem Irad Malkins A Small Greek World (Oxford/New York 2011) oder Cecilia D’Ercoles Histoires Méditerranéennes. Aspects de la colonisation grecque de l’Occident à la mer Noire (VIIIe-Ive siècles av. J.-C.) (Arles 2012) zu nennen. Beide Bücher sind unterteilt in eine allgemeine Einleitung gefolgt von einzelnen case-studies zur Illustration der verschiedenen Facetten der »griechischen Kolonisation«.
5
Beispielhaft hierfür ist etwa die von Gocha Tsetskhladze herausgegebene Sammelbandreihe Greek Colonization. An Account of Greek Colonies and Other Settlements Overseas (bislang 2 Bände: Leiden/Boston 2006 und 2008).
6
CANCIK/SCHNEIDER 1996: vi.
7
Die »II. Ionische Wanderung« bearbeitete Sigrid Deger-Jalkotzy (1940-; Professorin für Alte Geschichte und Altertusmkunde in Salzburg). Behandelt wurden in diesem Lemma auch die »Phönizische Kolonisation« sowie die »Etruskische Kolonisation«, bevor abschließend die »Römische Kolonisation« beschrieben wurde.
Die Evaluation des Wissens im neuen Jahrtausend | 321
Auflage von 2012 wurde lediglich die Bibliographie aktualisiert. 2005 erschien ein einbändiges französischsprachiges Lexikon: Das Dictionnaire de l’Antiquité, herausgegeben vom Ägyptologen Jean Leclant (1920-2011; Mitglied des Collège de France und Secrétaire perpétuel de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres), zu dem Anne Jacquemin (Professeur d’histoire grecque an der Université de Strasbourg) das Lemma »Colonisation Grecque« beitrug. Ein Jahr später wurde ein weiteres einbändiges Nachschlagewerk veröffentlicht: Das Cambridge Dictionary of Classical Civilization. Die Archäologin Tamar Hodos (University of Bristol) schrieb die Lemmata »colonialism« und »colonization«. Die Relation dieses Cambridge Dictionary of Classical Civilization zum Oxford Classical Dictionary wurde folgendermaßen umrissen: »We do not aim to compete with it in the number of entries and depth of scholarly detail, but we believe our volume breaks new ground in accessibility, and in the amount of space devoted to social, economic and cultural features of Greek and Roman society.«8 Die bereits eingangs angeklungene Öffnung der Altertumswissenschaften für »new approaches emphasizing social issues in the ancient world, as well as new sources of information such as archaeology«9, bedingte somit aus der Warte der Herausgeber_innen die Neufassung eines Wörterbuchs zur Antike angesichts der mittlerweile als »traditionell« empfundenen Struktur des OCD. Beide Werke, sowohl das französischsprachige als auch das englischsprachige Wörterbuch, zielen auf die Beschreibung von »civilizations«/»civilisations« ab. Das heißt, sie gehen über die griechisch-römische Antike hinaus und beziehen Räume mit ein, die in Kontakt mit diesen gestanden sind. Dieser Begriff entspricht somit dem deutschen Terminus »Kultur« in seiner Prägung als Dachbegriff für die Gesamtheit der soziokulturellen Gegebenheiten einer in ihren Grundzügen als homogen aufgefassten Einheit. Im Verlaufe der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurde dieser Begriffe zu einem Ersatz für »Volk«, was eine Entessentialisierung bedeutete und den Aspekt der Konstruiertheit dieser Kategorien miteinschloss. Exemplifiziert wird dies, neben einem Abrücken von dem im etatistischen Paradigma angelegten Fokus auf politische Entitäten, im Vorwort zum DNP: »Das Zentrum dieser Enzyklopädie ist das ›klassische Altertum‹, die griechische und römische Kultur in all ihren lebensweltlichen Bezügen – Sprache und Wirtschaft, Familie und Politik, Recht und Religion, Literatur und Kunst, Gesellschaft und Philosophie. Das (klassische) Altertum ist hier konzipiert als Epoche des Kulturraumes ›Méditeranée‹, die frühgriechische als
8
SHIPLEY/VANDERSPOEL/MATTINGLY/FOXHALL 2006b: xv. Siehe zur Betonung neuer Perspektiven auf die Antike auch die Vorworte zum DNP (CANCIK/ SCHNEIDER 1996) und zur Oxford Encyclopedia of Ancient Greece & Rome (GAGARIN 2010b).
9
SHIPLEY/VANDERSPOEL/MATTINGLY/FOXHALL 2006b: xv.
322 | II. Das moderne Wissen
spätorientalische Randkultur, das ›Ende der Antike‹ als Ausgliederung des byzantinischen, germanischen und islamischen Kulturen aus ihrem mediterranen Verbund.«10
2010 war es an der Oxford University Press, eine mehrbändige Enzyklopädie herauszugeben: The Oxford Encyclopedia of Ancient Greece & Rome. Franco De Angelis (Professor of Greek History an der University of British Columbia) verfasste das Lemma »Colonies and Colonisation, Greek«.11 Im Vorwort zu dieser Enzyklopädie wurde ebenfalls die »accessibility« hervorgehoben, denn wie das Cambridge Dictionary of Classical Civilization war es nicht zuletzt an ein »more general audience« gerichtet, was auch bewusst als Unterscheidungsmerkmal zum OCD gesehen wurde.12 Das bedeutete eine Ausrichtung an dem Interesse, das nunmehr ein allgemeines Publikum an der Antike haben konnte: »The world of classical antiquity is all around us – in new translations of classical literature, in museum exhibits, in travel to ancient sites, in the movies and on television, and in theatrical productions. The classical world is a vital part of our heritage, and however much we may rightly broaden our cultural horizons to include the non-Western world, we continue to admire the wondrous achievements of ancient Greece and Rome and to find new meaning in their ancient truths. In high schools, universities, and adult education programs – even in elementary and middle schools – the study of the Greek and Latin languages is holding its own, while the study of classical culture in general is thriving. Anyone studying the ancient world, or encountering it in various ways, may wish to learn more about that world, and The Oxford Encyclopedia of Ancient Greece and Rome provides not just a reliable source of factual information but also a guide to recent approaches and interpretations of the many aspects of the classical world, all in a form that is readily accessible to the general reader.«13
Diese Beschreibung der Rolle der Antike in der modernen Gesellschaft greift jene Elemente auf, die bereits im Vorwort zur englischsprachigen Ausgaben des »Neuen Pauly« angeführt wurden: Die Antike ist lebendiger Teil »unserer« (Alltags-)Kultur und dieses Fortleben ist die Grundlage unseres Interesses an ihr. Dieses Nachschlagewerk soll gerade dem »general reader« ein Mittel zur Hand geben, die Referenzen auf die Antike verstehen zu können und »new meaning in ancient truths« zu finden. Auch wenn dieses Vorwort von Optimismus nur so sprüht: Die im 19. Jh. noch selbstverständliche Rolle der griechisch-römischen Antike als grundlegende Basis von Bildung und somit des bürgerlichen Selbstverständnisses beziehungsweise als 10 CANCIK/SCHNEIDER 1996: vi. 11 De Angelis verfasste auch den Beitrag »Colonies and Colonization« (De Angelis 2009) in einem weiteren Handbuch: The Oxford Handbook of Hellenic Studies (Oxford 2009) 12 GAGARIN 2010b: xxiv. 13 Ebd.: xxiv.
Die Evaluation des Wissens im neuen Jahrtausend | 323
Lieferantin von Orientierungswissen ist passé. Der neue Konnex, der zwischen dem gesamtgesellschaftlichen Wissen zur Antike und der ihr gewidmeten Forschung hergestellt wird, besteht im Angebot eines Experten_innenwissens zum besseren Verständnis einerseits der Antike per se, aber auch der »eigenen« Kultur und der darin enthaltenen Referenzen auf die Antike: etwa »as a source of information about a subject that the reader has encountered in a book or movie or on a trip or in an unfamiliar classical allusion«.14 Dennoch behält die »classical antiquity« ihre Sonderstellung: Einerseits wegen ihrer zivilisatorischen Errungenschaften, deren Überreste auf »trips« zu bestaunen sind.15 Andererseits aber auch, weil sie »unser« Erbe ist. Der Fokus dieser Enzyklopädie galt weniger der »non-Western world«: »Other civilizations of the ancient Mediterranean world, including the Near East and Egypt before the conquests of Alexander, are treated primarily with regard to the ways in which they intersected with and influenced Greece and Rome, but they are not a topic in their own right.«16
Dieser Begriff des »Erbes« impliziert eine Identifikation und eine Kontinuität, und schlussendlich auch eine Legitimation der (universitären) Beschäftigung mit der Antike sowie der zumindest impliziten Nutzung moderner europäischer Deutungsmuster bei ihrer Rekonstruktion. Aber diese als Selbstverständlichkeit empfundene Kontinuität und ihre letztlich affirmative Rolle bröckelten in den letzten Jahrzehnten.17 Dieses Weiterleben wird etwa weitaus vorsichtiger im Vorwort zum Neuen Pauly beschrieben: »Rezeptionsprozesse sind bereits in der Antike selbst zu beobachten. Diese innerantike Rezeptionsgeschichte soll im Neuen Pauly über das Ende der Antike hinausgeführt werden und zwar so, daß kein neuer Mythos von bruchloser Kontinuität, von unveränderlicher Antike erzeugt wird. Rezpiert wird ja nicht ›Antike an sich‹, sondern jeweils ein selektives Konstrukt, das seinerseits das Ergebnis mehrfacher Rezeptionsvorgänge ist. Jeder Versuch einer Annäherung an die Antike geht mehr oder weniger bewußt von der eigenen Situation aus, enthält imaginäre 14 GAGARIN 2010b. 15 Vgl. hierzu bereits das Editorial des Archäologen Max Mallowan (1904-1978) zu John Boardmans The Greeks Overseas, erschienen als Taschenbuch der Reihe Pelican Books im Verlag Penguin Books, die sich auch an ein nicht-wissenschaftliches Publikum richten sollte. Hier heißt es: »To anyone travelling in the Mediterranean, on the Black Sea, or along the coast of Spain this book should be an indispensable companion, for Greek evidence is a part of the historical scene which still excites our enthusiasm and requires our personal exploration.« MALLOWAN 1964: 18. 16 GAGARIN 2010b: xxiiif. 17 Siehe etwa Chakrabarty 2000 für eine Kritik der europäischen Perspektive in den Geschichtswissenschaften.
