Das Bild als Gesprächsprogramm: Selbstreflexive Malerei und ihr kommunikativer Gebrauch in der Frühen Neuzeit 9783110726008, 9783110726176

The present publication deals with the communicative use of painting during the early modern period. In contrast to mode

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Das Bild als Gesprächsprogramm: Selbstreflexive Malerei und ihr kommunikativer Gebrauch in der Frühen Neuzeit
 9783110726008, 9783110726176

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DAS BILD ALS GESPRÄCHSPROGRAMM

WOLFGANG BRASSAT

DAS BILD ALS GESPRÄCHSPROGRAMM SELBSTREFLEXIVE MALEREI UND IHR KOMMUNIKATIVER GEBRAUCH IN DER FRÜHEN NEUZEIT

INHALTSVERZEICHNIS

7 EINLEITUNG 7 Zu Erkenntnisinteresse und Methode des vorliegenden Buches 29 Rückblick im Zorn: Zur Alterität der frühneuzeitlichen Kunstrezeption 36 Geselligkeit – Spiel – Kunst

59 KAPITEL I Fra Angelicos Pala di San Marco : Beobachtung zweiter Ordnung und die Anfänge des Individualstils 59 Fra Angelicos ›Kompromissstil‹ 64 Trompe l’œil, interne Dialogizität und Heteroglossia 73 Koinzidenz der Gegensätze, Beobachtung zweiter Ordnung, re-entry der Form und Selbstentlarvung der Fiktion

127 KAPITEL III Pendants und Konkurrenzwerke: Dialogizität und Interpikturalität in Werken Raffaels 127 Der Traum des Scipio, Die drei Grazien und das Bildnis eines jungen Mannes mit Apfel 135 »Non colossus sed historia«. Zur Konkurrenz von Raffael und Michelangelo 139 Die Sibyllen und Engel und Der Triumph der Galatea 147 Raffael spielt mit Motiven Michelangelos und besiegt ihn: Der Brand im Borgo und Die Transfiguration

163 KAPITEL IV Die Praxis der geselligen Rezeption und die selbstreflexive, ironische, enigmatische und hermetische Kunst des Cinquecento 167 Studioli und ihre Historien

87 KAPITEL II Programme für zahllose Kommunikationen: Die Primavera und weitere Werke Botticellis

170 Bilderrätsel, hermetische Werke und Vexierbilder

97 »Multi multa ferunt«: Gemalte poesie und ihr kommunikativer Gebrauch

194 Versprachlichungsappelle

105 ›Wilde Männer‹. Exkurs zur Geschlechtergeschichte 112 Ähnlichkeiten und Differenzen, Paradoxien und Unbestimmtheiten 120 Der neue Apelles: Die Calumnia

4

186 Erotisierung als Amplifikations- und Autonomisierungsstrategie 197 Hermetische Bildprogramme und ihre Deutungshoheit: Die Galerie Franz’ I. und der Wald von Bomarzo 203 Giorgio Vasaris Erläuterungen eigener Werke 206 Die Kritik der Kirche und der Akademien am künstlerischen Eigensinn und ihre Resonanz in der Kunstliteratur

213 KAPITEL V Annibale – Caravaggio – Domenichino 213 Annibales Schlachterladen 218 Die Karikaturen und Drudel der Carracci 226 Schulung ästhetischer Distanz und Beobachtung zweiter Ordnung. Zum Werk Caravaggios 234 Wortspiele, Doppelungsstrukturen, Mehrfachcodierungen und Verzicht auf rekursive Sinnabsicherung 245 Der verborgene Schlüssel zum Bildverständnis: Die Wahrsagerin 248 Exkurs: Niederländische Einflüsse: Wimmelbilder, invertierte Historien und der verborgene clavis interpretandi 254 Unterscheidung von System und Umwelt, Negation und Bekräftigung der Autonomie: Die Wahrsagerin und der hinters Licht geführte Kenner 256 Schock und Skandalisierung des Publikums 261 Exkurs: Zu den Gebrauchsformen von schockierenden Bildern und Naturabgüssen 266 Die marktorientierte Ausdifferenzierung der Kunst, die Pluralisierung der Stile und der ›Selbstzweck‹ der Kunst 272 Sprechende Bilder und schweisame Künstler: Domenichino und seine Jagd der Diana

285 KAPITEL VI Zur Malerei der Rubens-Zeit 285 Die Konversation über die Künste als Bildthema: Die Anfänge des Galeriebildes 295 Achtungserfolg in Spanien: Rubens’ Demokrit und Heraklit 300 »Meliora latent«. Eine implizite Selbstdarstellung: Rubens’ Trunkener Silen

341 KAPITEL VII Deutungspluralismus und Staatsräson. Die Niederlande und Frankreich im späten 17. Jahrhundert 343 Popularisierung eines Verhaltensmusters im 17. Jahrhundert. Bildbelege in den reformierten Niederlanden 355 Jan van Wijckersloots Selbstbildnis und die Kunst der ›oogenbedrieger‹ 361 Quellenbelege in Deutschland und Frankreich: Harsdörffer, Blaise de Vigènere, Binet, Menestrier u. a. 373 Künstler und Kunstwerk im höfischen System der Kommunikation: Chantelous Journal de Voyage du Cavalier Bernin en France 380 Berninis Täuschungen der Kritiker 385 Manufakturisierung der Kunstproduktion

389 KAPITEL VIII Der Höhepunkt und Ausklang der Epoche der Konversation 392 Fêtes galantes, sujets de rien und Travestien 401 Die Inkommensurabilität subjektiver Weltentwürfe: Watteaus Gilles 406 Kognitive Schließung des Kunstsystems: Das Ladenschild des Kunsthändlers Gersaint 409 Conversation Pieces und Modern Moral Subjects 412 Die wissenschaftliche Fundierung der Kennerschaft, Pluralisierung und Problematisierung des Sprechens über Kunst 419 Die Kunstkritik verlässt das höfische Parkett: Diderots Salonberichte

311 Apollinische und dionysische Künstler

426 VERZEICHNIS DER ABGEKÜRZT ZITIERTEN LITERATUR

321 Gemaltes Tischgespräch für Tischgespräche: Jacob Jordaens’ Der Satyr beim Bauern

442 REGISTER

330 Das erotische Sujet und die Wendung ins Imaginäre: Jordaens’ Die Frau des Königs Kandaules

447 ABBILDUNGSNACHWEIS 448 DANK

5

6

E IN LEITUNG

EINLEITUNG

Zu Erkenntnisinteresse und Methode des vorliegenden Buches

Das vorliegende Buch befasst sich mit der Malerei der Frühen Neuzeit unter dem Aspekt ihres kommunikativen Gebrauchs, also der historischen Formen ihrer Rezeption. Diese sind Bestandteil jener Zugangsbedingungen, die den immer schon gesellschaftlich vermittelten Vorgang der Kunstbetrachtung und das ästhetische Erleben prägen. Der Umgang mit Kunst reflektiert stets einen historischen Begriff derselben und unterliegt entsprechenden Konventionen. Zudem ist er, wie die Rezeptionsästhetik und Kontextforschung gezeigt haben,1 ernst zu nehmen als eine im Kunstwerk mitbedachte Dimension. Dieses ist »Ansprache und Aussprache« zugleich,2 ein Medium visueller Kommunikation, stets

konzipiert in Hinblick auf bestimmte Funktionen, Orte und Gebrauchsformen, sei es, dass diese von einem Auftraggeber vorgegeben werden oder der Künstler sie selbst zu bestimmen vermag. Ein jedes Werk geht hervor aus einer diesbezüglichen Selektion von bestimmten unter mehreren Möglichkeiten, impliziert Rezipienten und steuert deren Rezeptionsverhalten. Im Prozess seiner Entstehung kommen dem Kontext und dem Publikum also grundsätzlich konstruktive Bedeutung zu. Das Bild, dessen Doppelnatur als Akt und als Ding, als Teil zeitgebundener ritueller und sozialer Akte und als Zeit überdauerndes Objekt, die Bildwissenschaft betont,3 ist Produkt kollektiver und individueller Symbolisierungen und »Bestandteil eines reziproken Netzwerks, das sich zwischen Bildproduzenten und Bildbetrachtern sowie zwischen inneren [mentalen] und äußeren Bildern […] konstituiert.«4 Die Kunstwissenschaft hat sich in jüngerer Zeit unter verschiedenen Gesichtspunkten dem Thema des kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken angenähert. Sie hat sich z. B. eingehend mit der Geschichte der Institutionen der Kunstpräsentation und -vermittlung befasst – mit den studioli, den Kunst- und Wunderkammern, Sammlerkabinetten, Galerieräumen, Museen, den White Cubes des 20. Jahrhunderts usw. Dabei ging es jedoch in der Regel nicht vorrangig um die in solchen Räumen praktizierte Rezeption. An der Kunst- und

1

3

»[…] li pittori parlano con l’opere«. Annibale Carracci »Meinungsverschiedenheit über das ­Kunstwerk zeigt, dass das Werk neu, vielschichtig und lebendig ist.« Oscar Wilde: Vorrede zu Das Bildnis des Dorian Gray

Siehe Wolfgang Kemp (Hrsg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. 2. Aufl. Berlin/Hamburg 1992; Ders.: Kontexte. Für eine Kunstgeschichte der Komplexität.

2

Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001, S. 5.

4

Katharina Lorenz: Bilder machen Räume: Mythenbilder in

In: Texte zur Kunst, 2. Jahrgang, Nr. 2, 1991, S. 89–101.

pom­­peianischen Häusern. Berlin/New York 2008, S. 26. (Ergän-

Arnold Hauser: Soziologie der Kunst. München 1983, S. 459–470.

zung in Klammern v. Vf.)

7

Wunderkammer und dem Museum, den paradigmatischen Sammlungsformen der Neuzeit und der Moderne, studierte man ihre ›Ordnung der Dinge‹, ihre Ideologie und die Rhetorik ihrer Arrangements.5 Dass diese auch Orte kommunikativen Verhaltens – auch stille Kontemplation ist ein solches – waren, blieb oft außer Acht,6 sei es, dass man dies für selbstverständlich hielt oder für unerheblich – im Sinne des modernen Ideals einer verinnerlichten Kunstrezeption und der ihm korrelierenden Ideologie des kontextlosen, aus sich heraus verständlichen und seine Wirkung entfaltenden Kunstwerks.7 Doch dagegen ist einzuwenden, dass die Stätten der Kunstpräsentation, auch die beredten, sich nach außen hin als stolze Manifestationen der

5

6

›autonom‹ gewordenen Kunst präsentierenden Museen des 19. Jahrhunderts, vor allem Nutzbauten waren, für den finalen Zweck des Umgangs mit Kunstwerken gestaltete und diesen gestaltende Räume. Gesonderte Orte der Kunstpräsentation sind ein relativ spätes Produkt der kulturellen Evolution, das einen entwickelten Begriff der Spezifität der in ihnen als solche präsentierten Kunstwerke voraussetzt. Sie sind architektonische Institutionalisierungen von bereits vorhandenen Diskursen und Praktiken. Ihre frühesten Beispiele waren die erstmalig im späten 1. Jahrhundert v. Chr. von Strabon und Varro erwähnten pinacothecae, die Vitruv bereits als obligatorischen Bestandteil eines repräsentativen römischen Hauses ansah.8 War deren

Z. B. Andreas Grote (Hrsg.): Macrocosmos in Microcosmos. Die

theoretischer Sicht. In: Bilder – Räume – Betrachter. Festschrift

Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800.

für Wolfgang Kemp zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Steffen Bogen,

Opladen 1994; Beat Wyss: Habsburgs Panorama. Zur Ikonologie

Wolfgang Brassat u. David Ganz, Berlin 2006, S. 108–129; Ders.:

und »Psychoanalyse« der Wiener Museumsbauten. Jahrbuch

Schweigen ist Gold? Die moderne Ästhetik der Stille im Blickfeld

der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien, Sonderheft Nr. 88,

einer Geschichte des kommunikativen Gebrauchs von Kunst-

Wien 1995; Victor I. Stoichita: Das selbstbewußte Bild. Vom Ur-

werken. Ein nostalgischer Streifzug – Is Silence Golden? The

sprung der Metamalerei. München 1998, S. 149–157.

Modern Aesthetics of Silence from the Perspective of a History

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nenne ich an dieser Stelle

of the Communicative Use of Works of Art. A Nostalgic Excur-

einige Ausnahmen: Jennifer Montagu: The Painted Enigma and

sion. In: MARTa schweigt. Garde le silence, le silence te gardera.

French Seventeenth-Century Art. In: Journal of the Warburg and

Die Kunst der Stille von Duchamp bis heute. Das Mysterium der

Courtauld Institutes, 31, 1968, S. 307–335; Salvatore Settis: Gior-

Etrusker. Ausst.-Kat. Herford, MARTa, Herford 2007, S. 14–57.

giones »Gewitter«. Auftraggeber und verborgenes Sujet eines

Grundsätzlich zum Sprechen über Kunst: Louis Marin: De l’En­

Bildes der Renaissance. Berlin 1982 (ital. Originalausg. Turin

tretien. Paris 1997 (dt.: Das Kunstgespräch. Freiburg i. Breisgau

1978); Wolfgang Kemp: Die Kunst des Schweigens. In: Thomas

2001); Michael Baxandall: Words for Pictures: Seven Papers on

Koebner (Hrsg.): Laokoon und kein Ende. Der Wettstreit der

Renaissance Art and Criticism. New Haven 2003; Heiko Hausen-

Künste. München 1989, S. 96–119; Thomas Frangenberg: Der Be-

dorf (Hrsg.): Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des

trachter. Studien zur florentinischen Kunstliteratur des 16. Jahr-

Sprechens und Schreibens über Kunst. München 2007; Brassat

hunderts. Berlin 1990; Ders. The Art of Talking about Sculpture.

2007; Joachim Knape (Hrsg.): Kunstgespräche. Zur diskursiven

Vasari, Borghini and Bocchi. In: Journal of the Warburg and

Konstitution von Kunst. Baden-Baden 2012; Heinz Georg Held:

Courtauld Institutes, 58, 1995, S. 115–131; Jürgen Müller: Vom lau-

Die Leichtigkeit der Pinsel und Federn. Italienische Kunstge-

ten und vom leisen Betrachten. Ironische Bildstrukturen in der

spräche der Renaissance. Berlin 2016; Heiko Hausendorf/Mar-

holländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts. In: Wilhelm

cus Müller (Hrsg.): Handbuch Sprache in der Kunstkommunikation. Berlin 2016.

Kühlmann/Wolfgang Neuber (Hrsg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen

7

Zur Kritik derselben siehe Hauser 1983, S. 493ff.; Christel Fricke:

8

Strabon: Geographica, 14,1,14; Varro: De rebus rusticis, 1,2,10 und

Perspektiven. Frankfurt/M. [u. a.] 1994, S. 607–648; Barbara Welzel: Galerien und Kunstkabinette als Orte des Gesprächs. In:

8

Zeichenprozeß und ästhetische Erfahrung. München 2001.

Wolfgang Adam (Hrsg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Ba-

Vitruv: De architectura, 6,5,2; Fritz Graf: Ekphrasis: Die Entste-

rockzeitalter (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung;

hung der Gattung in der Antike. In: Gottfried Boehm/Helmut

Bd. 28). Wiesbaden 1997, Teil 1, S. 495–504; Wolfgang Brassat:

Pfotenhauer (Hrsg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung.

Schulung ästhetischer Distanz und Beobachtung dritter Ord-

Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995,

nung. Werke Caravaggios in rezeptionsästhetischer und system-

S. 152.

E IN LEITUNG

Entstehung eine Voraussetzung dafür, dass aus der epideiktischen Rede die ekphrasis, die Beschreibung von Kunstwerken, als eigenständige Gattung hervorgehen konnte, so verdankte sie sich ihrerseits einem Kunstdiskurs, der schon im Hellenismus eine sprunghafte Entwicklung verzeichnet hatte. Auch in nachantiker Zeit ließ die Entstehung neuer Sammlungsformen auf sich warten, nachdem das Kunstgespräch und die Kunstliteratur bereits in der Zeit Petrarcas wiederaufgelebt waren. So hat z. B. das im Quattrocento als Raumtypus etablierte studiolo9 sich erst allmählich zu einem Sammlungsraum und Ort des Gesprächs entwickelt.10 Die Stätten der Kunstpräsentation waren somit, wie auch die Kunstliteratur, Produkte einer Gesprächskultur, welche die Künste, die Künstler und ihre Werke als gesprächswürdige Themen anerkannte. Als ein zentraler Bestandteil dessen, was man als ihren einstigen ›Sitz im Leben‹ bezeichnen kann, ist diese Thema des vorliegenden Buches. »›Kunst‹ wird erst im Diskurs konstituiert.«11 Jegliche Eigenständigkeit, Autonomie der Künste ist nicht denkbar ohne die Voraussetzung einer Kultur des Sprechens über sie. Ein erstes Zeitalter der Kunst brach, wie Fritz Graf betont hat,12 bereits in der römischen Kaiserzeit an. Damals entstanden, wie schon erwähnt, die ersten

9

Sammlungsräume, die pinacothecae, und schon bald darauf sollten die von Mäzenen geförderten, reisenden Rednerstars der zweiten Sophistik, wie Dion Chrysostomos und Philostrat d. Ä., vor Kunstwerken ihre »Prunkvorführung[en] der Redekunst« abhalten.13 In der Festrede, die Dion Chrisostomos (Goldmund) 101 oder 105 n. Chr. vor der olympischen Versammlung angesichts der Zeus-Statue des Phidias gehalten14 und zum großen Teil, das Verfahren der prosopopoiie (sermocinatio) anwendend,15 dem Künstler selbst in den Mund gelegt hat,16 verglich er die Kolossalstatue mit dem ›Bild‹, das Homer von Zeus gegeben hatte (§ 62ff.). Als erster Autor eingehend die Unterschiede von Dichtung und bildender Kunst erörternd, behandelte er das Weltwunder des Phidias, des »weisen und göttlich in­ spirierten Schöpfer[s] dieses erhabenen, wundervollen Meisterwerkes« (§ 49),17 und stellte es als der Dichtung Homers zumindest ebenbürtig dar (§ 63). Als sich vieler Sprachen und Dialekte (§ 66) und sowohl Furcht einflößender, als auch lieblich sanfter Wörter (§ 69) bedienender Dichter, dem die verschwenderischen Mittel der Poesie (§ 64) und ein freier Umgang mit der Zeit und vielen Gestalten gegeben sei (§ 70), habe Homer viele Seiten des Zeus, auch den schrecklichen, Kriege anfachenden Gott evoziert. Als Gestalter eines felsen-

Siehe Wolfgang Liebenwein: Studiolo. Die Entstehung eines

übers. und interpretiert von Hans-Josef Klauck, mit einem ar-

Raumtyps und seine Entwicklung bis um 1600. Berlin 1977,

chäologischen Beitrag von Balbina Bäbler, Darmstadt 2000, S. 25–27.

S. 56ff. 10

Ebda., S. 128ff.

15

11

Joachim Knape: Einleitung. In: Knape 2012, S. 19; vgl. Marin 2001,

lichen Reden textinterner Personen«. (Ebda., S. 170.) Bei der ser-

Es handelt sich um die »glaubwürdige Fingierung von wört­

S. 25; Heiko Hausendorf/Marcus Müller: Formen und Funktio-

mocinatio legt der Redner, »obwohl nur er selbst redet, seine

nen der Sprache in der Kunstkommunikation. In: Hausendorf/

Rede einer anderen Person in direkter Rede in den Mund und

Müller 2016, S. 4: »Wir wollen […] nicht davon absehen, dass das

ahmt dabei auch deren charakteristische Redeweise […] nach«.

Kunstwerk als solches allererst durch und mit Kommunikation

(Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. 10. Aufl. Ismaning 1990, S. 142f.)

in die Welt kommt.« 12

Graf 1995, S. 152, Anm. 38.

13

Philostrat d. Ä.: Eikones, I, Pooimion, 5. Zum Sprechen über

der ja nicht auf den Mund gefallen war, aus einer redefreudigen

Kunst in der Antike siehe Nadia Koch: ›Sprechen über Kunst‹ in

Stadt stammte und zu den engsten Vertrauten des Perikles

der Antike. Eine Topographie. In: Hausendorf 2007, S. 299–315;

zählte, etwa so antworten: […].« Ebda., § 84, S. 107: »Hätte Phei-

Joachim Knape: Einleitung. In: Knape 2012, S. 25ff.

dias so gesprochen und sich mit Worten verteidigt, hätten ihm

14

16

Dion Chrysostomos 2000, § 55, S. 87: »Darauf könnte Pheidias,

Zur Datierung siehe Hans-Josef Klauck: Einleitung. In: Dion von

die Griechen, wie mir scheint, billigerweise einen Kranz aufs

Prusa: Olympikos he peri tes protes tu theu ennoias. Olympi-

Haupt gesetzt.«

sche Rede oder über die erste Erkenntnis Gottes. Eingeleitet,

17

Ebda., S. 81.

Z u E rkenntnisinteresse und Methode des vorliegenden B uches

9

harten, beständigen Materials habe Phidias hingegen nur einen Zeus darstellen können, den friedfertigen Gott gewählt und so seiner Heimat ein Sinnbild der Eintracht gestiftet:

»Wie ist mir geschehen? Ich wurde von dem Bild hingerissen und meinte sie [die Pferde] seien nicht gemalt, sondern wirklich, bewegten sich und seien verliebt; wenigstens necke ich sie, als ob sie mich hörten, und glaube, eine Antwort zu vernehmen.

»Unser Zeus […] ist friedlich und in jeder Hinsicht

Du aber hast kein Wort gesagt, um mich vom Irr-

milde, passend zu seiner Rolle als Schirmherr eines

tum abzubringen, überwältigt gleich mir und un-

von keinem Aufstand heimgesuchten, in Eintracht

fähig, dich des Truges und seiner träumerisch läh-

18

menden Wirkung zu erwehren. So laß uns das Bild

lebenden Griechenlands.«

betrachten, denn ein Bild ist es, vor dem wir ste-

Gemäß der Auffassung, dass auch das Nacherleben des Kunstwerks eine Form der mimesis darstellt, sollte dann um 220 n. Chr. Philostrat d. Ä. in den Eikones den Einfluss der Werke auf Phantasie und Gemüt schildern. Seine ekphraseis, in deren Stimmlage Pathos mit lyrischen Tönen und zuweilen auch nüchterner Präzision wechselt, sollten einen tieferen Sinn des Kunstwerks entbergen und den Betrachter entrücken. Und so durchwanderte der Autor Landschaftsdarstellungen (I, 12, 5), evozierte Gerüche (I, 2, 4; I, 6, 1) und Geräusche (I, 2, 5), nahm Bildelemente zum Anlass für Assoziationen (II, 17, 2), passte die Lautstärke seiner Rede dem Bildbefund an (»Der Satyr schläft; laß uns leise von ihm reden, damit er nicht erwacht und unsere Augenweide stört«; I, 22, 1)19 und rief sich zur Ordnung, wenn er sich zu sehr dem Kunsterlebnis hingegeben hatte:

18

hen!« (I, 28, 2.)20

Solch’ virtuoses Sprechen über Kunstwerke setzte eine langwierige Entwicklung einer Kultur derselben voraus, von der sich nur wenige, aber doch aussagekräftige Zeugnisse erhalten haben. Ein gewaltiger Autonomisierungsschub hatte sich bereits in der Epoche des Hellenismus vollzogen, die eine sprunghafte Entwicklung der Kunstliteratur21 und auch bereits das zeitigte, »was wir heute den ›Kunstkenner‹ nennen.«22 In ihr machten bereits Maler wie Apelles, Zeuxis und Parrhasios durch ihr exzentrisches Auftreten, selbstgefällige Signaturen und exorbitante Honorarforderungen von sich reden. Zugleich entstanden bereits Kunstwerke, die den überkommenen Kunstbegriff radikal in Frage stellten, wie z. B. der Barberinische Faun, die

Ebda., § 74, S. 99. Damit hat Dion, nachdem schon Polyklet im

linka hrsg., übersetzt u. erläutert von Otto Schönberger, Mün-

5. Jhd. v. Chr. die Kategorie des eu (das Gute) in die Theorie der Bildhauerei eingeführt hatte [Nadia Koch: Rhetorik und Kunst-

chen 1968, S. 143. 20

Bild. Metalepsen in antiken Ekphrasen. In: Ute E. Eisen/Peter

Rhetorik der Bildenden Künste (HBRH II). Berlin/Boston 2017,

von Möllendorff (Hrsg.): Über die Grenze. Metalepse in Text-

S. 114], die ethische Dimension der Statue betont und dem Pa-

und Bildmedien des Altertums. Berlin/Boston 2013, S. 257–291, zu den Eikones S. 258–270.

thos des Homerischen ›Bildes‹ des Zeus kontrastiert. Die Rezeptionsgeschichte dieser bemerkenswerten Quelle, der m. E. – ent-

19

10

Ebda., S. 159. Siehe hierzu Mario Baumann: Der Betrachter im

theorie in der Antike. In: Wolfgang Brassat (Hrsg.): Handbuch

21

Zu den nicht erhaltenen Schriften der hellenistischen Kunstlite-

gegen der Lehrmeinung [siehe D. A. Russell (Hrsg.): Dio Chry-

ratur, auf die Plinius d. Ä. die Ausführungen zu den Künsten in

sostom: Orations 7, 12, 36. Cambridge 1992, S. 19] – Bedeutung

seiner Historia naturalis (Bücher 34–36) gestützt hat, siehe Hu-

z. B. für Leonardos Paragone-Reflexionen und für Lessing zuzu-

bert Locher: [Artikel] Kunstgeschichte. In: Historisches Wörter-

trauen ist, verdiente eine eingehende Studie. Dass Alberti die

buch der Rhetorik, Bd. 4, Sp. 1454f. Einen Überblick über die

Schrift kannte, ist nicht anzunehmen, da dieser behauptete, der

»Kunstschriftstellerei vom 5. Jh. v. Chr. bis in die Kaiserzeit« gibt

»vorzügliche Maler Phidias« habe stets zugegeben, sein Bild des

Nadia Koch: Paradeigma. Die antike Kunstschriftstellerei als

Zeus nach dem Homers gestaltet zu haben. [De pictura, (II), 54,

Grundlage der frühneuzeitlichen Kunsttheorie. Wiesbaden

wohl nach Valerius Maximus 3,7 ext. 4.]

2013, S. 67–200.

Philostratos: Die Bilder. Gr.-dt., nach Vorarbeiten von Ernst Ka-

22

Koch 2007, S. 309.

E IN LEITUNG

Abb. 1  Erzgießerei-Maler (zugeschrieben): Schale im rotfigurigen Stil mit Darstellung der Herstellung von Skulpturen, ca. 480 v. Chr., Antikensammlung Berlin

Skulptur eines mit gespreizten Beinen betrunken schlafenden Satyrs, ein skandalöses Werk, das noch Leo von Klenze motivieren sollte, gegen seine öffentliche Präsentation in der von ihm erbauten Glyptothek in München zu protestieren. Die Kultur des Sprechens über Kunst war indes weit älter, wie ein um 480 v. Chr. entstandenes attisches Objekt der Töpferkunst zeigt (Abb. 1).23 Gemäß einer langen Tradition pflegt man von solchen Werken als ›Vasen‹ und von der ›griechischen Vasenmalerei‹ zu sprechen, aber bei diesen Er-

23

zeugnissen handelt es sich zum großen Teil um Trinkgefäße. Wie die Bilder und Inschriften auf ihnen, die Stoffe der Mythologie, der Geschichte, aber auch Alltägliches thematisieren, standen sie offenbar in Zusammenhang mit den Symposien, bei denen sie nicht nur als dekorative Gebrauchsobjekte dienten, sondern als Repertorien von Geschichten auch der Unterhaltung.24 Das Trinkgefäß in Berlin zeigt auf den Außenwänden verschiedene Arbeitsgänge der Herstellung von Skulpturen in einer Werkstatt, in der ein Handwer-

Zum Folgenden siehe Michael Squire: Ekphrasis at the Forge

191; Wolfgang Brassat/Michael Squire: Die Gattung der Ekphra-

and the Forging of Ekphrasis: The Shield of Achilles in Graeco-

sis. In: Brassat 2017, S. 68f.

Roman Word and Image. In: Word and Image, 29, 2013, S. 157–

24

Robin Osborne: The Art of Signing in Ancient Greece. In: Verity

Z u E rkenntnisinteresse und Methode des vorliegenden B uches

11

Abb. 2  Erzgießerei-Maler (zugeschrieben): Hephaistos überreicht Thetis die

Waffen für Achill, inneres Rundbild der Schale in Berlin (Abb. 1)

ker am Brennofen sitzt, neben dem an einer Wand einige Musterblätter hängen. Daneben bearbeitet ein Bildhauer eine noch kopflose Statue, deren Haupt neben ihm am Boden liegt. Auf der anderen Seite sind zwei weitere Handwerker dargestellt, die an einem kolossalen Krieger arbeiten, der von zwei weiteren Statuen flankiert wird. Solche Trinkgefäße wurden bei den Symposien genutzt, also bei Trinkgelagen, bei denen die Griechen philosophische Fragen erörterten und, wie dieses Objekt zeigt, ganz zweifellos schon im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. auch über Kunst sprachen. Das innere Rundbild des attischen Trinkgefäßes vergegenwärtigt die Geschichte von den Waffen, die Hephaistos (Vulcanus) auf Bitten von Thetis für ihren

Platt/Michael Squire (Hrsg.): The Art of Art History in Greco-Ro-

Sohn Achilleus anfertigte (Abb. 2). Die Darstellung der Arbeit der Bronzegießer auf den Außenwänden wurde also durch das innere Bild, das man erst sah, wenn man seinen Wein ausgetrunken hatte, auf das mythische Vorbild dieser Kunsthandwerker bezogen, den Gott des Feuers, der den olympischen Göttern ihre Waffen schmiedete und Paläste baute. Hephaistos’ Gabe für Thetis, den Schild des Achilleus, hatte Homer in der Ilias beschrieben (Ilias 18.478–608).25 Seine kunstvolle Beschreibung der Szenen, die Hephaistos auf dem Schild dargestellt hatte, war gewissermaßen die UrEkphrase, auf die sich die Gattung der Bildbeschreibung immer wieder bezogen hat. Der Schild des Achill begegnet uns auch in Form der sogenannten Tabulae Iliacae aus dem 1. Jhd. v. oder n. Chr. (Abb. 3). Es handelt sich um in Marmor ausgeführte Miniaturnachbildungen des von Homer beschriebenen Schildes. Als tragbare Objekte mit einem Durchmesser von nur 17,8 cm vergegenwärtigen sie diesen und weisen auf seinem Rand den Text der homerischen Beschreibung auf, dessen winzige sicht-, aber nicht lesbaren Buchstaben in der Höhe weniger als einen Millimeter messen. Wollte Homer mit seiner ekphrasis ein »beinahe Sehen durch Hören« hervorrufen,26 repräsentieren diese Artefakte auch den Text seiner Beschreibung, so dass der mit ihm vertraute Betrachter beinahe die homerischen Worte hören kann und aufgefordert wird, sie zu rezitieren. Diese Objekte, die man leicht in die Hand nehmen und weiterreichen konnte, hatten keinen anderen Zweck, als das gelehrte Gespräch über die Künste, die technai der Schmiedekunst, Bildhauerei und Vasenmalerei, die Möglichkeiten dieser bildnerischen Medien und ihre Differenz zur Dichtung anzuregen. Die Tabulae Iliacae, von denen insgesamt 22 Stück auf uns gekommen sind, entstan-

25

man Antiquity. Rethinking Visual Ontologies in Classical Antiquity. Project MUSE Journals Arethusa Volume 43, Number 2,

Siehe Erika Simon: Der Schild des Achilleus. In: Boehm/Pfotenhauer 1995, S. 123–141.

26

Zit. n. Michael Squire in: Brassat 2017, S. 69. So wird die Wirkung

Spring 2010, S. 231–251; Anna Anguissola: Künstler und Gesell-

der ekphrasis beschrieben: Hermogenes: Progymnasmata, 10.48

schaft in der Antike. In: Brassat 2017, S. 103.

(Ed. Rabe 1913, S. 23); Nicolaus: Progymnasmata (Ed. Felten 1913, S. 70).

12

E IN LEITUNG

den um die Zeitenwende, im 1. Jahrhundert vor oder nach Christus – ein Exemplar nachweislich im 2. Jhd. n. Chr. Sie sind Zeugnisse und waren Anschauungshilfen eines bereits institutionalisierten kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken, tatsächlich Programme für zahllose Kommunikationen über das Kunstwerk und die Künste. Die Entstehungszeit dieser Objekte beweist, dass Dion Chrysostomos in seiner kurz nach der Wende zum 2. Jhd. gehaltenen Olympischen Rede etwas

behandelte, das schon lange ein Leitthema der gebildeten Konversation war, und dass seine Rede das elaborierte Spitzenprodukt einer verbreiteten Praxis war, an der zahlreiche Gebildete Anteil hatten. In den Häusern der Oberschicht gehörte es längst schon »zum guten Ton, sich geistreich über Schönheit im allgemeinen und Kunstwerke im besonderen unterhalten zu können.«27 Für Petronius, in dessen Satyrica ein Werk des Apelles in der Bildergalerie einer campanischen Villa den fiktiven Erzähler in Anbetung versinken lässt,28 stand fest, dass erst das richtige Sprechen über Kunst den Römer zu einem »arbiter elegantiae« machte, einem ›Kenner in Fragen der richtigen Auswahl‹.29 Und Lukian, ein weiterer Verfasser berühmter Ekphrasen, betonte, ein Mann von Geschmack dürfe sich vor schönen Kunstwerken nicht wie ein Ungelehrter benehmen.30 Dass schon in der Antike Bildprogramme in Hinblick auf ihren kommunikativen Gebrauch konzipiert wurden, hat Katharina Lorenz eindrucksvoll an der pompejanischen Freskenmalerei dargelegt.31 Bei dieser handelt es sich überwiegend nicht um Spitzenprodukte, wie die Bilder in den Kaiservillen, und ihr ikonographisches Repertoire war beschränkt, doch eine oft raffinierte, diverse Rezipientinnen und Rezipienten ansprechende und immer wieder Gegenakzente setzende Kombination der Bildmotive machte solche Raumdekorationen zu schier unerschöpflichen Gesprächsprogrammen. Die Kultur des Sprechens über Kunst, die sich in den angeführten Objekten manifestiert hat, war Voraussetzung und Mittel der Autonomisierung derselben. Denn erst mit ihr wurde ein entsprechendes Wissen akkumuliert und vermittelt, mit dem das System ein Gedächtnis erhält, seine Funktionen beobachten, sich weiter ausdifferenzieren und seine Zukunft projizieren kann. Die Kunstwerke selbst waren daran maßgeblich beteiligt. Denn sie sind theoriehaltige Gebilde. Ihre Funktion be-

27

30

Abb. 3  Tabula Iliaca, spätes letztes Jahrhundert vor oder frühes erstes

­Jahrhundert n. Chr., Gipsabguss von Tabula Iliaca 4N (Rom, Musei Capitolini) (Archäologisches Institut und Sammlung der Gipsabgüsse, Göttingen,

Inv.-Nr. A1695)

Ingeborg Scheibler: Griechische Malerei der Antike. München

28

Petron: Satyrica, 83ff.

29

Koch 2007, S. 311.

Scheibler 1994, S. 30. Wir werden auf die nämliche Quelle, De domo, noch zurückkommen.

1994, S. 30. 31

Lorenz 2008; siehe auch dies.: Rhetoric on the Wall? The House of Menander and Its Decorative Structure. In: Ja´s Elsner/Michel

Z u E rkenntnisinteresse und Methode des vorliegenden B uches

13

Sein als Verrat an ihrem Begriff und als existentielle Gefährdung des ganzen Projekts geächtet. Indes, Kunst thematisieren, heißt auch, ihre Grenzen und ihr Gegenteil zu bedenken. Erst eine selbstbewusst gewordene Kunst machte Ernst mit Aristoteles’ Hinweis auf eine ästhetische Distanz und den Reiz des kunstvoll dargestellten Hässlichen, der Platons Kritik, Bilder seien Gift für den Verstand, begegnete: »Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, zum Beispiel Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.«32

Abb. 4  Die trunkene Alte, römische Marmorkopie nach einem hellenistischen Original wahrscheinlich des späten 3. Jahrhunderts, München, Glyptothek

Der Schöpfer der Trunkenen Alten (Abb. 4), einer nur durch römische Kopien überlieferten hellenistischen Sitzstatue einer gealterten Hetäre, verstieß gegen alles, was seinerzeit als konstitutiv für die Künste angesehen wurde.33 Doch solches Infragestellen der ethischmoralischen Qualitäten des Kunstwerks dient dem »Vollzug der Autopoiesis von Kunst«.34 In nachantiker Zeit propagierte als einer der ersten ein Mitarbeiter von Benozzo Gozzoli mit der Zeichnung einer verwesenden Leiche (Abb. 5), auf deren Vorderseite eine Variation des Horazschen Diktums zu lesen ist, eine solche »Kraft des Wagnisses«, von der dieser behauptet hatte, sie sei den Dichtern und Malern von je her gestattet gewesen.35 Solches Ausloten der Grenzbereiche der Kunst ist indes nur eine von vielen Strategien, mit denen Künstler das Gespräch über das Kunstwerk provozieren.

steht auch darin, einen Begriff ihrer selbst zu vermitteln und abzusichern, das Gespräch über die Künste in Gang zu halten. Die Theorie der Künste hat dies vielfach ex negativo begriffen, deren Nicht-mehr-schön-

32

14

tegisch plazierten Unschärfen, von als absichtsvoll erkennbaren Verfremdungen, von Rätseln, von Zi-

Meyer (Hrsg.): Art and Rhetoric in Roman Culture. Cambridge

nahme in die Glyptothek verweigert. Erst 1895 kam die Statue

2014, S. 183–210.

auf Betreiben Adolf Furtwänglers in die Glyptothek, wo sie allerdings im ›Römersaal‹ präsentiert wurde.

Aristoteles: Poetik, IV, 1448b. Ed. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 11.

33

»Andere sind: der Einbau von Paradoxien oder stra-

34

Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der

Siehe Paul Zanker: Die Trunkene Alte. Das Lachen der Verhöhn-

Kunst. In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.):

ten. Frankfurt/M. 1989. Leo von Klenze hat diesem Werks, das

Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaft­

zunächst in der Münchener Residenz verwahrt wurde, die Auf-

lichen Diskurselements. Frankfurt/M. 1986, S. 623.

E IN LEITUNG

taten, von Irritierungen dessen, der das Kunstwerk zu ›genießen‹, das heißt sich anzueignen sucht […]. Heute kommt die Verspottung des Betrachters, des Sinnsuchers, des Inspirationsbedürftigen hinzu. Auch dabei steht freilich die Technik im Dienste eines anderen Sinns. Verblüffung, Täuschung, Verspottung sind nicht Selbstzweck. Sie sind Durchgangsstadium für eine Operation, die man als Entlarvung der Realität bezeichnen könnte – gleichsam für den Schluß: Da das Kunstwerk existiert und real überzeugend (wenn überzeugend!) erlebt werden kann, kann etwas mit der Welt nicht stimmen […]. Mit der Welt! – und gerade nicht mit der Kunst, die ihre eigenen Möglichkeiten ja ersichtlich beherrscht.«36

Mit Niklas Luhmann, der Kunst als ein »symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium« definiert, d. h. als ein zivilisatorisch wichtiges Subsystem neuzeitlicher Gesellschaften,37 verstehen wir das Kunstwerk als ein »Programm für zahllose Kommunikationen über das Kunstwerk«, das ein »Mindestmaß an Einheitlichkeit und Wechselbezüglichkeit (zum Beispiel Ergänzungsfähigkeit) der auf sie bezogenen Kommunikation« sichert.38

Abb. 5  Werkstatt des Benozzo Gozzoli: ›Musterbuch‹, fol. 31v., ca. 1450–65, Rotterdam, Museum Boymans-van Beuningen

Diese »toleriert und verbirgt zugleich ein hohes Maß an Diskrepanz in dem, was die Beteiligten be-

guliert die Erwartungen. Sich dem mit Einsicht zu

wußtseinsmäßig aufnehmen und verarbeiten. Das

fügen, hatte einst den Titel ›Geschmack‹.«39

Kunstwerk vereinheitlicht ihre Kommunikation. Es organisiert ihre Beteiligung. Es reduziert, obwohl es ein höchst unwahrscheinlicher Tatbestand ist, die Beliebigkeit der absehbaren Einstellungen. Es re-

35

36 37

Dieser Ansatz, der davon ausgeht, dass soziale Systeme durch Kommunikation entstehen und sich reproduzieren,40 dass nicht das Kunstwerk selbst, sondern

Horaz: Ars poetica, 9f. Siehe Ulrich Pfisterer: Künstlerische po-

symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. In: Ders.:

testas audendi und licentia im Quattrocento. Benozzo Gozzoli,

Soziologische Aufklärung. Bd. 2, Opladen 1975, S. 170–192; Ders.:

Andrea Mantegna, Bertoldo di Giovanni. In: Römisches Jahr-

Macht. Stuttgart 1975; Ders.: Die Unwahrscheinlichkeit der

buch der Bibliotheca Hertziana, 31, 1996, S. 118ff.

Kommunikation. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3, Opladen 1982, S. 25–34.)

Luhmann 1986, S. 625f. Siehe auch ders.: Schriften zu Kunst und Literatur. Hrsg. v. Niels Werber, Frankfurt/M. 2008.

38

Weitere »symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien«

39 Ebda.

(Talcott Parsons) sind Macht, Geld, Wahrheit und Liebe. (Siehe

40

Niklas Luhmann: Einführende Bemerkungen zu einer Theorie

Luhmann 1986, S. 627. Ebda.; Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1995, S. 80ff., 129ff.

Z u E rkenntnisinteresse und Methode des vorliegenden B uches

15

das Gespräch über dieses die kleinste, nicht mehr dekomponierbare Einheit des Kunstsystems ist,41 greift somit durch die Einheit, Harmonie und Perfektion des Kunstwerks hindurch: Seine »Einheit […] liegt letztlich in seiner Funktion als Kommunikationsprogramm, wobei das Programm so einleuchtend sein kann, daß es jede Argumentation erübrigt und die Sicherheit des Schonverständigtseins vermittelt.«42 In einem fortgeschrittenen Stadium, wenn seine Abbildlichkeit zugunsten seiner konstruktiven, gestischen und selbstreflexiven Merkmale, somit seine Weltreferenz zugunsten seiner Selbstreferenz zurücktritt, ist das Kunstwerk dann sogar als völlig eigenständige, nicht in Sprache oder sonstige Medien übersetzbare Kommunikation zu verstehen, die durch den »zweckentfremdeten Gebrauch von Wahrnehmungen« eine Sinnsuche provoziert, die in ihm »Beschränkungen, aber nicht notwendigerweise Ergebnisse vorgezeichnet erhält.«43 Damit machen wir Anleihen bei der Systemtheorie Luhmanns, dessen Interesse der Genese moderner funktional ausdifferenzierter sozialer Systeme galt, vor allem bei seinem 1986 publizierten Aufsatz Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst und der neun Jahre später erschienenen großen Abhandlung Die Kunst der Gesellschaft. Luhmann hat diese grundlegenden Texte auf der Prämisse fundiert, sein Verfah-

ren erfordere »theoretische Vorgaben, die nicht aus einer Beobachtung von Kunstwerken herausgezogen werden können, gleichwohl aber am kommunikativen Gebrauch von Kunstwerken nachgewiesen werden müssen.«44 Wir kommen dieser Aufforderung zu einer kunsthistorischen Engführung seines Projekts nach, für die u. a. mit der Rezeptionsästhetik und den Forschungen zur Selbstreflexion bildender Kunst ein methodisches Instrumentarium bereitsteht,45 welches es erlaubt, die Kunstwerke selbst, ihre spezifischen Formen der Rezeptionssteuerung und Sinnkonstitution, für eine Darstellung frühneuzeitlicher Prozesse der Ausdifferenzierung des Kunstsystems, der Genese der »Institution Kunst« (Peter Bürger), fruchtbar zu machen. Die Zahl systemtheoretisch orientierter Beiträge zur bildenden Kunst ist bis heute gering 46 und ihre Erträge sind teilweise dürftig. Dabei ist unübersehbar, dass sich die Kunstwissenschaft nicht nur längst mit Fragestellungen der Systemtheorie befasst – man denke nur an die Fülle jüngerer Beiträge zur Selbstreflexion insbesondere frühneuzeitlicher und moderner Malerei –, sondern dass sie sich auch seit den 80er Jahren konsequent deren erkenntnistheoretischen Grundlagen und differenzorientierten Verfahren angenähert hat. Gemäß poststrukturalistischen Prämissen hat sie seither ein repräsentationalistisches bzw. symptomatologisches Verständnis ihrer

41

Luhmann 1986, S. 627.

Aktion des Wiener Aktionismus. Subversion der Kultur und Dis-

42

Ebda., S. 628. Dazu auch Luhmann 1995, S. 120f.

positionierung des Bewußtseins. München 2001. Aus dem Kreis

43

Luhmann 1995, S. 39ff. (Zitate S. 41 u. 45.)

der Kunsthistoriker ist Hans Dieter Huber wiederholt mit system-

44

Ebda., S. 9.

theoretischen Beiträgen hervorgetreten. Ich führe nur seine Lauf-

45

Siehe Wolfgang Kemp: Der Anteil des Betrachters. Rezeptions-

bahnschriften an: Hans Dieter Huber: System und Wirkung. Rau-

ästhetische Studien zur Malerei des 19. Jahrhunderts. München

schenberg, Twombly, Baruchello. Fragen der Interpretation und

1983; Kemp 1989; Kemp 1992; Ders.: Teleologie der Malerei.

Bedeutung zeitgenössischer Kunst. Ein systemtheoretischer An-

Selbstporträt und Zukunftsreflexion bei Poussin und Velázquez.

satz. (Diss. Heidelberg) München 1989; Ders.: Veronese. Kunst als

In: Matthias Winner (Hrsg.): Der Künstler über sich in seinem

soziales System. Paderborn 2005. Siehe weiter Sabine Kampmann/

Werk. Internationales Symposium der Bibliotheca Hertziana.

Alexandra Karentzos/Thomas Küpper (Hrsg.): Gender Studies und

Rom 1992, S. 407–433. Zu den Forschungen zur Selbstreflexion

Systemtheorie. Studien zu einem Theorietransfer. Hrsg. im Auftrag

von Kunstwerken siehe unten, Anm. 62.

des Instituts für Kunstwissenschaft der Hochschule für Bildende

Bei vielen der hier zu nennenden Publikationen handelt es sich be-

Künste Braunschweig, Bielefeld 2004; Beat Wyss: Vom Bild zum

merkenswerter Weise um Arbeiten von Literaturwissenschaftlern,

Kunstsystem. 2 Bde. Köln 2006; Brassat 2006; Brassat 2007; Holger

z. B. Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photogra-

Simon: Die Morphologie des Bildes. Eine kunsthistorische Me-

phie in der Zeit des Realismus. München 1990; Oliver Jahraus: Die

thode zur Kunstkommunikation. Weimar 2012.

46

16

E IN LEITUNG

Gegenstände als Abbilder der Welt, als »intensiver Totalitäten« (Lukács, Hauser) und »symbolischer Formen« (Panofsky) ihrer Entstehungszeit, aufgegeben zugunsten eines konstruktivistischen, nach dem Kunstwerke operative und zugleich eigensinnige Gebilde und Medien visueller Kommunikation sind. Dass Luhmanns Schriften zur Kunst dabei dennoch kaum rezipiert wurden, liegt zweifellos an ihrem hohen Abstraktionsgrad. Sie liefern den theoretischen Leitfaden für systemtheoretische Untersuchungen von Kunst, wobei sie konkrete Werkanalysen als Prüfstein ihrer Praktikabilität schuldig bleiben. Ausdrücklich hat Luhmann als Gesellschaftstheoretiker von Unterschieden der verschiedenen Künste abgesehen.47 Dieser Mangel an historischer Konkretisierung spricht freilich nicht gegen die Methode selbst, sondern muss von kunstwissenschaftlicher Seite als Herausforderung angesehen werden. Eine Geschichte des kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken zu schreiben, ist kein leichtes und auf den ersten Blick auch nicht unbedingt ein aussichtsreiches Unterfangen. Denn die Zeugnisse derselben sind so zahlreich nicht: Ergiebige bildliche Zeugnisse setzen erst im frühen 17. Jahrhundert mit den Antwerpener Galeriebildern ein. Die schriftlichen Quellen geben so gut wie nie tatsächliche historische Rezeptionsvorgänge wieder. Dennoch steht diesem Vorhaben eine Fülle von Texten zur Verfügung, wobei bei solchen der Kunstliteratur deren diesbezügliche Valenz oft überhaupt erst zu bestimmen und zudem vieles heranzuziehen ist, was nicht zu den klassischen Quellen der Kunstgeschichte gehört, z. B. Texte zur Theorie der Ge-

47

selligkeit und populäre Wissenskompendien, wie Tomaso Garzonis enzyklopädisches Werk La piazza universale di tutte le professioni del mondo (1585) oder Étienne Binets Essai des merveilles de nature et des plus nobles artifices (1621), das erste Konversationslexikon. Luhmanns Neuformulierung der Systemtheorie als einer Theorie selbstbeobachtender Systeme48 trug einem Problemhorizont Rechnung, der sich um 1970 auftat. Gewillt, mit idealistischen und historistischen Altlasten der Geisteswissenschaften aufzuräumen, konstituierten sich damals unter der Losung vom »Tod des Autors« (Roland Barthes) neue methodische Ansätze, darunter der Poststrukturalismus und die Rezeptionsästhetik.49 Auch jenseits derselben wurden damals die Grenzen der traditionellen kunstgeschichtlichen Hermeneutik reflektiert. So hat Jennifer Montagu 1968 in ihrem viel zu wenig beachteten Aufsatz The Painted Enigma and French 17th Century Art darauf hingewiesen, dass das zumeist als Randerscheinung der Kunstgeschichte angesehene Bilderrätsel für die visuelle ­Kultur des späten 17. Jahrhunderts von zentraler Be­ deutung, nämlich ein offener Werkbegriff für diese konstitutiv war.50 Montagus Ausgangspunkt waren zwei Beschreibungen eines nicht erhaltenen Reiterporträts Ludwigs XIV. von Charles Le Brun, die dessen Biograph Claude Nivelon und André Félibien, also kundige, dem Künstler nahestehende Autoren, verfasst haben. Beide Texte sind aber derart unterschiedlich, dass man kaum glauben mag, dass sie ein und dasselbe Gemälde behandeln. Eine Erklärung dafür fand die Autorin in der rhetorischen Praxis ingeniöser Bildauslegungen, die

So heißt es eingangs des Aufsatzes Das Kunstwerk und die

mann: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1987, S. 15ff. (»Zur Einfüh-

Selbstreproduktion der Kunst: »Die folgenden Analysen […]

rung: Paradigmawechsel in der Systemtheorie«); Ders.: Einfüh-

sehen […] von allen Unterschieden zwischen einzelnen Kunst-

rung in die Systemtheorie. Hrsg. v. Dirk Baecker, Darmstadt 22004, S. 11ff. (»Soziologie und Systemtheorie«).

werken ab. Mag es sich um Literatur oder Theater, bildende Kunst oder Musik handeln – alles kommt in Betracht, sofern nur

49

die gesellschaftliche Kommunikation den Tatbestand (unter

48

Siehe Günther Schiwy: Poststrukturalisten und »Neue Philosophen«. Reinbeck bei Hamburg 1985. Zur Rezeptionsästhetik

welchen Kriterien auch immer) als Kunstwerk behandelt.«

siehe Hans-Robert Jauss: Literaturgeschichte als Provokation.

(Luhmann 1986, S. 620.)

Frankfurt/M. 1970; Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte.

Zu Luhmanns Positionierung gegenüber der in den 40er und

Konstanz 1970; Ders.: Der implizite Leser. München 1972 sowie

50er Jahren in den USA begründeten soziologischen System-

die Angaben in Anm. 45.

theorie und den Schriften Talcott Parsons’ siehe Niklas Luh-

50

Montagu 1968.

Z u E rkenntnisinteresse und Methode des vorliegenden B uches

17

damals in Frankreich ein fester Bestandteil des jesuitischen Erziehungswesens war. In öffentlichen Wettbewerben seiner besten Schüler und in den Salons übte man sich seinerzeit in »Gemählspielen« (Harsdörffer), bei denen mit Lust Bilder – auch solche mit ehrwürdigen Sujets – kontrovers ausgelegt wurden. Diese Praxis, der seit den späten 1670er Jahren der Mercure galant ein Forum bot, in dem regelmäßig Bilderrätsel und per Leserbrief eingesandte ingeniöse Lösungen, selbst wenn sie abwegig waren, publiziert wurden, setzte sich damals offenbar bis in die offizielle Kunstliteratur fort. Montagus Ausführungen, denen bald darauf zwei bemerkenswerte Beiträge von Salvatore Settis folgten, darunter sein Buch über das »verborgene Sujet« in der Malerei der Renaissance,51 galten also historischen Formen des kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken, die deren – wie stark auch immer tatsächlich gegebene – Polyvalenz ausreizten. Damit war ein blinder Fleck traditioneller hermeneutischer Verfahren, insbesondere der damals tonangebenden Ikonographie, bezeichnet, die von der Möglichkeit der Bestimmung des einen »Kardinalsinns« (Erwin Panofsky) des Kunstwerks ausgingen. Dagegen galt und gilt es, seine semantische Offenheit, seine Ambiguitäten und Paradoxien, das Obskure, Enigmatische etc. nicht als grenzwertige Phänomene zu begreifen, 52 sondern als funktional sinnvolle Merkmale, die das Gespräch über

51

52

53

das Kunstwerk anzuregen intendiert waren. Schon im Hellenismus und abermals in der Renaissance wurde das logisch nicht säuberlich Subsumierbare als eine spezifische Qualität des Ästhetischen erkannt. Geht man davon aus, was hier in Fallstudien belegt werden soll, dass Künstler sich immer wieder entsprechender Mittel mit Blick auf den seinerzeit in der Regel vielstimmigen kommunikativen Gebrauch von Kunstwerken bedient haben, so folgt daraus, dass sich deren absichtsvoll gesteigerte Eigenkomplexität nur mit dem Hinweis auf solche Rezeptionsformen erschöpfend erklären lässt. Dies ist geboten, zumal ästhetische Komplexität immer schon Individualitätsansprüchen verschwistert war. Adorno, daran sei erinnert, hat in der Ästhetischen Theorie einen emphatischen Begriff der Rätselhaftigkeit, des unergründlichen Blicks des Kunstwerks, des »tausendäugigen Argus« (Hegel), vertreten als Maßstab anzuerkennender Subjektivität: »Das Rätsel lösen ist soviel wie den Grund seiner Unlösbarkeit angeben: den Blick, mit dem die Kunstwerke den Betrachter anschauen.«53 Indem sie dies tun, versetzen sie Rezipienten in die Rolle eines Befragten, nicht die des Sinnstiftenden.54 Hinter solche Einsichten fällt eine Wissenschaft zurück, der angesichts komplexer, womöglich paradoxer Gemengelagen unwohl wird. »Das offene Kunstwerk«, mag es das in der Moderne geben, doch wer z. B. über

Salvatore Settis: Citarea »su una impresa di bronconi«. In: Jour-

werden im Folgenden gelegentlich Adornos Ästhetische Theorie

nal of the Warburg and Courtauld Institutes, 34, 1971, S. 135–171;

zitieren, obwohl es in ihr heißt: »[…] kein Kunstwerk ist in Kate-

Settis 1982.

gorien der Kommunikation zu beschreiben und zu erklären.«

Christel Fricke definiert Kunstwerke als »freie Zeichen von ge-

(Ebda., S. 167.) Zu diesem Lessingschen Satz betonen Hausen-

ringer Bedeutungstransparenz, die syntaktisch füllig sind, eine

dorf und Müller, «dass diese Negation selbst bereits ein Teil von

multiple und komplexe intensionale Bedeutung haben und die

Kunstkommunikation ist und genau jene Selbst- und Rückbe-

Bedeutung exemplifizieren.« (Fricke 2001, S. 314ff.)

züglichkeit vorantreibt, die Kunstkommunikation im hier be-

Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 51981,

schriebenen Sinn notwendig macht.« (Heiko Hausendorf/Mar-

S. 185. »Kunstwerke sind nicht von der Ästhetik als hermeneuti-

cus Müller: Formen und Funktionen der Sprache in der Kunst-

sche Objekte zu begreifen; zu begreifen wäre, auf dem gegen-

kommunikation. In: Hausendorf/Müller 2016, S. 4.)

wärtigen Stand, ihre Unbegreiflichkeit.« (Ebda., S. 179.) »Nicht

54

William J. T. Mitchell: Picture Theory. Essays on Verbal and Vi-

minder strikt sind Kunstwerke Rätsel. Sie enthalten potentiell

sual Representation. Chicago/London 1994, S. 35–82; George

die Lösung, nicht ist sie objektiv gesetzt. Jedes Kunstwerk ist ein

Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsycho-

Vexierbild, nur derart, daß es beim Vexieren bleibt, bei der prä-

logie des Bildes. München 1999, passim, bes. S. 11–18.

stabilierten Niederlage ihres Betrachters.« (Ebda., S. 184.) Wir

18

E IN LEITUNG

Botticellis Primavera spricht, hält gewöhnlich fest an alten Idealen »explikativen Verhaltens« (Vilém Flusser) und trägt mit sakralem Ernst die neueste der zahllosen Interpretationen dieses Gemäldes vor. Immer noch geschieht dies zuweilen mit dem Gestus, zu der einzig richtigen Beschreibung und Deutung dieses Werks gefunden zu haben, dem tatsächlich schon 1945 Ernst Gombrich die Qualitäten eines Änigmas und eines Puzzles attestiert hat.55 Dabei ist das »offene Kunstwerk«, ein Begriff, den Umberto Eco an Werken von Joyce, Boulez, Stockhausen, Calder u. a. entwickelt hat, wie schon er betonte, keine Erfindung der Moderne: »Jedes Kunstwerk, von den Felsenmalereien bis zu I promessi sposi, bietet sich dar als ein unendlich vielen Arten der Rezeption offener Gegenstand.«56 Auch die von Quintilian gerühmte und der Sprachkunst anempfohlene Anschaulichkeit des Bildes57 ist nicht schon evidenter Sinn, sondern erweist sich als chimärisch angesichts der Erscheinungsfülle des Kunstwerks und seiner geringen Bedeutungstransparenz.58 Der Streit, ob Kunst, deren Telos das Vexieren und die Affirmation von Komplexität, deren spezifisches Vermögen das einer »Verzögerung und Reflexivierung« ist,59 immer schon rätselhaft

55

war oder dieses erst durch Geschichte wurde, wird ungelöst fortbestehen.60 Der Ästhetik und der Bildwissenschaft obliegt es, den prinzipiellen Rätselcharakter des Kunstwerks, der Kunstgeschichte bzw. -wissenschaft hingegen zu betonen, dass das offene, mehrdeutige Kunstwerk und die Orte und Anlässe, bei denen solche goutiert werden konnten, erst nach langem Vorlauf auftretende Produkte der Geschichte waren. Unter dem Gesichtspunkt evolutionärer Autonomisierungsprozesse aber kann beides zusammen gedacht und können verschiedene Verfahren des Aufbaus von Eigenkomplexität und Mehrdeutigkeit unterschieden und ihre Entwicklungslinien rekonstruiert werden.61 Ähnlich verhält es sich mit der Selbstreflexivität des Kunstwerks, welche in der Tradition der europäischen Avantgarden für Kunst konstitutiv geworden ist. Sie ist kein Apriori handwerklicher Arbeit, sondern Produkt eines Diskurses, der Hand in Hand mit den höheren Ambitionen der Handwerker einst einen Begriff der Künste erst entwickeln musste. Eine dem nachgehende Geschichte des kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken ist heute nicht zuletzt da gefordert, wo die Bildwissenschaft, die Forschungen zur Selbstreflexivität

ungewöhnlich wäre) und in der Textkunst, vor allem in der

Ernst Gombrich: Botticelli’s Mythologies. A Study in the Neopla-

Lyrik, eine Verzögerung des Lesens.«

tonic Symbolism of his Circle. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 8, 1945, S. 11. 56

60

Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/M. 1977, S. 60.

und Werner Busch in Max Imdahl (Hrsg.): Wie eindeutig ist ein

Dabei unterscheidet Eco zwischen einer prinzipiellen Ambi­

Kunstwerk? Köln 1986. Adorno 1981, S. 182 betonte: »Alle Kunst-

guität ästhetisch organisierter Formen, einer Offenheit ersten

werke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher

­Grades, und einer in der Werkstruktur absichtsvoll angelegten

die Theorie der Kunst irritiert.« Ebda. heißt es aber auch: »Der

Reichhaltigkeit der Bedeutungen, welche moderne Werke cha-

Rätselcharakter der Kunstwerke bleibt verwachsen mit Ge-

rakterisiert, einer (expliziten) Offenheit zweiten Grades. (Ebda.,

schichte. Durch sie wurden sie einst zu Rätseln, durch sie wer-

S. 85ff. Dazu Valeska von Rosen: [Artikel] Offenes Kunstwerk. In:

den sie es stets wieder, und umgekehrt hält diese allein, die

Ulrich Pfisterer (Hrsg.): Metzeler Lexikon für Kunstwissenschaft.

ihnen Autorität verschaffte, die peinliche Frage nach ihrer rai-

Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart/Weimar 2003, S. 256–258.) 57

Vgl. dazu die konträren Positionen der Beiträge von Max Imdahl

Quintilian: Institutio oratoria, XI 3, 67. Auch Horaz spricht dem

son d’être von ihnen fern.« 61

Siehe hierzu Ulrich Pfisterer: Akt und Ambiguität 1552, 1559,

Bild eine größere Unmittelbarkeit und Wirksamkeit als dem

1640. In: Valeska von Rosen (Hrsg.): Erosionen der Rhetorik?

Wort zu: »Schwächer ist der Eindruck, der der Seele durch das

Strategien der Ambiguität in den Künsten der Frühen Neuzeit.

Ohr zugeht, minder wirksam als was das zuverlässige Auge un-

Wiesbaden 2012, S. 29–60, der sieben Formen von Ambiguität

mittelbar aufnimmt.« (Horaz: Ars poetica, 180f.)

und Vagheit unterscheidet, und Verena Krieger/Rachel Mader

58

Vgl. Fricke 2001, S. 309ff.

(Hrsg.): Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines

59

Luhmann 1995, S. 27: »[…] in der bildenden Kunst ein längeres

ästhetischen Paradigmas. Köln/Weimar/Wien 2010.

Sichaufhalten beim selben Objekt (was im Alltagsleben ganz

Z u E rkenntnisinteresse und Methode des vorliegenden B uches

19

von Kunstwerken und zur Interpikturalität ihre Dimensionen zumeist ignorieren.62 Daraus ergeben sich eigentümliche Verschiebungen: Eine Kunst, die sich selbst thematisiert, erscheint dann als ein rein geistesgeschichtliches Phänomen, als Symptom eines sich freischwebend einstellenden oder in der Höhenluft der

62

Maßgeblich angeregt wurden die Forschungen zur Selbstreflexi-

sion verbuchen. Mit Steffen Bogens Träumen und Erzählen.

vität durch Hans Belting, der in Bild und Kult darlegte, dass die

Selbstreflexion der Bildkunst vor 1300 (Diss., Univ. Marburg 1997.

sakralen Bildwerke des Mittelalters Kultobjekte waren, die man

München 2001) wurde deutlich, dass auch Bildwerke des Mittel-

nur erschöpfend verstehen kann, wenn man »sie in dem Kontext

alters Ansätze von Selbstreflexion aufweisen, womit diese im

aufspürt, wo sie ihren wahren Part ausübten«. (Hans Belting:

Verdacht stand, ein transhistorisches Phänomen zu sein. Das

Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der

hat zahllosen weiteren Studien auf diesem Feld keinen Abbruch

Kunst. München 1990, S. 14.) Belting hat die Geschichte des Bildes

getan, wobei der bloße, jeder historischen Perspektivierung ent-

vor dem Zeitalter der Kunst an der Schwelle zur Ära der Kunst

behrende Hinweis auf selbstreflexive Dimensionen des Kunst-

enden lassen. In Giovanni Bellini. Pietà: Ikone und Bildererzäh-

werks trivial ist. Geboten scheint daher, verschiedene histori-

lung in Venedig beleuchtete er beispielhaft den Prozess einer

sche Verfahren und Grade der Selbstreflexion zu unterscheiden,

ästhetischen Aneignung der sakralen Aura, nämlich die Ausbil-

nämlich das Mitthematisieren eigener Funktionen, wie es m. E.

dung einer zusätzlichen künstlerischen bzw. kunsttheoreti-

in der mittelalterlichen Kunst gegeben ist, die Selbstreflexion

schen Bedeutungsdimension, mit der sich Werke Bellinis und

von stilistischen Wahlmöglichkeiten, wie sie hier an Fra Angeli-

insbesondere auch Andrea Mantegnas Grablegungs-Kupfer-

cos Pala di San Marco analysiert werden soll, und selbstreflexive

stich nicht mehr nur als sakrale Bilder präsentierten, sondern

Verfahren, die bereits die System-Umwelt-Differenz thematisie-

auch als unter dem Gesichtspunkt einer bildrhetorischen Stim-

ren, also das Kunstwerk als Medium ausweisen, in dem geson-

migkeit zu beurteilende Kunstwerke. (Ders.: Giovanni Bellini.

derte, von der empirisch erfahrbaren Wirklichkeit abweichende

Pietà: Ikone und Bildererzählung in Venedig. Frankfurt/M. 1993;

Beobachtungsverhältnisse bestehen, wie hier an Werken von

siehe auch Hubert Locher: Raffael und das Altarbild der Renais-

Raffael, Parmigianino, Caravaggio u. a. gezeigt werden soll.

sance. Die ›Pala Baglioni‹ als Kunstwerk im sakralen Kontext.

20

Episteme generierten Bewusstseinszuwachses.63 Dagegen ist zu betonen, dass sich eine selbstreflexive Kunst von Anbeginn an an ein Publikum richtete und dieses schulte, eine ästhetische Distanz und hohe Reflexionsebene einzunehmen. Ihre Genese war untrennbar verbunden mit einer Kultur des Gesprächs, mit der auch

63

Siehe Valeska von Rosen/Klaus Krüger/Rudolf Preimesberger

Berlin 1995.) In L’Instauration du tableau: Métapeinture à l’aube

(Hrsg.): Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des

des temps modernes (Paris 1993; dt.: Das selbstbewußte Bild.

Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit. München/Berlin

Vom Ursprung der Metamalerei. München 1998), der eigentli-

2003, eine Publikation, die den damals avancierten Forschungs-

chen Gründungsschrift der Forschung zur Selbstreflexion des

stand wiedergibt. Valeska von Rosen erklärt in ihrer Einleitung,

Kunstwerks, behandelte Victor Stoichita unter diesem Gesichts-

es sei sinnvoll, sich an dem von Michael Tietzmann in Anleh-

punkt die niederländische Malerei von den invertierten Histo-

nung an Foucault formulierten Begriff des Diskurses als eines

rien Pieter Aertsens bis hin zu Cornelis Norbertus Gijsbrechts’

»System[s] des Denkens und Argumentierens, das von einer

Rückseite eines Gemäldes. Wir werden auf diese grundlegende

Textmenge abstrahiert ist«, zu orientieren (ebda., S. 11). In dieser

Studie wiederholt zurückgreifen, wobei sich die in ihr impli-

Perspektive erscheinen die »Bereiche Theorie(korpus) und

zierte Annahme, dass sich eine selbstbewusste Malerei einer

künstlerische Praxis nicht mehr als distinkte Blöcke«. (Ebda.,

kritischen Zurückweisung der italienischen Bildkultur und der

S. 12.) Dabei ging es der Autorin um eine diskursarchäologische

historia Albertis verdankte, nicht mehr halten lässt. Mit ähnlich

Perspektive, mit der sie epistemologische Vorrausetzungen der

historisch systematisierendem Zugriff behandelte Klaus Krüger

Text- und Bildproduktion in den Blick nahm, nicht aber die

in Das Bild als Schleier des Unsichtbaren selbstreflexive Verfah-

Kommunikation der Betrachter, die in sämtlichen Beiträgen

ren von Werken der Frührenaissance bis zu Caravaggio und

dieser Publikation keine nennenswerte Rolle spielt (siehe die

zeigte, wie solche, zunächst an sakralen Bildern entwickelt, spä-

dahingehende Kritik in der Rezension des Vf., in: sehepunkte 4

ter auf profane Werke übertragen wurden. (Klaus Krüger: Das

2004, Nr. 12 [15.12.2004], URL: http://www.sehepunkte.histori-

Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der

cum.net/2004/12/4654.html). Auf diesem Wege wird freilich die

Kunst der frühen Neuzeit in Italien. München 2001.) Seither

Diskursanalyse, die sie ausdrücklich als historisch deskriptives

konnte diese Forschungsrichtung eine alexandrinische Expan-

Verfahren verstanden wissen will (vgl. ihre auf Andreas Kablitz

E IN LEITUNG

die Ausdifferenzierung eines sachkundigen, sich vom Heer der Laien unterscheidenden Publikums voranschritt. Wolfgang Kemp hat 1991 davon gesprochen, dass die Kunstgeschichte vielfach ihren »komplexen Systemen mit dem falschen Instrumentarium bzw. mit einer zu engen Gegenstandsbestimmung« zu Leibe rückt.64 Der Systemtheoretiker Dirk Baecker forderte drei Jahre später, »Komplexität nicht, wie üblich, als Problem, sondern als Lösung« zu betrachten.65 Dass dies allerdings zu einem veränderten wissenschaftlichen Selbstverständnis führt, kann hier schlaglichtartig am Beispiel einer Bildinterpretation von Erwin Panofsky verdeutlicht werden. In Meaning in the Visual Arts (New York 1955), einem der erfolgreichsten Bücher zur kunstgeschichtlichen Hermeneutik, behandelte dieser ein Gemälde des aus Vicenza stammenden, lange in Venedig tätigen Francesco Maffei, das damals als Darstellung der Salome galt (Abb. 6). Wie Panofsky ausführte, hat der Maler »eine junge hübsche Frau mit einem Schwert in der Linken und einer Schale in der Rechten dar[ge] stellt, auf der der Kopf eines Enthaupteten liegt.«66 Salome, so erklärte er, ist oft mit der Schale dargestellt, auf der ihr das Haupt des Täufers gebracht wurde, nicht aber mit einem Schwert. Dieses ist dagegen Attribut der Judith, die den Holofernes eigenhändig enthauptete und seinen Kopf in einem Sack steckte. »So haben wir zwei mit gleichem Recht und mit gleicher Unstimmigkeit auf unser Bild anwendbare literarische Quellen.«67 Das ›Problem‹ löste der Autor mit Hilfe seiner ikonographischen Kenntnisse. Er erklärte, dass es keine frühneuzeitlichen Darstellungen der Salome mit dem

Schwert gibt, das als feststehendes ehrenvolles Attribut Helden, Märtyrer und Personifikationen wie die Gerechtigkeit auszeichnete, dass aber das Haupt des Täufers auf der Schüssel schon im Spätmittelalter nördlich der Alpen zu einem eigenständigen Motiv geworden war. Daher sei es eher denkbar, dass eine Schüssel, die durch solche Werke fest mit der Vorstellung von einem Enthaupteten verknüpft worden sei, in die Darstellung einer Judith gelangte, als dass ein Schwert in ein Bild

gestützte Ablehnung des Bachtinschen Begriffs der »Hetero­

rangezogen werden, wie dies übrigens auch Luhmann z. B. im

glossia«, der aufgrund seiner kulturkritischen Implikationen für

Rekurs auf Julia Kristeva getan hat, um einen systemisch orien-

Abb. 6  Francesco Maffei: Judith /Salome, 1650er Jahre, Faenza, Pinacoteca

ein solches ungeeignet sei, ebda., S. 333, Anm. 33), zu einem rein

tierten Ansatz zu verfolgen.

geistesgeschichtlichen Unternehmen. Bei aller Wertschätzung

64

Kemp 1991, S. 94.

der historischen Diskursanalyse, der wir uns hier ebenfalls be-

65

Dirk Baecker: Postheroisches Management. Ein Vademecum.

dienen werden, erhält diese so aber eine bedenkliche historis­ tische Tendenz. Sie restituiert ein symptomatologisches Ver-

Berlin 1994, S. 114. 66

Erwin Panofsky: Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung

ständnis der Objekte, deren semiotisch-strukturelle Merkmale

in die Kunst der Renaissance. In: Ders.: Sinn und Deutung in der

durch die Episteme generiert zu werden scheinen. Dagegen soll

bildenden Kunst. Köln 1975, S. 46.

hier die Diskursanalyse gelegentlich als ein Hilfsinstrument he-

67 Ebda.

Z u E rkenntnisinteresse und Methode des vorliegenden B uches

21

Abb. 7  Werkstatt Leonardos (?): Johannes der Täufer (mit Attributen des

Bacchus), um 1513–19, mit ergänzenden Übermalungen des 17. Jhd., Paris,

Musée du Louvre (siehe auch S. 6)

der Sünderin Salome hätte eingehen können. »Daraus können wir mit Sicherheit schließen, daß auch Maffeis Bild Judith darstellt, und nicht, wie man angenommen hat, Salome.«68 Diese Erklärung erscheint plausibel. Doch Panofsky rechnete überhaupt nicht mit der Möglichkeit, dass es

sich bei der beschriebenen Mehrdeutigkeit um eine beabsichtigte handeln könnte. Bildfiguren, die sich einer eindeutigen Identifizierung entziehen, gibt es aber, wie hier darzulegen sein wird, z. B. schon im Werk von Botticelli, und Caravaggio hat faszinierende semantisch vexierende Bilder solcher Zwitterwesen geschaffen, die weithin Beachtung fanden. Ein weiteres prominentes Beispiel schuf ein nicht identifizierter französischer Hofmaler des 17. Jahrhunderts, als er ein aus der Leonardo-Werkstatt stammendes Gemälde des Täufers überarbeitete (Abb. 7), nämlich dem schönen nackten Johannes einen Efeukranz aufsetzte und seinen Kreuzstab in einen Thyrsos, den Stab des Bacchus, verwandelte.69 Damit verstärkte er mit Bedacht die unterschwellige Ambiguität des leonardesken Johannes, in dessen Darstellung der Hirsch und die Akelei auf Christus, die Taufe und die mit ihr verbundene Hoffnung auf Erlösung verweisen, der nach diesen Eingriffen aber nicht mehr von der lüsternen antiken Gottheit zu unterscheiden war.70 Diese Möglichkeit einer intendierten, mit dem Ziel einer lebhaften, auch kontroversen Rezeption ins Paradoxe getriebenen Komplexitätssteigerung lag in den 50er Jahren und noch Jahrzehnte danach außerhalb des Erwartungshorizonts der Kunstgeschichte. Und so hat Panofsky Komplexität reduziert, wie es damals der wissenschaftlichen Praxis mit ihrer noch selbstverständlichen Prämisse eines exterritorialen Beobachterstandpunktes entsprach, aus dessen Warte sich der Sinn der Kunstgeschichte und ihrer historischen Objekte allein zu offenbaren schien. Versucht man aber der absichtsvoll gesteigerten Komplexität solcher Werke gerecht zu werden, so verlagert sich der Schwerpunkt der Analyse automatisch vom Explikativen aufs Deskriptive. Was das Objekt an Mündigkeit und Vielschichtigkeit, womöglich auch Widersprüchlichkeit gewinnt, büßt der Interpret an Deutungsmacht ein. Er

68

Ebda., S. 47.

Täufer in der Wüste. Die ein Drittel weniger als naturgroße Figur

69

Frank Zöllner: Leonardo da Vinci 1452–1519. Sämtliche Gemälde

ist äußerst delikat, aber sie gefällt nicht so sehr, denn sie regt

und Zeichnungen. Hong Kong/Köln [u. a.] 2007, S. 202, 249.

nicht zur Verehrung an, es fehlt ihr Anstand und Ähnlichkeit.«

Wenig erbaut notierte Cassiano dal Pozzo 1625: »Johannes der

(Zit. ebda., S. 202.)

70

22

E IN LEITUNG

kann dann nicht mehr beanspruchen, den einen Sinn des Kunstwerks ans Licht zu bringen, sondern nur noch Sinnpotenziale desselben zu akzentuieren. Svetlana Alpers hat 1995 in ihrem Buch The Making of Rubens eine höchst differenzierte Analyse von Rubens’ Trunkenem Silen (Abb. 174) vorgelegt, die dem besonderen Charakter dieses bemerkenswert offenen Werks Rechnung trägt.71 Man kann bei diesem Gemälde, von dem sich Rubens nie getrennt hat, nicht einmal die dargestellte Handlung auf eine knappe präzise Formel bringen, aber gut und gerne zwei Mal hundert Jahre über all’ das sprechen, was es an Sinnimplikationen und Gesprächsanreizen bereithält. Alpers’ Bemühen, dieser gesteigerten Komplexität und Sinnoffenheit gerecht zu werden, führte dazu, dass ihre Studie in einer durchaus scharfsinnigen Rezension polemisch als »Conversation Piece« bezeichnet und ihr der Vorwurf gemacht wurde, statt das Projekt einer avancierten aufklärenden Kunstgeschichte fortzusetzen, habe sie Werke von Rubens wie ein frühneuzeitlicher Humanist betrachtet.72 Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, obwohl Alpers an den Trunkenen Silen auch Dinge herangetragen hat, von denen ein Humanist des 17. Jahrhunderts nichts wusste, es z. B. als Manifestation der »male femininity« des Künstlers gedeutet.73 Doch entscheidend ist, dass sich mit der von ihr adäquat entfalteten Komplexität des Gegenstandes tatsächlich viele Implikationen des herkömmlichen wissenschaftlichen Selbstverständnisses verflüchtigt haben und der Anspruch der Interpretierenden von demjenigen eines Sinnzuweisenden gewissermaßen auf den eines zur Nachträglichkeit verdammten, höflichen, im Dialog mit dem Objekt dessen Sinnimplikate akzentuierenden In-

terviewers und damit der von Nietzsche verachteten »Spätlinge« geschrumpft ist. In jüngerer Zeit haben der Ruf vom »Ende der hermeneutisch sinnerfüllten Welt« (Hans Ulrich Gumbrecht) und die skeptische Annahme, dass Wissenschaft kaum weniger kontingent ist als andere Wissensformen und nicht mehr als lauter gleichwertige Erfahrungen am historischen Material hervorbringen kann, zur Besinnung darauf geführt, dass die Anfänge der Kunstgeschichte und Kunstkritik in der Renaissance aus dem geselligen Gespräch hervorgegangen sind.74 So hat Michael Baxandall in seinem Buch Ursachen der Bilder. Über das historische Erklären von Kunst gefordert, jede Deutung eines Kunstwerks müsse »als etwas präsentiert werden […], das sich kritisch prüfen und beurteilen läßt, und dies muß in unseren Begriffen geschehen, außerhalb der geistigen Welt des untersuchten Gegenstandes«,75 zugleich sei jede Interpretation auf Kritik und den Fortgang der Interpretation angewiesen. Insofern, so das Schlusswort des Autors, sei »die erschließende Kritik nicht nur rational, sondern auch gesellig«.76 Dieses konziliante, gewissermaßen Thomasiussche Statement verdient Zuspruch.77 Ohne einem Relativismus das Wort zu reden, trug es in einer Phase der Neuorientierung des Fachs dem Problem des multiplen Sinns von Kunstwerken Rechnung. In Hinblick auf diesen hat Brigitte Hilmer Normerwartungen hinsichtlich der Beschreibung und Interpretation von Kunstwerken formuliert:

71

Svetlana Alpers: The Making of Rubens. New Haven/London

76

Ebda., S. 201.

1995, S. 101–157, 167–174.

77

Es war ein für die Verfassungen des aufgeklärten Absolutismus

72

»Ich sehe […] ein Kontinuum von einer Beschreibung, die sich naiv als Repräsentation des Werkes

Joanna Woodall: Conversation Piece. Rezension v. S. Alpers: The

maßgeblicher Schritt, dass Thomasius das Rechtsprinzip der

Making of Rubens. In: Art History, 19, 1996, 134–40.

»vernünftigen Menschennatur« durch das der »geselligen Men-

73

Alpers 1995, S. 157.

schennatur« ersetzt hat, »weil die Vernunft selber wesentlich ge-

74

Michael Baxandall: Ursachen der Bilder. Über das historische

sellig ist« (Zit. n. Wolfram Mauser: Geselligkeit. Zu Chancen und

75

Erklären von Kunst (engl. Originalausgabe 1985). Berlin 1990,

Scheitern einer sozial-ethischen Utopie um 1750. In: Aufklärung.

S. 201.

Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahr-

Ebda., S. 169f.

hunderts und seiner Wirkungsgeschichte, 4, 1989, S. 13.)

Z u E rkenntnisinteresse und Methode des vorliegenden B uches

23

versteht, über eine solche, die sich als eine unter vielen möglichen Beschreibungen bedenkt, schließlich zu einer, die die Bedingungen der Vielfalt möglicher Beschreibungen eines Werkes mitbeschreibt. Auf dieser letzten Stufe ginge es darum, die Offenheit nicht nur für eine Vielfalt an Bedeutungen (Interpretationen), sondern zuvor für Selektionen dessen, was Bedeutung haben könnte (Beschreibungen), beschreibend einzuholen.«78

Für das Projekt einer Geschichte des kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken ist dieses Postulat selbstverständlich. Davon ausgehend, dass ein Unbestimmtheiten und Polysemien beachtender Modus der Beschreibung und Interpretation keineswegs auf eine Aufweichung der Ansprüche hermeneutischer Qualität hinausläuft, will es sich einlassen auf die Responsivität des Kunstwerks, auf sein »Verlangen nach Rede«, sein »pourparler« (Louis Marin), sein Besprochen-WerdenWollen,79 auf seine Formen äußerer und »innerer Dialogizität« (Michail Bachtin), seine rekursiven Verfahren, seine Strategien der Selbstnegation, zirkulären Sinnanreicherungen, die in ihm vollzogenen Unterscheidungen und ggf. auch stilistische Brüche und geschehenslogische Unschärfen. In diesem Sinne verwahrt sich unser Vorhaben zugleich gegen die disziplinierende Macht der in der Kunstwissenschaft immer noch weit verbreiteten »Privilegierung der Ursprünge«, gegen die »Ineinssetzung von Anfang und Wahrheit« und das althergebrachte Identitätsdenken. Davon ausgehend, »daß Kontexte […] und Bedeutungen multipel, flüchtig und variabel sein können«, macht es ernst mit der »Demontage des metaphysischen, auf und durch Ursprünge (Gott, Autor, Sinn) fixierten Denkens«.80

78

Die Systemtheorie hat einige vielkritisierte Prämissen. Dazu zählen Luhmanns strikter, tief in seinen methodischen Vorentscheidungen verankerter Konstruktivismus, nach dem ›Wirklichkeit‹ nur als Konstruktion der jeweils beobachtenden Systeme existiert, das Teleologische seines Denkens, nach dem Ausdifferenzierungsprozesse letztlich irreversibel und somit Ver­ suchen der rationalen und ethischen Gestaltung der Gesellschaft enge Grenzen gesetzt sind, und seine Ablehnung des Subjektbegriffs, der gemäß die Systemtheorie keine Begriffe für den handelnden Menschen bereitstellt. Auch der jüngere, teilweise gegen sie ins Feld geführte, ebenfalls konstruktivistische Ansatz der Praxeologie81 geht davon aus, dass sich die Bedeutung von Praktiken nicht auf das mit ihnen Intendierte beschränkt, sondern dass solche auch alltägliches Verhalten umfassen, das nicht oder nicht mehr reflektiert wird, weil es mithilfe von implizitem Wissen oder Körperwissen automatisch abläuft. Auch die Kunstwissenschaft muss selbstverständlich davon ausgehen, dass Künstler nicht allwissend sind und z. B. die systemische Relevanz und Tragweite ihres Handelns für sie nicht deutlich absehbar ist. Als Raffael 1507 seine erste Florentiner historia malte, die Grablegung Christi (Abb. 8), und sich in ihr zahlreicher Motive aus Werken Michelangelos bediente, aus dessen Grablegung (London, National Gallery), dem Tondo Doni (Florenz, Uffizien), der Pietà (Rom, St. Peter) und dem Matthäus (Florenz, Galleria dell’Accademia),82 wird er dies im Sinne einer Optimierung der eigenen Bildsprache getan haben. Inwieweit er sich darüber im Klaren war, dass er damit zu einer Profanisierung des Altarbildes beitrug, können wir nicht wissen. Sicherlich wollte er diesem Altarbild ein Optimum an Schönheit verlei-

Brigitte Hilmer: Kunstphilosophische Überlegungen zu einer

Einführung. Wiesbaden 2014; Andreas Reckwitz: Die Erfindung

Kritik der Beschreibung. In: Boehm/Pfotenhauer 1995, S. 97.

der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung.

79

Vgl. Marin 2001, S. 19f. u. S. 72, Anm. 11.

Berlin 2012; Ders.: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur So-

80

Stefan Germer: Mit den Augen des Kartographen – Navigationshilfen im Posthistoire. In: Anne-Marie Bonnet/Gabriele Kopp-

81

24

zial- und Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2016. 82

Zu diesem Werk siehe Locher 1995; Wolfgang Brassat, Das Histo-

Schmidt (Hrsg.): Kunst ohne Geschichte? Ansichten zu Kunst

rienbild im Zeitalter der Eloquenz. Von Raffael bis Le Brun. Ber-

und Kunstgeschichte heute. München 1995, S. 146f.

lin 2003, S. 3ff.; Ulrich Pfisterer: Raffael. Glaube – Liebe – Ruhm.

Siehe Frank Hillebrandt: Soziologische Praxistheorien. Eine

München 2019, S. 69–85.

E IN LEITUNG

Abb. 8  Raffael: Grablegung Christi, 1507, Rom, Villa Borghese

hen. Doch mit seinen Bezugnahmen auf Albertis Traktat De pictura, dem gemäß er in dem Altarbild zehn Figuren darstellte und auf das klassische Bildschema der Grabtragung auf Meleager-Sarkophagen zurückgriff, und den Zitaten fremder Bildlichkeit, die einen »Echoraum« (Roland Barthes) entstehen lassen, bekam sein Werk eine zusätzliche kunsttheoretische Bedeutungsdimension, wurde es zu einem »Kunst-

werk in sakralem Kontext«.83 Man hat jüngst erklärt, in der Renaissance habe der »Wunsch nach innovativen künstlerischen Spitzenprodukten […] in keinem Widerspruch zur eigent­lichen Aufgabe der Bildwerke, der christlichen Devotion zu dienen«, gestanden.84 Diese in Zusammenhang mit Raffaels Madonnen vorgebrachte Äußerung ist zu bedenken, denn selbstverständlich lässt der Blick auf Autonomisierungstenden-

83

Locher 1995.

höhe. […] Die Betrachter von Raffaels Madonnen […] durften ihr

84

Pfisterer 2019, S. 49. Der Autor fährt fort: »Die Renaissance löste

ästhetisches Entzücken […] auch als unmittelbares Indiz religiö-

das Kult- nicht durch das Kunst-Bild ab. […] Mehrheitlich

ser Ergriffenheit und Zeichen göttlicher Liebe verstehen.«

herrschte die Vorstellung, dass eine künstlerisch gelungene

(Ebda., S. 49f.)

Umsetzung den devotionalen Wert eines Bildwerks noch er-

Z u E rkenntnisinteresse und Methode des vorliegenden B uches

25

zen Anderes außer Acht und kann zu verzerrenden ­Gewichtungen führen. Gleichwohl gab es in der Renaissance unzweifelhaft Tendenzen einer Profanisierung des Altarbildes. Und zahlreiche Quellen und Indizien zeigen, dass den Künstlern der Zwiespalt von religiöser Funktion und künstlerischem Eigensinn nicht entgangen ist, z. B. die Inschrift am Grab des Fra Angelico, die insistiert, dass dieser weniger ein ›Neuer Apelles‹, als vielmehr ein Diener Christi sein wollte.85 Es sollte klar sein, dass wir Werke Raffaels, der, wie hier zu zeigen sein wird, in späten Werken tatsächlich ironisch mit Michelangelo-Zitaten gespielt hat, nicht mit seinen Augen, noch denen seiner Zeitgenossen sehen können, und wir sollten uns auch bemühen, sie nicht mehr mit den Augen kunstliebender Klosterbrüder zu rezipieren. Da wir aber die historischen Werke nicht anders denn als Interpreten des 21. Jahrhunderts wahrnehmen können, sollten wir uns auch als solche verstehen und unser Mehr-Wissen ins Spiel bringen, z. B., wie Baxandall gefordert hat, unsere Gegenstände mit Kategorien erklären, die nicht »der geistigen Welt des untersuchten Gegenstandes« entstammen.86 Ein Interpret frühneuzeitlicher Malerei kann den elaborierten Begriffsapparat der Kunstliteratur dieser Epoche nicht ignorieren. Dieser speiste sich zu großen Teilen aus der Rhetorik und Poetik der Antike, die mit diesen höchstentwickelten sprachpragmatischen, -analytischen und -philosophischen Denksystemen und äußerst komplexen Texten, z. B. der zweiten Sophistik, das Denken und die visuelle Kultur der Frühneuzeit maßgeblich geprägt und bereichert hat. Trotzdem sollten die Begriffsapparate der Antike und der Frühneuzeit für die Kunstwissenschaft keine letztbegründende Geltung haben. Nicht nur aus diesem Grund greift die vorliegende Darstellung evolutionärer Prozesse der Ausdifferenzierung und gegenläufiger Bestrebungen einer Repragmatisierung der Künste auf die Methodik und Begrifflichkeit Luhmanns zurück, ohne eine konsequent systemtheoretische sein zu wollen.

Kommen wir zunächst zu ihrer Begrifflichkeit: Die kunstwissenschaftlichen Forschungen zur Selbstreflexion bildender Kunst entbehren, soweit ich sehe, derzeit praktikabler historischer Perspektivierungen.87 Dies gilt ebenso für die Bildwissenschaft, die zu einer Fülle bildphilosophischer Einsichten geführt und unserem Fach einen Zuwachs ästhetischer Kompetenz beschert hat, die aber, wenn ich es richtig sehe, weit davon entfernt ist, ihre Erkenntnisse, wie mal unter Verweis auf Freud und Norbert Elias in Aussicht gestellt wurde, noch in eine, wie auch immer geartete, historische Perspektive integrieren zu können. Die kunstwissenschaftlichen Beschreibungskategorien selbstreflexiver Verfahren sind soziologisch indifferent und stumpf. Man spricht dann z. B. von den Verfahren des embedding und des Formzitats, ohne zu bedenken, dass beides Formen rekursiven Verhaltens sind und darin systemrelevante Funktion haben. Man beschreibt Trompe l’œils und das Verfahren der Täuschung und Enttäuschung (inganno e disinganno), ohne hinreichend zu realisieren, dass es sich um eine von diversen Strategien der Selbstnegation handelt, welche darauf aufmerksam machen, dass Kunst ein gesonderter Beobachtungsbereich ist. Eine immer noch vielfach supponierte Grundannahme des Faches ist, dass die ältere Malerei ikonographisch gebunden war und erst die Kunst der Moderne frei über die Tradition verfügen konnte. Dagegen werden hier wiederholt Traditionsbezüge darzulegen sein, die quer über thematische und Gattungsgrenzen hinweg verliefen. Nach einer weiteren, m. E. nicht haltbaren Grundannahme wird AntiKunst als spezifisches Phänomen der Moderne angesehen. Arnold Gehlen hat in der 1965 erschienenen zweiten Auflage seines erstmals 1960 publizierten Buches Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei betont, dass die zeitgenössische Malerei durch und durch »Reflexionskunst ist [d. h. den Metadiskurs braucht], die Reflexion lebt im Medium der Zweideutigkeit, und die radikalste würde darin bestehen, daß ein

85

Siehe unten, S. 82.

87

86

Wie Anm. 75.

26

Siehe oben, Anm. 62.

E IN LEITUNG

Kunstwerk den Zweifel erweckt, ob es überhaupt eins ist.«88 Doch Anti-Kunst gibt es nicht erst seit den Dadaisten. Schon Caravaggio hat die Grenzen des humanistischen Kunstbegriffs absichtsvoll überschritten89 und allein dies erklärt, weshalb seine Kritiker ihn als »Antichristen« und »Zerstörer der Malerei« ächteten. Und schon zu seiner Zeit existierte mit der später so genannten »caricatura« eine veritable Anti-Kunst. Auch die Malerei der Frühen Neuzeit hat, wie bereits die Kunst des Hellenismus, an der Grenze der Kunst operiert, wie eine entsprechende Begrifflichkeit transparent machen kann. Luhmanns Ansatz erweist sich vor allem aufgrund seiner Perspektive als fruchtbar für unser Vorhaben, mit seiner nur bedingt eingelösten, nämlich nicht auf die Füße konkreter Werkanalysen gestellten Fokussierung auf das Sprechen über Kunst und das Bild als Gesprächsprogramm. Denn die Bildkultur der Frühneuzeit gravitierte in der Geselligkeit. Diese war der Rahmen, in dem die Werke, auch in den Kirchen und auf den Plätzen, vor allem aber in den Gärten und Villen, den studioli, Kunst- und Wunderkammern, den Kunstkabinetten und Galerien ihren, um mit Belting zu sprechen, »wahren Part ausübten«.90 Unter diesem Blickwinkel zeigt sich z. B., dass es sich bei der frühneuzeitlichen Kunstliteratur in der Regel um verstetigte Konversationen über Kunst handelt und bei ›Quellenschriften‹, wie etwa Gregorio Comaninis Il Figino (1591) und Marinos La Galeria (1619), tatsächlich um Anleitungen für zahllose Konversationen über die Künste und Kunstwerke. Mit dieser Perspektive wird auch sichtbar, dass, während die Moderne das Ideal der verinnerlichten, stillen individuellen Kunstrezeption

hegte, für die Frühneuzeit die kollektive, vielstimmige Rezeption Maßstab und Regel und die Auffassung verbreitet war, dass ein jeder in einem Kunstwerk etwas anderes sieht als der nächste und sich dessen Sinn, wie bereits Vincenzio Borghini dargelegt hat, daher am besten im Dialog vieler Rezipienten erfassen lässt.91 1548 hat Paolo Pino in seinem Dialogo di pittura dem Maler empfohlen, in jedes seiner Werke mindestens eine mehrdeutige, schwer zu verstehende Figur einzuführen, um so den Zuspruch derer zu gewinnen, die Sinn für die feinen Seiten der Künste besitzen.92 Diese Forderung wurde zum Topos und im 17. Jahrhundert verlangten Autoren wie Étienne Binet und Georg Philipp Harsdörffer, jedes Bild müsse eine »secrette intelligence« bzw. einen »geheimen Verstand« haben.93 Jedes Kunstwerk, das diesen Forderungen entsprach, beteiligte sich aktiv an der Scheidung von Profis und Laien, also internen und externen Beobachtern, trug zur Konstitution der Trennungslinien zwischen ihnen bei. Kunstvermittlung hatte in der ständisch geordneten Gesellschaft auch das Verhältnis von Inklusion und Exklusion zu bedenken. Doch Kunst bemüht sich – der moderne Mythos der ›Universalsprache Kunst‹ hat das verdeckt – keineswegs grundsätzlich um Verständlichkeit. Luhmann betont, dass Kunstwerke »Beobachtungsdirektiven enthalten, die von verschiedenen Beobachtern adäquat oder inadäquat aufgegriffen werden können und dazu bestimmt sind.«94 Und Susan Sontag hat zur modernen Kunstreligion angemerkt, dass auch ihr Publikum nie vollständig eingeweiht ist.95 Seit ihren Anfängen hat die als solche konstituierte ›Kunst‹ auch eine sozial distinktive Funktion. Schon Lukian hat in De domo das Unbehagen von Laien, über sie

88

Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der mo-

93

dernen Malerei. 3. erw. Aufl. Frankfurt/M. 1986, S. 217.

94

Luhmann 1995, S. 129.

89

Brassat 2006, S. 119, 123f.

95

Solange sich Kunst durch »priesterliche Ziele« definiere, setzt

90

Wie Anm. 62.

sie »das Vorhandensein eines relativ passiven, nie vollständig

91

Siehe Frangenberg 1990, S. 47–58. Wir kommen darauf zurück.

initiierten, voyeuristischen Laienstandes voraus und bestätigt

92

»[…] et in tutte l’opere vostre fateli intervenire almeno una figura

diesen, der regelmäßig zusammengerufen wird, um zu beob-

tutta sforciata, misteriosa e difficile, acciò che per quella voi

achten, zu lauschen, zu lesen und zu hören – und dann wieder

siate notato valente da chi intende la perfezzion dell’arte.«

fortgeschickt wird«. [Susan Sontag: Ästhetik der Stille. In: Eugen

(Paolo Pino: Dialogo di pittura. In: Barocchi 1960, S. 115.)

Blume/Gabriele Knapstein/Catherine Nichols (Hrsg.): Fast

Siehe S. 358.

Z u E rkenntnisinteresse und Methode des vorliegenden B uches

27

zu sprechen, vermerkt, ihre »Furcht, etwas zu sagen, das ihre Unwissenheit verrathe«.96 In seiner großen Studie Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft hat Pierre Bourdieu eingehend diesen sozialen ›Sündenfall‹ der selbstbewusst werdenden, autopoietisch operierenden Kunst erörtert. Wie er kritisch anmerkt, führt das »[…] ›Detachement‹ des Ästheten […] gegenüber der Wahrnehmung ›ersten Grades‹ einen Abstand als Maß seiner Distanz schaffenden Distinktion dadurch ein[…], daß er das Interesse vom ›Inhalt‹, von den Personen und spannenden Momenten der Handlung, etc., auf die Form und die spezifischen künstlerischen Effekte verlagert, die sich nur relational, durch den völlig exklusiven Vergleich mit anderen Werken würdigen lassen, den die Versenkung in die Einzigartigkeit des gerade vorliegenden Werkes erschließt. Distanziertheit, Interesselosigkeit, Gleichgültigkeit – ästhetische Theorie hat derart oft verkündet, sie allein ermöglichten, das Kunstwerk als das zu erkennen, was es wahrhaft sei, nämlich autonom, selbstständig, daß am Ende in Vergessenheit gerät, daß sie tatsächlich bedeuten: sich nicht einzulassen, distanziert und gleichgültig zu bleiben, die Weigerung also, ›sich einzubringen‹, (etwas) ernstzunehmen.«97

In der Tat, Raffaels Brand im Borgo (Abb. 61), das Fresko in der Stanza dell’Incendio im Vatikanspalast, in dem der Künstler mit Zitaten aus Werken Michelangelos gespielt hat, versteht vollständig nur, wer über das Wissen verfügt, das ihn befähigt, solche interpikturalen Bezüge zu erkennen. Und doch möchte ich Bourdieus

nichts. Minimalistische Werke aus der Friedrich Christian Flick

zitierter Bewertung widersprechen. Denn die ästhetische Haltung ist nicht nur eine distinktive Strategie. Ästhetisierung heißt immer auch ›Abstrahieren‹, ›Loslassen‹, ›in anderem Licht sehen‹; sie stellt eine Relativierung von Primärinteressen dar, die auch notwendige Voraussetzung allen »verantwortungsethischen« Denkens, d. h. einer Überwindung »gesinnungsethischen« Denkens (Max Weber), ist und damit einer entwickelten kommunikativen Vernunft.98 Eine solche muss heute, nicht nur, wenn es um Kunst geht, »polykontex­ tural sehen lernen; also lernen zu wissen, wovon abhängt, was [man] jeweils sieht.«99 Mit einem derartigen auf die Wahrnehmung einer »polykontexturalen Welt«, die Berücksichtigung der begrenzten Kommensurabilität subjektiver Weltentwürfe und die Schulung komplexen Denkens mit einem hohen Kognitionsniveau zielenden Programm sollte sich die Kunstwissenschaft anfreunden können. Wie Arnold Gehlen 1965 an der Schwelle der Postmoderne mit Blick auf die damalige Reflexionskunst schrieb – Identitätsdenkern sei’s gesagt! –: »[…] mit Unmittelbarkeit ist niemand mehr zu überzeugen.«100 Die vorliegenden Studien behandeln Beispiele frühneuzeitlicher Malerei. Ausgewählte Werke sollen als Programme für die Kommunikation über das Kunstwerk interpretiert werden. Sofern es die Quellenlage erlaubt, werden diese Analysen auf Text- und Bilddokumente der historischen Formen des kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken gestützt. Unter diesem Gesichtspunkt sind rezeptionsästhetische und sinnkonstituierende Formen, z. B. Polyvalenzen, Paradoxien und Leerstellen, besondere Formen der Interpikturalität wie die Parodie und Travestie sowie geselligen Zwecken dienende offene Bildformen wie das Änigma,

97

Collection im Hamburger Bahnhof. Ausst.-Kat. Berlin, Hamburger Bahnhof, Köln 2005, S. 8. (Erstveröff.: The Aesthetics of Si-

schaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. 31984, S. 68. 98

lence. In: Susan Sontag: Styles of Radical Will. New York 1966.)] 96

Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellSiehe Jürgern Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/M. 1981.

Lukian von Samosata: Lobrede auf einen schönen Saal. In:

99

Luhmann 1986, S. 645.

Ders.: Sämtliche Werke. Übers. u. mit Anm. versehen v. Chris-

100

Gehlen 1986, S. 224.

toph Martin Wieland. Leipzig 1788/89 (Nachdruck Darmstadt 1971), Bd. III, Teil 6, S. 329.

28

E IN LEITUNG

die Karikatur und der Drudel zu fokussieren. Dabei lässt sich an den entsprechenden Werken ein steigendes Kognitionsniveau und eine fortschreitende kategoriale Bestimmung des Ästhetischen nachweisen. Eine solche Konzentration auf operative und kognitive Merkmale verspricht Traditionslinien zu beleuchten, die bisher vielfach unbeachtet blieben. Die Deutung der Werke als Kommunikationsprogramme ermöglicht es, ihre spezifische Diskursivität, ihren Anteil am historischen Kunstdiskurs zu erschließen. Zeigt sich in der Kunstliteratur eine ausgeprägte Traditionsbindung und wohl auch eine sprachliche Vorprägung des Denkens, so offenbaren die Kunstwerke, deren Verwiesensein auf die Theorie und das Wort man lange überschätzt hat, dagegen die »evolutionäre, genetische und funktionale Priorität des Wahrnehmens gegenüber dem Denken«.101

Rückblick im Zorn: Zur Alterität der frühneuzeitlichen Kunstrezeption

penhäusern und Aufgängen sollte man sich über den Alltag erheben und sich in ihren dem Pantheon und der Uffizien-Tribuna nachempfundenen Rotunden einstimmen für bzw. in die zu schauende Kunst. Die Musentempel des 19. Jahrhunderts, die Marinetti »öffent­ liche Schlafsäle« und »Friedhöfe« der Kunstwerke nannte und zerstören wollte,103 und in denen sich Paul Valéry an die ängstliche Andacht in Krypten erinnert fühlte,104 postulierten den evidenten Sinn der Kunst, der in ihnen somit nicht mehr verhandelt werden musste und das Publikum denn auch zum Schweigen verdammt wurde. Eine maßgebliche Rolle spielte dabei, dass Goethe im Zuge der Allegoriekritik des deutschen Idealismus gefordert hatte, das Kunstwerk solle ganz aus sich heraus verständlich sein, und die Romantiker das Ideal einer allgemein verständlichen Kunst hegten, die wie die Musik »keiner Verdollmetschung« bedürfe: »[…] eine Weltsprache, eine Universalsprache, Allen zugänglich, die Augen haben. Sie ist eine Sprache, welche dem, der sie versteht, Mittheilungen macht, die in keiner andern Sprache gemacht werden können, welche Worte auszudrücken nicht

Das Sprechen über die Künste diente in der Antike und der Frühen Neuzeit Funktionen, die in der Moderne einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Disziplinen, der Ästhetik, Archäologie, Kunstgeschichte u. a., überantwortet wurden. Dass Kunst sinnvoll ist, ein zivilisatorisch gewichtiger, bereichernder Bestandteil menschlichen Lebens, bekundeten im 19. Jahrhundert die Museumsbauten mit ihren Statuen- und Bildprogrammen, die die Heroen der Kunstgeschichte vergegenwärtigen und ihre Leistungen als Vorgeschichte der nunmehr erlangten ›Freiheit‹ der Kunst feiern.102 Auf ihren Trep-

vermögen; ja ihre eigenste Wirksamkeit beginnt da,

101

Asholt/Walter Fähnders (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen

Luhmann 1995, S. 15.

102 Siehe

Petra Kuhlmann-Hodick: Das Kunstgeschichtsbild. Zur

Darstellung von Kunstgeschichte und Kunsttheorie in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1993. 103

wo andere Sprachen verstummen müssen. Und die Anlage zum Verständniß derselben liegt in allen Menschen, wie die Fähigkeit zur Freude an der Natur und ihren Herrlichkeiten, zum Genuß der durch sie uns dargebotenen Gaben. Am deutlichsten erkennen wir die Anlage zum Verständniß der Kunst an dem Kinde. Dieses versteht die Sprache derselben in seinem rein natürlichen Zustand besser, als so viele, die zwar herangewachsen aber wenigstens nach dieser Seite nicht gebil-

der europäischen Avantgarde (1909–1938). Stuttgart/Weimar 1995, S. 5.] 104 Paul

Valéry: Le Problème des musées. In: Le Gaulois, 4. April

In Marinettis erstem futuristischen Manifest, das am 20.2.1909

1923. Abgedruckt in: Ders.: Œuvres. Hrsg. v. Jean Hytier (Édition

im Figaro erschien, heißt es: »Wir wollen die Museen, die Biblio-

de la Pléiade), Paris 1960, Bd. II, S. 1290–1293. Dazu Theodor W.

theken und die Akademien jeder Art zerstören. […] Museen:

Adorno: Valéry Proust Museum. In: Ders.: Prismen: Kulturkritik

Friedhöfe […] Museen: öffentliche Schlafsäle«. [Zit. n. Wolfgang

und Gesellschaft. Berlin 1955, S. 215–231; Hauser 1983, S. 532ff.

Rückblick im Zorn: Z ur Alterität der frühneuzeitlichen Kunstrezeption

29

det sind. Das Kind betrachtet seine Bilder ohne jene Mäkeleien, durch die der trocken gewordene Verstandesmensch sich selbst die Freude daran verkümmert.«105

Wo es demnach um eine unverbildete kindlich-­ natürliche Empfänglichkeit ging – die auf Rousseau zurückgehende Vorstellung von der zivilisatorisch unbefleckten Reinheit des Kindes wurde zum Leitbild der Kunst der Moderne, ihrer Primitivismen und ihrer Verfahren des »deskilling«106 – war alles Sprechen über Kunst im Grunde obsolet. Als Leitinstitution des Systems Kunst präsentierte das Museum die von ursprünglichen Kontexten und Funktionen losgelösten Werke als geistige Entitäten.107 Es verordnete einen ästhetischen Zugang zu den Objekten, autorisierte im Zeitalter des Historismus Kunst durch Geschichte und hielt so, wie Adorno formulierte, »die peinliche Frage nach ihrer raison d’être von ihnen fern.«108 Im Museum manifestierte sich ein historistisch-symptomatologisches Verständnis, nach dem das einzelne Werk ein ästhetisches Objekt und Dokument seiner Zeit und eben nicht ist, was es vor seinem Einzug in diese heiligen Hallen war: ein operatives Gebilde. Als Pantheon der Kunstwerke, »eine Fiktion der neutralisierten Bildung«,109 kaschierte das Museum nicht zuletzt den Agon der Künstler, die in ihren Werken Kunst

105

imitieren, überbieten, ironisieren und innovieren. Die von William Hogarth dargestellte, vom Markt diktierte »Schlacht der Bilder« war in ihm nachträglich befriedet.110 Wo diese nach Zeiten, Ländern und Schulen in gemessenem Abstand gereiht sind, stellt sich die von ihnen jeweils exklusiv beanspruchte Schönheit dar in der »Synthesis aller Werke, der Einheit der Künste und der Kunst«.111 Und so schwieg in den Musentempeln das Publikum, lauschte den monologischen Ritualen der Führungen und informierte sich durch die Vermittlungsliteratur der ›Führer‹. Trotz aller modernen und postmodernen Versuche einer Revision des Museums folgt noch sein heutiges Publikum den damals etablierten Verhaltensmustern einer stillen Kunstrezeption: Man lauscht der Exegese der Werke durch die autorisierten Fachleute, nimmt auf, was die ausstellungsbegleitenden Medien, der Katalog, das Begleitheft, das Audioprogramm, Videovorführungen und die an Computer, Tablet und Handy einzusehenden Websites und Videos vermitteln, fügt sich – womöglich unter einem Kopfhörer verschwindend – den asymmetrischen Formen der hier herrschenden Kommunikation und der evidenten Macht des guten Geschmacks, an der man so schweigend partizipiert.112 Dass dem nicht immer so war, sondern die Kunstrezeption und das Kunstgespräch in früheren Zeiten in der Regel Ereignisse von hoher sozialer Unmittelbarkeit

Julius Schnoor von Carolsfeld: Betrachtungen über den Beruf

Geistesgeschichte zunehmend auf das ›sprachliche Kunstwerk‹

und die Mittel der bildenden Künste Antheil zu nehmen an der

oder ›Wortkunstwerk‹ als eine geistige Entität zurückging, für

Erziehung und Bildung des Menschen, nebst einer Erklärung

deren wesentliche Züge den ökonomischen, technischen und

über Auffassungs- und Behandlungsweise der Bibel der Bilder

sozialen Kommunikationsbedingungen ihrer Entstehungszeit keinerlei Bedeutung mehr beigemessen wurde.« (Ebda., S. 111.)

(1860). In: Die Bibel in Bildern von Julius Schnoor von Carols-

106 107

feld. Bilderläuterungen von Heinrich Merz, Dortmund 41988,

108

Adorno 1981, S. 182.

S. 8f.

109

Theodor W. Adorno: Minima moralia. Reflexionen aus dem be-

Siehe Wolfgang Brassat/Matthias Krüger: Künstler und Gesell-

schädigten Leben. Frankfurt/M. 1951, S. 92 (Nr. 47: »De gustibus

schaft in Moderne und Postmoderne. In: Brassat 2017, S. 650ff.

est disputandum.«).

Vgl. dazu Rainer Rosenberg: Die Sublimierung der Literaturge-

110

Rhetorik, Interpikturalität und der Agon der Künstler. In: Rheto-

munikation. In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer

rik. Ein internationales Jahrbuch, 24, 2005 (»Bildrhetorik«, hrsg.

(Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 1988,

v. W. Brassat), S. 43–70.

S. 107–120. Rosenberg beschreibt eine der Konzeption der Kunst-

111

Adorno 1951, S. 92.

geschichte und der Museen des 19. Jahrhunderts vergleichbare

112

Vgl. Wolfgang Kemp: Verstehen von Kunst im Zeitalter ihrer Ins-

Literaturgeschichtsschreibung, die »unter der Dominanz der

30

Dazu ausführlich: Wolfgang Brassat: »The Battle of the Pictures«.

schichte oder: ihre Reinigung von den Materialitäten der Kom-

titutionalisierung. In: Das Bild der Ausstellung – curated by Mar-

E IN LEITUNG

waren,113 zeigt ein Eintrag in Johann Wolfgang Goethes Tagebuch seiner Italienischen Reise. Unter dem Datum des 22. Septembers 1786 findet sich dort der folgende Bericht über einen geselligen Abend in Vicenza: »Heute abend war ich in einer Versammlung, welche die Akademie der Olympier hielt. Ein Spielwerk, aber ein recht gutes, es erhält noch ein bißchen Salz und Leben unter den Leuten. Ein großer Saal neben dem Theater des Palladio, anständig erleuchtet, der Kapitän und ein Teil des Adels zugegen, übrigens durchaus ein Publikum von gebildeten Personen, viele Geistliche, zusammen ungefähr fünfhundert. Die von dem Präsidenten für die heutige Sitzung aufgegebene Frage war, ob Erfindung oder Nachahmung den schönen Künsten mehr Vorteil gebracht habe. Der Einfall war glücklich genug; denn wenn man die in der Frage liegende Alternative trennt, so läßt sich hundert Jahre hinüber und herüber sprechen. Auch haben sich die Herren Akademiker dieser Gelegenheit weidlich bedient und in Prosa und Versen mancherlei hervorgebracht, worunter viel Gutes. Sodann ist es das lebendigste Publikum. Die Zuhörer riefen Bravo, klatschten und lachten. Wenn man auch vor seiner Nation so stehen und sie persönlich belustigen dürfte! Wir geben

unser Bestes schwarz auf weiß: jeder kauzt sich damit in eine Ecke und knopert daran, wie er kann.«114

Goethes Bericht ist ein spätes Zeugnis der ars conversationis, die in der Frühen Neuzeit das Gespräch über die Künste und den kollektiven Umgang mit Kunstwerken bestimmt hat. Beides unterlag in der alten Adelskultur dem Gebot der Geselligkeit, wie seine Zeilen belegen. Die Konversation über die Künste war, wie er schrieb, ein »Spielwerk«. Sie diente der Rekreation und der gedeihlichen Entfaltung von Esprit, Humor und Güte (urbanitas, liberalitas). »Geselligkeit ist eine Pflicht,« so heißt es in Zedlers Universal-Lexicon, »mit anderen Menschen eine friedliche und dienstfertige Gesellschaft zu unterhalten, damit alle durch alle ihre Glückseligkeit erhalten mögen«.115 Die diesem Ziel verpflichtete Kunst der Unterhaltung soll auf geistvolle Weise erfreuen und nützen, sie bewegt sich im entspannten Tonfall einer konzilianten Heiterkeit und geht Themen nach, über die sich gewiß zweimal hundert Jahre sprechen ließe.116 So vermag sie allen Teilnehmern Selbstdarstellungsmöglichkeiten zu eröffnen. Obschon der Präsident wie ein antiker Symposiarch das Gesprächsthema vorgibt, ist die Konversation der Olympier zwanglos und unsystematisch. Noch nichts ist hier zu merken vom tiefen Ernst, der im Zuge der hohen An-

kus Brüderlin. Hrsg. v. d. Hochschule für angewandte Kunst,

und damit von individuellen Gedächtnisleistungen ab, die alle

Wien 1993, S. 54ff. Das Museum ist somit kein Ort öffentlicher

Sinne, vor allem Hören und Sehen im Verbund verwenden. Ent-

Meinungsbildung, sondern nur der einer Vermittlung der Dis-

sprechend war der Begriff der Kunst (ars) viel allgemeiner als

kurse der Spezialisten. Angesichts der Finanznöte der öffent­

heute, und er hatte geringere interne Differenzierungen zu überbrücken.«

lichen Hand zunehmend auf private Mäzene angewiesen, verdankt es seine Existenz und seinen Auftrag dem öffentlichen

114

Willen, auf den sich der Diskurs und die Selektionskriterien des

dien! In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich

Kunstsystems freilich kaum noch berufen können. Siehe Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn

113

Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise. Auch ich in ArkaTrunz, 12. Aufl. München 1989, Bd. 11, S. 56f.

115

[Artikel] Geselligkeit. In: Johann Heinrich Zedler: Großes voll-

Jahren. München 1995, S. 103ff.; Martin Warnke: Theorie und

ständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste.

Praxis in der Endzeit. In: Bonnet/Kopp-Schmidt 1995, S. 113–116.

64 Bde. u. 4 Supplementbände, Halle/Leipzig 1732–1754, Bd. 10 (G-Gl, 1735), Sp. 1260.

Dies gilt auch für die weiteren Künste, die Musik und auch die Dichtung, die noch in der Renaissance zumeist vorgetragen, oft

116

Harsdörffer hatte empfohlen, an den Gesprächspielen sollten

sogar gesungen, also nicht primär für ein Lesepublikum ge-

drei bis neun Personen teilnehmen und man solle »nichts auf

schaffen wurde. Luhmann 1995, S. 33 betont: »Somit hing die

die Bahn bringen/ darvon nur wenig zu sagen ist/ und in dem Ja

Kulturtradition stärker als heute von oraler Kommunikation

und Nein beruhet; sondern vielmehr Gelegenheit geben zu

Rückblick im Zorn: Z ur Alterität der frühneuzeitlichen Kunstrezeption

31

sprüche der Ästhetik des Idealismus bald den Umgang mit der Kunst prägen wird und sich bereits ankündigt in Goethes wehmütiger Bemerkung über die Bürde des Aufklärers, der sich nicht an ein im Saal sitzendes Publikum, sondern an die literarische Öffentlichkeit wendet, sich der ästhetischen Erziehung des Menschen verpflichtet sieht und unter dieser Last womöglich zum Kauz wird. Bemerkenswert ist, mit welcher – trotz der ironischen Spitzen – unverkennbaren Sympathie Goethe von der akademischen Versammlung in Vicenza berichtet hat. Denn auch er zählte zu den Protagonisten des modernen, verinnerlichten Umgangs mit der Kunst, der im Zuge der bürgerlichen Kulturevolution im späten 18. Jahrhundert propagiert wurde und die alten Formen der Kunstrezeption verdrängt hat.117 An der Schwelle der Moderne wurden diese der mangelnden Gegenstandsadäquatheit und eitlen Geschwätzigkeit geziehen. Man karikierte die parlierenden Herren vom Hofe, die der Kunst, wie die Kritiker meinten, ohne jeden Ernst und Tiefgang begegneten. Der anschaulichste Beleg für diesen Paradigmenwechsel ist der Beitrag von Georg Christoph Lichtenberg und Daniel Chodowiecki zum Göttinger Taschenkalender von 1779/80, in dem diese Natürliche und Affektierte Handlungen des Lebens, darunter auch die Kunstrezeption, behandelten. In diesem Bilder-Knigge stellten sie aristokratischen Unsitten wie der »Hof-Süßigkeit«, der »zum blo-

ßen Nichts abgeschliffenen Complaisance« und den »Modetorheiten«118 das Wunschbild einer adamitischen Einfachheit entgegen (Abb. 9). Bereits das vierte Bildpaar im Göttinger Taschenkalender ist dem Thema Kunstkenntnis / Connoissance des Arts gewidmet (Abb. 10). Die rechte Radierung zeigt zwei Aristokraten, deren einer elegant seiner Bewunderung Ausdruck gibt, während der andere mit respektloser Ignoranz und einem Anflug von Frivolität die Skulptur betastet. Dabei sind die beiden mehr einander

weitläufftigem Gespräche«. [Georg Philipp Harsdörffer: Frauen-

auch das bekannte Gespräch mit Eckermann vom 18.4.1827, in

zimmer Gesprächspiele. 8 Bde. (Nürnberg 1641–49), ND hrsg. v.

dem Goethe diesen mit einer sokratischen Kunstdidaktik auf das

Irmgard Böttcher, Tübingen 1968/1969, Bd. IV, S. 472f.]

»doppelte Licht« in einer Rubenslandschaft aufmerksam werden

Zum neuen Rezeptionsverhalten bei Goethe und seinem Um-

lässt. Die Passage beginnt mit den Worten: »›Ich will Sie doch‹,

feld: Kemp 1989, S. 102ff. Allerdings lässt sich gerade bei Goethe

sagte er, ›zum Nachtisch noch mit etwas Gutem tractiren‹.« (Goe-

auch eine Kontinuität alter Rezeptionsgewohnheiten nachwei-

thes Gespräche. Hrsg. v. Woldemar Freiherr von Biedermann,

sen. So berichtet er in seinem Brief vom 13.2.1817, in dem er

10 Bde. Leipzig 1889–96, Bd. 6, S. 107, siehe auch Bd. 8, S. 12f.)

­Thomas Johann Seebeck für die Übersendung von Majoliken

Kemp nennt solche Formen des »satten Kunstgenusses« ein

dankte, angesichts derselben habe »sich eine muntere an dieser

»Markenzeichen der Kultur des ›well-to-do-Englishman‹« des

schönen Acquisition freundlich theilnehmende Gesellschaft bey

19. Jahrhunderts und zitiert den Ausspruch des Vaters von John

Tische bis zum Dessert mit mancherley kunsthistorischen Ge-

Ruskin: »Ich mag Turner nach Roastbeef und Pudding und eini-

sprächen ergötzt«. (Johann Wolfgang Goethe: Briefe. In: G ­ oethes

gen Glas Sherry.« (Wolfgang Kemp: John Ruskin. 1819–1900.

Werke. Sophienausgabe. 4. Abteilung, 50 Bde. Weimar 1887–1912,

Leben und Werk. München/Wien 1983, S. 313.)

117

Bd. 27, S. 338.) Zu den Belegen für solche Gewohnheiten gehört

32

Abb. 9  Daniel Chodowiecki: Natur – Affektation, Radierungen, in: Göttinger Taschenkalender, 1779/80

118

Zit. bei Kemp 1989, S. 98.

E IN LEITUNG

Die hier propagierten neuen Verhaltensnormen definierten sich vorwiegend ex negativo. Chodowieckis Darstellungen der outrierten aristokratischen Manieren sind in ihrer polemischen Überzeichnung zumeist aussagekräftiger, als das, was man ihnen entgegenstellte. »Wie weit sich die Kunstkenntniß dieser beyden Herren erstreckt,« so hat denn auch Lichtenberg die erste Radierung knapp kommentiert, »will ich nicht aus ihrem Anstand beurtheilen, sie scheinen wenigstens nicht viel zu affektiren, und dieses ist schon mehr als der erste Grad gewonnen.«120 Abb. 10  Daniel Chodowiecki: Kunstkenntnis /Connoissance des Arts,

als dem Kunstwerk zugetan. In der anderen Darstellung begegnen die bürgerlichen Rezipienten diesem hingegen mit bedächtigem Ernst. In schweigender Kontemplation versunken, geben sie vor dem Kunstwerk ein Beispiel »edler Einfalt« (Winckelmann). Tatsächlich haben sie sich der zurückhaltenden Präsenz der Skulptur angepasst, bei der es sich um eine Flora oder Pomona, also eine Personifikation der Natur, handelt. Und diese Statue schenkt – Werner Busch hat da­rauf aufmerksam gemacht – ihren sittsamen Betrachtern ein Lächeln, das von hellen Sonnenstrahlen begleitet wird, während ihr Pendant unter bewölktem Himmel missmutig auf die Deklamateure blickt.119

Der Rousseausche Ruf nach Natürlichkeit gleitet ins Absurde, wenn er Geltung noch im Umgang mit Kunstwerken beansprucht. Lichtenbergs lapidare Äußerung zu diesem Blatt und sein Zugeständnis, dass Zurückhaltung nicht schon Kunstverstand verrät, scheinen dem Rechnung getragen zu haben. Und auch Chodowiecki hat offenbar mit ironischer Distanz dem vorderen der beiden schweigsamen Rezipienten die Züge eines Stutzers verliehen, in dem der glühende, aber unartikulierte Enthusiasmus seines Nebenmanns den Schalk zu erwecken scheint. Nicht nur den aristokratischen Sitten und ihrer Salonkonversation,121 auch der modischen Erscheinung der schwärmerischen Empfindsamkeit galt die Kritik der beiden Aufklärer.122 Dennoch ist das Bildpaar aus dem Göttinger Taschenkalender ein entschiedenes Plädoyer und das signifikanteste bildliche Zeugnis des Wandels, der sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts

119

121

­Radierungen, in: Göttinger Taschenkalender, 1779/80

Werner Busch: Das sentimentalische Bild: Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. München 1993,

120

Lichtenberg parodierte die Konversation der schwadronierenden Adligen: Sie »bewundern die Wärme, womit der Künstler

S. 326. Siehe auch ders.: Chodowieckis Darstellung der Gefühle

gebrochen hat die Falte des leinen Marmors, zu fühlen die

und der Wandel des Bildbegriffs nach der Mitte des 18. Jahrhun-

ölichte, vögeltäuschende Glätte einer Traube oder zu sehen den

derts. In: Wilfried Barner/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.):

versteinerten Duft einer Blume, welcher um zu riechen nichts

Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditi-

fehlt als der Geruch.« (Lichtenberg 1971, S. 53.) Der Autor hat in

onsverhalten in der Frühzeit der Aufklärung. München 1989,

den zitierten Zeilen Phrasen paraphrasiert, wie sie z. B. Binet in

S. 315–343; Joachim Knape: Einleitung. In: Knape 2012, S. 36ff.

seinem Konversationslexikon bereitgestellt hatte. Siehe unten, S. 366f.

Georg J. Christoph Lichtenberg: Handlungen des Lebens. Erklärung zu zwölf Monatskupfern von Daniel Chodowiecki. Vorwort

122

Kemp 1989, S. 100.

von Carl Brinitzer, Stuttgart 1971, S. 53.

Rückblick im Zorn: Z ur Alterität der frühneuzeitlichen Kunstrezeption

33

vollzog.123 Wie es von Winckelmann, Diderot, dem späten Goethe, den Gebrüdern Schlegel und vielen ihrer Zeitgenossen verbürgt ist, verbrachte man fortan schweigend tatsächlich Stunden in der Betrachtung möglichst einzelner Kunstwerke – ein bald schon dominantes Verhaltensmuster, das die Kunst der Zeit bekräftigte, ja vielfach gebieterisch einforderte (Abb. 11), das in den Museen der Moderne seine institutionelle Verfesti-

gung erfahren sollte, und dem noch unser heutiger Umgang mit Kunst verpflichtet ist. In den Musentempeln des 19. Jahrhunderts schwieg das Publikum. In den der Öffentlichkeit zugänglich gemachten fürstlichen Kunstgalerien des späten 18. Jahrhunderts war das nur spärlich einkehrende Laienpublikum von kundigen Galeriedienern begleitet worden, die ihm Rede und Antwort standen.124 Doch im frühen 19. Jahrhundert wurden diese, wie auch die kopierenden Künstler, angehalten, sich still zu verhalten, und damit zu stummen Saalwächtern degradiert.125 Laut vor den Kunstwerken zu sprechen, wurde zum alleinigen Privileg der Galeriedirektoren und ihrer Assistenten, die in Deutschland seit den 1830er Jahren zu festgelegten Zeiten das monologische Ritual amtlicher Führungen vollzogen. Wie Joachim Penzel in seiner Dissertation Der Betrachter ist im Text. Konversations- und Lesekultur in deutschen Gemäldegalerien zwischen 1700 und 1914 nachgewiesen hat, kam diese Praxis nach regen Anfängen in der Jahrhundertmitte zum Erliegen, als das Angebot der Vermittlungsliteratur gewaltig anstieg und sich eine Mediatisierung der Kunstvermittlung vollzog.126 Die begleitende Lektüre wurde nun zum festen Bestandteil des Museumsbesuchs. Man streifte mit dem Führer bzw. Begleiter in der Hand durch die Sammlungen. Dieser Prozess der Mediatisierung sollte weiterhin fortschreiten und er hat inzwischen mit den digitalen Vermittlungsmedien eine neue Qualität erreicht.127 Chodowieckis Darstellungen der Kunstkenntnis markieren einen Wendepunkt in der Geschichte des kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken und einen Meilenstein der Ausdifferenzierung des Kunst-

123

125

Abb. 11  Caspar David Friedrich: Wanderer über dem Nebelmeer, um 1818, Hamburger Kunsthalle

Siehe Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot. Berkeley 1980; Oskar Bät-

siehe auch Walter Grasskamp: Die unbewältigte Moderne.

schmann, Pygmalion als Betrachter. Die Rezeption von Plastik

124

34

Ebda., S. 245. Zum »Verfall der Konversationsgepflogenheiten« Kunst und Öffentlichkeit. München 1989, S. 19f., 24ff.

und Malerei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Jahr-

126

Penzel 2007, S. 251ff.

buch des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft, 1974–

127

In vielen Museen in den USA ist es heute verboten, sich laut

77, S. 179–195, in überarbeiteter Form in Kemp 1992, S. 237–278.

über Kunstwerke zu unterhalten, und Führer von Gruppen müs-

Joachim Penzel: Der Betrachter ist im Text. Konversations- und

sen, um dies zu ermöglichen, eine kostspielige Lizenz erwerben.

Lesekultur in deutschen Gemäldegalerien zwischen 1700 und

Ein solches Verbot bestand auch 2017 bei der letzten documenta

1914. Berlin 2007, S. 91.

in Kassel, auf der es lediglich von autorisierten Führern geleite-

E IN LEITUNG

systems: Kunst, über die nicht erst seit Alexander Gottlieb Baumgartens Begründung der philosophischen Teildisziplin der Ästhetik im Jahre 1750 seriös reflektiert wurde,128 verlangte nun nach neuen Rezeptionsformen und einem eigenen spezialisierten Diskurs, der ihrer spezifischen Medialität und insbesondere ihrer prinzipiell nicht-sprachlichen Verfasstheit gerecht zu werden hatte. Ihre Theorie sollte fortan nicht mehr unmittelbarer Bestandteil der Lehre vom guten Leben sein. Für die Genese der modernen Disziplinen der Archäologie und Kunstgeschichte war dieser Paradigmenwechsel konstitutiv. Insofern ist es verständlich, dass manche Autoren in zornigem Rückblick beipflichtend jene Quellen zitiert haben, die an der Schwelle zur Moderne das alte, in Auflösung begriffene Verhaltensmuster, die aristokratischen »Gesprächsmanieren« (Kant), als banausisch abgetan haben. Doch die gesellige Gesprächskunst der Frühen Neuzeit verdient in ihrer einst produktiven Potenz betrachtet zu werden. Denn mit neuen Orten der Kunstpräsentation sind in der Renaissance auch Formen des kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken entstanden, für die bis dahin, im Rahmen ihrer alten Primärfunktionen im Dienste von Kirche und Herrschaft kein Raum gegeben war. Mit dem Aufstieg des Humanismus wurde das unterhaltsame, geistreiche Gespräch zu einer etablierten Verhaltensform, die bis zum Ende des Ancien Régime die Kunstrezeption bestimmt hat. Die frühneuzeitliche Geselligkeit war der Rahmen, in dem die Grundlagen der visuellen Kultur dieser Epoche verhandelt wurden, und sie hat den Künsten einen fruchtbaren Nährboden geliefert. Denn ihr kamen die Künstler in zunehmend differen-

zierter Weise mit selbstreflexiven, inhaltlich verdichteten, obskuren, enigmatischen und mehrdeutigen Werken entgegen, die intendiert waren, als »offene Kunstwerke« (Umberto Eco), als »strukturierte Hohlformen« (Wolfgang Iser) und als »Programme für zahllose Kommunikationen über das Kunstwerk« (Niklas Luhmann) das Gespräch anzuregen und zu steuern. In der Frühen Neuzeit wurden Kunstwerke geschaffen, um versprachlicht zu werden, um Gesprächskunst zu generieren. Lassen sich historisch diachron verschiedene, in bestimmten Epochen dominante Rezeptionsformen idealtypisch bestimmen, wie dies auch Lichtenberg und Chodowiecki, wenngleich in polemischer Überzeichnung, getan haben, so ist zu betonen, dass es natürlich immer auch ein synchrones Nebeneinander von solchen und unterschiedlicher Rezeptionsniveaus gegeben hat. In der Frühen Neuzeit war die gesellige ars conversationis die maßgebende Form der Kunstrezeption, mit der der Adel sowie das höhere Bürgertum ihre kulturtragende Stellung zelebrierten. Doch daneben gab es weiterhin den eigenen Gesetzen folgenden Bildgebrauch im Herrscherkult, in der kirchlichen Liturgie und der privaten Andacht. Die beredte und die stille Rezeption existierten in dem hier zu verhandelnden Zeitrahmen immer auch nebeneinander.129 Wann und wo das eine und das andere stattfand, regelte das Zeremoniell, das der Geselligkeit bestimmte Orte und Zeiten zuwies, sie in anderen Zusammenhängen, z. B. beim Gottesdienst und bei Staatsakten, hingegen unterband.130 Das Altarblatt, bei dem in liturgischer Hinsicht unerheblich ist, wer es gemalt hat, konnte während der Messe nicht ästhetisch goutiert werden. Ebenso waren

ten Gruppen gestattet war, sich vor den Werken im Gespräch zu

Luhmann betont: »Unbestreitbar gibt es […] auch das nicht-

verständigen. Es sind dies Fehlentwicklungen, von denen zu

kommunikative psychische Erleben des Kunstwerks oder auch

hoffen ist, dass sie korrigiert werden.

das nichtkommunikative Überlegen beim Anfertigen des Kunst-

128

Joachim Knape: Einleitung. In: Knape 2012, S. 38.

werks. Die psychische Systemreferenz hat ihr eigenes Recht. Es

129

Vgl. Kemp 1989, S. 100f., der auf den mittlerweile einem Nach-

wäre jedoch weit gefehlt, darin die Bausteine für das Sozialsys-

folger von Simon Marmion zugeschriebenen Altar von St. Omer

tem Kunst zu suchen. Ein soziales System besteht nicht aus Bewußtseinselementen.« (Luhmann 1986, S. 662, Anm. 8.)

(Berlin, Gemäldegalerie Alter Meister) hinweist, in dessen Hintergrund ein Kreuzgang mit einem Totentanz dargestellt ist.

130

Siehe Jörg Jochen Berns/Thomas Rahn (Hrsg.): Zeremoniell als

Dieser wird von Laien betrachtet, von denen einige kommuni-

höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübin-

zieren, andere in schweigende Kontemplation versunken sind.

gen 1995.

Rückblick im Zorn: Z ur Alterität der frühneuzeitlichen Kunstrezeption

35

z. B. repräsentative Herrscherporträts, vor denen man den Hut ziehen und sich verbeugen musste, von geselligen Rezeptionsformen weitgehend ausgenommen. Bei Staatsakten fungierte der Festdekor, wie die bei solchen Anlässen obligatorischen Tapisserien, als stummes Zeichen der Magnifizenz des Herrschers. Ihre Beanspruchung im Dienste der herrscherlichen Repräsentation hat diese kostbaren textilen Bilder dauerhaft dem räsonierenden Gespräch entzogen und ihre auratische Wirkung garantiert.131 Eine weitere Einschränkung erfuhr die Geselligkeit durch eine Professionalisierung des Kunstgesprächs, die mit den Anfängen der humanistischen antiquarischen Forschungen und den Gründungen von Kunstakademien auch einen sich gegen sie ausdifferenzierenden Diskurs der Spezialisten zeitigte.132 Gleichwohl war die gesellige ars conversationis die leitende Form der frühneuzeitlichen Kunstrezeption, an die die Entstehung von Kunstwerken mit einem »Ausstellungswert« (im Unterschied zum »Kultwert« der in Liturgie und Herrscherzeremoniell eingebundenen Artefakte)133 unmittelbar gebunden war. Bevor wir diesem Zusammenhang an beispielhaften Werken nachgehen, empfiehlt es sich, mit den Anfängen der nachantiken Geselligkeit, ihrer Theorie und der Theorie der Malerei mit Blick auf ihre Interferenzen noch einige Grundlagen zu erörtern.

Geselligkeit – Spiel – Kunst

»Le plus commun e le plus honneste divertissement de la vie est celui de la conversation«. (Pierre Fortin de la Hoguette: Testament ou conseils fidèles d’un père à ses enfants, 1648)

131

»The great and chief ends of painting are to raise and improve nature; and to communicate ideas«. (Jonathan Richardson: A Discourse on the Dignity, Certainty, Pleasure and Advantage of the Science of a Connoisseur, 1719)

Dass ›Kunst‹ auf eine Kultur des Sprechens über sie angewiesen ist und die bildenden Künste und die frühneuzeitliche ars conversationis sich wechselseitig befruchteten, haben wir dargelegt bzw. angesprochen. Systematisch bedacht, erscheint Ersteres logisch zwingend und Letzteres, das am historischen Material zu erhärten sein wird, naheliegend und einleuchtend. Betrachtet man aber die historischen Entwicklungslinien der bildenden Künste und der Gesprächskunst, so fallen gravierende Divergenzen ins Auge. Seit den Anfängen des Humanismus waren beide einander verschwistert und doch wurden sie zu unterschiedlichen Zeiten theoriewürdig, die Kunst der Konversation erst erheblich später. Dies ist insofern erstaunlich, als sich ihre Theorie gleichermaßen auf das Erbe der antiken Rhetorik und Poetik stützte und beide dem Zweck einer ethisch-moralischen Unterweisung dienten. Die folgenden Ausführungen sollen diese Kongruenz beleuchten und zugleich das in dem Ringen der italienischen Kommunen und Höfe um eine kulturelle Vorrangstellung begründete Faktum erklären, dass der Gesprächskunst erst um 1500 eine eigene Theorie gewidmet wurde. Die frühneuzeitliche ars conversationis verebbte mit den Anfängen der modernen bürgerlichen Kultur, die gewillt war, sich ganz den Inhalten, ›den Sachen selbst‹ zu widmen, und das Gespräch als solches, um seiner selbst willen kaum mehr anerkannte. Das 19. Jahrhundert hat das aristokratische Müßiggängertum bekämpft, die Familie als natürliche Form der Vergesellschaftung

kunsthistorisch jaarboek, 5/6). ’S-Gravenhage 1989; Michael W.

Wolfgang Brassat: Tapisserien und Politik. Funktionen, Kontexte und Rezeption eines repräsentativen Mediums. Berlin 1992.

132

Siehe Ingo Herklotz: [Artikel] Antiquarische Forschungen. In: Pfisterer 2003, S. 12–15; Anton W. A. Boschloo (Hrsg.): Acade-

Cole: [Artikel] Akademie. In: Pfisterer 2003, S. 6–9. 133

Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M. 41977, S. 18ff.

mies of art between Renaissance and Romanticism (=Leids

36

E IN LEITUNG

gepriesen und weitere Formen der sozialen Assoziation, zuvorderst die des Vereins, zumeist wissenschaftlichen, politischen und auch geheimbündlerischen Zwecken unterstellt.134 Auch die allmählichen Anfänge der neuzeitlichen ars conversationis lassen sich deutlich konturieren. Das frühe Christentum hatte der antiken Geselligkeit rigoros ein Ende gesetzt. Die sinnenfrohen Gelage der Symposien waren ihm ebenso zuwider wie die körperbetonte Muße in den öffentlichen und privaten Bädern. Die frühen Christen haben beides negiert, indem sie das Mahl und das Bad mit der Symbolik der Eucharistie und der Reinwaschung von den Sünden belegten und das Abendmahls bzw. das seinem Vorbild folgende gemeinsame Mahl (Agape, Koinonia) und die Taufe zu höchsten rituellen Handlungen erhoben.135 Auch das antike Ideal der Beredsamkeit hatte vor ihren Augen nicht Bestand. Zwar sollte die Homiletik Ciceros Ideal des allseits gebildeten, tugendhaften Redners in ihre Gestalt des idealen Predigers aufnehmen, des doctor christianus,136 doch dem Wertekanon der urbanitas (feines Benehmen, Heiterkeit, Geist, Witz) und dem Leitbild des sprachgewandten konzilianten Städ-

ters, dem Platon in Gestalt des Sokrates ein Ruhmesmal errichtet hatte, setzten die Christen das Ideal mönchischen Schweigens entgegen. Das noch heute sprichwörtliche biblische Diktum, dass Reden Silber, Schweigen aber Gold sei, war ein Leitsatz christlicher Ethiken, z. B. der Drei Bücher über die Pflichten (De officiis libri tres), die Ambrosius im späten 4. Jahrhundert verfasste.137 Ihren Titel hat er an Ciceros De officiis angelehnt, doch ganz im Gegensatz zu dem großen Apologeten der Sprachbeherrschung, die dieser als Lehrpfad, ja Kardinalweg zur Tugend angesehen hatte, widmete er fast das gesamte erste Buch seiner Abhandlung der Pflicht des Schweigens.138 Die christlichen Umgangslehren, die, wie Claudia Schmölders betont hat, durch »eine Atmosphäre innerweltlicher Angst und zwischenmensch­ lichen Mißtrauens« geprägt sind,139 haben das Ideal eines entsprachlichten zwischenmenschlichen Umgangs gepflegt und das der vita contemplativa verabsolutiert, die in den klassischen Texten nur als rekreative Stärkung für die vita activa angesehen worden war.140 Der christliche Wertekanon schweigsamer Demut wurde im späten Mittelalter zunehmend relativiert, als man im Zuge einer sprunghaften Stadtentwicklung, be-

134

137

135

Claudia Schmölders: Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Ge-

Besitztum ist dein Geist, dein Gold dein Herz, dein Silber deine

2

1986, S. 35ff. u. 43ff. Zur ars conversationis siehe weiter dies.: Ars

Rede.« (Schmölder 1986, S. 17.) In seiner Schrift Elegantiae, in

conversationis. Zur Geschichte des sprachlichen Umgangs. In:

der er die christlichen Vorbehalte gegen die antike Philosophie

Arcadia, 10, 1975, S. 15–33; Karl-Heinz Göttert: Kommunika­

und Rhetorik zu entkräften suchte, sollte Lorenzo Valla die

tionsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversations-

eigentliche Bedeutung dieser Redewendung unterwandern, ­

theorie. München 1988; Peter Burke: Reden und Schweigen. Zur

indem er vom »Gold und Silber der Beredsamkeit« sprach: »Das

Geschichte sprachlicher Identität. Berlin 1994; Karlheinz Stierle/

haben doch auch die übrigen Lateiner und Griechen getan, Hi-

Rainer Warning (Hrsg.): Das Gespräch (Poetik und Hermeneu-

larius, Ambrosius, Laktanz, Basilius, Gregor, Chrysostomos und

tik, Bd. XI). München 21996.

andere mehr, die in jeder Epoche die wertvollen Gemmen der

Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in

göttlichen Rede mit dem Gold und Silber der Beredsamkeit aus-

der westlichen Zivilisation. Berlin 1996, S. 172ff. Sennett betont:

geschmückt haben.« (Zit. n. Karl Vorländer: Geschichte der Phi-

Das christliche Fest des gemeinsamen Mahls »suchte die Muster

136

Ambrosius zitierte das Wort aus dem Buch Jesus Sirach: »Dein

schichte der europäischen Konversationstheorie. München

losophie. Reinbeck bei Hamburg 1999, Bd. II, S. 471.)

der heidnischen Geselligkeit […] zu durchbrechen.« (Ebda.,

138

Schmölders 1986, S. 17.

S. 173.) »Das Taufritual war der zweite Weg, den die Christen im

139

Ebda., S. 20.

Haus beschritten, um ›den alten Menschen abzustreifen‹. In

140

Ebda., S. 18. Siehe auch die dortigen Ausführungen zu den Be-

diesem Ritual setzten sie sich ebenso radikal von der heidni-

deutungsverschiebungen der Begriffe sermo und conversatio im

schen Geselligkeit ab.« (Ebda., S. 175.)

Mittellatein: Der Begriff sermo wurde dem Wort Gottes und der

Marc Fumaroli: L’Age de l’Eloquence. Rhétorique et »res litera-

Predigt assoziiert und damit der rhetorischen oratio gleichge-

ria« de la Renaissance au seuil de l’époque classique. Genf 1980,

setzt, so dass seine eigentliche soziale Dimension der dialogi-

S. 71ff.

schen Kommunikation entfiel. Bei dem Begriff conversatio über-

G eselligkeit – Spiel – Kunst

37

flügelt von der Rezeption antiker rhetorischer, poetischer und ethischer Schriften den Menschen als soziales Wesen (zoon politicon) wiederentdeckte. Mit dem Aufstieg des Humanismus, der sich gegen die Theologisierung allen Wissens und die verkrustete Onto-Logik der mittelalterlichen Scholastik wandte, wurde der Wert des politisch-sozialen Lebens wieder anerkannt. In seinem Umfeld entstanden in der Tradition ethischer Schriften, höfischer Anstandlehren und der sogenannten ›Tischzuchten‹ auch erste Konversations­ bücher, wie der Traktat De arte loquendi et tacendi (Die Kunst des Redens und des Schweigens), eine pädagogische Schrift, die Albert von Brescia 1245 für seinen Sohn Stephanus verfasst hat.141 Neben dem apokryphen Buch Jesus Sirach, dem Dionysius Cato, einem verbreiteten mittelalterlichen Benimmbuch, und den Sprüchen Salomos hat dieser Autor mit dem Heiden Cicero auch bereits jene Lichtgestalt des Humanismus zitiert, die Francesco Petrarca, der Verfasser der Lyriken des Canzoniere, ausdrücklich zu seinem Vorbild erheben sollte. In deutlicher Abgrenzung vom mittelalterlich-christ­ lichen Selbstverständnis, das die eigene Gegenwart als privilegierte Epoche der Gnade, als der heidnischen Antike überlegene Ära sub gratia bewertete, definierte Petrarca das »finstere Mittelalter« als Verfallszeit (aetas decrepita) der antiken Hochkultur, auf deren Wieder-

lebte diese nur in einem pejorativen Sinne: Er wurde als Syno-

geburt zu hoffen sei.142 In der Tradition Ciceros betrachtete auch er die Ausbildung zur Beredsamkeit als »Unterweisung zu einem wahrhaft menschlichen Leben«.143 Sein soziales Leitbild blieb freilich das einer zurückgezogenen Lebensführung, obwohl er seine große Schrift De vita solitaria als Angehöriger der aristokratischen Gesellschaft Neapels, nämlich des Haushalts des Kardinals Giovanni Colonna, verfasst hat.144 Den Vorwurf, mit diesem Ideal die Bande zu seinen Mitmenschen zu zerreißen, wie er von einem sich auf Aristoteles berufenden Arzt aus Avignon gegen ihn gerichtet wurde, begegnete er, indem er in sein Konzept einer selbstgenügsamen Lebensweise einen oder wenige Freunde (sotii) aufnahm. Dennoch spielt die Geselligkeit keine Rolle in diesem Traktat, in dem Petrarca sowohl das Hofleben kritisierte, als auch das geschäftige, rastlose Treiben der Städter, der zum Alleinsein unfähigen occupati.145 Dennoch beginnt mit Petrarca die nachantike Kunstliteratur und werden mit ihm auch die Anfänge der nachantiken Geselligkeit greifbar. Seine zwischen 1354 und 1366 dialogisch verfasste neostoizistische Schrift De remediis utriusque fortunae (Heilmittel gegen zuviel Glück und Unglück) bezeugt, dass die Künste Thema der höfischen Gesprächskultur geworden waren.146 In ihr reklamieren die Vernunft (ratio) und das Vergnügen (gaudium) jeweils für sich einen maßge-

143 Petrarca:

Ad Thomam Messanensem de studio eloquentiae

nym für »sexuellen Verkehr« verwendet; vor allem aber nahm er

(1338). Hier zit. n. Peter Ptassek: Rhetorische Rationalität. Statio-

die Bedeutung »mönchischer Lebenswandel« und »Bekehrung«

nen einer Verdrängungsgeschichte von der Antike bis zur Neu-

(conversio) an. Der Begriff »conversatio« meint zumeist »Um-

zeit. München 1993, S. 100. Zum humanistischen Projekt, die

gang, Verkehr«. (Der kleine Stowasser. Lateinisch-deutsches

Rhetorik zu einer Leitwissenschaft zu erheben, siehe Gert Ueding: Klassische Rhetorik. München 21996, S. 101ff.

Schulwörterbuch bearbeitet von Michael Petschenig, München 1971, S. 139.) Burke betont, dass er von Seneca als Synonym für

144

»Intimität« verwendet wurde und auch in der Frühneuzeit das

gabe u. ideengeschichtlicher Kommentar von Karl A. E. Enen-

Wort »conversazione« im Sinne von »Gesellschaft lasterhafter Leute« gebraucht werden konnte – so in Trottos Dialoghi del

Francesco Petrarca: De Vita Solitaria, Buch I. Kritische Textauskel, Leiden [u. a.] 1990.

145

Zu Petrarcas Hofkritik ebda., S. 351ff., zu seiner Charakterisie-

Matrimonio (Turin 1578). In Clelands Heropaideia, or the Insti-

rung des Städters ebda., S. 149f. Petrarcas Ablehnung der Gesel-

tution of a Young Nobleman (London 1607) wird der Ehebruch

ligkeit zeigt sich besonders deutlich in seinem 1342/43 entstandenen Secretum meum (Gespräche über die Weltverachtung).

als »criminal conversation« bezeichnet. (Burke 1994, S. 38f.) 141

Schmölders 1986, S. 107.

142

Theodor E. Mommsen: Der Begriff des ›Finsteren Zeitalters‹ bei

146

Pfisterer 2002a, S. 22.

Petrarca. In: August Buck (Hrsg.): Zu Begriff und Problem der Renaissance. Darmstadt 1969, S. 151–179.

38

E IN LEITUNG

benden Geltungsanspruch für die Künste. In diesem Disput begegnet das Vergnügen den Argumenten der Vernunft stets mit dem lapidaren Satz: »Mir gefällt sie aber einfach.«147 Martin Warnke hat darin den Beleg einer Dichotomie einer städtischen und einer höfischen Einstellung zur Kunst gesehen und darauf hingewiesen, dass Petrarca »dieser aufgebrochenen Sezession einen fast erbitterten Ausdruck gegeben« hat:148 1370 vermachte er in seinem Testament ein Madonnenbild Giottos, das er einst von einem Florentiner Freund erhalten hatte, seinem fürstlichen Gönner Francesco Carrara mit dem Hinweis, Ungebildete wüssten mit seiner Schönheit nichts anzufangen, die nur ein »Meister der Kunst« bewundere.149 Petrarca, der 1353 einen offiziellen Ruf nach Florenz abgelehnt hatte, um statt dessen in das von den Visconti beherrschte Mailand zu gehen, was Boccaccio als ein »Verbrechen« bewertete,150 sah wahre Kunstkompetenz an den Höfen situiert, nicht in den Städten. Bereits Giovanni di Boccaccios Decamerone vermittelt einen lebhaften Eindruck von der Geselligkeit der Renaissance, vom heiteren Zeitvertreib vornehmer Frauen und Männer, die es sich wohl sein ließen beim Erzählen von Geschichten, bei Spielen, Musik, Spaziergängen und festlichen Mahlzeiten.151 Diese Praktiken knüpften an höfische Traditionen des Mittelalters an, das die luxuriöse Pracht hoher Zeiten und intime Formen der Muße und des Spiels kannte, nicht aber eine

147

eigenständige, Öffentlichkeit und Privatheit verbindende Sphäre der Geselligkeit.152 Da sich eine solche bereits in Zeiten Petrarcas wieder konstituiert hat, ist es erstaunlich, dass die Theorie der geselligen Konversation erst am Ende des Quattrocento entstand. Denn das humanistische Projekt einer Erneuerung der Antike war vor allem moralphilosophisch orientiert. Vorwiegend unter diesem Gesichtspunkt rezipierte man die antike Rhetorik, deren ›Erneuerung‹153 im Kern auf die Wiederherstellung des ciceronianischen Bildungsideals mit seinen ethischen Implikationen zielte.154 Dass gleichwohl die Theorie der Geselligkeit erst an der Wende zum Cinquecento entstand, erklärt sich daraus, dass der frühe, vorwiegend republikanisch gesinnte Humanismus seine Gesprächskultur pragmatischen Horizonten unterstellt hat. Mit Blick auf das kommunale Zusammenleben definierte er die Ehe und die Großfamilie (casa) als zentrale Institutionen der Vergesellschaftung. So erklärte Leonardo Bruni, die Ehe sei eine der Natur des Menschen als eines animale civile Rechnung tragende Einrichtung.155 Der Venezianer Francesco Barbaro, der seinen Traktat De re uxoria (Über die Ehe) 1415 Lorenzo di Giovanni de’ Medici, dem Bruder Cosimos d. Ä., anlässlich seiner Hochzeit mit Ginevra Cavalcanti widmete, verstand sie als Gemeinschaft der Geschlechter und als ein Gut an sich (per se bonum), selbst wenn aus ihr keine Nachkommen hervorgingen.156 Auch Poggio Bracciolini, der um

Zit. n. Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des mo-

2000, passim, bes. den Beitrag Danielle Régnier-Bohler: Fiktio-

dernen Künstlers. Köln 1985, S. 31. Der Traktat ist abgedruckt in

nen, ebda., S. 299–370 mit einem Abschnitt über »Geselligkeit«

Michael Baxandall: Giotto And The Orators: Humanist Obser-

von signifikanter Kürze (S. 316f.).

vers of Painting in Italy and the Discovery of Pictorial Composi-

153

Vgl. Burckhardt 1981, S. 258ff.

tion. Oxford 1971, S. 140ff. Siehe auch Koch 2013, S. 205–212 (»Pe-

154

Zur Tendenz der Ethisierung und damit Entpragmatisierung der

155

»La prima congiunzione, dalla quale multiplicata nasce la città,

trarca liest die ›Naturalis historia‹«). 148

Warnke 1985, S. 31.

149 Zit.

Rhetorik bei Cicero siehe Ptassek 1993, S. 82ff.

ebda. Zu Giottos Gemälde in Petrarcas Testament siehe

è marito e moglie; nè cosa può esser perfetta, dove questo non

Theodor E. Mommsen: Petrarch’s Testament. Ithaca 1957, S. 78ff.

sia, e solo questo amore è naturale, legittimo e permesso.« (Leo-

150

Warnke 1985, S. 29.

nardo Bruni: Le vite di Dante e Petrarca. In: Ders.: Humanis-

151

Vgl. Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein

tisch-philosophische Schriften. Hrsg. v. Hans Baron, Leipzig [u. a.] 1928, S. 54.)

Versuch. Hrsg. v. Walter Rehm, Herrsching 1981, S. 413ff. 152

Vgl. Philippe Aries/Georges Duby: Geschichte des privaten Lebens. Bd. 2: Vom Feudalzeitalter zur Renaissance. Augsburg

G eselligkeit – Spiel – Kunst

156

Francesco Barbaro: De re uxoria. In: Atti e memorie della R. Accademia di scienze, lettere ed arti di Padova, n. s. 32, 1915–1916, S. 31.

39

1458 eine Oratio in laudem matrimonii (Lobrede auf die Ehe) verfassen sollte, ließ in seinem 1436 vollendeten, 1439 Cosimo d. Ä. gewidmeten Dialogus an seni sit uxor ducenda (Dialog über die Frage, ob man als Greis eine Ehefrau nehmen soll) den mit Niccoli diskutierenden Marsuppini die Ehe nicht theologisch, sondern naturrechtlich begründen: Selbst als kinderlose sei sie legitim, da sie der menschlichen Sozialität entspreche.157 Das Ideal des monastischen Lebens zurückweisend, erhoben diese Autoren das eheliche Zusammenleben und die Gemeinschaft der Bürger zur Bestimmung des Menschen, des animal sociabile (Poggio). Diese Aufwertung der Ehe und Bejahung der menschlichen Sozialität änderte freilich kaum etwas am Status der Frau und dem Kanon weiblicher Tugenden, die da waren Keuschheit, Sanftmut und Schweigsamkeit.158 Die erwähnten Autoren haben unisono den Vorrang der Pflicht vor dem Vergnügen betont. In Anlehnung an Aristoteles, der in der Metaphysik und der Poetik erklärt hatte, dass sich das Gute nur im Handeln erweisen könne,159 dass dieses Prüfstein der Moral, der Übereinstimmung von Denken und Handeln, sei, und an Cicero, in dessen vielrezipierter Schrift De officiis es heißt: »Alles Lob nämlich der Tugend besteht im Handeln«,160 forderten sie, die vita contemplativa habe im Dienste der vita

157

activa zu stehen. In zahlreichen Schriften und öffentlichen Kunstwerken wurde diese Maxime Ciceros propagiert.161 Coluccio Salutati erklärte, die Bedeutung des Gemeinwesens erlaube es nicht, »die Gesellschaft der Menschen zu fliehen, die Augen von den angenehmen Dingen der Welt abzuwenden und sich in einem Kloster oder einer Einsiedelei zu vergraben«.162 Ebenso haben Bruni, Poggio und Valla den Rückzug in die private Frömmigkeit kritisiert. Und auch das Interesse Leon Battista Albertis, der in den 1430er und frühen 1440er Jahren die Intercoenales (Tischgespräche) verfasste, galt in seinem wahrscheinlich 1433–41 entstandenen Traktat Della famiglia (Vom Hauswesen) dem kommunalen Zusammenleben, als dessen Kern er die Großfamilie, die casa, ansah. Diese in Dialogform gehaltene, der sogenannten ›Hausväterliteratur‹ zuzurechnende Schrift, in der Alberti Texte Aristoteles’, Ciceros, Xenophons, Senecas u. a. rezipierte, gliedert sich in die vier Bücher: Über die Pflichten der Alten gegenüber den Jungen, Über die Ehe, Das Hauswesen (Liber oeconomicus) und Über die Freundschaft. Vor allem in den letzten beiden spielen die Geselligkeit und die vita contemplativa durchaus eine Rolle: So setzen die Dialoge des vierten Buches gegen Ende eines Mahls ein, »als das Silberzeug abgeräumt und der Nachtisch aufgetragen wurde«.163 Im drit-

Poggio Bracciolini: Dialogus an seni sit uxor ducenda. In: Ders.:

ren (Christiane Klapisch-Zuber: Das Haus, der Name, der Braut-

Opera omnia, Bd. II, hrsg. v. Riccardo Fubini, Turin 1966, S. 691ff.,

schatz. Frankfurt/M./New York 1995), geändert, oft auf einer zu

bes. 695. Zu dieser Schrift siehe Detlef Roth: An uxor ducenda.

geringen Materialbasis und einer vorschnellen historischen

Zur Geschichte eines Topos von der Antike bis zur Frühen Neu-

Perspektivierung von Differenzen gründen, die tatsächlich

zeit. In: Rüdiger Schnell (Hrsg.): Geschlechterbeziehungen und

keine epochenspezifischen, sondern textsorten- und diskurs-

Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit. Tübingen 1998, S. 209ff. 158 Dies

hat die feministische Forschung nachhaltig beschäftigt.

spezifische sind. (Schnell 1998, S. 17.) 159

Aristoteles: Metaphysik, XIII, 3, 107 b 8; Ders.: Poetik, XVI.

160

Cicero: De officiis, I, 19. Weiter heißt es dort: »Dieses Handeln

Siehe Joan Kelly-Gadol: Did Women have a Renaissance? In: Re-

aber erkennt man besonders in der Verteidigung der Vorteile

nate Bridenthal/Claudia Koonz (Hrsg.): Becoming visible.

des Menschen. Es bezieht sich also auf die Gemeinschaft des

Women in European History. Boston [u. a.] 1977, S. 137–164. Zum

Menschengeschlechts. Also ist dieses der Erkenntnis voranzu-

neueren Forschungsstand Paul Gerhard Schmidt (Hrsg.): Die Frau in der Renaissance. Wiesbaden 1994; Rüdiger Schnell: Ge-

stellen.« (Ebda., I, 153.) 161

schlechterbeziehungen und Textfunktionen. Probleme und Per-

men und Funktionen eines antiken Denkmodells in der Staats-

spektiven eines Forschungsansatzes. In: Schnell 1998, S. 1–58.

ikonographie der italienischen Renaissance. Frankfurt/M. 1994.

Schnell weist nach, dass die vielfach vertretenen Thesen, in der

162

Renaissance habe sich der Status der Ehe und der Frau grundlegend, sei es zum Besseren (Burckhardt), sei es zum Schlechte-

40

Siehe Florian Matzner: Vita activa et Vita contemplativa. For-

Zit. n. Charles de La Roncière: Gesellschaftliche Eliten an der Schwelle zur Renaissance. In: Aries/Duby 2000, Bd. 2, S. 297.

163

Leon Battista Alberti: Vom Hauswesen (Della famiglia). Über-

E IN LEITUNG

ten Buch, dem liber oeconomicus, in dem der dortige Wortführer Gianozzo ein »Brevier der Sparsamkeit«164 formuliert, werden der Landsitz Albertis und die Freuden beschrieben, die dieser vor allem im Frühling bereitet. Die dort genossene tranquillità dell’anima dient der Entlastung von der Unruhe der Stadt. Freilich herrscht auch in diesem Lob einer rekreativen Naturverbundenheit Petrarcas Ideal der vita solitaria, einer dem inneren Gleichgewicht und der Selbstfindung dienenden Einsamkeit,165 nicht das geselliger Heiterkeit. Nur Verachtung zeigt Gianozzo für die verschwenderische Genusssucht mancher junger Leute, die es »mehr auf Lustörter als auf das Geschäft abgesehen haben«, »von Vergnügen zu Vergnügen taumeln« und von Schmeichlern umlagert werden, »von all den Haufen der niedrig­ sten und ehrlosesten Menschen: Tratschmäulern, Musikanten und Tänzern, Spaßmachern und Kupplern, von Livreen, Fransen und Zacken (trombetti, sonatori, danzatori, buffoni, ruffiani, frastagli, livree e frange)«.166 Auch Lionardo, ein aufrechter Republikaner, hält flammende Reden wider den Müßiggang, der die Laster mit sich bringe und vor allem an den Höfen sein Unwesen treibe,167 auch gegen Männer, die ganze Tage bei den Frauen verbringen und sich »Weibersorgen zu Herzen nehmen« (»… questi scioperati, i quali si stanno il dí tutto tra le femminelle, o che si pigliano ad animo tali simili penseruzzi femminili«).168 Genauso wie durch das Machtstreben einzelner werde die Republik gefährdet, »wenn alle wackeren Männer mit der bloßen Muße des Privatlebens zufrieden sind.« Gute Bürger, so Lionardo, müssen sich des Staates annehmen und die Lasten des Vaterlandes schultern, »um nicht den Schlechten den Platz zu überlassen«.169 Wenngleich solche Äußerungen in Albertis Dialogen, in denen Frauen als Gesprächsthema, nicht aber als Gesprächspartner vorkommen, stets nur eine von

mehreren Meinungen kundtun, trotz dieser der Dialogform eigenen pluralistischen Tendenz herrscht in Della famiglia der patriarchalisch pragmatische Geist der bürgerlichen Oligarchie der Handels- und Bankenmetropole Florenz. Wer hier nur aufs Vergnügen achtet, ist ein frivoler Verschwender oder ein armer Hund, wie jener Buto, der eingangs des vierten Buches auftritt, ein Mann, der dem Decamerone entstammen könnte, der, soeben erst angekommen, zur Erheiterung der anderen unverblümt von den Qualen der Ehe mit seiner streitsüchtigen Frau erzählt. Er ist »ein von Natur aus fröhlicher Mensch, den vielleicht auch seine beständige Armut und die Notwendigkeit, durch Schöntun und Heiterkeit den Leuten, vor denen er redete, zu gefallen, um in mancherlei fremden Häusern seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, zu einem Schalk und guten Spaßmacher hatte werden lassen«.170

Hat Alberti diese Gestalt mit verständnisvoller Nachsicht beschrieben, so ist doch signifikant, dass die Funktion des Gesellschafters, die eigentliche Bestimmung, die dem Cortegiano in Castigliones höfischer Anstandslehre zukommen wird, bei ihm deutlich pejorativ besetzt ist und nur in der Randfigur eines Narren Gestalt annimmt. In Della famiglia ist der Hausvater die einende Autorität, die an den in der arbeitsteiligen frühkapitalistischen Gesellschaft auseinanderstrebenden Sphären der Politik, der Produktion, des Handels und des Familienlebens gleichermaßen partizipiert und sie gewissermaßen zusammenhält. Es war eine bereits hochgradig individualisierte Florentiner Gesellschaft, deren Marotten Alberti in Formen der Moralsatire geschildert hat, die sein Bemühen motivierte, die Stellung der Fa-

setzt v. Walter Kraus, eingeleitet v. Fritz Schalk, München 1986,

167

Alberti 1986, S. 165ff.

S. 340.

168

Ebda., S. 282; Alberti 1969, S. 265.

164

Fritz Schalk: Einleitung. In: Ebda., S. XX.

169

Alberti 1986, S. 236.

165

Vgl. ebda., S. XXVIIf.

170

Ebda., S. 340f.

166

Ebda., S. 208; Leon Battista Alberti: I Libri della Famiglia. A cura di Ruggiero Romano e Alberto Tenenti, Turin 1969, S. 198.

G eselligkeit – Spiel – Kunst

41

milie zu stärken und so zugleich die Stadt zu erhalten (conservare).171 Erst in seiner späten, 1470 erschienenen Schrift De iciarchia sollten die Politik in die Sphäre der Indifferenz zurückweichen und die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums und epikuräische Tendenzen Überhand nehmen.172 Damit zeichnet sich in seinen Schriften die oft beschriebene Entwicklung von einer produktiven merkantilen Gesellschaft zu einer sich durch seine Formen der Muße definierenden, konsumptiven Gesellschaft ab, mit der die bürgerliche Oligarchie der italienischen Kommunen ihre kulturelle Leitfunktion an die Höfe verlieren sollten. Erst in einem fortgeschrittenen Stadium dieser Entwicklung, deren wesentliche Ursache die durch die Pestepidemien bewirkten demographischen Einbrüche des Tre- und Quattrocento waren, denen ein Prozess der Zentralisierung politischer Macht in den entstehenden frühmodernen Staaten folgte,173 konnte eine eigenständige Theorie der Konversation entstehen. Auch als Kunsttheoretiker hat Alberti den humanistischen Bildungsauftrag einer psychisch-charakterlichen Modellierung des Menschen verfolgt, seine Erziehung zu Sittlichkeit und Anstand. In De pictura, dem 1435 verfassten, auch ins Volgare übersetzten Gründungswerk der nachantiken Kunsttheorie, sprach er dem Kunstwerk eine unmittelbare affektive und ethische Wirksamkeit zu. Die Darstellung von Menschen und ihren Gemütsbewegungen (historia/istoria) übertrage diese auf den Betrachter, wie er, eine Formulie-

rung aus Horaz’ Ars poetica aufgreifend, aus den Gesetzen der Natur deduziert hat: »Ferner wird ein Vorgang die Seelen der Betrachter dann bewegen, wenn die gemalten Menschen, die auf dem Bild zu sehen sind, ihre eigene Seelenregung ganz deutlich zu erkennen geben. Die Natur nämlich, die in unvergleichlicher Maße an sich reißt, was ihr gleicht: die Natur also schafft es, dass wir mit den Trauernden mittrauern, dass wir die Lächelnden anlächeln, dass wir mit den Leidenden mitleiden.«174

In diesem Sinne sprach Alberti dem harmonisch gestalteten, dem Gebot des decorum bzw. aptum (Angemessenheit, Schicklichkeit) verpflichteten Kunstwerk die Fähigkeit zu, zu sittlichem Verhalten zu erziehen. Die wohl folgenreichste Formulierung des hier implizierten Zusammenfallens von ethischer Trefflichkeit und sinnfälliger Schönheit fand sich in der Nikomachischen Ethik, in der Aristoteles sittliches, dem Ideal des goldenen Mittelwegs verpflichtetes Verhalten mit einem Kunstwerk verglichen hatte, dem sich nichts wegnehmen oder hinzufügen ließe, ohne seine Harmonie zu zerstören.175 In Kenntnis dieser Schrift und von Ciceros De oratore hat Alberti den Künstler auf das mittlere, das genus floridum der Rhetorik verpflichtete, auf den freundlichen, jedem Affekt entsagenden Vortragsmodus des ethos,176 dessen Aufgabe im Gegensatz zu

171

Ebda., S. XXVI.

antlitz lacht mit den Lachenden und weint mit den Weinen-

172

Ebda., S. XXIX.

den.« (Horaz: Ars poetica, 101f.: »ut ridentibus adrident, ita flen-

173

Vgl. Peter Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital. Grund-

tibus adflent humani voltus.«) In diesem Lehrgedicht hatte

linien der europäischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis zum

Horaz die moralische Kompetenz des Künstlers betont, der wie

Ausgang des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1980; Ferdinand Seibt/

der Dichter und Redner menschliche Gefühle erwecken und so

Winfried Eberhard (Hrsg.): Europa 1400: Die Krise des Spätmit-

den Weg zur Selbsterkenntnis und Zivilisierung weisen solle.

telalters. Stuttgart 1984.

(Siehe Horaz: Ars poetica, 309ff.; Götz Pochat: Geschichte der

174

Alberti: De pictura, (II) 41. In: Leon Battista Alberti: Das Stand-

Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhun-

bild – Die Malkunst – Grundlagen der Malerei. Hrsg., eingeleitet,

dert. Köln 1986, S. 78f.)

übersetzt und komm. v. Oskar Bätschmann und Christoph

175

Aristoteles: Nikomachische Ethik, II 5, 1106b.

Schäublin unter Mitarbeit von Christine Patz, Darmstadt 2000,

176

Zu dieser Präferenz Albertis siehe Norbert Michels: Bewegung

S. 269. Die Formulierung, »dass wir mit den Trauernden mit-

zwischen Ethos und Pathos. Zur Wirkungsästhetik italienischer

trauern, dass wir die Lächelnden anlächeln, dass wir mit den

Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster 1988, S. 29ff.

Leidenden mitleiden«, geht zurück auf Horaz: »Das Menschen-

42

E IN LEITUNG

dem pathos eines genus vehemens darin besteht, die Rezipienten zu erfreuen und ihr Wohlwollen zu erregen. Als dafür winkenden Lohn stellte er dem Maler, der »in erster Linie ein guter Mann sein« solle,177 das »Wohlwollen der Mitbürger« (benivolentia civium/benivolenza da’ cittadini) in Aussicht.178 Diese Präferenz wurde in kunsttheoretischen und kunsttheoretisch relevanten Schriften immer wieder bekräftigt, u. a. von Castiglione, der den dem mittleren rhetorischen genus assoziierten Begriff der grazia zur zentralen Kategorie seiner Anstandslehre machte. Für die Kunst der Renaissance war das ethos, die harmoniestiftende Affektlage des genus medium, geradezu kanonisch. Vor allem an diese Wirkungsfunktion sowie einen metaphysisch fundierten Schönheitsbegriff war der Bildungsauftrag geknüpft,179 aus dem Alberti einen neuen Status der Künste und des Künstlers ableitete. Dezidiert hat er geschrieben, der Maler könne sich um die Sittlichkeit (costume) und die »bontà dell’uomo« verdient machen.180 Es ging Alberti in seinem Malereitraktat auch um das Sprechen über Kunst, um die Schulung artikulierter Betrachter und eine Anleitung zum kennerschaftlichen Genuss.181 Dass auch sein monologisch verfasster Traktat in der Geselligkeit wurzelte, hat der Autor stolz hervorgehoben. Wiederholt bediente er sich der Redewendung: »An dieser Stelle pflege ich im Kreise meiner

177

Freunde jeweils die folgende Regel aufzustellen […]«.182 Zudem hat er seine Forderung, die historia solle nicht zu schlicht, noch zu überladen sein und daher neun bzw. zehn Personen aufweisen, mit dem Hinweis auf Symposien im Haus des Dichters Varro untermauert: »Er wollte beim Gastmahl ein Durcheinander vermeiden und hielt darauf, dass sich nicht mehr als neun Personen zu Tische legten.«183 Darüber hinaus hat der Autor ganz im Sinne des normativen ethos-Begriffs, den Cicero in De oratore vertreten hatte, und seiner dem entsprechenden Privilegierung der grazia gefordert, der Maler solle hinsichtlich der Wahl des ordo und des modus seine Entwürfe im Freundeskreis besprechen, um unter seinem harmonischen Einfluss die schönste, schicklichste Lösung zu finden,184 ja es empfehle sich sogar, »während der Arbeit am Werk jeden zu empfangen und anzuhören, der als Betrachter vorbeikommt. Schließlich legt es der Maler ja darauf an, dass sein Werk bei der Menge Erfolg hat.«185 Diese ästhetische Präferenzen entsprachen ganz den ethischen Idealen, die Alberti nach der Vollendung des Malereitraktats in De amicitia, dem vierten Buch von Della famiglia, behandeln sollte.186 Alberti hat in De pictura seine Leser um Verständnis für seine klare, nicht gezierte und geschmückte Ausdrucksweise gebeten (»clara esset nostra oratio magis quam compta et ornata«).187 Sein Ziel war das einer mo-

Alberti: De pictura, (II) 52. (Alberti 2000, S. 293.) Angeregt war

Leon Battista Alberti. In: Antoinette Roesler-Friedenthal/Johan-

diese Formulierung durch das von Cicero in De oratore propa-

nes Nathan (Hrsg.): The Enduring Instant. Time and the Specta-

gierte Redner-Ideal und die einschlägige Stelle bei Quintilian:

tor in the Visual Arts. / Der bleibende Augenblick. Betrachterzeit

»Für uns also soll der Redner, den wir heranbilden wollen, von

in den Bildkünsten. (A Section of the XXXth International Cong-

der Art sein, wie ihn Marcus Cato definiert: ›ein Ehrenmann, der

ress for the History of Art, London.) Berlin 2003, S. 251–269; Held

reden kann‹ (vir bonus dicendi peritus).« (Quintilian: Institutio

2016, S. 24ff. u. S. 63–69 (»Anleitung zur öffentlichen Kunstkritik.

oratoria, XII 1, 1.) 178

Alberti: De pictura, (III) 52. (Alberti 2000, S. 292f.; Leon Battista

Leon Battista Alberti, Über die Malkunst, 1436«). 182

Alberti: De pictura. Reprint a cura di Cecil Grayson, Rom 1975, 179

Alberti: De pictura, (I) 7, auch (I) 23, (II), 26. (Alberti 2000, S. 205, 233, 237.)

S. 90.)

183

Ebda., (II) 40. (Alberti 2000, S. 267.)

Schönheit wird von Alberti, Dolce, Lomazzo u. a. verstanden als

184

Ebda., (III) 61. (Alberti 2000, S. 308f.)

Gottesprädikat, als Hervorglänzen der göttlichen Einheit, Wahr-

185

Ebda., (III) 62. (Alberti 2000, S. 311.)

heit und Güte. [Thomas Leinkauf: Der Begriff des Schönen im

186

Schalk, der davon ausgeht, dass die ersten drei Bücher von Della

15. und 16. Jahrhundert. In: Heinrich F. Plett (Hrsg.): Renais-

famiglia vor dem Malereitraktat entstanden, datiert De amicitia

sance-Poetik. Berlin u. a. 1994, S. 55ff., 65.]

in die späten 1430er Jahre. (Fritz Schalk, Einleitung. In: Alberti

180

Alberti: De pictura, (III) 52. (Alberti 1975, S. 90.)

1986, S. VIII.)

181

Siehe Oskar Bätschmann: Looking at Pictures: The Views of

G eselligkeit – Spiel – Kunst

187

Alberti: De pictura, (I) 22. (Alberti 2000, S. 232.)

43

ralischen Unterweisung durch das Bild und der Nachvollziehbarkeit des in ihm geschehenslogisch kohärent und schlüssig dargestellten Geschehens.188 Alberti war ein strikter Funktionalist, ein Protagonist der claritas und perspicuitas, kein Freund des Obskuren, Rätselhaften und Mehrdeutigen. Mit dieser Haltung ergriff er entschieden Partei für die Seite der Vernunft, die in Petrarcas De remediis utriusque fortunae einen schweren Stand im Streit mit dem Vergnügen gehabt hatte. Die Freiheit der Malerei hatte sodann Cennino Cennini propagiert. Nachdem er 1398 am Hofe der Carrara in Padua als familiaris aufgenommen worden war, begann er, sein Malerhandbuch zu verfassen, in dem er die »Phantasie, welche die Natur dem Maler schenkt«, rühmte.189 Diese erlaube ihm, »wie es ihm gefällt« auch Dinge darzustellen, die nie gesehen wurden, wie z. B. Kentauren.190 Als Berufungsinstanz solcher Phantasieleistungen ließ sich Horaz’ Ars poetica anführen, die durch das Mittelalter hindurch kontinuierlich rezipiert worden war. In dieser heißt es: »Doch war ja Malern wie Dichtern immer schon das denkbar Kühnste gestattet.«191 Eine entsprechende »potestas audendi«, die »Kraft des Wagnisses«, sollten manche Künstler der Frührenaissance offensiv in Anspruch nehmen.192 Nicht so Alberti: Gemäß dem seit dem Mittelalter geläufigen Sprachgebrauch, nach dem der Begriff der historia den

wörtlichen Sinn eines Textes (sensus litteralis) im Gegensatz zum höheren, spirituellen Sinn (sensus spiritualis) bezeichnet, sowie der u. a. von Isidor von Sevilla aufgegriffenen Differenzierung Varros, dass sich die historia mit den »res factae«, die Poesie hingegen mit »res fictae« befasse,193 heißt es in seinem Traktat ausdrücklich, der Maler habe allein sichtbare Dinge nachzubilden.194 Mit diesem Postulat, das mit Quintilians Forderung: »Nobis prima sit virtus perspicuitas, propria verba, rectus ordo […]«,195 übereinstimmte, trat Alberti als Verfechter einer Naturnachahmung auf, die der Tradition der spätgotischen Kunst ein Ende setzen sollte, und zudem als Opponent derjenigen, die für den Maler die Lizenz der poetischen Fiktion reklamierten. Noch vor Albertis Della famiglia war ein seinerzeit umstrittener Traktat entstanden, der für die Entstehung der Theorie der Geselligkeit wegweisend war, nämlich Lorenzo Vallas De voluptate ac de vero bonum (Von der Begierde und dazu vom wahren Guten). Seine erste Fassung hat der Autor im Sommer 1433 in Mailand vollendet.196 Auf provokante Weise hat er in dieser Schrift, in der sich ein Epikureer und ein in geistiger Inbrunst entflammter Christ der Gefühlskälte eines Stoikers entgegenstellen, eine Rehabilitierung der Sinnlichkeit verfochten. »In zwei Hinsichten«, so ließ er den Epikureer erklären, »sind die Menschen wohl den übrigen Lebe-

188

Vgl. ebda., (II) 35. (Alberti 2000, S. 256ff.)

193

Kristine Patz: Zum Begriff der »Historia« in L.B. Albertis »De pic-

189

Cennini: Trattato della pittura, cap. 27. Siehe Norberto Gramac194

Alberti: De pictura, (I) 2. Dass Alberti damit ausdrücklich die

cini: Cennino Cennini e il suo »Trattato della Pittura«. In: Res

tura«. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 19, 1986, S. 286.

publica litterarum, 19, 1987, S. 143–151. Warnke 1985, S. 53 datierte

von Cennini beanspruchte Lizenz zurückwies, betont Bätsch­

den Traktat in das erste Jahrzehnt des Quattrocento. Pfisterer geht inzwischen davon aus, dass Cennini lange mit der Schrift

mann (Alberti 2000, S. 77). 195

»Für uns gelte die Durchsichtigkeit als Haupttugend des Aus-

befasst war und sie in der heute vorliegenden Form erst in den

drucks, die eigentliche Bedeutung im Gebrauch der Wörter, ihre

1420er Jahren niedergeschrieben hat. [Ulrich Pfisterer: Cennino

folgerichtige Anordnung, kein Schluß, der zu lang hinausge-

Cennini und die Idee des Kunstliebhabers. In: Hubert Locher/

schoben wird, nichts, was fehle, und nichts, was überflüssig ist:

Peter J. Schneemann (Hrsg.): Grammatik der Kunstgeschichte.

so wird, was wir sagen, bei den Kennern Beifall und bei den Un-

Sprachproblem und Regelwerk im ›Bild-Diskurs‹. Oskar Bätsch­

geschulten Eingang finden.« (Quintilian: Institutio oratoris, VIII

mann zum 65. Geburtstag. Zürich/Emsdetten/Berlin 2008,

2, 22.)

S. 95–117.]

196

Siehe Eckard Keßler: Ein Werk, ein Autor und ihre verwirrende

190

Cennini: Trattato della pittura, cap. I.

Geschichte. In: Lorenzo Valla: Von der Lust oder Vom wahren

191

Horaz: Ars poetica, 9f.

Guten/De voluptate sive De vero bono. Lateinisch-deutsche

192

Siehe Pfisterer 1996.

Ausgabe hrsg. und übers. v. Peter Michael Schenkel, eingeleitet v. E. Keßler, München 2004, S. VII–LXXXI.

44

E IN LEITUNG

wesen überlegen: daß wir Gefühle aussprechen und Wein trinken können«.197 Weiter behauptet der Epikureer, »Daß die Lust die Herrin der Tugend ist«, dass sie »der Natur entspricht, die Ehrbarkeit aber nicht« und »[d]aß Unzucht und Ehebruch nicht zu mißbilligen sind«;198 ja, er erklärt frank und frei, »mehr um das Menschengeschlecht machen sich Buhlerinnen und öffentliche Dirnen verdient als heilige und enthaltsame Jungfrauen.«199 Moderater argumentiert der Christ, doch auch er tritt für eine Versöhnung des Glaubens und der Sinnlichkeit ein und setzt sich mit seinem Verständnis der Geschlechterrollen deutlich vom Kanon der zeitgenössischen Eheliteratur ab.200 Er betont, dass Adam und Eva die Urgesellschaft bildeten, die Ehe, die Archetyp aller zwischenmenschlichen Zuneigung (caritas), der Geselligkeit und auch der Theologie sei.201 Die Schöpfung diene dem Vergnügen jedes einzelnen Menschen, doch nur in Gesellschaft bereite ihr Anblick Vergnügen, nur sie ermögliche ein »bona Dei renarrare« und »communicare«.202 Der Christ zitiert den durch Cicero überlieferten Satz des Pythagoräers Archytas von Tarent:

könnte, dann wäre es ihm die reinste Freude.«203

Damit hat Valla die Bewunderung der Schöpfung und die Kommunikation beider Geschlechter als erste menschliche Bedürfnisse und die eheliche Gemeinschaft als Ort der demnach ursprünglich geselligen göttlichen Wissenschaft definiert.204 So häretisch diese Auffassung seinerzeit war205 – für die Legitimation der höfischen Geselligkeit und ihrer ars conversationis hatte sie wegweisende Bedeutung. Die erste frühneuzeitliche Theorie der Konversation entstand aus den angeführten Gründen erst um 1500. Sie wurde von dem Philosophen, Dichter und Diplomaten Giovanni Gioviano Pontano (Iovianus Pontanus) verfasst, der als Sekretär, Prinzenerzieher und Außenminister in den Diensten des 1494 verstorbenen Ferdinands I. (Ferrante) von Aragon gänzlich in das soziale Milieu des Hofes eingebunden war. Nach dem Tode Beccadellis 1471 wurde er das Haupt der von diesem begründeten Neapolitaner Akademie, die nach ihm Accademia Pontaniana genannt wurde. Ihr gehörte unter anderen Jacopo Sannazaro an, der sich 1478 aus Bewunderung für Pontano um die Mitgliedschaft bewarb und später gemeinsam mit Pietro Summonte die erste Gesamtausgabe seiner Werke zusammenstellen sollte. Dem von Papst Innozenz VII. zum poeta laureatus gekrönten Pontano kommt der Verdienst zu, Ciceros Konzept des otium honestum erneuert zu haben.206 Neben vielen weiteren Schriften hat er eine Abhandlung mit

197

Valla: De voluptate, I, 26, 2. (Valla 2004, S. 81.)

204

198

Ebda., I, 34, 36, 38. (Valla 2004, S. 94ff.)

205 Die

199

Ebda., I, 43, 2. (Valla 2004, S. 105.)

»Wenn einer den Himmel erklömme und die Natur der Welt und die Schönheit der Sterne wahrnähme, so wäre seine Bewunderung ihm selber nur unangenehm, aber hätte er einen, dem er es erzählen

200 Zum

Graf 1998, S. 255. Unterordnung der Frau wurde vor allem mit dem zweiten

Schöpfungsbericht (1. Mose 2,4ff.) und Paulus-Zitaten legitimiert. Siehe Eph. 5,22ff. und 1. Kor. 14, 34f., wo es heißt: »Die

Wort Gottes: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei;

wir wollen ihm eine Hilfe machen, die ihm ähnlich sei« (Gene-

Frauen sollen in den Gemeindeversammlungen schweigen. […]

sis, 2, 18), führt er aus: »Das ist natürlich über die Frau gesagt,

Wünschen sie aber Belehrung über irgend etwas, so mögen sie

kann aber auch auf den Mann angewandt werden. Wie nämlich

daheim ihre Ehemänner befragen.«

die Gattin dem Gatten, so ist auch der Gatte der Gattin eine Hilfe. Und desgleichen alle Menschen untereinander, darin be-

206

Eine maßgebliche Bedeutung Pontanos für die Villenkultur, insbesondere für die Villa Chigi (Farnesina) in Rom, belegt Costanza

steht ja das Prinzip der Nächstenliebe.« (De voluptate, III, 17, 3;

Barbieri: Le »Magnificenze« di Agostino Chigi. Collezioni e pas­

Valla 2004, S. 329.)

sioni antiquarie nella Villa Farnesina. Rom 2014, S. 31–43 (»Agos-

201

Ebda., III, 17.

tino Chigi e la cerchia di Giovanni Gioviano Pontano fra Napoli e

202

Katrin Graf: Die Gelehrtenehe als Frauenerziehung. In: Schnell

Roma«; »›Magnificentia‹ e ›Splendor‹: i trattatti sulle virtù sociali«).

1998, S. 255. 203

Valla: De voluptate, III, 17, 3. (Valla 2004, S. 329. Die zitierte Stelle ist Cicero: Laelius de amicitia, 88.)

G eselligkeit – Spiel – Kunst

45

dem Titel De principe verfasst, deren humanistischen Idealismus Machiavelli zwanzig Jahre später mit nüchternem Machtkalkül verwerfen sollte.207 In lateinischen Gedichten behandelte er zudem die Entwicklungsstufen, welche die Liebe im Laufe des menschlichen Lebens durchschreitet,208 und die Freizeitvergnügungen der Neapolitaner, die sportlichen Spiele der Jugendlichen, den Zeitvertreib faulenzender Arbeiter und die Landpartien der Aristokraten und ihre Muße in den Bädern von Baiae209 – hier erscheint die gesellige Rekreation tatsächlich als das einende Band der Gesellschaft. Den Traktat De sermone (Über das Gespräch), der erst nach seinem Tod im Jahre 1507 gedruckt wurde, 210 schrieb der Autor mit dem Ziel, einen geselligen »novus orator« zu kreieren. Diesem stellte er drei Typen gegenüber, den Schmeichler, den Lügner und den aus Prinzip Widersprechenden, um im Kontrast zu diesen seinen »vir facetus« als autonome Persönlichkeit und tugendhaften Mann der Mitte zu charakterisieren. Dieser fröhliche Mann ist kein politisch oder juristisch tätiger Redner, sondern Protagonist der rekreativen höfischen ars sermonis.211 Er entspricht dem von Platon in der Gestalt des Sokrates gepriesenen Ideal des geistreichen, konzi-

207

lianten Städters. Die sokratische Ironie hat Pontano im Schlusskapitel seines Buches gewürdigt. Neben den Dia­logen Platons rezipierte er vor allem Aristoteles’ Nikomachische Ethik und Ciceros Über den Redner. Der ersten Schrift entnahm er das Ideal der mediocritas, des gemäßigten Verhaltens des Mittelweges, der zweiten die Theorie des Witzes und des taktvollen Humors. Dieser Quellen bediente sich auch Baldassare Ca­ stiglione im Libro del Cortegiano (Das Buch vom Hofmann), der, zum größten Teil in den 1510er Jahren verfasst, 1528 bei Aldus Manutius in Venedig erschien. Allein im 16. Jahrhundert wurden mehr als 60 Auflagen dieser wichtigsten Anstandslehre der Frühen Neuzeit gedruckt.212 Wie Castiglione eingangs seiner Widmung an Michele da Silva, den Bischof von Vasco, erklärt, verfasste er seine Schrift in dankbarer Erinnerung an die Zeit, die er in Gesellschaft vortrefflicher Personen unter der Herrschaft des 1508 verstorbenen Herzogs Guidobaldo da Montefeltro am Hof von Urbino verbracht hatte.213 Im Unterschied zu Pontanos De sermone ist der Cortegiano wie seine Vorbilder, Ciceros De oratore sowie Pietro Bembos Gli Asolani (Asolaner Gespräche) von 1505,214 in Dialogform gehalten und in ihm nimmt,

Giovanni Giovano Pontano: De principe. Hrsg. v. Guido M. Cap-

conversation. Hrsg. v. Florence Bistagne, Paris 2008; Pontano:

pelli, Rom 2003.

I dialoghi; La fortuna; La conversazione. Hrsg. v. Francesco Tat-

208 Ders.:

Amorum libri due. Florenz 1514. Das Buch De amore co-

teo u. Anna Gioia Cantore, Mailand 2019. Zu De sermone siehe

niugali liegt in deutscher Übersetzung in der folgenden Ausgabe

weiter Ernst Walser, Die Theorie des Witzes und der Novelle

vor: Drei neapolitanische Humanisten über die Liebe. Lat.-dt.

nach dem De sermone des Jovianus Pontanus. Straßburg 1908; Schmölders 1986, S. 22f. u. 111ff.

mit Anm. versehen v. Nikolaus Thurn, St. Katharinen 2002. Siehe weiter: G.G. Pontano: Dialoge. Lat.-dt., übers. v. Hermann Kie-

211

Vgl. auch die Ausführungen zur höfischen Konversationsrheto-

212

Schmölders 1986, S. 108. Siehe auch Klaus W. Hempfer: Rhetorik

rik in Ueding 1996, S. 106ff.

fer, München 1984; Ders.: I libri delle virtù sociali. A cura di Francesco Tateo, Rom 1999. 209 Will

Durand: Glanz und Zerfall der italienischen Renaissance.

als Gesellschaftstheorie. Castiglione Libro del Cortegiano. In:

München 1953, S. 122. Zur humanistischen Kultur Neapels siehe

Andreas Kablitz (Hrsg.): Literaturhistorische Begegnungen. Festschrift für Bernhard König. Tübingen 1993, S. 103–121.

Jerry H. Bentley: Politics and Culture in Renaissance Naples. Princeton, NJ 1987. 210

Baldesar Castiglione: Das Buch vom Hofmann (Il Libro del Cor-

Giovanni Gioviano Pontano: De sermone et bello Neapolitano.

tegiano). Übersetzt und erläutert von Fritz Baumgart. Mit einem

Neapel: Mayr 1507. Die De sermone libri sex sind auch im zwei-

Nachwort von Roger Willemsen. München 1986, S. 1.

ten Band der Pontani opera omnia (3 Bde. Venedig: Manutius

46

213

214

Peter Burke: The Fortunes of the Courtier. The European Recep-

1518/19) abgedruckt und in der in Florenz ab 1520 publizierten,

tion of Castiglione’s Cortegiano. Cambridge/Oxford 1995, S. 21f.

sechsbändigen Gesamtausgabe. Mittlerweile liegen zahlreiche

betont mit Blick auf die Dialogform, dass Castiglione Bembos

Editionen vor, z. B. Pontano: De sermone. A cura di Alessandra

Asolaner Gesprächen, in denen Referenzen auf Boccaccios Dec-

Mantovani, Rom 2002; Pontanus: De sermone libri sex/De la

amerone zu finden sind und an denen Frauen teilnehmen, aller-

E IN LEITUNG

wie schon in Boccaccios Decamerone, die Frau einen gewichtigen Platz ein. Ist das Buch vom Hofmann bis in die Gliederung hinein an De oratore angelehnt, wie vor allem die in beiden Schriften im zweiten Buch entfaltete Theorie des Witzes und eines taktvollen Humors erkennen lässt,215 so übernahm Castiglione diesem Vorbild allein ihr Bildungsideal und den Aspekt der delectatio. Die Politik und die Jurisprudenz, die vorrangigen Praxisfelder der antiken Rhetorik, bleiben auch in seiner Anstandslehre ausgeblendet. Der Cortegiano hat sich auf gesellschaftlichem Parkett zu bewähren. Als Angehöriger des Hofes von den Aufgaben der Reproduktion des Lebens enthoben, soll er seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten gleichmäßig ausbilden, im Waffengebrauch so gewandt sein wie in der Kunst der Unterhaltung, in Dichtung und Musik geübt, vertraut mit den Wissenschaften und Künsten. Jede Übertreibung vermeidend, ist er eine elegante Gestalt, frei von Affekten, die in ihrer geistigen und körperlichen Bildung, ihrer Kleidung, Sprache und bei all ihren Verrichtungen durch ihre Lässigkeit und ästhetische Attraktivität besticht. Im Zentrum des Libro del Cortegiano stehen die Kategorien der grazia (Anmut) und sprezzatura (Lässigkeit, Nonchalance; von sprezzare = mißachten, geringschätzen). Der Hofmann muss die Mühen vergessen machen, mit denen er seine Fertigkeiten erlernt hat, und sein Können lässig, im Nu unter Beweis stellen. So erscheint dieses nicht als Kunst, sondern als Natur, nicht als Produkt fleißiger Übung, sondern als Zeichen angeborenen Talents. Castiglione empfahl,

In diesen Ausführungen hat Castiglione das der antiken Rhetorik entstammende Konzept des »ars est celare artem« aufgegriffen.217 Angelegt war dieses bereits bei Aristoteles, der dem Redner nahegelegt hatte, seiner Sprache durch einen entsprechenden ornatus den Schein des Fremdartigen, Ungewöhnlichen zu geben, welcher wohliges Erstaunen errege.218 Später hatte Cicero eine »sorgfältige Nachlässigkeit« (neglegentia diligens) gepriesen,219 eine Nonchalance, die Ovid auch für die Wahl der Kleidung empfahl.220 In seiner Ars amatoria (Liebeskunst) bekräftigte dieser: »Kunst, die verborgen bleibt, nützt, doch entdeckt man sie, bringt sie dir Schande.«221 Auch Quintilian hat diesen Topos aufge-

dings nicht als Wortführer auftreten, wichtige Anregungen ver-

rhetorischen Topos in der Malerei mit sichtbarer Pinselschrift.

dankte. Zu Bembos Dichtung siehe unten, S. 132.