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Elemente und führt deshalb zu mehr oder weniger starken ›Deformationen‹. Oft sind gerade kreative Annäherungen ›Sprünge‹ aus der eignen Zeit, über die vermittelnden Tradenten und Institutionen hinweg ›zu den Quellen selbst‹, gegen die Autoritäten. Die wissenschaftliche Erforschung der Wirkungsgeschichte registriert nicht nur diese Traditionen und Renaissancen, sie benennt Deformationen, Entleerung, Mißbrauch, Ignoranz und Ablehnung.«18
Die jüngste Enzyklopädie wurde 2013 vom Verlag Wiley-Blackwell veröffentlicht: The Encyclopedia of Ancient History in 13 Bänden. Gocha Tsetskhladze verfasste den Beitrag zur »Colonization, Greek«. »Ancient History« wird hier wiederum umfassender verstanden: Nicht nur die griechisch-römische Antike ist ihr Objekt, sondern auch die anderen »civilizations« im erweiterten Mittelmeerraum und dem Nahen Osten.19 Alles in allem werden in diesem Querschnitt zwei mehrbändige und zwei einbändige lexikalische Nachschlagewerke in englischer Sprache erfasst, dem etwa der Neue Pauly als einzige deutschsprachige Enzyklopädie gegenübersteht.20 Dies ist ein klarer Fingerzeig für die Verlagerung des Schwerpunkts der Publikationstätigkeit und korrespondierend des Marktes für wissenschaftliche Verlage in den angelsächsischen Sprachraum. Ähnliches lässt sich auch für das Genre der Handbücher konstatieren. Hierzu gehören beispielsweise A Companion to Archaic Greece (Malden MA/Oxford/Chichester 2009), ebenfalls ein Produkt des Verlags Wiley-Blackwell, welches den Artikel »Foundations« von Irad Malkin beinhaltet. Ebenfalls Teil der folgenden Analyse wird das Kapitel »Colonization: Greece on the Move, 900-480« von Carla Antonaccio aus The Cambridge Companion to Archaic Greece (Cambridge 2007) sein. Somit kommt es zu einer Gegenüberstellung der Zugänge des Historikers Malkin und der Archäologin Antonaccio, die beide eminent wichtig für das Forschungsfeld der »griechischen Kolonisation« sind. Das Cambridge Companion versteht sich als klassisches Handbuch, das einen Überblick über das Wissen bieten will. Auch hier findet sich die Betonung der Bedeutung der Vergangenheit für die europäische Gegenwart: Das archaische Griechenland wird bereits im Klappentext als »formative period« für das klassische Griechenland bezeichnet, und somit als »critical stage in the history of the West«: »This was an exciting period of discovery and experimentation, without which we cannot understand or appreciate the achievements of Classical Greece that have shaped the civilization of the West ever since.«21 Im Companion to Archaic Greece wird wiederum die Notwendigkeit eines Überblicks angesichts der Modifikationen im Wissen zur Archaik betont: »Nothing seems 18 CANCIK/SCHNEIDER 1996: vi. 19 BAGNALL/BRODERSEN/CHAMPION/ERSKINE/HUEBNER 2013: cxxxv. 20 Der Neue Pauly ist seit 2002 als Brill’s New Pauly ins Englische übersetzt. Beide Ausgaben sind auch online verfügbar. 21 SHAPIRO 2007b: 1.
Die Evaluation des Wissens im neuen Jahrtausend | 325
certain any longer in the study of archaic Greece.«22 Dies meint vor allem die Dekonstruktion bislang verbindlicher Wahrheiten, nicht zuletzt basierend auf den traditionellen, textbasierten Altertumswissenschaften: »Perhaps some of the skepticism driving such reassessments has gone too far, but it is certainly an important positive development that recent scholarship has been characterized by a more critical approach to the literary evidence. Meanwhile, other kinds of evidence – archaeological and iconographic – as well as numerous topics in the field of social, economic, and cultural history have been demanding increasing attention.«23
Diese Dekonstruktion betraf natürlich auch eines der zentralen Ereignisse der Archaik, die »griechische Kolonisation«.
II.5.1 DIE (SICH AUFLÖSENDE) ORDNUNG DES WISSENS Basisdefinitionen »griechische Kolonisation«: Chronologie und Typologie Auch wenn in einigen Nachschlagewerken der chronologische Fokus die klassische und hellenistische Zeit miteinschließt, so bezeichnet die Kategorie der »griechischen Kolonisation« im wissenschaftlichen Diskurs prinzipiell die Emigrationen und Gründungen der Archaik. Die zeitliche Obergrenze ist verknüpft mit der Frage nach den frühesten »Kolonien«, die Gocha Tsetskhladze folgendermaßen beantwortet: »The first Greek overseas settlement might have been Al Mina on the coast of northern Syria – its exact nature remains under dispute – a ›Gateway to the East‹ and a meeting place of Greek and Near Eastern societies. The earliest definite foundation in the Mediterranean is Pithekoussai, from just after the middle of the eighth century.«24
Die vormals selbstverständliche Abgrenzung der eigentlichen »griechischen Kolonisation« von früheren Migrationen hatte ihre Verbindlichkeit insofern eingebüßt, als der Status der Dark Ages als klare Trennlinie zwischen der spätbronzezeitlichen ägäischen Kultur und der Archaik aufgeweicht wurde. Gerade aus einer archäologischen Perspektive wurde die damit verknüpfte tabula rasa-Vorstellung hinterfragt, da auch für die Dark Ages griechisches Material außerhalb des Ägäisraums nachweisbar ist.
22 RAAFLAUB/VAN WEES 2009b: xx. 23 Ebd. 24 TSETSKHLADZE 2013: 1670.
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»The idea that ancient Greeks ventured little from home in the so-called Dark Age (c. 1100750 BCE) has come under increasing scrutiny in recent years. While the Greeks certainly had less contact with the outside world than in the preceding Bronze Age, there is evidence to show that some contacts were maintained both with parts closer to home and parts further away.«25
Dies wirft komplexe Fragen auf: Wie sind punktuelle (Handels-)Kontakte von einem »Greek settlement« oder gar einer »Kolonisation« anhand archäologischer Befunde unterscheidbar? Und auf einer generelleren Ebene: Wann ist der Übergang von einer oftmals als »prä-kolonial« bezeichneten Phase zur eigentlichen »Kolonisation« anzusetzen? Ein zentrales Mittel ist die bereits im letzten Querschnitt behandelte konzeptuelle Trennung einer apoikia im Sinne einer eigenständigen polis und als Ergebnis einer organisierten Gründung von Ansiedlungen mit improvisiertem Charakter.26 David Ridgeway unterscheidet zu diesem Zweck im Lemma »apoikia« des OCD die organisierten apoikiai von improvisierten emporia, die diesen Charakter ihrem Status als Handelsstützpunkte verdankten: »Given the continuing importance of trade to the main colonizing cities, it follows that the distinction between apoikia and emporion – the settlement type charactersitic of the pre-colonial phase – is in some case more apparent than real. Certain apoikiai could well have been considered in effect as emporia first and poleis second; and the sheer size and population-density of at least one early emporion, Pithecusae, seemingly established on a typically pre-colonial ad hoc basis, soon brought about a degree of social organization that might reasonably be expected of a ›true‹ apoikia.«27
Zur Kategorisierung Pithekoussais hinsichtlich seiner politischen Einrichtung herrscht, wie bereits gezeigt, kein Konsens.28 Dem zweiten Beispiel einer frühen Ansiedlung Al Mina hingegen wird allgemein ein prekärer Status zugewiesen. Zunächst ist die Art der griechischen Präsenz alleine aus dem archäologischen Material nicht definitiv zu klären, zum anderen waren die Griechen in der Levante in Kontakt mit überlegenen politischen Mächten. Die »echte« apoikia definiert Ridgeway jedenfalls folgendermaßen:
25 DE ANGELIS 2010: 252. Siehe auch HODOS 2006b: 219. 26 Siehe hierzu etwa die grundlegende lexikographische Studie von Michel Casevitz Le vocabulaire de la colonisation en grec ancien (Paris 1985), der den Grad der Organisiertheit als Kriterium für die Übersetzung der antiken Begrifflichkeit mit »kolonisieren« verwendete. 27 RIDGWAY 1996a. 28 Siehe zum Forschungsstand zu Pithekoussai D’Ercole 2012: 96-100.
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»›[A] settlement far from home, a colony‹ (LSJ [Liddell-Scott-Jones, ein altgriechischenglisches Wörterbuch, MM]), and hence a Greek community regarded as distinct from the kind of trading-post conventionally known as an emporion. In effect, an apoikia may be defined as a polis established abroad by a polis (or metropolis: ›mother city‹) at home: the official process required the appointment of a leader/founder, and are well described (for Sicily) in the early chapters of Thuc. 6.«29
Diese Differenzierung macht deutlich, dass die modern Wahrnehmung der Antike nach wie vor auf die Identifizierung und Analyse politischer Entitäten ausgerichtet ist. Die beiden unterschiedenen Kategorisierungen apoikia und emporion erlauben eine typologische Unterscheidung, aufbauend auf dem Faktor der politischen Organisation: Um von einer apoikia zu sprechen, brauchte es eine polis, also ein autarkes, selbstorganisiertes Gemeinwesen mit einer eigenen Gruppenidentität und den entsprechenden politischen Institutionen sowie einem entsprechenden offiziellen, performativen Akt der Gründung zur Stabilisierung der sozialen Kohäsion. Die Kategorie emporion eignet sich zur Gruppierung von Siedlungen, denen dieser Status nicht beziehungsweise noch nicht zugesprochen werden kann. Ridgeway selbst betont, dass diese Differenzierung in vielen Fällen »more apparent than real« sei und sich in der Realität nicht klar nachvollziehen lässt. Ein Fall par excellence ist Megara Hyblaia auf Sizilien, dessen archäologischer Befund sowohl als Beleg für Vertreter_innen einer geplanten Ansiedlung von Beginn an dient oder als Beispiel einer improvisierten Ansiedlung.30 Die Figur des oikistēs kann sich ebenfalls in diesen Spielraum einfügen: Seine in den Texten greifbare Rolle als Organisator kann, neben der üblichen Nutzung als Beleg einer organisierten ktisis, als Zeichen für die Entstehung von Siedlungen gewissermaßen als Privatinitiative gedeutet werden. Die polis tritt ihm dann erst später als Akteur zur Seite. Auch muss darauf verwiesen werden, dass der antike Gebrauch der Begriffe apoikia und emporion nicht dieser modernen, kategorischen Unterscheidung entsprach.31 Spuren in den Überresten der Antike für diese typologische Dichotomisierung zu finden, ist somit alles andere als evident. Das merkliche Auseinanderklaffen dieser idealtypischen Unterscheidung mit den Möglichkeiten der Auslegung des verfügbaren Materials äußert sich auch in der zunehmenden Heterogenisierung des Bildes der »griechischen Kolonisation«. Auch dies ist als Beleg für den retrospektiven Status dieser Dichotomisierung zu werten, die eine Folge der modernen Ordnungsbemühungen sind und im Endeffekt dazu diente, die Kategorie apoikia gewissermaßen reinzuhalten in ihrem politischen Status als polis.
29 RIDGWAY 1996a. Vgl. auch Karl-Wilhelm Welweis (WELWEI 1996) Definition von »apoikia« im Neuen Pauly. 30 Siehe primär Osborne 1998 vs Malkin 2002. Vgl. hierzu auch D’Ercole 2012: 18-20. 31 Siehe zum Begriff emporion grundlegend Bresson 1993 und Hansen 2006.
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Die chronologische Abgrenzung nach unten folgt dementsprechend ebenfalls nach wie vor dem Gesichtspunkt des politischen Verhältnisses der apoikiai zu ihren mētropoleis: Die »Kolonisationen« der klassischen Zeit unterschieden sich in ihrer Ausformung und Intentionalität von der archaischen »Kolonisation«. Walter Eder bemerkt im Neuen Pauly: »Im 5. Jh. vollzieht sich ein Wandel im Bild der K.: Hatten bisher regelmäßig Handelsinteressen, wirtschaftliche Not oder polit. Probleme zur Gründung von Kolonien geführt, so dient die Ansiedlung von Kolonisten nun primär dazu, Herrschaft in ausgedehnten Räumen zu sichern (nicht zu gewinnen!).«32 Das »Seereich Athens« wird als Übergangsstadium zu den »Kolonien Alexandros’ d. Gr. und der hell. Könige« gesehen.33 Diese Grenzziehung kann allerdings nicht nur einer machtpolitischen, sondern auch einer naturräumlich-strukturellen Logik folgen: »It is no exageration to say that by 580 all the most obvious areas in the then available world had been occupied to at least some extent by Greeks.«34 Die Besiedlung des Mittelmeerraumes war an ihre natürlichen Grenzen gestoßen. Dennoch bleibt die Frage nach dem Wandel gerade der politischen und kulturellen Beziehungen zwischen apoikia und mētropolis im Zentrum der chronologischen Abgrenzung der »griechischen Kolonisation«. Der Faktor der Unabhängigkeit wird allerdings nicht mehr so dogmatisch wie früher behandelt. Grahams Relativierung dieses Bildes hat somit teilweise Früchte getragen: »Die polit. Beziehungen zw. Metropolis und A. konnten unterschiedlich sein. Es gab einerseits den Typ der eigenständigen A., die aber trotz ihrer polit. Unabhängigkeit der Mutterstadt durch ›Bande der Pietät‹ verbunden blieb. Im Interessenbereich von Metropoleis, die bestrebt waren, weiträumig Einfluß zu gewinnen, konnte sich aber auch eine mehr oder weniger starke Abhängigkeit ihrer A. entwickeln.«35
Entweder wird die Beantwortung dieser Frage mehr den konkreten Umständen überlassen, oder es wird nach wie vor auf der Grundposition beharrt: »All Greek colonies were politically independent of their mother cities (metropoleis) from the start, even if various contradictory claims could be made – and were.«36 In letzterem Fall können die in den Quellen greifbaren Hinweise auf eine mögliche politische Abhängigkeit durch das Argument der Färbung durch die spätere Erfahrung der frühklassischen Zeit gekontert werden37 – ein Punkt, auf den bereits A.J. Graham eingehen musste. Bei aller Relativierung bleibt grundsätzlich aber doch eine idealtypische Trennung in 32 EDER 1999: 647. 33 Ebd. 34 RIDGWAY 1996b: 363. 35 WELWEI 1996: 850. 36 ANTONACCIO 2007: 205. 37 Siehe etwa ebd.
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frühere, unabhängige, apoikiai und spätere, machtpolitisch determinierte, klērouchiai wirksam. Aber auch diese kategorische Dichotomisierung deckt sich nicht mit dem antiken Sprachgebrauch38 und entspringt mehr dem Bestreben aus der modernen Retrospektive, die apoikia als autonome politische Einheit zu bewahren. Die Verallgemeinerbarkeit der »griechischen Kolonisation« Noch stärker als im letzten Querschnitt rückt die Frage der Verallgemeinerbarkeit von typischen Elementen der »griechischen Kolonisation« in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Nahezu unisono wird nunmehr die Heterogenität dieses Phänomens betont, wobei es zu seiner Bestimmung dennoch notwendig ist, gewisse Kerneigenschaften zu isolieren. Dieser Vorgang unterliegt mittlerweile allerdings einer verstärkten Argumentationspflicht, die je nach Wissenselement, etwa die Frage der Ursachen oder jene der Gründungsgebräuche, unterschiedlich ausfallen kann. Dies ist auch das Ergebnis einer generellen, gewissermaßen konstruktivistischen Fundierung der Skepsis gegenüber Narrativen zur Vergangenheit, etwa aufgrund von Erkenntnissen hinsichtlich der Mechanismen von kollektiven Gedächtnissen, dem größeren Gewicht, der dem Einfluss zeitgenössischer Vorstellungen und Axiome auf Vergangenheitsdarstellungen eingeräumt wird, sowie der Berücksichtigung der Einwirkungen ihrer narrativen Ausgestaltung auf den Inhalt.39 Was zur Disposition steht, ist im Endeffekt die Möglichkeit der Behandlung der Archaik als historisches Objekt. Die Grenzziehung, welche Zeiten aufgrund der erhaltenen Texte zuverlässig beschreibbar sind, war somit insgesamt in den behandelten zwei Jahrhunderten stetig nach unten gewandert. Dieses Dilemma eröffnet seinerseits jedoch auch einen Spielraum für unterschiedliche Wege, damit umzugehen.40 Hierzu gehört etwa eine Relativierung und Verfeinerung der bislang verwendeten Beschreibungsmuster, ohne sie grundsätzlich aufzugeben. Gleichzeitig entwickelten sich die Mittel der Rekonstruktion weiter: Durch die Integration von Instrumentarien und Modellen der Soziologie, der Ethnologie und der Anthropologie waren neue Möglichkeiten entstanden, soziokulturelle Aspekte antiker Gesellschaften zu rekonstruieren, indem in den antiken Äußerungen und den archäologischen Befunden nach Hinweisen auf entsprechende Muster und Mechanismen gesucht werden. Somit ergibt sich auch ein jeu der Verallgemeinerung, da derartigen Modellen eine gewisse Verbindlichkeit zugestanden werden kann.
38 Siehe etwa Figueira 1991: 7ff. 39 Hierfür kann auf Carol Doughertys oder Claude Calames Arbeiten zur »griechischen Kolonisation« verwiesen werden: Siehe vor allem Dougherty 1993 und Calame 2011. 40 Vgl. auch Hall 2008 zu einem Versuch, die Herangehensweisen an die »griechische Kolonisation« zu systematisieren.
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Was die Ursachen der Gründung einer griechischen »Kolonie« betrifft, wird das Gegensatzpaar Überbevölkerung und Handel evaluiert: »But no monocausal explanation is sufficient. Greece was neither as overpopulated nor as underresourced as has been thought.«41 Sie bleiben zwar Kern der Rekonstruktionen, werden jedoch gemäß dem Trend zur Heterogenisierung abgestuft zu fallweise möglichen Ursachen neben anderen. Um mit Ridgway fortzufahren: »The factors that influenced any given colonizing city, or indeed the foundation of any given colony, were inevitably many and various: it is not possible to compile a generally applicable assessment of the interlocking claims of overpopulation and land hunger at home, opportunities for commercial or social advancement abroad, ›internal‹ (Greek vs Greek) rivalry and reaction to external pressure.«42
Die Heterogenität speist sich aus der Heranziehung der unterschiedlichen Grundlagen des Wissens: Den erhaltenen Textzeugnissen, den archäologischen Befunden sowie den Annahmen zu naturräumlichen Gegebenheiten oder soziokulturellen Strukturen. Somit entsteht je nach der Gewichtung dieser Wissenselemente ein Spielraum der allgemeinen Bewertung der »griechischen Kolonisation«. Franco De Angelis baut etwa gleich zu Beginn seines Eintrags auf den naturräumlichen Gegebenheiten auf: »Migration has been a constant feature of Greek history because the underlying causes have remained broadly constant: Greece is made up of landscapes containing unequal distributions of natural resources, often of poor quality, and is located on the doorstep of a sea that is generally highly welcoming to travel. These two longue durée (long duration) factors, which together encouraged interregional contact and exchange, have done much to shape Greeks into a people characterized by their movement and acquisitive zeal.«43
Einen Gegenpol bildet Anne Jacquemin, die den Textquellen mehr Aufmerksamkeit schenkt und eine moderne sowie eine antike Perspektive unterscheidet: »Si les modernes discutent des motifs à l’origine des colonies grecques et opposent les fondations liées à la recherche de matières premières (fer, cuivre, étain, argent...) et à l’exportation de produits finis (huile, céramique...) aux colonies de peuplement exploitant un riche territoire agricole, les anciens liaient l’apoikía au manque de terres (stenokhōria), situation résultant