In: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hrsg.): Visuelle Topoi. Erfin-

Zur Theorie des Witzes und der Kunst, »etwas Häßliches auf

dung und tradiertes Wissen in den Künsten der Renaissance.

215

»[…] die Künstelei als eine rauhe und gefährliche Klippe zu vermeiden und bei allem, um vielleicht ein neues Wort zu gebrauchen, eine gewisse Art von Lässigkeit (sprezzatura) anzuwenden, die die Kunst verbirgt und bezeigt, daß das, was man tut oder sagt, anscheinend mühelos und fast ohne Nachdenken zustandegekommen ist. Davon rührt, so glaube ich, großenteils die Anmut (grazia) her. Denn jeder weiß um die Schwierigkeit bei seltenen und wohlgelungenen Dingen, wogegen Leichtigkeit dabei größte Bewunderung erzielt. Das Erzwingen und, wie man sagt, an den Haaren Herbeiziehen erweckt dagegen den Eindruck höchster Ungeschicklichkeit und läßt alles, so groß es auch sein mag, für gering geachtet werden. Man kann daher sagen, daß wahre Kunst ist, was keine Kunst zu sein scheint«.216

München/Berlin 2003, S. 323–350.

eine Weise, die nicht häßlich ist«, zu bezeichnen, siehe Cicero: De oratore, II, 236; zur Kunst, »mit anständigen Worten etwas

218

Lächerliches« zu benennen: Castiglione: Il libro del Cortegiano,

219

Cicero: Orator, 23.

II, 74 (Castiglione 1986, S. 202), zum Scherzen: Ebda., II, 41. (Ca­

220

Vgl. Burke 1995, S. 11f.

stiglione 1986, S. 166ff.)

221

Ovid: Liebeskunst, II, 313 (übers. u. komm. v. Niklas Holzberg,

216

Ebda., I, 26. (Castiglione 1986, S. 53f.)

217

Siehe Valeska von Rosen: Celare artem. Die Ästhetisierung eines

G eselligkeit – Spiel – Kunst

Aristoteles: Rhetorik, III, 2 (1404b).

München 1998, S. 63).

47

griffen und in seiner Ausbildung des Redners z. B. über die Gebärden beim Vortrag erklärt: »wenn es hierfür bei den Redenden einer Kunst bedarf, so vor allem der, nicht als Kunst zu erscheinen!«222 Das Konzept, durch den Schein der Spontanität an Glaubwürdigkeit zu gewinnen, war dann ins Zentrum der Schrift Peri hypsous (Vom Erhabenen) des Pseudo-Longinos gerückt. Jede ausgefeilte Kompositionskunst, so erklärte der Autor, erzeuge »einen eigentümlichen Verdacht; man argwöhnt List, Betrug und Täuschung«.223 Kunstvolle Figuren seien daher zu kaschieren.224 Dies gelinge durch die gedrängte, mit »wahrem Pathos« vorgebrachte Sprache, die die Ordnung ungeregelt erscheinen lasse:225 »Die Kunst ist nämlich dann vollkommen, wenn sie Natur zu sein scheint, die Natur wiederum erreicht ihr Ziel, wenn sie unmerklich Kunst in sich birgt.«226 Das große Werk erweist sich nach Longin nicht in der ängstlichen Befolgung der Regeln, sondern im kühnen, großen Wurf. Diese Programmatik, dass Kunst sich den Schein des Natürlichen und des Spontanen geben solle, zielte auf eine rational nicht nachvollziehbare Wirkung, wie sie Cicero und Quintilian auch in Zusammenhang mit dem Witz erörtert haben. »Ein […] Witz muß ja heraus und sitzen, ehe der Eindruck entsteht, man habe ihn sich überlegen können«,227 so hatte Cicero in De oratore erklärt und mit dem »Ich weiß nicht was« (nescio quid) die Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen begründet. Dieses sollte in der mystischen Tradition als Gottesprä-

222

dikat verstanden werden und in der Liebeslyrik bei Dante und Petrarca mit dem »non so che divino« und dem »non so che negli occhi« wiederaufleben.228 Unfassbar ist das »gewisse Etwas« (quidquid), so auch Quintilian, durch das uns der Witz unweigerlich zum Lachen bringt.229 Auch die elegante »hauptstädtische Tönung« der Sprache kultivierter Römer entzieht sich einer genauen begrifflichen Bestimmung. In Ciceros Brutus fragt dieser, was genau der »urbanitatis color« sei, worauf Cicero antwortet: »Nescio, tantum esse quendam scio.«230 Auch der urbanitatis color ist ein bestechender ästhetischer Überschuss wie die grazia, die Castiglione vom Auftreten des Hofmanns erwartete. Wie der Libro del Cortegiano bezeugt, widmete sich die höfische Gesprächskunst, die in der Zeit ihrer mittelalterlichen Anfänge vornehmlich theoretischen Fragen der Liebe nachgegangen war, dann im Zuge des Humanismus eine Popularisierung erfuhr und sich u. a. theologischen, philosophischen und poetologischen Themen öffnete,231 nun mit Vorliebe der bildenden Kunst, vor allem dem Thema des Paragone, der Diskussion über den Vorrang der Künste (disputà sulla maggioranza delle arti). Wem der Vorrang gebühre, der Dichtung oder der Malerei, dieser oder der Skulptur, der Kunst der Antike oder der Moderne, dafür musste man auf dem Parkett der mittlerweile eine kulturellen Leitfunktion beanspruchenden Höfe Argumente bereithalten.232 Dabei ist zu betonen, dass der Paragone

Quintilian: Institutio oratoris, I 11, 3. Quintilian empfiehlt auch,

chia poeta oratio, 15; Ders.: De legibus, II 1, 3; Ders.: De divina-

bei der Gerichtsrede »bestimmte Stellen gerade, die wir aufs

tione, II, 94.

beste rhythmisch gebunden haben, so vorzutragen, als wären

228 Dante

folgt dabei mystischen Tendenzen bei Augustinus und

sie ganz frei, und so auszusehen, als überlegten wir manchmal

der neuplatonischen Lichtmetaphysik. Petrarca überträgt das

und wären im Zweifel, während wir das suchen, was wir schon

metaphysisch besetzte Unerklärliche auf die Minnelyrik. (Emil

ausgearbeitet mitgebracht haben.« (Ebda., XI 2, 47.)

Köhler: [Artikel] Je ne sais quoi. In: Historisches Wörterbuch der

223

Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen, 17, 1.

Philosophie, Bd. 4, Sp. 640; Ders.: »Je ne sais quoi«: Ein Kapitel

224

Ebda., 18, 2.

aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen. In: Ders.: Esprit

225 Ebda.,

und arkadische Freiheit: Aufsätze aus der Welt der Romania.

20, 3. Auch Dionysios von Halikarnassos betonte, dass

Frankfurt/M. 1966, S. 230–286.)

Lysias, »gerade indem er scheinbar ohne Können argumentierte, gekonnt sprach«. Auch für Hermogenes ist Lysias ein Red-

229

Quintilian: Institutio oratoris, VI 3, 11.

ner, dessen deinotes (Redekunst, vehementia) verborgen bleibt.

230

Cicero: Brutus, 171.

(Ian Rutherford: [Artikel] Deinotes. In: HWRh, Bd. 2, Sp. 469f.)

231

Fritz Baumgart: Erläuterungen. In: Castiglione 1986, S. 447.

226

Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen, 22, 1.

232

Castiglione: Il Libro del Cortegiano, I, 50–53. Die Diskussionen

227

Cicero, De oratore, II, 219. Siehe weiter ders.: Pro A. Licinio Ar-

48

um den Rangstreit von Malerei und Skulptur in diesen drei Kapi-

E IN LEITUNG

ein Thema war, das nicht aus der Werkstattpraxis der Künstler hervorgegangen ist, sondern aus der dem Exzellenzprinzip huldigenden höfischen Geselligkeit. Gerne stellte man in dieser die Frage des Vorrangs, z. B. diejenige Petrarcas, ob die Künste der Vernunft gehorchen oder dem Vergnügen dienen sollten, oder diejenige, mit der Goethe in Vicenza konfrontiert wurde, ob Erfindung oder Nachahmung den Künsten mehr Vorteil gebracht hätten, also solche, über die man zwei Mal hundert Jahre sprechen konnte.233 Castigliones Cortegiano ist ein Musterbeispiel der für die Frühe Neuzeit charakteristischen Interferenzen zwischen der Theorie der Konversation und der der Künste: Beide waren Bestandteil eines kontingenten Theoriefeldes, welches in der Moralphilosophie und der Anstandslehre gravitierte. Sie verfolgten dasselbe Ziel einer ethisch-moralischen Unterweisung des Menschen und bedienten sich vielfach identischer Begriffe, wie z. B. dem der grazia, dem seinerzeit auch in der Theorie des höfischen Tanzes zentrale Bedeutung zukam, und dem der maniera, der um 1400 aus dem

teln stellen, wie Pfisterer betont, die »umfangreichste publi-

Französischen adaptiert, nämlich von dem Begriff der belles manières, dem schönen Benehmen des Adels, abgeleitet worden war.234 Auch zahlreiche Topoi fanden in beiden Theoriefeldern Anwendung: So war die von Cicero und Plinius d. Ä. überlieferte Zeuxis-Anekdote,235 nach der dieser sich der schönsten Jungfrauen der Stadt Kroton als Modelle bediente und den schönsten Körperteil einer jeden auswählte, um so die ideale Schönheit seiner Statue der Helena zu gewinnen, von Alberti in De pictura als Paradigma einer selektiven Naturaneignung angeführt worden.236 Diesen Topos und das ihm verwandte Gleichnis Senecas von den Bienen, die die verstreuten Schätze zusammentragen,237 hat Casti­ glione aufgegriffen und auf die körperliche Ertüchtigung, auf das Reiten, den Ringkampf und alle Arten des Waffengebrauchs übertragen. Um bei diesen Verrichtungen anmutig zu erscheinen, solle der Hofmann sich bemühen, »von guten Meistern zu lernen und stets ausgezeichnete Männer um sich zu haben und von jedem das Beste, was sie wußten, zu übernehmen«.238 Angesichts solcher konzeptuellen und begrifflichen Interfe-

234

zierte Sammlung von Paragone-Argumenten der Zeit dar.« (Pfis-

italienischen Literatur der Zeit des Manierismus. In: Romanisti-

terer 2002a, S. 294. Zu weiteren Quellen zu diesem Thema ebda.,

sches Jahrbuch, 3, 1950, S. 321–403; Ursula Link-Heer: Maniera.

S. 271ff.; Simonetta La Barbera: Il Paragone delle arti nella teoria

Überlegungen zur Konkurrenz von Manier und Stil (Vasari, Di-

artistica del Cinquecento. Bargheria 1997. Zum Wettstreit von

derot, Goethe). In: Gumbrecht/Pfeiffer 1986, S. 95. Zahlreiche

Antike und Moderne siehe August Buck: Aus der Vorgeschichte

solcher Interferenzen zwischen Kunsttheorie, Poetologie und

der Querelle des Anciens et des Modernes in Mittelalter und Re-

Anstandslehre erwähnt John Shearman: Mannerism. Style and Civilisation. Harmondsworth [u. a.] 1967.

naissance. In: Bibliothèque de l’Humanisme et de la Renaissance, 20, 1958, S. 527–541; Ders.: Die »querelle des anciens et de

235

modernes« im italienischen Selbstverständnis der Renaissance und des Barock. Wiesbaden 1973; Charles Trinkaus: Antiquitas

Cicero: De inventione, II 1, 1–3; Plinius: Historia naturalis, XXXV, 64.

236

Leon Battista Alberti: De pictura, III, 56. Dieses selektive Verfah-

versus Modernitas: A humanist polemic and its resonance. In:

ren steht hier im Gegensatz zu Albertis De statua, 17 mit der Idee

Journal of the History of Ideas, 48, 1987, S. 11–21; Ingrid D. Row-

der Schönheit in Verbindung.

land: The Culture of the High Renaissance: Ancients and Mo-

233

Georg Weise: Maniera und pellegrino: zwei Lieblingswörter der

237

Seneca: Episteln, 84; Horaz: Episteln, I, 19, 44. Vgl. Jürgen von

derns in Sixteenth-Century Rome. Cambridge 2000; Ulrich Pfis-

Stackelberg: Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte

terer: [Artikel] Paragone. In: HWRh, Bd. 6, Sp. 528–546; Ders.:

der literarischen imitatio. In: Romanische Forschungen, 68,

Der Paragone. In: Brassat 2017, S. 283–312. Zum Agon als einem

1956, S. 271–293; G. W. Pigman III: Versions of Imitation in the

zentralen Prinzip der Produktion und Rezeption der Kunst der

Renaissance. In: Renaissance Quaterly, 33, 1980, S. 1–32; Klaus

Hochrenaissance siehe Rona Goffen: Renaissance Rivals: Mi-

Irle: Der Ruhm der Bienen. Das Nachahmungsprinzip der italie-

chelangelo, Leonardo, Raphael, Titian. New Haven/London

nischen Malerei von Raffael bis Rubens. Münster/New York/

2002.)

München/Berlin 1997.

Wie oben, Anm. 114.

G eselligkeit – Spiel – Kunst

238

Castiglione: Libro del Cortegiano, I, 25 (Castiglione 1986, S. 52).

49

renzen ist es nicht erstaunlich, dass der Libro del Cortegiano auch kunstgeschichtliche Bedeutung erlangt hat. So sollte sein Konzept der sprezzatura maßgeblich werden für den sichtbaren Pinselstrich, das fa presto und das infinito u. a. bei Tizian, Tintoretto, Rubens, van Dyck und noch Watteau und Gainsborough.239 »Eine einzige mühelose Linie«, so hat Castiglione formuliert, »ein einziger leicht hingeworfener Pinselstrich, wobei die Hand, ohne von emsigem Fleiß oder irgendeiner Kunst geführt zu werden, aus sich selbst heraus auf ihr Ziel in den Absichten des Malers loszugehen scheint, enthüllen auch in der Malerei deutlich die Vortrefflichkeit des Künstlers, über deren Bedeutung sich dann jeder seinem Urteile gemäß verbreitet. Dasselbe gilt beinahe für jede andere Sache. Unser Hofmann wird also für ausgezeichnet gehalten werden und in allem, vorzüglich beim Sprechen, Anmut haben«.240

Die Höfe des Quattrocento waren ein soziales Milieu, das im Unterschied zu den exklusiven Hofgesellschaften des Mittelalters auch emporgekommene Hasardeure, reich gewordene Händler und plebejische Humanisten und Künstler aufnahm. In diesem entwickelte sich eine verhältnismäßig ungezwungene intellektuelle Geselligkeit, an der von Anbeginn an Frauen partizipierten,241 die hingegen, wie Albertis Della fami­

239

glia bezeugt, von der Florentiner Gesprächskultur seiner Zeit weitestgehend ausgeschlossen waren. Der Humanismus des Quattrocento hatte den Menschen als Gemeinschaftswesen definiert, dessen Bedürfnis nach Geselligkeit die Ehe, die Großfamilie und die Freunde stillen sollten. Dabei hielt er an dem Kanon der alten weiblichen Tugenden fest. Dass Francesco Barbaro 1415 in seinem Ehetraktat im Sinne des goldenen Mittelweges empfahl, man solle die Frau nicht wie in einem Gefängnis versteckt halten, sondern ihr ein Maß an öffentlicher Präsenz einräumen, das ihr erlaube, ihre Tugend und Zuverlässigkeit zu demonstrieren,242 bestätigte als vorsichtig formulierte Lizenz die Regel. Dass dies bei Hofe anders war, zeigt u. a. Castigliones Empfehlung, die Hofdame solle sich im Gespräch ebenso schlagfertig wie nachsichtig zeigen, nämlich durch eine Mischung aus Witz und Sanftmut, »gleichsam aus Gegensätzen zusammengesetzt«, auszeichnen.243 Mit dieser Forderung, die u. a. in Aretinos Kurtisanengesprächen fortlebte,244 propagierte er tatsächlich ein neues Frauenbild. Die Auffassung, dieses Postulat habe eher »als Überforderung denn als geglückte Idealbildung« zu gelten,245 übersieht – offenbar mit Blick auf seine ›double binds‹ (Gregory Bateson) – die in der paradoxen Zuspitzung implizierte Qualität des ›non so che‹, der eben auch der Hofdame angeratenen grazia, und seine epochale Bedeutung, die darin bestand, dass Castiglione mit dem schlagfertigen Witz der Frau männliche Merk-

Shearman 1967, S. 21; von Rosen 2003a. Zur Bedeutung des Cor-

mulgamus. Nec enim velut in vinculis coercendae sunt, sed ita

tegiano-Ideals für van Dyck siehe Hans-Joachim Raupp: Unter-

in apertum prodeant, ut haec venia, quam sibi praestamus, vir-

suchungen zu Künstlerbildnis und Künstlerdarstellung in den

tutis et probitatis suae testimonium sit.« (Barbaro 1916, S. 74.)

Niederlanden im 17. Jahrhundert. Hildesheim/New York 1984,

243

Castiglione: Libro del Cortegiano, III, 5 (Castiglione 1986, S. 247).

für Watteau und seine Zeitgenossen: Joachim Rees: »Glücklich,

244

Dort erklärt Nanna, die ihre Tochter Pippa in den Beruf der Kur-

sich vom gewohnten Weg zu entfernen«? Le caprice und die

tisane einweist, sie müsse wie eine feine Dame wirken, aber

Kunst der Abweichung in der französischen Malerei des 18. Jahr-

auch »zu plaudern und schlagfertig zu antworten wissen und

hunderts. In: Ekkehard Mai (Hrsg.): Das Capriccio als Kunst-

nicht vom trocknen Holz aufs grüne Laub kommen«. (Pietro

prinzip. Ausst.-Kat. Köln, Wallraf-Richartz-Museum u. a., Mai-

Aretino: Kurtisanengespräche. Übers. v. Otto Kayser, Frank-

land 1996, S. 111–132.

furt/M. 1986, S. 247, 256.) »Und recht gut ist’s auch, mal ein ge-

240

Castiglione: Cortegiano, I, 28 (Castiglione 1986, S. 58).

salzenes Wort anzubringen und ’nen kleinen Stich, wenn einer

241

Arnold Hauser: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. Mün-

242

50

euch hänseln will.« (Ebda. S. 280.)

chen 1953, S. 325f.

245

Schmölders 1986, S. 108.

»Ast nos, qui mediocritatem sequimur, liberiores sibi leges pro-

246

Barbara Becker-Cantario: Frauenzimmer Gesprächsspiele. Ge-

E IN LEITUNG

tate et praecellentia foeminei sexus, 1529) u. a. In Erasmus’ Abbatis et eruditae (Der Abt und die gebildete Frau) sagt die gelehrte Magdalia:

male einer kultivierten Aggressivität zusprach und damit ihre klassischen Demutstugenden relativierte. Die höfische Geselligkeit wurde durch die weibliche Beteiligung charakterisiert, was in der Stellung der ­aristokratischen Frau als einer in heiratspolitischer Hinsicht dem Mann prinzipiell ebenbürtigen Repräsentantin einer Dynastie begründet war. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Geselligkeit in den bis auf das 15. Jahrhundert zurückgehenden englischen Clubs, in den Akademien und literarischen Gesellschaften, den Kaffee- und Schokoladenhäusern des 17. und 18. Jahrhunderts und den Freimaurerlogen Männern vorbehalten bleiben sollte.246 Dagegen war die die Geschlechter einende Geselligkeit konstitutiv für die höfische Gesellschaft Italiens, die sich von der Partizipation der Frauen eine Affektmodulation und Kultivierung der Männer versprach.247 Sie definierte sich über ihre gesellige Gesprächskunst als eine die antike Kultur der Symposien übertreffende, Ansprüche humanistischer Bildung und christlicher Nächstenliebe einlösende Errungenschaft.248 Die Theorie der Geselligkeit, eine Pädagogik, die der Frau ihren Anteil an dieser sichern sollte, und die damit einhergehende Querelle des Femmes sollten gleichzeitig von Italien aus Verbreitung finden durch Schriften von Erasmus von Rotterdam (Colloquia familiaria, 1518; De civilitate morum puerilium, 1529), Juan Luis Vives (De institutione foeminae christianae, 1523), Agrippa von Nettesheim (De nobili-

Dieses kulturelle Gefälle zeigt sich noch bei Georg Philipp Harsdörffer, der mit dem Hinweis auf den italienischen und französischen Adel seine Meinung bekräftigte, dass den »Teutschen Frauenzimmern« der »Spielstab« gezieme, »der in der Frantzösinnen und Italiänerinnen Händen die Geister gleichsam erwecken/ und wundersam= leiten kan/ wie von mercurius Rute die Poeten dichten.«250 Die für die höfische Gesellschaft konstitutive Bedeutung der geselligen Kunst des bel parlare bezeugt auch Pietro Aretinos Ragionamento delle corti (Kurtisanengespräche), in dem sie aus einer plebejischen Perspektive zur Sprache kommt: Hier weist Nanna ihre Tochter in die Umgangsformen der großen Herren und Damen ein, in »das Plaudern, das Benehmen und die Art, wie du dich bei der Unterhaltung zu betragen hast, denn das ist der Schlüssel zum Spiel.«251 »Und wenn ein Künstler da ist«, so die Mutter, »sprich ihn mit heiterem Gesicht an und tu, als schätz-

selligkeit, Frauen und Literatur im Barockzeitalter. In: Adam

que de la conversation: sa dimension littéraire et linguistique

»In Spanien und Italien gibt es nicht wenige sehr vornehme Frauen, die es mit jedem Mann aufzunehmen vermögen. In England gibt es solche im Hause des Morus, in Deutschland in den Familien Pirckheimer und Blarer.«249

1997, Teil 1, S. 24; Maurice Aymard: Freundschaft und Geselligkeit. In: Aries/Duby 2000, Bd. 3, S. 476ff. 247 Zu

dans la société française au XVIIe siècle. Paris 1984, S. 144). 248 In

Erasmus’ Colloquia familiaria (Vertraute Gespräche) wird

diesem in der Literatur bisher kaum gewürdigten Aspekt

der Anspruch deutlich, dass die moderne zwischengeschlecht-

siehe die Hinweise bei Rosmarie Zeller: Die Rolle der Frauen im

liche Geselligkeit eine christliche Steigerungsform der antiken

Gesprächsspiel und in der Konversation. In: Adam 1997, Teil 1,

Symposien sei. Siehe dazu Das geistliche Gastmahl, Das ge-

S. 531–541. Zeller betont, dass die mediocritas der Konversation,

schichtenreiche Gastmahl und Das Fischessen. In: Erasmus von

die Geistlosigkeit ebenso zu vermeiden suchte, wie die Pedante-

Rotterdam, Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. Werner Welzig,

rie des Spezialistentums, Rücksicht auf die fehlende Schulbil-

Darmstadt 1995, Bd. 6, S. 20–123; 276–313; 314–455.

dung der Frauen nahm (ebda., S. 532). Schon Castiglione sprach

249

den Frauen die Funktion zu, die Pedanterie gebildeter Männer

250 Georg

Erasmus: Abbatis et eruditae. In: Erasmus 1995, Bd. 6, S. 263. Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächsspiele.

zu unterbinden (ebda., S. 536). Strosetzki betont, dass im

8 Bde. (Nürnberg 1641–49), ND hrsg. v. Irmgard Böttcher, Tübin-

17. Jahrhundert das Ideal des honnêtte homme nach dem der

gen 1968/1969, Bd. 1, S. 390.

honnêtte femme modelliert war (Christoph Strosetzki: Rhétori-

G eselligkeit – Spiel – Kunst

251

Aretino 1986, S. 280, siehe auch S. 255f.

51

test du ihn – ja wahrhaftig! – höher als den Hausherrn selber.«252 Die kunsttheoretische Relevanz der Anstandslehre Castigliones zeigt sich auch in den Künstlerviten Giorgio Vasaris, der die in ihr gepriesenen Tugenden der urbanitas zum Epochenmerkmal seiner Kunsthistoriographie erhoben hat. In den Vite de’ più eccellenti pittori scultori e architettori vollzieht sich die Entwicklung der Künste nach ihrem Verfall in der Spätantike und in frühchristlicher Zeit in drei Schritten: Sie setzt ein mit Cimabue und Giotto, die sich wieder an der Natur und der Antike orientieren, fährt fort mit der Generation Brunelleschis, Donatellos und Masaccios, die wissenschaftliche Regeln der Wiedergabe der Natur erschließen, und gipfelt in der Kunst Leonardos, Michelangelos, Raffaels und ihrer Zeitgenossen, die in ihren Werken die Natur besiegen und mit Leichtigkeit (facilità) vollbringen, was ihre Vorgänger große Mühen kostete. Die maniera moderna der Künstler der terza generazione ist unsagbar schön, ihre Anmut ist vollkommener als jedes Maß. Die Meister des Quattrocento, so erklärt

252 Ebda.,

»[…] die absolute Vollendung zu erreichen, da es ihnen noch an einer gewissen Freiheit (licenzia) in der Regel mangelte, die – obwohl außerhalb der Regeln stehend – doch von ihr gelenkt wird und die bestehen kann, ohne die Ordnung durcheinanderzubringen oder zu beschädigen.«253

Erst die Meister der Hochrenaissance machten von dieser Freiheit Gebrauch, während den Werken ihrer Vorgänger aufgrund »der immer noch sichtbaren Mühsal ihres sorgfältigen Arbeitens«254 eine gewisse Härte und Trockenheit anhaftete. Sprach Vasari grundsätzlich davon, dass die Entwicklung der Künste zur »perfezione« und »perfetta regola dell’arte« führe,255 so hat er hier deren regelkonforme Suspendierung zum Epochenmerkmal des schönen Stils seiner Zeit erhoben. Unschwer ist darin das Konzept der sprezzatura zu er-

S. 256. Nanna empfiehlt dies auch, da zu fürchten sei,

tori scultori e architettori: nelle redazioni del 1550 e 1568. Testo a

dass »so ein Kerl Bücher gegen dich schriebe«. (Ebda.)

cura di Rosanna Bettarini, commento secolare a cura di Paola

Die Partizipation der Frau an der höfischen Geselligkeit war of-

Barocchi, 11 Bde. Florenz 1966–1997, IV, S. 5: »[…] mancandoci

fenbar auch eine Voraussetzung für die große Bedeutung des

ancora nella regola una licenzia, che, non essendo di regola,

Kurtisanenwesens im Cinquecento. Monika Kurzel-Runtschei-

fosse ordinata nella regola e potesse stare senza fare confusione

ner: Töchter der Venus. Die Kurtisanen Roms im 16. Jahrhun-

o guastare l’ordine«.

dert. München 1995, S. 13 betont, dass die römischen Kurtisanen

253

der Autor, hatten der Kunst wissenschaftliche Darstellungsmittel erschlossen, gleichwohl war es ihnen nicht vergönnt,



übrigens in der Konversationsliteratur fortleben. So erklärte

auch in kultureller Hinsicht, »bei geselligen Veranstaltungen

Erasmus Francisci im Vorwort seines 1668 in Nürnberg erschie-

aller Art«, ausgleichen sollten. Welche diesbezüglichen Ansprü-

nenen Ost- und West-Indische[n] wie auch Sinesische[n] Lust-

che um 1515 existierten, zeigt deutlich eine Äußerung, die Kardi-

und Stats-Garten, die »Lust- und Spielgespräche« bedürften

nal Bibbiena gegenüber Giuliano de’ Medici machte, als dieser

einer »regulirten Confusion«. Francisci rechtfertigte seine Dar-

plante, Filiberta von Savoyen zu ehelichen und sich mit ihr in

stellungsform der »Lust- und Spielgespräche« und die bei die-

Rom niederzulassen: »Die ganze Stadt sagt: Jetzt sei Gott gelobt,

sen gebotene thematische Vielfalt. Sie bedeute für den Autor

denn hier fehlte nichts anderes als ein Hof von Damen, und

»ungleich grössere Mühe […]/ als wenn man immer bey einerley

diese hohe Fürstin […] wird uns dazu verhelfen und wird

Materi unverruckt beharret«. Solche Unterhaltungen, die alle

den römischen Hof vollkommener machen.« (Zit. ebda., S. 19,

»in einer lieblich-verwirrten Ordnung/ und wolgeordneten Ver-

Anm. 11.)

wirrung fließen müssen«, bedürften einer »regulirten Confu-

Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccellenti pittori scultori e archi-

sion«. (Zit. n. Roswitha Kramer: Gespräch und Spiel im Lustgar-

tettori, Proemio della terza parte. In: Kunstgeschichte und

ten. Literatur und Geselligkeit im Werk von Erasmus Francisci. In: Adam 1997, Teil 1, S. 518.)

Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen

52

Vasaris Paradoxon einer ›regelgerechten Regellosigkeit‹ sollte

den dortigen Frauenmangel nicht nur in sexueller, sondern

berühmter Künstler. Hrsg. v. Matteo Burioni und Sabine Feser,

254

Vasari 2010, S. 112.

Berlin 32010, S. 110; Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccellenti pit-

255

Vasari 1966–97, III, S. 6 (Proemio della seconda parte).

E IN LEITUNG

kennen, des Missachtens und Vernachlässigens der Regeln, und ihr Effekt des Unbeschreiblichen. Die Meister der dritten Generation verfügten, so Vasari, über »entschlossene Kühnheit, gefolgt von Liebreiz, Glanz und höchster Anmut«,256 machten von der ästhetischen Lizenz Gebrauch und erzielten so das »gewisse Etwas«, das den Werken ihrer Vorgänger gefehlt hatte (»quel certo che, che ci manceva«).257 Auch in Vasaris Kunstgeschichte machen sich die Künstler um die »bontà dell’uomo« (Alberti) verdient. In zahlreichen Anekdoten hat der Autor die zivilisierende Kraft der Kunst beschworen, z. B. in seinem Bericht, wie im Jahr 1527 beim Sacco di Roma marodierende deutsche Landsknechte, als sie in das Atelier von Parmigianino kamen, der unbeirrt weiter an seinem schlafenden Hieronymus (Die Vision des heiligen Hieronymus, London, National Gallery) malte, angesichts des Gemäldes zu sittsamen galantuomini wurden und ihn ehrfurchtsvoll gewähren ließen,258 oder von den 1529 Florenz belagernden Truppen Karls V., die alleine die unsagbare Schönheit von Andrea del Sartos Letztem Abendmahl im Refektorium von San Salvi davon abhielt, das Kloster, wie ihnen befohlen, gänzlich zu zerstören.259 Ganz im Unterschied zu Alberti hatte Vasari, wie auch seine Zeitgenossen Paolo Pino und Lodovico Dolce, bereits einen entwickelten Sinn für den genialen Einfall, die Phantasieleistungen, die capricci, bizzarrie

und sottigliezze des Künstlers und auch für die semantische Offenheit des Kunstwerks, die »vagghezza« (von lat. vagus = schwankend, ungebunden, regellos, unbestimmt; vagare = umherschweifen), eine der Wirkungsqualität der grazia assoziierte Kategorie.260 Erwähnung verdient schließlich Vasaris Anekdote vom symposionalen Ursprung seiner Künstlerviten, gerade weil sie unglaubwürdig ist und die Schrift, die er sicherlich selbst konzipiert hat, bescheiden als Auftragsarbeit erscheinen lässt.261 Mitte der 1540er Jahre, so berichtet er in seiner Autobiographie, sei bei einem Festmahl im römischen Haus des Kardinals Farnese im Kreise berühmter Humanisten und Dichter der Gedanke an eine Schrift über die vorzüglichsten Künstler entstanden. Der Kardinal habe ihn sodann gefragt: »Was sagt ihr dazu, Giorgio? Wäre dies nicht eine schöne Arbeit und Beschäftigung?«262 Und später habe Paolo Giovio bestimmt: »Mein lieber Giorgio, ich möchte, daß ihr die[se] Mühe übernehmt«.263 Hatte Alberti beiläufig darauf hingewiesen, dass sein Malereitraktat aus Gesprächen mit Freunden hervorgegangen ist, so wollte Vasari seine Viten, ausdrücklich als Produkt einer wiedergeborenen Kultur des Symposions verstanden wissen. Seine Erzählung von ihrer Entstehung lässt zudem darauf schließen, dass der Monolog als auktoriale Form in den engen sozialen Gefügen der Renaissance schnell als anmaßend bewertet und daher im Bereich der

256

Vasari 2010, S. 111.

den literarischen Genuss rechtfertigte. Siehe Charles Trinkaus:

257

Vasari 1966–97, IV, S. 6. Immer wieder betont Vasari die Unbe-

The Unknown Quattrocento Poetics of Bartolommeo della

schreiblichkeit von Werken der Künstler der dritten Generation

Fonte. In: Studies in the Renaissance, 13, 1966, S. 40–122; Martin

und benutzt die Wendung »né si puo esprimere …«. So schreibt

Kemp: From Mimesis to Fantasia: The Quatrocento Vocabulary

er z. B. über die Werke Correggios: »Né si puo esprimere le leg-

of Creation, Inspiration and Genius in the Visual Arts. In: Viator,

giadrissime vivacità che fece nelle opere sue Antonio da Correg-

VIII, 1977, S. 347–398.

gio«. (Vasari 1966–97, IV, S. 9, siehe auch ebda., S. 194.) 258

261

Soweit ich sehe, geht lediglich Charles Hope davon aus, dass

Vasari 1966–97, IV, S. 538; Giorgio Vasari: Das Leben des Parmi-

diese Anekdote tatsächlich zutreffend sei. Siehe Charles Hope:

gianino. Hrsg. v. Matteo Burioni, Berlin 22009, S. 24.

Can You Trust Vasari? Rez. von Patricia Lee Rubin: Giorgio Va-

259

Vasari 1966–97, IV, S. 386; Giorgio Vasari: Das Leben des Andrea

sari: Art and History. New Haven [u. a.] 1995. In: New York Re-

260

Im späten Quattrocento hatte sich die Kunsttheorie wieder ent-

del Sarto. Hrsg. v. Sabine Feser, Berlin 2005, S. 60f.

view of Books, 42/15, Okt. 1995, S. 10–13. 262

Giorgio Vasari: Mein Leben. Neu übers. v. Victoria Lorini, komm.

263

Ebda., S. 53; Vasari 1966–97, VI, S. 389.

schieden poetologisch orientiert und Bartolommeo Fonzio (della Fonte) zu Beginn der 1490er Jahre die erste Poetik der Re-

u. hrsg. v. Sabine Feser, Berlin 22011, S. 52.

naissance verfasst, in der er die poetische Fiktion allein durch

G eselligkeit – Spiel – Kunst

53

Kunstliteratur nur von besonders autorisierten Personen verwendet wurde, wie dem aus einer adligen Familie stammenden, 1432 zum Abbreviatore delle lettere apostoliche ernannten Alberti und eben dem Kunstintendanten des Herzogs Cosimo de’ Medici. Die Verschwisterung der ars conversationis und der Kunsttheorie wird nicht zuletzt durch die für die Kunstliteratur der Frühen Neuzeit paradigmatische Form des Dialogs bezeugt, über die André Félibien in seinen auf Gespräche mit Nicolas Poussin zurückgehenden Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellents peintres anciens et modernes, schreiben sollte, sie sei für den Unterricht in den Künsten am besten geeignet.264 Besonders häufig waren dialogisch verfasste Kunstschriften im Cinquecento. Erwähnt seien nur diejenigen von Pomponius Gauricus (1504), Françisco de Holanda (1538), Paolo Pino (1548), Anton Francesco Doni (1549), Lodovico Dolce (1557, 1565), Andrea Gilio (1564), Raffaello Borghini (1584), Giorgio Vasari (1588) und Gregorio Comanini (1591).265 Sie weisen das spezifische Merkmal jener Dialogizität auf, die als relativistische Form einer gebrochenen Autorschaft zur epistemologi-

schen Signatur des heterogenen, pluralistischen Denkens insbesondere der Spätrenaissance wurde.266 Auch die die Geselligkeit leitende Maxime einer dialogischen Offenheit, die allen Teilnehmern Selbstdarstellungsmöglichkeiten einräumen sollte,267 wird dabei relevant gewesen sein. Die normative Kraft dieses Gebots der Höflichkeit zeigt sich noch in solchen, im Grunde doktrinären Schriften, in denen sie, wie in Gilios Dialogo nel quale si ragiona degli errori e degli abusi de’ pittori circa l’istorie, dem 1564 publizierten ersten nachtridentinischen Kunsttraktat, nur noch in der Form oder im Titel gewahrt wurde.268 Und sie behauptete sich abermals z. B. bei Raffaello Borghini, der in seiner 1584 erschienenen Schrift Il riposo Maßgaben Gilios übernahm, aber doch im Sinne der liberalitas den Bildhauer Ridolfo Sirigatti sprechen ließ, der selbst die umstrittenen, ›schamlosen‹ Fresken Pontormos in San Lorenzo in Florenz gegen die Vorwürfe Vecchiettis verteidigt.269 Noch Diderot sollte seine Salonkritiken in Dialogform verfassen und in dieser, wie wir sehen werden, den Bruch der modernen Kunstkritik mit der aristokratischen Salongesellschaft eindrucksvoll inszenieren.

264 André

266 Vgl.

265

Félibien: Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des

Stempel/Stierle 1987; Hempfer 1993; Gerhart Schröder

plus excellents peintres anciens et modernes (Paris 1666). Hrsg.

(Hrsg.): Anamorphosen der Rhetorik. Die Wahrheitsspiele der

v. d. Société d’édition ›Les belles lettres‹, Paris 1986, S. 87ff. Vgl.

Renaissance. München 1997; Hans Honnacker: Der literarische

Marin 2001, S. 26ff.

Dialog des »primo Cinquecento«. Inszenierungsstrategie und

Pomponius Gauricus: De Sculptura. Hrsg. v. André Chastel und

Spielraum. Baden-Baden 2002; Valeska von Rosen: Multipers-

Robert Klein, Genf 1969; Françisco de Holanda: Vier Gespräche

pektivität und Pluralität der Meinungen im Dialog. In: Von Rosen/Krüger/Peimesberger 2003, S. 317–336.

über die Malerei geführt zu Rom 1538. Hrsg. v. Joaquim de Vas­ concellos, Wien 1899; Paolo Pino: Dialogo di pittura. In: Paola

267

Siehe auch Manfred Beetz: Leitlinien und Regeln der Höflich-

268

In gewisser Weise gilt dies auch für die tatsächlich weitgehend

Barocchi (Hrsg.): Trattati d’Arte del Cinquecento fra Manierismo e Controriforma. Bd. 1, Bari 1960, S. 93–139; Lodovico

keit für Konversationen. In: Adam 1997, Teil 2, S. 563–579.

Dolce: Dialogo di pittura. In: Barocchi 1960, S. 141–206; Ders.:

monologisch verfassten Entretiens Félibiens, der in dieser

Dialogo nel quale si ragiona della qualità, diversità e proprietà

Schrift die Prinzipien der Hofkunst Ludwigs XIV. vertreten hat.

dei colori. Venedig 1565 (ND Bologna 1985); Anton Francesco

Vgl. dazu Gerhard Penzkofer: Die Konversation als Symptom

Doni: Disegno. Venedig 1549 (ND hrsg. v. Mario Pepe, Mailand

und Supplement: Thesen zum Verhältnis von Konversation und

1970); Andrea Gilio: Dialogo nel quale si ragiona degli errori e

Roman in der französischen Barockliteratur. In: Adam 1997,

degli abusi de’ pittori circa l’istorie. In: Barocchi 1961, S. 1–115;

Teil 1, S. 427–438, der betont, dass auch im barocken Roman eine

Raffaello Borghini: Il riposo. Florenz 1584; Giorgio Vasari: Ragio-

»Vorherrschaft des Monologs« dort festzustellen ist, »wo der un-

namenti. In: Gaetano Milanesi (Hrsg.), Le opere di Giorgio Va-

gezwungene Dialog und der heitere ›commerce‹ der fiktiven

sari. Bd. VIII, I (Ragionamenti e le lettere edite e inedite di Giorgio Vasari), Florenz 1882; Gregorio Comanini: Il Figino overo del

›honnêtes gens‹ zu dominieren scheint.« (Ebda., S. 428.) 269

Frangenberg 1990, S. 84.

fine della pittura. In: Barocchi 1962, S. 241–379.

54

E IN LEITUNG

Der heitere, lusorische Umgang der höfischen Geselligkeit mit den Künsten, dem die Künstler mit ihren Werken Nahrung lieferten, hat auch die Einsicht befördert, dass das Spiel ein wichtiges Element der Kunst ist.270 Schon die antike Groteskenmalerei hatte dies demonstriert, was in Kenntnis derselben, wie hier dargelegt werden soll, auch Raffael getan hat. Das Spiel wurde zu einer zunehmend maßgeblichen Orientierungsgröße für die künstlerische Produktion, wie u. a. Caravaggios ungemein folgenreiches Falschspielerbild (1595/96, Fort Worth, Kimbell Art Museum) und vor allem sein anarchisches Spiel mit den Codierungen der Malerei bezeugt. Als Gegensatz jeglicher Form des Broterwerbs und der artes mechanicae, den man in der Antike die bildenden Künste zugerechnet hatte, kam dem Spiel in der höfischen Gesellschaft eine eminent legitimierende und nobilitierende Kraft zu. Dies zeigen z. B. Albertis Ausführungen zum hohen Rang der Malerei im Altertum und zahlreichen dilettierenden vornehmen Bürgern, Philosophen, Aldigen und Königen, die größtes Vergnügen daran fanden, selbst zu malen.271 Baldassare Castiglione hat tatsächlich von einer Überlegenheit des Hofes von Urbino gesprochen, die darin gegründet habe, dass »die Spiele, die man zur Erholung für die von den schwierigsten Geschäften ermüdeten Geister erfand, denen überlegen waren, die man an den anderen Höfen Italiens pflegt.«272 Mit dem Hinweis auf das Spiel konnten Adlige die Beschäftigung mit den bildenden Künsten, sogar den »schwarzen Künsten«,

270

Dieses tritt stets in Spätzeiten, z. B. in der Kunst des Manieris-

richt der Laien 1500–1870. Ein Handbuch. Frankfurt/M. 1979,

mus, des Rokokos und der Postmoderne, mit Macht hervor.

S. 73. Das Beispiel machte Schule: Von Elz versah seine Signatur

Zum Spiel siehe Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung

eines Schabkunst-Porträts mit dem Adjektiv »ludens« und Prinz

der Kultur im Spiel (1938). Hamburg 212009; Robert Fajen (Hrsg.):

Rupert verwendete ebenfalls die Formel »lusit«. (Ebda.)

Amüsement und Risiko. Dimensionen des Spiels in der spani-

271

274

Giovanni Atanasio Mosini: Vorwort zu Diverse figure al numero

schen und italienischen Aufklärung. Halle a. d. Saale 2015; Sa-

di ottanta, disegnate di penna nell’hore di ricreatione da Anni-

bine Haag (Hrsg.): Spiel! Kurzweil in Renaissance und Barock.

bale Carracci, intagliate in rame e cavate dagli originali da Si-

Ausst.-Kat. Innsbruck, Schloss Ambras, Wien 2016.

mone Guilino Parigino (1664). In: Denis Mahon: Studies in Seicento Art and Theory. London 1947, S. 259–265.

Alberti: De pictura, (II) 27.

272 Castiglione: 273

rechtfertigen. So hat Ludwig von Siegen, der 1642 das Mezzotinto-Verfahren erfand, sein Schabkunstblatt Die heilige Familie nach Annibale Carracci nicht mit dem üblichen »fecit«, sondern mit der Formel »lusit« (er hat gespielt) signiert, um zu verdeutlichen, er wolle »keine Profession von besagter Kunst […] machen«.273 Die Künstler wiederum konnten, indem sie ihre Werke als Produkte spielerischer Muße auswiesen, z. B. die Behandlung nicht als kunstwürdig erachteter Themen rechtfertigen. Dies zeigen die Diverse figure al numero di ottanta, disegnate di penna nell’hore di ricreatione da Annibale Carracci, intagliate in rame e cavate dagli originali da Simone Guilino Parigino, eine Publikation von Stichen mit Darstellungen der Handwerker Bolognas. Der Titel des 1664 publizierten Werks, dessen Vorwort von Giovanni Atanasio Mosini, alias Giovanni Massani, auch die erste Theorie der Karikatur, eines höfischen divertimento, enthält,274 weist die vorgelegten druckgraphisch reproduzierten Zeichnungen Annibales als Produkt des otium aus: »gezeichnet […] in Stunden der Erholung«. In der Frühen Neuzeit bestand ein schmaler Grad zwischen der Anerkennung und Ablehnung des Spiels.275 Während dieses an den Höfen ein alltäglicher Bestandteil rekreativer Muße war, begegnete man ihm außerhalb derselben vielfach mit Argwohn. Georg Philipp Harsdörffer, der in der Fruchtbringenden Gesellschaft der »Spielende« genannt wurde und ein schier unbegrenztes Vertrauen in das Spiel als Medium der

Libro del Cortegiano, III, 1. (Castiglione 1986,

275

Thomas Kuster: »[…] Spielen macht den Menschen toll […] aber

S. 239f.)

man ist auch guter ding dabey […]«. Für und Wider des Spielens

Zit. n. Wolfgang Kemp: »… einen wahrhaft bildenden Zeichen-

in der frühen Neuzeit. In: Ausstellungskatalog Wien 2016, S. 11.

unterricht überall einzuführen«. Zeichnen und Zeichenunter-

G eselligkeit – Spiel – Kunst

55

Wissensvermittlung hegte, hat angemerkt: »Dieser Nam des Spielenden wird ins gemein für verächtlich / nachtheilig und schimpflich gehalten / als welcher Freyarten / Spitz= und Loderbuben bas gezieme.«276 Während die Denkvermögen, Kombinationsgabe, Vo­ raussicht und strategisches Verhalten trainierenden Verstandesspiele einige Akzeptanz genossen – schon König Alfons X. von Kastilien, genannt der Weise, hatte mit dem Ziel, sie zu fördern, 1283 sein Libro de los juegos verfasst –277 wurden alle Arten des mit Geldeinsatz betriebenen Glückspiels mit Würfeln, Karten etc. scharf kritisiert und in vielen Städten verboten.278 Dass in der Regierungszeit Ludwigs XIV. Autoren wie Jacques de Caillière (1661) und Jean Leclerc (1696) erklärten, gerade im Zufall (hazard) liege die »Seele des Spiels« und Lotterien machten den Menschen aufgrund seiner Geldgier freigebig,279 bahnte den Weg dafür, dass im 18. Jahrhundert staatliche und private Lotterien in ganz Europa veranstaltet wurden.280 Das Spiel wurde insbesondere für die Kunst des Rokoko konstitutiv – wir werden darauf zurückkommen. Wie das Spiel, elementarer Bestandteil der Geselligkeit, einer gewissermaßen ›weichen‹ Form der Vergesellschaftung, erlebte auch diese in der Frühneuzeit

276 277

279

56

quence. Rouen 1621.

Alfons X. »der Weise«: Das Buch der Spiele. Übersetzt und kom282

Walter Sparn: Christ-löbliche Fröhlichkeit. Naturrechtliche und

S. 29.

offenbarungstheologische Legitimationen der Geselligkeit in

Thomas Kuster: »[…] Spielen macht den Menschen toll […] aber

der Frühen Neuzeit. In: Adam 1997, Teil 1, S. 71–92. Die Tragweite

man ist auch guter ding dabey […]«. Für und Wider des Spielens

der oben zitierten Stelle Vallas, auf die Graf 1998 aufmerksam ge-

in der frühen Neuzeit. In: Ausstellungskatalog Wien 2016, S. 15.

macht hat, als einer grundlegenden Legitimation der Gesellig-

Manfred Zollinger: Infam und lukrativ. Das Glücksspiel in der

keit ist von der Forschung, soweit ich sehe, bisher kaum gewür-

frühen Neuzeit. In: Ausstellungskatalog Wien 2016, S. 20. Das Ar-

digt worden. Eine theologische Finalisierung der Geselligkeit

gument Leclercs stellte bereits den Kerngedanken der Ideologie

findet sich auch in frühneuzeitlichen Mythenallegorien, z. B. in

des Wirtschaftsliberalismus dar, dass nämlich der ungehemmt

Johann Ludwig Praschs Dichtungen Die Getreue Alcestis und As-

praktizierte Egoismus der Einzelnen dennoch zum Wohle aller

trea (jeweils Regensburg 1681), die »geistliche Kontrafakturen

führen könne. Zum Zusammenhang des Lotteriewesens mit

weltlicher Formen« darstellen. [Friedrich Vollhardt: Die christ-

dem modernen Kapitalismus siehe Robert Fajen: Einleitung:

liche Liebe und das Naturrecht der Sozialität. Problembezüge

Aufklärung und Spiel. In: Fajen 2015, S. 9.

im Werk von Johann Ludwig Prasch (1637–1690). In: Adam 1997,

280 Manfred 281

artifices. Pièces très nécessaire à ceux qui font profession d’élo-

Harsdörffer 1968/1969, IV, S. 463. mentiert von Ulrich Schädler und Ricardo Calvo, Wien 2009,

278

einen enormen Bedeutungszuwachs. Dass sich der namhafte Jesuit Étienne Binet veranlasst sah, 1621 seinen Essai des merveilles de nature et des plus nobles artifices. Pièces très nécessaire à ceux qui font profession d’éloquence,281 das erste Konversationslexikon, mit dem Ziel zu publizieren, die Konversationskompetenz der Priester zu fördern, lässt darauf schließen, dass er erkannte, dass der Geltungsanspruch der Künder des Wort Gottes in Gefahr geriet, wenn er sich nicht auch auf dem Parkett der Geselligkeit bewährte. Zumal für sie ja auch zahlreiche Beispiele in der Bibel zu finden sind, hat auch die Theologie die Geselligkeit überwiegend als honesta voluptas lizensiert, sich bemüht, sie in rechte Bahnen zu lenken, und sie in der tridentinischen Tradition sogar als Vorschein der sorglosen Existenz der himmlischen communio bewertet.282 Pierre Fortin de la Hoguette hat 1648 die Konversation als das alltäglichste und ehrenvollste Vergnügen des Menschen bezeichnet.283 Die Geselligkeit, die durch »konversationelle Implikaturen« (Herbert Paul Grice), wie z. B. das Kooperationsprinzip und eine gebotene »aufmerksame Leichtigkeit«, »ernsthafte Willkürlichkeit« und »kompetente Inkompetenz« ihre Teilnehmer zur »Glückseligkeit« geleiten

I, S. 284.]

Zollinger: Infam und lukrativ. Das Glücksspiel in der

frühen Neuzeit. In: Ausstellungskatalog Wien 2016, S. 20.

283

Étienne Binet: Essai des merveilles de nature et des plus nobles

284 Marin

Siehe das Zitat eingangs dieses Abschnitts, S. 36. 2001, S. 21f.; siehe auch Herbert Paul Grice: Logic and

E IN LEITUNG

sollte,284 und der ihr eigene sozialutopische Anspruch wurden im 18. Jahrhundert sogar verfassungsrechtlich relevant. Wie schon angesprochen, ersetzte Thomasius das Rechtsprinzip der »vernünftigen Menschennatur« durch das der »geselligen Menschennatur«, »weil die Vernunft selber wesentlich gesellig ist«.285 Jonathan Richardson hat 1719 in seinem Discourse on the Dignity, Certainty, Pleasure and Advantage of the Science of a Connoisseur die medialen Besonderheiten der Malerei, ihre Differenz zur Sprache hervorgehoben, aber gleichwohl die frühneuzeitliche Beanspruchung der bildenden Künste für die Zwecke der Geselligkeit und ihre gemeinsame humanistische Zielsetzung angesprochen:

»The great and chief ends of painting are to raise and improve nature; and to communicate ideas; and not only those which we may recieve otherwise, but such as without this art could not possibly be communicated; whereby mankind is advanced higher in the rational state, and made better; and that in a way easy, expeditious, and delightful.«286

Man sieht: In der Frühneuzeit hat man es mit der Kunst gehalten, wie die sehr kluge und sehr schöne Roxane in Edmond Rostands Cyrano de Bergerac mit der Liebe. Als ihr der auch sehr schöne Christian beteuert: »Ich liebe Sie«, antwortet sie: »Ja, sprechen Sie vom ­Lieben!«287

Conversation. In: Ders.: Syntax and Semantics, Bd. 3, Speech

285

Mauser 1989, S. 13.

Acts. Hrsg. v. Peter Cole und Jerry L. Morgan, New York 1975,

286

Jonathan Richardson: Discourse on the Dignity, Certainty, Plea-

S. 41–58; Ders.: Studies in the way of words. Cambridge/London

sure and Advantage of the Science of a Connoisseur. In: Ders.:

1989; Christoph Strosetzki: Konversation als Sprachkultur. Ele-

Works. London 1773 (Nachdruck Hildesheim 1969), S. 247.

mente einer historischen Kommunikationspragmatik. Berlin 2013.

G eselligkeit – Spiel – Kunst

287

Edmond Rostand: Cyrano von Bergerac (3. Aufzug, 5. Auftritt). Übers. von Ludwig Fulda, Stuttgart 2019, S. 82.

57

KAPITEL I

58

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

FRA ANGELICOS PALA DI SAN MARCO : BEOBACHTUNG ZWEITER ORDNUNG UND DIE ANFÄNGE DES INDIVIDUALSTILS

Fra Angelicos ›Kompromissstil‹

Leon Battista Alberti hat 1435 in De pictura strikt das Gebot der Naturnachahmung vertreten, das bereits sein Zeitgenossen Masaccio (1401–1428) in seinen Pionierwerken konsequent befolgt hatte. Cristoforo Lan­ dino sollte diesen 1480 als »optimo imitatore della natura« loben.1 In einem Passus über bedeutende Florentiner Maler im Vorwort seines Kommentars zu Dantes Göttlicher Komödie schrieb er: »Masaccio war ein sehr guter Nachahmer der Natur mit großartigem rilievo im ganzen, ein guter componitore und puro, ohne ornato, denn er widmete sich ausschließlich der Nachahmung des Wahren und dem rilievo seiner Figuren. Er war genauso gut und begabt in [der] Perspektive wie jeder andere zu seiner Zeit und arbeitete mit großer facilita.«2

Während Landino an gleicher Stelle betonte, dass die Malerei des Fra Filippo Lippi »gratioso et ornato et artificioso sopra modo« sei und die des Fra Angelico »vezosso et divoto et ornato molto«, hob er an Masaccios Werken ihre mittlere, wenn nicht niedere Stilhal-

1

2

tung hervor, die »Schlichtheit ohne Schmuck« (puro sanza ornato), die dieser im Interesse einer »Nachahmung des Wahren« (imitatione del vero) gewählt hatte.3 Beispielhaft zeigt diese Merkmale Masaccios Zinsgroschen (Abb. 12), das um 1426/27 entstandene Fresko in der Brancacci-Kapelle in der Florentiner Kirche Santa Maria del Carmine, ein Werk, an dem sich noch Michelangelo und Raffael geschult und Details desselben in Zeichnungen festgehalten haben.4 Es repräsentiert die Geschichte von der Zahlung der Tempelsteuer, die Christus und die Apostel in Kapernaum zu entrichten hatten (MT 17, 24–27). Im Zentrum der Darstellung ist der Steuereintreiber als Rückenfigur vor Christus und den ihn im Halbkreis umringenden Aposteln zu sehen. Auf seine Forderung hin heißt Christus den über diese erzürnten Petrus am See eine Angel auszuwerfen, im Mund eines gefangenen Fisches werde er ein Zweigroschenstück finden – wie ganz links im Bild zu sehen ist –, mit dem er die verlangte Steuer entrichten solle – was Masaccio rechts im Bild dargestellt hat. Dieses Fresko war gewiss eines der Werke, das Alberti, der in der Widmung der Brunelleschi dedizierten italienischen Fassung seines Malereitraktats Masaccio erwähnt hat,5 wenige Jahre später vor Augen hatte, als er sein Konzept der historia entwickelte.6 Wie er in De

Zit. n. Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei

Albert Museum) entwarf. Siehe Tom Henry/Paul Joannides: Ra-

und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts. Frankfurt/M.

phael and his Workshop between 1513 and 1525. »Per la mano di

1980, S. 145.

maestro Rafaello e Joanne Francesco e Giulio sui discepoli«. In:

Zitiert ebda., S. 146.

Dies. (Hrsg.): Late Raphael. Ausst.-Kat. Madrid, Museo del

3 Ebda. 4

Der heroische Figurenstil der Fresken der Brancacci-Kapelle

Prado, London 2013, S. 28f. 5

war noch für Raffael maßgeblich, als er 1514–1516 die Kartons für die Tapisserien mit den Taten der Apostel (London, Victoria and

Der Prolog an Filippo Brunelleschi ist abgedruckt in: Alberti 2000, S. 363–365.

6

Siehe Rudolf Kuhn: Albertis Lehre über die Komposition als die

59

Abb. 12 Masaccio: Der Zinsgroschen, um 1427, Florenz, Santa Maria del Carmine

pictura fordern sollte, zeigt der Zinsgroschen einen wie durch ein offenes Fenster gesehenen, mit Hilfe der Zentralperspektive konstruierten Bildraum. In diesem agieren monumentale Individualfiguren, die, wie Alberti verlangte, »als wären sie plastisch geformt, […] hervorzutreten scheinen«.7 Zudem ist der komplexe Handlungsablauf seinen Idealen der perspicuitas und claritas gemäß schlüssig nachvollziehbar dargestellt, wobei Masaccio die bewährte Form einer kontinuierenden Erzählung – Petrus und der Zöllner erscheinen jeweils in mehreren Szenen – perspektivisch bündelte in der Figur Christi, dem Gebieter und Zentrum des ganzen Handlungsablaufs. Mit seinem perspektivierten Bildraum, in dem die Figuren festen Stand und eine gera-

Kunst in der Malerei. In: Archiv für Begriffsgeschichte, 28, 1984,

dezu haptische Präsenz gewinnen und die räumlichen Distanzen und Volumina sämtlicher Gegenstände als präzise bestimmte Größen erscheinen, präsentierte sich dieses Fresko als rationalistische Manifestation der Schlichtheit (purezza). Dies zeigt sich auch darin, dass Masaccio das eigentlich Bemerkenswerte der Zinsgroschengeschichte, den mysteriösen Fund des Geldstücks im Maul des Fisches, nur als distanzierte Nebenszene repräsentiert hat. Die Forschung stimmt heute weitgehend darin überein, dass die genannten, in der Handelsmetropole Florenz entwickelten Stilmerkmale Wahrnehmungsdispositionen ihrer merkantilen Gesellschaft bezeugen.8 Damals gab es in Italien keine überregional gültigen

7

S. 123–178; Oskar Bätschmann: Einleitung. In: Alberti 2000, S. 94.

heißt es: »[…] fordern wir vom Maler […] ein Gemälde, das ein

Wie auch Grayson, Clark, Argan, Prinz u. a. betonen, war Albertis Malereitraktat durch die Tradition der Malerei insbesondere

Alberti: De pictura, (II) 46. (Alberti 2000, S. 283.) Ebda., (II) 32 Höchstmaß an Plastizität aufweist«. (Alberti 2000, S. 251.)

8

Zur Geschichte der kunstgeschichtlichen Deutungen des Re-

des frühen Quattrocento vorbereitet. Vgl. auch Peter Krüger: Is-

naissancestils siehe Ulrich Pfisterer: Donatello und die Entde-

toria und virtus bei Alberti. In: Joachim Poeschke/Thomas Wei-

ckung der Stile 1430–1445. München 2002, S. 22ff.

gel/Britta Kusch (Hrsg.): Tugenden und Affekte in der Philo­ sophie, Literatur und Kunst der Renaissance. Münster 2002, S. 204ff.

60

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

Abb. 13  Gentile da Fabriano: Die

Anbetung der Könige (Pala Strozzi),

Florenz, Uffizien

Einheitsmaße, so dass das Taxieren von Warenmengen aller Art eine im Alltag ständig geforderte kognitive Leistung war. Die Kinder des oberen bürgerlichen Standes wurden darin durch einen kaufmännisch orientierten Mathematikunterricht geschult. Am Beispiel Piero della Francescas, der in seinem Traktat De abaco entsprechende geometrische und arithmetische Aufgaben erläutert hat, z. B. wie man am Umfang eines Fasses dessen Inhalt errechnen kann, konnte Michael Baxandall diesen Zusammenhang präzisieren, dass der »kognitive Stil« der Frührenaissance auf der quantifizierenden Wahrnehmung eines pragmatisch kaufmänni-

schen Denkens gründete.9 Die Albertis Traktat so kongeniale Malerei Masaccios, von deren kompromissloser Schmucklosigkeit Landino 1480 bereits mit einer gewissen Reserviertheit berichtet hat,10 war demnach eine Kunst der bürgerlichen Bildungseliten der Florentiner Kommune. Freilich hat schon Aby Warburg die »Kompatibilität« und »Schwingungsweite« der Florentiner Kunstsammler betont,11 die in vielen Fällen Pionierwerke der Frührenaissance in Auftrag gaben, aber auch stilistisch ganz anders geartete Kostbarkeiten anhäuften, z. B. spätgotische Wandteppiche aus den Niederlanden und Frank-

9

Baxandall 1980, S. 105ff.

10

Tatsächlich hat Landino Masaccios Bedeutung als eines Pio-

u. a., Abt. 1, Bd. 1) Berlin 1998, S. 207–212; Ders.: Flandrische Kunst

niers der Zentralperspektive mit der schon zitierten Bemerkung

und florentinische Frührenaissance (1902). Ebda., S. 185–206. Zu

relativiert: »Er war genauso gut und begabt in [der] Perspektive

diesem Leitgedanken Warburgs siehe Martin Warnke: Vier

wie jeder andere zu seiner Zeit«. (Wie Anm. 2.)

Stichworte. In: Werner Hofmann/Georg Syamken/M. Warnke:

11

ten. Studienausgabe. Hrsg. v. Horst Bredekamp, Michael Diers

Siehe z. B. Aby Warburg: Flandrische und Florentinische Kunst

Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg. Frank­-

im Kreise des Lorenzo Medici um 1480 (1901). In: Aby Warburg:

furt/M. 1980, S. 68ff.

Die Erneuerung der heidnischen Antike. (Gesammelte Schrif-

Fra Angelicos › Kompromissstil‹

61

reich, die damals zu den begehrtesten Besitztümern zählten. Die Renaissance war eine Kultur des Reichtums und der Vielfalt,12 und nur wenige Jahre vor Masaccios berühmtem Trinitätsfresko in Santa Maria Novella und dem gemeinsam mit Masolino ausgeführten Petrus-Zyklus in der Santa Maria del Carmine entstand in Florenz mit der 1423 vollendeten Anbetung der Könige (Abb. 13) von Gentile da Fabriano ein Werk, dessen prunkvoller höfischer Stil in deutlichem Gegensatz zur puristischen Ästhetik des Zinsgroschens steht. Für Palla Strozzi, das Oberhaupt eines reichen Florentiner Familienclans gemalt, zeigt die Darstellung der Könige aus dem Morgenland mit ihrer schier unüberschaubaren Gefolgschaft eine verschwenderische, im kostbaren Detail schwelgende Fülle (copia), gegen die sich Alberti im Sinne der Nachvollziehbarkeit der historia mit Nachdruck aussprechen sollte.13 Zu den kunstsoziologisch interessantesten Phänomenen dieser Epoche zählt die weitere Entwicklung der Stilhaltung des früh verstorbenen Masaccio, zum einen, da ihre eigentlichen Fortsetzer der nächsten Generation, Piero della Francesca und Andrea Mantegna, an den Höfen von Urbino und Mantua tätig wurden, zum anderen, weil die Errungenschaften der Avantgarde der 1420er Jahre an ihrem Entstehungsort schon bald da­ rauf zumeist abgemildert, nämlich mit Elementen des höfischen Stils der internationalen Gotik synthetisiert wurden. »Um 1440 sind wichtige Bestellerkreise in Florenz geneigt, die lokal bestimmte, kompromißlose, anti-

12 13

62

und Brunelleschi hinter sich zu lassen und sie in einer gemilderten, gefälligeren und farbenfroheren Version, wie sie etwa Fra Angelico und Domenico Veneziano anboten, aufzunehmen.«14

Martin Warnke hat dieses Phänomen eines »Kompromiss-« bzw. »Vergleichsstils« auf das Unionskonzil von 1338/39 bezogen, bei dem unter dem Druck der osmanischen Bedrohung Konstantinopels erstmals Repräsentanten der West- und Ostkirche zusammenkamen. Nachdem es zunächst in Ferrara getagt hatte, wo man am 4. März 1438 die Ankunft der Griechen mit Kaiser Johannes Palaiologos VIII. und dem Patriarchen gefeiert hatte, wurde das Konzil auf Betreiben von Cosimo de’ Medici 1439 nach Florenz verlegt. Dort wurde es am 6. Juli 1439 mit der Verlesung der Unionsbulle in griechischer und lateinischer Sprache feierlich beendet. 1434 aus dem Exil zurückgekehrt, hatte Cosimo seit 1436 gemeinsam mit Lorenzo de’ Medici die Kirche und den unbewohnbar gewordenen Konvent von San Marco durch den Architekten Michelozzo erneuern lassen. Und 1438 hatte er für den Hochaltar von San Marco, in dessen Klostermauern ein großer Teil der Konzilsabgeordneten untergebracht werden sollte, ein neues Altarbild bestellt, das den irenischen Hoffnungen des Unionskonzils Ausdruck verleihen und seine kosmopolitische Atmosphäre memorieren sollte: die Madonna mit Kind, acht Engeln und den Heiligen Laurentius, Johannes der Evangelist, Markus, Cosmas, Damian, Dominikus, Franziskus und Petrus Martyr (Abb. 14).15

Siehe Terence Cave: The cornucopian text: problems of writing

Berlin 1981, S. 12. Zum Phänomen des »Kompromissstils«, den

in French Renaissance. Oxford 1979.

Warnke auch »Vergleichs-« und »Konzilsstil« nannte, siehe auch Warnke 1985, S. 66f.

Alberti: De pictura, (II) 39f., bes. 40: »Gewiss, ich verabscheue Leere in einem Vorgang (historia); trotzdem kann ich eine Fülle

14

kisierende Pionierkunst der Masaccio, Donatello

15

Dass der Auftrag 1438 erging, ist sehr wahrscheinlich: In einem

nicht loben, die sich nicht mit Würde verträgt. Und in einem

Brief an Piero de’ Medici vom 1. April 1438 empfahl sich Dome-

Vorgang heiße ich mit Nachdruck das gut, woran sich nach mei-

nico Veneziano für die Mitarbeit an dem von Cosimo geplanten

ner Beobachtung die Dichter von Tragödien und Komödien hal-

großen Altarbild mit der Begründung, dass Filippo Lippi und

ten: das Prinzip nämlich, mit möglichst wenigen Personen ein

Fra Angelico z.Zt. sehr beschäftigt seien. Wahrscheinlich Ende

Stück auf die Bühne zu bringen.« (Alberti 2000, S. 267.)

1438, nachdem der Auftrag an Fra Angelico ergangen war, ver-

Martin Warnke: Vorwort. In: Carlo Ginzburg: Erkundungen über

sprachen Cosimo und Lorenzo dem Dominikanerkonvent in

Piero. Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance.

Cortona das 1402 von Lorenzo di Niccolò gemalte Polyptichon

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

Abb. 14  Fra Angelico: Madonna

mit Kind und Heiligen (Pala di

San Marco), 1438–1442, Florenz, Museo di San Marco

Das nämliche Werk von Fra Angelico, dem frommen Hausmaler des Dominikanerordens, der später Hofmaler von Papst Eugen IV. und sodann Prior von San Marco werden sollte, zählt zu den frühesten Beispielen der Renaissance-Pala, also des rechteckigen, von Pilastern ge-

rahmten Bildes, das die Form des gotischen Polyptichons ablöste, und der sogenannten Sacra conversazione, einem Bildtypus, bei dem eine Reihe von Heiligen die thronende Madonna mit dem Kind flankieren. Die Errungenschaften Masaccios sind auch in dieses Ge-

mit der Marienkrönung (Cortona, San Domenico), das bis dahin

6. Januar 1443, an dem Papst Eugen IV. Kirche und Konvent feier-

den Hochaltar schmückte. [Magnolia Scudieri: La Pala di San

lich weihte. [Laurence Kanter: The High Altarpiece from San

Marco: apogeo della committenza medicea e manifesto della

Marco (Kat.-Nr. 34). In: Ders./Pia Palladino: Fra Angelico.

tradizione domenicana. In: Cristina Acidini/Magnolia Scudieri

Ausst.-Kat. New York, Metropolitan Museum. New York 2005,

(Hrsg.): L’Angelo ritrovato. Studi e ricerche per la Pala di San

S. 190f.; Scudieri 2008, S. 49.] Unbezweifelt ist der Zusammen-

Marco. Ausst.-Kat. Florenz, Museo di San Marco, Livorno 2008,

hang mit dem Unionskonzil. Hood betont, dass die in dem Tep-

S. 43f.] Entgegen Warnkes Vermutung, dass die Pala di San

pich vor dem Thron Mariens sichtbaren Tierkreiszeichen der

Marco noch vor der Abreise der Konzilsabgeordneten vollendet

Fische und des Krebses auf die Zeitspanne hinweisen, in der das

und an seinem Bestimmungsort war (Warnke 1981, S. 12), geht

Konzil in Florenz tagte. (William Hood: Fra Angelico at San

die jüngerer Forschung von einer Entstehungszeit von 1438 bis

Marco. New Haven/London 1993, S. 116.)

1441 oder gar 1442 aus – ein sicherer Terminus ante quem ist der

Fra Angelicos › Kompromissstil‹

63

mälde eingegangen, welches sie freilich in gefälliger Form zeigt. Seine Beherrschung der Zentralperspektive hat Fra Angelico in der Architektur der Thronnische und den fluchtenden Linien des davorliegenden anatolischen Teppichs demonstriert. Wahrscheinlich stand ihm dabei Alberti hilfreich zur Seite.16 Doch die so erzeugte räumliche Tiefe und die Plastizität der Figuren (rilievo) werden eingeschränkt durch die Flächenwirkung der glänzenden, reichgemusterten Textilien, der kostbaren Kleider und Stoffe, die den Auftritt des heiligen Bildpersonals vornehm untermalen und seinen Aktionsraum abgrenzen. Damit stellt dieses Gemälde eine Synthese der Stilhaltungen der angeführten Werke Masaccios (Abb. 12) und Gentile da Fabrianos (Abb. 13) dar und weist Merkmale auf, die Landino in der schon zitierten Quelle mit den Attributen divoto, vezosso (anmutig, geziert) und ornato molto charakterisiert hat.

Abb. 15  Fra Angelico: Madonna mit Kind und Heiligen (Pala di San Marco), Detail

Besondere Aufmerksamkeit verdient ein Detail dieses Altarbildes, das fingierte kleine Andachtsbild mit der Darstellung der Kreuzigung Christi, das bildmittig an seinem unteren Rand erscheint (Abb. 15). Da man solche Gnadenbilder oder auch kleine Kruzifixe damals auf der Altarmensa aufstellte und während der Liturgie den Gläubigen zum Kuss reichte,17 musste ein zeitgenössischer Betrachter dieses zunächst für eine Realie halten und erst bei genauem Hinsehen seinen fiktiven Charakter erkennen. Durch dieses trompe l’œil bewies

Fra Angelico eine Raffinesse in der Ausübung seiner illusionistischen Fähigkeiten, wie sie Plinius d. Ä. von Zeuxis und Parrhasios überliefert hat. In einem Wettstreit der beiden, so ist in der Historia naturalis zu lesen,18 hatte Zeuxis Trauben gemalt, die so täuschend echt aussahen, dass Vögel herbeiflogen und nach ihnen pickten. Als er dann voller Stolz seinen Kontrahenten aufforderte, den Vorhang vor seinem Gemälde zurückzuziehen, musste er erkennen, dass dieser gemalt war. Zeuxis hatte die Tiere, der siegreiche Parrhasios aber sogar seinen Malerkollegen zu täuschen vermocht. Die ebenfalls vorgetäuschten Vorhänge, die links und rechts vom oberen Rand der Pala di San Marco herabzuhängen scheinen, sind, wie auch diejenigen in Raffaels Sixtinischer Madonna (Abb. 59), als ein Offenbarungsbzw. Enthüllungs- (revelatio) und Mariensymbol zu

16

Spike nimmt an, dass Fra Angelico mit Alberti, der 1439–43 mit

17

Hood 1993, S. 110.

Eugen IV. in Florenz war, in Kontakt stand und bei den Perspek-

18

Plinius: Historia naturalis, XXXV, 64–65.

tivdarstellungen der Pala di San Marco das von diesem erfun-

19

Siehe Johann Konrad Eberlein: Apparitio regis – revelatio verita-

Trompe l’œil, interne Dialogizität und Heteroglossia

dene »Gradnetz« (griglia quadra) benutzt hat. (John T. Spike:

tis. Studien zur Darstellung des Vorhangs in der bildenden

Fra Angelico. München 1997, S. 52ff.) Obwohl Bonsanti eine sol-

Kunst von der Spätantike bis zum Ende des Mittelalters. Wies-

che Zusammenarbeit bezweifelt (Giorgio Bonsanti: Beato Ange-

baden 1982; Ders.: The Curtain in Raphael’s Sistine Madonna. In:

lico. Catalogo Completo. Florenz 1998, S. 144), wird sie heute überwiegend angenommen; vgl. Scudieri 2008, S. 46; Monique

64

The Art Bulletin, 65/1, 1983, S. 61–77. 20

Die Forschung hat dem trompe l’œil bisher kaum Aufmerksam-

Dubois: Zentralperspektive in der florentinischen Kunstpraxis

keit geschenkt und es nicht auf die von Plinius überlieferte An-

des 15. Jahrhunderts. Petersberg 2010, S. 37.

ekdote bezogen. Für deren Relevanz spricht aber auch Raffaels

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

verstehen,19 spielen aber – und dies hat die Forschung bisher nicht erkannt – zudem auf den gemalten Vorhang des Parrhasios an und lassen keinen Zweifel daran, dass Fra Angelico – soweit ich sehe, als erster Künstler überhaupt – selbstbewusst auf die antike Anekdote Bezug nahm, als er mit dem fingierten Bildtäfelchen den Effekt einer Augentäuschung beabsichtigte.20 Dieser sollte die Betrachter einen rezeptiven Prozess der Täuschung und Enttäuschung (inganno e disinganno) durchlaufen lassen und sie so zur Reflexion der medialen Bedingtheit des Dargestellten anhalten. Gemeinsam mit dem Motiv der geöffneten Vorhänge, das den Offenbarungscharakter der Pala betont, dient die zu durchschauende Augentäuschung also einer Selbstentlarvung der Fiktion, des illusionären Scheins des Altarbildes, die seiner mündigen, reflektierten Rezeption zugutekommen und damit auch jeglichem Idolatrieverdacht begegnen sollte. Solche Bilder in Bildern waren seinerzeit ein verbreitetes Phänomen. An Altarbildern von Jan van Eyck, Rogier van der Weyden und Andrea Mantegna hat Wolfgang Kemp Formen des sogenannten »embedding« analysiert, von fiktiven Bildern, die als ein inneres, zweites Register häufig Präfigurationen der Haupthandlungen und diese ergänzende Suberzählungen repräsentieren.21 So hat z. B. Andrea Mantegna in seiner Beschneidung Christi (Abb. 16) die Symbolik dieser Handlung durch die fingierten Reliefdarstellungen der Opferung Isaaks und von Moses mit den Gesetzestafeln analogisch verdeutlicht, wobei es sich bei dem MosesMotiv nicht um einen kanonischen Typus (Präfiguration) der Beschneidung Christi handelt.22 Mit Blick auf die Auflösung des typologischen Denkens und die Formierung des »klassischen Textes« (Jacques Derrida) macht Kemp für dieses Phänomen eines internen Dia-

Rezeption der Pala di San Marco in seiner Sixtinischen Ma-

Abb. 16  Andrea Mantegna: Die Beschneidung Christi, um 1461, Florenz, Uffizien

21

Wolfgang Kemp: Praktische Bildbeschreibung. Über Bilder in

donna, in der ebenfalls das Vorhangmotiv mit einem trompe

Bildern, besonders bei van Eyck und Mantegna. In: Boehm/Pfo-

l’œil kombiniert ist, nämlich der in der linken unteren Ecke des

tenhauer 1995, S. 99–119.

Gemäldes vorne auf der Brüstung postierten Tiara, die von einer gesonderten Lichtquelle beleuchtet wird.

22

Ebda., S. 101. Siehe auch Sabine Blumenröder: Andrea Mantegna – die Grisaillen. Malerei, Geschichte und antike Kunst im Paragone des Quattrocento. Berlin 2008, S. 85ff. u. 129ff.

T ro mpe l’œ i l, i n t ern e D i alo gi zität u n d H e t eroglossia

65

Abb. 17  Giotto: Capella Scrovegni,

Blick zur Triumphbogenwand und zum Chor

logs der Bilder den Begriff der »Heteroglossia« fruchtbar, mit dem Michail Bachtin das pluralistische Denken der Renaissance charakterisiert hat.23

tionen auszudrücken, dies aber in gebrochener Weise. Solche Rede stellt einen besonderen Typus des zweistimmigen Diskurses dar. Sie dient zwei Sprechern zur gleichen Zeit und drückt simultan

23

66

Die Heteroglossia ist »eines anderen Rede in eines

zwei Intentionen aus: die direkte Intention der Per-

Anderen Sprache, zu dem Zweck auktoriale Inten-

son, die spricht, und die gebrochene Intention des

Kemp 1995, S. 108f.; Michail M. Bachtin: L’œuvre de François Ra-

sance. Paris 1970; Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt/M.

belais et la culture populaire au Moyen âge et sous la Renais-

1979.

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

Autors. In solch einem Diskurs gibt es zwei Stimmen, zwei Meinungen, zwei Ausdrucksformen. Und die ganze Zeit, während diese beiden Stimmen dialogisch aufeinander bezogen sind, wissen sie voneinander […] es ist, als ob sie sich unterhalten.«24

Solche unterschiedlichen Bildregister findet man auch bereits in spätmittelalterlichen Bildsystemen. So hatte schon Giotto in den Fresken der Arena-Kapelle in Padua die illusionistischen Möglichkeiten der Malerei demonstriert, indem er mit ihren Mitteln Architektur – Pilaster, Stützen, Gesimse, Gurte sowie die illusionistisch gemalten Sakristeiräume (Abb. 17) auf beiden Seiten der Triumphbogenwand – und auch Skulpturen vortäuschte.25 Unter den farbigen Historien sind in der Sockelzone der Cappella degli Scrovegni mit den Mitteln der Malerei Marmorplatten und zwischen diesen Nischen mit Skulpturen der Tugenden und Laster fingiert. Bei Letzteren handelt es sich um die ersten Grisailledarstellungen der nachantiken Malerei. Die ambitioniertesten von ihnen, diejenigen der thronenden Iustitia und Iniustitia (Abb. 18), weisen zudem an ihrem unteren Rand fiktive Reliefs mit Szenen des friedlichen Zusammenlebens und verbrecherischer Taten auf, die man auf Vorbilder der französischen Kathedralskulptur zurückgeführt hat. Das mit dieser Grisaillemalerei gewonnene Differenzierungsmittel und somit eine modal unterscheidende Formvariabilität zählt neben der Verräumlichung des Bildes und bildrhetorischen Mitteln wie ausdrucksstarken Affektdarstellungen und Rezeptionsfiguren26 zu den bedeutenden Innovationen der Bildsprache Giottos. An ihr lassen sich bereits Ansätze einer Selbstreflexion der Malerei feststellen, nämlich eine Hervorhebung ihrer Leistungsfähigkeit u. a. durch die fingierte Polyphonie verschiedener Bildmedien und damit eine Hervorhebung der Medialität und des Zei-

24 25

Abb. 18 Giotto: Die Ungerechtigkeit, um 1305, Padua, Capella Scrovegni

chencharakters der Gemälde, ihrer Unsichtbares im Sichtbaren verdeutlichenden, in neuem Maße mimetischen Bildsprache. Die Malerei Giottos bezeugt den einsetzenden Prozess einer »Freigabe des Vielfältigen durch den linguistic turn des Nominalismus, der die sprachliche Bezeichnung nicht mehr als eine Wesenszuschreibung verstand, sondern allein noch als Hilfs-

Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt/M. 1979,

Constanze Peres/Reinhard Steiner/Ludwig Tavernier (Hrsg.):

S. 213. Zit. bei Kemp 1995, S. 108f.

Die Trauben des Zeuxis. Formen künstlerischer Wirklichkeits-

Siehe Reinhard Steiner: Paradoxien der Nachahmung bei Giotto.

aneignung. Hildesheim/Zürich/New York 1990, S. 61–85; Blu-

Die Grisaillen der Arenakapelle zu Padua: In: Hans Körner/

menröder 2008, S. 143ff.

T ro mpe l’œ i l, i n t ern e D i alo gi zität u n d H e t eroglossia

67

mittel, um der Vielheit des Seienden immer neu provisorisch Herr zu werden«.27 Die Anreicherung mit der sichtbaren Welt unterscheidet sie von der signitiven Bildsprache des Früh- und Hochmittelalters,28 deren Ausdrucksmittel, z. B. der Bedeutungsmaßstab, allmählich aufgegeben wurden – später sollte vor allem die Zentralperspektive dagegen ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten geltend machen, mit der alle Ausdrucksmittel prinzipiell dem Gebot des verosimile der Raumillusion unterworfen wurden. In der Altarmalerei des 15. Jahrhunderts kontinuierten solche unterschiedlichen Bildregister: Klappaltäre wiesen vielfach farbige Innen- und nur durch Grisaillemalereien geschmückte Außenseiten auf. Auch die neue Form der Pala und die sie ergänzenden Bildtafeln in der Predella und den seitlichen Pilastern führten eine abwechslungsreiche Vielfalt von lebendigen Bilderzählungen und statuarischen Figuren vor Augen. Das Einzelbild – dies muss man sich bewusstmachen – war seinerzeit ein Ausnahmefall. Wie Kemp gezeigt hat, lässt sich an der Entwicklung solcher Bildsysteme der Übergang vom typologischen Denken, das in seiner Spätzeit eine expansive Entformalisierung erlebte, zum differenzbewussteren klassischen Denken nachvollziehen. Zugleich drängte das in ihnen entwickelte Neben- und Miteinander verschiedener modi auf die Reflexion des Stils, der im Quattrocento, wie die zitierten Ausführungen von Landino belegen, zunehmend als eine dem Künstlerindividuum zurechenbare Größe angesehen wurde.29 Betrachten wir in dieser Hinsicht noch einmal Andrea Mantegnas Beschneidung Christi (Abb. 16), so sehen wir in diesem Gemälde einen fingierten Medien-

26

27

wechsel, ein Nebeneinander von farbiger und Grisaillemalerei, durch das Sphären des ›Wirklichen‹ und skulpturaler Bilder geschieden sind. Diese vorgetäuschte mediale Differenz akzentuiert im Sinne des biblischen und christlich-mittelalterlichen Geschichtsverständnisses den Unterschied zwischen den alttestament­lichen Epochen ante legem und sub lege, denen die als Relief erscheinende Opferung Isaaks und Moses mit den Gesetzestafeln zuzurechnen sind, und der ihnen folgenden, mit der Geburt Christi einsetzenden neutestamentlichen Epoche der Gnade (sub gratia), in der sich die farbig dargestellte Beschneidung Christi ereignete. Da das Miteinander dieser differenten Bilder ein analogisches ist, nämlich die Ähnlichkeit der dargestellten Ereignisse und damit eine eschatologische Sinnpermanenz veranschaulicht, ist es nicht erstaunlich, dass zwischen ihnen zwar ein vorgetäuschter Medienwechsel, aber keine nennenswerte stilistische Differenz festzustellen ist. Anders verhält sich dies bei der Pala di San Marco und der ihr integrierten Kreuzigung Christi. Die Bedeutung dieses Bildelements erschließt sich vollständig nur, wenn man berücksichtigt, dass der Altar von San Marco in seinem ursprünglichen Zustand weitere Bildtafeln in der Predella und auch in den rahmenden Pilastern umfasste (Abb. 19).30 Die heute auf verschiedene Museen verteilten Predellentafeln zeigen Szenen aus dem Leben der Heiligen Cosmas und Damian, denen der neue Hochaltar in San Marco geweiht wurde und die auch im Vordergrund der Pala dargestellt sind: Auf dem Teppich vor dem Thron Mariens kniend, dessen Bordüren die roten palle aus dem Wappen der Medici zieren, repräsentieren sie in gewisser Weise Cosimo

Zu diesen Merkmalen, die bereits Alberti in seiner Beschreibung

sée du signe remplace celle du symbole«. (Ebda., S. 116.) Zu dem

von Giottos Navicella hervorgehoben hat (De pictura, II, 42),

epistemologischen Bruch um 1300 siehe auch Joachim Küpper:

siehe Krüger 2002a, S. 203ff.

Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Calderon. Untersu-

Karlheinz Stierle: Spectaculum. Der Blick auf die Welt bei Pe­

chungen zum spanischen Barockdrama. Mit einer Skizze zur

trarca und Jan van Eyck. In: Rosen/Krüger/Preimesberger 2003,

Evolution der Diskurse in Mittelalter, Renaissance und Manie-

S. 123. 28

Vgl. Luhmann 1995, S. 271ff., bes. S. 274f.; Julia Kristeva: Semeio-

Zur diesbezüglichen Bedeutung der oben zitierten Quelle, mit

tikè: Recherches pour une sémanalyse. Paris 1969, S. 116ff., die

der nach Pfisterer die Geburt des Individualsstils besiegelt war,

betont: »La deuxième moitié du Moyen Age (XIIIe–XVe siècle)

siehe Pfisterer 2002, S. 77ff.

est un période de transition pour la culture européenne: la pen-

68

rismus. Tübingen 1990, S. 277. 29

30

Dass ursprünglich auch die Pilaster kleine Bildtafeln trugen,

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

Abb. 19  Fra Angelico: Madonna

mit Kind und Heiligen (Pala di San

Marco), ursprünglicher Zustand

und Lorenzo de’ Medici, die Erneuerer von San Marco.31 Im Zentrum der Predella aber befand sich eine Darstellung der Grablegung Christi (Abb. 20), die den Leichnam Christi frontalansichtig zeigt.32 Dieses Bild des

toten Leibes, das der Herrlichkeit Christi in der Darstellung der Pala kontrastierte, in der er mit der Erdkugel in der Linken als Schöpfer und Herrscher der Welt erscheint, verwies auf die Eucharistie, auf das am Haupt-

steht seit der Wiederauffindung zweier solcher Tafeln außer

nus und Augustinus (Paris, Louvre) zurück, die Fra Filippo Lippi

31

Frage. Siehe Ausstellungskatalog Florenz 2008.

seit 1437 für die Barbadori-Kapelle in Santo Spirito ausgeführt

Siehe Scudieri 2008, S. 44, die betont, dass beide Figuren gleich-

hat. (William Hood: [Artikel] Fra Angelico. In: Lana Turner

wohl keine Porträtähnlichkeit mit den Genannten aufweisen.

(Hrsg.): The Dictionary of Art. Reprinted with minor correcti-

Das Motiv der beiden im Vordergrund Knienden geht wahr-

ons, London 1998, Bd. 2, S. 34.)

scheinlich auf die Madonna mit Kind und den Heiligen Fredia-

T ro mpe l’œ i l, i n t ern e D i alo gi zität u n d H e t eroglossia

32

Zu diesem Typus, den später auch Rogier van der Weyden (Flo-

69

Abb. 20  Fra Angelico: Grablegung

Christi, 1438–40, München,

Alte Pinakothek

altar von San Marco zelebrierte Messopfer.33 Ursprünglich umfasste der Altar also die in seiner Mittelachse übereinander angeordneten Darstellungen der Pala mit Maria und dem segnenden Christuskind zuoberst (Abb. 14), der als fiktives Bild erscheinenden Kreuzigung (Abb. 15) und schließlich der Grablegung Christi in der Predella (Abb. 20). Gemeinsam repräsentierten sie in konsekutiver Folge Stationen des Erdenlebens Christi und damit Gottes Gnadenerweis seiner Menschwerdung und des heilbringenden Kreuzestodes (Abb. 19).34 Da diese drei Darstellungen alle Szenen aus dem Leben Christi, also der Epoche sub gratia zeigen, liegt der Schluss nahe, dass der besondere Status des fiktiven Bildtäfelchens nicht durch ein theologisches Differenzkriterium motiviert war, sondern, wie schon erwähnt,

durch die Anekdote vom Wettstreit der antiken Maler Zeuxis und Parrhasios. Freilich hat Fra Angelico es nicht bei dieser subtilen Referenz auf die profane Kunst der Antike belassen, sondern die fiktive Bildtafel zudem genutzt, um durch sie einen inneren Dialog der Bilder zu eröffnen, der um Fragen der religiösen Funktion seines Kunstwerks und einen ihr angemessenen stilistischen Habitus kreist. Auf paradoxe Weise ist die Kreuzigung ein integraler Bestandteil des Altarbildes und zugleich ein exponierter ›Fremdkörper‹, eingegliedert in die Darstellung der Pala, oberhalb der zentralen Predellentafel, die er beide inhaltlich ergänzt und sich von ihnen zugleich in auffälliger Weise stilistisch unterscheidet. Denn wie auch die kleinen Bildtafeln mit Heiligen in den Pilastern

renz, Uffizien) und Michelangelo (London, National Gallery) in

ramentaler Realismus von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch.

ihren Altarbildern mit der Grablegung Christi aufgreifen sollten, 33

Hood 1993, S. 110.

The Young Michelangelo. Ausst.-Kat. London, National Gallery,

34

Zu dem Bezug des Altarbildes auf das Fest der Epiphanie siehe

London 1994, S. 57; Heike Schlie: Bilder des Corpus Christi. Sak-

70

Berlin 2002, S. 192ff.

siehe Michael Hirst: The Entombment. In: Ders./Jill Dunkerton:

ebda., S. 97.

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

weist die fiktive Darstellung der Kreuzigung einen Goldgrund auf – ein Erbe der mittelalterlichen Malerei. Durch seine traditionellen, beharrenden Stilmerkmale steht das fiktive schlichte Gnadenbild in einem spannungsvollen Verhältnis zur Pala, die das himmlische Bildpersonal in einem irdischen, den Gesetzen der Perspektive unterworfenen Bildraum zeigt, ja es unterstreicht antithetisch deren stilistische Neuerungen. Laurence Kanter hat betont, dass das Altarbild und seine Predellentafeln mit ihren Perspektivräumen einen Bruch mit Fra Angelicos Werken der 1430er Jahre darstellten und zugleich Grundlage für sein weiteres Schaffen wurden.35 Umso mehr gilt es, den dezidiert altertümlichen Stil der Kreuzigung hervorzuheben,36 eines einfachen Bildtäfelchens, wie sie damals in Florenz in großer Zahl für den Export produziert wurden.37 Als die erste Renaissance-Pala auf einem Hauptaltar einer Dominikaner-Kirche stellte die Pala di San Marco in ihrer Zeit eine durchaus kühne Neuerung dar.38 Bei der gewählten Form der pala quadrata wusste sich Fra Angelico im Einklang mit Brunelleschi, der diese für die Altäre von Santo Spirito und San Lorenzo favorisierte.39 Zugleich entsprach die Pala di San Marco kunsttheore-

tischen Maximen Albertis, mit dem der Maler, wie schon erwähnt, wahrscheinlich seit 1439 in Kontakt stand,40 u. a. seiner Definition des Bildes als fenestra aperta. Auch die Inszenierung des dem Betrachter zugewandten Heiligen Cosmas als intercessor entspricht Albertis Forderung nach solchen Rezeptionsfiguren.41 Doch dieser hatte sich in De pictura gemäß dem antiken Leitsatz »opere superante materiam«42 mit Nachdruck gegen den Goldgrund ausgesprochen: Solche Maler, »die in der Verwendung von Gold durchaus maßlos sind, weil sie meinen, Gold verleihe dem Vorgang so etwas wie Erhabenheit (maiestatem)«, könne er nicht loben.43 Kunstfertigkeit sei höher zu bewerten als der bloße Materialwert. Viel größere Bewunderung und Lob erheische der Maler durch die Verwendung von Farben, zumal das Gold auch den folgenden Effekt mit sich bringe:

35

38

36

Laurence Kanter: The High Altarpiece from San Marco. In: Aus-

»Trägt man Gold auf eine ebene Unterlage auf, so erscheinen die meisten Flächen, die man hell und glänzend hätte darstellen sollen, den Betrachtern dunkel, während andere, die vielleicht eher schattig hätten sein müssen, eher lichtüberflutet daliegen.«44

dass die Pala eine »posizione culturale di estrema avanguardia«

Fra Angelico hat vor und nach der Pala di San Marco jeweils eine

vertrat, wie dies Magnolia Scudieri formuliert hat (Scudieri

Kreuzigung mit Goldgrund gemalt: die um 1421/22 entstandene

2008, S. 44). 39

Laurence Kanter: The High Altarpiece from San Marco. In: Aus-

die wohl zwischen Dezember 1445 und Februar 1447 entstan-

40

Siehe oben, Anm. 16.

dene Kreuzigung mit Maria, Johannes und dem Stifter, Kardinal

41

Alberti: De pictura, (II) 42.

Torquemada (Cambridge/Mass., Fogg Art Museum). [Siehe

42

Ovid: Metamorphosen, II, 5. Bereits Plinius d. Ä. hatte entschie-

Kreuzigung mit Maria, dem Evangelisten, Magdalena, zwei Engeln und einem Pelikan in einer Baumkrone (Privatbesitz) und

37

Hood 1993, S. 98. Ich würde allerdings nicht davon sprechen,

stellungskatalog New York 2005, S. 191 (Kat.-Nr. 34).

stellungskatalog New York 2005, S. 191.

Ausstellungskatalog New York 2005, S. 76 (Kat.-Nr. 12) und

den den Standpunkt vertreten, der Kunstwert sei höher zu be-

S. 223ff. (Kat.-Nr. 39).] Diese Bildtafeln, die ehemals Teile kleiner

werten als der Materialwert. (Plinius d. Ä.: Naturalis historia,

Triptychen waren, sind allerdings erheblich größer – sie messen

XXXIII, 4; XXXV, 2, 4f. und 50; siehe hierzu Thomas Raff: Die

in der Höhe 63,5 cm u. 88 cm – und differenzierter ausgeführt.

Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe. Münster [u. a.] 2008, S. 28ff.)

Wir wissen, dass der Händler Datini solche für die häusliche Andacht bestimmten Bildtäfelchen minderer Qualität in Florenz

43

Alberti, De pictura, (II) 49. (Alberti 2000, S. 291.)

anfertigen ließ, um sie in Frankreich abzusetzen. (Alessandro

44

Ebda. An anderer Stelle erklärte Alberti, der Materialwert sei un-

Conti: Die Entwicklung des Künstlers. In: Luciano Bellosi/En-

erheblich, eine von Phidias oder Praxiteles gemachte Statue sei,

rico Castelnuovo u. a.: Italienische Kunst. Eine neue Sicht auf

selbst wenn sie aus Blei wäre, mehr wert als eine entsprechende

ihre Geschichte. Wien 1988, Bd. 1, S. 200.)

Menge rohen Silbers. [Alberti: De pictura, (II) 25; siehe auch ders.: De re aedificatoria, VII, 17.]

T ro mpe l’œ i l, i n t ern e D i alo gi zität u n d H e t eroglossia

71

Alberti betonte also, dass der Licht reflektierende ortlose Glanz aufgelegten Blattgoldes die Raumillusion der Malerei beeinträchtigt oder gar aufhebt. Bezieht man Fra Angelicos fiktive Bildtafel auf seine Kritik, so wäre sie als ein Beispiel einer überkommenen Darstellungsform zu verstehen, das die Modernität der Pala umso deutlicher hervortreten lässt. Sie wäre damit das Mittel einer Amplifikation ihrer ästhetischen Qualitäten, das integrierte, stilistisch altertümliche Devotionsbild ihr Diminutiv, gewissermaßen eine Minimalform des religiösen Bildes, die der Modernität und ästhetischen Qualität der Pala Evidenz verleiht. Besagte ein seit dem Mittelalter geläufiger Topos, dass die indocti und ignorantes an einem Bild nichts anderes außer dem, was sie sehen, nämlich den schieren religiösen Inhalt, verehrten,45 wollte Fra Angelico demnach – ganz im Sinne Albertis – sein Publikum zu einer ästhetischen Distanz verhelfen, die es ihm erlaubte, in diesem Objekt seiner religiösen Verehrung auch ein Kunstwerk zu erblicken. Diese Schlussfolgerungen sind sicherlich schlüssig und erhellen dennoch nicht die ganze Wahrheit. Die gemeinsame religiöse Funktion und thematische Nähe der Pala und der ihr integrierten Kreuzigung waren augenscheinlich nachrangige Kriterien, die ihre stilistische Differenz nicht erklären. In Hinsicht auf diese ist zu betonen, dass das Kreuzigungsbild mit dem Goldgrund der Darstellung der Pala nicht nur different, sondern auch ähnlich ist. Fra Angelico war sich gewiss darüber im Klaren, dass der Stil seines Altarbildes nicht dem Purismus Masaccios und auch den Vorstellungen Albertis nur in Grenzen entsprach. Denn eben der Effekt, den dieser als kritisches Argument gegen die Verwendung von Blattgold vorgebracht hat, dass dessen Glanz die Raumillusion perspektivischer Darstellungen irritiert, lässt sich auch an ihm studieren. Die kostbaren goldfarbenen Textilien und auch der helle Vorhang hin-

ter dem Thron der Madonna reduzieren die Perspektivwirkung der fluchtenden Orthogonalen in der Mus­ terung des Teppichs und an den Kanten der Thron­ architektur. Dasselbe gilt für die Heiligenscheine, das symbolische Zeichen für die Aura der Heiligen, das Masaccio im Zinsgroschen (Abb. 12) verdinglicht, wie eine Realie behandelt, nämlich mit gelber Farbe dargestellt und perspektivisch verkürzt hatte. Fra Angelico hingegen repräsentierte sie in konventioneller Weise durch auf der Bildfläche aufgetragenes Blattgold. Mit solchen Traditionalismen und einer im kostbaren Material schwelgenden Ästhetik knüpfte er an den höfischen Stil z. B. eines Gentile da Fabriano an (Abb. 13) und synthetisierte diesen mit den Errungenschaften Masaccios. Stellt man dies in Rechnung, so lässt sich die integrierte Bildtafel auch als Argument gegen Alberti auffassen, als ein Bildelement, mit dem Fra Angelico sein Werk an die Tradition zurückband. Demnach wäre die fiktive Darstellung als ein bewährtes, durch sein Alter geadeltes, die eigene Schöpfung autorisierendes Bild zu verstehen. Diese doppelte Lesbarkeit der kleinen fiktiven Bildtafel zeigt, dass sich Fra Angelico offenbar genötigt sah, sich vor einem räsonierenden Publikum in einem Spannungsfeld antagonistischer ästhetischer Optionen zu positionieren. Dabei scheint er sich mit seinem »Kompromissstil« (Warnke) um moderate Neuerungen bemüht zu haben. Der Hausmaler der Dominikaner, der, wie Georges Didi-Huberman gezeigt hat, im spätscholastischen Denken geschult war,46 war kein strikter Verfechter der neuen Ästhetik der Frührenaissance.47 Den reflektierten Einsatz seines stilistischen Habitus hat er durch die fiktive, in einer anderen Bildsprache ausgeführte Bildtafel akzentuiert, die im Kontext der Pala und der zentralen Predellentafel den beiden angeführten Auslegungsmöglichkeiten offenstand. Merkwürdig oszillierend, regt das so raffinierte und zugleich

45

47

46

In den Libri Carolini hieß es: »Indocti […] nihil aliud in his prae-

Wie die Inschrift seines Grabes in Santa Maria sopra Minerva in

ter id, quod vident, venerantur et adorant«. (Evert F. van der

Rom (siehe unten, S. 82) bezeugt, hat Fra Angelico den Konflikt

Grinten: Elements of Art Historiography in Medieval Texts. Den

zwischen Künstlerstolz und christlichem Demutsgebot durch-

Haag 1969, Nr. 238.)

lebt. Siehe hierzu auch Kunibert Bering: Fra Angelico. Mittel­

Georges Didi-Huberman: Fra Angelico: dissemblance et figura-

alterlicher Mystiker oder Maler der Renaissance? Essen 1984.

tion. Paris 1990.

72

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

so lapidar in Erscheinung tretende Devotionsbild beide Lesarten an, die jeweils für sich logisch schlüssig sind und doch einander ausschließen: Ein Anhänger der Pionierkunst der Frührenaissance wird es in malo, als Kontrastbeispiel für den neueren Fortschritt der Künste gedeutet haben, ein Traditionalist hingegen in bono, als Bekräftigung der Einsicht, dass man heilige Stoffe in einem reichen, kostbaren Stil darstellen müsse.

Koinzidenz der Gegensätze, Beobachtung zweiter Ordnung Koinzidenz der Gegensätze, Beobachtung zweiter Ordnung, re-entry der Form und Selbstentlarvung der Fiktion

Damit kommt dem der Pala di San Marco integrierten, ihr ähnlichen und zugleich unähnlichen Gnadenbild selbst jene Qualität eines Zusammenfallens der Gegensätze zu, durch den – ähnlich wie schon der Neuplatoniker Philon von Alexandria und die spätmittelalter­ liche Mystik – Nicolaus Cusanus (Nikolaus von Kues) das Wesen Gottes bzw. Christi charakterisieren sollte: Christus ist unkategorial, mit Begriffen nicht zu fassen, Schöpfer und Geschöpf, Endliches und Unendliches,

48

die Vereinigung Gottes und der Menschen, das medium unionis, jenseits der Mauern der Logik befindlich, an die die Ratio stößt, wenn sie der Widersprüche ansichtig wird, deren Zusammenfall selbst den gelehrtesten Philosophen unverständlich ist.48 Mit seiner Lehre von der coincidentia oppositorum, die intendiert war, zur Einsicht in eine »belehrte Unwissenheit« (docta ignorantia) zu führen, hat Cusanus, der sich eingehend mit der Bildtheologie und dem Sichtbarwerden Gottes in der Gestalt Christi befasste, Ockhams Begriff des unbegreiflichen Gottes neu formuliert. Er nahm diesem seine radikale Spitze, indem er einen intellektuellen Weg zur mystischen Gottesschau bahnte.49 Damit versöhnte er zugleich die Fronten der Ockham-treuen Franziskaner und der Thomas von Aquin folgenden, einem spätscholastischen Denken anhängenden Dominikaner, deren Orden Fra Angelico zugehörte. Mit seiner paradoxalen Pointierung des Gottesbegriffs erhob Cusanus die Paradoxie, durch die im Ansatz schon die mittelalterliche Theologie das sakrale Bild charakterisiert sah, das die Glaubenstatsachen einer eben nur mittelbaren Erfahrung zuführen kann, zur Essenz des Gottseins und damit auch zum Intelligibilitätsmaßstab des dualistischen, von einer tiefen Erkenntnisunsicherheit geprägten Denkens der Frühen

»Das Eine, das Erste, das Ewige, das Höchste, das Gute, das

Botticellis Primavera siehe Edgar Wind: Heidnische Mysterien

Übergute, oder wie immer Plotinos das göttliche Wesen be-

in der Renaissance. Frankfurt/M. 21984, S. 135ff., in Bilderzählun-

nennt, steht ihm, schroffer noch als bei Philon, jenseits aller

gen Raffaels siehe Wolfgang Brassat: »Credas« – »cernas«. Para-

Gegensätze und aller Faßlichkeit.« (Hans Joachim Störig: Kleine

doxale Seinskonfigurationen in Werken Raffaels als blinde Fle-

Weltgeschichte der Philosophie. Frankfurt/M. 1993, S. 204.) Dass

cken kunsthistorischer Wahrnehmung. In: Kunsthistorisches

Gott über der Logik steht und nur zu antizipieren, nicht rational

Jahrbuch Graz, 27, 2000, S. 10–26; Brassat 2003, S. 18ff. u. 72ff.

erfassbar ist, diesen Kernsatz seiner Lehre hat Cusanus im

Siehe weiter Johannes Grave: Das Bild im Gespräch. Zu Situatio-

10. Kap. seines bildtheologisch orientierten Traktats Vom Sehen

nen des Sprechens über Bilder in kunsttheoretischen Dialogen

Gottes (De visione Dei) dargelegt. Siehe Nikolaus von Kues:

des Cinquecento und bei Nicolaus Cusanus. In: Rotraud von Ku-

Vom Sehen Gottes. Übers. v. Dietlind u. Wilhelm Dupré, Nach-

lessa/Tobias Leuker (Hrsg.): Divulgierung vs. Nobilitierung?

wort v. Alois M. Haas, Zürich/München 1987, S. 46ff. Dazu und

Strategien der Aufbereitung von Wissen in Dialogen, Lehrge-

zum folgenden ausführlich: Götz Pochat: Geschichte der Ästhe-

dichten und narrativer Prosa des 16.–18. Jahrhunderts. Tübingen

tik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert.

2011, S. 17–33; Ders.: Gemacht, und doch machtvoll. Zur Wirk-

Köln 1986, S. 218ff.; Brassat 2001, Sp. 751ff.; Brassat 2003, S. XVIIff.

macht des Bildes bei Nicolaus Cusanus. In: Andreas Beyer/

Zur Theorie der »coincidentia oppositorum«: Hans Blumen-

Dario Gamboni (Hrsg.): Poiesis. Über das Tun in der Kunst. Berlin 2014, S. 167–180.

berg: Einleitung. In: Nikolaus von Cues: Die Kunst der Vermutung. Auswahl aus den Schriften, hrsg. v. H. Blumenberg, Bremen 1957. Zu entsprechenden Formen der Sinnkonstitution in

49

H.M. Nobis: [Artikel] Coincidentia oppositorum. In: HWPh, Bd. I, Sp. 1022f.

Ko i nzidenz de r G e g e n sät ze , B e obachtu n g z we ite r Ordn u n g

73

Abb. 21  Alesso Baldovinetti: Maria mit Kind und Heiligen (Pala di Cafaggiolo), um 1454, ­Florenz, Uffizien

Neuzeit.50 Dieses musste permanent von der Existenz zweier kontingenter und zugleich radikal verschiedener Seinssphären, einer terrestrisch-phänomenalen und einer coelestisch-intelligiblen, ausgehen. Die Para-

50

doxie der Sichtbarmachung des Unsichtbaren, der durch das Bild vermittelten menschlichen Transzenzerfahrung war, wie Belting, Stoichita, Krüger, Wolf u. a. dargelegt haben, der erste Leitfaden der Selbstreflexion frühneuzeitlicher Malerei.51 Auch Fra Angelico hat diesen aufgegriffen und mit dem Revelatio-Motiv der geöffneten Vorhänge den Glaubenssatz veranschaulicht, dass der unsichtbare Gott des Alten Testaments in der menschlichen Gestalt Christi sichtbar wurde.52 Zugleich betonte er so den Offenbarungscharakter seiner Pala, den semifiktionalen Status ihrer Darstellung. Auch das hinter dem Thron der Maria aufgespannte Velum, das die Sphäre der Heiligen gegen die Landschaft im Hintergrund abgrenzt, reflektiert diesen, fungiert also nicht nur als mariologisches Symbol eines hortus conclusus: Im Inneren des Vorhangs (in interiora velaminis), so heißt es bei Haimo von Auxerre, liegen die Mysterien der himmlischen Herrlichkeit53 – eine Vorstellung, die in der von Alesso Baldovinetti um 1454 gemalten Pala di Cafaggiolo (Abb. 21), einem offenkundig an der Pala di San Marco angelehnten Altarbild, das wahrscheinlich von Cosimo für die Kapelle der Medici-Villa in Cafaggiolo bestellt wurde,54 eine noch gesteigerte Anschaulichkeit erhält. In der Pala di San Marco reflektiert auch die Kreuzigung

Die Paradoxie, die noch in frühchristlicher Zeit vor allem in der

S. 11ff.; Gerhard Wolf: Schleier und Spiegel. Traditionen des

byzantinischen Rhetorik eminent wichtig gewesen war, hatte im

Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance. München

scholastischen Denken keinen Ort mehr. Nach der spätmittel-

2002. Dabei ist hervorzuheben, dass die triviale Erkenntnis, dass

alterlichen Mystik, Cusanus und den Florentiner Neuplatoni-

Gott selbst nicht beobachtbar ist, das scholastische Denken

kern spielt sie vor allem bei Protestanten wie Luther und Franck

nicht groß irritiert hatte, da dieses über ein logisch kompetentes

wieder eine große Rolle und bestimmt im Barock auch das theo-

Instrumentarium metaphysischer Erkenntnis verfügte. Erst

logische Selbstverständnis der Orthodoxie. (Peter Probst/Hen-

nach dem Sieg des Nominalismus wird die Einsicht in die Para-

ning Schröer: [Artikel] Paradox. In: HWPh, VII, Sp. 81ff. u. 90f.)

doxie der Beobachtung des Nicht-Beobachtbaren bedeutsam

Julia Kristeva betont die diskurshistorische Signifikanz der Para-

und beginnt eine zunehmend raumhaltige, den Gesetzen der

doxie, die erst im nachmittelalterlichen Denken zu einer Form

Optik und der Perspektive verpflichteten Malerei diese Parado-

von höchster erkenntnistheoretischer Dignität aufsteigen

51

52

Vgl. Eberlein 1982, S. 83ff. u. bes. 87ff.; Krüger 2001, S. 28.

(l’articulation des unités signifiantes entre elles-mêmes) est une

53

»In interioria velaminis vocat secreta regni coelorum, et gaudia

fonction d’échappement au paradoxe; on peut dire que le sym-

patriae coelestis; velum enim quod erit ante sancta sanctuorum

bole est horizontalement anti-paradoxale.« (Kristeva 1969, S. 116.

significat coelum; quae vero erant intra velum, secreta regni co-

Vgl. Luhmann 1995, S. 274ff.)

elorum«. [Haimo von Auxerre (gest. ca. 855): In Ep. Ad Hebr.

Belting 1990; Victor I. Stoichita: Visionary Experience in the Gol-

Comm. Cap. VI. In: Patrologiae Latinae, LXVIII, Sp. 724f.]

den Age of Spanish Art. London 1995; Krüger 2001, passim, bes.

74

xie zu entfalten.

konnte: »La fonction du symbole dans sa dimension horizontale

54

Siehe Christopher B. Fulton: An Earthly Paradise. The Medici,

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

Abb. 22  Aufstieg der Seele, Illustra-

tion zu Heinrich Seuse: Der mystische Weg: Ausfluss und Rückkehr der vernünftigen Kreaturen zu Gott, letztes Drittel des 15. Jhd., Stifts­ bibliothek Einsiedeln, Codex 710 (322), fol. 106r.

Christi vermittels ihres expliziten Bildcharakters die prinzipielle Unzulänglichkeit des sakralen Bildes, das nur Vorschein des bildlich Unfassbaren sein kann. Mit Bedacht hat Fra Angelico dafür das Sujet der Kreuzigung gewählt, die Darstellung des toten Leibes Christi, somit der Hülle des Körpers, des integumentum corpo-

ris, hinter dem sich die göttlich-unschaubare Natur des Herrn verbarg. Eben dieses Motiv erscheint auch in einer Illustration aus einer Konstanzer Handschrift aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts mit verschiedenen Texten des Mystikers Heinrich Seuse. Die Darstellung, die seine Konzeption des Aufstiegs der Seele illus-

Ko i nzidenz de r G e g e n sät ze , B e obachtu n g z we ite r Ordn u n g

75

triert (Abb. 22), zeigt im linken oberen Teil ein geöffnetes Triptychon mit der Kreuzigung im Zentrum und daneben Kreise als Symbol der göttlichen Unendlichkeit: »Der ewigen gotheit wisloses abgrínde, daz weder anvang hat noch kein ende«, besagt die Inschrift. »Das metabildlich orientierte Erkenntnisverlangen kann die avisierte ›Wahrheit‹ nur im Vorschein des Bildes ins Auge fassen«, so erläutert Klaus Krüger die Illustration der bildmystischen Konzeption Seuses, »um auf diesem Wege, sprich: aus der dabei erwachsenden Einsicht in die Intentionalität der Darstellung, umso entschiedener die kategoriale Alterität des bildlich Unfassbaren zu realisieren.«55

Das Bild kann nur ein im Modus einer ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ operierendes Zeichen sein für das Gött­ liche, »daz úber alle sinne und úber menschlich vernunft ist« (Seuse) und nur durch Sprache und seine bildliche Repräsentation Gegenstand menschlicher Verständigung werden kann. Wir können somit feststellen, dass das spannungsvolle Verhältnis der Pala zu der ihr integrierten Kreuzigungsdarstellung, dessen Ambivalenz wir unter stilgeschichtlichen Gesichtspunkten analysiert haben, in der »Spannung zwischen Ähnlichkeit und Differenz« grundgelegt war, die Walter Haug als Grundphänomen aller mystischen Sprache bezeichnet hat.56 James Wood, dem sich die bis heute detaillierteste ikonographische Analyse der Pala di San Marco ver-

their Collection and the Foundations of Modern Art. Florenz

dankt, hat betont, dass die flächenhafte Darstellung der Kreuzigung als ›Brücke‹ zwischen der Pala und der zentralen Predellentafel fungiert. In ihren Dialoghi hatte die Heilige Katharina von Siena dargelegt, dass mit dem Sündenfall Adams eine Kluft zwischen Himmel und Erde, Gott und den Menschen entstanden war, die Christus durch seinen Kreuzestod überbrückte und die zu überwinden einem jeden Gläubigen durch die Eucharistie ermöglicht werde. Diesen Sachverhalt hat Fra Angelico anschaulich visualisiert durch die Superposition der auf die Eucharistie anspielenden Predellentafel mit der Beweinung Christi, der ›Brücke‹ der Kreuzigung Christi und der Pala mit der Darstellung der himm­ lischen communio, in die die Gläubigen kraft der Eucharistie eingehen können.57 Rezipierte der Betrachter diese Bestandteile des Altarbildes in der angeführten Reihenfolge, so folgte sein Blick tatsächlich einem durch sie angedeuteten Weg der Erhebung der Seele. Ergänzend ist anzuführen, dass dieser Sinneffekt beim Vollzug der Liturgie, wenn der Priester vor dem Altar die konsekrierte Hostie emporhob, eine besondere Evidenz erhielt, da der durch die fiktive Tafel hervorgehobene Zeichencharakter des Altarbildes, seine paradoxe Referenzstruktur, auch die Hostie charakterisierte, die Zeichen des Leibes Christi und nach katholischem Dogma zugleich Träger seiner Realpräsenz ist (vgl. Abb. 23).58 Beim Vollzug der Liturgie wurde somit anschaulich, dass der Stilwechsel der Bilder Fra Angelicos auch eine visuelle Metapher für das Wunder der Inkarnation und Transsubstantation ist.59

57

stattfindenden Sacra conversazione ist ein von Darstellungen

gelo. Die Kunstpolitik des Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici.

der Maestà, der im Himmel thronenden Maria mit ihrem ›Hof-

Berlin/München 2016, S. 172f. u. 292 (Kat. D 7). Siehe in diesem Zusammenhang auch Domenico Ghirlandaios Thronende Ma-

55

76

staat‹, abkömmliches Sujet. 58

Zur Darstellung der Gregorsmesse von Wilm Dedeke siehe Schlie

donna mit den Heiligen Petrus, Clemens, Sebastian und Paulus

2002, S. 92ff.; Uwe Albrecht (Hrsg.): Corpus der mittelalterlichen

(um 1479, Lucca, Duomo S. Martino).

Holzskulptur und Tafelmalerei in Schleswig-Holstein. Bd. 1: Hansestadt Lübeck, St. Annen-Museum, Kiel 2009, S. 277ff.

Krüger 2001, S. 18. Siehe auch Heinrich Seuse: Deutsche Schriften. Hrsg. v. Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, S. 52ff.

56

Hood 1993, S. 110f. Die augenscheinlich an einem irdischen Ort

2006, S. 245f.; Simone Ebert: Botticelli – Signorelli – Michelan-

59

Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich, dass die Pala di San

Walter Haug: Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen

Marco einer Bildtradition zugehört, der auch Raffaels Pala Bag-

Sprechens. In: Kurt Ruh (Hrsg.): Abendländische Mystik im Mit-

lioni (Rom, Galleria Borghese), Pontormos Deposizione (Flo-

telalter. Stuttgart 1986, S. 506f.

renz, Santa Felicità, Cappella Capponi) und Caravaggios Grab-

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

Wir haben nun nach der kunsttheoretischen und stilgeschichtlichen auch die bild- und eucharistietheologische Dimension der Pala di San Marco erörtert und gesehen, dass sich das Nebeneinander ihrer differenten Teile mit gleichem Recht unter beiden Aspekten interpretieren lässt. Dies belegt eine Dichotomisierung der religiösen und der ästhetischen Funktion des Kunstwerks, des theologischen Vermittlungs- und des Selbstanspruchs der Künste, wobei diese in der Pala di San Marco nicht in deutlich ersichtlicher Weise auseinandertraten. Es ist denn auch unmöglich zu entscheiden, welcher der beiden Reflexionshorizonte für den stupenden Einfall, die Kreuzigung Christi als fiktive Bildtafel in einem altertümlichen Stil zu repräsentieren, maßgeblich geworden ist. War dieser motiviert durch die Anekdote vom Wettstreit der antiken Künstler Zeuxis und Parrhasios oder durch das Wort der Heiligen Katharina von Siena von der »Brücke« des Kreuzes­ todes? Zweifelsfrei aber bezeugt die Pala di San Marco, dass die Selbstreflexion des frühneuzeitlichen Bildes sich nicht nur der Kontinuität alter Leitgedanken der Bildtheologie verdankte, sondern auch der Stilvielfalt der Florentiner Malerei und der Wiederentdeckung der profanen Bildkultur der Antike. Sie erhielt in Fra Angelicos Werk als Reflexion der eigenen Stilhaltung eine bis dahin nicht gekannte Ausdrücklichkeit. Diese war zudem dem Kunstdiskurs geschuldet, der schon in den Zeiten Petrarcas wiedereingesetzt hatte, dem Auseinandertreten der städtischen und der höfischen Sphäre und der ihnen eigenen ästhetischen Präferenzen und einer neuen Bildsprache, welche die alten Darstellungsformen verdrängte und einer historisierenden Betrachtungsweise zugänglich machte. Unter diesen Vorzeichen trat das sakrale Bild auch als ein nach den ­Kriterien einer bildrhetorischen Stimmigkeiten zu beurteilendes Kunstwerk auf.

Abb. 23  Wilm Dedecke: Gregorsmesse, Tafel eines Fronleichnamsaltares, 1496, Lübeck, St. Annen-Museum

Mit der fiktiven Bildtafel eröffnete Fra Angelico einen inneren Dialog der Bilder, der die Rezipienten zur Reflexion und dialogischen Verständigung über die

legung (Rom, Pinakothek des Vatikans) zuzurechnen sind, bei

tegna, Raffael, Pontormo und Caravaggio. Zur Analogisierung

denen ebenso in der Liturgie die Analogie zwischen der erhobe-

und Ausdifferenzierung von Rhetorik und Malerei in der Frühen

nen Hostie und dem gemalten Leichnam Christi anschaulich

Neuzeit. In: Joachim Knape (Hrsg.): Bildrhetorik. Baden-Baden

wurde. Siehe Wolfgang Brassat: Rhetorische Merkmale und Ver-

2007, S. 285–346.

fahren in Darstellungen der »Grablegung Christi« von Man-

Ko i nzidenz de r G e g e n sät ze , B e obachtu n g z we ite r Ordn u n g

77

dem sakralen Kunstwerk obliegenden Funktionen und die ihm gegebenen stilistischen Möglichkeiten anhielt. Damit bezeugt die Pala di San Marco einen Kognitionsschub, der sich auch an niederländischen Werken dieser Zeit feststellen lässt. So ist die von Kemp hervorgehobene selbstreflexive Tendenz der embedded narratives bei der um 1434 entstandenen Verkündigung Jan van Eycks evident (Abb. 24), in der die fingierten Bildträger, die Graffiti des Fußbodens (Abb. 25) und vor allem die hieratischen Motive der Glasfenster und Wandgemälde, ebenfalls historisierenden Merkmale aufweisen.60 Rudolf Preimesberger hat das wohl um 1433–35 entstandene Diptychon in der Sammlung Thyssen-­ Bornemisza, das die Verkündigung in Form fingierter Skulpturen zeigt (Abb. 26), als Beispiel eines gemalten Wettbewerbs (paragone) von Malerei und Bildhauerei gedeutet.61 Damit konnte er einen kunsttheoretischen Leitgedanken in den Niederlanden nachweisen, wo dieser in der damaligen Zeit nicht durch Schriftquellen verbürgt ist. Bekundete das Diptychon einen emphatischen Begriff des illusionistischen Vermögens der Malerei, den, wie wir gesehen haben, ähnlich schon Giotto vertreten hatte, so demonstrierte die Verkündigung in Washington das Selbstbewusstsein einer sich von der Tradition absetzenden ars nova. An ihr lässt sich, wie auch an der Pala di San Marco, die Kognitionsperspektive einer »Beobachtung zweiter Ordnung« fest-

60

Kemp 1995, S. 99ff.; Ders.: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto. München 1996, S. 102f.

61

Rudolf Preimesberger: Ein »Prüfstein der Malerei« bei Jan van Eyck. In: Matthias Winner (Hrsg.): Der Künstler über sich in seinem Werk. Internationales Symposium der Bibliotheca Hertziana, Rom 1989, Weinheim 1992, S. 85–100; Ders.: Zu Jan van Eycks Diptychon der Sammlung Thyssen-Bornemisza. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 54, 1991, S. 459–489. Die Forschung geht davon aus, dass diese Tafeln die Innenseiten eines Diptychons bildeten. Der Farbverzicht war wohl auch liturgisch begründet, da das Fest der Verkündigung in die Fastenzeit fiel. (Preimesberger 1992, S. 85.) Ich folge hier nicht Preimesbergers Datierung des Diptychons in die späten 1430er Jahre, sondern der jüngeren von Mar Borabia: Museo Thyssen-Bornemisza:

Abb. 24  Jan van Eyck: Verkündigung, um 1434, Washington, National Gallery

78

Old Masters. Hrsg. v. Board of Trustees of the Fondación Colección Thyssen-Bornemisza, Madrid 2009, S. 100.

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

Abb. 25  Jan van Eyck: Verkündigung,

Detail des Fußbodens: Samson z­ erstört den Tempel der Philister u. David enthauptet Goliath

Abb. 26  Jan van Eyck:

Verkündigung, um 1433–35,

Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza

Ko i nzidenz de r G e g e n sät ze , B e obachtu n g z we ite r Ordn u n g

79

stellen.62 Van Eyck und Fra Angelico ging es nicht mehr nur um die Darstellung der Welt, sondern ausdrücklich um die Form und die Frage des ›Wie?‹ Die fiktiven altertümlichen Darstellungen in der Washingtoner Verkündigung und der Pala di San Marco sind Beispiele eines re-entry (George Spencer Brown) der Form in die Form,63 einer expliziten Referenz des somit zwischen Selbst- und Fremdreferenz unterscheidenden Kunstwerks auf andere Kunstwerke.64 Diese Koppelung, das gleichzeitige Prozessieren von interner und externer Referenz charakterisiert die Kommunikation und alle Operationen selbstbeobachtender Systeme.65 Auch Kunst bezieht sich immer auch auf Kunst, ohne freilich von Anbeginn an zwischen Selbst- und Fremdreferenz zu differenzieren. Im Unterschied zu latenten Formen der Selbstreferenz bzw. Interpikturalität,66 z. B. der steten Verwertung identischer Werkstattmuster in der spätmittelalterlichen Malerei, ist diese Differenz in den erwähnten Werken hingegen – in der Pala di San Marco

62

mit ihrem exponierten Gnadenbild noch expliziter als bei van Eyck – durch den beharrenden Stil der integrierten Bilder akzentuiert. Die Pala di San Marco zählt zu den ersten Gemälden, in denen eine Selbstentlarvung der Fiktion, das Verfahren der Täuschung und Enttäuschung (inganno e disinganno) und eine Paradoxierung der Semantik festzustellen sind.67 Fra Angelico hat die Paradoxie der Beobachtung des Unbeobachtbaren durch Differenzmarkierungen akzentuiert. Indem er das stilistisch altbackene Täfelchen als Trugbild ausgewiesen hat, erscheint dessen Darstellung tendenziell als defizitär und sein Kunstcharakter fraglich – solche Devotionsbilder waren, wie schon erwähnt, seinerzeit Produkte einer massenhaften kunstgewerblichen Produktion.68 Dass die Kreuzigung zugleich ein hochbeanspruchter Bedeutungsträger ist, der Teil der Pala di San Marco mit der höchsten Bedeutungskonzentration, macht sie zu einem hybriden Zeichen mit einer oszillierenden Mehr-

Vgl. Luhmann 1995, S. 92–164 (Kap. 2: Die Beobachtung erster

die Paradoxie in der Kunst der Moderne, obwohl man ihr nun

und zweiter Ordnung).

keine erkenntnistheoretische Dignität mehr zugestand, sondern

Luhmann spricht von einem »Wiedereintritt der Unterschei-

sie als Zumutung für das rationale Denken bewertete. Frank

dung in das Unterschiedene oder, um es mit Spencer Brown zu

spricht von einer »Eigenmacht des antithetischen oder sonst wi-

formulieren, […] einem ›re-entry‹ der Form in die Form.« (Luh-

dersprüchlichen Bildes gegenüber aller Theorie, die bereits

mann 1995, S. 19.)

Hegel Unbehagen erzeugte und ihm das Wort von der ›Dämme-

64

Siehe Luhmann 2004, S. 166f.; Luhmann 1995, S. 474ff.

rung des Geistreichen‹ eingab«. [Hilmar Frank: Der Wider-

65

Luhmann 2004, S. 81ff.

spruch und sein montiertes Bild. In: Hans Ulrich Gumbrecht/

66

Zu verschiedenen Graden der Interpikturalität vgl. Valeska von

K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusam-

Rosen: [Artikel] Interpikturalität. In: Pfisterer 2003, S. 163.

menbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt/M.

Mit Blick auf die diskursanalytischen Forschungen u. a. von

1991, S. 393f. Siehe auch Alan Paskow: The Paradoxes of Art.

Kristeva 1969; Küpper 1990; Hempfer 1993 verstehe ich die Para-

Cambridge 2004. Luhmann 1995, S. 486ff. spricht von einer »eher

doxie als epistemologische Signatur des »klassischen Diskurses«

verdeckten, gleichsam unterirdisch mitlaufenden Tradition«, in

(Foucault, Derrida). Im dualistischen Denken der Neuzeit war

der die Paradoxie in der Frühneuzeit im Spiel von Täuschung

sie eine Form von höchster erkenntnistheoretischer Dignität,

und Enttäuschung, in dem romantischen Spiel mit Verdopplun-

wie sich u. a. an den Schriften von Cusanus, der Florentiner

gen, Gegenbegriffen und Unglaubwürdigkeiten und in der

Neuplatoniker, Montaigne, John Donne und Pascal nachweisen

Avantgarde-Kunst, die die Grenzüberschreitung der Kunst zum

lässt. (Siehe Rosalie L. Colie: Paradoxa Epidemica. The Renais-

Programm macht, zu Tage tritt. Ihre Eigenmacht ist zudem darin

sance Tradition of Paradox. Princeton, NJ 1966, Neuaufl. 2015.)

begründet, dass sie in Verbindung mit einer Beobachtung zwei-

Sie ist als eine das analogische Denken des Mittelalters spren-

ter Ordnung und einem »re-entry« der Form in die Form auftritt,

gende, Nicht-analogisch-Vermittelbares und Nicht-Beobacht-

woraus bivalente Objekte resultieren. Luhmann definiert die

bares akzentuierende Form zu verstehen, deren Auftreten ein

Paradoxie als »Superform, der ›frame‹, der das andeutet, was im

zunehmend differenzbewusstes Denken bezeugt.

Kunstwerk selbst nicht gesagt, sondern nur als nicht-gesagt

Als ästhetisch faszinierende Form, die immer wieder für eine

markiert ist«. (Luhmann 1995, S. 192.)]

63

67



Amplifikation des Bildvermögens genutzt wurde, kontinuierte

80

68

Wie Anm. 37.

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

deutigkeit. Dazu trägt auch bei, dass sie als von der mimetischen Bildsprache der Pala und der Predellentafeln unterschiedenes Bild in sich mehrere Differenzkriterien vereint. Sie dient der Akzentuierung bzw. Entfaltung gleich mehrerer Paradoxien, die sich hier überlagern: der Paradoxie der Beobachtung des nicht beobachtbaren Gottes, der Paradoxie des re-entry der Form in die Form, die somit gleichzeitig Welt und andere Kunstwerke abbildet, und der latenten Paradoxie der Mimesis, die ebenfalls durch eine doppelte Verweisstruktur charakterisiert wird, nämlich zugleich abbildend ist und exemplarisch, begriffsorientiert, symbolhaltig.69 Die beiden Pole der Mimesis fallen auf paradoxe Weise in eins in der fiktiven Tafel, die ein Trompe l’œil ist, ein detailgetreues Abbild eines Gegenstandes, und zugleich ein Symbol. Als Abbild einer Realie verdeutlicht es die Fremdreferenz, den Weltbezug des Kunstwerks, und als Nachahmung eines anderen Artefakts dessen Selbstreferenz. Mit der beidseitigen Abgrenzung der Mimesis der Pala di San Marco – sowohl von der wortwörtlichen Nachahmung einer Realie, als auch dem symbolischen Bild – und mit der für das System konstitutiven Differenzierung zwischen Selbst- und Fremdreferenz waren Unterscheidungen geleistet, die fortan auf höheren Ebenen vollzogen und weitergehend kategorial bestimmt wurden. Spätere Maler sollten – wie wir sehen werden, oft in Werken mit geringerer struktureller Komplexität – explizit deutlich machen, dass das Kunstwerk sich von der empirischen Wirklichkeit durch die in ihm geleistete ästhetische Verdichtung unterscheidet, d. h. durch die ihm möglichen Formen der Benutzung der Medien Raum und Zeit, und z. B. auch mit der Differenz von ästhetischer Anschauung und Alltagswahrnehmung die System-Umwelt-Differenz thematisieren. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Pala di San Marco, die einer fortschrittsgläubigen Stilgeschichte

69

ein eher zweitrangiges Werk zu sein schien, in kognitiver und selbstreflexiver Hinsicht neue Maßstäbe gesetzt hat. Denn in ihr hat Fra Angelico auch die Kontingenz des eigenen Handelns reflektiert, nämlich transparent werden lassen, dass sein stilistischer Habitus Produkt selektiven Verhaltens war, dass sein ›Individualstil‹ – Filarete sollte als erster Kunstschriftsteller diesen Begriff verwenden, nämlich in seinem 1461–64 verfassten Trattato di Architettura vom »stile di chiascheduno« sprechen70 – nur eine von zahllosen Möglichkeiten darstellte. Er bekannte sich nicht bloß zum Neuen als der besseren von zwei Alternativen, sondern reflektierte den Status seines Werks als eines von in zahllosen Varianten denkbaren Syntheseprodukten aus Tradition und Avantgardekunst.71 Masaccios Zinsgroschen war ein Pionierwerk von epochalem Rang, ein atemberaubendes Musterbeispiel der neuen Ästhetik all’antica, dessen Geltungsanspruch so gebieterisch war wie der seiner an antike Imperatoren- und Rednerstatuen angelehnten Hauptfigur. Fra Angelicos Pala di San Marco hat mit ihrem Ausgleichsstil andere Qualitäten, die sich einer höheren Kognitionsperspektive verdankten. Der Beobachter erster Ordnung »handelt in einem Horizont relativ geringer Information«, er »lebt in einer ›wahr-scheinlichen‹ Welt.«72 Überzeugt, das einzig Richtige zu tun, reduziert er Komplexität. Der Beobachter zweiter Ordnung lebt in geringerer Welt- und Selbstgewissheit, er geht auf Distanz zur Welt und »kann dort Kontingenzen feststellen, wo der Beobachter erster Ordnung glaubt, einer Notwendigkeit zu folgen oder ganz natürlich zu handeln.«73 Fra Angelico hat noch in seinem Spätwerk an dem Goldgrund festgehalten. Er blieb ein traditionalistischer Pionier oder avantgardistischer Traditionalist. Als erster von zahlreichen Künstlern der Neuzeit ist er mit Apelles, dem legendären Hofmaler Alexanders des Großen, verglichen worden.74 Seine Grabinschrift in der römischen Kirche Santa Maria Sopra Minerva besagt:

hoben und zudem Indizien für eine Beteiligung von Fra Angeli-

Carsten-Peter Warncke: Sprechende Bilder – sichtbare Worte. Das

cos Schüler Benozzo Gozzoli erbracht. (Scudieri 2008, S. 49ff.)

Bildverständnis in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1987, S. 39. 70

Pfisterer 2002a, S. 243.

72

Luhmann 1995, S. 103.

71

Die jüngere Forschung hat an der Pala di San Marco auch Merk-

73

Ebda., S. 104.

male einer Rezeption der niederländischen Malerei hervorge-

74

Ulrich Pfisterer: Apelles im Norden. Ausnahmekünstler, Selbst-

Ko i nzidenz de r G e g e n sät ze , B e obachtu n g z we ite r Ordn u n g

81

Die Pala di San Marco war eine seiner einflussreichsten Schöpfungen, wie zahlreiche von ihr inspirierte Werke zeigen, darunter Alesso Baldovinettis Pala di Cafaggiolo (Abb. 21), Raffaels Madonna mit dem Baldachin (1507/08, Florenz, Galleria Palatina) und, wie schon erwähnt, die Sixtinische Madonna (Abb. 59). Auch das fiktive Gnadenbild wurde in der Folgezeit viel rezipiert.76 Zu seinen Derivaten zählen mehrere Werke von Fra Angelicos Schüler Benozzo Gozzoli, darunter das fiktive Tabernakel unterhalb der Darstellung der Kreuzigung in seinem 1452 ausgeführten Fresko in der Cappella di San Girolamo in San Francesco in Montefalco und Das Martyrium des Heiligen Sebastian von 1465 (San Gimignano, Collegiata) mit einer fiktiven Kreuzigung am unteren Rand. Doch in keinem dieser Werke lässt sich eine vergleichbare stilgeschichtliche Differenz zwischen dem Bild und dem Bild im Bilde feststellen. Blicken wir in Hinsicht darauf noch auf zwei weitere Werke, zunächst auf die von Giovanni Bellini wahrscheinlich zwischen 1472 und 1476 gemalte Marienkrönung (Abb. 27), in der er die Raumauffassung von Piero della Francesca mit

einem flämischen Luminarismus verbunden hat.77 Auch die Pala di Pesaro führt ein inneres Bild vor Augen, eine Landschaftsdarstellung mit einer Festung, welche die Rückwand der Thronnische schmückt, vor der Christus die Krönung Mariens vollzieht. Dieses Arrangement erinnert an die damals verbreitete Bildpräsentation auf der Rückwand eines Prunksofas (lettuccio) und zugleich an Albertis Definition des Gemäldes als ›offenes Fenster‹. Tatsächlich lässt sich nicht eindeutig entscheiden, ob es sich bei dem Bild im Bilde um ein Gemälde oder um den Durchblick durch eine Öffnung der Rückwand des Thrones handelt.78 Diese sicherlich intendierte Ambiguität lässt den Status des inneren Bildes zweifelhaft werden und regt dazu an, auch über die Repräsentation der Pala nachzudenken, deren Darstellungsmodus zwar gleichermaßen ›naturalistisch‹ ist, aber etwas mit bloßem Auge nicht Wahrnehmbares vor Augen führt. Als Produkt eines genauen Studiums der Natur und als deren Abbild ist die Landschaft ein ›Beiwerk‹ (parergon), ein pro-fanum (bzw. post-fanum).79 Es akzentuiert antithetisch die in der Pala repräsentierte Vision eines himmlischen Geschehens, dessen Seinssphäre der empirisch erfahrbaren Realität different und kontingent ist. Damit folgte Bellini einer alten Tradition bildtheologischer Überlegungen. Die Wiederholung der Pala quadrata in dem gerahmten inneren Bild soll über die Wahrnehmung ihrer vordergründigen Ähnlichkeit zur Einsicht in die kategoriale Diffe-

bildnisse und die Gunst der Mächtigen um 1500. In: Matthias

Renaissance. Stuttgart/Zürich 21994, S. 159f. Siehe Grave 2018,

Müller u. a. (Hrsg.): Apelles am Fürstenhof. Facetten der Hof-

S. 141–148 sowie Peter Humfrey (Hrsg.): The Cambridge Compa-

kunst um 1500 im Alten Reich. Ausst.-Kat. Kunstsammlungen

nion to Giovanni Bellini. Cambridge 2004. Die dortige Tafel V

»Non mihi sit laudi, quod eram velut alter Apelles / Sed quod lucra tuis omnia, Christe, dabam«. (Nicht sei’s mir zum Ruhm, dass ich war wie ein anderer Apelles / Sondern dass ich allen Gewinn, Christe, den Deinigen gab.)75

der Feste Coburg, Berlin 2010, S. 10. Zu der vor allem auf Plinius

zeigt den 1998 im Museum in Pesaro vorübergehend wiederher-

d. Ä. (Naturalis Historia, XXXV, 79–97) rekurrierenden Apelles-

gestellten ursprünglichen Zustand dieses Altarbildes, das ehe-

Rezeption der Frühneuzeit siehe weiter Oskar Bätschmann/

mals von der Salbung Christi (Pinakothek des Vatikans) bekrönt

Pascal Griener: Holbein-Apelles. Wettbewerb und Definition des Künstlers. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 57, 1994,

wurde. 78

S. 626–650. 75

Zitiert n. Stephan Beissel: Fra Angelico. New York 2007, S. 243.

76

Vergleichbar ist auch das am unteren Rand eingelassene Bild

77

82

Grave 2018, S. 142ff. Grave spricht hier vom »mise en abyme«, einer Spiegelung der Makrostruktur in dem inneren Bild (ebda., S. 141).

79

Ich übernehme hier die Begriffe aus Stoichitas Ausführungen zu

des Schmerzensmannes in Fra Angelicos zeitnah entstandenem

den ›verdoppelten Bildern‹ Pieter Aertsens (Stoichita 1998,

Fresko der Anbetung der Könige im Kloster von San Marco.

S. 19f.), deren Verfahren der Gegenüberstellung (synkrisis, com-

Liana Castelfranchi Vegas: Italien und Flandern. Die Geburt der

paratio) in dem Werk Bellinis vorbereitet war.

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

Abb. 27  Giovanni Bellini: Marienkrönung, um 1470–75, Pesaro, Museo Civico

Ko i nzidenz de r G e g e n sät ze , B e obachtu n g z we ite r Ordn u n g

83

Abb. 28  Sandro Botticelli: Thronende Madonna mit Kind und den Heiligen Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist (Bardi-Altar), 1484/85, Berlin,

Gemäldegalerie

84

FR A AN GE LICOS PALA DI SAN MARCO

renz beider Bilder führen. Das selbstreflexive Verfahren gilt also dem ontischen Status des Dargestellten, nicht dem eigenen stilistischen Habitus. Ebenso verhält es sich bei Sandro Botticellis 1484 für eine Kapelle in Santo Spirito gemalter Thronenden Madonna mit Kind und den Heiligen Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist (Abb. 28), dem Bardi-Altar, in dem wir abermals am unteren Bildrand eine kleine fingierte Bildtafel mit der Kreuzigung vorfinden. Diese zeigt den Gekreuzigten vor einem monochromen dunkelgrünen Hintergrund. Der Pala in ihrem bildsprachlichen Modus des Gnadenbildes differierend, nicht aber in stilgeschichtlicher Hinsicht, repräsentiert das eingebettete Bild den toten Leib Christi, das integumentum corporis. Dieses deutet, wie auch das dahinter, vor dem Thron stehende verschlossene bronzene Becken, Maria analogisch als das ›auserwählte Gefäß‹ aus, in dem die göttliche Frucht Gestalt annahm. Auch der hortus conclusus mit seinen zahlreichen Pflanzen, wel-

80

che die Reinheit und Weisheit Mariens symbolisieren, betont den mariologischen Gehalt dieser Sacra conversazione, die Botticelli wahrscheinlich kurz nach der Primavera gemalt hat.80 Der von Giovanni d’Agnolo de’ Bardi erteilte Auftrag für dieses Werk und seine Entstehung und Vergütung sind außerordentlich gut dokumentiert. Bestimmt war das Altarbild für die Familienkapelle des Kaufmanns in der seit 1454 nach Entwürfen Brunelleschis erbauten Kirche Santo Spirito. Nach einem Brand im Jahre 1471 erhielt diese eine neue Innenausstattung, wobei die Auftraggeber der einzelnen Altäre an einheitliche Vorschriften gebunden waren. Wie die Pala di Pesaro, das Werk eines Venezianers, erhellt auch der Bardi-Altar die bemerkenswerte Besonderheit der Pala di San Marco, dass diese wider das damals so gewichtige Gebot der concinnitas, der kunstgerechten Übereinstimmung der Teile, mit dem fingierten Bildtäfelchen eine deutliche innere Stildifferenz aufweist.

Baxandall 1980, S. 28; Ronald Lightbown: Sandro Botticelli. Life

Botticelli. München/London/New York (2005) Neuaufl. 2015,

and Work. 2. Aufl. New York 1989, S. 180ff.; Frank Zöllner: Sandro

S. 227f. (Kat.-Nr. 51).

Ko i nzidenz de r G e g e n sät ze , B e obachtu n g z we ite r Ordn u n g

85

KAPITEL II

86

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

Programme für zahllose Kommunikationen

PROGRAMME FÜR ZAHLLOSE KOMMUNIKATIONEN: DIE PRIMAVERA UND WEITERE WERKE BOTTICELLIS

Martin Warnke hat die These vertreten, dass das neue Selbstverständnis des Renaissance-Künstlers, sein Anliegen, intellektuelle Werke zu schaffen, im Wesent­ lichen »eine Folgewirkung der besonderen Formen höfischen Umgangs mit Kunst und Künstlern«1 und eines Auseinandertretens der städtischen und der höfischen Sphäre und ihrer geschmacklichen Präferenzen war, zweier sozialer Milieus, die den Künstlern als alternative Betätigungsfelder offenstanden. Die Pala di San Marco belegt diesen Zusammenhang als Produkt der damals in Florenz herrschenden Bandbreite der Stile und eines Malers, der sich in diesem Spektrum mit einem vermittelnden Vergleichsstil positionierte. Die selbstreflexive Dimension dieses Altarbildes verdankte sich zudem einer Kultur des Sprechens über die Künste und dem aus ihr hervorgegangenen Diskurs der Kunstliteratur, und sie verlangte nach einer dialogischen Verständigung, der bei diesem Altarbild, einem Kunstwerk in sakralem Kontext, jedoch Grenzen gesetzt waren.

Mit einem rund vier Jahrzehnte später entstandenen Gemälde, Sandro Botticellis Primavera (Abb. 29), tritt uns erst recht ein Werk mit synthetischem Charakter vor Augen. In ihm verbinden sich Elemente des Altarbildes, namentlich des Typus der Sacra conversazione, mit solchen der Profanmalerei, die in Form von bemalten Hochzeitstruhen (cassoni) und den über Möbelstücken und Holzvertäfelungen angebrachten sogenannten spalliere und cornice eine damals übliche Raumausstattung war.2 Solche in der Regel ausgesprochen breitformatige Gemälde hatten sich in Korrespondenz mit Wandteppichen entwickelt, den kostbaren arazzi, die der Adel und die reichsten Bürger seinerzeit vor allem aus Tournai, Brüssel und Paris bezogen. Die spalliere hingen oft oberhalb von Tapisserien, doch seit der Mitte des Quattrocento konnten sie und andere Tafelbilder mit ähnlich großen Formaten auch deren Platz einnehmen.3 Dieser Zusammenhang lässt sich an der in Tempera (mit einem Öl-Zusatz) auf Pappelholz aus-

1

Warnke 1985, S. 9.

on Trial in Renaissance Sacred Drama and Painted Wedding

2

Zur Zugehörigkeit der Primavera zu dieser Tradition siehe Mi-

Chests. In: Art History, 14, 1991, S. 329–344; Dies. u. a.: The Tri-

chael Rohlmann: Botticellis »Primavera«. Zu Anlass, Adressat

umph of Marriage: Painted Cassoni of the Renaissance. Ausst.-

und Funktion von mythologischen Gemälden im Florentiner

Kat. Boston, Isabella Stewart Gardner Museum, Sarasota, The

Quattrocento. In: Artibus et Historiae, 32, 1996, S. 101ff. (mit wei-

John and Mable Ringling Museum of Art, Boston 2008. Zu den

terführender Lit.) Zu den cassoni, den Hochzeitstruhen, siehe

spalliere und cornice: Ellen Callman: Botticelli’s Life of Saint Ze-

Paul Schubring: Cassoni. Truhen und Truhenbilder der italieni-

nobius. In: Art Bulletin, 66, 1984, S. 492–496; Anne Brickey Barri-

schen Frührenaissance. 2 Bde. Leipzig 1915; Paul Fraser Watson:

ault: Florentine Paintings for Spalliere. (Diss. University of Virgi-

Virtù and voluptas in Cassone painting (Diss. Yale University).

nia) Charlottesville, Va. 1985; Dies.: Spalliera Paintings of Renais-

New Haven, Conn. 1970; Ellen Callman: An Apollonio di Gio-

sance Tuscany. Fables of Poets for Patrician Homes. University

vanni for an Historic Marriage. In: Burlington Magazine, 119,

Park, Ps. 1994; Christina Olsen: Cross Expenditure: Botticelli’s Nastagio degli Onesti Panels. In: Art History, 15, 1992, S. 146–170.

1977, S. 174–181; Brucia Witthoft: Marriage Rituals and Marriage Chests in Quattrocento Florence. In: Artibus et Historiae, III/5, 1982, S. 43–59; Cristelle L. Baskins: »La festa di Susanna«: Virtue

3

Vgl. Rohlmann 1996, S. 103. Zu dem komplexen Phänomen des Miteinanders und der Konkurrenz von Tapisserien, die als mo-

87

Abb. 29  Sandro Botticelli: Primavera, 1480–82, Florenz, Uffizien

geführten Primavera anschaulich nachvollziehen, dem mit seinen Maßen 203 × 314 cm größten Tafelbild des 15. Jahrhunderts mit einer mythologischen Darstellung (favola). Der Forderung Albertis entsprechend, weist Botticellis historia neun Figuren auf, zugleich aber auch eine Fülle (copia) an Details, vor der dieser ausdrücklich gewarnt hatte.4 Darin ist sie der Ästhetik nordeuropäischer Wandteppiche mit ihrem horror vacui verwandt, über die Angelo Decembrio, ein Mailänder

Schüler Albertis, in den 1450er Jahren geschrieben hat, sie würden, statt der »Wissenschaft der Malerei« zu folgen, mit ihrer »Opulenz der Farbe und dem frivolen Reiz der Tapisserie« nur die »Extravaganz der Fürsten« und die Schaulust des Volkes befriedigen.5 Tatsächlich affirmiert Botticellis Darstellung der Geburt der Göttin Flora, bei der nach Ovids Fasti die Erde, die zuvor nur eine Farbe hatte, die Pracht unzähliger Blumen und Farben erhielt,6 Merkmale von Verdüren-Teppichen. In

biler Dekor oft nur zu besonderen Anlässen aufgehängt wurden,

nello D’Este. Angelo Decembrio’s »De Politia Litteraria« Pars

und Fresken und Tafelbildern, welche vielfach Tapisserien vor-

LXVIII. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 26,

täuschen bzw. ihre Ästhetik adaptierten, siehe das Kapitel Pa-

1963, S. 317. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung bei

lace Decoration in: Jill Dunkerton/Susan Foister/Dillian Gor-

Norberto Gramaccini: Wie Jacopo Bellini Pisanello besiegte. In:

don/Nicholas Penny: Giotto to Dürer. Early Renaissance Pain-

IDEA I, 1982, S. 49, Anm. 8. Zur materiellen Kostbarkeit der Ta-

ting in the National Gallery. New Haven/London 1991, S. 82–90.

pisserie und diesem und weiteren Beispielen der Luxuskritik an

4

Alberti: De pictura, (II) 39f. (Alberti 2000, S. 264ff.)

Bildwirkereien siehe Brassat 1992, S. 95ff. u. 109ff.

5

Michael Baxandall: A Dialogue on Art from the Court of Leo-

88

6

Ovid: Fasti, V, 213f. u. 222.

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

deren kostbarsten Beispielen, den sogenannten Tausend-Blumen-Teppichen (Millefleurs), war mit einer vergleichbaren Akribie, unter Zuhilfenahme von Herbarien eine schier überwältigende Blumenpracht dargestellt (Abb. 30).7 Auch ikonographisch weist die Primavera Bezüge zu franko-flämischen Tapisserien auf, wie Ernst Gombrich mit dem Hinweis auf das Fragment eines in Tournai hergestellten Exemplars mit dem Hofstaat der Venus im Musée des Arts Décoratifs in

7



Paris betont hat.8 Doch nicht nur solche Bezüge zu textilen Exponaten der burgundischen Hofkunst machen dieses Gemälde zum Beispiel einer heteroglossierenden Stilhaltung, sondern auch seine Synthese von Räumlichkeit und Fläche, Naturalismus und Stilisierung und sein Nebeneinander unterschiedlicher Figuren, wie der zentralen immateriell wirkende Gestalt der Venus, die wie eine Reminiszenz des Formrepertoires der internationalen Gotik wirkt, und der auf den Be-

Zu den Tapisserie-Merkmalen der Primavera siehe Leopold D.

ist, dass die Primavera in Hinblick auf die im Oktober 1480 nota-

u. Helen S. Ettlinger: Botticelli. New York 1977, S. 19f.; Lightbown

riell beschlossene, am 19. Juli 1482 vollzogene Hochzeit von Lo-

1989, S. 123 (zu Botticellis Entwürfen für Textilien die Literatur-

renzo di Pierfrancesco de’ Medici und Semiramide Appiani in

hinweise ebda., S. 330); Hans Körner: Botticelli. Köln 2006,

Auftrag gegeben wurde. Da Botticelli vom Juli 1481 bis zum Früh-

S. 218f. Zu dem bekannten Beispiel eines Tausend-Blumen-Tep-

ling oder Sommer 1482 in Rom war, um in der Sixtinischen Ka-

pichs, dem Fragment eines der acht Wappenteppiche (Abb. 30),

pelle drei Fresken auszuführen, ist davon auszugehen, dass er

die von Philipp dem Guten vor 1466 bei Jehan de Haze bestellt

die Primavera entweder zuvor gemalt hat (Rohlmann 1996,

wurden: Florens Deuchler: Der Tausendblumenteppich in Bern.

S. 102; Körner 2006, S. 216) oder aber nach seiner Rückkehr, wie

Stuttgart 1996; Thomas P. Campbell: Tapestry in the Renais-

u. a. Lightbown annimmt, der sie in die Jahre 1482/83 datiert.

sance. Art and Magnificence. Ausst.-Kat. New York, Metropoli-

Doch selbst im zweiten Fall ist unwahrscheinlich, dass Botticelli

tan Museum, New Haven/London 2002, S. 35 (mit der Korrektur

erst Ende Mai 1483 einen Anstoß für die so gewichtige, auch in-

älterer Datierungen, die auf der Annahme basierten, Karl der

haltlich motivierte Pflanzenmotivik der Primavera erhielt.

Kühne habe diese Teppiche bestellt). Deuchler betont, dass in

Davon abgesehen, sprechen auch die Genese der spalliere, das

der Tapisserie in Bern Blumen dargestellt sind, die seinerzeit

große Format und ästhetische Kriterien der Primavera dafür,

nur im östlichen Mittelmeerraum wuchsen, somit für ihre Dar-

dass sich Botticelli an flämischen Verdüren- oder Tausend-Blu-

stellung ein wahrscheinlich italienisches Herbarium herange-

men-Teppichen orientierte. Zu den Tapisserien, die in den In-

zogen wurde. Zu den zahllosen Blumen in der Primavera, bei

ventaren der Medici aufgeführt werden, darunter den kostbaren

denen es sich fast ausnahmslos um Frühlingsgewächse der Tos-

Stücken einer Jagd des Herzogs von Burgund, sechs Stücken »mit

kana handelt: Guido Moggi: Piante e fiori nella »Primavera«. In:

Leuten, Rossen, einer Jagd, einer Vogelbeize, einem Fischzug,

Ugo Baldini (Hrsg.): Metodo e scienza, operatività e ricerca nel

Tänzen, Musik und Spielen«, einer Folge des Cortinaggio di

restauro. Florenz 1982, S. 217–228; Mirella Levi D’Ancona: Botti-

Piero mit »Szenen des vornehmen Lebens« sowie zahlreichen

celli’s Primavera. A botanical interpretation including astrology,

Verdüren siehe Jacob Burckhardt: Die Sammler. In: Jacob Burck-

alchemy and the Medici. Florenz 1983.

hardt Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. d. Jacob Burck-

Horst Bredekamp, dessen Spätdatierung der Primavera zwi-

hardt-Stiftung, Basel, Bd. 6, München/Basel 2000, S. 432f. Eine

schen 1485 und 1487 sich nicht durchgesetzt hat, vermutet, dass

Orientierung an solchen kostbaren Wandteppichen lassen z. B.

Botticelli mit der Fülle der dargestellten Pflanzen das kleine Blu-

Pisanellos Arthur-Fresken im Herzogspalast von Mantua und

menstilleben im Vordergrund des Portinari-Altars von Hugo van

mit ihren reichen Goldapplikationen auch Paolo Uccellos spal-

der Goes (Florenz, Uffizien) übertreffen wollte, der am 28. Mai

liere mit der Schlacht von San Romano (Florenz, Uffizien; Paris,

1483 in San Egidio in Florenz aufgestellt wurde. [Horst Brede-

Louvre; London, National Gallery) erkennen. (Siehe Joanna

kamp: Sandro Botticelli: La Primavera. Florenz als Garten der

Woods Marsden: The Gonzaga of Mantua and Pisanello’s Arthu-

Venus. Frankfurt/M. 1988, S. 30ff.; ebenso Cristina Acidini: Für

rian Frescoes. Princeton 1988; Volker Gebhardt: Paolo Uccellos

ein blühendes Florenz. Botticellis mythologische Allegorien. In:

»Schlacht von San Romano«. Ein Beitrag zur Kunst der Medici in

Andreas Schumacher (Hrsg.): Botticelli. Bildnis – Mythos – Andacht. Ausst.-Kat. Frankfurt, Städel Museum, Ostfildern 2009,

Florenz. Frankfurt/M. [u. a.] 1990.) 8

Ernst Gombrich, Botticelli’s Mythologies. A Study in the Neopla-

S. 78.] Eine concorrenza mit diesem Altarbild erscheint jedoch

tonic Symbolism of his Circle. In: Journal of the Warburg and

zweifelhaft, nicht zuletzt aus zeitlichen Gründen. Anzunehmen

Courtauld Institutes, 8, 1945, S. 19 u. Abb. b.

DI E PRIMAVERA

89

trachter zugehenden Flora, einer modernen Renaissancegestalt mit einer vitalen raumgreifenden Präsenz.9 Botticellis Gemälde zeigt die beiden Göttinnen auf der blumengeschmückten Wiese eines schattigen

Hains mit Orangen-, Lorbeerbäumen und einer Myrte im Hintergrund. Vor dieser erscheint Venus in zentraler Bildposition. Über ihr schwebt ihr Sohn Cupido, der mit verbundenen Augen – Liebe macht bekanntlich blind – seinen brennenden Pfeil auf die mittlere der drei Grazien gerichtet hat, die in der linken Bildhälfte unter der Führung Merkurs, des Götterbotens, Musenführers (musagetes) und Lenkers der Winde, versammelt sind. Dieser löst mit dem Caduceus-Stab den Winternebel in den Baumwipfeln auf: »Mit seinem Stab«, so heißt es in der Aeneis, »treibt er den Wind und zerteilt die trüben Wolken«.10 Zugleich verfolgt rechts im Bild Zephyr, der wärmende Frühlingswind, die Erdnymphe Chloris, aus deren Mund, als er sie berührt, Blumen sprießen. Daneben schreitet Chloris zudem in neuer Identität als jene strahlende Göttin Flora auf den Betrachter zu,11 in die sie sich in den Armen Zephyrs verwandelte, der sie ehelichte, nachdem er sich ihrer bemächtigt hatte. »Einst war ich Chloris, die ich jetzt Flora genannt werde«,12 erklärt sie in Ovids Fasti, nach denen die Erde bei dieser Metamorphose mit zahllosen Blumen und Farben geschmückt wurde.13 Wie Edgar Wind dargelegt hat, sind die drei Figuren im rechten Bilddrittel, der leidenschaftliche Windgott, die ihn fliehende Nymphe und die aus ihrer Verbindung hervorgehende Flora, als Verkörperungen von voluptas, castitas und pulchritudo zu verstehen, eine Trias, die spiegelsymmetrisch in der Gruppe der tanzenden Grazien wiederkehrt.14 Dort erscheint links die Begierde mit ihrem offenen Haar, sodann die Keuschheit mit dem zünftigen Zopf und zu-

9

Vgl. Bredekamp 1988, S. 80ff. Bredekamp schreibt: »Auch in sti-

10

Vergil: Aeneis, IV, 245f.

listischer Hinsicht regiert die Synthese; die konservativen Mo-

11

Edgar Wind: Heidnische Mysterien in der Renaissance. Frank-

Abb. 30  Brüsseler Manufaktur: Tausendblumen-Teppich mit dem Wappen

des burgundischen Herzogs, um 1460, Tapisserie, Bern, ­Historisches Museum

mente verbinden sich übergangslos mit renaissancebewegten

furt/M. 1984, S. 138.

Elementen von Ikonographie und Form, so daß jede abschlie-

12

Ovid: Fasti, V, 195.

ßende Zuweisung der ›Primavera‹ an das Mittelalter oder an die

13

Ebda., V, 209ff.: »est mihi fecundus dotalibus hortus in agris:/

Renaissance zu kurz greift und das eigentliche, synthetische

aura fovet, liquidae fonte rigatur aquae./hunc meus implevit ge-

Wesen dieses Gemäldes übersieht. […] Ihre stilistische Zwie-

neroso flore maritus/atque ait ›arbitrium tu, dea, flores habe!‹/

spältigkeit entspringt […] einem scharf konturierten Moment

saepe ego digestos volui numerare colores/nec potui: numero copia maior erat.«

der Florentiner Kultur, in dem sich die Errungenschaften von Naturalismus und Perspektive verabschieden in eine neue Stili-

14

Wind 1984, S. 137ff. Zur Trias der Grazien siehe auch Charles

sierung und Spiritualität und in einen neuen Konservativismus,

Dempsey: Botticelli’s three Graces. In: Journal of the Warburg

der in Savonarola seine revolutionäre Schwungkraft findet.«

and Courtauld Institutes, 34, 1971, 326–330.

(Ebda., S. 81f.)

90

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

letzt die Schönheit, in der sich die von ihren Gefährtinnen verkörperten Gegensätze verbinden. »Castitas ist die Neophytin, die durch den priesterlichen Beistand von Voluptas und Pulchritudo in die Liebe eingeweiht wird«:15 Schönheit erregt ihr Verlangen und geht aus ihrer Verbindung mit der Begierde hervor. Durch die kompositorisch auffällige Wiederholung der Dreiergruppe ist die Metamorphose der Chloris also dem Tanz der Grazien analogisiert und somit als Beispiel eines dialektischen Dreischrittes und einer concordia discors ausgelegt, eines aus Gegensätzen hervorgehenden Einklangs. Auch die verbleibenden, isoliert auftretenden Figuren, Venus, Merkur und der nach Ciceros De natura deorum von ihnen gezeugte Cupido16 sind als Dreiheit anzusehen. Der identische leuchtend rote Farbton der Umhänge von Venus und Merkur und des Köchers Cupidos verdeutlicht dies, wie auch das Motiv der Flammen, die an der Spitze von Cupidos Pfeil hell auflodern, während sie in umgekehrter Form, als gol-

dene fallende Flammen auf dem Umhang Merkurs und dem Untergewand der Venus erscheinen.17 In der Primavera entflammt der Sohn mit gesenktem Haupt die Leidenschaft der castitas, während der nach oben blickende, die Wolken auflösende Vater, der Gott der Vernunft und Eloquenz (Hermes Logios), als sein Antagonist erscheint18 und die zum Betrachter blickende Mutter als die Vereinigung dieses Gegensatzes: Züchtig bekleidet, eine Brosche mit der Mondsichel, dem traditionellen Symbol der keuschen Diana, an einer langen Kette vor der Brust tragend,19 präsidiert Venus der Szene und lenkt als Göttin der Eintracht und Harmonie und als Beschützerin der Ehe20 das Treiben in ihrem Garten, an dem teilzunehmen sie den Betrachter einzuladen scheint.21 In der Forschung besteht Einigkeit hinsichtlich der schon von Aby Warburg identifizierten antiken Primärquellen, die der Primavera zugrunde liegen, nämlich Vergils Aeneis, die Oden des Horaz, Lukrez’ De natura

15

19

Frank Zöllner: Botticelli. Toskanischer Frühling. München 1998,

20

Körner 2006, S. 209. Wind führte die Charakterisierung der

Wind 1984, S. 139ff. (Zitat S. 141). Bereits Aby Warburg gab den Hinweis auf die Darstellung der Grazien auf der Rückseite einer anlässlich ihrer Hochzeit mit Lorenzo Tornabuoni entstande-

S. 49.

nen Porträtmedaille der Giovanna degli Albizzi mit der Um-

Venus, die üblicherweise die Leidenschaft verkörpert, in der Pri-

schrift: »Castitas, Pul(chr)itudo, Amor«. [Aby Warburg: Sandro

mavera aber als Beschützerin der Ehe auftritt und eine dem un-

Botticellis »Geburt der Venus« und »Frühling«. Eine Untersu-

gestümen Auftritt Cupidos kontrastierende Verhaltenheit zeigt,

chung über die Vorstellungen von der Antike in der italieni-

auf Stellen bei Plutarch, Plotin, Pico della Mirandola und Ficino

schen Frührenaissance. Hamburg u. Leipzig 1893, S. 25. Siehe

zurück (Wind 1984, S. 142). Auch in Boccaccios Genealogia Deo-

auch Zöllner 2015, S. 75f., der die häufige Verwendung der weib-

rum wird Venus als Beschützerin der Ehe charakterisiert (Frank

liche Tugenden verkörpernden Grazienmotivik in Hochzeitszu-

Zöllner: Zu den Quellen und zur Ikonographie von Sandro Bot-

sammenhängen hervorhebt. Ein Gemälde mit den drei Grazien

ticellis Primavera. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, 50,

hing auch im Nebenraum der anticamera, in der die Primavera

1997, S. 140). Als denkbare Quelle kommt hier auch die von

ursprünglich hing. (Simone Ebert: Botticelli – Signorelli – Mi-

Dempsey noch beiläufig erwähnte, dann von Lightbown ange-

chelangelo. Zur Kunstpolitik des Lorenzo di Pierfrancesco de’

führte spätantike allegorische Novelle De nuptiis Philologiae et

Medici. Berlin/München 2016, S. 199f.)]

Mercuri libri von Martianus Capella in Frage, der als einziger

16

Cicero: De natura deorum, III, 60.

antiker Autor Merkur als Frühlingsgott (deus veris) und Venus

17

Zu diesem Symbol, das als Flammenbündel auf dem Gewand

als Schutzgöttin der Ehe bezeichnet hat. [Dempsey 1968, S. 251;

Merkurs und in Form einzelner Flammen auf dem Seidenge-

Lightbown 1989, S. 127, 135; Ulrich Rehm: Instaurare iubet tunc

wand der Venus erscheint, siehe Bredekamp 1988, S. 40ff., der sie

hymenaea Venus: Botticellis »Primavera«. In: Bodo Guthmüller/

als Symbol der »immer neu sich regenerierenden Natur« inter-

Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Renaissancekultur und antike My-

pretiert (Ebda., S. 44). 18

Zugleich ist er natürlich auch Protagonist der Handlung, da er,

thologie. Tübingen 1999, S. 260ff.] 21

Zahlreiche kontroverse Deutungen der Geste der Venus refe-

indem er die Nebel zerteilt, die begehrliche Tat des Frühlings-

rierte bereits Gombrich 1945, S. 11f. u. Anm. 4. Das Problem wird

windes Zephyr vorbereitet.

uns noch beschäftigen.

DI E PRIMAVERA

91

Abb. 31  Domenico Ghirlandaio:

Die Bestätigung der Ordensregeln der Franziskaner, um 1484, Florenz, Santa Trinità, Sassetti-Kapelle, Detail: vorne schreitet Agnolo Poliziano mit Giuliano, Piero und Giovanni de’ Medici die Treppe herauf

rerum, Ovids Fasti und Senecas De beneficiis.22 Aufgrund motivischer Übereinstimmungen zwischen dem Gemälde und Dichtungen Angelo Polizianos, insbesondere seinen Stanze per la Giostra, in denen das Ve-

22

23

nusreich als ein Garten beschrieben wird, in dem auch die Grazien, Flora und Zephyr auftreten, geht man überwiegend davon aus, dass Botticelli bei der Konzeption seines Werkes von dem bedeutenden Huma-

Siehe Vergil: Aeneis, IV, 222ff., die klassische Stelle der Charakte-

scences in Western Art. Uppsala 1960, S. 194: »We may thus ac-

risierung Merkurs, des Götterboten und Lenkers der Winde und

cept Politian’s Giostra, supplemented by his Sylvae, and the

Seelen, die auch Polizian in seinen Kommentaren zu Statius’

classical sources of both, as the ›basic text‹ of Botticelli’s Prima-

Sylvae (II, 1, 189) zitiert hat; für den Zusammenhang zwischen

vera«; Pierre Francastel: La fête myhologique au Quattrocento:

Merkur, den Grazien und Venus: Horaz: Oden, 1, 30 und Plu­

Expression littéraire et visualisation plastique. In: Ders.: Œuvres

tarch: Moralia, 138 C/D (wo es um das Wohl von Hochzeitspaa-

II: La réalité figurative: Éléments structurels de sociologie et de

ren geht, siehe unten, Anm. 143); für Merkur, Venus, Cupido,

l’art. Paris 1965, S. 240; Charles Dempsey: ›Mercurius ver‹. The

Flora und Zephyr: Lukrez: De natura rerum, 1, 6ff. u. 5, 737; für

sources of Botticelli’s »Primavera«. In: Journal of the Warburg

Zephyr und die Metamorphose der Chloris: Ovid: Fasti, 5, 195ff.;

and Courtauld Institutes, 31, 1968, S. 268: »Who was the author of

zu dem Motiv der drei Grazien: Seneca: De beneficiis, 1, 3, 2ff.,

the programme of the Primavera? Warburg’s answer, which has

dessen Ausführungen Alberti weitgehend wörtlich übernom-

never seriously challenged, was surely the right one – Angelo Po-

men hat: Alberti: De pictura, (III) 54.

liziano.«; Stanley Meltzoff: Botticelli, Signorelli and Savonarola.

Die Parallelen zwischen Botticellis Gemälde und Dichtungen

»Theologia poetica« and Painting from Boccaccio to Poliziano. Florenz 1987, S. 249f.; Rohlmann 1996, S. 97.

Polizians betonten u. a. Aby Warburg: Sandro Botticellis »Geburt der Venus« und »Frühling«. Hamburg 1893, wiederabgedruckt in

92



Als weitere mögliche, aus denselben Primärquellen schöpfende

Ders.: Gesammelte Schriften. Nendeln 1969, S. 1–58, der neben

›basic texts‹ hat man u. a. Schriften der Neuplatoniker, deren

den Stanze per la Giostra auch Polizians Sylvae und Rusticus als

Akademie Polizian angehörte, angeführt, vor allem Ficinos De

maßgebliche Quellen angeführt hat; Arnolfo B. Ferruolo: Botti-

amore, ferner Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mer-

celli’s Mythologies, Fincino’s De Amore, Poliziano’s Stanze per la

curi libri (siehe oben, Anm. 20). Dempsey hat zudem Columel-

giostra. Their Circle of Love. In: The Art Bulletin, 37, 1955, S. 17–

las Scriptorum rerum rusticarum von 1472 angeführt, ein kom-

25; Wind 1984, S. 135f.; Erwin Panofsky: Renaissance and Rena-

mentiertes Kompendium von Textstellen aus Lukrez, Cato und

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

nisten beraten wurde.23 Von Lorenzo de’ Medici 1473 in seinen Haushalt aufgenommen und 1475 zum Erzieher seiner Söhne ernannt, bekleidete dieser neben kirchlichen Ämtern seit 1480 auch den Lehrstuhl für griechische und lateinische Literatur am Studio fiorentino.24 Um 1484 sollte Domenico Ghirlandaio ihn in dem Fresko Die Bestätigung der Ordensregeln der Franziskaner in der Sassetti-Kapelle in Santa Trinità als Erzieher der Söhne des Lorenzo il Magnifico darstellen, wie er Giuliano, Piero und Giovanni ihrem Vater zuführt (Abb. 31). Trotz dieser gesicherten Grundlagen hat die Primavera eine kaum mehr überschaubare Zahl unterschiedlicher Deutungen erfahren.25 Einige von diesen erwiesen sich als nicht stichhaltig, als 1975 John Shearman und Webster Smith unabhängig voneinander Auszüge aus einem 1498 aufgenommenen Inventar der jüngeren Medici-Linie veröffentlichten. Aus ihm geht hervor, dass das Gemälde ursprünglich nicht, wie bis dahin angenommen wurde, in der 1477 von Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici, einem Cousin von Lorenzo il Magnifico, und seinem Bruder Giovanni di Pierfrancesco erworbenen Villa in Castello hing, sondern in der casa vecchia, dem alten Stammsitz der Familie in der Via Larga (heute Cavour). Die Primavera hing im appartamento des Lorenzo di Pierfrancesco im Erdgeschoss; sie schmückte die an einen Speiseraum und das Schlafzimmer Lorenzos angrenzende anticamera (Abb. 32).26 In dieser war sie als spalliera über der hohen Rückwand eines großen Bettsofas (lettuccio) von rund 3,20 Metern Abb. 32  Grundrissrekonstruktion des Erdgeschosses im Florentiner ­Medici-Palast (nach Ebert 2016)

Varro (Dempsey 1968), zunächst, wie das obige Zitat zeigt, ohne

Pico, Poliziano e l’Umanesimo di fine Quattrocento. Ausst.-Kat.

damit die federführende Stellung Polizians zu bezweifeln, wäh-

Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz 1994 sowie

rend er später die Relevanz der u. a. bereits von Wind angeführten Dichtungen Lorenzo de’ Medicis betonte und die Primavera

24

Ebert 2016, 72ff. 25

Zur Forschungsgeschichte zusammenfassend: Dempsey 1992,

als poetisches Vermächtnis des Magnifico interpretierte.

S. 4ff.; Mirella Levi d’Ancona: Due quadri del Botticelli eseguiti

(Charles Dempsey: The Portrayal of Love. Botticelli’s Primavera

per nascite in Casa Medici. Nuova interpretazione della ›Prima-

and Humanist Culture at the Time of Lorenzo the Magnificent.

vera‹ e della ›Nascita di Venere‹. Florenz 1992, S. 8ff.; Rohlmann

Princeton, N.J. 1992, S. 79ff.)

1996, S. 97ff.; Zöllner 1997, S. 131ff.; Ebert 2016, S. 192ff.

Zu Leben und Werk Polizians siehe Emilio Bigi: Angelo Poli-

26

Das Inventar wurde am 15. September 1498 aufgenommen, ist

ziano. In: Dizionario critico della letteratura italiana. Hrsg. v.

aber nur durch eine Kopie aus dem Jahr 1499 erhalten. (John

Vittore Branca, Bd. 3, Turin 1986, S. 478–489; Paolo Viti (Hrsg.):

Shearman: The Collection of the Younger Branch of the Medici.

2

DI E PRIMAVERA

93

Breite angebracht.27 Da in solchen Palästen Ehepaare üblicherweise nebeneinander liegende Schlafräume hatten, war dies offenbar das Gemach der Semiramide Appiani,28 deren Verehelichung mit Lorenzo di Pierfrancesco am 7. Oktober 1480 notariell besiegelt wurde. Ihr Ehevertrag wurde im April 1481 aufgesetzt und die zunächst für den Mai 1482 geplante, wegen des Todes der Mutter des Lorenzo il Magnifico verschobene nozze fand schließlich am 19. Juli 1482 statt.29 Anzunehmen war damit, dass die Primavera zusammen mit der weiteren Zimmerausstattung für diesen Anlass bestellt wurde, auf den in dem Gemälde die immergrüne Myrte hinter der Venus, der myrtus coniugalis, hinweist. Die daraufhin von Ronald Lightbown vertretene Deutung der Primavera als Hochzeitsbild hat seither breiten Zuspruch erfahren und konnte durch ikonographische Herleitungen ihrer Motivik erhärtet werden.30 Der Einwand, dass das Gemälde, da Botticelli vom Juli 1481 bis zum folgenden Frühling oder Frühsommer in Rom war,

wahrscheinlich erst nach der Hochzeit und seiner Rückkehr nach Florenz entstand, ist zu bedenken, jedoch kein zwingendes Argument gegen seinen Status eines womöglich erst nachträglich fertiggestellten Hochzeitsbildes.31 Die Primavera thematisiert demnach in Gestalt von Zephyr und Chloris bzw. Flora die Verbindung von Lorenzo di Pierfrancesco und Semiramide, die von Lorenzo il Magnifico sorgfältig angebahnt worden war, worauf die Handlung Merkurs anspielt,32 und sollte mit der Überfülle der Vegetation dem jungen Paar fruchtbare Segnungen ihrer Heirat verheißen. Zur weiteren Ausstattung der anticamera zählte ein Madonnenbild mit einem prunkvollen Goldrahmen, ein Tondo von nahezu drei Metern Durchmesser, das kostbarste Gemälde des ganzen Hauses.33 Simone Ebert hat dieses unlängst als die von Botticelli um 1490 gemalten Madonna dei Candelabri (um 1490, ehemals Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum, seit 1945 verschollen) identifiziert.34 Schon zuvor hatte man in dem Raum Botticellis

In: Burlington Magazine, 117, 1975, S. 15.) Es erwähnt die Prima-

Thorntons rekurrierende Einwand, dass »eine solche antica-

vera als »Uno quadro di lignamo apicato sopra el letucio nel

mera der Ehefrau zu ihrem Schutz grundsätzlich hinter der ca-

quale e dipinto nove figure di donne e homini estimat L 100«.

mera ihres Mannes angeordnet« war (ebda.), da die anticamera,

(Webster Smith: On the Original Location of the Primavera. In:

vom Eingang des Palastes aus gesehen, der entlegenste Raum ist

Art Bulletin, 57, 1975, S. 37; Shearman 1975, S. 17f.; Rohlmann

und tatsächlich hinter der camera Lorenzos situiert war.

1996, S. 99ff.) 27

29

Lorenzo il Magnifico mit dieser Verbindung mit den Appiani

Während die Forschung zunächst glaubte, dass die Primavera

verfolgte, die in Piombino mit seinem bedeutenden Hafen

die Rückwand des lettuccio schmückte, nahm schon Hans Kör-

herrschten, siehe Lightbown 1989, S. 121f.; Rohlmann 1996, S. 102, 127; Zöllner 2015, S. 77.

ner mit guten Gründen an, dass sie über derselben hing. (Körner 2006, S. 218; ebenso Ebert 2016, S. 120: Die Primavera hing in

28

30

Ronald Lightbown: Botticelli. Life and Work. London 1978, Bd. 1,

der Frieszone, auf gleicher Höhe wie Botticellis Pallas und der

S. 72, 81; Levi d’Ancona 1983, S. 40–66; Rohlmann 1996; Zöllner

Kentaur.)

1997, S. 131ff.; Zöllner 1998; Rehm 1999; Körner 2006, S. 217f.; Da-

Dieser in der Forschung seither einmütig vertretenen Meinung

mian Dombrowski: Botticelli. Ein Florentiner Maler über Gott,

hat unlängst Simone Ebert mit den Argumenten widersprochen, dass Semiramide – wie auch Lorenzo – noch über ein eigenes

die Welt und sich selbst. Berlin 2010, S. 59f.; Zöllner 2015, S. 211. 31

Appartement im Piano nobile verfügte (zu diesen siehe Ebert

Zöllner 2015, S. 211. Dagegen meint Bredekamp, »daß ein ursächlicher Zusammenhang mit der Hochzeit des Lorenzo di Pier-

2016, S. 131–138) und die besagte anticamera spätestens seit 1507

francesco auszuschließen ist.« (Bredekamp 1986, S. 21; ebenso

von Lorenzos Sohn Pierfrancesco bewohnt wurde (ebda., S. 116).

Tobias Leuker: Bausteine eines Mythos. Die Medici in Dichtung

Die Existenz des eigenen appartamento im Piano nobile schließt

und Kunst des 15.  Jahrhunderts. Köln/Weimar/Wien 2007,

aber nicht aus, dass vor allem in den heißen Sommermonaten

S. 235.)

beide Eheleute das sehr große appartamento im kühlen Erdge-

32

Zöllner 2015, S. 74.

schoss benutzten. Auch dass Lorenzo offenbar nach 25 Jahren

33

Rohlmann 1996, S. 118. Das Inventar erwähnt: »Uno tondo di li­

Ehe lieber seinen Sohn in unmittelbarer Nähe haben wollte,

gnamo con adornamenti d’oro d’intorno, dipinctovi la Vergine

heißt nicht, dass nicht bis dahin Semiramide die anticamera be-

Maria col Nostro Signore in collo«. (Shearman 1975, S. 25, 27.)

wohnt hatte. Ebenso wenig überzeugt der auf eine Feststellung

94

Zu dem Prozedere der Hochzeit und der politischen Absicht, die

Das Breitenmaß ist nahezu identisch mit dem der Primavera.

34

Ebert 2016, S. 117ff.

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

Abb. 33  Sandro Botticelli: Pallas und

der Kentaur, um 1480–82 oder späte

1480er Jahre, Florenz, Uffizien

Pallas und der Kentaur (Abb. 33) aufgehängt, eine auf Leinwand gemalte Supraporte, deren Höhenmaß von 2,07 Metern nur um 4 Zentimeter von dem der Prima35

vera abweicht.35 Die Identität ihrer Hauptfigur ist zweifelhaft, da dieses Bild erst in einem Inventar von 1516 als »Minerva und ein Kentaur« bezeichnet wurde, also als

Während in der Forschung doch ein weitgehender Konsens hin-

gend wird eine ungefähr gleichzeitige Entstehung beider Werke

sichtlich der Entstehung der Primavera in den Jahren um 1482

angenommen. Rohlmann schließt aus der Ausführung auf Lein-

besteht, ist die Datierung der Supraporte umstritten. Überwie-

wand, dass Botticelli das Bild der Pallas 1481/82 in Rom gemalt

DI E PRIMAVERA

95

Darstellung der jungfräulichen, wehrhaften Göttin der Weisheit.36 Doch in dem Inventar von 1498 wurde das Gemälde als eine »Camilla mit einem Satyr« aufgeführt.37 Lightbown hat es entsprechend als Darstellung der keuschen, das Gehege der Diana bewachenden tuskischen Heldin Dia Camilla interpretiert, der Königin der Vulkanier, die in der Aeneis von ihren latinischen Verbündeten als Zierde Italiens (Decus Italiae virgo) angesprochen38 und auch von Dante im Inferno und von Boccaccio in seiner Schrift De claris mulieribus gerühmt wurde.39 Dagegen vermutete Webster Smith, das Gemälde zeige die in Pausanias’ Beschreibung Griechenlands,40 von der Lorenzo di Pierfrancesco ein Exemplar besaß, erwähnte bewaffnete Venus von Kythera.41 Über die Identität der Minerva/Pallas-Camilla-Venus lässt sich tatsächlich prächtig streiten, da sie wie die weiblichen Gestalten in der Primavera ein durchsichtiges Seidengewand trägt und der dortigen Venus durch die ähnliche Körperhaltung und die um ihr Haupt und ihren Oberkörper gewundenen Zweige einer Myrte, des heiligen Baums der Liebesgöttin,42 angenähert ist. Zumal ihr weitere Attribute der Minerva, Helm, Brustpanzer und Schild, fehlen, ist diese Ähnlichkeit und damit der Zu-

oder fertiggestellt und nach Florenz geschickt hat (Rohlmann

36

39

S. 84f.; Shearman 1975, S. 18f. belegt die Rezeption der Camilla im

gerer Zeit haben sich dagegen mehrere Autoren vor allem aus

Umfeld Lorenzo di Pierfrancescos, betont aber, dass diese nach

stilistischen Gründen für eine Datierung in die späten 1480er

Vergil mit einer Streitaxt bewaffnet war und Botticellis wehr-

Jahre ausgesprochen: Cristina Acidini Luchinat: Botticelli. Alle-

hafte Frauengestalt somit nicht eindeutig als Camilla und eben-

gorie mitologiche. Mailand 2001, S. 168; Körner 2006, S. 283;

sowenig als Minerva identifiziert werden kann. Gleichwohl hat

Ebert 2016, S. 211f. mit Hinweisen auf weitere Datierungsvor-

unlängst noch Deimling ausführlich begründet, dass die darge-

schläge in den Anm. 2546f.

stellte Person niemand anderes als Camilla sein könne. [Barbara

Frederick Hartt hat darauf hingewiesen, dass Minerva, die grie-

Deimling: Who Tames the Centaur? The Identification of Botti-

chische Göttin Athene, oft mit ihrem griechischen Beinamen

celli’s Heroine. In: Rab Hatfield/Herbert Horne (Hrsg.): Botti-

Pallas (ital.: pallade) bezeichnet wurde, um so einen etymologi-

celli: New Research. Syracuse 2009, S. 63–79.] 40

bild in dem dortigen Aphroditeheiligtum, dem ältesten Grie-

naissance Art. New York 1973, S. 287). Seither hat sich der Titel

chenlands, heißt es dort: »die Göttin selber ist ein Holzbild in

Pallas und der Kentaur durchgesetzt.

Waffen«.

»Uno quadro di lignamo di supra l’usso [uscio] di l’antichamara

41

Smith 1975, S. 36.

nel quale e dipinto Chamilo con Io satilo«. Im Inventar von 1516

42

Einige Autoren identifizieren sie hingegen als Oliven- oder Lor-

43

Vgl. Bredekamp 1988, S. 56.

tela e asse drieto« aufgeführt. (Shearman 1975, S. 18f., 25ff.)

96

Pausanias: Beschreibung Griechenlands, III, 23, 1. Zu dem Kult-

Medici, zu suggerieren (Frederick Hartt: History of Italian Re-

ist das Gemälde als »Ia figura con una Minerva e Io centauro in 38

Ronald Lightbown: Botticelli. Life and Work. London 1978, Bd. I,

1996, S. 131, Anm. 63), wo es auf Holz aufgezogen wurde. In jün-

schen Bezug zu den ›palle‹, den goldenen Bällen im Wappen der

37

sammenhang zwischen beiden Gemälden evident.43 In Botticellis Supraporte hat die Protagonistin, deren Gewand mit dem heraldischen Zeichen mehrerer ineinander verschlungener Diamantringe gemustert ist, das wie auch die Diamanten in ihrem Haar oberhalb der Stirn, an ihrem Gewand über den Brustwarzen und an ihrer Hellebarde auf die Medici verweist, einen Kentauren an den Haaren gepackt. Als Repräsentantin der im Zeichen der Medici agierenden Vernunft und der Keuschheit bezwingt Minerva/Pallas-Camilla-Venus das die Begierde verkörpernde Mischwesen, fungiert somit als eine Identifikationsfigur, die die Braut zu sittsamem Verhalten ermahnte, und in einem weiteren Sinne als Legitimationsfigur der dynastischen Ambitionen der Medici. Als Darstellung eines Sieges der Vernunft über die Leidenschaft trat dieses Gemälde in ein dialogisches Verhältnis mit der Primavera: Beide nur wenige Schritte von einander auf gleicher Höhe hängenden Gemälde in der zwischen einem Speisesaal und dem Schlafgemach Lorenzo di Pierfrancescos situierten anticamera formulierten antithetisch Rollenerwartungen an das junge Brautpaar: Während in der Primavera die Nymphe Chloris zum Opfer des gewalttätigen Windgottes Zephyr wird, ob-

beerzweige. Siehe Ebert 2016, S. 206, Anm. 2485.

Vergil: Aeneis, XI, 508, siehe auch VII, 803 u. XI, passim.

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

deuten, gaben somit Anlass zu einer panegyrischen Auslegung und Kommentierung des Gemäldes, das man entsprechend auch als ein dezidiert politisches Werk, u. a. als einen Hymnus auf das von den Medici regierte Florenz, interpretiert hat.48 Die Gestalt der Flora konnte und kann als Verkörperung der Stadt Florenz (lat.: Fiorenza) gedeutet werden, die von den Römern an ihrem Neujahrstag, dem 25. März, gegründet worden war.49

siegt in dem hochformatigen Pendant die Frau, die den animalischen Kentauren zu beherrschen weiß, wobei beiden ein Ausdruck melancholischer Entsagung eigen ist. Dass die Primavera und Pallas und der Kentaur aufeinander Bezug nehmen, steht außer Frage.44 Die konzeptuelle Kohärenz der Ausstattung, der später noch der schon erwähnte Marien-Tondo hinzugefügt wurde, zeigt auch das Symbol der fallenden Flammen, das in der Primavera die Gewänder von Venus und Merkur ziert und mit dem das Prunksofa und weitere Möbel des Raumes über und über bemalt waren.45 Dieses erscheint auch in Altar- und Andachtsbildern Botticellis, u. a. als Hinweis auf die Ausgießung des Heiligen Geistes beim Pfingstwunder.46 In der ebenfalls in den frühen 1480er Jahren entstandenen Madonna mit dem Buch (Mailand, Museo Poldi Pezzoli) schmückt es an ihrem Oberarm das Gewand Mariens. Als vieldeutiges, sowohl auf die irdische als auch auf die himmlische Liebe beziehbares Symbol konnte das Flammenbündel zudem auf das Flammenmartyrium des heiligen Laurentius (ital.: Lorenzo) verweisen und damit als heraldisches Zeichen auf die gleichnamigen Lorenzo di Pierfrancesco und Lorenzo il Magnifico.47 Noch weitere Bildelemente der Primavera, z. B. die Orangen, eine Allusion auf die goldenen Äpfel im Garten der Hesperiden und auf die palle, die goldenen Bälle im Wappen der Medici, ließen sich heraldisch

Als großformatige mythologische Darstellungen gehörten die beiden Gemälde Botticellis einer neuen Gattung an, deren erste Beispiele für zentrale Orte dynastischer Repräsentation entstanden waren, die dann aber vor allem in privateren Kontexten auftraten.50 Nachdem sie das Gemach der Semiramide Appiani geschmückt hatten, wurden Botticellis Gemälde wahrscheinlich in den späten 1510er Jahren in die Medici-Villa in Castello verbracht. Dort hing die Primavera in der Mitte des Jahrhunderts neben Botticellis Geburt der Venus (Abb. 34), wie Vasari in seinen Viten berichtet.51 Ein Inventar von

44 Die

49

Bredekamp 1988, S. 48; Ebert 2016, S. 199 (mit weiteren Literatur-

50

Frank Zöllner: Die Malerei des Quattrocento in Italien. In:

Primavera hing rechts neben dem Eingang zur camera.

»Multi multa ferunt«: Gemalte poesie und ihr kommunikativer Gebrauch

Rohlmann ging davon aus, dass die Supraporte über dem Eingang zum Speisesaal hing. (Rohlmann 1996, S. 123.) Nach der

hinweisen).

Rekonstruktion von Ebert hing sie dagegen über dem Eingang

Kunsthistorische Arbeitsblätter, 10/2002, S. 16f. Zu den ersten

zur camera von Lorenzo di Pierfrancesco. Siehe Ebert 2016,

Beispielen zählten die um 1460 von Antonio und Piero del Pol-

S. 121, Abb. 33.

laiuolo für den großen Saal des Palazzo Medici ausgeführten

Shearman 1975, S. 22; Smith 1975, S. 35.

monumentalen Darstellungen der Taten des Herkules, von

46

Bredekamp 1988, S. 40ff.

denen nur noch zwei kleine Repliken Antonios (Florenz, Uffi-

47

Ebda., S. 44, 46.

zien) einen Eindruck geben, und die 1466 bis 1470 von Francesco

48

So vor allem Bredekamp 1988, der die Primavera (und Pallas

del Cossa und seinen Mitarbeiter gemalten Fresken im Palazzo

und der Kentaur) als Manifestation der Opposition Lorenzo di

Schifanoia in Ferrara, in deren Darstellungen die gute Regent-

Pierfrancescos gegen den Machtanspruch des Lorenzo il Magni-

schaft des Borso d’Este der ewigen Herrschaft der olympischen

45

Götter analogisiert ist.

fico deutet; Levi d’Ancona 1992; Leuker 2007, nach dem beide Gemälde die Herrschaft der Medici bzw. des Lorenzo il Magni-

51

Vasari 1966–97, III, S. 513f.

fico nach der Krise der Jahre 1478–1480 feiern sollten (ebda., S. 259–313).

» M ulti multa ferunt« : Gemalte poesie und ihr kommunikativer G ebrauch

97

Abb. 34  Sandro Botticelli:

Die Geburt der Venus, um 1483,

Florenz, Uffizien

1598 verzeichnet sie im »Salotto dove mangia il Gran Duca«.52 Wie das Brautgemach im Stadtpalast waren auch Villen und zumal deren Speiseräume Orte der Geselligkeit, wo solche Werke als anregendes Objekt geistvoller Gespräche genutzt werden konnten. Haben wir an Fra Angelicos Pala di San Marco festgestellt, dass dieses Kunstwerk im sakralen Kontext bereits eine dezidiert selbstreflexive, das räsonierende Gespräch herausfordernde Dimension aufwies, so konnten solche Qualitäten hier ungehindert nachvollzogen werden, und vieles spricht dafür, dass die komplexe Inhaltlichkeit der Primavera bereits diesem Zweck Rechnung trug. In Anbetracht der zahllosen Deutungen dieses Werks, eines der meistdiskutierten Gemälde der Kunstgeschichte, hat Horst Bredekamp von der »herausfordernden Rätselstruktur ihrer Formen« und von ihrer »Atmosphäre einer fremden, distanzierten Welt« ge-

sprochen und betont, dass die Primavera »an der Grenze dessen steht, was die bildhafte Form gedanklich auszuhalten vermag«.53 Beleuchtet man diese Merkmale in Hinblick auf die historischen Formen des kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken, so erscheint evident, dass sie kein Zufallsprodukt, sondern ein erwünschter Effekt waren. Drei Dinge sind in dieser Hinsicht hervorzuheben: 1) Die Primavera und Pallas und der Kentaur weisen jeweils einen genuinen, nicht auf eine einzelne Schrift zurückführbaren Inhalt auf. Sie zählen damit, wie Charles Dempsey betont hat, zu den frühesten Beispielen der inventio eines in dieser Form nicht literarisch verbürgten mythologischen Sujets (favola), zu den ersten »poesie«, wie man solche Gemälde später nennen sollte.54 2) Zugleich war ihre Thematik der Liebe und Keuschheit, Leidenschaft und Vernunft damals in der

52

Shearman 1975, S. 18.

54

53

Bredekamp 1988, S. 8. Ähnlich auch Gombrich 1945, S. 11f., der

nach dem Tod von Lorenzo aufgenommenen Medici-Inventar

wie bereits Léon Rosenthal (Sandro Botticelli et son réputation à

auf, in dem »una poesia con due fighure e più paesi« verzeichnet

l’heure présente. Dijon 1897) diese Rätselhaftigkeit vor allem an

ist. (Eugen Müntz: Les collections des Médicis aux XVe siècle.

der Ambivalenz der Mienen und Gesten festmachte und er-

Paris 1888, S. 85.) In seinem 1500/01 verfassten Brief an Friedrich

klärte: »In the best of cases expression in pictorial art remains an

den Weisen schrieb Jacopo de’ Barbari: »Oltra di questo necesita

ambigous language.« (Ebda., S. 12.)

la poesia per la invention de le hopere, la quale nase da grama-

98

Dempsey 1992, S. 27f. Der Begriff taucht erstmalig in dem 1492,

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

Philosophie und Dichtung höchst verbreitet, wie auch in Darstellungen von cassoni und spalliere und der Ikonographie öffentlicher Feste, wie dem calendimaggio, dem Florentiner Frühlingsfest, und den Hochzeiten der großen Familien.55 Die beiden Gemälde Botticellis waren für die Zeitgenossen gewiss keine Visualisierung eines angestaubten Philologenwissens, sondern, wie Pierre Francastel betont hat, Bestandteil einer öffentlichen Mythenbildung, die die politischen und sozialen Geschicke der Stadt reflektierte.56 3) Zudem waren ihre Themen Gegenstand einer ars sermonis, in deren Rahmen, wie u. a. Pietro Bembos Gli Asolani57 und Castigliones Libro del Cortegiano bezeugen, die Liebe, neue, höfisch geprägte Normen des Anstands, insbesondere das ideale Verhalten der nunmehr eine neue Stellung einnehmenden Frau, und auch der Sinn und Zweck der Künste erörtert wurde. Dies geschah in heiteren, spielerischen Formen des bel parlare, die auch die Rezeption konkreter Kunstwerke bestimmten. Und diese Geselligkeit – und damit schließt sich der Kreis der Intertextualität – war wiederum Gegenstand der Dichtung und der Malerei, wie u. a. zahlreiche spalliere mit Darstellungen von Geschichten aus dem Decamerone bezeugen. So hat Lorenzo il Magnifico in Hinblick auf den »sich vorbereitende[n] Fürstenrang des Hauses« die Florentiner Feste, die den Vergleich mit keinem italienischen Hof zu scheuen brauchten, nicht nur durch

Die Heiterkeit und Ernsthaftigkeit verbindende Geselligkeit war also Bestandteil der Repräsentation des dynastischen Rang anstrebenden Magnifico und sie und ihre Themen durch Texte und Bilder entsprechend öffentlich präsent. Diese Zusammenhänge lassen sich eindrucksvoll mit einem Beispiel belegen, das schon Aby Warburg für die Deutung der Primavera herangezogen und das Salvatore Settis in unserem Sinne gedeutet hat:59 Eines der größten Ereignisse der Florentiner Festkultur war das Turnier, das, ausgerufen von den Capitani di Parte Guelfa, am 29. Januar 1475 zur Feier eines von Lorenzo il Magnifico ausgehandelten Verteidigungsbündnisses

tica e retorica ancor dialectica. E de istorie convien essere pitori

myhologique au Quattrocento: Expression littéraire et visualisa-

copiosi.« (Luigi Servolini: Jacopo de’ Barbari. Padua 1944, S. 105f.;

tion plastique. In: Ders.: Œuvres II: La réalité figurative: Élé-

dt. Übersetzung in Pfisterer 2002a, S. 268.) Paolo Pino sollte dann

ments structurels de sociologie et de l’art. Paris 1965, S. 229–252;

1548 in seinem Dialogo di pittura ausdrücklich die Erfindung

Ders.: Un mythe poétique et social du Quattrocento: La Prima-

neuer poesie verlangen: »Or alla seconda parte, già detta inven-

vera. In: Ebda., S. 253–266; Paola Veltrone: Lorenzo’s Politica fes-

zione; questa s’intende nel trovar poesie e istorie da sé (virtù

tiva. In: Michael Mallett/Nicolas Mann (Hrsg.): Lorenzo The

usata da pochi delli moderni), et è cosa appresso di me molto

Magnificant. Culture and Politics (Warburg Institute Colloquia

Dichter und Künstler gestalten und verewigen lassen, sondern sich, wie Jacob Burckhardt betont hat, daran erfreut, »… sein geselliges Vergnügen selber zu verherrlichen, monumental darzustellen. In der herrlich improvisierten ›Falkenjagd‹ schildert er seine Genossen scherzhaft, in dem ›Gelage‹ [Simposio] sogar höchst burlesk, allein so, dass man die Fähigkeit des ernsthaftesten Verkehrs deutlich durchfühlt. Von diesem Verkehr geben dann seine Korrespondenz und die Nachrichten über seine gelehrte und philosophische Konversation reichlich Kunde.«58

ingeniosa e lodabile. […] E perché la pittura è propria poesia, cioè invenzione, la qual fà apparare quello che non è, però util sa-

III). London 1996, S. 105–116. 56

La Primavera. In: Francastel 1965, S. 253–266

rebbe osservare alcuni ordini eletti dagli poeti che scrivono, i quale, nelle loro comedie e altre composizioni vi introducono la

57

Zu den Asolaner Gesprächen siehe Sabrina Ebbersmeyer: Sinn-

brevità, il che debbe osservare il pittore nelle sue invenzioni, e

lichkeit und Vernunft. Studien zur Rezeption und Transforma-

non voler restringere tutte le fatture del mondo in un quadro.«

tion der Liebestheorie Platons in der Renaissance. München

[Paolo Pino: Dialogo di pittura. In: Barocchi 1960, S. 115.] 55

Pierre Francastel: Un mythe poétique et social du Quattrocento:

2002, S. 149ff.

Zu den cassoni und spalliere siehe oben, Anm. 2. Zu den Bezü-

58

Burckhardt 1981, S. 416. Vgl. auch Veltrone 1996.

gen der Primavera zur Festkultur siehe Pierre Francastel: La fête

59

Settis 1971.

» M ulti multa ferunt« : Gemalte poesie und ihr kommunikativer G ebrauch

99

Abb. 35  Französische Manufaktur (?) nach einem Karton der BotticelliWerkstatt: Minerva pacifica, um 1494–1500, Tapisserie, französischer

­Privatbesitz

zwischen Florenz, Mailand und Venedig veranstaltet wurde. Besondere Aufmerksamkeit erregte bei diesem Ereignis der Auftritt des Giuliano de’ Medici, Lorenzos

60

jüngerem Bruder, der reich geschmückt, u. a. mit einem silbernen Prunkhelm der Werkstatt Verrocchios, und mit großem Gefolge auf den Platz einzog, den er als Sieger des Turniers verlassen sollte. Vorangetragen wurde ihm eine von Botticelli bemalte Standarte, mit der Giuliano seine Liebe zu der schönen, freilich bereits verheirateten Simonetta Vespucci (geborene Cattaneo) bekundete. Diese Fahne war, nach allem, was wir wissen, Botticellis erste mythologische Darstellung und zugleich seine erste Auftragsarbeit für einen Medici.60 Sie wurde später auf Holz aufgezogen und zierte zusammen mit Giulianos Helmen das Zimmer von Piero, einem der Söhne des Magnifico.61 Einen ungefähren Eindruck von ihr geben je eine Zeichnung Botticellis und seiner Werkstatt und eine auf sie zurückgehende Tapisserie mit der Darstellung der Minerva pacifica (Abb. 35), die der Protagonistin der Supraporte (Abb. 33) durchaus ähnlich ist.62 Die Darstellung der nicht erhaltenen Standarte, eine inventio »del dottisimo huomo M. Angelo Politiano«, zeigte einen Haufen brennender junger Olivenzweige, der die unvergleichliche, sogar grünes Holz entflammende Liebesglut Giulianos bezeichnen sollte (»… per significare che il suo ardor d’amore era incomparabile, poi ch’egli abbruciava le legna verdi«), wie Paolo Giovio in seinem Dialogo dell’imprese militari et amorose erläutern sollte.63 Über diesem war die gewappnete Pallas Athene zu sehen, die zu der strahlenden Sonne über ihr aufschaute. Neben der Göttin war ein von ihr unterworfener, an einem Olivenbaum gefesselter Cupido mit zerbrochenem Bogen, Köcher und Pfeilen vor seinen Füßen dargestellt. Ein Spruchband an dem nur einen Ast tragenden Stamm des Baumes zeigte in goldenen

Andrea Grömling/Tilman Lingesleben: Alessandro Botticelli

zur Tapisserie die gewappnete keusche Minerva (Minerva pu-

1444/45–1510. Köln 1998, S. 31.

dica) bzw. Pallas zeigte; John T. Spike/Alessandro Cecchi: Botti-

61

Lightbown 1989, S. 63.

celli and the Search for the Divine. Florentine Painting between

62

Zu der für den Grafen Guy de Baudreuil angefertigten Tapisserie

the Medici and the Bonfire of the Vanities. Ausst.-Kat., Williams-

und den erwähnten Zeichnungen siehe Andreas Schumacher:

burg, Muscarelle Museum of Art at the College of William &

Französische Manufaktur nach einem Karton der Botticelli-

Mary, Boston, Museum of Fine Arts, Williamsburg 2017, S. 122

Werkstatt: Minerva pacifia. In: Ausstellungskatalog Frankfurt/M. 2009, S. 218–220 (Kat.-Nr. 27), der Grenzen der Vergleichbarkeit betont, da die Darstellung der Standarte im Unterschied

100

(Kat.-Nr. 17). 63

Paolo Giovio: Dialogo dell’imprese militari et amorose. Venedig 1556, S. 27f. Hier zit. n. Settis 1971, S. 136.

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

Lettern das gemäß der Tradition der spätgotischen Ritterkultur in französischer Sprache formulierte Motto »La sans par« (Die Ohnegleiche).64 Dieses zierte auch die zudem mit Flammensymbolen geschmückte Kleidung Giulianos, während die Schabracke seines eigens vom Herzog von Urbino ausgeliehenen Apfelschimmels, der auf den Namen ›Orso‹ hörte, mit Flammen und Olivenzweigen gemustert war. Den Sinn dieser Allegorie offenbaren die Stanze per la giostra del Magnifico Giuliano di Piero de’ Medici (Strophen für das Turnier des großartigen Giuliano de’ Medici), in denen Angelo Poliziano Elemente derselben verarbeitet hat. In den Stanzen erweckt der stolze Julio, der der Liebe spottet und lieber der Jagd nachgeht, den Zorn Amors, der ihn auf die schöne Nymphe Simonetta treffen lässt, aus deren Auge ihn der Pfeil Amors trifft. Nach Amors Rückkehr in das ausführliche geschilderte Reich der Venus sorgt diese dafür, dass Simonetta Julio im Traum als gewappnete keusche Minerva erscheint, die Cupido überwältigt und seine Waffen zerstört hat und seine Flügel stutzt. Simonetta-Minerva fordert ihn auf, nicht dem unterworfenen Liebesgott, sondern der am Himmel in gleißendem Licht erscheinenden Gloria nachzueifern, aus deren Händen Julio die Waffen Minervas erhält. Gestärkt aus dem Traum erwacht, betet er vor einem Standbild der Minerva und verspricht ihr bzw. der angebeteten Simonetta den Sieg im Turnier.65 In einer Florentiner Ausgabe der Stanzen vom Ende des Quattrocento wurde diese Episode durch einen Holzschnitt illustriert (Abb. 36), der Julio kniend vor einem Altar zeigt, auf dem brennende Holzscheite liegen. Darüber erscheint in einer Nische eine lanzenbewehrte Göttin. In den entsprechenden Versen ruft Julio diese mit den Worten »Oh heilige Göttin, Tochter des Jupiter« an. Während in Polizians Text Minerva agiert, scheint es sich bei der in dem Holzschnitt repräsentier-

Abb. 36  Giuliano de’ Medici vor einem der Venus geweihten Altar, ­Holzschnitt aus einer Florentiner Ausgabe der Stanzen Polizians

ten Figur hingegen um die von Pausanias erwähnte bewaffnete Venus von Kythera zu handeln66 – dafür spricht der der Venus geweihte Altar mit der Inschrift »Citarea«, ein auf ihren Geburtsort anspielender Beiname der Liebesgöttin.67 Settis hat daraus den Schluss gezogen, dass sich diese wehrhafte Göttin einer präzisen Identifikation entzieht – wie auch die ihr ähnliche Minerva/Pallas-Camilla-Venus in dem Gemälde Pallas und der Kentaur (Abb. 33) – und dass diese Unbestimmtheit beabsichtigt war. Ihre Ambivalenz machte solche Darstellungen zu einem Rätsel, das kontrovers diskutiert und gelöst werden wollte. In humanistisch geschulten Kreisen, in denen sich die Devisenkunst und Hieroglyphik großer Beliebtheit erfreuten, deren Symbole und Sinnbilder damals bereits durch TarockKarten verbreitet wurden, schätzte man solche Gesprächsanreize. Deutlich zeigt dies eine der vielen literarischen Behandlungen des Turniers von 1475, ein Gedicht, das Giovanni Aurelio Augurelli, ein aus Rimini gebürtiger Humanist, verfasst und Bernardo Bembo ge-

64

Lightbown 1989, S. 64.

Giuliano di Piero de’ Medici. In: Ausstellungskatalog Frank-

65

Angelo Poliziano: Stanze, 2, 40–43. Zu der schon von Warburg

furt/M. 2009, S. 222ff. (Kat.-Nr. 28/29).

1969, S. 23ff. herangezogenen Textstelle siehe: Gabriel Dette:

66

Wie Anm. 40.

Luigi Pulci (1432–1484): La giostra di Lorenzo de’ Medici – An-

67

Bredekamp 1988, S. 58.

gelo Poliziano (1454–1494): Stanze per la giostra del Magnifico

» M ulti multa ferunt« : Gemalte poesie und ihr kommunikativer G ebrauch

101

widmet hat. Darin berichtet er, dass bei diesem Anlass die allegorische Darstellung der Standarte Giulianos zum Gegenstand eines allgemeinen Rätselratens wurde: »Viele«, so schrieb Augurelli, »gaben ihrer Meinung Ausdruck, keiner ist sich mit einem anderen einig. Nun, das alles ist noch schöner als die gemalten Bilder. (Multi multa ferunt, eadem sententia nulli est: pulchrius est pictis istud imaginibus.)«68 Das Rezeptionsverhalten, das sich bei dem erwähnten Turnier, wie Augurelli schrieb, noch besser entfaltete als bei den gemalten Bildern, ging zurück auf die höfische ars sermonis des Mittelalters, die vor allem die Liebe in Gesprächsspielen behandelt hatte. Dabei pflegte man theoretische Fragen und Probleme aufzuwerfen, die von allen Teilnehmern erörtert werden sollten.69 Eine weitere Form solcher Unterhaltungen waren die Spiele einer ars combinatoria, bei denen man z. B. Farben nach ihrer symbolischen Bedeutung z. B. unter theologischen, heraldischen und astrologischen Gesichtspunkten ordnete. Nach Michael Baxandall sind aus ihnen die Anfänge der kunsttheoretischen Reflexion der Farben hervorgegangen.70 Solche Praktiken haben sich mit dem Humanismus ausgebreitet und Eingang auch in bürgerliche Kreise gefunden. Im späten Quattrocento erfreuten sie sich größter Beliebtheit an den Höfen, wo man sie offenbar im Bewusstsein ihrer dortigen, bis ins Mittelalter zurückreichenden Tradition pflegte. Wie schon erwähnt, hat Baldassare

68 69

Castiglione tatsächlich dem Hof von Urbino eine herausragende Stellung zugesprochen, da »die Spiele, die man zur Erholung für die von den schwierigsten Geschäften ermüdeten Geister erfand, denen überlegen waren, die man an den anderen Höfen Italiens pflegt.«71 Wie solche Vergnügungen aussahen, beschreibt der Autor wie folgt: »[…] die Gewohnheit aller Edelleute des Hauses war, sich sofort nach dem Abendessen zur Frau Herzogin zu begeben. Dort wurden unter anderem vergnüglichen Zeitvertreib und Musik und Tänzen, wie sie ständig üblich waren, zuweilen schöne Fragen gestellt, zuweilen geistreiche Spiele nach Belieben des einen oder anderen veranstaltet, wobei die Anwesenden unter verschiedenen Verhüllungen verblümt ihre Gedanken demjenigen entdeckten, der ihnen am besten gefiel. Manchmal ergaben sich andere Streitgespräche über unterschiedliche Gegenstände, oder aber man stichelte sich mit witzigen Einfällen; oft wurden Wahlsprüche erfunden, Impresen, wie wir sie heute nennen. An derartigen Unterhaltungen hatte man ein wunderbares Vergnügen, da, wie ich sagte, das Haus voll der edel­ sten Geister war.«72

Die Erfindung solcher Impresen, die, wie Castigliones Bericht zeigt, nicht zuletzt den Vergnügungen des

Zit. n. Settis 1982, S. 161; dazu auch Pfisterer 2012, S. 45f.

chi: narrate novelle, e cantate alcune amorose Canzonette. Ve-

Fritz Baumgart: Erläuterungen. In: Castiglione 1986, S. 447. Zu

nedig (Giunti) 1587, S. 38ff.] Zu den folgenden vier Fragen hat er

dieser Tradition siehe: Passare il tempo. La letteratura del gioco

jeweils Argumente für das eine und das andere zusammenge-

e dell’intrattenimento dal XII al XVI secolo (Atti del Convegno di

tragen: »Quistione Prima: Se l’Amante di donna nobile debba

Pienza, 10.-14. Sett. 1991). Rom 1993. Die Popuarität dieser Prakti-

dare opera all’armi; ò più tosto alle lettere.«, S. 41ff.; »Quistione

ken bezeugt ihre Behandlung in späteren Schriften: Zahlreiche

Seconda: Se in Amore vaglia piu l’Arte, o la Natura.«, S. 62ff.;

amouröse Spiele behandelt Girolamo Bargagli: Dialogo de Givo-

»Quistione Terza: Che cosa in armor sia di più ualore, o la be-

chi che nelle vagghie sanesi si vsano di fare. Venedig (Giovan.

lezza del corpo, o quella dell’animo.«, S. 71ff.; »Quistione Quarta

Griffo) 1592, z. B. »givochi del Tempio di Venere« (S. 53ff.), »givo-

Et Ultima: Se copertamente, ò discopertamente si debbe

chi del Senato amoroso« (S. 99f.) und »piaceuoli della Caccia

amare.«, S. 84ff.

d’Amore« (S. 125ff.). Im ersten Teil seiner Trattenimenti be­

70

Baxandall 1980, S. 101f.

handelt Scipione Bargagli das »Giuocho di quistioni d’Amore«.

71

Castiglione: Libro del Cortegiano, III, 1 (Castiglione 1986,

[I Trattenimenti di Scipion Bargagli; dove da vaghe donne, e da giouani Huomini rappresentati sono honesti, e dilettuoli givo-

102

S. 239f.). 72

Ebda., I, 5 (Castiglione 1986, S. 20f.).

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

Flirts dienten, wurden in Zeichnungen festgehalten und ihre allegorischen Darstellungen mit einem Sinnspruch versehen.73 Die erste literarische Behandlung dieser Praktiken in Italien waren die gemeinhin als Schlüsseltext für die Primavera angesehenen Stanzen Polizians,74 des Angehörigen des Haushalts des Lorenzo il Magnifico und Lehrers seiner Söhne und seines Cousins Lorenzo di Pierfrancesco. Der zitierte Passus aus dem Cortegiano zeigt, dass die erwähnten Formen der Geselligkeit, wie schon in Boccaccios Decamerone, unter weiblicher Regie stattfanden. Wie Castiglione schrieb, pflegte man »sich sofort nach dem Abendessen zur Frau Herzogin zu begeben«.75 Im alten Stadtpalast der Medici grenzte im Erdgeschoss ein Speisesaal an das Gemach der Semiramide Appiani, die – davon ist auszugehen – nach dem Essen auf dem lettuccio, unter der Primavera sitzend ihre Gäste empfing und dabei wie ein lebendiges Double der Herrscherin des Venusreiches gewirkt haben muss.76 Eben diese Bestimmung von Botticellis poesia, die als mythischer Spiegel der in ihrem Zeichen stattfindenden Geselligkeit unter weiblichem Vorsitz fungierte, reflektiert auf verblüffende Weise ein Holzschnitt, der in einer 1492 in Venedig erschienenen Ausgabe des Decamerone nicht weniger als sieben Mal, nämlich jeweils am Anfang jener giornate abgedruckt ist, an denen eine Dame der vor der Pest geflohene Florentiner Gesellschaft präsidiert (Abb. 37).77 Seine zwei, durch Stützen und Rundbögen gerahmten Bildfelder zeigen jeweils die lorbeerbekränzte »Königin eines

Tages«, umringt von einer geselligen Runde, welche links in einem Garten und rechts in einem Innenraum dargestellt ist. Die Regentin im linken Bildfeld ist vor einem Baum stehend, inmitten einer Gartenlaube inszeniert, deren hölzernes Gerüst sie ebenso nischenartig umfängt wie die Orangenbäume die Venus in der Primavera (Abb. 29). Der Urheber dieses Holzschnitts, in dessen linker Hälfte auch die Köpfe der beiden seitlichen Frauengestalten von Baumkronen hinterfangen werden, hat offenbar Botticellis Gemälde im Wissen um seine historischen Verwendungsformen rezipiert. Sandro Botticelli hat in den Jahren 1482/83 neben der Primavera mit seiner Werkstatt auch die von Antonio Pucci anlässlich seiner Hochzeit bestellten vier spalliere mit Darstellungen der Liebesabenteuer des

73

Fritz Baumgart: Erläuterungen. In: Castiglione 1986, S. 447.

76

74

Ebda. Solche »Givochi dell’imprese« behandelten dann u. a.

Vgl. Rohlmann 1996, S. 50; Sergiusz Michalski: Venus as Semiramis: A New Interpretation of the Central Figure of Botticelli’s

Paolo Giovio in seinem Dialogo dell’imprese militari et amorose

›Primavera‹. In: Artibus et historiae, 48 (XXIV), 2003, S. 213–222;

(Venedig 1556) und Girolamo Bargagli in seinem Dialogo de

zur Funktion des lettuccio als eines bei Empfängen genutzen

Giuochi. (Bargagli 1592, S. 179ff.) Wie schon Poggio Bracciolini

Prunkmöbels siehe Peter Thornton: The Italian Renaissance In-

hatte auch Poliziano eine Sammlung von Witzen ediert. Siehe

terior, 1400–1600. London 1991, S. 147ff.

Barbara C. Bowen: The Collection of Facezie Attributed to An-

75

Abb. 37  Illustration einer 1492 in Venedig erschienenen Ausgabe des

­Decamerone, Holzschnitt

77

Giovanni Boccaccio: Decamerone. Add: Hieronymus Squarzafi-

gelo Poliziano. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance,

cus: Vita di Boccaccio. Venedig (Johannes u. Gregorius de Gre-

56, 1994, S. 27–38. Diese Tradition kulminierte in der ausführli-

goriis, de Forlivio) 1492. Ein eingangs der vierten, siebten und

chen Zusammenstellung in Castigliones Libro del Cortegiano.

zehnten Giornata abgedrucktes Pendant zeigt in beiden Bildfel-

Wie Anm. 72.

dern einen Edelmann im Zentrum.

» M ulti multa ferunt« : Gemalte poesie und ihr kommunikativer G ebrauch

103

Abb. 38  Andrea Mantegna: Parnass, 1497, Paris, Musée du Louvre

Nastagio degli Onesti, eines Stoffs aus dem Decamerone, ausgeführt.78 Er und Polizian werden auch jene Stelle dieser Schrift gekannt haben, an der im Proemio des dritten Tages als Ort der Lustbarkeiten ein Garten mit unzähligen Pflanzen beschrieben wird, dessen Zentrum in auffälliger Weise dem der Primavera ähnelt: »Mitten in dem Garten – und das war nicht sein geringster Vorzug – war eine Wiese von zartem Grase, deren beinahe ins Schwarze übergehendes Grün vielleicht von tausenderlei bunten Blumen unterbrochen war; und sie war ringsum von grünen, strotzenden Orangen- und Zitronenbäumen umschlossen, die mit ihren Früchten, alten sowohl als

78

auch unreifen, und ihren dabei noch immer blühenden Zweigen zugleich das Auge durch den Schatten und den Geruchssinn durch den Duft letzten.«79

Die Beschreibung dieses irdischen Paradieses, eines locus amoenus, dürfte für die Primavera durchaus relevant gewesen sein, ist doch in ihr neben dem dunklen, fast schwarzen Wiesengrün auch jenes Merkmal des Orangenbaums hervorgehoben, das diesen zu einem Symbol Mariens und der unbefleckten Empfängnis hatte werden lassen: Er trägt gleichzeitig Blüten und Früchte.80 Diese Keuschheitssymbolik begegnet uns auch in zahlreichen Spätwerken von Andrea Mantegna,

Wesselski, Übertragung der Gedichte von Theodor Däubler,

Lightbown 1989, S. 119f.; Olsen 1992, passim, bes. S. 146 (zur Da-

Wiesbaden 1985, S. 286f. Vgl. Lightbown 1989, S. 123f.

tierung) u. S. 163ff. (zur Hochzeit als Anlass des Auftrags); Körner 2006, S. 277ff. 79

104

Giovanni di Boccaccio: Das Dekameron. Deutsch von Albert

80

Joanne Snow-Smith: The Primavera of Sandro Botticelli. A Neoplatonic Interpretation. New York [u. a.] 1993, S. 227f.

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

signifikanter Weise auch in seinen Gemälden für das Studiolo der Isabella d’Este. Im Parnass (Abb. 38), einer Allegorie der vermeintlich glücklichen Ehe der jungvermählten Herzogin, die demnach ihren Mann Francesco Gonzaga zu bändigen wusste wie Venus den Kriegsgott und Pallas den Kentaur, sind dem keuschen Mars Orangen- und Zitronenbäume zugeordnet, der Liebesgöttin hingegen ihr heiliger Baum, die immergrüne Myrte. In dem Gemälde Minerva vertreibt die Laster aus dem Garten der Tugend (Paris, Louvre) trägt die Arkade aus beschnittenen Orangenbäumen Früchte und Blüten. In der 1496 gemalten Madonna della Vittoria (Abb. 39),81 einer Sacra conversazione, trägt sodann ein aus beschnittenen Gewächsen geformter Baldachin tausenderlei Blüten und Früchte, darunter auch Orangen und Zitronen. Wie der angeführte Decamerone-Holzschnitt dürften auch diese Werke die Rezeption der Primavera in Oberitalien bezeugen.

›Wilde Männer‹. Exkurs zur Geschlechtergeschichte

Auch die angeführte ikonographische Filiation erhärtet unsere These, dass die Primavera die Funktion hatte, als verdichtetes Reflexionsbild der Geselligkeit im Zimmer der Semiramide Appiani Gesprächsstoff zu liefern und als ihr mythischer Spiegel zu fungieren. Damit bezeugen die beiden Gemälde Botticellis auch historische Veränderungen der an die Frau gerichteten Rollenerwartung. Denn ihr Schlafzimmer war traditionell ihr Refugium, ihre Zelle, der »Ort ihrer geistlichen Existenz«.82 Das der Semiramide hingegen, die im Piano nobile des Medici-Palastes zudem über ein eigenes, an die

81

Abb. 39  Andrea Mantegna: Madonna della Vittoria, 1495/96, Paris, Musée du Louvre

Zu diesem Werk siehe Ugo Bazzotti: La chiesa di Santa Maria

Taufe Christi (Mantua, Sant’Andrea) sind Blüten und Früchte

della Vittoria e la pala di Andrea Mantegna. In: Rodolfo Signorini

tragende Orangen- und Zitronenbäume dargestellt, Orangen

(Hrsg.): A casa di Andrea Mantegna. Cultura artistica a Mantova

und Zitronen auch in den Beiden heiligen Familien (Mantua,

nel Quattrocento. Ausst.-Kat. Mantua, Casa del Mantegna, Mailand 2006, S. 200–219. Auch in Mantegnas Madonna mit Kind, Engeln und Heiligen (Mailand, Castello Sforzesco) und in der

› Wilde Männer‹ . E x kurs zur G eschlechtergeschichte

Sant’Andrea). 82

Charles de La Roncière: Gesellschaftliche Eliten an der Schwelle zur Renaissance. In: Aries/Duby 2000, Bd. 2, S. 296.

105

Hauskapelle angrenzendes appartamento verfügte,83 erfüllte offenbar in Anlehnung an höfische Gepflogenheiten vor allem die Funktion eines Ortes der Geselligkeit. Bereits seine Situierung neben einem Speiseraum und das Mobiliar mit dem Bett, weiteren Sitzmöglichkeiten und dem lettuccio lassen darauf schließen. Dieser vereinte in sich als präsidiales Prunkmöbel, das auch von Fürsten bei Empfängen als Thronsitz genutzt wurde, repräsentative und Nutzfunktionen.84 Die neue der Braut zugedachte Rolle und spezifische Funktionen ihres Raumes reflektierten zudem Botticellis Gemälde, die ihr mit Blick auf die öffentlichere Sphäre des Speiseraums und die privatere des Schlafzimmers ihres Mannes unterschiedliche Verhaltensoptionen nahelegten. Man hat die in ihnen visualisierten Rollenerwartungen u. a. auf Albertis Della famiglia und Francesco Barbaros Ehetraktat von 1415 zurückgeführt, den dieser Lorenzo di Pierfrancescos Großvater gewidmet hatte.85 Beides aber wird man in Mediceer-Kreisen zur Entstehungszeit der Primavera tatsächlich bereits als Großvaterliteratur angesehen haben, die wenig mehr als die alten Forderungen nach den klassischen weiblichen Tugenden der Demut, Keuschheit, Ehrbarkeit etc. und Ratschläge wie den Albertis enthielt, man solle eine Frau mit kräftigem Körperbau wählen, da von solchen gesunde Kinder zu erwarten seien. Die differenzierten Erwartungen, die hingegen Botticellis Gemälde artikulierten, waren ganz anderer Art, zeigt doch die Darstellung Pallas und der Kentaur (Abb. 33) eine weibliche Dominanz, wie sie weder in einem antiken Text, noch bei Alberti thematisiert ist, und damit eine kühne Umkehrung des traditionellen Geschlechterverständnisses. Diesem gemäß wurde der Mann gemeinhin als Repräsentant der ratio, als caput und animus der Ehe ver-

standen, die Frau dagegen als affektbefangenes Wesen, dem die Rolle des Fleisches, des corpus, zukam.86 Ein in Zusammenhang mit dem neuen Eheverständnis, das Botticellis Gemälde bezeugen, zu nennender Text ist Lorenzo Vallas De voluptate ac de vero bono, dessen erste Version der Autor im Sommer 1433 beendet hat.87 Im dritten Buch dieser antistoizistischen Schrift betont der Christ, dass Adam und Eva die Urgesellschaft bildeten, nämlich die Ehe, die Archetyp aller zwischenmenschlichen Zuneigung (caritas) und zugleich der Theologie und der Geselligkeit ist.88 Denn nur in Gesellschaft bereite der Anblick der Schöpfung Vergnügen, nur sie ermögliche ein »bona Dei renarrare« und »communicare«. Eine Stelle in Aristoteles’ Metaphysik abwandelnd, hat Valla damit die Bewunderung der Schöpfung und die Kommunikation beider Geschlechter zu den ersten menschlichen Bedürfnissen und die eheliche Gemeinschaft zum Ort der somit ursprünglich geselligen göttlichen Wissenschaft erhoben.89 Eben diesen Funktionen dienten ein halbes Jahrhundert später die Gemälde in dem Raum der Semiramide. Nach Valla ist der Mann auch in theologischer Hinsicht auf die eheliche Kommunikation angewiesen, wobei der Autor seine Autorität nicht grundsätzlich in Frage gestellt hat. Das Motiv der weiblichen Dominanz in Botticellis supraporte lässt sich nicht unmittelbar auf De voluptate zurückführen, war aber bereits durch ältere Texte und Bilder vorbereitet. Denn schon im Frühmittelalter hatten Prediger der Frau die Rolle einer Gefährtin und Erzieherin des Mannes zugesprochen,90 ein Gedanke, der an den spätmittelalterlichen Höfen Verbreitung fand. Ernst Gombrich hat in Zusammenhang mit der Primavera auf spätgotische Tapisserien hingewiesen, in denen die Dame Liebe wilde Männer bän-

83

Siehe Ebert 2016, S. 134ff.

87

Eckard Keßler: Ein Werk, ein Autor und ihre verwirrende Ge-

84

Wie Anm. 76. Der Corpus des lettuccio war eine Truhe, deren ge88

Lorenzo Valla: De voluptate ac de vero bono, III, 17. (Valla 2004,

polsterter, als Sitzfläche zu nutzender Deckel hochgeklappt wer-

schichte. In: Valla 2004, S. VII.

den konnte.

S. 328f.)

85

Rohlmann 1996, S. 119ff. u. S. 131, Anm. 70.

89

Graf 1998, S. 255.

86

Die Unterordnung der Frau wurde vor allem mit dem zweiten

90

Rüdiger Schnell: Geschlechterbeziehung und Textfunktionen.

106

Schöpfungsbericht (1. Mose 2,4ff.) und Paulus-Zitaten legiti-

Probleme und Perspektiven eines Forschungsansatzes. In:

miert. Siehe Eph. 5,22ff. und 1. Kor. 14, 34f.

Schnell 1998, S. 16, Anm. 39.

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

digt.91 Auch die berühmten, im späten 15. Jahrhundert entstandenen Bildteppiche der Dame mit dem Einhorn (Abb. 40), eine Huldigung ihres Auftraggebers an seine Angebetete (Mon seul désir), berühren dieses Thema. In ihren Darstellungen ist männliche Triebhaftigkeit durch das Einhorn mit seiner phallischen Waffe symbolisiert, ein Fabelwesen, dem man nachsagte, es könne nur durch eine Jungfrau gezähmt werden.92 Auch die oberrheinischen Wilde-Leute-Teppiche, Exponate des lokalen »Heidnischwerks«, von dem italienische Diplomaten wie Enea Silvio Piccolomini und Andrea Gattaro berichtet haben, stehen in dieser Tradition. Ihre zum Teil schon aus dem frühen 15. Jahrhundert datierenden Darstellungen von Männern und Frauen in Fellkostümen, die auf Karnevalsbräuche und wohl auch höfische Maskeraden zurückgingen,93 zeigen erotische Spiele einer das Animalische kultivierenden Liebe, als deren Agent zumeist das weibliche Geschlecht auftritt (Abb. 41).94 Dies belegt hinlänglich, dass Botticelli in seiner supraporte in klassischem Gewand ein nördlich der Alpen verbreitetes höfisches Thema behandelt hat, das in den zeitgenössischen italienischen Ehetraktaten hingegen nicht vorkam und den Rahmen der städtisch bürgerlichen Eheethik sprengte. In Hinblick auf diese ist ein hervorstechendes Merkmal der beiden Gemälde Botticellis hervorzuheben: die bis dahin ungekannte Erotik ihrer fast lebensgroßen, nur leicht bekleiden Figuren. Sie bezeugen einen Wandel im Verständnis der Ehe, eine Neubewertung ehelicher Sexualität, die sich im späten Quattrocento auch im Wiederaufleben der Gattung der Epithalamia, der Hochzeitsgedichte,95 manifestiert und auch Spuren in

Abb. 40  Brüsseler Manufaktur: Der Tastsinn, aus der Serie Die Dame mit

dem Einhorn, Detail, um 1490, Tapisserie, Paris, Musée National du Moyen

Age (Musée Cluny)

der Bildproduktion hinterlassen hat. So entstanden seit der Jahrhundertmitte Hochzeitstruhen (cassoni), die außen mit Darstellungen züchtiger Themen dekoriert sind, deren Deckelinnenseiten aber nackte oder nur leicht bekleidete männliche und weibliche Figuren zeigen, deren Anblick die Ehefrau sexuell stimulieren

91

Gombrich 1945, S. 19.

L’Œuvre), der in die Zeit um 1420/30 datiert wird. (Siehe Anna

92

»Man legt ihm eine Jungfrau, schön ausstaffiert, in den Weg.

Rapp Buri/Monica Stucky-Schürer: Zahm und wild. Basler und

Und da springt das Tier in den Schoß der Jungfrau, und sie hat

Straßburger Bildteppiche des 15. Jahrhunderts. Mainz 1990,

Macht über es, und es folget ihr, und sie bringt es ins Schloß zum

S. 302, Abb. 88.)

König.« (Der Physiologus. Übertragen und erläutert von Otto 93 94

95

Mit Blick auf diese Gattung hat Jane C. Long Botticellis Geburt

Seidl, Zürich/München 1983, S. 21.)

der Venus als Hochzeitsbild gedeutet, das möglicherweise über

[Artikel] Wilde Männer. In: Lexikon der Kunst. Hrsg. v. Harald

dem Ehebett aufgehängt wurde und das Ehepaar sexuell stimu-

Olbrich, Bd. VII, Leipzig 1994, S. 802f.

lieren sollte. (Jane C. Long: Botticelli’s »Birth of Venus« as Wed-

Ein frühes Beispiel ist der Straßburger Teppich Höfische und

ding Painting. In: Aurora. The Journal of the History of Art, IX,

Wilde Leute bei Jagd, Essen und Spiel (Straßburg, Musée de

2008, S. 1–27.)

4

› Wilde Männer‹ . E x kurs zur G eschlechtergeschichte

107

Abb. 41  Baseler Manufaktur:

Dame zähmt Wildmann, um 1470/80,

Kopenhagen, Nationalmuseum

sollte. Auf diese Cassoni-Innenbilder, die auch ein Ausgangspunkt für Giorgiones Ruhende Venus in Dresden und weitere Akte des frühen Cinquecento waren,96 hat man Botticellis Venus und Mars (London, National Gallery) und seine Aktdarstellungen der Venus (Werkstattrepliken u. a. in Berlin, Turin und Genf ) zurückgeführt.97 Signifikant ist, dass es zu dieser Zeit auch Darstellungen weiblicher Dominanz auf Geburtstellern bzw. -tabletts (deschi da parto) gab, auf denen man Müttern nach der Entbindung Essen reichte. Ein in den 1460er Jahren entstandenes Exemplar aus der Werkstatt des Florentiners Apollonio di Giovanni repräsentiert den Triumph der Liebe (Abb. 42): Es zeigt als zentrale

Gestalt Amor mit Pfeil und Bogen, drei ihm assistierende, Liebespfeile abschießende Amoretten, Phyllis, die auf Aristoteles reitet, und Delilah, die Samson bei den Haaren gepackt hat und im Begriff ist, diese abzuschneiden.98 Die Darstellung von Samson und Delilah weist Übereinstimmungen mit derjenigen von Pallas und dem Kentauren (Abb. 33) auf, die einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen ihnen vermuten lassen. Motive, die ansonsten unter pejorativen Vorzeichen als Beispiele der ›Weibermacht‹ vorkamen, sollten auf den desci da parto den niedergekommenen Ehefrauen offenbar einen Machtzuwachs in der Ehe und Familie in Aussicht stellen.99

96

Siehe dazu die Beiträge von Rona Goffen und David Rosand in

Renaissance Florence. Florenz 2015, S. 75–99, bes. S. 83ff.; siehe

R. Goffen (Hrsg.): Titian’s »Venus of Urbino«. Cambridge 1997.

auch Anna Heinze: Der liegende weibliche Akt in Malerei und

97

Hans Körner: »Piu femmine gnude bellisime«. Entkontextuali98

Zöllner 2015, S. 80.

von Sandro Botticelli. In: Gert Jan van der Smau/Irene Mariani

99

Vgl. dazu Hans Körner: Metamorphosen der »Weibermacht«.

(Hrsg.): Sandro Botticelli (1445–1510). Artist and Entrepreneur in

108

Graphik der Renaissance. Petersberg 2016, S. 67ff.

sierung als künstlerische und ökonomische Strategie im Werk

Aby Warburgs Nymphe und das Hybridporträt in der italieni-

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

Abb. 42  Apollonio di Giovanni:

Der Triumph der Liebe, Desco-da-

parto-Tablett, 1460er Jahre, London,

Victoria & Albert Museum

Castiglione hat im Cortegiano von der Teilnahme der Frauen an der höfischen Geselligkeit erwartet, dass sie einer Kultivierung der Männer zugutekomme, sie zu sittsamen Verhalten anhalte.100 Noch vor dem Erstdruck dieser Schrift fand das Motiv weiblicher Dominanz Eingang in die Eheliteratur, nämlich in Erasmus’ weitaus populärsten Beitrag zu dieser Gattung, die Schrift Uxor Mempsigamos, sive Coniugium (Der Hausdrachen oder die Ehe) von 1523. Dieser kurze Dialog zweier Frauen weist einen Ausweg aus der üblicherweise als gottgege-

schen Renaissance. In: Heinz Finger (Hrsg.): Die Macht der

ben hingenommenen Inferiorisierung des weiblichen Geschlechts, nämlich die Bändigung des dominanten, gleichwohl in seiner Triebhaftigkeit berechenbaren Mannes durch die kluge, ihm geistig überlegene Frau. Wiederholt vergleicht Eulalia, die humanistisch gebildet ist, während ihre Dialogpartnerin Xanthippe stets Paulus zitiert, Männer mit Löwen, Elefanten, Pferden etc.101 »Kein Tier ist so schrecklich«, so Eulalia, »daß es sich nicht durch Gefälligkeiten zähmen ließe.«102 Ihre Strategien der Bändigung des Mannes durch Nachsicht und

101

Frauen. Düsseldorf 2004, S. 169–205. 100

Siehe Castiglione: Il Libro del Cortegiano, III, 3 sowie oben, S. 51.

› Wilde Männer‹ . E x kurs zur G eschlechtergeschichte

Erasmus von Rotterdam: Uxor Mempsigamos, sive Coniugium. In: Erasmus 1995, VI, S. 152ff., 178f.

102

Ebda., S. 169.

109

eine vorauseilende Erfüllung seiner Bedürfnisse sind der in Platons Dialog Theaitetos überlieferten mäeutischen Methode verwandt, der ›Hebammenkunst‹ des Sokrates, der seine Schüler stets so befragt hatte, dass sie wie von selbst auf die Antwort kamen.103 Nachdem Giovanni Pontano die sokratische Ironie in De sermone ausführlich gewürdigt hatte, führte Erasmus solche Strategien zu einer Zeit in die Eheliteratur ein, in der man sich bei Hofe längst einer Kunst des Sich-Verstellens bediente, die ebenfalls eine depravierte Form der sokratischen Pädagogik war, nämlich die Formen der simulatio, dissimulatio und insinuatio, mit denen man seine Interessen, die offen einzuklagen unmöglich war, den Mächtigen geschickt nahebringen konnte.104 Erasmus hat im Coniugium, das er seinem Patenkind Erasmius Froben widmete, dem Sohn des Baseler Verlegers, bei dem diese Schrift 1523 im Rahmen der Colloqia erstmalig erschien, Elemente der Ehesatire verwendet, um die Notwendigkeit der Erziehung des

103 104

Mannes sinnfällig zu machen.105 Gleichwohl blieb seine Darstellung einer auf Affektkontrolle und Intelligenz beruhenden weiblichen Überlegenheit in der Eheliteratur solitär,106 während sich bezeichnender Weise in Aretinos Kurtisanengesprächen (Ragionamento delle corti) von 1539 Ähnliches findet. Die Maxime der Eulalia: »faß ihn an jenem Henkel, an dem er gehalten werden kann«,107 entspricht dem, was Aretinos Nanna ihrer Tochter Pippa nahelegt.108 In Erasmus’ Coniugium kontrastiert dem Modell weiblicher Dominanz ein Gegenbeispiel. Eulalia, die ›Wohlredende‹, erklärt, sie sei Angehörige des Haushalts eines noblen Gelehrten (»Est mihi familiaritas cum homine quodam nobili, docto singularique morum dexteritate«),109 der mit Ruhe, Sanftmut und den Mittel der dissimulatio seine junge wilde Frau zur Vernunft gebracht habe.110 Hinter diesem Namenlosen stand das Beispiel des damals als Erzieher seiner Töchter weithin bekannten Thomas Morus, den Erasmus

Platon: Theaitetos, bes. Kap. 6, 7 u. 44 (148 d 4–151 d 3, 210 b 11–210

u. a. (Hrsg.): Dissimulazione onesta oder Die ehrliche Verstellung.

d 4).

Von der Weisheit der versteckten Beunruhigung in Wort, Bild und Tat. Martin Warnke zu Ehren. Ein Symposium. Hamburg 2007.

In beiden Fällen handelt es sich um Gedankenformen der Ironie. Bei der dissimulatio (von der auch im Coniugium die Rede ist)

105

weiß der Sprecher mehr, als er zu wissen vorgibt, während Sokra-

gegen die u. a. von Humanisten der Sarbonne und von Luther

tes seinen Schülern das Gefühl gab, mehr zu wissen, als tatsäch-

erhobene Kritik, sie sei nicht geeignet für Jugendliche. (Graf

lich der Fall war. Machiavelli widmete der dissimulatio ein ganzes Kapitel seines Principe und ein weiteres den Mitteln, sich vor

1998, S. 238ff.) 106

Da die im Coniugium anempfohlenen Verfahren eine ständige

Schmeichlern zu hüten. (Niccolo Machiavelli: Il Principe, Kap. 18

innere Distanz zum männlichen Partner voraussetzen, wider-

u. 23.) Zu der von Cicero eingeführten, erstmalig von Quintilian

sprechen sie letztlich auch Erasmus’ Ziel einer Fundierung der

(Institutio oratoria, VI 3, 85) eingehend erörterten dissmulatio

Ehe auf Freundschaft und dem geistigen Austausch der Partner.

sowie der insinuatio siehe Martin Warnke: Kommentare zu Ru-

Welche männlichen Reaktionen die Vorstellung weiblicher Do-

bens. Berlin 1965, S. 53ff.; Margot Kruse: Justification et critique du

minanz hervorrief, zeigt u. a. der satirische Holzschnitt Die Zäh-

concept de la dissimulation dans l’œuvre des moralistes du XVIIe

mung des Löwen von Heinrich Vogtherr d. Ä., in dem kokette

siècle. In: Manfred Tietz/Volker Kapp (Hrsg.): La pensée reli-

Frauen den König der Tiere gebändigt und ihm einen Sattel und

gieuse dans la littérature et la civilisation du XVIIe siècle en France

eine Krone aufgesetzt haben. (Siehe Max Geisberg: Der deut-

(Actes du Colloque de Bamberg 1983). Paris/Seattle/Tübingen

sche Einblatt-Holzschnitt in der ersten Hälfte des XVI. Jahrhun-

1984, S. 147–168; Fanny Népote-Desmarres/Thilo Tröger: dissimu-

derts. 2 Bde. München 1924/30, Nr. 1431; Lyndal Roper: Das

latio. In: HWRh, II, Sp. 886ff.; Heinrich Lausberg: Elemente der li-

fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation. Frank-

terarischen Rhetorik. 10. Aufl. Ismaning 1990, S. 140ff.; Ursula Geit-

furt/M./New York 1995, S. 161.)

ner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und

107

Erasmus 1995, VI, S. 173.

anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen

108

Siehe Aretino 1986, passim, bes. S. 245.

1992, S. 10ff.; Michael Titzmann: »Verstellung«. Semiotische, anth-

109

Erasmus 1995, VI, S. 158.

ropologische, ideologische Implikationen im Drama des deut-

110

Ebda., S. 158ff. Dabei verbirgt der gelehrte Ehemann seinen Un-

schen Barock. In: Adam 1997, Teil 1, S. 543–557; Horst Bredekamp

110

Erasmus hat seine als Schullektüre bestimmte Schrift verteidigt

willen: »maritus dissimulato stomacho«. (Ebda., S. 158.)

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

Abb. 43  Hans Holbein d. J.: Gruppen-

porträt der Familie des Thomas Morus, 1527, Federzeichnung, Basel, Öffentliche Kunstsammlung, Kupferstichkabinett

implizit als modernen, überlegenen Nachfolger des weisen Sokrates rühmte, des Opfers der ›Weiberlist‹, an dessen schlechte Ehe im Coniugium der Name der zweiten Sprecherin, Xanthippe, erinnert.111 Erasmus, der in der Vorrede seiner Institutio Matrimonii Katharina von Aragon, die Frau Heinrichs VIII. von England, als Vorbild ihres Geschlechts rühmte, teilte mit Morus das Ideal einer Geselligkeit, an der die gelehrten Freunde und alle Frauen des Hauses teilhaben sollten. Hans Holbein hat dieses 1527 in der nur durch Zeichnungen und Kopien überlieferten Schola Thomae Mori visualisiert, einem Mantegnas Darstellung des corte der Gonzaga in der camera picta, der vermeintlichen Ca-

mera degli sposi, verwandten Gruppenporträt,112 das die Angehörigen des Morusschen Hauses in Chelsea in einer bemerkenswert egalitären Form vor Augen führt (Abb. 43).113 Der englische Hof zeigte sich damals diesem Ideal noch wenig aufgeschlossen, das in Italien hingegen bereits eine gewisse Selbstverständlichkeit hatte. Und so fordert auch Eulalia Xanthippe auf, die Freunde ihres Mannes freundlich aufzunehmen und an ihrer Geselligkeit teilzuhaben: »Lade sie häufig zum Essen ein. Beim Essen sorge dafür, daß es heiter und fröhlich zugeht.«114 Katrin Graf hat darauf hingewiesen, dass im Coniugium die Erotik als weibliche Form der persuasio er-

111

Graf 1998, S. 243.

112

Die Ähnlichkeit beider Darstellungen ist immer wieder, u. a. von

1991, S. 69–96; Dragana Ivi´c: Das Familienporträt des Sir Thomas

Strong, Grossmann und Signori, betont worden. Siehe Stepha-

More und die Darstellung der weiblichen Gelehrten am Beispiel

nie Buck: Hans Holbein am Hofe Heinrichs VIII. Berlin 1997,

Margaret Roper. Masterarbeit Universität Wien 2016, einzuse-

S. 328, die die vergleichbare »Integration von Figuren in einer

hen unter: https://docplayer.org/112751685-Masterarbeit-mas-

terbeziehungen zu Beginn der Frühen Neuzeit. Frankfurt/M.

Gruppe durch gestische und mimische Konversation« hervor113 Berthold

ter-s-thesis.html (17.9.2019). 114

hebt.

Erasmus: Coniugium. In: Erasmus 1995, VI, S. 179. Erasmus hat

Hinz: Holbeins Schola Thomae Mori von 1527. In:

bei der Charakterisierung der durch ihren Ehemann gebändig-

Heide Wunder/Christina Vanja (Hrsg.): Wandel der Geschlech-

ten jungen Aristokratin offenbar Gepflogenheiten des nordalpi-

› Wilde Männer‹ . E x kurs zur G eschlechtergeschichte

111

scheint:115 Eulalia bezeichnet die Lust (voluptas) als Heilmittel (pharmacum) der Ehe und spricht metaphorisch von einem Gürtel der Venus, die als göttliche Schutzherrin der Ehe gelte (eam faciunt deam connubii praesidem), in den »alles, was es an Liebesmitteln gibt, hineingewoben« sei.116 Damit hat Erasmus in Anlehnung an Lorenzo Valla eine epikuräische Auffassung der Ehe propagiert, in der »die Erotik und der religiöse Dialog zwischen den Eheleuten zur voluptas, dem wahren Gut gehören.«117 Die Eintracht der Eheleute, die aus der Rede des Mannes und der stummen persuasio weiblicher Reize hervorgeht, ist im Coniugium als musikalische Harmonie dargestellt,118 ein alter Topos, der sich u. a. in dem im frühen 5. Jahrhundert entstandenen Traktat De nuptiis Philologiae et Mercurii libri des Martianus Capella findet. Diese allegorische Abhandlung über die sieben freien Künste war eines der verbreitetesten Lehrbücher des Hoch- und Spätmittelalters und erfreute sich, wie zahlreiche illustrierte Ausgaben belegen, im Quattrocento größter Beliebtheit. 1441 erstanden die Medici eine illustrierte Handschrift des 12. Jahrhunderts, die Polizian nachweislich benutzt hat, vielleicht auch zur Unterweisung des Lorenzo di Pierfrancesco.119 In dem mit dem Titel De harmonia überschriebenen 9. Buch der Hochzeit der Philologie, das der Musik gewidmet ist, ruft Venus, die Beschützerin der Ehe, ihr Gefolge, Amor, Flora und die Grazien, auf, das Hochzeitsfest zu erneuern und »das Ehelager zu bespielen«.120 Der bereits in Begierde entflammte Merkur vernimmt dies mit Freude und wird später von der harmonia mit seiner Braut zum

Hochzeitsbett geleitet. Capella hat, wie auch Marsilio Ficino, die harmonia humana auf die Himmelsmusik, auf die harmonia celestis bezogen.121 In der Ehe erreicht der Mensch demnach die Übereinstimmung mit einer höheren, kosmischen Ordnung. Diesen Exkurs beschließend, können wir festhalten, dass die beiden Gemälde Botticellis am zeitgenössischen Geschlechter- und Ehediskurs partizipierten und sich dabei auf einen sehr heterogenen Bestand an Texten und Bildern bezogen. Sie sind genuine und, wie vor allem das Motiv weiblicher Dominanz in Pallas und der Kentaur zeigt, avancierte Beiträge zu demselben.

nen Adels kritisiert: Die junge Adelige ist verzogen, weil sie im

vertreten, dass dieser Teil des Traktats für die inventio der Pri-

Ähnlichkeiten und Differenzen, Paradoxien und Unbestimmtheiten

Aus unseren bisherigen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass der zeitgenössische kommunikative Gebrauch von Kunstwerken nicht dem modernen Paradigma der stillen Aneignung, unbedingten Gegenstandadäquatheit und der ernsten Exegese durch autorisierte Fachleute entsprachen, sondern dem einer sich in der Übersetzbarkeit und Anschlussfähigkeit des Bildes erweisenden Wirksamkeit und den entsprechenden Formen einer Gesprächskunst, die Gemälde zum Gegenstand heiterer hermeneutischer Spiele machte. Salvatore Settis hat über die Rezeptionsformen, die das oben angeführte Zitat Augurellis bezeugt, geschrieben:

Elternhaus zu viel gefaulenzt hatte und »in Gesprächen und

mavera grundlegend war, da in ihm alle Figuren des Gemäldes

Spielen mit den Dienstboten aufgewachsen war (inter famulo-

vorkommen mit Ausnahme von Chloris und Zephyr, die Botti-

rum colloquia lususque educata)«. (Ebda., S. 160.)

celli nachträglich über den an diesen Stellen bereits ausgeführ-

115

Graf 1998, S. 245ff.

ten Pflanzenhintergrund gemalt hat. (Ebda., S. 265ff. Vgl. auch

116

Erasmus 1995, VI, S. 170f.

Veronika Mertens: Die drei Grazien. Studien zu einem Bildmotiv

117

Graf 1998, S. 257.

in der Kunst der Neuzeit. Wiesbaden 1994, S. 184–194. Zu den

118

Ebda., S. 249f.

Restaurierungsergebnissen: Ugo Baldini: Der Frühling von Bot-

119

Rehm 1999, S. 261.

ticelli. Bergisch Gladbach 1986.)

120

Zit. ebda., S. 265. Ulrich Rehm hat mit guten Gründen die These

112

121

Rehm 1999, S. 271ff.

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

»Das Bild ist also nicht nur Gegenstand ästheti-

»Der Neuplatonismus und eine in seinem Sinne al-

scher Betrachtung, noch soll es nur die Aufmerk-

legorisch interpretierende antike Mythologie hat-

samkeit dessen, der es betrachtet, auf sein Thema

ten die Funktion eines kulturellen Systems, das in-

lenken: sondern es soll zugleich Diskussionen über

nerhalb der konkurrierenden florentinischen Eli-

das Dargestellte anregen, das vom Bild auf das Ge-

ten besonders der Medici-Familie das Image von

sicht der Betrachter, auf ihre gelehrten und subtilen

Distinktion und Auserwähltheit verleihen sollte.

Hypothesen, auf die verborgene Absicht, die der

Die politische und gesellschaftliche Spitzenposi-

Künstler mit dem Auftraggeber teilte, immer hin

tion innerhalb der Stadt wurde so nicht bloß auf

und her geworfen wird, wie in einem eleganten

ökonomischen Erfolg gegründet, sondern bezog

122

ein zusätzliches, von den anderen Familien kaum

Spiegelgefecht.«

erfülltes Differenzkriterium aus einer intellektuel-

Mit einer »elitäre[n] Vorliebe für das, was nicht offensichtlich ist, zu dem nur wenige – die ›Eingeweihten‹ – Zugang haben«, machten die Besitzer solcher Werke diese »zum Gegenstand raffinierter hermeneutischer Übungen«.123 Botticellis Primavera zählt aufgrund ihrer Komplexität und semantischen Offenheit zu den frühesten Werken, bei denen wir davon ausgehen müssen, dass sie in Hinblick auf solche Formen des bel parlare konzipiert wurden. Signifikant ist, dass der von Settis hervorgehobene elitäre Charakter dieser aus der höfischen ars sermonis hervorgegangenen Rezeptionsformen auch die von den Medici in besonderer Weise geförderte Philosophie des Neuplatonismus charakterisierte.124 Unter den Vorzeichen der Krise der Florentiner Republik und der »Verhofung« (Norbert Elias) der italienischen Gesellschaft ging diese einher mit einer Hinwendung des Humanismus zum Hedonismus und auch zum okkulten Denken des Hermetismus und der Kabbala.125

122

len Werteordnung, die legitimatorischen Charakter hatte.«126

Es bleibt uns zu präzisieren, durch welche Merkmale die Primavera als ein »Programm für zahllose Kommunikationen über das Kunstwerk« (Luhmann) den erwähnten Rezeptionsformen entgegenkam. Während die Supraporte Pallas und der Kentaur (Abb. 33) Gesprächsstoff lieferte durch die provokante Umkehrung der tradierten Geschlechterrollen und die weder mit Minerva, noch Venus oder Camilla übereinstimmende Identität ihrer Hauptfigur, war die Handlung dieses Gemäldes leicht nachzuvollziehen. Dagegen stellt die Primavera (Abb. 29) auch in dieser Hinsicht an ihre Rezipienten höchste Ansprüche. Zunächst weist dieses Gemälde in deutlichem Unterschied z. B. zu Masaccios Zinsgroschen (Abb. 12) nichts auf, was offensichtlich nebensächlich wäre. Die akribische, scharf konturierte Darstellung noch der kleinsten Blume und

sion absprechen zu wollen. Nicht einleuchten will mir, dass z. B.

Settis 1982, S. 161.

123 Ebda.

Rohlmann dies tut (ähnlich Rehm 1999, S. 280f.) und ein Ge-

124

mälde der Drei Grazien, das ebenfalls im appartamento des Lo-

Bei allem Verständnis für das von Bredekamp artikulierte Unbehagen an der ehemals alexandrinischen Expansion neuplato-

renzo di Pierfrancescos hing, als »philosophisches Thesenbild«

nischer Deutungen [Horst Bredekamp: Götterdämmerung des

bezeichnet und auf einen im Oktober 1481 verfassten Brief Fici-

Neuplatonismus. In: Andreas Beyer (Hrsg.): Die Lesbarkeit der

nos bezieht, in dem dieser dem Bräutigam die Bedeutung der

Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie. Berlin 1992, S. 75–

Grazien erläuterte. (Rohlmann 1996, S. 126; vgl. Levi d’Ancona

83, 102–106], vor der übrigens Panofsky und Gombrich selbst

1983, S. 181ff. Schon Gombrich 1945, S. 13ff. hat die Briefe Ficinos

ausdrücklich gewarnt hatten (vgl. Dempsey 1992, S. 7), erscheint

an Lorenzo di Pierfrancesco für die Deutung der Primavera he­

es mir angesichts der Zugehörigkeit Polizians zur neuplatoni-

rangezogen.)

schen Akademie und seiner und Ficinos Stellung als Lehrer der

125

Vgl. Baron 1966.

Medici abwegig, der Primavera jegliche neuplatonische Dimen-

126

Held/Schneider 1993, S. 159.

Äh n li chke iten u nd D i ffe re n ze n , Parad ox i e n u n d U n be sti m mth eit e n

113

des entferntesten Blattes lässt jedes Detail als potentiell signifikant erscheinen. Wie im hortus conclusus spätmittelalterlicher Marienbilder, scheint auch in dem Garten der Venus alles Symbol zu sein – die Überfülle der Details zugleich eine jubelnde Offenbarung einer die ganze Schöpfung erfüllenden Sinnhaftigkeit. Wendet man sich den Figuren zu, so ist der Zusammenhang zwischen diesen zumeist nicht unmittelbar ersichtlich. Zwischen einigen bestehen deutlich Handlungszusammenhänge (Zephyr greift nach Chloris, Cupido zielt auf Castitas), zwischen anderen aber offenbar lediglich abstrakte Verhältnisse der Verwandtschaft, eines wechselseitigen Kräftespiels und der Ähnlichkeit und Differenz. Dies muss sich der Betrachter kombinierend erschließen, ohne dabei durch deutliche Mittel der Sinnvermittlung, durch eine klare Bildregie angeleitet zu werden. Was signifikant ist und in Bezug worauf, bedarf der Überprüfung durch eine die Bildstruktur nachvollziehende, systematisierende Wahrnehmung. Dies lässt die Primavera tatsächlich zum Objekt einer ars combinatoria werden, wie schon Ernst Gombrich betonte, der ihr Merkmale eines Puzzles und Änigmas bescheinigt hat.127 Man hat Details der Primavera auf verwandte Motive (des Tanzes der Musen bzw. der Laster) in Ambrogio Lorenzettis Allegorien des guten und des schlechten Regiments im Sieneser Rathaus aus den später 1330er Jahren und in Andrea di Bonaiutos seit Ende 1465 ausgeführter Allegorie des Dominikanerordens in der spanischen Kapelle in Santa Maria Novella zurückgeführt.128 Vor allem letztere ist ein höchst inhaltsreiches gelehrtes Bildprogramm, das vom Betrachter einige Kompetenz verlangt. In beiden Fällen aber hatten die Künstler didaktische Mittel der spätmittelalterlichen Malerei genutzt, vor allem den Bedeutungsmaßstab, mit dem man Personal und Handlungsstränge gewich-

127

ten und unterschiedlichen Bildsphären zuweisen konnte. Darauf hat Botticelli hingegen verzichtet und sich in seinen beiden Gemälden keiner altbekannten, bewährten Inhalte und ikonographischer Muster bedient. Es ging in ihnen vielmehr um geschlechtsspezifische Rollenerwartungen, die in Florenz damals noch ungewöhnlich waren. Zudem entsprachen solche poesie offenbar Originalitätsansprüchen, wie sie Quintilian in Zusammenhang mit der Verwendung von Allegorien formuliert hatte. In seiner Institutio oratoria, die, 1416 in vollständiger Form entdeckt, erstmalig 1470 gedruckt und in den folgenden Jahren in schneller Folge noch mehrfach verlegt wurde,129 hatte dieser erläutert, dass man Allegorien nicht mehr bewusst wahrnehme, wenn sie in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen sind. Bei ihrer Verwendung müsse man daher Erfindungsgeist zeigen, »denn das Neuartige und Überraschende ist es, was den Ausdruck reizvoll macht, und größeren Genuß bietet das Überraschende.«130 Diese Forderung war ein Topos der antiken Rhetorik und Poetik. So hatte auch Horaz erklärt: »Erlesen wird es klingen, wenn geistreiche Verbindung das altbekannte Wort als Neuheit wirken läßt.«131 Dass Botticelli diesen Maßgaben folgte, ist ebenso evident wie die hohen Ansprüche, die die Primavera an die Rezipienten stellte. Diese mussten die Struktur der aus dreimal drei Figuren gebildeten Komposition nachvollziehen und das Spiegelungsverhältnis zwischen Zephyr, Chloris, Flora und den drei Grazien erkennen sowie den Vorgang der Verwandlung der Chloris in die in simultaner Präsenz neben ihr erscheinende Flora – wahrlich keine leichte Aufgabe. Erschwert wurde die Aneignung des Bildes noch durch geschehenslogische Unschärfen, wie sie sich vor allem in der Ambivalenz der verhaltenen Geste der Venus zeigen.132 Wie Baxandall anhand zeitgenössischer Kodifizierungen der Kör-

Gombrich 1945, S. 11: »These puzzling and wistful faces give us no

dung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. und übersetzt v. Helmut

rest until we have built around them a story which seems to ac-

Rahn, Darmstadt 31995, Bd. 1, S. XIIf.

count for their enigmatic expression.«

130

Quintilian: Institutio Oratoria, VIII 6, 51.

128

Dempsey 1992, S. 76.

131

Horaz: Ars poetica, 47f.

129

Helmut Rahn: Vorwort. In: Marcus Fabius Quintilianus, Ausbil-

132

Deren Ambivalenz betonte bereits Gombrich und listete zahl-

114

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

persprache belegt hat, ist diese als Einladungsgestus zu verstehen.133 Doch die demnach unmissverständliche Signifikanz der Form der geöffneten Hand, die als Einladungsgestus im Grunde nur an einen Außenstehenden, also den Betrachter, gerichtet sein kann, hat Botticelli überblendet, indem er ihr zugleich innerbildliche Resonanz verschaffte, nämlich sie formal in Beziehung zur rechten der drei Grazien, der pulchritudo, setzte. Deren Haupt und die geöffnete Innenseite der Hand der Venus verhalten sich zueinander wie eine Positivund Negativform. Es scheint fast, als sei der Hinterkopf der Schönheit aus der Rechten der Venus hervorgegangen. Deutet man diesen deutlichen formalen Bezug als Zeichen eines Handlungszusammenhangs, so mag man die Geste der Göttin als ein Taktangeben oder Dirigieren lesen können,134 wobei die Tatsache, dass keine der Figuren zu Venus blickt,135 wohl doch eher dafür spricht, hier einen abstrakteren kausalen Zusammenhang visualisiert, nämlich magische Kräfte am Werk zu sehen – und zwar ein Ausströmen (emanatio) der Göttin, das bei den niederen Wesen eine belebende Wirkung erzeugt (conversio, raptio) und ihre Vereinigung mit dem Göttlichen (remeatio) bewirkt.136 Wie Wind erläutert hat, hält Venus die Kräfte »der Liebe in der Schwebe, während Amors Zügellosigkeit sie freisetzt. Daraus folgt, daß die preziöse Choreographie der Grazien von diesen widerstreitenden Kräften zugleich getragen und bewegt wird«.137 Anschaulich lässt sich an der Primavera nachvollziehen, dass sich das facettenreiche Wesen der Venus in der Trinität der Grazien wiederspiegelt, was Pico della Mirandola mit dem Hinweis betont hat, darin zeigten sich universelle Gesetze der Natur.138 Tatsächlich teilt ihre madonnengleich inszenierte Erscheinung mit der Begierde, deren Neigung des

133

Kopfes spiegelsymmetrisch auf die ihre antwortet, das offen herabfallende Haar. Die Haltung ihrer Arme gleicht derjenigen der Keuschheit und ihre Fußstellung und Kette – voluptas trägt ihr größeres Schmückstück als Brosche – offenbaren ihre Verwandtschaft mit der Schönheit. Doch nicht nur die in ihr vereinten Kräfte lenken den Tanz der Grazien, sondern auch Merkur und Cupido. Denn als Merkurs Seelenverwandte blickt die Keuschheit hin zu dessen abgewandter Gestalt, während sie bereits ins Visier Cupidos geraten ist. Wie schon erwähnt, muss der Betrachter die handlungs- und sinnerschließenden Bildelemente sondieren, die, eingebettet in die Kontingenz des Geschehens bzw. die Allgegenwart potentieller Sinnhaftigkeit, im Vorgang der Rezeption als Bedeutungsträger gewissermaßen aufleuchten, um sodann wieder in die Kontingenz des Geschehens bzw. das all over des potentiell Bedeutsamen zurückzusinken. Wenn man erkannt hat, dass die Stellung der Füße der Schönheit der der Venus gleicht, und damit die Valenz dieses unscheinbaren Merkmals registriert, wird man, vom Eros der Erkenntnis geleitet, umgehend weitere Fußpaare studieren. Einige von diesen sind offenbar nicht signifikant. Auffällig aber ist die spiegelsymmetrische Wiederholung des Schrittmotivs der Flora in der Gestalt der voluptas. Die Annahme, dass Flora somit der Begierde ähnlich ist, irritiert zunächst, denn schließlich haben wir sie aufgrund ihrer Position neben der Venus bereits als Verwandte der Schönheit identifiziert. Doch die selbstbewusste Erscheinung der direkt auf den Betrachter zuschreitenden Göttin spricht dafür, dass auch in ihr ein gewisses Maß an Leidenschaft steckt und dass sie ein kaum weniger facettenreiches Wesen ist als die zurückhaltende Venus. Denn schließlich sind auch die

reiche unterschiedliche Deutungen derselben auf. (Gombrich

134

So deutet sie – wie schon Venturi – Rehm 1999, S. 273.

1945, S. 11f., Anm. 4.)

135

Daher ist auch nicht davon auszugehen, dass Venus die Schönheit begrüßt.

Baxandall 1980, S. 87. Beipflichtend Bredekamp 1988, S. 78, der diese Signifikanz zudem mit der Darstellung der Begrüßung

136

Siehe Wind 1984, S. 50f. u. 136.

eines Gastwirtes in einem Holzschnitt aus Jacobus de Cessolis

137

Ebda., S. 142.

Libro di giuocho delli scacchi (1493/94) belegt, zugleich aber zu

138

Siehe das Zitat aus den Conclusiones ebda., S. 50.

Recht betont, dass in der Primavera die Motivation und der Adressat der Geste der Venus unklar bleiben.

Äh n li chke iten u nd D i ffe re n ze n , Parad ox i e n u n d U n be sti m mth eit e n

115

Farben ihrer Kleidung und ihres Blumenschmucks denen der Liebesgöttin ähnlich. Zugleich aber entspricht die Haltung ihres linken Arms und der vor die Scham gehaltenen Hand der der Venus pudica, die Botticelli bald darauf in der Geburt der Venus (Abb. 34) repräsentieren sollte. Zwar erscheint die Stellung von

Arm und Hand motiviert als ein Raffen des blumengefüllten Gewandes, doch vergleicht man die Figur mit der damals in Rom befindlichen Skulptur einer Herbsthore (Abb. 44), die Botticelli wahrscheinlich als Vorbild für die Flora diente,139 so wird deutlich, dass er deren Arm- und Handhaltung veränderte, um seine Frühlingsgöttin der Venus pudica anzunähern. Systematisieren wir die bisher gemachten Beobachtungen, so lässt sich festzustellen, dass die der Primavera eigene Form der Sinnkonstitution in einer leisen, unterschwelligen Verdeutlichung besteht, einem Merkmal, das man gemeinhin als eine Errungenschaft späterer Realismus-Konzepte ansieht. Die handlungs- und sinnerschließenden Elemente dieses Gemäldes folgen keiner einheitlichen, unmittelbar einsehbaren Ordnung. Sie sind zu einem großen Teil arbiträr, nämlich Zeichen in einem Korrelationsgeflecht, nicht substantiell an ihre Träger gebunden, deren Attribut, sondern offensichtlich vom Künstler gesetzt (Bildposition, Blickrichtung, Fußstellung), d. h. sinnerschließend nur im Kontext der Darstellung selbst (und ggfs. der korrespondierenden Bilder im selben Raum). In der Darstellung der Primavera fungieren Merkmale, die als solche unbedeutend sind, sporadisch als wichtige Indikatoren (Fußstellung, Blickrichtung nach oben oder unten). Ähnlichkeiten sind durch wechselnde Signifikanten kenntlich gemacht (Kleidung, Farbe, Haltung, Bildposition), deren diesbezügliche Valenz freilich erst ermittelt werden muss, zumal zumindest einige der Figuren verschiedene, nicht ohne weiteres hierarchisierbare Merkmale aufweisen: Flora ist der Venus ähnlich, wie die Farben ihrer Gewänder und ihre auf die Venus pudica anspielende Haltung verdeutlichen; sie ähnelt zudem der Schönheit, wie ihre Bildposition anzeigt; sie ist weiter der Begierde verwandt, wie die identischen Fußstellungen indizieren und auch ihr offensives Zugehen auf den Betrachter, das sie deutlich von der Zurückhaltung der Venus unterscheidet. Bedenkt man zudem die Be-

139

140

Abb. 44  Herbsthore, römische Kopie einer neoattischen Statue, Florenz,

Uffizien

116

Vgl. Henning Wrede: Der Antikengarten der del Bufalo bei der

Luhmann 1995, S. 193 sowie S. 48ff. mit der Darlegung, dass das

Fontana di Trevi (Trierer Winckelmannprogramme, Nr. 4, 1982).

Kunstwerk sich einem Procedere fortschreitender Unterschei-

Mainz 1983, S. 17f.

dungen, nämlich Formbildungen, mit denen auch der diese

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

züge der Primavera zu den beiden Gemälden im selben Raum und zu zahlreichen weiteren Texten und Bildern sowie die Möglichkeit, viele ihrer Elemente auf das weitere Referenzfeld der Heraldik zu beziehen, so erweist sich dieses Gemälde geradezu als eine magische Büchse voller Sinn und Sinnanmutungen, als eine Deutungen generierende Maschine. Einer historisch diskursanalytischen Perspektive erweist sich die Primavera als Beispiel eines das Denken, nämlich seine Formen der Analogisierung und Differenzierung veranschaulichenden Tableaus. An ihr lässt sich ersehen, dass der Aufbau von Eigenkomplexität und die …

Dies lag offenbar im Kalkül ihrer Herstellung und des Rückgriffs auf die copia spätmittelalterlicher Kunst. Ein spezifisches ästhetisches Merkmal charakterisiert somit in besonderer Weise die Primavera, nämlich der »mit dem einzelnen Kunstwerk selbst gegebene und als solcher potentiell unendliche, der offene Horizont möglicher Zusammenhangbildungen«.141 Daraus resultiert die, wie Juliane Rebentisch erläutert, spezifisch äs-

thetische Erfahrung, »in der die in Bezug auf ein Objekt (und seine Markierungen) vollzogenen Zusammenhangbildungen […] als ebensowohl evident wie kontingent erscheinen.«142 Botticellis Bild des Frühlingserwachens war also Anlass genug, über es zu sprechen, zumal es einen weiten thematischen Horizont eröffnet. Es regte an, über die Tugenden der Frau und des Mannes zu sprechen, über die Liebe, Gott und die Welt. Als mythische Parallele der vor ihr stattfindenden Geselligkeit bot es dieser Möglichkeiten der Selbstthematisierung und -reflexion, war doch Merkur der Gott der Beredsamkeit, dessen Statue man in der Antike neben solchen der Grazien sowie der Venus aufzustellen pflegte, da, wie Plutarch diese Gepflogenheit erklärt hat, die Konversation der Anmut und Freundlichkeit und das Wohl von Hochzeitspaaren süßer Worte bedürfe!143 Zudem war der in ihm dargestellte locus amoenus – man denke an Platons Phaidros – von alters her Ort des sermo amoenus, des Gesprächs über die Liebe. Weiter legte das Gemälde es nahe, der Hausherrin Komplimente zu machen. Männliche Teilnehmer konnte man mit der Frage, welche der drei Grazien die schönste sei, aus der Reserve locken.144 Daneben gab das Gemälde Anlass, die Kunst und das ingenium Botticellis zu loben, hat er doch z. B. in der Figur Merkurs Donatellos Bronze-David (Florenz, Bargello) paraphrasiert,145 und über das Verhältnis von Malerei und Dichtung zu sprechen, ging doch die Gruppe der Grazien auf eine literarische Beschreibung eines

umgebende unmarked space mitbestimmt wird, verdankt und

ried people should succeed in attaining their mutual desires by

»[…] Schließung des Kunstwerks […] durch Wiederinanspruchnahme des schon Bestimmten als andere Seite anderer Unterscheidungen [erfolgt]. Das führt zu einer eigentümlichen, oft auf den ersten Blick nicht faßbaren (oder nur ›intuitiv‹ faßbaren) zirkulären Sinnanreicherung dessen, was schon festliegt.«140

damit auch seiner Rezeption eine temporäre Struktur vorgibt.

persuasion and not by fighting and quarrelling.« (Ebda., Bd. II,

141

Rebentisch 2003, S. 94.

1962, S. 301)

142

Ebda., S. 95 (mit einer Differenzierung gegenüber der Position

143

144

Gombrich 1945, S. 22 hat gezeigt, dass die Venus in hohem Maße

Luhmanns).

der Beschreibung der Göttin in Apuleius’ Erzählung des Paris-

Bei Plutarch, Moralia, 44 E heißt es: »Indeed, the ancients gave

Urteils ähnelt (Apuleius: Met. 10, 33). Im Anschluß daran hat

Hermes a place beside the Graces from a feeling that discourse

Levi D’Ancona 1983 die umstrittene These vertreten, Botticelli

demands, above all, graciousness and friendliness.« (Plutarch’s

habe ursprünglich das Urteil des Paris darstellen wollen, die

Moralia in fifteen volumes. Bd. I. With an English Translation by

Dempsey 1992, S. 7f. zurückwies. Zumindest aber lässt sich fest-

Frank Cole Babbitt. London/Cambridge, Mass. 1960, S. 239.)

stellen, dass die Primavera auf dieses Thema anspielt, da direkt

Ebda., 138 C/D heißt es: »Indeed, the ancients gave Hermes a

neben der erhobenen Hand Merkurs, neben dem die drei

place at the side of Aphrodite, in the conviction that pleasure in

Frauen postiert sind, einer der ›goldenen Bälle‹ erscheint, so

marriage stands especially in need of reason; and they also as-

dass man denken kann, er greife nach diesem.

signed a place there to Persuasion and the Graces, so that mar-

145

Bredekamp 1988, S. 49 sowie Abb. 22f.

Äh n li chke iten u nd D i ffe re n ze n , Parad ox i e n u n d U n be sti m mth eit e n

117

antiken Kunstwerks zurück.146 Die Primavera, die Paul Barolski als eine »Allegory of its own creation« gedeutet hat,147 steht beispielhaft für eine Form von Intertextualität, bei der Text und Bild im Dialog stehen, das Bild den Text nicht bloß abbildet. Vielmehr löst es durch das Kunstmittel der Allegorie »ein Wechselspiel von Einbildungskraft und Denken aus, bei dem das eine jeweils zum Irritans des anderen wird und beide sich durch diese widerständige Verbindung entwickeln können«.148 Ein humanistisch geschulter Kreis konnte vor der Primavera weiter über die Trias von Geben, Nehmen und Zurückgeben sprechen, wie sie in der Gruppe der Grazien verkörpert ist,149 und über die zahlreichen Triaden, die Marsilio Ficino in De amore in den drei Schwestern Euphrosyne, Aglaja und Thalia versinnbildlicht sah, nämlich die logische Triade ›species, numerus, modus‹, die moralische Triade ›veritas, concordia, pulchritudo‹, aber auch ›animus, corpus, fortuna‹, ›pulchritudo, amor, voluptas‹, ›sapientia, eloquentia, probitas (Tüchtigkeit)‹ u. a.150 Er konnte über den triadischen Rhythmus sprechen, in dem Gott nach neuplatonischer Auffassung seine Macht ausübt. Merkur, der Seelenführer (psychopompos), der mit dem Caduceus-Stab die Menschen in den Schlaf versetzt und aufweckt, und der Windgott Zephyr erscheinen in der Primavera als entgegengesetzte Pole eines sich periodisch wiederholenden Prozesses: Der spiritus (Geist, Atem) des blasenden Windgottes ist Ausdruck der Leidenschaft, der des den Nebel lichtenden Merkur hingegen Ausdruck der Ver-

146

nunft.151 Leitthema des Gemäldes war somit die concordia discors, die Einheit der Gegensätze, die Nikolaus von Kues in Anlehnung an den christlichen Neuplatonismus und den spätmittelalterlichen Mystizismus als Wesensmerkmal Gottes bewertet hat. Als eine coincidentia oppositorum sollte auch Castiglione das ideale Gesprächsverhalten der Frau definieren, die sich ebenso geistesgegenwärtig wie zurückhaltend zeigen, durch eine Mischung aus Witz und Sanftmut auszeichnen solle: Sie müsse »ein gewisses schwieriges Mittelmaß einhalten, das gleichsam aus Gegensätzen zusammengesetzt ist«.152 Eine solche paradoxe Zwiespältigkeit hat Botticelli dem Gesicht der Venus verliehen (Abb. 45). In diesem liegt »[…] das rechte Auge höher […] als das linke, als würden die beiden Gesichtshälften zu zwei unterschiedlichen Personen gehören; deckt man abwechselnd den einen oder den anderen Gesichtsteil zu, so ergeben sich auf fast gespenstische Weise zwei unterschiedliche Wesen mit verschiedenen Stimmungslagen. Zu den Paradoxien der Augenpartie gehört, daß das linke, für den Betrachter weiter zurückliegende Auge kleiner ist, daß es aber den entschiedeneren, stärker fixierenden Blick vorträgt, während das größere rechte Auge […] einen eher trauervollen oder zumindest nachdenklichen, passiven und introvertierten Ausdruck suggeriert. Die beiden voneinander abweichenden Augen erzeu-

Alberti hatte im Anschluss an seine Beschreibung der Verleum-

the metamorphosis of Botticelli’s art, which transforms words

dung des Apelles auch die Darstellung der drei Grazien erwähnt, von denen »eine der Schwestern eine Wohltat ›erweist‹, die

kys Allegorie-Begriff und hermeneutisches Modell der Ikono-

mit gegenseitig verschränkten Händen, lächelnd, geschmückt

graphie/Ikonologie.) 149 So

haben Seneca und Alberti das Grazienmotiv verstanden:

pictura, (III) 54; Alberti 2000, S. 297. Die Stelle ist fast wörtlich

»Mit ihnen wollte man die ›Großmut‹ zur Darstellung bringen

übernommen aus Seneca: De beneficiis, 1, 3, 2–6.]

insofern, als eine der Schwestern eine Wohltat ›erweist‹, die

Paul Barolsky: Botticelli’s Primavera as an Allegory of its own

zweite ›empfängt‹ und die dritte ›vergilt‹.« [Alberti: De pictura, (III), 54. (Alberti 2000, S. 297.)]

creation. In: Source, XIII/3, 1994, S. 14–19. Barolsky hebt die

118

Wind 1984, S. 39. (Mit dieser Definition kritisierte Wind Panofs-

zweite ›empfängt‹ und die dritte ›vergilt‹«: »Man hat sie gemalt mit ungegürteten und durchsichtigen Gewändern.« [Alberti: De

147

into images.« (Ebda., S. 119.) 148

selbstreflexiven Elemente der Primavera hervor, ihre »poetic al­

150

Siehe Wind 1984, S. 53f.; Körner 2006, S. 210f. Wind 1984, S. 148.

lusiveness« (ebda., S. 14) sowie Formen der »trasformazioni

151

finte« und »visual arguzie or witticism« (ebda., S. 16), und be-

152 Castiglione:

tont: »The metamorphosis of Chloris into Flora is emblematic of

S. 247.)

Il Libro del Cortegiano, III, 5. (Castiglione 1986,

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

Abb. 45  Sandro Botticelli: Primavera, Detail

gen solcherart eigene Werte, ohne die Einheit der Physiognomie preiszugeben. Je länger man dieser Gestalt ins Gesicht sieht, desto stärker glaubt man, an ihr oder an sich selbst irre zu werden.«153

Als Konsequenz des bisher Gesagten dürfte offensichtlich sein, dass Botticelli somit das vielschichtige Wesen der Venus an ihr selbst verdeutlicht hat. Die Darstellung ihres Gesichts stellt eine formale Engführung des Leitthemas des Gemäldes dar. Man kommt wohl nicht um die Feststellung herum, dass Botticelli hier einem neuplatonischen, am konsequentesten von Pico della Mirandola formulierten Schönheitsbegriff gehuldigt hat, nach dem diese auf der Zusammensetzung des Gegensätzlichen beruht und »nichts anderes ist als freundliche Feindschaft und friedliche Zwietracht«.154 Das Gesicht, dessen irremachende Wirkung Horst Bredekamp beschrieben hat, zielt mit seiner heterogenen Form auf die Wirkung des »non so che divino« bzw.

153

»non so che negli occhi«, das auch im Zentrum der von Polizian in den Stanzen behandelten neuplatonischen Schönheits- und Liebestheorie steht.155 Die von Fra Angelico akzentuierte Paradoxie der Beobachtung des Unbeobachtbaren war mit der Primavera in ein das Wirken der Kräfte der Natur thematisierendes, formal an den Typus der Sacra conversazione angelehntes, gleichwohl profanes Gemälde eingegangen. Damit war ein wesentlicher Schritt einer ästhetischen Aneignung des religiös besetzten Schönen getan.156 Die Primavera war somit in besonderer Weise anschlussfähig für eine gesellige Rezeption, der sie thematische Vorgaben machte, wobei ihre komplexe Inhaltlichkeit nicht so präzise gefasst ist, dass dieser feste Grenzen gesetzt wären. Im Unterschied z. B. zu Masaccios Zinsgroschen stößt der Rezipient der Primavera an keine Grenze, die dem Werk adäquate Kommentare strikt von arbiträren scheiden würde. Beides geht hier vielmehr fließend ineinander über. Damit soll nicht gesagt sein, dass sich die absichtsvoll gesteigerte Komplexität dieses Gemäldes nicht reduzieren ließe, was aber kaum ohne den Hinweis auf die zeitgenössischen Formen der Kunstrezeption gelingen kann. In Hinsicht auf diese ist zu sagen, dass der quasi-religiösen Darstellung der Primavera trotz ihrer weitgehenden semantischen Offenheit gewiss ein autoritativer Geltungsanspruch eigen war. Wahrscheinlich bestand zwischen dem Auftraggeber, dem Künstler und ihrem humanistischen Berater Einvernehmen über seine Inhalte. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die Primavera bei geselligen Anlässen zum Gegenstand fröhlicher Sinnübertragungen und auch von Wort- und womöglich auch Zahlenspielen wurde.157 Der integrative Anspruch der damals noch ausgesprochen egalitären Geselligkeit erforderte es, allen Gesprächsteilnehmern Selbstdarstellungsmöglichkeiten einzuräumen. In diesem Rahmen

Bredekamp 1988, S. 14f.

nen des Fiktiven (Poetik und Hermeneutik, Bd. X). München

154

Vgl. Wind 1984, S. 106ff. (Zitat S. 107.)

1983, S. 444f.; Belting 1990, der eingehend den »Austausch der

155

Angelo Poliziano: Stanze, I, 42; Emil Köhler: Je ne sais quoi. In:

Aura des Sakralen gegen die Aura des Künstlerischen« (ebda., S. 538) behandelt; Krüger 2001, S. 181ff.

HWPh, IV, Sp. 640. 156

Vgl. Hans Robert Jauss: Das Vollkommene als Faszinosum des

157

Dahingehende Vermutungen bei Rehm 1999, S. 271.

Imaginären. In: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hrsg.): Funktio-

Äh n li chke iten u nd D i ffe re n ze n , Parad ox i e n u n d U n be sti m mth eit e n

119

Dass die gesellige Rezeption und das Sprechen über Kunstwerke eine in ihnen mitbedachte Dimension, ja zuweilen sogar ein von ihnen dezidiert gefordertes Rezeptionsverhalten war, dies zeigt auch ein im Vergleich

zur Primavera ganz anders geartetes Werk Botticellis: Die Verleumdung des Apelles (Abb. 46). Wohl in der Mitte der 1490er Jahre hat der Künstler die von Lukian beschriebene Calumnia160 gemalt und damit ein frühes Beispiel der ›Revisualisierung‹ eines nur durch eine literarische Beschreibung überlieferten antiken Gemäldes vorgelegt. Guarino Guarini, ein Schüler des seit ca. 1395 in Italien lebenden byzantinischen Humanisten Manuel Chrysoloras, hatte um 1408 in Konstantinopel Lukians Ekphrasis ins Latein übersetzt. Anhand dieses Textes und weiterer Ekphrasen von Plinius und Lukian hatte Alberti in De pictura verlorene Gemälde von Apelles, Parrhasios und Timanthes beschrieben und den Malern die allegorische Darstellung der Verleumdung des Apelles als vorbildliche inventio empfohlen.161 Mit dem berühmten Hofmaler Alexanders des Großen, der nach eigener Überzeugung alle anderen Maler durch die cháris (Anmut, grazia) seiner Werke übertroffen hatte und insbesondere für seine Darstellung der schaumgeborenen Venus (Aphrodite Anadyomene) im Asklepiustempel in Kos gerühmt worden war,162 hat sich Botticelli bereits in seiner Geburt der Venus (Abb. 34) gemessen, der ersten großformatigen nachantiken Darstellung dieses Themas.163 Er war wohl der erste Maler, der sich als ›Neuer Apelles‹ stilisierte, nicht nur, indem er Werke desselben nachahmte und zu übertreffen suchte, sondern auch indem er mit seinen feinen, eleganten Linien ein stilistisches Merkmal kultivierte, für das man Apelles gerühmt hatte.164 Der Vergleich mit diesem war bereits ein Topos, als Ugolino Verino 1488 schrieb: »Apelles möge nicht ungehalten sein, / Daß Sandro ihm gleichgesetzt wird: Sein Name ist jetzt überall bekannt.«165 Nach Vasari, der die »Calumnia di

158

Vgl. Körner 2006, S. 213ff.

162

159

Panofsky 1960, S. 191–200.

163 Körner

160

Lukian von Samosata: Gegen die Verläumdung. In: Ders.: Sämt-

konnte man weniger kompetente Teilnehmer womöglich durch eine sokratische Hebammenkunst zu Einsichten geleiten, nicht aber das Gespräch monologisierend an sich reißen. Dahinter stand nicht nur das diskursethische Postulat der urbanitas, sondern auch der Relativismus des pluralistischen Denkens dieser Zeit. Ihre semantische Offenheit und ›Dialogfähigkeit‹ hat die Primavera auch damit bewiesen, dass der in ihr repräsentierte ›Liebesgarten‹158 später in eine Villa verbracht und neben die Geburt der Venus (Abb. 34) gehängt wurde. Dieses von Vasari beschriebene Neuarrangement in der Villa in Castello hat Erwin Panofsky im Glauben, es habe sich um die ursprüngliche Bestimmung dieser ›Pendants‹ gehalten, als Gegenüberstellung der himmlischen und der irdischen Liebe interpretiert,159 und damit ein evidentes Deutungsangebot dieses Arrangements erfasst. Ihre semantische Offenheit und Dialogfähigkeit hat die Primavera auch und gerade in dem bemerkenswerten neuen Arrangement bewiesen, mit dem sich erwies, dass die Bedeutung von Tableaus durch die sinnstiftende Kraft neuer Kontexte aktualisiert werden konnte: Kontext- und Deutungs­ variabilität waren korrelierende Größen.

Der neue Apelles: Die Calumnia

Frankfurt/M. 2009, S. 23. 164

Teil 6, S. 97–122. 161 Alberti:

120

Plinius d. Ä.: Historia Naturalis, XXXV, 82–84; vgl. Andreas Schumacher: Der Maler Sandro Botticelli. Eine Einführung in sein Werk. In: Ausstellungskatalog Frankfurt/M. 2009, S. 24.

De pictura, (III) 53. Vgl. Wolfgang Brassat/Michael

Squire: Die Gattung der Ekphrasis. In: Brassat 2017, S. 74; Jean-

2006, S. 250; Andreas Schumacher: Der Maler Sandro

Botticelli. Eine Einführung in sein Werk. In: Ausstellungskatalog

liche Werke. Übers. u. mit Anm. versehen v. Christoph Martin Wieland, Leipzig 1788/89 (Nachdruck Darmstadt 1971), Bd. III,

Plinius d. Ä.: Historia Naturalis, XXXV, 79 u. 91f.

165

»Aequarique sibi non indignetur apelles / Sandrum: iam notum

Michel Massing: Du texte à l’image. La calomnie d’Apelle et son

est nomen ubique suum.« (Zit. n. Körner 2006, S. 346 u. 401,

iconographie. Straßburg 1990.

Anm. 833.)

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

Abb. 46  Sandro Botticelli: Die Verleumdung des Apelles, um 1491–95, Florenz, Uffizien

Apelle, dove Sandro divinamente imitò il capriccio di quello antico pittore«, im Haus des Fabio Segni erwähnte, schenkte Botticelli das Gemälde dessen Vater, seinem lieben Freund Antonio Segni.166 Auch mit diesem Akt einer solchen Schenkung, mit der sich schon in der Antike Künstler über den Status bloß handwerklich tätiger ›Banausen‹ erhoben hatten, folgte Botticelli einem berühmten Vorgänger, nämlich dem Maler Zeuxis von Herakleia, mit dem Verino ihn ebenfalls und zwar in seiner Schrift De Illustratione Urbis Florentiae (1480–87) verglichen hat.167 Zeuxis war durch seine Kunst zu großem Wohlstand gekommen und hatte im Alter, wie Plinius berichtet, wiederholt seine Gemälde

verschenkt, da »wie er sagte, kein ihrem Wert würdiger Preis bezahlt werden könne«.168 Botticelli hat die Calumnia wahrscheinlich ohne Auftrag als ein Bravourstück gemalt, das potentiellen Auftraggebern seine Fähigkeiten demonstrieren sollte, und sie erst später Antonio Segni geschenkt, dessen Sohn Fabio ein von Vasari überliefertes lateinisches Epigramm verfasste.169 Wird die Primavera durch ihre dekorative Fülle, die von Alberti kritisierte copia, charakterisiert, so zeigt die erheblich kleinere, nur 62 × 91 cm messende Verleumdung des Apelles einen schlichten bühnenartigen Handlungsraum mit Ausblick auf das Meer, in dem sich die ungleich dramatischere Handlung vollzieht. Im Unter-

166

Vasari 1966–97, III, S. 520.

168

Plinius: Historia Naturalis, XXXV, 62.

167

Acidini 2009, S. 96, Anm. 89.

169

Vasari 1966–97, III, S. 521.

DER N EU E APELLE S: D I E CALUMNIA

121

schied zur Primavera entspricht seine allegorische Darstellung vollkommen Albertis Ideal des gleich einem Text ›lesbaren‹, verständlichen Bildes. Am rechten Bildrand thront der König Ptolemaios, in dessen Eselsohren die Unwissenheit und der Argwohn schlechte Ratschläge flüstern. Der vom Neid angeführte Zug der schönen Verleumdung, deren Frisur von der Hinterlist und dem Betrug geschmückt wird, schleppt Apelles bzw. die verleumdete Unschuld an den Haaren herbei, während sich die ganz in Schwarz gekleidete Buße der von den anderen Figuren unbeachteten nackten Gestalt der Wahrheit zuwendet. Mit dieser Allegorie soll sich Apelles gegen seinen Kollegen Antiphilos zur Wehr gesetzt haben, der ihn beim ägyptischen König Ptolemaios IV. Philopator verleumdet hatte. Ist die Handlung der Verleumdung leicht nachzuvollziehen, so erschließt sich dagegen der reiche plastische Schmuck der dargestellten Architektur allein einem höchst gebildeten Kunstkenner. Er besteht aus teilweise nur fragmentarisch und in starker Verkürzung sichtbaren dreizehn oder vierzehn großen Nischenfiguren – prominent erscheinen an den Stirnseiten der Pfeiler von links nach rechts König David, der Heilige Georg und der Apostel Paulus – und über 50 Reliefs aus vergoldeter Bronze, die den Sockelbereich, die Kämpferzone und die Kassetten der Tonnengewölbe schmücken. Sie zeigen Episoden aus der antiken Mythologie, Geschichte und Literatur, biblische Ereignisse sowie Szenen aus den Dichtungen Dantes und Boccaccios.170

170 Siehe

die Auflistung identifizierter Figuren in: Zöllner 2015,

Es ist bis heute weder geglückt, alle Sujets sicher zu identifizieren, noch ein kohärentes Gesamtprogramm zu ermitteln.171 Der plastische Schmuck der Architektur ist ähnlich vielfältig wie die von Philostrat d. Ä. beschriebenen Eikones, eine Sammlung, die neben Historien auch Landschaften und ein Stillleben (Xenia; I, 31) umfasst.172 Botticellis Calumnia ist »vor allem ein Kunstwerk, das von der Kunst handelt«,173 eine stolze Demonstration der umfassenden Bildung des Pictor doctus, und seine fiktiven Skulpturen und Reliefs bieten gerade in ihrer Heterogenität ein schier unerschöpfliches Repertorium, um in geselligem Kreis über die Künste zu sprechen. Dass Botticelli dieses Gemälde für den kommunikativen Gebrauch geschaffen hat, ist auch aufgrund mehrerer exponierter Reliefs anzunehmen, bei denen es sich um weitere Visualisierungen antiker Ekphrasen handelt: So geht das zentrale, über dem Heiligen Georg angebrachte Relief mit einer Löwin, die von Amoretten geführt wird, von denen einer ihr aus einem Horn zu trinken gibt, auf Plinius’ Beschreibung eines antiken Werks zurück.174 Auch das vorne rechts im Sockelbereich bildparallel erscheinende Relief mit der Darstellung einer Kentaurenfamilie ist eine Verbildlichung einer Ekphrase, die Lukian auf ein berühmtes Gemälde von Zeuxis verfasst hat.175 Gut sichtbar am Rande des Bildes situiert, fungiert es gewissermaßen als eine Rezeptionsvorgabe und fordert kundige Betrachter regelrecht zum Sprechen, zur ekphrastischen Rede, auf. Weitere Motive, wie diejenigen der in den Kassetten des

kian 1971, II, 3, S. 425f.) verstimmt war, dass alle seine Gemälde

S. 250–253 (Kat.-Nr. 67).

wegen der inventio überschwänglich lobten, nicht aber die ma-

171

Ebda., S. 164.

lerische Ausführung würdigten (Zöllner 2015, S. 167f.). Die gegen

172

Acidini spricht in Zusammenhang mit der von Botticelli darge-

Alberti gerichtete Tendenz erscheint evident, zumal Cennini

stellten Architektur von dem »außergewöhnliche[n] Repertoire

noch erklärt hatte, die Phantasie erlaube dem Künstler, »wie es

an Figuren, das von Philostratos’ Imagines und anderen antiken

ihm gefällt« auch Dinge darzustellen, die nie gesehen wurden,

Vorbildern inspiriert zu sein scheint.« (Acidini 2009, S. 91.)

wie z. B. Kentauren (Cennini: Trattato della pittura, Kap. I). (Die

173

Körner 2006, S. 348.

Darstellung derselben hatte übrigens Philostrat d. Ä. als Meis-

174

Plinius: Historia Naturalis, XXXVI, 41; Zöllner 2015, S. 252.

terleistung gewürdigt: Eikones, II, 2, 4.) Dagegen insistierte Al-

175

Lukian: Zeuxis oder Antiochus. In: Lukian 1971, II, 3, S. 419–430,

berti, der Maler habe allein sichtbare Dinge nachzubilden (Al-

die Ekphrase der Kentaurenfamilie: S. 422–425. Zöllner deutet

berti: De pictura, I, 2), und sprach sich damit, wie Oskar Bätsch­

Botticellis Visualisierung dieser Ekphrase als Argument gegen

mann betont hat, ausdrücklich gegen die von Cennini erteilte

Albertis Privilegierung der inventio, da Zeuxis nach Lukian (Lu-

Lizenz aus (Bätschmann, in: Alberti 2000, S. 77).

122

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

linken Tonnengewölbes dargestellten Geschichte des Nastaglio degli Onesti aus dem Decamerone, die streng blickende Statue der Judith hinter dem Thron am rechten Bildrand und die in den Reliefs darüber und darunter sichtbare Auffindung des Holofernes und Rückkehr Judiths und ihrer Dienerin nach Bethulia hatte Botticelli selbst in früheren Gemälden behandelt. In Hinsicht darauf hat Hans Körner von einer »Historisierung der eigenen Kunst« gesprochen, von ihrer Verortung in einem Zusammenhang mit antiken Werken, die eine »vergangene und dank Botticelli wiederbelebte goldene Zeit der Kunst [evoziert]«.176 Auch die Architektur ist in dieser Hinsicht signifikant. In der Literatur wird diese durchweg als Thronsaal oder -halle bezeichnet, doch vor allem das helle Licht und die dunklen Schatten der Figuren lassen daran zweifeln, ob es sich überhaupt um einen Innenraum handelt? Sicherlich soll die gemalte Schauwand mit Statuen und Reliefs, die entfernt an die scaenae frons eines Theaters denken lässt, eine antike Architektur repräsentieren. Wahrscheinlich hat Botticelli sie unter dem Eindruck der Eikones von Philostrat d. Ä. gestaltet, der im Prooimion berichtet, dass seine kunstvollen Bildbeschreibungen aus Privatseminarien entstanden, die er in einer vor Neapel am Meer gelegenen Villa suburbana eines Mäzens, in der er sich eigentlich erholen wollte, auf vielfachen Wunsch hin gab.177 In dieser Villa, so Philostrat weiter, gab es einen auf mehreren Terras-

sen errichteten Portikus, dessen Interkolumnien den Blick gen Westen auf das Tyrrhenische Meer freigaben und in dessen Wände jene Gemälde eingelassen waren, vor denen er seine »Prunkvorführung der Redekunst« gab.178 Philostrat beschreibt in seiner Schrift in ebenso vielen Kapiteln 65 Gemälde, was sehr genau der Zahl der in Botticellis Calumnia repräsentierten Figuren und Reliefs entspricht.179 Auch der Ausblick aufs Meer spricht dafür, dass sich der Maler an Philostrats Schrift orientiert hat und somit eine antike Sammlungsarchitektur darstellen wollte, in der der beredte Kunstgenuss als Bestandteil des otium und einer naturnahen Rekreation definiert war.180 Eine weitere Quelle hat Frank Zöllner angeführt: Lukians Lobrede De Domo (Der Saal).181 In dieser erörtern zwei Redner im agonalen Disput die Frage, ob die Schönheit der Umgebung dem Redner zum Nutzen oder zum Nachteil gereiche. Im ersten Teil beschreibt der erste Redner, der sich vorstellt als gebildeter »Mann von Geschmack«, den großen, wohlgestalteten, hell erleuchteten, mit Gold verzierten und mit herrlichen Gemälden ausgeschmückten Saal, dessen Schönheit ihn zum Sprechen ermuntere, ja, es ihn nicht ertragen lasse, »sprachloser Betrachter der Schönheit zu sein«.182 Der Raum sei wohlproportioniert und zurückhaltend dekoriert und gleiche darin einer schönen Frau, der einfacher Schmuck genüge, nur Hässliche würden sich mit Gold behängen, um zu gefallen (§ 7). Sein Argu-

176

Körner 2006, S. 349.

fassende Hand einer weiteren zu sehen ist), zudem 9 Reliefs in

177

Philostrat d. Ä.: Eikones, I, Prooimion, 4f.

der Kämpferzone und 18 in den Gewölbetonnen (sechs in der

178

Ebda., I, Prooimion, 5. Bereits Alberti hatte antike Beispiele von

linken, fünf in der mittleren und sieben in der rechten). Daraus ergibt sich die Gesamtzahl 65.

Gemäldezyklen in Portiken angeführt: Alberti: De re aedificatoria Libri X, IX, 4. Für die von Botticelli gemalte Architektur

180

könnte von Belang gewesen sein, dass die Renaissance den an-

vor ihrem Erstdruck, der Aldina von 1503, ein. Zur Verbreitung

tiken Begriff des Portikus (Laufgang, Säulengang, Halle) in der

der Schrift im Quattrocento siehe Otto Schönberger: Einfüh-

eng gefassten Bedeutung von ›Vorhalle‹ verwendet hat. In Hinsicht auf die Gestaltung und Anordnung der Nischenfiguren

rung. In: Philostratos 1968, S. 64f. 181

mag sich Botticelli auch an den Skulpturen von Or San Michele orientiert haben. 179

Demnach setzte die künstlerische Rezeption der Eikones schon

Zöllner 2015, S. 166f. Siehe Lukian: Lobrede auf einen schönen Saal. In: Lukian 1971, III, 6, S. 327–352.

182

Lukian: De domo, 2, hier zit. n. Manuel Baumbach/Peter von

Ich zähle 15 große Reliefs im Sockelbereich und 10 kleinere dar-

Möllendorff: Ein literarischer Prometheus. Lukian aus Samosata

über, sodann 13 Nischenfiguren (wobei in der rechten Arkade

und die Zweite Sophistik. Heidelberg 2017, S. 134.

zwischen den beiden gut sichtbaren Statuen die einen Stab um-

DER N EU E APELLE S: D I E CALUMNIA

123

ment, dass die Schönheit der Umgebung »auch die geistigen Fähigkeiten des Redners erhebt und zum Reden erweckt«,183 belegt er mit Beispielen aus der Natur, z. B. dem Pfau, der auf einer schönen Blumenwiese sein Gefieder ausbreite (§ 11). Daraufhin kündigt er den zweiten Redner an, der nicht seiner Meinung sei. Nachdem dieser zunächst eingeräumt hat, die Aussagen seines Kontrahenten seien im Grunde richtig, erklärt er, die Herrlichkeit des Raumes gerate dem Redner zum Nachteil. Denn die »Fülle des Schönen« überdecke seine Worte (§ 16), irritiere den Redner und zerstreue seine Gedanken, da er fürchten müsse, seine Rede könne des schönen Orts nicht würdig sein (§ 17). Er lenke auch das Publikum ab: Zuhörer würden gänzlich von der Fülle der Schönheiten in Beschlag genommen, sodass sie gar nicht darauf achteten, ob einer spricht oder vorliest (§ 18). Diese Annahme stützt der zweite Redner mit dem Argument, der Sehsinn wirke stärker auf den Menschen ein als das Gehör, weshalb die Ohren der Menschen ungläubiger seien als ihre Augen: »Denn die Worte sind (wie Homer zu sagen pflegt) geflügelt, und flattern, so wie sie entstehen, wieder davon. Das Vergnügen hingegen das uns Dinge, die wir sehen, gewähren, verweilet und bleibt bey

phraseis der verschiedenen Bilder des Saals. Beide Redner, die Lukian in seiner kunstvollen Lobrede als Kontrahenten hat auftreten lassen, bestätigen somit letztlich die Praxis des kunstvollen Sprechens über Kunstwerke in diesen gewidmeten Räumen. Wenn Botticelli diese Quelle rezipiert hat, so wird sie ihn nicht zuletzt in Hinsicht auf das in ihr erörterte Problem der Fülle des Bildschmucks und seiner Versprachlichung interessiert haben. In der Primavera hatte er bewusst die von Alberti kritisierte copia und mit ihr eine Bedeutungsintransparenz eingesetzt, die dem Bild eine anhaltende Aufmerksamkeit, d. h. dem System Kunst eigene Zeit, sichern sollte. In der Verleumdung des Apelles konzentrierte er die Aufmerksamkeit auf die Handlung der Allegorie und den skulpturalen Schmuck der Hintergrundarchitektur, die embedded narratives, indem er dem schlichten Handlungsraum lediglich einen minimalistischen Landschaftshintergrund gab. Die Lobrede auf einen Saal, in der Lukian das »intermediale Ideal[ ] einer wechselseitigen Erhöhung von Text und Bild« propagiert hat,185 war, wie auch die Eikones von Philostrat d. Ä., eine einschlägige Quelle, die über die antike Kultur des Sprechens über Bilder und damit den Zusammenhang von Bildender Kunst und Beredsamkeit Auskunft gab.

uns, und kann sich unser also völlig bemächtigen.« (§ 20)184

»Wer die Malerei nicht schätzt«, so beginnen die Eikones, »verschmäht die Wahrheit und versündigt

Den Schlussteil von De Domo eröffnet der zweite Redner, indem er erklärt, in dieser Umgebung könne man einzig über den Saal selbst und seine Bilder sprechen, da nur so keine Divergenz zwischen dem Gesehenen und dem Gehörten entstehe. Es folgen seine Ek-

sich auch am Kunstverständnis, das die Dichter an-

183

»[…] Denn durch die Augen fließt geradezu etwas Schönes in die

Gesprochenen korrespondiert. […] Die gelungenste Ekphrasis

Seele, das dann die Worte in eine ihm entsprechende Ordnung

bestünde also gerade darin, keine Ekphrasis mehr zu sein, son-

bringt und herausgehen lässt.« (Lukian De domo, 4, hier zit. n.

dern ein rein ästhetisches, nicht semantisches Komplement

Baumbach/von Möllendorff 2017, S. 133.) Wie diese erläutern,

zum Anblick«. (Baumbach/von Möllendorff 2017, S. 133.)

geht; denn beide Künste wenden sich den Taten und den Gestalten der Heroen zu; er hat auch kein Gefallen am Ebenmaß, durch das die Kunst auch am Logos teilhat.«186

184

Lukian 1971, III, 6, S. 344. Zu dem Wort von den »ungläubigeren

ein. Es geht weniger darum, von der Schönheit des Anblicks zu

185

Baumbach/von Möllendorff 2017, S. 136.

sprechen, als im Anblicken so zu sprechen, dass die spezifische

186

Philostrat: Eikones, I, Prooimion 1 (Philostratos 1968, S. 85).

gehen Anblick und Rede vor allem angesichts der Architektur »eine ästhetische, nicht semantische Beziehung miteinander

Ohren« vgl. Herodot: Historien, I, 8.

Schönheit des Geschauten mit der spezifischen Schönheit des

124

PROGR A M ME F Ü R Z AHLLOSE KOM M U N IKAT IONEN

Für das Streben der Renaissancekünstler nach Anerkennung ihrer Arbeit als einer intellektuellen Tätigkeit war Philostrat aufgrund dieses Statements ein gewichtiger Gewährsmann und der in ihm angesprochene Leitsatz ›ut pictura poesis‹ von Anfang an ein Topos des humanistischen Denkens. So hatte schon Dante, den Fortschritt der Künste preisend, die Maler Cimabue und Giotto mit zeitgenössischen Dichtern verglichen,187 und Boccaccio und Filippo Villani hatten Giotto ähnlich wie Petrarca als großen Erneuerer gepriesen, der, wie dieser die Dichtung, die Malerei nach dem dunklen Mittelalter zu neuem Leben erweckt habe.188 In einem Brief aus dem Jahr 1452 hatte dann Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II., eine erhabene Kunst gefordert

und die Malerei und die Beredsamkeit gleichgesetzt. Wie die Zeiten Ciceros und Demosthenes’ zeigten, erblühe die eine stets gemeinsam mit der anderen:189 »Aus einer einzigen gemeinsamen Quelle gehen Beredsamkeit und Malerei hervor, sie haben die gleichen Leiden und die gleichen Freuden erlebt.«190 Die verschwisterten Bild- und die Wortkünste galten als Gradmesser der Kultiviertheit einer Epoche, waren gleichermaßen Maßstab der urbanitas. In diesem Sinne ist Botticellis Verleumdung des Apelles auch ein gemaltes Autonomiepostulat, ein Bild, das nach seiner Versprachlichung und einem entsprechenden Kontext, z. B. einem studiolo,191 verlangte, in dem Kunstwerke als solche ausgestellt wurden und besprochen werden konnten.

187

Dante: Divina Comedia, Purgatorio, XI, 91ff.

190

188

Panofsky 1960, S. 12ff.

ten. Hrsg., übers. und eingeleitet von Berthe Widmer, Basel/

189

Ebda., S. 15f.

Stuttgart 1960, S. 298f.; Pfisterer 2002a, S. 93. 191

DER N EU E APELLE S: D I E CALUMNIA

Enea Silvio Piccolomini: Ausgewählte Texte aus seinen Schrif-

Zöllner 2015, S. 166f.

125

KAPITEL III

126

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

PENDANTS UND KONKURRENZWERKE: DIALOGIZITÄT UND INTERPIKTURALITÄT IN WERKEN RAFFAELS

Der Traum des Scipio, Die drei Grazien und das Bildnis eines jungen Mannes mit Apfel

Ein ähnlich subtiles dialogisches Verhältnis, wie es die Gemälde Botticellis im Gemach der Semiramide Appiani charakterisierte, hat Edgar Wind an den ersten profanen Historien Raffaels analysiert. Als junger Hofmaler in Urbino schuf dieser wahrscheinlich 1504 die als Pendants konzipierten kleinen Tafeln Der Traum des Ritters (Abb. 47) und Die drei Grazien (Abb. 48). Es sind dies jeweils nur 17 × 17 cm messende, in einem feinmalerischen ›Predellen-Stil‹ ausgeführte Gemälde. Die Forschung nahm lange aufgrund ihrer Provenienz an, dass sie für Scipione Tommaso Borghese bestimmt waren und anlässlich seiner Firmung in Auftrag gegeben wurden.1 Seit einiger Zeit geht man hingegen davon aus, dass sie für Francesco Maria della Rovere, den von seinem Onkel adoptierten designierten Herzog von Ur-

bino, bestimmt waren. Da dieser wahrscheinlich in Raffaels Bildnis eines jungen Mannes mit Apfel (Abb. 49) porträtiert ist, hat Sylvie Béguin die plausibele These vertreten, dass zwischen allen drei Gemälden ein Zusammenhang besteht.2 Der Annahme, dass die beiden Täfelchen ehemals ein profanes Diptychon bildeten, hat Wind aufgrund ihres quadratischen Formats und ihres nicht übereinstimmenden Figurenmaßstabs wiedersprochen und vermutet, dass sie einst Rücken an Rücken gerahmt und wie zwei Seiten einer Medaille zu betrachten waren.3 Zweifellos waren Der Traum des Ritters und Die drei Grazien bestimmt, »in die Hand genommen und von Kunstliebhabern aus nächster Nähe bewundert zu werden.«4 Nicht unwahrscheinlich ist, dass ehemals das eine Täfelchen als Schiebedeckel (coperta) des anderen dienten, also zurückgeschoben werden konnte, um das darunter befindliche Bild sichtbar zu machen.5 Auch diese damals verbreitete Präsenta­ tionsform zielte darauf ab, die Kommunikation der Be-

1

Wind 1984, S. 99. Impliziert war damit eine Entstehung der Ge-

3

Wind 1984, S. 101.

mälde vor 1501, dem Jahr der Konfirmation des damals sieben

4

Ulrich Pfisterer: Raffael. Glaube – Liebe – Ruhm. München 2019,

5

Zu dieser These von Jones und Penny siehe Jürg Meyer zur Ca-

oder acht Jahre alten Scipione. Beide Gemälde befanden sich bis 1789 in der Galerie der Villa Borghese, wurden dann nach

2

S. 52.

England verkauft, wo sie noch in der Sammlung von Thomas

pellen: Raphael: a citical catalogue of his paintings. Landshut

Lawrence vereint waren, dann aber in unterschiedliche Hände

2001, S. 164f. Auch die 1517/18 entstandene sogenannte Kleine

gelangten. 1847 kam der Der Traum des Ritters in die soeben ge-

Heilige Familie war ursprünglich mit einer coperta mit identi-

gründete National Gallery in London, und 1885 wurden Die drei

schen Maßen (38 × 32 cm) versehen, auf der die antike Statue

Grazien an das Museum in Chantilly verkauft. (Sylvia Ferino

einer Personifikation des Überflusses (dovizia) dargestellt ist

Pagden/Maria Antonietta Zancan: Raffaello. Catalogo completo

(beide Paris, Louvre). Siehe Michael P. Fritz: Una tavoletta dovi-

dei dipinti. Florenz 1989, S. 34f.)

ziosa: Gedanken zu einem Frühwerk Giulio Romanos in Paris.

Sylvie Béguin/Christiana Garofalo: Raffaello. Catalogo completo

In: Christine Göttler/Ulrike Müller Hofstede u. a. (Hrsg.): Diletto

dei dipinti. Santareangelo di Romagna 2002, Nr. 14, S. 35; Ferino

e Maraviglia. Ausdruck und Wirkung in der Kunst von der Re-

Pagden/Zancan 1989, S. 43.

naissance bis zum Barock. Rudolf Preimesberger zum 60. Ge-

127

Abb. 47  Raffael: Der Traum des Ritters, um 1504, London, National Gallery

Abb. 48  Raffael: Die drei Grazien, um 1504, Château de Chantilly, Musée Condé

trachter anzuregen. Sie bot die in Bezug gesetzten Bilder einer vergleichenden Wahrnehmung dar und forderte die Rezipienten dazu auf, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erörtern.6 Der Traum des Ritters basiert, wie Panofsky, Eisler und Wind ermittelt haben,7 auf Ciceros Traum des Scipio (De re publica, VI, 9–26), den Kommentaren des

Neuplatonikers Macrobius zu dieser Schrift sowie dem 15. Kapitel der Dichtung Punica des Silius Italicus. Das Gemälde zeigt den im Schatten eines Lorbeerbaums träumenden jungen Helden – »Lauri residens iuvenis viridante sub umbra«, so heißt es bei Silius,8 der diesen Stoff aus der Wahl des Herkules in Xenophons Memorabilia abgeleitet hatte. So wie Herkules in Xenophons

burtstag. Emsdetten 1998, S. 238–251; Pfisterer 2019, S. 262ff. Das

nieren. Zur performativen Praxis in frühneuzeitlichen Samm-

von Giulio Romano gemalte Werk ging als Freundschaftsgabe

lungen. In: Robert Felfe/Angelika Lozar (Hrsg.): Frühneuzeitli-

Raffaels an den Kardinal Bibbiena, der es, wie Petracrca sein

che Sammlungspraxis und Literatur. Berlin 2006, S. 120f.; zum

Madonnenbild Giottos, testamentarisch einem gemeinsamen

Komplexitätszuwachs durch die Bildung von Pendants und an-

Freund, nämlich Castiglione, vermachen sollte. Die Kombina-

deren mehrteiligen Bildsystemen David Ganz/Felix Thürle-

tion der nur mit einem durchsichtigen Gewand bekleideten an-

mann (Hrsg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwi-

tiken, von einer fiktiven Buntmarmorrahmung umgebenen

schen Mittelalter und Gegenwart. Berlin 2010; Gerd Blum/Stef-

Skulptur und der Maria mit Christus, Elisabeth und Johannes

fen Bogen/David Ganz/Marius Rimmele (Hrsg.): Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik. Berlin 2012.

war offenbar intendiert, Gespräche über den Paragone und den Vorrang der Antike oder der Gegenwart anzuregen. (Pfisterer

7

2019, S. 266f.; Ulrich Pfisterer: Raffael und das Füllhorn der An-

6

Bildstoffe in der neueren Kunst. Leipzig 1930, S. 76ff.; Robert Eis-

tike. James Loeb Lecture 2020, Online-Vortrag, gehalten am

ler, in: Revue archéologique, 32, 1930, S. 134f.; Wind 1984 (Er-

1. Juli 2020 am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München.)

stausg. 1958), S. 99ff. Siehe auch André Chastel: Art et Huma-

Mit dem Besitz eines solchen tragbaren Bildpaares war man zu-

nisme à Florence au temps de Laurens le Magnifique. Paris 1961,

gleich potentieller Lizensator zahlreicher Kunstgespräche. Zu

S. 269.

den Schiebedeckeln siehe Barbara Welzel: Verhüllen und Insze-

128

Erwin Panofsky: Herkules am Scheidewege. Und andere antike

8

Silius Italicus: Punica, XV, 18.

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Schrift an einer Gabelung des Weges über seinen weiteren Lebensweg entscheiden muss,9 träumt der römische Ritter, wie zwei Frauen auf ihn zutreten: Die strengere der beiden offeriert ihm ein Schwert und ein Buch, die hier für das aktive Leben des Kriegers und das kontemplative Leben des Gelehrten stehen, die lieblichere bietet ihm eine Blume dar. Es sind Minerva und Venus, die hier als Verkörperungen der virtus und der voluptas zur Wahl stehen. Der zum Ruhm führende Weg auf der Seite der Tugend ist steil und beschwerlich und führt auf einen von einem Turm bekrönten Felsen, während sich hinter der Begierde eine liebliche Seenlandschaft ausbreitet. Die Haltung des innerlich bewegten Träumenden legt die Vermutung nahe, dass er sich bereits für die Tugend entschieden hat. Das Pendant mit der Darstellung der drei Grazien (Abb. 48), die sich durch ihre dezenten Attribute identifizieren lassen, zeigt einen ähnlichen Gegensatz. Die linke Figur trägt ein knappes Lendentuch aus durchscheinendem Stoff und keinen Schmuck. Sie ist demnach castitas. Bei der gänzlich nackten Grazie auf der anderen Seite, die hingegen eine lange Halskette mit einem großen Juwel trägt, handelt es sich um voluptas. Die als Rückenakt erscheinende Figur in der Mitte trägt eine kurze Kette mit einem kleinen Edelstein. Weder so enthaltsam wie die Keuschheit, noch so luxuriös geschmückt wie die Lust, hält sie das Gleichgewicht zwischen beiden, ist keusch und sinnlich zugleich. Demnach handelt es sich um pulchritudo, die Schönheit. Beide Gemälde zeigen in der ranghöheren linken Bildhälfte Repräsentantinnen der Tugend. Im Traum des Ritters liegt das Schwergewicht der Komposition auf dieser Seite, wo Minerva dem Träumenden zwei Attribute, Schwert und Buch, darbietet, während Venus ihm nur eines, die Blume, offeriert. Bei den Grazien, die durch die goldenen Äpfel bzw. Bälle als Dienerinnen der Venus charakterisiert sind, liegt das Schwergewicht der Komposition hingegen auf der rechten Seite, der

der voluptas. Die Schönheit treibt die Keuschheit zur Liebe, dieser Vorgang ist offenbar in dem zweiten Gemälde dargestellt, in dem die Schönheit ihre Hand der Keuschheit auf die Schulter gelegt hat, während ihr Blick zur Begierde gerichtet ist. Und auf deren Seite befinden sich zwei goldene Äpfel, während auf der Seite der Keuschheit nur einer zu sehen ist. Ursprünglich hielt die Schönheit keinen Apfel, sondern hatte ihre Arme auf die Schultern ihrer beiden Gefährtinnen gelegt.10 Diese symmetrische Lösung hat Raffael nachträglich korrigiert und dabei eine Gewichtung vorgenommen, die der des Pendants widerspricht. In dem Bildpaar ist also eine Alternative dialektisch von zwei Seiten bedacht. Wie Wind überzeugend dargelegt hat, sind in Raffaels Pendants Gedanken aus der Schrift De Vita Triplici des Marsilio Ficino eingegangen. Die drei Attribute, die dem träumenden Scipio dargeboten werden – Buch, Schwert und Blume – bezeichnen die drei Vermögen des Menschen: Intelligenz, Kraft und Gefühl oder, wie Platon sie nannte, Verstand, Mut und Begehren. In Ficinos von Platon entlehntem Schema des dreigeteilten Lebens sind zwei dieser Gaben, die intellektuelle und die moralische, Geistesgaben, während die dritte, für die die Blume steht, sinnlicher Natur ist.11 Nur zusammen machen sie den ganzen Menschen aus und bringen, sich in verschiedenen Verhältnissen mischend, unterschiedliche Charaktere hervor. Im Traum des Scipio des Macrobius, der mit einer Erörterung der tripartita philosophia endet, wird der Held vor dem wollüstigen Leben gewarnt und aufgefordert, um die Früchte des aktiven und kontemplativen Lebens zu ringen. Diese Empfehlung vermittelt auch Raffaels Traum des Ritters. Doch das Pendant bringt dem Betrachter eine andere Präferenz nahe, verleitet ihn mit subtilen Mitteln, auch das Recht der vita voluptuosa zu bedenken. Eben dies hatte, wie vor ihm bereits zahlreiche weitere Autoren des Quattrocento, Marsilio Ficino

9

Xenophon: Memorabilia, II, 1.

11

10

Wind 1984, S. 102, Anm. 10.

Zu diesen drei Gütern siehe auch Lorenzo Valla: De voluptate, II, 36: »Quod vita contemplativa est species voluptatis« (Valla 2004, S. 208ff.).

De r Tr au m d es S c ipio , D i e drei Gr a zi e n u nd das B ild n is e in e s ju n ge n Man n e s mit Apfe l

129

unter anderem in seiner Schrift De Vita Triplici gefordert. In einem Brief an Lorenzo de’ Medici schrieb er: »Und drei Wege zur Glückseligkeit hat der Mensch gewählt: Weisheit, Macht und Lust (sapientia, potentia, voluptas).«12 Nur einen von ihnen einzuschlagen, sei falsch, ja blasphemisch, erläuterte Ficino in Anlehnung an Platons Phaidros, in dem Sokrates erklärt hatte, wer des Eros spotte, lästere über eine Gottheit.13 Paris, so fuhr Ficino fort, entschied sich für die Lust, Herkules wählte das Heldentum und Sokrates zog die Weisheit der Lust vor. Doch alle drei wurden von den Gottheiten, die sie verschmähten, bestraft und ihr Leben endete im Unglück. »Unser Lorenzo jedoch«, so schrieb Ficino, »belehrt durch das Orakel Apolls, hat keinen der Götter vernachlässigt. Er sah die drei (d. h. die drei Göttinen, die Paris erschienen waren) und verehrte sie alle gemäß ihren Vorzügen; daher erhielt er Weisheit von Pallas, Macht von Juno und von Venus Anmut, Poesie und Musik.«14

In der Tradition Ficinos wurde es zu einer Gepflogenheit der Renaissance- und Barock-Panegyrik, die Vielseitigkeit von Herrschern zu loben, indem man ihre kluge Wahl, keine der Alternativen auszuschlagen, der schlechten des Paris entgegensetzte. Das Urteil desselben, auf das Raffaels Darstellung der drei Grazien anspielt, war der Stoff, anhand dessen seit Coluccio Salutati zahlreiche Autoren die Trias der alternativen Lebensformen der vita activa, vita contemplativa und vita voluptuosa entwickelt und letztere aufgewertet hatten, zuletzt der Bologneser Humanist Filippo Beroaldo in seinem im Jahre 1500 gedruckten Kommentar zu dem antiken Roman Metamorphosen oder Der goldene Esel

Abb. 49  Raffael: Bildnis eines jungen Mannes mit Apfel, um 1504, Florenz, Uffizien

von Apuleius.15 Ganz in diesem Sinne sind auch die beiden Gemälde Raffaels konzipiert, die ihre Betrachter und insbesondere Francesco Maria della Rovere, der in dem ihnen vermutlich zugehörigen Porträt als ›neuer Paris‹ erscheint (Abb. 49), vor die Wahl stellten, welcher der weiblichen Gestalten in dem einen und dem anderen Gemälde der Vorzug zu geben sei. Dass man für das Für und Wider der verschiedenen Lebensmodelle in

12

Zit. n. Wind 1984, S. 102.

ist, so kann er nichts Übles sein.« (Platon: Phaidros oder Vom

13

In Platons Phaidros hält Sokrates mit verhülltem Haupt eine

Schönen, Kap. 20. Übertragen u. eingel. v. Kurt Hilderbrandt,

Rede wider den Eros, um jene des Lysias, die Phaidros so beein-

Stuttgart 31994, S. 38.)

druckt hatte, in den Schatten zu stellen. Dann aber folgt der dia-

14

Zit. n. Wind 1984, S. 102.

lektische Einwand gegen die eigene ›gotteslästerliche‹ Rede:

15

Pfisterer 2019, S. 53f.

»Wenn also doch Eros in Wirklichkeit ein Gott oder eine Gottheit

130

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

führt.17 Im Anschluss daran sollte der Neuplatonismus einen ganzheitlichen anthropologischen Ansatz restituieren und mit dem Ideal der schöpferischen und zur Selbstverwirklichung befähigten Persönlichkeit die Lehre vom demütig in der Nachfolge Christi stehenden Menschen relativieren.18 »Die Tiere bringen aus dem Mutterleibe mit, was sie haben sollen, die höheren Geister sind von Anfang an, was sie in Ewigkeit bleiben werden. Du allein, Mensch, hast Keime eines allartigen Lebens in dir«, schrieb Giovanni Pico della Mirandola in seiner berühmten Rede Von der Würde des Menschen (De dignitate hominis).19

der höfischen Geselligkeit Argumente bereithalten und sich zu ihm möglichst eloquent äußern können musste, und mit dem Mythos gespielt hat, zeigt auch ein Gedicht des Capodiferro auf den Wettstreit der Göttinnen für Marcantonio Colonna. Dieser findet ausnahmsweise vor Jupiter statt und in ihm sollte Marcantonio, dessen Hochzeit im Januar 1508 bevorstand, offenbar als weiterer Schiedsrichter fungieren.16 Auch Raffaels Pendants – und vielleicht auch das Porträt des ›Neuen Paris‹ als zugehöriges drittes Bild – werden als Gesprächsanlass und -programm gedient haben. Auch in diesem Fall zielte die antithetische Konzeption der Pendants mit dem heroischen Traum des Ritters und den verlockenden Grazien offenbar darauf, ein lebhaftes Gespräch der Rezipienten in Gang zu bringen. Die bisher angeführten Beispiele zeigen, dass sich die äußere und interne Dialogizität von RenaissanceGemälden einhergehend mit den neuen Rezeptionsformen des geselligen Gesprächs ausgebildet hat. Folgerichtig lässt sich dieses Merkmal in der profanen Malerei in Verbindung mit inhaltlichen Schwerpunkten feststellen, in Bezug auf die sich in der Gesellschaft des Quattrocento tatsächlich neue Wahlmöglichkeiten und Handlungsalternativen auftaten, wie vor allem die Liebe und das aktive, kontemplative oder genießerische Leben. Voraussetzung dessen war die Unterminierung des christlich-mittelalterlichen Denkens und Zurückweisung seiner klaren moralischen Oppositionen, wie sie bereits durch Lorenzo Valla vollzogen worden war. Er hatte die Lust als ein alles menschliche Handeln leitendes Prinzip gewürdigt, das die Sinne mit den Objekten der Welt vermähle, und so »die Natur aus der Herrschaft der Moral in die Autonomie« zurückge-

»Wer würde dieses Chamäleon nicht bewundern«,21 fragte Pico, der als Sinnbild des die mannigfaltige Schöpfung studierenden und dabei immer neue Facetten seiner selbst entdeckenden Menschen auch den sich fortwährend wandelnden Proteus angeführt hat.22 Ihn sollte später die Kunsttheorie zum Leitbild des universellen Künstlers erheben. Schon Vasari übernahm von Cicero und Quintilian, die die Eloquenz als Inbegriff menschlicher Vollkommenheit bewertet hatten,23 das Ideal eines souveränen Verfügens über alle Ausdrucksmittel, welches das Telos einer Läuterung implizierte: Wer alle Stilarten über das hinaus beherrscht, was seinem Naturell entspricht, ist auch Herr über dieses geworden.24 In die-

16

Siehe ebda., S. 340, Anm. 88.

22

17

Eckard Keßler: Ein Werk, ein Autor und ihre verwirrende Ge-

tis naturae argumento per Proteum in mysteriis significari«. (De

schichte. In: Valla 2004, S. XXIV.

hominis dignitate, zit. ebda., S. 220, Anm. 2.

Dieser »kann vegetieren wie eine Pflanze, wüten wie ein wildes Tier, tanzen wie ein Stern, logisch denken wie ein Engel und sie alle darin übertreffen, daß er sich in die verborgene Mitte seines Geistes zurückzieht, wo er dem einsamen Dunkel Gottes begegnen mag.«20

23

»Quem [hominem] … versipellis huius et se ipsam transforman-

18

Vgl. Held/Schneider 1993, S. 161f.

19

Zit. n. Ernst Bloch: Vorlesungen zur Philosophie der Renais-

cero: De oratore, III, 55; vgl. Quintilian: Institutio oratoria, I Pro-

sance. Frankfurt/M. 21980, S. 15.

oemium 9; XII 1, 1. Höchste Eloquenz zu erreichen, hieß für Quin-

20

Wind 1984, S. 220.

tilian, die eigenen Naturanlagen zu erkennen und zu überschrei-

21

Zit. ebda.

ten, charakterliche Defizite zu überwinden. Siehe ebda., II 8.)

»Est enim eloquentia una quaedam de summis virtutibus«. (Ci-

De r Tr au m d es S c ipio , D i e drei Gr a zi e n u nd das B ild n is e in e s ju n ge n Man n e s mit Apfe l

131

sem Sinne sollte Federico Zuccari Proteus als Symbol der Malerei bezeichnen25 und Karel van Mander nannte Hendrick Goltzius, dem er als einem unvergleichlich wandlungsfähigen Künstler auch Merkmale Christi und des Apostelfürsten Paulus verlieh, einen »seltsamen Proteus oder Vertumnus in der Kunst«.26 Im Anschluss an Valla und die Florentiner Neuplatoniker vollzog sodann Pietro Bembo in Gli Asolani eine Nobilitierung der heterosexuellen Liebe.27 An den am Hof der zypriotischen Königin Caterina Cornaro im Rahmen des Hochzeitsfestes einer der Hofdamen stattfindenden Gespräche in Asolo nehmen jeweils drei junge Frauen und Männer teil. Als erster männlicher Sprecher ergreift Perrottino das Wort, der die Liebe neostoizistisch als eine Passion der Seele versteht, die den Verstand verwirre, dem menschlichen Selbsterhaltungstrieb widerspreche und Quell des Unglücks sei. Dagegen stimmt Gismondo ein vulgär-epikuräisches Lob der Liebe und der ihr entspringende Lust (gioia) an: Wer nicht liebt, dessen Denken ermatte. Liebe, die diesen Namen verdiene, erweise sich als die verbindende und erhaltende Kraft des Kosmos und der menschlichen Gesellschaft; sie sei prinzipiell gut und vernünftig. Sei auch bei ihr Mäßigung geboten, so rate

24

25

»Bembo hat in seinen Asolani zwar die Erörterung der göttlichen Liebe aus platonisch-christlicher Perspektive in einen höfischen Diskurs, an dem auch Frauen teilnehmen und in dem die Liebe zu Frauen thematisiert wird, integriert, aber keine sachliche Vermittlung beider Bereiche geleistet.«29

Daraus folgt: Man hat die Wahl. Erwin Panofsky hat in Zusammenhang mit Raffaels Traum des Ritters (Abb. 47) betont, dass das antike Bildthema des Hercules prodicius erst seit der Wende zum 15. Jahrhundert wieder dargestellt wurde.30 Als Ausdruck einer diessei-

Zur Übernahme dieser Programmatik der römischen Bildungs-

lettres écrites d’Italie à quelques amis en 1739 et 1740. Hrsg. v. R.

rhetorik bei Dolce, Vasari und ihren Nachfolgern siehe Brassat

Colomb, 2 Bde. Paris 1836, Bd. 1, S. 262; Henry Keazor: «Distrug-

2001, Sp. 762ff.; Brassat 2003, S. 112ff., 176ff.

gere la maniera«? Die Carracci-Postille. Freiburg im Brsg. 2002,

Eine der Kapitelüberschriften des zweiten Buches von L’idea de

S. 76, Anm. 83). Zur Proteus-Metaphorik allgemein Thomas

pittori, scultori et architetti lautet »Bellissima, e misteriosa fauola

Kleinspehn: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kul-

di Proteo simbolo della Pittura« (Scritti d’arte di Federico Zuc-

tur der Neuzeit. Reinbeck 1989, S. 91ff.

caro. Hrsg. v. Detlef Heikamp, Florenz 1961, S. 309 sowie S. 247.) 26

er doch dem Bräutigam, sich nicht mit den »Vorspeisen« der Liebe zu begnügen.28 Als dritter Sprecher erklärt sodann Lavinello, der Liebende solle sich mit dem Genuss der Augen begnügen, den die Anmut (grazia) einer schönen Seele in einem ebensolchen Körper bereite. Denn wahre Liebe, dies habe er von einem heiligen Manne erfahren, gelte nicht vergänglichen Schönheiten, sondern Gott allein. Zwischen Lavinellos Ausführungen und den die zwischengeschlechtliche Liebe erörternden Reden Perrotinos und Gismondos bleibt freilich ein Bruch bestehen:

27

Pietro Bembo: Gli Asolani. In: Ders.: Prose e Rime. Hrsg. v.

Zit. n. Jürgen Müller: Concordia Pragensis. Karel van Manders

C. Dio­nisotti, Turin 21978, S. 311–504; Ders.: Asolaner Gespräche.

Kunsttheorie im Schilder-Boeck. Ein Beitrag zur Rhetorisierung

Hrsg. u. übers. v. M. Rumpf, Heidelberg 1992. Siehe auch Ebbers-

von Kunst und Leben am Beispiel der rudolfinischen Hofkünst-

meyer 2002, S. 149–156.

ler. München 1993, S. 54. Siehe weiter Walter S. Melion: Karel van

28

Bembo 1978, S. 444; Ebbersmeyer 2002, S. 153.

Mander’s »Life of Goltzius«: Defining the Paradigm of Protean

29

Ebbersmeyer 2002, S. 155.

Virtuosity in Haarlem around 1600. In: Studies in the History of

30

Zu dem Holzschnitt Die Entscheidung des Herkules in Sebastian

Art, 27, 1989, S. 113–133; Doris Krystof: Werben für die Kunst. Bild-

Brants Narrenschiff (Basel 1497), der Raffael wahrscheinlich als

liche Kunsttheorie und das Rhetorische in den Kupferstichen

Vorbild für den Traum des Ritters diente, siehe Hubert Locher:

von Hendrick Goltzius. Hildesheim [u. a.] 1997, S. 146ff. Die Pro-

Erbauliche Kunst? Tugend- und Moralvermittlung als Motiva-

teus-Metapher wurde später u. a. von Malvasia und Charles de

tion des frühneuzeitlichen »Gemäldes«. In: Poeschke/Weigel/

Brosses aufgegriffen, der Ludovico Carracci als »Prothée de la

Kusch 2002, S. 238f.

peinture« rühmte (Charles de Brosses: L’Italie il y a cent ans ou

132

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

tigen Moralauffassung war das Motiv des Helden am Scheidewege mit dem »festgeschlossenen System der mittelalterlich-christlichen Tugendlehre« unvereinbar gewesen. Denn der mittelalterliche Mensch hatte »… nicht als wählendes Subjekt zwischen zwei Lebensidealen zu entscheiden, die letztlich aus seinen eigenen seelischen Strebungen erwachsen sind und als Verkörperungen des irdisch Guten und des irdisch Bösen vor ihn hintreten, sondern er sieht sich als umkämpftes Objekt dem Streit zweier Mächte ausgesetzt, deren Gegensatz kein ethischpsychologischer, sondern ein religiös-ontologischer ist.«31

Erst der Überwindung dieser Prämissen verdankte sich die neuerliche Bildwürdigkeit des Herkules am Scheidewege und auch der Freimut, mit dem Raffael in den Drei Grazien (Abb. 48) subtil das Recht der voluptas propagiert hat. Die zunehmend höfisch geprägte Kultur des späten Quattrocento hat nicht nur mit Giovanni Pontanos De sermone eine eigenständige Theorie der Konversation hervorgebracht,32 sondern auch Gemälde, die den neuen Formen einer geselligen, das geistreiche bel parlare kultivierenden Kunstrezeption Gesprächsanreize lieferten. In dieser Praxis zeigt sich in fokussierter Form der wechselseitige Steigerungszusammenhang von Subjektivität und ästhetischer Komplexität, »zwischen den operationalen Schließungen […] psychischer und sozialer Systeme«.33 Kunstwerke, deren stilistischer Habitus, wie wir bereits an der Pala di San Marco gesehen haben, sich als selektives Verhalten des Künstlerindividuums darbot, die, mit Formen der Selbstreflexion, mit Vagheit, Unvollständigkeit, Mehrdeutigkeit und bald

auch Ironie operierend, hohe kognitive Anforderungen an die Betrachter stellten, rechneten mit der dialogischen Rezeption mehrerer, sie unterschiedlich aufnehmender, womöglich auch ihren kommunizierten Sinn akzeptierender oder ablehnender Teilnehmer. Deren Äußerungen über das Kunstwerk stellten sich als individuelles, die jeweilige Rezeptionskompetenz beweisendes, charakterologisch und moralisch-ethisch signifikantes Verhalten dar.34 Diesbezüglich zeigt sich eine Art intersystemische Komplexitätsangleichung35 in der Porträtmalerei des frühen Cinquecento, die bereits den Weltbezug der Dargestellten und mit deren nicht les-

31

Panofsky 1930, S. 156.

35

32

Siehe Schmölders 1986, S. 22f., 111–115.

Emergenz. Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme

33

Luhmann 1995, S. 26.

siehe Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 3: Soziales

34

Und zwar rekursives Eigenverhalten – auch Kommunikation ist

System, Gesellschaft, Organisation. 4. Aufl. Wiesbaden 2005,

ein autopoietisches System. (Ebda., S. 23.)

S. 172ff.

Abb. 50 Tizian: Mann mit dem Handschuh, um 1520, Paris, Musée du Louvre

Luhmann sprach von Penetration und Interprenetration sowie

De r Tr au m d es S c ipio , D i e drei Gr a zi e n u nd das B ild n is e in e s ju n ge n Man n e s mit Apfe l

133

Abb. 51  Lorenzo Lotto: Porträt des

Sammlers Andrea Oddoni, 1525,

London, Hampton Court

baren Gedanken, ihrem verschlossenen Inneren,36 auch Grenzen der Beobachtung thematisierte.37 So repräsentierten z. B. schon Giorgione und Tizian in ihren Bildnissen Personen, die nicht mehr nur eine Pose einnehmen und mit dem Betrachter in ein Verhältnis der gegenseitigen wohlmeinenden Beachtung treten, sondern Gedanken anhängen, von ihnen absorbiert sind, was ihrer gegenwärtigen Präsenz, ihrer self-awareness und Aufmerksamkeit für den Betrachter abträglich ist

36

37

Luhmann betont: »Nur weil die operative Schließung das Innere

München 1985, S. 28ff.; Marianne Koos: Petrarkistische Theorie

des Lebens, Wahrnehmens, Imaginierens, Denkens des ande-

oder künstlerische Praxis? Zur Malerei des Giorgionismo im

ren verschließt, ist er als ewiges Rätsel attraktiv. Nur deshalb ist

Spiegel des lyrischen Männerporträts. In: Rosen/Krüger/Prei-

die Erfahrung mit anderen Menschen reicher als jede andere

mesberger 2003, S. 53–84; Dies.: Das lyrische Männerporträt in

Naturerfahrung«. (Luhmann 1995, S. 26.)

der venezianischen Malerei des frühen 16. Jahrhunderts. Gior-

Siehe Gottfried Boehm: Bildnis und Individuum. Über den Ur-

gione, Tizian und ihr Umkreis. Emsdetten 2006.

sprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance.

134

(Abb. 50). Mit dieser Beobachtung der gleichzeitigen Welt- und Selbstbezogenheit des Bewusstseins, das sich nie ganz in der Welt verlieren, noch permanent mit sich beschäftigt sein kann, d. h. seiner Kopplung von Fremd- und Selbstreferenz,38 erreichte das Porträt eine neue psychologische Komplexität und öffneten sich ihm neue Möglichkeiten der Inszenierung extrovertierter (Abb. 51) und introvertierter Personen und ihres stummen Dialogs mit dem Betrachter.

38

Vgl. Luhmann 2004, S. 84f.

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

»Non colossus sed historia«. Zur Konkurrenz von Raffael und Michelangelo

Haben wir an Fra Angelicos Pala di San Marco einen inneren Dialog der Bilder festgestellt, während die behandelten Bildpaare von Botticelli und Raffael jeweils in einem äußeren Dialog miteinander standen, so finden wir beide Varianten auch in Gemälden, die in einem Agon entstanden sind. Der Rangstreit der Künste, ein Thema, das vermutlich so alt ist wie die kunsttheoretische Reflexion selbst, war schon in der hellenistischen Kunstliteratur behandelt worden, die auch vom Wettstreit der Maler Apelles, Zeuxis, Parrhasios u. a. berichtete.39 Die Diskussion, welche Stellung den bildenden Künsten innerhalb des Systems der artes liberales und artes mechanicae zukomme und welcher von ihnen der Vorrang gebühre, entbrannte bereits im Umfeld Petrarcas aufs Neue und war fortan ein Leitthema des Kunstgesprächs und der Kunstliteratur.40 Wie schon erwähnt, ist das kunsttheoretisches Thema des paragone (ital.: Vergleich) nicht aus der künstlerischen Praxis, sondern aus der höfischen Konversationskultur hervorgegangen, in deren Rahmen man, wie z. B. seine umfangreiche Erörterung in Castigliones Cortegiano zeigt, in der Lage sein musste, sich kundig zu ihm zu äußern.41 Das Wiederaufleben der antiken Praxis des Künstlerwettbewerbs ging von Florenz aus, wo in den Jahren

39

1401/1402 Brunelleschi und Ghiberti um die Ausführung der Baptisteriumstüren konkurrierten. Dem gefälligen Relief Ghibertis wurde dabei der Vorzug vor der Probearbeit Brunelleschis (beide Florenz, Museo Nazionale del Bargello) gegeben, deren chiastische Komposition die Handlung in dramatischer Zuspitzung zeigt, zugleich aber auch thematisch fremde Antikenzitate aufweist.42 Während die ausrichtende Händlerzunft, die Arte dei Merchanti di Calimala, sich dieses Verfahrens mit dem Ziel einer Qualitätsoptimierung bediente, wurde der Wettstreit der Künstler später vor allem an den Höfen zu einem beliebten Spektakel, bei dem sein agonaler Unterhaltungswert im Vordergrund stand.43 1441, in dem Jahr, in dem Alberti in Florenz einen Certame Coronario, einen Dichter-Agon all’antica, organisierte, der dem freundschaftlichen, gegenseitigen Ansporn zu tugendhafter Vervollkommnung dienen sollte,44 fand in Ferrara der erste höfische Künstlerwettstreit statt. Bei diesem malten Pisanello und Jacopo Bellini je ein Bildnis des Leonello d’Este,45 der zwei Jahre später auch die Florentiner Niccolò Baroncelli und Antonio di Cristofano um den Auftrag für das Reiterdenkmal des Niccolò d’Este wetteifern ließ. Der Herzog soll erstaunt gewesen sein, wie unterschiedlich seine beiden Porträts ausfielen,46 was seinerseits erstaunlich ist, bezog doch der öffentliche Künstlerwettstreit seinen eigentlichen Sinn und Reiz erst aus der ­zunehmenden Individualisierung und Intellektuali­sierung künstlerischer Arbeit, mit der bei solchen Konkurrenzen nicht nur Differen-

und Medien der Frühen Neuzeit. Berlin/New York 2009, S. 23–

Siehe Hubert Locher: [Artikel] Kunstgeschichte. In: HWRh, Bd. 4, Sp. 1454f.; Koch 2013, S. 67–200.

40

Pfisterer 2002a, S. 260.

41

Castiglione: Il cortegiano, I, 49–52. Siehe Ulrich Pfisterer: [Arti-

152. 43

konkurrierende Probearbeiten nur für die Besetzung niederer Kunstämter verlangten (ebda., S. 124).

kel] Paragone. In: HWRh, Bd. 6, Sp. 528–546; Ders.: Der Paragone. In: Brassat 2017, S. 283–312. 42

Vgl. Warnke 1985, S. 120ff., der betonte, dass die Höfe dagegen

44

Siehe Hannah Baader: Ernste Spiele, 1441: Niccolò della Luna

Warnke 1985, S. 45; Goffen 2002, S. 4ff.; Renate Prochno: Kon-

und Leon Battista Alberti über Wettstreit, Freundschaft, Neid

kurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativi-

und Kunst. In: Dies./Ulrike Müller Hofstede u. a. (Hrsg.): Im

tät und ihre Wirkungen. Berlin 2006, S. 35–41; Ulrich Heinen:

Agon der Künste. Paragonales Denken, ästhetische Praxis und die Diversität der Sinne. München 2007, S. 32–49.

Der Schrei Isaaks im Land des Sehens. Perspektive als Predigt.– Exegese als Medienimpuls. Abrahams Opfer bei Brunel-

45

leschi und Ghiberti (1401/1402). In: Ders./Johann Anselm Steiger (Hrsg.): Isaaks Opferung (Genesis 22) in den Konfessionen

Gramaccini 1982 (mit einer freilich umstrittenen Identifizierung der beiden Porträts).

46

Warnke 1985, S. 274.

» N on colossus sed historia« . Zur Konkurrenz von R affael und Michelangelo

135

zen handwerklicher Qualität zutage traten, sondern auch unterschiedliche, dem Künstlerindividuum zurechenbare Stilmerkmale und Bildkonzeptionen, deren jeweilige Qualität und Berechtigung zu erörtern waren. Diesen enormen Komplexitätszuwachs scheint man, wie die erwähnte Reaktion Leonello d’Estes vermuten lässt, bei dem ersten von ihm veranstalteten Künstlerwettstreit noch gar nicht erwartet zu haben. Doch schon Filarete, der zweieinhalb Jahrzehnte später den Begriff des »Individualstils« (stile di chiascheduno) in die Kunstliteratur einführte,47 sprach in Zusammenhang mit mehreren von verschiedenen Künstlern ausgeführten Porträts des Herzogs Francesco Sforza von der »sottilità« ihrer jeweiligen stilistischen Eigenheiten, und Leonardo sollte eingehend die »sottilità dell’aria« der individuellen Künstlerhandschrift erörtern. 48 Eine entsprechend differenzorientierte Erwartungshaltung bezeugt u. a. der berühmte Wettstreit zwischen Leonardo und dem jungen, in der Malerei noch unerfahrenen Michelangelo, die im Ratssaal des Florentiner Rathauses zwei Fresken, die Schlacht von Anghiari und die Schlacht von Cascina, ausführen sollten.49 Leonardo erhielt im Herbst 1503 von der Signoria den Auftrag für sein Wandbild. Dass der Gonfaloniere Piero Soderini im folgenden Jahr Michelangelo beauftragte, ebenfalls ein Fresko auszuführen, geschah nicht zuletzt, wie schon Benedetto Varchi betont hat, um einen pikanten Wettkampf zu inszenieren: »per far concorrenza«.50 Wenngleich diese Arbeiten mit ihren unterschiedlichen, aber gleichermaßen kunsttheoretisch programmatischen Lösungen der Aufgabe einer Memorierung der Siege der Florentiner über die Truppen Pisas und Mailands unvollendet blieben51 – die Michelangelos kam nicht

47 48

über das Stadium des Kartons hinaus und Leonardo ließ 1506 sein Fresko unvollendet zurück – haben sie dennoch eine enorme Resonanz erfahren und rezeptionsgeschichtliche Wirkung entfaltet. Während Leonardo im Mai 1506 nach Mailand zurückkehrte, war Michelangelo schon im März 1505 dem Ruf des Della-Rovere-Papstes Julius II. nach Rom gefolgt, wo ihm mit dessen Landsleuten Bramante und Raffael zwei hartnäckige Konkurrenten begegnen sollten. Seine Rivalität mit den beiden aus Urbino stammenden Künstlern, die zu einer völligen Zerrüttung ihrer Beziehungen führte, war ein neuartiges Phänomen der Autonomisierung, Intellektualisierung und Subjektivierung der künstlerischen Produktion, das durch den agonalen Geist des höfischen Patronatssystems forciert wurde. Tatsächlich hat Julius II. es unterlassen, die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Michelangelo und Bramante hinsichtlich der ungeklärten Stellung des Julius-Grabes im Neubau von St. Peter zu unterbinden. Zudem erhob er, während Michelangelo an dem Deckenfresko der Sixtina arbeitete, Raffael zu einem weiteren Konkurrenten, indem er den 24-Jährigen nach der Enthüllung der Disputa, seiner Probe­ arbeit in der Stanza della Segnatura, zum Hofkünstler ernannte und ihm die weitere Ausmalung der Stanzen übertrug, in denen bis dahin mehrere Werkstätten tätig waren. Damit machte er den Vatikan zur Arena eines Wettstreits, wie es ihn nicht einmal in der Antike gegeben hatte.52 Zu dieser Zeit, nachdem in Italien das dem Exzellenzprinzip huldigende höfische Patronatswesen bereits das dem Solidaritätsprinzip verpflichtete Zunftsystem abgelöst hatte, war das Konzept der aemulatio und superatio, nach dem man vorbildliche Werke nicht

In seinem 1461–64 verfassten Trattato di Architettura (Pfisterer

fatta, e recitata da lui pubblicamente nell’essequie di Michelan-

2002a, S. 243).

gelo Buonarroti in Firenze, nella chiesa di San Lorenzo. Florenz

Rudolf Preimesberger: Kommentar zu »Giorgio Vasari: Ur-

1564, S. 17, hier zit. n. Goffen 2002, S. 143. Siehe auch Franz-Joa-

sprungslegende eines Selbstporträts« (1550). In: Ders./Hannah

chim Verspohl: Michelangelo Buonarroti und Leonardo da

Baader/Nicola Suthor (Hrsg.): Porträt (Geschichte der klassi-

Vinci. Republikanischer Alltag und Künstlerkonkurrenz in Flo-

schen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren,

renz zwischen 1501 und 1505. Göttingen/Bern 2007.

Bd. 2). Berlin 1999, S. 265.

51

Siehe Brassat 2003, S. 58ff.

49

Siehe Goffen 2002, S. 143ff.

52

Andreas Tönnesmann: Kleine Kunstgeschichte Roms. München

50

Benedetto Varchi: Orazione funerale die M. Benedetto Varchi

136

2002, S. 102f.

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Abb. 52  Raffael: Schule von Athen, 1510/11, Rom, Vatikanspalast, Stanza della Segnatura

nur nachahmen (imitatio), sondern möglichst verbessern und überbieten sollte, ein für alle kulturellen Bereiche maßgebliches Dispositiv.53 Wie seine Künstlerviten insgesamt hat Giorgio Vasari auch das Leben Raffaels in drei Zeitspannen unterteilt, in die frühen Jahre, in denen er die Manier seines Lehrers Pietro Perugino annahm, in die Zeit in Florenz, in der er Leonardo und Fra Bartolommeo rezipierte, und schließlich die römischen Jahre seines Wettstreits

mit Michelangelo.54 Dessen Werke hatte Raffael schon in Florenz rezipiert, doch erst in Rom trat er als selbstbewusster Kritiker des Toskaners auf. Voraus ging dem ein Eklat: Wie Vasari berichtet, verschaffte Bramante Raffael in Abwesenheit Michelangelos heimlich Zugang zur Sixtina, wo dieser das noch unvollendete Deckenfresko ausgiebig studierte. Und das dort Gesehene verwertete er umgehend in Werken wie dem Jesaja in Sant’Agostino.55 Der über diesen geistigen Diebstahl er-

53

Siehe Barbara Bauer: [Artikel] Aemulatio. In: HWRh, Bd. 1, Sp.

54

Vasari 1966–97, IV, S. 204ff.

141–187; Jan-Dirk Müller/Ulrich Pfisterer: Der allgegenwärtige

55

Siehe Vasari 1966–97, IV, S. 175f., der unmittelbar nach der Er-

Wettstreit in den Künsten der Frühen Neuzeit. In: Dies. u. a.

wähnung dieses Vorfalls den Jesaja in Sant’Agostino und die für

(Hrsg.): Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild

Agostino Chigi gemalten Fresken mit der Galatea und den Sybil-

(1450–1620). Berlin 2011, S. 1–32.

len und Engeln erwähnt.

» N on colossus sed historia« . Zur Konkurrenz von R affael und Michelangelo

137

Abb. 53 Michelangelo: Jeremia, um 1510, Vatikan, Sixtinische Kapelle

boste Michelangelo klagte Bramante vor dem Papst an und bezichtigte ihn, wie Vasari berichtet, zahlreicher Fehler im Leben, wie in der Kunst.56

Raffaels Schule von Athen (Abb. 52) in der Stanza della Segnatura, eine Darstellung der freien Künste und ein Hymnus auf das die Generationen einende Band der Wissenschaften, enthält bereits eine Reaktion auf diesen Vorfall. Während er sich selbst in diesem Fresko bescheiden am rechten Bildrand an der Seite des ihm freundlich zugetanen Kollegen Bernardino Pinturicchio verewigte,57 repräsentierte er Michelangelo in der zentralen, aber erst nachträglich in das schon vollendete Fresko eingefügten isolierten Gestalt Heraklits,58 des ›Dunklen‹, der seit der Antike Inbegriff des melancholischen Sonderlings war.59 Formal ist diese Figur an den Jeremia in der Sixtina-Decke (Abb. 53) angelehnt und sie trägt wie dieser mehr oder weniger explizit die Züge Buonarrotis. Ihre u. a. von Rosand und Goffen vorgenommene Identifikation als hintergründiges Michelangelo-Porträt ist umstritten. Dass sie aber nicht erst in jüngerer Zeit so interpretiert wurde, zeigt Federico Baroccis Apostelkommunion in Santa Maria Sopra Minerva (Abb. 54), in der der Maler aus Urbino, der »Raffael der katholischen Reform«,60 in der Gestalt des Judas Raffaels Heraklit zitiert hat, wie bereits Olsen erkannte.61 In dem Altarbild für die Fami-

56

Vasari 1966–97, VI, S. 37.

Rahmen der Tagung Raffael 500 Perspektiven.) Eben diesen Vor-

57

Ich folge der überzeugenden Identifizierung von Sabine Poe-

wurf, seine Kunst nicht an Schüler weiterzugeben, sollte auch

schel: Alexander Maximus. Das Bildprogramm des Apparta-

Paolo Giovio in seiner Vita Michelangelos gegen denselben er-

58

mento Borgia im Vatikan. Weimar 1999, S. 262.

heben. In ihr heißt es: »Im übrigen war der Mann mit dieser Be-

Die Identifikation dieser Figur mit Michelangelo, die erstmalig

gabung von Natur so rauh und schroff (vir natura adeo agrestis

1942 von Redig de Campos vollzogen wurde, ist nicht unumstrit-

ac ferus extitit), daß er abgesehen von dem unglaublichen

ten. Zu Recht schreibt aber Rosand, der wie Goffen den Heraklit

Schmutz seines häuslichen Lebens der Nachwelt Nachfolger in

als Michelangelo-Porträt bewertet: »We need hardly invoke

seiner Kunst nicht gönnte. Denn obgleich er von den Fürsten

physiognomy to recognise him as, in every sense Michelan­

beschworen wurde, konnte er niemals dazu gebracht werden,

gelesque, although physiognomy is hardly irrelevant here.«

jemanden in die Lehre zu nehmen oder wenigstens zum Zu-

[David Rosand: Raphael’s School of Athens and the Artist of the

schauen in seine Werkstatt einzulassen.« (Paolo Giovio: Micha­

Modern Manner. In: Stella Fletcher/Christine Shaw (Hrsg.): The

elis Angeli Vita, hier zit. n. Ernst Steinmann: Michelangelo im

World of Savonarola: Italian Élites and Perceptions of Crisis. Aldershot 2000, S. 223.] 59

Andrea Emiliani: Federico Barocci: Urbino, 1535–1612. 2 Bde. ­Bologna 1985, Bd. 1, S. 59.

Signifikant ist diesbezüglich auch der links von Heraklit dargestellte Pythagoras, dem man nachsagte, er habe sein Wissen

138

Spiegel seiner Zeit. Leipzig 1930, S. 77f.) 60 61

Bereits Olsen hat das Zitat erkannt, das aber erst von Verstegen

nicht an andere weitergegeben. Tatsächlich wird in der ihn um-

eingehend interpretiert wurde. (Harald Olsen: Federico Barocci.

gebenden Gruppe nicht kommuniziert. (Anne Bloemacher: Raf-

Kopenhagen 1962, S. 83; Ian Verstegen: The apostasy of Michel-

fael über sich in der Schule von Athen. Vortrag gehalten am

angelo in a painting by Federico Barocci. In: Notes in the History

12.2.2020 in München am Zentralinstitut für Kunstgeschichte im

of Art, 22, 2003, S. 27–34.)

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Auch die Figur des Heraklit in der Schule von Athen erzeugt eine subtile Form interner Dialogizität, einer »Heteroglossia« (Bachtin), thematisiert andere, mitbedachte Möglichkeiten, ist ein »re-entry« der Form in die Form, d. h. Produkt einer hohen Kognitionsperspek­ tive.63 In ihr ahmte Raffael in kritischer Absicht eine fremde Bildsprache nach, eine ironische Variante des rhetorischen Verfahrens der sermocinatio.64 Wie dieses Beispiel zeigt, implizieren das Zitat und die Paraphrase stets eine Wertung, sei es, dass man sich ihrer aus eigener Unbeholfenheit bzw. mit dem Vorsatz, die Vorbildlichkeit des Herkunftswerks zu bekräftigen, bedient oder aber, um dieses zu verbessern, zu überbieten oder auch zu kritisieren und zu ironisieren.65 Letzteres sind Möglichkeiten, die sich umgehend einer selbstbewussten, ihre stilistischen Wahlmöglichkeiten reflektierenden Kunst auftaten.

Die Sibyllen und Engel und Der Triumph der Galatea

Abb. 54  Federico Barocci: Apostelkommunion, 1608, Rom, Santa Maria Sopra Minerva

lienkapelle von Papst Clemens VIII. Aldobrandini war dies eine scharfe öffentlichkeitswirksame Polemik gegen den divinissimo.62

62

Neben den kolossalen ignudi zählten die Sibyllen (Abb. 55) zu den umstrittensten Bestandteilen des Deckenfreskos der Sixtina. Im Sinne des emphatischen Synkretismus des frühen Humanismus hatte Michelangelo sie als kolossale eigenständige Künderinnen Christi repräsentiert, denen die begleitenden Putti deutlich untergeordnet sind. Diese Darstellung musste die Kritik von Theologen hervorrufen, hatten doch frühchristliche und scholastische Autoren die nur geringe verkündigungstheologische Bedeutung der anti-

Morten Steen Hansen: In Michelangelo’s Mirror. University

übernahmen, deren Referenz kaum mehr zu erkennen ist, so

Park, PA 2013, S. 148f.

dass sie wie Neuschöpfungen wirken. Ein Beispiel ist der um

63

Vgl. Luhmann 1995, S. 104, 112, 129f.

1508 entstandener Kupferstich Mars, Venus und Amor von Marc­

64

Siehe Lausberg 1990, S. 142f.

antonio Raimondi, der in ihm die Venus nach dem Vorbild des

65

Dass die Ikonographie nicht zwischen diesen verschiedenen In-

stehenden Soldaten, der sich die Hose zuknöpft, in Michelange-

tentionen des Bildzitats differenziert hat, betont Jürgen Müller:

los Schlacht von Cascina dargestellt hat. Raimondi drehte diese

Der sokratische Künstler. Studien zu Rembrandts Nachtwache.

Figur um 180 Grad und verwandelte die Rückenansicht des Sol-

Leiden/Boston 2015, S. 135ff. Neben solchen ausdrücklichen Be-

daten in die Vorderansicht eines weiblichen Aktes. Siehe Jürgen

zugnahmen gab es immer auch ›räuberische‹, kaschierte Motiv-

Müller: Ein anderer Laokoon – Die Geburt der ästhetischen Sub-

DIE SIBYLLEN UND ENGEL U N D DER TRIUMPH DER GALATEA

139

ken Wahrsagerinnen betont. Thomas von Aquin hatte insistiert, dass ihre prophetischen Eingebungen von Gott bzw. von Engeln kamen.66 Auf Michelangelos Monumentalisierung der Sibyllen hat Raffael schon 1511 mit einem veritablen Gegenbild reagiert, seinem Fresko mit den Sibyllen und Engeln in der Chigi-Kapelle in Santa Maria della Pace (Abb. 56). Er gestaltete die Kapellen-Wand mit der Darstellung von zuoberst vier Propheten, die wahrschein-

lich von Timoteo Viti ausgeführt wurden, und darunter dem eigenhändig gemalten Fresko der Sibyllen und Engel. Raffael wollte die Sibyllen zunächst noch als Trägerinnen je einer Schrift darstellen, doch er repräsentierte sie schließlich als überwiegend nicht individuell bezeichnete Figuren. Im Gegensatz zu den autonomen Monumentalgestalten Michelangelos stellte er einen frohen Reigen von Sibyllen und Engeln dar, welche den antiken Wahrsagerinnen die Heilsbotschaft überbringen, ja zum Teil sogar Wort für Wort vorbuchstabieren.67 Damit verlieh er den Sybillen eine ihrer theologischen Bedeutung angemessene Form und kritisierte zugleich implizit Michelangelos Kolossalstil. Leitend waren für ihn dabei offenbar kunsttheoretische Maximen seines Gewährsmannes Leon Battista Alberti. Den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum und den der Malerei vor der Bildhauerei postulierend, hatte dieser dem Maler das moderate mittlere genus und die Wirkungsqualität der grazia bzw. des ethos anempfohlen und erklärt, nicht der Koloss, die monumentale Individualfigur, sondern die aus vielen Figuren komponierte historia sei das größte Werk des Malers: »Amplissimum pictoris opus non colossus sed historia«.68 Zu einem veritablen öffentlichen Wettstreit zwischen Michelangelo und Raffael, den Antagonisten dieses geradezu mythischen Beispiels einer Künstlerkonkurrenz,69 ist es nie gekommen, doch zu den zahlreichen Werken, in denen sich letzterer zunehmend kritisch mit dem Toskaner auseindergesetzt hat, zählen mehrere, die in einem Paragone mit dessen Freund Sebastiano del Piombo entstanden sind.70 Wahrscheinlich in den Jahren 1512/13 malte Raffael im Auftrag des Ban-

version aus dem Geist der Reformation. In: Beate Kellner

übereinstimmt, der Mythos, d. h. die »Zusammenfügung von

Abb. 55 Michelangelo: Sibylle von Cumae, 1511, Vatikan, Sixtinische Kapelle

(Hrsg.): Erzählen und Episteme: Literatur im 16. Jahrhundert.

Geschehnissen«, habe Vorrang vor den Charakteren. [Aristote-

Berlin [u. a.] 2011, S. 404f.

les: Poetik, VI, 1450a; XXV, 1461b.]

66

Oberhuber 1999, S. 138.

69

Siehe Goffen 2002, S. 171–264.

67

Ebda., S. 136ff.; Goffen 2002, S. 245.

70

Siehe Costanza Barbieri: Sebastiano del Piombo and Michelan-

68

140

Alberti: De pictura, (II), 35. (Alberti 2000, S. 256.) Obwohl die Re-

gelo in Rome: Problems of Style and Meaning in the Viterbo

zeption der aristotelischen Poetik wahrscheinlich erst deutlich

Pietà (Phil. Diss. New Brunswick, NJ 1999). Ann Arbor, MI 1999;

später einsetzte, weise ich darauf hin, dass dieser zentrale, auch

Dies.: The Competition between Raphael and Michelangelo and

den Vorrang der Malerei vor der Bildhauerei begründenden Satz

Sebastiano’s Role in It. In: Marcia B. Hall (Hrsg.): The Cambridge

in De pictura auf merkwürdige Weise mit Aristoteles’ Leitsatz

Companion to Raphael. Cambridge 2005, S. 141–164.

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Abb. 56  Raffael: Sibyllen und Engel, 1511, Rom, Santa Maria della Pace, Cappella Chigi

kiers Agostino Chigi auch den Triumph der Galatea (Abb. 58) in der zum Tiber gelegenen Loggia der Villa Chigi, der später sogenannten Farnesina. Dieses eigenhändig ausgeführte Fresko war seine erste großformatige Darstellung eines Stoffs der antiken Mythologie. In der später nach ihr benannten Loggia di Galatea hatten zuvor bereits Baldassare Peruzzi, der Architekt der Villa, und Sebastiano gearbeitet. Sebastiano Luciani, der später den Zunamen ›del Piombo‹ erhielt, war ein begabter, zum Monumentalen neigender Schüler Giovanni Bellinis, der Agostino Chigi im August 1511 auf seiner Rückkehr von einer Venedig-Reise nach Rom begleitet hatte. Noch bevor Peruzzi die Decke der Loggia di Galatea mit einem astrologischen Bildprogramm vollendete, das auf das Geburtsdatum Chigis anspielt,71 ging Sebastiano wahrscheinlich schon im September 1511 an die Arbeit.72 Er wollte die geschlossenen Rück- und Seitenwände des Raumes so mit fiktiven Landschaftsausblicken schmücken, dass sich der Gesamteindruck einer

rundum offenen Loggia ergeben sollte. Die acht Lünettenfelder oberhalb der Wandflächen schmückte er mit Motiven der Metamorphosen Ovids, die alle mit dem Element Luft zu tun haben. Zudem führte er auf den Wänden mehrere Vorzeichnungen aus, darunter auch eine, die man erst vor einiger Zeit unterhalb von Raffaels Fresko entdeckt hat.73 Sebastiano ging sicherlich davon aus, sämtliche Wände des Raumes freskieren zu können, doch Agostino Chigi entschloss sich, ihm mit Raffael einen namhaften Konkurrenten zur Seite zu stellen. Dieser sollte neben Sebastianos Wandbild des Polyphems (Abb. 57), des unglücklich in die Nereide Galatea verliebten einäugigen Riesen, den Triumph der Galatea darstellen (Abb. 58).74 Beide Gemälde sollten mit der Dichtung wetteifern, nämlich auf eine Ekphrasis in Polizians Stanze per la giostra (I, 115–119) Bezug nehmen, welche die Fahrt Galateas vorbei an Polyphem schildert, der zuvor ihren Geliebten Acis getötet hat.75 Welches der beiden Konkurrenzwerke zuerst ent-

71

Fritz Saxl: La fede astrologica di Agostino Chigi. Rom 1934.

rale del Rinascimento italiano (Villa I Tatti, The Havard Univer-

72

Tullia Carratù: Sebastiano del Piombo: Fresken der Farnesina.

sity Center for Italian Renaissance Studies, 9). Florenz 1986,

In: Raffaels Grazie – Michelangelos Furor. Sebastiano del Pi-

S. 95–101 mit anschließender Diskussion S. 101–110; Carratù 2008,

ombo, 1485–1547. Ausst.-Kat. Rom, Palazzo Venezia; Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Mailand 2008, S. 130 (Kat.Nr. 16). 73

S. 132. 74

Zu diesem Wettstreit siehe Christoph Thoenes: Zu Raffaels Galatea. In: Festschrift für Otto von Simson zum 63. Geburtstag.

Siehe den Restaurationsbericht von Aldo Angelini: La Loggia

Hrsg. v. Lucius Grisebach und Konrad Renger, Frankfurt/M.

della Galatea alla Villa Farnesina a Roma: l’incontro delle scuole

[u. a.] 1977, S. 245ff.; Tönnesmann 2002, S. 113ff.; Goffen 2002,

Toscana, Umbra e Romana (1511–14). In: Eve Borsook/Fiorella

S. 229.

Superbi Gioffredi (Hrsg.): Tecnica e stile: esempi di pittura mu-

DIE SIBYLLEN UND ENGEL U N D DER TRIUMPH DER GALATEA

141

Abb. 57  Sebastiano del Piombo:

Polyphem, 1512, Rom, Villa Chigi

(Farnesina)

stand bzw. vollendet war, erschien lange fraglich, zumal Vasari berichtet, Raffaels Galatea sei zuerst entstanden.76 Anzunehmen ist, dass beide Künstler eine Zeit lang gleichzeitig nebeneinander an ihren Fresken gearbeitet haben, wobei Sebastiano sein Werk 1512 wahr-

scheinlich in der kurzen Zeitspanne von nur dreizehn Tagen ausgeführt hat.77 Allem Anschein nach aber hat Raffael sein Werk in Kenntnis der Absichten Sebastianos konzipiert und bei seiner Ausführung auch auf Details des Polyphem-Freskos reagiert.78

75

Thoenes 1977; Tönnesmann 2002, S. 113.

78

76

Vasari 1966–97, V, S. 87.

von Aldo Angelini, nach dem Raffael auf Sebastianos Fresko re-

77

Carratù 2008, S. 132.

agiert hat (Angelini 1986).

142

Ich stütze mich hier insbesondere auf den Restaurationsbericht

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Abb. 58  Raffael: Der Triumph der

Galatea, 1512, Rom, Villa Chigi

(Farnesina)

Während Sebastiano unter dem Eindruck der ignudi Michelangelos79 den unglücklichen, sich in Liebe verzehrenden Giganten dargestellt hat, schuf Raffael ein frohgestimmtes Bild der triumphierenden, sich über das Verlangen erhebenden Galatea. Im Zentrum des

Freskos erscheint die Nymphe als ein »vollkommene[s] Beispiel eines bewegten Kontrapostes nach dem Vorbild antiker Figurenbildung«,80 wie sie sich in der Drehbewegung einer figura serpentinata dem Himmlischen zuwendet und der irdischen Liebe entsagt. In einer Mu-

79

80

Carratù 2008, S. 132.

Tönnesmann 2002, S. 113. Ihre Haltung war vorbereitet in Raffaels Heiliger Katharina (1507, London, National Gallery).

DIE SIBYLLEN UND ENGEL U N D DER TRIUMPH DER GALATEA

143

schel über das Wasser fahrend, lenkt sie mit Zügeln, die hier auch als Metapher für Kontrolle und Mäßigung fungieren, zwei ihr Gefährt ziehende Delphine, deren vorderer einen Tintenfisch mit den Zähnen gepackt hat und verschlingen wird. Dies war ein schon in der Antike verbreitetes Sinnbild der Überwindung der Begierde, da dem Tintenfisch nachgesagt wurde, sich beim Geschlechtsverkehr bis zum Tode zu verausgaben.81 Galatea ist umgeben von weiteren Nereiden, von denen eine auf dem Rücken eines Kentauren Platz genommen hat und sich an ihn schmiegt, während die andere auf den Zugriff eines Tritons mit einer, wie auch ihr Gesichtsausdruck vermuten lässt, eher koketten, denn energischen Abwehrgeste reagiert. Zwei weitere Tritonen verkünden, eine Muschel und eine Fanfare blasend, bereits den Triumph der Nymphe, während drei über ihr schwebende Amoretten im Begriff sind, ihre Pfeile zu verschießen. Ein weiterer, ein Bündel Pfeile tragender, missmutig zu ihnen blickender Erot schwebt auf einer Wolke, während ein fünfter im Vordergrund bestrebt zu sein scheint, den Delphin mit dem Tintenfisch im Maul zu bremsen. Abermals hat Raffael gemäß Albertis Diktum »non colossus sed historia« der monumentalen Individualfigur des Konkurrenten eine Bilderzählung entgegengestellt, in der viele Figuren in eine kunstvolle harmonische Gesamtkomposition integriert sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Figur des begierlich eine Nereide umklammernden Tritonen im linken vorderen Bildbereich. Als antithetisches Motiv, das Galateas Erhebung über die Leidenschaften akzentuiert, ist diese eindeutig negativ konnotiert. Da sie sich durch den dunkleren Teint und ihre kräftigere Muskulatur deutlich von den weiteren männlichen Aktfiguren unterscheidet, ist anzunehmen, dass Raffael sie als mi-

chelangeleske Gestalt verstanden wissen wollte.82 Vergleicht man ihre Physiognomie mit der des Polyphems in Sebastianos Fresko, so zeigt sich eine gewiss nicht zufällige Ähnlichkeit, die darauf schließen lässt, dass Raffael das Antlitz von Sebastianos Protagonisten gesehen und in seinem zudringlichen Triton paraphrasiert hat. Tatsächlich hat er mit dieser Figur ja beide Fresken miteinander verschränkt, nämlich zwischen den Polyphem Sebastianos und seine Galatea den Tritonen postiert, dessen Begehren so stark wie das Polyphems, aber dessen Werben weder so aussichtslos ist wie das des Riesens, noch bereits so erfolgreich wie das des Kentauren, um dessen Hals seine Nereide ihren Arm gelegt hat, worauf der Triton augenscheinlich noch hoffen darf. Auf diese Weise ist Raffael auf Sebastianos Fresko eingegangen, hat dessen Protagonisten in seinem Werk in einer ihm ähnlichen Figur gespiegelt, die zugleich als Mittleres zwischen dem unglücklichen Polyphem und dem beglückten Kentauren im rechten Hintergrund fungiert. Letztlich aber hat Raffael dem Polyphem kein Pendant zur Seite gestellt, sondern ihn mit seiner symme­ trisch angelegten vielfigurigen Komposition zu einem traurigen Außenseiter gemacht. Wider das Gebot der concinnitas stellte er der Darstellung des Venezianers, deren besondere Qualitäten in der giorgionesken atmosphärischen Landschaftsdarstellung und ihrem venezianischen, aber auch an antiken Fresken orientiertem Kolorit liegen, ein Konkurrenzwerk entgegen. Indem er einen gänzlich anderen Figurenmaßstab wählte und sogar den Horizont in seinem Fresko viel höher ansetzte, negierte, ja zerstörte er das illusionistische Gesamtkonzept Sebastianos, was dazu geführt hat, dass die Ausmalung des Raumes nicht fortgesetzt wurde.

81

82

Siehe Duncan T. Kinkead: An Iconographical Note on Raphael’s

Den evidenten Einfluss Michelangelos in den »Männerkör-

Galatea. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 33,

per[n] des ›Galatea‹ Freskos« hat schon Panofsky bemerkt.

1970, S. 313–315. Das Motiv des einen Tintenfisch fressenden Del-

(Erwin Panofsky: Die Gestaltungsprincipien Michelangelos, be-

phins erscheint u. a. in der antiken Venus mit Delphin (Malibu,

sonders in ihrem Verhältnis zu denen Raffaels. Hrsg. v. Gerda

J. Paul Getty Museum), die Raffael auch in Zusammenhang mit

Panofsky, Berlin/München/Boston 2014, S. 53.)

einem Venus–Brunnen für den Garten der Villa Chigi rezipiert hat. Siehe Barbieri 2014, S. 219–245 (Kap. 5.4: Ipotesi per una Venere/fontana e il delphino della Galatea).

144

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Der Polyphem und die Galatea sollten bis ins 19. Jahrhundert die einzigen auf dieser Wand ausgeführten Fresken bleiben. An Maximen Albertis festhaltend, hat Raffael der maestà und terribilità von Sebastianos michelangeleskem Polyphem – die rhetorischen Lehre von den Gattungshöhen und Wirkungsfunktionen (ethos – pathos) waren hier grundlegend83 – seine grazia und eine mittlere Stilebene entgegengestellt. Vasari sprach in seiner Vita Raffaels von dessem »modo mezzano«.84 Die Werke seiner Kontrahenten Michelangelo und Sebastiano, die später gemeinsam, kooperierend gegen ihn antreten sollten, wurden zudem durch ihre profondità und difficultà charakterisiert. Gegen Michelangelos Kolossalstil, den man auf die Schrift Perí hýpsous (Vom Erhabenen) des Pseudo-Longinos zurückgeführt hat,85 hat Raffael seine grazia, facilità und sprezzatura ins Feld geführt.86 Er kultivierte einen der Wertelehre der urbanitas verpflichteten aristokratischen Habitus, zu dessen Merkmalen eine nonchalante Lässigkeit, Humor und Witz zählten.87 Eine solche distinguierte ästhetische Haltung wurde in der Frühen Neuzeit erstmals von Raffaels Freund Baldassare Castiglione im Libro del Cortegiano unter den Begriffen der grazia (Anmut, Eleganz) und sprezzatura (Nonchalance, von ital. sprezzare = vernachlässigen) eingehend erörtert. Die grazia und sprezzatura, die er als ästhetischen Überschuss vom Auftre-

83

ten des Hofmannes erwartete, lassen die Kunst nicht als Ertrag mühsamer Übung, sondern als Zeichen gott­ gegebenen Talents erscheinen. Castiglione soll 1514 nach einem Besuch der neuen Villa Chigis dem Triumph der Galatea Lob gespendet haben. Der erstmals von Lodovico Dolce publizierte Brief, in dem sich Raffael bedankte und erklärte, sich bei der Darstellung der Galatea einer »certa Iddea che mi viene nella mente« bedient zu haben,88 ist nach jüngsten Erkennntissen eine Fälschung.89 Gleichwohl ist anzunehmen, dass Casti­glione das Galatea-Fresko enthusiastisch aufgenommen hat, dieses höchst artifizielle Werk, das geradezu eine Demonstration einer humorvollen spielerischen Leichtigkeit (facilità) ist (Abb. 58). Diese zeigt sich z. B. in dem ›fehlenden‹ Leib des Eroten auf der Wolke am oberen Bildrand – einer ästhetisch nicht auffälligen und als Manko erscheinenden, wohlkalkulierten Nachlässigkeit, einer »neglegentia diligens« (Cicero) –, in den drollig wirkenden, auf antike Vorbilder zurückgehenden kleinen Delphinen, dem witzig absurden Motiv des die Muschel der Galatea noch zusätzlich antreibenden Schaufelrads und der merkwürdigen Konsistenz des Wassers, dessen Oberfläche so hart zu sein scheint, dass der kleine Erot im Vordergrund, die Flosse des Tritonen und die Hufe des Kentauren auf ihr offenbar stabilen Halt finden. Den Triumph der Galatea zeichnet ein unerklärliches Nebeneinander aus

Siehe Norbert Michels: Bewegung zwischen Ethos und Pathos.

Stijn Bussels/Maarten Delbeke/Jürgen Pieters (Hrsg.): Transla-

Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 15. und

tions of the Sublime. The Early Modern Reception and Dissemi-

16. Jahrhunderts. Münster 1988; Brassat 2001, Sp. 767–777; Bras-

nation of Longinus’ Peri Hupsous in Rhetoric, the Visual Arts,

sat 2003, S. 48ff. Zur grundlegenden Bedeutung dieser rhetori-

Architecture and the Theatre. Leiden/Boston 2012, S. 83–116 sowie Wolfgang Brassat: Das Erhabene. In: Brassat 2017, S. 609f.

schen Kategorien für die antike Kunst siehe Ja´s Elsner: Introduction. In: Elsner/Meyer 2014, S. 1–34.

86

Barbieri 1999, S. 73.

84

Vasari 1966–97, IV, S. 207.

87

Siehe Paul Barolsky: Infinite Jest: Wit and Humor in Italian Re-

85

Gustavo Costa: The Latin Translations of Longinus’ Perí

naissance Art. Columbia/London 1978, S. 75–100 (Kap. IV: Face-

Hýpsous in Renaissance Italy. In: Richard J. Schoeck (Hrsg.):

tiae by Raphael and His Friends); Fabian Müller: Raffaels Selbst-

Acta conventus neo-latini Bononiensis. Proceedings of the 4th

darstellung. Künstlerschaft als Konstrukt. Petersberg 2018, S. 72–

International Congress of Neo-Latin Studies. Binghampton 1985,

115 (Kap. 4: Raffaels Selbstdarstellung als Künstler-Hofmann).

S. 224–238; Marc Fumaroli: Rhétorique d’école et rhétorique

88

Ettore Camesasca (Hrsg.): Raffaello. Gli scritti. Mailand 1994,

adulte: remarques sur la reception européenne du traité Du Su-

S. 166. Zum Problem der Zuschreibung vgl. John Shearman: Cas-

blime au XVIe et au XVIIe siècle. In: Revue d’histoire litteraire de

tiglione’s Portrait of Raffael. In: Mitteilungen des Kunsthistori-

la France, 86/1, 1986, S. 40f. Siehe auch Hana Gründler: Orrore,

schen Institutes in Florenz, 38, 1994, S. 69–97.

terrore, timore. Vasari und das Erhabene. In: Caroline van Eck/

DIE SIBYLLEN UND ENGEL U N D DER TRIUMPH DER GALATEA

89

Pfisterer 2020.

145

Abb. 59  Raffael: Sixtinische Madonna, 1512/13, Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister

von Bewegung, ja rasanter Geschwindigkeit, fliegenden Haaren und Gewändern und völligem Stillstand und Ruhe und nicht zuletzt die Eigenwertigkeit des Pinselstrichs in der weißen Gischt des kaum bewegten Wassers. Die Darstellung weist mit Bedacht erzeugte paradoxe Momente auf, deren ästhetischer Reiz evident, jedoch nur schwer zu begreifen, ja schier unaussprechlich ist. Die auf die Wirkung des »non so che«, auf das »gewisse etwas« zielende Raffinesse der so, durch die

90 91

Vgl. Luhmann 1995, S. 422f.; zum Begriff der »unwahrscheinli-

Diese sind so gruppiert, dass von ihnen jeweils nur ein Flügel

chen Evidenz« ebda., S. 191.

sowie das Ende eines weiteren zu sehen sind, was in diesem Fall

146

allerdings nicht als deutliche Auslassung erscheint.

Siehe Gerhard Schröder: »Una pittura licenziosa e ridicola«. Zur Groteskenmalerei des Cinquecento. In: Von Rosen/Krüger/

92

Beanspruchung der ästhetischen »licenzia« (Vasari) erzeugten »unwahrscheinlichen Evidenz« stellt sich als ein über die bloße imitatio hinausgehendes ingeniöses Können dar.90 Raffael hat im Triumph der Galatea den ästhetischen Eigensinn und ›Selbstzweck‹ des Kunstwerks amplifiziert, indem er subtile Abweichungen der Bildwelt von der empirisch erfahrbaren Wirklichkeit erzeugte, der sie auf irritierende Weise ähnlich und nicht-ähnlich ist. Dabei demonstrierte er spielerisch, dass das Kunstwerk die Freiheit des Nicht-Mimetischen und der Erfindung sogar des Unsinnigen in Anspruch nehmen kann, wie dies schon die antike Groteskenmalerei getan hatte.91 Der Erot in der Wolke mit dem ›fehlenden‹ Körper antizipiert in seinem Werk den Engel mit nur einem Flügel in der Sixtinischen Madonna (Abb. 59). Wie Fra Angelico in der Pala di San Marco (Abb. 14), die er bereits in seiner unvollendet gebliebenen Madonna mit dem Baldachin (1508, Florenz, Palazzo Pitti, Galleria Palatina) rezipiert hatte,92 betonte auch Raffael in der Sixtinischen Madonna die Medialität und den Offenbarungscharakter seines Gemäldes durch die Kombination des Vorhangmotivs und eines Trompe l’œils – hier ist es die von einer gesondertem Lichtquelle beleuchtete, die ästhetische Grenze akzentuierende Tiara auf der Brüstung. Das Spiel von inganno und disinganno hat er noch mit dem Engel, der allem Anschein nach nicht fliegen kann, um ein hintergründiges Motiv ergänzt – wer weiß schon, wie Engel aussehen? Das überraschend neue Motiv ist ein willkürlicher Verstoß gegen die Darstellungskonventionen und ein Musterbeispiel für die »licenzia« und die regelkonforme Regelwidrigkeit, die nach Vasari Werke der maniera moderna auszeichnet.93 Raffael hat mit den Mitteln der Selbstentlarvung der Fiktion also zudem die Paradoxie des ›Selbstzwecks‹ der Kunst entfaltet, indem

93

Siehe oben, S. 52. Zu dem Gemälde in Dresden siehe Andreas

Preimesberger 2003, S. 205–220.

Henning: Die Sixtinische Madonna von Raffael. Berlin [u. a.]

Auch in dieser sind im Vordergrund zwei Engel dargestellt.

2010.

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

er in dem Altarbild ein im Grunde unangemessenes, witziges Motiv darstellte und so das Spiel, also die Freiheit von manifesten Zwängen und Zwecken, als Element der Kunst auswies. Wie die Kunst konstituiert sich auch das Spiel durch seinen Abstand zum Ernst des Lebens, dem es different und als Schule desselben zugleich ähnlich ist, da auch in ihm Regeln zu befolgen sind, welche die Verhaltensvariabilität der Beteiligten einschränken und Willkür ausschließen.94 Auch der ›Selbstzweck‹ der Kunst, ein Produkt der kulturellen Evolution, definiert sich durch einen Abstand, verdankt sich seiner Unterscheidung von zweckdienlichen Produkten handwerklicher Arbeit. Den Beweis seines gewitzten Humors hat Raffael am Rand der Sixtinischen Madonna situiert, so dass dieser die Ernsthaftigkeit seines Werks akzentuiert, nicht desavouiert. In der Sixtinischen Madonna lässt die Kunst – mit den Worten Huizingas – das »Spielhafte des Kultus« und ihrer selbst hervortreten.95

Raffael spielt mit Motiven Michelangelos und besiegt ihn Raffael spielt mit Motiven Michelangelos und besiegt ihn: Der Brand im Borgo und Die Transfiguration

Bevor wir uns der Dialogizität und Interpikturalität zweier weiterer Hauptwerke Raffaels, des Borgo-Brandes und der Transfiguration, zuwenden, bedarf es noch eines Rückblicks in die Stanza d’Eliodoro. In ihr hatte Raffael in den Jahren 1511/12 den Sturz des Heliodors und die Messe von Bolsena (Abb. 60) gemalt. In auffälliger Weise ist in diesen Fresken das zeitgenössische Bildpersonal, Papst Julius II. und sein Gefolge, von den

94 95

Akteuren jener alttestamentlichen und mittelalterlichen Handlungen unterschieden, die in den Fresken in der Stanza d’Eliodoro als visiones des Papstes erscheinen, als exempla der historia sacra, deren imaginative Einsehung Julius II. motivierte, im Vertrauen auf Gott und die providentia divina den französischen Okkupatoren in Oberitalien auf dem Schlachtfeld entgegenzutreten.96 In der Darstellung der Messe von Bolsena verdeutlichen der weiche malerische Stil, in dem das Personal der linken Bildhälfte dargestellt ist, und der scharf konturierte plastische Stil, der insbesondere der Schweizer Garde im Vordergrund der rechten Bildhälfte Porträthaftigkeit und eine gegenwärtige Präsenz verleiht, die in ihr vollzogene Konfiguration zweier distinkter Handlungen. Die linke Bildhälfte vergegenwärtigt das Ereignis, das sich 1263 in Bolsena zugetragen haben soll: das Wunder der Hostie, die in der Hand eines zweifelnden Priesters zu bluten begann. Die rechte Bildhälfte vergegenwärtigt dagegen Julius II. mit seinem Gefolge, wie er vor seinem ersten Feldzug gegen die französischen Okkupatoren, auf dem er Perugia und Bologna wieder dem Kirchenstaat einverleiben konnte, am 7. September 1506 die in der Kathedrale von Orvieto bewahrte Reliquie des Hostienwunders verehrte. Das Graduale, auf welches das Blut der Hostie getropft sein soll, suchte er zum Gebet auf, vergegenwärtigte sich imaginativ das Hostienwunder und erbat göttlichen Beistand für seine Mission. Die genannten Fresken weisen somit einen »iconic split« bzw. »metaphysical split« zwischen distinkten Bildsphären auf,97 deren unterschiedlicher Seinsstatus durch differente Malweisen am Bildpersonal selbst verdeutlicht ist. Schon Pomponius Gauricus hatte in seinem 1504 publizierten Traktat De sculptura einen emphatischen

Siehe Huizinga 2009, der eingehend das Verhältnis von ziviler

wäre, wenn das Spielhafte des Kultus nicht auch in irgendeiner

Lebenspraxis, Spiel, Agon und Krieg reflektiert hat.

Hinsicht auf die Produktion und Bewertung der bildenden

Hier erweist sich die Stichhaltigkeit der folgenden Überlegun-

Kunst ausstrahlte.« (Ebda., S. 183.)

gen Huizingas: »Das Kunstwerk hat beinahe immer Teil an der

96

Hierzu ausführlich Michael Schwartz: Raphael’s Authorship in

sakralen Welt, es ist mit ihren Potenzen geladen: mit Zauber-

the ›Expulsion of Heliodorus‹. In: The Art Bulletin, 79, 1997,

kraft, heiliger Bedeutung, repräsentativer Identität mit kosmi-

S. 467–492; Brassat 2003, S. 9–25.

schen Dingen, mit Symbolwert, kurzum: mit Weihe. Nun stehen […] Weihe und Spiel so dicht beieinander, daß es verwunderlich

97

Siehe Victor I. Stoichita: Visionary experience in the Golden Age of Spanish Art. London 1995, S. 27ff.