41 TSETSKHLADZE 2013: 1670. 42 RIDGEWAY 1996b: 363. 43 DE ANGELIS 2010: 251.
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moins d’un accroissement démographique supérieur aux ressources disponibles que d’une répartition inégale des parcelles.«44
Hier sind es interne soziopolitische Strukturen, die primär zu Emigrationen geführt haben, und deren Spuren sich in den antiken Äußerungen finden würden: Irad Malkin verweist etwa auf Platons Die Gesetze.45 Diesem Zugang liegt ein relativ junges Deutungsmuster zu Grunde: Zwar wurden bereits im 19. Jh. soziopolitische Strukturen rekonstruiert, die zu Emigrationen geführt hätten, nur waren sie Teil eines verallgemeinerten kolonialen Paradigmas. Nunmehr geht es darum, gewissermaßen einem ethnologischen Zugang folgend, »indigene« Strukturen ausfindig zu machen. Ein Zugang, der sich etwa bereits bei Claude Mossé zeigte und für den Moses Finleys 1976 erschienener Essay Colonies – An Attempt at a Typology als weiteres Beispiel angeführt werden könnte. Für die »griechische Kolonisation« besonders wichtig war hierbei eine verstärkte Konzentration auf die Frage nach der Verteilung des (Grund-)Besitzes, sowohl als Anlass der Emigration als auch als »Problem« eines »kolonialen« Settings.46 Wie bereits erörtert, hat die Frage der Ursachen auch Auswirkungen auf die Klassifizierung eines Ortes im Sinne der Grenzziehung zwischen emporion und apoikia: Tamar Hodos resümiert den Gegensatz folgendermaßen: »The Greek term apoikia (an ›away-home‹) is often used to describe a settlement with a hinterland, presumably for self-sufficiency purposes, as opposed to an emporion (›trade-place‹), which had no interest in territory beyond the city limits.«47 Bereits im letzten Querschnitt zeigte sich eine Skepsis hinsichtlich der Verallgemeinerbarkeit von Textzeugnissen gerade zum Ablauf einer ktisis. Entweder wird überhaupt kein Versuch mehr unternommen, allgemeine Gründungsgebräuche zu identifizieren48 oder es erfolgt eine stark reduzierte Anführung fallweise zutreffender, also bedingt verallgemeinerbarer Elemente einer ktisis, wie etwa die in den antiken Quellen bestens belegte Rolle eines oikistēs als Organisator. Diese Entwicklung hängt auch damit zusammen, dass die allgemeine Vorstellung von der punktuellen, organisierten Entstehung einer apoikia zunehmend in Frage gestellt wird. Beim Unterfangen, allgemeine Züge der Entstehung einer apoikia zu identifizieren, macht es durchaus einen Unterschied, ob es sich um eine quellenbasierte oder archäologische
44 JACQUEMIN 2005: 526. 45 MALKIN 2009: 379f. 46 FINLEY 1976: 184f. Vgl. auch D’Ercole 2012: 51-67. Siehe Bernstein 2004 für eine Betrachtungsweise der »Kolonisation« als »Ventil«, »um Spannungen auszugleichen, die durch den Prozess der polis-Entwicklung entstanden« (226). 47 HODOS 2006b: 215. 48 Siehe etwa RIDGWAY 1996b, EDER 1999 und TSETSKHLADZE 2013.
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Perspektive handelt, die oftmals auch explizit kombiniert werden.49 Anne Jacquemin etwa folgt im Dictionnaire de l’Antiquité mit ihrer quellenbasierten Beschreibung des »processus de fondation« den klassischen Vorstellungen von Gründungsgebräuchen: »L’envoi d’une apoikia était généralement précédé de la consultation d’un oracle, très souvent celui d’Apollon à Delphes. Le chef de l’expédition, l’oikistes (›celui qui fait habiter‹), organise le départ à bord de navires à cinquante rameurs (pentécontères, pentekonteroi) d’un groupe d’hommes jeunes célibataires et emporte le feu de la cité ainsi que les dieux. Il est chargé d’implanter materièllement la nouvelle communauté, de definir l’espace sacré et de répartir la terre en lots égaux. Cette situation originelle explique la présence de récits destinés à justifier les inégalités sociales dans les cités coloniales.«50
Carla Antonacchio gleicht hingegen die Vermutungen zum Vorgang einer ktisis mit dem archäologischen Befund ab, was sie zum Schluss führt, dass die »griechische Kolonisation« ein heterogener Prozess war: »The origins of the colonies are varied and generalization is probably unwise, but colonization does represent a fissioning of existing populations into permanent and independent new settlements.«51 Ähnlich vorsichtig hinsichtlich der Verallgemeinerbarkeit ist Tamar Hodos: »Many of these expeditions were led by an oikist, who assumed leadership responsibility for the expedition, the foundation of the settlement and the distribution of land. Sometimes he was commemorated through burial within the city walls, where a cult developed. It was not uncommon for the oikist to consult the Delphic Oracle before departure. Foundation narratives come from later authors, however, who may have mythologized colonial foundations as justification for foreign occupation and manipulated metaphors with regard to current events.«52
Dasselbe gilt auch für Franco De Angelis’ Beitrag, wo zwar anhand der literarischen Quellen ein »ideal framework« mit den Elementen oikistēs sowie dessen Kult, der Befragung des Orakels von Delphi, der Übernahme von Gesetzen und Bräuchen aus der mētropolis und der Landverteilung erstellt wird. Allerdings: »Again, it is difficult to know how far this ideal framework can be extended, in part or in whole, to earlier periods, yet we can be certain that Classical practices would not have emerged wholesale. Evidence in fact exists to suggest that some of these practices occurred earlier: the organi49 Siehe etwa DE ANGELIS 2010: 252: »The combination of both written and material sources has taught us that all colonization has to be viewed as multifunctional, regardless of any initial motivation a colony is said or thought to have had.« 50 JACQUEMIN 2005: 526. 51 ANTONACCIO 2007: 210f. 52 HODOS 2006b: 220.
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zation of space can be traced archaeologically to the early Archaic period, and the worship of oikistai to the end of the Archaic period. While it is only logical to think that settlers brought other cultural baggage with them from their homeland, the long-term outcomes of colonization show that allowance must also be made for the development of new cultural forms as a result of encounters with different physical environments and populations, both Greek and nonGreek, who lived in the vicinity or on the very sites Greeks wished to settle.«53
Die Frage der Verallgemeinerbarkeit einzelner Elemente der ktisis einer apoikia betrifft auch einer ihrer zentralen Säulen: Die Wahrnehmung der Griechen als homogene Entität und die daraus folgenden Langlebigkeit der sie betreffenden soziokulturellen Strukturen. Im letzten Querschnitt wurde dieser Fragenkomplex noch in Form der Debatte verhandelt, ob die frühesten Siedlungen apoikiai im Sinne von poleis waren, oder erst allmählich dazu geworden sind. Nunmehr wird die Entwicklung der polis selbst als gradueller Prozess wahrgenommen, der die Archaik miteinschloss. Folglich kann nicht zu Beginn der »griechischen Kolonisation« von einem fertigen griechischen Konzept von polis ausgegangen werden. Im DNP schreibt Welwei: »Die A. übernahm Kulte sowie gesellschaftliche und polit. Organisationsformen der Mutterstadt, so daß deren innere Ordnung gleichsam als Modell für die Neugründung diente. Allerdings gab es zu Anfang der großen Kolonisation noch kein festes institutionelles Gefüge in hellenischen Gemeinwesen.«54
Welwei geht von »›vorstaatlichen‹ Verhältnissen« aus, die sich nicht zuletzt durch die Erfahrung der »Kolonisation« in geregeltere Bahnen entwickelten – sowohl außerhalb als auch innerhalb des Ägäisraums. Eder ergänzt: »Die Rückwirkung der Lösung von Problemen in den Kolonien (Verwaltung, Rechtsordnung, Stadtplanung) scheint deshalb die Polisbildung im Mutterland eher gefördert als kopiert zu haben.«55 Dasselbe gilt a fortiori für die Gebräuche im Zuge einer ktisis, die nicht bereits zu Beginn der »griechischen Kolonisation« verfügbar waren. Ihre Entwicklung wird in das Zeitfenster des Phänomens selbst verlagert: Ab wann – beziehungsweise ob überhaupt – formte sich so etwas wie eine typische ktisis ab? Besonders Irad Malkin setzt in seiner Forschung zur »griechischen Kolonisation« auf die Persistenz soziokultureller Strukturen, deren Spuren sich in den späteren Textzeugnissen finden lassen. Aufgrund der Eigenheiten einer »kolonialen« Situation sei es unumgänglich gewesen, »quickly« soziokulturelle Ordnungen zu entwickeln: »Scholars who imagine settlement abroad as a process driven by the gradual arrival of disparate, multi-
53 DE ANGELIS 2010: 253. 54 WELWEI 1996: 850. Vgl. auch RIDGWAY 1996a und MALKIN 2009: 377. 55 EDER 1999: 663. Vgl. auch MALKIN 2009: 377f.
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cultural groups miss the point that settlers needed to organize quickly as a community, if only for safety reasons.«56 Stattdessen vergegenwärtigt Malkin foundation als punktuelles Ereignis mit einer zeitlichen Ausdehung: »The authentic Greek perspective indicates that foundation was both an ›event‹ and a ›process‹.«57 Ein Prozess, der mit dem Tod und der Heroisierung des oikistēs zu einem Ende gekommen sei. »Younger men, less constricted by tradition, left home; mixed groups of colonists made mutual awareness of differences, as well as the need to resolve them, more acute. Nomima had to be deliberately regulated and decided upon by the founders. The comprehensive foundation of a new social order necessitated an abstraction of such order; territorial and urban planning (first attested at eigth-century Megara Hyblaia in Sicily) translated abstract social and political concepts into a living reality.«58
Mit der Zeit formten sich auf diese Weise »colonial commonalities« aus: »The complexities and varieties of eighth- and seventh-century foundations indicate how ›colonial procedures‹ were not fully formed a priori but consisted in a process of crystallization of norms and conventions«59. Die Skepsis gegenüber den antiken Quellen kann aufgrund der zentralen Rolle dieser Elemente für die Ordnung der polis ausgehebelt werden: »Yet the fluctuating narratives of ›tradition‹ may contain historical facts. A minimal list of elements of colonial traditions can often be trusted, conforming to what Greeks cared to remember: origins (mother-city), time of foundation, and the name of the founder.«60
Aus dieser gewissermaßen funktionalistischen Perspektive sind jene Elemente, die von zentraler Bedeutung für die soziale Kohäsion waren, stabile Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses. Malkin reiht sich somit in die von A.J. Graham vorgezeichnete Argumentationslinie ein, wonach es gewisse Wissenselemente gibt, die weniger stark einer Fluktuation unterliegen als andere. Zu den sich rasch entwickelnden »colonial commonalities« zählten etwa »foundational religious practices«, nomima, »religious institutions« oder »similar needs to organize the physical space«.61 Bei den »foundational religious practices« war »oracular consultation« von zentraler Bedeutung:
56 MALKIN 2009: 387. 57 Ebd.: 375. 58 Ebd.: 377f. 59 Ebd.: 376. 60 Ebd.: 374. 61 Für die komplette Aufzählung siehe ebd.: 392.