R affael spielt mit Motiven Michelangelos und besiegt ihn

147

Abb. 60  Raffael: Die Messe

von Bolsena, 1511/12, Rom,

Vatikans­palast, Stanza d’Eliodoro

Begriff der Einbildungskraft vertreten, des, wie er sie nannte, »euphantasiotos«.98 Dabei stützte er sich auf Quintilians Ausführungen zur Affekterregung, die der Redner schaffen und steigern kann, indem er sich in die zu behandelnden Themen affektiv einstimmt und ein darzustellendes Geschehen möglichst mithilfe von visiones, von Phantasiebildern (phantasai), ausmalt.99 Auch Gauricus hat die Einbildungskraft und die Wirkungsmacht von visiones gepriesen, die er mit Zitaten aus der Aeneis belegte.100 Ganz in diesem Sinne sollte Raffael, nachdem er in den Fresken der Stanza d’Eliodoro die visiones des Papstes dargestellt hatte, in seinem Fresko Der Brand des Borgo (Abb. 61) das Geschehen durch einen amplifizierenden Vergleich und eine ›eigene‹ visio verdeutlichen.101 In der in den Jahren 1514

bis 1517 freskierten Stanza dell’Incendio hatte er die bis dahin noch nie bildlich dargestellte verheerende Feuersbrunst zu vergegenwärtigen, die nach dem Bericht des Liber Pontifikalis im Jahr 847 das Borgo-Viertel zerstörte und erst, als sie schon St. Peter bedrohte, auf wundersame Weise durch den Segensgestus des Papstes Leo IV. gestoppt werden konnte. In Anlehnung an zeitgenössische Theaterprospekte entwarf er den Handlungsort unter Einbeziehung historischer Gegebenheiten wie der Fassade von Alt-St. Peter. Neben dieser ist eine fiktive bramanteske Architektur dargestellt, in deren Loggia der Papst den Segensgestus vollzieht. Um die Ausmaße des desaströsen Feuers zu verdeutlichen, vollzog Raffael einen rhetorischen Induktionsbeweis und bediente sich eines antithetischen Vergleichs.

98

Pomponius Gauricus: De sculptura. Übers. u. komm. von Andre

100

Gauricus 1969, S. 61.

Chastel und Robert Klein, Genf 1969, S. 59–61. Vgl. Michels 1988,

101

Vgl. Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem

99

148

S. 74. Bei Gauricus’ Begriff handelt es sich um eine krude Sub­

vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz

stantivierung des Adjektivs euphantasticos (phantasiebegabt).

für das cinquecenteske Bildkonzept. In: Marburger Jahrbuch für

Quintilian: Institutio oratoria, VI 2, 29.

Kunstwissenschaft, 27, 2000, S. 171–208.

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Abb. 61  Raffael: Der Brand im Borgo, 1514, Rom, Vatikanspalast, Stanza dell’Incendio

Um zu veranschaulichen, welches Los Rom bei dem Brand im Jahre 847 drohte, bemühte er den klassischen Topos eines verheerenden Feuers und evozierte im linken Bildteil das brennende Troja, aus dem Aeneas, den Vater Anchises geschultert, Ascanius und Kreusa entfliehen. Vasari hat betont, dass Raffael diese Szene im selben Stil darstellte, in dem Vergil sie in der Aeneis geschildert hat (»… nel medesimo modo che Vergilio de-

scrive che Anchise fu portato da Enea«).102 David Rosand vermutet, dass er dieses Verfahren mit Castiglione besprochen hatte.103 Die imaginative Erweiterung seiner Bilderzählung und den gesonderten Status der visio Trojas104 machte Raffael deutlich, indem er diese durch die Säulenflucht und die Musterung des pavimento vom übrigen Geschehen abgrenzte, mit dem sie nicht in einem unmittelbaren Handlungszusammenhang

102

Vasari 1966–97, IV, S. 193.

104

103

David Rosand: Raphael, Marcantonio, And The Icon of Pathos.

»emphatische distinctio«, wie sie auch in der Aeneis vorkommt,

In: Source. Notes in the History of Art, III/2, 1984 (= Raphael-

eine Sonderform der Antithese, »die das gleichzeitige Vorhan-

Symposion, Columbia-University New York, Okt. 1983), S. 52,

densein und Nichtvorhandesein einer Sache aussagt.« (Laus-

Anm. 26.

berg 1990, S. 126.)

Bei dieser handelt es sich in rhetorischer Terminologie um eine

R affael spielt mit Motiven Michelangelos und besiegt ihn

149

Abb. 62  Piero della Francesca:

Geißelung Christi, 1444/1478?,

Urbino, Palazzo Ducale, Galleria Nazionale delle Marche

steht. Dabei erinnerte er sich zweifellos eines Werks in seiner Heimatstadt Urbino, der Geißelung Christi (Abb. 62), in der Piero della Francesca ebenso verfahren war, nämlich die Figuren rechts im Bild, die über das links dargestellte biblische Ereignis sprechen, durch die Zäsur einer Säulenreihe von demselben getrennt hatte.105 Raffaels Vergleich des bedrohten Roms mit dem zerstörten Troja entsprach der damals geläufigen TrojaRom- und Aeneas-Papst-Analogie, ist aber deutlich als amplificatio christiana ausgelegt. In der Aeneis beteuert der Held, als er am Rande des Hades den verstorbenen Hektor trifft, wenn Menschenhände Troja hätten retten können, so hätten seine es getan.106 Was der Heide Aeneas nicht vermochte, leistet hingegen in der Epoche sub gratia die Hand des Vicarius Christi: Mit Gottes

Hilfe rettet der Papst nicht nur seine Angehörigen, sondern die ganze Stadt. In der antiken Szene, die hier als integrierte Spiegelung der Äußerung (mise en abyme de l’énoncé) fungiert – und zwar wohlgemerkt als Diminutivform christlicher bzw. göttlicher caritas – paraphrasierte Raffael abermals Michelangelo. Bei der Aeneas-AnchisesGuppe orientierte er sich an einem ähnlichen Motiv in der Darstellung der Sintflut im Deckenfresko der Sixtina (Abb. 63).107 Zudem verlieh er der Kreusa die Züge der Cumäischen Sybille Michelangelos (Abb. 55) und zitierte in der Mutter, die ihr Kind über die Mauer einem Mann herabreicht, die halb menschliche Figur der Schlange in dessen Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies (Abb. 64).108 Mit souveränem spielerischem

105

107

106

150

Die Identität dieser Figuren ist nach wie vor umstritten. Siehe

Und zwar an der Trägergruppe in der linken Bildhälfte, nicht

Marilyn Aaronberg Lavin: Piero della Francesca. London/New

derjenigen, die rechts auf der Insel zu sehen ist, welche Reilly als

York 2002, S. 96; Bernd Roeck: Mörder, Maler und Mäzene. Piero

Vergleichsbeispiel anführt. (Patricia L. Reilly: Raphael’s ›Fire in

della Francescas »Geisselung«. Eine kunsthistorische Kriminal-

the Borgo‹ and the Italian Pictorial Vernacular. In: The Art Bulle-

geschichte. München 2006.

tin, 92, 2010, S. 318 u. 319, Abb. 14.)

Vergil: Aeneis, II, 291, 2.

108

Ebda., S. 317f.

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Abb. 63 Michelangelo: Die Sintflut,

um 1510, Vatikan, Sixtinische Kapelle

Abb. 64 Michelangelo: Sündenfall

und Vertreibung aus dem Paradies,

um 1510, Vatikan, Sixtinische Kapelle

Witz hat er Michelangelos Verkörperung der Sünde, die Eva den Apfel reicht, in eine fürsorgliche Mutter umgedeutet. Auch der daneben an der Mauer hängende hünenhafte Athlet ist eine deutlich michelangeleske, zweifellos komische Gestalt, die, während alle anderen Figuren sich angesichts der Gefahr pragmatisch verhalten und sich um ihre Angehörigen kümmern, offenbar konfus reagiert. In dem muskelbepackten, verängstigten Hünen, über dessen komischen Charakter seine Wiederkehr in einer Groteske von Giovan Antonio Pa-

ganino keinen Zweifel lässt (Abb. 65), hat Raffael den Kontrahenten parodiert.109 Anlass dazu gab neben den ignudi der Sixtina-Decke auch das dortige, in der Tat kühne Motiv des wildbewegten Hamann (Abb. 66).110 Giorgio Vasari hat erkannt, dass Raffael in der Figur des Athleten an der Wand die Manier Michelangelos übernommen hat, wobei er erklärte, sie zeige, dass er dessen Fähigkeiten in der Darstellung bewegter Aktfiguren nicht erreicht habe.111 Offenbar aber wollte Raffael demonstrieren, dass er auch diese Aufgabe beherrschte,

109 Dazu

110

ausführlich Brassat 2003, S. 69ff. sowie Brassat 2001, Sp.

Ich kann in Raffaels Athleten allerdings weder ein Zitat, noch

790; Ders.: »The Battle of the Pictures«: Rhetorik, Interpikturali-

eine Paraphrase des Hamans erkennen, während Reilly schreibt:

tät und der Agon der Künstler. In: Ders. (Hrsg.): Rhetorik. Ein

»The nude hanging from the wall […] recalls the crucified

internationales Jahrbuch, 24 (Bild-Rhetorik), 2005, S. 60ff.; Reilly

Haman«. (Reilly 2010, S. 317.)

2010, S. 317f.

111

Vasari 1966–97, IV, S. 205f.

R affael spielt mit Motiven Michelangelos und besiegt ihn

151

Abb. 65  Giovanni Antonio

Paganino: Groteske, Detail,

um 1574, Città di Castello,

Palazzo Vitelli a Sant’Egidio

hang bringt mit Castigliones und Pietro Bembos Wertschätzung des Humors und Ariosts literarischen Parodien Vergils und anderer großer Autoren im Orlando furioso.114 Dies hat eine gewisse Plausibilität, obschon Ariosts Hauptwerk erst nach dem Borgo-Brand ent­ standen ist. Meines Erachtens aber hat sich Raffael bei der Konzeption dieser Bilderzählung vor allem von Quintilian leiten lassen. In dessen Institutio oratoria, die damals in Italien in mehreren Ausgaben und auch in italienischer Übersetzung vorlag, findet sich im 2. Kapitel des 6. Buches unweit der schon zitierten Erörterung der Affektsteigerung durch visiones der folgende Passus: »Schon eine Art Mittelstellung zwischen Ethos und eigentlicher Leidenschaft stellt das Gefühl der

ihm aber Anderes wichtiger war. Die michelangeleske ›Troja-Szene‹, der er seine in einem mittleren Stil ausgeführte Bilderzählung der Rettung Roms entgegengestellt hat,112 ließ er, wie jüngere Restaurierungsergebnisse zeigen, von seinen Schülern ausführen. Er selbst hat im Brand des Borgo kaum mehr eigenhändig gemalt als jenen kleinen Teil des Freskos, der die unter der Loggia des Papstes versammelten Mütter und Kinder zeigt.113 Patricia Reilly hat unlängst auch den parodistischen Charakter des Athleten an der Wand erkannt, den sie an der übertriebenen Muskulatur dieser Figur festmacht – ich kann hier allerdings keine signifikante Differenz zur Figur des Aeneas feststellen – und in Zusammen-

112

113

Liebe und der Sehnsucht zwischen Freunden und Verwandten dar; denn es ist stärker als das erstere und schwächer als das letztere. Es ist wohl auch gar nicht so unpassend, daß wir in den Schulübungen von Charakterbildern sprechen, wobei wir gewöhnlich Bilder von bäurischen, abergläubischen, habgierigen und ängstlichen Menschen entwerfen«.115

Nachdem der Autor zuvor in Zusammenhang mit der pathetischen Affekterregung von dem »stillschweigende[n] Vorwurf gegen ihre Maßlosigkeit« gesprochen hatte,116 bemühte er sich hier, im Sinne der aristotelischen Bestimmung der Tugenden ein Mittleres zwi-

Reilly schreibt: «In the Fire in the Borgo […] Raphael juxtaposed

223ff. Dafür spricht auch das Zeugnis Berninis, der bei seinem

the piacevole Raphaelesque manner of the figure with the grave

Besuch der königlichen Akademie in Paris erklärte, man habe

Michelangelesque one in order to construct himself as the pic-

Raffael nachgesagt, seine Werke seien soviel besser als andere,

torial Petrarch of Rome.« (Reilly 2010, S. 320.)

weil ihm seine Freunde Bembo und Castiglione mit ihrem Wis-

Fabrizio Mancinelli/Arnold Nesselrath: La Stanza dell’Incendio.

sen und Esprit geholfen hätten (»… qui l’avaient aidé de leur sa-

In: Raffaello nell’appartamento di Giulio II e Leone X (Monu-

voir et de leur esprit«). (Paul Fréart de Chantelou: Journal de

menti Musei Gallerie Pontificie – Guido Cornini, Christiana

Voyage du Cavalier Bernin en France. Notice de Ludovic La-

Denker, Arnold Nesselrath, Anna Maria Strobel u. a.). Citta del

lanne. Notes pour le Journal de Bernin par Jean Paul Guibbert. Paris 1981, S. 157.)

Vaticano 1993, S. 337. 114

152

Reilly 2010. Es ist davon auszugehen, dass Castiglione, der Theo-

115

Quintilian: Institutio oratoria, VI 2, 17.

retiker der grazia, Raffael bei seiner teilweise polemischen Kri-

116

Ebda., VI 2, 16.

tik Michelangelos unterstützt hat. Siehe Brassat 2003, S. 168ff.,

117

Alberti 1986, S. 73. Ich zitiere dieses Wort von Walter Kraus, das

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Abb. 66 Michelangelo:

Die Bestrafung des Hamann,

um 1510, Vatikan, Sixtinische Kapelle

schen ethos und pathos zu bestimmen. Diese Definition scheint sowohl in inhaltlicher, als auch wirkungsästhetischer Hinsicht eine wichtige Orientierung für Raffaels Schaffen und seinen »modo mezzano« (Vasari) gewesen zu sein. Die unmittelbar daran anschließend erwähnten rhetorischen Schulübungen (Progymnasmata) der Erfindung und anschaulichen Beschreibung von Charakterbildern waren eine Aufgabe, die auch von jedem Maler biblischer und profaner Historien gefordert war. Und tatsächlich hat Raffael im Brand des Borgo solche negativen ›Charakterbilder ängstlicher Menschen‹ entworfen, nämlich neben dem Athleten an der Wand auch die römische Mutter, die verschreckt ›gen Troja‹ blickt, also imaginiert, was Schreckliches geschehen könnte, ihr Kind an sich zieht und dabei so hilflos wird wie dieses. Die Mutter-Kind-Gruppe sieht aus wie ein Caritas-Motiv, ist tatsächlich aber ein Negativbei-

spiel ängstlicher Hilflosigkeit und womöglich auch einer »verkehrten Zärtlichkeit« gegenüber seinen Kindern, wie sie Alberti in Della famiglia kritisiert hatte.117 Den Widerspruch der schönen, schicklichen Erscheinung, hinter der sich tatsächlich ein Fehlverhalten verbirgt, akzentuierte Raffael noch durch das antithetische ›Charakterbild‹ der Mutter rechts daneben, das Vasari wie folgt beschrieben hat:

den Inhalt des in Albertis Dialogen von Lionardo geäußerten

Leben des Raffael. Hrsg. v. Hanna Gründler, 3. Aufl. Berlin 2011,

Vorwurfs auf den Punkt bringt, obwohl es sich seiner freien

S. 66; Giorgio Vasari: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bild-

Übersetzung einer Stelle verdankt, an der von der übermäßigen

hauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567. Übers.

118

»Und man kann nicht zum Ausdruck bringen, was sich dieser unendlich einfallsreiche und bewundernswerte Künstler für die Figur einer Mutter ausdachte, die, barfuß, mit losem, ungegürtetem Gewänder, zerzaustem Haar und einem Teil ihrer Kleidung auf dem Arm, ihre Kinder scheltend vor sich her jagt, damit sie den einstürzenden Gebäuden und den Flammen entfliehen«.118

Liebe »närrischer Väter (sciocchi babbi)« zu ihren Söhnen die

von Ludwig Schorn und Ernst Förster, Stuttgart/Tübingen 1832–

Rede ist. (Alberti 1969, S. 70.)

1849, Reprint hrsg. und eingeleitet von Julian Kliemann, Worms

Vasari 1966–97, IV, S. 194. Übers. v. Vf., vgl. Giorgio Vasari: Das

2

1988, III/1, S. 225.

R affael spielt mit Motiven Michelangelos und besiegt ihn

153

Abb. 67 Michelangelo: Tondo Doni, 1504, Florenz, Uffizien

Die couragierte Mutter, deren Mittagsruhe jäh durch die Katastrophe unterbrochen wurde, tobt hinter ihren schlaftrunkenen Kindern, damit diese sich in Sicherheit bringen. Ihr Äußeres ist im Gegensatz zu dem der ängstlichen Mutter neben ihr nicht schicklich – so geht man nicht auf die Straße –, doch gerade darin zeigt sich ihr pragmatisches Verhalten in höchster Not. Auch der michelangeleske muskelstrotzende Athlet an der Wand ist eine ängstliche Gestalt, die, während alle ihn umgebenden Figuren sich um ihre Angehörigen kümmern, an sich selbst genug zu tragen hat. Auch in diesem Fall hat Raffael in Anlehnung an rhetorische Verfahren der sermocinatio und der Ironie die paraphrasierte erhabene bzw. pathetische Form diskreditiert, indem er sie einem neuen Handlungszusammenhang einfügte, in dessen Rahmen sie deplaziert wirkt und das Verhalten der Figur

154

unmotiviert, nämlich asozial bzw. komisch. Dieses polemische Verfahren war nichts anderes als eine ironische Umkehrung der Monumentalisierungen Michelangelos, bei denen die Autonomie und Größe der bewegten Individualfigur sich der Vernachlässigung, wenn nicht Eliminierung narrativer bzw. sozialer Kontexte verdankte. Mit der Visualisierung des antithetischen Vergleichs und seiner somit imaginativ erweiterten Bildlichkeit ist der Brand im Borgo ein Pionierwerk des Manierismus. In ihm hat Raffael auch einen emphatischen Begriff des Bildvermögens bekundet, zeigt das Fresko doch, dass das Bild gewissermaßen, wie schon Aelfric von Gott sagte, über der Logik steht, nämlich in einer nur ihm möglichen Weise simultan vor Augen führen kann, was sich geschehenslogisch ausschließt: Untergang und Rettung, das Ende Trojas und wie Rom dieses erspart blieb.

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Maßstäbe wird der Brand im Borgo aber auch mit den ironischen und parodistischen Zitaten und Paraphrasen der Bildsprache Michelangelos gesetzt haben. Neben den schon erwähnten Beispielen, wie der Michelangelo-Parodie des Hünen an der Mauer und der fürsorglichen Mutter, in der Raffael die schlangenleibige Sünde aus Michelangelos Sündenfall zitiert hat, sind hier noch weitere erstaunliche Motive anzuführen: So geht die am Boden hockende, ängstlich ›gen Troja‹ blickende Mutter, wie schon Erwin Panofsky erkannt hat, auf Michelangelos Gottesmutter im Tondo Doni zurück (Abb. 67),119 deren Haltung Raffael schon in der Pala Ba­ glioni (Abb. 8) in der hockenden Maria am rechten Bildrand zitiert hatte, die ihre erhobenen Arme der ohnmächtig werdenden Gottesmutter entgegenstreckt. Amüsant ist, dass er formale Charakteristika dieser Figur, die im Tondo Doni in nahezu artistischer Verrenkung über die rechte Schulter das ihr von hinten dargereichte Kind entgegennimmt, auf die ängstliche Mutter übertragen hat, die nach rechts guckt, während auf ihrer linken Seite das Kind auf ihrem Schoß ruht. Auch dieses geht auf ein Werk Michelangelos zurück, nämlich auf den Tondo Taddei (Abb. 68), den Raffael u. a. in der Bridgewater Madonna (1507/08, Edinburgh, Nat. Gall. of Scotland) rezipiert hatte. Bei dem Kind der ängstlichen Mutter handelt es sich um eine nahezu wortwörtliche seitenverkehrte Wiedergabe des Christuskindes im Tondo Taddei, das Raffael auch bereits in dem Amoretto zitiert hatte, »der das Delphingespann der ›Galatea‹ [in der Farnesina] begleitet« (Abb. 58).120 Während der Christus des Tondo Taddei aber vor dem Distelfink, einem Passionssymbol, das ihm der Johannesknabe darbietet, jäh zurückweicht, wirkt das Kind der ängstlichen Mutter, das offenbar neugierig das geschäftige

119

Abb. 68 Michelangelo: Tondo Taddei, um 1504/05, London, Royal Academy

Treiben beobachtet, völlig entspannt. Auf ein weiteres ironisches Zitat hat Michael Rohlmann aufmerksam gemacht: Im Brand des Borgo steht rechts auf der Treppe vor dem brennenden Gebäude ein Mann mit nacktem Oberkörper, der sich nach unten beugt, um zwei Gefäße mit Wasser von der jungen Frau im blauen Kleid entgegenzunehmen, die ihn beim Versuch, das Feuer zu löschen, unterstützt. Bei der männlichen Figur handelt es sich tatsächlich um die Paraphrase einer Gestalt aus Michelangelos Dankopfer Noahs (Abb. 69), nämlich der Rückenansicht eines jungen Mannes, der sich herabbeugt, um das Feuer für das Dankopfer anzufachen.121 Aus dem Feuermacher ist ein Feuerlöscher geworden! Zwar ist lediglich die Haltung von Kopf und Rücken bei-

Panofsky 2014, S. 57: »Das »Motiv der Madonna Doni […] findet endlich […] eine letzte, freilich stark entstellte Ausgestaltung in

120

Panofsky 2014, S. 57f.

der von irgend einem Schüler ausgeführten knienden Mittelfi-

121

Michael Rohlmann: Gemalte Prophetie. Papstpolitik und Fami-

gur des ›Borgobrandes‹«. Die ›Entstellung‹ erklärt sich aus dem

lienpropaganda im Bildsystem von Raffaels »Stanza dell’Incen-

neuen narrativen Zusammenhang und auch daraus, dass in die

dio«. In: Götz-R. Tewes/Michael Rohlmann (Hrsg.): Der Medici-

Figur der ängstlichen Mutter auch Elemente der Maria im Tondo

Papst Leo X. und Frankreich. Politik, Kultur und Familienge-

Taddei (Abb. 68) eingegangen sind.

schäfte in der europäischen Renaissance. Tübingen 2002, S. 311f.

R affael spielt mit Motiven Michelangelos und besiegt ihn

155

Abb. 69 Michelangelo: Dankopfer Noahs, um 1510, Vatikan, Sixtinische Kapelle

der Figuren identisch, doch diese stimmen so präzise überein, dass das Zitat zweifelsfrei zu erkennen ist. Damit zeigt sich im Brand im Borgo ein humorvolles Spiel mit Motiven des großen Kontrahenten und damit den Codierungen der Malerei, das an die Carracci und Caravaggio denken lässt. Man fragt sich, wer damals diese ironischen und parodistischen Zitate und Paraphrasen der Kunst Michelangelos erkannt hat? Papst Leo X. dürfte sie wahrgenommen haben bzw. wird auf sie aufmerksam gemacht worden sein, zumal er in der Stanza dell’Incendio besonders auf interpikturale Bezüge achtete. Denn, wie Michael Rohlmann überzeugend darlegen konnte, hatte er von Raffael in den dortigen Fresken deutliche Reminiszenzen an Ghirlandaios Fresken der Sassetti-

Kapelle in Santa Trinita verlangt, in der er, Giovanni de’ Medici, in der Bestätigung der Ordensregel selbst als Kind neben weiteren Angehörigen seiner Familie prominent dargestellt ist (Abb. 31).122 In diesem Fall erwartete also der Auftraggeber tatsächlich Allusionen auf bestimmte Inhalte – auf Florenz und die Medici sowie seine Überzeugung einer göttlichen Vorbestimmung seines Pontifikats123 – in Form subtiler formaler und motivischer interpikturaler Bezüge und vertraute demnach auf deren Aussagekraft. Ich vermute, dass man die ähnlich subtilen ironischen Bezugnahmen Raffaels auf Werke Michelangelos damals hingegen nicht groß publik gemacht hat, um einen nachhaltigen Imageverlust des päpstlichen Hofkünstlers zu verhindern. Das Wissen um diese Motive aber wird in Werkstattzusammen-

122 Siehe

123 Ebda.

ebda., S. 296–305 (»Raffaels Stanza dell’Incendio und

Ghirlandaios Sassetti-Kapelle«).

156

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Abb. 70  Raffael: Transfiguration, 1519/20, Rom, Pinakothek des ­ atikans V

hängen tradiert worden sein und man darf wohl annehmen, dass Annibale und Caravaggio Raffaels ironische Zitate und Paraphrasen erkannt haben. Als Manifestationen einer Beobachtung zweiter Ordnung und als Form rekursiven Verhaltens waren solche interpiktura-

len Bezüge wesentlich für das Gedächtnis der Kunst und den Prozess ihrer Ausdifferenzierung. An ihnen zeigt sich, dass Kunstwerke »Beobachtungsdirektiven enthalten, die von verschiedenen Beobachtern adäquat oder inadäquat aufgegriffen [oder übersehen] werden

R affael spielt mit Motiven Michelangelos und besiegt ihn

157

Abb. 71  Sebastiano del Piombo: Die Auferweckung des Lazarus, 1516–19, London, National Gallery

können und dazu bestimmt sind.«124 Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems erfolgt über die Ausdifferenzierung von Profis und Laien, von internen und externen Beobachtern. Die Trennungslinie zwischen diesen wird auch durch jedes Werk bestimmt, das jenseits seines eigentlichen Themas eine durch interpikturale Bezüge und somit Beobachtungen zweiter Ordnung konstituierte zusätzliche Bedeutungsdimension aufweist. Denn diese erschließen sich allein dem Kenner durch sein exklusives relationales Wissen, nämlich die Kenntnis der

124

relevanten Vergleichswerke.125 Die Malerei des 15. Jahrhunderts hatte sich, wie wir gesehen haben, des Verfahrens des embedding bedient, um Beobachtungen zweiter Ordnung zu visualisieren, nämlich den Paragone bzw. Agon zu thematisierten und den eigenen stilistischen Habitus zu reflektieren. Der so erzeugte interne Dialog mit integrierten anderen Bildern stand den Rezipienten sichtbar vor Augen. Noch im Verlauf des Quattrocento aber hatte die Malerei Zitate und Paraphrasen als Mittel rekursiven Verhaltens eingesetzt, die nur wahrnehmen konnte, wer die betreffenden Vergleichsbeispiele kannte. Es war dies eine Entwicklung von eminenter Bedeutung, gewissermaßen ein Quantensprung beim Aufbau einer nur schwer, nämlich allein mit großer Fachkenntnis, zu erfassenden gesteigerten Eigenkomplexität. Auch die Transfiguration (Abb. 70), die Vasari als das Vermächtnis und »göttlichste« Werk Raffaels gewürdigt hat,126 entstand in einem Künstler-Agon.127 Nachdem Kardinal Giulio de’ Medici, der spätere Papst Clemens VII., 1516 dieses Gemälde für den Hochaltar der Kathedrale von Narbonne, seinen Bischofssitz, bestellt hatte, gab er bei Sebastiano del Piombo eine für dieselbe Kirche bestimmte Auferweckung des Lazarus (Abb. 71) – auch dies eine Epiphanie-Thematik – in Auftrag. Beide Werke mit ihren nahezu identischen Maßen waren bestimmt, zwei Altäre der Kathedrale zu schmücken.128 Der ursprünglich ihm zugedachten Aufgabe und damit einem offenen Wettbewerb mit Raffael hatte sich Michelangelo entzogen, doch er führte Entwurfszeichnungen für die Lazarus-Erweckung aus (London, British Museum, Abb. 72; Bayonne, Musée Bonnat; Frankfurt/M., Städel Museum), die Sebastiano als Grundlage dienten. Dieser hatte schon im Herbst 1517 sein Werk so weit ausgeführt, dass Leonardo Sellaio, ein enger Freund

Pfisterer 2019, S. 300ff. Den paragonalen Sinngehalt der Transfi-

Luhmann 1995, S. 129. Ergänzung in Klammern vom Vf.

125 Vgl.

guration behandelt eingehend Müller 2018, S. 134–149.

die auf S. 28 zitierten Ausführungen in Bourdieu 1984,

S. 68.

128

Christa Gardner von Teuffel: Sebastiano del Piombo, Raphael

126

Vasari 1966–97, IV, S. 203f.

and Narbonne: new evidence. In: Burlington Magazine, 126,

127

Zum Folgenden siehe Rudolf Preimesberger: Tragische Motive

1984, 765–766. Die Transfiguration misst 4,05 × 2,78 Meter, die

in Raffaels »Transfiguration«. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte,

Auferweckung des Lazarus 3,81 × 2,89 Meter.

50, 1987, S. 88–115; Goffen 2002, S. 246ff.; Brassat 2003, S. 72ff.;

158

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Michelangelos, diesem berichten konnte, das Gemälde sei ein »Wunder«, »so daß man schon sagen kann, daß er gewonnen hat«.129 Im Kreis um Sebastiano und Michelangelo war man fortan siegesgewiss. Raffael, der erst 1519 mit der Arbeit an seinem Gemälde begann und das Konkurrenzwerk sicherlich im Frühjahr dieses Jahres gesehen hat,130 imitierte im unteren Teil der Transfiguration mit der Darstellung der Jünger, die in Abwesenheit Christi außerstande waren, den mondsüchtigen Knaben zu heilen (MT 17,16 u. 17,19), die skulpturale, monumentale Figurenauffassung Michelangelos. Die obere Bildhälfte mit der Verklärung Christi (MT 17,1–9), der hernach zu den Jüngern zurückkehrte und den besessenen Knaben heilte (MT 17,14–18), malte er dagegen in einem betont anmutigen, malerischen Stil, wie man in der damaligen Ateliersprache sagte, »con grande amore«,131 mit der ihm eigenen grazia. Gemäß den rhetorischen Verfahren der anticipatio (prolepsis), der Antizipation und Entkräftung der zu erwartenden Argumente bzw. des Standpunkts des Gegners, und der sermocinatio imitierte er die Stilhaltung der Kontrahenten, integrierte sie dem eigenen Werk als unterlegene Lösung und schuf so einen gemalten Triumph seiner grazia über die maestà Michelangelos. Man hat die auffällige stilistische Differenz der beiden Bildhälften lange kunsthistorisch positiviert, nämlich Raffael den oberen Bildteil, den unteren aber seinen Schülern zugeschrieben.132 Tatsächlich aber war dieser Kontrast, der iconic split der Transfiguration, schon in der unterschiedlichen Untermalung beider Bildzonen angelegt, die im Wesentlichen im oberen Teil

129

130

Zit. n. Roberto Contini: Sebastiano del Piombo: Auferweckung

Abb. 72 Michelangelo: Der vom Tod auferweckte Lazarus mit zwei

­Assistenzfiguren, 1516, London, British Museum

grün, im unteren dagegen rot und blau gehalten ist.133 Bedenkt man, dass die beiden Bildhälften inhaltlich eindeutig konnotiert sind, nämlich die untere das Scheitern der Jünger, die obere aber den Triumph des im Kommen begriffenen Heilands, mit Gauricus’ Wor-

132

ler scheitern, während oben der Heiland triumphiert, ist der

tiano del Piombo, 1485–1547. Ausst.-Kat. Rom, Palazzo Venezia,

händescheidenden Stilgeschichte zum kunsthistorischen Be-

Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Mailand 2008,

fund geworden: So war z. B. Wölfflin überzeugt, dass der untere

S. 178 (Kat.-Nr. 34).

Teil eine minderwertige Schülerarbeit sei, und ließ entspre-

Ebda. Wie Preimesberger 1987 und Goffen betonen, kannte Raf-

chend in Die klassische Kunst nur den oberen Teil des Gemäldes

fael Sebastianos Werk bereits zu einem Zeitpunkt, als sein eige-

reproduzieren. (Siehe Heinrich Wölfflin: Die klassische Kunst.

nes noch im Stadium der Planung war. Goffen nimmt an, dass er

Eine Einführung in die italienische Renaissance. 9. Aufl. Basel/

die Konfiguration zweier Handlungsmomente erst in Kenntnis

Stuttgart 1968, S. 158–161, mit der Abb. des oberen Teils auf S. 160.)

desselben realisierte, um das Werk des Venezianers zu überbieten (Goffen 2002, S. 252; ebenso Müller 2018, S. 137). 131

Was Raffael in seinem Werk dargestellt hat, dass unten die Schü-

des Lazarus. In: Raffaels Grazie – Michelangelos Furor. Sebas-

Zit. n. Preimesberger 1999, S. 268.

133

Siehe Fabrizio Mancinelli: La Trasfigurazione e la Pala di Monteluce: Considerazioni sulla loro tecnica esecutiva alla luce dei re-

R affael spielt mit Motiven Michelangelos und besiegt ihn

159

ten die »emphasis« Christi,134 zeigt, so erscheint evident, dass die Transfiguration mit ihrem iconic split und ihren unterschiedlich gemalten Teilen auch eine kunsttheoretische Allegorie ist. Der in diesem Agon freigesetzte ästhetische Anspruch der Werke Raffaels und Sebastianos konnte gegen ihre sakrale Funktion ein Eigenrecht behaupten: Nachdem Raffaels Leiche nach seinem Tod am 6. April 1520 in seinem Atelier unter der Transfiguration aufgebahrt worden war, wurde das Gemälde eine Woche später im Palazzo della Cancelleria dem Konkurrenz­ werk gegenübergestellt135 und beide Werke damit einer ­ästhetischen Betrachtung zugänglich gemacht. Am 12. April schrieb Sebastiano, der für sein Werk statt der vereinbarten 1000 Dukanten schließlich 800 erhalten sollte, während Raffael nur 655 bekommen hatte,136 kleinlaut an Michelangelo: »Heute habe ich meine Tafel wieder in den Palast gebracht, neben die von Raffael, und ich habe mich nicht geschämt«.137 Die Resonanz, die Raffaels kapitales Gemälde hervorrief, motivierte Giulio de’ Medici, es nicht nach Narbonne zu versenden, sondern es der heimischen Kirche San Pietro in Montorio zu stiften, in der es 1522 aufgestellt wurde.

Hervorzuheben ist, dass in den behandelten Werken Raffaels bereits Argumente gegen eine rückhaltlose Bewunderung antiker Formschönheit artikuliert waren, wie sie bald darauf Erasmus von Rotterdam in seinem Ciceronianus formulieren sollte.140 Zugleich waren in

centi restauri. In: John Shearman/Maria B. Hall (Hrsg.): The

Schiedsrichter über seinen Sieg gemacht, indem er die Vor-

Princeton Raphael Symposion. Science in the Service of Art His-

kämpfer der etablierten römischen Maniera, Raffael und Mi-

tory. Princeton/New York 1983, S. 152f. u. Abb. 169. Mancinelli

chelangelo, durch eine gezielte stilistische Konfrontation in der

134

Der Rezeptionsgeschichte der Transfiguration dürfte auch ein Hauptwerk Giulio Romanos zuzurechnen sein, nämlich der Gigantensaal im Palazzo del Te: Offenbar in Anlehnung an das ›Vermächtnis‹ seines Meisters schuf Giulio den Freskenschmuck dieses Raumes, in dem er den in einem raffaelischen Klassizismus gemalten Götterhimmel über das Chaos der mit michelangelesker terribilità dargestellten unterworfenen Giganten obsiegen ließ (Abb. 73).138 Giulio hat im Herbst 1541 den Michelangelo-Verehrer Giorgio Vasari durch den Palast geführt, der später, dem Triumph der Transfiguration Rechnung tragend, in seiner Vita Raffaels schrieb: »Die Natur gab ihn der Welt zum Geschenk, als sie, durch die Hand Michelangelo Buonarrotis von der Kunst bezwungen, sich nun durch Raffael von Kunst und Umgangsformen (costumi) zugleich besiegen lassen wollte.«139

hat die Ergebnisse einer naturwissenschaftlichen Analyse wie

Sala dei Giganti erneut in die Arena des Kampfes um den Vor-

folgt kommentiert: »E non sembra probabile che il fenomeno sia

rang der Stile schickt. Während der klassische Götterhimmel

imputabile ad una semplice differenza di mano. La presenza di

eher in raffaelesker Malweise gegeben ist, herrscht an den bo-

parti non finite e soprattutto quella dei dettagli rimasti al livello

dennahen Wänden des Gigantenchaos michelangeleske terribi-

di abbozzo esclude comunque l’intervento della bottega dopo la

lità vor. Dieser Kontrast war vor der Restaurierung in den späten

morte di Raffaello se non per eseguire la verniciatura finale

1980er Jahren noch deutlicher zu erkennen.« [Ebda., S. 113.]

dell’opera.« (Ebda., S. 153.)

Letzteres stimmt übrigens mit meinem Eindruck überein, dass

Brassat 2003, S. 76. Zu den Bewegungskategorien von Gauricus

auch die inneren stilistischen Differenzen einiger Werke Raffa-

siehe Michels 1988, S. 78ff. Wir werden auf sie noch zurückkom-

els bei jüngeren Restaurationen im Sinne traditioneller Vorstel-

men.

lungen bildlicher Homogenität nivelliert wurden.

135

Goffen 2002, S. 254.

139 Vasari

136

Contini 2008, S. 180.

dall’arte e dai costumi insieme«. (Vasari 1966–97, IV, S. 155.) Dem

137

Zit. ebda., S. 178.

hier angeführten Maßstab der Umgangsformen bzw. »Sitten«

138

Siehe Christine Tauber: Stilpolitik im Palazzo del Te in Mantua.

(costumi) korreliert der rhetorische Begriff des ethos, den Quin-

In: Dietrich Erben/Christine Tauber (Hrsg.): Politikstile und die Sichtbarkeit des Politischen in der Frühen Neuzeit. Passau 2016, S. 112f. Christine Tauber schreibt: »Giulio hat sich […] selbst zum

160

2011, S. 19. »[…] volle ancora per Rafaello esser vinta

tilian mit »mores« übersetzt hatte. 140

Erasmus: Dialogus cui titulus Ciceronianus sive De optimo dicendi genere. In: Erasmus 1995, Bd. 7, S. 2–355.

PE N DAN TS U N D KON KU RRE N Z WERKE

Abb. 73  Giulio Romano und

­Werkstatt: Der Sturz der Giganten,

um 1532, Mantua, Palazzo del Te,

Sala dei Giganti

ihnen Strukturmerkmale einer inneren Dialogizität ausgebildet, wie sie später z. B. auch Pieter Aertsen in seinen invertierten Historien bzw. »verdoppelten Bildern« realisierte.141 Die angeführten Werke Raffaels waren seinerzeit die avanciertesten Beispiele selbstreflexiver Malerei. 141

142

143

Er hat – was ihm die Kunstgeschichte gemeinhin nicht zutraut142 – Verfahren der Gegendarstellung und des ironischen Nachsprechens erprobt, von denen später Annibale Carracci, Caravaggio, Guido Reni und ihre Zeitgenossen immer wieder Gebrauch machen sollten.143

Vgl. Victor I. Stoichita: L’instauration du tableau. Métapeinture à

Lotta dei Putti und die ›Caravaggisten‹. In: Mitteilungen des

l’aube des Temps Modernes. Paris 1993 (dt. Das selbstbewusste

Sonderforschungsbereich 573 ›Pluralisierung und Autorität in

Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. München 1998).

der Frühen Neuzeit‹, 4, 2008, S. 16–26; Wolfgang Brassat: »Gött-

So schreibt z. B. Christine Tauber über Giulio Romanos ironi-

liche Malerei«, »unglückselige Musik« und weibliche Ergeben-

sche Michelangelo-Paraphrasen in den Giganten in der Sala dei

heit. Zu Raffaels »Heiliger Caecilia« und ihrer Rezeptionsge-

Giganti im Palazzo del Te: »Damit überbietet er auch seinen

schichte. In: Klaus Ley (Hrsg.): Caecilia – Tosca – Carmen. Brü-

Lehrer Raffael, dem solche Brechungen und Persiflagen eher

che und Kontinuitäten im Verhältnis von Musik und Welterleben

fern standen«. (Tauber 2016, S. 116.)

(Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Bd. 33). Tübin-

Siehe Ulrich Pfisterer: Kampf der Malerschulen – Guido Renis

gen 2006, S. 47–75.

R affael spielt mit Motiven Michelangelos und besiegt ihn

161

KAPITEL IV

162

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

DIE PRAXIS DER GESELLIGEN REZEPTION UND DIE SELBSTREFLEXIVE, IRONISCHE, ENIGMATISCHE UND HERMETISCHE KUNST DES CINQUECENTO

Raffaels die Natur nachahmende und überschreitende, wie Vasari schrieb, sie besiegende Kunst, sein Spiel mit Täuschung und Enttäuschung, wie er es in der Sixtinischen Madonna (Abb. 59) so geistreich betrieben hat, und mit den Motiven Michelangelos und nicht zuletzt die paradoxalen Konfigurationen im Brand des Borgo und in der Transfiguration amplifizierten das genuine Vermögen der Malerei. An diesen Werken ließ sich ersehen, dass das Bild simultan vor Augen führen kann, was sich geschehenslogisch ausschließt: den Untergang und die Rettung der Stadt (Abb. 61), die Apostel, die nicht imstande waren, den Mondsüchtigen zu heilen, weil Christus abwesend, ihnen nicht sichtbar und damit ihr Glaube verunsichert war, und zugleich den kommenden Heiland, der dies vollbringen sollte (Abb. 70). Solche Demonstrationen, dass das Bild nicht identisch ist mit dem, was es so täuschend echt vor Augen führt, und dass es in einer nur ihm möglichen Weise ein »Zusammensehen dessen, was sich gegeneinander sperrt«,1 ermöglicht, wurden von anderen Künstlern aufgegriffen und in neuen Formen pointiert. So malte Parmigianinos 1524 sein Selbstbildnis im Kon-

vexspiegel (Abb. 74), das er in der Hoffnung auf eine Stellung als Hofmaler dem soeben gewählten Papst Clemens VII. zum Geschenk machte. Das Selbstporträt des attraktiven, wie Vasari schrieb, engelsgleichen Malers,2 spielt an auf eine Stelle in Albertis Malereitraktat, nach der Narziss der Erfinder der Malerei war.3 Vor dem ›Spiegelbild‹, dieser »cosa divina«4 des ›neuen Raffaels‹, von dem Vasari berichtet, dass er die Subtilitäten der Kunst erforschte (investigando le sottigliezze) und manche »bizzarrie« hervorbrachte,5 wird der Betrachter selbst zum Bestandteil einer scheinbar paradoxen Konstellation und in seiner Identität irritiert. Ist es ein Spiegel oder ist es ein Gemälde, so fragt man sich unweigerlich vor dem Werk, dessen hölzerner Bildträger in der Tat wie ein Konvexspiegel geformt ist. Das Kunstwerk, das vortäuscht, keins zu sein, den Unterschied seiner selbst zu einem Gebrauchsgegenstand suggestiv überspielt, um ihn letztlich hervortreten zu lassen und seine genuinen Merkmale zur Schau zu stellen, weist die Kunst als einen gesonderten Beobachtungsbereich aus, dessen Wahrnehmungsmodalitäten sich von denen des Alltags unterscheiden. Wir können hier von einer Be-

1

Das Fiktive pointiert eine Differenz. »Aufreißen und Überwin-

3

Alberti: De pictura, (II) 26.

den der Kluft ermöglicht in den Kunstwerken das Zusammen-

4

Vasari 1966–97, IV, S. 535.

sehen dessen, was sich gegeneinander sperrt, und in dieser

5

2

Siehe ebda., S. 531ff. sowie Preimesberger 1999, S. 265, 267. Vasari

Doppelfunktion wird das Fiktive zu einer durch nichts substitu-

berichtet, dass »in Rom öffentlich und durch unzählige Perso-

ierbaren Voraussetzung in den Künsten.« (Wolfgang Iser: Das

nen gesagt [wurde], der Geist Raffaels sei in Francescos Körper

Fiktive im Horizont seiner Möglichkeiten. In: Henrich/Iser 1983,

übergegangen«. (Zit. n. ebda., S. 264.) Zu dem Selbstbildnis wei-

S. 553. Dazu auch ders.: Die Doppelungsstruktur des literarisch

ter Martin Warnke: Der Kopf in der Hand. In: Zauber der Me-

Fiktiven. In: Ebda., S. 497–510; Ders.: Das Fiktive und das Imagi-

dusa. Europäische Manierismen. Hrsg. v. d. Wiener Festwochen,

näre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M.

Ausst.-Kat. Wiener Künstlerhaus, Wien 1987, S. 55–61; wieder ab-

1991.)

gedruckt in Ders.: Nah und fern zum Bilde. Beiträge zu Kunst

Vasari 1966–97, IV, S. 535.

und Kunsttheorie. Hrsg. v. Michael Diers, Köln 1997, S. 108–120.

163

Abb. 74  Parmigianino: Selbstbildnis

im Konvexspiegel, 1524, Wien,

­Kunsthistorisches Museum

obachtung zweiter Ordnung sprechen, die nicht mehr nur die Wahl stilistischer Alternativen reflektiert, sondern bereits die Differenz von System und Umwelt.6 Einige Merkmale von Parmigianinos raffiniertem Selbstbildnis lassen sich bereits in einem späten Porträt Raffaels feststellen, dem Selbstbildnis mit seinem Schüler Giulio Romano (Abb. 75), das früher unter dem Titel Raffael und sein Fechtmeister bekannt war.7 Das Gemälde, ein Freundschaftsbild und zugleich das erste Künstlerselbstbildnis in einem solch’ anspruchsvollen Format (99 × 83 cm), zeigt Raffael mit seinem ›Meister-

6

Ich folge hier Luhmann, der lediglich von einer »Beobachtung

und zwischen einer ›Beobachtung dritter, vierter etc. Ordnung‹

zweiter Ordnung« sprach, während einige Schüler begrifflich

differenzieren.

eine Graduierung verschiedener Niveaus derselben vornehmen

164

schüler‹. Zurückhaltend hinter ihm stehend, hat er Giulio die Hand auf die Schulter gelegt und folgt mit dem Blick seinem weisenden Gestus. Wem dieser gilt, lässt das Werk offen. Diese Leerstelle, ein einkalkuliertes gesprächsförderndes Informationsdefizit, welches sich nur spekulativ überbrücken lässt, verleiht Raffaels Doppelporträt eine enigmatische Dimension und hat selbstverständlich auch zu unterschiedlichen Deutungen in der Fachliteratur geführt. Die Annahme, dass die Dargestellten ein Werk betrachten, welches Giulio seinem Lehrer präsentiert, erscheint mir aufgrund von

7

Zu diesem Werk siehe Norberto Gramaccini: Raffael und sein

D IE PR AXIS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Raffaels ruhigem, kontemplativem Blick und der Hierarchisierung der Personen, deren Anordnung, wie Norberto Gramaccini gezeigt hat, einer Inspirationsikonographie folgt,8 plausibler als die Vermutung, Giulio weise auf einen hinzutretenden dritten Freund im Bunde hin.9 Doch unabhängig davon besteht die Krux des Gemäldes darin, dass Raffael in dem Bemühen um eine gesteigerte Lebendigkeit der Dargestellten die ästhetische Grenze suggestiv überspielt und die Leerstelle des unsichtbaren Objekts ihrer Aufmerksamkeit mit dem Standpunkt des Betrachters zur Deckung gebracht hat. In der forcierten Verknüpfung von Bildfiktion und Betrachterrealität, die aufgrund der direkten Betrachteransprachen und scheinbaren Gegenwärtigkeit von Blick und Geste in einem Verhältnis realer Face-to-Face-Kommunikation zu stehen scheinen, und der paradoxen Überblendung und damit Überdetermination des Betrachterstandpunktes antizipierte sein spätes Doppelporträt Merkmale von Parmigianinos Selbstbildnis im Konvexspiegel (Abb. 74).10 Auch Raffaels Verfahren der ironischen Nachahmung fand zahlreiche Nachfolger. Neben weiteren, noch anzuführenden Beispielen zeigt dies z. B. Bronzinos beidseitig bemalte Tafel mit dem Porträt des Zwergen Nano Morgante (Abb. 76), einem am Hof der Medici lebenden Kleinwüchsigen, der spöttisch nach dem

8

Abb. 75  Raffael: Selbstbildnis mit seinem Schüler Giulio Romano, um 1518–1520, Paris, Musée du Louvre

furchterregenden Giganten Morgante aus Luigi Pulcis gleichnamiger epischer Stanzen-Dichtung benannt wurde.11 Mit seiner Tafel nahm Bronzino nicht nur

Schüler – eine gemalte Kunsttheorie. In: Georges-Bloch-Jahr-

9

So Pfisterer 2019, S. 202.

buch des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Zürich,

10

Es gibt m. E. eine subkutane Tradition, die Raffaels Doppelpor­

2, 1995, S. 44–55, der seine »proto-caravaggeske[n]« Merkmale

trät und Parmigianinos Selbstbildnis im Konvexspiegel mit vielen

betont (ebda., S. 45); Hannah Baader: Sehen, Täuschen und Er-

späteren Werken, darunter den Meninas von Velázquez, den so-

kennen. Raffaels Selbstbildnis aus dem Louvre. In: Göttler/Mül-

genannten ›Lauscherbildern‹ von Nicolaes Maes und Manets

ler Hofstede u. a. 1998, S. 41–59; Anne Bloemacher: Raffael und

Bar aux Folies-Bergère verbindet. Eine solche paradoxe Über-

Raimondi. Produktion und Intention der frühen Druckgrafik

blendung des Betrachterstandpunktes ist auch bereits in Frans

nach Raffael. Berlin/München 2016, S. 39ff. Ich folge hier Gra-

Floris’ Der heilige Lukas malt die Madonna (Antwerpen, Ko-

maccinis Deutung des dargestellten Vorgangs und Baaders m. E.

ninklijk Museum voor Schone Kunsten) festzustellen, in dem

evidenter Identifizierung der Figur im Vordergrund mit Giulio

die Madonna und das Kind nicht dargestellt sind und der ma-

Romano, die auch schon von Frederick Hartt vertreten wurde.

lende Lukas und sein Farbenreiber zum Betrachter blicken.

Dabei steht, wie Gramaccini anhand mehrerer Vergleichsbei-

(Siehe Brassat 2003, S. 85ff.)

spiele belegt, der Inspirierende üblicherweise hinter dem Inspi-

11

Lorne Campbell: Renaissance Portraits. European Portrait-

rierten. Diese Dimension der in der diagonal angelegten Kom-

Painting in the 14th, 15th and 16th Centuries. New Haven/Lon-

position vorgenommenen Hierarchisierung der Dargestellten

don 1990, S. 146.

stützt Gramaccinis Auffassung, dass der vordere Mann ein Schüler ist, der auf sein Werk hinweist. (Gramaccini 1995, S. 48f.)

DI E PR AXI S DER G E SE LLI G E N RE ZE P T I O N

165

Abb. 76 Bronzino: Porträt des ­Zwergen Nano Morgante, Vorder- u. Rückseite, 1552, Florenz, Uffizien

durch die doppelte Repräsentation des Dargestellten von vorne und hinten den Wettstreit mit der mehransichtigen Skulptur auf, sondern ironisierte zudem die Vorliebe Michelangelos, Bandinellis u. a. für Kolossalstatuen.12 Sicherlich diente die beidseitige Bemalung

12

Christine Tauber: Rezension von Rona Goffen: Renaissance Ri-

Christiane J. Hessler: Maler und Bildhauer im sophistischen

vals. Michelangelo, Leonardo, Raphael, Titian. New Haven/Lon-

Tauziehen. Der Paragone in der italienischen Kunsttheorie des

don 2002. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 67, 2004, S. 438;

16. Jahrhunderts. In: Ekkehard Mai/Kurt Wettengl (Hrsg.): Wett-

Dies.: Manierismus und Herrschaftspraxis. Die Kunst der Politik

streit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier.

und die Kunstpolitik am Hofe von François Ier. Berlin 2009,

Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst, Köln, Wallraf-Richartz-

S. 68f. Siehe auch Barolsky 1978, S. 143ff.; Deborah Parker: Bron-

Museum, Wolfratshausen 2002, S. 90.

zino. Renaissance Painter as Poet. Cambridge 2000, S. 155ff.;

166

der Tafel auch ihrem regen kommunikativen Gebrauch, zumal die Darstellungen Morgantes auch zu entschlüsselnde Informationen, z. B. mit dem Motiv der Eule Anspielungen auf sein Sexualverhalten, enthalten.13

13

Siehe Parker 2000, S. 157f.

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Studioli und ihre Historien

Hatten wir an der Camera der Semiramide Appiani festgestellt, dass dieser Raum ihr Schlafgemach und Refugium war, zugleich aber auch der Ort einer unter ihrem Vorsitz stattfindenden Geselligkeit, so ist es nicht erstaunlich, dass der zweiten dieser beiden schwer zu vereinbarenden Funktionen bald schon neue Orte zugeteilt wurden. So entwickelte sich das studiolo, ein Raumtyp, der ursprünglich als schlichter Ort stillen Studiums Privatbibliotheken und -archive beherbergte,14 allmählich zu einem Sammlungsraum und einer Stätte geselliger Zusammenkünfte.15 Dieser Funktionswandel kündigt sich bereits in jenen fürstlichen studioli an, die eine kostbare Ausstattung und ein funktionsbezogenes Bildprogramm aufwiesen.16 Ob man die kleinen Studierzimmer Federico da Montefeltros in Urbino und Gubbio bereits als Konversationsräume nutzte, ist fraglich, doch zumindest waren diese durch ihre Ausstattung als Orte des Studiums und der Rekreation ausgewiesen. Die Intarsien ihrer Wandvertäfelungen mit illusionistischen Darstellungen von Musikinstrumenten ergänzten Gemäldezyklen mit berühmten Männern bzw. Personifikationen der sieben freien Künsten.17 Die Nutzung dieses Raumtyps als eines Orts des geselligen Gesprächs ist erst im Laufe des 16. Jahrhunderts durch Schriftquellen verbürgt, wobei bereits die Ausstattung des seinerzeit berühmten studiolo der Isabella d’Este im Castello di

San Giorgio in Mantua auf eine solche schließen lässt. Dieses Zimmer schmückten einst Mantegnas Parnass (Abb. 38) und sein Sieg der Tugenden über die Laster, Peruginos Wettstreit der Liebe mit der Keuschheit, Lorenzo Costas Die Regierung des Gottes Comus und Allegorie auf den Hof der Isabella d’Este (Die Krönung der Isabella d’Este) sowie Correggios Allegorie der Tugenden – Werke, die der genuinen Gattung der »Studiolo-Historien« zuzurechnen sind18 und sich zu einem agonalen Nebeneinander verbanden.19 Ihre großformatigen Darstellungen behandeln ideale Formen des menschlichen Umgangs, die damals, wie Bembos Gli Asolani und Castigliones Cortegiano belegen, zentrale Themen der höfischen Konversationskunst waren. Was in der Primavera die heraldischen Allusionen u. a. in Form der Orangen leisteten, nämlich panegyrischen Kommentaren Anlass zu geben, erfüllte hier vor allem das Gemälde Lorenzo Costas, welches das allegorische Bildprogramm zur Hofhaltung der Herzogin in Beziehung setzte. Es erstaunt nicht, dass Isabella d’Este, der daran gelegen war, einen Bilderzyklus von einigen der berühmtesten Künstler Italiens zu besitzen, ihren Hofmaler Andrea Mantegna und auch den nicht weniger renommierten Giovanni Bellini nur auf ein Generalthema, ein »fondamento generale«, verpflichtete,20 während man dem älteren Pietro Perugino ein elaboriertes Bildprogramm ihres humanistischen Beraters Paride da Ceresara zukommen ließ.21 Als Isabella d’Este später ein Andachtsbild für ihr Schlafzimmer bei Giovanni Bellini bestellte, erwartete

14

Liebenwein 1977, S. 57f. u. 134.

mano: Auf dem Weg zur »modernen Manier«: Von Mantegna zu

15

Ebda., S. 128ff.

Raffael. In: Bellosi/Castelnuovo u. a. 1988, Bd. 2, S. 320–335 sowie

16

Ebda., S. 66.

Sylvia Ferino-Pagden (Hrsg.): Isabella d’Este: «la prima donna

17

Siehe ebda., S. 83ff., 97ff.; Luciano Cheles: The Studiolo of Ur-

del mondo«. Fürstin und Mäzenatin der Renaissance. Ausst.Kat. Wien, Kunsthistorisches Museum, Wien 1994.

bino. An Iconographic Investigation. Wiesbaden 1986; Olga Rag19

Siehe Goffen 2002, S. 11ff., die betont: »Rivalry was inherent in

spettiva. In: Storia dell’arte italiana. Hrsg. v. Giulio Einaudi,

20

Locher 2002, S. 235.

Turin 1982, S. 459–585.

21

Die ausführlichen Anweisungen, denen eine heute verlorene

gio: The Gubbio Studiolo and its Conservation. 2 Bde. New York 1999; zur Intarsienkunst: Massimo Feretti: I maestri della pro-

18

the very concept of a study« (ebda., S. 20).

Locher 2002, S. 234ff. Zu diesem seit den späten 1490er Jahren

Zeichnung beigefügt wurde, sind vollständig zitiert bei Giovanni

entstandenen, 1627 von Richelieu erworbenen Zyklus (Paris,

Romano: Auf dem Weg zur »modernen Manier«: Von Mantegna

Louvre) siehe auch Egon Verheyen: The Paintings in the Stu-

zu Raffael. In: Bellosi/Castelnuovo u. a. 1988, Bd. 2, S. 325f.

diolo of Isabella d’Este in Mantua. New York 1971; Giovanni Ro-

S tudioli und ihre H istorien

167

sie vor allem, in dem Gemälde invenzioni und fantasie des Meisters vorzufinden.22 Im Zuge der sich seit 1496 hinziehenden Verhandlungen über diesen Auftrag erläuterte Pietro Bembo 1505 in einem Brief die eigenwilligen Ansprüche des Künstlers: »Das Programm, das ich, wie ihr schreibt, für die Komposition finden soll, muß der Einbildungskraft (fantasia) dessen entgegenkommen, der die Komposition schaffen muß; dem [Bellini] liegt daran, daß seiner Ausführung des Gemäldes keine sehr genau fixierten Vorschriften gesetzt werden (che molto signati termini non si diano al suo stile); sei er doch, wie er selbst sagt, gewohnt, in seinen Bildern immer nach eigenem Ermessen umherzuschweifen (vagare a sua voglia nelle pitture), damit sie, soweit es an ihm liegt, dem Betrachter gefallen können.«23

Eine freie Themenwahl des Künstlers,24 wie sie Michelangelo sogar für das Deckenfresko der Sixtina beansprucht haben soll,25 resultierte konsequenterweise aus dem forcierten Wettbewerb, bei dem nun auch die

22

Kompetenz der inhaltlichen Konzeption zu einem leitenden Kriterium wurde. Zugleich verlangten die zeitgenössischen Formen des kommunikativen Gebrauchs von Kunstwerken nach neuem Gesprächsstoff. Erst durch Werke, die dieser Erwartung entgegenkamen, erwies sich der Künstler als ein würdiger Gesprächspartner, der, indem er in seinen Werken andere zitierte, überbot, kritisierte, ironisierte und parodierte, wie die Rezipienten als Beobachter von Beobachtungen auftrat.26 An dieser ideellen Ebenbürtigkeit war auch der zeitgenössischen Kunstliteratur gelegen, die im Cinquecento kaum mehr, wie es noch Cennini ausführlich getan hatte, handwerklich-technische Aspekte thematisierte, sondern ihre Gegenstände mit Blick auf die höfische Konversation über die Künste behandelte, deren Leitthema der Paragone war. Auch das damals aufkommende aristokratische Dilettieren im Zeichnen, das schon Filarete in seinem Architekturtraktat als Bestandteil der Fürstenerziehung und Castiglione als sinnvolle Tätigkeit des Hofmannes empfohlen hatten, diente nicht zuletzt der Schulung der Konversationskompetenz auf dem zunehmend als obligatorisch erachteten Terrain der Künste.27

Francis Ames-Lewis/Mary Rogers (Hrsg.): Concepts of Beauty

Dunkerton/Foister/Gordon/Penny 1991, S. 75f. u. 117. Zu diesem

in Renaissance Art. Aldershot 1998.

einschlägigen Fall siehe Klaus Krüger: »… figurano cose diverse da quelle che dimostrano«. Hermetische Malerei und das Ge-

23

24

heimnis des Opaken. In: Gisela Engel u. a. (Hrsg.), Das Geheim-

standswahl durch den Künstler. In: Schülerfestschrift für Her-

nis am Beginn der europäischen Moderne (=Zeitsprünge. For-

bert von Einem. Bonn 1965, S. 55–62; Charles Hope: Artists, Pat-

schungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 6, Heft 1–4). Frankfurt/M.

rons and Advisers in the Italian Renaissance. In: Guy F. Lytle/

2002, S. 416ff. (mit weiteren Literaturhinweisen).

Stephen Orgel (Hrsg.): Patronage in the Renaissance. Princeton

Zit. n. Krüger 2002, S. 416; dazu zuletzt Johannes Grave: Gio-

1981, S. 293–343; Horst W. Janson: The Birth of »Artistic Licence«:

vanni Bellini. Venedig und die Kunst des Betrachtens. Mün-

The Dissatisfied Patron in the Early Renaissance. In: Ebda., S. 344–353.

chen/London/New York 2018, S. 182–185. Bellinis Erklärung, er pflege in seinen Gemälden umherzuschweifen, verdeutlicht,

25

Tönnesmann 2002, S. 103.

dass der Künstler natürlich immer auch Beobachter seines

26

»Künstler und Betrachter sind nur als Beobachter an der Kom-

Werks ist, so wie der Autor auch sein eigener Leser. Wie Richard

munikation beteiligt, und die Abstraktion des auf Unterschei-

Wollheim dargelegt hat, konzipiert der Bildmacher das Bild als

den und Bezeichnen bezogenen, Handeln und Erleben über-

Betrachter, um ein bestimmtes Rezeptionsergebnis zu erreichen

greifenden Beobachtungsbegriff macht es möglich, diese

(Richard Wollheim: Painting as an Art. New Haven 1986, S. 43–

Gleichheit der Beteiligung an Kommunikation zu formulieren.«

100). In der mit dem »vagare« angesprochenen temporären

(Luhmann 1995, S. 129.)

Struktur klingt auch an, dass das Werk durch ein fortschreiten-

168

Siehe Donat de Chapeaurouge: Die Anfänge der freien Gegen-

27

Siehe Castiglione: Libro del Cortegiano, I, 45–49; Kemp 1979;

des Procedere von Festlegungen entsteht (vgl. Luhmann 1995,

Wanda Seiler: Zeichenausbildung für Dilettanten: Die ästheti-

S. 48ff.). Zum schweifenden Blick des Betrachters siehe auch

sche Kunsterziehung des höfischen und bürgerlichen Laien. In:

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Mit dem studiolo der Isabella d’Este sollte bald dasjenige ihres Bruders Alfonsos I., des Herzogs von Ferrara, Modena und Reggio, konkurrieren. In seinen Privatgemächern im Castello Estense, die später Camerini d’alabastro genannt wurden, bewahrte er die kostbarsten Stücke seiner Kunstsammlungen.28 Das Balkonzimmer (Camera del poggiolo), auch Camerino delle pitture genannt, nutzte er als studiolo. Dem Mantuaner Vorbild folgend, sollte dieses ebenfalls Werke mehrerer führender italienischer Meister vereinen, die in diesem Fall bacchantische Themen darzustellen hatten. Das früheste Gemälde für diesen Raum war das auf 1514 datierte Festmahl der Götter von Giovanni Bellini (Washington, National Gallery), dessen schlichter Hintergrund zunächst um 1519 von Dosso Dossi und 1529 ein weiteres Mal von Tizian übermalt wurde.29 Zuvor hatte Tizian bereits zwischen 1518 und 1524 mit dem Venusfest (Madrid, Prado), Bacchus und Ariadne auf Naxos (London, Nat. Gall.) und dem Gelage der Andrier (Madrid, Prado) drei auf Ekphrasen Philostrats (Eikones, I, 25 u. I, 6) und Catulls (Carmina, 64) zurückgehende Gemälde ausgeführt. Alfonso d’Este bewahrte in seinem studiolo, zu dem Garofalo und die beiden ferraresischen Hofmaler Pellegrino di San Daniele und Dosso Dossi noch weitere Werke beisteuerten, die italienische Philostrat-Übersetzung, die Demetrius Moschus für seine Schwester Isabella besorgt hatte. Mit deren Hilfe konnte man den vom Künstler vollzogenen Medien-

Zeichenunterricht. Von der Künstlerausbildung zur ästheti-

28 29

30

transfer und seine dabei vorgenommenen Entscheidungen an den hier versammelten Re-Visualisierungen sprachlich vermittelter Bilder mythischer Erzählungen überprüfen und im Rahmen der gelehrten höfischen Konversation den Paragone von Dichtung und Malerei thematisieren.30 1492 hatte Leonardo da Vinci am Mailänder Hof der Sforza »die ausführlichste Zusammenstellung der Paragone-Diskussionen« niedergeschrieben31 und dabei zwischen den arbiträren Zeichen und der linearen Struktur der Sprache und den analogen Zeichen und ihrer simultanen Präsenz im Gemälde differenziert. Er nannte die Dichtung polemisch eine »blinde Malerei« (orba pittura), da sie die im Gemälde in »lunga permanenzia« erscheinende sinnlich-harmonische Totalpräsenz des menschlichen Körpers nur stückweise beschreiben könne, den einen Teil erst, wenn der andere schon gestorben sei.32 Der Paragone, dem Benedetto Varchi eine seiner 1550 publizierten Due Lezzioni widmete, die er als Mitglied der Accademia Fiorentina im März 1547 in der Sala del Papa des Konvents von Santa Maria Novella vorgetragen hatte,33 war weiterhin ein kontrovers diskutiertes Leitthema der Konversation. Durch Schriften, wie den Cortegiano Castigliones, Gerolamo Cardanos Bestseller De subtilitate (Nürnberg 1550) und Raffaele Borghinis Il Riposo, wurde diese Thematik im späten 16. Jahrhundert einer zunehmend breiten Leserschaft und auch Laien nahegebracht.34

32

rati a cura di Ettore Camesasca, Mailand 1995, S. 12 u. 23f. Dort

ETH Zürich u. Michael Matile, Ausst.-Kat., Graphische Samm-

fragt König Matthias von Ungarn, der zu Recht einem Bildnis

lung ETH Zürich, Petersberg 2017, S. 111–127.

seiner Geliebten den Vorrang vor einer panegyrischen Dichtung

Siehe Charles Hope (Hrsg.): Il regno e l’arte: i camerini di Al-

gegeben habe, den Dichter: »Non vedi che nella tua scienza non

fonso I d’Este terzo duca di Ferrara. Florenz 2012.

è proporzionalità creata in istante, anzi, l’una parte nasce dall’al-

Zu diesem Werk und den Ambivalenzen, mit denen es den Be-

tra successivamente, e non nasce la succedente se l’antecen-

trachter beschäftigt, siehe Grave 2018, S. 252–256; zur »spieleri-

dente non muore?« (Ebda., S. 23f.) Den Vorrang der Malerei vor

sche[n] Unbestimmtheit« der späten Jungen Frau bei der Toilette

der Dichtkunst wird um 1548 auch Francisco de Holanda postu-

(1515) ebda., S. 258–263.

lieren. Siehe Held 2016, S. 111ff.

Siehe Valeska von Rosen: »Diletto dei sensi« und »diletto dell’in-

33

telletto«. Bellinis und Tizians »Bacchanalien« für Alfonso d’Este 112. Pfisterer 2017, S. 290.

S tudioli und ihre H istorien

Siehe Benedetto Varchi: Paragone – Rangstreit der Künste. Ital. u. dt. hrsg. v. Oskar Bätschmann und Tristan Weddigen, Darm-

in ihrem Rezeptionskontext. In: Städel-Jahrbuch, 18, 2001, S. 81– 31

Leonardo [da Vinci]: Trattato della pittura. Introduzione e appa-

schen Erziehung seit 1500. Hrsg. v. d. Graphischen Sammlung

stadt 2013. 34

Pfisterer 2017, S. 286; zur Erörterung des Paragone im Riposo, in dem, nachdem schon Aretino 1553 die Sinnlosigkeit dieser De-

169

Bilderrätsel, hermetische Werke und Vexierbilder

Im Verlauf der Renaissance war der Künstler zu einem umworbenen Repräsentanten kultureller Standards aufgestiegen und zu seinen Aufgaben bei Hofe gehörte, wie es z. B. von Andrea Mantegna bezeugt ist, das Gespräch mit Personen von Rang über die Künste und die Antike. So bat Kardinal Francesco Gonzaga seinen Vater, den Herzog von Mantua, in einem Brief vom 18. Juli 1472, ihm für die Tage seines Kuraufenthaltes Mantegna und den Musiker Malgise nach Bologna zu senden. Es würde ihn vergnügen, mit Mantegna über einige seiner Kameen, Kleinbronzen und andere Antiken zu sprechen.35 Wie der Künstler mussten sich in der ständisch geordneten Gesellschaft auch seine Werke durch Adel, Distinguiertheit, Geist und Witz auszeichnen. Dass vom Hofkünstler auch Beiträge zur Geselligkeit erwartet wurden, zeigen die Bilderrätsel (Abb. 77), Allegorien, Devisen, als Prophezeiungen formulierten Rätsel, Aphorismen und Bonmots, die Leonardo zur Belustigung vor allem des Mailänder Hofes ersonnen hat.36 Auch seine sogenannten ›grotesken Köpfe‹ dienten diesem Zweck – wir werden darauf zurückkommen. Den heiteren, spielerischen Umgang mit Kunstwerken förderten die Künstler auch mit Groteskenmalereien, die vor allem dem otium dienende Räume schmückten und in denen auch tabuisierte Themen behandelt wer-

batte betont hatte (ebda., S. 292), ein Überdruss an dieser The-

den konnten (Abb. 78). Als widersinniges Phantasieprodukt führte diese antiklassische »pittura licenziosa e ridicula« (Vasari) den Prozess der Gestaltbildung als Spiel von Einfall und Zufall anschaulich vor Augen.37 Neurobiologen wie Semir Zeki betonen, dass ein »unvollendetes oder mit […] Mehrdeutigkeit behaftetes Kunstwerk das Gehirn intensiver beschäftigt als ein vollendetes«.38 Das Vergnügen der Betrachter steigt mit den Anforderungen, die das Kunstwerk an sie stellt, vorausgesetzt ihre Rezeptionskompetenz zeigt sich diesen gewachsen. Mit Blick darauf hat Paolo Giovio in seinem Dialogo dell’imprese militari et amorose von 1555 verlangt, Impresen sollten so ausfallen, dass ein scharfer, einfallsreicher Geist sie verstehen könne; ihre Auflösung sollte nicht einer Sybille bedürfen, doch sie dürften auch nicht so klar sein, dass jeder Plebejer sie verstehen könne (»tanto chiare, ch’ogni plebeo l’intenda«).39 Schon 1548 hatte Paolo Pino in seinem Dialogo di pittura dem Maler empfohlen, in jedes seiner Werke mindestens eine mehrdeutige, schwer zu verstehende Figur einzuführen, um so den Zuspruch der Kenner zu gewinnen.40 Wie Bernardo Tasso in seiner Romanze L’Amadigi (1542–60), verlangte auch Lodovico Dolce in seiner Schrift Eleganze von 1564 nach einer distinguierten, artifiziellen Kunst und in seinem 1565 erschienenen Dialogo nel quale si ragiona della qualità, diversità e proprietà dei colori erörterte er die Polyvalenz und Bedeutungsvariabilität der Farben und mit ihr die vag­

37

torik des kairos« oder »›plasmatischen‹ Rhetorik« der Grotes-

matik bekundet wird, siehe Frangenberg 1990, S. 81f. 35

Paul Kristeller: Andrea Mantegna. Berlin 1902, S. 427.

36

Siehe Daniel Arasse: Leonardo da Vinci. Köln 2002, S. 288ff.; Le-

kenmalerei (ebda., S. 214f.). 38

Semir Zeki: Dante, Michelangelo und Wagner – Das Gehirn als

onardo da Vinci: Die Aphorismen, Rätsel und Prophezeiungen.

Konstrukteur genialer Kunstwerke. In: Christa Maar/Hubert

Ausgewählt u. übers. v. Marianne Schneider, München 2003. Va-

Bruda (Hrsg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Köln

sari berichtet, Leonardos Unterhaltung sei so angenehm gewe-

2004, S. 94. Luhmann 1995, S. 141f. betont, dass die Beobachtung zweiter Ordnung das Werk »interessant« macht.

sen, dass er alle Menschen anzog: «Era tanto piacevole nella conversazione che tirava a sé gl’animi delle genti«. (Vasari 1966–

39

97, IV, S. 18.) Mit literarischen Rätseln und Spielen hat auch Pietro Bembo den Hof von Urbino unterhalten, siehe Thomas Fre-

170

Schröder 2003. Der Autor spricht von der antiklassischen »Rhe-

Paolo Giovio: Dialogo dell’imprese militari et amorose. Lyon 1574, S. 12.

2

40

»[…] et in tutte l’opere vostre fateli intervenire almeno una figura

derick Crane: Italian Social Customs of the Sixteenth Century

tutta sforciata, misteriosa e difficile, acciò che per quella voi

and their Influence on the Literatures of Europe. New York 1971,

siate notato valente da chi intende la perfezzion dell’arte.«

S. 292ff.

(Paolo Pino: Dialogo di pittura. In: Barocchi 1960, S. 115.)

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Abb. 77  Leonardo da Vinci:

Bilderrätsel, um 1487–1490,

Windsor Castle, Royal Library (RL 12692v)

ghezza des Kunstwerks.41 Schon im Jahr zuvor, 1553, hatte Pietro Lauro in einem Brief »ausdrücklich den Reiz von interpretatorisch divergierenden Rezeptionsmöglichkeiten ein und desselben Werks durch verschiedene Betrachter betont«42 und davon gesprochen, dass »ein zur Schau gestelltes Gemälde ganz unterschiedliche Wirkungen erzeugt (fa diversi effetti), dergestalt dass es für den einen heiter und amüsant er-

41

Siehe Krüger 2002, S. 414f.

42

Ebda., S. 414.

B i ld errät sel, h er me ti s ch e Werke u nd V e xierbi lde r

Abb. 78  Alessandro Allori: Groteske, 1581, Florenz, Uffizien, Corridore o­ rientale

171

Franziskus, Johannes dem Täufer, Hiob und Domenicus, Sebastian und Ludwig von Toulouse (Pala di San Giobbe), um 1487, Venedig, Galleria dell’Accademia

scheint, für den anderen jedoch weniger heiter, ja gedankenschwer.«43 Den von diesen Autoren formulierten Erwartungen nach hintergründigen, rätselhaften und mehrdeutigen Werken entsprachen alle großen Ensembles des Manierismus: die Villa Madama in Rom, der Palazzo del Te in Mantua, die Galerie Franz’ I. in Fontainebleau, die Kunstkammer Rudolfs II. in Prag,44 die Villa d’Este in ­Tivoli, der Wald von Bomarzo bei Viterbo usw. Sie alle zeichnen sich durch ihre ingeniösen Bildprogramme aus, die nach einer geselligen Rezeption verlangten, welche ihre tieferen Weisheiten entbarg, und in solchem Vollzug ihren Zweck erfüllten. Sie dienten der Entfaltung einer Geselligkeit, mit der sich die höfische Gesellschaft des 16. Jahrhunderts als exklusive Domäne der Bildung und Muße konstituierte. Der Palazzo del Te, in dem Giulio Romano in der Architektur des Innenhofes ein selbstreflexives Spiel mit den Leitdifferenzen Materie/Form, Natur/Kunst und Ordnung/Unordnung getrieben und in den Fresken seine über alle Stilhaltungen von lieblicher grazia über einen strengen Klassizismus bis hin zur terribilità der Sala dei Giganti45 verfügende universalità demonstriert hat, diente, da er nie bewohnt wurde, sogar ausschließlich der Funktion eines begehbaren Bild- und Gesprächsprogramms. In Hinblick auf die entsprechenden Originalitätserwartungen kam, wie Luhmann betont, dem Buchdruck eine fundamentale Bedeutung zu. Denn mit ihm wurde die Konversation über die Künste selektiv konserviert und, wie auch die Kunstwerke durch Nachstiche, einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.46 Die schriftliche Überlieferung fördert die Ausbildung ästhetischer

43

45

Abb. 79  Giovanni Bellini: Thronende Madonna mit Kind und den Heiligen

44

»[…] che una pittura posta in mostra fa diversi effetti, dimostran-

Hierzu zuletzt Hana Gründler: Orrore, terrore, timore. Vasari

dosi ad uno lieta e ridente, a l’altro men lieta e pensosa.« (De

und das Erhabene. In: Caroline van Eck/Stijn Bussels/Maarten

lettere di M. Pietro Lauro Modenese. Il primo libro. Venedig

Delbeke/Jürgen Pieters (Hrsg.): Translations of the Sublime.

1553, S. 119, hier zit. n. Krüger 2002, S. 414. Siehe hierzu auch Pfis-

The Early Modern Reception and Dissemination of Longinus’

terer 2012, der zwischen sieben Formen visueller Ambiguität

Peri Hupsous in Rhetoric, the Visual Arts, Architecture and the

und Vagheit unterscheidet.)

Theatre. Leiden/Boston 2012, S. 83–116; Tauber 2016; Wolfgang Brassat: Das Erhabene. In: Brassat 2017, S. 610ff.

Siehe Bodo Brinkmann: A Setting for Discussion: The Kunstkammer. In: Ders.: Hexenlust und Sündenfall: Die seltsamen

46

Luhmann 1986, S. 631.

Phantasien des Hans Baldung Grien, mit einem Essay von Berthold Hinz. Ausst.-Kat. Frankfurt/M., Städel-Museum, Petersberg 2007, S. 36–49.

172

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Abb. 80  Giovanni Bellini: Allegoria sacra, 1490er Jahre, Florenz, Uffizien

Konventionen, von Systematisierungen und Kanonisierungen »bis hin zu einer geradezu kultischen Verehrung großer Namen und wichtiger Begriffe«,47 die ihrerseits im Wettbewerb der Künstler und der Auftraggeber neue Distinktionskriterien erforderlich machen. Diesen Effekt hat Salvatore Settis eingehend in seiner 1978 erschienenen Studie über Giorgiones ›Gewitter‹. Auftraggeber und verborgenes Sujet eines Bildes in der Renaissance erörtert.48 Er konnte evident machen, dass die obskuren, enigmatischen Werke Giorgiones der ars conversationis und den Seherwartungen kultivierter Liebhaber entgegenkamen, die für ihre private Andacht

und ihre Sammlungen nach Werken verlangten, die sich von der gängigen Ikonographie der Werke in den Kirchen und im öffentlichen Raum unterscheiden sollten. Diese Dichotomie zeigt beispielhaft der Vergleich von Giovanni Bellinis Altarbild für San Giobbe (Abb. 79) und seiner Allegoria sacra (Abb. 80),49 die ein nahezu identisches Bildpersonal aufweisen und dennoch hinsichtlich ihrer Verständlichkeit unterschiedlicher nicht sein könnten. Nicht die geringsten Probleme bereitet die Deutung des Altarbildes, während das private Andachts- bzw. Sammlerbild bis heute rätselhaft erscheint.50

47 Ebda.

(Hrsg.): Giorgione. Mythos und Enigma. Ausst.-Kat. Wien,

48

Settis 1982, passim, bes. S. 160ff. Zur Tempesta siehe weiter Hans

Kunsthistorisches Museum, Mailand 2004, S. 85–103; Rainer

Belting: Exil in Arkadien. Giorgiones Tempestà in neuerer Sicht.

Metzger: Alltag und Allegorie. Ein Versuch, Giorgiones Gewitter

In: Reinhard Brandt (Hrsg.): Meisterwerke der Malerei. Leipzig

zu verstehen. In: Ebda., S. 111–117; Jürgen Rapp: Die »Favola« in Giorgiones Gewitter. In: Ebda., S. 119–123.

2001, S. 45–68 und Bernard Aikema: Giorgione und seine Verbindung zum Norden. Neue Interpretationen zur Vecchia und

49

Zu beiden Werken unlängst Grave 2018, S. 150–155 u. 14–27.

zur Tempesta. In: Sylvia Ferino-Pagden/Giovanna Nepi Scirè

50

Siehe Settis 1982, S. 164f. Zur Allegoria sacra siehe Krüger 2002,

B i ld errät sel, h er me ti s ch e Werke u nd V e xierbi lde r

173

Abb. 81 Giorgione: La Tempesta, um 1508, Venedig, Galleria dell’

Accademia

Besonders in Venedig, wo dem aristokratischen Patronatswesen eine geringere und der Marktproduktion größere Bedeutung zukam als in anderen italienischen Metropolen,51 kam es im frühen 16. Jahrhundert zu einem Aufschwung von verschlüsselten Darstellungen,

bei denen vielfach schon die Identifikation des Themas Schwierigkeiten bereitet, und die so der geistvollen Konversation Nahrung gaben. Darüber gibt u. a. eine Passage in Anton Francesco Donis Dichtung I marmi (Venedig 1552) Auskunft, dem ersten Kunsttraktat, in

S. 419ff., zu dem von Giovanni Bellini in seinen Werken ange-

malerei Tintorettos, die auch dadurch forciert wurde, dass die

strebten Rezeptionsverhalten Johannes Grave: Landschaften

Entscheidungsträger der in Venedig so wichtigen Bruderschaf-

der Meditation. Giovanni Bellinis Assoziationsräume. Freiburg

ten (scuole) zumeist nur ein Jahr lang amtierten und daher an

2004.

einer schnellen Ausführung ihrer Aufträge interessiert sein

Der Druck der Konkurrenz zeigt sich z. B. in der enormen Pro-

mussten. (Roland Krischel: Jacopo Tintorettos »Sklavenwun-

duktivität und der schon von Zeitgenossen kritisierten Schnell-

der«. München 1990, S. 142f.; Brassat 2003, S. 197ff.) Dasselbe

51

174

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

dem das Laienurteil Gewicht erhält und ausführlich zu Worte kommt.52 Sein Handlungsort ist ein Treffpunkt der Virtuosen der Stadt, der Palast Gabriele Vendramins, in dem Giorgiones Tempesta (Abb. 81) im Jahre 1530 nachgewiesen ist. In dem einleitenden Lobeshymnus preist der Autor Vendramins Sammlung als Zeichen seiner Tugenden und berichtet sodann von einer Besichtigung der mit Kosten, Mühen und Geschmack gesammelten Reichtümer.

Sammlers Andrea Odoni von 1527 (Abb. 51), ein Werk, das wie weitere venezianische Gemälde vor allem der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts fingierte Skulptur vor Augen führt und somit den Wettstreit der Künste thematisiert: »Der Humanist agiert bei Lotto als ein Demiurg, der die Gegenstände seiner Sammlung zum Sprechen bringt. Dieser Effekt lässt sich besonders an dem Kopf Hadrians – dem einzigen im Inventar von Od-

»Und unter anderem zeigte er mir einen Löwen mit

donis Kunstbesitz identifizierbaren Stück – beob-

einem Cupido darauf, und hier sprachen wir lange

achten, der sich unter der Tischplatte hervorzuhe-

von dem schönen Einfall (bella inventione), und

ben scheint.«55

schließlich lobte man daran, daß die Liebe jede große Wildheit und Schrecklichkeit von Personen bezwingt«.53 »Der große Sammler«, so erläutert Settis, »delektiert sich an seinen Marmorstatuen und Gemälden stets auf neue und auf immer raffiniertere Weise durch gelehrte Gespräche über die wahre Bedeutung der ›einfallsreichen‹ Darstellungen. Bei diesem ›Treffpunkt der Virtuosen‹ ist das ›Kunstwerk‹ nicht nur Gegenstand kontemplativer Betrachtung: seinen Sinn zu interpretieren ist wesentlicher Teil des Vergnügens, es zu besitzen.«54

Dass solche Gespräche insbesondere dem Besitzer der Sammlung Gelegenheit für eindrucksvolle rhetorische Auftritte boten, zeigt Lorenzo Lottos Porträt des

Das Verhaltensmuster der geselligen Rezeption erlebte im 16. Jahrhundert eine gewaltige Expansion, es entfaltete sich in den Kunstsammlungen, der Villen-, Garten- und Festkultur und drang in höchste Sphären der herrscherlichen Repräsentation und auch in manchen Kirchenraum ein. Palma il Vecchio stellte 1520 in seinem Gemälde Zwei ruhende Nymphen (Jupiter und Kallisto) (Abb. 82) die beiden Figuren so dar, dass man sich fragen muss, welche von ihnen die Nymphe ist und welche der sie begehrende Gott, der sich ihr in Gestalt der Diana näherte.56 Dabei behandelte er den Stoff als »erotische Satire«, indem er den Adler Jupiters durch einen Erpel ersetzte, ein Tier, das für sein aggressives Balzverhalten bekannt ist.57 Die Krux dieses Gemäldes besteht in der Eliminierung von Hinweisen und Merk-

Phänomen lässt sich auch an der literarischen Produktion in

54

Ebda., S. 172f.

Venedig feststellen, wo zahlreiche Autoren ohne mäzenatische

55

Michael Thimann: Fece senza ritarlo l’imagine sua. Mimesis, ca-

Förderung auskommen, also von den Erträgen ihrer Schriften

priccio und invenzione in Parmigianinos Porträts. In: Alessandro

leben mussten und daher zu »Vielschreibern« (poligrafi) wur-

Nova (Hrsg.): Parmigianino. Zitat, Porträt, Mythos. Perugia 2006, S. 69.

den. (Siehe Claudia Di Filippo Bareggi: Il mestiere de scrivere. Lavoro intellettuale e mercato librario a Venezia nel cinque52

Ovid: Metamorphosen, II, 409–440. Zu dem Gemälde siehe Set-

cento. Rom 1988.)

tis 1982, S. 160f.; Jochen Sander: Italienische Gemälde im Städel,

Vgl. Gabriele Wimböck: Unschuldige Blicke. Skizzen zur Kunst-

1300–1550. Oberitalien, die Marken und Rom (Kataloge der Ge-

betrachtung des ›Laien‹ in der Frühen Neuzeit. In: Stephan Al­

mälde im Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt am Main, Bd. 7).

brecht/Michaela Braesel u. a. (Hrsg.): Kunst, Geschichte, Wahr-

Mainz 2004, S. 205–216.

nehmung. Strukturen und Mechanismen von Wahrnehmungsstrategien. München/Berlin 2008, S. 281–293. 53

56

57

Jürgen Rapp: Die »Favola« in Giorgiones »Gewitter«. In: Pantheon, 56, 1998, S. 46.

Settis 1982, S. 172.

B i ld errät sel, h er me ti s ch e Werke u nd V e xierbi lde r

175

Abb. 82  Palma il Vecchio:

Zwei ruhende Nymphen (Jupiter und ­Kallisto), frühe 1510er Jahre, Frankfurt/M., Städel Museum

Abb. 83  Peter Paul Rubens:

Jupiter und Kallisto, 1613, Kassel,

­Gemäldegalerie Schloss Wilhelmshöhe

malen, die eine problemlose Identifikation der Figuren erlaubten. Haben die Betrachter die knifflige Aufgabe gelöst, das Sujet zu identifizieren, so lässt sich weiterhin trefflich über die Frage streiten, bei welcher der beiden Figuren es sich um den männlichen Akteur der Handlung handelt. Die Platzierung des Erpels vor der linken,

176

älter wirkenden Gestalt legt nahe, in ihr Jupiter in Gestalt der Diana zu vermuten, doch da der Vogel in der verlängerten Achse des angewinkelten Beins der rechten Figur, die dem Betrachter einen verstohlenen Blick zuwirft, angeordnet und wie ihr Körper nach links ausgerichtet ist, erscheint er auch auf diese bezogen.

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Abb. 84  Dosso Dossi: Büßender Hieronymus, frühe 1520er Jahre, Wien,

Abb. 85  Dosso Dossi: Büßender Hieronymus, Detail

Nimmt man zum Vergleich Peter Paul Rubens’ Gemälde Jupiter und Kallisto (Abb. 83), so wird schlagend deutlich, mit welcher Raffinesse Palma die Ambiguität seiner Darstellung erzeugt hat. Dosso Dossi, der Hofmaler des Alfonso d’Este in Ferrara, der sein ingenium oft in rätselhaften Werken mit ungewöhnlichen Themen zur Schau stellte, hatte keine Hemmungen, in einem Gemälde des Büßenden Hieronymus (Abb. 84) seinen Vornamen in Form eines Rebus zu verewigen: einen Knochen (osso) inmitten des großen Buchstabens ›D‹ (Abb. 85). Dass man den intellektuellen Freuden der hier geforderten scharfsinnigen Spekulation auch in Sakralräumen nachging, belegen die Intarsien im Chorgestühl der Kirche Santa Maria Maggiore in Bergamo (Abb. 86), mit deren Entwürfen der dort ansässige Consorzio della misericordia im März 1524 den Maler Lorenzo Lotto beauftragte.58 Nach seinen Zeichnungen führten renommierte Kunsthandwerker zwölf Darstellungen alttestamentlicher Historien sowie dazugehörige Deckplatten (coperti) mit Bilderrätseln aus (Abb. 87), deren Motive und Motti auf die

Szenen verweisen, die sie bedecken (Abb. 88). Die Chorherren der Kirche waren somit aufgefordert, die Bilderrätsel zu lösen, gleichsam Durchblick zu beweisen und das Geheimnis zu lüften, bevor sie die coperti anhoben, hinter sie blickten und die Lösung vor Augen hatten. Das den Verrat Dalilas repräsentierende Enigma (Abb. 87) zählt zu den vergleichsweise einfachen der hier gestellten Aufgaben. Das an einer Schnur aufgehängte Haar und die Schere verweisen auf den geschorenen Samson. Die Zisterne, hinter der dieser versteckt ist, bezieht sich auf die biblische Warnung vor Ehebrecherinnen: »Trinke Wasser aus deiner Zisterne und frischen Trunk aus dem eigenen Brunnen […] Dein Brunnquell sei gesegnet und freue Dich des Weibes deiner Jugend.«59 Lorenzo Lotto hatte bei diesem Projekt Konflikte mit den Intarsienkünstlern, seinen Auftraggebern und ihrem theologischen Berater, Fra Girolamo Terzi, auszustehen. Dabei hat er zu bedenken gegeben, dass diese Bilderrätsel Produkte seiner Vorstellungskraft (imaginazione) seien60 und dass solche Erfindungen

58

59

Kunsthistorisches Museum

Zu diesen siehe Francesca Cortesi Bosco: Il coro intarsiato di Lotto e Capoferri per Santa Maria Maggiore in Bergamo. 2 Bde. Bergamo 1987; Jacques Bonnet: Lorenzo Lotto. Paris 1996,

Sprüche 5, 15–23; Norbert Huse/Wolfgang Wolters: Venedig. Die Kunst der Renaissance. 2. Auflage, München 1996, S. 252.

60

Lotto schrieb: »[…] circha li disegni de li coperti, sapiate che son

S. 121ff.; Peter Humfrey: Lorenzo Lotto. New Haven/London

cose che non essendo scritte, bisogna che la imaginatione le

1997, S. 89ff.; Mauro Zanchi: Bilder der Bibel von Lorenzo Lotto.

porti a luce«. (Lorenzo Lotto: Il ›Libro di spese diverse‹ con aggi-

Das Intarsienwerk der Ikonostase in der Basilika zu Bergamo.

unta di lettere ed altri documenti. Hrsg. v. Pietro Zampetti, Ve-

Bergamo 2006.

nedig/Rom 1969, S. 286.)

B i ld errät sel, h er me ti s ch e Werke u nd V e xierbi lde r

177

Abb. 86  Intarsien im Chorgestühl

der Kirche Santa Maria Maggiore in Bergamo

Geduld erforderten. Dem Konsortium, das neue Entwürfe anmahnte, teilte er im März 1529 mit: »Wenn mir eine ›fantasia‹ in den Kopf kommt, werde ich es tun; ich glaube aber, daß es mich hart ankommen wird, weil mein Geist von verschiedenen und fremdartigen Störungen aufgewühlt wird.«61

Der hier zugrundeliegende Begriff der Erkenntnis und der inventio war der einer Art Empfängnis: In Fortsetzung alter Traditionen meinte man weiterhin auf Zeichen und Ähnlichkeiten zu stoßen, wozu es nach zeitgenössischer Auffassung einer besonderen Schulung und Aktivität der Seele bedarf.62 Das künstlerische Selbstbewusstsein fußte weiterhin auf dem Anspruch, Erträge metaphysischer Erkenntnis zu visualisieren, die

61

Zit. n. Huse/Wolters 1996, S. 252.

der Geist. In: Ders.: Gestalt und Gedanke. Zur Kunst und Theo-

62

Vgl. Robert Klein: ›Spirito Peregrino‹. Der Gedanke als pilgern-

rie der Renaissance. Berlin 1996, S. 15–49.

178

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Abb. 87  Intarsienkünstler nach Lorenzo Lotto: Bilderrätsel, Bergamo, S. Maria Maggiore (coperto von Abb. 88)

hier freilich nicht mehr mit tiefem Ernst, sondern über spielerische Gebrauchsweisen vermittelt wurden. Eine solche spannungsvolle Verbindung von tiefgründiger Inhaltlichkeit und Erheiterung charakterisiert auch die Kompositköpfe Giuseppe Arcimboldos, der in ihnen präzise Naturbeobachtung mit panegyrischen, kosmologischen und theologischen Inhalten verknüpft hat. Der aus einer vornehmen Mailänder Familie stammende kaiserliche Hofmaler, der in Vergessenheit geraten war, bis die Surrealisten ihn zu ihrem Ahnen erhoben, war in Wien und Prag als Universalkünstler und Festarrangeur tätig.63 Sein Freund, der Jesuiten-Pater Paolo Marigia schrieb in seiner 1592 erschienenen Historia dell’Antichità di Milano: »So lebte also unser Arcimboldo am kaiserlichen Hofe mit ehrenvollster Genugtuung, nicht nur für

63

Abb. 88  Intarsienkünstler nach Lorenzo Lotto: Dalilas Verrat, Bergamo, S. Maria Maggiore

ihn [Ferdinand], sondern auch für den ganzen Hof, nicht allein in der Malerei, sondern auch sonst in vielen anderen Erfindungen, als deren sind Turniere, Drechseleien, Spiele, Hochzeitsgeräte und Krönungen und vorzüglich, als Erzherzog Karl von Österreich eine Frau nahm. Dieser edle Geist machte für diese Feste eine große Anzahl verschiedener kunstreicher Erfindungen, die alle diese großen Fürsten, welche sich da zusammenfanden, allenthalben in Erstaunen versetzten, womit sein Herr und Gebieter sehr zufrieden war.«64

In seinen berühmten Vexierbildern (Arcimboldes­ ken) hat der Künstler detailliert geschilderte Bestandteile der Flora und Fauna zu Erscheinungen mensch­ licher Physiognomien vereint. Wie schon in früheren Jahreszeitenzyklen repräsentierte er z. B. 1573 in der für

Siehe Sylvia Ferino-Pagden (Hrsg.): Arcimboldo 1526–1593.

Arcimboldos Ruf, ein ›neuer Leonardo‹ zu sein, siehe ebda.,

Ausst.-Kat. Wien, Kunsthistorisches Museum, Mailand 2008;

S. 30ff.

Thomas DaCosta Kaufmann: Arcimboldo. Visual Jokes, Natural History, and Still-Life Painting. Chicago/London 2009. Zu

B i ld errät sel, h er me ti s ch e Werke u nd V e xierbi lde r

64

Zit. n. Norbert Wolf: Giuseppe Arcimboldo. Wunderliche Gesichter. München [u. a.] 2008, S. 20f.

179

Abb. 89  Giusepe Arcimboldo:

Der Winter, 1573, Paris, Musée

du Louvre

Kurfürst August von Sachsen bestimmten, heute im Louvre befindlichen Folge den Frühling als jugendliche Gestalt, die aus saisonalen Kräuterpflanzen und Blumen zusammengesetzt ist. Den Sommer bildete er aus Getreide, Obst und Gemüse – Ähren repräsentieren die Augenbrauen, eine Gurke die Nase und eine geöffnete Erbsenschote den Mund –, den Herbst aus Weintrauben, Pilzen etc., den als älteren Mann charakterisierten Winter

65

180

(Abb. 89) aus knochigen Ästen, Wurzeln und immergrünem Efeu.65 Dieses Verfahren wandte er in zahlreichen weiteren Werken an, darunter Zyklen der Elemente, in denen z. B. die Personifikation der Luft aus Vögeln und die des Wassers aus Fischen zusammengesetzt ist. Roland Barthes hat dargelegt, dass Arcimboldo sich in diesen Werken des rhetorischen »Laboratium[s] der Tropen« bedient hat:

Siehe Ausstellungskatalog Wien 2008, S. 134–140 (Kat.-Nr. IV.8–11).

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Abb. 90  Giusepe Arcimboldo:

Kaiser Rudolf II. als Vertumnus, ca. 1590, Balsta, Schloss Skokloster, Schweden

»Eine Muschel«, so schrieb er, »gilt als Ohr, das ist

eine Allusion. Den Fisch zu wiederholen, um hier

eine Metapher. Eine Anhäufung von Fischen für

eine Nase, dort einen Mund zu erzeugen, das ist

das Wasser, worin sie leben, das ist eine Metony-

eine Antanaklase (ich wiederhole ein Wort, [wobei]

mie. Das Feuer wird zu einem flammenden Kopf,

ich den Sinn wechsle). […] Eine Sache durch eine

das ist eine Allegorie. Die Früchte, die Pfirsiche, die

andere gleicher Form zu evozieren (eine Nase

Birnen, die Kirschen, die Erdbeeren, die Ähren auf-

durch den Rücken eines Kaninchens), das ergibt

zuzählen, um den Sommer zu vernehmen, das ist

eine Annomination der Bilder, etc.«66

Roland Barthes: Arcimboldo ou Rhétoriqueur et Magicien. In:

S. 858f., hier zit. n. der Übers. v. Roland Kanz: Die Kunst des Ca­

Ders.: Œuvres complètes, Bd. III, hrsg. v. Éric Marty, Paris 1995,

priccio. Kreativer Eigensinn in Renaissance und Barock. Mün-

B i ld errät sel, h er me ti s ch e Werke u nd V e xierbi lde r

181

66

Das Vergnügen, das diese Gemälde bereiten, besteht in dem auch Laien möglichen Erkennen ihres anhaltenden Oszillierens zwischen Täuschung und Enttäuschung, der intellektuelle Genuss, den sie hervorzurufen vermögen, zum großen Teil auf dem Erkennen ihrer verschiedenen rhetorischen Mittel. »Kennzeichnend ist«, wie Roland Kanz ausführt, »daß die Lenkung der Erkenntnis bereits auf vorsprachlicher Ebene über das Auge funktioniert, denn selbst ungebildeten Betrachtern ist es möglich, von den Früchten auf eine Jahreszeit und aus den Formanalogien auf eine anthropomorphe Gestalt zu schließen. Ein rhetorisch-kunsttheoretisch gerüsteter Betrachter, besser noch eine Gruppe, kann hingegen geradezu eine Kettenreaktion intellektueller Gedankenspiele in Gang setzen.«67

Eine weitere Trope, die Ironie,68 charakterisiert insbesondere jene Kompositköpfe, die namhafte Persönlichkeiten so wiedergeben, dass diese problemlos zu erkennen waren. Das bekannteste von ihnen ist das Porträt Kaiser Rudolfs II. als Vertumnus (Abb. 90), in dem der Gott der Jahreszeiten und der Vegetation aus Blumen, Früchten und Gemüsen gebildet ist, die alle blühen bzw. reif sind. Nach Ovids Metamorphosen (XIV, 623–771) näherte sich Vertumnus der Männer verschmähenden Pomona in verschiedenen Gestalten, schließlich erfolgreich in der einer alten Frau. Arcimboldo hat in diesem Gemälde mehrere Motive in beibehaltener Reihenfolge und das Darstellungsprinzip,

dass jede Form umschlägt in das Detail eines anderen Ganzen, aus einer Elegie des römischen Dichters Properz übernommen, die von Vincenzo Cartari ins Italienische übersetzt worden war, und in Anlehnung an dieses selbst ein Gedicht über sein Gemälde verfasst.69 Wenngleich dieses die Thematik eines goldenen Zeitalters und einer harmonia mundi unter habsburgischer Weltherrschaft anspricht,70 zeigt es den Kaiser nicht als ehrfurchtgebietende, sondern als pausbäckige heitere Gestalt. Thomas DaCosta Kaufmann hat dies auf den Renaissance-Diskurs über den Humor und das Lachen und insbesondere auf den Dialog De risu von Giovanni Battista Fonteo (Fontana) zurückgeführt. Dieser hat mit Arcimboldo wiederholt, z. B. 1571 bei Festdekorationen in Wien, zusammengearbeitet, Gedichte auf dessen Gemälde verfasst71 und das Manuskript der genannten Schrift 1570 dem venezianischen Gesandten am Kaiserhof, Giovanni Michele Frangipane, gewidmet.72 In De risu erklärt Fonteo, dass auch Könige über Witze lachen sollten, wie dies auch Alexander der Große getan habe. In dem Dialog, der im Haus Frangipanes bei einem Gastmahl beginnt, erzählt man Geschichten vom Hofnarren und über lächerliche Dinge, die Kaiser Maximilian II. zum Lachen bringen. Eine Diskussion über das Lachen schließt an, bei der man sich einig wird, dass der Herrscher Geist und Witz (urbanitas) haben und fähig sein müsse, Witze zu erzählen und über sich ergehen zu lassen, um seine humanitas zu zeigen.73 Zu den Vorläufern der Kompositköpfe Arcimboldos zählen Porträtmedaillen der 1530er und frühen 1540er Jahre, deren Revers emblematische Porträts von Are-

chen/Berlin 2002, S. 206f. (Korrektur in eckigen Klammern v. Vf.).

S. 91f.; Vincenzo Cartari: Le imagini delli dei de gli antichi. Vene-

Barthes folgend, hat auch Maiorino Arcimboldo als Homo Rheto-

dig 1571 (Reprint 1976; Erstausg. 1556), S. 276.

ricus gedeutet (Giancarlo Maiorino: The Portrait of Eccentricy.

70

Siehe Thomas DaCosta Kaufmann: Metamorphoses of Natur:

Arcimboldo and the Mannerist Grotesque. University Park/Lon-

Arcimboldo’s Imperial Allegories. In: Ders.: The Mastery of Na-

don 1991). Kritik an Barthes’ Arcimboldo-Interpretation äußerte

ture. Aspects of Art, Science, and Humanism in the Renaissance.

Friedrich Ohly: Zur Signaturenlehre der Neuzeit. Stuttgart/Leipzig 1999, S. 87–94.

Princeton 1999, S. 100–135. 71

Siehe Thomas DaCosta Kaufmann: Giovanni Battista Fonteo

67

Kanz 2002, S. 207.

68

Vgl. ebda., S. 209.

mentia est, 1568. In: Ausstellungskatalog Wien 2008, S. 124f.

69

Thomas DaCosta Kaufmann: Arcimboldo and Propertius: A

(Kat.-Nr. IV.1).

182

(Fontana): Carmen cum Distichis et Divinatio, cui titulus Cle-

classical source for Rudolf II as Vertumnus. In: Zeitschrift für

72

DaCosta Kaufmann 2009, S. 106f.

Kunstgeschichte, 48, 1985, S. 117–123; DaCosta Kaufmann 2009,

73

Ebda. Siehe auch Barbara C. Bowen: Roman Jokes and the Re-

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Abb. 91  Giusepe Arcimboldo: Der Gemüsegärtner (Umkehrbild), um 1590, Cremona, Museo Civico Ala Ponzone

tino bzw. Paolo Giovio als Satyrn zeigt, deren Köpfe aus Phalli zusammengesetzt sind.74 Die erheiternde Funktion der Arcimboldesken ist besonders evident bei jenen Stücken, bei denen es sich um Umkehrbilder handelt. Diese sehen zunächst wie einfache Stillleben aus und lassen erst, wenn man sie auf den Kopf stellt, überraschend eine chimärische Physiognomie erkennen (Abb. 91). Ein solches, nicht erhaltenes Exemplar

zeigte man nach dem Bericht des Ottavio Landi 1537 August von Sachsen bei seinem Besuch des kaiserlichen Hofes: Es vergegenwärtigte eine Vase mit Blumen, stellte man es aber auf den Kopf, ein Porträt des Hofmannes Ulrich Zasius, zusammengesetzt aus papiernen Dokumenten (»fatto tutto di scitture, di cedoli, di notizie, di lettere, et di memoriali«).75 Das allegorische Porträt, das Gelächter und heitere Gespräche auslöste,

naissance Prince, 1455–1528. In: Illinois Classical Studies, 9, 1998,

153; Francesca Alberti/Diane H. Bodart (Hrsg.): Rire en images à

S. 137–148 sowie Andreas Kablitz: Lachen und Komik als Gegen-

la Renaissance. Turnhout 2018.

stand frühneuzeitlicher Theoriebildung: Rezeption und Ver-

74

Raymond B. Waddington: Before Arcimboldo: Composite Por­

wandlung antiker Definitionen von risus und ridiculum in der

traits on Italian Medals. In: The Medal, 14, 1989, S. 11–23; Ders.:

italienischen Renaissance. In: Lothar Fietz/Joerg O. Fichte/

Aretino’s Satyr: Sexuality, Satire, and Self-Projection in Six-

Hans-Werner Ludwig (Hrsg.): Semiotik, Rhetorik und Soziologie

teenth-Century Literature and Art. Toronto/London 2004; Da-

des Lachens: vergleichende Studien zum Funktionswandel des

Costa Kaufmann 2009, S. 112.

Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart. Tübingen 1996, S. 123–

B i ld errät sel, h er me ti s ch e Werke u nd V e xierbi lde r

75

Zit. n. DaCosta Kaufmann 2009, S. 68.

183

zeigte Zasius wortwörtlich als uomo di lettere, so wie sich Arcimboldo auch in einer Zeichnung selbst dargestellt hat.76 Zasius, der Vizekanzler Kaiser Maximilians II., wurde von dem Künstler auch in diffamierender Absicht porträtiert. Lomazzo beschreibt ein Bild, in dem sein Antlitz aus Tieren zusammengesetzt war, wobei ein Vogel die Nase und eine Kröte das Kinn bildeten.77 Nachdem der Vize-Kanzler die Bemühungen des Kaisers unterlaufen hatte, die Bibliothek des Orientalisten Johann Albrecht Widmanstetter zu kaufen, die er selber begehrte, gab der Kaiser ein Bild in Auftrag, das den an der Syphilis leidenden Doktor zusammengesetzt aus gebratenem Fisch und Fleisch vergegenwärtigt (Abb. 92).78 Nachdem Arcimboldo 1587 nach Mailand zurückgekehrt war und 1589 seine Flora (Abb. 93) und 1591 den Vertumnus (Abb. 90) nach Prag gesandt hatte, ernannte Rudolf II. 1592 den bereits 1580 geadelten Künstler zum Pfalzgrafen (comes palatinus). Seinen Ruhm mehrte auch die Kunstliteratur: Giovan Paolo Lomazzo hat Arcimboldos höchst scharfsinniges ingenium (acutissimo ingenio) und seine invenzioni und capricci gelobt, in denen er einzigartig auf der Welt sei (»… ne’ quali egli è unico al mondo«).79 Besondere Würdigung erfuhr der Künstler durch Gregorio Comanini, den Verfasser des 1591 publizierten Dialogs Il Figino overo del fine della Pittura. Comanini hat als erster nachantiker Autor den griechischen Begriff ekphrasis (»un’ecfrasi«) wieder benutzt.80 Zwischen den cose reale und nur in der künstlerischen Phantasie existierenden cose imaginarie unterscheidend, hat er in Anlehnung an Philostrat die einzigartigen Phantasieleistungen Arcimboldos gewürdigt.81 Il figino verdient in unserem Zusammen-

76

Abb. 92  Giusepe Arcimboldo: Der Jurist, 1566, Stockholm, Nationalmuseum

hang auch Interesse, weil sich in diesem Traktat beispielhaft der enge Zusammenhang von Konversationskunst und Kunstliteratur zeigt. Der Autor lebte in den letzten Jahren Arcimboldos im selben Haus wie dieser. Die Sprecher seiner Dialoge sind der einer vornehmen venezianischen Familie entstammende Padre Don Asciano Martinengo, Kanoniker der Congregazione Lateranense und Abt von San Salvatore in Brescia, der

habe (Gregorio Comanini: Il Figino overo del fine della Pittura.

Siehe die Abb. der im Genueser Palazzo Rosso bewahrten Zeich-

In: Barocchi 1962, S. 269).

nung ebda., S. 19. 77

Giovanni Paolo Lomazzo: Idea del tempio della pittura. In: Ders.:

79

Scritti sulle arti. Hrsg. v. Roberto Paolo Ciardi, Bd. 1, Florenz 1973, S. 362. 78

mazzo 1973, S. 363 u. 361. 80

richtet auch Comanini, der erklärt, man könne sich vorstellen,

Graf 1995, S. 155; Gregorio Comanini: Il Figino overo del fine della Pittura. In: Barocchi 1962, S. 310.

Das Werk ist wahrscheinlich identisch mit dem in Abb. 92 gezeigten Werk im Stockholmer Nationalmuseum. Von ihm be-

Giovanni Paolo Lomazzo: Idea del tempio della pittura. In: Lo-

81

Gregorio Comanini: Il Figino overo del fine della Pittura. In: Ba­ rocchi 1962, S. 254 u. 256. Vgl. Kanz 2002, S. 212.

welches Gelächter es beim Kaiser und seinem Anhang ausgelöst

184

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Mailänder Maler Giovanni Ambrogio Figino, in dessen Werkstatt Caravaggio wahrscheinlich eine Weile gearbeitet hat, und Stefano Guazzo, der sich als Verfasser von La civil conversazione in die Tradition von Giovanni Pontano und Baldassare Castiglione eingereiht hatte. Sein 1574 veröffentlichter Traktat, der das in einem exemplarischen Gastmahl gipfelnde, »vielleicht vollständigste Bild der damaligen italienischen Gesellschaft und ihrer Vorstellungen vom geselligen Umgang präsentiert«, erlebte in den folgenden fünfzig Jahren mehr als ebenso viele Auflagen.82 Auch die fingierten Gespräche in Il figino bekunden den Geist konzilianter Entspanntheit, sind Demonstrationen von urbanitas: Man zitiert Vergil, Horaz, Plinius, Augustinus, Dante, Tasso, Sannazaro u. a., verliest Lobreden und trägt Gedichte vor, darunter solche, in denen Arcimboldos Flora (Abb. 93) und Vertumnus selbst sprechen. Wenn Flora hier die Rezipienten nach ihrer wahren Identität fragt, klingt die fortwährend alternierende Repetition der Worte ›Flora‹ und ›fiori‹ wie ein Echo, das den faszinierenden Umkippeffekt des Vexierbildes lautmalerisch evoziert bzw. begleitet:

Abb. 93  Giusepe Arcimboldo: Flora, 1589, Privatbesitz

»Son io Flora, o pur fiori? / Se fior, come di Flora / Ho col sembiante il riso? E s’io son Flora, / Come Flora è sol fiori? / Ah non fiori son io, non io son

Du wie? Die Blumen hat der weise Maler in Flora

Flora. / Anzi son Flora e fiori. / Fior mille, una sola

verwandelt und Flora in die Blumen.]84

Flora, / Però che i fior fan Flora, e Flora i fiori. / Sai

Blumen Flora bilden und Flora die Blumen. / Weißt

Hervorgegangen aus Konversationen über die Künste, war Comaninis Dialog zugleich ein exemplarischer Leitfaden für solche. Auch die Gattungen der Epigramme und Bildgedichte, die beschreibend, aber auch deutend sein können und oft als konkurrierende Neuschöpfungen den Kunstcharakter und die Bildwirkung betonen,85 dienten als Wiedergebrauchstexte. Man dachte sich Epigramme und Bonmots aus, wie sie z. B. Scipione Borghese und Maffeo Barberini vor Skulptu-

82

Schmölders 1986, S. 109.

84

Ich danke David Ganz für seine Hilfe bei der Übersetzung.

83

Gregorio Comanini: Il Figino overo del fine della Pittura. In: Bar-

85

Zu Epigramm und Bildgedicht in Antike und Neuzeit siehe Wolf-

come? I fiori in Flora / Cangiò saggio pittore, e Flora 83

in fiori.«

[Bin ich Flora oder nur Blumen? / Wenn Blume, wie habe ich dann / in meinem Antlitz das Lächeln der Flora? Und wenn ich Flora bin, / wie Flora nur aus Blumen ist? / Ah, nicht Blumen bin ich, nicht bin ich Flora. / Eher bin ich Flora und Blumen. / Tausend Blumen, nur eine Flora, / Warum, wenn die

occhi 1962, S. 258. Anschließend folgt Comaninis Gedicht, in

gang Brassat/Michael Squire: Die Gattung der Ekphrasis. In:

dem Vertumnus spricht: ebda., S. 258–265.

Brassat 2017, S. 69ff. u. 79 (mit weiterer Lit.).

B i ld errät sel, h er me ti s ch e Werke u nd V e xierbi lde r

185

ren Berninis vorgebracht haben,86 und verfasste Bildgedichte, um im geselligen Kreis oder gar in der Öffentlichkeit mit ihnen zu brillieren.87 Im 16. Jahrhundert wurden bereits Gedichtsammlungen zu einzelnen Werken gedruckt und im 17. Jahrhundert sollte diese Gattung in Giambattista Marinos La Galeria (1619) und Georges de Scudérys Le Cabinet (1646) gipfeln.88 Solche Publikationen, deren oft stereotypen, dem einzelnen Kunstwerk kaum gerecht werdenden Ausführungen man oft beklagt hat,89 waren ›Musterbücher‹ für gesellige Kunstgespräche!90

Man hat die Kunst des Manierismus lange, klassizistisch voreingenommen, als Produkt einer Dekadenzepoche verurteilt, um sie später mitfühlend als Symptom einer

von epochalen Erschütterungen gezeichnete Krisenzeit wahrzunehmen.91 Doch zahlreiche Autoren des 16. Jahrhunderts haben ein ganz anders geartetes Gegenwartsbewusstsein artikuliert, nämlich das Lob auf »unsere derzeitige kultiviertere Epoche« angestimmt.92 Die rinascimentale Geschichtsauffassung wurde nun häufig in der Überzeugung, die Antike übertroffen zu haben, vorgebracht. Ebenso selbstbewusst traten in der Regel die unter den neuen Rahmenbedingungen erfolgreichen Künstler auf und demonstrierten in ihren Werken stolze Ansprüche. So nahmen sie z. B. mit erotischen Werken Freiheiten in Anspruch, die in früheren Zeiten undenkbar gewesen wären. Ein Beispiel dafür waren bereits die teilweise lasziven ignudi (Nackten) der Sixtina-Decke (Abb. 94), die das neue Geschlecht, die »Nova progenies« verkörpern, deren Existenz Vergil in seiner 4. Ekloge für ein Goldenes Zeitalter vorausgesagt hatte.93 Die neben einigen von ihnen aufgehäuften Eicheln verdeutlichen als heraldisches Zeichen der della Rovere (ital. rovere = Eiche), dass sich dieses Goldene Zeitalter unter

86

Siehe unten, S. 382.

89

87

Manche Epigramme und die in ihnen bedachten Kunstwerke

Erotisierung als Amplifikations- und ­Autonomisierungsstrategie

wurden tatsächlich zum Stadtgespräch, wie z. B. diejenigen, die

S. 406 u. 410. 90

man an Baccio Bandinellis Herkules und Cacus anbrachte. Als

mals publizierte Gedichtsammlung La Galeria demonstriert, wie ein […] ingeniöses ›Durch-Variieren‹ aller denkmöglichen

wurde, zog sie Massen von Schaulustigen an, die tagelang die

Concetti angesichts der Bilder einer Sammlung im Idealfall aus-

Piazza blockierten. Am Sockel der Gruppe wurden viele lateini-

sehen konnte«. (Pfisterer 2008, S. 17.) 91

Siehe insbesondere Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth.

war, das Talent und den Einfallsreichtum der Verfasser und den

Manier und Manie in der europäischen Kunst. Beiträge zur Iko-

Scharfsinn der Sprüche zu sehen.« (Giorgio Vasari: Das Leben

nographie und Formgeschichte der europäischen Kunst von

des Baccio Bandinelli. Neu übersetzt von Victoria Lorini. Hrsg.,

1520 bis 1650 und der Gegenwart. Hamburg 1957 (2. Aufl. Rein-

komm. und eingel. von Hanna Gründler, Berlin 2009, S. 48; Va-

beck 1987); Arnold Hauser: Der Ursprung der modernen Kunst

sari 1966–1997, V, S. 254.) Für Erheiterung hatte schon zuvor ein

und Literatur. Die Entwicklung des Manierismus seit der Krise

Gedicht des Giovanni Negreti gesorgt, das einen Unfall beim

der Renaissance. München 1964 (2. Aufl. 1979) sowie die kriti-

Transport des Marmorblocks, der beim Verladen in den Arno

sche Zurückweisung dieser Bewertung: Martin Warnke: Der

gefallen war, kommentierte: Der Marmor habe sich, als er er-

Kopf in der Hand. In: Ausstellungskatalog Wien 1987, S. 55–61;

fuhr, dass er nicht von Michelangelo bearbeitet, sondern von

wieder abgedruckt in Warnke 1997, S. 108–120.

Bandinelli verstümmelt werden sollte, vor Verzweiflung in den

92

Fluss gestürzt (Vasari: Das Leben des Baccio Bandinelli. Hrsg. v. Siehe Rainer Stillers/Christiane Kruse (Hrsg.): Barocke Bildkul-

Shearman 1967, S. 137. Das Zitat entstammt dem Vorwort einer von Francesco Marcolini da Forlì veröffentlichten Madrigal-

Hanna Gründler, Berlin 2009, S. 36; Vasari 1966–1997, V, S. 249).

186

Ulrich Pfisterer betont, dass »Giambattista Marinos 1619 erst-

1538 die Gigantengruppe vor dem Palazzo Vecchio enthüllt

sche und toskanische Verse angebracht, »so daß es eine Lust

88

Rainer Stillers/Christiane Kruse: Nachwort. In: Marino 2009,

Sammlung aus dem Jahre 1536. 93

Ich danke Matthias Winner für den vor Jahren gegebenen Hin-

turen. Dialog der Künste in Giovan Battista Marinos »Galeria«.

weis. Die Prophezeiung »iam no(va) proge(nies)« erscheint

Wiesbaden 2013; Georges de Scudéry: Le Cabinet. Hrsg. v. Chris-

auch auf einer Schrifttafel, die in Raffaels Sibyllen-Fresko in

tian Biet u. Dominique Moncond’huy, Paris 1991.

der Chigi-Kapelle in Santa Maria della Pace (Abb. 56) ein

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Abb. 94 Michelangelo: Ignudo,

um 1510, Vatikan, Sixtinische Kapelle

Papst Julius II. eingestellt habe, wobei die erotische Dimension dieses Attributs evident ist.94 Später haben Raffael und seine Schüler in der Loggia di Psiche der Farnesina in den rahmenden Girlanden teilweise aufgeschnit-

tene Früchte und Gemüse, Feigen, Melonen, Gurken, Auberginen etc. analog zu Formen metaphorischen Sprechens als phallische und vulvische Formen dargestellt, was schon Zeitgenossen genüsslich kommentier-

Engel der cumäischen Sibylle hinhält. (Oberhuber 1999,

Michelangelo später mit den Eicheln der ignudi assoziiert

S. 138.)

wurde, belegt eine Äußerung Berninis aus dem Jahr 1665. Man

Schon 1549 nannte ein Florentiner Chronist Michelangelo den

erklärt ihm in Paris vor den Skulpturen eines jungen Bildhauers,

»Erfinder aller Unanständigkeiten, dem es nur um die Kunst,

diese seien im Stil Michelangelos gehalten, worauf er erwidert:

nicht aber um die Frömmigkeit zu tun ist.« (Ernst Steinmann:

»Il a répondu que quand l’on voit des noix, l’on jugeait que

Michelangelo im Spiegel seiner Zeit. Leipzig 1930, S. 48.) Dass

c’était de sa manière.« (Chantelou 2001, S. 240.)

94

E rotisierung als Amplifikations- und ­A utonomisierungsstrategie

187

ten.95 Raffaels hier maßgeblich beteiligter Schüler Giulio Romano stand dem im Palazzo del Te in Mantua nicht nach, in dessen Sala di Psiche und dem Giardino secreto auch Pornographisches zu finden ist.

Mit Apelles, dem Schöpfer der Aphrodite Anadyomene,96 wetteifernd, schuf Parmigianino gewagte Mariendarstellungen, wie seine erotische Madonna mit der Rose (Abb. 95) – was für Raffael noch undenkbar gewesen wäre.97 Ursprünglich war diese für Aretino bestimmt, der zu der von Raimondi nach Giulio Romanos Zeichnungen gestochenen pornographischen Bildfolge der Modi die begleitenden Sonetti lussoriosi verfasst hat. Doch dann modifizierte der Künstler das Gemälde und schenkte es bei der Krönung Karls V. in Bologna Papst Clemens VII.98 Auch die Madonna mit dem langen Hals (Abb. 96) hat Parmigianino in einem durchsichtigen Seidenkleid dargestellt. Der Maler, dem Vasari vorwarf, die Kunst zu vernachlässigen, weil er sich lieber über die Wunder der Alchemie den Kopf zerbrach, hat bei der Ausführung dieses Altarbildes für die Kirche Santa Maria di Servi in Parma die vereinbarte Frist von fünf Monaten überschritten, weil er eine zunächst geplante Sacra conversazione verwarf, um sein Werk mit tieferen Bedeutungen aufzuladen.99 So wie Raffael im Brand des Borgo (Abb. 61) die Säulenreihe eingesetzt hatte, um das Ereignis in Rom von der visio Trojas abzusetzen, platzierte Parmigianino eine Reihe von Säulen ohne Kapitelle als Zeichen der Zeitenwende zwischen die Figur des Propheten und die als Braut des Hoheliedes und damit als Sinnbild der Ecclesia erscheinende Maria. Diese blickt auf ihren Sohn, auf dessen Schicksal seine ausgebreiteten Arme und die Erscheinung des Gekreuzigten auf dem übergroßen Salbgefäß

95

98

Abb. 95  Parmigianino: Die Madonna mit der Rose, 1530, Dresden, ­Gemäldegalerie Alte Meister

Barolsky 1978, S. 84.

Vgl. Vasari 1966–97, IV, S. 540f. Thimann nimmt an, dass die Ma-

96

Siehe oben, S. 120.

donna mit der Rose, in der Christus den Erdenglobus umfasst,

97

Dafür gibt es zahlreiche Hinweise, z. B. die nach dem Vorbild

als Pendant zu Parmigianinos Allegorischem Porträt Karls V.

antiker Venus-Statuen gebildete, aber züchtig bekleidete Ma-

fungierte und beide Gemälde somit bei der Kaiserkrönung das

donna di Foligno (1511/12, Vatikanische Museen; siehe Regina

dominium spirituale des Papstes und das dominium temporale

Stefaniak: Raphael’s Madonna di Foligno: vergine bella. In:

des Kaisers thematisierten (Thimann 2006, S. 76f.). Die Ma-

Konsthistorisk tidskrift, 69, 2000, S. 169–195). In der von Giulio

donna mit der Rose blieb nicht lange im Besitz des Papstes, son-

Romano ausgeführten Maria mit Christus, Elisabeth und Johan-

dern kam, wie Vasari 1568 berichtete, in den des Bolognesers

nes und ihrem coperto (Paris, Louvre) mit der nur mit einem

Dionigi Gianni (Zani). Dieser vererbte es seinem Sohn Bartolo-

durchsichtigen Gewand bekleideten Personifikation des Über-

meo, der erlaubte, dass insgesamt 50 Kopien des Bildes angefertigt wurden (Vasari 1966–97, IV, S. 541).

flusses ist die züchtige Bekleidung der Heiligen offenbar ein Überlegenheitsmerkmal moderner christlicher Zeiten (siehe Pfisterer 2019, S. 266f.).

99

Zu diesem Werk, für das Parmigianino zahlreiche Vorzeichnungen anfertigte, siehe David Ekserdjian: Parmigianino. New Haven/London 2006, S. 191–211.

188

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(Alabastron) hinweisen, und legt, um dieses wissend, ihre Hand betroffen auf die Brust.100 Ihre liebreizende Gestalt hat Parmigianino in Anlehnung an Salomos Lied der Lieder gestaltet, in dem es heißt: »Rote Bänder sind deine Lippen; / lieblich ist Dein Mund […] Wie der Turm Davids ist Dein Hals […] Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein […] Dein Hals ist ein Turm aus Elfenbein […] Deine Nase ist wie der Libanonturm.«101

Castiglione hat das Hohelied mit Petrarcas Rime sparse verglichen und so erstaunt es nicht, dass Parmigianino, mit der Dichtung wetteifernd, der Madonna dal collo lungo z. B. mit den zarten feingliedrigen Händen weitere topische Merkmale der petrarcistischen Dichtung verliehen hat, in der sich auch der Vater der Auftraggeberin des Altarbildes, Andrea Baiardo, hervorgetan hatte.102 Eine besondere künstlerische Programmatik des Altarbildes lässt sich aus der expliziten Analogisierung des Körpers Mariens und der Säulen erschließen, deren Basen auf Höhe ihrer Füße erscheinen. Die Säulen ohne Kapitelle repräsentieren als ruinöses Relikt den Tempel des Alten Bundes. Zweifellos handelt es sich bei ihnen um korinthische Säulen, deren schlanke Proportionen nach alter Überlieferung dem Körper von Jungfrauen nachgebildet waren.103 Im Sinne des anthropomorphen Architekturverständnisses der Renaissance akzentuieren sie den gelängten Leib der Gottesmutter. Gauricus, Dürer und später Lomazzo haben bei den menschlichen Proportionen analog zu den Säulenordnungen zwischen einem Siebenbis Zehnkopftypus differenziert und damit für die

Skulptur und Malerei ein Gattungsmerkmal bzw. Kriterium der Stilhöhe bestimmt.104 Augenscheinlich hat Parmigianino, der ›Neue Raffael‹, in der Madonna mit

100

102 Ebda.,

Siehe Jeanne Goldman: The origin of the ›coquettish‹ gesture in

Abb. 96  Parmigianino: Die Madonna mit dem langen Hals, 1534/35, Florenz, Uffizien

Parmigianino’s Madonna da collo lungo. In: Dialoghi di storia dell’arte, 1995, 1, S. 146–149. 101

S. 103f.; siehe auch Elizabeth Cropper: On Beautiful

Women, Parmigianino, Petrarcismo, and the Vernacular Style. In: The Art Bulletin, 58, 1976, S. 374–394.

Hohelied, 4,3–4,5, 7,5f. Vgl. Andreas Schumacher: Parmigiani-

103

Vitruv: De architectura libri decem, IV, I, 8.

nos Marienbilder. Göttliche Schönheit als Thema der Malerei

104

Siehe v. V.: Einführung. In: Brassat 2017, S. 10f. u. ders.: Das Er-

der bella maniera. In: Reinhold Baumstark (Hrsg.): Parmigia-

habene. In: Ebda., S. 607; Gudrun Valerius: Antike Statuen als

nino. Die Madonna in der Alten Pinakothek. Ausst.-Kat., Mün-

Modelle für die Darstellung des Menschen. Die decorum-Lehre

chen, Alte Pinakothek. Ostfildern 2007, S. 103.

in Graphikwerken französischer Künstler des 17. Jahrhunderts. Frankfurt/M. [u. a.] 1992, S. 79–95.

E rotisierung als Amplifikations- und ­A utonomisierungsstrategie

189

Abb. 97 Tizian: Büßende Magdalena, um 1533, Florenz, Palazzo Pitti,

Abb. 98 Tizian: Büßende Magdalena, um 1565, St. Petersburg, Eremitage

dem langen Hals den höchsten Stil, die maniera grande, gewählt und sich in seiner erotischen Darstellung der Gottesmutter bemüht, Raffaels Anmut mit Michelangelos Erhabenheit zu verbinden.105 Auch Tizians Büßende Maria Magdalena (Abb. 97), die in Urbino in der herzoglichen Guardaroba zusammen mit seiner Venus von Urbino (Florenz, Uffizien) bewahrt wurde,106 ist, obwohl die Heilige die klassische pu-

dica-Haltung einnimmt, ein höchst erotisches Werk. Dem auf der Überlieferung von der Maria Ägyptiaca fußenden Bildtypus der ›haarummantelten Büßerin‹, der sich im Duecento im Umfeld der Bettelorden großer Beliebtheit erfreut hatte, verlieh er in seinem um 1533 entstandenen Gemälde im Palazzo Pitti eine erotische Wirkung, bei der sich der moderne Begriff des ›Pin up‹ geradezu aufdrängt.107 Wahrscheinlich handelt es sich bei

Galleria Palatina

105 Vasari

betonte wiederholt, dass sich Parmigianino an beiden

wie Matteo Burioni erläutert hat, ihrer difficoltà und ihrem Man-

Künstlern orientierte (Vasari 1966–97, IV, S. 534 u. 536: »[…] ma in

gel an Lässigkeit (sprezzatura) Rechnung. (Matteo Burioni: Ein-

somma venerazzione ebbe particolarmente quelle di Michela­

leitung. In: Giorgio Vasari: Das Leben des Parmigianino. Hrsg. v.

gnolo Buonarroti e di Raffaello da Urbino«). Dass er die in der

Matteo Burioni. Berlin 22009, S. 9ff.)

Madonna mit dem langen Hals vollzogene Synthese nicht ge-

106

glückt fand, ist anzunehmen, da er erklärte, Parmigianino habe,

jorie Och: Vittoria Colonna and the Commission for a Mary

unzufrieden mit ihm, dieses Werk unvollendet gelassen (ebda.,

Magdalene by Titian. In: Sheryl E. Reiss/David G. Wilkins

S. 543). Nachdem er in der Torrentiniana noch Parmigianinos

(Hrsg.): Beyond Isabella: Secular Women Patrons of Art in Re-

grazia und leggiadria (Liebreiz) gelobt hatte, betonte Vasari in

naissance Italy. Kirksville 2001, S. 193–223.

der Giuntina vielmehr die venustà seiner Werke und trug damit,

190

Vasari 1966–97, VI, S. 162. Zu Auftrag und Adressatin siehe Mar-

107

Siehe Bernard Aikema: Titian’s Mary Magdalen in the Palazzo

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Abb. 99 Tizian: Danae, 1560–1565,

Madrid, Museo del Prado

diesem Werk um eine freizügig sinnliche Variante des für Vittoria Colonna bestimmten, nicht erhaltenen Originals, das der Herzog von Mantua 1531 bei Tizian in Auftrag gegeben hatte.108 Seit den 1550er Jahren stellte der Maler die Heilige in weiteren Versionen dann zumindest leicht bekleidet dar, u.a. in dem Gemälde in St. Petersburg (Abb. 98), nach dem Cornelis Cort 1566 unter der Aufsicht des Malers einen Kupferstich angefertigt hat.

Obschon Vasari in Zusammenhang mit einer für Phi­ lipp II. gemalten Version versichert hat, das Gemälde errege nicht etwa Lüsternheit, sondern Mitleid (»non muove a lascivia, ma a comiserazione«),109 erscheint evident, dass die Künstler in solchen Werken das sinnliche Potenzial der Malerei amplifizierten und Freiheiten ausreizten, gegen die einige Jahrzehnte später die Tridentinische Bildreform zu Felde ziehen sollten.110

Pitti: an ambiguous painting and its critics. In: Journal of the

kungsmacht der Malerei, die schon Alberti eng mit der Liebe

Warburg and Courtauld Institutes, 15, 1994, S. 48–59.

assoziiert hatte, ausreizten. Dabei bezeugen m. E. z. B. die Diffe-

108

Peter Humfrey: Tizian. Berlin 2007, S. 112.

renzen der Magdalenen-Darstellungen Tizians ein feines Ge-

109

Vasari 1966–97, VI, S. 167; Giorgio Vasari: Das Leben des Tizian.

spür dafür, was in verschiedenen Kontexten, in einem Samm-

Neu übers. v. Victoria Lorini, komm. u. hrsg. v. Christina Irlen-

ler-, einem Andachts- oder einem Altarbild angemessen und

busch, Berlin 2005, S. 48.

möglich war.

110 Zu

dem komplexen Phänomen siehe Alessandro Nova: Ero­



Völlig evident sind die Autonomisierungsbestrebungen übri-

tismo e spiritualità nella pittura romana del Cinquecento.

gens im Fall der erotischen Marienbilder von Hans Baldung

In: Catherine Monbeig Goguel/Philippe Costamagna/Michel

Grien. Deren erstes Beispiel, die Muttergottes mit den Edelstei-

Hochmann (Hrsg.): Francesco Salviati e la Bella Maniera. Rom

nen (Nürnberg, GNM), schuf der Maler 1530, unmittelbar nach

2001, S. 149–169. Nova meint, dass von den Zeitgenossen das sa-

dem Straßburger Bildersturm. Dass er in diesem Gemälde und

krale Thema und die sinnlichen Qualitäten solcher Werke nicht

weiteren Werken, wie der Maria mit Kind und Papageien (1533,

als Widerspruch empfunden wurden. Dies ist zu bedenken.

GNM), einem verdichteten Gesprächsprogramm für ein huma-

Gleichwohl war die Erotisierung sakraler Sujets eine brisante

nistisch gebildetes Publikum, der Maria lactans Merkmale der

Strategie, mit der die Künstler die sinnlich affizierende Wir-

Venus verlieh und so einen sakralen Bildtypus profanisierte,

E rotisierung als Amplifikations- und ­A utonomisierungsstrategie

191

Gemäß dem rhetorischen Denken und sprachanalogen Bildverständnis der Frühen Neuzeit wurde das Gemälde prinzipiell als Produkt eines Äußerungsaktes, als Resultat dramaturgischen Verhaltens verstanden. Wie beredt das Gemälde von der Auslegung des Themas bis zum Duktus des Pinselstrichs unter diesen Vorzeichen war, mag hier ein Blick auf Tizians Danae im Prado beleuchten (Abb. 99). Nach dem 1544/45 gemalten Werk im Museo Capodimonte in Neapel, seinem ersten Gemälde dieser Thematik, hat der Künstler weitere DanaeBilder angefertigt, darunter die Versionen in St. Petersburg, Madrid und Wien.111 In dem Gemälde im Prado bedeckt die Gefangene mit der linken Hand ihre Scham, deren Bereich taktvoll nur schemenhaft dargestellt ist. Den Vollzug des Aktes hat Tizian, der literarischen Vorlage entsprechend, durch den Strom der Goldmünzen angedeutet. Zudem hebt Danae mit ihrer rechten Hand den Stoff des Bettlakens, auf dem ein Schoßhündchen ruht, so an, dass die Spitze ihres Mittelfingers am Rande einer tiefen, dunklen Falte aufliegt. Diese Sexualsymbolik, die in der Version in Neapel noch weniger deutlich ist, findet sich in auch in den Gemälden in St. Petersburg und Wien. In dem Gemälde im Prado liegt die Hand der Danae zwischen ihren gespreizten Schenkeln, womit angedeutet sein mag, dass sie sich selbst stimuliert.112 »Die Hand ist so plaziert, daß sie einen Blick auf die Ge-

nitalien verhindert, doch wird der Imagination des Betrachters durch die andere Hand, die in den sinnlichen Falten des Lakens spielt, der Weg gewiesen.«113 Der schönen Danae hat Tizian die Figur der hässlichen Alten beigesellt, die mit schamloser Begierde ihren Teil des Goldregens beansprucht. Indem er sie mit einem an ihrem Gürtel hängenden Schlüsselbund versah, charakterisierte er sie als Kupplerin (ruffiana) und spielte auf die metaphorischen Bedeutung des Wortes »chiave« (Schlüssel) an, das als Synonym für die männlichen Genitalien verwendet wurde.114 An diesen Werken zeigt sich somit, wie nuanciert Tizian Formen eines metaphorischen Darstellens erprobt hat, das erotisch, aber nicht schamlos plump sein durfte. Sicherlich hat er bei dem Motiv des Schlüsselbundes die pikante Herausforderung der Versprach­ lichung bedacht, schließlich sollte die gesellige Rezeption bei repräsentativen Anlässen nicht ins Zotige abgleiten.115 Zu den Errungenschaften dieser Zeit gehörte neben dem Humor und der doppelten Moral auch die Erotik, ein Spiel der Zeichen, das individuelle Entscheidungsspielräume und verschiedene gesellschaftliche Sphären mit je eigenen Normen voraussetzt, deren Grenzen sie zu überbrücken vermag. Die Erotik lizensiert die zunehmend als natürliche Triebregung und als Quell der Lust und der Weltaneignung akzeptierte Be-

nämlich in ein erotisches Sammlerbild transformierte, war nach

Paintings. Gent 2007, Nr. 144, 184, 225. Humfrey datiert die Prado-

den Bilderstürmen eine gebotene Überlebensstrategie. Siehe

Version noch auf »c. 1551–53(?)« (ebda., S. 250).

Wolfgang Brassat: Ein kunstvolles Katastrophenbild. Hans

112

Gior­giones Dresdener Venus und der Venus von Urbino eine

naissance. In: Ders. (Hrsg.): Komplexität und Diversität des kul-

Masturbationshandlung dargestellt sieht (Bohde 2002, S. 168f.;

turellen Erbes. Forschungsbeiträge aus dem Institut für Archäo-

Rona Goffen: Renaissance Dreams. In: Renaissance Quarterly, 40, 1987, S. 682–706).

logische Wissenschaften, Denkmalwissenschaften und Kunstgeschichte. Bamberg 2020, S. 119ff. Zur Zensur erotischer Kunst

113

Bohde 2002, S. 168.

in nachtridentinischer Zeit siehe David Freedberg: The Power of

114

»Chiavare« bezeichnet den Gebrauch dieses ›Schlüssels‹ (ebda.,

Images. Studies in the History and Theory of Response. Chicago/London 1989, S. 361ff. 111

192

So Daniela Bohde, die darauf verweist, dass Rona Goffen in

­Baldung Griens Die Sintflut und die Kunst der italienischen Re-

S. 170; siehe auch Barolsky 1978, S. 132f.). 115

Dass dieses Gebot nicht immer strikt befolgt wurde, zeigt Casti­

Siehe Daniela Bohde: Haut, Fleisch und Farbe. Körperlichkeit

gliones Libro del Cortegiano, in dem der Magnifico erklärt, die

und Materialität in den Gemälden Tizians. Emsdetten/Berlin

Hofdame solle, sei sie bei freizügigen Gesprächen zugegen,

2002, S. 151–177 (Kap. IV: Farbe, Fleisch und Licht: Tizians Da-

»ihnen mit leichter Schamröte zuhören.« (Libro del Cortegiano,

nae-Darstellungen) sowie Peter Humfrey: Titian. The Complete

III, 5; Castiglione 1986, S. 247.)

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

gierde, weist ihr, raffiniert den Schein des Sittsamen wahrend, den Weg. Besagte der Topos vom verhüllten Haupt Agamemnons in der Darstellung des Timanthes, dass gerade das unsichtbar Bleibende eine stärke affektive Wirkung erzielt,116 so zehren viele Werke des 16. Jahrhunderts von der Einsicht, dass das nur Angedeutete, zu Ahnende eine begehrliche Imagination wecken kann. So findet man z. B. in zahlreichen Bildern der Belle donne des Cinquecento, von Tizian, Palma il Vecchio u. a., das Motiv der gespreizten Finger, die ebensolche Beine assoziieren lassen.117 Zumal künstlerische Kreativität, wie Ulrich Pfisterer dargelegt hat, damals in Kategorien der biologischen Zeugung und Geburt reflektiert wurde,118 waren erotische Sujets für eine selbstreflexive Malerei besonders ergiebig: Sie verliehen der sinnlichen, wie auch Alberti konzediert hatte, Vergnügen (voluptas) bereitenden Wirkung der Malerei Evidenz. Da der Erotik zugleich das Merkmal des Zeichenhaften, Uneigentlichen eigen ist, steht die erotische Bildwirkung immer auch ihrer Sublimation durch eine

116 117

118 119

120

ästhetisierende Betrachtung offen: Der Connoisseur ist kein Voyeur.119 Alle Versionen der Danae Tizians geben mit ihrer spontanistischen Malweise zudem einen Beleg der risoluzione und sprezzatura des Malers. Vasari, beileibe kein Anhänger des Venezianers, hat vor der Nachahmung dieser Malweise gewarnt und dabei ihre Schwierigkeiten benannt, dass nämlich ihre nonchalante Relativierung der Naturnachahmung und ihr Verstoß gegen das Ethos gediegenen Handwerks die perfekte Beherrschung von beidem voraussetzte.120 Tizian, dessen Danae-Gemälde ganz Castigliones Programm der Kaschierung des Aufwandes, dem Konzept des »ars est celare artem« und der Brillanz des sich im Nu lässig offenbarenden Talents folgten,121 konnte bei ihrer Herstellung mit den großen Höfen Europas als Abnehmer und ihren Gemäldesammlungen als Bestimmungsort rechnen. Den dort herrschenden Verhaltensnormen entsprach der Formbestand solcher Werke, die affektiven und gestischen Werte ihrer nonchalanten, virtuos spontanistischen Malerei.

Quintilian: Institutio oratoria, II, 13, 13; Alberti: De pictura, (II)

Grund dafür ist folgender: Auch wenn es vielen so scheinen

42.

mag, als wären sie ohne Mühe gemacht, so ist dies keineswegs

Siehe z. B. Raffaels Fornarina (Rom, Galleria Nazionale), Tizians

der Fall und sie täuschen sich darin, denn man erkennt, daß sie

Venus von Urbino und die Flora (Florenz, Uffizien), sein Mäd-

überarbeitet worden sind und mit den Farben wieder und wie-

chen im Pelz (Wien, Kunsthistorisches Museum) und das Porträt

der über sie gegangen wurde, so daß die Mühe darin sehr wohl

der Laura dei Dianti (Kreuzlingen, Slg. H. Kisters), Palma il Vec-

zu sehen ist. Auf diese Weise angewandt, handelt es sich um

chios Flora (London, National Gallery) und Holbeins Lais von

eine wohlüberlegte, schöne und herrliche Methode, die die Ge-

Korinth (Basel, Kunstmuseum).

mälde lebendig und in ihrer Ausführung von großer Kunstfertig-

Ulrich Pfisterer: Kunstgeburten. Kreativität, Erotik, Körper. Ber-

keit erscheinen läßt und dabei die Mühen kaschiert.« (Vasari

lin 2014.

2005, S. 45; Vasari 1966–97, VI, S. 166) Vasari berichtet weiter,

In der deutschen Rechtsprechung trägt dem bekanntlich der so-

dass er 1564 mit Michelangelo den in Rom weilenden Tizian in

genannte »Kunstvorbehalt« Rechnung, nach dem Pornographi-

seinem Atelier im Vatikan aufsuchte, wo sie die heute in Neapel

sches, wenn es das Prädikat ›Kunst‹ verdient, juristisch unbe-

befindliche Danae sahen. Diesem schönen Gemälde mangele

denklich ist.

es leider am disegno, wenn auch, wie Michelangelo sagte, Tizian

Vasari bemerkt, dass Tizians Spätwerke »mit grob hingeworfe-

ȟber einen herrlichen Geist und einen anmutigen und lebendi-

nen Pinselstrichen (colpi) und Flecken« gemalt sind, »so daß man sie von nahem nicht zu betrachten vermag, sie aus der

gen Stil« verfüge. (Vasari 2005, S. 36; Vasari 1966–97, VI, S. 164.) 121

Siehe Valeska von Rosen: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in

Ferne aber perfekt wirken. Diese Arbeitsweise hatte zur Folge,

Werken Tizians. Studien zum venezianischen Malereidiskurs.

daß viele, die sie nachahmen und ihre Fähigkeit darin beweisen

Emsdetten/Berlin 2001, passim, bes. S. 299–365 (Kap. 6: Elo-

wollten, recht plumpe Gemälde hervorgebracht haben. Der

quente Colpi); von Rosen 2003a.

E rotisierung als Amplifikations- und ­A utonomisierungsstrategie

193

Abb. 100  Francesco Salviati: Fresken

in der Sala di Udienza, 1552–54, Rom, Palazzo Ricci-Sacchetti

Versprachlichungsappelle

Betrachten wir in Hinsicht auf das zeitgenössische Rezeptionsverhalten, für das wir so gut wie keine Bilddokumente haben, noch einige Beispiele: Julian Kliemann hat Giorgio Vasaris Fresken im Palazzo della Cancelleria in Rom ausgehend von der in ihnen dargestellten Personifikation der Eloquenz als »macchine per generare orazioni« gedeutet,122 also als ein Konversationsrhetorik anregendes Gesprächsprogramm. Eine entsprechende Rezeptionserwartung ist in den von Francesco Salviati von 1552 bis 1554 ausgeführten Fresken in der Sala di Udienza im Palazzo Ricci-Sac-

122

123

chetti in Rom implizit und doch deutlich formuliert. Sie zeigen vor schwarzem Hintergrund Säulen, an denen unterschiedliche Bildwerke befestigt zu sein scheinen (Abb. 100): Gerahmte Gemälde, Tapisserien, Schilde und Banner dienen als fiktive Bildträger eines David-Zyklus und der Devisen der Familie Ricci. Antike Büsten, Urnen, Statuetten, Girlanden und Hermenfiguren im basamento bereichern die Ausmalung. Diese versetzt den Betrachter in eine ›antiken Galerie‹123 und bietet ihm einen Anblick, wie ihn nach Philostrats Eikones die Philosophen hatten, die vor Säulenhallen, in denen Gemälde hingen, ihre gelehrten Gespräche und »Prunkvorführung[en] der Redekunst« abhielten.124

Julian Kliemann: Gesta dipinte: la grande decorazione nelle di-

3, 1980, S. 194–201; Alessandro Nova: Occasio pars Virtutis. Consi-

more italiane dal Quattrocento al Seicento. Florenz 1993, S. 37–

derazioni sugli affreschi di Francesco Salviati per il Cardinale

51, Zitat S. 51.

Ricci. In: Paragone, 31, 1980, Nr. 365, S. 29–63; Ders.: Un’aggiunta

Iris Hofmeister Cheney: Francesco Salviati (1510–1563). (Ph.D.

alle considerazioni sugli affreschi di Francesco Salvati per il Car-

1963) Ann Arbor 1995, Bd. 1, S. 268. Zu diesen Fresken siehe ebda., S. 266–284; Richard Cocke, Et ero humilis in oculis meis. Francesco Salviati’s David Cycle in Palazzo Sacchetti. In: Art History,

194

dinale Ricci. In: Ebda., S. 94–96; Brassat 2003, S. 183–190. 124

Philostrat d. Ä.: Eikones, Poemium, 5. Zu dieser und weiteren Textstellen, die über antike Präsentations- und Rezeptionsfor-

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Abb. 101  Francesco Salviati:

Der Tod Sauls, 1552–54, Rom,

­Palazzo Ricci-Sacchetti

Wie schon Botticelli in seiner Verleumdung des Apelles (Abb. 46), hat auch Salviati durch eine Rekonstruktion antiker Sammlungsarchitektur einen Versprach­ lichungsappell formuliert. Auch seine Fresken verlangten nach panegyrischen und ekphrastischen Kommentaren und lieferten der Konversation Anreize, eine Funktion, die die Lizenz zur Amplifikation des Künstlerischen implizierte. Tatsächlich sind die Fresken Salviatis eine Demonstration seiner universalità. Der Maler, den Tasso bewunderte und den Aretino als »giovane glorioso« pries, dessen Stil »dotto e regolato« sei,125 nach dem Urteil seines Freundes Vasari »ricco,

abbondante e copiosissimo nell’invenzione di tutte le cose e universale in tutte le parti della pittura«,126 zeigte auf jeder dieser Wände, dass er gleichsam »in tausend Zungen sprechen« konnte.127 Gemäß dem Ideal einer eloquenten, souverän über die Tradition verfügenden Malerei setzte er sich auf jeder der Wände mit stilistisch unterschiedlichen Vorbildern auseinander. Er paraphrasierte Michelangelos Kolossalstil (Abb. 101),128 machte sich die anmutige Manier Raffaels und Perino del Vagas zu eigen (Abb. 102) und im Tod Absaloms (Abb. 103) rezipierte er flämische und oberitalienische Landschaften und zitierte in der Figur Absaloms, des-

men von Gemälden Auskunft geben, siehe Michaela Marek: Ek-

der herbeigekommenen Menge ein jeder sie in seiner Mutter-

phrasis und Herrscherlob. Antike Bildbeschreibungen bei Ti-

sprache predigen hörte (Apg 2, 2–11). Als neutestamentliches

zian und Leonardo. Worms 1985, S. 5, Anm. 25 u. S. 33f.

Geschehen hebt das Pfingstwunder die Folgen seiner alttesta-

125

Zit. n. Cheney 1995, Bd. 1, S. 80.

mentlichen Präfiguration auf, der göttlichen Strafe der Sprach-

126

Vasari 1966–97, V, S. 533.

verwirrung nach dem Turmbau zu Babel (1. Mose 11,6f.).

127

Siehe Viktor I. Stoichita: Ars ultima. Bemerkungen zur Kunst-

128

Joannides führt eine Figur dieser Darstellung auf die Schlacht

theorie des Manierismus. In: Bonnet/Kopp-Schmidt 1995, S. 61.

von Cascina zurück. [Paul Joannides: Francesco Salviati et Mi-

Die Apostelgeschichte berichtet vom Pfingstwunder, bei dem

chel-Ange. In: Catherine Monbeig Goguel (Hrsg.): Francesco

sich Zungen auf die Häupter der Apostel setzten und diese, er-

Salviati ou la Bella Maniera. Ausst.-Kat. Rom, Villa Medici, Paris,

füllt vom heiligen Geist, in anderen Sprachen predigten und in

Musée du Louvre, Mailand/Paris 1998, S. 55.]

V ersprachlichungsappelle

195

Abb. 102  Francesco Salviati:

Batseba im Bade, 1552–54, Rom,

Palazzo Ricci-Sacchetti

Abb. 103  Francesco Salviati:

Der Tod Absaloms, 1552–54, Rom,

Palazzo Ricci-Sacchetti

196

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

wie so oft, die Malweise des Künstlers mit seinem Gesprächsverhalten verglich: »Die Arbeit in diesem Saal ist ganz erfüllt von Anmut, wunderschönen Phantasien und vielen einfallsreichen und sinnvollen Erfindungen. Die Unterteilung ist mit sehr viel Überlegung gestaltet, und auch farblich zeigt sich das Werk von allergrößtem Liebreiz. Um die Wahrheit zu sagen, hätte Francesco, der sich als kühn und überquellend vor Erfindungskraft empfand und der eine Hand besaß, die dem Geist folgte, am liebsten nur große und außergewöhnliche Werke in Angriff genommen. Und aus keinem anderen Grund war er seltsam im Umgang mit Freunden (nel conversare con gli amici), als daß ihm, wankelmütig und in mancher Hinsicht wenig standhaft wie er war, heute gefiel, was ihm morgen verhaßt war.«130

Ut pictura conversatio!

Abb. 104  Francesco Salviati: Batseba begibt sich zu David (Chinoiserien

in der oberen Bordüre), 1552–54, Rom, Palazzo Ricci-Sacchetti

Hermetische Bildprogramme und ihre Deutungshoheit Hermetische Bildprogramme und ihre Deutungshoheit: Die Galerie Franz’ I. und der Wald von Bomarzo

sen Haare sich in dem Geäst eines Baumes verfangen haben, den Apoll von Belvedere. Obendrein bereicherte er die mannigfaltigen Fresken, die Catherine Dumont als Kulminationspunkt einer langen Ausstattungstradition gewürdigt hat, mit Motiven fernöstlicher Kunst (Abb. 104).129 Giorgio Vasari hat dieses Werk seines Jugendfreundes denn auch gelobt, es aber auch mit einer moralisierenden Bemerkung bedacht, bei der er,

Zeigen die erwähnten Fresken Vasaris und Salviatis, dass die Künstler die zeitgenössischen Praktiken der Versprachlichung ihrer Werke selbstverständlich mitbedacht und angeregt haben, so gibt es auch Beispiele, bei denen Überforderungen der Rezipienten in Kauf genommen und sogar bewusst eingesetzt wurden. Das distinktive Moment der manieristischen Hofkunst tritt deutlich hervor in der Galerie des François Ier im Schloss

129 Catherine

130

Dumont: Francesco Salviati au Palais Sacchetti de

Giorgio Vasari: Das Leben des Francesco Salviati und des Cristo-

Rome et la décoration murale italiènne (1520–1560). Rom 1973;

fano Gherardi. Neu übers. v. Victoria Lorini, hrsg., komm. u. ein-

Michael Hirst: Salviati’s chinoiserie in Palazzo Sacchetti. In: Bur-

gel. v. Sabine Feser. Berlin 2009, S. 51. »[…] E non per altro fu

lington Magazine, 121, 1979, S. 791–792; Luisa Mortari: Francesco

strano nel conversare con gli amici, se non perché, essendo

Salviati. Rom 1992, S. 68ff. u. 124ff.

vario et in certe cose poco stabile, quello che oggi gli piaceva, domani aveva in odio«. (Vasari 1966–97, V, S. 528.)

H ermetische B ildprogramme und ihre D eutungshoheit

197

Abb. 105 Fontainebleau,

Galerie Franz’ I.

von Fontainebleau,131 die zeigt, wie sehr sich dieser durch den Import modernster italienischer Kunst von heimischen Kulturtraditionen absetzte. Die von Rosso Fiorentino, Primaticcio und ihren Mitarbeitern angefertigten Fresken und Stuckaturen der Galerie (Abb. 105) bilden ein höchst komplexes System von Allegorien, mythischen Fabeln und Emblemen, die Aspekte der Vita des Herrschers aufleuchten lassen. Mit Mitteln der »allusiven Korrelation« (Panofsky) erzeugen sie, wie André Chastel betont hat, ein überraschendes Zusammenspiel von doktrinärem Inhalt und erheiternder Ver-

131

132

198

ve.132 Das Bildprogramm repräsentiert den König als göttlichen Amtsträger, u. a. als antiken Imperatoren und in dem allegorischen Porträt des Königlichen Elephanten mit den ›fleurs-de-lys‹ und der königlichen Initiale ›F‹ auf der Decke, behandelt aber auch seine humanitas, begangene Fehler und Tragödien seiner Vita. So thematisieren die Fresken der mittleren Traveen in allegorischer Form den Abfall des Connétable Charles de Bourbon (Die Rache des Nauplius), die tiefe Liebe des Königs zu seiner Mutter (Kleobis und Biton), die Geißelhaft seiner Söhne (Die Zwillinge von Catania, Abb. 106),

Ihr Bildprogramm wurde in Graphiken reproduziert. Franz I.

permit partial as well as multiple comparison: any given person

rief zudem in Fontainebleau einen Manufakturbetrieb ins

can be likened to any number of archetypes, and it does not

Leben, der sechs der Wandfelder in einer Folge von Tapisserien

matter if the analogy is valid only in regard to one quality or ac-

(Wien, Kunsthistorisches Museum) wiedergab. Siehe Tauber

complishement while being utterly inapplicable in all other re-

2009, S. 315ff.

spects.« (Dora und Erwin Panofsky: The Iconography of the Ga-

André Chastel: Le Système de la galerie. In: Sylvie Béguin, Oreste

lerie François Ier at Fontainebleau. In: Gazette des Beaux-Arts,

Binenbaum u. a.: La Galerie François Ier au Château de Fon-

II, 1958, S. 130; differenzierend dazu William McAllister Johnson:

tainebleau. Revue de l’Art, Numéro spécial 16–17, 1972, S. 148.

Once More the Galerie and La Galerie La Galerie François Ier au

Über die Formen der allusiven Bedeutungsstiftung schrieben

Château de Fontainebleau. In: Gazette des Beaux-Arts, 103, 1984,

Dora und Erwin Panofsky: »The rules of ›allusive correlation‹

S. 127–144; Tauber 2009, S. 203ff.)

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Abb. 106  Rosso Fiorentino:

Die Zwillingen von Catania,

um 1534–37, Fontainebleau,

Galerie Franz’ I.

Abb. 107  Rosso Fiorentino:

Die Erziehung des Achill,

um 1534–37, Fontainebleau,

Galerie Franz’ I.

der Bedingung der Freilassung nach seiner Gefangennahme in der Schlacht von Pavia, und den frühen Tod des Dauphins (Der Tod des Adonis). Als eine gemalte Lobrede unterlag das Bildprogramm der Galerie einem besonderen Innovationsgebot. Schon in der Antike galt es, im genus demonstrativum Eloquenz zu demonstrieren, und auf Seiten des Publikums, solche zu beurteilen.133 Die epideiktische Rede bedarf eines reichen ornatus und der Verwendung von Tropen, den kunstvollen Mitteln der Übertragung und Verschlüsselung von Bedeutungen. Denn

gehen Allegorien in den allgemeinen Sprachgebrauch ein, so wird man sich ihrer, wie Quintilian erläutert hat, nicht mehr bewusst. Daher muss der Festredner Erfindungsgeist zeigen, »denn das Neuartige und Überraschende ist es, was den Ausdruck reizvoll macht, und größeren Genuß bietet das Überraschende.«134 Wie viele Bildprogramme ihrer Zeit entspricht die Galerie Franz’ I., die promenade du Roi, diesen Maßstäben; sie verlangte nach gebildeten, geistesgewandten Rezipienten und stellte diese vor die Aufgabe, das ingenium des Souveräns, des ideellen Autors der Galerie, und seiner

133

134

Aristoteles: Rhetorik, I, 3 (1358b).

H ermetische B ildprogramme und ihre D eutungshoheit

Quintilian: Institutio oratoria, VIII, 6, 51.

199

Künstler und ihre kühnen, eine »mira sublimitas«135 bewirkende Bedeutungsübertragungen nachzuvollziehen. Tatsächlich sind die Darstellungen von Rosso und seinen Mitarbeitern voll von Zitaten und Paraphrasen der Kunst Raffaels und Michelangelos,136 den Franz I. umworben hat und von dem er unbedingt ein Werk haben wollte.137 So zeigt die Darstellung der Zwillinge von Catania bzw. der Piété filiale (Abb. 106), wie Amphinomus und Aenapias ihre Eltern nach dem ÄtnaAusbruch aus der brennenden Stadt retten, während einige Figuren im Hintergrund nur egoistisch ihre Habe in Sicherheit bringen. Bei der Konzeption der beiden Trägergruppen wird sich Rosso der ähnlichen Motive in Michelangelos Sintflut-Freskos (Abb. 63) und in Raffaels Brand des Borgo (Abb. 61) erinnert haben. Zudem fügte er ergänzend einen scherzo di fantasie hinzu, indem er das Tragemotiv in den Kindern wiederholte, die ein Hündchen und eine Puppe retten.138 Auf einem weiteren Wandfeld (Abb. 107) zeigt das zentrale Fresko die Erziehung des Achill – gemeint ist die des Dauphins – und die flankierenden Darstellungen zwei mit Bändern gefesselte Giganten. Während das Fresko in simultaner Darstellung zeigt, wie der weise und sanftmütige Kentaur Chiron den Heros im Schwimmen, im Schwertkampf und dem Führen der Lanze unterweist, repräsentieren die gefesselten Giganten rohe Kraft und haltlose Leidenschaft. Bei ihnen handelt es sich um Parodien der ignudi Michelangelos. An der Decke der Sixtina sind zwischen diesen runde Reliefscheiben zu sehen, welche an Bändern aus Stoff hängen, die an Ringen befestigt sind oder von den ignudi gehalten werden (Abb. 108). Jene Giganten, die in Michelangelos Fresken

Bänder halten, hat Rosso in von Bändern gehaltene ›wilde Männer‹ verwandelt und sich so ironisch von der terribilità Michelangelos distanziert.139 Es fehlen uns fast jegliche Quellen, die unmittelbar Auskunft geben über das Verhalten, welches das exklusive Publikum in der Galerie François Ier einst an den Tag gelegt hat.140 Zweifellos unterlag dieses den Ansprüchen der Geselligkeit, war doch die Galerie, die sich von antiken Wandelgängen (ambulacri) ableitete, als »höfischer Konversationsraum« definiert,141 als ein den Blick auf Gartenanlagen eröffnender Ort der naturnahen Rekreation, des Spaziergangs und der zufälligen Assoziation. Zu Letzterer ist es in den Zeiten Franz’ I. in seiner Galerie aber offenbar nicht gekommen, da diese kein Durchgangsraum war und der Zugang über die Privatgemächer des Königs erfolgte, der den Schlüssel nach einem Bericht Henry Wallops, des Gesandten König Heinrichs VIII. von England, selbst verwahrte.142 Seine Galerie in Fontainebleau hatte eher die Funktion der oberitalienischen studioli als »einer handverlesenen Bildersammlung, deren Vorzeigen im Sinne eines prononcierten Herrschaftsaktes eingesetzt wurde.«143 Der Souverän konnte sie hochgestellten Besucher zeigen und erläutern, und sich »im Kreis seiner Höflinge als der geistreichste Deuter seiner Kunstwerke profilieren und zugleich mit Witz und Ironie auf höchstem Niveau unterhalten.«144 Die Besucher dieses Raumes werden sicherlich den Idealen der Castiglionischen Dialoge entsprochen und sich vor allem zweier rhetorischer Muster bedient haben, die aus der epideiktischen Rede hervorgegangen sind, des panegyrikos und der ekphrasis, der Lobrede auf den Herrscher und das Kunstwerk. Die

135

Ebda., VIII, 6, 11.

139

136

Siehe Paola Barocchi: Il Rosso Fiorentino. Rom 1950, S. 124; Ste-

Michelangelos Gefesselte für das Grab Julius’ II. Bezug nahm,

phen J. Campbell: »Fare una Cosa Morta Parer Viva«: Michelan-

wobei die heute im Louvre befindlichen Sklaven erst später nach Frankreich kamen.

gelo, Rosso, and the (Un)Divinity of Art. In: The Art Bulletin, 84, 2002, S. 596–620; Tauber 2009, S. S. 207ff. 137

140

S. 198f.; Christine Tauber: Die politisch-zeremonielle

Zu den zeitgenössischen Beschreibungen der Galerie siehe die Quellenauswahl im Anhang von Tauber 2009, S. 339ff.

Tauber 2009, S. 312f.

138 Ebda.,

Brassat 2003, S. 272ff. Es wäre auch denkbar, dass Rosso hier auf

141 Frank

Nutzung der Grand Galerie in Fontainebleau durch François Ier. In: Barbara Stollberg-Rilinger/Thomas Weißbrich (Hrsg.): Die

142

Bildlichkeit symbolischer Akte. Münster 2010, S. 263.

143 Ebda. 144

200

Büttner: Die Galleria Riccardiana in Florenz. Frank-

furt/M. 1972, S. 121ff. Tauber 2010, S. 254. Ebda., S. 258 (auch Tauber 2009, S. 198 u. 200).

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Abb. 108 Michelangelo: Ignudi,

um 1510, Vatikan, Sixtinische Kapelle

ekphrasis war in der Frühen Neuzeit das Paradigma ästhetischen Verhaltens.145 Dabei musste der Hofmann gefallen, seine Sätze und Gesten sitzen, er durfte nicht langweilen und das Gespräch durch Monologe an sich reißen. Wie förmlich oder gelöst die Konversation in der Galerie von Fontainebleau ausfiel, dies wird nach Anlass und Personenkreis variiert und im Ermessen des Hausherrn gelegen haben. Er bestimmte die Stunde und den Ort der heiteren Muße und war bei der Rezeption der dortigen Bildprogramme die letzte Instanz. Die ingeniösen, rätselhaften Kunstwerke erlaubten es ihm, die Förmlichkeit oder Ausgelassenheit, den Grad der Intimität und das Maß seiner Selbstdreingabe bei ihrem kommunikativen Gebrauch fallweise zu bestimmen.

Souverän legt die Sinnschichten arbiträr frei und kann sie seinen jeweiligen Intentionen entsprechend erklären, da sie nicht abschließend deutbar sind.«146

Wissen ist Macht und Erläuterung von Unverständ-

Als Franz I. Henry Wallop am 17. November 1540 seine Galerie zeigte, war dieser überfordert – eine im Bildprogramm intendierte Wirkung. Er hielt z. B. eine Venus für eine Lucrezia und musste schließlich konzedieren, »er fühle sich für die ikonografischen Spitzfindigkeiten nicht hinlänglich gebildet.«147 Man hat angesichts der forcierten, zum Hermetischen tendierenden Ingeniösität solcher Bildprogramme oft von einer Krise der Kunst der Renaissance gesprochen.148 Wie die Galerie François Ier zeigt, korrelierte dieser eine Krise der Geselligkeit. Für Castiglione, der in seinem Libro del Cortegiano auf die Gegebenheiten in den überschaubaren Hofhaltungen des Quattrocento und ihre intimen Gesprächsrunden zurück-

Svetlana Alpers: Ekphrasis and Aesthetic Attitudes in Vasari’s

146

Tauber 2010, S. 264f.

Lives. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 23,

147

Ebda., S. 254.

1960, S. 190–215; Marek 1985.

148

Siehe oben, Anm. 91; André Chastel: La Crise de la Renaissance

»Allein der König hat die Deutungshoheit in ›seiner‹ Galerie. Er bestimmt nicht nur den Ablauf der Besichtigung, sondern vor allem auch die Zeit, die der Besucher vor den Bildern verbringen darf. […]

145

lichem ein herrscherlicher Gnadenbeweis. Der

H ermetische B ildprogramme und ihre D eutungshoheit

201

Abb. 109  Die Schildkröte, Bomarzo, Parco di Mostri

blickte, war es noch eine selbstverständliche Voraus­ setzung, dass die Geselligkeit unter Ranggleichen stattfand.149 Indem diese und ihr humanistischer Anspruch aber zu einem Bestandteil der frühabsolutistischen Herrschaftslegitimation wurde, wie die Galerie Franz’ I. zeigt, geriet das Ideal geselligen Verhaltens in Konflikt mit dem Hierarchiebewusstsein der wachsenden und sich differenzierenden Hofhaltungen, neuen Geboten respektiven Verhaltens150 und den frühabsolutistischen Ambitionen der die Geselligkeit lizensierenden Potentaten. Das Merkmal einer intendierten Überforderung charakterisiert auch eine im Auftrag eines anarchischen Außenseiters entstandenen Gartenanlage, den heiligen Wald von Bomarzo.151 Vicino Orsini, der letzte Feudalherr von Bomarzo, ließ diesen Park der Wunder von 1552 bis zu seinem Tod im Jahre 1585 von Pirro Ligorio, Giacomo Barozzi da Vignola u. a. anlegen. Das von ihm entwickelte, in einer obskuren Bildsprache ausgeführte Bildprogramm vereint Stoffe der griechischen Mythologie, der antiken Geschichte und aus Dichtungen wie Ariosts Orlando furioso mit Elementen

(1520–1600) [dt.: Die Krise der Renaissance (1520–1600)]. Genf 1968. 149 Siehe 150

Abb. 110  Das schiefe Haus, Bomarzo, Parco di Mostri

seiner eigenen Vita und behandelt zudem weltgeschichtliche Ereignisse wie die Entdeckung Amerikas. Doppelgesichtige Hermenfiguren, die fama auf dem Rücken einer riesigen Schildkröte (Abb. 109), eine Aztekenmaske, das Höllenmaul und das schiefe Haus (Abb. 110) sind einige der architektonischen und skulpturalen Exponate des Parco di mostri, in dem die Signifikanz der Zeichen keiner kohärenten, unmittelbar verständlichen Ordnung folgt. Mit dem »Hochmut der überkommenen Adelskultur gegen Emporkömmlinge« entwarf der von den Farnese in die Lehnspflicht Genommene einen Garten, in dem er sein Motto »Ich mache, wieviel ich kann« auffällig platzieren ließ und »die Gelehrsamkeit und Einfühlungsgabe eines jeden

151

Siehe Maurizio Calvesi: Gli incantesimi di Bomarzo. Il Sacro Bosco tra arte e letteratura. Mailand 2000; Luke Morgan: The

Castiglione: Il libro del Cortegiano, II, 18ff. (Castiglione

Monster in the Garden. The Grotesque and the Gigantic in Re-

1986, S. 129ff.)

naissance Landscape Design (Penn Studies in Landscape Archi-

Schmölders 1986, S. 24.

tecture). Philadelphia, PA 2015; Renate Vergeiner: Bomarzo. Ein Garten gegen Gott und die Welt. Basel 2017.

202

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Besuchers der Probe unterziehen konnte«.152 Das Kunstwerk ist auch in diesem Fall kein allgemeinverständliches Ruhmesmal mehr, sondern ein tiefgründiges Konstrukt, das mehr noch als den kommunikativen Nachvollzug das Stocken desselben, die Nachfrage und die Belehrung provoziert. Während die Bildprogramme der Farnese zuweilen durch eine lapidare Sprache der Mächtigen charakterisiert werden, wie die Fresken der Gebrüder Zuccari mit den Fasti Farnesiani in Caprarola,153 unterwarf Orsini mit absolutistischer Prätention die Rezeption des hermetischen Bildprogramms seines Gartens der eigenen Deutungshoheit.

Giorgio Vasaris Erläuterungen eigener Werke

Die oft rätselhafte und hermetische Kunst des Manierismus zeigt, dass die Künstler die neue Macht, die ihnen als Autoren der visuellen Repräsentation ihrer Auftraggeber zukam, selbstverständlich auch genossen haben. Giorgio Vasari, der Kunstintendant Cosimos I. de’ Medici, hat diese vor allem in seinen wohl 1558 konzipierten, 1568 in der Giuntina angekündigten, aber erst 1588 posthum von seinem Neffen publizierten154 Ragionamenti ausgekostet. In Anlehnung an die Rahmenhandlung der Eikones erklärt er in dieser Schrift beim

152

Gang durch den Palazzo Vecchio dem minderjährigen Medici-Prinzen die von ihm und seiner Werkstatt gemalten mythologischen und historischen Wandmalereien.155 Diese weitgehend fingierten Dialoge sind in drei giornate unterteilt, in denen zunächst die oberen Säle mit Darstellungen der Götterwelt, sodann die Taten der Medici und schließlich die Ausmalung der Sala grande (Sala dei Cinquecento) erörtert werden. In den Ragionamenti hebt Francesco de’ Medici immer wieder an, zu fragen: ›Aber sage mir, mein Giorgio, was bedeutet dies und jenes‹, »voletemelo dire?«,156 worauf der Kunstintendant in seiner Rolle als Prinzenerzieher und gewissermaßen als ›Super-Philostrat‹ zu glänzen weiß. So fragt Francesco in der Sala di Cosimo il Vecchio angesichts der Rückkehr Cosimos des Älteren aus dem Exil erstaunt nach den dargestellten Häusern vor der Porta di San Gallo, die er nicht kenne, worauf er belehrt wird, dass dieses Quartier bei der Belagerung von Florenz im Jahre 1530 zerstört wurde.157 Unter dem Deckenfresko der Sala di Clemente VII mit der Krönung Kaiser Karls V. (Abb. 111) betont Vasari, dass er selbst am 24. Februar 1530 in Bologna bei diesem Ereignis zugegen war und das Gemälde aus der Erinnerung gemalt habe,158 was sicher nicht zutrifft, da er kaum mehr als ein Zaungast der Krönung gewesen sein wird und sein Zibaldone eine komprimierte Übersetzung des Krönungsberichtes aus Paolo Giovios Historiarum sui temporis aufweist.159 Vasari nennt sodann die dargestellten

Vicino Orsini und der heilige Wald von Bomarzo. Ein Fürst als

MENTI; translated with introduction and notes. Ann Arbor 1995,

Künstler und Anarchist. Text von Horst Bredekamp, Fotografien

S. 57ff; siehe auch Dorit Malz: »ragionare in detto dialogo«. Die

von Wolfram Jantzer, Worms 1985, Bd. 1, S. 32, 35.

Sala dei Cinquecento im Palazzo Vecchio in Florenz. Giorgio Va-

153

Siehe Kliemann 1993, S. 55–67; Brassat 2003, S. 191ff.

saris malerisches Ausstattungsprogramm und die terza giornata

154

Kliemann 1993, S. 72; Arwed Arnulf: Vasaris unverständliche Bil-

seiner Ragionamenti. Diss. FU Berlin 2008, S. 51–74 [https://

der. Funktion und Intention verrätselter Bilderfindungen. In:

refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/2322/Dorit_ Malz_Diss_online.pdf?sequence=1].

Caroline Zöhl/ Mara Hofmann (Hrsg.): Von Kunst und Temperament. Festschrift für Eberhard König. Turnhout 2007, S. 31. 155

156

Vasari 1882, S. 104. Wiederholt spricht der Prinz Vasari mit »Gior-

Giorgio Vasari: Ragionamenti del Sig. Cavaliere Giorgio Vasari,

gio mio« an (ebda., S. 18, 115) und fragt immer wieder: »[…] ditemi

pittore et architetto aretino: sopra le inuentioni da lui dipinte in

che cosa è« (ebda., S. 111), »ma ditemi un poco, che storia è questa

Firenze nel Palazzo di loro Altezze Serenissime. Florenz: Giunti

[…]« (ebda., S. 108), »[…] ma ditemi, Giorgio, chi è quella donna in

1588; Gaetano Milanesi (Hrsg.): Le opere di Giorgio Vasari.

questo angulo a man ritta, che ha la croce in mano […]«. (Ebda.)

Bd. VIII: I Ragionamenti e le lettere edite e inedite di Giorgio Va-

157

Ebda., S. 94.

sari. Florenz 1882. Zur Tradition der Textgattung: Jerry L. Draper:

158

Ebda., S. 168.

Vasari’s Decoration of the Palazzo Vecchio: The RAGIONA-

159

Alessandro del Vita: Lo Zibaldone di Giorgio Vasari. Rom 1938,

G iorgio Vasaris E rläuterungen eigener Werke

203

Teilnehmer. Namentlich listet er die Reihe der sitzenden Kardinäle auf, Salviati, Piccolomini, Ridolfi und Alessandro Farnese, den späteren Papst Paul III.,160 sowie die im Vordergrund porträtierten Fürsten, Herzog Francesco Maria von Urbino, Don Antonio de Leva, Andrea Doria, Alessandro de’ Medici und Pedro de Toledo, die Francesco ohne Umschweife erkennt – besser als er sie gemalt habe, wie Vasari mit ins Absurde abgleitender Höflichkeit anmerkt.161 Als Francesco bei den Namen dreier Standartenträger nachfragt, er könne die Genannten nicht erkennen, erklärt er spitzfindig, weil er ihre Porträts nicht beschaffen konnte, habe er zwei von ihnen hinter dem Altar platziert, wo man sie nicht sehen könne, und den dritten Träger, Signor Lorenzo Cibo, von der päpstlichen Standarte überschnitten dargestellt.162 Leider könne der Maler, so führt er an späterer Stelle aus, nur einen Moment einer Handlung wiedergeben (»un solo atto in una storia«), wie es die besten Meister nach guter Sitte stets getan hätten.163 Vasari hat zu seinen eigenen Werken zahlreiche Erläuterungen geschrieben, in Briefen, in seiner Autobiographie in den Viten und den Ragionamenti.164 In einigen Briefen erklärte er Auftraggebern schwer verständliche Bilderfindungen, z. B. in dem im Herbst 1534 verfassten Schreiben an Ottaviano de’ Medici, seinen damals wichtigsten Förderer, sein Porträt des Herzogs Alessandro de’ Medici (Florenz, Uffizien) und in dem am 20. Januar 1543 verfassten, von Paolo Giovio überbrachten Brief an Kardinal Alessandro Farnese die für diesen gemalte Allegorie der Justitia (Abb. 112).165 In diesen Schreiben finden sich hilfreiche Erläuterungen un-

S. 91, bes. Anm. 1; Thomas S.R. Boase: Giorgio Vasari. The Man and the Book. Princeton 1979, S. 16.

Abb. 111  Giorgio Vasari: Krönung Kaiser Karls V., um 1560, Florenz, Palazzo

160

Vasari 1882, S. 171.

161

Ebda., S. 172f.

162

Ebda., S. 170.

163

Ebda., S. 172.

164

Siehe Elizabeth McGrath: Il senso nostro. The Medici Allegory Applied to Vasari’s Mythological Frescoes in the Palazzo Vec-

Vecchio, Sala di Clemente VII

chio. In: G. C. Garafagnini (Hrsg.): Giorgio Vasari tra decorazione ambientale e storiografia artistica. Florenz 1985, S. 117–134; Arnulf 2007. 165

204

Giorgio Vasari: Der literarische Nachlaß. Hrsg. v. Karl Frey, Bd. 1,

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

Abb. 112  Giorgio Vasari: Allegorie der Justitia, 1542/43, Neapel, Museo di Capodimonte

gewöhnlicher Motive, wie z. B. des Straußenvogels und des Flusspferds am Szepter der Astrea in der Allegorie in Neapel. Vasari erklärte, der dem Himmel und der Erde zugehörige Laufvogel verweise auf die menschliche und die göttliche Komponente der Justitia und das Nilpferd, das mit mörderischer Rücksichtslosigkeit selbst gegen die eigenen Eltern vorgehe, sei ein Vorbild für Richter, die auch Verwandte nicht schonen dürften.166 In den genannten Schreiben finden sich aber

166

auch völlig arbiträre Sinnzuschreibungen, wie die Erklärung, das rote Tuch in dem Porträt des Herzogs Alessandro symbolisiere das vergossene Blut der Florentiner.167 Wie schon Elisabeth McGrath dargelegt hat, gibt es in den Ragionamenti einander widersprechende Ausdeutungen Vasaris,168 der seinen Werken gelegentlich auch einen nachträglich erdachten tieferen, »adulativ-panegyrischen Bildsinn« applizierte.169 In den Ragionamenti schmeichelt Vasari Francesco, indem er in der Sala di Cerere die Nährung des Triptolemus als Allusion auf den Prinzen und seine Brüder deutet, die geboren seien, um Stadt und Volk zu regieren, und, mit göttlicher Milch genährt, unsterblich würden.170 In der Giornata seconda aber, in der unter der Sala di Cerere gelegenen Sala di Cosimo il Vecchio assoziiert Vasari, wie im Bildprogramm vorgesehen, diesen, den vermeintlichen Begründer der Medici-Dynastie und ›Pater patriae‹, mit der ›Mater Ceres‹ und auch mit der Nährung des Triptolemus.171 Wie im Bildprogramm intendiert, vergleicht Vasari in den oberen Gemächern des Palazzo Vecchio Jupiter mit Herzog Cosimo I. – die Sala di Giove liegt über der Sala di Cosimo I –; er versteigt sich dann aber auch zu der Behauptung, Junos Eifersucht, die sie anstachelte, Kallisto und Io zu verwandeln, verbildliche die Sorge der Herzogin Eleonora um die Nonnen und Klöster.172 So werden auch mythologische Szenen, »die keiner Erklärung bedürfen, […] mit einer gesuchten, ihre tatsächliche bildliche Aussagevalenz überhöhenden Auslegung zu vermeintlich verrätselten Bildern erklärt.«173 Hinsichtlich der Deutungshoheit der Werke hatte sich zwischen Künstlern und Auftraggebern eine Allianz gebildet, die sich vielfach bewährt hat, aufgrund des Rangunterschieds aber auch eine labile war. Denn die ›frechen‹ Ansprüche der Künstler provozierten auch eine vielstimmige Kritik.

München 1923 (ND Hildesheim/New York 1982), S. 27–29 (Nr. X)

170

u. S. 121f. (Nr. L).

171

Ebda., S. 86.

Ebda., S. 121f.; Arnulf 2007, S. 25.

172

Ebda., S. 76: »[…] e sendo gelosa di Giove suo marito, dinota la

Vasari 1882, S. 58.

167

Vasari 1923, S. 28; Arnulf 2007, S. 23.

cura che tiene la signora duchessa nostra delle sacre vergini e

168

McGrath 1985.

monasteri«. Vgl. McGrath 1985, S. 125ff.; Arnulf 2007, S. 28.

169

Arnulf 2007, S. 31.

G iorgio Vasaris E rläuterungen eigener Werke

173

Arnulf 2007, S. 28.

205

Die Kritik der Kirche und der Akademien am künstlerischen Eigensinn und ihre Resonanz in der Kunstliteratur Die Kritik der Kirche und der Akademien am künstlerischen Eigensinn

Auch die Kunsttraktate der katholischen Reform sollten alle Bilder im Kirchenraum verbieten, die geselligen Vergnügungen Anlass boten: obskure, taktlose, ungeordnete, spekulative etc.175 Im Zuge der Autonomisierungs- und Intellektualisierungstendenzen hatten

sich ein künstlerisches Individualrecht durchgesetzt176 und unter den Kriterien verschiedener Leitdifferenzen (disegno – colorito, terribilità – grazia, difficoltà – facilità, antica – moderna, ars docta – ars insana etc.) zahllose individuelle maniere ausgebildet. Zugleich wurde die im Verlauf der Renaissance zu einem quasi religiösen Gut aufgestiegene Kunst177 von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in Anspruch genommen, wobei sich elitäre und populäre Kunstsprachen ausdifferenzierten178 – ein Vorgang, den die nachtridentinische Bildtheologie durch eine reintegrative ars una rückgängig machen wollte. Ihr Fanal war die Übermalung von Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtina. Nachdem der Künstler am Freitag, dem 18. Februar 1564, in Rom gestorben war, ließ Cosimo I. seinen Leichnam rauben und nach Florenz bringen, wo man Michelangelo als dem Exponenten der florentinischen Kunst am 14. Juli eine triumphale Totenfeier ausrichtete und ihn in Santa Croce bestattete. Derweil erhielt in Rom Daniele da Volterra gemäß dem Beschluss einer mit der Prüfung der Dekrete des Trienter Konzils befassten Kardinalsdeputation vom 21. Januar 1564 den Auftrag, im Jüngsten Gericht zwei Heilige neu zu malen und die Blößen der nackten Heiligen zu bedecken.179 Mit der Korrektur des späten Hauptwerks Michelangelos, die Daniele den Spottnamen »il braghettone« (der Hosenmacher) eintrug, demonstrierte die Kirche ihre Verfügungsgewalt über alle Kunst im Kirchenraum. Kritik am künstlerischen Eigensinn ist auch von anderer Warte vorgebracht worden. Giorgio Vasari hat hartnäckig die Rechte der Künstler gegen jede Bevormundung durch Unkundige verteidigt. Er hat den Be-

174

177

Die Expansion der geselligen Kunstrezeption und ihr dienender Kunstwerke bis in die Sphäre sakraler Kulträume hinein, die Lottos Intarsien in Bergamo eindrucksvoll bezeugen, hat selbstverständlich Widerstände, vor allem seitens der Kirche, produziert. Nach dem Konzil von Trient wäre ein solches Werk, wie auch Parmigianinos erotisches Altarbild der Madonna mit dem langen Hals, undenkbar gewesen. In den tridentinischen Verordnungen zum rechten Bildgebrauch verfügte die katholische Kirche, es müsse bei »[…] dem heiligen Gebrauch von Bildern jeglicher Aberglaube beseitigt, jede schmutzige Gewinnsucht ausgemerzt und alle Sinnlichkeit vermieden werden, sodass die Bilder nicht gemalt oder ausgestattet werden mit verführerischen Reizen […]. Damit diese Dinge getreulicher befolgt werden, beschließt die heilige Synode, dass niemand in einer Kirche oder an irgendeiner anderen Stelle ein ungewöhnliches Bild aufstellen oder aufstellen lassen darf, es sei denn, dass der Bischof dies gebilligt hätte.«174

De invocatione, veneratione et reliquiis sanctuorum, et sacris Dekret über Heiligen- und Reliquienverehrung. Heilige Bilder, hier zit. n. Held 2016, S. 169.

175

176

u. 110.) 178

Siehe Patricia Emison: High and Low Style in Renaissance Art. New York 1997.

Siehe die mit den genannten Attributen überschriebenen Kapitel in Gabriele Paleotti: Discorso intorno alle imagini sacre et

So hob Vasari hervor, dass man Zeichnungen Michelangelos wie Reliquien verehrte (tenuta per reliquia). (Vasari 1966–97, VI, S. 7

imaginibus: Concilium Tridentinum, 25. Sitzung, 3.–4.12.1563,

179

Siehe Vasari 1966–1997, V, S. 547; Christian Hecht: Katholische

profane (Bologna 1582). In: Barocchi 1961, S. 117–509.

Bildertheologie im Zeitalter von Gegenreformation und Barock.

Siehe Martin Warnke: Praxisfelder der Kunsttheorie. Über die

Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti

Geburtswehen des Individualstils. In: IDEA, 1, 1982, S. 54–71.

und anderen Autoren. Berlin 1997, S. 444f.

206

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

griff des »capriccio« in die Kunstliteratur eingeführt,180 der durch Giovanni Andrea Gilios 1564 publizierten Dialogo nel quale si ragiona degli errori e degli abusi de’ pittori circa l’historie zum Schmähbegriff der theologischen Kunstkritik wurde,181 und viele capricci und bizzarie seiner Kollegen gelobt. Doch auch er beklagte, dass immer mehr Kunstwerke, anstatt, von jedem gesehen und beurteilt, der ganzen Stadt zu dienen, der eingeschränkten Öffentlichkeit der Höfe vorbehalten blieben, und dass viele seiner Kollegen immer »neue, dunkle und ungewöhnliche Sachen« machten.182 Zu Giorgiones Fresken am Fondaco dei Tedeschi in Venedig erklärte er kategorisch, diese würden lauter PhantasieFiguren zur Demonstration der Kunst (»figure a sua fantasia per mostrar l’arte«) zeigen: »ich für meinen Teil habe sie nie verstanden und konnte auch durch Nachfragen niemand ausfindig machen, der sie versteht.«183 Das »mostrare la forza dell’arte«, gegen das Andrea Gilio und die Theoretiker der tridentinischen Bildreform zu Felde ziehen sollten,184 hat auch Vasari kritisch bedacht, z. B. als er in der Vita des Parmigianino erklärte: »Ohne Zahl sind in unserer Kunst diejenigen, die mehr zur Schau stellen wollen als sie vermögen«.185 Den Wunsch, den künstlerischen Eigensinn zu kontrollieren, bezeugt auch die Schrift Selva di notizie von Vasaris Freund Vincenzio Borghini. Der 1541 zum Priester geweihte Humanist und Schriftsteller wurde 1563 zum Luogotenente (Vorsteher) der in diesem Jahr

neu gegründeten Accademia delle Arti del Disegno ernannt. In seiner im folgenden Jahr verfassten, zu Lebzeiten unpubliziert gebliebenen Selva di notizie186 differenzierte er bereits zwischen den Wahrnehmungskompetenzen der Künstler, des Volkes und der gebildeten »intendenti« bzw. »periti de l’arte«.187 Dabei folgte er einem Passus in Ciceros Brutus, in dem im Dialog die Frage erörtert wird, ob das Volk eine Rede anders beurteile als die Experten, was der Autor entschieden verneinte, denn – im Unterschied zur Poesie, deren dunkle Anspielungen manchen unverständlich bleiben müssten – habe sich die Rhetorik um allgemeine Verständlichkeit zu bemühen.188 Borghini hat den Künstlern zugebilligt, sie alleine seien in der Lage, »certe sottiglieze, […] certe diligenzie, […] certe dificultà e particulari intelligenzie de l’arti«189 zu beurteilen. Auch von der Urteilskraft des Volkes hatte der Autor eine hohe Meinung: »Die Allgemeinheit ist immer gut in der Lage, die Gesamterscheinung (un certo tutto) zu beurteilen, zum Beispiel zu sagen, ob eine Skulptur oder eine Malerei gut ausgeführt ist, ob sie gut proportioniert und ähnlich ist, ob sie graziös oder heftig bewegt ist usw. In einem Wort, die Allgemeinheit kann alles, was der Natur angehört, gut wahrnehmen und beurteilen, weil das Volk Instinkt, eine gewisse Kenntnis und ein natürliches Wissen besitzt.«190

180

Kanz 2002, S. 17ff. u. 108ff.

181

Ebda., S. 152.

In: Paola Barocchi (Hrsg.): Scritti d’arte del Cinquecento, Bd. 1,

182

Zit. n. Warnke 1979, S. 20f.

Mailand/Neapel 1971, S. 611–673.

183

Giorgio Vasari: Das Leben des Giorgione, Correggio, Palma il

187

Siehe Frangenberg 1990, S. 47–58.

Vecchio und Lorenzo Lotto. Hrsg. v. Sabine Feser und Hanna

188

Cicero: Brutus, 183–197.

Gründler, Berlin 2008, S. 23f.; Vasari 1966–97, IV, S. 44.

189

Borghini: Selva di Notizie. In: Barocchi 1971, S. 629; Frangenberg

184

186

1990, S. 54, Anm. 30.

Siehe Giovanni Andrea Gilio: Degli errori de’ pittori circa l’historie (1564). In: Barocchi 1961, S. 1–115.

185

renz 1970, S. 87–172; Vincenzio Borghini: Selva di Notizie (1564).

190

Zit. n. Frangenberg 1990, S. 51. »[…] l’universale sempre è buon

Vasari 2009, S. 39; Vasari 1966–1997, IV, S. 531. Diesen Satz in der

giudice d’un certo tutto: come dire s’una scultura o pittura è ben

Einleitung der Vita Parmigianinos in der Torrentiniana hat Va-

fatta, se l’è proporzionata, se l’asomiglia, se l’ha grazia, se l’è fiera

sari in der Giuntina gestrichen.

etc., et insomma tutto quello ch’è della natura lo può ben vedere

Vincenzio Borghini: Selva di Notizie, Ms. K 783 (16) der Biblio-

e bene giudicare, perché egl’ha in sé l’instinto et una certa noti-

thek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz; Paola Barocchi:

zia e naturale scienzia«. (Borghini: Selva di Notizie. In: Barocchi

Una «Selva di Notizie«. In: Un augurio a Raffaelle Mattioli. Flo-

1971, S. 628f.)

D ie Kritik der Kirche und der Akademien am künstlerischen E igensinn

207

Das Urteilsvermögen des Volkes erfasst also die Gesamterscheinung des Kunstwerks, während das der Künstler darüber hinaus dessen besondere Feinheiten wahrnimmt. Borghini hat das Urteilsvermögen des popolo nicht präzise von dem der intendenti abgegrenzt, wobei er betonte, dass das Wiedererkennen von im Bild dargestellten Historien, bei deren Aneignung vermittels der Sprache man innere Vorstellungsbilder ausgebildet habe, maßgeblich zum Vergnügen der Rezipienten beiträgt.191 Letztlich hat der Autor Ciceros Annahme einer Übereinstimmung der Urteile des Volkes und der Experten auf die Kunstrezeption übertragen. Zwar betonte er, wie zuvor bereits Pietro Lauro, die Verschiedenheit der individuellen Perzeptionen des Kunstwerks, die aber im dialogischen Austausch einander ergänzten und so zur Wahrnehmung eines »universale perfetto« und einem allgemeingültigen Urteil führten: »Bedenke auch, daß es nicht wenig wichtig ist, daß die Menge viele Augen und Gehirne umfaßt; der eine sieht ein Ding, der andere denkt über ein zweites nach, und was der eine nicht sieht, das sieht derjenige, der neben ihm steht. So bemerkt der eine dies und der andere etwas anderes, und indem sie miteinander diskutieren, entsteht aus vielen Ein-

gung! Borghini hat sich auch ausführlich mit der damals vieldiskutierten Paragone-Thematik befasst. Dabei ging es ihm um eine Hierarchisierung der Künste und zugleich darum, »die Autonomie des künstlerischen Handelns unter der Bedingung der frühabsolutistischen Herrschaft theoretisch zu institutionalisieren und historisch zu legitimieren«.193 Bemerkenswert ist, dass er den verschiedenen Künsten unterschiedliche Maße an Autonomie zubilligte: Die Architektur könne als nützliche Kunst nicht wie die Malerei und die Skulptur zu den überflüssigen Dingen (»cose superflue«) gezählt werden und daher nur, wenn sie einen künstlerischen Mehrwert habe, »un certo che di magnificenzia e di bellezza«, einen »Platz im Haus der Kunst des reinen Genusses (luogo alcuno in casa d’arte del semplice diletto)« – gemeint war die neugegründete Akademie – beanspruchen.194 Hat Borghini in der Selva di notizie die besonderen Beurteilungskompetenzen der Künstler bestätigt, so verlangte er doch, sie sollten nicht ihren persönlichen Neigungen nachgehen, sondern gewissenhaft die Vorgaben ihrer Auftraggeber befolgen. In anderem Zusammenhang hat er sie als Vorsteher der Akademie unmissverständlich in die Schranken gewiesen, nämlich ihnen in Hinsicht auf die Theorie der Künste erklärt:

zelheiten, die an sich schon perfekt wären, eine umfassende Vollkommenheit (universale perfetto),

»[…] indem ihr anfangt zu diskutieren, verlaßt ihr

und man sieht, daß die Meister, die allgemein der

euer eigenes Haus, in dem ihr die Herren seid, und

Gesamtheit als die besten erscheinen, als solche

kommt in das Haus der Philosophen und Rhetoren,

auch von den besten Kunstexperten wahrgenom-

wo ihr keine zu große Rolle spielt, und wo notwen-

192

digerweise wir die Herren sind«.195

men werden«.