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»Finally, collective memories of foundations depended on the panhellenic network associated with the Delphic oracle. Delphi was active in the foundations of Greek colonies since the second half of the eighth century and owed much of its panhellenic status to colonization, which kept expanding the oracle’s network.«62
Gewisse panhellenische Elemente werden somit weiterhin als bereits zu Beginn der »griechischen Kolonisation« als gegeben angenommen. II.5.1.2 Postkoloniale Identitäten Die Eigenen Der Übergang hin zu einer heterogenisierenden und prozessualen Sichtweise auf das Phänomen der »griechischen Kolonisation« hat nicht nur Auswirkungen auf die Identifizierung allgemeiner Züge sondern auch auf die Wahrnehmung der Kollektivsubjekte, die in zunehmendem Maße als raum-zeitlich begrenzte Identitätszuschreibungen dekonstruiert werden. Carla Antonacchio zieht die logische Konsequenz: »Although the querying of basic concepts has been productive, it also raises the question of what the category of ›Greek‹ itself means. If Hellenicity is a discourse solely about descent before the formation of a specifically ›Hellenic‹ cultural consciousness in the fifth century […], then it is meaningless to speak of ›Greek‹ colonization, or of ›Hellenization.‹«63
Auch eine griechische oder hellenische Eigenidentität musste sich erst entwickeln.64 Hierbei kann gerade ein Kontaktphänomen wie die »griechische Kolonisation« eine Rolle gespielt haben, vermutet etwa Malkin: »Geographical distance fulfills a similar function to temporal distance, as Edmund White says: it makes us forget difference and awakens the urge to affirm ›sameness.‹ For ancient Greeks distance functioned as a mental filter along with the growing recognition that so many elements of ›sameness‹ constitute an identity. Shared Hellenization kept closely at the heels of geographical expansion, down to the Hellenistic period and the emergence of a new common dialect, the first ever truly ›Greek‹ language, the koine.«65
Es entspricht mittlerweile mehr der Konvention, für die archaische Zeit pauschal von »Griechen« zu sprechen: Einerseits dürften die Möglichkeiten der In- und Exklusion vielschichtig gewesen sein, andererseits ist das Wissen hierüber aufgrund der gerade 62 MALKIN 2009: 375. 63 ANTONACCIO 2007: 217. 64 Siehe hierzu Hall 2002. 65 MALKIN 2009: 392.
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für die Archaik rudimentären Überlieferungslage begrenzt. Der Spielraum der modernen Rekonstruktionen von Identitätskonstruktionen im Forschungsfeld der »griechischen Kolonisation« hat sich zwar vergrößert, er ist aber auch durch ein Spannungsfeld gekennzeichnet: Auf der einen Seite gibt es die Fortschreitende Historisierung und somit Dekonstruktion vormals fixer Gruppenidentitäten. Auf der anderen Seite gibt die Rekonstruktion einer »Kolonisation« ein homogenisierendes sowie dichotomisierendes Raster vor: Metropole – Kolonie – Kolonisierte. Die erste Relation zwischen Metropole und Kolonie ist hinsichtlich Identität per definitionem als Einheit gedacht. Die Identifikation dieses panhellenischen Gemeinsamen bei gleichzeitiger Historisierung erzeugt Reibung, analog zum oben skizzierten Problem eine allgemeine Typologie der »griechischen Kolonisation« zu erstellen. Das koloniale Modell kann hierbei durchaus eine gewisse Dynamisierung aushalten, etwa wenn diese Dynamik als systemimmanenter Teil gesehen wird, wie etwa Malkins Position, dass die Kontakte zur Wahrnehmung der »sameness« geführt hat und somit identitätsbildend waren oder die Annahme, dass die »griechische Kolonisation« gewissermaßen als Versuchsfeld ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung der polis war.66 Irad Malkin endet seine Beschreibung der »griechischen Kolonisation« folgendermaßen: »What we call ›colonization,‹ therefore, was a significant, formative historical force, its currents running through the lines of the Greek Wide Web. The longer the lines of the network stretched and extended the stronger they became. The combination of distance and foundation helped create the virtual ›center‹ which we call Greek civilization.«67
Reibung entsteht grundsätzlich dann, wenn es auf einer deskriptiven Ebene darum geht, die einigenden Elemente der »Greek civilization« mit dem begrenzten verfügbaren Quellenmaterial hervortreten zu lassen. Dies besonders dann, wenn wie im Fall von Malkin eine dynamische, sich an der Netzwerktheorie orientierende Perspektive mit der Annahme statischer Elemente wie den »colonial commonalities« oder der panhellenischen Rolle des Orakels von Delphi gepaart wird, moderne Wissenselemente also, deren Verallgemeinerung und vermutete Langlebigkeit sich kaum auf das Quellenmaterial stützen kann, sondern primär auf traditionelleren Deutungsmustern wie dem etatistischen Paradigma beruht. Hier könnte in einem Kuhn’schen Sinne von Inkommensurabilität gesprochen werden.68
66 Siehe etwa aktuell Malkin 2011: besonders 221f. oder Vlassopoulos 2013: 322-324. 67 MALKIN 2009: 392. 68 Siehe Kuhn 1976.
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Kolonisierende – Kolonisten Die Dekonstruktion ist noch tiefgreifender hinsichtlich der zweiten Relation eines »kolonialen« Verhältnisses: Jener zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten. Insbesondere angeregt durch die postcolonial studies ist bei der Infragestellung des kolonialen Paradigmas besonders diese Dichotomisierung betroffen: »It used to be pretty much exclusively thought that Greeks, on the whole, were politically, militarily, and intellectually superior to their neighbors, and that they overran them through violence and conquest. Such scenarios, while they should not be dismissed altogether, are partly supported by analogy with modern European colonization and imperialism, whereas in reality the cultural and technological gulf between ancient Greeks and their preexisting neighbors was never as wide as in modern times. In consequence, there was also much integration, leading to the creation of multicultural communities and hybrid forms.«69
Die Kritik zielt zum einen auf die Vorstellung der kulturellen Überlegenheit der »Kolonisatoren« ab. Gerade aus einer archäologischen Perspektive gewannen die lokalen Bevölkerungen an Profil als eigenständige Akteure in den kulturellen Kontakten. Gocha Tsetskhladze münzt etwa Boardmans Äußerung, »In the west the Greeks had nothing to learn, much to teach«70, folgendermaßen um: »the Greeks were living in foreign territory and had much to learn from the locals about adapting to their new (physical) environment«71. Zum anderen wird die grundlegende Dichotomisierung in Frage gestellt. Gerade Konzepte wie middle ground72 oder Hybridität73 aus dem Umfeld der postcolonial studies zielen auf ihre Aufweichung ab: Ein »kolonialer Kontext« wird in diesem Sinne als Ort einer kontinuierlichen Verhandlung identitärer Zuschreibungen verstanden. Gleichzeitig ergibt sich somit auch in diesem Fall eine Spannung zwischen der Betonung einer prozessualen Entwicklung lokaler Identitäten und der Verwendung abgeschlossener deskriptiver Kategorien wie »Greeks« und »locals«. Diese ist nicht zuletzt wieder im kolonialen Deutungsmuster angelegt, also per definitionem der Vorstellung von einer Siedlung in einem »fremden« Umfeld. Die Historisierung dieses »kolonialen« Verhältnisses unter Zuhilfenahme etwa der
69 DE ANGELIS 2010: 252. Siehe auch die ähnliche Beschreibung dieser Entwicklung durch Carla Antonacchio (ANTONACCHIO 2007: 215). 70 BOARDMAN 1964: 203. 71 TSETSKHLADZE 2013: 1671. 72 Siehe MALKIN 2009: 377 (eingehender Malkin 2011: 45-8) und auch ANTONACCIO 2007: 201f. Vgl. Ulf 2009a: 97-99 zu einer grundlegenden Reflexion zu diesem Konzept und seiner Anwendung auf die Antike. 73 ANTONACCHIO 2007: 201f. und 213ff. Auch HODOS 2006a und DE ANGELIS 2010: 253. Vgl. auch Dietler 2010: 53.
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oben erwähnten Konzepte vergrößert auch in diesem Fall den Beschreibungsspielraum dieses Aspektes. Im Neuen Pauly, wo die griechische Geschichte in den Mittelpunkt gestellt wird, wird der Kontakt zu lokalen Bevölkerungen ausgeblendet. Hier geht es mehr um die großen Player im antiken »Kolonialsystem«: »Seit dem 6. Jh. verflechten sich die K.-Bewegungen im westl. Mittelmeer und es kommt zunehmend zu Konflikten mit den Karthagern in Sizilien und Spanien und/oder den Etruskern in Nord- und Mittel-It., wohin diese sich seit dem 9. Jh. und verstärkt ab dem 7. Jh. ausgedehnt haben.«74
Anne Jacquemin hält eine konfliktuelle Perspektive aufrecht: »Quoique la tradition présente le monde où sont fondées les colonies comme une terre déserte, la présence d’indigènes pose le problème des relations entre deux sociétés de niveaux technique et culturel proches. Le besoin de femmes et de terres crée des tensions, parfois résolues par l’asservissement des populations locales (Cyracuse, Héraclée Pontique) ou par le retrait vers l’intérieur (Sybaritide). Les Iapyges, voisins des Tarentins, ou les Élymes de l’ouest de la Sicile opposent ainsi une forte résistance. Les colons ressentent parfois le besoin de faire venir des renforts (epoikoi), ce qui est parfois à l’origine de conflits entre anciens colons et nouveaux venus, à propos des terres ou de l’exercice des magistratures.«75
Lediglich im Fall von emporia sei eine Ansiedlung »avec l’accord des puissances locales (Étrurie, Égypte, côte syro-phénicienne)« erfolgt. Auf der anderen Seite gibt es Zugänge, die den hybriden und heterogenen Charakter »kolonialer« Kontakte betonen. Irad Malkin sieht ein »koloniales« Setting in diesem Sinne als middle ground: »The colonial situation was very dynamic, frontier oriented, and the authority of a prominent individual could be easily shaken off by an evolving community conscious of itself and its deserts precisely because of the novelty of the situation. Colonization was a ›middle ground‹ of experimentation both in relation to the native world and politically, in the relation of individuals to their newly created, ›colonial‹ society.«76
Gerade aus einer archäologischen Perspektive wurden die Karten neu gemischt. Antonaccio betont:
74 EDER 1999: 647. 75 JACQUEMIN 2005: 526. 76 MALKIN 2009: 377.
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»Thus, it is not sufficient to simply identify ›Greek‹ or ›indigenous‹ material culture (or language) and then proceed to trace how its features change, meld, or disappear over time, and thereby trace a specifically ethnic identity. Individuals using Greek pottery in the colonial world, for example, may have self-identified as indigenes, and even if they give their children indigenous names, these individuals may have been members of a Greek polis. Because it is very unclear whether Greek colonists brought wives and children with them, intermarriage between colonists and locals is clearly one route by which hybridity in one sense may have come about.«77
Der Komplexität von Identitätszuschreibungen wird gerade in der Interpretation des archäologischen Befundes mehr Raum gegeben, bietet es doch nahezu exklusiv das Material für die Rekonstruktion des »kolonialen« Settings. Wenn Hybridität ernst genommen wird, muss sich die koloniale Dichotomie auflösen. Die Kategorien »Griechen« und »lokale Bevölkerung« verlieren ihren essentiellen, abgeschlossenen Status und werden zu Bezeichnungen fluider Einheiten, die sich in einem ständigen Prozess der Neuverhandlung befanden: »That is to say, both ›native‹ and ›Greek‹ colonials were hybrids with regard to their persons, their cultures, and their built environments […].«78 Im Umkehrschluss bedeutet das natürlich, dass sie als historiographische Objekte in einem konventionellen Sinn schwerer festzumachen sind. Auch dies ist ein Beispiel für die Trägheit und Tiefenwirkung paradigmatischer Ordnungen: Das koloniale Paradigma gab ein Deutungsraster vor, dass nunmehr einer Hinterfragung Widerstand entgegensetzt, da die von ihm vorgegebenen Variablen (Kolonisierende/Kolonisierte) fixiert werden müssen.