Das kollektive Kommunizieren über Kunstwerke ist demnach unerlässlich für ihre erschöpfende Würdi191 192

Die Florentiner Kunstinstitutionen und Sammlungen, die Akademie, die Uffizien-Tribuna, die Kunst-

Borghini: Selva di Notizie. In: Barocchi 1971, S. 668f.; Frangen-

paiano a l’universale più eccellenti, paiano anche tali a’ piu pe-

berg 1990, S. 56f.

riti de l’arte«. (Borghini: Selva di Notizie. In: Barocchi 1971,

Zit. n. Frangenberg 1990, S. 55. »Agiugnivi che non è di poca im-

S. 629.)

portanza che la multitudine contiene in sé molti oc[c]hi e molti

193 Matteo

cervelli, e chi vede una cosa e chi ne considera un’altra, e quel

Burioni: Die Renaissance der Architekten. Profession

und Souveränität des Baukünstlers in Giorgio Vasaris Viten. Ber-

che non ved’uno, lo vede quel che gli è allato; talché, notando

lin 2008, S. 82.

uno una cosa e quell’altro un’altra e conferendo insieme di molti

194

Ebda., S. 83.

particulari che di per sé sarebbon perfetti, ne nasce [un] univer-

195

Zit. n. Frangenberg 1990, S. 47, der ital. Wortlaut ebda., Anm. 11.

sale perfetto, e si vede che quelli maestri che generalmente

208

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

werkstätten auf den oberen Uffizien-Korridoren etc., wurden zum Vorbild zahlreicher Einrichtungen in ganz Europa. Wie auch die zitierten Äußerungen Vasaris zeigen, bemühte man sich aber bereits an der Florentiner Akademie, wo man stolz war auf den fortgeschrittenen Stand und internationalen Erfolg der heimischen Kunstproduktion, den künstlerischen Eigensinn in Zaum zu halten. Wie Borghinis Ausführungen zeigen, war durch den geselligen kommunikativen Gebrauch von Kunst deren prinzipielle Deutungsoffenheit, ihre u. a. von Dolce erörterte vagghezza, immer stärker ins allgemeine Bewusstsein gedrungen,196 was den katholischen Bildtheologen nicht entgangen ist. So hat Ga­ briele Paleotti in seinem 1582 erschienenen Discorso intorno alle imagini sacre et profane dargelegt, dass »[…] der Betrachter in seiner Imagination ein ganz anderes Verständnis entwickeln wird, als es der Künstler getan hat […]. Folglich kann jegliches dieser Bilder in seiner äußeren Gestalt von jemandem für religiös und heilig gehalten werden, das andere in ihrer Verkommenheit und Gottlosigkeit für ein Götzenbild halten, und andere in ihrer Dummheit für ein weltliches Gemälde, das nur dem Zeitvertreib dient […]. So daß ein und dasselbe Bild unterschiedliche Deutungen hervorbringen wird, je nach dem verschiedenen Verständnis, das die Betrachter von ihm entwickeln.«197

196

197

Abb. 113  Jacopo und Francesco Bassano: Die Vision Joachims, um 1576/77, Corshan Court, Coll. Methuen

Paleottis Kritik, manche Toren (sciocchi) rezipierten religiöse Gemälde als »pittura profana, che serva solo per passatempo«, gemahnt an Werke, wie Dosso Dossis Heiligen Hieronymus mit der als Rebus gestalteten Künstlersignatur (Abb. 84f.), oder auch, um ein zu Paleottis Zeiten aktuelleres Beispiel zu nennen, an die zahlreichen Versionen der Vision Joachims, die Jacopo Bassano mit seiner Werkstatt hergestellt hat (Abb. 113): Sie vergegenwärtigen das heilige Geschehen distanziert im Hintergrund der vorne dargestellten spinnenden und webenden Frauen und des feueranblasenden Knaben – Motive, die zurückgehen auf Plinius’ Lob des Antiphilos von Alexandrien, eines Rivalen des Apelles.198 Um solchen Autonomisierungs- und Profanisie-

Siehe auch Gerald Schröder: ›Ein jeder folge seiner Phantasie‹.

sacre et profane. In: Barocchi 1961, S. 171f.; im Fließtext zit. n. der

Zu den Funktionsweisen der Imagination bei der Betrachtung

dt. Übers. von David Ganz: Die Crux des wahren Bildes. Die

von Kunstwerken im 16. Jahrhundert am Beispiel der Statue des

Maler des kreuztragenden Christus in einem Titelkupfer Theo-

heiligen Georg von Donatello. In: Zeitschrift für Kunstge-

door Galles. In: Johann-Anselm Steiger/Ulrich Heinen (Hrsg.):

schichte, 67, 2004, S. 25–54.

Golgatha in den Konfessionen und Medien der frühen Neuzeit. Berlin 2010, S. 316.]

»Questo aviene perché lo spettatore averà concetto molto diverso nella imaginazione sua da quello che l’artefice ha avuto

198

»Antiphilos wird gelobt wegen eines Knaben, der Feuer anbläst,

[…]. Così, in queste imagini, potrà alcuna di esse, quanto alla

und wegen des Scheines, den das Feuer auf das auch sonst

superficie esteriore, essere tenuta da qualcuno per religiosa e

schöne Haus und das Antlitz des Knaben wirft, ebenso wegen

Sacra, la quale ad altri perversi ed empii si terra per idolo, e da

einer Spinnstube, in der alle Frauen emsig mit ihrer Tagesarbeit

altri sciocchi come pittura profana, che serva solo per pass-

beschäftigt sind«. (Plinius d. Ä.: Historia Naturalis, XXXV, 138. Zu

atempo […]. Di modo che la medesima imagine partorirà più

den erwähnten Werken der Bassani siehe Hans Ost: Malerei und

differenze, secondo i varii concetti che di essa piglieranno i rigu-

Friedensdiplomatie. Peter Paul Rubens’ »Anbetung der Könige«

ardanti […].« [Gabriele Paleotti: Discorso intorno alle imagini

im Museo del Prado zu Madrid. Köln 2003, S. 29ff.)

D ie Kritik der Kirche und der Akademien am künstlerischen E igensinn

209

rungstendenzen und der Gefahr einer ungehemmten Pluralisierung der Bilderfahrung zu begegnen, hat Paleotti zwischen Malern, Gebildeten, Ungebildeten und Geistlichen differenziert, deren unterschiedlichen Rezeptionskompetenzen und Seherwartungen die Künstler durch entsprechende inhaltliche und formale Qualitäten entgegenkommen sollten, um einen »consenso universale« zu erreichen.199 Doch den nachtridentinischen Bemühungen um eine Repragmatisierung der Künste blieb ein durchschlagender und anhaltender Erfolg verwehrt, zumal man außerhalb des Kirchenstaates vielerorts stolz war auf das kulturell Erreichte. Auch die Kunstliteraten haben zum großen Teil die fortgeschrittene Autonomie der Künste bekräftigt. 1584, zwei Jahre nach dem Erscheinen von Paleottis Discorso intorno alle imagini publizierte Raffaele (Raffaello) Borghini seine Schrift Il riposo (Die Einkehr). Wie weitere Florentiner Kunsttraktate der Zeit, z. B. solche von Francesco Bocchi, zeigt auch diese eine deutliche gegenreformatorische Prägung. Raffaele Borghini hat sich dezidiert auf Andrea Gilio berufen. Von ihm übernahm er die Unterscheidung einer »pittura storica«, der sakralen Malerei, welche unter kirchlicher Observanz die heilsgeschichtliche Wahrheit so »getreu, rein, einfach wahrhaftig, zurückhaltend und demütig« darstellen müsse, wie sie gepredigt wird,200 von der »pittura poetica« und der »pittura mista«.201 Sein Traktat ist Don Giovanni de’ Medici, einem unehelichen Sohn Cosimos I., gewidmet, den der Autor als vorbildlichen Dilettanten rühmte, und für Laien bestimmt, die Kenntnisse über die bildenden

199

Künste gewinnen und lernen wollen, fundiert über sie zu reden (»con fondamento favellare«).202 Nach Raffaele Borghini ist auch »das Reden über Kunst […] Kunst, auch der Laie kann durch seine intellektuelle Tätigkeit ein unsterblicher Maler werden«.203 Der Titel der Schrift ist zugleich der Name einer Villa, in der vier Gentilhuomini über die Künste sprechen, nachdem sie dies bereits am Vortag auf der Piazza di San Giovanni in Florenz getan haben. Sie erörtern Werke der Malerei und der Skulptur unter den Gesichtspunkten inventione, dispositione, attitudini, membra und colori.204 Wie Thomas Frangenberg gezeigt hat, bringen die Gesprächsteilnehmer – ganz im Sinne dessen, was Vincenzio Borghini über die vielstimmig dialogische Kunstrezeption ausgeführt hatte – ihre jeweiligen Kompetenzen in das Gespräch ein:205 Bernardo Vecchietti, ein Florentiner Edelmann und gelehrter Kunstsammler, in höfischen Kreisen zu Hause, spricht über Philosophie, Poesie und Geschichte, wobei er in Hinblick auf ästhetische Lizenzen den restriktiven Standpunkt Gilios vertritt. Den Eigensinn der Künste verteidigt hingegen Ridolfo Sirigatti,206 ein Cavaliere di San Stefano, wie auch die beiden weiteren Gesprächspartner, selbst Bildhauer und Sammler, der somit kompetent über künstlerische Techniken und Darstellungsweisen informieren kann. Baccio Valori ist versiert auf dem Feld des Paragone und der Kunsttheorie, Michelozzo hingegen ein wissensbegieriger Laie noch ohne spezifische Kompetenzen. Bereits Giorgio Vasari hatte seine Vite de’ più eccellenti pittori scultori e architettori an Künstler und inte-

Paleotti: Discorso intorno alle imagini. In: Barocchi 1961, S. 493f.;

mehrstimmige Anweisung, eine dogmatische Belehrung, die

hierzu ausführlich Ulrich Heinen: Rubens zwischen Predigt und

keinen Widerspruch duldet.« (Ebda., S. 188f.) Einwände gegen

Kunst. Der Hochaltar für die Walburgenkirche in Antwerpen.

diese Deutung haben bereits Sergio Rosci, Paola Barocchi und

Weimar 1996, S. 31–44.

Thomas Frangenberg erhoben. Siehe Frangenberg 1990, S. 83,

200 Giovanni

Anm. 30, der von einer »Vielzahl von Auffassungen« spricht, »die

Andrea Gilio: Degli errori de’ pittori circa l’historie

es verunmöglichen, die Schrift auf nur eine festzulegen« (ebda.).

(1564), hier zit. n. Held 2016, S. 175. 201 Siehe

Raffaele Borghini: Il riposo, Florenz 1584, reprographi-

202

Zit. n. Frangenberg 1990, S. 78. Ebda., S. 79.

scher Nachdruck Hildesheim 1969. Zur gegenreformatorischen

203

Dimension der Schrift und zu seinem Autor siehe Held 2016,

204

Ebda., S. 82.

S. 185–191, 212, der Il riposo allerdings auf diese beschränkt sieht.

205

Ebda., S. 80f.

Er schreibt: »Borghinis Einkehr ist, wenngleich mehrere Ge-

206

Siehe auch oben, S. 54.

sprächspartner daran beteiligt sind, kein Dialog, sondern eine

210

D IE PR AX IS D E R GE SE LLIGE N RE ZEPTION

ressierte Laien, »amici fuor dell’arte ma a l’arte affezzionatissimi«,207 adressiert. Zugleich haben sich insbesondere in Venedig tätige Autoren, wie der Florentiner Antonfrancesco Doni, Lodovico Dolce und Paolo Pino, »durch die dialogische Struktur ihrer Werke und die Bereitstellung kritischer Terminologie und theoretischer Zugänge zur Kunst«208 an ein Laienpublikum gerichtet. Dessen Bedürfnissen kamen im späten 16. Jahrhundert zahlreiche Schriften entgegen, darunter Borghinis Il Riposo. Auch diverse Beispiele der aus der Mirabilienliteratur hervorgegangenen Gattung der Reiseführer sind hier zu nennen, von denen schon Francesco Albertinis kurzes Memoriale di molte Statue et Picture di Fiorentia (Florenz 1510) sich auf die Kunst, nicht auf die Kirchen und ihre Reliquien konzentriert hatte.209 Dies gilt auch für Francesco Bocchis 1591 publizierten, in erster Linie für Touristen bestimmten Reiseführer Le Bellezze della Città di Fiorenza. Dove à pieno di Pittura, di Scultura, di sacri Tempij, di Palazzi

i più notabili artificij, & più preziosi si contengono. 210 Die 1588 von Girolamo Francini edierte, von Girolamo Ferrucci erweiterte Neuausgabe der Schrift L’antichità di Roma des Antiquars Andrea Fulvio aus dem Jahr 1527 hatte das durch Sixtus V., den ›neuen Augustus‹, erneuerte antike Rom gefeiert. Und Francesco Sansovino, der Sohn des Architekten und Bildhauers Jacopo Sansovino, hatte in Delle cose notabile che sono in Venetia libri due (1561) und Venezia Citta Nobilissima et Singulare, Descritta in XIIII Libri (1581) das freie Leben in der Republik Venedig gepriesen. Dagegen rühmte Bocchi Florenz als Metropole der Künste und schönste unter den Städten Italiens:211 »[…] la città di Fiorenza senza dubbio nella bellezza di pitture, de edifizij, & di sculture è tra le città senza pari.«212 Die vielseitig be­ anspruchten Künste hatten ein Maß an Autonomie erreicht, auf das die kirchlichen und staatlichen Kontrollinstanzen Einfluss zu nehmen suchten, das sie tatsächlich aber nicht mehr aufheben konnten.

207

Vasari 1966–97, I, S. 176.

210

Siehe Frangenberg 1990, S. 130ff.; Schröder 2003a, S. 305–371.

208

Frangenberg 1990, S. 79.

211

Zu den drei genannten Schriften siehe Schröder 2003a, S. 354–

212

Francesco Bocchi: Le Bellezze della Città di Fiorenza, zit. ebda.,

209 Siehe

362.

Gerald Schröder: Der kluge Blick. Studie zu den kunst-

theoretischen Reflexionen Francesco Bocchis. Hildesheim/Zürich/New York 2003, S. 306ff.

S. 311.

D ie Kritik der Kirche und der Akademien am künstlerischen E igensinn

211

KAPITEL V

212

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

ANNIBALE – CARAVAGGIO – DOMENICHINO

Auf die Tendenzen der manieristischen Kunst zum Mehrdeutigen, Enigmatischen und Hermetischen haben die Protagonisten der frühen Barockmalerei, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, trotz der sie einenden Bemühungen um eine neuerliche Fundierung der Malerei auf unmittelbarer Naturbeobachtung durchaus unterschiedlich reagiert. Während Caravaggio Bildkonzepte des Manierismus noch radikalisierte und immer wieder Überlastungen der Rezipienten in Kauf nahm, hegten die Vertreter der Bologneser Malerschule strengere Angemessenheitsvorstellungen. Für gesellige Zwecke bedienten sie sich gesonderter Bildformen wie der Karikatur und sie berücksichtigten in ihren Werken, wie hier beispielhaft an Domenichinos Jagd der Diana gezeigt werden soll, in sozial integrativer Absicht die unterschiedlichen Kompetenzen verschiedener Rezipientengruppen.

Annibales Schlachterladen

Die frühbarocke Erneuerung der Malerei – Giovan Pietro Bellori sprach von ihrer »ristaurazione« durch die Hand Annibales1 – setzte im späten 16. Jahrhundert ein mit der Tätigkeit der Carracci, aus deren Schule Guido

1 2

Giovanni Pietro Bellori: Le vite de’ pittori, scultori ed architetti

ality in art after the Council of Trent. 2 Bde. Den Haag 1974; Marc

moderni (1672). Hrsg. v. Evelina Borea, Turin 22009, Bd. 1, S. 7.

Fumaroli: L’école du silence. Le sentiment des images au XVIIe siècle. Paris 1994, S. 203–253.

Siehe Keazor 2002; Henry Keazor: »Il vero modo«. Die Malereireform der Carracci. Berlin 2007.

3

Reni, Francesco Albani, Domenichino, Lanfranco u. a. hervorgegangen sind. 1582 gründeten Ludovico Carracci und seine Cousins Agostino und Annibale in Bologna die Accademia degli Desiderosi (Akademie der Strebenden), später Accademia degli Incamminati (Akademie der auf den rechten Weg Gebrachten) genannt, die das Studium der Natur, der bedeutendsten Künstler der Hochrenaissance, insbes. Raffaels, und der Antike zu ihrem Programm erhob.2 Boschloo, Fumaroli u. a. haben dessen Kongruenz mit den Maßgaben der tridentinischen Predigt- und Bildreform betont.3 Den Formalismus des späten Manierismus überwanden die Carracci durch eine gesteigerte Wirklichkeitsnähe, ohne dabei die klassischen Ideale aufzugeben. Auf diesem Wege schufen sie u. a. neue Formen monumentaler Altar- und privater Andachtsbilder. Annibale Carracci, der 1560 geborene, wohl begabteste Vertreter der Bologneser Malerschule, wurde erstmalig von Agucchi und später von Bellori als klassizistischer Widersacher Caravaggios dargestellt.4 Doch sein Frühwerk umfasst eine Reihe von programmatisch nach der Natur gemalten, darunter auch satirischen Gemälden, wie den Bohnenesser (Abb. 114), die Darstellung eines scheinbar dem Betrachter gegenübersitzenden, beim Mahl alle Anstandsregeln verfehlenden Bauern. Man hat dieses unlängst als komisches Rollenporträt des mit dem Maler befreundeten Dichters Giulio

Anton W. A. Boschloo: Annibale Carracci in Bologna: visible re-

4

Martina Hansmann: Zur Kunstliteratur des Seicento in Rom: Theorie und Praxis im Dialog. In: Zwei Gesichter der Eremitage

213

Abb. 114  Annibale Carracci:

Der Bohnenesser, 1584/85, Rom,

Galleria Colonna

Cesare Croce in der von ihm geschaffenen komödiantischen Gestalt des Bauern Bertoldo gedeutet.5 In den Jahren 1582/83 malte Annibale Die Metzgerei (Abb. 115). Im Anschluss an niederländische Traditionen, vor allem an Werke der Antwerpener Pieter Aertsen und Joachim Beuckelaer, hatten bereits Vincenzo Campi in Cremona und Bartolomeo Passarotti in Bologna solche Genrethemen behandelt.6 Daran anknüpfend stellte

Annibale das niedere Sujet im anspruchsvollen Format (1,85 × 2,66 m) eines repräsentativen Historienbildes dar. Als eine veritable Bilderzählung zeigt dieses nebeneinander die sukzessiven Arbeitsschritte des Metzgers: das Schlachten des Tieres, das Zerteilen des Leibes, das Abwiegen und den Verkauf der tranchierten Stücke. Zudem hat Annibale in seinem Gemälde berühmte Vorbilder zitiert, nämlich die Darstellungen des Opfer

(Die großen Sammlungen VI), Bd. II: Von Caravaggio bis Pous-

(Hrsg.): »Novità«. Neuheitskonzepte in den Bildkünsten um

sin. Ausst.-Kat. Bonn, Bundeskunsthalle, Bonn 1997, S. 37–46.

1600. Zürich 2011, S. 111–131. Siehe auch Sheila McTighe: Foods

Zur Revision dieser Auffassung siehe Charles Dempsey: Cara-

and the Body in Italian Genre Painting, about 1580. In: The Art

vaggio e i due stili naturalistici: speculare contra maculare. In:

Bulletin, 86/2, 2004, S. 301–323; zum Frühwerk Annibales: Da-

Caterina Volpi (Hrsg.): Caravaggio nel IV centenario della Cap-

niele Benati: Il laboratorio del »vivo«. In: Ders./Eugenio Riccò-

pella Contarelli, Città di Castello 2002, S. 185–196 sowie Sybille

mini (Hrsg.): Annibale Carracci. Ausst.-Kat. Bologna, Museo Ci-

Ebert-Schifferer: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der

vico Archeologico, Rom, DART Chiostro del Bramante, Mailand 2006, S. 88–123.

Maler und sein Werk. München 2009, passim, bes. S. 16, 20, 46, 48f., 242ff. 5

214

6

Siehe McTighe 2004. Wie die Autorin betont, steht der Metzger-

Sybille Ebert-Schifferer: Annibale Carraccis Bohnenesser: Revo-

laden in der Tradition der »social satire in Campi and Passerot-

lution als Nebenprodukt. In: Ulrich Pfisterer/Gabriele Wimböck

ti’s scenes«. (Ebda., S. 315.)

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Abb. 115  Annibale Carracci:

Die Metzgerei, 1582/83, Oxford,

Christ Church Picture Gallery

Noahs, das dieser Jahwe darbrachte, nachdem er und seine Sippe die Sintflut überlebt hatten, in Michelangelos Sixtina-Decke und in den von Raffael und seiner Werkstatt freskierten Loggien des Vatikans.7 An Michelangelos Figuren Noahs und seiner Frau (Abb. 69) orientierte er sich bei der Darstellung des Metzgermeisters und der alten Frau mit dem weißen Kopftuch rechts hinter ihm. Auch die Haltung des Hellebardiers am linken Bildrand scheint auf den nackten Gehilfen zurückzugehen, der links in Michelangelos Fresko ein Schaf herbeizerrt. Aus Raffaels Fresko stammt das Motiv des auf dem Schaf knienden Schächters, den Annibale wahrscheinlich nach einem Nachstich von Marco Dente (Abb. 116) seitenverkehrt wiedergegeben hat. Auch sein Metzgergehilfe, der den halbierten Leib eines

Kalbes an einem Haken aufzuhängen im Begriff ist, geht zurück auf den in dem Stich ebenfalls am rechten Bildrand postierten Mann, der ein Schaf festhält. Bei der Metzgerei handelt es sich somit um eine Travestie, um die Trivialisierung bedeutender Beispiele biblischer Historien, deren Protagonisten in ein niederes profanes Sujet transponiert sind.8 Annibale stammte aus einer Bologneser Handwerkerfamilie, in der einige dem damals prosperierenden, aber schlecht angesehenen Metzgerberuf nachgingen. Mit Humor begegnete er in dem Gemälde in Oxford offenbar dem Ruf, der malende Neffe eines Metzgers zu sein, indem er mit den hehren Vorbildern ein geistreiches Spiel trieb.9 Als eine Verständnishilfe stimmt die Figur am linken Bildrand in die beabsichtigte Wirkung

7

8

John Rupert Martin: The Butcher Shop of the Carracci. In: The

Wie wir gesehen haben, hatte Raffael im Brand des Borgo

Art Bulletin, 45, 1963, S. 265f.; Roberto Zapperi: Annibale Car-

(Abb. 61) die das Feuer anfachende Figur aus Michelangelos

racci. Ritratto d’artista da giovane. Turin 1989, S. 62; Norberto

Dankopfer Noahs in der Figur eines Wasserträgers zitiert, der im

Gramaccini: Annibale Carraccis neuer Blick auf die Antike. In:

Begriff ist, das Feuer zu löschen. Naheliegend ist die Vermutung,

Herbert Beck/Sabine Schulze (Hrsg.): Antikenrezeption im

dass die Carracci von Raffaels ironischen Michelangelo-Zitaten und -Paraphrasen wusste.

Hochbarock. Berlin 1989, S. 58–94; Keazor 2002, S. 120ff. 9

Zur Michelangelo-Rezeption in der Metzgerei von 1583/84 im Kimbell Art Museum in Fort Worth siehe Müller 2015, S. 148ff.

ANN I BALES SCHLACHTERLADEN

215

Abb. 116  Marco Dente nach Raffael:

Das Dankopfer Noahs, um 1515–27,

Kupferstich

der Travestie ein: Der hungrige Hellebardier, ein Angehöriger der Schweizer Garde der Bologneser Gonfalonieri,10 der sich umständlich mit der linken Hand in die rechts an seinem Gürtel hängende Tasche greift, verdeutlicht auch ungeschulten Augen den satirischen Charakter des Gemäldes, dessen Clou indessen nur Kunstkenner nachvollziehen konnten. Wie Gabriele Paleotti in seinem soeben erschienenen Discorso intorno

10

11

alle imagini gefordert hatte, sprach Annibale somit mit seinem Werk sowohl gebildete, als auch ungebildete Rezipienten an.11 Bei der ›linkischen‹ Rezeptionsfigur handelt es sich vor allem aber um einen beißenden kunsttheoretischen Seitenhieb, trägt der Hellebardier doch unzweifelhaft die Züge von Giorgio Vasari (Abb. 117).12 Der Florentiner Kunsthistoriograph, der die Bedeutung der Naturnachahmung zugunsten einer Nachahmung

Zapperi 1989, S. 59f.; McTighe 2004, S. 315. Solche Söldner aus

vation durch Wissenstransfer in der Frühen Neuzeit. Amster-

dem Norden, die Svizzeri und lanzichenechi, waren oft dem

dam (u. a.) 2010, S. 343–384, Zitat S. 383.] Wie er ausführt, hat

Spott der Italiener ausgesetzt.

Annibale in diesem 1587–1595 entstandenen Werk im Sinne Pa-

Ulrich Pfisterer hat an Annibales kolossalem Gemälde Der Hei-

leottis verschiedene Rezipientengruppen angesprochen, näm-

lige Rochus verteilt Almosen (Dresden, Gemäldegalerie Alter

lich einerseits durch »Sinnbilder der theologischen Tugenden

Meister) ein »neues, reflektiertes Verhältnis von ›unmittelbarer

und damit eine Art Kommentar und allgemeingültige theologi-

Naturschilderung‹ und ›interpikturalem‹ Einsatz des künstleri-

sche Explikation des Ereignisses« theologisch kompetente und

schen Erbes« analysiert. [Ulrich Pfisterer: Mythen von künstleri-

mit leicht verständlichen Genremotiven ungebildete Betrachter (ebda., S. 372).

scher Innovation und Tradition. Annibale Carraccis Almosenspende des Hl. Rochus und die Erneuerung der christlichen Malerei um 1600. In: Johann Anselm Steiger u. a. (Hrsg.): Inno-

216

12

Giuseppe Peterlini (TU Dresden): »Scherzi di donne ignude« – Michelangeloparodien in den »Lascivie« von Agostino Carracci.

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

der Werke der besten Meister relativiert und damit das für die manieristische Zitatkunst maßgebliche Konzept formuliert hatte, wurde von den Carracci scharf kritisiert und als »Schwätzer (chiarlone)« gescholten.13 In der Metzgerei hat Annibale den verhassten Verfechter der florentinisch-römischen Kulturhegemonie als komische Gestalt in eine Komposition integriert, die in der Tat Zitate der Werke der besten Meister enthält, durch das Mittel der Travestie aber zugleich den Sinn des Vasarianischen imitatio-Konzepts auf den Kopf stellt.14 Nachdem schon Raffael wiederholt Michelangelo ironisch zitiert und paraphrasiert hatte, waren solche Verfahren auch in den Niederlanden angewandt worden. So hat Pieter Bruegel d. Ä. das Figurenideal des Toskaners, das sich Romanisten wie Jan Scorel und Maerten van Heemskerck zu eigen gemacht hatten, im Rahmen eines 1569/70 von Pieter van der Heyden gestochenen Jahreszeitenzyklus parodiert. In diesem repräsentierte er den Sommer (Abb. 118) allein durch die saisonalen Arbeiten der Bauern, die in den bis dahin üblichen allegorischen Darstellungen nur im Hintergrund der im Bildzentrum postierten Personifikationen dargestellt worden waren. Diese Humilisierung des Sujets diente Bruegel zugleich als Mittel der Parodie, denn in der exponierten Figur des Hals über Kopf aus dem Tonkrug trinkenden Bauern mit ihrem kühnen Bewegungsmotiv und den starken Verkürzungen wandte er

Abb. 117  Giorgio Vasari: Selbstbildnis, um 1566–68, Florenz, Uffizien

Bildmittel Michelangelos an.15 Die komische Figur am rechten Bildrand, bei der ein Korb mit Gemüsen und Früchten anstelle des Kopfes zu sehen ist, lässt darüber

Vortrag, gehalten am 29.1.2019 an den Lehrstühlen für Kunstge-

those celebrated painters in butchers dresses« (London and its

schichte der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Über die phy-

Environs Described. London 1761, Bd. III, S. 25), geht er davon

siognomische Ähnlichkeit hinaus ist diese Identifizierung evi-

aus, dass es sich bei den Figuren um Porträts der Carracci han-

dent, da an dem mit einer Feder geschmückten Hut des Helle-

delt. Unabhängig davon stützt die neuerliche Identifikation des

bardiers eine Goldmünze zu sehen ist, wie sie Vasari in seinem

Hellebardiers mit Vasari Martins Interpretation. Zu dieser und

Selbstbildnis in den Uffizien an einer goldenen Kette trägt.

weiteren Deutungen siehe Keazor 2002, S. 120ff., der die Zitate

13

Siehe Keazor 2002, passim, Zitat S. 11.

Michelangelos und Raffaels nicht als Mittel der Travestie, son-

14

Der hier betonte, m. E. evidente satirische Charakter dieses Ge-

dern als Musterbeispiele einer adäquaten Überführung in ein

mäldes schließt eine programmatische Dimension wohl nicht

neues Bildganzes interpretiert (ebda., S. 125ff.). Auch Feigen-

aus. Martin hat das Gemälde als Allegorie der Malereireform der

baum betont den programmatischen Charakter des Gemäldes.

Carracci gedeutet, die, wie der nach der Sintflut geschlossene

[Gail Feigenbaum: Annibale and the Technical Arts. In: Sybille

neue göttliche Bund mit Noah, einen Neuanfang darstellte

Ebert-Schifferer/Sylvia Ginzburg (Hrsg.): Nova Luce su Anni-

(Martin 1963, S. 266). Unter Berufung auf den Reiseführer eines anonymen Autors, der das Gemälde beschrieben hat als »The family of the Carracci’s, represented in a butcher’s shop, and

ANN I BALES SCHLACHTERLADEN

bale Carracci. Rom 2011, S. 9–20.] 15

Diese Referenz – allerdings nicht ihr Merkmal der ironischen Brechung – wurde bereits von Hausenstein erkannt. (Wilhelm

217

Abb. 118  Pieter van der Heyden nach Pieter Bruegel d. Ä.: Der Sommer, 1569/70, Kupferstich

Die Karikaturen und Drudel der Carracci

keinen Zweifel, denn ähnlich ›kopflos‹ erscheint neben ihr auch der als michelangelesker Gigant dargestellte durstige Bauer. Bruegels Strategie, das Eigenrecht eines niederen Stils mit lokalen Idiomen durch die Ridikülisierung eines hohen, fremden Stils zu propagieren, ähnelt dem Annibales. In der Metzgerei hat dieser durch die Travestie großer Vorbilder Vasaris Konzept einer selektiv auf die Tradition rekurrierenden Bildrhetorik ironisiert, mit Humor den eigenen sozialen Aufstieg bedacht und eine neue Darstellungswürdigkeit des Alltäglichen postuliert.

Ein solches Spiel mit den Formen findet man in Annibales späten klassizistischen Gemälden kaum mehr. Doch in den 1580er Jahren scheinen die Carracci in der Parodie namhafter Kunstwerke eine tragfähige künstlerische Perspektive gesehen zu haben,16 und schon bald darauf suchten sie Entlastung in geselligen Werkstattpraktiken, von denen bereits Vasari in seiner Vita Michelangelos berichtet hat:

Hausenstein: Der Bauern-Bruegel. 2. Aufl. München 1928, S. 24.)

Zyklus von Heemskerck ausführlich Brassat 2003, S. 290ff.; all-

Gustav Striedbeck: Bruegel-Studien. Stockholm 1956, S. 286f. be-

gemein zu Bruegels ironischen Verfahren Jürgen Müller: Das

tonte, dass sich für die nämliche Figur kein direktes Vorbild Mi-

Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels

chelangelos nachweisen lässt und dass das auf antike Ursprünge zurückgehende Sitzmotiv auch bei Heemskerck vorkommt. Er

d. Ä. München 1999. 16

Siehe Giovanna Perini Folesani: Ludovico Carracci and the Be-

zitiert Tolnay, der von dem durstigen Bauern als einer »sehr ku-

ginnings of the Carracci Reform of Painting – A. D. 1584. In: Pfis-

riosen Karikatur des Laokoon-Motivs« sprach. (Ebda., 286.) Zur

terer/Wimböck 2011, S. 295–310.

Relation der Bruegelschen Darstellung zu einem Jahreszeiten-

218

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

»Einmal wetteten sie in seiner Jugend bei einem Abendessen im Kreis seiner Malerfreunde, wer eine Figur darstellen könne, die keinen disegno hätte und so plump wäre wie die Hampelmänner (fantocci) jener Dilettanten, welche die Mauern beschmieren. Er [Michelangelo] verließ sich dafür auf sein Gedächtnis, weil er sich erinnerte, eine dieser

Abb. 119  Agostino Carracci: Bilderätsel (Drudel), aus Malvasia:

Felsina Pittrice vite de’ Pittori Bolognesi, Bologna 1678

plumpen Darstellungen (queste gofferie) auf einer Mauer gesehen zu haben, und schuf sie so, als stünde sie ihm noch genau vor Augen. Damit übertraf er alle jene anderen Maler, was keine leichte Aufgabe war für einen Mann, der so vom disegno durchdrungen und an ausgewählte Dinge gewöhnt war wie er, der sie in ihrer Reinheit hervorzubringen trachtete.«17

Wie Vasari berichtet, hatten sich die Künstler in geselliger Runde also die Aufgabe gestellt, herabsetzende fratzenhafte Laiendarstellungen, also Anti-Kunst, zu imitieren. Eine fortgeschrittene Variante solcher spaßigen, auf einer Suspension der eigenen Fähigkeiten beruhenden Bilder waren die Karikaturen der Carracci und die sogenannten Drudel (Abb. 119).18 Letztere sind mit wenigen Strichen angefertigte Bilderrätsel, bei denen der extrem schlichte visuelle Befund nur vage auf eine Lösung verweist und so die Phantasie herausfordert. Mit ihrer Hilfe vermag man dann z. B. in einem

17

18

waagerechten Strich mit einem Halbkreis und einem Dreieck darauf die Darstellung eines Maurers mit seiner Kelle hinter einer Mauer zu erkennen.19 Die so im geselligen Kreis erzeugte Spannung von Anschauung und Begriff löst sich auf in Gelächter: Das Komische ist das Gegenteil des Erhabenen und der Drudel das komische Gegenteil der Kunst. Mit ihm wird diese scheinbar negiert, um letztlich bestätigt zu werden. Denn auch im Drudel macht sich der Künstler die beschränkten Darstellungsmittel des Laien zu eigen, so als wolle er zeigen, dass es seiner Fähigkeiten nicht bedürfe, um komplexe Sachverhalte darzustellen. Offensichtlich aber ist das ›Als-ob‹ dieser Demonstration, denn die Diskrepanz zwischen der minimalistischen Form der Rätsels und dem komplexen Inhalt seiner Lösung, die nur die Phantasie, ein genuines Vermögen der Künste, zu überbrücken vermag, bleibt augenscheinlich und ist der Grund des Lachens.20 Sie ist das Maß, um das der Drudel die Kunst unterschreitet, um sie als ihre ridiküle, of-

Giorgio Vasari: Das Leben des Michelangelo. Neu übers. v. Vic-

einer Hausecke stehenden Blinden mit Stock und Bettelschale

toria Lorini, hrsg., komm. u. eingel. v. Caroline Gabbert, Berlin

erläutert (Cesare Malvasia: Felsina Pittrice, 2 Bde. Bologna 1678,

2009, S. 206f.; Vasari 1966–97, VI, S. 115. Ich habe schon früher auf

Bd. 1, S. 468f.; Ed. Giampietro Zanotti, Bologna 1967, Bd. 1, S. 335).

diese Textstelle hingewiesen, die m.W. von der Karikaturfor-

Bemerkenswert ist, dass die beiden letzten Drudel nahezu die-

schung bisher nicht beachtet worden ist: Wolfgang Brassat/

selbe Form zeigen, links liegend und rechts aufgerichtet und

Thomas Knieper: Die Karikatur. In: Brassat 2017, S. 777, Anm. 27.

seitenverkehrt, Malvasia ihnen aber völlig unterschiedliche Be-

Zu diesen siehe Donald Posner: Annibale Carracci. A study in

deutungen zuschreibt. (Lea Gerhardt: Gebrauchsformen der

the reform of Italian painting around 1590. London 1971, Bd. 1,

frühen italienischen Karikatur. Unveröff. Masterarbeit, Bamberg

S. 65ff. 19

Die hier gezeigten vier Bilderrätsel von Agostino Carracci wur-

2017, S. 33.) 20

Roland Kanz schreibt: »Erst im Erkennen des Prinzips äußerster

den 1678 von Malvasia als »divinarelli pittorici« in seiner Felsina

Formreduktion und erst im Moment des Gedankensprungs hin

Pittrice vite de’ Pittori Bolognesi publiziert und als Darstellungen

zur Lösung gibt sich das Komische der Zeichnungen zu erken-

eines Maurers, dessen Kopf und Kelle über der Mauer zu sehen

nen, und das Lachen stellt sich ein. Vergleichbar ist diese kogni-

sind, eines Kapuziners, der in seiner Kanzel eingeschlafen ist,

tive Leistung mit den Kippeffekten in Arcimboldos Capricci.«

eines Ritters mit Lanze hinter einer Barriere und eines hinter

(Kanz 2002, S. 238.)

D ie K arikaturen und D rudel der C arracci

219

Abb. 120  Agostino Carracci: Studienblatt mit karikierten Köpfen, 1594, Federzeichnung, Privatbesitz

fensichtlich defizitäre Schwundform zu bestätigen. Dabei ist der Drudel inter-essant, weil er als Reduktionsform seiner Vervollständigung durch die phantasievollen Interpretationsleistungen der Betrachter bedarf. Auch er ist Produkt einer Beobachtung zweiter Ordnung, welche die Differenz von System und Umwelt, Kunst und Nicht-Kunst reflektiert. Dies gilt auch für die Karikatur, eine veritable AntiKunst, deren Begriff (caricatura) erstmalig 1646 dokumentarisch belegt ist.21 Nachdem bereits Mancini 1621 Annibales »ritratti ridicoli« erwähnt hatte,22 erörterte Giovanni Antonio Massani, der Haushofmeister Papst Urbans VIII., unter dem Pseudonym Giovanni Atanasio Mosini in seinem Vorwort zu der 1646 publizierten

21 22 23

Sammlung von 80 Radierungen nach Zeichnungen von Annibale Carracci die in der Schule der Carracci so genannten »Ritrattini carichi« (Abb. 120).23 Wie Annibale gesagt habe, erlaube sich die Natur zu ihrer Erholung Scherze in Form körperlicher und physiognomischer Deformationen und lache über diese (»… ridersi ancor’ essa per sua ricriazione«).24 Ebenso solle der Künstler durch das ritratto carico den Betrachter erheitern. In der Natur seien weder ideale Schönheit, noch perfekte Hässlichkeit vorzufinden, die hingegen der Künstler hervorbringen könne – die eine durch die Kombination der schönsten Teile der Natur, die andere durch die caricatura (Übertreibung) der in der Natur beobachteten Formen zum ritratto carico. Mit seiner Rechtfertigung der Karikatur hat Massani, der sich nicht scheute, von der »bella –« und »perfetta deformità« zu sprechen und den Karikaturisten mit Raffael zu vergleichen,25 einen unkonventionellen, antiklassizistischen Standpunkt vertreten.26 Die Herstellung von Karikaturen war zunächst ein Ateliervergnügen und eine Entlastungstätigkeit, welche die Gebote der sorgfältigen Ausführung des Werks und der Idealisierung der Porträtierten missachtete. Als Anti-Kunst, bei der sich die Künstler der eingeschränkten Mittel der von Laien gekritzelten oder geritzten Graffiti bedienten, dabei aber umgehend eine unbestreitbare Virtuosität entwickelten,27 verstieß die Gattung gegen die Maxime der humanistischen Kunsttheorie, dass Hässlichkeit und körperliche Gebrechen, die als »Ausdruck von Bosheit und Niedrigkeit« galten,28

Gerd Unverfehrt: Karikatur. In: HWRh, 4, S. 889 u. 892; Wolfgang

autori, che non contenti della bellezza del naturale, […] per fare

Brassat/Thomas Knieper: Die Karikatur. In: Brassat 2017, S. 775.

vn’opera in ogni parte perfettissima: percioche il fare vn ritrat-

Giulio Mancini: Considerazioni sulla Pittura (1621). Hrsg. v. Ad-

tino carico, non era altro, che essere ottimo conoscitore dell’in-

riana Marucchi, Rom 1956, Bd. 1, S. 219.

tentione della natura«. (Mosini 1947, 261f.)

Giovanni Atanasio Mosini: Vorwort zu Diverse figure al numero

26

Mahon 1947, S. 262, Anm. 47.

di ottanta, disegnate di penna nell’hore di ricreatione da Anni-

27

Ich denke, dass die Nachahmung herabsetzender Laiendarstel-

bale Carracci, intagliate in rame e cavate dagli originali da Si-

lungen, von der Vasari in der Vita Michelangelos berichtet,

mone Guilino Parigino (1664). In: Denis Mahon: Studies in Sei-

grundlegend für die Gattungen der Karikatur war. Die damit

cento Art and Theory. London 1947, S. 259–265, Zitat S. 260.

einhergehende Suspension der eigenen künstlerischen Fähig-

24

Ebda., S. 260.

keiten war grundlegend auch für die Drudel. Die laienhafte Aus-

25

»Ma con più alto intendimento, e con gusto, egli tal lauoro in

führung ist allerdings kein stabiles Merkmal der Karikatur: So

questo modo consideraua, dicendo, che quando il valente Pit-

besteht Berninis berühmte Karikatur des Scipione Borghese

tore fà bene vn ritrattino carico, imita Rafaelle, e gli altri buoni

(um 1632, Rom, Vatikanische Bibliothek) aus ausgesprochen

220

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

taktvoll zu kaschieren seien.29 Der Karikaturist übertreibt die individuelle Physiognomie, die der Porträtmaler idealisieren muss, ins Hässliche. Das Ideal negierend, macht er durch Zuspitzung Nichtoffensichtliches überraschend anschaulich, wobei er individuelle physiognomische Merkmale in der Regel zum Typischen, bzw. Klischeehaften verstärkt, oft auch ins Zoomorphe transformiert.30 Dabei entspricht die zeichnerische Verknappung der Karikatur der zupackenden Pointierung des Witzes.31 Mancini und Bellori lobten Annibales Fähigkeit, scherzhafte Bildnisse »con doi [due] linee« zu zeichnen, bzw. »con poche linee« den Charakter des Karikierten zu offenbaren.32 Giovanni Massani hat in seinem Text, dem ersten Beitrag zur Theorie der Karikatur, Annibale als den Begründer dieser Gattung gerühmt. Dieses Urteil ist zur kunstgeschichtlichen Lehrmeinung geworden,33 obwohl es nicht eine einzige Karikatur gibt, die Annibale gesichert zugeschrieben werden könnte.34 Demnach entstand die Karikatur als »Gegenwurf des Ideal-Schönen«35 und als Produkt einer auf den systematischen Zeichenunterricht an der Akademie der Carracci re-

agierenden Entlastungstätigkeit.36 Allerdings ist Massanis Darstellung nicht unwidersprochen geblieben. Filippo Baldinucci, der sich in mehreren Publikationen zur Karikatur geäußert hat, in seinem Vocabulario toscano dell’arte del disegno (1681), der Lezzione nell’Accademia della Crusca (1692) und seinen Biographien Berninis (1682) und des Baccio del Bianco (1685), berichtet in letzterer, dass der Florentiner Maler, Zeichner, Bühnengestalter und Ingenieur häufig Hofgesellschaften mit seinen Karikaturen erheiterte: »[…] fecevi cose belle e curiose in tal genere, e colla sua dolce conversazione fu l’allegrezza di […] corte.«37 In diesem Zusammenhang belehrt der Autor den Leser, dass es das caricare und die colpi caricati, eine höchst bizarre Erfindung, von der die Bologneser sagten, Annibale hätte sie gemacht, in Florenz schon 1480 gegeben habe – ohne in diesem Zusammenhang irgendeinen Namen zu nennen –, danach sei das Verfahren auch von den Carracci, ihren Schülern und weiteren Künstlern praktiziert worden.38 Diese Behauptung steht in Zusammenhang mit Baldinuccis Bemühungen, gegen Massani, Giovan Battista Agucchi, weitere Autoren und insbesondere gegen Mal-

schönen, gekonnt gezogenen Linien, während seine böse, ge-

32

Zit. n. Unverfehrt 1998, S. 893.

wiss nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Karikatur von Papst

33

Siehe Werner Hofmann: Die Karikatur: Von Leonardo bis Pi-

34

Vieles spricht dafür, dass Annibales intellektuellerer Bruder

Innozenz XI. (1676–80, Leipzig, Museum der bildenden Künste, Graphische Slg.) betont krakelig ausgeführt ist. Offenbar gab es

casso. (Wien 1956) Erg. Neuaufl. Hamburg 2007, S. 37ff.

in dieser Hinsicht differierende Modi der Karikatur. 28

30

mit dieser Gattung war.

Christine Winkler: Die Maske des Bösen: groteske Physiognomien als Gegenbild des Heiligen und Vollkommenen in der

29

Agostino die treibende Kraft bei der Beschäftigung der Carracci 35

Gerhard Langemeyer/Gerd Unverfehrt u. a. (Hrsg.): Bild als

Alberti: De pictura, (II) 40; vgl. Plinius: Historia Naturalis, XXXV,

Waffe. Mittel und Motive der Karikatur in fünf Jahrhunderten.

36, 90; Quintilian: Institutio oratoria, II 13, 12.

Ausst.-Kat. Hannover, Wilhelm-Busch-Museum u. a., München

Besonders geschätzt wurden nach Massani die Karikaturen, die

2

1985, S. 358f.

Annibale gemacht hatte »in riguardo di quel che dicono i Fisio-

36

Kanz 2002, S. 242ff.

nomisti«. (Mosini 1947, S. 264.) Im Sinne der durch die pseudo-

37

»[…] In altre occasioni poi del conversare ch’ e’ fece sempre colla

aristotelische Physiognomonica begründeten, durch Giovanni

prima nobilità, disegnò, e ritrasse con quei suoi colpi caricati, e

Battista della Portas De humana physiognomia Libri III 1586 er-

cavaliere e dame, con che fu il sollazzo delle conversazioni del

neuerten, mit Mensch-Tier-Vergleichen operierenden Physio­

suo tempo.« [Filippo Baldinucci: Notizie dei Professori del Di-

gnomik waren in ihnen porträtierte Gesichter Tierköpfen ange-

segno da Cimabue in qua … Bd. 5, Florenz 1974 (Reprint der

glichen. 31

Hofmann 2007, S. 39; Ders.: Die Karikatur – eine Gegenkunst. In:

Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts. München 1986, S. 123.

Vgl. Cicero: De oratore, II, 218f. u. 243; Sigmund Freud: Der Witz

Ausg. Florenz 1847), S. 32.] 38

»Ma per migliore intelligenza del lettore, mi piace ora di dire in

und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). In: Ders.: Studi-

questo luogo alcuna cosa di quello, che significhi questo cari-

enausgabe. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich u. a., Bd. IV: Psycho-

care, e che, siano questi colpi caricati; invenzione bizzarrissima,

logische Schriften, 8. Ausg. Frankfurt/M. 1994, S. 9–219.

che dicono I Bolognesi, trovata da Annibale Caracci; sebbene io

D ie K arikaturen und D rudel der C arracci

221

vasias Felsina Pittrice vite de’ Pittori Bolognesi (1678) auf dem Vorrang der Kunstmetropole Florenz zu insistieren. Doch der zitierte Bericht Vasaris vom Wettstreit des jungen Michelangelo und seiner Freunde spricht dafür, dass sie wohl kaum aus der Luft gegriffen war. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang, dass auch Paleotti, wenig angetan, über pitture ridicole geschrieben hatte, die »per rozzezza del disegno o lineamenti

storti, o altra inezzia del pittore eccitano il riso a chi ha qualche giudizio«.39 Es waren demnach bewusst eingesetzte Unbeholfenheiten, mit denen die pitture ridicole Kenner zum Lachen brachten. Das von uns für grundlegend für die Karikatur erachtete Merkmal einer Suspension der eigenen Fähigkeiten zugunsten einer Nachahmung polemischer Laiendarstellungen und damit implizit auch ihren Charakter einer Anti-Kunst hat auch Lomazzo in seinen Ausführungen über die »Composizione delle allegrezze e risi« angesprochen, nämlich die »negligenzia dell’artefice«.40 Ganz in diesem Sinne sollte noch William Hogarth Karikaturen als laienhafte, zufällige Darstellungen ablehnen, die an Kindergekritzel erinnerten.41 Man hat Baldinuccis Einwand auf die sogenannten ›grotesken Köpfe‹ Leonardos bezogen.42 Diese ins Hässliche übersteigerten Darstellungen von in der Regel anonymen Personen bekundeten gewissermaßen als bestiarium humanum einen emphatischen Begriff der Mannigfaltigkeit der Schöpfung und des mit ihr wetteifernden Erfindungsreichtums des Künstlers.43 Allerdings ist der Terminus ›groteske Köpfe‹ ein Behelfs­begriff, unter den unterschiedliches Material subsumiert wird, darunter Physiognomiestudien, satirische Darstellungen ungleicher Paare und eitler alter Frauen und auch die bekannte, 1646 von Wenzel Hollar nachgestochene Zeichnung in Windsor mit fünf Köpfen (Abb. 121). Diese wurde früher als Darstellung der vier Temperamente oder auch diverser Stadien der Verrücktheit gedeutet,44 doch Martin Clayton hat das rechts beschnittene Blatt überzeugend als Darstellung einer Genreszene gedeutet, in der der zentrale, mit ­Eichenlaub bekrönte Mann bestohlen wird, während

so che usossi talora in Firenze fino del 1480; tornatosi poi a pra-

Graphik Work. Bd. 1, New Haven/London 1970, S. 238f.; Unver-

Abb. 121  Leonardo da Vinci: Ein Mann wird von Zigeunern betrogen,

um 1493, Feder und Tinte, 4,1 × 2,7 cm, Windsor Castle, Royal Library

fehrt 1998, Sp. 895.

ticare dal Caracci, e da quei di sua scuola, e da altri pittori.« (Ebda.) 39 40 41

42

Sandra Cheng: »Il Bello dal Deforme«: Caricature and Comic Drawings in Seventeenth-Century Italy. Delaware 2008, S. 12f.

Gabriele Paoleotti: Discorso intorno alle immagini sacre e profane (1582). In: Barocchi 1961, S. 390.

43

Arasse 2002, S. 125 u. 477f.

Gian Paolo Lomazzo: Trattatto dell’arte … (1584). In: Lomazzo

44

Wilhelm Suida: Leonardo und sein Kreis. München 1929, S. 100;

1975, S. 314.

Michael Willem Kwakkelstein: Leonardo da Vinci as a physio­

Im Kommentar zu The Bench, siehe Ronald Paulson: Hogarth’s

gnomist. Theory and drawing practice. Leiden 1994, S. 77.

222

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

ihm die Alte am rechten Bildrand aus der Hand liest45 – ein Werk, dem man sogar eine Vorbildfunktion für die Genrebilder Caravaggios zutrauen darf. Leonardos ›groteske Köpfe‹ werden gemeinhin als Vorläufer der Karikatur bewertet, doch betrachtet man das Francesco Melzi zugeschriebene Blatt in Windsor mit den auf Leonardo zurückgehenden Vier groteske(n) Köpfe(n), einschließlich einer Karikatur von Dante (Abb. 122), so kommt man wohl kaum um die Einsicht herum, dass Leonardo die ersten Exemplare dieser Gattung hervorgebracht hat.46 Der weithin bekannten Physiognomie des berühmten Dichters hat er ein überdimensioniertes Kinn und ein dümmliches Grinsen verliehen und dem Florentiner eine ebenso hässliche Beatrice beigesellt. Schon Kenneth Clark und Carlo Pedretti haben die erheiternde Funktion dieser »caricature of Dante« hervorgehoben, »which seems to support the view that some of these drawings were done to amuse Leonardo’s Milanese patrons.«47 Die Funktion einer Belustigung der Hofgesellschaft ist generell bei den ›grotesken Köpfen‹ Leonardos anzunehmen, die alle in seiner Zeit als Mailänder Hofmaler der Sforza entstanden sind.48 Die Karikatur war somit ein Nebenprodukt der Kunst um 1500, mit der die Zeichnung als Grundlage künstlerischen Schaffens eine

45 46

Abb. 122  Francesco Melzi (zugeschr.) nach Leonardo: Vier groteske Köpfe,

einschließlich einer Karikatur von Dante, um 1517–20 angefertigte Kopie einer um 1492 entstandenen Zeichnung Leonardos, rote Kreide, 19,5 × 14,6 cm, Windsor Castle, Royal Library

Martin Clayton: Leonardo da Vinci, the Divine and the Grotes-

vorgetragenen, schönlinigen Karikatur zu unterscheiden. Mit

que. Cambridge 2002, S. 96.

dem feinen Humor benennt Kanz einen Anspruch, dem die Ka-

Siehe ebda., Kat.-Nr. 38. Clayton bezeichnet einige der ›grotes-

rikatur am Hofe zu entsprechen hatte, der jedoch kein konstitu-

ken Köpfe‹ zutreffend als Karikaturen. Dagegen trennt Kanz bei-

tives Merkmal der Gattung ist. Nicht nachvollziehen kann ich,

des kategorisch, da Leonardo in den ›grotesken Köpfen‹ nicht

dass er dann ausgerechnet Berninis Karikatur von Papst Inno-

das »Lächerliche des Modells in das Komische der künstleri-

zenz XI. als ein »alle Qualitäten dieser Kunstform deutlich« machendes Beispiel behandelt (ebda., S. 235f., Zitat S. 235).

schen Darstellung« transformiert und somit für die Darstellung des Lächerlichen keine besonderen Kunstmittel erfunden habe

47

(Kanz 2002, S. 231f., Zitat S. 231). Erst die Karikaturen des 17. Jahr-

Vinci in the Collection of Her Majesty the Queen at Windsor Castle. Bd. 1, London 1968, S. 43.

hunderts zeigten einen feinen Humor, der sich im Stil der Zeichnung offenbare (ebda., S. 233). Ein sich im Zeichenstil bekundender Humor scheint mir allerdings ein problematisches, an

Kenneth Clark/Carlo Pedretti: The Drawings of Leonardo da

48

Zu den Bilder- und weiteren Rätseln, Allegorien, Devisen, Aphorismen und Bonmots, die Leonardos in dieser Zeit für die Erhei-

den Objekten schwer festzumachendes Kriterium zu sein, ob-

terung des Mailänder Hofes ersonnen hat, siehe oben, S. 170.

wohl auch Quintilian zwischen dem in der Sache und dem in

Werner Hofmann schrieb dagegen noch zu den ›grotesken Köp-

der Wortwahl begründeten Witz unterschieden hat (Quintilian:

fen‹: »Nichts deutet darauf hin, dass er [Leonardo] dabei beim

Institutio oratoria, VI 3, 22). Sinnvoller scheint es mir, zwischen

Betrachter den Eindruck des Komischen oder Lächerlichen pro-

der in laienhaftem Stil krakelig ausgeführten und der gekonnt

vozieren wollte.« (Hofmann 2007, S. 43.)

D ie K arikaturen und D rudel der C arracci

223

enorme Bedeutungssteigerung erlebte.49 Den Carracci, in deren erhaltenen ritrattini carichi manche der ›grotesken Köpfe‹ Leonardos wiederkehren, so auch in dem hier abgebildeten signierten und auf den Tag genau datierten Blatt Agostinos (Abb. 120),50 kam dann der Verdienst zu, diese Anti-Kunst theoretisch als eine ›arte licenziosa‹ reflektiert und konzeptualisiert zu haben. In unserem Zusammenhang bleibt hervorzuheben, dass Karikatur und Drudel für sie und auch in ihrem Rahmen entstandene Zeugnisse geselliger Praktiken sind. Die Beurteilung der Karikatur und der mit ihr vollbrachten künstlerischen Leistung ist auf den Vergleich mit der tatsächlichen Physiognomie der karikierten Person angewiesen51 und möglichst auf das Miterleben ihrer mühelos, im Nu geleisteten Herstellung. Erst mit ihrer ›Aufführung‹ tritt das spielerische Element der bildenden Kunst offen in einer Handlung zu Tage, wodurch diese den musischen Künsten angenähert wird.52 Sicherlich oft sorgsam geplant und vorbereitet, wurde das Anfertigen von Karikaturen gerne als spontane Demonstration rascher Auffassungsgabe und künstlerischer Virtuosität inszeniert. Mit einer solchen erheiterte Gianlorenzo Bernini am 10. September 1665, während seiner Tätigkeit am Hof Ludwigs XIV., die Besucher seines provisorischen Ateliers: »[…] als die Rede auf Karikaturen kam, erzählte der Cavaliere, er habe den Abbé Butti karikiert. Er

suchte das Blatt, um es seiner Majestät zu zeigen. Als es sich aber nicht finden wollte, nahm der Cavaliere Stift und Papier zur Hand und warf vor den Augen Seiner Majestät in drei raschen Strichen eine neue Karikatur hin, welche die ganze Gesellschaft belustigte, den König selbst, Monsieur, das Gefolge im Saal und am allermeisten die Zaungäste an der Tür.«53

Bereits am 19. August hatte Bernini bei einer kurzen Porträtsitzung des Königs, bei der er einem störenden Höfling drohte, ihn zu karikieren, den Begriff »caricatura« in Frankreich eingeführt, den Paul Fréart de Chantelou, sein Attaché und Chronist seines Frankreichaufenthaltes, mit »portrait chargé« übersetzte.54 Offenbart diese Drohung die für die Gattung konstitutive herabsetzende Tendenz,55 so ist doch hervorzuheben, dass selbige im höfischen Karikaturgebrauch der Frühneuzeit in Zaum gehalten und die Karikatur erst im späten 18. Jahrhundert zu einer Waffe im publizistischen Kampf um die öffentlichen Meinung wurde. Baldinucci hat in seinem Vocabulario erklärt, dass die Künstler in Karikaturen zum Spaß oder manchmal auch zum Spott die Fehler (difetti) der imitierten Physiognomie übertrieben.56 In seiner Vita Berninis lobte er dessen einem Wunder nahekommende Freimütigkeit des Federstrichs (»franchezza di tocco, che è propriamente un miracolo«), die sich besonders in seinen Karikaturen und somit dem Verfahren zeige,

49

Martin Warnke: Der Kopf in der Hand. In: Warnke 1997, S. 116f.

gründet sieht. Zudem betont er das Handicap der bildenden

50

Siehe die Abb. desselben mit sechs markierten Köpfen Leonar-

Künste, dass bei ihnen das Spielerische nicht in einer Handlung

dos in Anne Thurmann-Jajes: Pier Leone Ghezzi und die Karika-

hervortritt, was sie von den musischen Künsten unterscheidet.

tur. (Phil. Diss. Bochum) Bremen 1998, S. 235. Das nämliche Blatt

Tatsächlich ist das Spiel ein wichtiges Merkmal der bildenden

aus der ehemaligen Sammlung A. P. Oppé ist bezeichnet: »Agos-

Kunst, das, wie schon erwähnt, stets in Spätzeiten mit Macht hervortritt.

tino Ca fec 26 8bre 1594« (Hofmann 2007, S. 108). 51 52

Daher stellen heute Karikaturisten an ihren Ständen als Werbe-

53

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 149; Chantelou 2001, S. 172.

material Karikaturen von Stars aus, deren Gesicht jeder kennt.

54

Chantelou 2001, S. 127; Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 102f. Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts setzte sich in Frankreich der Be-

Vgl. Huizinga 2009, S. 181ff. Huizinga betont, dass der ernsten

griff »caricature« durch.

und verantwortungsvollen Aufgabe des bildenden Künstlers, etwas Dauerhaftes zu schaffen, »jedes Spielmäßige […] fremd

55

Freud 1994, S. 186f.

[ist]«. (Ebda., S. 183.) Gleichwohl spricht er auch den bildenden

56

»E caricare dicesi anche da’ Pittori o Scultori, un modo tenuto

Künsten Merkmale des Spiels zu, die er vor allem in ihrer Teil-

da essi in far ritratti, quanto si può somiglianti al tutto della per-

habe am Kult und ihrem »Wettspielfaktor« (ebda., S. 185) be-

sona ritratta; ma per giuoco, e talora per ischerno, aggrauando

224

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

»[…] zum Scherz in einer herabsetzenden Weise das Bildnis anderer zu deformieren, ohne ihnen die Ähnlichkeit oder Majestät zu nehmen, auch wenn sie große Fürsten sind, die es sich selbst nach Geschmack widerfahren ließen.«57

Hatte Giovanni Battista Fonteo in De risu erklärt, dass Herrscher, um ihre humanitas zu zeigen, über Witze lachen und solche über sich ergehen lassen müssten,58 so erweiterte Baldinucci zwölf Jahre später diese Erwartung auf die Karikatur. Mit seiner Forderung, diese dürfe Fürsten nicht ihre Majestät nehmen (»senza togliere loro […] la maestà«), markierte er zugleich die respektiven Grenzen, die dem höfischen Gebrauch dieser Gattung gesetzt waren. In der Nachfolge Berninis sollte Pier Leone Ghezzi (1674–1755) zahllose Karikaturen anfertigen.59 Die rund 2.000 von ihm erhaltenen Exemplare zeigen die römische Gesellschaft, Musikanten und Touristen, wie z. B. den irischen Kunstsammler und später namhaften Connoisseur Joseph Henry of Straffon (Abb. 123). Ghezzi, der das gesamte Hofpersonal mächtiger Potentaten in Karikaturenalben festgehalten hat, gilt als der erste professionelle Karikaturist. Er verlieh der Gattung jene mild humoristischen Züge, mit denen sie europaweit in der galanten Welt reüssieren konnte. Ghezzi hat Dankesschreiben von ihm karikierter Personen erhalten.60 Für den aristokratischen Umgang mit dieser Gattung und die für ihn geschaffenen humoristischen Beispiele galt in der Regel: Wer karikiert wurde, fühlte sich geehrt.

Abb. 123  Pier Leone Ghezzi: Joseph Henry of Straffon, 1744–51,

braune Tinte über schwarzer Kreide, New York, Metropolitan Museum

o crescendo i difetti delle parti imitate sproporzionatamente,

ischerzo a mal modo l’effigie altrui, senza togliere loro la somig-

talmente che nel tutto appariscano essere essi, e nelle parti

lianza, e la maestà, se tal volta eran Principi grandi, come bene

sieno variati.« [Filippo Baldinucci: Vocabulario toscano dell’arte

spesso accadeva per lo gusto«. [Filippo Baldinucci: La vita del

del disegno (1681). Reprint hrsg. v. Severina Parodi, Florenz

Cavaliere Gio: Lorenzo Bernino scultore, architetto, e pittore.

1985, S. 29.] 57

Florenz 1682, S. 66f.; vgl. Baldinucci 1974, Bd. 5, S. 657.]

Zit. n. Kanz 2002, S. 235. »Effetto di questa franchezza è stato

58

Siehe oben, S. 182.

l’aver egli operato singolarmente in quella sorta di disegno, che

59

Siehe Thurmann-Jajes 1998.

noi diciamo Caricatura, o di colpi caricati, deformando per

60

Unverfehrt 1998, Sp. 899.

D ie K arikaturen und D rudel der C arracci

225

Schulung ästhetischer Distanz und Beobachtung zweiter Ordnung. Zum Werk Caravaggios

Viele Werke von Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, kann man nicht anders erklären als mit dem Hinweis auf die zeitgenössischen Formen der geselligen Kunstrezeption und die sich aus ihnen ergebenden Originalitätserwartungen. Das Œuvre des Malers, über den Nicolas Poussin sagte, er sei auf die Welt gekommen, um die Malerei zu zerstören,61 wird stilgeschichtlich gemeinhin als epochaler Neubeginn bewertet, doch es verdankte einige seiner spezifischen Eigenheiten einer Radikalisierung des Spiels von inganno e dis­ inganno, von Täuschung und Enttäuschung. Caravaggio hat den Status des Bildes auf irritierende Weise verunklärt, ihm eine durch Trompe-l’œil-Effekte und das Spiel mit der ästhetischen Grenze forcierte, zwischen Sein und Schein, Natur und Kunst oszillierende Ambiguität verliehen.62 Seine Markenzeichen waren ein gesteigerter, sich oft des dramatic close-up bedienender Illusionismus, ein stilus humilis mit einem plebejischen Bildpersonal, ein von einer bildexternen Quelle ausgehendes, seitlich einfallendes künstliches Licht und das aus ihm resultierende »Hell-Dunkel« (chiaroscuro).63

Ganz im Sinne Albertis, der erklärt hatte, dass naturgemäß helle Gemälde durch Anmut und Liebreiz Zuneigung, dunkle hingegen Abscheu erregten,64 deutete Giovan Pietro Bellori diese Merkmale charakterologisch als Ausdruck des dunklen Geistes und schlechten Lebenswandels des Künstlers, der in düsteren Gemäuern gewohnt und sich in üblen Spelunken herumgetrieben habe.65 Zu den kühnen Ausdrucksmitteln Caravaggios zählen weiter eine gesteigerte Involvierung des Betrachters durch zuweilen jähe Ansprachen desselben, eine niedrige Augenhöhe und die großformatige Präsenz und taktile Nähe des Dargestellten. Immer wieder hat er mit einer enervierenden Drastik Gewalt dargestellt und so wiederholt biblische Gestalten, wie die den Holofernes tötende Judith (Abb. 124) und den zur Opferung seines Sohnes bereiten Abraham (Die Opferung Isaaks, 1602/03, Florenz, Uffizien) ins moralische Zwielicht gerückt. Viele seiner Historien weisen ein dramatisches Stakkato ausdrucksstarker Gesten und Mienen auf, die er durch Überschneidungen und dunkle Schlagschatten isolierte. Durch solche optischen Fragmentierungen der Körper und die Bildung gedrängter Gruppen negierte er die Integrität und den Bewegungsspielraum der Figuren,66 zwischen denen Alberti einen angemes-

61

65



Dies berichtet André Félibien in seinen Entretiens, siehe Louis

In Belloris Caravaggio-Vita stehen das Licht und das Kolorit in

Marin: To destroy painting. Chicago 1995, S. 3.

einem symbolischen Zusammenhang mit dem Schicksal des

Die folgenden Ausführungen basieren teilweise auf meinem

Malers. [Siehe Bellori 2009, Bd. 1, S. 210–236.] Während der Autor

Beitrag: Schulung ästhetischer Distanz und Beobachtung dritter

an frühen Werken wie der Ruhe auf der Flucht nach Ägypten

Ordnung. Werke Caravaggios in rezeptionsästhetischer und

(Rom, Galleria Pamphili) und der Wahrsagerin (Rom, Kapitoli-

­systemtheoretischer Sicht. In: Bilder – Räume – Betrachter. Fest-

nisches Museum u. Paris, Louvre) ihr »lombardisches Kolorit«

schrift für Wolfgang Kemp zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Steffen

mit seinen reinen Farben lobte, kritisierte er die dunkle Farbig-

Bogen, Wolfgang Brassat u. David Ganz, Berlin 2006, S. 108–129.

keit des Spätwerks. Dieses spiegelt das Los Caravaggios, der

62

Krüger 2001, S. 243–279.

nach hoffnungsvollen Anfängen alles verliert, verarmt und ein-

63

Zum Licht bei Caravaggio siehe Andreas Prater: Licht und Farbe

sam stirbt und ebenso zunächst edle Stoffe, gegen Ende seines

bei Caravaggio. Studien zur Ästhetik und Ikonologie des Helldun-

Lebens hingegen Lumpen trägt (ebda., S. 232). Dabei sah Bellori

kels. Stuttgart 1992, zu Caravaggios »ars humilis« ebda., S. 161ff.

den Werdegang des Malers offenbar humoralpsychologisch be-

Alberti: De pictura, (II) 47. (Alberti 2000, S. 286f.) Im 16. Jahrhun-

gründet: So hob er wiederholt den »finsteren Geist« des Malers

dert hatte allerdings bereits Lomazzo Nachtstücke als Meister-

und die dunkle Farbe seiner Haut, Augen und Haare hervor

leistungen gewürdigt, die dem Maler Ruhm und Ehre einbringen

(ebda., S. 212, 232). Belloris Caravaggio-Vita ist auch abgedruckt

können. [Gian Paolo Lomazzo: Trattato dell’arte della pittura,

in Stefania Macioce: Michelangelo Merisi da Caravaggio. Fonti e

scoltura et architettura (Mailand 1584), Libro Quarto: Dei lumi,

documenti 1532–1724. Rom 2003, S. 324–328 (F. 17).

64

bes. Cap. VII: Del terzo lume primario. In: Lomazzo 1975, S. 194f.]

226

66

Vgl. Held 1996, S. 109f. u. 207f., die betont: »Interaktionen sind für

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Abb. 124 Caravaggio: Die Enthauptung des Holofernes, 1598/99, Rom, Palazzo Barberini, Galleria Nazionale d’arte antica

senen, dem Auge angenehmen Abstand gefordert hatte.67 Nachdem die Carracci mit der Karikatur eine veritable Anti-Kunst kultiviert hatten, verwarf Caravaggio mit seinen kühnen Bilderfindungen Albertis epideiktische Bestimmung des Kunstwerks, nach der dasselbe

Caravaggio Negationen der Individuen, die hineingepresst wer67

durch seine grazia und varietà die Schöpfung preisen sollte. In kühner Missachtung der disegno-Theorie hat er zudem zumindest den Eindruck erweckt, nicht zu zeichnen und seine Ölgemälde somit nicht durch einen elaborierten Entwurfsprozess vorzubereiten.68

68

Es ist keine Zeichnung erhalten, die Caravaggio sicher zuge-

den in ihnen übergeordnete Konstellationen.« (Ebda., S. 208.)

schrieben werden könnte. Gleichwohl ist in jüngerer Zeit be-

Alberti: De pictura, (II) 39. (Alberti 2000, S. 264f.) Dass Caravag-

zweifelt worden, dass er sich dieses Mediums nicht bedient

gio Albertis Kunsttheorie verworfen hat, betont Lorenzo Peri-

hätte. Siehe Alfred Moir: Did Caravaggio draw? In: Art Quarterly,

colo: Caravaggio and Pictorial Narrative. Dislocating the Istoria

32, 1969, S. 354–372; Nevenka Kroschewski: Über das allmähliche

in Early Modern Painting. New York 2011, passim, bes. S. 93–119

Verfertigen von Bildern. Neue Aspekte zu Caravaggio. München

(«The False Dichotomy Between Telling and Showing: Beyond

2002; von Rosen 2009, S. 53ff.

Alberti’s Istoria«).

S chulung ästhetischer D istanz und B eobachtung zweiter Ordnung. Z um Werk C aravaggios

227

Diese Verstöße gegen die humanistische Kunsttheorie wurden von zeitgenössischen Autoren mit nicht selten hasserfüllter Kritik des »Schmutzmalers« und »Antichristen« der Malerei (Vicente Carducho) quittiert.69 Immer wieder erhoben sie den Vorwurf, Caravaggio habe wahl- und begriffslos abgebildet, was er zu Gesicht bekam, ohne die Regeln der Kunst und die maßgeblichen Vorbilder der Antike und Hochrenaissance zu beachten.70 Neigte noch die frühe Kunstwissenschaft dazu, in seinen Gemälden einen ungebildeten, gewalttätigen Rowdy am Werk zu sehen – tatsächlich hat man seine Vita zu großen Teilen aus Polizei- und Gerichtsakten rekonstruiert –, so ist dagegen in jüngerer Zeit das differenzierte Bild eines reflektiert zu Werke gehenden Spe-

zialisten mit durchaus intellektuellen Zügen ans Licht gekommen.71 Mehr und mehr hat man kunstgeschichtliche Voraussetzungen seiner Werke bestimmen können, z. B. den Nachweis erbracht, dass vieles von dem, womit er in Rom Aufsehen erregte, in der lombardischen, venezianischen und Bologneser Malerei vorbereitet war.72 Daneben haben Beiträge zur Ästhetik ­Caravaggios seine reflektierte Bildauffassung nachgewiesen, betont, dass sich seine Simulacra einer ungeschönten Wirklichkeit der eingehenden Reflexion ihrer medialen Voraussetzungen und ihres Zeichencharakters verdankten.73 Statt an der von der Kirche und den Akademien approbierten theoriegesättigten Kunstsprache der Renaissance und des Manierismus festzuhal-

69

71

Carducho sprach von Caravaggio als dem »visibile l’Antichristo«. (Vicente Carducho: Diálogos de la pintura su defensa, origen,

Warnke 1979, S. 22–30; Margit Franziska Brehm: Der Fall Cara-

essencia, definicion, modos y diferencias … Madrid 1633, S. 89.) Er hielt Caravaggio für einen Autodidakten und beschuldigte

vaggio. Eine Rezeptionsgeschichte. Frankfurt/M. [u. a.] 1992. 72

Siehe Howard Hibbard: Caravaggio. New York 1983, S. 15ff.; Fran-

ihn einer Vernichtung der Malerei. (Der Passus ist ins Italieni-

cesco Rossi (Hrsg.): Caravaggio. La luce nella pittura lombarda.

sche übersetzt abgedruckt in Macioce 2003, S. 318 [F. 11]; siehe

Ausst.-Kat. Bergamo, Accademia Carrara, Galleria d’Arte Mo-

auch Philipp Sohm: Caravaggio the Barbarian. In: Lorenzo Peri-

derna e Contemporanea, Mailand 2000; Puglisi 2002, S. 15ff.,

colo/David M. Stone (Hrsg.): Caravaggio. Reflections and Ref-

43ff.; Dempsey 2002; Sebastian Schütze: Caravaggio. Das voll-

ractions. Farnham [u. a.] 2014, S. 177–198.) Auch bei Carlo Cesare

ständige Werk. Köln 2017 (Erstausgabe 2009), S. 30ff.; zur Vorbe-

Malvasia erfährt man, Caravaggio sei ein Maler mit »bestiali-

reitung seiner Genremalerei in Oberitalien: Bert W. Meijer:

schem« Charakter gewesen und sein geistloser Naturalismus

Esempi del comico figurativo nel rinascimento lombardo. In:

der Ruin der guten Malerei (»la totale ruina della nobilissima, e

Arte lombarda, 16, 1971, S. 259–266; Barry Wind: Pitture Ridicule:

compitissima virtù della Pittura«) [ebda., S. 331f. (Dokument F.

Some Late Cinquecento Comic Genre Paintings. In: Storia

20)]. Ebert-Schifferer betont die maßgebliche Bedeutung der

dell’arte, 20, 1974, S. 25–35; Hans-Joachim Raupp: »Pitture ridi-

1642 gedruckten Caravaggio-Biographie seines Kontrahenten

cole« – »Kleine Sachen«. Zur Genremalerei in den romanischen

Giovanni Baglione [siehe ebda., S. 316–318 (Dokument F. 10)] für

Ländern. In: Zwei Gesichter der Eremitage (Die großen Samm-

seine weitere Beurteilung in der Kunstliteratur: Mit ihr »nahm

lungen VI), Bd. II: Von Caravaggio bis Poussin. Ausst.-Kat. Bonn,

die Karriere Merisis als nichtskönnender Peintre maudit defini-

Bundeskunsthalle, Bonn 1997, S. 58–68.

tiv ihren Lauf.« (Ebert-Schifferer 2009, S. 23.) Dass manche der

70

Vgl. Martin Warnke: Erschaffung der Natur: Caravaggio. In:

73

Martin Warnke: Erschaffung der Natur: Caravaggio. In: Warnke

Vorwürfe Bagliones topisch geworden sind, heißt aber sicher-

1979, S. 30. Siehe weiter Christoph Schreier: Von der Darstellung

lich nicht, dass die vielstimmige Caravaggio-Kritik nur die Fol-

zur Vergegenwärtigung – Motiv und Funktion des Sinnlichen in

geerscheinung seiner Diffamierung und somit nicht sachlich

Caravaggios Frühwerk. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch, 50, 1989,

begründet gewesen wäre.

S. 329–338; Stephen Bann: The True Line. On Visual Representa-

Siehe z. B. Bellori 2009, Bd. 1, S. 212, 214. In seiner 1664 vor der

tion in Western Tradition. Cambridge, Mass. 1989, S. 79ff.; Prater

Accademia di San Luca gehaltenen Rede kritisierte Bellori den

1992; Marin 1995; Krüger 2001, S. 243–279.

bloßen Naturalismus Caravaggios: »[…] come in nostri tempi

74

Vgl. Marin 1995, S. 104f.

Michel Angelo da Caravaggio fu troppo naturale […]«. (Bellori:

75

Siehe insbes. Maurizio Calvesi: Caravaggio o la ricerca della sal-

I’Idea del pittore, dello scultore e dell’architetto scelta dalle bel-

vazione. In: Storia dell’arte, 9/10, 1971, S. 93–142; Ders.: La realtà

lezze naturali superiore alla natura. In: Bellori 2009, Bd. 1, S. 9),

del Caravaggio. Turin 1990; Ebert-Schifferer 2009 sowie Anne H.

»[…] copiava puramente li corpi, come appariscono agli occhi,

Muraoka: The Path of Humility. Caravaggio and Carlo Borro-

senza elezione […]«. (Ebda., S. 22.)

meo. New York/Bern/Frankfurt [u. a.] 2015.

228

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

ten, hat er diese unterminiert, eine kontingente Bildwelt geschaffen, die sich nicht bedachter Gestaltung zu verdanken scheint, um so mit jedem seiner Werke grundsätzliche Fragen der bildlichen Repräsentation, des Sehens und Erkennens aufzuwerfen74 – und das Gespräch über das Kunstwerk zu provozieren. Dieses Potential hat Caravaggios Werk bis heute nicht eingebüßt, teilt sich doch die Forschung seit einiger Zeit in zwei einander unversöhnlich gegenüberstehende Lager, nämlich einerseits die Autorinnen und Autoren, die Caravaggio als überzeugten Anhänger der katholischen Reform verstehen,75 andererseits diejenigen, die in ihm einen Freigeist sehen, der immer wieder mit Darstellungskonventionen gebrochen, Seherwartungen brüskiert und mit den Codierungen der Malerei gespielt hat.76 Entgegen der Vorwürfe seiner Kritiker hat Caravaggio auch die Antike und Raffael zitiert. Doch in seinem Œuvre stellen solche Referenzen häufig den Sinn der imitatio auf den Kopf.77 Wenn er z. B. in der Madonna dei Pellegrini (Madonna di Loreto) (Abb. 125), wie später auch in der Figur der Heiligen Anna in der Madonna dei Palafrenieri (Rom, Galleria Borghese), die damals im Garten der Villa Medici befindliche antike Skulptur der Vetturia zitierte, die als Porträt der Tusnelda, der trauernden Gattin des Germanenfürsten Arminius, galt (Abb. 126),78 so war dies eine unerwartete, denkbar unangemessene Referenz – ein Zitat, das keine Ideenmasse mehr transportiert, sondern nur noch einen eigenwilligen Zugriff auf die Tradition und damit die unkonven-

76

Abb. 125 Caravaggio: Madonna dei Pellegrini (Madonna di Loreto), um 1604–06, Rom, Sant’Agostino

Siehe Ferdinando Bologna: La incredulità del Caravaggio e

1595 in seinen Haushalt aufnahm, zählte zu den Antimolenisten,

l’esperienza delle »cose naturali«. Turin 1992; Prater 1992; Krüger

die im sogenannten Gnadenstreit um die Frage, ob das Heil zu

2001, S. 243–279; Lothar Sickel: Caravaggios Rom. Annäherun-

erreichen in der Verantwortung der Kirche und der Gläubigen

gen an ein dissonantes Milieu. Emsdetten/Berlin 2003; Klaus

selbst liege oder in jedem einzelnen Fall von Gott prädestiniert

Krüger: Das unvordenkliche Bild. Zur Semantik der Bildform in

sei, vom letzteren überzeugt waren und damit eine dem Mani-

Caravaggios Frühwerk. In: Jürgen Harten/Jean-Hubert Martin

chäismus des späten Augustinus nahe Position einnahmen.

(Hrsg.): Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Ausst.-Kat. Düsseldorf, Museum Kunst Palast, Ostfil-

(Held 1996, passim, bes. S. 84f., 106f., 204ff.) 77

Siehe Valeska von Rosen: Inszenierte Unkonventionalität. Cara-

dern 2006, S. 24–35; Valeska von Rosen: Caravaggio und die

vaggios Ironisierung der Antikenimitatio. In: Andreas Kablitz/

Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performa-

Gerhard Regn (Hrsg.): Renaissance. Episteme und Agon. Hei-

tivität in der Malerei um 1600. Berlin 2009. Jutta Held vertritt die m. E. überzeugende These, dass Caravaggio in seinen sakralen

delberg 2006, S. 423–449. 78

Krüger 2001, S. 270; Maurizio Calvesi: »Tanto contenta di mirar

Werken wiederholt kryptoprotestantische Standpunkte vertre-

sua figlia«. In: Anna Coliva (Hrsg.), La Madonna dei Palafrenieri

ten hat. Kardinal Francesco Maria del Monte, der Caravaggio

di Caravaggio. Venedig 1998, S. 42f.

S chulung ästhetischer D istanz und B eobachtung zweiter Ordnung. Z um Werk C aravaggios

229

Abb. 126  Trauernde Barbarin (Vetturia), 2. Jhd. n. Chr.,

Florenz, Loggia dei Lanzi

tionellen Verfahrensweisen des Künstlers bezeugt. Die an das Vorbild einer ›Barbarin‹ angelehnte Darstellung der Maria mit übereinander geschlagenen nackten Füßen war ein eklatanter Verstoß gegen das decorum.79 Viele solcher Formübernahmen hat die Forschung erst in jüngerer Zeit entdeckt, nachdem sie die Vorstel-

lung von Caravaggios krudem Naturalismus verabschiedet und allmählich einen Begriff von seinen Zitierverfahren gewonnen hatte. So hat man z. B. erst vor einigen Jahren realisiert, dass die Haltung Johannes’ des Täufers in der Galleria Corsini (Abb. 127) auf den berühmten Sterbenden Gallier (Abb. 128) zurückgeht,80 die damals in der Sammlung Ludovisi bewahrte römische Kopie eines um 230/220 v. Chr. von Attalos I., dem König von Pergamon, zur Memorierung seines Sieges über die Kelten (Galater) in Auftrag gegebenen Bronzeoriginals. Wie der Bildvergleich zeigt, war die heroische Skulptur des Besiegten der Ausgangspunkt für Caravaggios Darstellung des Täufers. Doch dessen Erscheinung mit dem ungepflegten, Ohren und Stirn bedeckenden und in die Augen fallenden welligen Haar, dem teilweise verschatteten Gesicht, das ebenso von der Sonne gebräunt ist wie der Hals und die Hände, und dem durch die dunklen Schlagschatten optisch fragmentierten und darum schmächtig und verletzlich wirkenden, bleichen nackten Oberkörper könnte unheroischer kaum wirken. Sie lässt daher Assoziationen an das antike Werk überhaupt nicht aufkommen. Tatsächlich hat Caravaggio den Ausdrucksgehalt der zitierten Form in seinem Werk systematisch hintertrieben. Zu der gänzlich anderen Wirkung des Täufers trägt auch bei, dass die in gebeugter Haltung sitzende Halbfigur zwischen die horizontalen Ränder des Breitformats ›eingezwängt‹ ist. Die irritierende Wirkung des Gemäldes wird noch gesteigert durch den Blick, der den Bildraum verlässt und somit einen Handlungszusammenhang suggeriert, ohne dass dieser erkennbar wäre, und durch die spärlichen Attribute der Figur, der kein Lamm zugeordnet ist und die kein Fell trägt, so dass ihre Identität nicht zweifelsfrei bestimmt werden kann – auch das Stabkreuz wird so vom unteren Bildrand überschnitten, dass es nicht einwandfrei als solches zu erkennen, nämlich nur eine Hälfte des Querstabes sichtbar ist.81 Der Täufer in der Galleria Corsini entspricht somit nicht

79

Von Rosen 2006, S. 436f.

Ausst.-Kat. Rom, Palazzo Barberini, Neapel 1999, S. 142; von

80

Silvigliano Alloisi, in: Claudio Strinati/Rossella Vodret (Hrsg.):

Rosen 2006, S. 439.

Caravaggio e i suoi. Percorsi caravaggeschi in palazzo Barberini,

230

81

Von Rosen 2009, S. 180f.

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Abb. 127 Caravaggio: Johannes

der Täufer, um 1606, Rom,

Galleria Corsini

Abb. 128  Der sterbende Gallier,

römische Marmorkopie eines um 230/220 v. Chr. entstandenen

­Bronzeoriginals, Rom, Kapitolinische Museen

S chulung ästhetischer D istanz und B eobachtung zweiter Ordnung. Z um Werk C aravaggios

231

den Darstellungskonventionen und bei der ihm verliehenen Haltung des Sterbenden Galliers handelt es sich um ein unerwartetes, unangemessenes und durch den gänzlich anderen Eindruck, den der Täufer erweckt, geradezu kaschiertes Zitat. Dies bewirkt den effet de réel (Roland Barthes):82 Eben weil die Selbst- bzw. Kunstreferenz des Werkes nicht ohne weiteres zu erkennen ist, vermutet man in ihm bloße Fremd- bzw. Weltreferenz. Dabei soll das unerwartete Zitat offenbar vom Gros der Rezipienten übersehen werden, um dann als raffinierte Form der Antizipation entrüsteter Kritiken für das Argument bereitzustehen, dass doch auch hier die Alten zitiert wurden und somit alles zum Besten sei.83 Wie hier an verschiedenen Beispielen gezeigt werden soll, hat Caravaggio mit Blick auf ihren kommunikativen Gebrauch vielen seiner Werke eine gesteigerte, oft paradoxal pointierte Komplexität verliehen. Auf diese Weise realisierte er subtile Mehrdeutigkeiten, in denen eine kontroverse Rezeption der Werke angelegt ist. Mit seinem hintergründigen Spiel mit den Vorbildern, das vorbereitet war durch ironische Zitate in Werken Raffaels, Rosso Fiorentinos, Bruegels, Annibales u. a. (Abb. 61, 107, 118, 115), widersetzte sich Caravaggio aktuellen decorum- und concinnitas-Forderungen. Angesichts der zunehmenden Verfügbarkeit von Vorbildern durch ihre druckgraphische Vervielfältigung hatte bereits Gian Paolo Lomazzo Auswüchse der manieristischen Zitatkunst kritisiert. Er sprach bereits vom

»Raub« der Formen anderer und ermahnte die Maler, »non fare come certe pittori, che rubano una mano del Mosè di Michel Angelo, un panno d’una stampa, un piede d’Apolline, una testa di Venere, cose impossibili che convengano tutte insieme«.84 Die Künstler des Manierismus hatten gemäß dem Konzept einer Nach­ ahmung der besseren Meister, die ein hohes bildsprachliches Artikulationsniveau garantieren sollte, fortwährend Meisterwerke zitiert.85 Der Inflation und drohenden Beliebigkeit solcher Übernahmen begegnete man im späten Cinquecento durch die Bekräftigung des Gebots der Angemessenheit, die Kanonisierung großer Vorbilder und Präzisierung ihrer jeweiligen Relevanz86 sowie eine lexikalische Erfassung der Bildthemen. Beflügelt wurden diese Bemühungen von der Vorstellung einer vorbabylonischen Ursprache, die eine Bildsprache und ein Thesaurus aller Sprachen gewesen sei. In der Hoffnung, ihre Wiederentdeckung werde eine concordia mundis zeitigen, hatte Lomazzo 1583 seinen sieben Jahre später publizierten Traktat Idea del tempio della pittura entworfen. Dieser stellt ein der ars memoria und der ars inveniendi dienendes teatro dar, ein Bild des Kosmos, das als mnemotechnischer Apparat durch die Kombination aller in der Tradition der Malkunst bereits kodifizierten Sprachelemente der Erfindung jedweder denkbaren Vorstellung dienen sollte.87 Das Projekt der Codierung einer universellen Bildsprache kulminierte dann in der lexikalischen Festle-

82

Roland Barthes: L’effet de réel. In: Roland Barthes/Leo Bersani/

85

Vgl. Brassat 2003, S. 112ff., 175ff.

Philippe Harmon u. a. (Hrsg.): Littérature et réalité. Paris 1982,

86

Vasaris Frage, wer der Beste unter den Künstlern sei, trat bei Lo-

83

84

S. 81–90. (Der Aufsatz erschien zunächst in: Communications, 11,

mazzo zurück, der darstellte, wer von ihnen jeweils spezielle

1968.)

Anforderungen der Malerei (inventio, disegno, colorito, pro-

Das rhetorische Verfahren der prolepsis bzw. anticipatio, der

spettiva etc.) am besten meisterte. Lomazzo kürte sieben »go-

vorgreifenden Widerlegung von zu erwartenden Einwänden des

vernatori dell’arte« (Michelangelo, Gaudenzio Ferrari, Polidoro,

Gegners, war ein geläufiges, das z. B. Leonardo da Vinci immer

Leonardo, Raffael, Mantegna und Tizian), an deren jeweils her-

wieder in seinem Malereitraktat angewandt hat.

vorragenden Qualitäten sich ein jeder Maler schulen sollte.

Gian Paolo Lomazzo: Trattato dell’arte della pittura, scoltura et

[Gian Paolo Lomazzo: Idea del tempio della pittura (Mailand 1590). In: Lomazzo 1973, S. 279f.]

architettura (Mailand 1584). In: Lomazzo 1975, S. 249. Der holländische Klassizist Gérard de Lairesse sollte solche Künstler

87

Stoichita 1995a.

mit einem Huhn vergleichen, das Enteneier ausbrüten will. [Groot Schilderboek, door Gerard de Lairesse, Konstschilder. (Erstausg. Amsterdam 1707) Haarlem 1740, S. 51.]

232

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

gung von Bildthemen in Cesare Ripas 1593 in Rom publizierter Iconographia.88 Nachdem schon die Carracci wörtliche Zitate vielfach vermieden hatten, indem sie die Posen vorbildlicher Figuren von Modellen einnehmen und ggf. modifizieren ließen, um sie sodann zeichnerisch neu zu erarbeiteten,89 hat sich Caravaggio das Kognitionsniveau dieser maßgeblich von den kirchlichen und staatlichen Reflexionsinstanzen getragenen Bestrebungen zu eigen gemacht, diese selbst aber konterkariert mit offensichtlichen, dann aber in der Regel ironisch gebrochenen und mit schwer erkennbaren, aus thematisch entlegenen Zusammenhängen entlehnten Zitaten.90 Durch solche Verfahren der dissimulatio ließ er seine jeweilige gestalterische Leistung intransparent werden, zielte auf die Wirkung der Überraschung und des Unbegreiflichen und parierte, sie antizipierend, die zu erwartende Kritik seiner vermeintlich geistlosen Kunst. Mit den Codierungen der Malerei spielend, setzte er sich über das Gebot des decorum und die Vorstellung hinweg, dass es für jedes Thema eine adäquate Bildform und somit jeweils kanonische Vorbilder gebe. So radikalisierte er den Begriff der licenzia und der Autonomie des Kunstwerks, einem Zeichenkomplex von letztlich ästhetischer Konsistenz. Die reflexive Distanz Caravaggios zeigt sich u. a. in seiner Rezeption Michelangelos, die fast durchweg parodistische und auch blasphemische Züge aufweist,91 und in dem Kalkül, mit dem der hochbegabte Lombarde in Rom, der Welthauptstadt der Künste,92 durch

eine radikale Neuheit des Kunstwerks den Erfolg suchte. Voraussetzung dessen waren auch die tridentinischen Direktiven, die zwar mancherorts, z. B. im laizistischen Klima Venedigs weitgehend wirkungslos blieben,93 aber die römische Kunst stagnieren ließen. Nicht zuletzt der Erfolg des damals mit Aufträgen überhäuften Giuseppe Cesari, des Cavaliere d’Arpino, in dessen Werkstatt der in Rom angekommene Caravaggio zunächst arbeitete, dürfte seine planvolle Brüskierung des herrschenden Geschmacks provoziert haben. Unter unseren Fragestellungen verdienen folgende Aspekte seiner Malerei eine eingehende Erörterung: 1) Caravaggio entwickelte seine Strategien einer Radikalisierung der Bildkonzepte des Manierismus und einer die ästhetischen Konventionen brüskierenden Neuheit des Kunstwerks im ­Medium des Sammler- und Genrebildes mit Blick auf die geselligen Formen seines kommunikativen Gebrauchs. 2) Die Differenz der Kunst- und Alltagswahrnehmung bedenkend, hat er auf subtile Weise eine ­paradoxe Organisation der Bildsemantik realisiert, die er auch durch die Unterscheidung verschiedener Beobachtungsräume, interner und externer Beobachter entfaltete. 3) Seine Stilhaltung – und dies macht die Modernität seine Œuvres aus – verweigerte sich dem bestehenden Regelwerk und folgte keinen Ausdrucks­ bedürfnissen, die konsequent einem bereits formulierten weltanschaulichen Standpunkt entsprochen hätten, sondern sie konstituierte sich als ein weitgehend ex negativo auf Gegebenheiten und Funktionsweisen des

88

Siehe Cesare Ripa: Iconologia. Hrsg. v. Piero Buscaroli, 2 Bde.

91

Held 1996, S. 165.

Turin 1988; Gerlind Werner: RIPA’S Iconologia. Quellen – Me-

92

Dies war Rom weiterhin, obwohl sich in dieser Zeit das Verhält-

thode – Ziele. Utrecht 1977; Warncke 1987, S. 193ff.; Cornelia Lo-

nis von Zentrum und Peripherie der Kunstproduktion verän-

gemann (Hrsg.): Cesare Ripa und die Begriffsbilder der Frühen

derte und die römische Kunst entscheidende Neuerungen von

Neuzeit. Zürich 2011.

zugereisten Künstlern, vor allem von den Bolognesern und von

89

Keazor 2002, S. 130ff.; Ebert-Schifferer 2009, S. 49.

Caravaggio, erhielt. Vgl. Enrico Castelnuovo/Carlo Ginzburg:

90

Vgl. dazu Peter J. Burgard: The Art of Dissimulation: Caravaggio’s

Zentrum und Peripherie. In: Bellosi/Castelnuovo u. a. 1988,

Calling of Saint Matthew. In: Pantheon, 56, 1998, S. 95–102; Rudolf Preimesberger: Michelangelo da Caravaggio – Caravaggio da Mi-

Bd. 1, S. 21–91. 93

Siehe Martin Seidel: Venezianische Malerei zur Zeit der Gegen-

chelangelo. Zum »Amor« der Berliner Gemäldegalerie. In: Von

reformation. Kirchliche Programmschriften und künstlerische

Rosen/Krüger/Preimesberger 2003, S. 243–260, der den Transfer

Bildkonzepte bei Tizian, Tintoretto, Veronese und Palma il Gio-

der Form in einen thematisch fremden Kontext als rhetorisches

vane. Münster 1996.

Bravourstück, als Meisterung einer selbstgestellten Schwierigkeit (difficoltà) bewertet (ebda., S. 257); von Rosen 2006.

S chulung ästhetischer D istanz und B eobachtung zweiter Ordnung. Z um Werk C aravaggios

233

Kunstsystems reagierender Habitus. In diesem zeichnet sich der Übergang von der höfischen zu einer marktorientierten Ausdifferenzierung der Kunst ab. Das diesen Habitus generierende Zentrum war die Kognitionsperspektive einer die Differenz von System und Umwelt reflektierenden Beobachtung zweiter Ordnung.

Wortspiele, Doppelungsstrukturen, Mehrfachcodierungen Wortspiele, Doppelungsstrukturen, Mehrfachcodierungen und Verzicht auf rekursive Sinnabsicherung

Zu den frühesten erhaltenen Werken Caravaggios zählt der Kranke Bacchus (Bacchino malato, Abb. 129), ein Selbstbildnis, das der 1571 Geborene wahrscheinlich in den Jahren 1593/94 gemalt hat. Sein Kontrahent und Biograph Giovanni Baglione hat dieses als einen »Bacchus mit Reben verschiedener Weintrauben, mit viel Sorgfalt gemalt, aber von einer etwas trockenen Manier« bezeichnet.94 Er behandelte es als frühe Halbfigurendarstellung Caravaggios und eines jener Selbstbildnisse (»alcuni quadretti da lui nello specchio ritratti«), mit denen der junge Künstler um die Aufmerksamkeit von Kunden gebuhlt habe.95 Für die Haltung der Figur hat man zwei Vorbilder angeführt: die um 1580 von Simone Peterzano, seinem Lehrer, gemalte Persische Sibylle in den Fresken der Certosa di San Garegnano in Mailand (Abb. 130) und Albrecht Dürers 1511 entstandenen Frontispiz seiner Großen Passion mit der Darstellung der Verspottung Christi (Abb. 131).96 Caravaggio könnte von der Persischen Sibylle eine Nachzeichnung oder, was noch

wahrscheinlicher ist, Peterzanos Vorstudie (Mailand, Castello Sforzesco, Gabinetto dei Disegni) oder eine Kopie derselben gehabt haben, denn sie weist ebenso wie Dürers Christus und der Kranke Bacchus eine merkwürdige Muskelpartie über dem Schulterblatt auf.97 Welche Darstellung ihm hier auch immer als Vorbild gedient hat – Caravaggio hat diese auf jeden

94

96

95

»Et il primo fu un Bacco con alcuni grappoli d’uve diverse, con

Abb. 129 Caravaggio: Kranker Bacchus, 1593/94, Rom, Galleria Borghese

Ebert-Schifferer 2009, S. 57. Dürers Holzschnitt war umgehend

gran diligenza fatte, ma di maniera un poco secca.« [Macioce

von Andrea Solario, einem Maler aus dem Mailänder Umfeld

2003, S. 316 (F. 10)]

Leonardos, in seinem Bild des »Kreuztragenden Christus« (Gal-

Ebda. Baglione schrieb: »[…] er gelangte zu großem Ansehen,

leria Borghese) verwertet worden, das Caravaggio vielleicht in

und seine Köpfe werden besser bezahlt als die Historien anderer; soviel bedeutet der populäre Ruf, der nicht mit den Augen

der Sammlung von Giuseppe Cesari gesehen hat (ebda.). 97

Siehe die Abb. ebda., S. 32.

urteilt, sondern mit den Ohren sieht.« (Ebda., S. 318. Hier zit. n. der deutschen Übers. bei Conti 1988, S. 195.)

234

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Abb. 130  Simone Peterzano: Persische Sibylle, um 1580, Mailand, Certosa di

Abb. 131  Albrecht Dürer: Verspottung Christi, Frontispiz der Großen Passion,

Fall in seinem Selbstbildnis mit einer gewissen Unbeholfenheit verwertet. Denn offenbar diente ihm das Motiv des Tisches auch als ein Behelf, mit dem er das mit den überkreuzten Beinen schwierige Sitzmotiv Christi in Dürers Holzschnitt bzw. die Ausformulierung jener Körperpartien umgehen konnte, die bei Peterzanos Sibylle vollständig durch das Gewand mit seinen kantigen Falten verdeckt werden. Das von Caravaggio an seiner Figur ergänzte Bein und auch die merkwürdige, auch in den genannten Vorbildern gegebene anatomisch wenig stimmige Schulterpartie wirken durchaus unbeholfen. Sie lassen den noch ungeübten Figurenmaler erkennen, der in der Werkstatt des Cavaliere d’Arpino als Fachmaler für Stillleben zuständig war.98

Für den Bacchino malato hat man lediglich ein ikonographisch nahes, wahrscheinlich relevantes Vorbild anführen können, nämlich Giovanni (Gian) Paolo Lomazzos Selbstbildnis in der Mailander Brera (Abb. 132).99 Nur unwesentlich kleiner als Caravaggios Gemälde, zeigt es den Maler und Kunsttheoretiker mit einem altertümlichen Hut, den eine Medaille mit der Darstellung einer Gießkanne voller Weinlaub ziert. Selbst geschmückt mit Wein- und Eichenlaub, blickt der im Dreiviertelprofil dargestellte Gelehrte verschmitzt aus den Augenwinkeln zum Betrachter. In seiner rechten Hand hält er ein Buch und zugleich mit dem Daumen und Zeigefinger einen Zirkel. Das wohl 1568 gemalte Bild, das Lomazzo als 30-jährigen zeigt, trägt am unteren Rand die Inschrift »ZAVARGNA.NABIS VALLIS

Garegnano

98

1511, Holzschnitt

Obwohl nur bei einem Stillleben, dem in der Ambrosiana in

und des Glases demonstrierte und die Spiegelung des Fensters

Mailand, Caravaggios Autorschaft gesichert ist, sprechen viele

eines Raumes und frische Tautropfen auf die Blumen setzte.

Indizien dafür, dass Belloris Bericht Glauben verdient, nach

Und er malte vorzüglich andere Gemälde mit ähnlichen mime-

dem Caravaggio von Giuseppe Cesari, dem Cavaliere d’Arpino, eingestellt wurde, »um Blumen und Früchte zu malen, die so gut

tischen Effekten.« (Übers. n. Bellori 2009, Bd. 1, S. 213.) 99

Zum Folgenden siehe Adrienne von Lates: Caravaggio’s peaches

ausgeführt sind, dass er in ihnen jene größere Schönheit (vag-

and academic puns. In: Word & Image, 11/1, Jan.-März 1995,

hezza) erreichte, die uns in unseren Tagen so erfreut. Er malte

S. 55–60.

eine Vase mit Blumen, wobei er die Transparenz des Wassers

Wo rt spi ele, Doppe lu n g sstru ktu re n , Mehrfac hcodi eru n ge n

235

Abb. 132  Giovanni Paolo Lomazzo: Selbstbildnis als Maler und Abt der

­Accademia della Val di Blenio, 1568 (?), Mailand, Pinacoteca di Brera

BREGNI ET.P:PI[C]T[O]R«. Diese bezieht sich auf die nach einem Tal des Ticino benannte Accademia della Val di Blenio (Bregno), die um 1560 in Mailand gegründet worden war. Die Region des Val di Blenio war 1512 unter schweizerische Herrschaft gelangt, worauf die dortigen Weinbauern nach Mailand flohen, wo ihre Folklore großen Anklang fand und von den Akademikern zu einem komischen Dionysos-Kult überformt wurden. Die Accademia della Val di Blenio parodierte die offiziellen Akademien, erhob Bacchus zu ihrem Patron und pflegte den unbeholfenen schweizerisch-ita-

100 Siehe

lienischen Dialekt der Weinbauern. Diesen »lower class jargon« setzte man den Reden des trunkenen Bacchus und Silens gleich und verlieh ihm so mystische Weihen.100 Lomazzo wurde im August 1568 zum Abt der Akademie ernannt und nahm daraufhin den Spitznamen »Zavargnia« an. In seinem Porträt in der Brera hat er sich in der komischen Tracht dieses Ehrenamtes dargestellt. Vieles spricht dafür, dass Caravaggio dieses Bild gesehen oder zumindest von ihm gehört hat, denn Lomazzos akademische Aktivitäten waren auch seinem Lehrer Peterzano bekannt, der wahrscheinlich an Sitzungen der Accademia della Val di Blenio teilgenommen hat. Lomazzo, der Peterzanos Werke in Dichtungen gerühmt hat, war zudem Mitglied der Akademie der Unruhigen (Accademia degli inquieti), die 1594 von Muzio Sforza-Colonna, dem damaligen Herzog von Caravaggio, der lombardischen Heimat des gleichnamigen Malers, begründet worden war und sich in seinem Mailänder Palast traf. Auch in Rom gab es solche Einrichtungen, wie die schon 1527 gegründete sogenannte Akademie der Weinhändler (Accademia dei Vignaiuoli), der bedeutende Humanisten des Vatikans angehörten. Sie übten sich in der Gartenpflege und in einem oft derben sexuellen Humor, nannten sich gegenseitig mit Spitznamen wie »Herr großer Ast«, »Herr Rettich«, »Herr Möhre« usw., die allesamt phallische Konnotationen hatten. Ein Gemälde von Niccolò Frangipane (Abb. 133) gibt einen Eindruck von dem ausgelassenen Treiben, dem sich die Mitglieder solcher Akademien hingaben.101 Lomazzo hat sein Selbstporträt in einer auf dem Bregnianischen Dialekt fußenden Geheimsprache verfassten Dichtung mit dem Titel Rabisch erläutert und betont, ein Melancholiker zu sein, der am Freitag, dem 26. April 1536, in der siebzehnten Stunde im Zeichen des Stiers mit dem Aszendenten Saturn geboren wur-

Giulio Bora: Da Leonardo all’Accademia della Val di

tesco nell’arte del Cinquecento. Ausst.-Kat. Lugano, Museo Can-

Bregno: Giovan Paolo Lomazzo, Aurelio Luini e i disegni degli accademici. In: Raccolta Vinciana, XXIII, 1989, S. 73–101; Ders./ Manuela Kahn-Rossi/ Francesco Porzio (Hrsg.): Rabisch. Il gro-

236

tonale d’Arte, Mailand 1998. 101

Zu diesem siehe Bert W. Meijer: Niccolò Frangipane. In: Saggi e memorie di storia dell’arte, 8, 1972, S. 175f. (Nr. 16).

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Abb. 133  Niccolò Frangipane:

­Tischgesellschaft mit Bacchus bei

der Aufführung eines Madrigals, nach 1563, Privatbesitz

de.102 Auch Caravaggio wies sich durch den dunklen und zugleich kränklich blassen Teint und den Leidensausdruck als Melancholiker aus (Abb. 129), als ein zum Schwermut neigendes Kind des Saturn, das, wie die alte Humoralpsychologie besagte, zugleich zu besonderen kreativen Leistungen befähigt ist.103 Man hat in dem Motiv der Trauben, dem Attribut des Weingottes, eine Anspielung auf die einschlägige Anekdote von den gemalten Trauben des Zeuxis gesehen, nach denen verwirrte Vögel pickten. In Zusammenhang mit dem Stilleben auf dem Tisch ist noch eine weitere Bedeutungsschicht des Bacchino malato anzusprechen, seine homoerotische Dimension. Die beiden Pfirsiche lassen sich als Metaphern jenes Körperteils des Bacchus verstehen, das, vom Tisch verdeckt, nicht sichtbar ist: sein Gesäß. Wie noch im heutigen Gebrauch verschiedener Sprachen üblich, wurden seinerzeit in Italien menschliche Körperteile metaphorisch mit dem Namen von Früchten bezeichnet. Adrienne

von Lates hat überzeugend dargelegt, dass Caravaggio im Bacchino malato das damals in der homosexuellen Subkultur geläufige Idiom »dare le pesce«, also »die Pfirsiche geben«, visualisiert hat. In dem erstmals 1611 publizierten italienisch-englischen Wörterbuch von John Florio wird dieses übersetzt mit »to yield one’s bum, or consent to unnatural sinne« und als Bedeutung des Wortes »pesca« auch »a young man’s bum« angeführt.104 Von Lates hat weitere Beispiele solcher Wortspiele in Caravaggios römischem Umfeld nachgewiesen. So erklärte Francesco Molza, der als Mitglied der Akademie der Weinhändler den Spitznamen »Il Fico« trug, der ihn als Heterosexuellen auswies, in einem Gedicht, dass die »Feigen« und »Melonen« der Frauen den »Pfirsichen« und »Äpfeln« der Männer vorzuziehen seien. Solche Poesie, wie sie auch der Cavaliere Marino verfasst hat, verstanden die Akademiker als Rückbesinnung auf archaische Rituale der Griechen, die im Priapus-Kult dem Gott phallische Lieder darbrachten, um

102

103

Siehe Giovanni Paolo Lomazzo: Rabisch. Hrsg. v. Dante Isella, Turin 1993.

Margot u. Rudolf Wittkower: Born under Saturn: the character and conduct of artist. New York 1969.

104

Von Lates 1995, S. 57.

Wo rt spi ele, Doppe lu n g sstru ktu re n , Mehrfac hcodi eru n ge n

237

Abb. 134  Nicolas Poussin:

Bacchantische Szene mit Pansherme,

um 1635 (?), London, National Gallery

seinen Segen zu gewinnen. Auf diese u. a. von Nicolas Poussin in mehreren Bacchanalien dargestellten (Abb. 134) Bräuche hatte Aristoteles die burleske Dichtung zurückgeführt.105 Caravaggio hat auch in Schmähgedichten auf seinen Kontrahenten Giovanni Baglione, aufgrund derer er im September 1603 verhört und in Haft gesetzt wurde, einen solchen Humor an den Tag gelegt und Ausdrücke benutzt, die in Wörterbüchern zumeist nicht zu finden sind.106 Zweifellos war der Bacchino malato für die Rezeption in geselliger Runde konzipiert. Dieser kam Caravaggio mit einem zotigen Humor entgegen, mit dem

damals bereits Männerbünde wie die vornehme römische Akademie der Weinhändler und die Assoziation der Zugvögel (Bentveugels, Bamboccianti, von ital. bamboccio = Dickerchen, Puppe), der niederländischen Künstler in Rom, den ethischen Anspruch der höfischen Geselligkeit und den Ernst und die hierarchischen Strukturen fürstlicher Akademien konterkarierten.107 Wie maßgeblich die Ansprüche der geselligen Rezeption für Caravaggios Œuvre waren, zeigen die grundsätzlichen Überlegungen von Andreas Prater, der seine Neigung zur Travestie, konzeptuelle Übereinstimmungen seiner Werke mit den Karikaturen der Car-

105

Ebda.; Aristoteles: Poetik, IV, 1449a.

Baader/Müller Hofstede/Patz/Suthor 2007, S. 143–168; Edgar

106

Siehe Jürgen Müller: »Cazzon da mulo« – Sprach- und Bildwitz

Lein: Die Feste der Florentiner Künstlerbruderschaften Com-

in Caravaggios Junge von einer Eidechse gebissen. In: Jörg Robert

pagnia del Paiuolo und Compagnia della Cazzuola. In: Andreas

(Hrsg.): Intermedialität in der Frühen Neuzeit: Formen, Funkti-

Tacke/Birgit Ulrike Münch u. a. (Hrsg.): Künstlerfeste. In Zünf-

onen, Konzepte. Berlin 2017, S. 180ff.

ten, Akademien, Vereinen und informellen Kreisen. Petersberg

Von Lates 1995; Martina Geißler: Die Feste der ›bentvuegels‹:

2019, S. 19–31. Signifikant ist, dass sich später Anthonis van Dyck

Eine Kombination aus Albernheit und Spitzfindigkeit. In: Kriti-

während seines Aufenthalts in Rom als ›pittore cavalieresco‹

sche Berichte, 3/2003, S. 15–23. Zu frühen burlesken Künstler-

vom burlesk-rowdyhaften Milieu der Bentvuegels ferngehalten

vereinigungen siehe Wolf-Dietrich Löhr: Spielformen der Kunst.

hat. (Michael Jaffé: [Artikel] Dyck, Anthony van. In: The Dictio-

Andrea del Sarto als Architekt und der Triumph der Würste. In:

nary of Art, Bd. 9, S. 486.)

107

238

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

racci108 und den änigmatischen Charakter auch seiner biblischen Historien betonte, in denen … »allereinfachste Menschen zu Trägern eines hohen Bildsinns gemacht sind. Gerade in dieser Diskrepanz wird jedes sakrale Geschehen zum Mysterium, und das Bild, welches dieses schildert, realisiert ein Bilderrätsel auf sehr hohem Niveau.«109

Das früheste Beispiel dafür ist die Reuige Magdalena, das um 1594/95 entstandene Gemälde der trauernden Büßerin (Abb. 135). In sich gekehrt und weinend, sitzt diese in einem dunklen Raum auf einem kleinen Schemel. Neben ihr liegen auf dem Boden eine zerrissene Perlenkette und weiterer kostbarer Schmuck der ehemaligen Prostituierten und das Gefäß mit dem Salböl, mit dem die Bekehrte den Leichnam Christi reinigte. Die Figur der Trauernden, über der der Lichtstreifen am rechten oberen Bildrand als Erleuchtungsmetapher fungiert, hat Caravaggio in Anlehnung an eine, wie ein trajanisches Hochrelief der Trauernden Provinz Dakien (Abb. 136) zeigt, bis in die Antike zurückgehende Darstellungstradition ausgeführt.110

Abb. 135 Caravaggio: Die reuige Magdalena, um 1594/95, Rom, Galleria Doria Pamphilj

108

Prater 1992, S. 143f., Anm. 276.

rufung des Matthäus dieser in dem Geld zählenden jungen

109

Ebda. Dies gilt in besonderem Maße für den Matthäus-Zyklus in

Mann, der links am Tisch sitzt, dargestellt ist. Matthäus er-

der Contarelli-Kapelle, den schon Longhi als eine problemati-

scheint somit in seiner alten Identität des noch nichts von seiner

sche Fortführung der Genremalerei Caravaggios angesehen hat

Bestimmung wissenden Zöllners Levi. (Reinald Raabe: Der ima-

(Roberto Longhi: Caravaggio. Dresden 1968, S. 28ff.). Eine lange

ginierte Betrachter: Studien zu Caravaggios Römischem Werk.

Debatte hat sich an der Frage entzündet, welche der Figuren in

Hildesheim 1996, S. 85.) Diesbezügliche Verständnishilfen sind

der Berufung des Matthäus den Heiligen repräsentiert. [Andreas

die physiognomische Ähnlichkeit des jungen Levi in der Beru-

Prater: Wo ist Matthäus? Beobachtungen zu Caravaggios Anfän-

fung mit dem gealterten Matthäus in der nicht erhaltenen ersten

gen als Monumentalmaler in der Contarelli-Kapelle. In: Pan-

Fassung des Altarbildes (ehemals Berlin, Kaiser-Friedrich-Mu-

theon, 43, 1985, S. 70–74; Hildegard Kretschmer: Zu Caravaggios

seum) und der identische Savonarola-Stuhl, auf dem beide sit-

Berufung des Matthäus in der Cappella Contarelli. In: Pantheon,

zen bzw. saßen. Nachdem die erste Fassung des Altarbildes zu-

46, 1988, S. 63–66; Herwarth Röttgen: Da ist Matthäus. In: Pan-

rückgewiesen worden war, hat Caravaggio auf diese Verständ-

theon, 49, 1991, S. 97–99; Andreas Prater: Matthäus und kein

nishilfen in der zweiten Fassung verzichtet, in der der nunmehr

Ende? Eine Entgegnung. In: Pantheon, 53, 1995, S. 53–61; Burgard

würdevoll dargestellte Matthäus eine andere Physiognomie auf-

1998. Die Diskussion zusammenfassend und mit weiterer Lite­

weist und auf einem schlichten Schemel kniet. Auch in den ge-

ratur: Irene Schütze: Zeigefinger – Fingerzeige. Konzepte der

nannten Werken sollte der Betrachter also die sinnerschließen-

Geste in der Debatte um Caravaggios Berufung des Matthäus. In:

den Bildelemente kombinierend erfassen. Diese Formen der

Margreth Egidi/Oliver Schneider u. a. (Hrsg.): Gestik. Figuren

Sinnkonstitution durch subtil eingesetzte arbiträre Zeichen

des Körpers in Text und Bild. Tübingen 2000, S. 185–199 sowie

hatte Caravaggio zunächst in Genrebildern erprobt.

Pericolo 2011, S. 201–241.] Ich teile die Auffassung, dass in der Be-

110

Ebert-Schifferer 2009, S. 65.

Wo rt spi ele, Doppe lu n g sstru ktu re n , Mehrfac hcodi eru n ge n

239

Abb. 136  Die trauernde Provinz Dakien, trajanisch (98–117 n. Chr.), Rom, Kapitolinische Museen

Dennoch irritiert Caravaggios Sammlerbild die Seh­ erwartung bereits durch die ungewöhnliche Anordnung der Figur im unteren Teil des Bildes. Diese bewirkt einen auch ungeschulten Betrachtern verständlichen Stimmungswert der ›Niedergeschlagenheit‹, der sich offenbar der Modifikation eines geläufigen ikonographischen Modells verdankte. Raffael hatte in seinen Marienbildern wiederholt die Demut (humilitas) der Gottesmutter veranschaulicht, indem er sie am Boden (humus) hockend oder sitzend darstellte (Abb. 137), wobei er allerdings stets auf die kompositorische Ausgewogenheit achtete und durch den niedrigen Horizont eine zentrale Anordnung der Figuren im Bild ge-

111

währleistete. Diese humilitas-Metaphorik war auch in Darstellungen der in der Einöde büßenden, auf dem Boden sitzenden oder knienden Magdalena geläufig (Abb. 97f.). Indem Caravaggio die Heilige aber in einem Innenraum, auf einem merkwürdig niedrigen Schemel setzte, ließ er die das Verständnis dieser Metapher unterstützende Assoziation humus – humilitas und ihr magdalenisches Implikat einer Rückkehr der Sünderin in den Schoß der Natur entfallen und seinen Rekurs auf die genannten Vorbilder intransparent werden. Zugleich intensivierte er den sein Gemälde bestimmenden Stimmungswert der Demut und Niedergeschlagenheit, indem er ein allen Regeln widersprechendes gespanntes Verhältnis von Figur und Rahmen erzeugte. Schwerer noch wiegt der als solcher erkennbare Status des mit seinen individuellen Zügen repräsentierten Modells, das man als die damals stadtbekannte rothaarige Prostituierte Anna Bianchini identifiziert hat.111 Es erstaunt daher nicht, dass Bellori dieses Werk als ein gelegentlich gemaltes Porträt eines Mädchens gedeutet hat, das sich die Haare trockne und in die Rolle der Magdalena geschlüpft sei (»finse per Madalena«).112 Die Buchstäblichkeit der akribischen Naturnachahmung, insbesondere die von den Bildtheologen der katholischen Reform einhellig verurteilte Wiedererkennbarkeit des Modells,113 rückt das Gemälde in die Nähe der Travestie, die Figur in eine Doppelungsstruktur,114 ein Spannungsfeld von Individualität und Idealität, Natur und Kunst, inmitten in die aufgerissene Kluft zweier verschiedener Welten, an denen sie als Zwitterwesen gleichermaßen teilhat. Caravaggio hat das von ihm verwendete Modell pointiert in seiner Individualität festgehalten, also die doppelte Verweisstruktur bzw. die Pole der abbildenden und zugleich exemplarischen, begriffsorientierten und symbolhaltigen Mimesis aufgespalten, das Abbild und das signitive Bild, die Lebenswirklichkeit und die visionär perzipierbaren Enti-

ritrasse in una camera, ed aggiungendovi in terra un vasello

Ricardo Bassani/Fiora Bellini: Caravaggio assassino. Rom 1994,

d’unguenti, con monili e gemme, la finse per Madalena.«

S. 50–56, 182–184. 112

Bellori 2009, Bd. 1, S. 215: »Dipinse una fanciulla a sedere sopra una seggiola con le mani in seno in atto di asciugarsi li capelli, la

240

113

Siehe die Belegstellen bei Hecht 1997, S. 266–290 sowie Seidel 1996, S. 74–104.

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Abb. 137  Raffael: Madonna Alba, um 1510, Washington, National

Gallery

täten (idea, concetto, Figur)115 nicht in eins fallen lassen, ästhetisch synthetisiert, sondern dissoziiert, in eine paradoxe Spannung gebracht. Dies lässt seine Darstellung, wie die Kritik Belloris belegt, defizitär erscheinen und nährt den Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit. Eine solche Bivalenz charakterisiert auch Caravaggios um 1602 entstandenes Gemälde Johannes der Täu-

fer im Kapitolinischen Museum (Abb. 138), in dem der Maler einen der ignudi Michelangelos paraphrasiert hat. Das Gemälde oszilliert zwischen sakraler und profaner Sinngebung.116 Es lässt sich nicht entscheiden, ob es sich bei dem Dargestellten, der Merkmale und Attribute des Täufers aufweist, aber einen Hammel umarmt, anstatt auf das Opferlamm hinzuweisen, um Johannes

114

Vgl. den grundlegenden Beitrag: Iser 1983.

zugrundeliegenden Werken der Hochrenaissance und des frü-

115

Vgl. Warncke 1987, S. 39.

hen Manierismus, in denen im Sinne eines emphatischen Syn-

116

Held 1996, S. 143ff.; Valeska von Rosen: Bedeutungsspiele in Ca-

kretismus eine ›Verwandtschaft‹ von Johannes und Bacchus

ravaggios Darstellungen Johannes’ des Täufers. In: Kunsthistori-

thematisiert worden war, insbesondere zu dem Gemälde Johan-

sche Arbeitsblätter, 7/8, 2003, S. 59–72; von Rosen 2009, S. 172–

nes der Täufer in der Landschaft von Leonardo oder seiner Werk-

200 (Kap. II.5: Caravaggios ›Ignudo‹ in der Pinacoteca Capito-

statt im Louvre (Abb. 7), siehe ebda. S. 192ff. Im Gegensatz zu

lina und andere Darstellungen ›Johannes des Täufers‹). Zu

von Rosen (ebda., S. 195f, Anm. 269) gehe ich davon aus, dass

Wo rt spi ele, Doppe lu n g sstru ktu re n , Mehrfac hcodi eru n ge n

241

oder einen antiken Hirten handelt, und tatsächlich findet man in Quellen des 17. Jahrhunderts beide Identifizierungen.117 Die einander ausschließenden Gegensätze sind in der Schwebe des logischen Paradoxons gehalten. Die jeweiligen Sinnanmutungen lassen sich nicht ver-

rechnen, die vorsätzlich gesteigerte Komplexität und Mehrdeutigkeit sich nicht zugunsten des einen oder anderen reduzieren. Die eigentliche Funktion dieses Gemäldes ist in der Tat die eines Kommunikationsprogramms. Mit dem Oszillieren der Bedeutungen ist die Kontroverse, das Für und Wider der Rezipienten für die eine oder die andere Deutung vorprogrammiert, wobei es letztlich eine die Durchschauungskraft der Vernunft stimulierende »perplessità« (perplexitas)118 bewirken und die Betrachter zu einer hohen Kognitionsperspektive und der Erkenntnis geleiten soll, dass das Bild ein autonomes Gebilde, ein die Gegensätze vereinendes Drittes ist. Die Paradoxie blockiert die Beobachtung erster Ordnung und verschafft dem System eigene Zeit,119 dem Kunstwerk eine anhaltende Aufmerksamkeit, die sich an seinen inneren Widersprüchen abarbeiten muss. Hatte im heimatlichen Mailand der dort als ›Neuer Leonardo‹ rezipierte Arcimboldo Heterogenes in veritablen Vexierbildern vereint (Abb. 89ff.), so schuf Caravaggio in Rom ikonographisch vexierende Bilder. Beruhen die inneren Widersprüche in den Darstellungen der Magdalena und des Täufers auf paradoxen Mehrfachcodierungen und der demzufolge nicht präzisierbaren Identität der Dargestellten, mit der auch der Status und Sinn des Bildes fraglich werden, so verdanken sie sich in dem Florentiner Gemälde des Von einer Eidechse gebissenen Knaben (Abb. 139) einer komplexen Steuerung und Thematisierung der Wahrnehmung des Betrachters.120 Der Vergleich mit der um 1554 entstandenen Zeichnung eines Von einer Krabbe gebissenen Jun-

dieses Werk im 17. Jahrhundert von einem Unbekannten über-

Sammlung des Kardinals Emmanuele Pio di Savoia schlicht als

arbeitet wurde, der den Heiligen mit Merkmalen eines Bacchus

nackter Junge (»un giovine nudo«) vermerkt. Spätere Inventare

versah und somit erst die pointierte Ambiguität des Gemäldes

erwähnen wieder einen »Giovanni Battista«. (Von Rosen 2009,

Abb. 138 Caravaggio: Johannes der Täufer, um 1602, Rom, Pinacoteca Capitolina

S. 176.)

erzeugte. (Siehe oben, S. 22 sowie Puglisi 2002, S. 206f.) 117

In den Inventaren und dem Testament von Giovanni Battista

118

Zu diesem Begriff, den ich verwende, obwohl er, soweit ich sehe,

Mattei wurde das Gemälde 1616, 1623 u. 1624 als »Giovanni Bat-

in Zusammenhang mit pathetischen Figurationsprinzipien ge-

tista« identifiziert, ebenso im Inventar des Kardinals Del Monte

prägt wurde, siehe Emanuele Tesauro: Il Cannochiale Aristote-

von 1627. In einem weiteren Inventar von 1628 wird es aber als

lico (Turin 1670). Neudruck hrsg. und eingel. von August Buck,

»Coridone«, also als Hirte, bezeichnet. Bereits 1620 erwähnte

Bad Homburg/Berlin/Zürich 1968, S. 212, 222; Reinhart Meyer-

Gaspare Celio in seinem Romverzeichnis das Gemälde als Darstellung eines »pastor friso«, eines »phrygischen Hirten« aus Theokrits Idyllen. 1641 wird das Sujet in dem Inventar der

242

Kalkus: [Artikel] Pathos. In: HWPh, Bd. 7, Sp. 194. 119

Vgl. dazu Luhmanns Erörterung der mit der Paradoxierung einhergehenden Temporalisierung der Liebessemantik. (Luhmann

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

gen von Sofonisba Anguissola (Abb. 140), einer Allegorie des Tastsinns, zeigt, welchen Sensationsgehalt Ca­ ravaggio dieser Bildform zu verleihen wusste. Ein Betrachter, der jäh mit seinem Gemälde und somit dem Blick und schmerzverzerrten Gesicht des Knaben konfrontiert wird, wird dessen Bewegung und Affekte in­ stinktiv auf sich selbst beziehen und als ein erschrockenes Zurückweichen vor dem eigenen Anblick deuten.121 Erst auf den zweiten Blick ist ihre eigentliche Ursache zu erkennen, die der Knabe selbst offenbar noch nicht bemerkt hat: der Biss der im Schatten befindlichen, inmitten der dunklen Früchte und Blätter kaum auszumachenden Eidechse. Durch den Blickkontakt zwischen Bildfigur und Betrachter wird die Allegorie des Tastsinns (tactus) zugleich zu einer Allegorie des Sehsinns (visus). Zudem wird das Spiel von Undurchsichtigkeit und Durchschauung, Trübung und Transparenz, in welches das Gemälde den Betrachter verwickelt, im Motiv der gläsernen Vase thematisch, das auf ein Stil­ leben Leonardos und die dieses rühmende Topik des »più viva che la vivezza« (Vasari) zurückgeht.122 Eine weitere Sinnebene, nämlich die Thematik der Schmerzen der Liebe, ist mit dem Biss in den unkeuschen Finger, den ›Impudicus‹,123 der androgynen Erscheinung

1984, S. 57ff.) Es erstaunt, dass Luhmann das bildliche Äquiva-

Abb. 139 Caravaggio: Von einer Eidechse gebissener Knabe, um 1594/95, Florenz, Fondazione Roberto Longhi

120

Eine weitere eigenhändige, wahrscheinlich frühere Version, bei

lent des logischen Paradoxons nicht als ästhetisches Faszino-

der der Blick des Knaben jedoch nicht den des Betrachters trifft,

sum und als Mittel einer Amplifikation des Bildvermögens ge-

besitzt die National Gallery in London. Beide Werke werden von

würdigt hat. Vielmehr heißt es in Die Kunst der Gesellschaft, die

Puglisi 2002, S. 395, Nr. 3 sehr früh, in die Jahre 1593/94, von Hib-

Wahrheitsoszillation des Paradoxons zwinge zum kurzestmögli-

bard 1983, S. 44f., 283f. hingegen in die Zeit um 1596/97 datiert.

chen Hin und Her und sperre die Zeit gleichsam ein (Luhmann

Die meisten Autoren, z. B. Mia Cinotti: Michelangelo Merisi

1995, S. 191), sie erzeuge eine »Kurzzeitoszillation«, ergebe keine

detto il Caravaggio. In: I Pittori Bergameschi dal XIII al XIX Se-

»Anschlußfähigkeit« (ebda., S. 73f.): »der Sinn einer solchen

colo. Il Seicento, Bd. I. Bergamo 1983, S. 435ff., Nr. 16 setzen sie

Figur […] läge nur in dem Hinweis auf das, was erforderlich wäre, um die Paradoxie zu entfalten; in dem Hinweis auf eine

um 1596 an. 121

Diesen ersten Eindruck gilt es als bedacht erzeugte Perzeptions-

wünschenswerte Reasymmetrisierung der Form« (ebda., S. 191)

möglichkeit ernst zu nehmen! Wir wissen, dass seinerzeit Be-

oder darin, »zur Suche nach einem innovativen, im Kunstwerk

trachter oft jäh mit schockierenden Werken konfrontiert wur-

selbst nicht festgelegten Ausweg aufzufordern, an dem der

den, z. B. indem man Vorhänge vor solchen abrupt zurückzog.

Künstler selbst zweifeln mag.« (Ebda., S. 192.) Hier dachte Luh-

Siehe Welzel 2006, S. 122f. Wir werden darauf zurückkommen.

mann offenbar nicht ästhetisch, sondern allein systemtheore-

122

tisch und übersah die Anschlussfähigkeit der Paradoxie für die

lehntes autonomes Stilleben gemalt hat, bezeugt der oben, in

kommunikative Rezeption. (Siehe auch die Kritik Rebentischs an Luhmanns nicht hinreichender Differenzierung zwischen Produktion und Rezeption: Rebentisch 2003, S. 94ff.)

Krüger 2001, S. 258. Dass Caravaggio ein an dieses Vorbild angeAnm. 98 zitierte Passus bei Bellori.

123

Held 1996, S. 31 weist hin auf den Gebrauch des lateinischen Begriffs in Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Univer-

Wo rt spi ele, Doppe lu n g sstru ktu re n , Mehrfac hcodi eru n ge n

243

des geschminkten Knaben, den Rosen, deren Stiele bekanntlich Dornen haben, und der phallischen Form der Eidechse (griech.: phallos) angesprochen124 – eine Anmutungsqualität, die die unter ihr paarweise angeordneten Früchte, insbesondere die beiden leuchtend roten Kirschen, noch verstärken. Raffiniert hat Caravaggio die zunächst erzeugte Illusion einer Interaktion von Bildfigur und Betrachter, mit der er die Asymmetrie ästhetischer Wahrnehmung suggestiv überblendete, enttäuscht – genauer gesagt: abgeschwächt – durch den versteckten eigentlichen Beweggrund des Knaben. Hat man den Vorgang des Bisses bemerkt, wird man seine Haltung und seinen Blick aufs Neue studieren, ihre nun in einem anderen Licht erscheinende geschehenslogische Plausibilität prüfen. Entgegen dem ersten Anschein sind diese primär, aber doch nicht gänzlich innerbildlich motiviert, schließlich richtet der Knabe seinen Blick zum Betrachter. Tatsächlich gewinnt man nun den Eindruck, er tue dies, weil er

in einer an seinem Ort befindlichen Person den Verursacher seines Schmerzes vermutet. Nachdem der Betrachter bemerkt hat, selbst einer Täuschung aufgesessen zu sein, stellt er somit fest, dass auch sein Gegenüber einer solchen, einer Verwirrung seiner Sinne, unterliegt. Dabei bestärkt das Gemälde, obwohl dieser Anschein bereits irritiert wurde, noch einmal die Suggestion, die gemalte Gestalt reagiere auf unsere Anwesenheit. Die Wahrnehmung ist also im Bild durch Selektionen dessen, was man sofort und erst später sehen soll, vorprogrammiert als zeitliche Abfolge unterschiedlicher Perzeptionen des Gesehenen. Da das Gemälde so den Betrachter auf überraschende Weise Täuschungen und Enttäuschungen, eine wiederholte Veränderung seiner Wahrnehmung durchleben lässt, scheint es mit ihm zu interagieren. Letztlich aber muss diese Suggestion zusammenbrechen – sie wird durch die verrinnende Zeit entlarvt. Die gesteigerte Illusion der Lebendigkeit, d. h. die suggestive Angleichung von ästhetischer Anschauung und Alltagswahrnehmung, lässt unweigerlich ihre Differenz zu Tage treten. Immer haftet dem Simulacrum ein unaufhebbarer Rest der Eigenpräsenz des Mediums und dessen an, was dieses nicht vermag. Es bleibt insbesondere die stillgestellte Zeitlichkeit des Gemäldes, die bereits das Differenzkriterium von Parmigianinos Einheit der Unterscheidung von ästhetischer und Alltagswahrnehmung war (Abb. 74), und die gerade, wenn dieses den flüchtigen Moment einer Handlung vergegenwärtigt oder eine Interaktion mit dem Betrachter suggeriert, mit der Dauer der Anschauung offensichtlich wird. Bereits die Malerei des frühen Cinquecento hatte in erzählenden Porträts wiederholt diese Schwelle überschritten, an der eine ins Momenthafte gesteigerte Lebendigkeit das mediale Apriori des Gemäldes randscharf werden lässt (Abb. 75) – eine wichtige Voraussetzung für Caravaggio, der beharrlich die Gattungen des

sal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Halle/Leipzig

kultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard.

1732–1750, Bd. 9, Sp. 946ff.

Stuttgart 1999, S. 10. Auch »das Gehirn unterdrückt«, wie Luh-

Hibbard 1983, S. 44.

mann betont, »wenn man so sagen darf, seine Eigenleistung, um

Abb. 140  Sofonisba Anguissola: Von einer Krabbe gebissener Junge, um 1554, Neapel, Museo Nazionale di Copodimonte

124

125 Lorenz

Engell/Joseph Vogl: Vorwort. In: Claus Pias/J. Vogl/

die Welt als Welt erscheinen zu lassen.« (Luhmann 1995, S. 15.)

L. Engell/Oliver Fahle/Britta Neitzl (Hrsg.): Kursbuch Medien-

244

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Der verborgene Schlüssel zum Bildverständnis: Die Wahrsagerin

Porträts und der Historien- und Genremalerei interferieren ließ. Medien ist die Tendenz eigen, sich selbst und ihren eigenen konstitutiven Beitrag zu dem, was sie vermitteln, zum Verschwinden zu bringen, ihn an-ästhetisch werden zu lassen.125 Der Betrachter weiß prinzipiell um das Fingiert-Sein, das ›Als-ob‹ des Gemäldes, das er aber im steten Umgang mit dem Medium, zumal, wenn die von ihm vermittelte Informationsfülle ihn in Beschlag nimmt, nicht mehr beachtet. Nach einer These von Hans Robert Jauss förderte die Renaissance-Kunst diesen Gewöhnungseffekt durch die Faszination ihrer Vollkommenheit, welche nicht bloß erfunden zu sein scheint, »die Evidenz des nur Wahrscheinlichen durch seine Selbstgenügsamkeit übertrifft und in seiner Idealität dem Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit entrückt bleibt.«126 So bewirkte sie eine »willing dispension of disbelief« (Samuel Taylor Coleridge). Dagegen hat Caravaggio den überlernten Argwohn gegen das Simulacrum immer wieder reaktiviert, indem er die Medialität des Gemäldes durch das Spiel mit der ästhetischen Grenze oder ihre suggestive Überblendung randscharf werden ließ. Versucht man, die bisher gemachten Beobachtungen zu systematisieren, so lassen sich, trotz der unterschiedlichen Gattungen und Themen der angeführten Gemälde, die in ihnen angewandten Verfahren allesamt beschreiben als ein Durchkreuzen bestehender Seherwartungen, d. h. als eine Verweigerung der üblichen Kontingenzerzeugung und rekursiven Sinnabsicherung in einem tatsächlich bereits existierenden autopoietischen System.127 Diese lässt sich zumal an solchen Werken belegen, in denen Caravaggio dezidiert zwischen Kunst und Nicht-Kunst, ästhetischer und Alltagswahrnehmung unterschieden und Verfahren einer Selbstnegation des Systems vollzogen hat.

Auch mit der Wahrsagerin kam der Künstler den Erwartungen der geselligen Kunstrezeption entgegen, die er in diesem Fall allerdings an die Grenze bitteren Ernstes führte. Von diesem Gemälde existieren zwei eigenhändige Versionen im Louvre (Abb. 141) und im Kapitolinischen Museum in Rom (Abb. 142) – eine von Caravaggio häufig praktizierte Mehrfachverwertung. Bis heute ist umstritten, welches das ältere der beiden Bilder ist, die zumeist in die Jahre 1594/95 datiert werden. Mina Gregori hat 1991 die Ergebnisse einer Restaurierung des 115 × 150 Zentimeter messenden Gemäldes in der Kapitolinischen Sammlung, das über dem Entwurf einer Unbefleckten Empfängnis des Cavaliere d’Arpino ausgeführt ist, dahingehend interpretiert, dass dieses die frühere Version und identisch mit dem im Besitz des Kardinals Del Monte nachgewiesenen Exemplar sei.128 Später hat dagegen Lothar Sickel die in den Höhen- und Seitenmaßen jeweils ungefähr 20 cm kleinere Version im Louvre, die Mancini um 1620 in der römischen Sammlung des Alessandro Vittrici gesehen hat und von der er berichtet, dass sie zu dem geringen Preis von 8 Scudi erstanden wurde,129 aufgrund ihrer Erwähnung in den im Mai 1609 und im April 1612 erstellten Inventaren der Sammlung des Gerolamo Vittrici und ihrer Nähe zu den Falschspielern (1594/95, Fort Worth, Kimbell Art Museum) als die frühere Fassung identifiziert.130 Dieser Meinung hat sich die weitere Forschung großen Teils angeschlossen.131 Zur frühen Rezeption der Wahrsagerin ist zu sagen, dass sogar Giovanni Baglione das Gemälde als »schön gemalt« bezeichnet und auch Giovan Pietro Bellori seinen

126

130

Hans Robert Jauss: Das Vollkommene als Faszinosum des Ima-

Sickel 2003, S. 55ff., insbes. S. 82, Anm. 36. Zur Provenienz des

ginären. In: Henrich/Iser 1983, S. 444.

Gemäldes in Rom siehe auch Maurizio Marini: Michelangelo

127

Vgl. Luhmann 1995, S. 472.

Merisi da Caravaggio »pictor praestantissimus«. 3. Aufl. Rom

128

Siehe Mina Gregori (Hrsg.): Michelangelo Merisi da Caravaggio.

2001, S. 410ff. (Nr. 23); zu beiden Versionen jüngst Pericolo 2011, S. 135–155.

Come nascono i Capolavori. Ausst.-Kat. Florenz, Palazzo Pitti, Galleria Palatina, Rom, Palazzo Ruspoli, Mailand 1991, S. 86ff. 129

Hibbard 1983, S. 25.

131

So z. B. Maurizio Marini: Caravaggios »Doppelgänger«. Unbekannte Originale, Zweitversionen und Mehrfachnennungen

DER VERBORGEN E S CH LÜ SSE L Z U M B I LDV E RS TÄN D N IS: DIE WAHRSAGERIN

245

Abb. 141 Caravaggio:

Die Wahrsagerin, um 1595,

Paris, Louvre

schlichten Stil gelobt hat.132 Als die Louvre-Version 1665, durch Salzwasser schwer in Mitleidenschaft gezogen, in Paris ankam, wurde sie von Paul Fréart de Chantelou hingegen als »un pauvre tableau, sans esprit ni invention« bezeichnet.133 Dass damals bereits viele Nachfolger Caravaggios dieses Thema behandelt hatten, beweist einmal mehr das polarisierte Meinungsbild, das seine Malerei hervorrief, wobei die stattliche Zahl der seinem Vorbild nacheifernden Maler in signifikantem Gegensatz stand zu dem überwiegend ablehnenden Urteil der Kunstliteraten.

Caravaggio hat in seinem Gemälde (Abb. 141) zwei junge Personen als Halbfiguren im großen Format dargestellt, eine Form, die in der Antike und der Renaissance vor allem als Doppelporträt geläufig war – und als

im Werk Michelangelo Merisis. In: Jürgen Harten/Jean-Hubert

ein solches hat selbst Bellori dieses Gemälde missverstanden.134 Vermutlich inspirierte sich der Maler an entsprechenden Freundschaftsbildern Raffaels (Abb. 75), wie auch die fein abgestimmte, sparsame Farbigkeit der Schwarz-, Weiß-, Braun- und Ockertöne vermuten lässt. Das Gemälde im Louvre zeigt eine junge Frau in der traditionellen Tracht einer Zigeunerin, die einem vornehm gekleideten jungen Herrn die Zukunft aus der Hand liest. Die eben erst ausgezogenen Handschuhe hält dieser in seiner linken Hand. Auf sein erotisches Interesse lässt die phallische Erscheinung des daneben auffällig hervorragenden Griffs seines Degens schließen.135 Offenbar hat die Zigeunerin soeben die mit der Venus assoziierte ›Liebeslinie‹ studiert, deren Verlauf sie dem

134

Martin (Hrsg.): Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Ausst.-Kat. Düsseldorf, Museum Kunst Palast, Ost-

Hibbard 1983, S. 25. Nämlich als Porträt einer Zigeunerin, siehe Bellori 2009, Bd. 1, S. 214f.

135

Jürgen Müller: Weitere Gründe dafür, warum die Maler lügen.

fildern 2006, S. 49; Ebert-Schifferer 2009, S. 77.

Überlegungen zu Caravaggios Handlesender Zigeunerin aus

132

Hibbard 1983, S. 27.

dem Louvre. In: Steffen Haug/Hans Georg Hiller von Gaertingen

133

Chantelou 2001, S. 212.

u. a. (Hrsg.): Arbeit am Bild: ein Album für Michael Diers. Köln 2010, S. 160.

246

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Abb. 142 Caravaggio:

Die Wahrsagerin, um 1595–98,

Rom, Pinacoteca Capitolina

Kunden mit freundlichem Gesicht ausdeutet. Die verlockenden Perspektiven, die ihm aus zartem Mund verkündet werden, scheint dieser gleichwohl skeptisch aufzunehmen. Er reagiert mit einem verunsicherten Gesichtsausdruck und einem ›fragenden‹ Blick. Aus seinen wachen Augen, die sie entwaffnen und durchschauen wollen, spricht sein Zweifel, ob man ihm etwas vormachen will. Es wäre verlockend, ihren Worten Glauben zu schenken, und doch ist er skeptisch. Und dennoch entgeht ihm, was auch der Betrachter leicht übersieht: Während der junge Mann überlegt, ob ihre Worte Glauben verdienen, achtet er nicht auf seine und ihre Hand und merkt nicht, dass sie noch Ärgeres im Schilde führt, nämlich ihm heimlich den Ring vom Finger streift. Die so freundlich dreinschauende junge Frau ist eine Betrügerin, die ihm nicht nur ein zweifelhaftes Horoskop ausstellt, sondern ihn obendrein um das Schmuckstück erleichtern will. Das Objekt des Diebstahls, den Ring, hat Caravaggio nur zart angedeutet, so dass der Betrachter diesen verborgenen clavis interpretandi, den Schlüssel zum Verständnis des Bildes, wahrscheinlich übersehen wird.

Der von der hintertriebenen Zigeunerin Betrogene der Louvre-Version ähnelt physiognomisch dem naiven Opfer der Falschspieler in dem zeitnah gemalten Genrebild (Fort Worth, Kimbell Art Museum). Er ist offenbar ein ahnungsloser, wohlbehütet, fernab aller Armut und Not aufgewachsener, freundlicher Junge an der Schwelle der Volljährigkeit, der seine Unsicherheit mit dem stolzen Gestus des in die Hüfte gestemmten Arms zu überspielen sucht. Da Caravaggio die junge Frau ihm physiognomisch angeglichen hat, wirken die beiden wie ein Paar in froher Zweisamkeit. Auch die Verbindung ihrer rechten Hände weckt dahingehende Assoziationen, nämlich an die coniunctio dextrarum von Hochzeitspaaren. Caravaggio hat sein Werk also so angelegt, dass der Betrachter mit großer Wahrscheinlichkeit den wahren Charakter des dargestellten Vorgangs übersehen wird. In der für den Kardinal Del Monte gemalten Version im Kapitolinischen Museum (Abb. 142) veränderte er sodann vor allem die Physiognomien der Figuren, die hier schlanker sind und älter wirken. Indem er den Kopf des jungen Mannes ins Profil wendete – und so eine kardinale Differenz zwischen den

DER VERBORGEN E S CH LÜ SSE L Z U M B I LDV E RS TÄN D N IS: DIE WAHRSAGERIN

247

damit eher als Antagonisten erscheinenden Figuren erzeugte – und ihm einen kühlen, reservierten Gesichtsausdruck und durchdringenden Blick verlieh, ergänzte er Verständnishilfen, die einen wachsamen Betrachter zu der Einsicht führen können, dass der Schein trügt und die Freundlichkeit der Zigeunerin nur ihre Hinterlist verbirgt. Damit hat er in der späteren Version die grundlegende Bivalenz durchschaubarer gemacht, ohne sie aufzuheben. Bemerkenswert ist, in welchem Maße er in diesen Gemälden die Aussagekraft ikonographischer Codierungen zugunsten psychologischer Ausdruckswerte vernachlässigt hat.

Exkurs: Niederländische Einflüsse Exkurs: Niederländische Einflüsse: Wimmelbilder, invertierte Historien und der verborgene clavis interpretandi

Fragt man nach der Herkunft des hier und auch in dem Von einer Eidechse gebissenen Knaben (Abb. 139) angewandten Verfahrens, wichtigen handlungserschließenden Bildelementen eine nur marginale Bildpräsenz zu verleihen, so spricht einiges dafür, dass dieses nicht der italienischen Kultur mit ihrem emphatischen Begriff des Bildvermögens entstammte, sondern auf niederländische Vorläufer zurückgeht. Man findet Ansätze dieses Verfahrens z. B. in dem 1564 entstandenen

136 137

138

Weg zum Kalvarienberg von Pieter Bruegel d. Ä. (Abb. 143),136 einem seiner sogenannten ›Wimmelbilder‹. In ihm sind einige Hundert Figuren dargestellt, inmitten derer Christus mit dem Kreuz zwar im Bildzentrum, aber verschwindend klein erscheint. Wie er ist auch die Beweinungsgruppe im Vordergrund, Johannes und die drei Marien, in konventionellen, auf altniederländische Vorbilder zurückgehenden Formen repräsentiert, die sich deutlich von der Machart der übrigen Figuren unterscheiden. Damit weist auch dieses Gemälde Merkmale der Heteroglossia auf, verschiedener Darstellungsweisen, welche die Unterscheidung zwischen der historia sacra und der historia nuda akzentuieren. Die in einer traditionellen Kunstsprache repräsentierten heiligen Figuren sind einer kontingenten, sich ihnen gegenüber gleichgültig zeigenden Welt ausgesetzt, die Bruegel als zeitgenössische Gegenwart repräsentiert hat. Der Weg zum Kalvarienberg steht in einer Tradition, die bis zu einem verlorenen Werk von Jan van Eyck zurückreicht.137 Schon Herri met de Bles, vermutlich ein Neffe von Joachim Patinir, hatte sich in diese eingereiht und in den 1530er Jahren in seiner Landschaft mit der Kreuztragung Christi (Wien, Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste) den Zug zum Kalvarienberg in einer Weltlandschaft und den unter der Last des Kreuzes zusammengebrochenen Christus nur als winzige Figur von hinten dargestellt, so dass man von ihm tatsächlich kaum mehr als das

Siehe Jürgen Müller: Pieter Bruegel. Sämtliche Gemälde. Köln

tur benutzte. Eine dem Wiener Gemälde ähnliche Version be-

2020, S. 117–123, 442f.

findet sich in der Galleria Doria Pamphili in Rom, eine

Karl Schütz: Kreuztragung Christi, Pieter Bruegel d. Ä. In: Kunst-

konventionellere im Princeton University Art Museum. (Hans

historisches Museum Wien. Die Gemäldegalerie. Hrsg. v. KHM,

Devisscher: [Artikel] Bles, Herri met de. In: The Dictionary of

Wien 1996, S. 182. Rückschlüsse auf das verlorene Werk van

Art, Bd. 4, S. 139–141.) Zu den Werken der ›Eule‹ in den Sammlun-

Eycks erlauben Gemälde seiner Nachfolger, siehe Kemp 1996,

gen des Girolamo Sanvitale und der Farnese siehe Maria Ta-

S. 159ff.

majo: Herri met de Bles: Moses vor dem brennenden Dorn-

Siehe Heribert Hutter/Renate Trnek: Führer durch die Schau-

busch, um 1540/45. In: Napoli! Museo Nazionale di Capodi-

sammlung der Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden

monte. Ausst.-Kat. Bonn, Kunst- und Ausstellungshalle der

Künste in Wien. Wien 1990, S. 12. Die Werke von Herri met de

Bundesrepublik Deutschland, Köln 1996, S. 108f. (Nr. 42); zu dem

Bles waren in Italien sehr begehrt. Wahrscheinlich war er iden-

Künstler die rezente Monographie: Michel Weemans: Herri Met

tisch mit dem in Ferrara bestatteten Künstler ›Il Civetta‹, be-

de Bles. Les ruses du paysage au temps de Bruegel et d’Erasme.

nannt nach der Eule, die Herri nach Karel van Mander als Signa-

Paris 2013.

248

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Abb. 143  Pieter Bruegel d. Ä.: Der Weg zum Kalvarienberg, 1564, Wien, Kunsthistorisches Museum

Gesäß sieht.138 Damals wurde die Form des Wimmelbildes auf zahlreiche weitere Themen übertragen, wie z. B. der um 1540 von Jan Aertson van Amstel gemalte Einzug Christi in Jerusalem zeigt (Abb. 144). Das Gemälde vergegenwärtigt in einer weiten, an die Tradition van Eycks und Patiniers anknüpfenden Landschaft eine Unmenge an Personen. Erst nach eingehendem Studium erkennt man in dieser den auf dem

139 Siehe

Peter Beye/Gunther Thiem: Die Staatsgalerie Stuttgart/

The Staatsgalerie Stuttgart. Ostfildern 1991, S. 86 (Kat.-Nr. 9). 140 Siehe

Stoichita 1998, S. 15ff.; Reindert Falckenburg: Matters of

Taste: Pieter Aertsen’s Market Scenes, Eating Habits, and picto-

Esel reitenden, lediglich von hinten dargestellten Heiland und damit das biblische Thema.139 Das Erscheinungsrecht des Bedeutsamen ist auch in den ›verdoppelten Bildern‹ des Antwerpener Malers Pieter Aertsen eingeschränkt.140 Ihre ersten Beispiele sind zu Beginn der 1550er Jahre entstanden, also rund ein Jahrzehnt, nachdem in Antwerpen der Schilder Pand im Innenhof der Börse, ein ständiger Markt für

(Hrsg.): The Object as Subject: Studies in the Interpretation of Still Life. Princeton 1996, S. 13–27; Charlotte Houghton: This was Tomorow: Pieter Aertsen’s Meat Stall as Contemporary Art. In: The Art Bulletin, 86/2, 2004, S. 277–300.

rial Rhetoric in the Sixteenth Century. In: Anne E. Lowenthal

Ex kurs: Niederländische E inflüsse

249

Abb. 144  Jan Aertson van Amstel:

Einzug Christi in Jerusalem, um 1540,

Stuttgart, Staatsgalerie

Abb. 145  Joachim Beuckelaer:

Das Feuer, 1570, London,

National Gallery

250

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Abb. 146  Paolo Veronese: Die Hochzeit zu Kana, 1562/63, Paris, Musée du Louvre

Gemälde, eingerichtet worden war.141 In diesen Sammlerbildern, die von den Kunsttheoretikern des 16. und 17. Jahrhunderts fast einhellig abgelehnt wurden,142 sind biblische Historien im Hintergrund opulenter Stilleben, Küchen- und Marktszenen dargestellt.

141

Damit hat Aertsen Albertis Konzept der historia relativiert.143 In den ›invertierten Historien‹ von ihm, seinem Neffen und Schüler Joachim Beuckelaer und weiteren Nachfolgern agieren im Vordergrund zuweilen tief dekolletierte Frauen, die Gemüse und Früchte mit

Hanss Floerke: Studien zur niederländischen Kunst und Kultur-

schwung von Gattungen wie der Genre- und Stilllebenmalerei

geschichte. Die Formen des Kunsthandels, das Atelier und die

zeigt. Houghton, die Aertsens Fleischerstand auf Aspekte des

Sammler in den Niederlanden vom 15.–18. Jahrhundert. Mün-

Antwerpener Wirtschaftslebens bezieht, konstatiert: »[…] an in-

chen/Leipzig 1905, S. 6ff., 62ff.; Conti 1988, S. 201; Hermann Ul-

creasingly open market encouraged artistic experimentation

rich Asemissen/Gunter Schweikhart: Malerei als Thema der

and the development of new types of imagery«. (Houghton

Malerei. Berlin 1994, S. 117; Filip Vermeylen: Painting for the Market. Commercialization of Art in Antwerp’s Golden Age. Turn-

2004, S. 294.). 142

hout 2003. Ich gehe davon aus, dass der Anstieg der Marktproduktion Innovationen wie die Aertsens angeregt hat, d. h. eine Spezialisierung des Angebots bewirkte, wie sie sich in dem Auf-

Ex kurs: Niederländische E inflüsse

Stoichita 1998, S. 15 (mit Hinweisen auf die Kritiken von Erasmus, Molanus, Mancini, Carducho und Lairesse).

143

Siehe ebda., S. 19f.; Falckenburg 1996, S. 21 spricht sogar von »Parodien« der Kunsttheorie Albertis.

251

Abb. 147  Francesco Bassano:

Der Frühling (Die Vertreibung aus dem Paradies), nach 1576, Wien, Kunsthistorisches Museum

häufig phallischen und vulvischen Formen, Fleisch, gerupfte Vögel etc. anbieten (Abb. 145). Mit diesen sexuellen Anspielungen war die Gefahr einkalkuliert, dass sich der Betrachter von den Objekten der Begierde betören lässt, ohne zu den tieferen Sinnschichten der Gemälde vorzudringen. In diesen sind also die alternativen Möglichkeiten einer angemessenen keuschen und einer unangemessenen unkeuschen Lesart angelegt.144 In Italien wurden die angeführten niederländischen Werke zunächst offenbar in Venedig rezipiert, wo Paolo Veronese Wimmelbilder, nämlich seine höchst figurenreichen Darstellungen des Abendmahls und weiterer biblischer Gastmähler (Abb. 146), ausführte. Im Fall seines Gemäldes im Refektorium der Mönche von San Giovanni e Paolo musste er sich dafür 1573 vor der In-

144 Vgl.

quisition rechtfertigen.145 Das Vorbild der invertierten Historien haben die Bassani aufgegriffen: So malte Jacopo Bassano mit seiner Werkstatt z. B. in mehreren Versionen den schon erwähnten Traum Joachims (Abb. 113), der als distanzierte Szene im Hintergrund von spinnenden und webenden Frauen und einem feueranblasenden Knaben erscheint – Motive, die auf Plinius’ Lob von Werken des Antiphilos von Alexandrien zurückgehen.146 Nach 1576 schuf Francesco Bassano seinen heute in Wien befindlichen Jahreszeitenzyklus, in dem Ereignisse des Alten Testaments tief im Hintergrund länd­licher Genreszenen dargestellt sind: So zeigt das Gemälde Der Frühling (Abb. 147) Motive der Jagd und saisonaler bäuerlicher Arbeiten, hinter denen rechts im Hintergrund winzig kleine, in betont skizzenhafter Malweise ausgeführte Figuren die Vertreibung

Werner Busch: Das keusche und das unkeusche Sehen.

ject Matter of the So-called »Feast in the House of Levi«. In: Ga-

Rembrandts »Diana, Aktaion und Kallisto«. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 52, 1989, S. 257–277. 145

zette des Beaux-Arts, 58, 1961, S. 325–354; Held 2016, S. 177ff. 146

Siehe oben, S. 209. Zu Bassanos Rezeption der ›invertierten His-

Siehe Emerich Schaffran: Der Inquisitionsprozeß gegen Paolo

torien‹ siehe Bernard Aikema: Jacopo Bassano and His Public.

Veronese. In: Archiv für Kunstgeschichte, 42, 1960, S. 178–193;

Moralizing Pictures in an Age of Reform, ca. 1535–1600. Prince-

Philipp Fehl: Veronese and the Inquisition. A Study of the Sub-

ton, NJ 1996, passim, bes. S. 58ff., 105ff.

252

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

aus dem Paradies repräsentieren.147 In der Lombardei und der Emilia-Romagna, wo im späten 16. Jahrhundert in Cremona und Parma Sammlungen der Antwerpener Genremalerei existierten,148 haben vor allem der Cremoneser Vincenzo Campi und der Bologneser Bartolomeo Passarotti diese Tradition fortgesetzt. Campi hat Werke Beuckelaers kopiert und eigene Gemälde mit identischer Bildanlage geschaffen (Abb. 148). Auch Annibale wird an diese Tradition angeknüpft haben, als er in seinem Metzgerladen (Abb. 115) auf die in den invertierten Historien distanzierten biblischen Erzählungen nur noch in Form von Bildzitaten verwies. Und sicherlich hat auch Caravaggio dieselbe gekannt und mit dem versteckten clavis interpretandi noch radikalisiert. Wesentlich bei dieser ikonographischen Filiation ist, dass in den angeführten Sammlerbildern selbstreflexive Merkmale zunächst im Rahmen einer bildtheologisch orientierten Didaxe auftraten, dann aber, offenbar mit Blick auf ihren kommunikativen Gebrauch, ins Heitere gewendet und auf profane Themen übertragen wurde.149 Dass auch im Norden die Künstler mit ihren Werken der geselligen Rezeption Nahrung lieferten, zeigen

147

148

149

um 1580, Modena, Galleria Estense

neben den erwähnten Werken z. B. die gemalten Sprichwörter von Pieter Bruegel d. Ä. u. a., deren Funktion in der moralischen Unterweisung der Betrachter, ihr Reiz aber offenbar im heiteren kollektiven Finden und Versprachlichen der visualisierten Redewendungen und im Wettstreit der Interpreten bestand.150

Siehe Martina Haja: Herbst, Francesco da Ponte, gen. Francesco

Bassanos Opfer Noahs (Potsdam, Bildergalerie Sanssouci), in

Bassano. In: Kunsthistorisches Museum Wien. Die Gemäldega-

der die Hauptfigur, welche die Identifikation des Sujets erst er-

lerie. Hrsg. vom Kunsthistorischen Museum, Wien 1996, S. 72;

möglicht, hinter den Genreszenen im Vordergrund, tief im Bild-

Aikema 1996, S. 131ff.

raum erscheint. Einige italienische Künstler haben diese Dar-

Die Cremonenser Bankiersfamilie Affaitati, die eine Niederlas-

stellungsform aber offenbar auch abgelehnt, wie z. B. Tintoret-

sung in Antwerpen besaß, und die Farnese in Parma, die durch

tos Gemälde Christus im Hause der Martha und Maria

Alessandro Farneses langwierigen militärischen Einsatz eben-

(München, Alte Pinakothek) vermuten lässt. Dieses weist Aert-

falls enge Beziehungen zu Flandern hatten, haben Antwerpener

sens Raumschema mit dem großen vorderen und dem kleinen

Genremalerei, insbesondere Gemälde Beuckelaers, importiert

hinteren Raum auf, wobei die biblischen Figuren aber alle gut

und gesammelt (McTighe 2004, S. 301).

sichtbar im Vordergrund versammelt sind, während im hinteren

Siehe McTighe 2004. Ein Beispiel dafür ist Vincenzo Campis Obstverkäuferin (Mailand, Brera), eine Allegorie der Fruchtbarkeit, in



Abb. 148  Vincenzo Campi: Christus im Hause von Martha und Maria,

Raum nur Dienstpersonal agiert. Vgl. Aikema 1996, S. 105. 150

Siehe Margeret Sullivan: Bruegel’s Proverbs: Art and Audience

der es um die Zucht verschiedener Früchte und Gemüse und die

in the Northern Renaissance. In: The Art Bulletin, 73, 1991, S. 431–

kultivierende Macht der Liebe geht. Siehe Puglisi 2002, S. 36ff. u.

466; Jürgen Müller: Gefangene der Wörtlichkeit – Das Rätsel von

Abb. 17 sowie McTighe 2004, S. 319, die annimmt, dass das Motiv

Pieter Bruegels »Sprichwörtern«. In: Kunsthistorische Arbeits-

der von der Obstverkäuferin hochgehaltenen Weintrauben als

blätter, 12/2000, S. 29–36; Müller 2020, S. 53ff., 419ff. (Kat.-Nr. 2f.).

Anspielung auf das Sprichwort »Nicht alle Trauben kommen in

Hinweise zu Sprichwörtern in Werken Vincenzo Campis und

die Presse« (Non tutti i grappoli vengono al torchio) und damit als

anderer Norditaliener und zur Rezeption solcher Werke bei

Warnung vor einem Verlust der Ehre zu verstehen ist.

McTighe 2004, S. 319ff. (»Proverbs, the Kunstkammer and the

Die Bezugnahme auf Werke von Aertsen und Beuckelaer ist z. B.

Reception of the Italian Market Scene, about 1580«).

bei Campi (Abb. 148) völlig evident, wie auch bereits bei Jacopo

Ex kurs: Niederländische E inflüsse

253

Unterscheidung von System und Umwelt, Negation und Bekräftigung der Autonomie: Die Wahrsagerin und der hinters Licht geführte Kenner Unterscheidung von System und Umwelt, Negation und Bekräftigung der Autonomie Die radikale Spitze, auf die Caravaggio die angeführten Bildstrategien getrieben hat, bestand darin, dass er den Betrachter hinters Licht führte und den humanistischen Bildungsauftrag tatsächlich auf den Kopf stellte, indem er betrügerisches Verhalten mit dem Schein des Schönen kaschierte. Damit erschütterte er einen theoretischen Grundpfeiler der Renaissancekunst, ihr Vertrauen in die Physiognomik und die Identität von äußerer Schönheit und innerer Tugend. Höchst brisant war, dass er sich dabei mit der Wahrsagerin identifizierte: »Ich weiß nicht, wer die größere Zauberin (Betrügerin, Verführerin) ist, die Frau, die Du fingierst, oder Du, der Du sie malst«, schrieb Gaspare Murtola 1603 in einem Madrigal auf das Gemälde.151 Tatsächlich machte der Maler mit der Betrügerin gewissermaßen gemeinsame Sache, indem er eine im Alltag mancherorts geforderte argwöhnische Aufmerksamkeit gegen die Kompetenz der Kunstkenner ausspielte. Die Wahrsagerin ist ein Werk, das die ästhetische Haltung und das Wissen der conoscenti scheitern lässt. Denn ein sich an den Darstellungskonventionen der Kunst orientierender Beobachter wird das Gemälde mit großer Wahrscheinlichkeit als Porträt missverstehen, während dessen ver­ borgene Handlung sich eher einem Ungebildeten erschließt, der sich auch das Kunstwerk mit den Mitteln seiner Alltagserfahrung anzueignen sucht und Erfahrungen mit dem dargestellten Milieu hat. Damit fraternisierte Caravaggio, der ›Zerstörer der Malerei‹, tatsächlich mit einer plebejischen Kunstfeindlichkeit, die nicht über eine luxurierende, nicht mehr unmittelbar der Weltaneignung dienende Bildung zweiter Ordnung verfügt und sie womöglich mit pragmatischem Vorbehalt

diskreditiert, als unnütz und weltfremd abtut. Das in der Wahrsagerin angewandte Verfahren verdankte sich einer Beobachtung zweiter Ordnung, die das Ganze in den Blick nimmt, was hier hieß, das humanistische Projekt der Künste, und das System von seiner Umwelt, Kunst und Nicht-Kunst unterscheidet.152 Caravaggio hat in der Wahrsagerin die Paradoxie des gleichzeitigen Prozessierens von Selbst- und Fremdreferenz entfaltet, nämlich die Selbst- und Fremdreferenz dissoziiert, indem er eine Einheit der Unterscheidung zweier, jeweils an dem einen oder dem anderen orientierter Lesarten des Bildes erzeugte, deren eine die andere aufhebt. Wenn »ein System (oder Werk) die eigene Auto­ nomie behaupten will, muß es auch die Negation dieser Autonomie als Möglichkeit enthalten und negieren können.«153 Eben dies ist bei der Wahrsagerin der Fall, die als ein Kommunikationsprogramm den notwendig kollektiven, sich dialogisch entfaltenden Rezeptionsprozess ein Stadium der Negation der Autonomie durchlaufen lässt, den Moment nämlich, in dem sich erweist, dass sich ihr versteckter Sinn nicht einem kundigen internen, sondern einem naiven externen Beobachter erschließt, der sich auch das Kunstwerk mit den Mitteln seiner Alltagserfahrung anzueignen sucht, also die besonderen Wahrnehmungskriterien des Beobachtungsraums Kunst missachtet. Die Negation dieser Negation besteht darin, dass das Gemälde letztlich doch die besonderen Modalitäten ästhetischer Erfahrung deutlich werden lässt, dass nämlich auch die Künste betrügen, die Sinne täuschen, dass aber, wer durch sie getäuscht wird, nicht sein Hab und Gut verliert, sondern nur um eine Erkenntnis reicher wird. Dass Caravaggio mit der Wahrsagerin eine absichtsvolle Brüskierung der Kenner verfolgt hat, ist so erstaunlich nicht, bedenkt man, dass Borghini und Paleotti zwischen verschiedenen Rezipientengruppen und ihren Rezeptionskompetenzen differenziert hat-

151

»Non so qual sia piú maga / O la donna, che fingi, / O tu, che

152

Vgl. Luhmann 1995, S. 317.

dipingi.« (Zit. n. Krüger 2001, S. 257. Zur deutschen Übers. siehe

153

Ebda., S. 303.

den freundlichen Hinweis bei Ebert-Schifferer 2009, S. 276, Anm. 52.)

254

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

ten und dass in Caravaggios Zeit zahlreiche Klagen über unkundige Rezipienten vorgebracht wurden, auf deren Unkenntnis Baglione seinen Erfolg zurückgeführt hat.154 Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang, dass später Georg Philipp Harsdörffer explizit zwischen internen und externen Beobachter unterscheiden sollte und in einer Anekdote tatsächlich den Laien über den Mann vom Fach obsiegen ließ: In Natham und Jotham berichtet er in dem Abschnitt Kunst und Verstand von einem Maler, der, der Erzählung von den Trauben des Zeuxis folgend, eine nach den Körnern pickende Kornlerche auf einer Ähre malte. Das Bild erntete viel Lob, als er es aber auf einem Markt ausstellte, kam ein Bauer, der

Abb. 149  Bartolomeo Manfredi:

Die Wahrsagerin, 1616, Chicago Art Institute

»[…] das Gemähl gleich andern sehr gelobet / den Mahler aber in dem geschändet /daß er einen

Man darf wohl davon ausgehen, dass schon Caravaggios Wahrsagerin Rezipienten zu dieser Einsicht geführt hat. Wie Luhmann betont hat, ist die »Negation […] eine positive Operation […], die auf eine rekursive Sinnabsicherung in einem tatsächlich existierenden autopoietischen System angewiesen ist. Auch Selbstnegation ist daher nur möglich, wenn das System, das sie vollzieht, autopoietisch operiert, wenn es über Gedächtnis verfügt und Zukunft projektiert«.156 Qua Selbstnegation

kann das System seine Autonomie radikaler denken und ein neues Niveau seiner Selbstbeschreibung erschließen.157 Wie brisant die Wahrsagerin gleichwohl seinerzeit war, lässt sich daran ermessen, dass die Nachfolger Caravaggios den Clou dieses Gemäldes allesamt für inakzeptabel befunden haben. Sie versahen ihre zahlreichen Wahrsagerinnen, Falschspieler oder zumindest deren Kompagnons stets mit Physiognomien, die keinen Zweifel an dem gefährlichen Milieu lassen (Abb. 149). So nahmen sie Caravaggios Strategie ihre radikale Spitze, den höchst brisanten Wirkungseffekt der Wahrsagerin, die vorprogrammierte Blamage der Fachkundigen, verzichteten auf die Bivalenz und die Operation der Selbst-Negation des Systems. Caravaggio hatte die Alltags- und die Kunstwahrnehmung dissoziiert, wobei er die Alltagswahrnehmung zunächst scheinbar obsiegen ließ. In den Werken seiner Nachfolger ist beides hingegen wieder kontingent, so dass die Suprematie der Kunst nicht in Frage gestellt ist. Dies

154

Wie Anm. 95.

156

Luhmann 1995, S. 472f.

155

Zit. n. Michael Thimann: Nachwort. In: Georg Philipp Harsdörf-

157

Ebda., S. 473f.

schweren Vogel / auf einen leichten und schwachen Halm gesetzet / welches gewiß unter ihm brechen würde / ec. Nun sehe ich wol /sagte der Mahler / daß ein großer Unterscheid unter der Kunst und dem Verstand / und daß auch einer der die Kunst nicht verstehet / mehr Verstand haben kann / als der grösste Künstler / der fehlet / so bald er das Exemplar der Natur aus den Augen setzet.«155

fer: Kunstverständiger Discurs, Von der edlen Mahlerey (Nürnberg 1652). Hrsg., komm. u. m. einem Nachwort versehen von M. Thimann, Heidelberg 2008, S. 126f.

U n t e rs ch eid u n g vo n Sys te m u n d U m we lt, N e gation u n d B ekräf tigu n g der Auton omie

255

heißt aber auch, dass sie eine von den Betrachtern zu leistende Beobachtung zweiter Ordnung nicht gewissermaßen durch einen Eklat, das Scheitern der conoscenti, erzwangen. Dagegen forcierte Caravaggio das weitergehende Gespräch über Sinn und Zweck der Künste. Er machte kenntlich, dass das Kunstwerk höchst komplexe, der Alltagswahrnehmung differente Sehleistungen erfordert, die naiv nicht zu erbringen sind, dass es eine »gebrochene Unmittelbarkeit und damit eine eigentümliche Distanz zum Objekt«158 voraussetzt: »Wer Kunst adäquat erleben oder herstellen […] will, muß polykontextural sehen lernen; also lernen zu wissen, wovon abhängt, was er jeweils sieht.«159 Die paradoxale Organisation des Gemäldes fußt in der Wahrsagerin nicht mehr auf dem Problem der Sichtbarmachung des unsichtbaren Gottes, sondern auf der latenten Paradoxie des gleichzeitigen Prozessierens von Fremd- und Selbstreferenz, die das Werk in seiner Ambivalenz hervortreten lässt. Die doppelte Lesbarkeit des Gemäldes als Doppelporträt und als Darstellung eines heimtückischen Betruges ist in einer zeitlichen Sequenz entfaltet bzw. geschichtet: Der verborgene clavis interpretandi entlarvt den ersten Anschein und die Deutung in bono als falsch. Das Gespräch über das Kunstwerk mag damit enden, wobei seine paradoxen Merkmale darauf drängen, es auf der höheren Ebene der Reflexion des Systems, von Sinn und Zweck der Künste, fortzusetzen. Die Funktion des Gemäldes besteht also tatsächlich darin, das Gespräch der Rezipienten und deren Sinnsuche zu provozieren. Dabei ist die Wahrsagerin als Kipp- oder Inversionsbild insofern

ein Grenzfall, als sich das Gemälde als Kommunikationsprogramm im Grunde nicht für den wiederholten Gebrauch eignet. Wer die Krux des Gemäldes kennt, muss beim zweiten Mal dann schweigen. Eine Lösung dieses Problems bestand darin, was im späten 17. Jahrhundert Claude François Menestrier in seiner Philosophie des images énigmatiques empfehlen sollte, nämlich in vorhandene Gemälde mit abwaschbaren Farben neue Motive einzufügen, um diese immer wieder aufs Neue als Bilderrätsel verwenden zu können.160

158

161 Zum

Luhmann 1986, S. 650.

159 Ebda.,

Schock und Skandalisierung des Publikums

Das radikal neue Kunstwerks verbessert nicht nur Vorhandenes, sondern irritiert die Erwartungshaltung der Betrachter, verstößt gegen ästhetische Normen, denen in der Frühneuzeit der Wertekanon der Kirche und des Staates, was nicht zuletzt hieß, der ethische Anspruch der höfischen Geselligkeit, inhärent war. Sein Schöpfer riskiert den Schock, Ekel und die Desorientierung der Betrachter, um den Begriff des Kunstwerks um solche Wirkungsmöglichkeiten des Bildes zu erweitern. Eine absehbare Erwartungshaltung des Publikums bestand um 1600 in den vorherrschenden klassizistischen Vorbehalten gegen die atrocitas (Schrecklichkeit, Scheußlichkeit), die, so waren sich Poetologen und Kunsttheoretiker weitestgehend einig, auf der Bühne und im Kunstwerk nichts zu suchen habe.161 So schrieb z. B. Ce-

Folgenden ausführlich Wolfgang Brassat: Tragik, ver-

S. 645. Luhmann fährt mit Blick auf die Moderne fort:

steckte Kompositionskunst und katharsis im Werk von Peter

»Die historische Evolution – nicht nur von Stilen, sondern auch

Paul Rubens. In: Ulrich Heinen/Andreas Thielemann (Hrsg.):

von den Möglichkeiten ihres Zusammenhanges im Nacheinan-

Rubens passioni. Kultur der Leidenschaften im Barock. Göttin-

der, ist mithin Evolution in Richtung auf Ausdifferenzierung

gen 2001, S. 41–69, bes. S. 59ff.; Matthias Oberli: Schauder und

einer Eigenfunktion, die im Sehen des prämissenabhängigen

Sensation. Caravaggios »Judith und Holofernes« – Vorausset-

Sehens, in der Fähigkeit zur ›second order observation‹ (Matu-

zungen und Wirkung von Enthauptungsszenen in der barocken

rana) und im Akzeptieren einer polykontexturalen Welt ohne

Kunst. In: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunsthistorischen Insti-

Oberfläche, ohne Mitte, ohne Hierarchie besteht.« (Ebda.)

tuts der Universität Zürich, 8, 2001, 147–169; Brassat 2003, S. 250ff.

160 Claude

François Menestrier: La philosophie des images énig-

matiques. Lyon 1694, S. 160f.; Montagu 1968, S. 321.

256

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Abb. 150  Tragedia, Holzschnitt aus Cesare Ripa Iconologia

sare Ripa in seiner weithin rezipierten Iconologia unter Hinweis auf Aristoteles und Horaz, die Tragödie zeichne sich durch ihr aristokratisches Personal, den hohen Stil und eine anspielungsreiche metaphorische Sprache aus: »Questa sorte di Poema ha bisogno di parole gravi, & di concetti, che non sieno plebei, ne triviali.«162 Die beigefügte Darstellung der Tragedia (Abb. 150) zeigt eine an die biblische Gestalt der Judith gemahnende Personifikation mit blutigem Schwert, deren Opfer mit dem am Boden liegenden Brustpanzer taktvoll nur an-

162

Ripa 1988, Bd. II, S. 210ff.

163

Zur Subkultur des kommerziellen Theaters und dessen Einfluss auf das Theatrum sacrum der Jesuiten siehe Reinhart Meyer-

gedeutet ist. Ripas Insistieren, die concetti der Tragödie dürften nicht plebejisch und trivial sein, richtete sich u. a. gegen Praktiken des volkstümlichen kommerziellen Theaters, welches mit zotigen, obszönen und blutigen Effekten um das Zuschauerinteresse buhlte – ganz im Gegensatz zum wenig spektakulären humanistischen Sprechtheater. Auch das Theatrum sacrum der Jesuiten ließ sich mit drastischen Schaustellungen von Gräueltaten, die Christen in Zeiten der Märtyrer angetan worden waren, zum Publikum herab.163 Daran anknüpfend und vermutlich auch unter dem Eindruck der damals in Rom häufig stattfindenden öffentlichen Hinrichtungen schuf Caravaggio um 1598/99 seine atemberaubende Enthauptung des Holofernes (Abb. 124). Wer das für schlechte oder gar Nicht-Kunst hielt, dem konnte man entgegnen, dass doch schon die antike Stoa die vernunftstimulierende Wirkung der atrocitas betont hatte164 und dass der Maler sich bei der Gestalt des sich aufbäumenden Holofernes am Laokoon, dem kanonischen exemplum doloris, orientiert und in der Judith eine antike Amazonenskulptur (Abb. 151) zitiert hat, die sich damals im Besitz des Kardinals Del Monte befand.165 Selbst das radikal neue Kunstwerk, das als Kontinuitätsbruch in die Kunstgeschichte eingehen wird, muss Elemente der Tradition, Mittel der Kontingenzerzeugung aufweisen – die sich in der Moderne auf eine Künstlersignatur werden beschränken können. Und damit wird das Werk, welches die Wertmaßstäbe der humanistischen Theorie negiert, das Projekt der Künste voraussichtlich doch nicht scheitern lassen. Die paradoxale Organisation des Bildes zeigt sich in der in einem genus turpe, nicht einem genus hones-

mano. Akten d. Kolloquiums des holländischen Instituts und der Bibliotheca Hertziana, Rom 1996. Rom 1999, S. 137–154. 164

Kalkus: Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdar-

Siehe Manfred Fuhrmann: Die Funktion grausiger und ekelhafter Motive in der lateinischen Dichtung. In: Hans Robert Jauss

stellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von »Agrippina«.

(Hrsg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des

Göttingen 1986, S. 190ff. Zu den jesuitischen Bestrebungen einer

Ästhetischen (Poetik und Hermeneutik, Bd. III). München 1968, S. 23–66.

Erneuerung der Tragödie: Sebastian Schütze: Tragedia antica e pittura moderna. In: Docere Delectare Movere. Affetti, devo-

165

Oberli 2001.

zione e retorica nel linguaggio artistico del primo barocco Ro-

S chock und Skandalisierung des P ublikums

257

Abb. 151  Verwundete Amazone (Typus Sciarra), Römische Marmorkopie der

Zeit um 140 v. Chr. nach einem hochklassischen griechischen Bronzeoriginal

von Kresilas oder Polyklet, Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek

tum166 gehaltenen Darstellung u. a. in den affetti misti167 der Protagonistin, die gleichsam mit spitzen Fingern den feindlichen Feldherrn enthauptet und in deren Ge-

sicht sich ihre Entschlossenheit und zugleich ihr Ekel vor der eigenen Tat abzeichnen. Hinzu kommen mehr oder weniger offensichtlich der Tradition sich verdankende, also selbstreferentielle Elemente – der Vorhang, die Zitate –, die eine spannungsreiche Einheit mit der Scheußlichkeit bilden, die wider deren Begriff ist – eine Einheit der Unterscheidung von Kunst und NichtKunst.168 Erst eine der Alltagswahrnehmung differente ästhetische Anschauung ermöglicht es, die Repräsentation des an sich Scheußlichen als Kunstwerk zu goutieren. In frühbarocker Zeit wurde diese im Rückgriff auf die antike Stoa mit dem Wirkungseffekt der katharsis legitimiert. Der durch die Darstellung des Schrecklichen und Scheußlichen bewirkte Schock des Betrachters soll zu einer Vernunftstimulanz und Durchschauung des schrecklichen Scheins führen und jener ästhetischen Distanz weichen, die schon von Aristoteles erörtert worden war. Gegen die Kritik Platons, nachahmende Darstellungen verwirrten den Verstand, hatte dieser eine natürliche Freude an Nachahmungen der Natur postuliert und die Differenz zwischen der alltäglichen visuellen und der ästhetischen Wahrnehmung betont: »Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z. B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.«169 Kurz vor der Enthauptung des Holofernes hatte Caravaggio bereits das Haupt der Medusa (Abb. 152) gemalt,170 ein Werk, wie es nach Vasari ähnlich schon der junge Leonardo geschaffen hatte. Auf einen Holzschild

166

Vgl. Rhetorica ad Herennium, I, 5.

Codierprobleme spalten die Selbstreferenz des Systems in akzep-

167

Preimesberger 1987, S. 109, Anm. 89 betont, dass Vasari solche

tabel/inakzeptabel, beziehen sich also immer auf das System

gemischten Affekte an der Figur des Vaters des mondsüchtigen

selbst; denn für die Umwelt, die ist, wie sie ist, stellt sich diese

Knaben in Raffaels Transfiguration beschrieben hat, die gleich-

Frage der Akzeptanz nicht […] Die Verweisung auf die Umwelt

zeitig Kraft und Angst zeige: »in un tempo medesimo e forza e

kann daher nicht als der negative Wert des Systems fungieren. Die

paura«. (Vasari 1966–97, IV, S. 203.)

Unterscheidung eines Kunstwerks von etwas anderem dient nur

Das Kunstwerk hat nach Luhmann »die Funktion, dem System als

dazu, einen besonderen Beobachtungsraum einzugrenzen und

Vorstellung von Welt zu genügen; und damit zugleich die Funk-

darauf aufmerksam zu machen, daß hier Beobachtungsverhält-

168

tion, die im Operieren ursprünglich erzeugte Differenz von Sys-

nisse besonderer Art gelten.« (Luhmann 1995, S. 306f.)

tem und Umwelt zu verdecken. Codierprobleme haben es dage-

169

Aristoteles: Poetik, IV, 3 (1448b 10–12).

gen mit der Wertungsdifferenz positiv/negativ zu tun, mit der das

170

Eine eingehende semiotische Analyse dieses Werkes gibt Marin

System die Zugehörigkeit von Operationen zum System markiert.

258

1995, passim, bes. S. 111ff.

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Abb. 152 Caravaggio: Das Haupt der

Medusa, 1597/98, Florenz, Uffizien

hatte dieser das abgeschlagene Gorgonenhaupt, Schlangen, Eidechsen, Insekten und weiteres Getier gemalt, das Bild in einem abgedunkelten Zimmer auf die Staffelei gestellt und seinen greisen Vater gebeten einzutreten. Dieser »schreckte sofort zurück, denn er konnte nicht glauben, daß dies bloß ein Schild und das Bild, das er sah, nur gemalt war.«171 Auch dieses verlorene Gemälde, mit dem Leonardo die Neuheit des Kunstwerks sorgsam als Schockerfahrung inszeniert hat, war eine Demonstration der Besonderheiten der

Kunstwahrnehmung: Hat sich die nicht reflektierte, vom Kleinhirn gesteuerte Reaktion des Schocks gelegt, wird evident, dass das Bild der Medusa nicht die Wirkung hat, die der Mythos ihrem tödlichen Blick nachsagte, und dass es gekonnt gemalt ist. Nach Ovids Metamorphosen konnte Perseus dem Blick der Medusa, der alle Menschen zu Stein erstarren ließ, entgehen und sie enthaupten, indem er seinen Schild als Spiegel verwendete.172 Der Schild mit dem Gorgonenhaupt, den er später Athene, der Göttin der

171

172

Giorgio Vasari: Das Leben des Leonardo da Vinci. Neu übers. v.

Ovid: Metamorphosen, IV, 780ff.

Victoria Lorini, hrsg. v. Sabine Feser, Berlin 22011, S. 24, ein weiteres, ebenfalls verlorenes Medusenbild Leonardos erwähnt Vasari ebda., S. 26. (Vasari 1966–97, IV, S. 22 sowie 23.)

S chock und Skandalisierung des P ublikums

259

Abb. 153  Filippo und Giovan Battista

Negroli: Medusenschild Karls V., um

1550–55, getriebenes und ziseliertes Eisen, teilweise tauschiert mit Gold

und Silber, Durchmesser 61 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, Hofjagd-

und Rüstkammer

Weisheit und der Wissenschaften, schenkte, die ihm bei der Enthauptung der schlafenden Medusa die Hand geführt hatte, war seit der Renaissance ein geläufiges Symbol des Sieges der Vernunft über die Sinne. Als solches ist er in panegyrische Zusammenhänge eingegangen, wie u. a. der um 1535 in Mailand von Filippo und

173

174

Giovan Battista Negroli hergestellte Medusenschild Karls V. (Abb. 153), des ›neuen Perseus‹, zeigt, ein Geschenk seines Bruders Ferdinand zur Erinnerung an seine Einnahme von Tunis,173 und in diesem Sinne erscheint das Motiv auch in Cesare Ripas Iconologia.174 Caravaggio, dessen Gemälde zweifellos den Effekt der

Siehe Ausstellungskatalog Wien 1987, S. 148f. (Kat.-Nr. I.18, dort

gio Studies. New York 21972, S. 87f.; Marini 2006, S. 58. Die ge-

noch mit falscher Datierung) sowie ebda., S. 149f. (Kat.-Nr. I.19:

wappnete Minerva, die Göttin der Weisheit und des Krieges, er-

Medusenschild, Augsburg, um 1552, London, Victoria and Al-

scheint schon auf Tarock-Karten des Quattrocento als Sinnbild

bert Museum); Constanze Hager: Caravaggios Medusenschild

der Philosophie, da sie über das todbringende Gorgonenhaupt

von 1597 – ein Gorgoneion? In: Zeitschrift für Kunstgeschichte,

verfügt, somit kraft des Geistes den Todesschrecken besiegt.

79/1, 2016, S. 52f., die noch weitere metallene Medusenschilder

[Peter Bexter: Blinde Seher. Die Wahrnehmung von Wahrneh-

anführt. Ein bedeutendes Beispiel ist auch der Paradeschild für

mung in der Kunst des 17. Jahrhunderts. Dresden 1999, S. 40

Francesco de’ Medici (Dresden, Staatliche Kunstsammlungen),

sowie S. 150, Anm. 70. Zur Bedeutung und Ikonographie des

siehe Marion Scalini: Benvenuto Cellini. Florenz 1995, S. 76f.

Gorgonenhauptes siehe auch Klaus Heinrich: Das Floß der Me-

Ripa 1988, Bd. 2, S. 178f. (spavento); Walter Friedländer: Caravag-

dusa. In: Renate Schlesier (Hrsg.): Faszination des Mythos. Stu-

260

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Täuschung und Enttäuschung, nämlich die Wirkung des Schocks und seine kathartische Beruhigung auslösen sollte, hat gemäß der damals geläufigen analogistischen Theorie der Affektübertragung – man denke an den von Alberti zitierten Satz des Horaz: »Das Menschenantlitz lacht mit den Lachenden und weint mit den Weinenden«175 – die Gorgo, deren Blick den Tod bringt, selbst als Erschreckte dargestellt.176 Zu einer früheren Version des Medusenhauptes (um 1596, Mailand, Privatbesitz) hat Gaspare Murtola ein Gedicht verfasst, in dem er dessen Wirkungsmacht betonte, die Aufmerksamkeit auf die Augen der Gorgo lenkte und mit der abschließenden rhetorischen Warnung vor ihrem tödlichen Blick kontradiktorisch die Virtualität ästhetischer Erfahrung hervorhob: »Ist dies das Haupt der Gorgo / mit giftgetränkter Mähne, / von tausend Schlangen starrend? / Fürwahr! Kannst Du nicht seh’n, / wie sie die Augen dreht und rollt? / Flieh ihren Grimm und Zorn! / Denn sind von Staunen erst die deinen voll, / erstarrst zu Stein auch du.«177

Exkurs: Zu den Gebrauchsformen von schockierenden Bildern und Naturabgüssen

Man muss davon ausgehen, dass man auch Caravaggios Medusenhäupter so, wie es Vasari von Leonardo berichtet, unerwartet präsentiert hat, um ihrem schockierenden Illusionismus zu größtmöglicher Wirkung zu verhelfen.178 Denn lange bevor die barocke Poetologie und Kunsttheorie die Repräsentation des Schrecklichen als Mittel zur Vernunftstimulation und Einübung der constantia legitimiert hat, war die Inszenierung derartiger Schockerfahrungen bereits ein vor allem an den Höfen häufig praktiziertes Vergnügen. Dies lässt sich anhand von Naturabgüssen aus Bronze, Gold und Keramik erschließen.179 Diese schon von Plinius d. Ä. erwähnte Kunst hatte Cennino Cennini in seinem Libro dell’arte eingehend behandelt, wobei er das Abgussverfahren ausdrücklich nicht als mechanischen, sondern als geistigen Vorgang verstanden wissen wollte.180 Bereits er rezipierte die Nachahmungslehre des Aristoteles, der erklärt hatte, die vollkommene Abbildung niederer Tiere, die man in Wirklichkeit nur ungern erblicke, bereite Freude,181 ja ihr Anblick sei ein »höchster Genuss für die Philosophen«.182 Aristoteles war der Gewährsmann für die Naturnachahmung der Frührenaissance und die Rezeption der zitierten Stellen lässt sich bei Manuel Chrysoloras, Guarino Guarini, Filippo Vil-

dien zu antiken und modernen Interpretationen. Basel/Frank-

Wien, N.F., Bd. 1, 1926, S. 143—144; Norberto Gramaccini: Das ge-

furt/M. 1985, S. 335–369; Jean-Pierre Vernant: Die religiöse Er-

naue Abbild der Natur. Riccios Tiere und die Theorie des Natur-

fahrung der Andersheit: Das Gorgogesicht. In: Ebda., S. 399–420.]

abgusses seit Cennini Cennini. In: Herbert Beck/Peter C. Bol

175

Horaz: Ars poetica, 101f.; Alberti: De pictura, (II) 41.

(Hrsg.): Natur und Antike in der Renaissance. Ausst.-Kat. Frank-

176

Held 1996, S. 72. Diese analogistische Theorie der Affektübertra-

furt am Main, Liebighaus, Fft./M. 1986, S. 198–225; Andrea Klier:

gung liegt auch dem Von einer Eidechse gebissenen Knaben

Fixierte Natur. Naturabguß und Effigies im 16. Jahrhundert. Ber-

177

(Abb. 139) zugrunde, der erschrickt und erschrecken soll.

lin 2004; Pamela H. Smith/Tonny Beentjes: Nature and Art, Ma-

Zit. n. Marini 2006, S. 57f. Zu dieser früheren signierten Version,

king and Knowing: Reconstructing Sixteenth-Century Life-Cas-

der Medusa Murtola, siehe ebda., S. 56–60 u. S. 256f. (Kat.-

ting Techniques. In: Renaissance Quarterly, 63, 2010, S. 128–179;

Nr. 40); Ermanno Zoffili (Hrsg.): Caravaggio. The First Medua –

Robert Felfe: Naturform und bildnerische Prozesse. Elemente

La prima Medusa. Mailand 2011.

einer Wissensgeschichte in der Kunst des 16. und 17. Jahrhun-

178

Vgl. Welzel 2006, S. 122f.

derts. Berlin/Boston 2015.

179

Zum Folgenden siehe Ernst Kris: Der Stil »Rustique«. Die Ver-

180

Gramaccini 1986, S. 218.

wendung des Naturabgusses bei Wenzel Jamnitzer und Bernard

181

Wie Anm. 169.

Palissy. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in

Ex kurs: Zu den G ebrauchsformen von schockierenden B ildern und N aturabgüssen

261

lani und weiteren Autoren nachweisen.183 Ihre Kenntnis ist auch bei Lorenzo Ghiberti anzunehmen, der um 1405 die Rahmenfelder der Bronzetür am Nordportal des Florentiner Baptisteriums mit Naturabgüssen von Spinnen, Krebsen, Eidechsen, Käfern und Heuschrecken geschmückt hat.184 Im Quattrocento produzierten norditalienische, insbesondere Paduaner Werkstätten bereits in großer Zahl Naturabgüsse von Muscheln, Schnecken, Krebsen, Eidechsen und Schlangen

(Abb. 154). In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde Nürnberg zu einem weiteren Zentrum der Herstellung solcher Kleinplastiken und der Goldschmied Wenzel Jamnitzer der namhafteste dortige Produzent. Ein weiterer herausragender Erzeuger war Bernard Palissy, der seine tönernen »rustiques figulines« auf großen Schalen und Tellern, Krügen und Kannen arrangierte und ihnen, indem er sie mit Emailfarben bemalte, eine frappierend lebensechte Wirkung verlieh.185 Schon zu seinen Lebzeiten wurden seine Werke häufig nachgeahmt und gefälscht. Die Literatur zur Kunst des Naturabgusses hat dem wohl offensichtlichsten Aspekt ihrer Gebrauchsgeschichte kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Wir wissen, dass viele solcher Objekte in Kunst- und Wunderkammern verwahrt und Tierabgüsse dementsprechend bereits von Samuel van Quiccheberg 1565 in seinem sammlungstheoretischen Traktat Instructiones vel tituli theatri amplissimi als gesonderte Objektgruppe der ani­malia fusa behandelt wurden.186 Zudem zählten Naturabgüsse oft zur Ausstattung von Grottenanlagen, wie z. B. der nicht erhaltenen Grotte in den Tuilerien, die Palissy im Auftrag von Caterina de’ Medici erbaut und reich geschmückt hat.187 Jenseits dieser Kontexte dienten bronzene Tierabgüsse als Tintenfässer, als Behältnisse für Streusand, mit dem man Tinte trocknete, und als Briefbeschwerer auf Schreibtischen. Ein um 1530

182

185

Abb. 154  Schlange, Padua, Anfang 16. Jahrhundert, Blei-Zinn-Legierung,

teilweise bemalt, L. 22 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer

Aristoteles: Über die Teile der Tiere, I, 5; siehe auch ders.: Rhetorik, I, XI, 23.

183 Gramaccini

roi. Paris 1989; William R. Newman: Gotteshandwerk. Nachahmung und Neuschöpfung der Natur. In: Kunst und Alchemie.

1986, S. 216ff.; Michael Baxandall: Guarino, Pisa-

nello and Manuel Chrysoloras. In: Journal of the Warburg and

Das Geheimnis der Verwandlung. Ausst.-Kat. Düsseldorf, Mu-

Courtauld Institutes, 28, 1965, S. 183–204; Pfisterer 1996, S. 118ff.,

seum Kunstpalast, München 2014, S. 119ff.; Reinhart Dittmann:

der die Rezeption an einem Blatt aus dem Musterbuch der Goz-

Naturerkenntnis und Kunstschaffen. Die Discours admirables

zoli-Werkstatt nachweist, auf dem in großen Aquatinta-Buch-

von Bernard Palissy. Übersetzung und Kommentar. Berlin/Bos-

staben das leicht modifizierte Dictum des Horaz »Pictoribus

ton 2016; Juliette Ferdinand: Bernard Palissy. Artisan des réfor-

atque poetis semper fuit et erit equa postestas« steht und dessen

184

Siehe Marguerite Boudon-Duaner: Bernard Palissy, le potier du

mes entre art, science et foi. Berlin/Boston 2019.

Rückseite u. a. die Zeichnung einer verwesenden Frauenleiche

186

Felfe 2015, S. 22.

zeigt (Abb. 5). Mit Blick auf die erst später nachgewiesene Re-

187

Zu den Fragmenten der Grotte im Musée national de la Renais-

zeption der aristotelischen Poetik betont Pfisterer, dass auch

sance im Château d’Écouen siehe: Kunst und Alchemie. Das Ge-

Plutarch das ›Kunstschöne‹ der Darstellungen hässlicher Men-

heimnis der Verwandlung. Ausst.-Kat. Düsseldorf, Museum

schen und Tiere, moralisch verwerflicher Handlungen und von

Kunstpalast, München 2014, S. 121 (Kat.-Nr. 48); Dittmann 2016,

Leichen erörtert hat (ebda., S. 119; Plutarch: Moralia, 17F).

Abb. 29, 31.

Abb. bei Gramaccini 1986, S. 209; Felfe 2015, S. 20.

262

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Abb. 155  Lorenzo Lotto: Porträt

eines jungen Mannes in seinem Studio, um 1530, Venedig, Galleria dell’ Accademia

von Lorenzo Lotto gemaltes Porträt (Abb. 155) zeigt einen jungen Mann bei der Lektüre in seinem Studio, vor dem auf dem Tisch neben verschiedenen Utensilien eine in Metall gegossene Eidechse zu sehen ist.188 Ihr Kopf ist zu dem Porträtierten gewendet, so dass der Eindruck entsteht, sie beobachte ihn. Zumal aufgrund dieser Suggestion erscheint der Status des Reptils, dessen braune Farbe auf den Ledereinband des Buches und die Tischdecke abgestimmt ist, ungewiss, erscheint fraglich, ob das Gemälde eine lebendige Eidechse oder nur einen Bronzeabguss repräsentiert. Lotto hat also den täuschenden Illusionismus der Kleinplastik wirkungsvoll in Szene gesetzt – und dies war zweifellos der Clou beim Gebrauch solcher Stücke, die »äußerst unansehnliche Tiere« (Aristoteles), oft sogar gefährliche, womöglich todbringende Spezies repräsentieren. So

verzeichnete z. B. die Guardaroba des Francesco de’ Medici 1569 den Erwerb von Abgüssen zweier Skorpione und fünf kleiner Schlangen eines Matteo di Nikolo (Matthias Niklaus?) aus Regensburg.189 Die unwillkürliche, vom Kleinhirn gesteuerte Schockreaktion auf solche täuschend echt wirkenden Artefakte wird man häufig durch die plötzliche Konfrontation mit ihnen herbeigeführt haben. Der dafür bestens geeignete, als Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch genutzte Bronze­ abguss einer Schlange (Abb. 154) wird somit als Mittel zur Förderung eines heroischen Gleichmuts und in geselligem Kreis als spektakulärer, haarsträubender, letztlich aber doch harmloser Anlass kunsttheoretischer Reflexionen genutzt worden sein. Von solchen Praktiken dürfte Caravaggio auch Anregungen für den Von einer Eidechse gebissenen Knaben (Abb. 139) erhalten haben.

188

189

Felfe 2015, S. 21.

Ebda., S. 22, Anm. 7.

Ex kurs: Zu den G ebrauchsformen von schockierenden B ildern und N aturabgüssen

263

Abb. 156  Bernard Palissy (zugeschr.): Fußschale im Stil rustique, 2. Hälfte

16. Jhd. (?), Keramik, glasiert, 53 x 40 cm, Wien, Österreichisches Museum für angewandte Kunst

Zahlreiche Naturabgüsse, die teilweise sogar unsichtbar bewegt wurden,190 und mit solchen verzierte Artefakte, Schalen, Teller, Krüge, Pokale etc. lassen auf vorsätzlich inszenierte Schockerlebnisse schließen. So weist ein in Padua wohl in den 1520er Jahren angefertigtes bronzenes Kühlbecken (Wien, KHM, Kunstkam-

190

mer, H. 33 cm, D. 62 cm) aus vier symmetrisch angeordneten Schlangenleibern gebildete Henkel auf.191 Eine Bernard Palissy zugeschriebene Fußschale im Stil rustique (Abb. 156), die in einer für dessen ovale Schalen typischen Weise in eine Ufer-, Gewässer- und Inselzone unterteilt ist, vergegenwärtigt zahlreiche am und im Wasser lebende Tiere und im Zentrum, auf der Insel, eine sich windende Schlange.192 Die illusionistische Wirkung der Naturabgüsse hat Palissy noch durch die feine Glasur gesteigert, die den repräsentierten Fischen, Amphibien und Reptilien einen feuchtschimmernden Glanz verleiht, und auch durch deren unruhige Anordnung und gegenläufige Bewegungsrichtungen.193 Insbesondere wenn sich die Wasseroberfläche über ihnen bewegte, wird ihre täuschend echte Wirkung frappierend und entsprechend groß die Hemmschwelle gewesen sein, seinen Widerwillen zu überwinden und das Behältnis, seinem eigentlichen Zweck gemäß, zur Abkühlung und Entspannung zu nutzen. Schockartig werden sich Furcht und Ekel insbesondere bei Tellern, Schalen und Platten eingestellt haben, auf denen man Früchte oder sonstige Speisen reichte und unter denen, sobald man sie entnahm, gefährliche Reptilien oder auch Medusenhäupter und ähnliche Motive zum Vorschein kamen.194 Die Kunst des Naturabgusses belegt somit eine bis ins frühe Quattrocento zurückreichende Tradition von Artefakten, deren schockierender Illusionismus dem Vergnügen diente und einer Schulung der Affektbeherrschung, wie sie später eingehend von der barocken Poetologie und Kunsttheorie erörtert werden sollte. Offenbar in Kenntnis der vor allem an den Höfen verbreiteten Gebrauchsformen solcher Stücke, zu deren Produktions-

So z. B. der Krebsautomat von Hans Schlottheim, Augsburg, um

deren inneres Rundbild nicht, wie oft behauptet, das Medusen-

1589, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen.

haupt, sondern ein fratzenhaftes Faunsgesicht zeigt und dessen

191

Siehe Ausstellungskatalog Wien 2008, S. 200f. (Kat.-Nr. V.9).

beide goldenen Henkel jeweils aus zwei Schlangen gebildet

192

Ebda., S. 203 (Kat.-Nr. V.12).

sind. Siehe ebda., S. 203f. (Kat.-Nr. V.13). Zu weiteren Werken

193 Ebda.

Palissys siehe Ausstellungskatalog Wien 1987, S. 360f. (Kat.­

194

Diese Gebrauchsform ist bei zahlreichen Artefakten anzuneh-

Nr. VIII.44–47). Den bei ihnen vielfach anzunehmenden Ge-

men. Evident ist sie z. B. bei der von dem Mailänder Gasparo

brauchseffekt, dass bei Entnahme der dargereichten Speisen

Miseroni um 1560/70 angefertigten zehnpässigen Schale aus

furcht- und ekelerregende Naturabgüsse zum Vorschein kamen,

Calzedon (Wien, KHM, Kunstkammer, H. 12,3 cm, D. 32,2 cm),

hat Palissy analog auch bei erotischen Motiven eingesetzt: Seine

264

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

zentren Oberitalien und insbesondere Mailand gehörten, haben Leonardo und Caravaggio Vergleichbares in der Malerei realisiert. Caravaggio hat die Medusa Murtola, wie ein Inventar von 1605 mit dem Eintrag »Item un matarazzo. Item una rotella« annehmen lässt, in eine Decke gehüllt verwahrt.195 Auch angesichts der schockierenden Darstellung des Schildes in den Uffizien (Abb. 152), der, seit 1598 in Mediceischem Besitz, seit 1601 gemeinsam mit einer Prunkrüstung in ihrer Waffenkammer bewahrt wurde, hatte man eine mannhafte Affektbeherrschung unter Beweis zu stellen. Ganz in diesem Sinne hat Giambattista Marino in seinen Versen über dieses Gemälde die Tapferkeit seines Besitzers, des Großherzogs Ferdinando de’ Medici, gepriesen: »Ché la vera Medusa è il valor vostro. (Denn die wahre Medusa ist euer Mut.)«196 Eine Frage, die für Niklas Luhmann offen geblieben ist, war, »ob die Werte ›schön‹ und ›häßlich‹ überhaupt als Codewerte, also als eine durch Negation zu vermittelnde Umtauschrelation gemeint waren.«197 Natürlich war das Hässliche zuweilen als deskriptiver Wert der Kunst gefordert und entsprechend dargestellt worden. Gleichwohl galt für die Renaissance-Kunst, dass es zu kaschieren und beschönigen sei. Diese Normen ermöglichten es, durch die Darstellung des Hässlichen und Scheußlichen den Kunstcharakter fraglich werden zu



lassen und die besonderen Wahrnehmungsmodalitäten des Kunstwerks kenntlich zu machen. Solche Grenzüberschreitungen mit offenem Ausgang überließen dem Publikum die Entscheidung, wie mit ihnen umzugehen sei. Caravaggios Hypertrophie des Schrecklichen hat zu einer Mitausdifferenzierung entsprechender, durch das Wirkungskonzept der katharsis legitimierter Darstellungen des Scheußlichen beigetragen, bei denen der Zweck die Mittel heiligte, somit zwischen der Schönheit des Gegenstandes und der seiner Darstellung zu unterscheiden war. Ein entsprechendes Differenzbewusstsein bewies Constantijn Huygens – sicherlich in Kenntnis der zitierten Stellen bei Aristoteles – angesichts eines Medusenbildes von Peter Paul Rubens. Wenig angetan, schrieb er in seinen 1629–31 verfassten Jugenderinnerungen, dieses sei gar schrecklich und man wünsche es lieber im nachbarlichen Haus als im eigenen zu sehen, es sei aber mit solch unglaub­ lichem Fleiß (ineffabili industria) gemalt, dass es den Betrachter dennoch erfreue.198 Man sieht daran, dass Caravaggios kunstvolle Darstellungen des Scheußlichen maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die vormals für die Kunst konstitutive substantielle Leitdifferenz ›schön/hässlich‹ zunehmend durch formale Bestimmungen, wie die Leitdifferenz ›stimmig/nicht stimmig‹, abgelöst wurde.199

Sauciere mit weiblichem Akt (Keramik, Länge 15 cm, London,

195

Marini 2006, S. 60.

Victoria and Albert Museum) repräsentiert eine Frau in einer

196

Giambattista Marino: La testa di Medusa in una rotella di Mi-

Badewanne, deren nackter Körper erst sichtbar wird, wenn die

chelangelo da Caravaggio nella Galeria del Gran Duca di Tos-

Sauciere geleert wird [ebda., S. 361 (Kat.-Nr. 47)].

cana. In: Ders.: La Galeria. Hrsg. v. Christiane Kruse u. Rainer

Dass man bei höfischen Festessen, bei denen das zubereitete

Stillers, Mainz 2009, S. 50f.

Wildbret oft in seinem eigenen Fell oder Federkleid angerichtet

197

wurde, vor Täuschungen auf der Hut sein musste, zeigen auch

198 Otto

Luhmann 1995, S. 311. von Simson: Peter Paul Rubens (1577–1640). Humanist,

verblüffend echt aussehende bemalte Marmorfrüchte, von denen

Maler und Diplomat. Mainz 1996, S. 146f.; den lat. Passus zit.

manche Quellen amüsiert berichten, wie Ahnungslose in solche

Welzel 2006, S. 122f., Anm. 37. Zu Rubens’ an Leonardo und Ca-

Nachkömmlinge der Trauben des Zeuxis bissen. Siehe Ausstel-

ravaggio anknüpfende Darstellungen des Medusenhauptes zu-

lungskatalog Wien 2008, S. 219 (Kat.-Nr. V.36); Robert Felfe: Italie-

letzt Gerlinde Gruber/Petr Tomášek: Albtraumhaft Schön: Ru-

nisch? Marmorfrüchte, spätes 16. Jahrhundert, Marmor, Holz,

bens’ Wiener Medusenhaupt trifft auf die Brünner Fassung. Wien 2018.

Farbe, Kunsthistorisches Museum Wien, Schloss Ambras. In: Bärbel Hedinger: Täuschend echt. Illusion und Wirklichkeit in der

199

Vgl. Heiko Hausendorf/Marcus Müller: Formen und Funktionen

Kunst. Mit Beiträgen von Gottfried Boehm u. a. Ausst.-Kat. Ham-

der Sprache in der Kunstkommunikation. In: Hausendorf/Mül-

burg, Bucerius Kunst Forum, München 2010, S. 80 (Kat.-Nr. 8).

ler 2016, S. 4.

Ex kurs: Zu den G ebrauchsformen von schockierenden B ildern und N aturabgüssen

265

Die marktorientierte Ausdifferenzierung der Kunst Die marktorientierte Ausdifferenzierung der Kunst, die Pluralisierung der Stile und der ›Selbstzweck‹ der Kunst

Wie unsere Ausführungen zeigen sollten, hat Caravaggio seine vorsätzlichen Verstöße gegen die Darstellungskonventionen vor allem in Hinblick auf zeitgenössische Rezeptionspraktiken vollzogen, insbesondere durch ambivalente und paradoxe Merkmale den kommunikativen Gebrauch seiner Gemälde angeregt. Durch ein Spiel mit den Codierungen der Malerei lieferte er der spielerischen geselligen Kunstrezeption Anreize.200 Dass er diese zunächst in Sammler- und Genrebildern entwickelte Strategie umgehend auch öffentlichkeitswirksam in Kirchenräumen und Altarbildern einsetzte, zeigt eindrucksvoll die Cappella Contarelli in San Luigi dei Francesi. Das erste, zurückgewiesene, nicht erhaltene Altarbild, das Caravaggio für diese schuf, vergegenwärtigte den Evangelisten Matthäus als plebejische Gestalt mit nackten schmutzigen Füßen, dem der assistierende grazil-erotische Engel beim Verfassen der heiligen Schrift die Hand führt (Abb. 157).201 Nach Bellori entfernten die Priester dieses Gemälde wieder vom Altar, da die Figur des Matthäus mit ihren übereinander geschlagenen Beinen und den ungehobelt dem Volk entgegengestreckten Füßen weder das decorum, noch die äußere Erscheinung eines Heiligen hatte (»… quella figura non aveva decoro né aspetto di Santo, stando a sedere con le gambe incavalcate e co’ piedi rozzamente esposti al popolo«).202 Zudem hat Caravaggio dem Evangelisten die silenischen Gesichtszüge des Sokrates verliehen, wobei er sich wahrscheinlich an einer als antik geltenden Büste in der Sammlung Giustiniani orientierte.203 Man hat die Wahl dieser Physiognomie mit der Auslegungstradition des christlichen Sokrates zu begründen versucht.204 Wichtiger als diese

denkbare Herleitung aber ist, dass das trotz seiner vielgerühmten Tugenden hässliche Äußere des Philosophen schon in der Antike Zweifel an der Physiognomik und der Identität von innerer und äußerer Schönheit genährt hatte und somit ein Argument gegen das Gebot idealer Schönheit war, mit dem sich auch das plebejische Äußere des Heiligen rechtfertigen ließ. Eben diesen Sachverhalt hatte Gregorio Comanini in seinem 1591 publizierten Dialog Il Figino overo del fine della Pittura thematisiert, nämlich ein Gedicht auf Arcimboldos

200 Dass

203

das Spiel zunehmend zu einer wichtigen Orientierungs-

Abb. 157 Caravaggio: Der heilige Matthäus und der Engel, 1602, ehemals Berlin, Kaiser Friedrich Museum, Kriegsverlust

größe für die künstlerische Produktion wurde und zu ihrer Nobilitierung beitrug, haben wir oben betont, siehe S. 55ff. 201

Zu diesem Werk siehe von Rosen 2009, S. 269–296.

202

Bellori 2009, Bd. 1, S. 219.

266

Günther Grimm: Caravaggios Evangelist Matthäus und der So­ krates Giustiniani. In: Antike Welt, 30, 1999, S. 253–262.

204 Irving

Lavin: Divine Inspiration in Caravaggio’s Two St. Mat­t­

hews. In: The Art Bulletin, 56, 1974, S. 71ff. 205

Gregorio Comanini: Il Figino. In: Barocchi 1962, S. 264: »È ch’io

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Kaiser Rudolf II. als Vertumnus (Abb. 90) verfasst, in dem dessen aus Früchten, Gemüse und Blumen komponiertes Porträt spricht: Es belehrt den Leser, dass auch Hässlichkeit bewundernswert sei, da sie jede Schönheit übersteige, und erklärt: »Ich bin gleichsam ein Silen […] von außen erscheine ich als Monster und innen verberge ich edle Züge und ein königliches Bild.«205 Es ist anzunehmen, dass Caravaggio in seiner Zeit in Mailand von Arcimboldos silenischem Kaiserporträt zumindest gehört hatte und in Kenntnis desselben seinem Matthäus die Züge des Sokrates verlieh. Auch in seinem Altarbild war damit eine kontroverse Beurteilung angelegt.206 Howard Hibbard hat betont, dass Caravaggio in seiner Frühzeit Bilder herstellen musste, wie sie damals auch über die Bauchläden jener Bilderverkäufer vertrieben wurden,207 die Simon Guillain 1646 in einem nach einer Zeichnung von Annibale Carracci ausgeführten Stich aus der Serie Le Arti di Bologna verewigt hat (Abb. 158).208 War der Künstler damals den Gesetzen des Marktes ausgesetzt, so konnte er sich später erlauben, selbst höchstdotierte Aufträge abzulehnen,209 und bei seinen Verstößen gegen die Darstellungskonventionen auf die überregionale Nachfrage potentieller Abnehmer zählen. Deren Befriedigung wurde in Rom durch das System der Fernpatronage und ein Netz fachkundiger Agenten und Händler gewährleistet. Die die Autonomie der Kunst fördernde Macht des Marktes erwies sich schlagend darin, dass, beginnend mit dem von Giustiniani erstandenen Matthäus, alle zurückgewiesenen Altarbilder Caravaggios umgehend als be-

quasi un Sileno / Del giovinetto greco / Tanto al buon vecchio

206

quadri), Radierung aus: Le Arti di Bologna. Rom 1646

gehrte Sammlerobjekte neue Abnehmer fanden.210 Den Marientod (Paris, Louvre), den die Padres der Unbeschuhten Karmeliterinnen der Santa Maria della Scala 1606 als »indezent« ablehnten und aus der Kirche entfernten, empfahl Peter Paul Rubens seinem Herrn, dem Herzog von Mantua, mit dem Argument: »Das Bild ist in nichts dadurch diskreditiert, daß die Kirche, für die es bestellt war, es zurückgewiesen hat.«211 Nachdem sich der Herzog zum Ankauf entschlossen hatte, wurde es

209 Fabio

Masetti, der Botschafter der Este in Rom, bezeichnete in

caro, / Cui sì pregiò ’l gran Plato, / Son, che fuor sembro un

einem Schreiben vom 24. August 1605 Caravaggio als »cervello

monstro, / E dentro alme sembianze / E regia imago ascondo.«

stravagantissimo«, nachdem dieser es abgelehnt hatte, im Auf-

Zu den Seitenbildern der Kapelle, von denen insbesondere die

trag des Fürsten Doria für den enormen Betrag von 6000 scudi

Berufung des Matthäus strategisch eingesetzte Unschärfen auf-

in Genua eine Loggia zu freskieren [Macioce 2003, S. 172 (II Doc.

weist und somit kontroverse Deutungen provozieren sollte,

215)].

siehe oben, Anm. 109. 207

Abb. 158  Simon Guillain nach Annibale Carracci: Bilderverkäufer (vende

210

Rosen 2009, S. 281ff. Zu der Pala dei Palafrenieri und dem Mari-

Hibbard 1983, S. 8f.

208 Siehe

entod siehe aber die Einschränkungen von Sickel 2003, S. 8 u, 10,

Asemissen/Schweikhart 1994, S. 116 sowie die dortigen

Hinweise zu den seit dem 13. Jahrhundert belegten Ladenwerkstätten und dem seit dem 15. Jahrhundert nachgewiesenen ambulanten Bilderverkauf (ebda., S. 115ff.).

D ie marktorientierte Ausdifferenzierung der Kunst

Zu den zurückgewiesenen sakralen Auftragswerken siehe von

Anm. 3. 211

Zit. n. Martin Warnke: Erschaffung der Natur: Caravaggio. In: Warnke 1979, S. 22.

267

auf Wunsch der römischen Maler eine Woche lang, vom 1. bis zum 7. April 1607, in der Accademia di San Luca mit großer Resonanz öffentlich ausgestellt, bevor man es nach Mantua sandte.212 In einem Brief schrieb Caravaggios Förderer Vincenzo Giustiniani in den 1620er Jahren über die internationale Nachfrage und den Status der Malerei, »[…] die zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf dem Gipfel ihrer Wertschätzung steht, der nicht allein an dem gewohnten Gebrauch, den man in Rom davon macht, zu ermessen ist, sondern auch daran, daß sie nach außerhalb, nach Spanien, Frankreich, Flandern und England und in andere Gegenden verschickt wird; wahrhaftig eine des Staunens und der Betrachtung würdige Tatsache sind aber die große Anzahl von ordentlichen Malern und die vielen Personen, die mit großer Familie ein offenes Haus halten und sogar noch Überfluß haben, und dies alles auf der Grundlage der Malkunst in ihren verschiedenen Stilarten und Erfindungen. Nicht allein in Rom, in Venedig und anderen Teilen Italiens, sondern auch in Flandern und in Frankreich ist es in jüngerer Zeit eine Gewohnheit geworden, die Paläste vollständig mit Bildern auszuhängen, […] und diese neue Sitte erbringt großen Vorteil für den Absatz der Werke der Maler, denen in der Zukunft noch größerer Nutzen als heute zukommen wird«.213

Wenn Giustiniani hier von der »Malkunst in ihren verschiedenen Stilarten und Erfindungen (arte di di-

212

Pamela Askew: Caravaggio’s Death of the Virgin. Princeton, N.J.

pingere con diverse maniere ed invenzioni)« sprach, thematisierte er implizit auch, welche eminente Bedeutung mittlerweile dem Stil für die Selbstreproduktion der Kunst zukam.214 Wenn es nicht mehr nur darum ging, einen bestimmten Ort mit einem entsprechenden Gemälde auszustatten, sondern in seiner Sammlung Beispiele dieser und jener Stilrichtung zu versammeln, so führte dies zu einer explosionsartigen Mehrung des potentiellen Bedarfs und begünstigte auch eine allen Kanonisierungsbestrebungen zuwiderlaufende Vielfalt. Nach Bellori präsentierte Giustiniani den von ihm erworbenen Matthäus in seinem Palast zusammen mit Evangelistenbildern der berühmten Maler Domenichino, Guido Reni und Albano,215 so dass die Besucher angesichts dieser agonalen Konstellation die jeweiligen Lösungen, die maniere und invenzioni der vier Künstler vergleichen konnten. Zum Prinzip der Hängung erhoben, lief der theoretisch auf die Auszeichnung des Exzellenten zielende Wettstreit der Künstler faktisch auf eine Akzeptanz des Vielfältigen hinaus, welche die großen Sammlungen mit ihrer enzyklopädischen Tendenz und der im Barock zur Regel werdenden, auf ein vergleichendes Sehen und die Erörterung von inhaltlichen und stilistischen Ähnlichkeiten und Differenzen zielende Pendanthängung besiegelten. Damit einhergehend, gefördert durch die Ausweitung des Systems der Fernpatronage und des Kunstmarktes, entstand spätestens mit der von Caravaggio ausgelösten Sezession tatsächlich ein veritabler Stilpluralismus, der sich nur noch gewaltsam auf den Nenner eines Epochenstils bringen lässt.216

Stilbegriffs. In: Gumbrecht/Pfeiffer 1986, S. 746. Dasselbe Phäno-

1990, S. 4.

men beschreibt Ueding 1996, S. 114f. an der deutschen Literatur:

Brief an Dirk van Ameyden, in: Macioce 2003, S. 314f. (F. 8), der

Das 17. Jahrhundert ist »nur gewaltsam auf eine einheitliche For-

zitierte Passus S. 315, hier zit. n. der Übers. bei Conti 1988, S. 200.

mel zu bringen; zwischen Frühbarock und Spätbarock, zwi-

214

Siehe Luhmann 1986.

schen den eher klassizistischen Versen eines Simon Dach, den

215

Bellori 2009, Bd. 1, S. 220.

klar argumentierenden, zurückhaltend geschmückten Liedern

216

Zum Nebeneinander von Spätmanierismus, Naturalismus und

eines Paul Gerhard und den manieristischen Formkunststücken

Klassizismus in der Literatur siehe Hans Ulrich Gumbrecht:

der Schlesischen Schule (Gryphius, Hofmannswaldau, Lohen­

Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des

stein) gibt es nur wenige rhetorische Gemeinsamkeiten«.

213

268

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Caravaggio hatte wesentlichen Anteil daran, dass im 17. Jahrhundert, zu dessen Beginn man im Französischen nicht mehr nur von »le mode«, sondern auch »la mode« sprach,217 die Neuheit der Kunst zum ›Selbstzweck‹ wurde.218 Trotz aller Kritik der Kunsttheoretiker wurde sein Werk vom Markt und vom internationalen Sammlerwesen angenommen. Auch die Caravaggisten, die die Eigenheiten des Lombarden überwiegend in abgemilderten Varianten anboten und sich auf Genremotive konzentrierten,219 lebten von dem Wunsch der europäischen Sammler, Beispiele dieser eigenwilligen Entwicklung der Künste zu besitzen. Selbst Ludwig XIV., dessen auf die doctrine classique eingeschworenen Kunsttheoretiker, wenn überhaupt, für Caravaggio nur abfällige Worte fanden, ließ Werke von ihm ankaufen und hielt solche seiner französischen Nachfolger Valentin de Boulogne und Georges de La Tour in Ehren.220

Schon Giorgio Vasari hatte kritisch die Marktmechanismen bedacht, die im 16. Jahrhundert dazu führten, dass immer mehr Künstler sich mit dunklen, enigmatischen Werken hervortaten oder wie z. B. Tintoretto mit ihrer schnellen Malweise das alte Ethos gediegenen Handwerks aufgaben und das übliche Preisniveau auf geschäftsschädigende Weise unterbieten konnten.221 Gleichwohl hat Vasari die Modernität der Kunst des Cinquecento gemäß dem Gedanken der Perfektion des Kunstwerks, einer »perfetta regola dell’arte«, als Fortschritt begriffen und u. a., dem Cortegiano-Ideal entsprechend, mit den Kategorien der licenzia, facilità, vaghezza etc. beschrieben. Die Neuheit der Werke Caravaggios aber, der eben nicht mehr Vorhandenes weiter perfektionierte und der Vorstellung einer zeitlosen Idee des Schönen und entsprechender Regeln und Rezepte der Herstellung des Kunstwerks anhing, nicht

217

220

Luhmann 1986, S. 653; zum Zusammenhang von Stil und Mode: ebda., S. 652ff.

218

219

Ludwig XIV. ließ Caravaggios Marientod und sein Porträt Alof de Wignacourt, Großmeister des Malteserordens, und sein Page an-

Luhmann führt aus: »›Neu‹ heißt hier seit dem 17. Jahrhundert

kaufen und erhielt zudem die Wahrsagerin als Geschenk von

nicht mehr nur: ein weiteres Exemplar, sondern vielmehr etwas,

Camillo Pamphili. (Lawrence Gowing: Die Gemäldesammlung

was vom vorherigen abweicht und dadurch überrascht. Auch

des Louvre. Köln 1994, S. 290ff.) Er ließ fünf Gemälde von Valen-

vorher hatte man auf Ungewöhnlichkeit, Erstaunlichkeit und

tin de Boulogne in seinem Schlafzimmer in Versailles aufhän-

Neuheit von Kunstwerken Wert gelegt, aber ihre Auffälligkeit

gen, darunter die vier mit den Evangelisten, die sich noch heute

hatte eine ganz bestimmte Funktion, nämlich die: sich dem Ge-

im Schloss befinden. Aus einem Zimmer ließ er alle Gemälde

dächtnis einzuprägen (vgl. Ad Herennium III, XXII).« (Luhmann

entfernen, um in ihm nur La Tours Beweinung des Heiligen Se-

1986, S. 628f.) »An die Stelle der rhetorischen Amplifikation tritt

bastian (Paris, Louvre) vor Augen zu haben. Allerdings zeigen

der Überraschungswert dessen, was neu und von allem Bekann-

die genannten Werke auch die Tendenz einer Anpassung des

ten sehr verschieden ist und was folglich seine Qualität sich

caravaggesken Stils an die höfischen Geschmacksnormen, Spät-

selbst verdankt.« (Ebda., S. 637.)

werke des Valentin de Boulogne vor allem die einer koloristi-

Wie schon Roberto Longhi betont auch Alessandro Conti, dass

schen Verfeinerung. In der Beweinung des Heiligen Sebastian

die Caravaggisten in großer Zahl Sammlerbilder malten, aber

hat der 1639 zum »peintre ordinaire du Roy« ernannte Georges

kaum Aufträge für die Gestaltung ganzer Kapellen, für Altarbil-

de La Tour alles Anstößige seiner frühen Caravaggio-Rezeption

der und repräsentative profane Arbeiten erhielten – Valentin de

hinter sich gelassen. Zu Valentin de Boulogne siehe Annick Le-

Boulognes im Auftrag der Barberini gemalte Allegorie Roms

moine/Keith Christiansen: Valentin de Boulogne: Beyond Cara-

bzw. Allegorie Italiens (Rom, Istituto Finlandese, Villa Lante sul

vaggio. Mit Beiträgen von Patrizia Cavazzini, Jean-Pierre Cuzin

Gianicolo) und sein für St. Peter gemaltes Martyrium der heili-

und Gianni Papi, Ausst.-Kat. New York, Metropolitan Museum,

gen Processus und Martinian (Pinakothek des Vatikans) sind be-

New York 2016; zu La Tour: Jean-Pierre Cuzin/Pierre Rosenberg/

merkenswerte Ausnahmen: »Die Lösung des Problems, wie der

Jacques Thuillier: Georges de La Tour. Ausst.-Kat. Paris, Galeries

unwiderrufliche Erfolg der caravaggesken Malerei von dem

nationales du Grand Palais, Paris 1997; Jacques Thuillier:

›System‹ absorbiert werden könne, besteht darin, daß deren Produkte einer Gattung zugeordnet werden, in der die mindere Würde des Gegenstandes mit der geringen Nobilität des Stils

Georges de La Tour. Paris 2012. 221 Siehe

den Abschnitt über Tintoretto in der Vita des Battista

Franco: Vasari 1966–97, V, S. 468ff.

korrespondiert.« (Conti 1988, S. 194.)

D ie marktorientierte Ausdifferenzierung der Kunst

269

mehr Besseres, sondern Anderes hervorbrachte, ließ solche Generalisierungen kaum mehr zu. Anders als die Amplifikationsstrategien Michelangelos, die die Kritik der Kirche provoziert hatten,222 trat sie alleine im Namen des sich in der Konkurrenz behauptenden Künstlers und der Autonomie der Kunst auf – und dies sogar gegen das Wertesystem ihrer humanistischen Theorie.223 Dabei standen die Originalitätserwartungen, die er befriedigte, seinerzeit noch im Widerstreit mit dem alten Gedanken von der Perfektion des Kunstwerks als einem geschichtlichen Kulminationsprodukt.224 Ähnlich wie Cervantes’ burleske Ironisierung des Ritteromans (El ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha, 1605/1615), widersprach sein Werk »allen idealisierten Lobsprüchen, mit denen man das Kunstwerk selbst empfahl«, und konnte daher keinen Anspruch auf dauernde Geltung erheben.225 Unter den Vorzeichen traditioneller Zeitvorstellungen, die es erlaubten, »die Einheit des Schönen, Wahren und Guten als Kulminationspunkt der Perfektion zu denken«,226 mit denen erst die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Verzeitlichung von Geschichte und der mit Winckelmann einsetzenden Historisierung der Stile brach, war die skandalöse Kunst Caravaggios im Grunde nur als Symptom individueller Verfehlungen oder aber einer zu akzeptierenden künstlerischen Frei-

heit zu begreifen.227 Dies zeigt die Caravaggio-Kritik des 17. Jahrhunderts, die kunsttheoretisch versierten ablehnenden Stellungnahmen der akademischen oder akademienahen Autoren wie Agucchi, Baglione, Carducho, Bellori etc. und die weit weniger elaborierten Lobpreisungen, die zu großen Teilen von externen Beobachtern, wie dem kunstliebenden Juristen Marzio Milesi und den mit dem Maler befreundeten Dichtern Murtola und Marino, formuliert wurden.228 In Giambattista Marino mit seinem provokanten Self-fashioning, abenteuerlichen Lebenswandel und seiner paradoxen Losung, die einzig »wahre Regel« bestehe darin, zur rechten Zeit, am rechten Ort die Regeln zu brechen,229 scheint der Maler einen kongenialen Freund gefunden zu haben.230 Mit seinen fortgesetzten Regelverstößen hat dieser »mit sicherem Blick für neue Rezeptionsund Geschmacksvorlieben – ›accomodandosi al costume corrente ed al gusto del secolo‹« letzte »Ressourcen systeminterner Rekombination und Variation« ausgeschöpft.231 Darin zeigt sich ein Prozess, der bereits im 16. Jahrhundert mit der marktorientierten, sich von der Tradition absetzenden literarischen Produktion der venezianischen poligrafi (Vielschreiber) eingesetzt hatte232 und den Hans Ulrich Gumbrecht an der vielfältigen spanischen Literatur des frühen 17. Jahrhunderts beobachtet hat, nämlich eine modern anmutenden

222

Siehe Andrea Gilio: Dialogo nel quale si ragiona degli errori e

227

Vgl. ebda., S. 642f.

degli abusi de’ pittori circa l’istorie. In: Barocchi 1961, S. 1–115

228

Siehe Ebert-Schifferer 2009, S. 17. Wobei auch Murtola in seinem

sowie Paola Barocchi: Schizzo di una storia della critica cinque-

zitierten Gedicht auf die Wahrsagerin (siehe oben, Anm. 151)

centesca della Sistina. In: Atti dell’Academia Toscana di Scienze

warnend Caravaggios Amoralismus betont hat.

e Lettere La Columbaria, 1956, S. 177–212; Karl Möseneder: Mi-

223

229

Turin 1966, S. 396. Vgl. Valeska von Rosen: Caravaggio, Marino

segno und die Freiheit der Kunst. In: Ders. (Hrsg.): Streit um

und ihre ›wahren Regeln‹. Zum Dialog der Malerei und Literatur

Bilder. Von Byzanz bis Duchamp. Berlin 1997, S. 95–117; Luh-

um 1600. In: Christiane Kruse/Rainer Stillers (Hrsg.): Barocke

mann 1995, S. 297ff.

Bildkulturen. Dialog der Künste in Giambattista Marinos »Galeria«. Wiesbaden 2013, S. 307–334.

Siehe in Hinblick auf die Amplifikationsstrategien Michelangelos, deren Kritik der gegenreformatorischen Kirche und die

230

Hierzu bereits Elizabeth Cropper: »The Petrifying Art«: Marino’s

abermaligen Autonomiebestrebungen Caravaggios Luhmanns

Poetry and Caravaggio. In: Metropolitan Museum Journal, 26,

Überlegungen zu Abweichungsverstärkungen und positivem

1991, S. 193–212. Zu Caravaggios Porträt Marinos siehe Schütze

Feedback (hyper-correction): Luhmann 1986, S. 651f. 224

Ebda., S. 635.

225

Ebda., S. 642.

226

Ebda., S. 643.

270

Giambattista Marino: Lettere. Hrsg. v. Marziano Guglielminetti,

chelangelos »Jüngstes Gericht«. Über die Schwierigkeit des Di-

2017, S. 373f. (Nr. 26). 231

Jörg Robert: Kryptomnesie und Kleptomimetik. Der Fall des Cavaliere Marino. In: Pfisterer/Wimböck 2011, S. 361.

232

Siehe Di Filippo Bareggi 1988.

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Übertragung der Funktion, »Stil-Orientierung zu stiften, von den tradierten Regeln und Kanon-Autoren auf das zeitgenössische Publikum«.233 Auch Caravaggios Œuvre bezeugt, dass das aristokratische Patronatswesen seine ästhetisch normative Kraft mit der steigenden Bedeutung des Kunstmarktes einbüßte, und damit die Anfänge des Übergangs von der höfischen zur marktorientierten Ausdifferenzierung der Kunst.234 Caravaggios Gemälde, die nicht mehr auf das »Wiedererkennen eines immer bereits vorgewussten, gegenständlichen Sujets« angelegt waren und damit die in der Tradition des Platonismus ausgebildete, von der reformkatholischen Bildtheologie noch einmal bekräftigte »Vorstellung von der anamnetischen Erkenntnisfunktion des Bildes« verabschiedeten,235 sind bemerkenswerte Symptome einer fortschreitenden Depotenzierung des Humanismus. Nachdem sich diese bereits in dem zynischen Pragmatismus von Machiavellis Il principe angekündigt hatte, wurde sie von Francis Bacon in seinem 1620 publizierten Novum Organon wortmächtig zur Losung seines neuen Wissenschaftsprogramms erhoben. Ulrich Pfisterer hat an zahlreichen Schriften der Jahrzehnte um 1600 oft schon marktschreierisch im Titel bekundete Originalitäts- und Neuheitsansprüche registriert und zu erhärten versucht, dass damals erstmals die Vorstellung von einem radikalen Traditionsbruch

und einem möglichst autodidaktischen, voraussetzungslosen Neuanfang in den Bildkünsten denkbar wurde.236 Dabei scheinen insbesondere die seinerzeit von Galilei begründeten Experimentalwissenschaften, auf die man u. a. den Lakonismus von Caravaggios Früchtekorb, seinem Stillleben in der Ambrosiana, bezogen hat,237 das Ideal eines vorurteils- oder gar auslegungsfreien Zugriffs auf die Natur genährt zu haben. Die Leistung Caravaggios, der die erste große Sezession der Kunstgeschichte ausgelöst hat, bestand nicht zuletzt in der Durchsetzung eines stilgeschichtlichen Bruchs, dem eine Aufspaltung verschiedener Gruppen innerhalb der kulturtragenden Schichten und eine bereits fortgeschrittene Ausdifferenzierung der Kunst aus der Obhut religiöser und politischer Interessen korrelierte. Sein Erfolg verdankte sich nicht zuletzt Käufern und Mäzenen, die sich den kunsttheoretischen Wertesystemen von Kirche und Staat nicht vorbehaltlos verpflichtet fühlten. Zu diesen zählten eine reformorientierte Minorität des römischen Klerus – mit einigen Homosexuellen darunter –, zudem aufstrebende Händler, Bankiers und Juristen, aber auch alte Adelsgeschlechter wie die Colonna, die zu den Verlierern der Machtkonzentration in den frühabsolutistischen Staaten zählten.238 Wie Sibylle Ebert-Schifferer betont hat, entsprach Caravaggios oft gewalttätiges Auftreten, das ihn immer

233

237

234

Gumbrecht 1986, S. 746. So empfahl Lope de Vega seinen adligen

opaken, lokalen Farbigkeit, so unvermittelt präsent und greifbar

gleich spottete er in seiner Schrift Arte nuevo de hacer comedias

macht, […] entspricht jener höchst folgenreichen Leistung, die

der Kritik im Namen der tradierten Stilistik und erklärte: »[…]

gleichzeitig bei Galilei und Bacon die Experimental- und Erfah-

ich schreibe nach der Regel jener, die den Applaus des gemei-

rungswissenschaft entstehen läßt: Es ist die objektivierende Dis-

nen Volkes suchten; denn da das gemeine Volk die Stücke be-

tanz, die vor den Dingen den Schleier des Vorurteils wegzieht,

zahlt, ist es nur billig, zu ihm in ungebildeter Weise zu sprechen,

die nichts ungeprüft in einen Sinnzusammenhang stellt.« (Mar-

um ihm zu gefallen.« (Zit. ebda., S. 746f.)

tin Warnke: Erschaffung der Natur: Caravaggio. In: Warnke 1979,

Zu diesem Vorgang: Luhmann 1995, S. 262ff., der ihn erst in der

S. 30; vgl. auch Held 1996, S. 31ff.) Kardinal Del Monte war ein

zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beginnen lässt, aber mit

Anhänger der neuen Wissenschaften. Sein Bruder Guidobaldo,

dem Hinweis auf Raymond Williams (The Sociology of Culture.

der Traktate über Mathematik, Physik und die Perspektive ver-

New York 1982, S. 38ff.) betont, dass der Übergang zur Marktpro-

fasste, war mit Galilei befreundet. (Puglisi 2002, S. 112.)

duktion ein fließender war. 235

Warnke betont: »[…] was bei Caravaggio die Dinge, auch in ihrer

Mäzenen die Nachahmung antiker Autoren als Stilübung, zu-

Krüger 2006, S. 34f.

236 Ulrich

238

Vgl. Renata Ago: Carriere e clientele nella Roma barocca. Rom/ Bari 1990 sowie Held 1996, S. 222ff.: »Caravaggio fand […] seine

Pfisterer: Die Erfindung des Nullpunktes. Neuheitskon-

ersten Auftraggeber vor allem in einer Schicht reicher Laien, die

zepte in den Bildkünsten, 1350–1650. In: Pfisterer/Wimböck 2011,

ihren Rang nicht durch Geburt, sondern durch Leistung und

S. 7–85.

Arbeit erworben hatten, also in den oberen – oft geadelten –

D ie marktorientierte Ausdifferenzierung der Kunst

271

Als der gelehrteste Schüler der Carracci galt der 1581 in Bologna als Sohn eines Schuhmachers geborene Domenico Zampieri, genannt Domenichino.241 Giovan Pietro Bellori hat ihn als den besten Historienmaler seiner Zeit gewürdigt.242 Nach seiner Ausbildung bei Denys Calvaert und in der Accademia degli Incamminati zog Domenichino 1602 nach Rom, wo er unter der Leitung Annibales an den Fresken im Palazzo Farnese mitarbeitete und seit ca. 1604 im Haushalt des Kardinals Giro-

lamo Agucchi und seines Bruders, des einflussreichen Kunsttheoretikers Monsignor Giovanni Battista Agucchi, lebte.243 1609 führte er als Mitarbeiter Guido Renis die Geißelung des Heiligen Andreas im Oratorio di San Andrea bei der Kirche San Gregorio Magno aus.244 Großen Erfolg hatte er mit seiner 1614 signierten und datierten Altartafel Die letzte Kommunion des Heiligen Hieronymus (Pinakothek des Vatikans) für die Congregazione di San Girolamo della Carità, die er in zahlreichen, darunter 44 erhaltenen Zeichnungen vorbereitet und an der er drei volle Jahre gearbeitet hat.245 Es folgten zahlreiche weitere Aufträge, darunter das für den Kardinal Alessandro Peretti Damasceni da Montalto ausgeführte Gemälde Alexander und Timoclea (Paris, Louvre) und die für Scipione Borghese gemalte Cumäische Sibylle (Rom, Galleria Borghese). Zu seinen weiteren Hauptwerken zählen die Fresken mit Szenen aus dem Leben der Heiligen Caecilia in der Cappella Polet in San Luigi dei Francesi (1612–15), in denen er in nachbarschaftlicher Nähe zu Caravaggios Gemälden der Contarelli-Kapelle programmatisch auf Raffael Bezug nahm, die Fresken in den Pendentifs und der Apsis von Sant’Andrea della Valle (1622–28), bei deren Ausführung er Anfeindungen Lanfrancos erdulden musste, dem die Ausmalung der Kuppel oblag,246 die Fresken mit Szenen aus dem Leben des Heiligen Gennaro (1631– 41) in der Cappella del Tesoro in der Kathedrale von Ne-

Schichten des Bürgertums.« (Ebda., S. 228.) Daneben genoss er

Dictionary of Art, Bd. 9, S. 88–93; Jessica Popp: Sprechende Bil-

das Interesse von fürstlichen Familien wie den Sforza, Doria

der – Verstummte Betrachter. Zur Historienmalerei Domenichi-

und Gonzaga und die Protektion des altehrwürdigen Ge-

nos (1581–1641). Köln/Weimar/Wien 2007.

wieder mit dem Gesetz in Konflikt brachte, dem Verhaltenskodex solcher alter Adelsfamilien, die sich nicht den Zentralisierungstendenzen beugen wollten.239 Es waren somit zentrifugale gesellschaftliche Kräfte, die seine Kunst förderten und kauften,240 die sich identifizierten mit dem radikalen stilistischen Habitus des talentierten Künstlers aus der Provinz, dem wahrscheinlich bisexuellen, in Glaubensfragen schwer einzuordnenden Sohn eines Baumeisters im Dienste des Herzogs von Caravaggio, der zum ersten Revolutionär und einem der großen Außenseiter der Kunstgeschichte wurde.

Sprechende Bilder und schweigsame Künstler: ­Domenichino und seine Jagd der Diana

schlechts der Colonna, auf deren Landgut Zagarolo er im Mai

242 Bellori

2009, Bd. 1, S. 360f.: »Ben noi possiamo affermare con

1606 floh, nachdem er bei einem Racketspiel mit einem Kontra-

verità che appresso il supremo ingegno suo nell’espressione

henten aneinandergeraten war und ihn getötet hatte. Held be-

niuno all’età nostra meglio di lui concepí l’istorie, ed altrettanto

tont, dass die Colonna ihre Autonomie durch den frühabsolutis-

in questo egli superò gli altri, quanto andò avanti a ciascuno nel

tischen päpstlichen Staat bedroht sahen. (Ebda., S. 230.) Zu den

buon disegno e nella scienza e dottrina della pittura.«

Konflikten zwischen dem Papst und den mächtigen römischen

243

Cropper 1998, S. 88.

Familien siehe Roberto Zappieri: Der Neid und die Macht. Die

244

Siehe Thürlemann 1986.

Farnese und Aldobrandini im barocken Rom. München 1994,

245

Popp 2007, S. 176.

S. 19ff.

246

Siehe Elisabeth Oy-Marra: Innovation als kritische Revision des

239

Ebert-Schifferer 2009, S. 53ff.

240

Vgl. Held 1996, S. 229f.

böck 2011, S. 263–294. In der Zeit dieser Konkurrenz ließ Gio-

241

Zum Folgenden: Richard E. Spear: Domenichino. New Haven/

vanni Lanfranco einen Stich nach Agostino Carraccis Die letzte

London 1982; Elizabeth Cropper: [Artikel] Domenichino. In: The

Kommunion des Heiligen Hieronymus in der Certosa di Bologna

272

Alten: Lanfrancos römische Kuppelfresken. In: Pfisterer/Wim-

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

apel sowie einige seiner Landschaften, die Poussin und Lorrain beeinflusst haben. Domenichino, der, wie sein Rufname besagte, von kleiner Statur und nach allem, was wir wissen, ein ängstlicher, zurückgezogen lebender Mensch war,247 vertrat, auf dem Primat des disegno insistierend, einen strengen Klassizismus nach dem Vorbild der Antike, Raffaels und Annibales. Ein Inventar seines Schülers Francesco Raspantino lässt darauf schließen, dass er über 900 Zeichnungen der Carracci besaß,248 und er selbst hat unermüdlich gezeichnet – allein die Sammlung in Windsor Castle umfasst ca. 1700 Blätter von seiner Hand.249 Wie Guercino, von dem im 18. Jahrhundert noch ein Album mit nahezu 200 Karikaturen existierte,250 hat sich auch Domenichino auf diesem Feld betätigt.251 Im Sommer 1634 zog er sich, nachdem er in Neapel anhaltenden Anfeindungen ausgesetzt war, zur Erholung in die Villa Aldobrandini in Frascati zurück. Wie Giovanni Battista Passeri berichtet, pflegte er sich dort am Abend, nach dem Essen zurückzuziehen, um in Ruhe »Ritratti caricati« aller in der Villa anwesenden Personen anzufertigen. Dabei sei er oft in lautes Lachen ausgebrochen, das Neugierige anzog, denen er dann »quelle sue gratiose galanterie« zeigte.252 Von diesen Blättern, von denen Passeri berichtet, dass sie später von Giovan Pietro Bellori bewahrt wurden,253 ist nur ein einziges erhalten: die Karikatur des Theologen der Aldobrandini in Chatsworth House (Abb. 159). Sie zeigt einen Mann von gedrungener Gestalt mit einer Knollnase, einer weit oberhalb der Knöchel endenden Kutte und enorm langen, schmalen Füßen, der inmitten

Abb. 159 Domenichino: Karikatur des Theologen der Aldobrandini, 1634,

Federzeichnung, Chatsworth House, Derbyshire, Trustees of the Chatsworth

Settlement

eines geräumigen Saals einen Folianten von einem Büchertisch entnommen und aufgeschlagen hat. Im Vordergrund am rechten unteren Bildrand ist eine Zwergin mit einem Schoßhund im Arm dargestellt, neben der links der Schriftzug »Da Domenichino Zamperi caricato il teologo delli Sigri Aldobrandini« steht. Die einfache, geradezu kindlich-naive Gestaltung des Innenraums und der beiden jeweils im Profil dargestellten Personen und die ›krakeligen‹, überwiegend rahmenparallel angelegten Linien erwecken den Eindruck einer von Laienhand gezeichneten Darstellung. 254

(Bologna, Pinacotheca Nazionale) anfertigen, der entlarven

250

sollte, wie viel Domenichinos Altarbild mit demselben Sujet

251 John

diesem Werk verdankte. Zu diesem aufsehenerregenden Plagi-

1998, S. 244. 252

Century Rome. London 2005; Popp 2007, S. 175ff. 247

Cropper 1998, S. 93.

248

Ebda., S. 92.

249 Siehe

John Pope-Hennessy: The Drawings of Domenichino in

Pope-Hennessy: A Caricature by Domenichino. In: The

Burlington Magazine, 94/591, 1952, S. 167–169; Thurmann-Jajes

atsvorwurf siehe Spear 1982, S. 34ff.; Elizabeth Cropper: The Domenichino Affair – Novelty, Imitation, and Theft in Seventeenth-

Hofmann 2007, S. 39.

Giovanni Battista Passeri: Vite de’ pittori, scultori ed architetti che anno lavorato in Roma, morti dal 1641 fino al 1673. Hrsg. v. Jakob Hess, Worms 1995, S. 63.

253 Ebda. 254

Spear 1982, S. 39f.

the Collection of His Majesty the King at Windsor Castle. London 1948.

SPREC HENDE BI LD E R U N D S C H WE I G SA ME KÜ N S TLE R: ­D OME N ICHIN O U N D SE IN E JAGD DER DIANA

273

Abb. 160 Domenichino: Die Jagd der Diana, 1616/17, Rom, Galleria Borghese

Damit stützt dieses Blatt unsere These von der Entstehung der Karikatur durch die Nachahmung von Laien ausgeführter herabsetzender Graffiti. Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang Domenichinos Jagd der Diana (Abb. 160) in der Galleria Borghese, ein durch seine avancierte Bilderzählung und enorme inhaltliche Verdichtung herausragendes Sammlerbild der Bologneser Malschule. Seit seinem Entstehen wurde diesem kapitalen Werk über Jahrhunderte höchstes Lob zugesprochen. Bestimmt war es für den Kardinal Pietro Aldobrandini, doch ehe

dieser es erhalten sollte, eignete sich Scipione Borghese das Gemälde gewaltsam an und ließ den protestierenden Maler sogar für einige Tage inhaftieren.255 Die Jagd der Diana, der Julian Kliemann eine vorzügliche Studie gewidmet hat,256 zeigt entgegen dem von Anbeginn an überlieferten Bildtitel ein Wettschießen der Nymphen der Diana. In ihren erhobenen Händen hält die Göttin den Hauptgewinn des Wettkampfs, einen goldenen Bogen und ebensolchen Reifen und einen goldverzierten roten Köcher. Die Nymphe neben ihr präsentiert weitere Preise: ein Horn, einen Gürtel, ein Paar Sandalen

255 Julian

256

Kliemann: Kunst als Bogenschiessen. Domenichinos

»Jagd der Diana« in der Galleria Borghese. In: Römisches Jahr-

Ebda., S. 273–311; Ders.: Il bersaglio dell’arte: la caccia di Diana di Domenichino nella Galleria Borghese. Rom 2001.

buch der Biblioteca Hertziana, 31, 1996, S. 276.

274

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

und einen Speer. Um diese wetteifern die links im Bild dargestellten fünf Nymphen. Sie schießen auf den Vogel, der an einen hohen Pfahl gebunden war, soeben von einem Pfeil durchbohrt wurde und zu Boden stürzt, nachdem zwei Pfeile ihn verfehlt hatten, deren erster den Pfahl traf und der zweite das den Vogel fesselnde Seil durchtrennte. Derweil baden im Vordergrund zwei Nymphen, während eine dritte, bereits entkleidet, sich noch ihrer Schuhe entledigt. Weitere Nymphen verfolgen das Geschehen, während im Hintergrund zwei eine erlegte Hirschkuh herbeitragen, eine ein Jagdhorn bläst und weitere einen Wettlauf und einen Ringkampf austragen. Das Hauptmotiv des Gemäldes geht zurück auf Vergils Erzählung von dem Bogenschießen, das Aeneas zu Ehren seines verstorbenen Vaters Anchises veranstaltete,257 die sich ihrerseits auf eine ähnliche Szene in Homers Ilias bezieht, in der Diana mit ihren Nymphen jagt und spielt.258 Wie Plinius berichtet, hatte bereits Apelles in einem seiner berühmtesten Werke Diana mit ihren Nymphen so dargestellt, dass es schien, er habe die Verse Homers übertroffen.259 Domenichinos Gemälde war also angelegt als aemulatio eines antiken Gemäldes, das bereits Anlass für agonale Vergleiche mit der Dichtung gegeben hatte.260 Die Themenfindung und Festlegung vieler inhaltlicher Details wird der Künstler im Gespräch mit Giovanni Battista Agucchi, dem da-

maligen Majordomus des Kardinals Pietro Aldobran­ dini, vorgenommen haben, mit dem er sich kontinuierlich über aktuelle Fragen der Poetologie und Kunsttheorie verständigte.261 Beide beschäftigten sich intensiv mit den genuinen Möglichkeiten der Bilderzählung und der Frage, wie Zeit im Bild darstellbar sei. Agucchi, der als virtuoso einen neuen Typus des Kunstliteraten darstellte, der den schreibenden Künstler ablösen sollte,262 war dieser 1602/03 in einer ausführlichen Ekphrase von Annibales Schlafender Venus (Chantilly, Musée Condé) nachgegangen.263 Dieses Gemälde, in dessen Hintergrund bogenschießende Amoretten dargestellt sind, gab für die Jagd der Diana wichtige Anregungen.264 Ungefähr zur Entstehungszeit von Domenichinos Gemälde schrieb Mancini in seinen Considerazioni sulla pittura, dass der Künstler weder Zeit, noch Bewegung, sondern nur Ruhe darstellen könne, von Bewegung könne man allerdings insofern sprechen, als der Betrachter mit seiner Vorstellungskraft den dargestellten Augenblick mit dem vorangegangenen und dem folgenden verbinde.265 Ganz in diesem Sinne hat Domenichino die bildliche Umsetzung der Textstelle Vergils genutzt, um Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zu repräsentieren, insbesondere die schnell aufeinander folgenden Pfeilschüsse in der Simultandarstellung des Bildes »gleichzeitig und doch in

257

264

Kurt Badt: Domenichinos Caccia di Diana in der Galleria Borghese In: Münchener Jahrbuch für bildende Kunst, 13, 1962,

Kliemann 1996, S. 284f. Jessica Popp deutet Domenichinos Gemälde dagegen als Produkt eines Wettstreits mit Tizian, dessen

S. 220f.; Vergil: Aeneis, V, 485–489, 500–521.

drei für das studiolo des Alfonso d’Este entstandene Bacchana-

Kliemann 1996, S. 278f.; Homer: Ilias, XXIII, 850–881.

lien (siehe oben, S. 169) sich damals in der Sammlung des Kardi-

259

Plinius: Historia Naturalis, XXXV, 96.

nals Aldobrandini, dem intendierten Bestimmungsort der Jagd

260

Kliemann 1996, S. 287.

der Diana, befanden. Ihre auf Beobachtungen von John Pope-

261

Ebda., passim, bes. S. 281, 291. Mit nicht überzeugenden Argu-

Hennessy und Spear gestützten Bildvergleiche zeigen subtile

menten hat Badt die Themenfindung noch ganz entschieden

Bezugnahmen Domenichinos auf die genannten Werke (Popp

258

Agucchi zugesprochen (Badt 1962, S. 225), denn der vermeint-

2007, S. 198ff.). Sie deutet Domenichinos Gemälde als »Pen-

lich nicht sehr belesene Domenichino habe »niemals wieder ein

dant« und als römisch klassizistische aemulatio der Werke Tizi-

so glücklich gewähltes mythologisches Thema […] malen dür-

ans. Zur Farbgebung, bei der Domenichino Anweisungen Al-

fen.« (Ebda., S. 229.)

bertis und aus Matteo Zaccolinis Prospettiva del colore befolgt

262

Hansmann 1997, S. 42.

263

Giovanni Battista Agucchi: Descrittione della Venere dormiente

hat, siehe ebda., S. 212ff. 265

Kliemann 1996, S. 281f.

di Annibale Carrazzi. In: Malvasia 1678, Bd. 1, S. 503–515. In Kenntnis dieses Textes hat auch Bellori Annibales Gemälde beschrieben: Bellori 2009, Bd. 1, S. 101–103.

SPREC HENDE BI LD E R U N D S C H WE I G SA ME KÜ N S TLE R: ­D OME N ICHIN O U N D SE IN E JAGD DER DIANA

275

eindeutiger Abfolge zu zeigen.«266 So repräsentierte er die fünf konkurrierenden Nymphen, deren hinterste den ersten Pfeil verschossen hat, der den Pfahl traf, die nun dabei ist, ihren Bogen abzulegen, und mit erhobenem Zeigefinger ihren Konkurrentinnen signalisiert, dass auch sie getroffen hat und einen Preis verdient.267 Die neben ihr stehende Nymphe in grünem Gewand, die den Bogen noch am ausgestreckten Arm hält, hat soeben den zweiten Schuss getan, der das den Vogel fesselnde Seil durchtrennte. Die Nymphe mit dem flatternden roten Tuch neben ihr ist die Siegerin: Sie hat just den tödlichen Pfeil abgeschossen – der Arm, mit dem sie die Sehne des Bogens spannte, verharrt noch, dieses verdeckend, neben ihrem Gesicht. Der vor ihr Knienden im blauen Gewand ging das alles zu schnell: Sie hat den Bogen nicht einmal gespannt und realisiert resignierend, dass das Ziel schon getroffen ist. Ganz im Gegensatz zu ihr verfolgt die fünfte Nymphe in dunkler grünblauer Kleidung geistesgegenwärtig mit konzen­ triertem Blick den getroffenen Vogel, zieht einen Pfeil aus ihrem Köcher, um mit diesem das stürzende Tier noch vor seinem Aufprall auf dem Boden zu treffen. Hatte Agucchi in seiner Ekphrase der Schlafenden Venus Annibales beklagt, dass die Malerei Zukünftiges nur ungenügend andeuten könne, so stellte Domenichino in seinem Gemälde zudem einen aufspringenden Jagdhund dar, der den Vogel fallen sieht, ihn apportieren will und kaum mehr von der Nymphe am Halsband zurückgehalten werden kann.268 Da der stürzende Vogel in dem Gebüsch am rechten Bildrand landen wird, ist zu erwarten, dass dann umgehend auch die beiden Hirten entdeckt werden, die sich in ihm versteckt haben und deren Anwesenheit dem Bildpersonal bisher entgangen ist. Zwischen sie und die Schnauze des Hundes hat Domenichino im hinteren Bildraum die beiden Nymphen platziert, die eine er-

legte Hirschkuh transportieren – ein Motiv, das an das Los Aktaions gemahnt. Dieser hatte Diana und ihre Nymphen beim Bad gesehen, war von der zornigen Göttin entdeckt, in einen Hirsch verwandelt und schließlich von den eigenen Jagdhunden zerfleischt worden.269 Mit der raffinierten Allusion auf die Bestrafung Aktaions setzt die Bilderzählung die Imagination des Betrachters in Gang, die auch in die Zukunft der Bildhandlung ausgreift, und warnt ihn zugleich vor den Gefahren lüsterner Blicke. Dies leistet ebenso das Motiv der badenden Nymphe, die den Betrachter unverwandt anblickt und ihn so zur Reflexion seines Voyeurismus anhält. Auch Agucchi hat in seiner erwähnten Beschreibung der Schlafenden Venus den Betrachter vor lüsternen Blicken und dem Zorn der Göttin gewarnt, um sich dann von der Schönheit der Motive zu lösen und sich wieder der Schönheit des Bildes und somit der Kunst Annibales zuzuwenden.270 Die Imagination des Betrachters hat Domenichino auch herausgefordert, indem er, von allen literarischen Quellen abweichend, fünf wettkämpfende Nymphen gemalt und damit auf das Beispiel des Zeuxis angespielt hat,271 der die ideale Schönheit seiner Darstellung der Helena gewann, indem er von den fünf schönsten Jungfrauen der Stadt Kroton jeweils ihren schönsten Körperteil zum Vorbild nahm.272 Domenichino hat die Göttin bekleidet dargestellt, aber der Betrachter kann sich eine Idee ihrer Schönheit verschaffen, indem er die schönsten nackten Körperteile der Nymphen kombiniert. Der Kontrast der bekleideten Diana mit der unter ihr dargestellten, den Betrachter fixierenden gänzlich nackten Badenden fordert regelrecht dazu auf.273 Die Jagd der Diana ist eine gemalte Reflexion über die Schönheit, die Kunst und das Sehen, das in vielen Figuren, insbesondere in der den Betrachter anblickenden Badenden, aber auch in dem Pfeil im Auge des ge-

266

Ebda., S. 281.

270

Kliemann 1996, S. 291f.

267

Ich folge der auf Belloris Text (Bellori 2009, Bd. 1, S. 365–368) fu-

271

Ebda., S. 288.

ßenden Beschreibung von Kliemann 1996, S. 282f.

272

Cicero: De inventione, II, 1, 1–3; Plinius: Historia Naturalis, XXXV,

268

Ebda., S. 290.

269

Ovid: Metamorphosen, 3, 138–252.

276

64; Aelianus: Variae Historiae, XIV, 7. 273

Kliemann 1996, S. 288; Popp 2007, S. 203.

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

troffenen Vogels thematisch wird. Der Pfeil im Auge war seit Petrarca in der italienischen Liebesdichtung eine Metapher für den Liebe entflammenden Blick, der über das Auge in die Seele bzw. ins Herz eindringt.274 Zudem lässt sich das Motiv als Metapher für die acutezza, den Scharfsinn, deuten, mit dem der Maler seine muta poesis geschaffen hat.275 1585 hatte Torquato Tasso in seinem poetologischen Dialog La Cavaletta overo de la poesia toscana die den Rezipienten überraschende acutezza des Dichters mit Vergils Schützen verglichen, der die von der Fessel befreite Taube trifft.276 Zweifellos ist die Jagd der Diana ein für gesellige Kunstgespräche geschaffenes Werk. In ihm gibt es viel zu sehen und zu entdecken – was in geselliger Runde immer interessanter ist als im stillen individuellen Nachvollzug –, und mit der anschaulichen Darstellung des Verlaufs des Wettkampfs, den Voyeuren im Gebüsch, dem aufspringenden Jagdhund und weiteren Motiven erschließt sich die dargestellte Handlung auch ungebildeten Rezipienten ohne literarische Vorkenntnisse. Mit der Übertragung des Vergilschen Bogenschießens auf Diana und ihre Nymphen und seiner avancierten Bilderzählung, die Anlass gaben, den Paragone zu thematisieren, den Anspielungen auf Aktaion und Zeuxis und weiteren Merkmalen erlaubte das Gemälde zugleich kundigen Betrachtern, vor ihm ihre Bildung zu beweisen und eine Vielzahl von kunsttheoretischen und poetologischen Begriffen und Theoremen

274

abzurufen. Damit erfüllte die Jagd der Diana mustergültig die für den sakralen Bildgebrauch erhobene Forderung Paleottis, die unterschiedlichen Seherwartungen und rezeptiven Kompetenzen diverser Rezipientengruppen zu berücksichtigen, um einen »consenso universale« zu erreichen. Darauf zielte offenbar der auf Nachvollziehbarkeit bedachte, gestufte Komplexitätsaufbau des Gemäldes, dessen Handlung mit ihren verschiedenen Nebensträngen sich auch einem – somit als Rezeptionsinstanz anerkannten – Ungebildeten erschließt,277 und das zugleich mit seinen intertextuellen Bezügen den conoscenti eine fast unerschöpfliche kunsttheoretische Bedeutungsdimension darbot. Bedenkt man, wie sehr die manieristische Kunst das Geistreiche, Hermetische und Rätselhafte als exklusives, distinktives Merkmal eingesetzt hatte – man erinnere z. B. die Forderung Paolo Giovios, Impresen dürften nicht so simpel sein, dass ein jeder Plebejer sie verstehen könne278 –, so zeigt sich in der didaktischen Dimension dieses Zugehens auf unterschiedliche, auch ungebildete Rezipienten, die wir bereits an der Rezeptionsfigur des ›linkischen‹ Hellebardiers in Annibales Metzgerladen (Abb. 115) festgestellt haben, die grundlegend neue Orientierung der Bologneser Malerei. Und in ihr erweist sich das an der vielgelobten Verständlichkeit der Bilderzählungen Raffaels orientierte Gemälde Domenichinos auch als klassizistischer Gegenentwurf zu Caravaggio, der die gesteigerte Komplexität seiner

Kliemann 1996, S. 300ff. mit vielen Beispielen der Gleichsetzung

denen Reaktionen des Volkes auf die milden Gaben der Heili-

des Blicks und auch der Wirkung der Schönheit mit dem Pfeil.

gen« geschildert hat (Popp 2007, S. 100), kritisierte Malvasia, er

Siehe hierzu auch Christine Ott: Pfeile ohne Ziel? Worte, Sachen

habe die vorzügliche Komposition Annibales in eine niedrige,

und Bilder bei Giovan Battista Marino. In: Kruse/Stillers 2013,

kindische Szenerie verwandelt, solche Handlungen passten

S. 107–134.

besser auf einen Markt oder in ein Ghetto als zu einer heiligen

276

Kliemann 1996, S. 305.

Almosenverteilung (»Azioni tutte disparate, a proposito più

277

Dieses Bemühen lässt sich auch an sakralen Werken Domeni-

d’un mercato, di un ghetto, che di una santa dispensazione«); sie

chinos feststellen, der z. B. in den Fresken der Cappella Polet

würden nur Gelächter und Beifall des rohen Volkes (»applausi

und den Szenen aus dem Leben des Heiligen Andreas in Sant’An-

della rozza plebe«) hervorrufen und dieses vom Gottesdienst

drea della Valle leicht verständliche Alltagsszenen vor Augen

ablenken (zit. ebda., S. 102). Zu den Fresken der Cappella Polet

führte, die teilweise sogar als Verstoß gegen das decorum bewer-

siehe auch Eva Maringer: Märtyrerkult und Raffaelrezeption im

tet wurden. An der Almosenspende der Heiligen Caecilia, in der

nachtridentinischen Rom: Domenichinos Cäcilienzyklus in der

er in Anlehnung an Annibales Der Heilige Rochus verteilt Almo-

Cappella Polet in San Luigi die Francesi. Luxemburg 2012.

275

sen (siehe oben, Anm. 11) »mit großer Erzählfreude die verschie-

278

Siehe oben, S. 170.

SPREC HENDE BI LD E R U N D S C H WE I G SA ME KÜ N S TLE R: ­D OME N ICHIN O U N D SE IN E JAGD DER DIANA

277

frühen Werke mit dem Anschein spontaner Naturwiedergaben kaschiert, ins Paradoxe und Änigmatische gewendet und immer wieder Irritationen und Überforderung der Betrachter in Kauf genommen hatte. Dass Die Jagd der Diana mit einem durchaus versierten, eloquenten Publikum rechnen konnte, zeigt Girolamo Bargaglis Dialogo de giouchi,279 eine 1572 publizierte Schrift, zu deren Vorläufern Innocentio Ringhieris 1551 in Bologna publizierte Cento giuochi liberali zählen.280 In ihm werden u. a. die »givochi dell’imprese« und der »giuoco de gli Epitafi« behandelt,281 bei denen man sich bildlicher Darstellungen bedienen konnte. Bei einigen der hier behandelten Spiele schlüpften die Beteiligten selbst in die Rolle des Künstlers. So galt es beim »giuoco del Ritratto del vera bellezza«282 und dem »giuoco della Pittura«,283 im geselligen Kreis wie Zeuxis zu verfahren, nämlich einen idealen, aus den schönsten Teilen der anwesenden Damen zusammengesetzten Körper oder Geist zu beschreiben. Dabei sollte man einer jeden Dame sagen, was man von ihr ausgewählt habe, und die perfekte Schönheit des so geschaffenen Bildnisses mit Worten Petrarcas und Ariosts rühmen.284 Die ein wenig spekulativ wirkende These, dass sich der Betrachter der Jagd der Diana die ideale Schönheit der unbekleideten Göttin durch die Kombination der schönsten nackten Körperteile ihrer Nymphen vorstellen soll,285 wird durch diese Quelle glänzend bestätigt,

279

280

zeigt sie doch, dass damals ein entsprechendes Rezeptionsverhalten immer wieder spielerisch eingeübt und so auch ein zunehmend breites Publikum kunsttheoretisch geschult wurde. Wie alle Kunst ihrer Zeit wurde auch Die Jagd der Diana geschaffen, um in Sprache übersetzt zu werden. In dieser Hinsicht erscheint allerdings ein Motiv des Gemäldes irritierend, nämlich der linke der beiden Hirten im Gebüsch, der, während sein Nebenmann ganz vom Anblick der schönen Nymphen gefesselt ist, zum Betrachter blickt und ihn mit dem Finger auf den Lippen gebietet, zu schweigen. In erster Hinsicht hat dieses Motiv zweifellos die Funktion, das Inter-esse des Betrachters zu steigern, den der Voyeur zum Komplizen machen will, indem er ihn bittet, ihn nicht zu verraten, und den Spannungsbogen der Bilderzählung zu erhöhen, bekundet es doch seine Angst, entdeckt zu werden, was unmittelbar zu erwarten ist, da der getroffene Vogel in dem Gebüsch landen wird. Bellori hat den Gestus dieser Figur freilich anders gedeutet, nämlich als Appell an den Betrachter, zu schweigen, das Gemälde zu bewundern und es mit ewigem Lobe zu preisen.286 Ist diese Rezeptionsfigur also tatsächlich zu verstehen als Aufforderung, das Bild schweigend zu genießen? Dafür scheint zu sprechen, dass Bellori wiederholt Grenzen des bildreproduktiven Vermögens der Spra-

Girolamo Bargagli: Dialogo de Givochi che nelle vagghie sanesi

& si fa in questa forma, cioè, che’l maestro del giuoco dice, che

si vsano di fare. Venedig (Giovan. Griffo) 1592. [Die Erstausgabe

douendosi formare una perfetta bellezza, bisogna à guisa di

erschien 1572 in Siena (Luca Bonetti), weitere folgten, bereits

Zeusi prendere da ciascuna di quelle delle belle donne presenti

1575 erschien eine in Venedig (Giovanni Antonio Bertano). Pa­

le piu belli parti, & però ogniuno debba dire, qual parte d’una di

trizia D’Incalci Ermini hat eine neue Ausgabe ediert (Siena

quelle eleggerebbe per far ne un perfetto ritratto. Scelte tutte le

1982).]

parti, si ha da dire la qualità, che hauer dee quella tal parte, per

Innocentio Ringhieri: Cento giuochi liberali et d’ingegno. Bolo-

essere perfetta, esprimendo le qualità con parole del Petrarca, o del Ariosto, onde de gli occhi fu chi disse.« (Ebda., S. 169f.)

gna 1551. Die Schrift ist Caterina de’ Medici gewidmet. Der Sieneser Girolamo Bargagli widmete seinen Dialogo de giuochi

285

Kliemann 1996, S. 288; Popp 2007, S. 201ff.

Isabella de’ Medici. Siehe Caroline P. Murphy: Isabella de’ Me-

286

Das Ende von Belloris 1664 gehaltener Akademierede paraphra-

dici. La gloriosa vita e la fine tragica di una principessa del Rina-

sierend, hat Kliemann seinen Aufsatz mit dem Satz ausklingen

scimento. Mailand 2011, S. 144f.

lassen: »Schon Bellori hat diesen Hinweis richtig erkannt: auch

281

Bargagli 1592, S. 179ff., 94f.

wir sollen schließlich schweigen, nur den Blick benutzen und

282

Ebda., S. 169f.

das Bild, die muta poesia, bewundern.« (Kliemann 1996, S. 311.)

283

Ebda., S. 170.

Tatsächlich ist die Stelle bei Bellori aber nicht derart eindeutig,

284

»[…] il quale si chiama il giuoco del Ritratto della vera bellezza,

wie die abschließende Aufforderung, das Kunstwerk mit ewi-

278

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

che betont hat.287 Unbeschreiblichkeitstopoi in Agucchis Beschreibung von Annibales Schlafender Venus und Ferrante Carlos Beschreibung von Lanfrancos Kuppelfresko in S. Andrea della Valle aufgreifend,288 beendete er 1664 seine Akademierede mit den Worten: »Da aber die Idee der Beredsamkeit der Idee der Malerei so weit nachsteht, wie alles Sichtbare wirksamer ist als Worte, gebricht es mir an Worten und ich schweige.«289 In der Widmung seines späten Textes über Carlo Marattas 1684 gemalte Dafne trasformata in lauro schrieb er: »Ein Blick ist mächtiger als tausend Zungen: ein Pinselschlag ist wirksamer als die Züge von tausend Federn.«290 Hatte schon Leonardo zwischen der linearen Struktur der Sprache und der Simultanität der bildlichen Darstellung differenziert und einen Vorrang der Malerei vor der Dichtung postuliert, so bekam dieser Standpunkt offenbar neue Nahrung durch die an Werke Raffaels anknüpfenden Bilderzählungen der Bologneser Maler. Diese hatten alle sein Hauptwerk in Bologna studiert, die Verzückung der Heiligen Caecilia (Abb. 161), in der Raffael, wahrscheinlich in Kenntnis der Paragone-Reflexionen Leonardos, den Wettstreit mit der Dichtung und der Musik aufgenommen hatte. In dem Altarbild für die Kirche San Giovanni in Monte hatte er im Typus der Sacra conversazione etwas mit den Mitteln der Malerei eigentlich nicht Darstellbares vergegenwärtigt, nämlich die auditio spiritualis himmlischer Engelschöre, welche Caecilia dazu bewog, vor dem Traualtar Keuschheit zu geloben. Das Gemälde bekundet einen emphatischen Begriff des Bildvermögens. Es zeigt, dass die Malerei die sinnliche Totalpräsenz der menschlichen Gestalt und ›göttliche‹ Harmonie ihrer Glieder »in lunga permanenzia« vor Augen stellen kann, welche, wie Leonardo betonte, die Dichtung nur sukzessiv zu beschreiben vermag, einen Teil

Abb. 161  Raffael: Die Verzückung der Heiligen Caecilia, um 1514, Bologna, Pinacoteca Nazionale

erst, »wenn der vorangegangene schon gestorben ist«.291 Mit dem genialen Einfall des Motivs der herabsinkenden Flöten, die sich aus dem verkehrt herum gehaltenen Organetto der dem Weltlichen Entsagenden lösen und im nächsten Moment auf dem Boden, neben

gem Lob zu feiern, zeigt: »[…] due giovini pastori […] l’uno di

287

Siehe Popp 2007, S. 161ff.

essi attende a riguardare con diletto le Nife ignude dentro l’ac-

288

Oskar Bätschmann: Giovan Pietro Belloris Bildbeschreibungen.

que, l’altro col dito alla bocca fa cenno e ci addita silenzio; siché

In: Boehm/Pfotenhauer 1995, S. 286.

tacendo con essi anche noi adopriamo lo sguardo solo ed am-

289

Zit. ebda., S. 292; Bellori 2009, Bd. 1, S. 25.

miriamo l’imagine, celebrando l’artifice con eterne lodi.« (Bel-

290

Zit. n. Bätschmann 1995, S. 287.

lori 2009, Bd. 1, S. 368.)

291

Leonardo 1995, 23f.; im ital. Wortlaut zit. auf S. 169, Anm. 32.

SPREC HENDE BI LD E R U N D S C H WE I G SA ME KÜ N S TLE R: ­D OME N ICHIN O U N D SE IN E JAGD DER DIANA

279

Abb. 162  Giulio Romano:

Herabgesunkene Triglyphen,

um 1530, Mantua, Palazzo del Te, östliche Fassade des Innenhofes

den weiteren defekten Instrumenten landen werden, demonstrierte Raffael zudem, dass auch die Malerei erzählen und über die Zeit verfügen, nämlich zukünftig sich Ereignendes zumindest andeuten kann.292 Daher hat Annibale Carracci, wie Bellori und Malvasia berichten, auf die Frage, ob Ariost oder Tasso der bessere Dichter gewesen sei, die Antwort gegeben: »Il più grande poeta presso a me […] è Raffaelle«.293 Dessen genialer Einfall der herabsinkenden Flöten des Organetto dürfte übrigens auch das Motiv der herabgesunkenen Triglyphen (Abb. 162) im östlichen Innenhof des

von Giulio Romano erbauten Palazzo del Te angeregt haben.294 Auch die Fresken in der Stanza dell’Incendio, insbesondere die Seeschlacht von Ostia und der Brand im Borgo, aus dem Domenichino einige Figuren in seinem Fresko Die Heilige Caecilia verteilt Almosen in der Cappella Polet in San Luigi dei Francesi paraphrasiert hat,295 waren für die Bologneser wichtige Anknüpfungspunkte. Denn in ihnen hatte Raffael bereits Gauricus’ Bewegungskategorien der »enárgeia«, »amphibolía« und »émphasis« angewandt,296 die auch für Domenichinos

292

295 Darunter

Siehe den Beitrag v. V.: Das Imaginäre als Erkenntnisleistung der Seele. Zur Verzückung der Heiligen Caecilia und weiteren Werken Raffaels. In: Ulrich Tadday (Hrsg.): Die Musik – eine Kunst

293

den an der Mauer hängenden Athleten und die ihre

Kinder verjagende Mutter (Popp 2007, S. 101). 296

In seinem 1504 veröffentlichten Traktat De sculptura hatte Gau-

des Imaginären? (Musik-Konzepte Neue Folge, Sonderband).

ricus mit dem Begriff »enárgeia« Bewegungsmotive, die auf

München 2016, S. 77–102.

etwas schon Geschehenes reagieren, mit dem Begriff Ȏmpha-

Malvasia 1678, Bd. 1, S. 480. Siehe auch Bellori 2009, Bd. 1, S. 84.

sis« solche, die auf ein zukünftiges Geschehen vorausweisen,

294 Wolfgang

Brassat: »Göttliche Malerei«, »unglückselige Musik«

und mit dem Begriff »amphibolía« solche bezeichnet, die nicht

und weibliche Ergebenheit. Raffaels »Heilige Caecilia« und ihre

über die Gegenwart des dargestellten Moments hinausweisen

Rezeptionsgeschichte. In: Klaus Ley (Hrsg.): Caecilia – Tosca –

(Gauricus 1969, S. 197–199; dazu Michels 1988, S. 77–80). Im

Carmen. Brüche und Kontinuitäten im Verhältnis von Musik

Brand des Borgo (Abb. 61) lässt sich an mehreren Figuren die

und Welterleben. Tübingen 2006, S. 54f.

Qualität der émphasis feststellen, u. a. an der Rückenfigur, die sich zum Papst wendet, und der von Vasari so gelobten Mutter,

280

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

Darstellung der schießenden Nymphen leitend waren.297 Durch die Analyse und Weiterentwicklung von Raffaels Bilderzählungen förderten die Bologneser Maler somit die Einsicht in die Alterität von Dichtung und Malerei und mit den Möglichkeiten der Bilderzählung, sich retardierender und vorgreifender Elemente zu bedienen, offenbar auch die stolze Auffassung vom Vorrang ihrer Kunst, wie sie nach Leonardo auch Bellori in den zitierten Texten bekundet hat. Wenn er in Domenichinos Jagd der Diana die Rezeptionsfigur des zum Betrachter blickenden Hirten als Aufforderung, zu schweigen, gedeutet hat, so sah er in ihr sicherlich einen Hinweis auf die für die Bildaneignung notwendige reflexive »cognitione rationale« im Gegensatz zur »cognitione sensitiva«, die durch den gaffenden Voyeur daneben repräsentiert ist.298 Bellori hat in Zusammenhang mit Domenichinos höchst intensivem Studium der Stanzen Raffaels dessen Äußerung überliefert, es sei unmöglich, in jahrelanger Arbeit entstandene Werke in einem Augenblick zu verstehen (»… e diceva essere impossibile che le fatiche de’ sapientissimi artefici, fatte in longo spazio di tempo e per corso di anni, altri subito le comprenda in una occhiata«).299 Die Jagd der Diana wird durch eine auf den ersten Blick gar nicht zu erfassende inhaltliche Verdichtung charakterisiert und erfordert somit reflexive Phasen der Bildaneignung und damit auch Pausen der individuellen Beteiligung am

geselligen Gespräch. Der gaffende und der den Finger auf den Mund legende Hirte in der Jagd der Diana und Belloris Deutung des Letzteren als Rezeptionshinweis zeigen, dass Domenichino, Agucchi und Bellori dieses Problem bewusst war. Domenichino war bekannt für sein langsames Arbeiten. Kritiker sagten ihm nach, durch seine Mühen raube er seinen Figuren die grazia.300 Der Künstler pflegte seiner Arbeit zurückgezogen und in absoluter Ruhe nachzugehen. Malvasia berichtet, er habe seiner Frau verboten, einen Hund zu halten, um nicht durch sein Bellen gestört zu werden, sein Haus habe wie das Dormitorium eines Klosters gewirkt, und nach Bellori konnte er nicht verstehen, dass andere Künstler sich beim Malen unterhielten.301 Mit der zeitraubenden konzentrierten Sorgfalt, mit der er im Stillen zeichnete und malte, oft aber auch tagelang untätig über invenzioni nachdachte,302 verkörperte Domenichino wie kein anderer die neue Professionalität und das Arbeitsethos, welche die Akademie der Carracci gefördert hatte. Verbunden mit seinem ungeselligen Auftreten und seinen eingeschränkten Fähigkeiten, eine Werkstatt zu leiten,303 disqualifizierte ihn dies für das Amt eines Hofkünstlers. Trotzdem fand Domenichino, der von An­ drea Sacchi und Nicolas Poussin verehrt wurde, Unterstützer und Fürsprecher u. a. in Annibale Carracci, Agucchi und Bellori. Zu den Fresken seiner Schüler im

die ihre Kinder verscheucht. Während diese Figuren den Gang

onsvorgaben nach, die einerseits auf eine affektive Einbezie-

der glücklich ausgehenden Handlung vorantreiben, blockiert

hung, andererseits auf eine reflexive Distanzierung zielen.

297

die Mutter, die ›gen Troja‹ blickt, also imaginiert, was Schreck­

299

Bellori 2009, Bd. 1, S. 358.

liches geschehen könnte, und ihr Kind ängstlich an sich zieht,

300

Siehe Popp 2007, S. 11ff., 43. Bellori berichtet, dass diese Kritik in

mit der enárgeia ihres Bewegungsmotivs diesen geradezu.

Neapel durch Verleumder vorgebracht wurde, und Domeni-

(Siehe Brassat 2003, S. 46ff. u. 70.)

chino, von dem es hieß, er verderbe seine Werke durch über-

Kliemann 1996, S. 282.

triebene Sorgfalt, auf Anordnung des spanischen Vizekönigs

298 Zu

der nach Agucchi notwendigen Verbindung von beidem,

Gemälde nach den Anweisungen des Caravaggisten Jusepe de

siehe ebda., S. 308f. Kliemann sieht ein analoges Motiv in den

Ribera vollenden musste, was eine ungeheuerliche Demütigung

beiden Nymphen im Wasser, deren hintere zu dem getroffenen

für ihn gewesen sein muss. (Bellori 2009, Bd. 1, S. 352–354.)

Vogel blickt und ihre Kameradin, sie an der Schulter fassend,

301

Popp 2007, S. 13; Bellori 2009, Bd. 1, S. 359: »Non poteva capire

darauf aufmerksam machen will, während diese den Betrachter

come certi conducono l’opere gravissime ciarlando in conversa-

fixiert und ihn somit zu einer inneren Distanzierung und zur Re-

zione«.

flexion auffordert (ebda., S. 290f.). Popp 2007, S. 142ff. weist an

302

Bellori 2009, Bd. 1, S. 358.

zahlreichen Werken Domenichinos unterschiedliche Rezepti-

303

Cropper 1998, S. 92.

SPREC HENDE BI LD E R U N D S C H WE I G SA ME KÜ N S TLE R: ­D OME N ICHIN O U N D SE IN E JAGD DER DIANA

281

Oratorio di San Andrea, dem Heiligen Andreas auf dem Weg zum Kreuz von Guido Reni und Domenichinos Geißelung des Heiligen Andreas, erklärte Annibale, die Reaktionen einer alten Frau mit einem Kind habe ihm gezeigt, dass Domenichino aufgrund der lebendigeren Darstellung der Affekte und klareren Bilderzählung den Vorzug verdiene.304 Rühmte man an Guido Reni seine grazia und unvergleichliche vaghezza und aria di teste, so haben Annibale und Bellori die profunderen Qualitäten Domenichinos gelobt.305 Und wenn Malvasia berichtete, Guido habe sich wütend gegen die Meinung gewehrt, sein Werk beruhe vor allem auf gottgegebenem Talent, er habe sein Können mühsam durch fortwährendes Studium und beharrliche Anstrengung (»con incessante studio, e con ostinata fatica«) erworben,306 so zeigt sich auch darin, dass das von den Carracci vermittelte Arbeitsethos ein Eigenrecht gegenüber dem Wertekanon des höfischen virtuoso und seiner divertimenti beanspruchte. Gleichwohl haben Annibale und Bellori, der den Bilderzählungen Raffaels seine auf alle erzählerischen Einzelheiten eingehenden, höchst ausführlichen Bildbeschreibungen gewidmet hat,307 in dem ungeselligen Domenichino den Pro-

304

305

tagonisten avancierter römischer Historienmalerei gesehen und seine anspruchsvollen Werke verteidigt – auch mit dem Hinweis auf die Schwierigkeiten ihrer Übersetzbarkeit in Sprache und der für sie erforderlichen rezeptiven Leistungen. Belloris Äußerungen bezeugen einen ersten fundamentalen Zweifel an der Möglichkeit der Versprachlichung von Kunst. Nicht zufällig wurde dieser in einer Zeit artikuliert, in der, wie z. B. die 1578 erschienene Philostrat-Übersetzung von Blaise de Vigenère308 und Tomaso Garzonis mit vielen Informationen zur Malerei aufwartendes enzyklopädisches Werk La piazza universale di tutte le professioni del mondo zeigen,309 das Vergnügen des geselligen Kunstgesprächs bereits eine Popularisierung erfahren hatte. Wie Christina Strunck ermittelt hat, wurden in Rom und seiner Umgebung im 17. Jahrhundert rund 100 neue Galerien errichtet oder eingerichtet.310 Vincenzo Scamozzi hat 1615 die Kunstsammlung charakterisiert als »un rittratto del grande e nobile animo del suo proprietario«.311 In Rom verfügten nicht nur mächtige Potentaten, sondern auch reiche Patrizier, ja sogar einige Künstler über solche Orte der Konversationskultur. In ihnen wird man sicherlich auch

Mosini 1947, S. 271f.; Thürlemann 1986; Popp 2007, S. 44ff.; Sheila

so in der gantzen Welt geübt werden: Deßgleichen Wann/ vnd

McTighe: The Old Woman as Art Critic: Speech and Silence in

von wem sie erfunden: Auch welcher massen dieselbige von Tag

Response to the Passions, from Annibale Carracci to Denis Di-

zu Tag zugenommen: Sampt außführlicher Beschreibung alles

derot. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, LXXI,

dessen/ so darzu gehörig … Gedruckt zu Franckfurt am Mayn/

2008, S. 239ff.

bey Nicolao Hoffman/ in Verlegung Lucæ Iennis. M.DC.XIX.)

Zu diesem topischen Vergleich siehe Popp 2007, S. 29–62 (»Do-

folgten drei weitere. Siehe Italo Michele Battafarano (Hrsg.): To-

menichino versus Guido Reni«), zu Annibales und Belloris posi-

maso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der frü-

tiven Bewertungen Domenichinos bes. S. 42ff., 61f. 306

Zit. ebda., S. 41.

307

Giovan Pietro Bellori: Descrizzione delle Imagini da Raffaelle

hen Neuzeit. Bern/Berlin [u. a.] 1991. 310

Christina Strunck: A Statistical Approach to Changes in the Design and Function of Galleries (With a Summary Catalogue of

d’Urbino Nelle Camere del Palazzo Apostolico Vaticano. Rom

173 Galleries in Rome and its Environs, 1500–1800). In: Dies./Eli-

1695.

sabeth Kieven (Hrsg.): Europäische Galeriebauten. Galleries in

308

Philostrate 1578.

a Comparative European Perspective, 1400–1800. Akten des In-

309

Erstdruck: Venedig (Giovanni Battista Somascho) 1585, danach

ternationalen Symposions der Bibliotheca Hertziana, Rom, 23.– 26. Februar 2005, München 2010, S. 221.

erschienen von 1587–1675 fünfundzwanzig Nachdrucke sowie zwei lateinische und eine spanische Übersetzung. Dem deut-

311

Zit. n. Christina Strunck: Berninis unbekanntes Meisterwerk.

schen Erstdruck (Piazza Vniversale, das ist: ALlgemeiner

Die Galleria Colonna in Rom und die Kunstpatronage des römi-

Schauwplatz/ oder Marckt/ vnd Zusammenkunfft aller Profes-

schen Uradels (Studien der Bibliotheca Hertziana, Bd. 20).

sionen/ Künsten/ Geschäfften/ Händlen/ vnd Handtwercken/

München 2007, S. 207.

282

AN N IBALE – CAR AVAGGIO – D OME N I CHINO

manche inkompetente Äußerung, ja zuweilen auch ärgerliches Geschwätz vernommen und werden die Künstler auch die schmerzliche Erfahrung gemacht haben, dass sich, wie schon Paleotti betont hatte, ein jeder seinen Reim auf das Kunstwerk macht,312 und dass ihnen durch die Praxis der spielerischen Rezeption ihre Werke auch gewissermaßen enteignet wurden.313 Da­rauf scheint schon im frühen 17. Jahrhundert das Verhalten einer kompetenten Gesprächsverweigerung reagiert zu haben, ein im Bewusstsein der Grenzen der Verbalisierung von Bildlichkeit auftretender, sich überlegen gebender Gestus des Schweigens. Dies belegt eine Anekdote, die zuerst in dem von Agucchi in den Jahren 1607 und 1615 verfassten, nur fragmentarisch überlieferten Trattato della pittura vorkommt und dann 1672 von Bellori und 1678 von Carlo Cesare Malvasia wiederholt wurde.314 Agucchi berichtet, dass Agostino Carracci gerne disputierte und sich selbstgefällig über seine Profession auszulassen pflegte. Nach einem – wohl 1599 erfolgten – Besuch des Laokoons habe er im Palazzo Farnese im geselligen Kreis einiger Hofleute des Kardinals und weiterer virtuosi eifrig über die berühmte Statuengruppe doziert, während Annibale schwieg. Aufgefordert, auch

etwas zum Gespräch beizutragen, habe dieser erklärt, er könne den Ausführungen seines Bruders nichts hinzufügen. Als daraufhin geargwöhnt wurde, er habe den Laokoon gar nicht gesehen oder könne sich an ihn schon nicht mehr erinnern, zeichnete Annibale diesen flugs an die Wand und erklärte: »Noi altri Dipintori habbiamo da parlare con le mani. (Wir Maler haben mit den Händen zu sprechen.)«315 Dass später selbst ein brillanter Redner wie Gianlorenzo Bernini316 die Konversation über die Künste als eine nicht selten lästige Pflichtaufgabe ansah, geht aus Paul Fréart de Chantelous Tagebuch seines FrankreichAufenthaltes hervor. In Paris sollte Bernini das große Urteilsvermögen Chantelous mit den Worten loben: »In fine M. de Chantelou è un huomo che intende per aria.« (»Kurzum, der Herr von Chantelou begreift ohne große Worte.«)317 Schon drei Wochen zuvor hatte der Cavaliere Chantelou eine Handzeichnung mit dem Heiligen Hieronymus gezeigt: »Er sagte, sie sei die Frucht des gestrigen Abends und bei einem Kenner wie mir reiche es aus, die Zeichnung zu zeigen ohne darüber zu sprechen.«318 Wenn alle Welt über die Künste parliert, erlaubt sich der Künstler zu schweigen.

312

Siehe das Zitat auf S. 209.

316

313

Zur Sorge der Künstler um adäquate Rezeptionsbedingungen

parlare che nel figurare«. Zit. n. Strunck 2007, S. 220, dort weitere

siehe Kemp 1992a.

Zitate zu Berninis rhetorischen Fähigkeiten.

314 Giovanni

Battista Agucchi: Trattato della pittura. In: Mahon

317

1947, S. 252ff.; Bellori 2009, Bd. 1, S. 43f.; Malvasia 1678, Bd. 1, S. 480; vgl. Kanz 2002, S. 240f. 315 Giovanni

Battista Agucchi: Trattato della pittura. In: Mahon

1947, S. 254.

Sforza Pallavicino charakterisierte ihn als »non men potente nel

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 255; Chantelou 2001, S. 278 (Eintrag vom 20. Oktober 1665).

318

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 191; Chantelou 2001, S. 213: »[…] qu’à moi qui avais la connaissance, il suffisait de me faire voir sans me parler davantage.« (Eintrag vom 30. September 1665.)

SPREC HENDE BI LD E R U N D S C H WE I G SA ME KÜ N S TLE R: ­D OME N ICHIN O U N D SE IN E JAGD DER DIANA

283

KAPITEL VI

284

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

ZUR MALEREI DER RUBENS-ZEIT

Beginnend mit Fra Angelicos Pala di San Marco haben wir die komplexen Operationen einer selbstreflexiven Malerei analysiert. Ein hohes Kognitionsniveau zeigte sich in diesem Werk in der Akzentuierung des eigenen stilistischen Habitus durch den Vergleich mit dem integrierten Gnadenbild. In Botticellis Primavera verdankten sich einem solchen die Qualitäten einer gesprächsfördernden Rätselhaftigkeit und semantischen Offenheit des Kunstwerks. Im Œuvre Raffaels kamen Strategien der kritischen Entgegnung und ironischen Referenz auf Werke seines Konkurrenten Michelangelo hinzu, durch die z. B. die Transfiguration die zusätz­ liche Dimension einer kunsttheoretischen Allegorie erhielt. Die Kunst des 16. Jahrhunderts förderte ihren kommunikativen Gebrauch durch eine gesuchte Originalität, das Enigmatische, Mehrdeutige und Hermetische. Sodann irritierte und brüskierte Caravaggio planvoll Seherwartungen der Betrachter und überschritt den Horizont der humanistischen Kunsttheorie. Fanden seine Verfahren, wie erwähnt, zunächst nur eine seine Radikalität vermeidende Nachahmung, wurden seine Unbestimmtheiten, Polysemien und Differenzierungen von Alltags- und Kunstwahrnehmung doch fortan auf weitere Themen übertragen, wie in diesem Kapitel an Werken des flämischen Barock gezeigt wer-

1

den soll.1 Der Prozess der Ausdifferenzierung der Kunst war bereits weit fortgeschritten und dabei hatte das Sammlerbild schon im 16. Jahrhundert das Altarbild als Leitmedium künstlerischer Selbstreflexion abgelöst,2 was nun in neuen Bildformen bedacht wurde.

Die Konversation über die Künste als Bildthema: Die Anfänge des Galeriebildes

Welche Bedeutung die frühneuzeitliche Konversationskunst erlangte, zeigt sich nicht zuletzt an ihrer zunehmenden Bildwürdigkeit. Neben dem erzählenden Porträt entwickelte sich, ausgehend von Darstellungen der Laster und der fünf Sinne, im frühen 16. Jahrhundert auch das Gesellschafts- und Konversationsstück, das vornehme Personen im Gespräch, beim Musizieren und beim Spiel zeigt.3 Dagegen existieren kaum Bilddokumente des 16. Jahrhunderts, die uns einen lebendigen Eindruck von der Kunstrezeption dieser Zeit vermitteln. Erst im frühen 17. Jahrhundert entstand in Antwerpen in der Tradition der Lukas-, Apelles- und Pictura-Darstellungen der Typus des sogenannten ›Ga-

torischen Stildynamik ausgegliedert« wurde (ebda., S. 298f.),

Zentrale Themen und Gattungen einer selbstreflexiven Malerei waren weiterhin der Paragone und das Selbstbildnis des Künstlers. Siehe dazu Winner 1989; Ausstellungskatalog München

2

­sicherlich der Differenzierung bedarf. 3

Siehe Marjorie E. Wieseman: The Art of »Conversatie«: Genre

2002.

Portraiture in the Southern Netherlands in the Seventeenth

Siehe Stoichita 1998. Luhmann betonte, dass man nun davon

Century. In: Peter C. Sutton: The Age of Rubens. Ausst.-Kat. Bos-

auszugehen hatte, »daß Kunst als solche kein religiöses Phäno-

ton, Museum of Fine Arts, Toledo Museum of Art, Gent 1993,

men sei« (Luhmann 1995, S. 298), wobei seine Bewertung, nach

S. 183–193.

der »die Sakralkunst auf Devotion ausgerichtet und aus der his-

285

Abb. 163  Willem van Haecht: Die Kunstkammer des Cornelis van der Geest, 1628, Antwerpen, Rubenshuis

leriebildes‹.4 Das bekannte, 1628 von Willem van H ­ aecht ausgeführte Beispiel Die Kunstkammer des Cornelis van der Geest (Abb. 163) vergegenwärtigt die von dem Maler seit 1627 betreute Kunstsammlung des reichen Antwerpener Kaufmanns in seinem Haus an der nahe der

4

5

Schelde gelegenen Mattenstraat.5 Die von van Haecht dargestellten Personen und Kunstwerke konnten fast alle identifiziert werden, wobei das evozierte Zusammentreffen derselben so nie stattgefunden hat. Das Gemälde zeigt links im Vordergrund den Erzherzog Albert

Siehe zu dieser Gattung Kurt Wettengel: Kunst über Kunst. Die

flämischen Malerei. Ausst.-Kat. Köln, Wallraf-Richartz-Mu-

gemalte Kunstkammer. In: Ausstellungskatalog München 2002,

seum, Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten,

S. 127–141 (mit umfangreichen Literaturhinweisen). Das älteste

Wien, Kunsthistorisches Museum, Köln 1992, S. 44ff. u. S. 373ff.

erhaltene Beispiel von Frans Francken d. J. stammt aus dem Jahr

(Kat.-Nr. 53.1); Karl Schütz: Das Galeriebild als Spiegel des Ant-

1612. Denkbar ist, dass der Maler diese Gattung bereits kurz nach

werpener Sammlertums. In: Ebda., S. 161–170; Welzel 1997; Stoi-

1600 begründet hat (ebda., S. 129).

chita 1998, S. 157ff.; Sebastian Schütze: Das Galeriebild und seine

Siehe Ekkehard Mai: Pictura in der »constkamer« – Antwerpens

Bedeutungshorizonte, in: Agnes Husslein-Arco/Tobias G. Natter

Malerei im Spiegel von Bild und Theorie. In: Ders./Hans Vlieghe

(Hrsg.): Fürstenglanz. Die Macht der Pracht. Ausst.-Kat. Wien,

(Hrsg.): Von Bruegel bis Rubens. Das goldene Jahrhundert der

Belvedere, Wien 2016, S. 64–73.

286

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Abb. 164  Konversation treibende Paare in einer Galerie, Kupferstich aus: Georg Philipp Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächsspiele. Nürnberg 1641–49

und die Erzherzogin Isabella, die dreizehn Jahre zuvor das Haus des Patriziers besucht hatten, in Begleitung der Gräfin von Arenberg, Ambrogio Spinolas und des Bürgermeisters Nicolaas Rockox. Peter Paul Rubens steht rechts hinter dem Erzherzog, der den Erläuterungen seines Hofmalers Gehör schenkt, es folgen Ladislaus Sigismund von Polen, Anthonis van Dyck im Gespräch mit Jan van Montfort, Cornelis van der Geest, der auf die von zwei Pagen präsentierte Madonna mit den Kirschen von Quentin Massys hinweist, die das Erzher­zogenpaar zu kaufen wünschte, weitere Künstler und Adlige. Das Gemälde preist den »artis pictoriae amator«, wie van der Geest auf seinem Bildnis in van Dycks Iconographia, einer Sammlung von Porträtstichen, bezeichnet ist, demonstriert die Anerkennung, die dem Mäzen zukommt, dessen mit seinem Namen (Geest = Geist) spielendes Motto auf dem Türsturz unter seinem Wappen zu lesen ist: Vive l’Esprit. Augenscheinlich bewegt sich in van Haechts Darstellung die Kunstrezeption zwischen den Ansprüchen von Repräsentation und Geselligkeit. Offenbar mit kollegialem Stolz hat der Maler Rubens’ unaufdringlich ehrerbietiges Verhalten und die selbstsichere Eleganz seines Schülers van Dyck in Szene gesetzt. Wenngleich

6

fern vom Regentenpaar auch einige ganz in die betrachteten Objekte vertiefte Liebhaber zu sehen sind, fällt doch vor allem das gemessene Verhalten der Dargestellten ins Auge. Dies ist angesichts des hochherrschaftlichen Besuchs, den van der Geest verewigt sehen wollte, nicht erstaunlich und tatsächlich charakteristisch für die gesamte Gattung dieser gemalten Diskurse über die Künste, die sich dem Besitzerstolz reicher Patrizier verdankte. Auch in ihren Kreisen wirkten die Normen adligen Verhaltens. Selbst die Illustrationen der Frauenzimmer Gesprächspiele von Georg Philipp Harsdörffer, in denen es ausdrücklich um erheiternde, u. a. um »Gemählspiele« geht, geben keinen Eindruck leutseliger Ausgelassenheit. So zeigt der Frontispiz des fünften Teils dieser in den 1640er Jahren in Nürnberg publizierten Schrift Paare, die gemessenen Schrittes in einer mit Herkules-Tapisserien behangenen Galerie lustwandeln (Abb. 164).6 Die Personen bewegen sich in ostentativer Übereinstimmung mit den höfischen Normen, so als wollten sie nicht nur ihre Vornehmheit, sondern auch die erzieherische Wirkung der Kunst unter Beweis stellen. Wie sich hier zeigt, weist das, was sich an Bildbelegen zum Thema ›Kunst und Geselligkeit‹ anführen lässt, blinde Flecken auf. Es gibt kaum Dar-

Zu Harsdörffers Schrift und der dortigen Deutung der im Frontispiz dargestellten Herkules-Tapisserien siehe unten, S. 361ff.

D ie Konversation über die Künste als B ildthema: D ie Anfänge des Galeriebildes

287

Abb. 165  Frans Francken II:

Pictura-Allegorie, 1636, London,

Johnny van Haeften

stellungen eines ausgelassenen Umgangs mit Kunstwerken, obwohl sich ein solcher bei den noch zu behandelnden »Gemählspielen« doch zuweilen eingestellt haben wird. Eher noch vermittelt die signierte und auf 1636 datierte Allegorie der Malerei (Abb. 165), eines der Galeriebilder von Frans Francken d. J., der diese Gattung wohl um 1608 begründet hat,7 den Eindruck eines heiteren, von Musik und Wein begleiteten Umgangs in lockerer Assoziation. Es zeigt die Schwestern Malerei und Poesie mit einem Laute spielenden Edelmann um einen Tisch gruppiert. Neben ihnen steht am rechten Bildrand ein Künstler, wahrscheinlich Francken selbst, der ein ovales Gemälde in den Händen hält, ein Selbstporträt von Quentin Massys, dem Ahnen des Antwerpener Romanismus.8 Dahinter verständigen sich weitere Personen über ein Porträt, während im rückwärtigen Raum zwei

Männer an einer reich gedeckten Tafel bedient werden. Die Assoziation an Symposien scheint in diesem Gemälde, das auch eine Darstellung der fünf Sinne ist, intendiert zu sein, denn tatsächlich war der Zusammenhang von Festmahl, Konversation und Kunstgenuss ein vitaler, bis hin zum Goethekreis in Weimar, in dem man oft nach dem Dessert Druckgraphik betrachtete, und noch darüber hinaus.9 Freilich malt Franckens Pictura an einem Urteil des Midas, der in dem musischen Wettstreit zwischen Apoll und Pan ungeachtet der gött­ lichen Macht dem Flötenspiel des letzteren den Vorzug gab und dafür mit Eselsohren bestraft wurde. Im Sinne des apollinischen Prinzips, das sich so gewaltsam ins Recht setzte, scheint auch in Franckens Gemälde die reine Sinnenfreude ins moralische Abseits gedrängt zu sein – zum Lob der sie sublimierenden Malerei, in deren Nähe zwar prunkvolle Weinkrüge stehen, aber

7

8

Vgl. Anm. 4 sowie Ursula Härting: Studien zur Kabinettbildmale-

Kurt Wettengl: Frans Francken d. J.: Bildersaal mit malender Pic-

rei des Frans Francken II. 1581–1642. Hildesheim 1983, S. 90ff. u.

tura. In: Ausstellungskatalog München 2002, S. 384 (Kat.-Nr.

150.

167). 9

288

Vgl. S. 32, Anm. 117.

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

kein Glas zur Hand ist. Zudem zeigt das größte aller Gemälde des Bildersaals, das an der Rückwand über dem Buffet hängt, eine allegorische Darstellung des Sieges der Künste über die Laster: Über den auf dem Parnass versammelten Personifikationen der Künste und Wissenschaften schweben Fama und die olympischen Götter, rechts im Hintergrund fliehen die Laster. Dennoch ist Frankens Allegorie nicht als ein strikt moralisierendes Bild zu lesen. Die Szenen in Vorderund Hintergrund, deren korrespondierende Räume dem Kompositionsschema der invertierten Historien Pieter Aertsens folgen,10 sind nicht allein antithetisch konzipiert, sondern weisen auch Gleichklang und Ähnlichkeiten auf. So korrespondiert dem rechts im Hintergrund an der Tafel sitzenden Mann, der vornehm mit zwei Fingern seiner Rechten den Fuß des Weinglases hält, die Gestalt Apolls in dem Gemälde auf der Staffelei: Beide Figuren erscheinen in ihrer fast spiegelsymmetrischen Anordnung und ähnlichen malerischen Präsenz als Äquivalente. Es ist dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass es Francken eher um Komplexität, als um eine eindeutige Sinnsetzung ging, dass er Dissens in Kauf genommen, ja angestrebt hat.11 Die Rede und Gegenrede, welche die Differenzen oder Ähnlichkeiten beider Szenen betonen und für und wider die Sinnenfreuden argumentieren werden, sind in dem Gemälde vorprogrammiert.12 Ihm lässt sich entnehmen,

dass zu dieser Zeit auch über die rechte Art des Umgangs mit Kunstwerken diskutiert wurde und dass dabei hohe Normen im Raum standen. Dies gibt uns Anlass, mit der Genese dieses Bildtypus die erstaunliche Tatsache zu bedenken, dass erst mit ihm die gesellige Kunstrezeption Bildwürdigkeit erlangte, die, wie wir gesehen haben, ein seit mindestens anderthalb Jahrhunderten etabliertes Verhaltensmuster war und in der Kunstproduktion und -theorie längst Resonanz gefunden hatte. In dieser Hinsicht ist signifikant, dass die Galeriebilder, die als gemalte Diskurse über die Künste entstanden und erst allmählich der Funktion der Dokumentation realer Sammlungen nachkamen,13 zunächst für bürgerliche Sammler hergestellt wurden. Die Gattung verdankte sich somit der Aufweichung der Privilegien des Adels und Verbreitung seiner Verhaltensformen,14 vor allem der zunehmenden bürgerlichen Partizipation am Kunstgeschehen. Zu den repräsentativen Tätigkeiten des Hochadels gehörten das Zeremoniell, der Krieg, die Jagd und das Fest, weniger hingegen die unspektakulären Vergnügungen der Kunstrezeption.15 Seinen kollektiven Umgang mit Kunstwerken hatte der Hof zudem nicht ausgestellt, weil in diesem Rahmen die Artefakte tendenziell ästhetisch freigesetzt wurden, was ihrer Funktion der herrscherlichen Repräsentation zuwiderlief. Dies war offenbar der Grund, warum der gesellige Kunstgenuss, bei

10

Vgl. Stoichita 1998, S. 16ff.

13

Wettengl 2002, S. 130.

11

Natürlich geht es um die Nobilitierung der Malerei und um den

14

So wurde der von Castiglione formulierte Verhaltenskodex bereits von Giovanni della Casa in seiner Schrift Il Galateo (1558)

rechten Kunstverstand. Doch während in weiteren Werken

12

Franckens d. J. und in Rubens’ und Jan Bruegels Allegorie Das

auf Alltagssituationen jenseits des Hofes übertragen. Stefano

Gesicht (Madrid, Prado) antithetische Motive im Sinne einer

Guazzos Civil Conversazione (1574; deutsch: Vom bürgerlichen

deutlichen Bildaussage instrumentiert sind [siehe Ausstellungs-

Wandel, 1599), ein Buch, das Schmölders als »kaufmännische

katalog München 2002, S. 382f., Kat.-Nr. 164; Justus Müller-­

Umgangslehre« charakterisiert hat (Schmölders 1986, S. 42),

Hof­stede: »Non saturatur Oculus Visu« – zur »Allegorie des Ge-

»wandte sich an alle Stände und Schichten. Es nahm sich vor,

sichts« von Peter Paul Rubens und Jan Bruegel d. Ä. In: Ders./

den Menschen nicht für den Auftritt am Hof vorzubereiten, son-

H. Vekemann (Hrsg.): Wort und Bild in der niederländischen Li-

dern für die entscheidenden Lebenssituationen, für den Um-

teratur des 16. und 17. Jahrhunderts. Erftstadt 1984, S. 249, 261ff.],

gang der Menschen miteinander in allen Berufen, Ständen und

sind an dieser Allegorie ihre ambivalenten Elemente hervorzu-

Altersgruppen, aber auch in Familie, Ehe und Haushalt. Obwohl

heben.

sich schon der ›Galateo‹ den mittleren Ständen geöffnet hatte,

Vgl. Ekkehard Mai: Allegorie der Pictura. In: Ausstellungskatalog

war Guazzos ›Conversazione‹ am ehesten das, was man ein Auf-

Köln 1992, S. 372, der bereits betonte, dass sich der dargestellte

klärungsbuch nennen könnte.« (Mauser 1989, S. 14.)

Wohlstand sowohl in bono, als auch in malo deuten lässt.

15

Dem entspricht, dass die Zeremonialliteratur bis ins 18. Jahr-

D ie Konversation über die Künste als B ildthema: D ie Anfänge des Galeriebildes

289

Abb. 166  Frans Francken II:

Kunstkabinett mit ikonoklastischen Eseln, 1612–14, Bayerische ­Staatsgemäldesammlung, Leihgabe Bayreuth, Schloss

dem es schnell um die autoritative Geltung des Kunstwerks geschehen war, erst mit einer Gattung bildwürdig wurde, die sich bürgerlichen Repräsentationsbedürfnissen verdankte. Daneben waren für die Entstehung des Galeriebildes, das zunächst nur in Antwerpen und erst mit zeitlicher Verzögerung in den habsburgischen Niederlanden und dann auch über sie hinaus Verbreitung fand, lokalhistorische Faktoren entscheidend. Antwerpen hatte seit 1566 protestantische Bilderstürme erlebt. Diese existentielle Bedrohung seines Berufsstandes reflektierte Frans Francken d. J. in mehreren Galeriebildern, in denen er, wie in seinem Kunstkabinett mit ikonoklastischen Eseln von 1612–14 (Abb. 166),16 der ver-

hundert stets die Schlösser, die Tapisserien, das Prunksilber etc.

16

meintlich blinden Zerstörungswut der Bilderstürmer verständige Rezipienten gegenüberstellte. Nachdem die Handelsmetropole 1585 durch Alessandro Farnese erobert worden war, erlebte sie eine Phase der Konsoldierung, erneuten wirtschaftlichen Prosperität und Blüte der Künste. Dass diese nunmehr in der neuen Form des Galeriebildes reflektiert wurde, stand offenbar unmittelbar in Zusammenhang mit neuen Organisationsformen des Kunstsystems. Denn im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts wurden ortsansässige Sammler und Kunsthändler als »Liefhebbers der schildereyen« in die Antwerpener Lukasgilde aufgenommen – der erste 1602, vier folgten 1607 und weitere schlossen sich in den folgenden Jahren an.17 Seit den frühen 1620er

17

Ph. Rombouts/Theodore van Lerius: De Liggeren en andere his-

als erste Zeichen der herrscherlichen Magnifizenz aufführte

torische archieven der Antwerpsche Sint Lucasgilde, Bd. 1, Ant-

und Gemälde, wenn überhaupt, zumeist erst am Ende solcher

werpen 1872 (ND Amsterdam 1961), S. 419f., 440 u. 612f.; Eliza-

Auflistungen (siehe Brassat 1992, S. 126ff.).

beth Alice Honig: Painting and the market in early modern Ant-

Siehe Stoichita 1998, S. 137ff.; Ausstellungskatalog München

werp. New Haven/London 1998, S. 202; Wettengl 2002, S. 127.

2002, S. 380f. (Kat.-Nr. 164.)

290

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Abb. 167  Gillis van Tilborch:

­Liebhaber in einer Kunstkammer,

1660er Jahre, Lawrence, Kansas, Spencer Museum of Art

Jahren hielten sodann Maler und Liebhaber Bankette ab, bei denen Künstler, Händler und potentielle Käufer versammelt waren, eine Praxis, die z. B. das Gemälde Liebhaber in einer Kunstkammer von Gillis van Tilborch bezeugt (Abb. 167).18 Wie Kurt Wettengl betont, reflektieren die Galeriebilder die Anfänge der »Institution Kunst« (Peter Bürger), »die rege künstlerische Produktion, das Netzwerk von Künstlern, Händlern und Sammlern« und die Entstehung großer bürgerlicher Sammlungen.19 In ihnen beobachtete und beschrieb das Kunstsystem sich selbst als autonom, als einen begrenzten Raum, der mit der vor Augen geführten Kunstsammlung auch die in den Themen und Arrangements der Gemälde präsente Theorie der Kunst20 und das für

das System unerlässliche Gedächtnis beinhaltet.21 Viele Galeriebilder eröffnen Blicke auf die Außenwelt, die im Fall der geöffneten Fenster und Türen der Kunstkammer des Cornelis van der Geest (Abb. 163) die Identität des Ortes topographisch ausweisen – durch die Fenster ist die Schelde zu sehen –, aber auch die Umwelt des Systems repräsentieren, in der man anderen Tätigkeiten nachgeht. Als enzyklopädische Sammlungsform ist das Liebhaber-Kabinett Spiegel der Welt, zugleich aber auch ein gesonderter Raum der Kunst. In Franckens Kunstkabinett mit ikonoklastischen Eseln (Abb. 166) erscheint das Draußen als Abgrund, als Negation des Systems. Deren historische Erfahrung in den Zeiten der Bilderstürme war zweifellos für die Genese des Galerie-

18

20

Vgl. Wettengl 2002, S. 134f. (mit einem weiteren aussagekräftigen Gruppenporträt).

19

gemalten Bildergalerien des 17. Jahrhunderts zu Antwerpen. Köln 1957; Stoichita 1998, S. 125ff.

Ebda., S. 127. Zum Begriff der »Institution Kunst« siehe Peter Bürger: Vermittlung – Rezeption – Funktion. Ästhetische Theo-

Dazu Matthias Winner: Die Quellen der Pictura-Allegorien in

21

Vgl. Luhmann 1995, S. 305.

rie und Methodologie der Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1979, S. 173ff.

D ie Konversation über die Künste als B ildthema: D ie Anfänge des Galeriebildes

291

Abb. 168  Adriaen van Stalbemt:

Liebhaber-Kabinett, 1620er Jahre,

­Madrid, Prado

bildes grundlegend, das ja eine neue, theologisch unbedenkliche Einrichtung des Kunstsystems repräsentierte, welches sich damals unabhängig von der Kirche im bürgerlichen Milieu Antwerpens neu konstituierte und eigene Strukturen ausbildete. Franckens Kunstkammer mit ikonoklastischen Eseln vergegenwärtigt in der Bildtradition der Hölle und anverwandter Themen die Negation des Kunstsystems durch die Bilderstürmer, als deren ridiküles Diminutiv in der Kunstkammer ein auf dem Boden zwischen Nussschalen, neben einem Landschaftsbild sitzender angeketteter Affe fungiert, der uneinsichtige Rezipienten repräsentiert.22 Da die Kunstsammlung kein Ort des sakralen Bildgebrauchs ist, steht zu erwarten, dass in ihr Ignoranten lediglich desinteressiert sein werden, nicht aber gewaltbereit: Das System reflektiert also seine Vergangenheit und offene Zukunft.

22

Wie dieses Werk zeigen auch das Liebhaber-Kabinett von Adriaen van Stalbemt in Madrid (Abb. 168) und weitere Versionen in Baltimore und Paris die Negation einer Negation des Systems. Die Gefahr des Bildersturms erscheint hier bereits gebannt in ein Bild, nämlich das auf dem Boden stehende Gemälde, das von den beiden Edelleuten in der Mitte des Raumes betrachtet wird. Es zeigt ein der dargestellten Kunstkammer ähnliches Studiolo, dessen Inventar von tierköpfigen Ikonoklasten zerschlagen wird. Doch über diesem Bild und seinen Betrachtern hängt an zentraler Stelle auf der Rückwand des Raumes eine Allegorie der Malerei, in der die Bedrohung der Künste bereits überwunden ist (Abb. 169). Das Gemälde repräsentiert die Pictura, die von einem ikonoklastischen Esel angegriffen wurde. Nun aber hilft ihr der Ruhm wieder auf, während Minerva mit ihrer Lanze die links am Boden kauernde

In einer weiteren, geringfügig veränderten, wohl von Hierony-

sitzt der Affe vor dem Landschaftsgemälde und blickt auf dieses.

mus Francken d. J. gemalten Version dieses Bildes (Privatbesitz)

Siehe Stoichita 1998, S. 139, Abb. 58.

292

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Abb. 169  Adriaen van Stalbemt: Liebhaber-Kabinett, Detail

monströse Kreatur in Schach hält.23 Auch in dieser Darstellung reflektierte das Kunstsystem seine Vergangenheit und offene Zukunft.24 Den Autonomiebestrebungen der Künste waren in der feudalistischen Ständegesellschaft Grenzen gesetzt. Gleichwohl sahen sich die Kirche und der Hof durch die Autonomiepostulate solcher Galeriebilder herausgefordert: Für kirchliche Abnehmer entstanden

23

daraufhin Varianten, wie Frans Franckens d. J. Allegorie der Pictura Sacra (Abb. 170) »mit einer Personifikation der Malerei, die ihre Werke aus religiöser Vision erschafft«.25 In ihnen wurde abermals die sakrale Funktion der Bilder legitimiert und ein kultureller Führungsanspruch der katholischen Kirche reklamiert. Später sollte dann David Teniers d. J. wiederholt den Erzherzog Leopold Wilhelm beim Besuch seiner Gemäldegalerie in Brüssel darstellen und die Gattung damit den Ansprüchen des Herrscherlobs unterwerfen.26 In diesen gemalten Inventaren sind häufig auf den Rahmen der repräsentierten Gemälde die Namen ihrer Urheber eingetragen, so z. B. in dem Gemälde aus dem Jahr 1647 (Abb. 171), das als Geschenk an Leopold Wilhelms Vetter, den spanischen König Philipp IV., ging.27 In ihm hat Teniers, der 1660 mit dem Theatrum pictorium auch das erste Galeriewerk vorlegen sollte, eine druckgraphische Folge von Nachstichen der Gemälde der Erzherzoglichen Sammlung, eine real existierende Bilderfülle abgebildet, wie sie in keiner bürgerlichen Sammlung zu finden war. Diese Entgegnungen auf die Autonomiepostulate der angeführten Galeriebildern dürften wohl auch Rückschlüsse erlauben auf die, wie Wettengl betonte, unbeantwortete Frage, warum das Galeriebild in den nördlichen Niederlanden, insbesondere in der Kunstmetropole Amsterdam, nicht übernommen und weiterentwickelt wurde.28 In Antwerpen mussten die Bemühungen, das System der Künste nach den Bilderstürmen auf neue

Vgl. Stoichita 1998, S. 145ff. (mit weiteren Detailabbildungen),

deutung relativiert. (Siehe Kurt Wettengl: Jan Bruegel d. J.: Alle-

der das Werk Hieronymus Francken d. J. zuschreibt. Zu den wei-

gorie der Malerei, um 1625. In: Ausstellungskatalog München

teren Versionen in Paris und Baltimore siehe Kurt Wettengl:

2002, S. 382f., Kat.Nr. 165, der diese deutliche Distanzierung al-

Adriaen van Stalbemt: Liebhaberkabinett (Allegorie der Male-

lerdings nicht berücksichtigt, sondern das verdeckte Gemälde

rei), erstes Drittel 17. Jahrhundert. In: Ausstellungskatalog Mün-

sogar als sinnstiftendes Zentrum der Allegorie interpretiert.)

chen 2002, S. 383 (Kat.-Nr. 166). Dass das Kunstsystem sich mit

24

Vgl. Luhmann 1995, S. 305 sowie Kemp 1992a.

dem Sammlerwesen aus der Obhut der Kirche emanzipierte,

25

Wettengl 2002, S. 131.

scheint auch Jan Bruegel d. J. in seiner Allegorie der Malerei

26

Ausstellungskatalog Köln 1992, S. 380ff.; Wettengl 2002, S. 135f.

(Niederlande, Privatbesitz) reflektiert zu haben, einem um 1625

sowie Sabine Haag (Hrsg.): Sammellust. Die Galerie Erzherzog

entstandenen Galeriebild. In diesem wird eine Darstellung der von zwei Engeln gehaltenen Vera Icon durch das davorstehende

Leopold Wilhelms. Ausst.-Kat. Wien, KHM, Wien 2014. 27

Siehe Victor I. Stoichita: Malerei und Skulptur im Bild – das

Fest des Achelous von Rubens und Jan Bruegel d. Ä., eine bac-

Nachdenken der Kunst über sich selbst. In: Ausstellungskatalog

chantische Szene, weitgehend verdeckt, somit als ein künstle-

München 2002, S. 10ff.

risch wenig interessantes Kultbild distanziert und in seiner Be-

28

Wettengl 2002, S. 128.

D ie Konversation über die Künste als B ildthema: D ie Anfänge des Galeriebildes

293

Abb. 170  Frans Francken II:

Allegorie der Pictura Sacra, 1616–20,

Budapest, Szépmüvészeti Muzeum

Abb. 171  David Teniers d. J.:

E­ rzherzog Leopold in seiner Brüsseler Galerie, 1647, Madrid, Prado

294

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Grundlagen zu stellen, mit den alten Ansprüchen der Kirche und des Hofes austariert werden. Auf Grund des Fehlens einer sich der Bilder bedienenden Kirche und eines prunkliebenden Hofes waren solche gemalten Selbstvergewisserungen in Holland hingegen überflüssig.

Achtungserfolg in Spanien: Rubens’ Demokrit und Heraklit

Zeitnah zur Entstehung der Antwerpener Galeriebilder geschah ein kapitales Ereignis der lokalen und überregionalen Kunstgeschichte: die Rückkehr des Peter Paul Rubens aus Italien im September 1608. Als rund zwei Jahre später die Verwaltung der Stadt St. Winoksbergen ein Abendmahl für den Hauptaltar der dortigen Benediktinerabtei stiften wollte und in Antwerpen anfragen ließ, wer der beste Maler der Stadt sei, erhielt sie von dem Kaufmann Jan Le Grand in einem Brief vom 12. März 1611 eine Antwort, die ihm offenbar nicht schwergefallen war: »Wir haben hier einen großen Meister, der der Herrgott der Maler genannt wird, Peeter Rubens, es ist der Maler seiner Hoheit«29 (des Erzherzogs Albert). Vor seiner Rückkehr in die Heimat war Rubens seit dem Jahr 1600 als Hofmaler in Mantua, in den Diensten des Herzogs Vincenzo Gonzaga tätig gewesen. Gebildet, beredt, konziliant und zuverlässig, hatte der damals 23-Jährige offenbar bald dessen Vertrauen gewonnen, denn schon im Oktober 1600 zählte er zu der Gefolgschaft, die den Herzog nach Florenz begleitete zur Feier der Trauung der Maria de’ Medici, seiner Schwä-

29 30 31

gerin, mit dem französischen König Heinrich IV. Es scheint, dass Vincenzo Gonzaga, dessen einzige überlieferte Äußerung über Rubens sein Urteil ist, dass dieser »recht ordentlich Porträts malen konnte«,30 den Künstler vor allem als gewandten Hofmann geschätzt hat. Denn rund zwei Jahre später betraute er ihn mit einer diplomatischen Mission an den spanischen Hof,31 eine Wahl, für die auch gesprochen haben mag, dass er seinen geschätzten Hofmaler Franz Pourbus d. J., den ›Pittore et Cameriero della Chiave dell’Oro dell’Altezza di Mantova‹, daheim nicht entbehren wollte. Der Anlass dieser Mission war das Zerwürfnis zwischen Giovanni Andrea Doria, dem Herzog von Genua, und König Philipp III. Die Doria waren neben den Gonzaga die wichtigsten italienischen Verbündeten der Weltmacht Spanien. Da kurz zuvor Giovanni Andrea Doria in Ungnade gefallen und seines Amtes des Admirals der spanischen Flotte enthoben worden war, hoffte der Mantuaner Herzog, sein Nachfolger zu werden. Um diesen Anspruch zu bekräftigen, hatte er schon zuvor dem König und seinem mächtigen ersten Minister, dem Herzog von Lerma, kostbare Gaben zukommen lassen, und wünschte sie nun abermals durch Geschenke geneigt zu machen. Für das Königspaar waren eine Kutsche mit sechs Rassepferden, elf Armbrüste und ein Kristallflakon mit Parfum bestimmt, für Lerma Vasen aus Gold und Silber sowie sechzehn von dem Mantuaner Maler Pietro Facchetti angefertigte Kopien nach Gemälden der herzoglichen Sammlung von Raffael, Tizian und anderen Meistern. Weitere Geschenke sollten der Staatsekretär für italienische Angelegenheiten und die Gräfin von Lemos, die Schwester des Herzogs von Lerma, erhalten.32 Rubens, der den Transport und die Übergabe dieser Geschenke beaufsichtigen sollte und sich auf dieser Reise als »Kassenwart, Spediteur, Pferde-

Zit. n. Frans Bauduin: P.P. Rubens. Königstein im Taunus 1977,

Berlin 1965, S. 3ff., Zitat S. 5 [mit detailliertem Nachweis der

S. 68.

Quellen in Charles Ruelens/Max Rooses (Hrsg.): Codex Diplo­

Christopher White: Peter Paul Rubens. Leben und Kunst. Stutt-

maticus Rubenianus: La Correspondance de Rubens et docu-

gart/Zürich 1988, S. 30.

ments épistolaires concernant sa vie et ses œuvres. 6 Bde. Ant-

Zum dem im Folgenden behandelten »Kabinettstück höfischer

werpen 1887–1909]; White 1988, S. 26ff.; von Simson 1996, S. 66ff.

Winkelzüge« siehe Martin Warnke: Kommentare zu Rubens.

32

Warnke 1965, S. 69, Anm. 3.

AC HTU NGSERF OLG I N SPAN I E N : RU B E N S’ DEMOKRIT UND HERAKLIT

295

pfleger, Fremdsprachenkorrespondent [und] Restaurator« bewähren musste,33 hat in einem Brief verärgert vermerkt, dass er zum »Wächter und Führer der Werke anderer« bestellt war, »an denen sich nicht ein Pinselstrich von mir befindet.«34 Immerhin instruierte Vincenzo Gonzaga seinen Geschäftsträger in Madrid, Annibale Iberti, dass der Künstler bei der Geschenkübergabe zugegen sein, dem König vorgestellt werden und zudem einige Porträts von Damen des spanischen Hofes anfertigen sollte. Da Rubens während seiner Mission in regem Briefaustausch mit Annibale Chieppio stand, dem Sekretär Vincenzo Gonzagas, sind wir über seine Reise und die Ereignisse am spanischen Hof gut informiert. Rubens brach im Frühjahr 1603 von Mantua auf und schiffte sich nicht in Genua ein – der Zweck der Reise war es ja, die Doria am spanischen Hof gewissermaßen auszustechen –, sondern in der toskanischen Hafenstadt Livorno, die er über absonderliche Umwege und über Pisa erreichte, wo ihn der Großherzog Ferdinando de’ Medici aufnahm. Erstaunt stellte der Künstler fest, dass dieser über den Sinn und Zweck seiner geheimen Reise bestens informiert war.35 In Livorno schiffte man sich nach Alicante ein, wo man nach zweieinhalb Wochen, am 21. April, vor Anker ging. Als Rubens mehr als drei weitere Wochen später in Madrid ankam, erfuhr er, dass der Hof in Valladolid weilte. Also reiste er nach Besuchen der königlichen Gemäldesammlung und des Escorials weiter und erreichte nach zwanzig beschwerlichen Tagen, in denen es ununterbrochen regnete und stürmte, Valladolid, um dort feststellen zu müssen, dass der Hof inzwischen nach Burgos weitergezogen war. Da er mittlerweile alles Geld auf der unerwartet langen Reise ausgegeben hatte, musste er in Valladolid auf An-

nibale Iberti warten, der erst nach einigen Tagen eintraf. Als eine Woche später die von Rubens sorgfältig verpackten Gemälde in Valladolid eintrafen, zeigte sich, dass sie durch den unaufhörlichen Regen gravierende, teilweise irreparable Schäden erlitten hatten. Rubens und Iberti berieten sich, was zu tun sei, und schrieben beide noch am selben Tag nach Mantua. Iberti erklärte dem Herzog, er habe dem Maler vorgeschlagen, einige der Bilder zu restaurieren und zudem sechs neue zu malen, während Rubens Chieppio mitteilte, er werde retten, was zu retten sei, er sei jedoch nicht gewillt, unter Zeitdruck und noch dazu mit Hilfe spanischer Maler, von denen nicht viel zu halten sei, neue Gemälde anzufertigen.36 Zu solchen Meinungsverschiedenheiten kam es fortan häufig, zumal Iberti, der Rubens in seinen Briefen stets nur abschätzig den »Flamen« (»il fiamengo«) nannte,37 bei der Übergabe der Geschenke an das Königspaar gegen die Instruktionen Vincenzo Gonzagas handelte, nämlich den Künstler nicht dem König vorstellte, wie Rubens Chieppio in einem Brief vom 15. September 1603 verärgert berichtete.38 Fortan aber war er gewappnet gegen das intrigante Verhalten Ibertis, dem er zuvorkam, als die Mantuaner Gesandtschaft den Herzog von Lerma aufsuchte, den eigentlichen Herrscher Spaniens.39 Aus den Briefen Ibertis an den Herzog von Mantua geht hervor, dass er mit ansehen musste, wie Rubens den kunstsinnigen Herzog für sich gewinnen konnte. Ein für den König bestimmtes Porträt Vincenzo Gonzagas von Pourbus habe Lerma veranlasst, Rubens zu fragen, ob er nicht ein weiteres Porträt des Herzogs aus dem Gedächtnis malen könne. Und später habe er ihn, Iberti, leise gefragt, ob man Rubens geschickt habe, um ihn dem König als Hofmaler zu überlassen. Iberti be-

33

Joachim Rees: Künstler auf Reisen. Von Albrecht Dürer bis Emil

37 Ebda.

Nolde. Darmstadt 2010, S. 47 (Kap. »Mit Extrapost den Gipfel

38

aller Ehren erklimmen«. Peter Paul Rubens’ Reisewege als Maler

39

und Diplomat 1600–1630, S. 45–58).

White 1988, S. 27. In einem Brief vom 22. Oktober 1626 an Jacques Dupuy sollte sich Rubens kritisch dazu äußern, dass in dieser Zeit viele Re-

34

Zit. n. White 1988, S. 26.

genten wie der vergnügungssüchtige Philipp III. ihre Regie-

35

Ebda., S. 26f.

rungsgeschäfte ihren ersten Ministern überließen. Zitiert bei

36

Von Simson 1996, S. 68.

Warnke 1965, S. 13; White 1988, S. 27ff.

296

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

eilte sich zu erklären, Rubens sei lediglich als »Begleiter der Geschenke« nach Spanien gekommen.40 Doch der Premierminister ließ sich davon nicht beeindrucken, und Rubens sollte später, auf seine Begegnungen mit ihm und dem König zurückblickend, zufrieden notieren: »Die Übergabe der Karosse sah ich, die der Gemälde und Vasen vollzog ich.«41 Einige Tage darauf berichtete Iberti seinem Herzog, Lerma würde den Künstler gerne noch eine Weile bei sich behalten, damit dieser ein Gemälde ausführen könne, dessen Thema ihm bereits vorschwebe, und er fügte hinzu, aus politischen Gründen könne man diesen Wunsch wohl nicht ablehnen.42 Das Interesse Lermas an dem jungen Hofmaler aus Flandern wurde vermutlich weniger durch die von Rubens restaurierten Gemälde, die die Spanier, wie er in

einem Brief stolz bemerkte, zum größten Teil für Originale hielten,43 als durch ein Werk geweckt, das er in Valladolid in nicht einmal drei Wochen als Ersatz für zwei gänzlich zerstörte sakrale Bilder angefertigt hatte. Gemeint ist das Gemälde Demokrit und Heraklit, das 1999 an seinen Entstehungsort zurückgekehrt und in den Bestand des dortigen Nationalmuseums aufgenommen worden ist (Abb. 172).44 Das Werk, dessen in der spanischen Malerei bis dahin noch unbekanntes Thema Rubens selbst gewählt haben wird, vergegenwärtigt den kosmogonischen Disput zwischen dem lachenden Demokrit und dem weinenden Heraklit.45 Diese beiden Vorsokratiker waren schon in der Antike als Antipoden angesehen worden. Demokrit von Abdera, ein vielseitiger, weitgereister Gelehrter, der als Begründer der Atomlehre gilt, hatte die Glückseligkeit als höchste aller menschlichen Errungenschaften gepriesen, die durch Mäßigung der Begierden zu erreichen sei. Auch der aus einer adligen Familie stammende Heraklit aus Ephesos, nach dem die Welt in permanenter Entwicklung ist und sich in einem ewigen Widerstreit der Gegensätze befindet – »Alles fließt« und »Der Krieg ist Vater aller Dinge« sind vielzitierte Aussprüche des Philosophen –, sah die Heiterkeit der Seele als höchstes Gut an. Dieses erreiche man, in dem man den logos, der dem Werden aller Dinge zugrunde liege, erkenne und sich ihm unterwerfe. Da Heraklit zurückgezogen lebte und sich oft einer oft rätselhaften Sprache bediente, wurde er auch »der Dunkle« genannt. Nachdem schon Diogenes Laertius Demokrit als vielgeliebten Denker dargestellt hatte, nannte Horaz ihn in Anlehnung an eine Stelle in Ciceros De oratore in seinen Episteln zum ersten Mal den »lachenden Philoso-

40

Von Simson 1996, S. 69.

44

41

Zit. n. Warnke 1965, S. 4.

Anlass die beiden hochformatigen Gemälde im Prado gemalt

42

Von Simson 1996, S. 69.

habe, während die jüngere Forschung das heute in Vallodolid

43

»Der Herzog von Lerma, der Mantuaner Generosität mißtrau-

befindliche Gemälde als das damals entstandene Werk identifi-

Abb. 172  Peter Paul Rubens: ­Demokrit und Heraklit, 1603, Valladolid, Museo Nacional de Escultura

end, wünschte dem geschenkten Gaul ins Maul zu schauen und ließ den Hofmaler Vincencio Carducho zur Beurteilung der Ge-

Warnke 1965, S. 5ff. ging noch davon aus, dass Rubens zu diesem

zieren konnte. 45

Siehe [Artikel] Demokrit von Abdera (ca. 460–370) und Heraklit

mälde herbeirufen. Rubens aber, gewitzt, hatte den Kollegen

aus Ephesos (ca. 500). In: Eric M. Moormann/Wilfried Uitter-

bereits dafür gewonnen, den Kopien rückhaltlose Bewunderung

hoeve: Lexikon der Antiken Gestalten. Stuttgart 1995, S. 224–227;

zu zollen.« (Warnke 1965, S. 5.)

ausführlich zu Thema und Ikonographie Warnke 1965, S. 5ff.

AC HTU NGSERF OLG I N SPAN I E N : RU B E N S’ DEMOKRIT UND HERAKLIT

297

phen«,46 ein Wort, das von Juvenal, einem von Rubens besonders geschätzten Autor, aufgegriffen wurde.47 Wie dieser empfahl auch Seneca, der von Sotion das Bild des melancholischen Sonderlings und ewig weinenden Heraklit übernahm,48 seinen Lesern, der Philosophie Demokrits und nicht der Heraklits zu folgen,49 womit die Philosophen endgültig zu Gegenpolen wurden. Als solche hatte Bramante sie in den späten 1480er Jahren in den Fresken einer Mailänder Villa dargestellt (Mailand, Brera), und Raffael repräsentierte in der Schule von Athen (Abb. 52) den grübelnden Heraklit als isolierten Außenseiter. 1531 behandelte Andrea Alciati in seinen Emblemata die disputierenden Philosophen unter dem Motto »In Vitam humanam« und stellte dem Leser in dem Epigramm anheim, es wie der eine oder der andere zu halten und über die menschlichen Geschicke zu lachen oder zu weinen.50 Als Bildthema erfreuten sich Demokrit und Heraklit erst im 17. Jahrhundert großer Beliebtheit, nachdem Rubens sie in mehreren Gemälden dargestellt hatte, von denen sich Diego Velázquez, Jusepe de Ribera u. a. inspirieren ließen. In dem 1603 in Valladolid gemalten Bild hat Rubens die beiden Philosophen als Halbfiguren repräsentiert (Abb. 172). Einen Globus zwischen sich, blicken beide zum Betrachter. Während der schwarz gekleidete Heraklit verzweifelt die Hände ringt, hat der ein leuchtend rotes Gewand tragende Demokrit seine Rechte auf den Globus gelegt und weist lächelnd mit der Linken auf seinen skeptischen Widersacher hin. Die Physiognomien der beiden Figuren könnten unterschiedlicher kaum sein: Demokrit hat ein schönes bärtiges Antlitz, das an den Typus Johannes des Täufers und an Figuren von Raffael, Andrea del Sarto oder Correggio erinnert.

Die missmutigen Züge des kantigen Hauptes Heraklits hat man hingegen auf spätantike Kaiserbüsten sowie Leonardos groteske Köpfe zurückgeführt. Zu Recht hat Otto von Simson darauf hingewiesen, dass Rubens in diesem Werk nicht nur ganz unterschiedliche Physiognomien dargestellt hat, sondern sich, wie auch an dem Laub neben den Köpfen zu sehen ist, zweier verschiedener Malweisen bediente:51 eines auf Leonardos sfumato und die Venezianer zurückgehenden idealisierenden, malerisch weichen und eines konturbetonten plastischen Stils. Mit dieser Probe seiner malerischen universalità demonstrierte der Künstler seine Bildung, die er auch mit den – nicht ganz fehlerfrei – in griechischen Buchstaben auf die Gewänder geschriebenen Namen der beiden Antagonisten unter Beweis stellte.52 Wenngleich sich Rubens bei der Darstellung der Philosophen vermutlich an erinnerten Kunstwerken orientierte, an Gemälden der Hochrenaissance – unter den Kopien für den Herzog von Lerma befand sich auch ein Johannes nach Raffael53 – und an skulpturalen Porträts der Spätantike, so erzeugte er die interne Stildifferenz wahrscheinlich auch mit Blick auf zwei Stilrichtungen, die damals in Rom zu unversöhnlichen Gegensätzen wurden, nämlich den Klassizismus und den Naturalismus Caravaggios. Dafür spricht u. a. seine Rezeption des Lombarden in mehreren Werken der Zeit seines ersten Romaufenthaltes, vor allem in der Dornenkrönung für die Helena-Kapelle in Santa Croce in Gerusaleme (Abb. 173).54 In ihr hatte er der heroischen Figur des sein Martyrium mit stoischem Gleichmut ertragenden Christus Merkmale des Laokoon und des Torsos von Belvedere verliehen, die Schergen dagegen in einer caravaggesken Manier dargestellt.55 Weist die-

46

Cicero: De oratore, II, 235; Horaz: Epist., II, 1, 194.

51

47

Iuvenal: Satiren, IV, 10, 33ff.

52 Ebda.

48

Seneca: Dial. II, 10, 5,1.

53

Warnke 1965, S. 4.

49

Seneca: De tranquillitate animi, XV; vgl. auch ders.: De ira, X.

54

Zu den Gemälden für die Helena-Kapelle siehe Stefan Weppel-

50

»Interea haec cernens meditor, qua denique tecum. Fine fleam,

mann: Rubens: Die Altarbilder für Santa Croce in Gerusalemme

aut tecum quomodo splene iocer.« (Emblemata. Handbuch zur

in Rom. Münster 1998.

Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hrsg. v. Arthur

55

Von Simson 1996, S. 70.

Die caravaggeske Figur des Knaben in der linken Bildhälfte, der

Henkel und Albrecht Schöne, Taschenausg. Stuttgart/Weimar

seinen Blick über die rechte Schulter wendet und dessen linke

1996, Sp. 1157.)

Gesichtshälfte hell erleuchtet ist, geht auf den Kopf eines Knaben

298

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Abb. 173  Peter Paul Rubens: Dornenkrönung, um 1601/02, Grasse, Hôpital de Petit-Paris.

ses Gemälde einen für den frühen Rubens charakteristischen Synkretismus auf, so sind in ihm die Referenzen

auf die Antike und auf Caravaggio doch thematisch gebunden und hierarchisiert. Darin erweist sich die Dornenkrönung als ein Vorläufer des Gemäldes in Valladolid, welches nicht nur eine Darstellung zweier gegensätzlicher Philosophen ist, sondern zugleich als Visualisierung des ewigen Gegensatzes von Idealismus und Realismus und als Allegorie des damals aufbrechenden Agons zweier Stilrichtungen der italienischen Malerei verstanden werden kann. Zweifellos war Rubens’ Philosophenbild intendiert, das Interesse Lermas zu wecken, einem gelehrten Gespräch über kunsttheoretische und philosophische Fragen als Grundlage zu dienen und dem Künstler so Selbstdarstellungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dem Thema des kosmogonischen Disputs hat er eine Komplexität abgewonnen, wie sie Martin Warnke an dessen literarischer Rezeption des 16. und frühen 17. Jahrhunderts nachgewiesen hat: Nachdem Pero Mejia 1540 seiner Verwunderung Ausdruck gegeben hatte, »daß ein und derselbe Gegenstand den einen immer weinen, den anderen immer lachen läßt«,56 betonte auch Bartolome Leonardo de Argensola in einem durch Rubens’ Gemälde inspirierten Gedicht, »daß trotz gleicher Philosophie, der eine immer weinte, der andere immer lachte«.57 Mit dem hier anklingenden antiken Gedanken der concordia dis­cors, der Einheit der Gegensätze, gemäß dem Rabelais in Gargantua vom »Democritus Heraclitizans« und »Heraclitus Democritizans« gesprochen hatte,58 konnte

im Blanton Museum of Art in Austin zurück, das früheste tronie

56

Zit. n. Warnke 1965, S. 6.

in Rubens’ Werk. (Siehe Franziska Gottwald: Das Tronie – Mus-

57

Zit. ebda. Das Sonett ist abgedruckt ebda., S. 70f., Anm. 14. Be-

ter, Studie und Meisterwerk. Die Genese einer Gattung der Ma-

merkenswert ist, dass Argensola die spätantike Polarisierung

lerei vom 15. Jahrhundert bis zu Rembrandt. München 2011, S. 72f.) Nur in Parenthese sei hier angemerkt, dass die Physiog-

beider Philosophen bereits kritisch reflektierte. 58

Rabelais: Gargantua, Kap. 20, zit. n. Warnke 1965, S. 72, Anm. 18.

nomie des linken Schergen in der im Besitz der Cassa di Rispar-

Rabelais’ Formulierung erinnert an Aretinos Wort über Giulio

mio e Depositi in Prato befindlichen Dornenkrönung Christi, die

Romanos »concetti anticamente moderni e modernamente an-

von vielen Autoren als eigenhändiges Werk Caravaggios angese-

tichi« (zit. n. Ernst H. Gombrich: Norm and Form. Studies in the

hen wird, auf einen der Soldaten in Rubens’ Dornenkrönung zu-

Art of Renaissance, London 1966, S. 154, Anm. 20) und an die

rückgeht (Denis Mahon: Egregius in Urbe Pictor: Caravaggio

Formulierung Vasaris von der »regelgerechten Regellosigkeit«

Revised. In: Burlington Magazine, 93, 1951, S. 230; Göttler 2008,

der Künstler der 3. Generation. Siehe Warnke 1965, S. 6f. u. S. 72,

S. 452; vgl. Nils Büttner: Rubens. München 2007, S. 25f.). Die Zu-

Anm. 18ff. mit zahlreichen Zitaten und Verweisen auf ähnliche

schreibung an Caravaggio erscheint mir allerdings zweifelhaft

Paradoxien bei Cusanus, Montaigne, Lope de Vega und Gior-

(vgl. auch Puglisi 2002, S. 402).

dano Bruno.

AC HTU NGSERF OLG I N SPAN I E N : RU B E N S’ DEMOKRIT UND HERAKLIT

299

man, der reflexiven Distanz des Gemäldes entsprechend, einen »relativierenden Konsens« anstreben,59 während das Bild zugleich auch einer »moralistische[n] Zuspitzung« offen stand.60 Das krisenerprobte frühe 17. Jahrhundert wusste auch dem Jammer Heraklits, der nach einer Elegia des Enriquez Gomez seine Hoffnung auf Veränderungen bezeugt,61 Gutes abzugewinnen. Wer sich dagegen entschieden auf die Seite Demokrits schlug, musste mit theologischen Einwänden rechnen, galt dieser doch seit Dante als Atheist, dessen Erklärung, die Welt sei durch Zufall entstanden, mit dem wahren Glauben unvereinbar sei.62 Rubens’ Gemälde Demokrit und Heraklit, über das man gut und gerne zweimal hundert Jahre sprechen konnte und das er mit Bedacht als bescheidenen, aber »wirkungsvollen Schlußakzent« in einem kleinen Nebengemach aufgehängt hatte, als am 11. Juli die Übergabe der Geschenke an Lerma stattfand,63 erfüllte seinen Zweck. Der Herzog behielt den Maler noch eine Weile bei sich und ließ ihn im Oktober und November auf seinem Landsitz in Ventosilla, wo damals auch der König weilte,64 ein höchst ambitioniertes Werk ausführen, sein monumentales, 2,89 × 2,05 Meter messendes Reiterbildnis (Madrid, Prado), mit dem der Künstler ihn, wie Iberti dem Mantuaner Herzog in einem Brief mitteilte, »auf das höchste entzückt[e]«.65 Dass Rubens aus diesem Erfolg ein neues Selbstbewusstsein gezogen hat, zeigt seine Reaktion auf die Aufforderung seines Herzogs, er möge doch über Frankreich zurückreisen, um am dortigen Hof noch einige Schönheiten zu por­ trätieren. Rubens aber schrieb nach Mantua, dies sollten doch bitte die dortigen Maler tun,

nicht bewahrt) und all dies, um an Werken zu arbeiten, die nach meinem Geschmack niedrig sind und für die jedes Talent ausreicht. Ungeachtet all dessen unterwerfe ich mich als guter Diener durchaus der Entscheidung und dem geringsten Befehle des Gebieters, indem ich ihn jedoch inständig bitte, sich meiner an seinem Hofe oder außerhalb für Unternehmungen zu bedienen, die meinem Talente angemessen sind.«66

Dieser wohlformulierten Bitte entsprach der Herzog: Rubens konnte im Winter 1603 nach Italien zurückkehren, wo er es sich offenbar herausnahm, zunächst nach Venedig zu reisen, um dort Werke von Tizian, Tintoretto, Veronese u. a. zu studieren. Anfang 1604 traf der Maler wieder in Mantua ein, wo ihm nun der Herzog den anspruchsvollen Auftrag erteilte, die Hauptkapelle der Mantuaner Jesuitenkirche mit drei großen Gemälden auszustatten.

»Meliora latent«. Eine implizite Selbstdarstellung: Rubens’ Trunkener Silen

vor denen mich die Freigebigkeit Seiner Hoheit

Dass es bei Künstlern heiter, womöglich hoch hergeht, war Programm, seitdem sie zu humanistischen Sonderbeauftragten im Dienste der »bontà dell’uomo« (Alberti) avanciert waren. Entsprechend gelöst geht es denn auch in der Allegorie von Frans Francken d. J. zu (Abb. 165), in der die Arbeit der Pictura von Musik begleitet wird. Das Motiv des Edelmannes mit der Laute hat in diesem Gemälde in mehrfacher Hinsicht Gewicht. Es repräsentiert das Gehör als einen der fünf Sinne, es korrespondiert dem Thema des Bildes, an

59

Warnke 1965, S. 6.

63

60

Ebda., S. 7.

»[…] ohne daß ich meine Zeit auf Reisen verliere, Ausgaben mache, Gehälter bezahle (lauter Dinge,

Warnke 1965, S. 5.

64

Ost 2003, S. 45.

61 Ebda.

65

Zit. n. White 1988, S. 30.

62

Werner Weisbach: Der sogenannte Geograph von Velazquez

66

Zit. ebda., S. 31.

und die Darstellungen des Demokrit und Heraklit. In: Jahrbuch

67

Vasari 1966–97, IV, S. 31. Dazu Barolsky 1995, S. 83ff.

der Preussischen Kunstsammlungen, 1928, S. 151.

300

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

dem die Malerei arbeitet, dem musischen Wettstreit zwischen Apoll und Pan, und nicht zuletzt verkörpert es die harmonia. Gemeinhin wird der Musik eine dem Gemüt wohltätige Wirkung zugeschrieben, die auch der Malerei zugutekommen kann. So hat Giorgio Vasari erklärt, Leonardos Mona Lisa (Paris, Louvre) wirke so anmutig, weil der Künstler dafür sorgte, dass bei den Porträtsitzungen stets jemand zugegen war, der mit Musik und Scherzen die Melancholie vertrieb.67 Solchen Konzepten einer gelösten Stimmung am Arbeitsplatz entspricht es, dass Peter Paul Rubens – darin ganz das Gegenteil von Domenichino – zuweilen geradezu übernatürliche kognitive Fähigkeiten demonstrierte, nämlich gleichzeitig malte, sich unterhielt, Briefe diktierte und sich aus Tacitus vorlesen ließ. Dies berichtet Otto Sperling, der aus Hamburg stammende Leibarzt des dänischen Königs, der 1621 sein Atelier aufgesucht hat.68 Das Atelier des Künstlers, dem in seinem repräsentativen Haus in Antwerpen mehrere Sammlungsräume zugeordnet waren, darunter die halbrunde Tribuna mit den Antiken, war ein oft lebhafter Ort, an dem sich häufig Besucher einstellten. Wie verschiedene Berichte bezeugen, war das ganze Haus voll von Kunstwerken, so dass der Maler seine Bibliothek und »eenige sleche schilderyen ende copyen« 1639 in ein nahegelegenes Gebäude auslagern musste.69 Unter den zahlreichen Gemälden im RubensHaus waren einige Arbeiten, die man als ›Entlastungsbilder‹ bezeichnen kann, eigenhändige, kunsttheoretisch programmatische Werke, die der Künstler jenseits

68

69 70

71

seiner Großaufträge für sich malte, und von denen er sich zeitlebens nicht getrennt hat. Eines dieser Gemälde ist der Trunkene Silen (Abb. 174), den Rubens um 1618 konzipiert und um 1625 noch zweimal im Format erweitert hat.70 Es ist ein singuläres Gemälde, das keine direkte Text- oder Bildvorlage hatte, eine poesia, die bis heute Rätsel aufgibt, obwohl ihr bereits umfangreiche Studien gewidmet wurden.71 Zu den literarischen Quellen, die Rubens’ Bilderzählung als Ausgangspunkt dienten, gehören die 6. Ekloge Vergils, in der der trunkene, gefesselte Silen mystische Geschichten erzählt, und die Metamorphosen Ovids. In diesen wird im Rahmen der Midas-Sage berichtet, wie Silen den phrygischen Bauern in die Hände fiel und von König Midas befreit wurde: »Aber Silenus ist fern: es fingen ihn phrygische Bauern, während er schwankte vom Wein und vom Alter. Mit Kränzen umwunden, Ward er vor Midas geführt […]. Dieser erkennt des heiligen Dienstes vertrauten Gefährten, Und er feiert, erfreut ob der Ankunft des Gastes, ein herrlich Fest, zehn Tage und Nächte in ununterbrochener Folge.«72

Auf der Grundlage dieser wenigen Zeilen hat Rubens den Silen, »der stets im Alter so jung sich gebärdet«,73 als Opfer der Trunkenheit und einer allgemeinen

Wilhelm von Seidlitz: Bericht eines Zeitgenossen über einen Be-

kothek. München/Köln 2002, S. 368–75 (Kat.-Nr. 319); Christine

such bei Rubens. In: Repertorium für Kunstwissenschaft, 10,

Göttler: Rubens’ ›Ecce Homo‹ and ›Derision of Silenus‹: Classi-

1887, S. 111.

cal Antiquity, Images of Devotion and the Ostentation of Art.

Jeffrey M. Muller: Rubens: The Artist as Collector. Princeton, NJ

In: Reindert Falkenburg/Walter S. Melion/Todd M. Richardson

1989, S. 41, Anm. 92.

(Hrsg.): Image and Imagination of the Religious Self in Medieval

Siehe die Rekonstruktion der drei Zustände des Gemäldes, das

and Early Modern Europe. Turnhout 2008, S. 427–483. Zu Ru-

zunächst Dreiviertelfiguren aufwies, bei Svetlana Alpers: The

bens’ mythologischen Darstellungen als Medium kunsttheoreti-

Making of Rubens. New Haven/London 1995, Abb. 84.

scher Reflexion siehe Eveliina Juntunen: Peter Paul Rubens’

Reinhild Stephan-Maaser: Mythos und Lebenswelt: Studien

bildimplizite Kunsttheorie in ausgewählten mythologischen Historien (1611 – 1618). Petersberg 2005.

zum »Trunkenen Silen« von Peter Paul Rubens. Münster/Hamburg 1992; Alpers 1995, S. 101–157, 167–174; Konrad Renger mit

72

Ovid: Metamorphosen, XI, 90–96.

Claudia Denk: Flamische Malerei des Barock in der Alten Pina-

73

Ebda., XIV, 638.

» MELI OR A LATEN T « . E I N E I MPLI ZI T E SE LB S T DARSTE LLU N G: RU B E N S’ TRUNKENER SILEN

301

Abb. 174  Peter Paul Rubens: Der trunkene Silen, um 1618 u. um 1625, München, Alte Pinakothek

Enthemmung vor Augen geführt. Im Zentrum des Bildes torkelt der Absonderliche sturztrunken, mit verengtem trübem Blick – ein Zustand, der uns erlaubt, die frappierende Nacktheit seines beleibten Körpers in Augenschein zu nehmen. Silen ist umgeben von Faunen und Satyrn, einem Schwarzen, alten Frauen und einer jungen, deren Gesichtszüge deutlich an Isabella Brant,

302

Rubens’ erste Frau, erinnern. Eine tumbe nackte Trunkene am Boden, die enthemmt ihre Kinder stillt und dabei nach dem Genital des einen greift, ein kopulierendes Ziegenpaar und ein ahnungsvoll zum Silen blickender Junge komplettieren die Szene, bei der es naheliegt, sie als mahnendes Beispiel der Trunksucht und Alterstorheit zu interpretieren. Ein von Schelte a Bols-

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

wert nach einer Rubens-Zeichnung gestochener Silenszug weist eine entsprechende Inschrift auf: »Trunkenheit«, so heißt es dort, »lähmt den Gebrauch der Glieder und des Geistes, wie die alte Fabel von Silen lehrt; sie verschwendet das Geld, stachelt die blinden Leidenschaften von Venus und Mars an und bewirkt vorzeitigen Tod.«74

Doch das Gemälde des Trunkenen Silens entbehrt der Eindeutigkeit dieses Titulus. Sein Format und die Monumentalität der lebensgroßen Figuren ließen apriori Sinnhaftigkeit erwarten und darauf schließen, dass ihm mehr zu entnehmen ist als nur ein abschreckendes Beispiel und ein moralisierender Appell. Die vitale Präsenz der im Bildvordergrund situierten, dichten Figurenkomposition lässt die bannende moralische Distanz des erhobenen Zeigefingers kaum zu. Hinzu kommt, dass Rubens dem Silen, der in der Bildtradition oft als Beispiel des Lasters figurierte, von dem die alten Schriften aber auch berichten, dass er ein Halbgott, ein bacchisch begeisterter Seher und der weise Erzieher des Dionysos und weiterer Götter und Heroen war, die Züge des Sokrates verliehen hat. In Xenophons und in Platons Symposion war dieser mit dem hässlichen Silen und dem Satyr Marsyas verglichen worden, und von Anbeginn an hatten die Künstler den Philosophen entsprechend dargestellt. Dies zeigt eine Büste aus der frühen Kaiserzeit im Nationalmuseum in Neapel (Abb. 175). Sie ist die qualitätvollste Kopie des nicht erhaltenen, um 380 v. Chr., also knapp zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Philosophen entstandenen ältesten Sokrates-Porträts. Wie Paul Zanker betont, belegt die Replik, dass das verlorene Original sei-

74

75

Abb. 175  Sokrates, Marmorbüste, frühkaiserzeitliche Kopie eines um 380

v. Chr. entstandenen Originals, Neapel, Archäologisches Nationalmuseum

nerzeit eine Zumutung an den herrschenden klassischen Kanon darstellte, dem die Auffassung zugrunde lag, Tugend offenbare sich in körperlicher Schönheit. Das offenbar hässliche Äußere und der normwidrige Habitus des Philosophen standen in eklatantem Widerspruch zu seinem untadeligen Wesen.75 Wir wissen, dass Rubens eine Kamee mit einem als Silen dargestellten Sokrates besaß, die er als »Sokrates habitu Sileni« bezeichnet hat.76 Diese Gleichsetzung, die sich bei Erasmus, Montaigne, Rabelais und Shake­ speare findet,77 berührte die kunsttheoretisch so gewichtige Frage nach dem Vermögen des physiognomi-

»Ebrietas mentis membrorumque impedit usum,/ Sileni ut scite

wider die Physiognomiker. In: Freiburger Universitätsblätter 35,

fabula prisca docet // exaurit nummos, Veneris, Martisque furo-

1996, S. 9–28; Nachdruck in: Wilhelm Schlink (Hrsg.): Bildnisse.

res/ Excitat, et mortem provocat ante diem.« (Zit. n. Ulla Krem-

Die europäische Tradition der Portraitkunst. Freiburg 1997, S. 11–

pel: Der trunkene Silen. In: Alte Pinakothek München. Erläute-

55; Maria Luisa Catoni/Luca Giuliani: Socrate-Satiro: Genesi di

rungen zu den ausgestellten Gemälden. München 1983, S. 454.)

un ritratto. In: Annuario Scuola Archeologica Italiana di Atene, 93, 2015 [2017], S. 39–60.

Paul Zanker: Die Masken des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst. München 1995, S. 38ff.; Luca Giuliani:

76

Alpers 1995, S. 123 u. 172, Anm. 16.

Das älteste Sokrates-Bildnis: Ein physiognomisches Portrait

77

Ebda., S. 123. Siehe auch Colie 1966, S. 16f. (zu Erasmus’ Sileni Al-

» MELI OR A LATEN T « . E I N E I MPLI ZI T E SE LB S T DARSTE LLU N G: RU B E N S’ TRUNKENER SILEN

303

Abb. 176  Sokrates und Hirsch, Kupferstich aus Giambattista della Portas

De Humana Physiognomia, Neapel 1586

denen er aber kraft seines Geistes nicht erlegen sei.79 Dem Physiognom war die Homosexualität des Philosophen entgangen. Dennoch wurde er in der Frühen Neuzeit immer wieder bemüht. Pomponius Gauricus erwähnte ihn 1504 beipflichtend in Zusammenhang mit ›sprechenden‹, den Charakter offenbarenden Porträts, in denen sich der Nutzen der Physiognomik erweise.80 Auch Giambattista della Porta berief sich in seinem 1586 erschienenen Traktat De humana Physiognomonia auf Zopyros und verglich Sokrates mit einem Hirsch (Abb. 176).81 Impliziert war damit offenbar, dass der Philosoph hinsichtlich seiner Affektbeherrschung der in der Brunftzeit unbändig röhrenden Kreatur gleiche. Hingegen schrieb Michel de Montaigne in seinem zwei Jahre nach della Portas Schrift erschienenen Essay Von der Physiognomie:

schen Blicks: Lässt sich vom Äußeren eines Menschen auf sein Inneres schließen? In Platons Symposion hatte Alkibiades dies problematisiert und den ursprünglich sicherlich von Kritikern aufgebrachten Vergleich zum Guten gewendet, nämlich Sokrates mit damals offenbar verbreiteten hölzernen Silen-Plastiken verglichen, die im Inneren kleine Götterfiguren bargen.78 Ein in diesem Zusammenhang ebenso oft bemühter locus war der nicht erhaltene Zopyros-Dialog des SokratesSchülers Phaidon von Elis, dessen Inhalt durch Cicero überliefert ist: Der Magier Zopyros studiert das Äußere des Sokrates und schließt von ihm auf ›Weibersucht‹, worauf sich Alkibiades das Lachen nicht verkneifen kann und Sokrates erklärt, er habe diese Anlagen,

cibiadis), S. 47f. (zu Rabelais’ Vorwort zum 1. Buch von Gargan78

79

»Es verdrießt mich, daß Sokrates, diesem vollendeten Beispiel aller großen Vorzüge, ein so ungestalter Körper und ein so häßliches Gesicht zuteil wurden, wie man sagt, das wenig der Schönheit seiner Seele entsprach, ihm, der so in die Schönheit verliebt und von ihr begeistert war. Die Natur hat ihm Unrecht getan. Es gibt nichts Wahrscheinlicheres als die Übereinstimmung und Beziehung zwischen Körper und Geist. […] So sagte Sokrates von seiner Häßlichkeit, sie verrate eine ebensolche Häßlichkeit in seiner Seele, deren er nur durch Selbstzucht Herr geworden sei. Aber ich glaube, er spottete nach seiner Gewohnheit, als er das sagte, und nie hat eine so treffliche Seele sich selber geformt.«82 Er schätze die

81

Porta: De humana Physiognomonia. Sorrent 1586 (Nachdruck

Platon: Symposion, 32f., 214d-216d (Das Gastmahl. Ed. Kurt Hil-

Paris 1990), S. 41, 141 (die Paginierung ist fehlerhaft). Die Krite-

debrandt, Stuttgart 1996, S. 92–95); siehe auch Xenophon: Sym-

rien der Gleichsetzung mit dem Hirsch (cervus) – der Kupfer-

posium, IV, 19.

stich zeigt dagegen einen Rehbock – sind vor allem ein spär­

Siehe Cicero: Tusc. Disp., IV, 80; Ders.: De fato, 10; F. Gisinger:

licher Haarwuchs (rari capilli), das knochige Gesicht (ossosa

[Artikel] Zopyros. In: Paulys Realenzyklopädie der Classischen

facies) und die Form der Nase (nasus fimus) (ebda., S. 41, 80f., 86, 131f., 141).]

Altertumswissenschaft, 2. Reihe, 19. Halbband, München 1972, Sp. 768f. 80

Della Porta berief sich auf Zopyrus’ Urteil. [Giambattista della

tua and Pantagruel).

82

Zit. n. Schmölders 1995, S. 189.

Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik. Berlin 1995, S. 183.

304

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Schönheit, so erklärte der Autor, doch die »Miene ist eine schwache Bürgschaft; gleichwohl hat sie einiges Ansehen. Und wenn ich sie zu geißeln hätte, so würde ich jene Bösewichter härter geißeln, die den Verheißungen, welche die Natur ihnen auf die Stirn schrieb, zuwiderhandeln und Verrat antun; ich würde die Arglist, die sich hinter einem ehrlichen Gesicht verbirgt, schärfer bestrafen.«83

Solchen Widerspruch gegen die Annahme, dass sittliche Tugend und äußere Schönheit zusammenfallen, hatte auch Erasmus formuliert, dessen von Dürer gestochenes Porträt den in griechischer Sprache formulierten Hinweis enthält, seine Schriften würden ein besseres Bild des Philosophen geben.84 Lächerlich von außen besehen, doch von bewundernswertem Inneren, so charakterisierte Erasmus in den Adagia den Silen und verglich ihn aufgrund seiner Wandlungsfähigkeit mit Christus: »[…] non mirificus quidam Silenius fuit Christus?«85 Naheliegend war dieser Vergleich, zumal Augustinus den im Martyrium entstellten Körper Christi als Zeichen der Schönheit des kommenden Heils interpretiert hatte.86 Wie Silen und Sokrates rechtfertigte auch das Beispiel Christi die Darstellung des Hässlichen in der Kunst. Die Sileni Alcibiadis und der Christus-Vergleich des Erasmus waren bereits dem jungen Rubens bekannt. Schon in seiner Zeit in Rom, in den Jahren 1601/02, hatte er in der Zeichnung Der betrunkene Alkibiades unterbricht das Symposion (New York. Metropolitan Museum) Platons Symposion thematisiert.87 Damals war die Silens-Thematik bereits in die Kunstliteratur

eingegangen. Wie schon erwähnt, hatte Gregorio Comanini 1591 in Il Figino overo del fine della Pittura Arcimboldos Kaiser Rudolf II. als Vertumnus (Abb. 90) erklären lassen: »Ich bin gleichsam ein Silen […] von außen erscheine ich als Monster und innen verberge ich edle Züge und ein königliches Bild.«88 Wahrscheinlich in Kenntnis von Arcimboldos Kaiserporträt und dieser Erläuterung desselben hatte Caravaggio 1602 in seinem zurückgewiesenen ersten Altarbild für die Contarelli-Kapelle dem heiligen Matthäus die silenischen Züge des Sokrates verliehen (Abb. 157) – eine provozierende Verletzung des decorum, von der Rubens, der im Frühjahr 1602 von Rom nach Mantua zurückkehrte, vielleicht gehört hat. Die Sileni Alcibiadis waren dann

83

Zit. ebda., S. 190.

87

84

Erwin Panofsky: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. München 1977, S. 320.

tauld lnstitutes, 46, 1983, S. 228–35; Dies.: Rubens: Subjects from

85

Erasmus: Adagia, II, 706, hier zit. n.: Edith Wyss: The Myth of

History (Corpus Rubenianum Ludwig Burchard, 13). London

Abb. 177  Sileni Alcibiadis, aus den Emblemas morales des Sebastián de Covarrubias y Orozco, Madrid 1610

ture of Plato’s Symposium. In: Journal of the Warburg and Cour-

1997, Bd. II, S. 61ff. (Kat.-Nr. 11).

Apollo and Marsyas in Italian Art, ca. 1460–1575. Newark/London 1996, S. 166, Anm. 40. 86

Siehe Elizabeth McGrath: The Drunken Alcibiades: Rubens’ Pic-

88

Gregorio Comanini: Il Figino. In: Barocchi 1962, S. 264: »È ch’io

Hans-Robert Jauss: Die klassische und die christliche Rechtfer-

quasi un Sileno / Del giovinetto greco / Tanto al buon vecchio

tigung des Häßlichen in der mittelalterlichen Literatur. In: Ders.

caro, / Cui sì pregiò ’l gran Plato, / Son, che fuor sembro un

(Hrsg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des

monstro, / E dentro alme sembianze / E regia imago ascondo.«

Ästhetischen (Poetik und Hermeneutik, Bd. III). München 1968, S. 156ff.

» MELI OR A LATEN T « . E I N E I MPLI ZI T E SE LB S T DARSTE LLU N G: RU B E N S’ TRUNKENER SILEN

305

und köstlicher Dinge waren, wenn man ihnen die Brust öffnete. So erscheinen bisweilen auch die guten Menschen in den Augen der Welt verächtlich, doch bergen sie große Fülle an Reichtümern unter einem rauhen Äußeren.«89

Abb. 178  Peter Paul Rubens: Bacchanal, um 1609/10?, Genua, Palazzo Durazzo Pallavicini

auch in die Emblemliteratur eingegangen: In den 1610 in Madrid publizierten Emblemas morales des Sebastián de Covarrubias y Orozco erscheinen sie unter dem Motto »Meliora latent« (Das Bessere ist verborgen) (Abb. 177). Das Epigramm besagt: »Alcibiades hatte einige Silene, die äußerlich grob und scheußlich aussehen, aber voller Edelsteine

Den Silenus Alcibiadis hat Jakob Cats in den Titel seines 1618 publizierten Emblembuchs aufgenommen, in dem er die Relativität aller äußeren Erscheinungen betonte, zu einer jeden pictura drei unterschiedliche Deutungen präsentierte und in seiner Vorrede erklärte, ein jeder solle die dargebotenen Sinnbilder seinen Möglichkeiten entsprechend (»yder na syn gheleghentheyt«) interpretieren.90 Erasmus’ Verständnis des Silens entspricht es, dass Rubens in einem Frühwerk in der Genueser Sammlung Durazzo Pallavicini diese mythische Gestalt im Bildtypus der Verspottung Christi bzw. des Ecce homo (Abb. 178) repräsentiert hat.91 Bereits Emil Kieser hat den Bezug dieses Werks zu seinem 1610/11 entstandenen Pendant, Rubens’ Ecce Homo in der Eremitage, bemerkt.92 Wie Svetlana Alpers belegt hat, nahm sich der Künstler der Silens-Thematik in einer geradezu bekennerhaften Weise immer wieder an. So hat er sich in einem Bacchanal im Genueser Palazzo Bianco selbst als von Wein und Liebe gefesselten Heros vergegenwärtigt.93 Zu Recht hat Reinhild Stephan-Maaser auch am Trunkenen Silen eine christologische Dimension, eine compassio-Motivik und Nähe zu Hiobs- sowie Melancholiedarstellungen festgestellt.94 Diese Momente sind freilich nur als feine Anmutungsqualitäten enthalten, die adäquat verstanden werden oder auch nicht. Mit

89

Henkel/Schöne 1996, Sp. 1275.

datiert wird, während Michael Jaffé zuletzt eine Fertigstellung in

90

Jakob Cats: Silenus Alcibiadis sive Proteus. Amsterdam 1618,

den Jahren 1615–1618 angenommen hat, zu der ersten Fassung

Voor-reden, 2. Siehe Jürgen Müller: Der sokratische Künstler.

des Münchener Silens. (Göttler 2008, S. 459ff., zur Datierung S. 459f., Anm. 80.)

Studien zu Rembrandts Nachtwache. Leiden/Boston 2015, S. 117f. 91

92

Münchener Jahrbuch der Bildenden Kunst, N.S. 13, 1938/39,

Giovanna Rotondi Terminiello: Il Baccanale Durazzo Pallavi-

S. 185–202; Göttler 2008, S. 437.

cini. In: Caterina Limentani Virdis/Francesca Bottacim (Hrsg.): Rubens dall’Italia all’Europa. Atti del convegno internazionale

93

di studi. Padua, Mai 1980, Vicenza 1992, S. 89–93. Göttler betont den engen Bezug dieses Gemäldes, das traditionell um 1609/10

306

Emil Kieser: Rubens’ Münchener Silen und seine Vorstufen. In:

Alpers 1995, Abb. 72. (Die Eigenhändigkeit dieses Werks ist nicht unumstritten.)

94

Stephan-Maaser 1992, S. 169ff., 219ff.

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

den eher unterschwelligen ikonographischen Referenzen hat Rubens dies der Rezeptionskompetenz der Betrachter überantwortet. Rubens’ Sokrates-Silen ist eine nebulöse, gewiss in bono und in malo deutbare Figur, zumal das Gemälde ein skandalöses Motiv enthält, das man, wenn überhaupt, erst auf den zweiten Blick gewahr wird (Abb. 174). Wie Stephan-Maser erkannt hat, wird sein Betrachter nicht nur zum Augenzeugen der Kopulation der Ziegen am rechten Bildrand, sondern zumindest mit der Andeutung einer zweiten Penetration konfrontiert.95 Der Schwarze hinter ihm stützt oder zwickt den Sokrates-Silen nicht bloß, wie der Griff seiner linken Hand in das fleischige Gesäß erkennen lässt. Alpers hat diese Beobachtung u. a. mit dem Hinweis auf eine Rubens-Zeichnung in Chantilly unterstrichen, in der Herkules offenbar dasselbe widerfährt (Abb. 179).96 Dieses skandalöse Motiv hat Rubens freilich taktvoll kaschiert und dabei folgte er vermutlich den Anweisungen, die sich im zweiten Buch von Ciceros De oratore finden. Die dort dargelegte Theorie des Witzes und der taktvollen Ironie, die Castiglione in seinen Libro del Cortegiano weitgehend übernommen hatte, war in der Frühneuzeit ein allgemeines Bildungsgut, war Grundlage ihrer Konversationsrhetorik. Das, was man als lächerlich ansehen mag (regio quasi ridiculi),97 so hatte Cicero gefordert, sei so wiederzugeben, dass der Rezipient »mehr ahnt, als er sieht«.98 (Es scheint, als habe Rubens dies nachgerade in der Figur des ahnungsvoll blickenden Knaben visualisiert.) Der vir bonus dicendi peritus weiß um »die Situation, die richtige Dosierung des Witzes sowie die Zurückhaltung und Sparsamkeit in seinem

Abb. 179  Peter Paul Rubens: Der trunkene Herkules, um 1633–39, Zeichnung, Kreide u. Tinte, Château de Chantilly, Musée Condé

Gebrauch, die den Redner vom Spaßmacher unterscheiden werden (distinguent oratorem a scurra)«.99 Offenbar wollte Rubens solchen Takt demons­trieren, der auch die weiteren drastischen Bildelemente im Licht eines wohlbedachten Kalküls erscheinen lässt. Dabei handelt es sich bei dem angedeuteten Skandalon nicht um einen versteckten clavis interpretandi. Entdeckt man die sexuelle Handlung, so wird damit nicht eine höhere Verständnisebene des Bildes eröffnet, sondern nur das flankierende Thema der gleichgeschlechtlichen Sexualität, das weitere Fragen aufwirft. Denn das, was im Zentrum des Gemäldes, unweit des kopulierenden Ziegenpaares mehr zu ahnen, als zu sehen ist, ist kein Beispiel

95

Ebda., S. 13.

Paris, Musée du Louvre, Paris 1978, S. 108 (Kat.-Nr. 110: La mar-

96

Zu dem um 1633–1635 entstandenen Zeichnungsfragment in

che de Silène). Das früher in die Zeit um 1616 datierte und Ru-

Chantilly siehe Klaus Albrecht Schröder/Heinz Widauer (Hrsg.):

bens zugeschriebene Blatt wird inzwischen als Kopie bewertet,

Peter Paul Rubens. Ausst.-Kat. Wien, Albertina, Ostfildern-Ruit

siehe http://arts-­graphiques.louvre.fr/detail/oeuvres/173/110463

2004, S. 401ff. (Kat.-Nr. 102). Neben weiteren von Alpers ange-

-La-Marche-de-Silene-max (4.3.2021). Vermutlich nach dem

führten Beispielen (Alpers 1995, Abb. 65–67) ist eine Zeichnung

nicht erhaltenen Original haben Christoffel Jegher und Schelte a

zu erwähnen, in der eine sexuelle Handlung zwischen dem

Bolswert Stiche angefertigt.

Silen und einem hinter ihm befindlichen, mit der linken Hand

97

Cicero, De oratore, II, 236.

in seinen Bauch greifenden Satyr angedeutet ist. Siehe Rubens,

98

Ebda., II, 242.

ses maîtres, ses élèves. Dessins du musée du Louvre. Ausst.-Kat.

99

Ebda., II, 247.

» MELI OR A LATEN T « . E I N E I MPLI ZI T E SE LB S T DARSTE LLU N G: RU B E N S’ TRUNKENER SILEN

307

Abb. 180  Anthonis van Dyck nach

Rubens: Der trunkene Silen, um 1625,

ehemals Berlin, Kaiser Friedrich Museum, Kriegsverlust

der Knabenliebe, die man Sokrates, weiteren Philosophen, Königen und Göttern nachsagte.100 Dass der Trunkene Silen von den Zeitgenossen als ein provokantes Werk angesehen wurde,101 bezeugt eine verlorene Werkstatt-Replik des Anthonis van Dyck (Abb. 180). Rudolf Oldenbourg hat hervorgehoben, dass ihr Urheber die trunken ihre Kinder stillende Pansfrau und weitere Motive des Vorbildes weggelassen hat, »die in der Atmosphäre von brutalem Wein- und Liebesgenuß zarte Gemüter allerdings verletzen konnten.«102

100

Zum Ausgleich fügte der Schüler eine schlanke Mänade hinzu und ließ Rubens’ psychologisch so differenzierten Knaben am rechten Bildrand fröhlich wasserlassend bildeinwärts schreiten. Wenngleich er das eigentliche Skandalon in seiner Replik unverändert wiedergegeben hat, bezeugte diese doch, dass ihm Rubens’ Werk zu weit ging.103 Reinhild Stephan-Maaser hat sich bemüht, die dem Münchener Gemälde eigene Form der Sinnkonstitution zu präzisieren:

Benvenuto Cellini berichtet, dass er bei einem Streit mit Baccio

setzt von Goethe. Mit einem Nachwort von Harald Keller, Frank-

Bandinelli, bei dem dieser ihn als Sodomiten beschimpfte, zur Freude des Herzogs von Florenz und der weiteren Anwesenden

furt/M. 1981, S. 397.) 101

antwortete: »Aber wollte Gott, daß ich mich auf eine so edle Kunst verstünde! Denn wir lesen, daß Jupiter sie mit Ganymeden verübte, und hier auf der Erde pflegen die größten Kaiser

Im 19. Jahrhundert schrieb der amerikanische Maler Thomas Eakins in einem Brief: »Rubens is the nastiest most vulgar noisy painter that ever lived.« (Zit. n. Alpers 1995, S. 133.)

102

Rudolf Oldenbourg: Über Repliken von Rubens’schen Gemäl-

und Könige derselben; ich aber als ein niedriges und geringes

den. In: Ders.: Peter Paul Rubens. Hrsg. v. Wilhelm von Bode,

Menschlein wüßte mich nicht in einem so wundersamen Ge-

München/Berlin 1922, S. 164ff., Zitat S. 166. Siehe auch Stephan-

brauch zu finden.« (Cellini: Leben des Benvenuto Cellini. Über-

Maaser 1992, S. 296.

308

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

»Das Bild des ›Trunkenen Silens‹ kann vom Betrachter nicht als ›Verkörperung‹ einer geheimen, durch ihn zu entschlüsselnden Botschaft aufgefaßt werden […]. Das Bild entzieht sich einer rationalen Abstraktion […]. Sowohl die weithin offene Ausdeutbarkeit als auch die starke, Geschichten evozierende Affizierung des Betrachters legen die Darstellung selbst als ›eigentliche‹ Handlungs- und Verstehensebene offen. Dabei behauptet sich eine nicht mehr in moralischer Verrechnung und verstandesmäßiger Auflösbarkeit aufgehende Realität […] die mythische Welt [wird] zu einer […] Auseinandersetzung mit den elementaren Lebensfragen genutzt.«104

Dies verdient unterstrichen zu werden. Der Sinn der von allen literarischen und ikonographischen Vorbildern abweichenden Handlung muss besprochen, diskursiv präzisiert werden. Die Hauptfigur in dem verdichteten Reflexionsbild verkörpert die Stellung des Menschen zwischen Ratio, Emotionalität und Trieb.105 Ihre Darstellung fordert die Anteilnahme des Betrachters ein, leistet aber auch einer moralischen Entrüstung Vorschub und liefert so reichen Gesprächsstoff. Während Stephan-Maaser ihre Analyse des inhaltlich ebenso dichten wie vagen Gemäldes letztlich in einem sprachskeptischen, wenn nicht vernunftkritischen Statement ausklingen lässt, sind diese Merkmale als sinnvolle zu beschreiben, eben als kommunikations-

103

fördernd. Auch der Trunkene Silen ist ein Programm für zahllose Gespräche. Dass Rubens Sinn für die kommunikationsfördernde, Geselligkeit stiftende Wirkung von Kunst hatte, zeigt auch sein Liebesgarten (Madrid, Prado), den Elise Goodman überzeugend als Darstellung eines Geselligkeitsideals interpretiert hat, als Bild einer Conversatie à la mode, eines galanten Spiels unter weiblicher Regie, wie es vor allem in den Pariser Salons geläufig war und auch in der zeitgenössischen Höflichkeitsliteratur behandelt wurde.106 Die irritierende Darstellung des Trunkenen Silens musste die Zeitgenossen provozieren, zumal dieses Werk in der Blütezeit des Neostoizismus entstand. Seine Wortführer insistierten, dass jeder Affekt auf falschen Annahmen beruhe und lediglich eine Trübung des Verstandes darstelle. War der junge Rubens den Neostoikern verbunden, wie er u. a. mit seinem Selbstporträt in dem 1615 entstandenen Gemälde Justus Lipsius und seine Schüler (Florenz, Palazzo Pitti) bekundet hat, so rückte er – Warnke, Morford u. a. haben dafür Belege erbracht – später von ihrer Position mehr und mehr ab.107 Svetlana Alpers hat Rubens’ Identifikation mit dem Silen hervorgehoben, dem Geschichtenerzähler, den in der sechsten Ekloge Vergils zwei Hirten und die Nymphe Aegle fesseln, ihm Maulbeeren einflößen und so betrunken machen, worauf er mystische Geschichten erzählt, die Worte gleichsam aus ihm hervorsprudeln, es aus ihm spricht.108 Der bacchantische Themenkreis wird dem Künstler, dem seine enorme Pro-

tung der halbtierischen Mutter scheint auf den kaum noch

Ein von Étienne de La Hyre gemaltes, auf das Jahr 1626 datiertes Galeriebild in Warschau zeigt van Dycks Replik als Exponat der

zurechnungsfähigen Silen Eindruck zu machen und in seinem

Kunstkammer des Vladislaus Sigismund Vasa. Siehe Julius A.

Gesicht Züge einer Anteil nehmenden Sympathie auszulösen.«

Chroscicki: Diplomazia e credito bancario. Rubens, Bruegel dei Velluti e i re di Polonia. In: Caterina Limentani Virdis/Francesca

(Ebda., S. 96.) 106

Bottacim (Hrsg.): Rubens dall’Italia all’Europa (Atti del con-

Elise Goodman: The Garden of Love as Conversatie à la mode. Amsterdam/Philadelphia, PA 1992. Schon Burckhardt hatte sei-

vegno internazionale di studi, Padua, Mai 1980). Vicenza 1992,

ner Erörterung des Liebesgartens Ausführungen zum »Gesell-

S. 102.

schaftsbild« vorausgeschickt: Jacob Burckhardt: Erinnerungen

104

Stephan-Maaser 1992, S. 83.

aus Rubens. Mit einem Nachwort u. Anm. hrsg. v. Hans Kauff-

105

Vgl. Martin Warnke: Rubens. Leben und Werk. Köln 2006, S. 95f. Warnke hebt die Bedeutung der »mit letzten Kräften« ihre Kin-

mann, Stuttgart 1938, S. 147ff. 107

der stillenden Pansfrau hervor, die Rubens nach einer Anstückung ergänzt und damit »die Handlung bildintern geschlossen« hat: »Die aus tiefster Erniedrigung erbrachte humane Leis-

Warnke 1965, S. 19–38; Mark Morford: Stoics and Neostoics. Rubens and the Circle of Lipsius. Princeton, NJ 1991, S. 211ff.

108

Alpers betont: »Virgil’s Silenus, not unlike Rubens himself, was an actively nostalgic ancient.« (Alpers 1995, S. 143.)

» MELI OR A LATEN T « . E I N E I MPLI ZI T E SE LB S T DARSTE LLU N G: RU B E N S’ TRUNKENER SILEN

309

duktivität und sein diplomatisches Engagement zwischen Madrid und London ein Höchstmaß an Disziplin abverlangte, durchaus als Projektionsfeld von Sehnsüchten gedient haben. Wie Alpers belegt hat, variierte Rubens bei der Behandlung solcher Themen sein Bildpersonal, überblendete seine Bedeutungen und thematisierte einen Rollentausch der Geschlechter, gleichermaßen eine männliche Dominanz und »pleasure and productivity of male submission«.109 Darin sieht Alpers Anzeichen einer »männlichen Weiblichkeit«,110 wobei sie den Trunkenen Silen als ein Gemälde deutet, in dem Rubens seine Stellung in der höfischen Gesellschaft reflektierte, deren Zwängen er sich geradezu masochistisch ausgesetzt hat. Dass der Künstler trotz der dort empfangenen Ehrungen eine kritische Distanz zum Hof wahrte, zeigt seine umfangreiche, ca. 8000 Briefe umfassende Korrespondenz,111 und lässt sich auch an manchen seiner Werke belegen. Kaum eines aber ist dahingehend aussagekräftiger als der Trunkene Silen, mit dem er sich mit Bedacht über die höfischen Verhaltensnormen hinwegsetzte. Bei Hofe galt es, wie Graciáns Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit zeigt (ich zitiere Kapitelüberschriften dieser Schrift): »Leidenschaftslos sein« (Nr. 8), »Die Einbildungskraft zügeln« (24) »Nie aus der Fassung geraten« (52), »Joviales Gemüt« (zeigen) (79), »Sich mäßigen« (207). »Jede übermäßige Leidenschaft«, so Gracián, »ist eine Abweichung von unserer vernünftigen Natur.«112 Diesem im 17. Jahrhundert vorherrschenden pejorativen Begriff der Leidenschaften hat Rubens bereits durch die Malweise widersprochen. Seine Komposition wird bestimmt durch die wie zufällig wirkende Reihung der Figuren. Nicht ein harmonisches Miteinander, sondern die chaotische Auflösung der Gemeinschaft im enthemmten Zustand der Trun-

Abb. 181  Maerten van Heemskerck: Lukas malt die Madonna, 1532, Haarlem, Frans Hals Museum

kenheit hat der Maler vor Augen geführt. Dabei bediente er sich der Figurationsprinzipien eines leidenschaftlichen abruptum sermonis genus, in dem die Harmonie und Ordnung suspendiert sind. In seinen Spätschriften Brutus und Orator hatte Cicero ein solches Pathos zum höchsten Maßstab der Beredsamkeit erhoben, nicht ohne zu warnen, dass ein zur besonnenen Darstellung unfähiger Redner wirke, »wie ein Wahnsinniger vor Vernünftigen, wie ein trunken Tobender vor Nüchternen«.113 Dies hat Rubens nicht nur in Kauf genommen, sondern thematisiert und in seinem Trunkenen Silen programmatisch die manìa Platons, die Freiheit des vom furor poeticus beseelten Dichters beansprucht. Dem entspricht auch die Pinselführung, in der er nicht Disziplin und feinmalerische Akribie demonstrierte, sondern eine großzügig disponierende, schnelle Arbeitsweise. Der Trunkene Silen ist ein Musterbeispiel für die von Giovan Pietro Bellori gerühmte »gran prontezza e la furia del pennello« des

109

Ebda., S. 152.

formulierten kritischen Bewertung des Absolutismus siehe

110

»Such male femininity, if that is what it is, offers a more complex

Warnke 1965, S. 39–64.

sense of masculinity as well as a more complex sense of the rela-

112

tionship between men and women.« (Ebda., S. 157.) 111

Zoff: Die Briefe des P. P. Rubens. Wien 1918, S. 469. Zu der darin

310

Aus dem Spanischen von Arthur Schopenhauer, Zürich 1993, S. 127.

Zum Umfang seiner Korrespondenz: Charles Ruelens, in: Commission Rubens – Institution, Bulletin-Rubens, 1, 1882, S. 9; Otto

Balthasar Gracián: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit.

113

Cicero: Orator, 99: »[…] furere apud sanos et quasi inter sobrios bacchari vinulentus videtur«.

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Meisters.114 Einige Figuren, wie die trinkenden Kinder am Boden, sind durch ihr infinito charakterisiert, nur schemenhaft dargestellt. Geradezu wie eine chimärische Traumgestalt wirkt der beleibte Flötenspieler am linken Rand des Gemäldes, das ja in der Tat eine poesia, ein Produkt der Phantasie ist. In ihm hat Rubens für diese und die Leidenschaft Partei ergriffen und dabei folgte er berühmten Vorbildern.

Apollinische und dionysische Künstler

Schon Michelangelo, der ›sokratische Satyr‹, hatte, wie Vasari berichtet, für seinen Mäzen Lorenzo de’ Medici das Frühwerk einer Faunsbüste geschaffen, die darauf anspielte, dass der Künstler und der Magnifico für den Gegensatz ihres hässlichen Äußeren und ihrer inneren Tugenden bekannt waren.115 Nachdem Pico della Mirandola erklärt hatte: »Wer Pan nicht an sich zu ziehen vermag, nähert sich Proteus vergebens«,116 nahm auch Michelangelo Partei für die mythische Gefolgschaft des Dionysos.117 Später reagierte er auf die Angriffe, denen er aufgrund seines künstlerischen Eigensinns und der terribilità seiner Werke ausgesetzt war, mit einer humoralpsychologischen Rechtfertigung. Im Zeichen Saturns geboren, somit ebenso zur Melancholie wie zum furor poeticus veranlagt, sei ihm, wie er in einem Sonett schrieb, die »dunkle Seite der Nacht« zugedacht.118 In seinem Jüngsten Gericht stellte er sich bekanntlich in der abgezogenen Haut des Heiligen Bartholomäus dar, dem christlichen Pendant des geschundenen Marsyas.

Ein ähnliches Bekenntnis enthält das Gemälde Lukas malt die Madonna (Abb. 181), in dem Maerten van Heemskerck, wie schon Karel van Mander betonte, sich als furor poeticus verewigte und die Staffelei des Malers mit einer dionysischen Maske bekrönte.119 1536/37 sollte er einen ausgelassenen Triumphzug des Bacchus mit tollen und derb-drastischen Motiven ausführen (Wien, KHM). Während sich manche Künstler so auch zum Abgründigen bekannten, wurden die

114

Bellori 2009, Bd. 1, S. 267.