II.5.2 »THE BEST TERM WE HAVE«? Die tiefgreifende Evaluation der sogenannten »griechischen Kolonisation« und die damit verknüpfte Infragestellung des kolonialen Paradigmas haben zur Folge, dass das Wissen zu diesem Phänomen insgesamt zur Disposition steht. Gocha Tsetskhladzes Ausführungen zur »Colonization, Greek« in der Encyclopedia of Ancient History sind hierfür symptomatisch: Die klassischen Verallgemeinerungen werden durchgehend in Frage gestellt, wodurch der Leseeindruck entsteht, dass der Eintrag primär behandelt, was die »griechische Kolonisation« nicht ist. Dies steht in einem starken Kontrast zum formalen Anspruch des Genres Lexikon, wo üblicherweise das vom Lemma bezeichnete Phänomen in seinen grundlegenden Eigenschaften präsentiert wird. Insgesamt sind fast alle Einträge um eine mehr oder weniger deutliche
77 ANTONACCIO 2007: 217. 78 Ebd.: 218.
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Abgrenzung zur modernen europäischen Kolonisation bemüht. Im DNP findet sich folgende Unterscheidung: »Die K. geht von einzelnen Gemeinden aus, die Zahl der Siedler ist relativ gering (meist wohl zw. 100 und 200), die neu gegründeten Siedlungen sind wirtschaftlich und polit. von der Herkunftsgemeinde der Siedler weitgehend oder völlig unabhängig. Die ant. K. ist deshalb inhaltlich strikt vom neuzeitlichen ›Kolonialismus‹ abzugrenzen, da die ant. Kolonien nicht von konkurrierenden imperialen Mächten mit erheblichen mil. Mitteln und v.a. nicht mit dem Ziel eingerichtet werden, Herrschaft über großflächige Territorien auszuüben, um sich ihre Rohstoffe und Produkte anzueignen.«79
David Ridgway beginnt seinen Eintrag im OCD folgendermaßen: »›Colonization‹, in the language of a former imperial power, is a somewhat misleading definition of the process of major Greek expansion that took place between c.734 and 580 BC. In fact, the process itself was not so much ›greek‹ as directed in different ways and for different reasons by a number of independent city-states [...] This at least emerges with relative clarity from both the historical and the archaeological evidence. For the rest, the mass of general and particular information that has accumulated under these two headings is only rarely susceptible to a single uncontroversial interpretation. Although the position has greatly improved since the 1930s, it is still only too true that archaeologists and ancient historians do not always appreciate each other’s aims and methods – a problem that is exacerbated by the fact that on the subject of colonization ancient no less than modern authors more than usually influenced by their own political agenda and accordingly more than usually liable to project the priorities, practices, and terminology of their own times onto the much earlier events they purport to describe.«80
Auch Gocha Tsetskhladze öffnet seinen Eintrag in der Encyclopedia of Ancient History mit einer begrifflichen Relativierung: »Colonization is the generally accepted term applied to Greek overseas settlement in the Archaic period. Although imperfect, and to be treated with reservation, it is the best term we have. Some scholars believe that both term and concept should be eradicated from Archaic Greek history as hindrances to understanding. Where its welcome incorporation into general Greek history has occurred, this has been limited to the colonies of Magna Graecia. Others search for 79 EDER 1999: 646. Es wird aber doch ein scramble um den westlichen Mittelmeerraum evoziert: »Seit dem 6. Jh. verflechten sich die K.-Bewegungen im westlichen Mittelmeerraum und es kommt zunehmend zu Konflikten mit den Karthagern in Sizilien und Spanien und/ oder den Etruskern in Nord- und Mittel-It., wohin diese sich seit dem 9. Jh. und verstärkt ab dem 7. Jh. ausgedehnt haben.« EDER 1999: 647. 80 RIDGWAY 1996b: 362.
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terms to replace it – ›apoikiazation‹, ›kleroukhiazation‹, etc. without any evidence that these are better or more pellucid. It is true that the Greeks themselves had no single word to describe the process. A basic difficulty is one of anachronism: the beguiling confusion and comparison the word colonization invites between a far from uniform ancient process and what took place in the modern era. What is undeniable is that Greeks undertook overseas settlement in the Archaic period and later.«81
Es sind vor allem zwei Aspekte, die Grundlage der Abgrenzung sind: Zum einen das Unbehagen angesichts des Imports des modernen Verständnisses von Kolonisation mit allen seinen Implikationen, vor allem die Anwendung eines starren Modells auf die Antike, was eine homogenisierende Wirkung auf das Wissen ausübt. Tamar Hodos verfasste das gesonderte Lemma »colonialism«, um auf die Problematik hinsichtlich der Analyse der Kontakte hinzuweisen: »Most simply, colonialism can be defined as foreign domination over local communities. The term implies unequal relations, whether social, political or economic, for an extended period, between an intrusive foreign group and the population living in a particular locale. Colonialism involves the establishment and maintenance of settlements in a territory at some distance from the colonists’ place of origin, with the result that the indigenous residents become subordinate to the settlers in one capacity or another. The term intimates a binary imbalance of colonizers over colonized, with no regard for hybrid development.«82
Zum anderen die Betonung der Heterogenität und die fortschreitende Historisierung der »griechischen Kolonisation« selbst, die vor Augen führen, dass das moderne Deutungsmuster gerade in seiner Pauschalität nicht wirklich passt. Diese Erkenntnis ist nicht neu, was etwa die Geschichte des Umgangs mit der Unabhängigkeit der griechischen »Kolonien« zeigt. Nur wurde dieser Umstand lange Zeit als Sonderfall eines universalisierten Phänomens »Kolonisation« eingeordnet. Erst die Dekolonisierung ab Mitte des 20. Jh. und die damit einhergehende kritische Distanz zur europäischen Kolonisation und die damit einhergehende Heterogenisierung des Phänomens, insbesondere über eine Relativierung der bis vor wenigen Jahrzehnten relativ statischen Vorstellungen zur Trias Kolonisierte – Kolonie – Metropole, ermöglichte es auch der »griechischen Kolonisation«, sich aus der Umklammerung des kolonialen Paradigmas zu lösen. Diese Abgrenzung zeigt sich auch anhand der verwendeten Begrifflichkeiten zur Bezeichnung des Phänomens: Vermehrt werden neutralere Begriffe wie »Migration« oder »(Be-)Siedlung« verwendet oder, wie in diesem Buch auch, die koloniale Terminologie unter Anführungszeichen gesetzt. Ein gutes Beispiel ist etwa Tsetskhladzes Rückzugspunkt, nach seiner Hinterfragung 81 TSETSKHLADZE 2013: 1669f. 82 HODOS 2006a.
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des kolonialen Deutungsmusters: »What is undeniable is that Greeks undertook overseas settlement in the Archaic period and later.«83 Die letzte Konsequenz ist eine grundsätzliche Hinterfragung der Anwendung der kolonialen Terminologie, die aktuell in der Forschung debattiert wird. Hierbei stehen jene, die sich von einer radikalen Abkehr eine zusätzliche Förderung der Evaluation und Heterogenisierung des Phänomens erhoffen, jenen gegenüber, die trotz aller damit verbundenen Probleme aus pragmatischen Gründen an der kolonialen Begrifflichkeit festhalten wollen.84 Um einen vielzitierten Satz von James Whitley ein weiteres Mal anzuführen: »Nevertheless, we have to call this process something, and colonisation is as good a term as any.«85 Franco De Angelis bemüht sich etwa um eine terminologische Ablösung zu Gunsten der emischen Begrifflichkeit, worauf im obigen Zitat von Tsetskhladze bereits verwiesen wurde: »Since the Renaissance, scholars interested in these migrations have normally used the terms ›colonies‹ to describe the settlements founded outside Greece and ›colonization‹ to describe the process by which they came to be established. Such terminology readily brings to mind ways of conceiving of the ancient Greek past that resonate with Roman and modern European colonialism. Classical antiquity provided inspiration to Europeans, who, like their ancient counterparts, spread their unquestioned higher culture to less developed peoples, using colonies and colonization as the arm of innovative and dynamic centers. As a result, classical and modern societies became entangled into a single whole. While we know of ancient Greek cases in which an extra-regional authority regulated the sending out and control of a veritable colony (see below), it is clear today that before 500 BCE most Greek colonies, and colonization itself, were far more haphazardly established and usually not controlled by a distant metropolis. The state infrastructure to do so was poorly developed or nonexistent, and much private individual initiative has also to be allowed in these early migrations. The terms ›colonies‹ and ›colonization‹ are used here, therefore, purely out of convention, especially for history before 500 BCE, but they are problematic terms. Alternatives, using ancient Greek terms and modern coinages based thereon would be better: the ancient Greek word apoikia (pl. apoikiai) for ›colony‹ and the modern coinage ›apoikiazation‹ for the process leading to an independent settlement, and the ancient Greek word klēroukhia and the modern coinage ›khleroukhiazation‹ for the process leading to a dependent (more properly colonial) settlement.«86
83 TSETSKHLADZE 2013: 1670. Siehe auch Tsetskhladze 2006b: xxviif. 84 Ein Urtext dieser Debatte ist Moses Finley’s Artikel »Colonies: An Attempt at a Typologie« (Finley 1976). Zur Begriffsdebatte siehe beispielsweise grundlegend Osborne 1998 sowie etwa De Angelis 2009, Tsetskhladze/Hargrave 2011, Greco 2011, Sommer 2011, D’Ercole 2012: 16-20 oder Malkin 2016. 85 Whitley 2001: 125. Siehe etwa Tsetskhladze 2006b: xxviif. 86 DE ANGELIS 2010: 251f.