117

Vgl. Beat Wyss: Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität

115

Paul Barolsky: Giottos Vater. Vasaris Familiengeschichten. Ber118

»Ed a me consegnaro il tempo bruno, / Come a simil nel parto e

lin 1996, S. 165f. 116 Pico

Abb. 182  Benvenuto Cellini: Entwurf für das Siegel der Florentiner Akademie;

Apollon mit der Pythonschlange, 1562/63, Federzeichnung, München,

S­ taatliche Graphische Sammlung

der Moderne. Köln 1996, S. 11ff. u. 20ff. nella cuna.« (Michelangelo: Colui che fece. In: Ders.: Sonette.

della Mirandola: Conclusiones … de modo intelligendi

Hrsg. v. Erwin Redslob, Berlin/Frankfurt/M. 1948, S. 94.)

hymnos Orphei, Nr. 28, zit. n. Wind 1984, S. 220. Marsilio Ficino hatte in einer Publikation von 1484 Alkibiades’ Beschreibung des Sokrates übersetzt, die von Ermalao Barbaro und Pico della Mi-

119

Gisela Kraut: Lukas malt die Madonna. Zeugnisse zum künstlerischen Selbstverständnis in der Malerei. Worms 1986, S. 85.

randola auch in Zusammenhang mit stilistischen Fragen herangezogen wurde (DaCosta Kaufmann 2009, S. 111).

Apollinische und dionysische Künstler

311

Abb. 183 Tizian: Die Schindung des

Marsyas, um 1560–76, Kromĕříž,

Erzbischöfliches Schloss

Künste in den Akademien auf das Gegenteil verpflichtet, auf eine belehrende, positive Werte setzende, regelgeleitete Kunst im Zeichen Apolls. Programmatisch zeigt dies Benvenuto Cellinis Entwurf für das Siegel der Florentiner Akademie auf einem an Großherzog Cosimo I. gerichteten Brief: Er repräsentiert den Gott Apoll, der die Schlange Python getötet hat, also über die Mächte der Dunkelheit triumphiert (Abb. 182).

120

Ein bevorzugtes Sujet, in dem zahlreiche Künstler zu der Opposition des Apollinischen und Dionysischen Stellung bezogen haben und das schon vor Rubens der Stilreflexion diente, war die Schindung des Marsyas.120 Aus dem musischen Wettstreit zwischen Apoll und seinem Herausforderer, dem phrygischen Satyr Marsyas, bei dem Minerva und die Musen als Richter fungierten, ging Apoll als Sieger hervor. Wie zuvor vereinbart,

Zu dieser Thematik siehe Katja Marano: Apoll und Marsyas. Iko-

denschaftlicher Klarheit« anging und die »grausige Geschichte

nologische Studien zu einem Mythos in der italienischen Re-

in eine sokratische Metapher« verwandelte, siehe Wind 1984,

naissance. Frankfurt/M. 1998. Zu der Darstellung in der Decke

S. 198–204, Zitate S. 198.

der Stanza della Segnatura, in der Raffael das »Thema mit lei-

312

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Abb. 184  Hendrick Golzius:

Die Schindung des Marsyas, 1590,

Kupferstich

mangelnden Kunstverstandes darstellte:124 Hier erscheint auf der Seite Apolls neben den Musen Minerva, die Beschützerin von virtus, ars und sapientia, auf derjenigen des Marsyas hingegen der eselsohrige Midas. Das von Francius Estius verfasste lateinische Gedicht am unteren Rand des Stiches besagt:

durfte er nach Belieben mit dem Unterlegenen verfahren, und so zog er Marsyas die Haut vom lebendigen Leibe ab.121 In seiner auf eine Zeichnung Giulio Romanos zurückgehenden Schindung des Marsyas (Abb. 183), die man neuplatonisch als Darstellung der Befreiung der Seele aus dem Körper, dem »carcer terreno« (Michelangelo), gedeutet hat,122 scheint Tizian Sympathie mit dem Satyr bekundet zu haben. Dessen Bestrafung galt als mythisches Äquivalent des Martyriums des Apostels Bartholomäus, eine Bedeutungsdimension, die Tizian dadurch akzentuierte, dass er den Marsyas mit dem Kopf nach unten leiden ließ und sein Ende damit dem Martyrium Petri analogisierte.123 Zugleich hat er in diesem Werk ostentativ seine antiakademische, rasche, durch ihre sprezzatura charakterisierte Malweise vorgeführt. Auf die andere Seite schlug sich hingegen Hendrick Goltzius, der 1590 in einem Kupferstich das Midas-Urteil (Abb. 184) unmissverständlich als Beispiel

1637 sollte der damals in Neapel tätige Jusepe (José) de Ribera seinen bis dahin kompromisslosen Caravaggismus in der Marsyas-Thematik relativieren. 1626 hatte er in Anlehnung an einen Entwurf Annibales für eine

121 Ovid:

123 Humfrey

Metamorphosen, 6, 382–400; Ovid: Fasti, 6, 706–707;

»Dem Bocksfüßigen verleiht (Midas) der Berecyn­ thier im Wahn die Palme, Tmolus reicht sie jedoch Dir, Phoebus, der Du Dich um den (Musensitz) Pindus und den Haemus kümmerst. […] Die wahre Kunst ist bescheiden und schweigsam und nimmt den Plappermäulern mit geschwollener Ausdrucksweise die schallenden Hörner.«125

ebenso geschildert bei Herodot, Hyginus und Plutarch. 122 Wind

1984, S. 198–204; Jaromir Neumann: Tizianuv Apollo a

Marsyas v Kromerizi. Umeni 1961; Wyss 1996, S. 133ff.

Apollinische und dionysische Künstler

2007, S. 204. Siehe zu diesem Werk die eingehende

Analyse in Bohde 2002, S. 271–294. 124

Krystof 1997, S. 51ff.

125

Zit. ebda., S. 53, Anm. 103.

313

Abb. 185  Jusepe de Ribera:

Der trunkene Silen, 1626, Neapel,

Museo di Capodimonte

Abb. 186  Jusepe de Ribera:

Die Schindung des Marsyas, 1637,

Neapel, Museo di Capodimonte

314

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Abb. 187 Caravaggio: Amor vincitore, 1602, Berlin, Gemäldegalerie

Abb. 188  Giovanni Baglione: Amore sacro e amore profano, 1602/03,

Silbervase seinen Trunkenen Silen (Abb. 185) gemalt, den noch Jakob Burckhardt 1885 in seinem Cicerone als »abscheulich[]« charakterisieren sollte.126 Das Werk, nach dem der Maler selbst zwei Jahre später einen Kupferstich angefertigt hat, zeigt den weisen, prophetisch begabten Halbgott am Boden liegend, wie er sich nachschenken lässt und von seinem Vater Pan mit Efeu bekränzt wird. Ein wiehernder Esel und ein lachender Pansknabe ergänzen die Szene. Die Figuren könnten hässlicher kaum sein, aber sie lassen es sich wohlergehen! Die Szene spielt sich unter den Augen eines am rechten oberen Bildrand nebst einer Maske dargestell-

ten antikisierenden idealschönen Hauptes ab. Ihm gegenüber ist in der linken unteren Bildecke eine Schlange, Symbol des Neides und der üblen Nachrede, dargestellt, die ein Blatt mit der Signatur »Josephus É Ribera; Hispanus Velentin. et Accademicus Faciebat Partenope 1626« zerreißt.127 Mehr als zehn Jahre später, 1637, schuf Ribera sein ebenfalls signiertes und datiertes Gemälde Die Schindung des Marsyas (Abb. 186), das ein identisches Höhenmaß hat wie der Trunkene Silen und wahrscheinlich als Pendant desselben konzipiert ist. Das Gemälde lässt in seiner dynamischen Komposition und seinen malerischen Qualitäten den Einfluss

126 Jacob

127

Burckhardt: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss

der Kunstwerke Italiens: Malerei. Hrsg. v. Bernd Roeck, Chris-

Rom, Palazzo Barberini, Galleria Nazionale di Arte Antica

Denis Pagano: Jusepe de Ribera: Der trunkene Silen. In: Ausstellungskatalog Bonn 1996, S. 156 (Kat.-Nr. 60).

tine Tauber u. Martin Warnke (Jacob Burckhard Werke, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3), München/Basel 2001, S. 237.

Apollinische und dionysische Künstler

315

Abb. 190  Guido Reni: Kämpfende Putten, 1627, Rom, Galleria Doria Pamphilj

Abb. 189  David Teniers nach Annibale Carracci: Amor überwältigt Pan, 1650–56, London, Courtauld Gallery

Anthonis van Dycks erkennen, in dessen vornehmer Manier der strafende Gott gemalt ist.128 Derartige kunsttheoretische Allegorien, deren erstes Beispiel, wie wir gesehen haben, schon Raffael mit seiner Transfiguration (Abb. 70) gemalt hatte, traten ver-

128



mehrt auf, nachdem Caravaggio mit seinem Amor vincitore (Abb. 187) die fleischliche Liebe über die Wissenschaften und Künste hatte siegen lassen und dabei hehre, die Überwindung der Leidenschaften thematisierende Kunstwerke, wie Michelangelos Skulptur Der Sieger (Florenz, Palazzo Vecchio) und seine GanymedZeichnung (Cambridge, MA, Fogg Art Museum) sowie Raffaels Heilige Caecilie (Abb. 161), ironisch zitiert hatte.129 Sein Kontrahent Giovanni Baglione reagierte darauf mit dem Gemälde Amore sacro e amore profano (Abb. 188), in dem er die Verhältnisse zurechtrückte, nämlich den wie der Erzengel Michael auftretenden Amor sacro triumphieren ließ und dem mit caravag­ gesken Anklängen gemalten unterlegenen irdischen Amor eine teuflische Faunsgestalt mit Eselsohren bei-

Bohde: Die Metaphorisierung des Gewaltaktes. Tizians Schin­

Denis Pagano: Jusepe de Ribera: Apoll und Marsyas. In: Ebda., S. 158 (Kat.-Nr. 61). Beide heute im Museo di Capodimonte be-

dung des Marsyas. In: Ursula Renner/Manfred Schneider (Hrsg.):

findlichen Gemälde messen in der Höhe 185 cm. Der Silen misst

Häutung. Lesarten des Marsyas-Mythos. München 2006, S. 135–

in der Breite 229 cm, der Marsyas 232 cm. Siehe zu diesen Wer-

160, bes. S. 157.] Davon kann bei Riberas Darstellung nicht die

ken und Riberas weiteren Versionen der Apoll-Marsyas-Thema-

Rede sein, dennoch erscheint in ihr der anteilnehmend auf Mar-

tik auch Michael Scholz-Hänsel: Jusepe de Ribera. Köln 2000,

syas herabblickende Apoll durchaus als positiv konnotierte

S. 52ff. u. 100.

Identifikationsfigur.

Die Schindung ist auch als Ritus der Reinigung aufgefasst wor-

129

Siehe Herwarth Röttgen: Caravaggio: Der irdische Amor oder

den, bei dem die innere Schönheit des hässlichen Marsyas ent-

der Sieg der fleischlichen Liebe. Frankfurt/M. 1992; Prater 1992,

hüllt wird (Wind 1984, S. 199f.). Daniela Bohde betont, dass in

S. 149ff.; Held 1996, S. 148ff.; Schütze 2017, S. 169, 377ff. und ins-

manchen Darstellungen Apoll als sorgfältiger, mit der Präzision

bes. Sickel 2003, S. 132–159.

eines Anatomen vorgehender Künstler erscheint. [Daniela

316

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Abb. 191 Caravaggio: Schlafender

Amor, 1608, Florenz, Palazzo Pitti,

Galleria Palatina

gesellte, deren Physiognomie an Caravaggio erinnert.130 Im selben Jahr, in dem Baglione dieses Werk vollendete, schuf Rubens in Valladolid sein Gemälde Demokrit und Heraklit (Abb. 172), das wir ebenfalls als kunsttheoretische Allegorie gedeutet haben. In dem nur durch eine Kopie von David Teniers überlieferten Gemälde Amor überwältigt Pan hatte ­Annibale Carracci den Kampf von himmlischer und ­irdischer Liebe noch recht versöhnlich dargestellt, wie insbesondere der Rundtempel im Hintergrund zeigt (Abb. 189).131 Doch mit Caravaggios provozierendem Amor vincitore war es vorbei mit solcher Konzilianz. Guido Reni sollte dann mit seinen Kämpfenden Putten explizit einen Kampf der Malerschulen thematisieren (Abb. 190): Das 1627 entstandene Gemälde zeigt zarte, geflügelte Amoretten, die von dunkelhäutigen und zum Teil auch dunkelhaarigen Putten zu Boden

g­ ezwungen werden. Den Obsiegenden sind Weinlaub, ein Gefäß und eine Trinkschale zugeordnet, den Unterlegenen ihre zu Boden gefallenen Pfeile und Bögen. Das Werk repräsentiert den Angriff der gewalttätigen Caravaggisten auf die ›gute Malerei‹.132 In Guidos um 1633 entstandenem Gemälde in der Alten Pinakothek bestraft dann ein in idealer Manier dargestellter Apoll eine caravaggeske Marsyas-Gestalt.133 So machte er auch aus dieser Thematik eine allegorische Darstellung des Sieges der klassizistischen Kunst über den ­Naturalismus. Bekundeten die angeführten Gemälde Bagliones und Guidos den klassizistischen Standpunkt, dass die Kunst alles Triebhafte sublimieren und zu einer idealen Schönheit finden müsse, so hatte Caravaggio dem widersprochen, als er 1608 auf Malta seinen Schlafenden Amor (Abb. 191) malte, sein letztes mythologisches Werk.

130 Herwarth

Röttgen: Quel diavolo è Caravaggio: Giovanni Bag-

132

Pfisterer 2008.

lione e la sua denuncia satirica dell’Amore terreno. In: Storia

133

Siehe Alte Pinakothek München. Erläuterungen zu den ausge-

131

dell’arte, 79, 1993, S. 326–340.

stellten Gemälden. Hrsg. v. d. Bayerischen Staatsgemäldesamm-

Zu diesem Werk siehe: The Princes Gate Collection. Published

lungen, München 1983, S. 422.

by the Trustees of the Home House Society for the Courtauld Institute of Art, London 1981, S. 70 (Nr. 101).

Apollinische und dionysische Künstler

317

In der Darstellung Amors als eines schmutzigen, mit offenem Mund auf dem Boden schlafenden Knaben bezog er sich auf eine antike Skulptur des schlafenden Cupidos (Florenz, Uffizien) und eine an diese anknüpfende, nicht erhaltene Skulptur Michelangelos.134 Das Motiv des ruhenden Liebesgottes war auch in Darstellungen des Todes des Adonis geläufig, in denen es die Trauer der Venus über ihre unerfüllte Liebe betonte. Insofern ist es naheliegend, den Schlafenden Amor als selbstkritisches Sinnbild einer »Überwindung der erotischen Passion« zu interpretieren, wie dies Maurizio Marini getan hat.135 Hatte Caravaggio als Dreißigjähriger im Amor vincitore (Abb. 187) die sinnliche Liebe über die Wissenschaften und Künste triumphieren lassen, so stellte er sieben Jahre später, inzwischen zum Malteserritter ernannt, was ihn zum Zölibat verpflichtete, einen Amor dar, der ruht und die Welt in Ruhe lässt. Zugleich folgte er, wie bereits Andreas Prater erkannt hat,136 in diesem Werk einer Charakterisierung, die sich in Platons Symposion findet. Dort enthüllt Sokrates mit den Worten der Diotima die wahre Natur des Eros, der keine Gottheit, sondern ein Dämon sei, ein Mittler zwischen den Göttern und Menschen, ein Kind von Poros und Penia:

schmiedend und nach Erkenntnis begierig und erfinderisch, Weisheit suchend sein ganzes Leben […] und weder als Unsterblicher ist er geartet noch als Sterblicher, sondern bald blüht er denselben Tag und lebt, wenn es ihm wohl geht, bald aber stirbt er hin. Und wieder lebt er auf durch des Vaters Natur, und das Erworbene zerfließt ihm immer, so daß Eros weder jemals arm ist noch reich und in der Mitte ist von Weisheit und Torheit.«137

Für einen solchen positiven oder zumindest dialektischen Begriff der Leidenschaften stand auch Sokrates, das, wie Montaigne ihn nannte, »vollendete[] Beispiel aller großen Vorzüge«.138 In Platons Phaidros ist es ja gerade die Leidenschaft seiner Rede, die ihn von den Sophisten unterscheidet. Nur mit verhülltem Haupt hält Sokrates hier eine Rede wider den Eros, um jene des Lysias, die Phaidros so beeindruckt hatte, in den Schatten zu stellen. Dann aber folgt der dialektische Einwand gegen die eigene ›gotteslästerliche‹ Rede: »Wenn also doch Eros in Wirklichkeit ein Gott oder eine Gottheit ist, so kann er nichts Übles sein.«139 Und, »wenn der Rausch schlechthin ein Übel wäre,

»Als Sohn von Reichtum und Armut ist Eros in sol-

dann wäre es wohlgesprochen. Nun aber werden die

ches Geschick gestellt: Erstlich bedürftig ist er

größten aller Güter uns durch den Rausch zuteil,

immer, und viel fehlt, daß er zart sei und schön, wie

wenn er als göttliches Geschenk verliehen wird.«140

die Vielen glauben, sondern hart und rauh und barfuß und heimatlos, immer am Boden lagernd ohne Decke, vor Türen und auf Straßen im Freien schlafend, da er die Natur der Mutter hat, immer der Bedürftigkeit Genoß. Wie der Vater hingegen stellt er den Schönen und Guten nach, tapfer und verwegen und eifrig, gewaltiger Jäger, allezeit Ränke

134 Puglisi

Dieser von den Göttern gegebene Rausch sei ed­ler als jede menschliche Besonnenheit, so lautet Sokrates’ Credo in dieser gegen die Sophisten gerichteten Schrift. Die Liebe zählt zu den »widerspruchsvollen Dingen«; ihr Wesen erschließt sich im rauschhaften Erleben, nicht im begrifflichen Denken.141 Dieses Ver-

2002, S. 294ff. (Die dortige Abb. 149 zeigt die aus dem

gel. v. Kurt Hildebrandt. Stuttgart 1996, S. 75f. Die Rede der Dio-

2. Jahrhundert v. Chr. datierende Skulptur in den Uffizien.) Zu

tima von der Geburt des Eros hat auch Ficino behandelt [Marsi-

dem verlorenen Werk Michelangelos, das im 17. Jahrhundert

lio Ficino: De amore, VI, 7 (De amoris ortu)].

noch in Mantua nachgewiesen ist, siehe Ausstellungskatalog

138

Wie Anm. 82.

London 1994, S. 20ff.

139

Platon: Phaidros oder Vom Schönen, Kap. 20 (Übertragen u. ein-

135

Maurizio Marini: Michelangelo da Caravaggio. Rom 1974, S. 440.

136

Prater 1992, S. 144.

140

Ebda., Kap. 22 (S. 40).

137

Platon: Das Gastmahl oder Von der Liebe. Übertragen und ein-

141

Ebda., Kap. 46 (S. 69 sowie S. 101, Anm. 63).

318

gel. v. Kurt Hildebrandt, Stuttgart 31994, S. 38).

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

ständnis scheint sich Rubens im reifen Alter zu eigen gemacht zu haben. In seiner 1658 in London publizierten Schrift Graphice. The use of the Pen and Pencil sollte William San­ derson den Sammler anhalten: »to forbear Obscene Pictures; those Centaures, Satyrs Ravishings, […], though often done by rare Artists: unless you mean to publish the sign, because you delight in the sinn.«142 Dass manche großen Künstler eine Vorliebe für den bacchantischen Themenkreis zeigten, wertete Sanderson als Ausdruck eines verwerflichen Freimuts. Solche Vorbehalte hat Rubens in dem Münchener Gemälde in Kauf genommen und mit ihm ein Beispiel einer dialektischen, auch »manischen«, wie es bei Platon heißt, »von der bacchischen Wut der Philosophie«143 getriebenen Kunst vorgelegt. Der Trunkene Silen ist ein Rätsel ohne Lösung, das Beispiel einer selbstreflexiven Malerei, bei dem das ›Wie‹ der Darstellung schärfer konturiert ist, als sein Inhalt. Es ist ein tief humanes Werk, das jeder Vorentschiedenheit und Verhärtung im Prinzipiellen begegnen sollte, dessen Schöpfer von der Losung Picos wusste, der Weg zu Proteus führe über Pan,144 aber auch den Schmerz und Selbstverlust, den Preis der dionysischen Grenzerfahrungen, bedacht und ästhetischem Kalkül unterworfen hat. Das Gemälde, das Rubens sicherlich in einem privateren Bereich seines Hauses präsentiert hat, war eine Aufforderung zum Gespräch, bei dem der Hausherr sich, soweit er wollte, verständigen Gästen offenbaren konnte. Und in der Tat ist der Trunkene Silen, die komplexeste malerische Behandlung der kunsttheoretisch so folgenreichen Thematik der christusgleichen Sileni Alcibiadis, ein offenes Kunstwerk, in dem alles kreist um das Wesen des SilenSokrates, um das Alter ego des Künstlers, das die Phantasie immer wieder ausgreifen lässt, zu Gedankenflü-

142

Abb. 192  Theodoor Galle: Aspicientes in auctorem fidei, Titelkupfer aus Joannes David: Veridicus Christianus, Antwerpen 1601

gen motiviert. Es ist das Bild eines Proteus, der sich erliegend sträubt und findet. Nach Christine Göttler hat Rubens in den 1610er Jahren seine Darstellungen des Silens und eben auch das später erweiterte Münchener Gemälde mit dem Ziel des self-promoting als Demonstrationen der eigenen Beherrschung verschiedener Genres, Idiome und Stile

Zit. n. Muller 1989, S. 43. Ebda. auch der Hinweis, dass Mancini

the Silenus-figure in order to forcefully promote his own artistic

empfahl, bacchantische Bilder ins Schlafzimmer zu hängen, da

persona, in particular his ability to adapt and transform various

unter ihrem Eindruck schöne, kräftige Kinder gezeugt würden.

genres, idioms, and styles into a new northern practice.« (Gött-

143

Platon: Symposion, 33 (Platon 1979, S. 97).

ler 2008, S. 461.) »Sileni and satyrs were figures that referred to

144

Wie Anm. 116.

the infinite riches and cornucopian qualities of Rubens’s art.«

145

»I argue that the artist employed the rich cultural associations of

(Ebda., S. 482.)

Apollinische und dionysische Künstler

319

ausgeführt.145 Dies ist aus noch anzuführenden Gründen in der Tat bemerkenswert. Bei dem Trunkenen Silen ist allerdings anzunehmen, dass Rubens ihn in einem privateren Bereich seines Hauses nur einem eingeschränkten Adressatenkreis präsentiert hat.146 Denn die in diesem Werk vollzogenen Gleichsetzung von Silen und Christus war seinerzeit höchst umstritten. Tatsächlich war bereits 1601 in Antwerpen die katechetische Schrift Veridicus Christianus des Jesuiten Joannes David erschienen, für den Theodoor Galle den Titelkupfer geschaffen hatte (Abb. 192).147 Dieser visualisiert Davids Gleichnis vom Christen als Maler und seine an Gabriele Paleotti anschließende Behauptung, nahezu jeder denke bei der Betrachtung des Beispiels Christi an etwas Anderes. Der Stich zeigt zehn an der Staffelei arbeitende Maler im Halbkreis um den kreuztragenden Christus versammelt, dessen ›wahres Bild‹ der Abdruck seines Antlitzes im Schweißtuch der Veronika hinterlassen hat. In der Darstellung des Kupferstichs aber gibt nur der vorderste der zehn Maler den kreuztragenden Christus wieder, während die übrigen an Darstellungen anderer biblischer oder gar profaner Sujets arbeiten, insbesondere der Maler links im Vordergrund, auf dessen Leinwand das Haupt und die Brust eines Satyrs oder Silens zu sehen sind.148 Damit hat Galle vor Augen geführt, was Joannes David empört kritisierte. Im Veridicus Christianus erklärte der Autor:

Offenbar hat David in seiner Kritik einer falschen imitatio Christi und der Produktion unwahrer Bilder des Heilsgeschehens an Erasmus’ Silen-Christus-Vergleich, an seinem Satz: »[…] non mirificus quidam Silenius fuit Christus?«,150 Anstoß genommen.151 Rubens, der eben diesen Gedanken im Trunkenen Silen und weiteren Darstellungen visualisiert hat, wird, wissend, dass sein Gemälde den Zorn der Orthodoxie auf sich ziehen musste, dasselbe nicht aller Welt präsentiert haben. Sein Trunkener Silen ist ein verschlüsseltes Bekenntnis und doch ein konsequent offenes Kunstwerk, das mit seinem Anspielungsreichtum und der Fülle möglicher Zusammenhangbildungen der unvorhersehbaren Kontingenz der Kommunikation offensteht. Dies macht die Begegnung mit diesem Werk und das Gespräch über dasselbe zu einem Ereignis, aus dem die Teilnehmenden und die Art, wie sie nach Wahrheit suchen, womöglich, wie Siegfried Krakauer über das von den letzten Dingen handelnde »zeugende Gespräch« sagte,152 verändert hervorgehen. In seinem Haus konnte Rubens sicherstellen, dass er bei Gesprächen vor dem

146

149

Es gibt keine dokumentarischen Belege, aus denen hervorginge,

»Andere (ich schaudere davor zurück, es zu schreiben) würden nicht vor Scham erröten, sogar den Teufel (cacodemonem) an die Stelle Christi in die Tafel ihres Herzens zu malen, während sie das Beispiel Christi betrachten.«149

torem delineent & effingant: alij (horreo scribens) etiam caco-

tiert hat. Das Gemälde wurde nach seinem Tod in der Specifi-

demonem in cordis sui tabella, pro Christo depingere non er-

cation des Peintvres trouvvees a la Maison mortvaire

ubescant, interim Christi exemplar contemplantes«. (Joannes

dv Fev Messire Pierre Pavl Rvbens, Chevalier, & c. unter

David: Veridicus Christianus: Auctore P. Ioanne David, Sacer-

der Nr. 170 aufgeführt: »Vne piece d’vn Silene enyuré auec des

dote Societatis IESV, Antwerpen 1601, S. 45, hier zit. n. Ganz 2010,

Satyres & autres figures.«; in der engl. Version: »Druncken Syle-

147

Zit. ebda., S. 283. »Alij quod peius est, pro Christo Iudam probi-

in welchem Raum in seinem Haus Rubens dieses Werk präsen-

S. 284, Anm. 1.)

nus«. (Zit. n. Kristin Lohse Belkin/Fiona Healy: A House of Art.

150

Erasmus: Adagia, II, 706 (wie Anm. 85).

Rubens as Collector. With an introductory essay by Jeffrey M.

151

Zu bedenken ist dabei, dass das Christentum die niederen dio-

Muller. Ausst.-Kat. Antwerpen, Rubenshuis, Antwerpen 2004,

nysischen Götter und die Dämonen der Antike als böse Kräfte

S. 331.)

des Teufels in sein Weltbild übernommen hatte. Siehe Moormann/Uitterhoeve 1995, S. 523 (Artikel »Pan«) u. S. 619 (Artikel

Siehe Ganz 2010.

148 David

»Satyrn und Silene«) und die entsprechenden Abschnitte zu Do-

Ganz deutet das Werk dieses fehlgeleiteten Malers als

natellos Amor-Atys in Pfisterer 2002, S. 137ff., bes. S. 151.

»unvollendetes Teufelsbild« (ebda., S. 322, vgl. auch S. 286 u. S. 312: »Teufelskopf«).

320

152

Siegfried Krakauer: Das zeugende Gespräch. In: Ders.: Werke.

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Abb. 193  Peter Paul Rubens:

Der verlorene Sohn in der Fremde,

um 1617/18, Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten

Trunkenen Silen, wie Franz I. in seiner Galerie, die letzte Instanz war, wobei sein Werk nicht intendiert ist, ein Wissensmonopol zu bekräftigen, sondern dialogische Mitteilsamkeit zu fördern.

Gemaltes Tischgespräch für Tischgespräche: Jacob Jordaens’ Der Satyr beim Bauern

Der Trunkene Silen ist ein kapitales Werk, das in Rubens’ Œuvre freilich eher eine Ausnahme darstellt. Denn das Obskure und Rätselhafte war seine Sache nicht, so wenig wie die bizzarrie, mit denen viele seiner Kollegen stolz

ihr hohes Reflexionsniveau demonstrierten. So lässt sich z. B. an seiner Rezeption Caravaggios zeigen, dass er sich dessen irritierendes Spiel mit den Codierungen der Malerei nicht zu eigen gemacht hat.153 Aussagekräftig ist in dieser Hinsicht auch das Gemälde Der verlorene Sohn in der Fremde (Abb. 193), in dem auch er in der Tradition der Wimmelbilder die Hauptperson nur klein am Rande dargestellt und zudem das Mittel des versteckten clavis interpretandi angewandt hat. In dem Bild fesselt zunächst der Stall mit den Pferden und Rindern und den landwirtschaftlichen Geräten unseren Blick. »Erst dann gewahren wir rechts […] vor einer Magd, die den Trog für die Schweine füllt, den Zerlumpten, der das Futter mit ihnen teilen wird.«154 Und die links an der Mauer in einer Halterung steckende brennende Kerze – das Licht,

Hrsg. v. Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke, 9 Bde., Frankfurt/M./

in dieser festzustellenden »Irritationsmomente und Verstöße

Berlin 2004–2012, Bd. 5.1 (Essays, Feuilletons, Rezensionen

gegen die Darstellungskonventionen« korrigiert. (Brassat 2007a,

1906–1923), S. 604–611. 153

So hat Rubens in seinen freien Kopien der Grablegung Caravag-

S. 330ff., Zitat S. 333.) 154

Von Simson 1996, S. 394.

gios (Pinakothek des Vatikans) in Ottawa und London sämtliche

GEMALTES TI S C H G E SPR ÄCH FÜ R T I S C H G E SPR ÄC HE : JACOB JORDAE N S’ DER SATYR BEIM BAUERN

321

Abb. 194  Jacob Jordaens: Der Satyr

beim Bauern, um 1623–25, Kassel,

Gemäldegalerie Schloss Wilhelmshöhe

das dem verlorenen Sohn aufgeht – bekräftigt die Identifikation desselben und des biblischen Themas (Lukas 15,11–32) dieser Darstellung eines bäuerlichen Anwesens. Verglichen mit den Regelverstößen Caravaggios wirkt dieses Werk, in dem sich Rubens mit Dürers um 1496 entstandenem Kupferstich mit demselben Thema auseinandergesetzt hat,155 jedoch keineswegs anstößig. Ähnlich wie Poussin war er ein Erbe des Humanismus, dem es stets um eine tiefe Durchdringung der Inhalte, nicht um das womöglich selbstgefällige Spiel mit diesen ging, ein Künstler mit überragenden ikonographischen Kenntnissen, dem an der souveränen Artikulations­

fähigkeit einer eloquenten, verständlichen Malerei gelegen war. Auch insofern ist der Trunkene Silen ein besonderes Werk, das offenbar gerade aufgrund seiner semantischen Offenheit und gleichzeitigen Inhaltsschwere in seinem Umfeld intensiv rezipiert wurde, u. a. von Jacob Jordaens. Mit Rubens und Anthonis van Dyck wird Jordaens gemeinhin zum Dreigestirn der flämischen Malerei des 17. Jahrhunderts gerechnet. 1593 in Antwerpen geboren, begann er 1607 eine Lehre bei Adam von Noort, bei dem auch der sechzehn Jahre ältere Rubens gelernt hatte.156 1615 wurde er als selbständiger Meister in die Antwer-

155

156

Vgl. Warnke 2006, S. 104. Auch von diesem Werk scheint sich Ru-

Zur Biographie siehe die Chronology und den Beitrag von R.-A.

bens nicht getrennt zu haben, da es wahrscheinlich identisch ist

d’Hulst: Jordaens’ Life and Work. In: Hans Devisscher/Nora de

mit dem 1640 in seinem Nachlassinventar aufgeführten Inne-

Poorter (Hrsg.): Jacob Jordaens (1593–1678). Ausst.-Kat., Antwer-

re[n] einer Scheune mit dem verlorenen Sohn [Alexis Donetzkoff:

pen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Brüssel 1993,

Der verlorene Sohn. In: Rubens. Ausst.-Kat. Lille, Palais des

Bd. 1 (Paintings and Tapestries), S. 7–21, 23–29.

­Beaux-Arts, Stuttgart 2004, S. 139 (Kat.-Nr. 75)].

322

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

pener Lukas-Gilde aufgenommen, deren Dekan er sechs Jahre später werden sollte. In den Jahren 1618/1619 war er bei der Ausführung des Altars der Fischergilde in Mechelen erstmals als externer Mitarbeiter der Rubens-Werkstatt tätig, wie in den 30er Jahren noch mehrfach bei großen Bildprogrammen, u. a. den Gemälden für die Torre de la Parada, das Jagdschloss Philipps IV. Nach Rubens’ Tod im Mai 1640 und dem Ableben van Dycks im Dezember des folgenden Jahres wurde er mit Aufträgen überhäuft und betrieb eine große Werkstatt. Damals war er der gefragteste Maler Nordeuropas. Jordaens, ein überzeugter Calvinist, pflegte einen gehobenen Lebensstil, wie sein repräsentatives Haus in Antwerpen und sein Selbstbildnis im Kreis seiner Familie (Madrid, Prado) bezeugen. Gleichwohl hat er, während der seit 1632 in den Diensten von Charles I. tätige van Dyck vor allem als vornehmer Porträtist der königlichen Familie und des englischen Hochadels reüssierte, Rubens mit einer sinnenfrohen, zuweilen prallen Genremalerei beerbt. »Drastische Motivgestaltung lag ihm näher als geistiger Gehalt«, so lautet ein geläufiges Urteil.157 Ist dieses nicht ganz von der Hand zu weisen, so hat man ihm in jüngerer Zeit doch zu Recht widersprochen.158 Denn einige seiner Werke haben einen ausgesprochen intellektuellen Zuschnitt, wie z. B. das Gemälde Der Satyr beim Bauern in der Gemäldegalerie in Schloss Wilhelmshöhe in Kassel (Abb. 194). Dieses ist ein Frühwerk, dem die Forschung trotz seiner bemerkenswerten Qualität nur relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Das 171 × 193,5 Zentimeter messende, auf allen Seiten um ca. 10 cm angestückte Leinwandbild wurde lange in die Zeit um 1620159 und wird neuerlich in die Jahre 1623–25 datiert.160 Seit 1749 in den Kasseler Sammlungen befindlich, ist über seine ältere Proveni-

enz und die Umstände seiner Entstehung nichts ­bekannt. Wahrscheinlich war es bestimmt, als Kaminstück einen Speisesaal zu schmücken, einen Bestimmungsort also, an dem ein lehrreiches und unterhaltsames Gemälde gefordert war. Das Format, die starke Untersicht der Darstellung sowie die Motive des Mahls und des brennenden Feuers am rechten unteren Bildrand lassen sich als darauf verweisende Kontextmarkierun-

157

159

[Artikel] Jordaens, Jacob. In: Lexikon der Kunst. Hrsg. v. Ludger Alscher u. a., ND Berlin 1981, Bd. 2, S. 475.

158

Siehe Birgit Ulrike Münch: ›Qui trop embrasse, mal étreint?‹ –

Abb. 195  Jacob Jordaens: Der Satyr beim Bauern, 1615/16, Glasgow

M ­ useums and Art Galleries, Stirling Maxwell Collection, Pollok House

Bernhard Schnackenburg: Gemäldegalerie Alte Meister. Hrsg. v. d. Staatlichen Museen Kassel, Mainz 1996, Textband, S. 152.

160 Irene

Schaudies/Ulrich Heinen: Jacques Jordaens: Satyr und

Ikonologie der visualisierten Formelhaftigkeit im Œuvre von

Bauer, um 1623–25, Kassel. In: Koenraad Brosens/Ulrich Heinen

Jakob Jordaens. In: Dies./Zita Ágota Pataki (Hrsg.): Jordaens.

u. a.: Jordaens und die Antike. Ausst.-Kat. Brüssel, Musées Roy-

Genius of Grand Scale – Genie großen Formats. Stuttgart 2012,

aux des Beaux-Arts, Museumslandschaft Hessen Kassel, Mün-

S. 13–38, die besonders seine Gemalten Sprichwörter als intellek-

chen 2012, S. 151 (Kat.-Nr. 57).

tuell anspruchsvoll bewertet (ebda., S. 16).

GEMALTES TI S C H G E SPR ÄCH FÜ R T I S C H G E SPR ÄC HE : JACOB JORDAE N S’ DER SATYR BEIM BAUERN

323

gen interpretieren, wobei sie eine Verwendung in anderen Zusammenhängen natürlich nicht ausschlossen. Das Sujet geht auf eine Fabel Äsops zurück, in der der Satyr, vom Bauern zum Essen eingeladen, beobachtet, wie dieser mit seinem geblasenen Atem zuerst seine Hände erwärmt und dann seine Suppe kühlt, und ihn daraufhin der Doppelzüngigkeit bezichtigt.161 Dieser Stoff war zuvor aus nachvollziehbaren Gründen nur in Buchillustrationen dargestellt worden, u. a. von Pirro Ligorio in einem Kupferstich in den 1563 in Rom publizierten Fabulae centum ex antiquis auctoribus delectae von Gabrielis Faernus, von Marcus Gheeraerts in Eduard de Denes 1567 in Brügge erschienenen Warachtige fabulen der dieren162 und von Philips Galle in dem 1578 in Antwerpen verlegten Buch Esbatiment moral des ­Animaux. Jordaens nahm sich noch während seiner Lehre dieses Themas an, das er im Laufe seines langen Lebens mehr als ein dutzend Mal gemalt hat. Das um 1615/16 entstandene Gemälde in Glasgow (Abb. 195) ist seine früheste Behandlung der Fabel. Es ist

ein Werk mit dem bescheidenen Format von 67 × 51 cm, von dem noch zwei weitere Versionen existieren.163 Im Sinne der zeitgenössischen Äsop-Rezeption, die bemüht war, einer jeden Fabel eine eindeutige moralische Maxime abzugewinnen – in diesem Fall war es die Warnung vor unzuverlässigen Personen – hat der Maler den beiden Figuren Äsops noch weiteres Personal beigesellt, darunter zwei junge Frauen, die die Mäßigung und Maßlosigkeit repräsentieren: Die linke, sittsam gekleidet, hält einen tönernen Krug in der Hand, während die rechte in ihrem tief dekolletierten Kleid missmutig dreinschaut und eine Messingkanne ausgießt.164 Am rechten Bildrand ist zudem ein aufschreiender Mann dargestellt, der sich an der heißen Speise verbrannt hat. Dieses Motiv dient als Verständnishilfe; es lässt als antithetisches Vergleichsbeispiel darauf schließen, dass der Bauer seine Suppe vor dem Genuss gekühlt haben muss. Zudem hat das im Schmerz zur Fratze entstellte, direkt zum Betrachter blickende Gesicht apotropäischen Charakter. Es unterstreicht durch seine abschreckende Drastik die Warnung, die das Bild vermitteln soll. Dennoch bleibt dieses letztlich ein anekdotisch wirkendes, schwer verständliches Werk, in dem Jordaens die wahrlich schwierige Aufgabe, den Stoff Äsops in der Simultandarstellung eines Gemäldes zu repräsentieren, mehr schlecht als recht gelöst hat. Aus dieser Not aber machte er eine Tugend, als er einige Jahre danach das Thema in mehreren Großformaten abermals behandelte, u. a. in dem Gemälde im Pushkin Museum (Abb. 196). Neuerdings auf 1622 datiert, weist dieses Werk, dessen Ränder stark beschnitten wurden, eine ähnliche Komposition auf wie das spätere Kasseler Gemälde: Schon in ihm treten die fast identischen am Tisch sitzenden Figuren des Bauers und der Bäuerin mit dem Kleinkind auf. Am oberen Bildrand erscheinen die Köpfe einer Alten und eines Mannes mit einem Löffel in der Hand, der die Zunge rausstreckt, von der

161

Aesop: Fabeln, LXXIV.

164 Irene

162

Siehe Ausstellungskatalog Brüssel 2012, S. 145 (Kat.-Nr. 54).

Bauer, um 1615, Glasgow. In: Ausstellungskatalog Brüssel 2012,

163

Michael Jaffé: Jacob Jordaens 1593–1678. Ausst.-Kat., Ottawa, Na-

S. 141 (Kat.-Nr. 52).

Abb. 196  Jacob Jordaens: Der Satyr beim Bauern, um 1622, Moskau, Pushkin Museum

Schaudies/Ulrich Heinen: Jacques Jordaens: Satyr und

tional Gallery of Canada, Ottawa 1968, S. 72 (Kat.-Nr. 6).

324

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Suppe herabtropft – ein Motiv, das auf die Rezeptionsfigur in dem Gemälde in Glasgow zurückgeht. Ebenfalls rechts im Bild ist ein athletischer Satyr mittleren Alters dargestellt, wie er ähnlich in einigen von Jordaens’ weiteren Behandlungen des Themas vorkommt, u. a. bereits in dem Gemälde in München.165 Roger-Adolf d’Hulst hat vermutet, dass der Maler sich bei dem Kasseler Gemälde (Abb. 194) an ihm wohl nur mittelbar bekannten Vorbildern Caravaggios wie dessen Darstellungen des Mahls in Emmaus (London, National Gallery; Mailand, Brera) orientierte.166 Tatsächlich war 1619 Caravaggios Rosenkranzmadonna (Wien, Kunsthistorisches Museum) in die Antwepener Dominikanerkirche, die heutige Sint-Pauluskerk, gekommen, nachdem das Gemälde in Neapel zum Kauf angeboten und auf Initiative von Rubens, Jan Bruegel d. Ä. u. a. angekauft worden war. Damit setzte in Antwerpen eine intensive Caravaggio-Rezeption ein, die sich auch in dem Gemälde in Kassel und, noch ausgeprägter, in der Version in Moskau zeigt. Obwohl sich das Kasseler Bild auf kein Werk des Lombarden direkt zurückführen lässt, weist es deutlich caravaggeske Merkmale auf: das niedere Bildpersonal, die starke Untersicht, die den Blick auf die Fußsohlen des Bauerns und der Bäuerin eröffnet, und auch die detaillierte Darstellung des nackten Körpers des greisen Satyrs. Zudem lässt sich seine Komposition in der Tat auf die Ikonographie des Emmaus-Mahls zurückführen, wie z. B. das Blatt aus Dürers kleiner Holzschnitt-Passion zeigt (Abb. 197). Für einige von Jordaens’ Darstellungen des Satyrs beim Bauern war ein nicht erhaltenes EmmausMahl von Rubens von Bedeutung, ein ebenfalls von Caravaggio beeinflusstes Werk, das nur durch einen 1611 von Willem Isaacsz. van Swanenburg angefertigten

165

Abb. 197  Albrecht Dürer: Das Emmaus-Mahl, um 1510, Kleine Holzschnittpassion

Siehe Konrad Renger mit Claudia Denk: Flämische Malerei des Barock in der Alten Pinakothek. München/Köln 2002, S. 218f. Die Version im Pushkin Museum in Moskau wurde, soweit ich sehe, in der Forschungsliteratur bisher nicht berücksichtigt. Siehe

https://pushkinmuseum.art/exposition_collection/col-

lections/top100/index.php?lang=en (letzter Aufruf 17.11.2020). 166

Roger-Adolf d’Hulst: Jacob Jordaens. Stuttgart 1982, S. 97.

Abb. 198  Willem Isaacsz. van Swanenburg nach Rubens: Das Emmaus-Mahl, 1611, Kupferstich

GEMALTES TI S C H G E SPR ÄCH FÜ R T I S C H G E SPR ÄC HE : JACOB JORDAE N S’ DER SATYR BEIM BAUERN

325

Abb. 199  Diego Velázquez:

Das Fest des Bacchus, 1628/29,

Madrid, Prado

Nachstich überliefert ist (Abb. 198).167 In dem Kasseler Bild lassen vor allem die Gestik des Satyrs und die Haltung der Katze die Relevanz dieses Vorbildes erkennen. Die ikonische Konzentration von Jordaens’ Gemälde (Abb. 194) verdankt sich in hohem Maße der strengen Form des Dreiecks, in der die Bauernfamilie zusammengefasst ist. Ihr Umriss wird durch die isolierte Figur des Satyrs spannungsvoll durchbrochen. Als einziger diesseits des Tisches sitzend, erhebt sich am rechten Bildrand die gebrechliche Gestalt vor der dichten Front der ihn betrachtenden Familie. Ähnlich wie das 1628/29 entstandene Bacchus-Fest, in dem Diego Velázquez die mythische Gottheit zusammen mit zeitgenössischen spanischen Bauern darstellen sollte (Abb. 199), evoziert auch das Gemälde in Kassel eine Begegnung zweier einander fremder Welten, von my-

thischer Urzeit und menschlicher Zivilisation. Durch diese caravaggeske Dissoziation innerhalb der strengen Komposition gewinnt es eine ganz andere gedankliche Tiefe als das anekdotische Bild in Glasgow. Dabei ist der greise Satyr, dessen Physiognomie dem antiken Typus des Hängenden Marsyas (Florenz, Uffizien, römische Kopie des 1.-2. Jhd. nach einem hellenist. Original des 3. Jhd. v. Chr.) entspricht,168 eine zu mitfühlender Anteilnahme auffordernde, in Jordaens’ Werk neuartige Figur. Beispielhaft für das Frühwerk des Künstlers mit seiner an Rubens’ Werken der Mitte der 1610er Jahre geschulten Malweise sind die vollplastischen, mit dichtem Auftrag der fein verriebenen Farbpigmente dargestellten Figuren des Bauern, der Bäuerin und ihrer Kinder. Dagegen sind der Satyr und die ihm physiognomisch und stilistisch angeglichene alte Bäuerin ausgesprochen

167

168

Irene Schaudies/Ulrich Heinen: Jacques Jordaens: Satyr und

Dies.: Jacques Jordaens: Satyr und Bauer, um 1623–25, Kassel. In:

Bauer, um 1623–25, Kassel. In: Ausstellungskatalog Brüssel 2012,

Ausstellungskatalog Brüssel 2012, S. 151 (Kat.-Nr. 57); Ulrich Hei-

S. 151 (Kat.-Nr. 57). Die Rezeption dieses Vorbildes ist in der

nen: Psyche – Satyrn – Philosophen. Jordaens und die Weisheit

Brüsseler Fassung des Satyrs beim Bauern noch evidenter. Siehe

der Antike. In: Ebda., S. 137f.

dies.: Satyr und Bauer, um 1620/21, Brüssel. In: Ausstellungskatalog Brüssel 2012, S. 149 (Kat.-Nr. 56).

326

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Abb. 200  Jacob Jordaens:

Merkur und Argus, um 1620,

Lyon, Musée des Beaux-Arts

malerisch dargestellt. Tatsächlich markieren sie neue Tendenzen im Werk von Jordaens, der sich um 1620 systematisch der Aufgabe annahm, Greise darzustellen. 1620 malte er den Petrus in München; danach folgten Porträtstudien von Abraham de Graef, einem damals wahrscheinlich an die 70 Jahre alten erfolglosen Maler, der für die Antwerpener Lukasgilde als sogenannter »knaep« Hausmeisterdienste verrichtete, sowie eine auf diesen beruhende Darstellung Hiobs.169 Unmittelbar danach, noch in den Jahren 1620/21, malte Jordaens mehrere Gemälde, in denen die Figur des Kasseler Satyrs bereits auftritt, darunter den Flöte spielenden Satyr

in Warschau, die Göteborger Version des Satyrs beim Bauern und das Gemälde Merkur und Argus in Lyon (Abb. 200).170 D’Hulst hat vermutet, dass sich der Maler dabei immer wieder desselben Modells bediente.171 Dies ist anzunehmen, wobei Jordaens offenbar auch ein Tronie besaß, auf das er zurückgreifen konnte.172 Zudem erscheint die besagte Physiognomie, was der Forschung bisher entgangen ist, auch in einem Gemälde van Dycks, nämlich dem um 1620 entstandenen Trunkenen Silen in Dresden (Abb. 201). Neben der augenschein­ lichen Ähnlichkeit beider Figuren (vgl. Abb. 194 u. 200f.)

169

Siehe Austellungskatalog Antwerpen 1993, Bd. 1, Nr. A 20–23.

172

170

Ebda., Nr. A 24–26.

ham De Graef und der sehr skizzenhaft gemalte Satyr in War-

171

D’Hulst 1982, S. 97; Ders.: Satyr Playing the Flute. Circa 1620–21

schau zuzurechnen sind, siehe Dagmar Hirschfelder: Tronje

Zu dieser Gattung, der m. E. auch die Porträtstudie von Abra-

(Warschau, Muzeum Naradowe) (Kat.-Nr. A 24). In: Ausstel-

und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhun-

lungskatalog Antwerpen 1993, S. 104: »Jordaens probably sket-

derts. Berlin 2008; Gottwald 2011.

ched the man who modelled for this satyr more than once, for he figures in various different attitudes in several of his paintings.«

GEMALTES TI S C H G E SPR ÄCH FÜ R T I S C H G E SPR ÄC HE : JACOB JORDAE N S’ DER SATYR BEIM BAUERN

327

zeigt auch der in das Kasseler Gemälde mit übernommene Weinlaubkranz, dass Jordaens’ Satyr auf van Dycks Werk zurückgeht,173 wobei beide Künstler damals eng zusammenarbeiteten174 und wahrscheinlich dasselbe Modell benutzt haben. Van Dycks Dresdener Gemälde ist wiederum eines von mehreren Werken, die der Rubens-Schüler in Anlehnung an dessen Trunke-

nen Silen angefertigt hatte, der in seinem ersten Zustand um 1617/18, wie eine Replik in Kassel zeigt, ebenfalls Dreiviertelfiguren aufwies. Das Dresdener Bild ist eine freie Variation nach Rubens’ Gemälde im ersten Zustand, in der van Dyck unter dem Eindruck venezianischer Vorbilder seine technischen Virtuosität demonstriert hat.175 Am oberen Bildrand auf dem Boden des Kruges mit den wie zu einer Töpfermarke verschränkten Initialen ›AVD‹ signiert, weist dieses skizzenhafte, einer sorgfältigen Untermalung entbehrende Werk eine sparsame, aber dennoch nuancenreiche Farbpalette und einen durch das fa presto charakterisierten, nervösen Duktus auf. Ikonographisch ist bemerkenswert, dass es den Silen in einem Bildtypus der Beweinung Christi repräsentiert,176 was noch dadurch unterstrichen ist, dass die äußeren Figuren der üblichen Charakterisierung der Maria Magdalena und des Johannes entsprechen.177 Dass Jordaens die Hauptfigur dieses Gemäldes übernommen hat, war insofern eine konsequente Motivadaption, als er schon in Werken wie der De-Graef-Porträtstudie eine ähnlich skizzenhafte Malweise erprobt hatte. Vor allem aber ist bemerkenswert, dass er in das Kasseler Gemälde eine Figur übernommen hat, von der er zweifellos wusste, dass sie auf Rubens’ Trunkenen Silen zurückgeht, und dass er sie in das ikonographische Schema des EmmausMahls, also einer Epiphanie-Darstellung, integriert und somit dem Satyr-Thema ebenfalls eine christologische Dimension verliehen hat. Dass dies durchaus umstritten war, wie wir in Zusammenhang mit Rubens’ Werk gesehen haben, könnte auch der Grund gewesen sein,

173

175

Abb. 201  Antonis van Dyck: Der trunkene Silen, um 1620, Dresden, ­ emäldegalerie Alte Meister G

174

Und zwar offenbar auf den Trunkenen Silen und nicht auf van

Christopher Brown: Drunken Silenius, c. 1620. In: Ders./Hans

Dycks Gemälde Der Heilige Hieronymus mit einem Engel in Rot-

Vlieghe: Van Dyck 1599–1641. Ausst.-Kat. Antwerpen, Koninklijk

terdam und Stockholm, deren Hauptfigur dem Dresdener Silen

Museum voor Schone Kunsten, London, Royal Academy, Lon-

ebenfalls ähnlich ist. Siehe Susan J. Barnes/Nora De Poorter/

don/Antwerpen 1999, S. 142; siehe auch Barnes/De Poorter/Mil-

Oliver Millar/Horst Vey: Van Dyck. A Complete Catalogue of the

lar/Vey 2004, S. 83ff.

Paintings. New Haven/London 2004, S. 48ff. (Nr. I.33f.)

176

Stephan-Maaser 1992, S. 234.

Wie eng diese Zusammenarbeit war, zeigt van Dycks früherer

177

»[…] there is an undeniable connection between Mary Magda-

Porträtkopf des Abraham de Graef (Gemäldegalerie, Staatliche

lene and the bacchante, and the serious young man with the red

Museen zu Berlin), der nachträglich von Jordaens angestückt

cloak more closely resembles Saint John than a follower of Bac-

und durch Schultern und Hände ergänzt wurde. Siehe Barnes/

chus.« (Barnes/De Poorter/Millar/Vey 2004, S. 83.)

De Poorter/Millar/Vey 2004, S. 45 (Nr. I.29) sowie S. 44f. (I.28).

328

178

Siehe unten, Anm. 181. Die Bayerischen Staatsgemäldesamm-

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

warum Jordaens das vorzügliche Kasseler Bild nicht kopiert und nur in einem weiteren Werk variiert hat,178 obwohl er den Satyr beim Bauern noch mehrfach darstellen sollte. Auch Jordaens’ Gemälde in Kassel hat eine enigmatische Struktur. In ihm ist der Moment dargestellt, in dem der Satyr seinen Vorwurf ausgesprochen und nun resignierend die Schultern hochgezogen hat. Das weitere Bildpersonal verkörpert ausnahmslos psychologisch differenziert geschilderte Reaktionen; es besteht allein aus Rezeptions- bzw. Reflexionsfiguren, die obendrein die Alterstufen des Menschen verkörpern.179 Sechs Beispiele einer Reaktion auf den Vorwurf des Satyrs sind durch die sprechende Gestik kompositorisch aufeinander bezogen. Der Resignation des ergrauten Fabelwesens und dem leicht irritierten Blick des Jungen, der, ohne den Grund der Aufregung wirklich begriffen zu haben, sich ganz vordergründig über den merkwürdigen Gast lustig macht und dabei den Konsens mit dem Betrachter sucht, folgt das Unverständnis der nächsten Familienmitglieder. Wo der Vater stumm brütend verharrt, liegt für die Mutter die Sache auf der Hand. Doch der Evidenzbeschwörung ihrer Geste – ganz gleich, welches Argument sie begleiten könnte – mag man nicht vertrauen. Der gesenkten Linken der Mutter korrespondiert die Hand der greisen Bäuerin, die sich aufmerksam und anteilnehmend dem Fremden zuwendet. Die Bildregie greift mit der Untersicht und der Dreieckskomposition zu deutlichen Mitteln, lässt aber durch die Parataxe der Köpfe den Blick frei schweifen. Einzig in dem nachdenklichen, auf den Hir-

tenstab gestützten jungen Mann scheint der Gipfelpunkt einer angemessenen Reaktion angedeutet zu sein.180 Unter den dargestellten Verhaltensweisen lassen sich mehrere Antithesen finden, die Abgeklärtheit der Mutter und die Bekümmertheit der Alten, das Unverständnis der Kinder und die Nachdenklichkeit des jungen Hirten, doch diese sind verknüpft zu einer Kette gleichgewichteter Reaktionen. Und so wandert der Blick von Figur zu Figur, die alle unterschiedliche Antworten geben, ohne dass klar wäre, was die Frage war. Geht es allein um das merkwürdige Zusammentreffen der mythischen Gestalt mit einer zeitgenössischen flämischen Bauernfamilie oder was ist zwischen ihnen vorgefallen? Auf eindeutige Verständnishilfen, wie den aufschreienden Suppenesser in dem Gemälde in Glasgow, hat Jordaens in dem Kasseler Gemälde verzichtet. Durch die Anordnung der zu Tisch Sitzenden wird der Betrachter in die dort versammelte Runde integriert und durch den zu ihm schauenden Knaben aufgefordert zu einer Stellungnahme, zur Teilnahme an dem Gespräch, dessen Inhalt er nicht kennt. Der Satyr beim Bauern ist ein bemerkenswertes Werk – eine Darstellung von Reaktionen auf etwas, das in ihm unsichtbar bleibt, nämlich den Vorwurf der Doppelzüngigkeit, das gesprochenen Wort also, das in dem Moment, den das Bild vor Augen führt, bereits verklungen ist. Und so ist jede der monumentalen Figuren mit ihren differenziert geschilderten Verhaltensweisen ein Verweis, der uns weiter suchen lässt in diesem Laufrad der vagen Referenzen, in dem sich das Gespräch über die innerbildliche Kontroverse über den vermeintlich paradoxen

lungen besitzen eine Version, in der die Szene des Kasseler Bil-

Alters. In: Bilder von alten Menschen in der niederländischen

des in einen Innenraum versetzt ist. Von dieser existiert auch

und deutschen Kunst 1550–1750. Ausst.-Kat. Braunschweig, Her-

eine Werkstattreplik (Sotheby’s, London, 10. Dez. 2015, Lot 119: »Workshop of Jacob Jordaens«). 179

zog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig 1993, S. 68.) 180 Merkwürdig

an dieser Figur ist ihr blauer ›Haarschopf‹. Das

Reinhart Schleier hat das Bild unter diesem Gesichtspunkt ge-

Motiv findet sich auch in Rubens’ Altar mit dem Wunderbaren

deutet: »Der Knabe und der greise Satyr sind einander nahege-

Fischzug in der Lieb-Frauen-Kirche in Mechelen und in Jorda-

rückt, dieser beharrt auf dem Widerspruch, jener hat die Auflö-

ens’ Gemälde Weide meine Lämmer [Der Auferstandene am See

sung im Blick und auf den Lippen. Kindheit und Greisenalter, so

Tiberias, Joh. 21, 9–17; siehe Ausstellungskatalog Antwerpen

scheint es, ergänzen sich dialektisch in der Deutung der Welt.

1993, Bd. 1, S. 68f. (Nr. A 10)]. Es handelt sich um eine blau ein-

Das Kind mag weise sein wie der Greis, der Greis begrenzt wie

gefärbte, Pelz vortäuschende Wollmütze, wie sie damals insbe-

ein Kind.« (Reinhart Schleier: Zur allegorischen Dimension des

sondere von Fischern getragen wurde.

GEMALTES TI S C H G E SPR ÄCH FÜ R T I S C H G E SPR ÄC HE : JACOB JORDAE N S’ DER SATYR BEIM BAUERN

329

Sachverhalt bewegen wird. Jeder der im Bild enthaltenen Hinweise auf sein nicht klar ersichtliches Thema aber wird in geselligem Kreis Stellungnahmen provozieren.181 Auch wenn das Rätsel dann gelöst, das Thema identifiziert ist, muss das Gespräch damit nicht enden, vielmehr eröffnet sich ihm eine weitere Dimension, nämlich die Reflexion dessen, was die Malerei, die stumme Schwesterkunst der Dichtung, mit ihren Mitteln zu leisten vermag. Jordaens’ Gemälde hält den Betrachter zu solchen Überlegungen an, demonstriert es doch geradezu, dass die Malerei das gesprochene Wort nur durch geöffnete Lippen und begleitende Gesten andeuten kann. Dafür, dass der Satyr beim Bauern tatsächlich als ein Programm für zahllose Gespräche über das Kunstwerk konzipiert ist, sprechen das seinerzeit ungewöhnliche, wenig bekannte Bildthema und die Vorbereitung des Gesprächs über das Bild in ihm selbst. Das Gemälde macht die Rezipienten zu Beobachtern von Beobachtern und zu Kommunizierenden, die angehalten sind, sich über die dargestellten Kommunizierenden (und scheinbar mit ihnen) zu verständigen, ohne dass klar wäre, was der Inhalt ihres Gesprächs ist und was genau es zu beobachten gilt. In der Tradition der Genrebilder Caravaggios weckt und lenkt es Aufmerksamkeit, deren schnelle Befriedigung es vereitelt, indem es sie um eine Leerstelle kreisen lässt.182 Zur kunstgeschichtlichen Bedeutung von Jordaens’ Darstellungen des Satyr beim Bauern, insbesondere dem Gemälde in Kassel, ist anzumerken, dass er mit der Thematisierung des gesprochen Worts und der Einbindung des Betrachters in eine innerbildliche Kommunikation Errungenschaften

Rembrandts den Weg bahnte – man denke nur an das Bildnis des mennonitischen Lehrers Cornelis Claesz. Anslo und seiner Frau (1641, Berlin, Gemäldegalerie), in dem das gesprochene Wort Anslos, der als guter Redner bekannt war, den Raum füllt und augenscheinlich seine ergeben zuhörende Frau ›fesselt‹, und das Gruppenporträt der Staalmeesters (1662, Amsterdam, Rijksmuseum), in dem Rembrandt eine vergleichbare »innere Einheit« (Alois Riegl) realisieren sollte.183

181

182 Zu

Dies wird in einer späteren Version noch forciert: In dem zoti-

Das erotische Sujet und die Wendung ins Imaginäre: Jordaens’ Die Frau des Königs Kandaules

Strategisch eingesetzte Irritationen derer, die sich das Kunstwerk anzueignen versuchen, finden sich in weiteren Werken von Jordaens, z. B. in seinem Gemälde Die Frau des Königs Kandaules (Abb. 202). Entstanden ist dieses Werk mit den Maßen 1,93 ×1,57 Meter um 1646. Wahrscheinlich ist es identisch mit einem der fünf Gemälde, die er 1646–48 Martinus van Langenhoven, einem Kunsthändler in Den Haag, geliefert hat.184 Über seinen weiteren Verbleib ist wenig bekannt. Seit dem frühen 18. Jahrhundert schmückte es ein Schlafzimmer in Schloss Tureholm; 1872 wurde es dem Nationalmuseum in Stockholm geschenkt. Das Gemälde repräsentiert die von Herodot überlieferte Geschichte von dem lydischen König Kandaules, der, über alle Maßen stolz auf die Schönheit seiner Frau, seinen Vertrauten Gyges überredet, im Schlafzim-

Leerstellen bzw. Unbestimmtheitsstellen in Bilderzählun-

gen späten Gemälde in Brüssel wenden sich die Figuren direkt

gen: Wolfgang Kemp: Verständlichkeit und Spannung. Über

an den Betrachter [Irene Schaudies/Ulrich Heinen: Jacques Jor-

Leerstellen in der Malerei des 19. Jahrhunderts. In: Kemp 1992,

daens: Satyr und Bauer, um 1645, Brüssel. In: Ausstellungskatalog Brüssel 2012, S. 158 (Kat.-Nr. 61)], in einer Tapisserie fehlt

S. 307–332. 183

dann die Figur des Satyrs, so dass der Betrachter in dessen Rolle

Vgl. Alois Riegl: Das holländische Gruppenporträt. Wien 1931; zuerst erschienen in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlun-

versetzt wird. [Boudewijn van Beveren nach J. Jordaens: Natura

gen des Allerhöchsten Kaiserhauses, 23, 1902, S. 71–278; Auszüge

paucis contenta, um 1644, Tapisserie, Schloss Hluboká (Böh-

in: Kemp 1992, S. 30–50.

men), siehe Kristi Nelson: Jacob Jordaens. Design for Tapestry. Turnhout 1998, S. 114f. (Kat.-Nr. 32.IA).]

330

184

Nora de Poorter: King Candaules Lets Gyges Spy on his Wife. In: Ausstellungskatalog Antwerpen 1993, Bd. 1, S. 239.

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Abb. 202  Jacob Jordaens:

Die Frau des Königs Kandaules, 1646,

Stockholm, Nationalmuseum

mer versteckt, die entkleidete Königin zu betrachten. Diese bemerkt den Voyeur, als er sich hernach aus dem Zimmer stiehlt, lässt sich jedoch nichts anmerken. Am nächsten Tag aber ruft sie Gyges zu sich und droht, ihn hinrichten zu lassen, wenn er nicht ihre Schmach rächen, Kandaules töten und sie ehelichen werde – was

185

denn auch geschieht. Abermals im selben Gemach versteckt, ermordet Gyges in der nächsten Nacht den König und nimmt seinen Platz ein.185 In der bildenden Kunst, wie auch in der neuzeit­ lichen Literatur war auch dies ein rares Sujet, das allerdings seit dem späten 16. Jahrhundert wiederholt in der

Herodot, 1, 8–14. Weitere Versionen der Geschichte in Platon:

Siehe [Artikel] Gyges. In: Moormann/Uitterhoeve 1995, S. 292–

Politeia, 359d–360a; Cicero: De officiis, 3, 38; Iustinus, 1, 7, 17–18.

294.

DAS EROTI S C H E S U J E T U N D D I E WE N D U N G I N S IM AGIN ÄRE : JORDAE N S’ DIE FRAU DES KÖNIGS KANDAULES

331

Abb. 203  Pieter de Jode nach Adriaen van de Venne: Die Frau des

Königs Kandaules, Kupferstich aus Jacob Cats: Toneel vande mannelicke Achtbaerheyt, Middelburg 1623

Emblematik behandelt worden war. In dem erstmalig 1587 verlegten Aureolorum Emblematum Liber von Nikolaus Reusner erscheint es unter dem Motto »Coniugij arcana non revelanda« (Die Geheimnisse der Ehe sollen nicht enthüllt werden)186 und auch in Jacob Cats’ 1623 in Middelburg publizierten Toneel vande mannelicke Achtbaerheyt figuriert es als Beispiel ehelichen Fehlverhaltens. Der dortigen, von Pieter de Jode nach einer Vorlage von Adriaen van de Venne gestochenen Darstellung (Abb. 203) verdankte Jordaens offenbar erste Anregungen für sein Gemälde, wie die in ihm wiederkehrenden Motive des Himmelbetts und des durch die Öffnung zwischen den Vorhängen spähenden Gyges erkennen lassen. Anders als in diesem Kupferstich sind die drei handelnden Figuren in Jordaens’ Gemälde dem Betrachter nahe gerückt und in Lebensgröße dargestellt. Am rechten Bildrand reckt Gyges den Kopf zwischen zwei zurückgeschlagenen Tapisserien hervor und stiert mit begierigem Blick auf die entblößte Königin. Hinter ihm steht Kandaules, der Initiator des Geschehens, der weder seine Frau, noch das Gesicht des Voyeurs sehen

186

kann und doch offenbar bemüht ist, seine Reaktion festzustellen, wobei man sich als Betrachter unweigerlich fragt, ob man nicht selbst ins Blickfeld der en face dargestellten Figur geraten ist. Unzweifelhaft an den Betrachter adressiert ist der kokette Blick, den die als Rückenakt gegebene Königin uns zuwirft, während sie dabei ist, ihr Kleid abzulegen und in das Himmelbett zu steigen. Dieser Blick der Hauptfigur des Bildes ist eine Aufforderung, durch welche die Asymmetrie ästhetischer Kommunikation scheinbar außer Kraft gesetzt und der Status des Betrachters paradox überblendet wird. Durch den an uns adressierten Blick suggeriert Jordaens’ Gemälde, wir seien nicht nur sein passiver Rezipient, sondern unmittelbar beteiligter Handlungsträger. Es lädt uns ein, den weiblichen Akt zu betrachten, und versetzt uns darüber hinaus in die Rolle eines zweiten Gyges, dessen Bildpräsenz uns wiederum distanziert und zur Reflexion unseres eigenen Voyeurismus anhält. In Pieter de Jodes Kupferstich war die Geschichte ästhetisch bieder, aber geschehenslogisch schlüssig dargestellt. Zugunsten einer stärkeren Involvierung des Betrachters hat Jordaens diese Qualität geopfert. Denn wem gilt der Blick der Königin? Und welche Rolle spielt diese, die in Herodots tragischer Novelle zum Opfer eines Frevels wird, in Jordaens’ Gemälde aber bewusst zu handeln und mit den Männern zu spielen scheint? Im Unterschied zu den angeführten Darstellungen der Emblematik figuriert in ihm nicht nur Kandaules, sondern auch seine Frau als Beispiel ehelichen Fehlverhaltens. Neben ihrem koketten Blick zeigen dies auch die Geste ihrer geöffneten rechten Hand, der Hund, der als Symbol ehelicher Treue figuriert, den die Handlung aber kalt lässt, und die am Boden befindlichen Attribute des offenen Gefäßes und der Pantoffeln. Diese waren damals ein geläufiges Symbol für das weibliche Geschlecht. Daher ruht der Fuß von Rembrandts Susanna in dem 1636 entstandenen Gemälde im Mauritshuis (Abb. 204), deren Haltung auf eine Rubens-Graphik zurückgeht, zugleich aber der Venus pudica ange-

Henkel/Schöne 1996, Sp. 1603f.

332

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

nähert ist, zum Zeichen ihrer Keuschheit auf dem rechten Schuh und verschließt seine Öffnung.187 Jordaens hat die Königin also negativ charakterisiert und sie damit in die Nähe der ältesten Behandlung dieses Stoffes in Platons Politeia gerückt, in der sie als vom ihm verführte Komplizin eines ruchlosen Gyges agiert.188 Denkbar ist, dass sich der Maler an verschiedenen literarischen Versionen des Stoffes orientiert hat, in jedem Fall aber stellt sein Gemälde eine ganz eigenständige Behandlung des Themas dar.189 Deren moralische Indifferenz, für die sich literarische Parallelen anführen lassen,190 stand in deutlichem Kontrast zur Eindeutigkeit der genannten Beispiele der Emblematik.191 Die Forschung hat als Vorbild für Jordaens’ Gemälde allein den Kupferstich De Jodes angeführt. Zumindest ebenso wichtig wie die motivischen Übereinstimmungen mit dieser Graphik scheint mir die konzeptuelle Verwandtschaft des Kandaules mit einem Spätwerk von Rubens zu sein, nämlich dem in den späten 1630er Jahren entstandenen Gemälde Susanna und die beiden Alten in München (Abb. 205).192 Dass Jordaens dieses eingehend studiert hat, verrät seine Behandlung derselben Thematik, das auf 1653 datierte Bild in Kopen-

187

Zu diesem Gemälde siehe Christopher Brown/Jan Kelch/Pieter

meine Art und Natur.« (Valla 2004, S. 203.) Weit entfernt von jeg-

van Thiel: Rembrandt: Der Meister und seine Werkstatt. Ge-

licher strikten Moral ist der Dialog von Kandaules und Gyges in

mälde. Ausst.-Kat. Berlin, Gemäldegalerie SMPK im Alten Mu-

Bernard de Fontenelles Dialogues des Morts, in dem Kandaules

seum, Amsterdam, Rijksmuseum, London, National Gallery,

insistiert: »Ich versichere euch, daß die Weibsbilder mit einer

München/Paris/London 1991, S. 196ff. In ihm ist ebenfalls die

solchen Bescheidenheit schlecht zufrieden seyn würden; wel-

Strategie einer Involvierung des Betrachters durch den nach-

che nehmlich darauf ankäme, daß man sich ihre Liebe vor keine

drücklichen Blick der Hauptfigur festzustellen, die noch forciert

sonderliche Ehre schätzete.« (Candaules und Gyges, von der

wird durch die versteckte Bildpräsenz der leicht zu übersehen-

Pralerey und Unbescheidenheit. In: Bernhards von Fontenelle

den beiden Alten.

Gespräche der Todten … versehen von Joh. Christ. Gottsched.

188

Platon: Politeia, 359d–360a.

189

Nora de Poorter, in: Ausstellungskatalog Antwerpen 1993, S. 238

190

Abb. 204 Rembrandt: Susanna und die Alten, 1636, Den Haag, Mauritshuis

Leipzig 1727, S. 108.) 191

Hier lässt sich ein ähnliches Gefälle feststellen, wie bei Rubens’

betont, dass sein Gehalt auch nicht mit dem der Embleme von

Trunkenem Silen und der angesprochenen Rubens-Graphik des

Reusnerus und Cats identisch ist.

Silenszuges mit der moralisierenden Inschrift, somit eine Hie­

Eine solche Haltung zu der Gyges-Geschichte nahm bereits Lo-

rarchie der Medien, die an unterschiedlich einsichtsfähige Ad-

renzo Valla ein, der ihr in De voluptate ein umfangreiches Kapi-

ressaten gerichtet waren.

tel widmete: De voluptate, II, 34: Ȇber Gyges, den Platon und

192

U. a. aufgrund des Bildträgers ist anzunehmen, dass auch dieses

Cicero vorgestellt haben«. Dort heißt es: »Denn, mir frisch von

Werk keine Auftragsarbeit war. Wahrscheinlich ist das Gemälde

der Leber weg gesprochen, wär’ nur die Königin in einem prop-

in München identisch mit demjenigen, welches im Nachlassin-

ren Alter und von proprer Figur gewesen, so hätt’ ich wohl auch

ventar als »Vne Susanne, sur fond de bois« aufgeführt wurde.

mit ihr die Ehe gebrochen; den König zu töten, das wär’ nicht

(Muller 1989, S. 115, Nr. 99.)

DAS EROTI S C H E S U J E T U N D D I E WE N D U N G I N S IM AGIN ÄRE : JORDAE N S’ DIE FRAU DES KÖNIGS KANDAULES

333

Abb. 205  Peter Paul Rubens: Susanna und die Alten, späte 1630er Jahre, München, Alte Pinakothek

hagen (Abb. 206), eine Paraphrase, in der Rubens’ Werk ins Burleske transponiert ist.193 Zu grotesker Tumbheit gesteigert sind in ihm die Züge der Greise, die einer merkwürdigen Aktfigur von kaum bestimmbarem Geschlecht nachsteigen. Rubens’ Gemälde (Abb. 205) zeigt als Handlungsort eine Grottenarchitektur inmitten einer weiträumigen Gartenanlage. Susanna sitzt im linken Bilddrittel, an der gefassten Quelle, in deren Bereich die Alten einzudringen im Begriff sind, und wendet sich hilfesuchend dem Betrachter zu. Und noch scheint sie nicht verloren zu sein. Noch sind die aufdringlichen Alten einige Schritte von ihr entfernt. Ebenso ist auch der Betrachterstand-

193

punkt bemessen. Zwischen das Opfer und die Täter hat Rubens leicht zu überwindende Barrieren, die Balustrade und den Baum, und neben diesen eine distanzierte Loggia gesetzt, die eine Blickbahn mitten durch das Bild entstehen lässt, einen Freiraum, den der Betrachter zu beschreiten hätte, um die sich ankündigende Nötigung zu vereiteln. Dieser Weg des Einschreitens hat die Qualität einer Leerstelle, eines Platzhalters für ein kommendes Geschehen. Der dadurch provozierte Gedanke, in das Bildgeschehen einzugreifen, wird noch appellativ unterstrichen durch den bildeinwärts laufenden Hund, der die Alten anbellt und somit die dem Betrachter nahegelegte Reaktion stellvertretend vollzieht.

Siehe Ausstellungskatalog Antwerpen 1993, S. 270ff. (Nr. A 88.)

334

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Abb. 206  Jacob Jordaens:

Susanna und die Alten, 1653,

Kopenhagen, Statens Museum

for Kunst

Rubens’ Susanna und die Alten ist ein Gemälde, das – wie wir es auch schon an Domenichinos Jagd der Diana (Abb. 160) gesehen haben – den Betrachter provoziert, einen Fortgang der Handlung zu imaginieren, nämlich ihn anhält, nicht wie die Alten der Begierde anheimzufallen, sondern der Schutzbedürftigen Hilfe zu leisten. Dafür, dass Jordaens sich an diesem Werk orientierte, als er Die Frau des Königs Kandaules malte, spricht das gleiche Bildpersonal: die junge weibliche Aktfigur, die beiden alten Voyeure und der Hund, weiter der zwischen den schweren Vorhängen hervorgereckte Kopf des Gyges, der an die Verrenkung des Alten in der Gabelung des Baumes erinnert, und die vergleichbare, von Jordaens noch forcierte Strategie der Involvierung des Betrachters. Die in diesen Gemälden gegebene, in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts höchst verbreitete Thematisierung voyeuristischen Verhaltens hat man

194

zurückgeführt auf Tendenzen der Entpersönlichung und Partialisierung des Lebensvollzuges und der Ausdifferenzierung privater und öffentlicher Sphären in der handelsbürgerlichen Gesellschaft, in der bloß optischen Kontakten und dem Gesichtssinn eine steigende Bedeutung zukam.194 Näher liegende Faktoren sind in unserem Zusammenhang Veränderungen der historischen Semantik der Liebe, die das 17. Jahrhundert damit einhergehend zeitigte. In der Renaissance hatte sich Liebe an der Idealität der Geliebten, an ihrer Tugend offenbarenden äußerlichen Schönheit entzündet, deren Bild sich der Seele einprägt. Im 17. Jahrhundert aber erfuhr die Liebessemantik tiefgreifende Veränderungen, für die die zunehmend konzedierte individuelle Entscheidungsfreiheit, sich auf eine Liebesbeziehung einzulassen, grundlegend war. Im bürgerlichen Umfeld wurde mehr und mehr als wichtige Voraussetzung für eine glückliche Ehe die Zuneigung der Lieben-

Hans-Ernst Mittig: Erotik bei Rubens. In: Renate Berger/Daniela

des Erotischen und Sexuellen bei Künstlern und ihren Interpre-

Hammer-Tugendhat (Hrsg.): Der Garten der Lüste. Zur Deutung

ten. Köln 1985, S. 74ff.

DAS EROTI S C H E S U J E T U N D D I E WE N D U N G I N S IM AGIN ÄRE : JORDAE N S’ DIE FRAU DES KÖNIGS KANDAULES

335

den angesehen und über die väterliche Autorität ­gestellt. Damit wurden externe Voraussetzungen neu­ tralisiert. Die Liebe wurde zu einem weitgehend autonomen Erfahrungsbereich und ihre Semantik öffnete sich einer breiteren Zugänglichkeit. Dem korreliert, dass Rubens, Rembrandt und ihre Zeitgenossen Frauen mit individuellen Merkmalen darstellten und sie nicht mehr dem Maßstab klassischer Schönheit unterwarfen.195 Tatsächlich wurde Schönheit nun zu einem akzidentiellen Merkmal, zu einer, wie schon Montaigne formuliert hatte, »schwache[n] Bürgschaft«.196 In Gestalt durchtriebener, ›weibischer‹ Verführer wurde fortan auch die Schönheit des Mannes als Geschenk der Natur dargestellt, das womöglich nur charakterliche Defizite verbirgt und missbraucht wird. Als einschneidende Veränderung der Liebessemantik des 17. Jahrhunderts beschreibt Niklas Luhmann eine »Wendung ins Imaginäre«. Wenn nicht mehr die väterliche Autorität, sondern die Einwilligung des begehrten Partners ausschlaggebend ist, kreisen die Gedanken der Liebenden um die Haltung des anderen und es entstehen neue Formen der Annäherung und Verpflichtung und der Prüfung der Gefühle. Liebe gewinnt eine temporäre Struktur. Man wägt seine Chancen ab, reflektiert Handlungsalternativen, verfügt in der Imagination über die Freiheit des anderen, verschmilzt sie mit den eigenen Wünschen.197 Liebe macht gegen soziale Hierarchien und die moralische Ordnung ihr

195

Eigenrecht geltend. Sie rechtfertigt sich als »selbstreferentieller Kommunikationszusammenhang« selbst,198 neutralisiert externe Voraussetzungen und öffnet sich einer breiteren Zugänglichkeit. »An die Stelle einer Hierarchie der Weltbezüge des Menschen tritt die Eigengesetzlichkeit und die Zeitstruktur eines relativ autonomen Lebens- und Erfahrungsbereichs.«199 Mit diesen Veränderungen, für die das Konzedieren individueller Entscheidungsfreiheit grundlegend war, mehrten sich in der Malerei subtile erotische Gesten, wie die der zartgliedrigen, auf dem üppigen Gesäß ruhenden rechten Hand der Königin in Jordaens’ Gemälde. Wie Rubens’ Susannenbild bewirkt auch dieses eine Wendung ins Imaginäre, provoziert es den Betrachter zur Imagination eines weiteren Verlaufs der Bildhandlung und der Rolle, die er dabei spielen könnte, einen vorausschauenden Scharfsinn. Diese Tendenz charakterisiert zahlreiche weitere Werke des 17. Jahrhunderts, u. a. Rembrandts Susanna und die Alten (Abb. 204) und Eglon van der Neers Kandaules und Gyges (Düsseldorf, Museum Kunstpalast), in denen den männlichen Akteuren nur noch eine versteckte Bildpräsenz zukommt, was männlichen Rezipienten umso mehr eine imaginative Teilhabe am Geschehen ermöglicht.200 Die von Rubens mit subtilen Mitteln erreichte Qualität eines gesteigerten Interesses des Betrachters, jener enárgeia bzw. evidentia, die nach Quintilian gegeben ist, wenn es scheint, »als wären wir bei den Dingen

»Die Schönheit der Geliebten […] ist jetzt nicht mehr notwendi-

und dem anderen Ego das zuweist, was das eigene Ego für beide

ger Tatbestand, auch nicht notwendige Einbildung, sie ist nicht

projiziert.« (Luhmann 1984, S. 62.)

mehr ein Grund, sondern für die Liebenden selbst ein Folge der

198

Ebda., S. 52.

Liebe. Und dann geht es letztlich darum, gemeinsam die Pro­

199

Ebda., S. 80.

bleme einer Intimbeziehung zu erkennen und zu lösen.« (Luh-

200 In

Rembrandts Susanna und die Alten (Abb. 204) sind die bei-

mann 1984, S. 52.)

den Männer am rechten Bildrand in einem Gebüsch versteckt

196

Wie Anm. 83.

dargestellt und nur schwer zu erkennen. Von dem Werk von

197

»Gewährt man der/dem Geliebten die Freiheit, nach eigenem

Eglon van der Neer wird in der Literatur durchweg behauptet, in

Gutdünken und nach eigenen Gefühlen zu entscheiden, was ge-

ihm sei Gyges nicht dargestellt, wodurch der Betrachter, an den

schehen soll, zerbricht daran die Regulierung durch Ideale. Statt

die Enthüllungsszene auch hier deutlich adressiert ist, dezidiert

dessen verlagert sich die Steigerungsmöglichkeit in die Imagi-

mit ihm identifiziert werde. Tatsächlich ist aber, was sich an fo-

nation. In der Imagination verfügt man über die Freiheit des an-

tographischen Reproduktionen nicht ersehen lässt, Gyges am

deren, verschmilzt sie mit den eigenen Wünschen, übergreift

linken Bildrand mit einer monochromen Farblasur auf dem Vor-

die doppelte Kontingenz auf der Metaebene, die dem eigenen

hang dargestellt.

336

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Abb. 207  William Schubert van Ehrenburg/Charles Emmanuel Biset/Jacob Jordaens u. a.: Galeriebild, 1666, Schleißheim, Schloss

selbst zugegen (quam si rebus ipsis intersimus)«,201 hat Jordaens noch forciert und ins Paradoxe getrieben. Das Vorbild hatte noch einen deutlich appellativen Charakter und diente dem Lob männlicher Tugend und einer Urteilskraft, die sich nicht von der Begierde trüben ließe und sich in einer entsprechenden Reaktion zu erweisen hätte. Vor der Frau des Königs Kandaules hingegen verfällt der Betrachter schon beim ersten Blick der Schuld und Komplizenschaft. Dabei hat Jordaens geschehenslogische Unschärfen in Kauf genommen. Dem hilfesuchenden Blick der Rubensschen Susanna ist nicht anzumerken, was er sieht und ob er auf Resonanz stößt. Der bestimmte, gerichtete Blick der lydischen Königin aber setzt die Anwesenheit eines Adressaten voraus. Durch ihn hat Jordaens in seinem Werk das Sehen selbst, den Voyeurismus und die Wirkungs-

Jordaens’ Gemälde lässt uns die Königin nackt sehen und der Maler hat alles unternommen, um männliche Betrachter in den Bann zu ziehen. Die sinnliche Totalpräsenz einer Person hatte schon Leonardo da Vinci als Argument für die Überlegenheit der Male-

201

202

Quintilian: Institutio oratoria, VI 2.

macht des Bildes thematisiert. Anregungen dafür enthielt neben Rubens’ Gemälde auch der Text von Herodot, in dem Kandaules die verhängnisvollen Worte an den noch widerstrebenden Freund richtet: »Gyges, du glaubst mir anscheinend nicht, was ich dir von der Schönheit meiner Frau erzähle; den Ohren glauben ja die Menschen weniger als den Augen. Sieh doch zu, daß du sie einmal nackt sehen kannst.«202

Herodot: Historien, I, 8 (griech.-dt. hrsg. v. Josef Feix, München/ Zürich 41988, S. 13).

DAS EROTI S C H E S U J E T U N D D I E WE N D U N G I N S IM AGIN ÄRE : JORDAE N S’ DIE FRAU DES KÖNIGS KANDAULES

337

Abb. 208  William Schubert van Ehrenburg/Charles Emmanuel Biset/ Jacob Jordaens u. a.: Galeriebild, Detail

rei über die Poesie angeführt, einer »Malerei für Blinde«, die den Körper nur stückweise beschreiben könne, ein Glied erst, wenn das andere schon gestorben sei.203 Obschon Jordaens’ Königin nicht mehr dem Schönheitsideal der Renaissance entspricht, scheint er doch im Sinne Leonardos, dessen Malereitraktat 1651 gleichzeitig in einer italienischen und einer französischen Ausgabe erscheinen sollte, die lebensgroße Aktfigur in seinem Gemälde ausgeführt zu haben, dessen enormes Format in der damaligen niederländischen Malerei bei solch anzüglichen Themen nicht unüblich war. Seine Darstellung, bei der es ihm, wie wir noch sehen werden, in besonderer Weise um die Paragone-Thematik ging, überschreitet mit der forcierten Einbeziehung des Be-

203 Zit.

auf S. 169, Anm. 32; zum Fortleben der Auffassung von der

schaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis

Überlegenheit der Malerei im 17. Jahrhundert siehe Marc Fuma-

zum Surrealismus. Ausst.-Kat. München, Lenbachhaus, Köln

roli, L’école du silence. Le sentiment des images au XVIIè siècle.

2001, Kat.-Nr. 157; Ausstellungskatalog München 2002, S. 387f.

Paris 1994, S. 135ff.; Bätschmann 1995. 204

trachters die Bedingungen der asymmetrischen Kommunikation von Bild und Betrachter. Jordaens hat ihre geschehenslogische Inkonsistenz offenbar in Kauf genommen, um Betrachter zu fesseln und ihre Phantasie zu aktivieren, eine ins Imaginäre ausgreifende Reflexion ihrer Handlung zu provozieren. Es gibt ein Werk, das als Probe auf das Gesagte dienen kann, ein Galeriebild in Schloss Schleißheim (Abb. 207),204 das 1666 als Gemeinschaftsarbeit mehrerer Mitglieder der 1663 gegründeten Antwerpener Akademie der Teekenkunst entstanden ist. William Schubert van Ehrenburg, der es als Hauptverantwortlicher signierte, malte den Galerieraum und das kleine Architekturstück im Vordergrund, Charles Emmanuel Biset die vornehmen Besucher, darunter die im Hintergrund unter einem Seestück gruppierten Figuren, bei denen es sich um den Maler Gonzales Coques, den Bürgermeister Hendrik van Halmale und den Bildhauer Pieter Verbruggen handelt.205 Das Galeriebild vergegenwärtigt zudem die heute nicht mehr erhaltenen Deckengemälde der Antwerpener Jesuitenkirche – eine Hommage an ihren Schöpfer Peter Paul Rubens. Weitere Künstler haben sich in ihm durch jeweils eines ihrer Werke verewigt, darunter auch der damals 73-jährige Jacob Jordaens. Als das größte von ihnen nimmt Die Frau des Königs Kandaules einen Ehrenplatz am rechten Bildrand ein. Vor dem Gemälde, das seitenverkehrt wiedergegeben ist und schräg steht wie ein Spiegel oder eine halb geöffnete geheime Tür, hat der Maler allegorische Figuren versammelt (Abb. 208): Umringt von Amoretten, von denen einer das Gemälde zeichnet, betrachten Apoll und Merkur, die Götter der Künste und der Beredsamkeit, das noch unvollendete Werk, über das die mit Palette und Pinsel bewehrte Pictura und die Poesia offenbar kontrovers diskutieren.

Zu diesem Gemälde siehe Ausstellungskatalog Antwerpen 1993,

205 Kurt

Wettengl: William Schubert van Ehrenberg: Bildersaal,

1666. In: Ausstellungskatalog München 2002, S. 387.

S. 238f.; Helmut Friedel (Hrsg.): Pygmalions Werkstatt. Die Er-

338

Z U R M ALE RE I D E R RU B E NS-ZEIT

Die Sphäre seiner mythischen Kunstbetrachter hat Jordaens zum Inneren der Galerie abgegrenzt durch die Rückenfiguren an seiner linken Schwelle und das witzige Motiv eines Puttos, der sich bemüht, den Umhang Apolls so zurechtzurücken, dass dieser dessen Gesäß bedeckt. Die täuschende ›Lebendigkeit‹ seines Bildes im Bilde hat er hervorgehoben, indem er dessen Personal und seine mythischen Betrachter eng aufeinander bezog: So sind die Häupter von Apoll, der Dichtung, der Malerei und des Kandaules in gleichmäßiger Reihung angeordnet und rechts scheinen Merkur und der Putto die Frau des Kandaules zu berühren. Vor dem Bild im Bilde steht auf dem Boden ein kleiner Schemel, so dass man den Eindruck gewinnen kann, die Frau sei im Begriff, aus dem Gemälde herauszutreten oder eben erst aus dem Galerieraum in dieses eingetreten. So nimmt sich die Malerei mit den Stoffen der Dichtung alle Freiheit heraus – offenbar zum Unwillen ihrer Schwesterkunst – und erweist sich darin als ihr zumindest ebenbürtig. Man hat vermutet, dass Jordaens für dieses Galeriebild die Frau des Königs Kandaules auswählte, da Karel

van Mander – wie auch später Joachim van Sandrart – eine Stelle bei Plinius missverstehend, erklärt hatte, Gyges sei der Erfinder der Malerei gewesen.206 Zudem hat man in der Figur Merkurs, des Gottes der Beredsamkeit und Patrons der Handelsstadt und der Künste, einen Hinweis darauf gesehen, dass die Antwerpener Maler seit 1480 mit den Rhetorikern in einer Gilde organisiert waren, mit denen sich auch die neu gegründete Malerakademie Räume in der Antwerpener Börse teilte.207 Doch bemerkenswert ist vor allem, dass Jordaens, der auch zahlreiche Gemalte Sprichwörter schuf,208 in dieser Darstellung einer Kunstkammer eines seiner raffiniertesten Werke repräsentiert hat, dessen Wirksamkeit als ein Gesprächsprogramm er auf das Vorteilhafteste ausmalte. Das System Kunst konstituiert sich nicht in den Werken, sondern in dem Gespräch über diese. Das einzelne Werk muss sich bewähren in der Konkurrenz mit zahllosen anderen, es muss den Rezipienten Gesprächsanreize, sinnliche und intellektuelle Nahrung geben. Dies zu leisten, hat sich Jacob Jordaens vorgenommen und seinen Werken offenbar auch zugetraut.209

206

Nora de Poorter, in: Ausstellungskatalog Antwerpen 1993, S. 239.

zukam, in der es unterhalb eines Reiterbildnisses des Kurfürsten

207

Asemissen/Schweikhart 1994, S. 131.

Johann Wilhelm, des Gemäldes mit der Inventarnummer 1,

208

Siehe hierzu die Beiträge von Brigit Ulrike Münch, Elsa Oßwald

hing, siehe David Ganz: Sezierung des Pendantsystems. Zu Me-

und Sarah-Sophie Riedel. In: Münch/Pakati 2012. 209 Zu

der eminenten Bedeutung, die dem Kunstkammerbild der

chels und Pigages Galerie Électorale (1778). In: Blum/Bogen/ Ganz/Rimmele 2012, S. 166f.

Antwerpener Maler in der Kurfürstlichen Galerie in Düsseldorf

DAS EROTI S C H E S U J E T U N D D I E WE N D U N G I N S IM AGIN ÄRE : JORDAE N S’ DIE FRAU DES KÖNIGS KANDAULES

339

KAPITEL VII

340

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

DEUTUNGSPLURALISMUS UND STAATSRÄSON. DIE NIEDERLANDE UND FRANKREICH IM SPÄTEN 17. JAHRHUNDERT

Dass Künstler mit mehrdeutigen, enigmatischen, satirischen und die Augen täuschenden Gemälden, mit Karikaturen, Drudeln, Quodlibets etc. ihren Beitrag zur Geselligkeit leisteten, dafür gibt es im 17. Jahrhundert zahllose Beispiele. Den spielerischen Rezeptionsformen diente auch die Emblematik, die damals in nahezu sämtliche Lebensbereiche Eingang fand: Embleme schmückten die Fassaden und Innenräume von Sakralund Profanarchitekturen,1 sie zierten Sänften,2 Öfen, Schränke, Särge, Pokale, Gläser und Becher,3 Siegel, Medaillen und Schaupfennige, Spielkarten und -steine; man bediente sich ihrer auf der Bühne, in der Musik, bei Feuerwerken und anderen Illuminationen.4 Welche Bedeutung dem geselligen Kunstgenuss in der damaligen Adelskultur zukam, kann hier ein wenig bekanntes entlegenes Ensemble verdeutlichen: die Bunte Kammer des Herrenhauses Ludwigsburg bei Eckernförde.5 1672 hatte Friedrich Christian Kielmann von Kielmannseck (1639–1714), der fünf Jahre zuvor in den alten Holsteinischen Adel eingeheiratet hatte, das Landgut Kohöved erstanden, das er zu seinem Hauptwohnsitz ausbauen ließ. Den Festsaal ließ er vollständig mit einer Vertäfe-

1

2

3

lung aus Eichenholz versehen, in die nicht weniger als 175 rechteckige und ovale Gemälde mit Emblemen eingelassen wurden (Abb. 209). Diese fertigte man nach Vorbildern aus den mehr als zwanzig Emblembüchern an, die der gelehrte Hausherr besaß,6 und versah ein jedes mit einem Motto in lateinischer, italienischer, deutscher, niederländischer oder englischer Sprache. Dabei wurden die Vorlagen nicht getreu kopiert, sondern modifiziert und auch Bilder und Motti neu kombiniert. Zudem verzichtete man auf die erläuternden Epigramme, das übliche dritte Element des Emblems, um so die nur mit den Motti versehenen Darstellungen zu Bilderrätseln werden zu lassen. Die Verbindung zwischen Wort und Bild zu erkennen und die Lehre aus ihnen zu ziehen, war damit Aufgabe der Betrachter. Dem integrativen Anspruch der Geselligkeit trugen die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade der Rätsel Rechnung. Zu den leichteren Aufgaben gehört z. B. das bekannte Motiv des homo bulla, der mit Seifenblasen spielenden Kinder, das mit der Inschrift »e tutto abbraccio e nulla stringo« (Ich greife nach allem und halte nichts) versehen ist (Abb. 210).7 Zu den kom-

Hans J. Böker/Peter M. Daly (Hrsg.): The Emblem and Architec-

kultur des Barock. Die Embleme der Bunten Kammer im Her-

ture. Studies in Applied Emblematics from the Sixteenth to the

renhaus Ludwigsburg bei Eckernförde. Kiel 22004, S. 11; Wolf-

Eighteenth Centuries. Turnhout 1999.

gang Harms/Hartmut Freytag (Hrsg.): Außerliterarische Wir-

Margarete von Navarra besaß eine Sänfte, die mit Impresen aus-

kungen barocker Emblembücher. Emblematik in Ludwigsburg,

gemalt war. (Siehe Claude Paradin: Devises Heroiques. Lyon

Gaarz und Pommersfelden. München 1975. Zu den verschiede-

1557, S. 40f.)

nen Funktionen und Themen der Emblematik und der Em­ blembücher siehe Freytag/Harms/Schilling 2004, S. 10f.

Carsten-Peter Warncke: Allegorese als Gesellschaftsspiel. Erörternde Embleme auf dem Satz Nürnberger Silberbecher aus

5

Zum Folgenden siehe Freytag/Harms/Schilling 2004.

dem Jahre 1621. In: Anzeiger des Germanischen Nationalmuse-

6

Eine Aufstellung der 23 Emblembücher, die dem Maler der Bun-

ums, 1982, S. 43–62. 4

Hartmut Freytag/Wolfgang Harms/Michael Schilling: Gesprächs-

ten Kammer als Vorlage dienten, findet man ebda., S. 15ff. 7

Ebda., S. 153.

341

Abb. 209 Die Bunte Kammer des Herrenhauses Ludwigsburg bei Eckernförde

Abb. 210  »E tutto abbraccio e nulla stringo«, um 1675, Emblem in der

­Bunten Kammer des Herrenhauses Ludwigsburg

plexeren zählt hingegen die Darstellung einer Stube, in der eine Armillarsphäre auf einem Tisch steht, darüber an der Wand eine Karte Schleswigs und seiner Ostseeküste und durch das seitliche Fenster ein nächtlicher Sternhimmel zu sehen sind (Abb. 211). Das Bild und das in der Gelehrtensprache verfasste Motto »ni aspicit non aspicitur« (Sieht er einen nicht an, wird man nicht erblickt) lassen sich religiös und profan deuten: als Hinweis auf die notwendige Gnade Gottes bzw. des Landesherrn.8

Die Bunte Kammer zeigt, dass auch die Emblematik kollektiv rezipiert wurde und, wie zumal Embleme mit Themen der Liebe, Gegenstand der ars conversationis und einer »kolloquiale[n] und spielerische[n] Verwendung« war.9 Bei einigen Emblembüchern ist sogar belegt, dass sie aus solchen Praktiken hervorgegangen sind.10 Wie auch ähnliche Ensembles in Gaarz, Pommersfelden und München11 bezeugt der Festsaal von Ludwigsburg, dass das lehrreiche Vergnügen des Umgangs mit Bilderrätseln sich damals einer nicht gerin-

8

11

Ebda., S. 124. Zudem kann »non aspicitur« wie angegeben, aber

Siehe Harms/Freytag 1975; Cornelia Kemp: Das Herzkabinett

auch wörtlich mit »wird er nicht erblickt« übersetzt werden.

der Kurfürstin Henriette Adelaide in der Münchener Residenz.

9

Ebda., S. 28.

Eine preziöse Liebeskonzeption und ihre Ikonographie. In:

10

Ebda., S. 27. Siehe auch Becker 1997.

Münchener Jahrbuch der bildenden Kunst, 3. Folge 33, 1982, S. 131–154.

342

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

aussagefähige Material. Auffallend viele literarische Zeugnisse finden sich in Frankreich, wo diese Gepflogenheiten in der Epoche der doctrine classique jedoch nur vergleichsweise wenige einschlägige Bildbeispiele hinterlassen haben. Ganz anders stellt sich dies in den reformierten Niederlanden dar, in denen das Spiel der Bildauslegung, wie zahlreiche Gemälde belegen, zu einem populären Vergnügen wurde.

Popularisierung eines Verhaltensmusters im 17. Jahrhundert Popularisierung eines Verhaltensmusters im 17. Jahrhundert. Bildbelege in den reformierten Niederlanden

Abb. 211  »Ni aspicit non aspicitur«, um 1675, Emblem in der Bunten Kam-

mer des Herrenhauses Ludwigsburg

geren Beliebtheit erfreute als in den Zeiten Leonardos und Lorenzo Lottos (vgl. Abb. 77, 86ff.) – im Gegenteil. Tatsächlich erlebte die Praxis der geselligen Kunst­ rezeption im 17. Jahrhundert eine enorme Popularisierung. Während die Emblematik damals in fast ganz ­Europa verbreitet war, zeigen sich signifikante landesspezifische Unterschiede, betrachtet man das weitere

12

In der Tradition von Thoré-Bürger, Georg Friedrich Hegel u. a. hat noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Wilhelm von Bode die Blüte der holländischen Genremalerei als Folge der Befreiung des Landes vom Joch der spanischen Herrschaft interpretiert: »Den Schauplatz für seine Entstehung und Blüte«, so erklärte er, »kann nur ein freies Volk bieten; in seiner Existenz liegt der Beweis für den Geist der Unabhängigkeit, der sich in ihm spiegelt«.12 Dagegen ist heute einiges einzuwenden, u. a. dass die Genremalerei zunächst im späten 16. Jahrhundert in den südlichen Niederlanden ihren Aufschwung genommen hat13 und dass ihre Entwicklung in Holland während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die zunehmende kulturelle Orientierung des Patriziats an der französischen Aristokratie widerspiegelt.14 Dennoch ist zu betonen, dass die holländische Malerei in dieser Zeit selbstreflexive, ironische und mehrdeutige Bildformen

Wilhelm von Bode: Rembrandt und seine Zeitgenossen. Leipzig

liefen die englischen den Rang ab (ebda., S. 197). Zwar gab es Sa-

1906, S. 37.

tiren und Polemiken gegen die Eleganz und die Attitüden der

13

Siehe Houghton 2004.

jungen Leute (ebda., S. 193), doch merkwürdigerweise lassen

14

Zur Aristokratisierung der Oberschicht, die ab circa 1670 vor-

sich in der zweiten Jahrhunderthälfte kaum mehr Dokumente

wiegend in nicht arbeitende Kapitalien investierte, siehe Dieric

finden, die von einem nationalen Krisenbewußtsein zeugen

Regin: Traders Artists Burghers. Assen 1976, S. 145ff., 178ff. Im

(ebda., S. 181). Ausländer sahen das freilich anders: William

Zuge dieser Veränderungen kam es zu einer Verfilzung der Re-

Temple war 1672 noch von der Einfachheit der Oberschicht be-

gentenfamilien (ebda., S. 169, 184f.). Den holländischen Werften

eindruckt, später notierte er, die französische Mode schaffe

P opularisierung eines V erhaltensmusters im 17 . Jahrhundert

343

weit mehr kultiviert hat, als dies insbesondere im katholischen, absolutistischen Frankreich möglich war.15 In der Bildkultur des reformierten Landes wich das Themenrepertoire der Bibel und der Mythologie einer neuen Darstellungswürdigkeit des Alltäglichen. Damit einher ging eine Unterminierung der tradierten Bildrhetorik. Weniger auf autoritative Geltung, auf die Instruktion der Betrachter und die Erzeugung passionaler Sinneffekte als auf eine Re­flexivierung des Soziallebens zielte diese Malerei. Ironische Brechungen der tradierten Ikonographie, Spiegelungen durch Bilder in Bildern, die oft Kommentare zu den dargestellten Handlungen, Auslegungsanreize bieten, ohne dabei das letzte Wort zu beanspruchen, Leerstellen, ungewichtete Bildoppositionen, Mehrfachkodierungen und indifferente Rezep­ tionsfiguren wurden ihre bevorzugten Mittel der Schilderung des Alltags, in denen die Funktionen der Weltaneignung und Erfahrungsvermittlung, des Gesprächsanreizes und der Weltentlastung fließend ineinander übergingen. Eugène Fromentin hat den Gegensatz zwischen der romanischen und der niederländischen Malerei wie folgt beschrieben: »Hier sieht man Formeln, eine Wissenschaft, die man beherrschen kann, ein Wissen, das der Beobachtung zur Hilfe kommt, sie unterstützt und sie im Notfall ersetzen würde und das sozusagen dem Auge diktiert, was es sehen, dem Geiste, was er fühlen soll. Dort nichts dergleichen: eine Kunst, die

sen, das hinter den Einzeldingen des Lebens zurücktritt, keine vorgefaßte Meinung, nichts, was wichtiger ist als die naive, starke, feinfühlige Beobachtung des Vorhandenen.«16

Auch Fromentin sah in der holländischen Malerei noch den »Sonntag des Lebens« (Hegel), das beschauliche Glück freier Bürger verewigt, er wusste noch wenig von den zahllosen, vielfach aus der Emblematik entlehnten Motiven der vanitas, der Laster etc., die später die Ikonographen entdecken sollten.17 Und dennoch verdient seine Charakterisierung Zustimmung. Hat die Ikonographie mit den Hinweisen auf solche ›versteckten Warnungen‹ ein schließlich moralinsaures Bild der damaligen holländischen Gesellschaft entstehen lassen, so ist gerade Fromentins Hinweis auf den in ihr vollzogenen Verzicht auf diktierte, vorgefasste Meinungen zu unterstreichen. Dieser lässt sich an bildeigenen Mittel der Rezeptionssteuerung nachweisen: Die um 1512/13 von Marcantonio Raimondi nach einer Zeichnung Raffaels gestochene Darstellung des bethlehemitischen Kindermordes (Abb. 212) mag hier als Beispiel für jene Kunst dienen, die, wie Fromentin schrieb, »dem Auge diktiert, was es sehen, dem Geiste, was er fühlen soll«. Gemäß der von Alberti erhobenen Forderung nach Rezeptionsfiguren, die das Bildgeschehen kommentieren, dient die zum Betrachter blickende Schreiende im Zentrum dieser Darstellung als Indikator für die angestimmte Affektlage: Als apotropäisches

»kranke Kopien« (ebda., S. 194). Eine den Alltag fokussierende

die Künstler des Goldenen Zeitalters. Ausst.-Kat. Hamburg, Bu-

mentalitätsgeschichtliche Darstellung gibt Simon Schama:

cerius Kunst Forum, München 2017.

Überfluß und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im 15

sich dem Charakter der Dinge anschmiegt, ein Wis-

16

Eugène Fromentin: Die alten Meister (Belgien – Holland). Wei-

Goldenen Zeitalter. München 1988.

mar 1904, S. 188. Vgl. dazu Svetlana Alpers: Kunst als Beschrei-

Zur Entwicklung des Kunsthandels in den Niederlanden, der in

bung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. Köln 1985;

der ersten Hälfte des Jahrhunderts fast ausschließlich in den Händen der Künstler lag, siehe Abraham Bredius: Künstler-Inventare. Urkunden zur Geschichte der holländischen Kunst des

Stoichita 1998, S. 171ff. (Dritter Teil: »Das methodische Auge«). 17

Siehe Eddy de Jongh (Hrsg.): Tot lering en vermaak. Betekenissen van Hollandse genrevoorstellingen uit de zeventiende eeuw.

XVI., XVII. und XVIII. Jahrhunderts. Den Haag 1922; John M.

Ausst.-Kat. Amsterdam, Rijksmuseum, Amsterdam 1976; Die

Montias: Le Marché de l’art aux Pays-Bas (XVe-XVIIe Siècles).

Sprache der Bilder. Realität und Bedeutung in der niederländi-

Paris 1996; Franz Wilhelm Kaiser/Michael North (Hrsg.): Die

schen Malerei des 17. Jahrhunderts. Ausst.-Kat. Braunschweig,

Geburt des Kunstmarktes. Rembrandt, Ruisdael, Van Goyen und

Herzog-Anton-Ulrich-Museum, Braunschweig 1978.

344

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

Abb. 212  Marcantonio Raimondi

nach Raffael: Der bethlehemitische Kindermord, 1512/13, Kupferstich

Motiv droht sie, wie es bei Alberti heißt, »mit finsterem Antlitz und strengen Augen […], man dürfe nicht hinzutreten«.18 Durch sie wird der schreckliche Vorgang ­signalisiert und affektiv vermittelt. Solche Rezeptionsfiguren, die zumeist als Einstiegsfiguren an einem der beiden seitlichen Bildränder platziert sind und als integrierte Spiegelung des Äußerungsaktes (mise en abyme de l’énonciation) fungieren, waren ein fester Bestandteil der klassischen Historienmalerei. Auch der französische Caravaggist Georges de La Tour hat um 1620 im linken Teil seines Gemäldes Der Streit der Musiker (Abb. 213) eine entsetzt zum Betrachter blickende Frau dargestellt.19 Auch diese signalisiert den furchterregenden Vorgang, wobei ihre Funktion einer Rezeptionsfigur bereits relativiert ist. Der entgeisterten Frau steht der lachende Mann am rechten Bildrand gegenüber. Der Maler hat in seiner Darstellung, welche die Ikonographie des Zornes aufgreift und zudem die Thematik des Mendicus mendico invidet

(Der Bettler beneidet den Bettler) behandelt, die Handlung ambivalent kommentiert. Dadurch, dass die entsetzte Alte zugleich Bestandteil einer Bildopposition ist, wird ihre Funktion als Rezeptionsfigur unterminiert, nämlich durch den Vergleich mit ihrem heiteren Pendant selbst zur Disposition gestellt. Betrachten wir in diesem Zusammenhang Jan Steens 1664/65 entstandenes Gemälde Streit beim Spiel (Abb. 214), so gibt sich uns die Frau, die links im Bild oberhalb der beiden sitzenden Bauern in der Türöffnung erscheint, als ein von den angeführten Beispielen abstammendes Motiv zu erkennen. Freilich scheint sie sich nicht an den Betrachter zu wenden, sondern zu dem zornigen Spieler zu blicken, der im Begriff ist, seinen Degen zu ziehen. Wird ihre Kommentarfunktion durch diesen Handlungsbezug überblendet, so ist sie doch unzweifelhaft als Rezeptionsfigur zu erkennen, wenn man sie zusammen mit ihrem männlichen Pendant am rechten Bildrand betrachtet. Dort blickt ein mit

18

19

Leon Battista Alberti: De pictura, (II) 42 (Alberti 2000, S. 273).

Zur Ikonographie und Datierung des Gemäldes siehe Ausstellungskatalog Paris 1997, S. 104ff.

P opularisierung eines V erhaltensmusters im 17 . Jahrhundert

345

Abb. 213  Georges de La Tour:

Der Streit der Musiker, um 1620,

Malibu, CA, The J. Paul Getty-Museum

einer Mistgabel bewehrter Bauer zum Betrachter und findet, wie seine Gesichtszüge verraten, den dargestellten Vorgang belustigend: Was Frauen und Kinder erschreckt, erheitert die Männer. Die Handlung des Bildes ist also in ihm selbst ambivalent kommentiert, was uns nötigt, ihn genauer zu studieren. Jan Steens Gemälde lässt sich auf eine Bildtradition zurückführen, die bis zu Hieronymus Boschs Darstellung des Zornes (ira) auf der bekannten Tischplatte im Prado zurückreicht.20 Dort waren die Laster das Thema, ohne Wenn und Aber. Hier hingegen droht eine Gestalt mit dem Griff zur Waffe, die an den stolzen, kränkbaren Capitano aus der Commedia dell’arte, dem Lustspiel aus dem Stegreif, erinnert. Fraglich wird damit der Status der Szene, bei der es sich womöglich um eine Posse handelt. Ein Bildthema, das einst der unmissverständlichen moralischen Ermahnung diente, ist hier ins Humorvolle gewendet, wie nicht zuletzt die unterschied-

lichen innerbildlichen Reaktionen bezeugen, die keine eindeutig maßgeblichen Verständnishilfen mehr vermitteln.21 Die vormals eng gefasste ethische Bestimmung des Kunstwerks, zu sittlichem Verhalten zu erziehen, ist in Steens Streit beim Spiel relativiert zugunsten einer komplexen Inszenierung, die auch Merkmale verschiedener Gattungen vereint. So sind die Figuren des Capitano und der ihn bedrängenden Frau und Tochter in ihren schillernden Kleidern ein Beispiel bester Leidener Feinmalerei, während Steen bei den bäuerlichen Zuschauern an der Peripherie des Geschehens mit der sparsamen Palette erdiger Farbtöne und dem schnellen pastosen Farbauftrag den Konventionen des niederen Genres entsprach. Die drei angeführten Beispiele des Motivs der entsetzten Frau lassen somit eine zunehmende Relativierung seiner Funktion als einer Rezeptionsvorgabe erkennen. In Raimondis Stich fungierte die zentrale Figur

20

21

Siehe Jan Kelch: Jan Steen: Streit beim Spiel, um 1664/65. In:

Zu solchen Darstellungen unterschiedlicher Reaktionen auf das

Peter C. Sutton (Hrsg.): Von Frans Hals bis Vermeer. Meister-

eigentliche Bildgeschehen siehe Andreas Hahn: »… dat zy de

werke Holländischer Genremalerei. Ausst.-Kat. Philadelphia

aanschouwers schynen te willen aanspreken«: Untersuchungen

Museum of Art, Berlin, Gemäldegalerie, London, Royal Aca-

zur Rolle des Betrachters in der niederländischen Malerei des

demy of Arts, Berlin 1984, S. 308ff. (Kat.-Nr. 100); Ders.: Jan Steen:

17. Jahrhunderts. München 1996, passim, bes. S. 169ff.

Streit beim Kartenspiel. Um 1664/65. In: Henning Bock/Irene Geismeier u. a.: Gemäldegalerie Berlin. 200 Meisterwerke. Berlin 1998, S. 284–286.

346

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

Abb. 214  Jan Steen: Streit beim

Spiel, 1664/65, Staatliche Museen

zu Berlin, Gemäldegalerie

als ein suggestives und zugleich indikatives Zeichen, das dem Betrachter unmissverständlich den Charakter der dargestellten Handlung anzeigt. In den Gemälden von Georges de La Tour und Jan Steen ist die Schreienden dagegen nur noch eines von mehreren Rezeptionsangeboten. Darin zeigt sich ein bewusster Verzicht auf eine strenge Bildregie, wie sie im späten 17. Jahrhundert von den Theoretikern der doctrine classique gefordert wurde. Im Gegensatz zur französischen Hofkunst kultivierte die holländische Malerei komplexe Formen der Organisation des Betrachterverhaltens, die auf eine Pluralisierung der Erfahrungs- und Deutungsmöglichkeiten des Bildes zielten. Dass ihr Publikum entsprechende Erwartungshaltungen hegte, ist anzunehmen, hatte doch Jacob Cats mit seiner 1618 publizierten Schrift Silenus Alcibiadis sive Proteus dahingehende Rezeptionskompetenzen gefördert. In der Vorrede dieses prominentesten niederländischen Emblembuchs des 17. Jahrhunderts betonte der Autor die Relativität aller

äußeren Erscheinungen und forderte seine Leser auf, ein jeder solle die dargebotenen Sinnbilder seinen Möglichkeiten entsprechend (»yder na syn gheleghentheyt«) interpretieren.22 Zu einer jeden pictura gab Cats drei unterschiedliche Deutungen in niederländischer, lateinischer und französischer Sprache. Hatte Paleotti zwischen den Seherwartungen von Theologen, Gebildeten, Ungebildeten und Künstlern unterschieden, so differenzierte er zwischen den Wahrnehmungsdispositionen verschiedener Lebensalter: Junge Menschen würden vor allem Sinnliches wahrnehmen und Kunstwerke gerne in erotischem Sinne deuten, reife Personen würden dagegen im Leben wie bei der Kunstbetrachtung auf moralische Grundsätze achten und die Alten sich auf die letzten Dinge konzentrieren. Ohnehin könne jegliches Symbol in bono (ten goeden) und in malo (ten quaden) gedeutet werden, repräsentiere doch der Löwe in der Bibel sowohl den Teufel als auch Christus.23

22

23

Jakob Cats: Silenus Alcibiadis sive Proteus. Amsterdam 1618,

Cats 1618, Voor-reden, 3; Müller 2015, S. 117, Anm. 95.

Voor-reden, 2. Siehe hierzu Müller 2015, S. 117f.

P opularisierung eines V erhaltensmusters im 17 . Jahrhundert

347

Abb. 215  Jan Vermeer:

Bei der Kupplerin, 1656, Dresden,

Gemäldegalerie Alte Meister

Hat Jan Steen in Streit beim Spiel die Handlung durch konträre Rezeptionsvorgaben ambivalent kommentiert, so konzentriert sich eine solche Ambiguität zuweilen in indifferenten und zwielichtigen Rezeptionsfiguren, wie in Jan Vermeers 1656 entstandenem Gemälde Bei der Kupplerin (Abb. 215).24 Auch in diesem caravaggesken Frühwerk kommt dem Mann am linken Bildrand, bei dem es sich wahrscheinlich um ein Selbstbildnis des Künstlers handelt, die Stellung einer Einstiegsfigur zu, von der eine Rezeptionsvorgabe zu erwarten ist. Mit dem Glas in der einen und der Laute in 24

der anderen Hand, erwidert er unseren Blick. Seine einladende, Zuspruch und Teilnahme fordernde Gestik wird noch durch das Lächeln unterstrichen, das auf dem verschatteten Gesicht liegt. Freilich wirkt dieses Rezeptionsangebot fragwürdig, zumal das Gemälde eine Bordellszene vor Augen führt. Die niederländische Genremalerei hat solche zuweilen so inszeniert, dass der Betrachter über den Charakter des Vorgangs im Ungewissen bleibt. Nicht so in Vermeers Bild, in dem die Entlohnung des Mädchens durch den Freier ins Zentrum gerückt ist. Über das Sujet der käuflichen Liebe

Zu diesem Werk siehe Uta Neidhardt: Johannes Vermeers

(Hrsg.): Der frühe Vermeer. Ausst.-Kat. Dresden, Gemäldegale-

»Kupplerin« – ein Experiment mit offenem Ausgang? In: Dies.

rie Alte Meister, Berlin/München 2010, S. 49–55.

348

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

bleibt kein Zweifel, doch die Art seiner Darstellung ist äußert ungewöhnlich. Denn Vermeer hat das moralisch Verwerfliche in sinnlicher Pracht und Schönheit und eine innere Übereinstimmung von Freier und Mädchen inszeniert, eine so wohlige körperliche Nähe der beiden, dass man sich fragen muss, ob er hier nicht ein Liebespaar in einem Rollenspiel verewigt hat. Gewiss findet auch in diesem Werk die Ikonographie der Laster ihre Fortsetzung, doch diese ist hier mit Bedacht an die Grenze einer moralischen Indifferenz geführt, die das Gespräch über das Kunstwerk provoziert. Zwanzig Jahre vor diesem Selbstbildnis im Bordell hatte sich Rembrandt mit Saskia auf dem Schoß als verlorener Sohn verewigt, der dem Betrachter munter zuprostet (Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister). Statt dem Dionysischen zu huldigen, betrat der Künstler nun spezifische Grenzbereiche der bürgerlichen Moral und kokettierte womöglich mit dem zweifelhaften Ruf der liederlichen »pictores vulgares«.25 In Vermeers Bei der Kupplerin wird die undurchsichtige Rezeptionsfigur, auf die der Betrachter, verunsichert über den Charakter der Handlung, immer wieder verwiesen ist, zum Stachel solchen Freimuts.26 Sie stimmt in das Bildgeschehen ein, begegnet der zu erwartenden Reaktion des Be-

trachters und entwaffnet auf ewig jeglichen Widerspruch. Nicht zuletzt resultiert die Irritation, die das Gemälde auslöst, daraus, dass es dem durch die Rezeptionsfigur eröffneten Blickkontakt mit dem Betrachter, der in realer Kommunikation stets nur ein kurzer, übergängiger Moment vor einer weiteren Verständigung wäre, zur Dauer verhilft. So hat Vermeer, dessen Frühwerk seine Caravaggio-Rezeption bezeugt, die bleibende Irritation, ja Niederlage des Rezipienten vorprogrammiert.27 Geben uns die Rezeptionsfiguren in der holländischen Genremalerei häufig keine eindeutige Orientierung mehr, so gilt dies erst recht für manche geheimnisvollen Frauengestalten. Einhergehend mit der kulturellen Orientierung des Patriziats an der französischen Aristokratie griff in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die in Frankreich, in den Salons der Précieux entstandene Briefstellermode um sich und brachte Bildformen hervor,28 wie jene Gemälde Gerard ter Borchs u. a., vor denen der Betrachter genötigt wird, sich den Kopf über den Inhalt des Briefes zu zerbrechen, den die distinguierte Dame schreibt (Abb. 216) oder liest.29 Auch hier ist jene »angenehme Dunkelheit« hervorgerufen, von der Jacob Cats in seinem Spiegel van den ouden en nieu-

25

28

26

Siehe Hans-Joachim Raupp: Untersuchungen zu Künstlerbild-

Alpers 1985, S. 321–343; Ann Jensen Adams: »Der sprechende

hundert. Hildesheim [u. a.] 1984, S. 311ff.

Brief«. Kunst des Lesens, Kunst des Schreibens. Schriftkunde

Hammer-Tugendhat sieht darin ein Charakterstikum der hol-

und schoonschrijft in den Niederlanden im 17. Jahrhundert. In:

ländischen Malerei des 17. Jahrhunderts: »Bei Vermeer, Ter-

Sabine Schulze (Hrsg.): Leselust. Niederländische Malerei von

borch, Metsu und anderen holländischen Künstlern der zweiten

Rembrandt bis Vermeer. Ausst.-Kat. Frankfurt/M., Schirn Kunst-

Hälfte des 17. Jahrhunderts können wir eine Stillegung von kör-

halle, Stuttgart 1993, S. 69–92; Stoichita 1998, S. 190ff.; Hammer-

perlichen Gesten und mimischem Ausdruck beobachten. Der

Tugendhat 2002; Peter C. Sutton/Lisa Vergara/Ann Jensen

Körper spricht nicht, was in der Seele vorgeht, und auch das Ge-

Adams: Love Letters. Dutch Painting in the Age of Vermeer.

sicht verrät nicht deren Geheimnisse.« [Daniela Hammer-Tu-

Ausst.-Kat. Dublin, National Gallery, Greenwich, CT, Bruce Mu-

gendhat: Arcana Cordis. Zur Konstruktion des Intimen in der

seum, London 2003.

Malerei von Vermeer. In: Gisela Engel u. a. (Hrsg.): Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne (=Zeitsprünge. For-

27

Zur Motivik des Briefes in der holländischen Malerei siehe

nis und Künstlerdarstellung in den Niederlanden im 17. Jahr-

29

Auch hier ist eine »Wendung ins Imaginäre« (Luhmann) festzustellen: »Das Lesen eines Briefes bedeutet Kommunikation mit

schungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 6, Heft 1–4). Frankfurt/M.

einem Abwesenden […]. Dies ist eine neue Form der Kommuni-

2002, S. 251.]

kation […]. Es geht um Liebe, aber der Geliebte ist nicht da, statt

Zum Rätselcharakter des Kunstwerks schreibt Adorno: »Nicht

Körper gibt es Schrift, statt Umarmung phantasierte Beziehung.

minder strikt sind Kunstwerke Rätsel. Sie enthalten potentiell

Der Brief, ein Text, der unsichtbar ist (für uns ist er nur ein Stück

die Lösung, nicht ist sie objektiv gesetzt. Jedes Kunstwerk ist ein

weißes Papier) evoziert das Bewußtsein von Abwesenheit.«

Vexierbild, nur derart, daß es beim Vexieren bleibt, bei der prä-

(Hammer-Tugendhat 2002, S. 239.)

stabilierten Niederlage ihres Betrachters.« (Adorno 1981, S. 184.)

P opularisierung eines V erhaltensmusters im 17 . Jahrhundert

349

Abb. 216  Gerard ter Borch: Die Neugier, 1660–62, New York, Metropolitan Museum of Art

wen tyt gesprochen hat.30 Der Betrachter solcher Werke ist einem kalkulierten Informationsdefizit ausgesetzt, das er nur spekulativ überbrücken kann, was in geselligem Rahmen den erwünschten heiteren Effekt erzeugt haben wird. »Wenig unterhaltsam« fand hingegen Sir Joshua Reynolds, Akademiedirektor in London, was er in Holland zu Gesicht bekam, und die lakonische Be-

30

31

standsaufnahme, mit der er in seiner Journey to Flanders and Holland (1781) ein heute im Privatbesitz in Irland befindliches Gemälde von Gabriel Metsu wiedergab, lässt vermuten, dass er die hier geforderten Assoziationsleistungen – ›Die Liebe ist änderlich wie die See‹ etc.31 – läppisch fand. Nüchtern beschrieb er das Gemälde: »Eine Frau, die gerade einen Brief liest; die Milchfrau, die ihn gebracht hat, zieht unterdessen einen Vorhang beiseite, um das Bild dahinter zu betrachten; es scheint ein Seestück zu sein.«32 Dass die oft anekdotische, heiter mit Sinnanmutungen spielende holländische Malerei für solche Zwecke auch den Modus des Lakonischen zu nutzen wusste, zeigt die geheimnisvolle Rückenfigur eines Reiters von ter Borch (Abb. 217), eine kühn verselbstständigte, monumentalisierte Form, die Fragen über Fragen aufwirft.33 Zur Förderung des geselligen Gesprächs haben die niederländischen Genremaler immer wieder auf eine eindeutige Sinnsetzung in ihren Werken verzichtet, und schon ihr zeitgenössisches Publikum wird nicht selten eine galante Szene, wie Goethe das heute in Berlin befindliche Gemälde ter Borchs (Abb. 218),34 als Väterliche Ermahnung missverstanden haben. Schon Johann Georg Wille hatte dieses 1765 in seinem Reproduktionsstich als Instruction Paternelle bezeichnet, ein Titel, der durch Goethe geläufig wurde. In den Wahlverwandtschaften schildert dieser eine Abendgesellschaft, die, nachdem man sich mit musikalischen Darbietungen und dem Rezitieren von Gedichten die Zeit vertrieben hatte, berühmte Gemälde als tableaux vivants nachstellte:

Jacob Cats: Alle de Werken … Amsterdam 1700, S. 480, zit. n.

Metapher der bewegten See in der Emblematik siehe Henkel/

Eddy de Jongh: Einleitung. In: Ausstellungskatalog Braun-

Schöne 1996, Sp. 1462ff., 1467f.; zum Briefmotiv bei Dirck Hals:

schweig 1978, S. 12.

Dieter Beaujean: Bilder in Bildern: Studien zur niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Weimar 2001, S. 70ff.]

In Zusammenhang mit Werken von Dirck Hals, der die Ikonographie der Brieflektüre unterm Seestück schon 1630 begrün-

32

dete, hat Eddy de Jongh auf die Verse von Jan Harmensz. Krul hingewiesen: »Liebe kann man zu Recht mit der See verglei-

Zit. n. Alpers 1985, S. 21. Zu dem Werk von Metsu siehe auch Stoichita 1998, S. 190ff.

33

Siehe Arthur K. Wheelock jr.: Gerard ter Borch. Ausst.-Kat. Wa-

chen/ die sich ständig ändert/ und in der einen Stunde Hoff-

shington, National Gallery, New Haven, CT 2004, S. 44ff. (Kat.

nung/ in der nächsten Furcht verbreitet: So geht es auch dem

Nr. 1).

Liebhaber«. [Zit. n. Peter C. Sutton: Dirck Hals: Junge Frau mit

34

Siehe ebda., S. 114ff. (Kat.Nr. 27).

einem Brief, 1633. In: Ausstellungskatalog Berlin 1984, S. 178. Zur

350

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

des Vaters; und was die Mutter betrifft, so scheint diese eine kleine Verlegenheit zu verbergen, indem sie in ein Glas Wein blickt, das sie eben auszuschlürfen im Begriff ist.«35

mend sei, sieht man aus der Miene und Gebärde

Goethes Deutung des Gemäldes als Darstellung einer sittsamen bürgerlichen Familie ist eine des frühen 19. Jahrhunderts. Sie unterstellt ter Borch retrospektiv Absichten, wie sie etwa Jean Siméon Chardin mit seinen stillen Szenen des bürgerlichen Alltags oder JeanBaptiste Greuze mit seinen moralischen Rührstücken verfolgt hatten. Dennoch ist dieses Missverständnis Teil der in dem Werk angelegten Rezeptionsgeschichte. Schließlich zeigt auch Goethes Text mit der psychologischen Ausdeutung der Haltung der Rückenfigur, wie sehr ter Borch mit Anmutungen und Unbestimmtheiten gearbeitet hat. Die in dem Bild gegebenen Hinweise auf das Thema der käuflichen Liebe bzw. auf die amourösen Absichten des Mannes, wie das Himmelbett an der Rückwand des Raumes und der Toilettentisch vor diesem, sind eher dezent. Für eine Familienszene scheint zu sprechen, dass die Frau nicht dem Typus der hässlichen alten Kupplerin entspricht, sondern ungefähr so alt zu sein scheint wie der Mann neben ihr. Doch dieser ist nicht der Familienvater, sondern ein selbst­ sicher auftretender galanter Kavalier, dessen Degen und sein federgeschmückter Hut ihn als Angehörigen des Militärs ausweisen. Schwer zu durchschauen ist sein Handeln. Man sieht, dass er spricht, ohne zu hören, was er sagt, und die Geste seiner Rechten wirkt, als wolle er seinen Worten Nachdruck verleihen oder als biete er der Umworbenen eine Münze oder ein Medaillon an. Tatsächlich hat man der Hand des Freiers früher eine Münze erblicken wollen, die sich jedoch weder an dem Gemälde, noch Willes Nachstich nachweisen lässt. Wahrscheinlich zeigt ter Borchs Bild, wie ein älterer Mann einer unverheirateten jungen Dame von Stand Avancen macht.36 In der zuvor entstandenen Version im

Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften, 2. Teil,

36

Abb. 217  Gerard ter Borch: Rückansicht eines Reiters, 1634, Boston, ­Museum of Fine Arts

»Als drittes hatte man die sogenannte ›Väterliche Ermahnung‹ von Terburg gewählt, und wer kennt nicht den herrlichen Kupferstich unseres Wille von diesem Gemälde! Einen Fuß über den anderen geschlagen, sitzt ein edler, ritterlicher Vater und scheint seiner vor ihm stehenden Tochter ins Gewissen zu reden. Diese, eine herrliche Gestalt im faltenreichen, weißen Atlaskleide, wird zwar nur von hinten gesehen, aber ihr ganzes Wesen scheint anzudeuten, daß sie sich zusammennimmt. Daß jedoch die Ermahnung nicht heftig und beschä-

35

Anonymus: Galante Konversation (›Die väterliche Ermah-

5. Kap. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich

nung‹). Homepage der Gemäldegalerie/Staatliche Museen zu

Trunz, 12. Aufl. München 1989, Bd. 6, S. 393f.

Berlin (Stand 13.8.2020), https://smb.museum-digital.de/index. php?t =objekt&oges=60852 (Letzter Aufruf am 14.11.2020).

P opularisierung eines V erhaltensmusters im 17 . Jahrhundert

351

Amsterdamer Rijksmuseum hatte der Maler am rechten Bildrand einen ängstlichen Köter mit eingezogenem Schwanz dargestellt, der den Kavalier noch zwielichtiger erscheinen lässt. In dem Hochformat des Berliner Gemäldes, seines bekanntesten Werks, von dem nicht weniger als 24 Wiederholungen, Teilkopien und Nachahmungen erhalten sind, verzichtete er auf dieses Motiv zugunsten einer stärkeren Konzentration auf die drei Personen, insbesondere auf die geheimnisvolle Rückenfigur, die »den Betrachter in spannungsvoller Ungewissheit lässt über die Erwiderung der jungen Frau«.37 In der moralischen Indifferenz ihrer mehrdeutigen Inszenierung, deren Motivik zwischen Bordell-

szene und Heiratsantrag oszilliert, erweist sich Die väterliche Ermahnung als ein der Wahrsagerin Caravaggios (Abb. 141f.) vergleichbares Werk,38 wie man es in der zeitgenössischen italienischen und französischen Kunst vergeblich sucht. Vielfach wurden in solchen mit Bedacht unbestimmt und ambivalent gehaltenen Werken Leitthemen der französischen Salonkonversation behandelt, die, um 1613 mit dem Salon der Madame de Rambouillet beginnend, die Kunst des Verschleierns und Enträtselns (cacher, découvrir) kultiviert und einen regelrechten Geheimniskult entfacht hatte.39 Auch das dort geläufige provokante Infragestellen moralischer Grundsätze war ein Gesprächsverhalten, dem die niederländische Genremalerei immer wieder Anlass gab. Dem Spott wird z. B. in Jan Steens Gemälde Die verkehrte Welt (Abb. 219) ein als subaltern inkriminierter Moralismus ausgesetzt, den ein komisches Paar verkörpert – ein Quäker und eine katholische Laienschwester (klopje). Was diese zu dem enthemmten Treiben zu sagen haben, ist vermutlich auch nicht die ganze Wahrheit. Auch Die verkehrte Welt ist offenbar konzipiert für den geselligen Nachvollzug, kommt es doch bei diesem Gemälde zuweilen erst mit der Versprachlichung zu gewünschten Sinnübertragungen. So stellt sich bei dem Motiv der Ente auf dem Rücken des sittenstrengen Gläubigen mit dem Wort »kwak« die Assoziation ein, dass dieser ein Quäker (quaker) ist und womöglich nur Gequake (gekwaak) von sich gibt.40 Steens Gemälde ist ein ›Suchbild‹, in dem, wie schon in den Gemalten Sprichwörtern Bruegels, eine Fülle von solchen zu entdecken ist. Man wird gewarnt, keine Perlen vor die Säue zu werfen (»Stroit geen rozen vor de varkens!«), sieht, dass die Gelegenheit Diebe macht, wenn die Hausfrau schläft, dass Karten, Mieder und Alkohol den Mann ruinieren etc.41 Doch die Fabulierlust, mit der diese Sprichwörter visu-

37 Ebda.

40

Abb. 218  Gerard ter Borch: Galante Konversation (sog. Väterliche

­Ermahnung ), 1654/55, Berlin, Gemäldegalerie

38

chung einkalkulierte, betont Müller 1994, S. 617.

allem von den Utrechter Caravaggisten behandelt worden war. (Jan Kelch: Gerard Ter Borch: »Die väterliche Ermahnung«. Um

39

Dass die holländische Genremalerei bei den beliebten erotischen Themen vielfach auch die Pikanterie der Versprachli-

Jan Kelch betont, dass das Thema der käuflichen Liebe zuvor vor 41

Peter C. Sutton: Jan Steen: Die verkehrte Welt, 1663. In: Ausstel-

1654/55. In: Gemäldegalerie Berlin: 200 Meisterwerke. Berlin

lungskatalog Berlin 1984, S. 294f.; Pieter Biesboer: Jan Steen: Die

1998, S. 272.)

verkehrte Welt, 1663? In: Ders./Martina Sitt (Hrsg.): Von Frans

Schmölders 1986, S. 29f.

Hals bis Jan Steen. Vergnügliches Leben – Verborgene Lust. Hol-

352

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

Abb. 219  Jan Steen: Die verkehrte

Welt, 1663, Wien, Kunsthistorisches

Museum

alisiert sind, und die humorvolle Brechung ihrer Botschaft durch das komische Motiv der sittenstrengen Eiferer lässt auf eine Relativierung alter moralischer Grundsätze schließen. Zweifellos sind solche Bilder Belege dafür, dass infolge einer gestiegenen Prosperität und Liberalität in den reformierten Niederlanden Fragen der Moral ein bevorzugtes Thema waren, das nicht selten zu einem Disput der Generationen führte, wie ihn schon zu Botticellis Zeiten die Frage nach dem rechten Verhalten der Ehefrau ausgelöst haben dürfte. In Steens Arztbesuch (Abb. 220) wird der grotesk würdevolle Doktor in seiner antiquierten Kleidung,42 der nicht erkennt, woran es der Kranken fehlt, zum Ziel des Ge-

spötts. Jede Interpretation, die verkennt, dass solche Werke Gesprächsanreiz sein sollten, dass sie Bestandteil offener Prozesse der gesellschaftlichen Kommunikation waren, lässt den fröh­lichen Bilder- und Imaginationshaushalt der holländischen societas prodicia verblassen. Fehl ging die Deutung, die noch unter Berufung auf Ovid meinte, hier werde Musik und Wein als Medizin gegen die minne-pijn empfohlen.43 Ein Jahrhundert zuvor hatte Pieter Aertsen eine Marktszene mit Christus und der Ehebrecherin im Hintergrund geschaffen, in der das phallusförmige Gemüse noch ganz ernst im Sinne des menschlichen Säftehaushalts und der an ihm orientierten Humoralmedizin dargestellt ist.44 Doch der

ländische Gesellschaftsszenen. Ausst.-Kat. Haarlem, Frans

Sinn für Steens fabulierende Erzählungen zeigen mittlerweile:

Halsmuseum, Hamburger Kunsthalle, Stuttgart 2004, S. 210.

H. Perry Chapman/Wouter Th. Kloek/Arthur K. Wheelock, Jr.:

42

43

Schon Lomazzo hatte altertümliche Kleidung als Mittel gewür-

Jan Steen. Painter and Storyteller. Ausst.-Kat. Washington, Na­

digt, komische Figuren zu charakterisieren. (Gian Paolo Lo-

tional Gallery, New Haven/London 1996 sowie Mariët Wester-

mazzo: Trattatto dell’arte … In: Lomazzo 1975, S. 315.)

mann: The Amusements of Jan Steen. Zwolle 1997, passim, bes.

»Die von der am Clavicord sitzenden Frau gespielte Musik

S. 89ff. (Kap. III: »The Pictorial Poetics of Comedy«). Zu Steens

könnte eine Medizin gegen die Melancholie sein. Wein, als Kur

Darstellungen des Arztbesuches: ebda., S. 101ff.; Beaujean 2001, S. 128ff.

gegen die Liebeskrankheit seit Ovids Zeiten empfohlen, war ein weiteres Heilmittel.« (Peter C. Sutton: Jan Steen: Der Arztbesuch, 1663/65. In: Ausstellungskatalog Berlin 1984, S. 296.) Mehr

44

Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut. Zu humoralmedizinischen Aspekten des Stilllebens siehe Kurt Wettengl: Die »Gedeckten

P opularisierung eines V erhaltensmusters im 17 . Jahrhundert

353

ganz medizinisch genommen, hatte eine Symptomatologie entwickelt und Therapien (zum Beispiel coitus) angeboten. Sexualität galt dabei als normales Körperverhalten, Passion dagegen als Krankheit. Im 17. Jahrhundert ist davon nur die Metapher geblieben, die rhetorische Floskel; aber man geht deswegen nicht zum Arzt. Es würde auch kaum der vorausgesetzten Freiheit der Liebeswahl entsprechen, wollte man sich um die Frau wie um verschreibungspflichtige Medizin bemühen. Die Figur kontinuiert – aber nur als auf beiden Seiten durchschaute Metapher.«45

Abb. 220  Jan Steen: Der Arztbesuch, 1663–65, Philadelphia Museum of Art

Diskurshorizont von Steens Gemälde mit dem Doktor und der an der maladie d’amour Leidenden ist eher der der französischen Salonkonversation, als derjenige Ovids. Zitieren wir dazu noch einmal Luhmanns Ausführungen zur Liebessemantik des 17. Jahrhunderts, die über den komischen Charakter des Arztbesuches (Abb. 220) keinen Zweifel lassen: »An einem Einzelbeispiel läßt sich die […] Wende ins Imaginäre besonders gut fassen. Im Mittelalter hatte man die aus der Antike stammende Vorstellung, Liebespassion sei eine Art Krankheit, noch

Zwar existierte im 17. Jahrhundert die sogenannte ›Jungfrauenkrankheit‹, eine psychosomatische Erkrankung, deren historisches Auftreten offenbar in den gestiegenen Ansprüchen einer neuen Eheethik und damit der erhöhten Gefahr, partnerlos zu bleiben, begründet war, doch grundlegend für die in den 1650er Jahren entstandene Motivik des Arztbesuches war der Topos, dass vor der Liebeskrankheit ärztliche Kompetenz kapitulieren müsse. In Jan Steens Die Liebeskranke (um 1661–63, München, Alte Pinakothek) hält die Patientin ein Blatt Papier mit der Inschrift: »Daar baat geen/medesyn/ want het is/minepyn«. (Da hilft keine Medizin, wenn es Liebesschmerz ist.)46 So hat sich denn auch Frans van Mieris 1557 anlässlich seiner Hochzeit in einem Ehepaarbildnis verewigt (Wien, Kunsthistorisches Museum), in dem er als der Arzt erscheint, der alleine die Pein seiner Frau aufzuheben vermag.47 Einar Petterson hat die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge dieser Bildthematik durch die Analyse vor allem von medizinischen und juristischen Quellen präzise bestimmen können.48 In den Kluchten, populären Komödien der Zeit, taucht immer wieder das Motiv der Tochter auf, die krank wird, um die väterliche Zustimmung zu ihrer

Tische« des Georg Flegel. In: Ders. (Hrsg.): Georg Flegel 1566–

Motivs Der ärztliche Besuch. In: Henning Bock/Thomas W.

1638. Stil­leben. Ausst.-Kat. Frankfurt/M., Historisches Museum,

­Gaehtgens (Hrsg.): Holländischen Genremalerei im 17. Jahrhun-

Stuttgart 1993, S. 81ff.

dert. Berlin 1987, S. 216.

45

Luhmann 1984, S. 63.

46

Siehe Ausstellungskatalog Dublin 2003, S. 165ff. (Kat.-Nr. 32).

remotiv Der ärztliche Besuch in seinem kulturhistorischen Kon-

47

Einar Petterson: Amans Amanti Medicus: Die Ikonologie des

text. Berlin 2000.

354

48

Siehe ebda., S. 193–224; Ders.: Amans Amanti Medicus. Das Gen-

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

Heiratsabsicht zu erzwingen. Zugleich erörterten Juristen die Frage, ob das väterliche Einverständnis für die Gültigkeit der Ehe unabdingbar sei, was zunehmend verneint wurde. In diesen Diskursen und den Darstellungen des Arztbesuches zeichnet sich somit die Ausdifferenzierung der Liebe gegen die von der väterlichen Autorität eingeforderten Gebote der Vernunft und des Standes ab. Zweifellos leistete die neue Eheethik auch einem zunehmend negativen Verständnis der Prostitution Vorschub, das Rembrandt, Vermeer und ter Borch ironisch bedacht haben (Abb. 215, 218). Auf eine bis dahin nicht gekannte Weise hat die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts Aspekte des sozialen Lebens behandelt und der Reflexion zugeführt. Sie war Bestandteil der gesellschaftlichen Kommunikation, die sich über die Institution der Ehe, die Rollen der Geschlechter und den Status der Kinder,49 über das Zusammenleben in den großbürgerlichen Haushalten, in denen sich private Sphären herausbildeten,50 und vieles mehr verständigte. Zu diesem Zweck erprobte sie ein Repertoire komplexer Darstellungsformen, mit denen sie die Welt nicht mehr apriori als sinnhaft beglaubigte vor Augen führte, sondern vielmehr das Gespräch über sie eröffnete und dabei oft ein humorvolles Bild der Comédie humaine gab. Viele Künstlerporträts dieser Zeit bezeugen ein entsprechendes Selbstverständnis, z. B. Gerrit Dous Selbstbildnis im Hintergrund von Der Quaksalber (1652, Rotterdam, Mus. Boijmans van Beuningen) und das Selbstbildnis als Possenreißer, mit dem sich Jan Steen in seiner Darstellung der fröhlich zechenden Rhetoriker (Rederijkers) am Fenster (1662–66, Philadelphia Museum of Art) verewigt hat.51

49

Jan van Wijckersloots Selbstbildnis und die Kunst der ›oogenbedrieger‹

Höchst aussagekräftig ist in dieser Hinsicht ein Gemälde des wenig bekannten Utrechter Malers Jan van Wijckersloot. Von ihm sind nur wenige Werke erhalten, doch sein ehemaliges Renommee wird daraus ersichtlich, dass er viele Jahre zum Vorstand der örtlichen Malergilde gehörte und mehrere Amtszeiten, nämlich in den Jahren 1659, 1660 und 1670, ihr Dekan war. Das Bild, von dem die Rede ist, galt früher als Porträt Gerard ter Borchs, ist tatsächlich aber ein Selbstbildnis van Wijckersloots (Abb. 221).52 Das 114 × 91 Zentimeter messende Gemälde, das unten rechts auf dem Konsolenrand eine fragmentarisch erhaltene Signatur und Datierung aufweist, vergegenwärtigt den zum Betrachter blickenden vornehm Gekleideten in einem Atelierraum. In der linken Bildhälfte ist hinter ihm die Rückenansicht einer antiken Venus-Statue zu sehen und in der rechten weiter vorne im Bildraum ein ›Muskelmann‹ (écorché), eine dem Borghesischen Fechter (Paris, Louvre) nachempfundene Kleinplastik für das Anatomiestudium. Der Dargestellte hält in der rechten Hand eine brennende Kerze, auf der eine Brille, wie auf einer Nase, aufsitzt und an der ein grüner Papierstreifen befestigt ist, auf dem die gezeichneten Motive eines Auges, eines Mundes sowie eines Paars betender Hände zu erkennen sind. Seine linke Hand, in der er einen Trommelstock hält, hat van Wijckersloot auf ein Tamburin gelegt, dessen Trommelfell aufwändig bemalt ist (Abb. 222). Das in einem brillanten Illusionismus ausgeführte Rundbild zeigt einen jungen Maler mit einer leuchtend roten Narrenkappe,

Eine Einführung. Hrsg. v. Hans Belting u. a., Berlin 1988, S. 240–

Heidi de Mare: Die Grenze des Hauses als ritueller Ort und ihr Bezug zur holländischen Hausfrau des 17. Jahrhunderts. In: Kritische Berichte, 20, 4/1992, S. 64–79; zum Schulwesen siehe Peter

50

257. 51

Siehe Austellungskatalog Berlin 1984, Kat.-Nr. 106, S. 297ff.; Ste-

C. Sutton: Jan Steen: Die Dorfschule, um 1663/65. In: Ausstel-

phanie Sonntag: Ein Schauspiel der Malkunst. Das Fensterbild

lungskatalog Berlin 1984, S. 301ff. (Kat.-Nr. 107).

in der holländischen Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts. Mün-

Siehe Martha Hollander: The Divided Household of Nicolaes

chen/Berlin 2006; Anja Ebert: Adriaen van Ostade und die ko-

Maes. In: Word & Image, 10/2, 1994, S. 138–155. Zu Maes’ Lauscherbildern siehe weiter Wolfgang Kemp: Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz. In: Kunstgeschichte.

mische Malerei des 17. Jahrhunderts. Berlin 2014. 52

Vgl. Jan Nicolaisen: Jan van Wijckersloot: Selbstbildnis (?), 1669 (Kleine Werkmonographie Nr. 1). Leipzig 2010, n.p.

J AN VAN WI J C KERSLO OT S SELBSTBILDNIS U N D DIE KU N ST D E R › OOGE N B E D RIE GE R‹

355

Abb. 221  Jan van Wijkersloot: Selbstbildnis, 1669, Leipzig, Museum der bildenden Künste

Palette und Pinseln vor einem Gemälde auf einer Staffelei, welches einen Schafskopf mit einer Narrenkappe und einem Messer im Maul vergegenwärtigt. Einen Seitenblick zum Betrachter werfend, hält sich der Narr die Nase zu, so als könne er den Geruch des von ihm gemalten Tieres nicht ertragen. Neben dem Musikinstrument liegen auf einer Brüstung Zeichnungen – gut sichtbar die einer Frau mit Schild und brennender Fackel – sowie aufgeblühte Rosen und eine glimmende Lunte, von der Rauch aufsteigt, also Vanitas-Symbole. Das Selbstbildnis ist auch eine Darstellung der Fünf Sinne und spricht zudem kunsttheoretische Leitthemen wie den paragone und den disegno an.

Die im Bildvordergrund platzierte Zeichnung (Abb. 222) hat Jan Nicolaisen als »Karikatur einer Figur der Ira« gedeutet.53 Tatsächlich trägt die besagte Gestalt mit der brennenden Fackel ein Attribut des Zorns, doch van Wijckersloot hat sie, auf Cesare Ripas Iconologia zurückgreifend, mit weiteren Merkmalen versehen. In ihrer Linken hält sie mit einem Seil zudem ein Attribut der dortigen Personifikation des Schicksals (sorte), welches das schlechte Los repräsentiert (im Gegensatz zu der das gute Los symbolisierenden Krone, die das Schicksal in ihrer Rechten trägt), und auf ihrem Schild ist mit einem doppelgesichtigen, von dem Schwanz eines Skorpions bekrönten Brustbild der Betrug (fraude) dargestellt.54 Mit der deutlich an den Betrachter adressierten Zeichnung hat Jan van Wijckersloot somit vor den Leidenschaften und vor Betrug gewarnt. Diese Warnung hat er inhaltlich präzisiert durch die Motive der Fechterskulptur, die als Negativbeispiel leiden­ schaft­licher Bewegungsmotive figuriert, und der ›Augenbetrügerei‹ der illusionistischen Darstellung des närrischen Malers auf der Klangmembran des Tamburins. Dieses Bild im Bild, in dem ein drittes, wie es scheint, übelriechendes Bild erscheint, lässt an Leonardo da Vinci denken, von dem Vasari berichtet, er habe einst mit großer Mühe ein Monstrum aus Tierkadavern zusammengesetzt, ohne zu merken, welch’ unerträg­lichen Geruch diese verbreiteten.55 Auch die schon erwähnten Schilder mit dem Medusenhaupt sind hier anzuführen, denn schließlich erscheint auf dem Instrument eine witzige Variante eines solchen Schreckensbildes, deren vergleichbare, zu durchschauende Suggestivkraft der Maler mit der Narrenkappe hervorhebt, der sich, wie es scheint, von seinem eigenen Werk täuschen lässt. Das Gemälde auf dem Tamburin repräsentiert mit dem inneren Bild des Schafskopfes ein Leonardos und Caravaggios Darstellungen des Medusenhauptes vergleichbares Demonstrationsstück einer Beobachtung zweiter Ordnung, wobei hier

53 Ebda. 54

S. 64f. Siehe Ripa 1988, Bd. 1, S. 227ff. (ira), S. 176f. (fraude), Bd. 2, S. 177f. (sorte).

Xenia Kusnezow: Selbstreflexion der Malerei in Jan van Wijckersloots ›Selbstbildnis‹ im Museum der bildenden Künste Leipzig.

55

Vasari 1966–97, IV, S. 21.

Unveröff. Masterarbeit, Otto-Friedrich-Universität Bamberg 2018,

356

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

Abb. 222  Jan van Wijkersloot:

Selbstbildnis, Details

mit der ironischen Darstellung dessen, was es angeblich bewirkt, noch eine Ebene der reflexiven Distanzierung hinzukommt. Mit dem Motiv des närrischen jungen Malers hat van Wijckersloot einen die Augen täuschenden Illusionismus kritisiert.56 Mit dem vermeintlichen ›Selbstbildnis‹ des närrischen Malers hat er diesem gewissermaßen ein allegorisches Spiegelbild vorgehalten, das ihn als scharfzüngigen Schafskopf entlarvt. Gemeinsam mit der ebenfalls in pejorativem Sinne dargestellten pathetischen Fechterskulptur bekundet das bemalte Tamburin ex negativo van Wijckersloots klassizistische Vorbehalte. Kurt Wettengel hat sein Selbstporträt auf die Vorworte der 1669 und 1670 erschienenen Schriften Signorum Veterum Icones (Afbeeldingen van antieke beelden) und Paradigmata Graphices variorum Artificum

56

(Voor-beelden der Teken-Konst van verscheyde Meesters) bezogen, in denen der Haager Anwalt und dilettierende Zeichner Jan de Bisschop, ein Gründungmitglied der dortigen Confrerie Pictura, unter dem Eindruck barocker Darstellungen des Schrecklichen erklärte, der Künstler müsse das Schöne suchen und darstellen.57 In diesem Sinne, so Wettengel, fordere auch Jan van Wijckersloots Selbstbildnis dazu auf, »die Regeln der Kunst durch das Studium der antiken Skulpturen zu erlernen und das Prinzip der ›edlen Auswahl‹ aus der Natur zu verfolgen.«58 Allerdings hat es sich der Künstler in seiner gemalten Kritik am Illusionismus des ›bedriegertje‹ bzw. der ›oogenbedrieger‹ nicht nehmen lassen, zu zeigen, dass auch er dergleichen meisterhaft beherrschte. Schließlich erscheint der Porträtierte, der die Kerze, den Trom-

»Der […] Malerjüngling ist eine Karikatur auf den Hochmut, sich

Siehe auch Albert Blankert u. a. (Hrsg.): Holländischer Klassizis-

auf die[ ] Fähigkeiten, Illusionen zu produzieren, allzuviel ein-

mus in der Malerei des 17.  Jahrhunderts. Ausst.-Kat. Frankfurt/M.,

zubilden«. (Nicolaisen 2010.) 57

Kurt Wettengl: Jan van Wijckersloot: Bildnis des Gerard Ter Borch (?), 1669. In: Ausstellungskatalog München 2002, S. 368.

Städel Museum, Frankfurt/M. 2000, S. 30. 58

Kurt Wettengl: Jan van Wijckersloot: Bildnis des Gerard Ter Borch (?), 1669. In: Ausstellungskatalog München 2002, S. 368.

J AN VAN WI J C KERSLO OT S SELBSTBILDNIS U N D DIE KU N ST D E R › OOGE N B E D RIE GE R‹

357

melstock und das Tamburin hält, als handele es sich um Pinsel, Malerstock und Palette, selbst als Protagonist einer einfallsreichen, kurzweiligen, den Betrachter faszinierenden, täuschenden und belehrenden Kunst. Van Wijckersloots virtuoses Gemälde beschäftigt und verwirrt die Wahrnehmung: Die Brille auf der Kerze, deren Form mit der der Schleife am Saum des Untergewandes korrespondiert, lässt den Gedanken an ein Gesicht aufkommen, während der obere Teil der Papiergirlande tatsächlich vexierbildartig den Kopf eines Vogels oder Reptils erscheinen lässt, dessen unteren Teil des Schnabels dann der helle obere Rand der Brille bildet. Zudem verweisen in dem Gemälde zahlreiche Motive auf die Fünf Sinne und den Paragone, darunter das Auge und der Mund auf der Papiergirlande, die Visualität und Sprache repräsentieren. Und die Unterscheidung der Objekte des akademischen Studiums im Hintergrund, darunter die eigentümlich distanzierte, als Rückenakt erscheinende antike Venus, und der bizzarrie im Vordergrund ist geeignet, eine Querelle des Anciens et des Modernes in Gang zu setzen, in der die Dignität der Werke für die Antike spricht, die geistreiche, vergnügliche Selbstreflexion hingegen für einen Vorrang der zeitgenössischen Malerei. Van Wijckersloots Selbstbildnis ist konsequent antithetisch aufgebaut, was er durch die Farbgebung des Hintergrundes akzentuiert hat, der geteilt ist in die rechte, ›negative‹, bläulich gefärbte Hälfte mit der pathetischen Fechterskulptur und die linke, ›positive‹ rötliche Seite mit der Rückenansicht der Venus, die mit ihrer sinnlichen Ausstrahlung und verhaltenen Bewegung die Wirkungsmittel des ethos bzw. der Anmut repräsentiert. Das eigentümliche Arrangement der rechten Hand mit dem gebauschten weißen Stoff des Ärmels, der Kerze mit der Brille und dem Papierstreifen, das kompositorische Gegengewicht des Tamburins, muss demnach positiv konnotiert sein. Dieses hat suggestive Anmutungsqualitäten und enthält metaphori-

sche und symbolische Elemente, ohne dass sich seine Bestandteile zu einem trompe l’œil verbinden. Auf dem Papierstreifen sind, wie schon erwähnt, gezeichnete Motive dargestellt: unten die betenden Hände, darüber die Lippen eines Mundes, die zum Sprechen geöffnet sind, so dass zwischen ihnen die obere Zahnreihe zu erkennen ist, und zuoberst das Auge, über dem die Flamme der brennenden Kerze und unter dem die Brille zu sehen ist. Ganz offenbar hat van Wijckersloot, der Katholik war,59 in diesen Motiven einen emphatischen Begriff des Sehsinns und damit implizit auch des Bildvermögens formuliert: Die in aufsteigender Reihe angeordneten Motive bekunden die Auffassung, dass Glaube und Verstand mehr noch als durch die Vermittlung des Wortes durch die Evidenz des Sichtbaren zum Licht der Erkenntnis gelangen können. Damit erschließt sich auch die letzte Sinnschicht des komplexen Selbstporträts, in dem van Wijckersloot gegen jeden trivialen Gebrauch illusionistischer Bildmittel für eine allegorische Bildsprache plädiert hat, deren Vermögen, tiefere Sinnschichten zu offenbaren, ja auch das entlarvende ›Spiegelbild‹ des närrischen Künstlers demonstriert. In der katholischen Enklave Utrecht stellte van Wijckersloots verschlüsseltes Credo sicherlich kein großes Risiko dar, und doch er hat die leicht zu übersehenden ›Hieroglyphen‹ auf der grünen Papiergirlande inszeniert als eine nur verständigen Rezipienten begreifliche »geheime Einsicht«. Der Jesuit Étienne Binet hatte dies 1621 in seinem Konversationslexikon dem Maler empfohlen, nämlich erklärt: »Les bons Peintres cachent tousiours quelque secrette intelligence dans leurs ouurages, qui vaut plus que le reste, mais les Maistres seuls les recognoissent, & en ont sentiment.«60 In Kenntnis dieser Schrift hatte Georg Philipp Harsdörffer 1652 in Kunstverständiger Discurs, Von der edlen Mahlerey ihren »löblichen [= lieblichen] Betrug«61 der Augentäuschung gerechtfertigt, aber zugleich auf dem Vorrang der Sinnbildkunst insistiert: Bilder müssten einen »ge-

59

Nicolaisen 2010.

artifices. Pièces très nécessaire à ceux qui font profession d’élo-

60

Étienne Binet: Essai des merveilles de nature et des plus nobles

quence. Rouen 21622, S. 307.

358

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

heimen Verstand« haben.62 Ganz in diesem Sinne vermitteln die Motive auf dem Papierstreifen den tieferen Sinn des Selbstbildnisses; sie sind an besonders einsichtsfähige Rezipienten adressiert und dienen somit der Ausdifferenzierung von Profis und Laien, was dem öffentlichen und pädagogischen Charakter des Gemäldes keinen Abbruch tat. Und so ist aufgrund der kunsttheoretischen Programmatik des Selbstbildnisses die Vermutung naheliegend, dass van Wijckersloot dieses der Malergilde, deren Vorstandsmitglied er war und als deren Dekan er 1670 noch einmal amtieren sollte, geschenkt bzw. vermacht hat.63 Van Wijckersloots Schelte des hochmütigen närrischen Augentäuschers mag sich gegen eine bestimmte Person oder einen bestimmten Personenkreis gerichtet haben. Anlass für eine solche Kritik gab es genug, erlebte doch das trompe l’œil zwischen 1630 und 1680 in der holländischen Malerei eine Blütezeit.64 Man hat die damalige internationale Beliebtheit dieser populären, niederschwellig den kunsttheoretischen Dialog eröffnenden Bildform betont,65 deren Blütezeiten offenbar stets mit expansiven Phasen des Kunstsystems einhergingen. Zur Perfektion gebracht hat diese Gattung der Flame Cornelis Norbertus Gijsbrechts, der von 1668 bis 1672 am Hof der dänischen Könige Frederik III. und Christian V. tätig war.66 Insbesondere für den kunstliebenden Frederik III. malte er Steckbretter mit allerlei

Abb. 223  Cornelis Norbertus Gijsbrechts: Staffelei mit Früchtestilleben, um 1670, Kopenhagen, Statens Museum for Kunst

Schriftstücken, Zeitungsblättern oder Alltagsgegenständen, also Beispiele des sogenannten ›Quod libet‹, diverse Stillleben und fiktive Kabinettschränkchen mit al-

61

Zit. n. Thimann 2008, S. 111.

S. 164; Susanne Schwertfeger: Das niederländische Trompe l’œil

62

Georg Philipp Harsdörffer: Kunstverständiger Discurs, Von der

im 17. Jahrhundert. Studien zu Motivation und Ausdruck (Diss.

edlen Mahlerey. Nürnberg 1652, S. 129. [Harsdörffer 2008, S. 13;

Universität Kiel 2004). https://d-nb.info/980897629/34 (22.4.2020).

vgl. Thimann 2008, S. 108ff.; zu Harsdörffers Rezeption der

63

65

… Zu gemalten Bildervorhängen bei Rembrandt und seinen

Schrift im Verzeichnis seiner Quellen im II. Teil der Frauenzim-

Schülern. In: Claudia Blümle/Beat Wismer (Hrsg.): Hinter dem

mer Gesprächspiele wie folgt angeführt: »René Franzois? Es-

Vorhang. Verhüllung und Enthüllung seit der Renaissance – von

sais des Maivailles de Natur 8. Rouen 1631.« (Harsdörffer 1968/

Tizian bis Christo. Ausst.-Kat. Düsseldorf, Museum Kunstpalast,

1969, II, S. 476.]

München 2016, S. 59. Wie van Wijckersloots Selbstbildnis zeigt,

Xenia Kusnezow: Selbstreflexion der Malerei in Jan van Wij-

gab es auch Kritik. In Perraults Parallèle des Anciens et des Mo-

ckersloots ›Selbstbildnis‹ im Museum der bildenden Künste

dernes wurde das trompe l’oeil der Entwicklungsstufe der »en-

Leipzig. Unveröff. Masterarbeit, Otto-Friedrich-Universität Bam­ ­berg 2018, S. 72. 64

Wolfgang Kemp: Lasst den Vorhang herunter! Die Kunst beginnt

Schrift von Binet siehe ebda., S. 120, 123f. Harsdörffer hat Binets

fance de la peinture« zugeordnet [Perrault 1964, S. 150f. (I, 199f.)]. 66

Siehe Olaf Koester/Celeste Brusati (Hrsg.): Illusions: Gijsbrechts

Karin Seidel: Die Kerze. Motivgeschichte und Ikonologie. Hil-

– Royal Master of Deception. Ausst.-Kat. Kopenhagen, Statens

desheim/Zürich/New York 1996, S. 203f. Siehe auch Sybille

Museum for Kunst, Kopenhagen 1999; Ausstellungskatalog

Ebert-Schifferer: Die Geschichte des Stilllebens. München 1998,

Hamburg 2010, S. 112ff. (Kat.-Nr. 23–25 sowie 26).

J AN VAN WI J C KERSLO OT S SELBSTBILDNIS U N D DIE KU N ST D E R › OOGE N B E D RIE GE R‹

359

Abb. 224  Georg David Mathieu:

Die Herzogin Sophie Friederike von Mecklenburg-Schwerin und Ulrike Sophie Concord, Chantournés, 1766, Ludwigslust, Schloss

lerlei Raritäten. Immer wieder hat Gijsbrechts, wie zahllose weitere Maler der Zeit, in seinen Gemälden Vorhänge vorgetäuscht und so auf die Zeuxis-Parrhasios-Anekdote, den antiken Urtext zur Kunsttäuschung, Bezug genommen. Eine kongeniale Variation des legendären Einfalls des Parrhasios ist sein Gemälde Rückseite eines Gemäldes (um 1670, Kopenhagen, Statens Museum for Kunst), welches den Keilrahmen mit der aufgespannten Leinwand zeigt, auf der links oben ein kleiner Zettel mit einer Inventarnummer angebracht zu sein scheint.67 Eine solche Rückseite eines Gemäldes zeigt auch Gijsbrechts’ Staffelei mit Früchtestillleben, ein Chantourné (von frz. chantourner: mit der Laubsäge aussägen, engl. dummy board), das in der Höhe 2,25 m und

an seiner breitesten Stelle 1,23 m misst (Abb. 223). Bei dieser Sonderform des trompe l’œil hat das Bild keine rechteckige, ovale oder runde Form, sondern seine Ränder entsprechen dem Umriss des Dargestellten, in diesem Fall einer Staffelei. Auf ihr scheint ein großes Früchtestillleben zu stehen und das schon erwähnte rückseitig zu sehende Gemälde auf dem Boden abgestellt worden und an ein Bein der Staffelei angelehnt zu sein. Gijsbrechts’ Chantourné, das wie ein vorübergehend verlassener Arbeitsplatz eines Malers wirkt, führt weiter verschiedene Malutensilien vor Augen: einen Malstock, der ursprünglich weit in den Raum ragte, und einen Haken, an dem die Palette hängt. Ein kleines ovales Porträt seines Mäzens Christian V. und daneben ein Zettel mit der Signatur des Malers vervollständigen das suggestive Gemälde. Solche Chantournés, von denen nur noch wenige erhalten sind, muss es ehemals in großer Zahl gegeben haben. Wie einige Beispiele zeigen, wurden sie auch in sakralen Zusammenhängen verwendet.68 Ein weithin bekannter Meister der ›uitgezaagde figuren‹ war der Dordrechter Maler Cornelis Bisschop, ein Schüler des Rembrandt-Schülers Ferdinand Bol. Um der reißenden Nachfrage nach seinen Chantournés nachzukommen, hat er seine vielköpfige Familie in deren Herstellung eingebunden. Anekdoten berichten von einem täuschend echten Konturbild einer Magd, der wiederholt Gäste des Hauses Trinkgeld geben wollten.69 Einige Chantournés repräsentieren auch Möbelstücke; man konnte sie variabel an verschiedenen Orten einsetzen, um Hausbewohner und Gäste zu überraschen.70 In den 1760er Jahren sollte der mecklenburgische Hofmaler Georg David Mathieu (1737–1778), der Sohn des preußi-

67

Siehe Stoichita 1998, S. 308ff.

vom dänischen König Karl V. zum Hofmaler berufen, verstarb

68

Einige Exemplare besitzt das Diözesanmuseum in der Hofburg

aber, bevor er die Reise nach Kopenhagen antreten konnte. (Ebda.)

in Brixen. 69

Arnold Houbraken: De groote schouburgh der Nederlantsche

70

Siehe Bärbel Hedinger: Monogrammist CMK: Tisch mit Globus,

konstschilders en schilderessen. 3 Bde. (Amsterdam 1718–21;

Büchern und Teppichdecke, Ende 17. Jahrhundert (Diözesan-

überarb. Ausg. Den Haag 1753) Reprint Amsterdam 1980, Bd. 2,

museum Hofburg Brixen). In: Ausstellungskatalog Hamburg

S. 220. Als Meister illusionistischer Malerei wurde Bisshop 1674

2010, S. 126f. (Kat.-Nr. 30).

360

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

Zu den zahlreichen Schriftquellen, die belegen, dass die Praxis der heiteren, geistreichen Bildauslegung im 17. Jahrhundert eine enorme Popularisierung erlebte, zählen die schon erwähnten Frauenzimmer Gespräch­ spiele von Georg Philipp Harsdörffer, die in den 1640er Jahren in Nürnberg erschienen.72 Harsdörffer war Nürnberger Patrizier, Jurist und Mitglied der Regierung der Stadt. In den 1620er Jahren hatte er die Schweiz, Frankreich, die Niederlande, England und in Italien Turin, Venedig, Padua, Bologna, Florenz, Perugia und Rom

bereist73 und dort vielerorts eine fortgeschrittene Autonomie der Künste und Kultur des Sprechens über sie kennengelernt, wie sie in seiner Heimatstadt nicht gegeben waren. Obwohl der »Spielende«, wie er in der Fruchtbringenden Gesellschaft genannt wurde, Protestant war, hat er Bilder als didaktische Mittel der religiösen Unterweisung gerechtfertigt, denn »Gott selbstens ist der erste und beste Mahler gewesen«,74 und es »finden sich viel Sachen / welche nicht können geschrieben / und gebildet werden müssen / wann man sie verstehen will.«75 Die kurzweiligen Augentäuschungen der Malerei hat der Autor positiv bewertet, zugleich aber den höheren Rang allegorischer Malerei betont.76 Mit den Frauenzimmer Gesprächspielen knüpfte der Autor insbesondere an italienische Vorläufer an, wie Giovanni Pontanos De sermone (1507), Castigliones Cortegiano (1528) und Stefano Guazzos La Civil Conversatione (1574), weiter an Pietro Aretinos Dialogo nel quale si parla del Gioco con Moralita Piacevole (1545), Innocentio Ringhieris Cento giuochi liberali (1551), Girolamo Bargaglis Dialogo de’ giouchi (1572),77 Scipione Bargaglis Trattenimenti overo Giuochi dilettevoli (1587)78 sowie Charles Sorels Maison du Ieux (1643).79 Im achten Band der Frauenzimmer Gesprächspiele führt Harsdörffer u. a. vor, wie man Embleme für geist-

71

Heike Kramer: Schloss Ludwigslust. Hrsg. vom Staatlichen Mu-

74

72

Siehe Rosmarie Zeller: Spiel und Konversation im Barock. Un-

schen Hofmalers David Mathieu, Chantournés der Herzogsfamilie von Mecklenburg-Schwerin und weiterer Personen und Angestellter ihres Hofes malen (Abb. 224). Besonderes Vergnügen wird es der Hofgesellschaft bereitet haben, wenn sich Gäste unvermutet den Konturbildern der Standespersonen konfrontiert sahen und, sich verbeugend, ihnen den gebotenen Respekt erwiesen.71

Quellenbelege in Deutschland und Frankreich Quellenbelege in Deutschland und Frankreich: ­Harsdörffer, Blaise de Vigènere, Binet, Menestrier u. a.

seum Schwerin, o.O. 1997, S. 40. tersuchungen zu Harsdörffers Gesprächsspielen. Berlin 1974;

Zu bildtheologischen Reflexionen Harsdörffers siehe ebda., S. 115–118. 75

Jean-Daniel Krebs: Georg Philipp Harsdörffer 1607–1658. Poéti-

Harsdörffer: Nathan und Jotham, Bd 1 (Nathan), n.p., Nr. XVII: Bilderey, hier zit. n. Thimann 2008, S. 115.

que et poésie. Bern/Frankfurt/M. 1983; Barbara Becker-Canta-

76

Thimann 2008, S. 108–114, bes. S. 112.

rino: Frauenzimmer Gesprächspiele. Geselligkeit, Frauen und

77

Bargagli 1592. Zu diesem Buch siehe oben, S. 278.

Literatur im Barockzeitalter. In: Adam 1997, Teil 1, S. 17–41; Doris

78

Bargagli 1587. (Eine von Laura Riccò hrsg. Neuausgabe erschien

Gerstl (Hrsg.): Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Nürnberg 2005; Christian Meierhofer: Georg Philipp Harsdörffer.

73

Harsdörffer: Geschichtspiegel, hier zit. n. Thimann 2008, S. 117.

1989 in Rom.) 79

Zur Bedeutung der genannten Schriften für Harsdörffer siehe

Hannover 2014, passim, bes. S. 30–39 (»Welt im Dialog: Die Frau-

Burke 1995, S. 45ff.; Zeller 1997, S. 532; Meierhofer 2014, S. 32.

enzimmer Gesprechspiele«). Siehe auch Georg Philipp Harsdörf-

Harsdörffer hat im II. Teil der Frauenzimmer Gesprächspiele ein

fer: Der grosse Schauplatz lust- und lehrreicher Geschichten.

25 Seiten langes »Register etlicher Scribenten welcher sich der

Mit vielen merckwürdigen Erzählungen / klugen Sprüchen /

Verfasser zu Behuff der Gesprächspiel bdtienet« publiziert, in

scharffsinnigen Hofreden / neuen Fabeln / verborgenen Räth-

dem bis auf die Werke von Girolamo Bargagli und Charles Sorel

seln / artigen Scherzfragen / und darauf wohlgefügten Antwor-

alle genannten Schriften aufgeführt sind: Harsdörffer 1968/1969,

ten […]. Frankfurt/M. 1664 (ND Hildesheim 1978).

II, S. 467–492.

Thimann 2008, S. 93.

Qu ellenb elege i n D e u t s c hl an d u n d Fr an kreic h

361

Abb. 225  Kriegsgemähl,

dreiständiges Emblem, aus Georg

Philipp Harsdörffer Frauenzimmer

Gesprächspiele

reiche Unterhaltungen nutzen kann. Dem dient z. B. das Kriegsgemähl, eine Folge von sechs dreiständigen Em­ blemen, deren »Sinnbilder alle auf die Ursachen/den Anfang/Fort- und Ausgang des Kriegs/gerichtet sind.«80 Die von Motti begleiteten Bilder thematisieren anhand verschiedener Motive (Nashorn, Löwe und Hund, Igel; Trompete, Trommel, Heerpauke; Degen, Picke, Regimentsstab; Zündrute, Schanzkorb, Grabscheid; Kanone auf Lafette, Mörser, Musketen) Aspekte des Krieges, seine Ursachen und, »wie es zuzugehen pflegt«.81 Das letzte dieser dreiständigen Embleme »handelt von des Krieges Ende« (Abb. 225):82 Den Bildseiten mit den Icones und den lateinischen Motti folgen Textseiten mit den Epigrammen, die jeweils mit einem Motto in deutscher Sprache enden: »1. Der Totenkopf und ein Helm mit dem ­Lorbeerkrantz. Es gehe/wie es will/die Tugend ist mein Ziel; Der Krieg der Ehrenbahn/da ich geschrieben an: Tod oder ehrlichlich leben. 2. Der Schild. Ich trau in aller Noht dem HERREN Zebaoth;

Er ist mein Schild und Hort/Es ist mein Los und Wort: GOtt wird uns Siege geben. 3. Die Siegsseule mit der Feinde Raub. Was hilfft so lange Zeit/der Raub- und Mörderstreit? Nach oft erlangtem Sieg/folgt bald ein neuer Krieg: Sieg sol nach Frieden streben.«83

Da die Kombination von Icon und Motto nie gleichzeitig mit dem erläuternden Epigramm zu sehen ist, stellt das Kriegsgemähl die Rezipienten vor die höchst anspruchsvolle Aufgabe einer kombinierenden Ausdeutung, die im geselligen Kreis unterhaltsamer ist und zudem größere Erfolgsaussichten hat als in stiller, einsamer Anstrengung. Im achten Band behandelt Harsdörffer zahlreiche »Gemählspiele«. Dabei geht es um die spielerisch kontroverse Auslegung von Kunstwerken in bono und in malo und die Erfindung von Gemälden bzw. Sujets. Man beweist seinen Esprit im Umgang mit »Rähtselbilder[n] /welche keine Obschrift haben und unterschied-

80

Harsdörffer 1968/1969, VIII, S. 41–56, Zitat S. 42.

82

Ebda., S. 55.

81

Ebda., S. 51.

83

Ebda., S. 55f.

362

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

liche Deutungen leiden«.84 Da kaum eine Sache so »weitlauffig ist/als die Mahlerey«, eigne sie sich in besonderer Weise als Anlass für Gesprächspiele: »Eine Haubtregel ist/daß man Gesprächspiele von lieblichen/ und erfreulichen Sachen / welche in allen Künsten und Wissenschaften befindlich/hernehmen sol. Unter diesen ist die Mahlerey der vortrefflichsten und lobwürdigsten eine:daß wir Ursachen gehabt viel Gesprächspiele darvon aufzugeben.«85

Evident ist, dass diese Praktiken86 einer Schulung der Rezeptionskompetenz dienen sollten, der Fähigkeit zu einem souveränen Umgang mit Kunstwerken und zwar im Sinne der höfischen ars conversationis, nicht auf dem aufwändigen Weg einer Vermittlung des Wissens der Spezialisten, jedweder künstlerischer oderkunsthistorischer Kompetenz. Harsdörffer ging es in seinen Schriften um eine christlich-ethische Unterweisung seiner Leserschaft und um die Hebung des kulturellen Niveaus in den unter dem Dreißigjährigen Krieg leidenden deutschen Landen. Seine Wissensvermittlung auf dem Feld der bildenden Künste bestand zunächst einmal in der Förderung der Kenntnis der Sujets: Harsdörffer hat auch Spielkarten mit mythologischen Sujets herausgegeben und als erster deutscher Autor im siebten Teil der Frauenzimmer Gesprächspiele übersetzte Auszüge aus Cesare Ripas Iconologia mit ausgewählten Personifikationen sowie bildtheoretischen Reflexionen publiziert.87 Auf diesem Wege sollte

ein geistreicher spielerischer Umgang mit der Kunst gefördert werden, der ganz im Gegensatz stand zur stummen, auratischen Rezeption der Artefakte in Liturgie und Zeremoniell. Jörg Jochen Berns, Michael Thimann u. a. haben Harsdörffer als einen nicht sonderlich originellen Vertreter der Kompilationsliteratur charakterisiert.88 Der Autor hat nach Kräften Wissen vermittelt und das geistreiche Sprechen über die Künste popularisiert, was auch Bildungsprivilegien tangierte. Es ist interessant, unter diesem Gesichtspunkt, dem der Inklusion und Exklusion, die Frauenzimmer Gesprächspiele zu betrachten. So wird im fünften Teil der Schrift eine Tapisserienfolge mit den Taten des Herkules (siehe den Frontispiz, Abb. 164), die in der zeitgenössischen Dichtung und Kunst immer wieder als Beispiele herrscherlicher Tugenden figurierten, eigenwillig gedeutet: Die Schlangen, mit denen Juno den unehelichen Sohn Jupiters beseitigen wollte, werden hier als Symbole der Faulheit und des kindlichen Eigensinns (»das Müßigseyn / und der freye Muhtwillen der Kindheit«) interpretiert, der überwundene nemeische Löwe als »böse Gewonheit«, der Zerberus als Personifikation der »Teufflischen Verleumdung/Schmäh= und Afterreden« und Antäus als »Selbstliebe oder Dünkkelwitz«.89 Der Mythos wird nicht einer panegyrischen Lesart unterzogen, sondern in Hinblick auf einen bürgerlichen Erfahrungshorizont ausgedeutet. Während Kunstwerke in panegyrischen Schriften und Festberichten stets in einem herrschaftsbestätigenden Sinne als Dekor des Zeremoniells und als Zeichen der Magnifizenz des Herrschers beschrieben wurden,90 soll der Leser

84

Ebda., S. 229.

hobenen Vorwurf der oberflächlichen Vielschreiberei siehe

85

Ebda., S. 206f.

Meierhofer 2014, S. 30.

86

Zu diesen siehe auch Müller 1994; Becker 1997; Welzel 1997; Wel-

89

Harsdörffer 1968/1969, V, S. 173–176. Eingangs heißt es: »Zum

zel 2006.

­Exempel wollen wir betrachten die Abenteuer deß Heydnischen

87

Thimann 2008, S. 111ff.

Hercules/und die Christlichen Heldentugenden darzu verglei-

88

Jörg Jochen Berns: Kompilation und Kombinatorik. Zusammen-

chen.« (Ebda., S. 172.) Es folgt eine Auslegung der zehn Tapisse-

hänge und Grenzen von Harsdörffers naturwissenschaftlichen und ästhetischen Interessen. In: Hans-Joachim Jakob/Hermann

rien. 90

Siehe dazu die Ausführungen des Vf. zu der Ekphrasis der Gene-

Korte (Hrsg.): Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliographie der

sis-Tapisserien in Stanislas Orzechowskis Panegyricus Nuptia-

Forschungsliteratur von 1847–2005. Frankfurt/M. 2006, S. 55–83;

rum Sigismundi Augusti Poloniae Regis (Krakau 1553): Brassat

Thimann 2008; zu dem von Sigmund von Birken schon 1662 er-

1992, S. 119f.

Qu ellenb elege i n D e u t s c hl an d u n d Fr an kreic h

363

befähigt werden, sich die Artefakte in spielerischer Auslegung anzueignen, was hier letztlich hieß: Er darf sich mit Herkules identifizieren. Das ist gewissermaßen Peter Weiss avant la lettre.91 Dabei hat Harsdörffer erklärt, dass man mit solchen Auslegungen »einem alten Gedichte eine Deutung anbildet / welches im Ende nichts anderes ist als eine fortgesetztet Gleichniß.«92 Wird an dieser Stelle der Leser zu einer eigensinnigen Deutung ermächtigt, so hat Harsdörffer gleichwohl schon im zweiten Teil betont, dass der Schuster besser bei seinen Leisten bleibe. In dem Gesprächsspiel Die Tapezereyen lässt der Autor zunächst einiges über dieses altehrwürdige, kostspielige Medium verlauten und präsentiert in der Tradition literarischer Bildteppichentwürfe, wie sie Jean Germain, Nicolas Huel, Louis Richeome u. a. vorgelegt hatten,93 Entwürfe für Tapisserien mit den Wappen des Landesherren, Landkarten etc.94 Die anschließenden Ekphrasen fiktiver Bildteppiche95 erzählen von den Geschicken eines betrunkenen Fassmachers, den man am Vorabend schlafend unter einem Baum aufgelesen hat, und dem, als er am Morgen in einem prachtvollen Bett im Palast des Fürsten aufwacht, weisgemacht wird, er, der »Bidner«, sei selbst der Herrscher. Sodann erweist sich der »neu-Gefürstete« in allen Lebenslagen als Tölpel und als er an einem Gemälde mit Jupiter und Prometheus die unsachgemäße Darstellung zweier Fässer moniert, belehrt man

91

ihn, dass diese sehr wohl durch den mythischen Stoff begründet ist.96 Daneben hat Harsdörffer aber auch die schon erwähnte Anekdote von dem Gemälde einer Kornlerche auf einer Ähre erzählt, das, allseits gelobt, vom stolzen Künstler auf dem Markt präsentiert wurde, wo ein Bauer bemerkte, dass eine solche Ähre unmöglich einen solch’ schweren Vogel tragen könne.97 Harsdörffer hat also die insbesondere von Borghini und Paleotti erörterten unterschiedlichen Kompetenzen diverser Rezipientengruppen in dem fiktiven Personal anekdotischer Erzählungen exemplifiziert. In Hinsicht auf die von ihm erörterte Möglichkeit der Fehldeutung von Kunstwerken mag er die Hoffnung auf die Wiederkunft eines goldenen Zeitalters gehegt haben, in dem die res und die verba wieder so vollständig zu Deckung kommen würden, dass dergleichen nicht mehr geschehen werde.98 Zu dieser Zeit war in Frankreich die Kultur des Sprechens über Kunstwerke lange schon einem größeren Rezipientenkreis nahegebracht worden. Dies bezeugt insbesondere die 1578 von Blaise de Vigenère veröffentlichte kommentierte Philostrat-Übersetzung Les images ou tableaux de platte-peinture.99 Diese ist ein höchst gelehrtes Buch, in dem der u. a. des Griechischen und Lateinischen mächtige Autor, seit 1547 Sekretär des Herzogs François de Nevers, später des Königs Karl IX. und der Chambre de la Majesté du Roy, Diplomat und Kryp-

Siehe Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstandes. Frankfurt/M.

und auf diesem Wege zum kulturellen Fortschritt in den deut-

2

1983.

schen Landen und einer glücklicheren, friedfertigeren Gesell-

92

Harsdörffer 1968/1969, V, S. 172.

schaft nach Kriegsende beizutragen (ebda., S. 80f.). Diese

93

Siehe Brassat 1992, S. 120ff.

sprachphilosophisch fundierte Utopie weist Berührungen auf

94

Harsdörffer 1968/1969, II, S. 107–137.

mit der von Lomazzo formulierten Hoffnung auf die eine con-

95

Ebda., S. 138–166.

cordia mundi zeitigende Wiederentdeckung einer allgemeinver-

96

Hesiod: Theogonie, 535–567; dazu Thimann 2008, S. 125f.

ständlichen Ursprache, die eine Bildsprache gewesen sei (siehe

97

Siehe oben, S. 255.

oben, S. 232). Das Verhältnis dieser beiden Utopien zueinander

98

So Thimann 2008, S. 128. Siehe hierzu auch Ferdinand von

wäre genauer zu untersuchen und auch zu präzisieren, inwie-

Ingen: Georg Philipp Harsdörffer und seine Experimente mit

fern Harsdörffer auch den Bildern Bedeutung für sein Konzept

»der Natur Sprache«. In: Gerstl 2005, S. 77–88. Harsdörffer ver-

eines auf Sprachreflexion und Spracherkenntnis gründenden zivilisatorischen Fortschritts beigemessen hat.

folgte in Anlehnung an seinen Wolfenbütteler Kollegen und Freund Justus Georg Schottelius das Ziel, durch Sprachreflexion

99

Philostrate 1995. Blaise de Vigèneres Philostrat-Ausgabe wurde

und kombinierende Spracharbeit die in der Sprache enthalte-

auch von Harsdörffer herangezogen, der die 1629 in Paris er-

nen Geheimnisse der Natur und göttlichen Gaben zu entbergen

schienene Edition benutzt hat (Harsdörffer 1968/69, II, S. 484).

364

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

Abb. 226  Nicolas Poussin:

Das Reich der Flora, 1631, Dresden,

Gemäldegalerie Alte Meister

tograph,100 die übersetzten Texte mit umfangreichen Erläuterungen, Kommentaren und Querverweisen versehen hat. Les images ou tableaux de platte-peinture ist eine »wahre Enzyklopädie der antiken Literatur«.101 Vigenère, der eine Vorliebe für Polysemien und die »copie, varieté et déguisement de paroles« hegte,102 zeigte in seinen Annotationen sein literarisches, historisches, geographisches, realienkundliches, alchemistisches und hermetististisches Wissen und deutete viele Ekphrasen allegorisch. So eröffnete er zahlreiche neue Perspektiven auf die Eikones.103 Viele Künstler haben sein Werk als Repertorium mythologischer Themen – auch für die Erfindung neuer Bildthemen – be-

100 101

nutzt, darunter Nicolas Poussin, der z. B. in seinem Reich der Flora (Abb. 226) zahlreiche Figuren dargestellt hat, die sich in Pflanzen verwandelten, darunter Ajax, Narziss, Echo, Krokus, Hyazinth und Adonis.104 Die Images ou tableaux de platte-peinture wurden u. a. von Louis Richeome und Étienne Binet rezipiert.105 Letzterer war seit 1590 Mitglied des Jesuitenordens, in dem er an der Seite seines später heiliggesprochenen lebenslangen Freundes Franz von Sales studierte und zum Rektor der Kollegien in Rouen und Paris und Provinzial von Paris, Lyon und der Champagne aufstieg. Binet war ein höchst erfolgreicher Autor von nicht weniger als 45 publizierten Schriften. Sein 1621 in Rouen

Siehe Marc Fumaroli (Hrsg.): Blaise de Vigenère poète & mytho-

processus, mais d’une manière qui ne fait qu’enrichir la lecture

graph au temps du Henri III. Paris 1994.

du texte original en ouvrant des perspectives démultipliées à

Françoise Graziani: Introduction. In: Philostrate 1995, S. xlviii.

l’infini, et non en l’enfermant dans une interprétation univo-

Vigenères Buch ist höchst umfangreich. Die 1597 in Paris erschienene Neuausgabe hat mehr als 1.000 Seiten. 102 Zit.

que.« (Ebda., S. lxiii.) 104 Ebda.,

ter, 2018/2, 62. Jahrgang).

S. liii. 103

Graziani schreibt: »Certes, Vigenère lui-même avait entamé le

Qu ellenb elege i n D e u t s c hl an d u n d Fr an kreic h

S. lxi. Zu dem Werk Poussins siehe Andreas Dehmer

(Hrsg.): Im Reich der Flora. Dresden 2018 (Dresdener Kunstblät-

n. Françoise Graziani: Introduction. In: Philostrate 1995, 105

Françoise Graziani: Introduction. In: Philostrate 1995, S. lxiiiff.

365

erschienener Essay des merveilles de nature et des plus nobles artifices pièce très necessaire, à tous ceux qui font profession d’éloquence, eines der erfolgreichsten Bücher des Jahrhunderts, wurde bis 1658 in 24 Auflagen gedruckt. Dieses erste Konversationslexikon, das vor allem Geistliche instruieren sollte, behandelt eine Vielzahl unterschiedlichster Themen, vermittelt Kenntnisse z. B. der Seefahrt, des Krieges, der Artillerie, der Medizin und Mathematik, es erörtert selbstverständlich die »Enrichissesmens d’Eloquence«,106 behandelt aber auch die Blumen, den Wein, das Pferd und sogar den Phönix.107 Ausführlich berücksichtigt sind die Künste: die Gartenkunst (Jardinage), Malerei, Skulptur, die Architektur, der ein sehr umfangreiches Kapitel gewidmet ist, die Perspektive, die Tischlerei, der Stil der Paläste und die Musik.108 Von besonderem Interesse ist für uns das 39. Kapitel über die Malerei, die »Platte Peinture«.109 Sein Titel, eine im Frankreich der Renaissance geläufige Bezeichnung, die Binet der Philostrat-Ausgabe von Blaise de Vigenère entlehnt haben mag, akzentuiert das fundamentale Vermögen und Faszinosum der Malerei, auf ebenem Untergrund plastische Objekte vorzutäuschen. In solch’ »unschuldiger Täuschung« erweise sich höchste Kunst:

In Binets Ausführungen geht es vor allem um die »façon de parler des beaux Tableaux«,111 eine altehrwürdige Kunst, wie er im Preface au Lecteur De la Peinture dargelegt hat, denn schon Alexander der Große habe Apelles aufgesucht, um mit ihm über Farben und Gemälde zu sprechen.112 »Philostrat en ses Tableaux est excellent en cecy, & vous fera riche en cette matiere«,113 verspricht der Autor später seinen Lesern. Nach dem Vorwort und Hinweisen zu Malmitteln, handwerklichen Verfahren und Darstellungsformen kommt er zur »façon de parler des beaux Tableaux«. Zu ihr hat Binet zahllose Leitsätze, Floskeln und Begriffe bereitgestellt, die als Gesprächsmuster und -bausteine in jedweder Konversation über die Künste angewendet werden konnten. Der erste Satz beschwört im Tonfall größten Erstaunens eine kaum zu glaubende Suggestivkraft illusionistischer Malerei: »1. Cela n’est pas peinture, mais nature, & ces personnages là regardent tous ceux qui les regardent, mais d’vne œillade si naïve, que vous iureriez qu’ils sont en vie.«114 Auf dieser Ebene ekphrastischer Konversationsrhetorik kann ein durch Binets Buch geschulter Sprecher fortfahren mit entzückten, in Details der ästhetischen Illusion schwelgenden Äußerungen, von denen der Text hinreichend viele bereitstellt:

»Le plus grand Peintre de l’Univers, & et le plus ex-

»Voyez comme ce drap est bien plissé, voyez ces

cellent ouvrier; car à vray dire l’eminence de ce

mains de neige où les veines s’entflent … Mais en-

mestier ne constite qu’en une tromperie innocente,

core est-ce Peinture ou nature, verité ou artifice.«

110

& toute pleine d’enthousiasme & de divin esprit«.

(»Sieh, wie das Tuch so schön plissiert ist, schau die

In der Darstellung des Frontispizes thront die Eloquenz mit Ju-

Titel »L’Imagerie« angeführt, trägt im Fließtext aber den Titel

106

»La Sculpture«.)

piters Blitzen in der Rechten und einem aufgeschlagenen Buch in der Linken oberhalb von Personifikationen der Natur und der 107

109

Künste.

ture, Kap. 39, S. 304ff., La façon de parler des beaux Tableaux,

In der angeführten Reihenfolge: Binet 1622, Kap. 12: La Marine,

S. 314f., Des couleurs, S. 316–319.)

S. 94ff., Kap. 17: La Guerre, S. 129ff.; Kap. 19: L’Artillerie, S. 155ff.,

110

Ebda., S. 301.

Kap. 46: La Medicine, S. 385ff., Kap. 50: Mathematique, S. 448ff.,

111

Ebda., S. 314.

Kap. 52: Enrichissesmens d’Eloquence, S. 482ff., Kap. 30: Les

112

»Quand le grand Alexandre visitant Apelles, le Grand voulut par-

S. 547ff.; Kap. 5: Le Phœnix, S. 70ff.

113

Ebda., S. 315.

In der genannten Reihenfolge: ebda., Kap. 33, 39, 40, 47, 48, 49,

114

Ebda., S. 314.

Fleurs, S. 243ff., Kap. 37: Le Vin, S. 291ff., Kap. 56: Le Cheval , 108

Ebda., S. 301–319. (Preface au lecteur: S. 301–303, La Platte Pein-

ler des couleurs & des Peintures«. (Ebda., S. 301.)