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Anstelle des Neologismus »apoikiazation« schlägt Carla Antonaccio für ein im Rahmen der Jahrestagung der American Philological Association vorgestelltes Paper den altgriechischen Begriff »apoikismos« vor (das Suffix -ismos verweist grundsätzlich auf das Ergebnis einer Tätigkeit, einen Zustand), verwendet etwa in Aristoteles’ Politik zur Bezeichnung einer abgeschlossenen Gründung87: »What we may call apoikismos – Greek permanent settlement abroad in independent communities (and distinguished from two other categories that the Greeks deployed, i.e the emporion and cleruchy) will be situated within the theoretical frame of migration and diaspora, in contrast to the more usual framework of comparative colonization, colonialism, and imperialism. These modes have been constructed in the present, and conditioned by the past 500 years of European history.«88
Diese verstärkte Betonung des Migrationsaspektes wird auch andernorts durch die Verwendung des Begriffs »Diaspora« bezweckt: Etwa in der Umschreibung von »griechische Kolonisation« als »a series of diasporic expansions of peoples from the eastern Mediterranean that began near the end of the ninth century BCE«89 durch Michael Dietler oder jene von Douwe Yntema: »Greek transmarine migrations and […] the Greek diaspora communities that resulted from them«90. Ähnlich auch im französischsprachigen Forschungsdiskurs, wo beispielsweise auf das von Sophie Bouffier herausgegebene Manuel d’agregation, ein Vorbereitungsbuch für die Zulassungsprüfung zur Ausbildung für in der höheren Bildung Lehrende, Les diasporas grecques. Du détroit de Gibraltar à l’Indus (VIIIe s. av. J.-C. à la fin du IIIe s. av. J.C.) (Paris 2012) verwiesen werden kann. Der Begriff »Diaspora« weist allerdings seinerseits ebenfalls ganz spezifische Prägungen auf, nicht zuletzt der Annahme einer idealisierten Urheimat, aus der ausgezogen werden musste und in die im Endeffekt zurückgekehrt werden soll, die die Wahrnehmung des zu Bezeichnenden Phänomens ebenfalls beeinflussen könnten.91 Erinnert sei etwa daran, dass bereits Ernst Curtius,
87 Aristoteles Politik: 5. 5. 3. Siehe Casevitz 1985: 133. Vgl. auch Greco 2011: 233. 88 Antonaccio 2014. 89 Dietler 2010: 4. 90 Yntema 2011: 243. 91 Hierauf weist auch die Herausgeberin des Manuel, Sophie Bouffier (2012, 7), hin: »Mais comme le montre le débat autour du terme de diaspora, celui-ci n’apparaît pas comme plus neutre et ne tient pas compte de la spécifité d’un phénomène qui ne comprend ni nostalgie du lieu d’origine, ni projet de retour si l’on en reste aux différences les plus évidentes, et il faudrait analyser les autres critères de reconnaissance d’une diaspora pour l’appliquer au phénomèn d’essaimage de l’époque archaïque.«
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dem es um die Betonung der vorbildlichen Heimatliebe der Griechen ging, diesen Begriff verwendet hat, etwa im Titel des Essays Die Griechen in der Diaspora.92 Angesichts dieser Debatte lohnt sich ein Blick auf die Funktion der Kategorie »Kolonisation« sowie ihrer Anwendung auf die griechische Antike:93 Erstens handelt es sich grundsätzlich um einen Dachbegriff für historische Phänomene mit bestimmten Eigenschaften. Wie im Verlauf des Buches gezeigt wurde, verfestigten sich diese Eigenschaften zunehmend auf die Bezeichnung eines doppelten Machtverhältnisses, nicht zuletzt durch das Bestreben, Kolonisation von Migration zu unterscheiden, die die grundlegende Gemeinsamkeit aufweisen, Kontaktphänomene zu sein. Verwiesen sei auf Jürgen Osterhammels Grunddefinition: »›Kolonisation‹ bezeichnet im Kern einen Prozess der Landnahme, ›Kolonie‹ eine besondere Art von politisch-gesellschaftlichem Personenverband, ›Kolonialismus‹ ein Herrschaftsverhältnis. Das Fundament aller drei Begriffe ist die Vorstellung von der Expansion einer Gesellschaft über ihren angestammten Lebensraum hinaus.«94
Um es erneut zu betonen: Ein koloniales Verhältnis meint zum einen die Relation Metropole – Kolonie, die von Identität geprägt ist, zum anderen die Relation Kolonisierende – Kolonisierte, die von Differenz geprägt ist. Zweitens ist somit ein tertium comparationis zur Gruppierung verschiedener historischer Phänomene unter diesem Dach gegeben. Auch dieser Vorgang wurde im Vorangegangenen dargestellt. Drittens funktioniert diese Kategorie als Idealtyp im Weberʼschen Sinne, da sie ein Deutungsmodell beziehungsweise ein Grundraster zur Konstituierung der zugeordneten historischen Phänomene zur Verfügung stellt. Diese Funktion trifft in besonderem Maße auf seine Anwendung auf die griechische Archaik zu, da aufgrund des rudimentären antiken Quellenmaterials verstärkt ein Lückenfüller für blinde Flecken von Nöten ist. Viertens, in dieser Debatte weniger wichtig, bildeten die über das gemeinsame Dach eingebundene antiken »Kolonisationen« eine heterotopische Ebene für die Moderne, auf der zeitgenössische Fragen verhandelt werden konnten. Diese Funktionen bedingen eine komplexe Verschränkung und eine grundlegende Spannung zwischen der Ebene des Allgemeinen und den einzelnen exempla. Diese wird im konkreten Fall akzentuiert durch die voranschreitende Heterogenisierung der »griechischen Kolonisation«, deren Symptom beispielsweise eine Abkehr von Überblickswerken zum Gesamtphänomen zu Gunsten von Analysen der Eigen-
92 CURTIUS 1882. Siehe auch das Curtius-Zitat auf Seite 268f. 93 Vgl. hierzu Gosden 2004, die »Introduction« in Stein 2005 oder auch Nijboer 2011. 94 Osterhammel 2009: 8f.
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heiten kleinerer raum-zeitlicher Einheiten ist. Dieses Auseinanderklaffen von idealtypischer Funktion und aktuellem Forschungsstand wirft die Frage auf, inwieweit die Kategorie »Kolonisation« funktionell bleibt und einen analytischen Mehrwert bringt. Unbenommen ist, dass es weiterhin einen Dachbegriff für das Phänomen der »griechischen Kolonisation« braucht. Gerade das zentrale Definiens von »Kolonisation«, das doppelte Machtverhältnis, wird in seiner Pauschalität jedoch für die Archaik bestritten.95 Eine Beibehaltung würde folglich dann Sinn machen, wenn es möglich ist, das tertium comparationis »Kolonisation« offener zu gestalten, indem die machtpolitischen Konnotationen beiseitegelassen werden.96 »What we have to do is to define the term colonisation when we use it in connexion with Archaic Greece. Terminology can never reflect the full reality – it can illuminate or distort in equal measure«97, schlägt etwa Gocha Tsetskhladze vor. Hierbei ergibt sich allerdings, dass der Begriff »Kolonisation« zu einem Synonym von Emigration wird, was auch die verwendeten Umschreibungen belegen. Die Kategorie Kolonisation bezieht jedoch ihr analytisches Potential gerade aus dem Fokus auf Machtverhältnisse, was durch die postcolonial studies noch versärkt wurde: Sie lenken nicht nur im Sinne eines analytischen tools den Blick auf die Funktionsweise asymmetrischer Machtbeziehungen in kolonialen Kontexten, sondern umfassen dabei auch die aktive, politische Dimension des Aufdeckens und der Bewusstmachung dieser tiefgreifenden Machtverhältnisse und ihres Weiterbestehens. »Kolonisation« ist eben nicht mehr nur eine analytische, sondern auch eine gesellschaftlich äußerst relevante Kategorie, wo Aspekte wie die Legitimation von Macht oder die diskursive Verarbeitung der Vergangenheit oder von Identitäten eine wichtige Rolle spielen.98 Diese politisch-moralischen Implikationen erklären zum Teil auch die Schärfe, mit der die Debatte um die Anwendung der Kategorie »Kolonisation« auf die griechische Antike geführt wird. Zudem wird auf einer allgemeinen Ebene die »griechische Kolonisation« nach wie vor als Beispiel des universalisierten Phänomens der Kolonisation genutzt, wenn auch mittlerweile auch hier mehr zur Betonung der heterogenen Ausformungen. 99
95 Spätere Ausformungen, wo Machtverhältnisse unbestritten ein Faktor waren, im Sinne einer genetischen Perspektive als Argument der Beibehaltung zu nehmen, würde die Teleologie der traditionellen modernen Perspektive auf Kolonisation duplizieren. Auch die moderne Kolonisation selbst unterläuft aktuell besonders hinsichtlich des Verhältnisses von lokaler Bevölkerung und Neuankömmlingen einer Evaluation, die eine differenzierte Wahrnehmung dieser Relation fördert. Siehe etwa Lightfood 2005 und Veracini 2010. 96 Siehe für einen derartigen Zugang etwa Dietler 2010: besonders 9f. Vgl. auch D’Ercole 2012: 20. 97 Tsetskhladze 2006b: xxvii. 98 Vgl. Cooper 2005: 3f. und Castro Varela/Dhawan 2015: 15-18. 99 Siehe etwa Pagden 2003, Gosden 2004 und Osterhammel 2009.
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Entscheidender ist der dritte, idealtypische Funktion, die aktuell evaluiert wird, weshalb sich überhaupt die Frage stellt, ob die Kategorie der Kolonisation mehr erhellt oder verzerrt. Der damit verknüpfte Fokus auf Machtverhältnisse hilft im Fall der »griechischen Kolonisation« analytisch kaum. Hiermit hängt die Frage zusammen, wie neutral mit einer historisch gewachsenen Kategorie umgegangen werden kann beziehungsweise wie einfach es ist, sie von ihren Implikationen zu säubern und in dieser Hinsicht einen Konsens zu erzeugen. Die momentan geführte Debatte deutet eher darauf hin, dass diese Umformung der Kategorie die Sache mehr verkompliziert als fördert, wenn den Erörterungen, warum sich die »griechische Kolonisation« von der modernen unterscheidet, dermaßen viel Raum gegeben werden muss. Dies vor dem Hintergrund, dass von der das Phänomen ordnenden Kategorie kaum mehr allgemeine Eigenschaften übrigbleiben als die Konstatierung, dass sich Personengruppen aus der Ägäis punktuell an den Mittel- und Schwarzmeerküsten ansiedelten und die Bezeichnung »griechische Kolonisation« mittlerweile primär der Konvention entspricht.
Das antike »peri tas apoikias« und die »griechische Kolonisation« Ein abschließender Überblick
Der antike Diskurs »peri tas apoikias« bildete den Rahmen für Äußerungen zu einem Phänomen, welches die Kernaspekte der Migration, der aitiologisch gedachten Gründung und Einrichtung von poleis sowie eine genealogisch bestimmte Rückbezüglichkeit vereinte. Gerade die aitiologische und die genealogische Dimension, konkret die aktive Rolle der Vergangenheit in den soziopolitischen Sinngebungsgefügen der Gegenwart, ermöglichten einen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der einen großen Äußerungsspielraum zuließ und eine dynamisierende Wirkung auf das Wissen ausübte, was zum Entstehen »vielfältiger logoi«, beitrug. Gleichzeitig lässt sich eine sukzessive Stereotypisierung der individuellen Beschreibungen der Entstehung von apoikiai mittels eines relativ statischen Repertoirs an Wissenselementen feststellen, je weiter sie in die Vergangenheit rückten. Diese in den Überresten des antiken Wissens erhaltene Stereotypisierung war eine Voraussetzung der modernen Beschreibungen der »griechischen Kolonisation« im Sinne eines verallgemeinerbaren Großphänomens ab dem 18. Jh. Mindestens ebenso prägend war die Einordnung dieser »Kolonisation« in ein universalhistorisches Metaphänomen, was ein Deutungsmuster für die einzelnen exempla zur Verfügung stellte. Bestimmte, aus der modernen Perspektive relevante Fragen traten in den Vordergrund, insbesondere jenes nach dem Verhältnis zwischen einer Metropole und ihren Kolonien. Die antiken Quellenäußerungen, die primär Traditionen zu konkreten Einzelereignissen abbildeten, waren zwar das Fundament der Beschreibung eines griechischen »Kolonial«Systems, die diskursive Ordnung stammte hingegen aus der Moderne. Dies bedeutete hinsichtlich des verfügbaren Materials einen grundlegenden Wandel durch diesen Sprung von der Antike in die Moderne: Hatte in der Antike die dem Diskurs inhärente Dynamik noch die Möglichkeit geboten, neue Zusammenhänge zu erstellen, also gewissermaßen das Material aktiv zu gestalten, kam es in der Moderne in dieser Hin-
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sicht zu einem Abschluss. Nunmehr war ein relativ statisches Korpus an Quellen gegeben, das die Basis historiographischer Rekonstruktionen bildete. Wissenswandel ist somit auf der Interpretationsebene zu verorten. Dies betraf vor allem das koloniale Paradigma. So stand etwa im 18. Jh. der Faktor der Emigration im Vordergrund, als die »griechische Kolonisation«, wie alle anderen Kolonisationen, noch unter dem Blickwinkel der kulturellen Rückbezüglichkeit gedeutet wurden. Dies hatte es etwa Hegewisch ermöglicht, »die von den salzburgischen und pfälzischen Emigranten abstammenden Deutschen in Georgien« als »deutsche Colonie« zu bezeichnen: »ob sie gleich nicht mehr die geringste politische Verbindung mit Deutschland haben, und man wird sie deutsche Colonieen nennen, so lange sie die deutsche Sprache und deutsche Sitten behalten«1. Dieses Verständnis war näher an jenem der griechischen Antike, als jenes, das sich im Verlauf des 19. Jh. aus der Verschiebung des kolonialen Diskurses hin zu einer mehr machtpolitischen Bestimmung von Kolonisation ergab. Durch diese Umorientierung wandelte sich auch die Wahrnehmung der der »griechischen Kolonisation« zugeschriebenen typischen Eigenart der Unabhängigkeit von einem in der Aufklärung stilisierten Idealtyp zu einem Sonderfall. Ähnliches gilt für die Wahrnehmung der kolonisierten Anderen. Auch hier verstärkte sich die Wahrnehmung eines Dominationsverhältnisses, gerade ab der Zeit des Hochimperialismus gestützt auf ein rassistisches Dispositiv. Die retrospektiven antiken Darstellungen, die ab der klassischen Zeit von einem Überlegenheitsverhältnis gegenüber den Barbaren geprägt waren, bestätigten dieses Bild. Erst das Ende des europäischen Kolonialsystems ermöglichte eine Dekonstruktion dieser Axiomatik: Durch die Entessentialisierung des Kolonialsystems verschob sich insgesamt der Fokus der Forschung hin zu einer Herausarbeitung der Komplexität des Phänomens. Die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart war jedoch auch in der Moderne keineswegs eindimensional linear. Die Antike und auch ihre »Kolonisationen« besaß ein heterotopisches Potential, da sie als Reflexionsebene zeitgenössischer Gegebenheiten genutzt werden konnten. Hierbei ist besonders der Vorbildcharakter der antiken exempla hervorzuheben, die in einem weiteren Schritt zur Legitimation zeitgenössischer kolonialer Praxen herangezogen werden konnten. Man denke nur an die Stilisierung der Griechen als Kulturbringer des Mittelmeerraumes. Zugleich bildete die zunehmend europäisierte Antike auch eine Ursprungszeit, auf die moderne Konzeptionen zurückgeführt werden konnten, sei es das aufklärerische Ideal der Freiheit oder die Idee des Staates als lebendige Entität, idealtypisch vorgestellt in der griechischen polis. Diese Verknüpfungen von Vergangenheit und Gegenwart bildeten weitere Schleusen für den Rücktransport zeitgenössischer Wissenselemente. Vergangenheitswissen war in keiner der beiden analysierten Zeiträume selbstevident. In der Antike gab es eben die »vielfältigen logoi«, die für eine historiographische Retrospektive eine Herausforderung darstellten und den ordnenden Eingriff des 1
HEGEWISCH 1808: 148f.
»peri tas apoikias« und »griechische Kolonisation« | 349
Historiographen provozierten, wofür verschiedene jeux de vérité zur Verfügung standen. Die modernen Altertumswissenschaften standen und stehen hingegen vor dem Problem, lediglich über ein sehr rudimentäres Quellenkorpus zu verfügen. Zusätzlich einschränkend kommt hinzu, dass sich für den untersuchten Zeitraum der Trend feststellen lässt, dass sich die Grenzziehung zwischen unzuverlässigen und historiographisch verwertbaren Quellen zunehmend chronologisch nach unten verschob. Die aus beiden Faktoren resultierenden Leerstellen mussten gefüllt werden, was etwa das koloniale Paradigma tat. Es bedurfte noch weiterer jeux der Verallgemeinerung, um ausgehend vom Grundmaterial die »griechische Kolonisation« rekonstruieren zu können. Neben der Inbesitznahme der europäisierten Antike und ihrer Eingliederung in ein dermaßen gestaltetes historisches Kontinuum spielte hierbei das etatistische Paradigma eine besondere Rolle. Es schuf ein Interpretationsraster, das über die verfügbaren Quellen zwar individuell ausgestaltet werden konnte, zugleich aber eine starre Perspektivierung auf staatliche Entitäten als Akteure vorgab und eine essentialisierende Rekonstruktion von Wesenheiten nach sich zog. Dies hatte für das Wissen zur »griechischen Kolonisation« konservierende Auswirkungen, da sich gerade im deutschsprachigen Raum, wo dieses Paradigma besonders stark ausgeprägt war, im 19. und frühen 20. Jh. kaum etwas änderte. Es bedurfte verschiedener Faktoren, die etwa ab der Mitte des 20. Jh. Herausforderungen für die klassischen Positionen des 19. Jh. erzeugten. Das Grundmaterial, also die Quellen, betraf eine zunehmende Skepsis hinsichtlich ihres Quellenwerts. Dies ging Hand in Hand mit einer verstärkt eigenständigen Positionierung der Archäologie und ihres Materials. Auf diese Weise entstand ein größerer Deutungsspielraum und somit, in Kombination mit der Krise des kolonialen Paradigmas, ein Bedarf an alternativen Deutungsmustern, der von Nachbardisziplinen bedient wurde: Man denke etwa an sozial-, kultur- und strukturgeschichtliche Strömungen der Geschichtswissenschaft, an ethnologisch-anthropologische Modelle oder letztendlich auch an die postcolonial studies. Im Endeffekt bedeutete diese Entwicklung eine Abkehr von verallgemeinernden Rekonstruktionen der »griechischen Kolonisation« und eine Fokussierung auf die Heterogenität des Phänomens im Sinne einer Identifizierung konkreter raum-zeitlich begrenzter Ausformungen. Gerade der erste Teil des vorliegenden Buches versteht sich als Hilfestellung bei diesem Unterfangen, indem die Bedingungen des antiken Sprechens »peri tas apoikias« nachvollzogen werden, was als Kontextualisierungshilfe bei der Analyse konkreter Quellenäußerungen zu spezifischen Orten in bestimmten Zeiträumen gedacht ist.
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Geschichtswissenschaft Reinhard Bernbeck
Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8
Gertrude Cepl-Kaufmann
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Eva von Contzen, Tobias Huff, Peter Itzen (Hg.)
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Geschichtswissenschaft Gertrude Cepl-Kaufmann, Jasmin Grande, Ulrich Rosar, Jürgen Wiener (Hg.)
Die Bonner Republik 1945–1963 – Die Gründungsphase und die Adenauer-Ära Geschichte – Forschung – Diskurs 2018, 408 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4218-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4218-0
Julia A. Schmidt-Funke, Matthias Schnettger (Hg.)
Neue Stadtgeschichte(n) Die Reichsstadt Frankfurt im Vergleich 2018, 486 S., kart., Abb. 49,99 € (DE), 978-3-8376-3482-2 E-Book: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3482-6
Nele Maya Fahnenbruck, Johanna Meyer-Lenz (Hg.)
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