51, 53. (Kap. 40, S. 319–327, wird im Inhaltsverzeichnis mit dem

366

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

schneeweißen Hände, wie die Adern aufschwellen … Aber überdies, ist es Malerei oder Natur, Wahrheit oder Kunstgriff?«)115

Binets Ausführungen bewegen sich großenteils auf diesem Niveau, gehen aber darüber hinaus, indem sie auch kunstheoretische Topoi vermitteln, den Leser z. B. wissen lassen, dass Apelles malte, was man nicht malen kann: Donner, Blitze, die Stimme, den Atem.116 An einer Stelle heißt es: »Le profil de Michel-Ange, le coloris de Raphaël, l’invention & hardiesse du Parmesan, & les nuits du Bassan font vn Peintre l’Idée des bons Peintres. Ce sont les quatre elements d’vn parfait Peintre.«117

Der hier angesprochene Topos vom souverän über die Bildtradition verfügenden ›Peintre parfait‹, als den später Roger de Piles Peter Paul Rubens rühmen sollte,118 geht zurück auf die antike Geschichte von Zeuxis und den Krotonischen Jungfrauen.119 Auf deren Grundlage hatte Vasari gemäß dem Eloquenz-Ideal Ciceros sein Konzept einer selektiv auf die Bildtradition zurückgreifenden Bildrhetorik entwickelt120 und dieses vor allem am Beispiel Raffaels dargelegt, des Malers, der auch als Meister nicht aufhörte, zu lernen, mit Leichtigkeit fremde Manieren imitierte (»che era molto eccellente in imitare«) und sich aus allem das Beste nahm (»prese da tutti il meglio«).121 Sodann hatte Lomazzo

115

Ebda., S. 315. Der erste Teil der deutschen Übersetzung zit. n.

dieses selektive Prinzip zum Leitfaden seiner Idea del tempio della pittura mit ihren sieben vorbildlichen »governatori dell’arte« gemacht und Agucchi, Bellori, Faberio u. a. hatten Werke der Carracci in diesem Sinne als Syntheseleistungen beschrieben.122 Auch Binet hat dieses Selektionsprinzip aufgegriffen und seinen Lesern nahegebracht. Erst danach sollte es von Dufresnoy, der Michelangelos disegno, Correggios Helldunkel, Tizians colorito und Raffaels invenzione als mustergültig bewertete, in seinem von Roger de Piles übersetzten und kommentierten Gedicht De arte graphica in die französische Kunstliteratur eingeführt werden.123 Wolfgang Kemp hat dem Essay über die Wunder der Natur und der vornehmsten Künste einige Bedeutung für die holländische Bildkultur des 17. Jahrhunderts beigemessen, die er u. a. an einem Lobgedicht auf Cornelis Bisschop festmacht, das 1654 von dessen Schülerin Margareta Godewijk verfasst wurde: »Es folgt dem hyperbolischen Modus der Gattung, das heißt, es werden Epitheta und schmeichelhafte Vergleiche angehäuft, aber nicht in irgendeine konstruktive Beziehung untereinander gebracht. Es fallen die Namen Zeuxis, Parrhasios und Raffael, das ist Standard, aus dem Rhetorikhandbuch abgeschrieben«.124

Abermals zeigt sich hier die schon wiederholt angesprochene Nähe der Kunstliteratur zur zeitgenössi-

123

Charles-Alphonse Du Fresnoy: L’art de peinture […] traduit en

Kemp 2016, S. 59.

françois, avec des rémarques [par Roger de Piles]. Paris 1668,

Binet 1622, S. 315.

S. 52ff. Zuvor hatte noch Roland Fréart de Cambray in seinem

117

Ebda., S. 313.

Traktat Idée de la perfection de la peinture Raffael, dessen Werke

118

Roger de Piles: L’Idée du Peintre parfait (1715). Préfacé et annoté

in besonderer Weise dem Gebot des decorum bzw. costûme ge-

par Xavier Carrère, Paris 1993.

horchten, zum alleinigen Vorbild erklärt. Er nannte ihn den bes-

Cicero: De inventione, II 1, 1–3; Plinius: Historia Naturalis, XXXV,

ten modernen Maler, den »guten Engel der Malerei«, während er

64.

Michelangelo als ihren »bösen Engel« verdammte, der mit der

116

119

120 Hierzu

und zur Gedächtnisfunktion der Viten siehe Brassat

Kühnheit eines Libertins alle Regeln der Kunst verletzt habe.

2003, S. 108ff.

[Roland Fréart de Chambray: Idée de la Perfection de la Pein-

121

Vasari 1966–97, VI, S. 37.

ture. Le Mans 1662, Vorwort (n.p.) u. S. 65f.]

122

Siehe Irle 1997, S. 34f.

Qu ellenb elege i n D e u t s c hl an d u n d Fr an kreic h

124

Kemp 2016, S. 63.

367

schen geselligen Rezeption und ihrer Konversationsrhetorik. Jennifer Montagu hat 1968 in ihrem Aufsatz The Painted Enigma and French 17th Century Art gezeigt, wie verbreitet die rhetorische Praxis der ingeniösen Bildauslegung war, die damals zum Curriculum der Ausbildung der Jesuiten gehörte.125 Karl Möseneder hat dies in Zusammenhang mit höfischen Festen, ihren Bildprogrammen und deren Beschreibungen unterstrichen.126 Auch in den Salons, die sich allmählich zu einer Gegenöffentlichkeit zum Hof entwickelten, erfreuten sich ›Gemählspiele‹, bei denen mit Lust Bilder – auch solche mit ehrwürdigen Sujets – kontrovers ausgelegt wurden, großer Beliebtheit. In dieser Zeit wurde die spielerische Bildexegese nicht selten zu einem öffent­ lichen Ereignis, zu dem Institutionen wie das Collège de Clermont in Paris einluden, wo die Jesuiten alljährlich drei große Werke ausstellten und von drei Musterschülern ausdeuten ließen. Eine offizielle Ankündigung versprach: »Chacun a la liberté de les examiner pendant tout un jour, & le lendemain il se fait une Assemblée de Personne de qualité, en presence de laquelle ceux qui croyent avoir trouvé le vray sens de ces Enigmes, font paroistre la vivacité de leur Esprit.«127

In den Jahren 1678 bis 1681 wurden in fast jeder Ausgabe des Mercure galant Bilderrätsel gestellt und die originellsten Lösungen und auch Leserbriefe abgedruckt. Extranummern mit Rätseln erschienen. Viele Deutungen waren ›falsch‹, sehr viele deuteten als Herrscherpanegyrik, was so nicht gemeint war. Doch im Vorwort der Ausgabe vom Januar 1678 erklärten die Herausgeber,

125

jede Einsendung finde Zustimmung, denn selbst die falschen Antworten kündeten von Geist und annehmlichen Recherchen: »l’esprit n’y paroist pas moins«.128 Diese Liberalität weckte freilich auch Widerstände. Den Autoren des barocken Bilddenkens war bewusst, dass Ausdrucksformen wie die Metapher, die vom Betrachter den Nachvollzug einer Übertragungsleistung erwarten, didaktisch besonders wirksam sind. Schon Aristoteles hatte dies erkannt und Augustinus und Boccaccio hatten dem beigepflichtet. Boccaccio hatte geschrieben: »Die glatte Wahrheit, sintemalen sie rasch begriffen wird mit geringen Kräften, ergötzt, aber vergeht im Gedächtnis.«129 In diesem Sinne setzten im 17. Jahrhundert Autoren wie der Jesuit Claude-François Menestrier, einer der führenden Theoretiker der ludovisischen Hofkunst, auf den pädagogischen Wert emblematischer Darstellungen. Ausdrücklich verteidigte er die Macht der Bilder gegen Paulus’ »fides ex auditu« (Röm. 10, 17) und Johannes’ Bewertung der Augenlust (concupiscentia oculorum) als einer unordentlichen, der Fleischeslust und Hoffart gleichzusetzenden Begierde.130 Diese Rechtfertigung der Bilder knüpfte er freilich an die Bedingung, dass durch solche bei den Schaustellungen des Hofes unzweifelhafte Aussagen gemacht werden sollten. Mit Nachdruck begegnete Menestrier in seinem Traktat L’art des emblemes der Möglichkeit der Mehrdeutigkeit des emblematischen Bildes. Wenn nötig, sollten sinnpräzisierende Worte die Bildelemente ergänzen,131 damit die Embleme nach den Regeln der Alten als »Art fixe & arresté« ihren Dienst tun könnten.132 Menestriers L’art des emblemes war gewissermaßen eine staatlich approbierte autoritäre Antwort auf den Silenus Alcibiadis sive Proteus von Jacob Cats, seinem relativistischen Antipoden.

triers L’Art des Enblêmes. In: Ders. (Hrsg.): Claude-François Me-

Montagu 1968.

126 Karl

Möseneder: Zeremoniell und monumentale Poesie. Die

nestrier: L’art des emblêmes ou s’enseigne la morale par les figu-

»Entrée solenelle« Ludwigs XIV. 1660 in Paris. Berlin 1983, S. 155.

res de la fable, de l’histoire & de la nature. Nachdruck der Aus-

127

Zit. n. Montagu 1968, S. 317.

128

Ebda., S. 324.

131

Ebda., S. 11f. sowie S. 20.

129

Boccaccio: Das Leben Dantes, hier zit. n. Möseneder 1983, S. 157.

132

Menestrier 1981, S. 3.

130

Karl Möseneder: Barocke Bildphilosophie und Emblem. Menes-

368

gabe Paris 1684. Mittenwald 1981, S. 16.

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

Ein Beispiel der staatsdienlichen Funktionalisierung der Emblematik sind die von Charles Le Brun entworfenen Tapisserien und Stiche mit den Darstellungen der Vier Elemente und der Vier Jahreszeiten.133 Wie die Bilderrätsel von Ludwigsburg sind auch ihre Embleme in den Eckfeldern der Bordüren nur mit einem Motto, nicht mit einer erläuternden Subscriptio versehen. Doch fast alle Bildelemente dieser Stücke verweisen auf Ludwig XIV. Einer strengen Systematik folgend, repräsentieren die vier Embleme (Abb. 227) jeweils eine seiner Eigenschaften: Pieté, Magnanimité, Bonté, Valeur.134 Wie diese Tapisserien, von denen seit 1665 in den Gobelins und seit 1690 in der Manufaktur von Beauvais zahlreiche Editionen und in der Imprimerie Royale graphische Reproduktionen entstanden, wurden auch die Bildprogramme genuiner Konversationsräume, wie der Galerie des Glâces im Schloss von Versailles, auf das Lob des Königs eingeschworen. In der Bel’Étage gelegen, den Blick auf die Gartenanlage eröffnend, bildete dieser höfische Konversationsraum135 und Ort der naturnahen Rekreation den Gegenpol zum Schlafzimmer des Königs auf der Stadtseite des Palastes. Freilich wurde er von Le Brun und seinen Mitarbeitern mit Darstellungen der Taten des Souveräns geschmückt, die diesen unmissverständlich als Bezwinger der Natur preisen, als »vainqueur de toutes les saisons«.136 Dieser strikten Funktionalisierung der Künste im Dienste des absolutistischen Staates begegneten ande-

133

134

ren Ortes gesellige Praktiken, die die autoritative Geltung der Bilder im Dienste von Staat und Kirche unterwanderten. Aus dem von Montagu gesammelten Material geht hervor, wie sehr in Frankreich die Rätselmode um sich griff, wo man Änigmen unter Freunden verschenkte und Menestrier in seiner Philosophie des images énigmatiques empfahl, mit abwaschbaren Farben in vorhandene Gemälde zusätzliche Motive einzufügen, um diese variabel als Denkaufgabe nutzen zu können.137 Während er aber die Emblematik als »Art fixe & arresté« im Dienste des Staates instrumentalisieren und ihr entsprechend jede Mehrdeutigkeit nehmen wollte, haben andere Autoren diese als Gewinn betrachtet. So schrieb Charles Perrault über die Möglichkeiten des Druckgewerbes in einer Schrift, die erst in der Zeit der französischen Revolution veröffentlicht werden sollte: »Un des plus grands avantages que nous ayons aujourd’hui sur les Anciens, en ce qui regarde les arts, est celui de l’imprimerie et des graveurs. Ce sont des moyens merveilleux pour multiplier à l’infini un même discours, et faire voir l’image d’une même chose en divers lieux.«138

Perraults Gedanke des »multiplier à l’infini« lag offenbar Descartes’ Satz »le monde est indéfini« zugrunde, den dieser, wie auch die Erkenntnis des linearen Ablaufs der unabgeschlossenen Zeit, aus seinem

Siehe Marianne Grivel/Marc Fumaroli: Devises pour les tapisse-

Blüte des Königs (Nil Florere vetat), die Theaterbühne, auf

ries du Roi. Hrsg. v. d. Bibliothèque National, Paris 1988; Brassat

der, auf eine Wolke projiziert, ein Schloss erscheint, macht an-

1992, S. 204ff.

schaulich, dass seine Taten die menschliche Natur übertreffen

Abb. 227 zeigt Buchilluminationen mit vier Emblemen der Dar-

(Natvram svperat), und das Amphitheater die Vergnügun-

stellung des Winters in einem für Ludwig XIV. angefertigten

gen, die Ludwig XIV. seinen Untertanen bereitet (Deliciae Popvli).

Prachtmanuskript. Die Tapisserie (Mobilier National) vergegenwärtigt vor einer Ansicht von Paris und dem Louvre Saturn mit

135

Büttner 1972, S. 121ff.

Hebe, der Göttin der Jugend, die die Strenge des Winters mil-

136

Jean Aymar Piganiol de la Force: Description des châteaux et

dert. Die abgebildeten Embleme, von denen zwei, wie auch sämtliche Devisen, nicht mit denen der Tapisserie identisch

parcs de Versailles et de Marly. Paris 1730, Bd. I, S. 149. 137

Claude François Menestrier: La philosophie des images énig-

138

Aus einer erst im Revolutionsjahr X veröffentlichten Schrift Per-

sind (vgl. Brassat 1992, S. 205f.), und die zudem mit einer Subscriptio versehen sind, repräsentieren die Qualitäten des Kö-

matiques. Lyon 1694, S. 160f.; Montagu 1968, S. 321.

nigs: das Kohlefeuer seinen brennenden Eifer in Glaubensfra-

raults zitiert nach Marc Fumaroli: Un Art Royale. In: Grivel/Fu-

gen (tempvs mitescit ab illo), die Schneeblume die stete

maroli 1988, S. 8.

Qu ellenb elege i n D e u t s c hl an d u n d Fr an kreic h

369

Abb. 227  Jacques Bailly: Embleme der Tapisserie ›Der Winter‹, Manuskript der Devises pour les tapisseries du roy, 1664–68, Paris,

Bibliothèque National

370

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

Trägheits- und Bewegungsgesetz deduziert hatte.139 Wie brisant die Auffassung der unendlichen Reproduktion und einer damit verbundenen Pluralisierung der Wahrnehmung war, zeigt sich daran, dass Perrault in der Parallèle des Anciens et des Modernes die Druckkunst mit nahezu identischen Worten als moderne Errungenschaft gepriesen, aber eben diesen Aspekt nicht thematisiert hat.140 Bei den hermeneutischen Spielen mit Bilderrätseln, bei denen es galt, ein sich auf die Hauptfigur des Bildes beziehendes Lösungswort mit identischem Genus zu finden,141 kam man in der Regel zu trivialen, zuweilen blasphemisch anmutenden Lösungen: Man deutete z. B. ein Martyrium des heiligen Andreas als Sinnbild des Geschmacks, eine Auferstehung Christi als explodierende Mine und eine Auferstehung des Lazarus als Brechmittel.142 Guy-Louis Vernansals Darstellung der Heiligen Bathilda, die als Sklavin verkauft wird, wurde dem Porzellan, das man nach Europa importierte, gleichgesetzt143 und für eine Darstellung des kleinen Johannes mit dem Lamm fand man die Bezeichnung

»Bonbon« 144 – um nur einige der von Montagu versammelten ingeniösen Deutungen zu nennen. Im Sinne eines emphatischen Modernismus wurden hier immer wieder konventionelle sakrale Darstellungen als Sinnbilder moderner Errungenschaften ausgelegt, von denen die Antike nichts wusste. Diese eigenwilligen Bildexegesen waren den Sprachspielen der Précieux verwandt, in deren Salons Dominique Bouhours seit den 1660er Jahren mit dem »je ne sais quoy« gegen die staatliche Kunstdoktrin das Recht der spontanen Gefühlsäußerungen vor dem Kunstwerk propagierte.145 Bei solchen Spielen übte man sich in einer von Metaphern nur so strotzenden Sprache, bezeichnete ein Glas Wasser als »inneres Bad«, die Zähne als »Möblierung des Mundes« oder einen Fisch als »Bewohner des Königreichs Neptuns«.146 Schriften wie der Roman Clélie der Madelaine de Scudéry dienten ähnlichen Vergnügungen.147 Er enthält die »carte de tendre«, die »Landkarte der Liebe«, in der der »Lac d’Indifferance, la Mer Dangereuse, la Mer d’Inimitié« sowie die Flüsse der Zuneigung, der Dankbarkeit und der Wertschätzung zu fin-

139

140

»Während Galilei von einer zirkularen Bewegung sprach, geht

Dort sagt der Abbé über die Druckkunst lediglich: »Comme c’est

nach Descartes die Bewegung ins Unendliche weiter. Aus die-

un grand avantage de pouvoir multiplier les livres par l’impres-

sem Bewegungsgesetz folgert Descartes die Unendlichkeit des

sion qu’on en fait, c’est aussi une grande satisfaction pour ceux

Universums (le monde est indéfini) und die lineare, unabge-

qui aiment les belles choses de pouvoir multiplier les beaux ta-

schlossene Zeit. Dieser radikale Schritt Descartes’, wie A. Koyré

bleaux & tout ce que les Peintres & les Sculpteurs imaginent par

ihn nennt, liegt m. E. der Idee der unabgeschlossenen, offenen

le moyen des estampes que l’on en fait.« [Perrault 1964, 444 (IV,

Geschichte zugrunde.« [Herbert Dieckmann: Naturgeschichte

286).]

von Bacon bis Diderot: Einige Wegweiser. In: Reinhart Kosel-

141

Montagu 1968, S. 315.

leck/Wolf-Dieter Strempel: Geschichte – Ereignis und Erzäh-

142

Ebda., S. 310. Die genannten Deutungen erwähnt Gabriel Fran-

lung (Poetik und Hermeneutik, V). München 1973, S. 100.] Über

çois Le Jay: Bibliotheca rhetorum. Paris 1725, S. 844.

die Unendlichkeit der Welten herrschte im 17. Jahrhundert weit-

143

Montagu 1968, S. 320.

gehender Konsens. (Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der

144

Ebda., S. 317.

Wesen: Geschichte eines Gedankens. Frankfurt/M. 1993, S. 152.)

145 Erich

Während Pascal aus dieser die Nichtigkeit des Menschen ablei-

Köhler: »Je ne sais quoy« - Ein Beitrag zur Begriffsge-

schichte des Unbegreiflichen. In: Ders., Esprit und arkadische

tete (ebda., S. 155), dient sie in Fontenelles Entretiens den Prota-

Freiheit. Frankfurt 1966, S. 239. Zum selben Argument in Liebes-

gonisten als Rechtfertigung des Nichtstuns, aber auch als Refe-

materien: Luhmann 1984, S. 81.

renzraum individueller Freiheitsbedürfnisse. So äußert hier der

146

Philosoph: »Als der Himmel nichts war als diese blaue Wölbung,

naire des Pretieuses (1660/61). Hrsg. v. Ch.-L. Livet, Paris 1856

an der die Sterne festgeheftet sind, erschien mir das Universum klein und eng; nun aber, da wir diesem Gewölbe unendlich mehr Ausdehnung und Tiefe gegeben haben, […] kommt es mir

Siehe Antoine de Baudeau, Sieur de Somaize: Le Grand Dictio(ND Hildesheim 1972).

147

Madelaine de Scudéry: Clélie, histoire romaine. 10 Bde., Paris 1654–1660.

vor, als atme ich freier und als wäre ich in einem viel größeren Luftraum«. (Zit. ebda., S. 162.)

Qu ellenb elege i n D e u t s c hl an d u n d Fr an kreic h

371

den sind. Wege führen zu den Orten, die Namen wie »Indiskretion«, »Ehrlichkeit« und »Güte« tragen – eine Landschaft mit Scheidewegen, die geselligen Kreisen gewissermaßen als Spielbrett diente, auf dem sich ein jeder in geistvoller Selbstdarstellung positionieren und bewegen konnte. Signifikanterweise kommen solche Schriften in einem Dialog in Charles Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes zur Sprache, in dem der Autor, der in jungen Jahren mit seinen Brüdern eine Aeneis-Travestie verfasst hatte,148 seine Vorbehalte gegen die Allegorie formulierte. Die milesischen Fabeln seien kindisch.149 Die Ilias und die Odyssee seien lediglich unterhaltsame Romane in Versen, ein Gespinst aus Heldenabenteuern, halb wahr, halb fabulös.150 Überhaupt sei die Allegorie nur »une espece de mascarade«, wie ein Besuch von maskierten Freunden für eine kurze Weile erfreulich, aber mit der Zeit unerträglich langweilig.151 Dem Abbé und dem Chevalier gilt sie nicht mehr als ein »jeu d ’esprit«: »La carte du tendre, l’isle d’amour, le louïs d’or, le miroir d’Orante & quelques autres pieces de cette nature sont des allegorie, qui par leur maniere enjoüée & leur agreable brieveté ont atteint à la veritable idée de leur charactere.«152

Eher defensiv kommentiert der Präsident diese Zurückweisung des Wahrheitsanspruchs der Allegorie auf das Terrain des galanten »jeu d’esprit«: Hier zeige sich die Vorliebe der jungen Leute für Bagatellen.153 1699 hat Roger de Piles über das infinite Bild geschrieben, ein jeder vollende dieses im Geiste nach seinem Geschmack.154 Welchen programmatischen Cha148 Thomas

rakter das semantisch offene Sinnbild erhalten konnte, dessen Fragmentcharakter erst der Interpretationsakt vorübergehend aufzuheben vermag, zeigt die Vignette, die in der Ausgabe von Port-Royal den Pensées de M. Pascal sur la religion et sur quelques autres sujets vorangestellt ist: In dieser erscheint die Gegenwart als gedanklich zu füllende Leerstelle zwischen den Ruinen des Gestern und den Umrissen einer neuen, im Bau befindlichen Architektur.155 Dennoch bleiben unsere Vorstellungen von der in dieser Zeit auch in Frankreich populären Praxis der geselligen Bildauslegung hier eigentümlich unanschaulich, weil diese Gepflogenheiten von der offiziellen Staatskunst überschattet wurden und kaum bleibende Spuren hinterlassen haben. Dass bei den erwähnten Anlässen selbst ehrwürdige Sujets mit respektlosem Eigensinn ausgedeutet wurden, hat eine zunehmende Kritik hervorgerufen, die diese Praktiken wieder aus der Öffentlichkeit zurückdrängte. Als »kluges Spiel der Gesellschaft, als […] humorvolles Vergnügen« hatte der französische Mathematiker Claude Mydorge in seinem 1630 erschienen Werk Examen du livre des recréations mathématiques den Umgang mit Vexier- und Denkbildern gepriesen.156 Doch die Popularisierung dieses Vergnügens beobachteten die Theoretiker des Klassizismus mit Argwohn. Über die große Beliebtheit von Rebusbildungen in weiten Teilen der Bevölkerung, deren Beispiele er größtenteils lächerlich fand, berichtete bereits William Camden 1605 in seinen Remaines of a Greater Worke und ebenso sollte Romeyn de Hooghe 1735 in seiner Schrift Hieroglyphica of Merkbeelden der oude Volkeren die Auswüchse der »törichten kunst von Merkbildern« geißeln.157 Im 17. Jahrhundert erwies sich, dass die Emblematik, die nach Menestriers Vorstellun-

Stauder: Die literarische Travestie des europäischen

bach/Christian L. Hart Nibbrig (Hrsg.): Fragment und Totalität.

Barock im Dienste der Geselligkeit. In: Adam 1997, Teil 1, S. 445f.

Frankfurt/M. 1984, S. 160–181, bes. 179ff. sowie Wolfgang Harms:

149

Perrault 1964, S. 211 (II, 126).

Der Fragmentcharakter emblematischer Auslegungen und die

150

Ebda., S. 212 (II, 128).

Rolle des Lesers. Gabriel Rollenhagens Epigramme. In: Martin

151

Ebda., S. 214f. (II, 138ff.).

Bircher/Alois M. Haas (Hrsg.): Deutsche Barocklyrik. Gedichtin-

152

Ebda., S. 215 (II, 140f.).

153

Ebda., S. 215 (II, 141).

156

Eva Maria Schenck: Das Bilderrätsel. Hildesheim 1973, S. 79.

154

Roger de Piles: Abrége de la vie de peintres, zit. bei Busch 1993,

157

Ebda., S. 49, 41. Zum Bilderrätsel siehe auch Jean Céard/Jean-

155

372

terpretationen von Spee bis Haller. Bern/München 1973, S. 49–64.

S. 170.

Claude Margolin: Rébus de la Renaissance. Des images qui par-

Siehe Louis Marin: Die Fragmente Pascals. In: Lucien Dällen-

lent. 2 Bde., Paris 1986.

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

gen in verständlicher Weise eine erweiterte Öffentlichkeit instruieren sollte und nur bei höchsten Geheimnissen der Theologie hermetisch sein dürfe, um diese vor dem Zugriff der Massen zu bewahren, sich nicht für staatspädagogische Zwecke vereinnahmen ließ. Bei ihr war der Übergang vom prodesse zum delectare ein fließender und so stand sie auch eigensinnigen Vergnügungen offen. Die Praxis der Gemähl-Spiele war somit auch Bestandteil eines Kampfes um die Deutungshoheit über die Bilder, dessen Voraussetzung die bereits fortgeschrittene Ausdifferenzierung der Kunst war. Wollte Menestrier Embleme und Bilderrätsel einsetzen, um die Kenntnis der Antike zu fördern,158 so ging es den Modernes dagegen um eine Depotenzierung des antiken Erbes. Und während er forderte, das Emblem müsse »clair & intelligible«159 sein und das Bilderrätsel ein bekanntes Sujet und nur eine Lösung haben,160 sollte der Jesuit Gabriel François Le Jay 1725 die agonale Ausdeutung von Bilderrätseln durch zwei Studenten befürworten, deren unterschiedliche Lösungen das Vergnügen des Publikums steigerten.161 Menestrier und andere Autoren haben die Praxis des Bilderrätsels konzipiert als lizensiöses rhetorisches Spiel der in den Bereich arbiträrer Sinnzuschreibungen entgrenzten barocken Allegorese, das mit seiner Fixierung auf die Hauptfigur des Bildes den kunsttheoretischen Maßgaben der doctrine classique kongruent war und mit nahezu jedem Historienbild durchgeführt werden konnte. Es war dies eine offenbar kompensatorische Praxis des Umgangs mit Bildern, welche in der Regel keineswegs mehrdeutig und rätselhaft waren, der ein schier unbegrenzter Deutungsspielraum offenstand. Sie diente der Demonstration von ingeniöser Redekunst und einer Bestätigung tradierter

158

Montagu 1968, S. 313.

159

Menestrier 1981, S. 16.

160 Claude

Das bisher behandelte Material, darunter die Antwerpener Galeriebilder des frühen 17. Jahrhunderts, Binets Konversationslexikon und Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele, hat uns einen Begriff von den historischen Formen der Kunstrezeption vermittelt. Unter den weiteren Quellen, die über diese Auskunft geben, z. B. die im 17. Jahrhundert höchst verbreiteten EpigrammDichtungen, ragt eine singuläre Schrift hervor, die zahllose Gespräche über die Künste, Künstler und ihre Werke in direkter und indirekter Rede wiedergibt, das Tagebuch der Reise des Cavaliere Bernini in Frankreich.162 Julius von Schlosser hat dieses als eine »zeitgenössische Quelle allerersten Ranges […] von größter, bis dahin unerhörter Unmittelbarkeit«163 bezeichnet. Seinen Verfasser, Paul Fréart de Chantelou, charakterisierte er als »kunstsinnige[n] französische[n] Edelmann echten Schlages, der lange in Rom gelebt und Poussins Freundschaft genossen hat, selbst Sammler und Kenner, der Bruder des ersten französischen Lionardoübersetzers«.164

perger (Hrsg.): Bernini in Paris. Das Tagebuch des Paul Fréart de Chantelou über den Aufenthalt Gianlorenzo Berninis am Hof Ludwigs XIV. Berlin 2006, S. 313–336. 163 Julius

von Schlosser: Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur

Quellenkunde der Neueren Kunstgeschichte. Wien 1924, S. 421.

François Le Jay: Bibliotheca rhetorum. Paris 1725,

S. 847f.; vgl. Montagu 1968, S. 316. 162

Künstler und Kunstwerk im höfischen System der Kommunikation Künstler und Kunstwerk im höfischen System der Kommunikation: Chantelous Journal de Voyage du Cavalier Bernin en France

François Menestrier: La philosophie des images énig-

matiques, Lyon 1694, S. 146ff.; Montagu 1968, S. 315. 161 Gabriel

Bildungsinhalte, während zugleich die Malerei der reformierten Niederlande, wie wir gesehen haben, oft unter Einsatz von semantischen Mehrdeutigkeiten und narrativen Unbestimmtheiten und Leerstellen die Sinne schärfte für das alltägliche Sozialleben.

164

Ebda. Trotz dieser lobenden Worte hat Schlosser dieser Quelle

Dieser und der folgende Abschnitt basieren auf dem Aufsatz des

nur eine halbe der rund 600 Seiten seines monumentalen Werks

Vf.: Das Gespräch über die Künste im Spannungsfeld von Ge-

gewidmet, wobei er zu bedenken gab, das Buch vermittle »oft-

selligkeit und Staatsräson. In: Pablo Schneider/Philipp Zitzls-

mals […] flüchtige Eindrücke und Stimmungen […], die noch

Künstler und Kunstwerk im höfischen System der Kommunikation

373

Abb. 228  Gianlorenzo Bernini: P­ orträtbüste Ludwigs XIV., 1665, Versailles,

Schloss

Chantelou war Gianlorenzo Bernini als Attaché und Dolmetscher zugeteilt, als dieser 1665 in Paris tätig war. Der Arbeitsaufenthalt des päpstlichen Hofkünstlers war Bestandteil der Satisfaktion, die Ludwig XIV. nach der sogenannten Korsenaffäre von Papst Alexander VII. forderte. Am 20. August 1662 hatte die korsische Garde des Papstes nach einem Handgemenge, bei dem ein Franzose tödlich verletzt worden war, den Palazzo Farnese, die französische Botschaft in Rom, belagert. Daraufhin hatte der Sonnenkönig Avignon einnehmen lassen,

dem Heiligen Stuhl mit Krieg gedroht und seine Forderungen in dem im Frühjahr 1664 geschlossenen Friedensvertrag von Pisa durchgesetzt.165 Auf Geheiß des Papstes reiste Bernini 1665 nach Paris, wo er Anfang Juni ankam und in den folgenden fünf Monaten Entwürfe für den Umbau des Louvre und eine Büste Ludwigs XIV. (Abb. 228) anfertigen sollte. Ihre Entstehung und die weiteren Aktivitäten Berninis hat Chantelou akribisch in seinem Reisetagebuch festgehalten, das die Form eines diplomatischen Journals aufweist,166 d. h. eines Gebrauchstextes ohne literarischen Anspruch.167 Dass die Kunstgeschichte dieser Quelle lange nur wenig Neigung entgegengebracht hat,168 ist insofern verständlich, als das Journal keinen Zweifel lässt über die strikte Funktionalisierung der Künste in den Diensten absolutistischer Herrschaft und die Intrigen, denen sich Bernini während seines unfreiwilligen Aufenthalts am Hof des Sonnenkönigs konfrontiert sah. Kann man sich bei der Lektüre von Benvenuto Cellinis Autobiographie, die ähnlich lebensnah ist, an der respektlosen Offenheit erfreuen, die dieser auch vor Fürstenthronen an den Tag legte,169 so erfährt man bei Chantelou vor allem, wie Intrigen und der unentwegte Ansturm der Hofgesellschaft auf sein Atelier, das manchmal überfüllt war, noch bevor er das Bett verlassen hatte (6. Okt. 1665), den Künstlerheros ein ums andere Mal um seine Fassung brachten. Erst mit dem Schwinden idealisti-

dazu durch das Mittel eines Nordländers gegangen sind. Wir be-

ser veröffentlicht werden sollte, siehe Milovan Stani´c: Introduc-

sitzen nichts Ähnliches der Art.« Den Autor nannte er weiter

tion. In: Chantelou 2001, S. 27ff.

unten abschätzig Berninis »getreue[n] Eckermann Chantelou«.

168

165 Zu

diesen Vorgängen siehe Raymond Darricau (Hrsg.): Louis

1994), Einträge über Fréart de Chantelou fehlen oder, wie im Dic-

XIV et le Saint Siège. La négotiation du Traité de Pise (1664)

tionary of Art, äußerst knapp gehalten sind und jeglicher Ausfüh-

d’après Jean-Yves de Saint-Prez, Garde du dépôt des Archives

rungen zum Journal entbehren. (Malcolm Bull: [Artikel] Paul Fré-

des Affaires Etrangères. In: Annuaire-Bulletin de la Société de

art, Sieur de Chantelou. In: The Dictionary of Art, Bd. 11, S. 744.)

l’Histoire de France. Années 1964–1965, S. 81–156; Milovan Sta-

166 167

374

Eine erstaunlich geringe Beachtung des Reisetagebuchs zeigt sich u. a. in Lexika, in denen, wie im Lexikon der Kunst (Leipzig 1987–

(Ebda., S. 593.)

169

Siehe z. B. das vom Herzog Alessandro in Gang gebrachte Streit-

ni´c: Introduction. In: Ders. (Hrsg.): Journal de Voyage du Cava-

gespräch Cellinis mit seinem Konkurrenten Baccio Bandinelli,

lier Bernin en France. Paris 2001, S. 11ff.; Arne Karsten: Kunst der

das sich offenbar an der Grenze der Handgreiflichkeit bewegte:

Diplomatie. Gianlorenzo Berninis Frankreichreise vor dem Hin-

Cellini schimpft Bandinelli, den er tatsächlich bereits umzu-

tergrund der Korsenaffäre 1662/1664. In: Schneider/Zitzlsperger

bringen geplant hatte, stets »die Bestie«, dieser nennt ihn vor

2006, S. 304–312.

dem Herzogenpaar einen Sodomiten. (Benvenuto Cellini:

Hans Rose (Hrsg.): Tagebuch des Herrn von Chantelou über die

Leben des B. Cellini. Übers. v. J. W. Goethe. Mit einem Nachwort

Reise des Cavaliere Bernini nach Frankreich. München 1919, S. V.

v. Harald Keller. Frankfurt/M. 1981, S. 393ff; siehe auch Vasari

Zur Überlieferung des Textes und der ungeklärten Frage, ob die-

1966–97, V, S. 268ff.) Bei Cellini finden sich Respektlosigkeiten,

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

scher Deutungshorizonte, vor allem mit dem Aufkommen sozialgeschichtlicher Fragestellungen, hat sich die Kunstwissenschaft bereitwillig in solche Niederungen begeben und allmählich diese Quelle auszuschöpfen verstanden. So hat Martin Warnke im Hofkünstler ausgiebig Chantelou und von ihm überlieferte Äußerungen zu den Funktionen und Organisationsformen der Hofkunst zitiert.170 Während das Journal, mit biographischem Interesse gelesen, in der Tat weitschweifig und unergiebig erscheint, zeichnet sich unter solchen Aspekten sein eigentlicher kulturgeschichtlicher Wert ab.171 Dieser lässt sich zumal im Licht jener Ansätze entfalten, die das »Zeremoniell als höfische Ästhetik« begreifen172 oder Formen kommunikativer Interaktion untersuchen.173 Hier sollen mittels dieser Quelle vor allem die Funktionalisierung der Künste und der einsetzende Prozess einer Marginalisierung der Geselligkeit am Hof Ludwigs XIV. beleuchtet werden. Aus Chantelous Journal geht deutlich hervor, dass das Gespräch über die Künste in der Regel ein geselliges Ereignis war und entsprechende kommunikative Fähigkeiten zum Anforderungsprofil des Hofkünstlers gehörten: Nach Berninis Ankunft in Paris und seinen Antrittsbesuchen bei Hofe hatten er und sein Attaché Chantelou, dem befohlen war, »ihn während seines Aufenthaltes in Frankreich zu unterhalten (l’entretenir) und zu begleiten«,174 zunächst Zeit für Gespräche (6. Juni 1665). Schon in dieser Phase des Kennenlernens

wie die folgende: »Da tat der Herzog einen großen Ausruf und

lobt Chantelou das sprühende Temperament, den Adlerblick, Geist, Phantasie und Bildung Berninis: »Er ist ein brillanter Erzähler (un fort beau diseur) und [hat] ein ausgesprochenes Talent, sich mit Worten, Mienen und Gesten zu erklären.«175 Der 65-Jährige (tatsächlich zählte er schon 66 Lenze) wirke wie ein Mann mittleren Alters. Als Schauspieler, der in Rom in eigenen Komödien mitspiele, wisse er so graziös aufzutreten, dass man sich über seine Erfolge nicht wundern müsse. Sind Bernini und Chantelou unter sich, geht es bald schon vertraulich und zu gegebener Zeit heiter zu. Dies zeigt z. B. der Abendspaziergang am 7. Juni, einem ungewöhnlich arbeitsreichen Sonntag, den Bernini über dem Louvre-Grundriss verbracht hatte.176 Angesichts der Bedachung des Tuilerienpalastes, die ihm abnorm hoch zu sein scheint, meint er, so etwas könne nicht mit einem Mal entstanden sein (ne s’est pas sens doute introduit tout d’un coup),177 sondern nur durch einen langwierigen Prozess der Übertreibung. Das sei wie bei einem Diener, der, angehalten, den Wein zu kühlen, ihn irgendwann gefroren serviere. Lachend wirft Chantelou ein: »[…] die Dächer ahmen die Höhe der Hüte nach. Heute aber trage man die Hüte so flach, daß der Kopf kaum hineinpasse. Es stehe also zu erwarten, daß die Dächer auch wieder niedriger werden.«178 Man spricht also über die Künste und den Lauf der Welt. Er fände es keineswegs blamabel für den französischen König, so Bernini, einen italienischen Architekten heranzuzie-

174 Schneider/Zitzlsperger

2006, S. 9; Chantelou 2001, S. 42. (Da

machte mit dem Mund ein O, größer als die Öffnung eines Brun-

mittlerweile zahlreiche Ausgaben des Journals vorliegen, be-

nens« (Cellini 1981, S. 378), die in der Zeit des Hochabsolutismus

schränke ich mich bei referierten Passagen des Textes zumeist

wohl kein Hofkünstler oder Kunstliterat mehr riskiert hätte.

auf die Angabe des Datums. Bei wörtlichen Zitaten sind die Stel-

170

Warnke 1985, S. 82, 128, 160, 229, 238, 259, 288, 291.

len in den Ausgaben von Stani´c und Schneider/Zitzlsperger an-

171

Vgl. Milovan Stani´c: Introduction. In: Chantelou 2001, S. 6.

gegeben.)

172

Berns/Rahn 1995.

173 Aus

anthropologischer Sicht behandelt solche Erving Goff-

175 176

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 15; Chantelou 2001, S. 46. Wie Chantelou am 19. September dem König erklärte, hatte Ber-

mann: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommu-

nini ein Breve des Papstes, das ihm an Sonntagen drei Stunden

nikation. Frankfurt/M. 1986. Elias interpretiert Interaktionsfor-

Arbeit gestattete. (Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 168; Chante-

men als Symptom sozio- und psychogenetischer Prozesse: Nor-

lou 2001, S. 190.)

bert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische

177

Chantelou 2001, S. 49; Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 17.

und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt/M.

178

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 17; Chantelou 2001, S. 49.

1976. Siehe auch Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hrsg.): Das Gespräch (Poetik und Hermeneutik, Bd. 11). München 21996.

Künstler und Kunstwerk im höfischen System der Kommunikation

375

hen, da sich doch umgekehrt Italien in militärischen Dingen an Frankreich orientieren müsse. Dann scherzt man, erzählt Anekdoten. Der Grad der Förmlichkeit der Gespräche steigt mit der Zahl und dem Rang weiterer Teilnehmer. Dennoch lässt sich bei den meisten ein Alternieren von Ernst und Ausgelassenheit feststellen, von tiefergehender Reflexion und Anekdoten, Bonmots und Witzen. Droht das Gespräch langweilig zu werden, wirft man ein neues Thema auf (… passant de là à un autre discours). Bernini gibt oft Pointen aus seinen Komödien zum Besten, erzählt z. B. von einem Dummkopf, der meinte, der Schlosserberuf sei höchst ehrenvoll, da doch das Papstwappen Schlüssel zeigt (1. Juli). Er spottet gerne über den geringen Kunstverstand der Neapolitaner, Lombarden, Spanier und zuweilen auch den der Franzosen (4. Okt.). Die Poesie, sagt er einmal, müsse aus Spanien kommen, wo die Musen (le donne), zu Hause sind: Don Juan, Don Gaspar etc. (30. Juni).179 Bevorzugter Anlass der rekreativen Geselligkeit ist die ›promenade‹ – in der Stadt, in Gärten und Galerien –, ein beliebter Ort derselben auch das Atelier des Künstlers. Dort darf selbst einer der Lakaien Berninis vor dem König Albernheiten vortragen, was dieser, wie Chantelou bemerkt, gelassen hinnimmt (11. Sept.). Bernini erheitert die Hofgesellschaft, indem er während des Besuchs des Königs flugs Karikaturen zu Papier bringt (10. Sept.).180 Dass die freundliche Konversation zu den Anforderungen an den Hofkünstler gehört, zeigt der Besuch im Schlafzimmer des vom Aderlass geschwächten Regenten, den Bernini in dieser Lage aufheitert, indem er ihm Witze erzählt (23. Aug.). Aber auch bei den Besuchen der königlichen Akademie kommt die Geselligkeit nicht zu kurz: Diese empfangend, präsentiert sich Bernini als Gesellschafter und erzählt heitere Ateliergeschichten (16. Juni). Bei seinem ersten Besuch in der Akademie, zu dem Le Brun, Du Metz und Perrault verspätet ein-

treffen, spricht er hingegen offiziell als Kunsttheoretiker (5. Sept.), beim zweiten, seinem Abschiedsbesuch, gibt man sich wieder heiter, und in der versöhnlichen Stimmung findet Bernini sogar für Charles Le Brun väter­ liche Worte (10. Okt.). Auch zu den Aufgaben des Königs gehörte sein Beitrag zur Geselligkeit, die Lizensierung derselben. Jahre später sollte Ludwig XIV., wie der Mercure Galant im Dezember 1682 berichtete, jeweils montags, mittwochs und donnerstags seine Grands Appartements in Versailles für eine große Zahl geladener Gäste öffnen, die sich hier von 18 bis 22 Uhr verschiedenen Spielen hingeben konnten, u. a. dem Billard, dem Hocca, einer Art Roulette, und diversen Kartenspielen. Bei diesem Anlass trat Ludwig XIV. betont unauffällig in Erscheinung und demonstrierte so seine bonté und familiarité. Der Mercure Galant berichtete: »Dieser Fürst begibt sich bald zu dem einen, bald zu dem anderen Spiel. Er will weder, daß man sich erhebt, noch, daß man das Spiel unterbricht, wenn er sich nähert.«181 Hans Körner hat auf diese Gepflogenheiten hingewiesen und nachweisen können, dass die Gemälde, die seit eben dem Jahr 1682 in der Chambres de Mars hingen, Veroneses Emmausmahl und Charles Le Bruns Alexander vor dem Zelt des Darius (Abb. 229), eine Epiphaniedarstellung und ein profanes Pendant, diese Funktion des Raumes ausdeuteten und die hier bewiesene Zurückhaltung und liberalitas des Souveräns reflektierten.182 Le Bruns Gemälde vergegenwärtigt die Frauen des besiegten Perserkönigs, die erschrocken erkannt haben, dass sie seinen Freund, den Feldherrn Hephaistion, für Alexander hielten, was der Herrscher nachsichtig rechtfertigt: Auch dieser sei ein Alexander. Die erregten Affekte der Angehörigen des Darius hat Le Brun in nuancierter Abstufung geschildert – zum Lobe des beherrschten, gleich- und großmütigen Souveräns. Dass Ludwig XIV. im Zeichen dieses exemplum virtutis

179

»Il a dit après que, sur une question d’où la poésie avait tiré son

180

Siehe oben, S. 224.

origine, l’on soutenait un jour que c’était d’Espagne, d’où le donne,

181

Zit. n. Hans Körner: Der »Neue Alexander« und die Spieler. In:

quit veut dire les Muses, étaient venues, à cause de Don Juan, Don Gaspar, Don Rodrigue, etc., qui n’est en usage qu’en Espagne.«

Münchener Jahrbuch der bildenden Kunst, 3. F., 40, 1989, S. 147. 182

Ebda., S. 141–152.

(Chantelou 2001, S. 66; Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 38.)

376

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

Abb. 229  Charles Le Brun:

Alexander vor dem Zelt des Darius,

um 1660, ­Versailles, Schloss

vorsätzlich Unsummen verspielte, wurde von der Hofberichterstattung gerühmt und brachte Versailles den zweifelhaften Ruf einer Spielhölle ein. Freilich war dieses abendliche Treiben nur in Grenzen ausstellungs­ fähig. Es gibt meines Wissens keine Darstellung, die den König etwa beim Kartenspiel zeigt. Bezeichnend ist, dass er dem unter einem Gemälde nachging, welches das Programmbild der französischen doctrine classique war,183 das Produkt einer strikten Bildregie, das einer eigenmächtigen Aus­legung so gut wie keinen Spielraum bot, was nicht ausschließt, dass es als Bilderrätsel genutzt wurde. Im Absolutismus erfuhr die höfische Geselligkeit, zumal in Frankreich, wo Ludwig XIV. den Adel zur Residenzpflicht in Versailles und damit zur Untätigkeit

verdammte, eine Zurichtung. Zwar nahm sie im barocken Fest, das einen Höhepunkt stilisierter Geselligkeit darstellt,184 bis dahin ungekannte Ausmaße an, doch zugleich unterlag sie zunehmend den Zwängen der Etikette, die ihr jede Spontaneität auszutreiben drohten. Bereits in Nicolas Farets L’Honneste homme ou l’art de plaire à la court von 1630 gelten für das Gespräch mit dem Fürsten (entretien) und die Unterhaltung mit Gleichrangigen (conversation) je eigene Regeln.185 In Baltasar Graciáns Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit von 1647, in dem die Dialogform Castigliones dem Diktat respektiver Regeln gewichen ist, herrscht bereits ein tiefes Misstrauen gegen das undurchschaubare Labyrinth des Hofes, in dem ein jeder seine Absichten verbirgt. Hier muss man: »Über sein Vorhaben in Unge-

183

184

Zu dem Vergleich beider Bilder in Perraults Parallèle des Anciens

Wolfgang Adam: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeital-

et des Modernes: Körner 1989, S. 144f. Schon 1663 hatte André Fé-

ter. Eine Einführung in die Konzeption der Tagung. In: Adam

libien das programmatische Werk Le Bruns in einer eigenen Pu-

1997, Teil 1, S. 15. Zum Garten als Ort der Geselligkeit siehe Cor-

blikation (Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre) gewürdigt.

nelia Jöchner: Die höfische Gesellschaft im Garten. Soziale In-

(Stefan Germer: Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Kar-

teraktion als Bildstrategie barocker Gartenveduten. In: Adam 1997, Teil 2, S. 833–853.

riere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV. München 1997, S. 208ff.; Thomas Kirchner: Der epische Held. Historien-

185

Schmölders 1986, S. 26. Zu dem sich wandelnden Gebrauch der

malerei und Kunstpolitik im Frankreich des 17. Jahrhunderts.

Worte »conversation«, »commerce«, »entretien« u. a.: ebda.,

München 2001, S. 277ff.)

S. 25f.

Künstler und Kunstwerk im höfischen System der Kommunikation

377

Abb. 230  Manufaktur der Gobelins nach Charles Le Brun: Die Audienz des Conde de Fuentes, 1660er Jahre, Mobilier National

wißheit lassen« (Nr. 3), »Abhängigkeit begründen« (Nr. 5), »Sich vor dem Siege über Vorgesetzte hüten« (Nr. 7), »Leidenschaftslos sein« (Nr. 8) etc.186 Hatte sich die höfische Gesellschaft der Renaissance über ihre Geselligkeit definiert, so traten deren ethische Implikationen zunehmend in Kontrast zu den faktischen Gegebenheiten einer machiavellistischen Machtpolitik und Missachtung der christlichen Ethik.187 Grundlegende Prämisse der Staatstheorie und Zeremonialwissenschaft des Absolutismus war nicht die Sozialität, son-

dern die schon von dem Apostaten Machiavelli unterstellte zu bändigende Wolfsnatur des Menschen. Grenzen der Kunstrezeption, nämlich die strikte Beschränkung der Kunstwerke im Zeremoniell auf die Funktion stummer Zeichen herrscherlicher Magnifizenz, zeigen deutlich Tapisserien aus der von Charles Le Brun entworfenen Folge der Histoire du Roy.188 Eine von ihnen vergegenwärtigt die Audienz des Botschafters Fuentes (Abb. 230), die am 24. März 1662 im Grand cabinet du Roi im Louvre vonstattengegangen war.

186

Gracián 1993. Mauser betont: Graciáns »Anweisungen zu klu-

187 Ebda.

gem Verhalten setzten eine intellektuell-praktische Dynamik

188 Zu

378

dieser siehe Fabian Stein: Charles Le Brun. La tenture de

des Politischen in Gang, die angesichts der Zerrüttung der alten

l’Histoire du Roy. Worms 1985; Wolfgang Brassat: »Les exploits

Machtstrukturen und der Erschütterung des bewährten Herr-

de Louis sans qu’en rien tu les change«. Charles Perrault, Charles

schaftsethos vor allem dem Bedürfnis der Selbstbeherrschung

Le Brun und das Historienbild der »Modernes«. In: Stefan Ger-

folgte«. (Mauser 1989, S. 15.)

mer/Michael Zimmermann (Hrsg.): Bilder der Macht/Macht

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

Abb. 231  Manufaktur der Gobelins nach Charles Le Brun: Die Audienz des Kardinallegaten Chigi, 1660er Jahre, Mobilier National

Nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung um die Präzedenz zwischen dem französischen und dem spanischen Botschafter bei einem Festakt in London im November 1661 hatte Ludwig XIV. Philipp IV. mit Krieg gedroht und eine Entschuldigung und Anerkennung des Vorrangs der französischen Dynastie verlangt. Bei dem in der Tapisserie repräsentierten Staatsakt kam der Conde de Fuentes vor den geladenen Botschaftern weiterer Staaten diesen Forderungen nach. Ludwig XIV. hat in seinen Memoiren betont, dass er mit dieser von der spanischen Krone erwiesenen Huldigung, »die unseren Feinden keinen Zweifel mehr darüber läßt, daß die unsrige die erste der ganzen Chris-

tenheit ist«,189 etwas erreicht habe, was seine Vorgänger nicht einmal zu hoffen gewagt hätten, und er rechtfertigte die Kriegsdrohung als angemessenes Mittel im Dienste der gloire des Staates. Die Kunstwerke, welche die Tapisserie als Dekor des Großen Kabinetts des Königs vergegenwärtigt, darunter Annibale Carraccis Die Jagd und Der Fischfang (Paris, Louvre),190 erhalten in ihrer Darstellung eine nur fragmentarische Präsenz. Von einer Kopie des Apolls von Belvedere und der Diana von Versailles sind am linken Bildrand tatsächlich nur die Beine zu sehen. Diese auf die Suggestion momentaner Gegenwärtigkeit und den »effet de réel« (Roland Barthes) zielende Ausschnitthaf-

der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts.

nen Mémoires. In: Ders. (Hrsg.): Absolutismus. Frankfurt/M.

München/Berlin 1997, S. 125–139; Brassat 2003, S. 349–396.

1986, S. 107.

189

Zit. n. Carl Hinrichs: Die Selbstauffassung Ludwigs XIV. in sei-

190

Diese beiden Gemälde kamen tatsächlich erst 1665 als Geschenk

Künstler und Kunstwerk im höfischen System der Kommunikation

379

tigkeit bezeugt zugleich die eingeschränkte Geltung der Artefakte im Staatsakt. Ausdrücklich ist diese in dem gebannt zu den Protagonisten blickenden Zuschauer am rechten Bildrand veranschaulicht, der sich gedankenverloren auf eine Prunkvase von Veaucourt stützt. Nur eine der Skulpturen ist vollständig zu sehen, nämlich die auf einem hohen Postament stehende Büste der Athene (Minerva), der Göttin der Weisheit und der Kriegskunst. Pointierter noch ist der genannte Sachverhalt in der Tapisserie mit der Darstellung der Audienz des Kardinallegaten Chigi (Abb. 231) zum Ausdruck gebracht. Dieser verlas am 28. Juli 1664 in der Chambres du Roi im Schloss von Fontainebleau die von Ludwig XIV. unter Kriegsandrohung geforderte Entschuldigung Papst Alexanders VII. In der Darstellung der Tapisserie verdeckt ein gebannt den Worten des Legaten folgender Aristokrat am linken Bildrand mit seiner rechten Hand das Gesicht der Karyatidenfigur eines silbernen Guéridons von Bonnaire. Es ist dies eine scheinbar unbedachte ›Entstellung‹ des Kunstwerks, welche – in diesem Fall noch gesteigert durch die Missachtung des ästhetischethischen Fundamentalmaßstabs der Unversehrtheit der menschlichen Gestalt – abermals die Bedeutung des zeremoniellen Aktes akzentuiert. Augenscheinlich erfahren die Kunst und die Geselligkeit ihre Grenzen, wenn es die Staatsräson gebietet. In Chantelous Schrift zeigt sich dies in der marginalen Stellung, die dem Künstler wiederholt bei hohen Anlässen zugewiesen wird. Nicht viel Aufhebens macht man von ihm, wenn er bei dem Manöver und der Truppenparade des Königs in Colombes zuschauen darf (13. Juli). Auch beim Besuch in Versailles und ähnlichen Anlässen kommt es nur zu kurzen Begegnungen. Ohne-

Berninis Täuschungen der Kritiker

Die höfische Gesellschaft hat einen spezifischen Künstlertypus hervorgebracht, der als Cortegiano und Organisator ebenso versiert sein musste wie in seinem eigenen Fach. Sensible Intellektuelle hatten in diesem Milieu wenig Chancen, wie bereits Castigliones Spott über einen vorzüglichen, freilich allzu grüblerischen und zerstreuten Maler zeigt, mit dem zweifellos Leonardo da Vinci gemeint war.192 Anders als dieser, Nicolas Pous-

des Don Camillo Pamphilii in den Besitz Ludwigs XIV. (Stein

und neuartige Hirngespinste, daß er sie mit seiner ganzen Male-

1985, S. 36f.)

rei nicht darzustellen vermöchte. Derartige Menschen gibt es

191 Siehe

192

hin findet der Kontakt zwischen König und Künstler zumeist in den Mußestunden der Mittagszeit statt. Dass Ludwig XIV. während einer Ministerratssitzung, bei der Bernini ihn zeichnen darf und anzusprechen die Kühnheit hat, italienisch antwortet, ist dagegen ein außerordentlicher Gunstbeweis (28. Juni). Die Bedeutung dieses Wortgeschenks lässt sich angesichts der Zwänge ermessen, denen gemäß Chantelou den in Frankreich angekommenen Künstler nahe Juvisy mit einer französischen Rede begrüßt hatte, wissend, dass dieser kein Wort verstand (2. Juni). Erst danach, als beide in der Colbertschen Karosse Platz genommen haben, darf er die Aufwartung in italienischer Sprache wiederholen. Das Journal ist ein reiches Dokument des höfischen Zeremoniells, seiner Hybridformen, wie der Rituale der Aufwartung und Verabschiedung, der Besuche und Gegenbesuche, der gebotenen Ehrerbietungen für jedermann, der am Hof eine Rolle spielt, und seiner von Norbert Elias beschriebenen Funktion eines flexiblen Machtinstruments.191

Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Frankfurt/M.

unzählige.« (Castiglione 1986, S. 163.) Castiglione hatte Leo-

1983, bes. S. 120–177 sowie die Ausführungen zum »Königsme-

nardo während ihrer gemeinsamen Zeit am Mailänder Hofe der

chanismus« in Elias 1976, Bd. 2, S. 222–278.

Sforza kennengelernt. Sein Vorwurf wird zum Topos bei Vasari,

Castiglione: Cortegiano, II, 39: »Einer unter den ersten Malern

der Paolo Uccello, der seinen ehelichen Pflichten nicht nach-

der Welt verachtet die Kunst, in der er einzigartig ist, und be-

kommt, Leonardo, dem bäuerischen Bandinelli, dem grübleri-

ginnt Philosophie zu treiben; in ihr hat er so seltsame Begriffe

schen Pontormo, Parmigianino, der sich zu sehr für Alchemie

380

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

sin und zahlreiche weitere auf diesem Parkett Gescheiterte, hatte sich Bernini in Rom als Gentiluomo und machtbewusster Organisator im System der höfischen Kommunikation bestens behauptet. Doch die Voraussetzungen in Paris waren andere. Und so ist das Bild, welches das Journal von dem zum dortigen Aufenthalt Gezwungenen gibt, eigentümlich gebrochen. Durchaus arrogant betrachtet er die Kunst der Franzosen, die seines Erachtens »arrangierte, kleinliche Sachen, wie die Kunst der Ordensleute (… on en veut de plus ajustées et plus petites, comme sont les ouvrages des religieuses)«,193 lieben, und verprellt so wiederholt seine Gastgeber (z. B. am 15. Sept.). Immer wieder vertritt Bernini apodiktisch das Exzellenzprinzip, z. B. wenn er erklärt, unter den 200 Malern in Rom seien nur drei oder vier in der Lage, die Qualität von Gemälden zu beurteilen (3. Okt.), oder über ein in der Kirche der Karmeliterinnen schlecht präsentiertes Gemälde Guido Renis sagt, es sei so viel wert wie halb Paris (16. Juli). Nur kurz inspiziert und misst er den Bauplatz des Louvre aus und erklärt später, für die Raumdisposition des Erdgeschosses sei nicht er, sondern der Generalquartiermeister zuständig (6. Okt.) und um die Frage, ob man Mörtel oder Putz verwenden solle, könne er sich nicht kümmern, schließlich könne der König ja auch nicht jeder verarmten Witwe Audienz gewähren (19. Juli). Er bemüht sich, es mit Humor zu nehmen, dass er den Spitzkragen der Königsbüste eigenhändig ausführen muss (22. Sept.). In den Gesprächen über das Louvre-Projekt schreit er Perrault und sogar in offiziellen Sitzungen Colbert an (6. u. 18. Okt.). Darin zeigt sich zugleich die Überlastung des 66-Jährigen, der nach Porträtsitzungen mit dem König

wiederholt völlig ermattet ist (21. Aug., 11. Sept.) und, nachdem er am 5. Oktober die Königsbüste für vollendet erklärt hat, seine kurze Rede an den König abbrechen muss, weil er gerührt in Tränen ausbricht.194 Eine besondere Qualität des Journals besteht darin, dass es die Entstehung der Königsbüste und der Louvre-Entwürfe im Spiegel eines ergebnisoffenen Prozesses der höfischen Kommunikation darstellt. Nicht weniger wichtig als das Werk selbst sind der Vorgang seiner sprachlichen Vermittlung, die Notwendigkeit, es maßgeblichen Personen nahezubringen, und der Kampf um seine Deutungshoheit. Bereits das Faktum seiner Reise unterliegt solchen Zwängen, bedarf der Darstellung »zum Besseren hin«,195 wie Berninis wiederholte Beteuerungen zeigen, er habe sie nicht aufgrund des Befehls des Papstes, sondern aus freien Stücken gemacht: Sie sei Ausdruck seiner Bewunderung des jungen Königs (2 Aug.).196 Im Sinne der geläufigen Dedikationspraxis, den Herrscher gewissermaßen zum Co-Autoren des Werks zu machen, indem man ihm besondere inspirative Fähigkeiten zuschreibt,197 involviert der Künstler Ludwig XIV. geschickt in die Louvre-Planung: Vor großem Gefolge legt er ihm einen Fassadenentwurf mit zwei alternativen Substruktionen vor, der König entscheidet sich für die bessere Lösung (20. Juni), was einen selbst in Fachkreisen ungewöhnlichen Sachverstand beweise, wie der Künstler auf der Stelle und fortan immer wieder beteuert (30. Juli, 28. Sept.).198 Kritisch sollte Saint-Simon dieses bei Hofe übliche Verfahren der dissimulatio, dem Herrscher insinuierend eigene Vorstellungen nahezubringen, bedenken, nämlich schildern, wie der

interessiert, u. a. Versponnenheit und vielfach auch mangelnde

rer de telle sorte qu’il lui a été impossible de parler davantage, et

Geselligkeit vorwirft. Zum Anforderungsprofil des Hofkünstlers

s’est retiré.«

siehe Warnke 1989, S. 224–307. 193 Schneider/Zitzlsperger

2006, S. 200; Chantelou 2001, S. 222.

195

Ebenso wirft er den französischen Malern eine »kleinliche, trübe, minutiöse Malweise (une manière petite, triste et menue)«

zu solchen korrektiven Maßnahmen der Image-Wahrung

Goffman 1986, S. 24ff. 197

vor, die man durch das Studium der Antike, insbesondere des

194

Aristoteles: Poetik, 25, 1461b.

196 Vgl.

Vgl. Warnke 1985, S. 191ff.; Ulrich Pfisterer: Malerei als Herrschafts-Metapher. Velázquez und das Bildprogramm des Salón

Apolls von Belvedere, korrigieren könne. (Schneider/Zitzlsper-

de Reinos. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 29,

ger 2006, S. 154; Chantelou 2001, S. 177.)

2002, S. 199–252.

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 202; Chantelou 2001, S. 224: »[…] et finissant ces paroles qu’il a mal prononcées, il s’est mis à pleu-

B erninis Täuschungen der Kritiker

198

Später erklärt Bernini im Gespräch mit Colbert zum Kunstverstand des Königs, »er habe noch nie ein solches Naturtalent ge-

381

Architekt Hardouin-Mansart mit solchen Mitteln den ahnungslosen König getäuscht habe.199 Da die Königsbüste (Abb. 228) unter den Augen der Hofgesellschaft entstand, ist es nicht erstaunlich, dass Bernini einerseits deren Kritik beherzigte, andererseits alles in seiner Macht Stehende tat, um die Meinungsbildung über seine Arbeiten zu steuern. So kritisiert am 22. Juli der Marquis de Bellefonds die freie Stirn des Königs und möchte sie reich gelockt sehen – offenbar trägt er dem Künstler von höherer Stelle die Erwartung zu, die Büste möge eine an Alexander d. Gr. erinnernde Physiognomie und Frisur aufweisen.200 Doch Chantelou und Bernini widersprechen dem mit dem Hinweis auf die Natur der Kunst, der man sich fügen müsse. Am 29. Juli aber entdeckt Chantelou in der Mitte der Stirn eine neue Locke. Bernini hat sich der Kritik des Marquis gefügt, was er, darauf angesprochen, offenbar zerknirscht mehr oder weniger konzediert.201 Am 3. September bittet er Chantelou dann vertraulich, den König auf die gelungene, in Marmorarbeiten so schwierige Gestaltung der Locken aufmerksam zu machen, was er selbst anständigerweise nicht tun dürfe. Dass Bernini sich über die am Hof entscheidende Macht der Leumundbildung keine Illusionen erlaubte, zeigt ein Gespräch am 12. Juni, bei dem er eine in An-

betracht seines üblichen Rigorismus bemerkenswerte Äußerung macht, nämlich den Topos von der Relativität ästhetischer Urteile anspricht: Es gebe in der Kunst nichts Allgemein-Gefälliges, denn die Menschen seien allzu verschieden veranlagt, und man könne nicht die ganze Welt über einen Leisten schlagen.202 Sodann erzählt er von einem Epigramm, mit dem Kardinal Maffeo Barberini, der spätere Papst Urban VIII., eine Kritik des Kardinals de Sourdis an der Sinnlichkeit des nackten Mädchenleibes seiner Apoll-und-Daphne-Gruppe entwaffnete: »mit zwei Zeilen sei Abhilfe geschaffen«, habe er entgegnet und aus dem Stegreif die Moral des Werkes in Reime gefasst:

sehen« (Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 209; Chantelou 2001,

Simon meinte, sich in diesem Fall tatsächlich ahnungslos täu-

S.  232), kurz darauf aber äußert er gegenüber Chantelou: »Ich

schen ließ.

zweifle, ob er von Kunst etwas versteht.« (»Je doute qu’il les [les

»Quisquis amans sequitur fugitivae gaudia formae, Fronde manus implet, baccas seu carpit amaras. (Welch ein Genuss, dem wir hinterherlaufen: Entweder erreicht man ihn nie, oder, wenn man ihn erreicht, schmeckt er bitter.)«203

Bereits am 9. Juni hatte Bernini vor dem Nuntius und dem venezianischen Gesandten seine Considerazioni über das Louvre-Projekt verlesen. Später prägt er das alsbald geflügelte paradoxe Wort: »Seine Majestät hat den Louvre zerstört, da sie ihn erhalten wollte«,204

200 Zur

charakteristischen ànastolé des Haares, die als Zeichen lö-

belles choses] connaisse encore.«) (Schneider/Zitzlsperger 2006,

wenhafter Natur geltenden hervorstehenden Locken über der

S. 213; Chantelou 2001, S. 237.)

Stirn, siehe Tonio Hölscher: Ideal und Wirklichkeit in den Bild-

199 »Die

Geschicklichkeit Mansarts bestand darin, den König in

scheinbar nicht tief einschneidende Vorschläge in große und

nissen Alexanders des Großen. Heidelberg 1971, S. 25–31, bes. S. 28. 201

Vgl. Philipp Zitzlsperger: Gianlorenzo Bernini. Die Papst- und

langwierige Unternehmungen zu verstricken und ihm, beson-

Herrscherporträts. Zum Verhältnis von Bild und Macht. Mün-

ders für die Gärten, halbvollendete Pläne vorzulegen, die den

chen 2002, S. 117ff, bes. S. 119 mit dem Hinweis auf den von Ber-

König ganz wie von selbst auf den von Mansart gewünschten

nini gefundenen Kompromiss. Fraglich ist, ob Domenico Berni-

Weg leiteten. Alsdann beteuerte der Architekt, daß er niemals

nis Behauptung, die von seinem Vater zunächst vorgesehene

auf den glücklichen Gedanken gekommen wäre, den der König

Lösung der freien Stirn habe am französischen Hof die Frisuren-

ihm da vorschlug; er brach in Bewunderung aus, versicherte,

mode Accomodatura Bernina hervorgerufen (ebda., S. 117), tat-

daß er neben dem König nur ein Schüler sei, und brachte ihn auf

sächlich wahr ist. Der Verdacht drängt sich auf, dass Domenico

diese Weise dahin, wo er ihn haben wollte, ohne daß der König

vielmehr mit dieser Geschichte einen Prestigeverlust seines Va-

die geringste Ahnung davon hatte.« (Zit. n. Christopher Hibbert: Versailles. Wiesbaden 1975, S. 41.) Da solche Verfahren der dissi-

ters vergessen machen wollte. 202

»Le Cavalier parlant des différents gou˘ts qu’on a pour les choses,

mulatio fester Bestandteil der höfischen Verhaltensnormen

et de ce qu’il ne se voit vieu qui ait une approbation générale, il

waren, ist nicht anzunehmen, dass Ludwig XIV., wie Saint-­

a dit que la différence des esprits en est la cause, qu’il faudrait

382

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

das er den Kommandeur de Souvré, einen Intimus des Königs, diesem zuzutragen bittet (2. Aug.). Auch seine Mitarbeiter und Fürsprecher legen sich für seine Sache ins Zeug. So tragen Mattia und die Abbés Butti und Tallemand wiederholt Lobgedichte auf den Künstler und seine Werke vor, die der König sogleich aufschreiben und übersetzen lässt (9. Sept.). Am 11. Juli schreibt Chantelou, die bevorstehende Begutachtung der Louvre-Hofansicht durch den König antizipierend, an JeanBaptiste Colbert, den Surintendant des bâtiments, er nehme sich die Freiheit, ihm im Voraus mitzuteilen, »[…] daß der Entwurf zwar schlicht sei und außer der Säulenstellung keine Verzierung aufzuweisen habe, daß aber diese allein so reich, pompös und majestätisch wirke, wie nichts auf Erden sonst. Man müsse neue Worte erfinden, um solche Schönheit auszudrücken.«205

Während Chantelou dem Künstler wiederholt den Rat gibt, noch dieser und jener wichtigen Person die Aufwartung zu machen und öfter die Akademie aufzusuchen, wird er selbst am 7. September, als die Dinge schlecht stehen, von Bernini ermahnt, sich beim Diner oder Souper des Königs einzufinden und der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen.206 Dies lässt an Die von der Zeit enthüllte Wahrheit denken, eine um 1646–52 für sein Haus geschaffene Skulptur, mit der Bernini sich gegen vermeintliche Verleumdungen zur Wehr setzte, nachdem der unter seiner Leitung erbaute Glockenturm von St. Peter Risse in der Fassade hervorgerufen hatte und abgetragen werden musste.207

Während Bernini und seine Entourage um seine Anerkennung kämpfen, loben ihre Gegner Konkurrenzwerke und streuen böse Gerüchte, wie der Herr von Princé, der behauptet, der Künstler habe vor der Büste abfällig vom Gesicht des Königs gesprochen, nämlich wörtlich gesagt: »Questo è bello; nell’originale, questo vero è brutto«,208 was Chantelou und später auch Bernini energisch bestreiten. Dennoch zieht der Künstler Zorn auf sich, da er sich oft nicht genug informiert und viele Personen mit abfälligen Äußerungen brüskiert. Als er den Marschall von Gramont, wie auch Chantelou bemerkt, ohne die gebotene Höflichkeit empfängt, erklärt dieser denn auch unumwunden, »er sei überzeugt, daß die Büste nicht die ›aura populare‹ finden werde. Der Cavaliere habe für nichts ein lobendes Wort übrig, was man ihm heimzahlen werde (que l’on le lui rendait).«209 Noch schwieriger stehen die Dinge bei den Entwürfen für die Louvre-Fassade: Zu einem Eklat kommt es am 6. Oktober, als Perrault an diesen Kritik vorbringt und Bernini ihn zurechtweist, in praktischen Belangen würde er auf seinen Rat hören, aber »[i]n diesem Punkt sei er nicht würdig, ihm die Schuhriemen zu lösen.«210 Unerhört sei dieses Verhalten: »Einen Mann wie mich so zu behandeln, dem der Papst Ehre und Achtung zollt […]. Ich beklage mich beim König. Und wenn’s mein Leben kostet – morgen reise ich ab. Einen Hammer sollte ich nehmen und die Büste entzweischlagen, wo man mir nichts als Geringschätzung entgegenbringt. Sofort gehe ich zum Herrn Nuntius.«211

qu’il n’y en eût que d’une sorte pour faire qu’une chose plût à

Chantelou später erklärt: »Der Cavaliere hat nichts am Louvre

tout le monde«. (Chantelou 2001, S. 57; Schneider/Zitzlsperger

geändert, denn er hat alles geändert.« (Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 140; Chantelou 2001, S. 164.)

2006, S. 27.) 203 Schneider/Zitzlsperger

2006, S. 28; Chantelou 2001, S. 57. Eine

205

Qualität des Journals liegt darin, dass in ihm im Gegensatz zu

206

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 138f.; Chantelou 2001, S. 162f.

zahllosen publizierten Epigrammen, deren kunsthistorischer

207

Siehe Sarah McPhee: Bernini and the Bell Towers. Architecture

Quellenwert in der Regel eher gering ist, stets der situative Bezug

204

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 46; Chantelou 2001, S. 74.

and Politics in the Vatican. New Haven/London 2002, S. 165–189.

mit dargestellt ist, in dem solche tatsächlich oft sorgsam vorbe-

208

reitete Stellungnahmen vorgetragen wurden.

209

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 192; Chantelou 2001, S. 214.

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 75; Chantelou 2001, S. 102. Man

210

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 207; Chantelou 2001, S. 229.

beachte die Freude an der paradoxen Zuspitzung, mit der auch

211

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 207; Chantelou 2001, S. 230.

B erninis Täuschungen der Kritiker

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 128; Chantelou 2001, S. 152.

383

Nachdem man nach diesem Vorfall die Wogen einigermaßen glätten konnte, kommt es am 18. Oktober zu gewaltigen Spannungen zwischen Colbert und Bernini. Als sie mittags alleine sind, sagt der Surintendant zu Chantelou: »Der Cavaliere ist ein rechter Hitzkopf.«212 Und Bernini beschwert sich am Abend bei diesem, Colbert behandle ihn wie einen kleinen Jungen: »M. Colbert wolle den Fachmann spielen und habe vom Bauen keine Ahnung. Er sei ein echter Blödmann« (wörtlich: »un vrai couillon«!) und wolle ihn, wie er bereits seit Tagen registriere, zu einer »mala creanza« (Anstandslosigkeit) verleiten.213 Hat sich Bernini in der Frage der Stirnlocke dem Anstoß des Marquis de Bellefonds gefügt, so verstand er es zugleich, Kritiker ins Leere laufen zu lassen. Nachdem am Vormittag des 25. Septembers der Herzog von Mortemart und der Präsident Tambonneau gekommen waren, um seine Arbeiten zu kritisieren, erklärt später der Künstler Robert Nanteuil dem Attaché vertraulich, bei der Büste sei die linke Wange zu dick und die Pupillen blickten nicht in dieselbe Richtung. Er bittet Chantelou, dies Bernini als eigene Beobachtung zuzutragen, ohne seinen Namen zu erwähnen. Tatsächlich aber hatte Bernini diese Mängel zweifellos vorsätzlich belassen, denn beim großen Aufzug des Königs fünf Tage später entfernt er flugs die Schwellung des linken Nasenflügels, wie Chantelou schrieb, und verändert die Position der Augensterne. Bei diesem Anlass werden die Kritiker abermals in die Irre geführt, als Chantelou auf die Frage des Königs sicherlich in bestem Glauben erklärt, an der Büste solle nichts poliert werden (30. Sept.). Zwei Tage später aber sieht er, wie Bernini die Gesichtspartien mit Bimsstein und Leinwand zum Glänzen bringt. Am 5. Oktober muss der Cavaliere dann nur noch des Königs Blick studieren, mit Kreide die Position der Pupillen markieren und nach dieser eleganten Geste die Büste für vollendet erklären. Man habe Raffael nachgesagt, so hatte der Cavaliere

bei seinem Akademiebesuch am 5. September erklärt, seine Werke seien soviel besser als andere, weil ihm seine Freunde Bembo und Castiglione mit ihrem Wissen und Esprit geholfen hätten (qui l’avaient aidé de leur savoir et de leur esprit).214 Annibale Carracci habe sich dafür ausgesprochen, Werke sofort auszustellen (l’exposer en public), damit ihre Fehler zur Sprache gebracht und verbessert werden könnten (aussitôt pour en savoir les deffauts … afin de les corriger).215 Hinter diesen Äußerungen stand der alte Rat, man solle sich bemühen, Kritiker zu vernehmen, ohne von ihnen bemerkt zu werden, wie dies schon Apelles getan haben soll.216 Eine neue Prägung bekam dieser Topos mit der Vecchiarella-Anekdote, nach der Annibale an der Reaktion eines alten Mütterchens erkannt habe, welches der beiden Fresken von Guido Reni und Domenichino im Oratorio di Sant’Andrea in Rom das bessere sei.217 Doch hinter Berninis Äußerungen und seinen Bemühungen, seinen Werken Zuspruch zu verschaffen und Kritiker zu irritieren, stand vor allem die Erfahrung, dass das Kunstwerk bei Hofe stand und fiel mit den Prozessen seiner sprachlichen Vermittlung und einer launischen Meinungsbildung. Nicolas Poussin hatte ­darauf mit dem antizipierenden Mittel einer strikten Bildregie reagiert, mit der »Tendenz zur totalen Durcharbeitung und Mikrokosmosstruktur«,218 mit der er freilich auch der doctrine classique den Weg bahnte, und den Anweisungen, die er in Sorge um eine angemessene Rezeption seiner Gemälde Chantelou per Brief mitteilte. Nach seinem Aufenthalt am Hof Ludwigs XIII. lebte er zurückgezogen in Rom, obwohl dort nach dem Tod Papst Urbans VIII. eine ausgesprochen frankophobe Stimmung herrschte219 und er nur durch ferne Mäzene wie Chantelou ein Auskommen fand. Im hellen Licht der Zentren der Macht aber stand der ewig junge Bernini, der sich nach vollbrachter Tat verärgert sträubte, die ausgehändigten Honorare nachzuzählen,220 und Tage später erleichtert nach Hause fuhr.

212

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 246; Chantelou 2001, S. 268.

216

Plinius: Naturalis historia, XXXV, 84; Alberti, De pictura, (III) 62.

213

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 246; Chantelou 2001, S. 268f.

217

Siehe oben, S. 281f.

214

Chantelou 2001, S. 156; Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 132.

218

Kemp 1992a, S. 411.

215

Chantelou 2001, S. 156; Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 132.

219

Nach dem Tod des frankophilen Papstes Urban VIII. am 29. Juli

384

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

Manufakturisierung der Kunstproduktion

Der Pariser Aufenthalt des Cavaliere stand unter keinem guten Stern. Er wurde dort »mit den ranghöchsten Aufgaben der monarchischen Repräsentation betraut – mit der Vollendung der Königsresidenz in der Hauptstadt sowie mit einer Büste und einem Reiterdenkmal für Ludwig XIV.«221 Doch auf die Königsbüste sollte der Hofbildhauer Jean Varin mit einem vergleichsweise mediokren, gleichwohl am Hof erfolgreichen Konkurrenzwerk reagieren und das Reiterstandbild für die Place Royale, die heutige Place Vendôme, das Bernini 1685 liefern sollte, wurde von François Girardon zu einer Darstellung des römischen Helden Marcus Curtius umgearbeitet und hernach in den Park von Versailles verbracht.222 Auch Berninis Pläne zum Umbau des Louvre, dessen Grundsteinlegung noch am 17. Oktober 1665 in Anwesenheit des Königs und des Künstlers erfolgt war,223 wurden mit dem Krieg gegen die Niederlande aufgegeben und nach dessen Ende durch einen triumphalen Neuentwurf ersetzt.224 Dieses Scheitern Berninis war vor allem darin begründet, dass sich während seines Aufenthalts in Paris eine Opposition französischer Hofkünstler gegen ihn formierte, mit deren Widerstand wohl weder der König, noch Colbert oder weitere Mitglieder der Kunstadministration gerechnet hatten.225 Während der Cavaliere es in Rom gewohnt war, als Gentiluomo, päpstlicher Hofkünstler

und ingeniöser Inventor seiner Werke verehrt zu werden, wurde er in Paris konfrontiert mit den neuen In­ stitutionen der Hofkunst, die einer hochgradig arbeitsteiligen Kunstproduktion dienen sollten. Diesen ging es nicht um individuelle, ingeniosita und fantasia bezeugende künstlerische Leistungen, sondern um die planerische raison und handwerkliche précision226 der ge­ waltigen Produktion sämtlicher Luxusgüter für den Hofbedarf (vgl. Abb. 232). Und so wurde Berninis ParisAufenthalt offenbar zum Anlass für eine präzisere Bestimmung der Ziele und Mittel der Hofkunst Ludwigs XIV., die konsequent den Weg eines klassizistischen Gegenentwurfs zum römischen Barock beschreiten sollte, und für ihre polemische Abnabelung von der italienischen Tradition. 1667 wurden in den Sitzungen der Académie Royale de peinture et de sculpture neue »preceptes & maximes« mit dem Anspruch festgelegt, einer niemals zuvor praktizierten Manier den Weg zu bahnen.227 1668 veröffentlichte Charles Perrault, der Sekretär der Petite Académie, sein Gedicht La Peinture, in dem er die Kunst Charles Le Bruns, des geadelten Sieur de Thionville, Premier peintre du Roi, Generalaufsehers der königlichen Sammlungen, Rektors und Kanzlers der Académie royale de peinture et de sculpture und Direktors der Gobelin-Manufaktur, als Höhepunkt der gesamten Kunstgeschichte rühmte.228 Rund zehn Jahre später konnte im Pariser Journal des Sçavants vom 7. Dezember 1676 der Rezensent der 1672 erschienenen, Colbert dedizierten Künstlerviten Giovan Pietro Bello-

1644 und der Flucht der Barberini waren die französischen

The Vicissitudes of a Dynastic Monument: Bernini’s Equestrian

Künstler in Rom ständigen Anfeindungen ausgesetzt und keiner

Statue of Louis XIV. In: Millard Meiss (Hrsg.): De Artibus Opus­

von ihnen erhielt mehr öffentliche Aufträge. Charles Le Brun

cula XL. Essays in Honor of Erwin Panofsky, Bd. 1, New York 1961,

nahm dies als Rechtfertigung, gegen die Weisungen seines För-

S. 497–531.

derers, des Kanzlers Séguier, eilig nach Paris zurückzukehren.

223

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 240ff.; Chantelou 2001, S. 263ff.

(Charles Le Brun 1619–1690. Peintre et Dessinateur. Sous la di-

224

Erben 2006, S. 359.

rection de Jeanine Fricker, Ausst.-Kat. Versailles, Musée national

225

Ebda., S. 364.

du Château de Versailles et des Trianons, Paris 1963, S. XXXXVII;

226

Ebda., S. 374f.

zu Le Brun zuletzt: Wolf Burchard: The Sovereign Artist: Charles

227

»[…] une maniere qui n’a jamais esté pratiquée ailleurs«. [André

Le Brun and the Image of Louis XIV. London 2016.)

Félibien des Avaux: Conférences de l’Académie royale de pein-

220

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 253; Chantelou 2001, S. 276.

ture et de sculpture (1669). Nachdruck hrsg. v. Theodore Bester-

221

Dietrich Erben: Erfahrung und Erwartung: Bernini und seine Auftraggeber in Paris. In: Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 359.

222 Ebda.,

S. 359f. Zur Königsstatue siehe auch Rudolf Wittkower:

M anufakturisierung der Kunstproduktion

man, Portland, OR 1972, Preface – nicht paginiert.] 228

Charles Perrault: La Peinture. Edition présentée, établie et annotée par Jean-Luc Gautier-Gentès, Genf 1992.

385

Abb. 232  Manufaktur der Gobelins nach Charles Le Brun: Der Besuch des Königs in den Gobelins, 1660er Jahre, Mobilier National

ris bereits darauf hinweisen, dass diese mit der Biographie Poussins enden, was zeige, »daß Frankreich in den schönen Künsten an Vollkommenheit Italien in nichts nachstehe«.229 Charles Perrault sollte dann in der Parallèle des Anciens et des Modernes an Le Bruns Les Reines de Perse aux pieds d’Alexandre (Abb. 229) die den Werken der Antike und der italienischen Renaissance vermeintlich überlegenen Qualitäten der zeitgenössischen französischen Malerei preisen. Mit dem clair-obscur, einer verbesserten Perspektivwirkung und einer konsequenteren Einheit von Raum und Zeit sei eine Modernisierung der Darstellungsmittel gelungen.230 Die neue perspective aerienne übertreffe die Werke von Raffael

und Veronese und erst recht die antiken Gemälde mit ihrer buntfarbigen, bloßen »mélange des couleurs«.231 Während die Malerei der Antike auf die Sinne und die der Renaissance auf das Herz eingewirkt hätten, vereinten die Gemälde Le Bruns diese Eigenschaften und sprächen zudem den Verstand an.232 Damals verkündeten auch die Organe der Hofberichterstattung und die Publikationen zu den Ausstellungen der königlichen Akademie, die antike Blüte der Kunst erfahre in Paris ihre Erneuerung, ein neues Rom, das den Tiber vergessen lasse, entstehe an der Seine usw. Die französische Hofkunst wurde in den 1660er Jahren in einen gewaltigen Manufakturbetrieb umgewan-

229 Zit.

n. Sybille Ebert-Schifferer: Vom Seicento zum Grand goût.

230

Perrault 1964, S. 153ff. (I, 208ff.).

In: Die Galerie der Starken Frauen. La Galerie des Femmes For-

231

Ebda., S. 155 (I, 219).

tes. Ausst.-Kat. Düsseldorf, Kunstmuseum, Darmstadt, Hessi-

232 Ebda.,

sches Landesmuseum, München 1995, S. 79.

386

S. 154ff. (I, 212ff., 219ff.). Zum Widerstand der Anciens, der

Perrault bewog, schließlich doch Raffaels Heiligem Michael und der

D E U TU N GSPLU R ALISM U S U N D STA ATSRÄSON

delt. Tatsächlich war ja die 1663 offiziell gegründete Manufacture Royale des Tapisseries et Meubles de la Couronne ihr Zentrum und nicht nur in diesem wurde eine hochgradige Arbeitsteilung und Trennung von Kopfund Handarbeit praktiziert und damit künstlerischer Eigensinn unterbunden. Eine Tapisserie aus der Histoire du Roi vergegenwärtigt den Besuch des Königs in den Gobelins (Abb. 232), der seit dem Mai 1666 regelmäßig die Manufaktur aufsuchte, wovon Organe wie die Lettres en Vers und die Gazette berichteten.233 Die Darstellung zeigt einen Hof des Hôtel Royal des Gobelins, in dem die Künstler und Kunsthandwerker ihre Erzeugnisse dem König und seinem Gefolge präsentieren. An der rückwärtigen Mauer des Hofes hängt Le Bruns Kolossalgemälde der Schlacht am Granicus aus der Alexanderfolge. Während sein Blick auf den im Profil repräsentierten Colbert, den Spiritus Rector der Hofbetriebe, gerichtet ist, weist Ludwig XIV. mit dem Stab in der Rechten auf die ausgestellten Werke hin, die so als Produkte seiner kulturgenerierenden Magnifizenz ausgewiesen sind. Auch Bernini, der die neuen kulturpolitischen Anstrengungen Frankreichs skeptisch zur Kenntnis nahm, wurde die Gobelin-Manufaktur mit Stolz präsentiert. Erfüllt von großen Erwartungen, äußerte Colbert ihm gegenüber, er wünsche, der Italiener werde sehen, wozu man hier erst in vier oder fünf Jahren in der Lage sein werde.234 Der Surintendant betonte, dass sich hier selbst mittelmäßige Kunsthandwerker zu wahrer Meisterschaft aufgeschwungen hatten. Zum Beweis für die Qualität der Förderung des Künstlernachwuchses, der eine Schule unter dem Dach der Gobelins diente, präsentierte man Bernini später die Zeichnungen eines elfjährigen Stipendiaten nach Le Bruns Schlacht am Granicus.235 Dass die hiesigen produktionstechnischen sog. Heiligen Familie Franz’ I. einen »beau absolu« zuzugestehen,

233

Fortschritte und Rationalisierungen ein modernistisches Bewusstsein nährten, zeigen nicht zuletzt die Reflexionen über den technischen Fortschritt in den Dialogen der Parallèle des Ancien et des Modernes, in deren Verlauf der Abbé einen Trumpf für die Überlegenheit der Neuzeit ausspielt, einen mechanischen Webstuhl zur Herstellung von Seidenstrümpfen, der im Nu Bewegungen ausführt, für die eine geübte Hand eine Viertelstunde benötigt.236 Dieser liefert in der Parallèle den Beweis »für den Sieg der neuzeitlichen Metaphorik des Mechanischen über die ältere Metaphorik des Organischen« und für die »Ablösung der Inventio aus der Bindung an die Imitatio naturae«.237 Im Bereich der Malerei und Skulptur war seit den 1660er Jahren die sogenannte Petite Académie weisungsgebend, die 1701 den offiziellen Titel Académie royale des Inscriptions et Médailles erhielt. Entstanden, als 1663 Colbert vier Mitgliedern der Académie française die Verantwortung für die Inschriften öffentlicher Denkmäler übertragen hatte, konzipierte und überwachte sie als übergeordnete Instanz alle künstlerischen Unternehmungen zum Ruhme des Sonnenkönigs. Bereits im Sommer 1664 musste sich selbst Charles Le Brun bei der Konzeption der Histoire du Roi ihren Anweisungen beugen.238 Infolge dieser Durchsetzung einer arbeitsteiligen Produktion konnte sich kein Hofkünstler mehr als alleiniger Schöpfer eines Werks begreifen. Die Umstellung der französischen Hofkunst auf manufakturähnliche Produktionsweisen hatte weitreichende Folgen: Nicht nur in der französischen Malerei und Skulptur verlor das Einzelwerk im späten 17. und im 18. Jahrhundert an Bedeutung und wurden die homogene Raumausstattung und das Ensemble zu den maßgeblichen Orientierungsgrößen. 237

Ebda., S. 50. Bei Du Fresnoy und Roger de Piles findet sich dann

siehe Hans R. Jauß: Ästhetische Norm und geschichtliche Reflexion

auch die Auffassung vom Bild als einer Maschine. Zu dieser

in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹. In: Ebda., S. 53f.

siehe Hans Körner: Auf der Suche nach der »wahren Einheit«.

Brassat 1992, S. 138ff.; Brassat 2003, S. 357.

Ganzheitsvorstellungen in der französischen Malerei und

234

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 159.; Chantelou 2001, S. 182.

Kunstliteratur vom mittleren 17. bis zum mittleren 19. Jahrhun-

235

Schneider/Zitzlsperger 2006, S. 222; Chantelou 2001, S. 244.

dert. München 1988.

236

Hans R. Jauß: Ästhetische Norm und geschichtliche Reflexion in

238

Siehe Brassat 2003, S. 359ff.

der »Querelle des Anciens et des Modernes«. In: Perrault 1964, S. 49f.

M anufakturisierung der Kunstproduktion

387

KAPITEL VIII

388

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

DER HÖHEPUNKT UND AUSKLANG DER EPOCHE DER KONVERSATION

Der Höhepunkt und Ausklang der Epoche der Konversation Im 18. Jahrhundert trat der gesellige Müßiggang ins Zentrum des aristokratischen Selbstverständnisses. Wie schon Zeitgenossen beklagten, war die Zeit der »choses grandes« vorbei, und so definierte sich die Adelsgesellschaft, die den Hof überwiegend mied und in den Pariser Stadtpalästen und der demi-monde des Theaters zusammenkam, vorwiegend über ihren Kanon vornehmen Verhaltens. Dieser setzte sich ab von jeglicher bürgerlichen Professionalität und büßte in der Opposition gegen dieses Feindbild viel von seinem Anspruch einer allen Zwängen enthobenen Leichtigkeit ein. Sein Gestus einer heiteren Weltzugewandtheit nahm zuweilen eskapistische Züge an. Die paradoxen Vorzeichen des in den Salons herrschenden ›Zwangs zur Zwanglosigkeit‹ waren schon von der Mademoiselle de Scudéry formuliert worden, und unter dem Diktat der Konzilianz hatten im späten 17. Jahrhundert in der Theorie der Geselligkeit unter dem Begriff des Pikanten gerade die hintersinnige Aggression, verletzende Offenheit und Respektlosigkeit (badinage) an Bedeutung gewonnen.1 Infolge »eines zur Restriktion erstarrten konzilianten Respekts, eben weil im Etiketten- und Zeremonienwesen die Lüge überhandnimmt, wird aggressive Ehrlichkeit zum rekreativen Prinzip.«2 Dem Gebot der den ennui vertreibenden Kurzweil gehorchte

der beschleunigte Wandel der Moden, der Künste und auch der Konversation.3 Längst schon galt das Erzählen von Geschichten als langweilig und war das schlagfertige Bonmot die Orientierungsgröße des Konversationsverhaltens. Die Freundlichkeit, die leitende Maxime der Geselligkeit, wurde zunehmend durch Affekte der Erotik und der Aggression verdrängt.4 Wer im 18. Jahrhundert von amour redete, sprach auch von Sexualität.5 Deren neue Bedeutung resultierte aus Intimitäts- und Individualitätsansprüchen, die in dieser Zeit zahlreiche Verhaltensvarianten hervorbrachten, bevor die romantische Liebessemantik Einheitsformeln für Liebe, Sexualität und Ehe bereitstellen sollte. Luhmann konstatiert eine »Steigerung psychologischer und sozialer Sensibilität für Persönliches, die aber ihrerseits noch nicht zu einer bewahrenswerten Semantik kristallisiert«,6 zwei leitende antagonistische Verhaltensmuster, die »Forcierung der Frivolität und die Idealisierung des Sentiments«, die beide die Ausdifferenzierung der Liebe gegen moralische und Verstandeskontrollen vorantrieben, sowie die in der zweiten Jahrhunderthälfte aufkommende Tendenz, die Liebespassion als Natur darzustellen und in ihrem Namen gegen gesellschaftliche Konventionen aufzubegehren.7 Zugleich wurde den

1

Schmölders 1986, S. 32f.

Brüder Casanova. Künstler und Abenteurer. Berlin/München

2

Ebda., S. 33.

2013, S. 149ff.

3

Zu dieser siehe Peter Hess: Galante Rhetorik. In: HWRh, Bd. 3,

4

Schmölders 1986, S. 33.

S. 507–523; Thomas Borgstedt/Andreas Sollbach (Hrsg.): Der ga-

5

Luhmann 1984, S. 137ff.

lante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle.

6

Ebda., S. 137.

Dresden 2001; Antoine Lilti: Le monde des salons. Sociabilité et

7

Ebda., S. 139.

mondanité à Paris au XVIIIe siècle. Paris 2005; Roland Kanz: Die

389

neuen Individualitätsansprüchen aggressiv das Obszöne und Pornographische, d. h. das Allgemeine des Sexuellen, entgegengesetzt. Darin erwies sich der frivole Libertin als Parteigänger der aristokratischen Gemeinschaft und ihrer Geselligkeit, deren Auflösungstendenz seiner provokanten Amoralität zugleich eingeschrieben war.8 In den Künsten hat all dies reiche Spuren hinterlassen. In der Malerei und Graphik der Zeit stieg der Anteil erotischer Darstellungen gewaltig. Er umfasst berühmte Gemälde wie Bouchers Ruhendes Mädchen, die 1751 und 1752 entstandenen Akte der damals 14-jährigen Marie-Louise O’Murphy (Köln, Wallraf-Richartz-Museum; München, Alte Pinakothek), einer Schönheit, von der Giacomo Casanova berichtet, dass er sie entdeckt hatte, porträtieren und an den Hof vermitteln ließ,9 wo sie von 1753 bis 1755 als Maitresse Ludwigs XV. im Parc-aux-Cerfs in Versailles logieren sollte. Zu erwähnen ist auch Fragonards Die Schaukel (London, Wallace Collection), die von einem Bischof zum erotischen Vergnügen des adligen Auftraggebers in Gang gehalten wird, des Barons de Saint-Julien, der diesen pikanten Einfall vom Maler verewigt sehen wollte.10 Auch

8

9

in der galanten Kunst des Rokoko findet man zuweilen die Sexualsymbolik der gefangenen und toten Vögel, der umgestürzten oder zerbrochenen Krüge und auf ihre Öffnungen gerichteten Degen, von der die Niederländer des 17. Jahrhunderts ausführlich Gebrauch gemacht hatten. Mit der Libertinage der französischen Aristokratie, die sich über Ehen reproduzierte, aber dem Begehren weiten Entfaltungsraum zubilligte, scheinen solche Motive freilich seltener geworden zu sein. Und während die niederländische Kunst auf lebhafte Formen der geselligen Rezeption schließen lässt, wirkt die galante Kunst des 18. Jahrhunderts vielfach wie routiniert Erbrachtes, zugleich bezeugt sie gesellschaftliche Konflikte und Auflösungstendenzen. In der Konjunktur von Voyeursmotiven und eigentümlichen Formen der Distanzierung des Bildpersonals durch innerbildliche Rahmungen und Repoussoirmittel, wie sie in der erotischen und pornographischen Malerei und Graphik verbreitet waren (Abb. 233), manifestierten sich offenbar gleichermaßen der Wunsch nach intimer Nähe und einer Distanzierung der Umwelt sowie die gegenläufige Bestrebung, in Privatheit einzudringen und Intimes an den Tag zu bringen.11 In solchen Dar-

Der Libertin hält am klassischen Code der amour passion fest,

ziert das Aktgemälde, das nach Casanova von einem deutschen

der in der Tradition der mittelalterlichen Mystik und des Neu-

Maler angefertigt wurde, mit dem Gemälde L’académie particu-

platonismus die Selbstunterwerfung unter die Passion und »die

lère des Boucher-Schülers Gabriel de Saint-Aubin (ebda.,

volle Aufgabe der persönlichen Eigenart« verlangte: Man zeigt

S. 145ff.). Zu Marie-Louise O’Murphy siehe Camille Pascal: Le

seine Passion schlecht, wenn man sie zu beherrschen weiß.

Goût du roi: Louis XV et Marie-Louise O’Murphy. Paris 2006. Zu

(Ebda., S. 72f., 83.)

den Gemälden Bouchers siehe Paul Frankl: Boucher’s Girl on

»Mein Freund Patu wollte gerne eine Kopie dieses Porträts

the Couch. In: De artibus opuscula. XL Essays in Honour of E.

haben. Verweigert man das einem Freund? Der gleiche Maler

Panofsky. New York 1961, Bd. I, S. 138ff.; Madame de Pompadour.

fertigte sie an, ging nach Versailles und zeigte sie mit mehreren

L’Art e l’Amour. Ausst.-Kat. Musée National des Châteaux de Ver-

anderen Porträts Monsieur de St.-Quentin, der sie dem König

sailles et de Trianon, München, Kunsthalle der Hypostiftung,

vorführte; dieser wünschte zu sehen, ob das Porträt der Grie-

London, National Gallery, München 2002, S. 144 (Kat.-Nr. 43).

chin naturgetreu sei. Wenn das der Fall war, forderte der Mo­

10

Siehe Rees 1996, S. 125f.; Martin Schieder: Made in heaven. Die

narch sein Recht zu dem Urteilsspruch, das Original solle das

Kunst des Erfolgs von Jean-Honoré Fragonard. In: Fragonard.

Feuer löschen, das es in seinem Herzen entfacht habe.« [Gia-

Poesie & Leidenschaft. Ausst.-Kat. Karlsruhe, Staatliche Kunst-

como Casanova: Geschichte meines Lebens. Hrsg. u. eingel. v.

halle, Berlin/München 2013, S. 255.

Erich Loos, Berlin 1985, Bd. III, S. 237. Zu dieser vieldiskutierten

11

Umfangreiches Bildmaterial findet man bei Eduard Fuchs: Illus-

Episode, von der auch der Herzog Emmanuel von Croÿ berichtet

trierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. II

(Nie war es herrlicher zu leben. Das geheime Tagebuch des Her-

Die galante Zeit, München 1910 sowie in dem Ergänzungsband II

zogs von Croÿ 1718–1784. Hrsg. u. übers. von Hans Pleschinski,

mit Pornographischem (München 1911).

München 2016, S. 110f.), siehe Kanz 2013, S. 142ff. Kanz identifi2

390

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

Abb. 233  Nicolas Delaunay nach einem Gemälde von Pierre-Antoine B ­ audouin: Die indiskrete Gattin, 1771, Radierung

stellungen zeigt sich die Sexualität als »besonders dichter Durchgangspunkt für […] Machtbeziehungen«.12 Der ›Kampf der Geschlechter‹, als den man die Liebe weiterhin verstand, kontinuierte, wobei sich den Frauen mit der gestiegenen Bedeutung der Geselligkeit neue Entfaltungsmöglichkeiten eröffneten.13 Die bürgerliche Kritik sollte das Rokoko als Epoche einer dekadenten ›verweiblichten‹ Kultur verurteilen, wie schon das erste Bildpaar in Lichtenbergs und Chodowieckis Natür­ liche[n] und affektierte[n] Handlungen des Lebens zeigt,

12

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wis-

13

Siehe dazu den Katalog der Ausstellung, die 2002/03 der Ma-

in dem die ›neue Eva‹ wieder ihren vermeintlich natürlichen Platz zur Linken des Mannes innehat (Abb. 9). Häufig wurde im 18. Jahrhundert Pornographisches als Mittel der Denunziation eingesetzt, insbesondere in der Karikatur des ausgehenden Jahrhunderts, aber auch bereits in der mehrfach verlegten Skandalpublikation Thérèse Philosophe, deren Erscheinen vermutlich von Jansenisten unterstützt wurde. Diese Geschichte des unzüchtigen Jesuitenpaters Girard, dessen Prozess im Jahr 1731 in ganz Europa Aufsehen erregt und Aufstände hervorgerufen hat, wurde von De Sade in der Nouvelle Justine gerühmt und diente einem Pamphlet gegen Marie Antoinette als Vorlage.14 Neben dem Galanteriewesen bezeugen auch die zunehmende Bedeutung des Briefverkehrs, der Konversation unter Abwesenden,15 und vor allem das Versiegen der Theorie der Geselligkeit deren Auflösungstendenzen: »Auch und gerade im Frankreich des 18. Jahrhunderts wird über Konversation kaum mehr geschrieben, und wenn, so wird wie bei Trublet auf die Überholtheit der Sache aufmerksam gemacht.«16 Mit der Reglementierung und Einhegung der geselligen Konversation, die im 17. Jahrhundert noch Bestandteil staatspolitischen Handelns war, hatte ein Prozess ihrer Abspaltung von der Politik eingesetzt. Wie Wolfram Mauser dargelegt hat, erörterten Autoren des 18. Jahrhunderts die Geselligkeit kaum mehr in Hinsicht auf die politische Ordnung, die »Staats-Klugheit« und »Politica publica«, auf Aspekte der Herrschaftslegitimation und theoretischen Fundierung der Institutionen, sondern als Bestandteil der »Privat-Klugheit« (Julius Bernhard von Rohr) und »Politica privata« (Christoph August Heumann).17 Zugleich hat Christian Thomasius die von Samuel Freiherr von Pufendorf vorangetriebene Ablösung der Rechtstheorie von der theologischen Dogmatik abgeschlossen

Kupferstiche aus fünf berühmten Büchern. Dortmund 1982,

sen. Frankfurt/M. 1983, S. 125.

S. 205. 15

dame de Pompadour gewidmet wurde: Ausstellungskatalog 14

Von dieser sprach Madelaine de Scudéry: Conversations sur divers sujets. Amsterdam 51686, S. 39ff. (Schmölder 1986, S. 33).

München 2002a.

16

Schmölders 1986, S. 34.

Jacques Duprilot: Nachwort. In: Thérèse Philosophe. Erotische

17

Mauser 1989, S. 9f.

D er H öhepunkt und Ausklang der Epoche der Konversation

391

und die socialitas zur leitenden Prämisse des Naturrechts des Menschen und damit zu einem Rechtsgrundsatz erhoben, der für die Verfassungen des aufgeklärten Absolutismus maßgeblich werden sollte. Thomasius hat das Rechtsprinzip der »vernünftigen Menschennatur« durch das der »geselligen Menschennatur« ersetzt, »weil die Vernunft selber wesentlich gesellig ist«.18 Im Namen der Geselligkeit wurde nun eine sozialethische Lebensführung und praktische Sittlichkeit der Untertanen im Umgang miteinander gefordert. Getragen von der Hoffnung, dass sich solche ›PrivatKlugheit‹ politisch wirksam entfalten werde, sollte die Geselligkeit, die im 17. Jahrhundert von manchen Theologen als Vorschein des himmlischen Jerusalems bewertet worden war, im Schrifttum der Aufklärung zur sozialethischen Utopie eines egalitär diskursiven Umgangs avancieren.19 In diesem Sinne nahmen sich die moralischen Wochenschriften der Erziehung zu Sittlichkeit und Toleranz an. Die höfische Öffentlichkeit wurde im 18. Jahrhundert durch Organe wie den Mercure Galant und das Journal des Luxus und der Moden informiert, in denen zunehmend auch aufklärerische Stimmen publizierten. In England richteten sich seit 1709 der Tatler (Das Klatschmaul) und The Spectator an eine städtische bürgerliche Öffentlichkeit. Weiterhin wurden für die Geselligkeit propädeutische und populärwissenschaft­ liche Schriften bereitgestellt, wie z. B. Bernard de Fon-

18

tenelles erstmals 1686 publizierte Entretiens sur la pluralité des mondes, verfasst mit dem Ziel: »instruire et divertir tout ensemble«, in denen ein von Kopernikus und Descartes inspirierter Philosoph bei nächtlichen Spaziergängen einer jungen gewitzten Marquise das Weltall erklärt, und Francesco Algarottis Fontenelle gewidmeter Bestseller Le Newtonianisme pour les dames, der 1736 publiziert, im folgenden Jahr auch in italienischer Sprache in Venedig verlegt wurde und 1745 in deutscher Übersetzung erschien.20

Fêtes galantes, sujets de rien und Travestien

An die Stelle der großen Themen der Götter, Könige und Heroen traten in der Kunst des 18. Jahrhunderts die Fêtes galantes, Noces champêtres, Mascerades, Caprices de la mode etc. und in England die conversation pieces, in denen die Geselligkeit und die Liebe eine enorme Bildpräsenz erhielten.21 Beispiele dafür sind auch Lancrets Gemäldezyklen Die vier Lebensalter und Die vier Tageszeiten mit Darstellungen des müßigen und amourösen Zeitvertreibs des Adels (1730–35 u. 1739–41, London, National Gallery) und Fragonards Die vier Stufen der Liebe (1771/72, New York, Frick Collection).22 Dabei hat die Malerei des Rokoko jene virtuose Spontanität

Zit. ebda., S. 13. Dazu auch Vollhardt 1997, S. 275ff.

der Romania. Heidelberg 2010; Robert Fajen: Zur Einführung:

19

Dazu und zum Scheitern dieser Utopie: Mauser 1989.

Aufklärung und Spiel. In: Ders. (Hrsg.): Amüsement und Risiko.

20

Jo. Newtons Weltwissenschaft für das Frauenzimmer oder Un-

Dimensionen des Spiels in der spanischen und italienischen Aufklärung. Halle (Saale) 2015, S. 7–15.

terredungen über das Licht, die Farben und die anziehende Kraft. Aus dem Italienischen des Herrn Algarotti, durch Herrn

21

22

Siehe Martin Davies: National Gallery Catalogues: French

[Louis-Adrien] du Perron de Castera ins Französische und aus

School. London 1957, S. 127ff. Lancrets Serie der Lebensalter

diesem ins Teutsche übersetzt. Braunschweig (Schröder) 1745;

zeigt überwiegend amouröse Beschäftigungen. Die vier in Öl auf

vgl. Kanz 2013, S. 65.

Kupfer gemalten Darstellungen der Tageszeiten zeigen eine

Zur jüngeren Neubewertung des Rokokos, das, obwohl bereits

Dame nebst Kavalier bei der morgendlichen Toilette, eine Ge-

die Pariser Upperclass der Zeit der Gebrüder Goncourt und des

sellschaft beim mittäglichen Spaziergang im Grünen, beim

Impressionismus eine Affinität zu ihm hegte, noch über weite

Backgammonspiel sowie im Mondlicht badende Damen. Der

Strecken des 20. Jahrhunderts vor allem als Dekadenzepoche

Zyklus, den Fragonard für die Comtesse Du Barry, die letzte

wahrgenommen wurde, siehe Angela Oster (Hrsg.): Das ›an-

Maitresse Ludwigs XV., gemalt hat, repräsentiert gemäß dem

dere‹ 18. Jahrhundert. Komparatistische Blicke auf das Rokoko

Code amour passion in teils allegorischer Form die Phasen der

392

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

des fa presto kultiviert, die im Cinquecento durch Ca­ stigliones Lehre der grazia und sprezzatura angeregt worden war. Der schnelle Farbauftrag mit dem Pinsel oder gar Palettmesser und das Spiel mit dem Zufall (hasard, accident) charakterisieren die delikaten Werke von Watteau, Lancret, Pater, Boucher, Fragonard u. a., die sich so der Wertelehre der honnêteté verbunden zeigten. Der Künstler inszenierte sich als homme capricieux, als geist- und humorvoller, phantasiebegabter und improvisationsfreudiger Mensch, und verstieß programmatisch gegen den Begriff des soliden Handwerks und die akademischen Normen. Über das großformatige Gemälde, das für kurze Zeit als Ladenschild das Geschäft des Kunsthändlers Edme-François Gersaint am Pont Neuf schmückte (Abb. 243), sagte dieser, Antoine Watteau habe es gemalt, um »sich die Finger zu lockern.«23 Über ihre malerische Finesse haben die Inhalte dieser Kunst an Gewicht verloren. Wenn Zeitgenossen Werken Watteaus und Bouchers nachsagten, »ses compositions n’ont aucun objet«,24 oder lediglich ein »sujet de rien«, sie seien bloße »plaisanterie«, so sagen solche Äußerungen wenig über die ästhetische Qualität dieser Werke, doch sie bezeichnen treffend Tendenzen der Malerei der Régence und des Rokoko, die mit einer

Konversationskultur verbunden war, die nichts mehr hasste als Langeweile und ihr mit dem »detourner les choses« und einem steten Wechsel der Themen zu entkommen suchte.25 So nimmt es nicht wunder, dass Gersaint in seinem 1744 publizierten Abrégé de la vie d’Antoine Watteau schrieb:

Annäherung (Die Verfolgung, Die Escalade), der Gewährung der

zu lenken, so sind solche rechthaberischen Leute sehr störend,

letzten Gunst (Die Krönung) und die Fortsetzung der Beziehung

weil sie zu einem bestimmten Thema nichts zu sagen übriglas-

(Liebesbriefe). Siehe Colin B. Bailey: Fragonard’s Progress of

sen und immer wieder darauf zurückkommen, mag man sich

Love in the Frick Collection. New York/London 2011. In seiner

soviel Mühe geben, sie zu unterbrechen, wie man will.« (Zit. n.

Rezension dieses Buches betonte Willibald Sauerländer, dass

Schmölders 1986, S. 173f.)

Seine »Bilder atmen ein wenig den Geist der Ungeduld und Unbeständigkeit, die seinen Charakter ausmachten: ein Gegenstand, den er einige Zeit vor sich sah, langweilte ihn, er suchte nur, von einem Sujet zum anderen zu springen.«26

Der kurzweiligen Konversationskultur des Rokokos war die Kunst dieser Epoche verschwistert,27 zumal in ihr inhaltliche Verdichtungen und deutliche Hierarchisierungen zumeist vermieden sind. In ihren farbgeborenen, einem Kult der delikaten Nuancen huldigenden Bildwelten ist alles einander verwandt und zugehörig. Die hochgradig individualisierte aristokratische Gesellschaft, auch dies zeigt sich hier, war eine exklusive soziale Monokultur, die z. B. den Themen der Lebensalter und der Kindheit, die in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts große Bedeutung hatten, nur noch wenig abgewinnen konnte.28 Sie wurde dominiert von

die Züge des feurigen Liebhabers in Die Escalade an Ludwig XV.

26

Zit. n. Rees 1996, S. 114.

erinnern (in: Kunstchronik, 66. Jg., Heft 6, Juni 2013, S. 293).

27

Siehe Mary Paula Vidal: Watteau’s Painted Conversations. Art,

23

Zit. n. Rees 1996, S. 114.

Literature, and Talk in Seventeenth and Eighteenth Century

24

So der Comte de Caylus über die Werke Watteaus (zit. ebda.,

France. (Phil.Diss. 1988) London 1992. Zum Konversationsstück

S. 116).

in England: Ronald Paulson: Emblem and Expression. Meaning

25

In ihrer Konversation über die Konversation hatte Madeleine de Scudéry geschrieben: »Denn schließlich […] gibt es doch nichts

in English Art of the Eighteenth Century. London 1975, S. 121ff. 28

In dieser Hinsicht ist Jean Siméon Chardin eine Ausnahme. In

Langweiligeres als eine Unterhaltung mit solchen Leuten, die

Opposition gegen die Oberflächlichkeit des Rokokos malte er in

sich an der ersten Sache, von der geredet wird, festhalten und

Anlehnung an die Niederländer Szenen des bürgerlichen All-

dermaßen darauf eingehen, daß man einen ganzen Nachmittag

tags, in denen die Figuren sich konzentriert ihren Tätigkeiten

lang nicht das Thema wechselt. Denn weil die Konversation frei

widmen, von diesen völlig in Anspruch genommen werden (vgl.

und natürlich sein soll und weil jeder, der zur Gesellschaft ge-

Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Be-

hört, gleichermaßen das Recht hat, sie nach seinem Gutdünken

holder in the Age of Diderot. Berkeley/Los Angeles/London

FÊTES GALANTES, SUJETS DE RIEN U N D T R AV E S T IE N

393

Abb. 234  Antoine Watteau:

Die Einschiffung nach Kythera, 1717,

Paris, Musée du Louvre

dem Diktat sexueller Attraktivität, wobei man das Alter mit gepuderten Perücken kaschierte und die erotischen Idealbilder zunehmend jugendliche, wenn nicht kindliche Züge annahmen.29 Mehr denn je wollte die Aristokratie im 18. Jahrhundert ihre Vergnügungen in Konversationsstücken verewigt sehen und sie lancierte eine antiakademische Malerei, deren Distanz wahrende Flächigkeit der auftrumpfenden Wirkungsästhetik des Barocks kontrastierte und deren Sensualismus sich im Streit der Rubenisten und Poussinisten gegen die doctrine classique hatte durchsetzen können. Gleichwohl musste Antoine Watteau mit Widerständen rechnen, als er nach jahre-

langem Zögern sein Gemälde Die Einschiffung nach Kythera (Abb. 234) der königlichen Akademie als Aufnahmestück einreichte. Diese verlieh ihm 1717 den eigens erfundenen Titel eines Maître des fêtes galantes.30 Watteaus Gemälde zeigt einen Reigen verliebter, Konversation treibender Paare, die sich zur Barke begeben, welche sie zu der mythischen Liebesinsel, der Kultstätte der Göttin Aphrodite, bringen wird. Am Flussufer warten in dem Gefährt zwei nackte Fährmänner, über denen Amoretten und der eine Fackel tragende Hochzeitgott Hymenaios in den Lüften schweben. Die Darstellungen arkadischer Liebesfeste von Giovanni Bellini, Tizian und insbesondere Rubens’ Liebesgarten, die

1980), und auch viele psychologisch differenzierte Darstellun-

Cooper Cohen); siehe Ausstellungskatalog München 2002a, S. 152ff. (Kat.-Nr. 54).

gen von Kindern. Andere Akzente der Rezeption der holländischen Malerei zeigt das Beispiel Nicolas Lancrets, der in holländische Gemälde mit bäuerlichen Interieurs nachträglich galante

29

30

Thomas Kirchner: L’expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunstheorie

Figuren eingefügt hat. (Lucius Grisebach: Wilhelm Kalf. Berlin

des 17. Jahrhunderts. Mainz 1991, S. 156f.; Rees 1996, S. 116.­Watteau

1974, S. 209.)

hatte das Thema zunächst 1710 in dem Gemälde im Frankfurter

Ein aussagekräftiges Beispiel ist Charles-Antoine Coypels Ge-

Städel behandelt, nach seinem Aufnahmestück für die Akade-

mälde Freuden der Kindheit oder Kinderspiele bei der Morgen­

mie führte er eine weitere Version aus, die sich heute im Schloss

toilette von 1728 (Malibu, Dr. Martin L. Cohen M. D. u. Sharleen

Charlottenburg in Berlin befindet.

394

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

gemalte Conversatie à la mode,31 mit der Watteau sich intensiv auseinandergesetzt hat, standen hier Pate.32 In der Einschiffung nach Kythera ist die antik-mythologische Liebesthematik in ein zeitgenössisches Gewand gekleidet, woraus sich ein eigentümliches Mixtum ergibt, eine Ikonosphäre, die sich jeder zeitlichen und örtlichen Bestimmung entzieht.33 Watteaus ›painted conversation‹, in der es keine soziale Hierarchien mehr zu geben scheint, visualisiert ein Ideal partnerschaft­ lichen Einklangs, wobei die Liebe nicht mehr als zur Dauer unfähige Passion, sondern als Verbindung von amour und sentiment aufgefasst zu sein scheint.34 Hervorzuheben ist, dass in vielen fêtes galantes Watteaus und seiner Nachfolger Lancret und Pater Protagonisten einer »neuen urbanen Elite« agieren, »Kleinadlige, wohlhabende Kaufleute und Funktionäre, aber auch Künstler, Literaten, Schauspieler und Intellektuelle«, deren ungezwungenen Zusammenkünfte in freier Natur in Kontrast standen sowohl zu der Festkultur des Hofes, als auch zu bäuerlichen Dorffesten.35 Die hier hervorstechenden Merkmale der Abkehr vom zentralperspektivisch konstruierten Bildraum und des Verstoßes gegen die Gattungshierarchie sollten Watteaus Nachfolger noch radikalisieren. So hat z. B. Jean-Honoré Fragonard eines seiner portraits de fantaisie (Abb. 235), das Halbfigurenbild, das seit dem 19. Jahrhundert als Porträt seiner vermutlichen Geliebten Marie-Madeleine Guimard galt und neuerdings als Darstellung von Marie-Anne-Éléonore de Grave identifiziert wurde, nach einer Figur aus der Einschiffung

31

Abb. 235  Jean-Honoré Fragonard: Portrait de fantaisie (Marie-Anne-Éléonore

de Grave), 1769, Paris, Musée du Louvre

nach Kythera gestaltet. Ein irritierendes Spiel mit den Codierungen der Malerei treibend, verlieh er der Porträtierten die Haltung jener zentralen Gestalt der Pilgerin, die noch einmal zu dem lauschigen Platz neben

Siehe Goodman 1992. Mit diesem eigenwilligen flämisch-fran-

furt/M. 1975, S. 111ff. Siehe auch: Alpers 1995, S. 68ff.: »Watteau

zösischen Titel wurde auch die Werkstattkopie des Liebesgartens

looks at Rubens«.

in Potsdam bezeichnet, die, 1744 von Friedrich dem Großen er-

33

Rees 1996, S. 117.

worben, seit 1763 in der Bildergalerie von Sanssouci nachgewie-

34

Jutta Held: Antoine Watteau: Einschiffung nach Kythera. Ver-

35

Elisabeth Fritz: Vom Künstlerfest zur Feier des gemalten Bildes:

sen ist. (Barbara Spindler: Die Bildergalerie. Ein königliches Museum im Park von Sanssouci. München [u. a.] 2003, S. 47.) 32

söhnung von Leidenschaft und Vernunft. Frankfurt/M. 1985.

Die Abhängigkeit des Watteauschen Bildes von Rubens Liebes-

Antoine Watteaus Fêtes vénetiennes. In: Tacke/Münch 2019,

garten, die sich besonders in stilistischer und narrativer Hin-

S. 41–57, Zitate S. 45; Dies.: Par plaisir. Baden im Freien als gesel-

sicht zeigt, betont Annegret Glang Süberkrüb: Der Liebesgarten.

lige Freizeitpraxis und befreites Bildmotiv bei Nicolas Lancret.

Eine Untersuchung über die Bedeutung der Konfiguration für

Vortrag gehalten am 6.11.2020 im Rahmen der Online-Tagung

das Bildthema im Spätwerk des Peter Paul Rubens. Bern/Frank-

Temporalität, Ambiguität, Latenz: Ästhetische Eigenlogik des eu-

FÊTES GALANTES, SUJETS DE RIEN U N D T R AV E S T IE N

395

Abb. 236  Giovanni Battista Tiepolo: Der Tod des Hyacinth, 1752/53, Madrid, Museo Thyssen-Bornesmisza

396

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

der Venus-Skulptur am rechten Bildrand zurückblickt (Abb. 234).36 Das Spielerische und die Ironie wurden Hauptmerkmale der Kunst des Rokokos und die Travestie zu einem ihrer bevorzugten Verfahren. Beispielhaft zeigt dies Der Tod des Hyazinth von Giovanni Battista Tiepolo (Abb. 236), der sein Publikum auch mit Karikaturen und graphischen capricci und scherzi unterhalten hat.37 Das in Würzburg entstandene Gemälde thematisiert die Geschichte von der unglücklichen Liebe Apolls zu dem spartanischen Königssohn Hyakinthos. Nach Ovids Metamorphosen tötete der Gott versehentlich den unvorsichtigen Geliebten beim Diskuswerfen;38 nach Lukian verursachte der eifersüchtige Windgott Zephyr dessen Tod, indem er den von Apoll geworfenen Diskus aus der Bahn blies, so dass dieser Hyazinth traf.39 Die Forschung geht in der Regel davon aus, dass sich Tiepolo an Ovid hielt,40 doch es lässt sich zeigen, dass er Lukians Version dargestellt hat. Der Tod des Hyazinth wurde von dem jungen, 28-jährigen Wilhelm Friedrich Graf zu SchaumburgLippe, einem passionierten Tennisspieler, zur Erinnerung an eine große Liebe von kurzer Dauer in Auftrag gegeben. 1751 war sein Partner verstorben, ein spanischen Musiker, mit dem er eine kurze Zeit gemeinsam in Venedig verbracht und den sein Vater in einem Brief »Deinen Freund Apollo« genannt hatte.41 Schon Giovanni Andrea dell’Anguillara hatte in seiner 1561 veröf-

Abb. 237  Diskobolos, römische Kopie des griech. Originals von Myron, 2. Jhd.,

München, Glyptothek

ropäischen Gernebildes an der Katholischen Universität Eich36

37

Dies. (Hrsg.): Tiepolo. Der beste Maler Venedigs. Ausst.-Kat.

stätt-Ingolstadt (1. Maximilian-Bickhoff-Kolloquium).

Stuttgart, Staatsgalerie, Dresden 2019, S. 23f. sowie Andrea Gott-

Mary D. Sheriff: Invention, Resemblance, and Fragonard’s »Por-

dank: Das Spiel vom Leben und Sterben des Punchinello: Gian-

traits de Fantaisie«. In: The Art Bulletin, 69, 1987, S. 85; Rees 1996,

domenico Tiepolos Divertimento per li Regazzi. In: Fajen 2015,

S. 127.

S. 60–101.

Siehe Werner Busch: Das Capriccio und die Erweiterung der

38

Ovid: Metamorphosen, 10,162ff.

Wirklichkeit. In: Ekkehard Mai/Joachim Rees (Hrsg.): Kunst-

39

Lukian: Göttergespräche, 14.

form Capriccio. Von der Groteske bis zur Spieltheorie der Mo-

40

fantasia. Begriff und Bedeutung. In: Ebda., S. 81–96; Cristina Do-

Hojer 2019, S. 20 schreibt: »Das Bildthema ist den Metamorphosen des Ovid entnommen.«

derne. Köln 1998, S. 59ff.; Andrea Gottdank: Tiepolos Scherzi di 41

William L. Barcham: The Death of Hyacinth. In: Keith Christian-

nazzolo Cristante/Vania Gransinigh (Hrsg.): Giambattista Tie-

sen (Hrsg.): Giambattista Tiepolo. Ausst.-Kat. Venedig, Ca’ Rez-

polo. Tra scherzo e capriccio. Ausst.-Kat. Udine, Galleria d’Arte

zonico, Museo del Settecento Veneziano, New York, The Me-

Antica del Castello, Mailand 2010; Annette Hojer: Spielräume

tropolitan Museum of Art, New York 1996, S. 176 (Kat.-Nr. 23);

der Fantasie. Zur Mehrdeutigkeit der Bildwelten Tiepolos. In:

Hojer 2019, S. 20.

FÊTES GALANTES, SUJETS DE RIEN U N D T R AV E S T IE N

397

fentlichten Ovid-Übersetzung den Diskus durch einen Tennisball ersetzt.42 Das seit dem 16. Jahrhundert vor allem unter der Bezeichnung ›pallacorda‹ bekannte, aus dem Jeu de Paume hervorgegangene Spiel erfreute sich auch im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit – Tiepolos Protagonisten haben es im Bildhintergrund gespielt, wie das gerissene Netz erkennen lässt, das zwischen den Beinen des Hellebardenträgers zu sehen ist. Und so stirbt in dem Gemälde der junge Königssohn an der durch einen Tennisball verursachten Verletzung seiner linken Schläfe. Vor ihm, am rechten unteren Bildrand hat der Maler einen Schläger platziert, auf dem das Wappen Schaumburg-Lippe zu sehen ist,43 und die Blumen dargestellt, die Apoll jährlich zur Erinnerung Hyazinths wachsen lässt. Gleich drei Spielbälle liegen am Boden, so dass man sich fragt, welcher zu dem tödlichen Geschoss wurde – es dürfte wohl der am linken Bildrand sein. Dem rechten der beiden neben dem Schläger liegenden Bälle, die dem Sterbenden offenbar aus seiner halb geöffneten linken Hand entfallen sind, korrespondiert die senkrecht über ihm angeordnete steinerne Kugel im gesprengten Giebel des Portals. Diese Formanalogie akzentuiert die Verletzung Hyazinths, den neben der Senkrechten, die Kugel und Ball verbindet, sichtbaren, ebenfalls runden Bluterguss, den der tödliche Ball auf seiner Schläfe hinterlassen hat. William Barcham hat in einer vorzüglichen Interpretation dieses Gemäldes seine dissonanten Stimmungswerte hervorgehoben: Der vorherrschenden Trauer über den jähen Tod des Jünglings kontrastiert das sardonische Grinsen der Panskulptur am rechten Bildrand.44 Deren Physiognomie, die expressivste des Gemäldes, ähnelt in auffälliger Weise derjenigen des graubärtigen, finster blickenden Anführers der Zuschauer, den man mit Amyklas, dem König von Sparta

und Vater Hyazinths, identifiziert hat.45 Dafür spricht auch die entsetzte Angehörige am linken Bildrand, die gerufen wurde und herbeieilt, ohne das Geschehen schon zu sehen. Die Gestalten des missmutigen Vaters und des scharf konturierten Hellebardenträgers an seiner Seite hat Barcham interpretiert als »moralizing counterpart to the carnal pleasures and fun-filled games of Apollo and his lover« und vermutet, dass Tiepolo insinuieren wollte, dass der Sonnengott seine göttlichen Verpflichtungen vernachlässigte, als er »per scherzo, e per amore«, wie es in Anguillaras Ovid-Übersetzung heißt, seine Zeit mit Hyazinth verbrachte.46 Diese Deutung erscheint evident angesichts des spannungsreichen Kontrasts der beiden Bildhälften, der Konfrontation der kunstvoll komponierten mythischen Figuren mit der dichten, düsteren Gruppe der Zuschauer. Das Verhältnis von Vater und Sohn hat Tiepolo als ein gestörtes inszeniert, wie nicht nur die Mimik des Amyklas zeigt, sondern auch die Anordnung Apolls zwischen ihnen. Sich mit erhobenem Arm über Hyazinth beugend, unterbricht Apollo ihre Blickverbindung, schirmt den Sterbenden gegen seine Familie ab. Wollte Wilhelm von Schaumburg-Lippe mit der Wahl des mythischen Themas seine homosexuelle Liebe rechtfertigen, so scheint Tiepolo diese Absicht homophob durchkreuzt zu haben. Barcham hat seine Interpretation mit der Bemerkung ausklingen lassen: »Nonetheless there are still no clues regarding Tiepolo’s motive for injecting bitter humor into his depiction of intense grief.«47 Als ein solcher Schlüssel erweist sich ein Text, den Tiepolo nachweislich rezipiert hat, was der Forschung bisher entgangen ist, nämlich die Ekphrase Hyakinthos in den ­Eikones Philostrats d. Ä. (I, 24). Auch in dieser ist der Diskus nicht ›sichtbar‹, denn in ihr heißt es: »Weil aber

42

Giovanni Andrea dell’Anguillara: Le Metamorfosi d’Ovidio. Ve-

45

43

Hojer 2019, S. 20; Dies.: Der Tod des Hyancinth. In: Dies. (Hrsg.):

nedig 1561, S. 165f.; Borobia 2009, S. 490; Hojer 2019, S. 20.

44

Peter O. Krückmann: Tiepolo. Der Triumph der Malerei im 18. Jahrhundert. München [u. a.] 2004, S. 122f.

46

Barcham 1996, S. 176. Der Autor interpretiert den Papageien in

Tiepolo. Der beste Maler Venedigs. Ausst.-Kat. Stuttgart, Staats-

diesem Sinne als Symbol der »self-indulgence and licentious-

galerie, Dresden 2019, S. 151 (Kat.-Nr. 31).

ness« (ebda.).

Barcham 1996, S. 173.

398

47 Ebda.

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

die Scheibe den Jüngling traf, liegt dieser gerade auf dem Diskos.«48 Der Text fährt fort: »Apollon aber steht noch auf der Schwelle [des Wurfkreises, W.B.], hat sich abgewandt und den

scheint Philostrats Text Tiepolo noch weitere Anregungen gegeben zu haben. Denn in seinem zweiten Abschnitt hat der Autor eingehend den Bewegungsablauf beim Diskuswurf beschrieben, bei dem der Athlet sein Gewicht auf das angewinkelte rechte Bein verlagert:

Blick zur Erde gesenkt. Du wirst sagen, er sei versteinert, so bleiches Entsetzen hat ihn befallen. Ein

»Die Haltung dessen, der den Diskos hält: er muß

Rohling ist Zephyros, der aus Zorn auf ihn die

den Kopf nach rechts drehen und sich so weit bie-

Scheibe auf den Jüngling lenkte, und dieses Unheil

gen, daß er an seiner Seite hinabsehen kann; dann

scheint dem Winddämon nur ein Spaß, und er lacht

muß er den Diskos werfen, wie wenn er etwas

höhnisch, wie er darüber hinsieht. Du siehst ihn

hochzöge und die ganze Kraft seiner rechten Seite

wohl mit seiner geflügelten Schläfe und der zarten

in den Wurf legen. So mag auch Apollon den Diskos

49

geschleudert haben, denn anders hätte er ihn nicht

Gestalt«.

werfen können.«52

Das Wort von der ›versteinerten‹ Gestalt Apolls, der auch in dem Gemälde zu Boden blickt, nicht ins Antlitz des Geliebten, mag Tiepolo angeregt haben, das Thema des paragone anzustimmen, indem er den auf das Unheil blickenden, höhnisch lachenden Winddämon in der armlosen steinernen Panstatue repräsentierte – ein auf Veronese zurückgehendes Motiv.50 Die bemerkenswert nuancenreiche Erscheinung der weiß gefassten Steinskulptur wird durch den Kontrast zu dem warmen Teint der ihren Schambereich überschneidenden geöffneten Hand Apolls – auch dies offenbar eine Anspielung auf ein homosexuelles Begehren – noch wirkungsvoll unterstrichen. Darunter eilt der kleine Cupido herbei,51 der einen Schellenring am Oberarm trägt, ein Symbol der vergänglichen Liebe. Seine fliegenden Haare und gestrafften Gesichtszüge lassen vermuten, dass ihm eine kräftige Windböe entgegenbläst, und spielen demnach auf die Tat des Zephyros an. Ist damit die Relevanz der Ekphrase Philostrats und somit von Lukians Göttergesprächen erwiesen, so

Tiepolo hat den Hyazinth offenbar in Anlehnung an diese Zeilen gestaltet, nämlich den Königssohn gleichsam als liegenden Diskuswerfer repräsentiert. Obwohl der Wurfarm des Sterbenden kraftlos herabhängt und sein zurückgesunkenes Haupt gegen den linken Oberschenkel Apolls lehnt, evoziert seine Haltung insbesondere durch die von Philostrat beschriebene Drehung von Kopf und Oberkörper die dynamische Bewegung des Athleten. Darüber hinaus scheint auf Philostrats Text auch die Haltung zurückzugehen, die Tiepolo dem Sonnengott verlieh. Auf den ersten Blick bekundet dessen Gestik das Entsetzen über den Verlust des Geliebten, wobei die eigentümliche Haltung seines nackten Oberkörpers53 mit der angedeuteten Drehbewegung und der hochgeschwungenen Rechten des Wurfarms auch die finale Körperhaltung beim Diskuswurf evoziert und somit andeutet, dass er es war, der den verhängnisvoll gewordenen Wurf tat. Die kompositorisch wunderbar auf einander bezogenen Hauptfiguren des Gemäldes,

48

Philostrat d. Ä.: Eikones, I, 24, 3 (Philostratos 1968, S. 151).

51

49

Ebda., I, 24, 3f. (Philostratos 1968, S. 151.)

gere Philostrat einen Cupido als »triste-ioieux, gay & melancho-

50

Svetlana Alpers/Michael Baxandall: Tiepolo und die Intelligenz

lique tout ensemble«. (La Suite de Philostrate par Blaise de Vige-

der Malerei. Berlin 1996, S. 42. Das Motiv kommt vor in Verone-

nere Bourbonnois. Les Images ou Tableaux de platte peinture

ses Die Musik (1556/57, Venedig, Liberia Marciana) und als Kary-

In der Ekphrase Hyakintos in seinen Eikones beschreibt der jün-

du Jeune Philostrate. Paris 1597, S. 74.)

atidenfigur in Mars und Venus von Amor gefesselt (um 1580, New

52

Philostrat d. Ä.: Eikones, I, 24, 2f. (Philostratos 1968, S. 151.)

York, Metropolitan Museum).

53

Hojer schreibt: »[…] der übertriebene Schreckensgestus des Apoll erscheint befremdlich«.

FÊTES GALANTES, SUJETS DE RIEN U N D T R AV E S T IE N

399

der auf einem Seidenstoff von satter ockergelber Farbe liegende Hyacinth und der sich über ihn beugende, einen tiefblauen Rock tragende Apoll, sind offenbar beide in Anlehnung an Philostrats Hyakinthos gestaltet.54 Tiepolos Gemälde akzentuiert somit in besonderer Weise die für die Travestie konstitutive Intertextualität bzw. -visualität, da er die antike Körperertüchtigung des Diskuswerfens nicht bloß durch das moderne Tennisspiel ersetzt, sondern sie durch subtile Anmutungen von Bewegungsabläufen zudem evoziert hat. Man fragt sich, ob der Maler dabei auch auf visuelle Vorbilder rekurrierte, denn fast unweigerlich stellen sich bei der Lektüre der soeben zitierten Sätze Assoziationen an den Diskobolos (Abb. 237) ein, die berühmte Statue des Myron. Philostrats Beschreibung des Bewegungsablaufs beim Diskuswurf ist zugleich eine Evokation dieses skulpturalen Meisterwerks.55 Vergleicht man Tiepolos Gestalt des Hyazinths mit diesem (Abb. 236f.), so scheinen die formalen Übereinstimmungen und somit ein Zusammenhang zwischen ihnen evident zu sein, allerdings ist nicht anzunehmen, dass Tiepolo die Skulptur gekannt hat. Denn erst 1781 wurde der sogenannte Diskobolos Lanzelotti (Museo Nazionale Romano) in Rom auf dem Esquilin gefunden, den Carlo Fea nach den antiken Beschreibungen als Kopie des verlorenen Bronzeoriginals von Myron identifizieren 54

konnte.56 Die erstaunliche formale Übereinstimmung scheint alleine auf dem Text Philostrats zu beruhen. Auch Der Tod des Hyazinth, in dem Tiepolo in spielerisch freiem Zugriff auf verschiedene Texte und Kunstwerke rekurrierte, weist Merkmale jener »programmatischen Nichtverstehbarkeit« auf, die Roland Kanz an den capricci und scherzi des Meisters herausgearbeitet hat.57 Zumal in der Graphik hat die Kunst des 18. Jahrhunderts, forcierten Originalitätserwartungen entsprechend, solche Lizenzen beansprucht.58 Mit dem Undeutbaren, sich gegen jede rationale Bildaneignung Sperrenden wurde die Konversation der Rezipienten angespornt, ihr Ziel der ›Glückseligkeit‹ konsensualer Verständigung jedoch erschwert, wenn nicht vereitelt. Dabei pochte der Künstler, der seine ›Launen‹ (capricci) visualisierte, als unergründlich ingeniöser Urheber des Nichtverstehbaren auf seine Autorschaft, beanspruchte die Stellung einer letzten Instanz aller Sinnzuschreibung und bahnte auch einer Individualisierung der Kunstrezeption den Weg. Rätselhaft, nämlich weder historisch, noch geographisch oder ethnisch bestimmbar, bleibt im Tod des Hyazinth die Identität der exotisch gekleideten Zuschauergruppe, aus der die Spitze der modernen Hellebarde herausragt. Zu dem Motiv der fingierten Skulptur ist anzumerken, dass die Rokokomalerei das Spiel mit dem trompe l’œil, das damals

Tiepolo hat sein Gemälde höchst aufwändig in zahlreichen

Repliken die allgemeine Vorstellung vom Diskuswurf be-

Rötel- und Federzeichnungen vorbereitet. Die umfangreichste

herrschte, schwebte ihm auch bei der Erklärung der Balbis [der

Zusammenstellung findet man in Peter Krückmann (Hrsg.): Der

Schwelle des Wurfkreises, W.B.] vor.« (Julius Jüthner: Der Ver-

Himmel auf Erden. Tiepolo in Würzburg. Ausst.-Kat. Würzburg,

fasser des Gymnastikos. In: Festschrift für Theodor Gomperz,

Residenz, München 1996, Bd. 1, S. 138–148 (Kat.-Nr. 72–81). Aller-

Wien 1902, S. 317; zit. bei Otto Schönberger: Erläuterungen: I, 24 Hyakinthos. In: Philostratos 1968, S. 353f.)

dings geben die erhaltenen Zeichnungen, die fast ausschließlich frühe Planungsstadien zeigen, kaum Hinweise auf die hier an-

John Boardman: Griechische Plastik. Die klassische Zeit. Ein

genommene Evokation des Bewegungsablaufs beim Diskus-

Handbuch. Mainz 1987, S. 105 ff. Es gibt eine Gemme in London,

wurf, die Tiepolo demnach erst in einer späten Arbeitsphase re-

die den Typus Lanzelotti mit der Aufschrift »Hyakinthos« und

alisierte. Einzelne Zeichnungen zur Figur Apolls sind nicht er-

als einziges Beispiel der Antike Hyacinth als Diskuswerfer zeigt.

halten; die vorhandenen zeigen ihn stets, wie er den Sterbenden

Da diese Gemme erst 1859 aus Privatbesitz ins British Museum

trägt, nicht mit erhobenen Armen. Die Rückseite des Blattes im

kam, ist wohl auszuschließen, dass Tiepolo sie kannte. Für Hin-

Victoria and Albert Museum zeigt Hyazinth bereits in einer Hal-

weise danke ich Andreas Grüner (Erlangen-Nürnberg).

tung, die der im Gemälde sehr nahekommt, wobei er flacher auf

55

56

57

Roland Kanz: Aspekte zu Kunst und Aufklärung. In: Stephanie

dem Boden liegt und sein Haupt noch erhoben ist (siehe ebda.,

Stockhorst (Hrsg.): Epoche und Projekt. Perspektiven der Auf-

Kat.-Nr. 72; Barcham 1996, S. 172f.).

klärungsforschung (Das 18. Jahrhundert. Supplementa, Bd. 17).

Jüthner bemerkte: »Hier hat er [Philostrat] den myronischen

Göttingen 2013, S. 138.

Diskobol vor Augen, und diese Statue, die mit ihren zahlreichen

400

58

Siehe hierzu auch Gottdank 2015.

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

neben Trommeln oder Kanonen und Flora mit flotter Schirmmütze.59 Dass solche Ironie auch in manche sakrale Werke eingegangen ist, zeigt z. B. Joseph Anton Feuchtmayers rechter Seitenaltar der Wallfahrtskirche Birnau mit dem bekannten ›Honigschlecker‹ (Abb. 238) neben dem Altarbild des Bernhard von Clairvaux: Der zu einem jugendlichen Schalk ausgewachsene ›Putto‹ kann es nicht lassen, aus dem Bienenkorb, dem Attribut des Heiligen, Honig zu naschen. Auch Ignaz Günthers Leonhard-Altar in der Klosterkirche in Rott am Inn lässt sich hier anführen: Über der Figur des Petrus Damiani erscheint in ihm ein Putto, der keck dabei ist, sich das Attribut des Heiligen, den Kardinalshut, aufzusetzen, an dem er offenbar schwer zu tragen hat.60

Abb. 238  Joseph Anton Feuchtmayer: Der ›Honigschlecker‹, Putto am

­Seitenaltar des Bernhard von Clairvaux, zwischen 1748 und 1758, Birnau, Wallfahrtskirche

Die Inkommensurabilität subjektiver Weltentwürfe: Watteaus Gilles

zuhauf in der Möblierung betrieben wurde, z. B. in kunstvoll geschnitzten Rahmungen von Spiegeln, zu einer ästhetisierenden Entrückung und Irrealisierung der Bildwelt verfeinert hat. Im Tod des Hyazinths tragen auch die infiniten Figuren am linken Bildrand dazu bei, insbesondere das stehende, mit sparsamsten Farbmitteln rasch dahingeworfene Kind. Solche Aktualisierungen und Trivialisierungen der antiken Mythologie waren damals Legion. So hat die Skulptur des Rokoko im Sinne eines emphatischen Modernismus zahlreiche Götterstatuen hervorgebracht, die z. B. Herkules mit einem Wohlstandsbäuchlein vor Augen führen, Mars mit modischem Schnauzbart

Kehren wir zurück zu Watteau, dessen unergründlichstes Werk, der Gilles (Abb. 239), ebenfalls den Kanon der Bildgattungen durchbricht. Wie nur wenige andere Gemälde scheint dieses nach einem stillen Nachvollzug zu verlangen oder im Gegenteil ein unentwegtes, vergebliches Sprechen über das Kunstwerk zu provozieren.61 Dem frühneuzeitlichen Anspruch an das Kunstwerk, in Gesprächskunst überführbar zu sein, scheint sich Watteau mit dieser melancholischen, dem Themenkreis der Commedia dell’arte62 zugehörenden Szene verweigert zu haben. »Ausdruck ist das klagende Gesicht der Werke. Sie zeigen es dem, der ihren Blick erwidert, selbst dort, wo sie im fröhlichen Ton komponiert sind oder die vie opportune des Rokoko verherrlichen«, so

59

61

60

Siehe Wolfgang Brassat: Ferdinand Tietz. Zu Leben, Werk und

Vgl. die Annäherung Hildesheimers, der freilich meinte, die Un-

Nachruhm des Rokoko-Bildhauers. In: Ders. (Hrsg.): Ferdinand

ergründlichkeit des Gilles als Argument gegen kunstsoziologi-

Tietz, 1708–1777. Symposion und Ausstellung anlässlich des 300.

sche Verfahren ausspielen zu müssen: Wolfgang Hildesheimer:

Geburtstages des Rokokobildhauers. Petersberg 2010, S. 15ff.

Watteaus »Gilles« und Marbot. In: Christian Beutler/Peter-Klaus

Björn Statnik: Ignaz Günther. Ein bayerischer Bildhauer und Re-

Schuster/Martin Warnke (Hrsg.): Kunst um 1800 und die Folgen.

tabel-Architekt im Europa der ausgehenden Barock- und Roko-

Werner Hofmann zu Ehren. München 1988, S. 20–29.

kozeit. Petersberg 2019, S. 200.

62

Eine vorzügliche Einführung in diesen gibt Kanz 2013, S. 54ff.

DI E I NKO MMENS U R AB I LI TÄT S U B J E KT I V E R WE LT E N TWÜ RFE : WATTE AU S GILLES

401

Abb. 239  Antoine Watteau: Gilles,

um 1718/19, Paris, Musée du Louvre

hat Adorno in der Ästhetischen Theorie wohl eingedenk des Gilles formuliert.63 In der Forschung herrscht dahingehend Übereinstimmung, dass das wahrscheinlich 1718/19 entstandene Gemälde, das in der zeitgenössischen Kunstliteratur keine Beachtung gefunden hat, als Ladenschild

63

für ein Komödientheater oder ein Café konzipiert war. Bei der lebensgroßen Hauptfigur handelt es sich wahrscheinlich, wie Hélène Adhémar dargelegt hat, um ein Porträt des seinerzeit berühmten Schauspielers Belloni, eines Griechen von der damals unter venezianischer Herrschaft stehenden ionischen Insel Zakynthos,

Adorno 1981, S. 170. Diese Vermutung liegt nahe, da es sich hier

Clown, das Alberne und den Rätselcharakter der Kunst an-

um die einzige Erwähnung der Kunst des Rokokos in der Ästhe-

schließen (ebda., S. 180, 182ff.).

tischen Theorie handelt und wenig später Reflexionen über den

402

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

der sich 1718 vom Theater zurückgezogen und ein Café eröffnet hatte.64 Diese Deutung vermag einige Merkmale des Gemäldes zu erklären: das ausgeprägte Hochformat der Komposition mit ihrem extrem tiefen Horizont, ihre ikonisch eingängige Form. In situ, als Aushängeschild eines Treffpunkts von Theaterliebhabern hatte diese wahrscheinlich eine hohe Plausibilität.65 Wie in vielen Fällen hätte demnach erst die Geschichte, nämlich der Kontexttransfer und die Musealisierung, das Bild zu einem Rätsel gemacht. Freilich hat nicht der mutmaßliche ungewöhnliche Zweck allein dieses Werk kreiert. Schon Nicolas Lancret hatte in einem aparten, nur 25,5 mal 22 cm messenden Gemälde Italienische Komödianten dargestellt (Paris, Louvre), darunter die zentrale Figur des frontal zum Betrachter gewandten Pierrot.66 Eine überraschende, von der zentralen Figur freudig aufgenommene Begegnung zwischen dem Betrachter und den Komödianten hat Lancret in diesem Werk inszeniert. Auch in weiteren Gemälden Watteaus erscheint der Pierrot im Bildzentrum, frontal zum Betrachter gewandt. Das kleine Frühwerk Le Pierrot content (Abb. 240) zeigt ihn im Glück entrückt zwischen zwei schönen Frauen sowie dem Scaramouche und dem Harlekin sitzend – über ihm die Faunsherme, die im Gilles am rechten Bildrand wiederkehrt.67 In dem 1720 in London gemalten Spätwerk Les Comédiens italiens (Abb. 241), in das Watteau mit der Bildanlage und der Hauptfigur Elemente des Gilles übernommen hat, steht der Pierrot eingerahmt von vierzehn Personen vor dem Portal einer Gartenanlage – der Theatervorhang ist zurückgeschlagen und fröhlich präsentiert sich die Komödiantentruppe.68 Hier ist der Themenkreis des Theaters, der Illusion und des Rollenspiels reich entfaltet: Links im Bild sitzen zwei Kinder, eine Puppenspielerin in einem zweifarbigen Gewand und ein Lautenspieler, deren Köpfe entlang

einer aufsteigenden Linie angeordnet sind, die den Blick zum Haupt des Pierrots lenkt. Die Komödiantin schaut auf ihre Puppe, die sie mit einer Girlande aus Rosenblüten geschmückt hat. Eine solche liegt auch rechts von ihr auf den Stufen und mit einer weiteren ist das vordere der beiden Kinder befasst. Auf der anderen Seite stützt sich ein hinzugetretener dümmlich dreinblickender alter Mönch auf seinen Stab, über dessen Haupt der Stoff des Vorhangs so gestaltet ist, dass der Eindruck entsteht, er trüge über der schwarzen Haube einen Hut oder einen Heiligenschein. Links vor ihm steht am Rand des Podestes, zu dem zwei Stufen führen, ein Komödiant, der seine geöffnete linke Hand so

64

Siehe Pierre Rosenberg: Paintings. In: Margaret Morgan Gras-

66

Abb. in Vidal 1992, S. 148.

selli/Pierre Rosenberg: Watteau 1684–1721, Ausst.-Kat. Washing-

67

Zu diesem Gemälde: Ausstellungskatalog Washington 1984,

68

Siehe Ausstellungskatalog Washington 1984, S. 439ff.; John Oli-

Abb. 240  Antoine Watteau:

Der zufriedene Pierrot, um 1712, ­Madrid, Museo Thyssen-Bornesmisza

ton, National Gallery, Paris, Galeries Nationales du Grand Palais, Berlin, Schloss Charlottenburg, Washington 1984, S. 430. 65

S. 274ff.; Borobia 2009, S. 518.

Wie niederländische Genrebilder bezeugen, zeigten Wirtshaus-

ver Hand: National Gallery of Art. Master Paintings from the Col-

schilder häufig einzelne Ganzfiguren.

lection. Washington 2004, S. 214.

DI E I NKO MMENS U R AB I LI TÄT S U B J E KT I V E R WE LT E N TWÜ RFE : WATTE AU S GILLES

403

Abb. 241  Antoine Watteau:

Die italienischen Komödianten, 1720, Washington, National Gallery of Art

vor den Leib hält, dass sie seinen Genitalbereich akzentuiert, und mit der Rechten den Pierrot präsentiert. Obschon großgewachsen, wirkt dieser so feminin, dass man argwöhnt, es könnte eine Frau in seiner Kleidung stecken, hier also eine veritable Travestie zu sehen sein. Das Bild Le Pierrot content macht den Betrachter, wenngleich ihn der Blick des Pierrots trifft, zum scheinbar zufälligen Beobachter der Szenerie, die Darstellung der Comédiens italiens ist dagegen ganz und gar um den Zuschauer bekümmert – im Gilles sind die rezeptionsästhetischen Lösungen dieser beiden Werke auf irritierende Weise kombiniert. Abermals geht sein Blick direkt zum Betrachter, ein bedeutungsschweres Merkmal, das in solch’ zentraler Bildposition einst dem Redner in Darstellungen der oratio,69 der Gorgo, Christus und apotropäischen Rezeptionsfiguren (Abb. 212ff.) vorbehalten war. Dora Panofsky, die das Aufkommen des Gilles/Pierrot verfolgt hat, der in Frankreich als tragikomische, fortwährend scheiternde Gestalt den Arlechino ersetzte, hat darauf hingewiesen, dass Watteau sich im Gilles des ikonographischen Schemas des Ecce homo bedient hat – als Vergleich hat sie Rembrandts 69

Hundertguldenblatt angeführt –, in ihm also der leidende Mensch an die Stelle des Erlösers getreten ist.70 Dieser Hinweis, der Kritik hervorgerufen hat,71 gewinnt an Plausibilität, vergegenwärtigt man sich, dass Rubens in der Ikonographie des verspotteten Christus den Silen dargestellt hatte (Abb. 178). Watteau, der u. a. einen Rubensschen Silenszug kopiert hat,72 wusste von der Sympathie des Flamen für die Gefolgschaft des Dionysos, und mit der Faunsherme am rechten Bildrand des Gilles hat auch er diesen Themenkreis angesprochen, der ein Gegenbild zu den heroischen Gottheiten der monarchischen Bildprogramme in Versailles darstellte. Das Mitgefühl mit den ins gesellschaftliche Abseits Gedrängten lag auch seiner Affinität zur italienischen Commedia dell’arte zugrunde, welche in Paris eine wechselvolle Geschichte erfahren hat. Als Herausforderung an den klassizistischen Regelkanon war die populäre Comédie Italienne ständigen Anfeindungen ausgesetzt. 1697 wurde sie nach der Aufführung des Stückes La fausse prudente, das man als Satire auf die Madame de Maintenon verstand, verboten und erst 1716, im Jahr nach dem Tod Ludwigs XIV., vom Duc d’Orléans nach Paris zurückgeholt.73 Das Maß an Selbstidentifikation, das aus dem Gilles spricht, den man auch als Selbstporträt des Künstlers gedeutet hat, implizierte insofern auch ein politisches Credo. Die Figur des sympathischen Verlierers diente der politischen Opposition der Régence als Verständigungszeichen.74 Erklärt sich der enigmatische Charakter des Gilles nicht zuletzt durch diese historischen Hintergründe, so bewirkt er auch, dass Watteaus Gemälde so unbedingt erscheint und sich als zeitloses Dokument mensch­licher Vereinsamung präsentiert. Formal resultiert sein Rätselcharakter vor allem aus der Zäsur zwischen der frontalansichtigen Hauptfigur und dem, was sich hinter ihrem Rücken abspielt, wo der Docteur auf dem Esel einherreitet und die Blicke von Léandre und Isabelle auf sich zieht. Dass der Capitaine spottend die Hosenbeine des Gilles zu bemessen scheint, die im Gegensatz zu seinen

Zum Relief des Konstantinbogens, das den Herrscher auf der

Darstellung Franz’ I. in Die Einheit des Staates in der Galerie in

Rostra vor dem tetrarchischen Ehrenmonument bei der Anspra-

Fontainebleau, siehe Brassat 2003, 276ff.

che an sein Volk zeigt und offenbar zum Vorbild wurde für die

404

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

Abb. 242  Adriaen Brouwer

(zugeschr.): Der Quaksalber,

um 1630, Karlsruhe, Staatliche

Kunsthalle

hochgeschobenen Ärmeln zu kurz geratenen sind, hebt die Divergenz der Blickachsen und die Isolierung der Hauptfigur nicht wirklich auf. Zum Rätsel wird der Gilles durch seine exponierte Position und den direkten Blick zum Betrachter – beides Merkmale, die durch das weitere Bildgeschehen nicht plausibel werden. Ebensowenig entspricht die Haltung des Pierrots einer Pose, in der sich das Einvernehmen von Modell und Maler bzw. die subjektive Identifikation von Porträtierten mit etablierten Rollenbildern bekundet, sondern sie ist die einer vorgeführten Person, die sich der Musterung fremder Blicke ausgesetzt weiß, eines Redners, dem die Stimme versagt. Denkbar ist, dass Watteau, der in Valenciennes, seinem Geburtsort, der kurz zuvor noch zu Flandern ge-

hört hatte, seinen Lebensunterhalt mit Kopien niederländischer und flämischer Gemälde bestritten hatte, sich dabei von Darstellungen wie dem Adriaen Brouwer zugeschriebenen Quaksalber (Abb. 242) anregen ließ.75 Erhöht auf einem Fass stehend, die Ansprache an seine am Boden kauernden Zuhörer unterbrechend, wirft dieser irritiert einen Seitenblick zum Betrachter. Dieser Blickkontakt wird durch den szenischen Zusammenhang plausibel: Der Scharlatan ist auf der Hut, er muss bei jedem Passanten befürchten, dieser könnte ihn entlarven. Dagegen bleiben die exponierte Stellung, die Konfrontation mit dem Betrachter und die gleichzeitige Verweigerung jeder Gesprächsbereitschaft beim Gilles unmotiviert, entbehren der inner-

70

73

Dora Panofsky: Gilles or Pierrot? Iconographic Notes on Watteau. In: Gazette des Beaux-Arts, 6. Per., 39, 1952, S. 319–340.

71

72

Hildesheimer nannte ihren Beitrag »akribisch und profund in

François Moureau: Watteau in His Time. In: Ausstellungskatalog Washington 1984, S. 479; Kirchner 1991, S. 160.

74

Held 1985, S. 46ff. Watteau hat in seinem Gemälde Sous un habit

ihrem Ernst und in ihrem Irrtum […] auf höchster Ebene miß-

de Mezzetin (London, Wallace Collection) die Familie des Kunst-

lungen.« (Hildesheimer 1988, S. 28.)

händlers Pierre Sirois als italienische Komödianten porträtiert

Siehe Ausstellungskatalog Washington 1984, S. 211f. sowie Alpers

(Ausstellungskatalog Washington 1984, S. 187).

1995, S. 68ff., 84ff.

75

Siehe Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Katalog Alte Meister. Be-

DI E I NKO MMENS U R AB I LI TÄT S U B J E KT I V E R WE LT E N TWÜ RFE : WATTE AU S GILLES

405

bildlichen Plausibilisierung. Sie machen ihn zu einem außergewöhnlichen Werk, dessen rezeptionsästhetische Krux allerdings z. B. durch Caravaggio (vgl. Abb. 139) und die direkten Betrachteransprachen der holländischen Malerei, z. B. in den ›Lauscherbildern‹ von Nicolaes Maes,76 vorbereitet waren. Auch hier irritiert die Konfiguration des ewigen Stillstands des Bildes und der fortlaufenden Zeitlichkeit des Betrachters und seiner Lebenswelt, die paradoxe Dauer des scheinbar direkten Blickkontakts zwischen der szenisch eingebundenen Bildfigur und dem Rezipienten. Der direkte Blick, der uns trifft und fesselt, lässt uns innehalten. Durch ihn werden wir gewahr, dass wir nicht nur sehen und Subjekt unserer Wahrnehmung sind, sondern auch das Objekt der Wahrnehmung anderer und im Moment dieser Erkenntnis auch unserer eigenen Wahrnehmung.77 Jean-Paul Sartre hat diesen Effekt und die mit ihm verbundene Irritation unserer Welt- bzw. Bildaneignung beschrieben: »Nie können wir Augen, während sie uns ansehen,

In der traurigen Gestalt des Gilles ist der »Blick, mit dem die Kunstwerke den Betrachter anschauen«,79 auf eine Weise akzentuiert, in der sich ankündigt, dass auch der Dialog von Bild und Betrachter bald unter dem Anspruch einer intersubjektiven Verständigung stehen sollte. Im 18. Jahrhundert schwand das Vertrauen in die kognitiven und moralischen Schematismen der Konversationsrhetorik und ihrer Gesten. Die Codierungen zumal intimer Kommunikation trugen zunehmend der Einsicht in die begrenzte Kommensurabilität subjektiver Weltentwürfe Rechnung.80 Kommunikative Interaktion konnte nun nicht mehr unterstellen, dass, was für einen selber gilt, auch für den anderen gelte, sondern hatte das Problem einer doppelten Kontingenz zu bewältigen, das der Intransparenz des Bewusstseins des Anderen, die ihn zu einem Rätsel macht.81

Kognitive Schließung des Kunstsystems: Das Ladenschild des Kunsthändlers Gersaint

schön oder häßlich finden, ihre Farbe feststellen. Der Blick des anderen verbirgt seine Augen, scheint vor sie zu treten. […] Wir können nicht die Welt wahrnehmen und gleichzeitig einen auf uns fixierten Blick erfassen; es muß entweder das eine oder das andere sein. […] Der Blick, den die Augen manifestieren, von welcher Art sie auch sein mögen, ist reiner Verweis auf mich selbst.«78

1721 malte Watteau in nur acht Tagen sein letztes und größtes Werk, das Ladenschild des Kunsthändlers Gersaint (Abb. 243).82 Dessen Wort, er habe dies getan, um »sich die Finger zu lockern«,83 sollte wohl überspielen, dass der Künstler sich herabgelassen hatte, ein Ladenschild, also ein Stück üblicherweise schlichter Werbe-

arbeitet von Jan Lauts, hrsg. v. d. Vereinigung der Freunde d.

nanzen, Zusammenbrüche: Vom Ende und Fortgang der Para-

Staatl. Kunsthalle, Karlsruhe 1966, S. 67f. 76

doxien. In: Gumbrecht/Pfeiffer 1991, S. 25.)

Siehe Kemp 1988; vgl. die nicht nummerierte erste Abb. in die-

78

sem Buch, die Maes’ Gemälde Die faule Magd (1655, London,

nomenologischen Ontologie. Reinbeck bei Hamburg 1991,

National Gallery) zeigt. In ihm scheint sich die Hausherrin mit einem Wort auf den Lippen an den Betrachter zu wenden, wäh-

77

Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts – Versuch einer phäS. 466f.; vgl. Didi-Huberman 1999.

79

Adorno 1981, S. 185: »Das Rätsel lösen ist soviel wie den Grund

rend sie hinweist auf die Magd, die schläft und stumm ist wie ein

seiner Unlösbarkeit angeben: den Blick, mit dem die Kunst-

Bild.

werke den Betrachter anschauen.«

Kray und Pfeiffer sprechen vom »neurophysiologisch zemen-

80

Luhmann 1984, S. 134.

tierte[n] ›Fundamentalparadox‹: das menschliche kognitive Sys-

81

Luhmann 1995, S. 25f.

tem, in sich Subjekt und Objekt gleichermaßen, muß bei seinen

82

Zu diesem Werk siehe Helmut Börsch-Supan: Antoine Watteau,

Operationen Subjekt und Objekt gleichwohl jeweils säuberlich

1684–1721. Köln 2000, S. 12–27; Julie Anne Plax: Watteau and the

trennen«. (Ralph Kray/K. Ludwig Pfeiffer: Paradoxien, Disso-

Cultural Politics of Eighteenth-Century France. Cambridge

406

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

Abb. 243  Antoine Watteau: Das Ladenschild des Kunsthändlers Gersaint, 1721, Berlin, Schloss Charlottenburg

malerei, auszuführen, und womöglich auch die beiläufige, ja respektlose Inszenierung des Porträts des Königs entschuldigen, das in dieser Darstellung nur noch eine Ware unter vielen ist und für den Transport verpackt wird. Während rechts am Tresen drei junge Personen mit versonnenen Blicken eingehend ein für den Betrachter nicht sichtbares, kleines Werk betrachten und neben ihnen ein älteres Paar ein großes ovales Gemälde mit nackten Nymphen studiert, geschieht dies in der linken Bildhälfte unter den Blicken eines Mannes, der darauf wartet, die Kiste abtransportieren zu können, des zweiten Gehilfen, der an einem Spiegel schwer zu tragen hat, und der interessierten Frau, die an der Schwelle des Ladenlokals innehält und bereits von

ihrem Mann zur Eile gedrängt wird. Auch in Watteaus Ladenschild wird die eigentliche Handlung durch Rezeptions- bzw. Reflexionsfiguren unterschiedlich bewertet. Der nachdenklichen, aber wohl auch amüsierten Reaktion des Trägers kontrastiert die ernste Aufmerksamkeit der vornehmen Dame. Die weibliche Rückenfigur, die an diejenige in ter Borchs Galanter Konversation (Abb. 218) erinnert, verleiht dem Vorgang Gewicht, ohne ihn in einer bestimmten Weise zu kommentieren. Gerade weil sie von uns abgewandt ist, man allenfalls ahnen kann, was sie denkt, weil die Beobachtung der Beobachtung hier eingeschränkt ist, motiviert sie den Betrachter, dem dargestellten Vorgang tiefere Bedeutung beizumessen.

2000, S. 154–183; Guillaume Glorieux: À l’enseigne de Gersaint,

sondert rahmte, um zwei Kunstwerke verkaufen zu können,

Edme-François Gersaint, marchand d’art sur le pont Notre-

siehe Gerrit Walczak: Gersaint, Watteau, and Beyond. Observa-

Dame (1694–1750). Seyssel 2002, S. 72–89; Ausstellungskatalog

tions on the Art Trade and its Social Practices in Eighteenth-

Washington 1984, S. 446–458 (Nr. 73); Annalisa Scarpa Sonino:

Century Paris. In: G. Ulrich Großmann/Petra Krutisch (Hrsg.):

Cabinet d’Amateur. Le grandi collezioni d’arte nei dipinti dal XVI

Internationaler Kunsthistoriker-Kongress, Nürnberg, 15.–20. Juli

al XIX secolo. Mailand 1992, S. 119–122. Zum Befund des Gemäl-

2012. Congress Proceedings, Anzeiger des Germanischen Natio-

des, das man im 18. Jahrhundert teilte und beide Fragmente ge-

nalmuseums, Beiband 32,2, 2013, S. 740–744.

KO GN I TI VE S C HLI E SS U N G D E S KU N S T SYS T E MS: DAS LADENSCHILD DES KUNSTHÄNDLERS GERSAINT

407

Fünf Jahre nach dem Tod Ludwigs XIV. gemalt, ist das Ladenschild in der Tat eine geistreiche Reflexion über das Ende der Epoche des Sonnenkönigs und ihres grand goût. Das Ableben des Monarchen ist in ihm thematisiert, da erst mit diesem Ereignis sein stellvertretendes Bildnis, das bis dahin bei Amtshandlungen benutzt wurde und Objekt einer kultischen Verehrung war, überhaupt ästhetisch freigesetzt und womöglich als Ware verfügbar werden konnte. Das Bruststück Ludwigs XIV. spielt in Watteaus Gemälde an auf den Namen des Ladenlokals auf dem Pont Notre-Dame, Au Grand Monarque, das Gersaint 1718 übernommen hatte. Das Vanitas-Symbol der hinter den Gehilfen sichtbaren Standuhr verdeutlicht, dass die Zeit des Königs abgelaufen ist und mit ihr auch die seines Porträts. Das repräsentative, weithin erkennbare Herrscherbild, das der Wandel der Zeiten und des Geschmacks zu einem Ladenhüter werden ließ, wird im nächsten Moment in der Kiste verschwunden sein, während in der rechten Bildhälfte zeitgenössischen Kunstwerken die Aufmerksamkeit der potentiellen Kunden zukommt. Ausgiebig betrachtet das nur von hinten zu sehende Paar das ovale Nymphenbild, das wahrscheinlich Dianas Entdeckung der Schwangerschaft Kallistos vergegenwärtigt. Anderer Art ist dagegen das Interesse des Passanten und der innehaltenden Dame: Es gilt offenbar weniger dem Bild des Königs selbst als dem vielsagenden Vorgang seines Verschwindens, dessen Symbolik sich nur diesen Außenstehenden offenbart. Dadurch erscheint die Schwelle des Geschäfts auch als eine kognitive Grenze: In ihm herrscht eine rege Geschäftigkeit, die bonne conversation der vermögenden Kunstschaft und die zweifelhafte Neugierde der von Watteau mit leiser Ironie charakterisierten, lorgnettierenden Enthusiasten,

bei der man nicht weiß, ob sie malerischem Können oder doch nur nackten Mädchen gilt. In der Tradition der Galeriebilder hat auch Watteau in dem Ladenschild des Kunsthändlers Gersaint das Kunstsystem als eigenständiges, ja sogar als kognitiv geschlossenes System repräsentiert, indem er interne und externe Beobachter und ihre differenten Wahrnehmungsweisen unterschied. Während in der rund fünfzig Jahre zuvor von Charles Le Brun entworfenen Tapisserie aus der Histoire du Roy, die den Besuch des Königs in den Gobelins (Abb. 232) zeigt, die Blüte der Künste als Zeichen der kulturschaffenden Potenz des Souveräns erscheint,84 verewigte er einen Ort des handeltreibenden, handwerklich und manufakturell produzierenden Bürgertums. Das Milieu der Kunsthändler und die Gesetze des Kunstmarkts waren Watteau wohlbekannt. In seinen ersten Jahren in Paris hatte er in der Werkstatt des Claude Audran III. gearbeitet, in der Bilder serienmäßig produziert wurden, wobei man bei den beliebten Groteskenmalereien die figürlichen Szenen unabhängig von den ornamentalen Rahmungen gestaltete und beides je nach den Wünschen der Kunden kombinierte.85 Nach einem Aufenthalt in seiner Geburtsstadt Valenciennes wohnte er ab 1710 in Paris bei dem Kunsthändler Sirois, dem Schwiegervater Gersaints. Später ermöglichte ihm die Förderung des Bankiers und Kunstsammlers Pierre Crozat eingehende Studien der italienischen und flämischen Meisterzeichnungen in dessen Besitz. Wie Gersaint berichtet hat, vermied Watteau es, enge Bindungen mit Mäzenen einzugehen.86 In dem Ladenschild hat er mit dem verschwindenden Königsporträt auch die Eigenständigkeit des Kunsthandels gegenüber dem Hof thematisiert, wobei er sich offenbar keine Illusionen darüber erlaubte, dass mit ihr neue Zwänge auf die Künstler zukamen. Denn schon das überbordende

83

Wie Anm. 23.

menstellte. Ähnlichen Prinzipien folgte in dieser Zeit vielfach

84

Brassat 2003, S. 357f.

die Herstellung von Bildteppichen. Die Manufaktur von Beau-

85

Rees 1996, S. 119 betont, dass Watteau dieses Kompositionsprin-

vais produzierte Tapisserien mit Grotesken, deren additive

zip der Grotesken auch in seinen Staffeleibildern beibehielt, in

Kompositionen es erlaubten, sie auch zu teilen und so variabel

denen er nach Auskunft des Comte de Caylus in die Landschafts­

in jeweils gewünschten Formaten zu produzieren. Siehe Brassat

hintergründe unter Benutzung seines Skizzenbuches verschie-

1992, S. 103, 160f.

dene Figuren einfügte und dann erst additiv zu Gruppen zusam-

408

86

Rees 1996, S. 112.

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

Sortiment des dargestellten Ladens, das vorwiegend aus Porträts und galanter Kunst besteht, den Gattungen, die den weitaus größten Anteil der französischen Bildproduktion des 18. Jahrhunderts ausmachten, reflektiert den Druck des Marktes und die Abhängigkeit der Maler von einer Kundschaft, die Watteau mit ironischer Distanz charakterisiert hat. Dabei bildet der lüstern vor der Nymphendarstellung in die Knie gehende Kunde, dem links im Bild die Gestalt des gebeugten Gehilfen korrespondiert, einen signifikanten Gegensatz zu der würdevollen Rückenfigur, der bereits an den Bilderknigge von Lichtenberg und Chodowiecki (Abb. 9, 10) denken lässt. Der Ort der Kunst erscheint hier nicht mehr als Hort des Wissens, als Bastion in einer ignoranten Umwelt (vgl. Abb. 166), sondern in ihm herrscht eine geschäftige Betriebsblindheit und ein von Konventionen und Genusssucht bestimmtes Betrachterverhalten. Den Sinn für größere Zusammenhänge bewahrt nur, wer dies von außen betrachtet. Das Ladenschild ist insofern kein ›Triumph der neuen Malerei‹, sondern ein durchaus skeptisches Spätwerk eines Außenseiters. Mary Vidal hat dem Werk Watteaus eine großangelegte Studie über Malerei, Literatur und Konversation im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts gewidmet.87 Mit der vorrangigen Präsenz des Konversationsstücks in diesem Œuvre zeichnet sich unser thematischer Zusammenhang hier noch einmal in konzentrierter Form ab. Das Unbestimmte und das Spiel mit den Codes und den Gattungen waren die bevorzugten Mittel der Selbstreflexion der Malerei der Régence und des Rokokos. Mit der Kultivierung des ›sujet de rien‹ und der oft programmatischen Offenheit ihrer tableaux de fantaisie ging diese über die des 17. Jahrhunderts hinaus, freilich wirkt sie thematisch, ikonographisch und auch in ihren Formen der Aktivierung der Betrachter, vergleicht man sie mit der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts,

87

Vidal 1992.

88

Siehe Joachim Rees: Das Capriccio und die Privatisierung der Bildwelt in Interieurs des 18. Jahrhunderts. In: Mai/Rees 1998,

89

auch eigentümlich eingeschränkt. Mit ihrer Abkehr von den hohen akademischen Themen, ihrer Neigung zu träumerisch entrückten, aperspektivischen Szenen und ihren ironischen Brechungen und Verweisen regte die Kunst der Régence und des Rokokos immer wieder Assoziationsleisungen an und leistete auch der modernen Verinnerlichung der Kunstrezeption Vorschub.88 Zugleich hat sich in Anlehnung an Roger de Piles und Joseph Addison die von Francis Hutcheson vorbereitete britische Assoziationsästhetik entwickelt, deren eigentlicher Begründer, David Hartley, eine an Newton anknüpfende mechanistische Theorie der Nervenvibrationen entwarf und die intellektuellen und ästhetischen »Freuden der Einbildungskraft« erörterte.89

Conversation Pieces und Modern Moral Subjects

Als eigentlicher Fortsetzer der lebhaften Erzählkunst der Niederländer trat denn auch in England William Hogarth auf, der diese vor allem in seinen Gemäldeund Graphikzyklen mit populären Themen beerbt hat. Hogarth bewunderte die Kunst Watteaus und Lancrets und hat dem u.a. in seinem delikaten Porträt von Sir Andrew Fountaine und weiteren Personen (Abb. 244) Ausdruck verliehen. Das ›Conversation Piece‹, eine Gattung, die gleichermaßen Konversation repräsentieren und anregen sollte, zeigt inmitten eines Landschaftsparks den Sammler und Connoisseur, der das erworbene, von einem Diener herbeigebrachte Gemälde betrachtet, dessen Vorzüge der prominente Auktionator Christopher Cock hervorhebt.90 Links bewundern und besprechen Mrs. Cock, die in der Linken ein Vergrößerungsglas hält, und Mrs. Elizabeth Price das

Hutcheson: ebda., S. 131f. u. 191; zu Archibald Alison: ebda., Bd. 2, Bern 1975, S. 167ff. 90

Siehe Mark Hallett/Christine Riding: Hogarth. Ausst.-Kat. Paris,

S. 113–137.

Musée du Louvre, London, Tate Britain, Madrid, La Caixa, Lon-

Johannes Dobai: Die Kunstliteratur des Klassizismus und der

don 2006, S. 104 (Kat.-Nr. 51).

Romantik in England. Bd. 1, Bern 1974, S. 143; zu de Piles und

CONVERSATION PIECES U N D MODERN MORAL SUBJECTS

409

Abb. 244  William Hogarth:

Sir Andrew Fountaine und weitere Personen, um 1730–35, Philadelphia Museum of Art

präsentierte italienisch anmutende Kunstwerk. Dessen Darstellung eines Springbrunnens auf dem Parnass, an dem die Musen lagern, kontrastiert dem Ort der Handlung, der englischen pastoralen Landschaft, und visualisiert den Familiennamen von Sir Andrew. Die überkommene antike und christliche Ikonographie, die im protestantischen England als »dead language« (Joshua Reynolds) galt, hat Hogarth immer wieder seinen modern moral subjects unterlegt. So zeigt z. B. die Darstellung Der morgendliche Empfang der Comtesse (The countess’s morning levee bzw. The Toilette, Abb. 245) aus der Serie Marriage à la mode die Protagonistin mit Gästen und Bediensteten.91 Links singt ein italienischer Castrato, wie sie damals in den Londoner Opernhäusern häufig auftraten,92 begleitet

91

Zu dieser Serie siehe Martina Dillmann/Claude Keisch (Hrsg.):

abgedruckt in ders.: Englishness. Beiträge zur englischen Kunst

Marriage A-la-Mode. Hogarth und seine deutschen Bewunde-

des 18. Jahrhunderts von Hogarth bis Romney. Berlin/München

rer. Ausst.-Kat. Berlin, Nationalgalerie, Berlin 1998, insbes. Wer-

2010, S. 33–56; Judy Egerton: Hogarth’s Marriage A-la-Mode.

ner Busch: Hogarths «Marriage A-la-Mode« – Zur Dialektik von

Hrsg. v. d. National Gallery, London 22010.

Detailgenauigkeit und Vieldeutigkeit. In: Ebda., S. 71–83, wieder-

410

von einem Querflötisten – zum Entzücken der Matrone im weißen Kleid, der der hinter ihr stehende Schwarze eine Tasse Kakao reichen möchte. Derweil flirtet die Comtesse, während ein französischer Friseur ihr Locken legt, mit ihrem Anwalt und heimlichen Geliebten Silvertongue, der in der ersten Darstellung der Folge (The marriage contract) die Vernunftehe der reichen Bürgerstochter mit dem Adligen angebahnt hat und in der folgenden ihren Mann töten wird (The killing of the earl bzw. The Bagnio). Er bietet ihr mit der Rechten Eintrittskarten an und weist mit der Linken auf einen bemalten Paravent hin, dessen Darstellung einen Maskenball zeigt. Über den amourösen Charakter seiner Offerte lassen die darüber hängenden Gemälde, Correggios Jupiter und Jo und eine barocke

92

Egerton 2010, S. 45.

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

Abb. 245  William Hogarth:

Der morgendliche Empfang der Comtesse, um 1744, London, National Gallery

Darstellung von Lot und seinen Töchtern, keinen Zweifel. Zudem hängt auf der linken Wand tatsächlich ein Porträt von Silvertongue über einem Raub des Ganymed. Vor der Comtesse liegen soeben erst auf einer Auktion erworbene, größtenteils noch mit den Lotnummern versehene Gegenstände nebst dem Auktionskatalog am Boden. Den größten von ihnen, eine Aktaion-Skulptur, hat der junge schwarze Page am rechten Bildrand mit der Rechten ergriffen. Lachend zum Betrachter blickend, zeigt er mit der Linken auf das Geweih – zweifellos eine ironische Betrachteransprache. Der direkte Blick der en face dargestellten Figur zum Betrachter, traditionell ein Merkmal apotropäischer Rezeptionsfiguren, geht hier von einer Kommentarfigur aus, die zwar darauf hinweist, dass wir, wie Aktaion, zu sehen bekommen, was nicht für unsere

93

Augen bestimmt ist, ohne aber ernsthaft eine Warnung vor solchem ›indezenten‹ Schauen aussprechen zu wollen. Vielmehr kommentiert sie lachend das lächerliche Bildgeschehen: Der Page berührt mit dem Zeigefinger das Geweih der Aktaion-Skulptur und macht sich so über den ›Cockoldry‹, den gehörnten Ehemann, lustig, einen notorischen Bordellgänger, der, wie die vorangegangene Darstellung (The visit to the quack doctor) gezeigt hat, an der Syphilis erkrankt ist. Im morgendlichen Empfang der Comtesse nimmt links im Bild ein Lebemann mit Lockenwicklern im Haar schläfrig seinen Morgentrunk zu sich, bei dem es sich um den gehörnten Hausherren, den jungen Lord Squanderfield, handeln könnte.93 Das seit dem frühen 15. Jahrhundert geläufige Bild im Bilde, das lange sinnpräzisierenden Verfahren der

Diese Identifizierung, für die die Lockenwickler sprechen, wel-

wirft: In The Tête à Tête trägt er lockiges hellbraunes Haar. Von

che die Person als Angehörigen des Hauses, nicht als Gast des-

der nämlichen Figur im Morgentlichen Empfang sieht man nur

selben ausweisen, lässt sich freilich nicht verifizieren, da Squan-

die rechte Gesichtshälfte, weshalb der schwarze auf die Syphilis

derfield in den weiteren Darstellungen zumeist Perücke trägt

hinweisende Fleck unter dem linken Ohr, Squanderfields Erken-

und er auch seine Haare kosmetischen Veränderungen unter-

nungszeichen, nicht zu sehen sein kann.

CONVERSATION PIECES U N D MODERN MORAL SUBJECTS

411

Analogisierung gedient hatte, dann von den Holländern bereits weidlich für eine Verrätselung des Dargestellten genutzt worden war, dient hier der Satire, dem Vergnügen, das gerade darin besteht, dass man die Vordergründigkeit solcher In-Bezug-Setzungen durchschaut und die aussagekräftigere Differenz zwischen dem verkommenen Hausherrn und jedweder mythischen Gestalt erkennt.94 Die von Hogarth gestifteten Korrelationen zwischen der geschilderten traurig trivialen Gegenwart und dem eingebetteten zweiten Bildregister der alten Kunstwerke, insbesondere der Gemälde auf den Wänden der Interieurs, implizieren eine grundsätzliche Alterität von beidem. Und mithin sind die mit subjektiver Willkür assoziativ erdachten Anspielungen, bei denen z. B. Aktaion herhalten muss für den dieser Figur ganz fremden Sachverhalt des gehörnten Ehemanns, Mittel augenzwinkernd übertreibender Vergleiche, deren sich bald darauf in England auch die aufblühende, zu einer publizistischen Waffe avancierende politische Karikatur bediente.95 Hogarths Bilderzählungen sind heitere, in ihrer Aktivierung eines suchenden und kombinierenden Spürsinns höchst anregende Gesprächsprogramme. Doch in ihnen kündigte sich auch die baldige fundamentale Problematisierung des Sprechens über Kunstwerke an, da die Deutung zahlreicher Details und ihrer Bezüge zueinander nicht über den Status eines Rezeptionsvorschlags hinauskommen kann und der Rezeptionsvorgang somit zu einem prinzipiell nicht abschließbaren Prozess geworden ist.96 Be-

94

merkenswert ist, dass die von vornherein auch für die graphische Vervielfältigung und somit ein breites Publikum bestimmten modern moral subjects in Deutschland durch Georg Christoph Lichtenberg, den Protagonisten des ernsten, ›natürlichen‹ Kunstgenusses, Verbreitung fanden,97 der sie, Hogarths Witz angemessen, als »Spielmaterial« nutzte, »um assoziative, besonders wortspielerische Funken daraus zu schlagen.«98

Die wissenschaftliche Fundierung der Kennerschaft Die wissenschaftliche Fundierung der Kennerschaft, Pluralisierung und Problematisierung des Sprechens über Kunst

In seinem Traktat Idée de la perfection de la peinture hatte schon 1662 Roland Fréart de Chambray über Zirkel von Kunstliebhabern, »Curieux Modernes«, geklagt, die mit einem eigenen Jargon emphatisch Aufmerksamkeit für maltechnische Merkmale von Gemälden reklamierten. Schwärmerisch lobten sie »la Fraischeur et la Vaghesse du Coloris, La Franchise du pinceau« etc.99 Mag sein, dass der Enthusiasmus dieser Liebhaber sich aus Binets Konversationslexikon speiste. Doch schon bald sollten die sogenannten Rubenisten, voran ihr Wortführer Roger de Piles, im Namen des Barockmalers und einer nouvelle sensibilité gegen die doctrine classique einen neuen Sensualismus propagieren. De

Vgl. Busch 1993, S. 327; Werner Busch: Hogarths «Marriage A-la-

Read Prints]; Werner Busch: Hogarths «Marriage A-la-Mode« –

Mode« – Zur Dialektik von Detailgenauigkeit und Vieldeutigkeit.

Zur Dialektik von Detailgenauigkeit und Vieldeutigkeit. In:

In: Busch 2010, S. 33–56, bes. S. 45f. Busch wirft die Frage auf: »Taugt eine klassische, von einer normativen Übereinkunft ge-

Busch 2010, S. 37–39. 97

garthischen Kupferstiche, mit verkleinerten aber vollständigen

tragene Kunst nur noch als Zitat, das durch seine besondere Instrumentalisierung deutlich macht, daß die Übereinkunft nicht

Copien derselben von E[rnst Ludwig]. Riepenhausen. 12 Liefe-

mehr existiert? Es spricht vieles dafür, daß Hogarth so gedacht

rungen, Dieterich, Göttingen 1794–1816; siehe Ausstellungskatalog Berlin 1998.

hat.« (Ebda., S. 46.) 95

Siehe Wolfgang Brassat/Thomas Knieper: Die Karikatur. In:

98

Brassat 2017, S. 780ff. 96

Georg Christoph Lichtenberg: Ausführliche Erklärung der Ho-

Werner Busch: Hogarths «Marriage A-la-Mode« – Zur Dialektik von Detailgenauigkeit und Vieldeutigkeit. In: Busch 2010, S. 35.

Siehe Shean Shesgreen: Hogarth’s »Industry and Idleness«: A

99

Zit. n. Donald Posener: Concerning the ›Mechanical‹ Parts of

Reading. In: Eighteenth-Century Studies, 9, 1976, S. 569–598;

Painting and the Artistic Culture of Seventeenth-Century

Peter Wagner: Reading Iconotext. From Swift to the French Re-

France. In: The Art Bulletin, LXXV, 4, 1993, S. 584, Anm. 5.

volution. London 1995, passim, bes. S. 9–35 [Kap. 1: How to (Mis)

412

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

Piles hat turbulente Massenbewegungen in Gemälden des Flamen mit den Kategorien des »tout ensemble« und einer »subordination générale« gewürdigt.100 Unter dem Gesichtspunkt einer wahren, mit malerischen Mitteln, mit Farbe und Licht gestifteten Einheit des Gemäldes wurde die Autonomisierung der Kunst vorangetrieben. Auf dieser Grundlage konnte im 18. Jahrhundert eine Personalisierung des Stils, eine »Transformation des thematisch gebundenen Bildausdrucks in den individuellen Selbstausdruck«,101 vollzogen werden. Die dafür notwendige, schon von Lomazzo vorbereitete Verlagerung des kunsttheoretischen Augenmerks auf bildimmanente Aspekte zeigt sich u. a. bei Roger de Piles, der 1708 in seiner Schrift La balance des peintres zahlreiche Maler unter verschiedenen Kriterien (dessin, colorit, composition, expression) benotete.102 Der Sensualismus de Piles’ leitete die Entwicklung der Kunsttheorie zur Ästhetik ein, ihre Konzentration auf Erfahrungsgrundlagen, Darstellungsmittel und Wahrnehmungsphänomene. In seinen Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture von 1719 bedachte Jean Baptiste Dubos eingehend die Differenz von Wort und Bild, die Bedeutung des Betrachters und seiner Empfindungen und die Interdependenz von künstlerischer Produktion und Rezeption.103 Kunst habe zu rühren und zu gefallen, erklärte Dubos, wobei auch er die Relativität des Kunsturteils hervorhob. Im selben Jahr 1719 erschienen der Essay on the Art of Criticism und der Discourse on the Dignity, Certainty, Pleasure and Advantage of the Science of a Connoisseur des englischen Malers Jonathan Richardson d. Ä. Seine historische

Leistung bestand in der Evaluierung des Stils als der individuellen Handschrift des Künstlers und der theoretischen Fundierung der Praxis der Zuschreibung und Händescheidung.104 Neben dem Fachwissen des Connoisseurs, der das Original von Kopien und Gutes von Schlechtem zu unterscheiden vermag, vermittelte Richardson seinen Lesern auch kunsttheoretische und -historische Kenntnisse. Die 1715 erschienene Schrift The Theory of Painting, in der er die vier Kategorien de Piles’ übernahm und um Invention, Handling, Grace and Greatness sowie The Sublime erweiterte,105 enthält zehn Seiten mit einer Historical and Chronological Series of the Principal Professors of Painting. Die Aufstellung umfasst Grundinformationen zu zahlreichen Künstlern von Cimabue bis zu dem Maratta-Schüler Giuseppe Passari.106 Der Essay on the Art of Criticism erläutert, »How to judge, I. Of the Goodness of Picture. II. Of the Hand of the Master. And III. Whether it is an Original, or a Copy.«107 Seine Absichten hat der Autor eingangs der Schrift über die Science of a Connoisseur dargelegt: In seiner Nation, die allen anderen in so vieler Hinsicht überlegen sei, gebe es, im Unterschied zu Italien, wo ein jeder die Kunst liebe und fast jeder ein Connoisseur sei, zu Frankreich, Holland und Flandern kaum Kunstverständige.108 Daher wolle er die Leser mit dem lehrreiche Vergnügen derselben bekannt machen: »I open to gentlemen a new scene of pleasure, a new innocent amusement«.109 Das folgende Lob der Malerei umfasst manche Gemeinplätze der humanistischen Kunsttheorie. Zu dem alten Leitsatz des ut pictura poesis, »painting is poetry«,110 zitiert Richardson nach Bel-

100

105

Roger de Piles: Cours de peinture par principes. Collection dirigée par Yves Michand. Introduction de Thomas Puttfarken,

Jonathan Richardson: The Theory of Painting. In: Ders.: Works. London 1773 (Nachdruck Hildesheim 1969), S. 20, 124ff.

Nimes 1990, S. 69.

106

Ebda., S. 148–157.

101

Körner 1988, S. 66.

107

Jonathan Richardson: Essay on the Art of Criticism. In: Richard-

102

Siehe Sara G. Bradford: Roger de Piles as Critic and the »Balance 108

Ders.: Discourse on the Dignity, Certainty, Pleasure and Advan-

Einführung eines Begriffs in die Kunstkritik des 18. Jahrhunderts.

109

Ebda., S. 243.

In: Pantheon, XLII, 1984, S. 158–160; Pochat 1986, S. 371ff.

110

Ebda., S. 249.

des Peintres«. New York 1959. 103

104

son 1773, S. 159. tage of the Science of a Connoisseur. In: Richardson 1773, S. 241f.

Siehe Ludwig Tavernier: Apropos Illusion. Jean Baptiste Dubos’

Irene Haberland: Jonathan Richardson (1666–1745). Die Begründung der Kunstkennerschaft. Münster 1991, passim, bes. S. 149.

D ie wissenschaftliche F undierung der Kennerschaft

413

lori den Ausspruch Annibales: »li poeti dipingono con le parole, li pittori parlano con l’opere«.111 Zugleich betont er wiederholt die Differenz von Wort und Bild und postuliert eine Überlegenheit des letzteren: »this hieroglyphic language [die Malerei, W.B.] completes what words or writing began«.112 Bemerkenswert ist, dass der Autor dabei auf den kommunikativen Gebrauch von Gemälden abhebt: »The great and chief ends of painting are to raise and improve nature; and to communicate ideas; and not only those which we may recieve otherwise, but such as without this art could not possibly be communicated; whereby mankind is advanced higher in the rational state, and made better; and that in a way easy, expeditious, and delightful.«113

Unter diesem Gesichtspunkt betont er weiter: »The business of painting is to do almost all that discourse and books can, and, in many instances, much more, as well as more speedily and more delightfully«.114 Damit hat Richardson ein Paragone-Argument Leonardos, die permanente sinnliche Totalpräsenz des im Bild Dargestellten,115 rezeptionsästhetisch pointiert: »Painting shews the thing immediately and exactly. No words can give you a satisfactory idea of the face and person of one you have never seen; Painting

111

does it effectually […] and moreover in an instant recalls your memory, at least the most considerable particulars of what you have heard concerning him, or occasions that to be told which you have never heard.«116

Das Gemälde wird durch seine Anschaulichkeit charakterisiert, was nicht heißt, dass damit sein Sinn transparent wäre. Doch anders als die vorgetragenen oder gelesenen Werke der Dichter und Musiker kommt es der geselligen Rezeption entgegen, weil sich sein Nachvollzug jederzeit im Anschaulichen vergewissern kann. Neben dieser rezeptionsästhetischen Orientierung ist bemerkenswert, dass sich mit Richardson die Kunsttheorie zum Ende der Epoche der Konversation wieder jenem Fachwissen vom Handwerk der Maler öffnete, welches sie nach Cennini zumeist ausgeklammert hatte. Dessen zunehmende Bedeutung verdankte sich vor allem dem expandierenden Kunsthandel, mit dem schon im frühen 16. Jahrhundert auch das Fälschen von Antiken und Werken bedeutender jüngerer Meister zu einem einträglichen Geschäft geworden war.117 In der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich, wie Francis Haskell dargelegt hat, die Fernpatronage für italienische Kunst auf ganz Europa ausgeweitet.118 In Holland, wo, wie der Engländer John Evelyn 1641 erstaunt notierte, sogar Bauern Gemälde kauften, da kein Land für Kapitalinvestitionen zur Verfügung gestanden habe,119 und

Ebda., S. 251; Bellori 2009, Bd. 1, S. 43.

in der Kgl. Bibliothek Turin und andere Fälschungen des Giu-

112

Richardson 1773, S. 256.

seppe Bossi. Berlin 1980; Henry Keazor: Täuschend echt! Eine

113

Ebda., S. 247.

114

Ebda., S. 264f.

115

Siehe oben, S. 169.

Century. In: Past and Present, 15, 1959, S. 48–59; Ders.: Patrons

116

Richardson 1773, S. 250f.

and Painters: A Study in the Relations Between Italian Art and

117

Dazu, mit Schwerpunkten auf der Renaissance-Skulptur und

Society in the Age of the Baroque. London 1963 (Dt. Ausgabe:

der Malerei des Seicento: Massimo Ferretti: Fälschungen und

Maler und Auftraggeber: Kunst und Gesellschaft im italieni-

künstlerische Tradition. In: Bellosi/Castelnuovo u. a. 1987, Bd. I,

schen Barock. Köln 1996).

Geschichte der Kunstfälschung. Darmstadt 2015. 118

S. 233–303. Zum Bereich der Zeichnung im frühen 16. Jahrhundert siehe Alexander Perrig: Michelangelo Studien IV. Die ›Mi-

414

119

Francis Haskell: The Market for Italian Art in the Seventeenth

John Evelyn: Diary. Bd. II, Oxford 1955, S. 39; vgl. Johan Huizinga: Holländische Kultur im 17. Jahrhundert. Jena 1933, S. 23, 265

chelangelo‹-Zeichnungen Benvenuto Cellinis. Frankfurt/Bern

sowie John Michael Montias: Artists and Artisans in Delft: A So-

1977; Ders.: Michelangelo’s Drawings. The Science of Attribu-

cio-economic Study of the Seventeenth Century. Princeton, N.J.

tion. New Haven/London 1991; Hans Ost: Das Leonardo-Porträt

1982, passim, bes. S. 183ff.

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

später in England, wo die große Nachfrage nur durch Importe befriedigt werden konnte, hatte sich ein spezialisierter Kunstmarkt etabliert.120 Fachkundiger Vermittler bedurfte es zudem beim Verkauf großer Sammlungen. Ihrer bediente sich z. B. der schon als Förderer Watteaus erwähnte Bankier und Kunstsammler Pierre Crozat, als die berühmte römische Sammlung der Odescalchi an den Regenten, den Herzog von Orléans, verkauft wurde.121 Als dessen Unterhändler freundete sich Crozat mit führenden italienischen Kennern an und kaufte für sich aus diesem Bestand einige vorzügliche Gemälde und die bedeutende Zeichnungssammlung. Zurück in Paris, beauftragte er auf die Initiative des Regenten hin 1721 ein Heer von Stechern, die Sammlung in einem Katalog festzuhalten. Dieser wurde mit Hilfe des Comte de Caylus und von Pierre-Jean Mariette, dem Sohn und Erben eines führenden Pariser Graphikhändlers und bedeutendem Connoisseur, zu einer umfassenden Enzyklopädie kunstgeschichtlicher Kennerschaft.122 Kunst wird zu einem Sozialsystem durch die Mitausdifferenzierung von professionellen Vermittlern und einem spezifischen Publikum.123 Das Fachwissen von Kunsthändlern gehörte nicht zum traditionellen Rüstzeug von Standespersonen und zu den Themen des geselligen Kunstgesprächs, doch Richardson wollte seinen Lesern grundlegende Kenntnisse desselben vermitteln und erklärte: »to be a good connoisseur is fit to be the part of the education of a gentlemen«.124 Ganz in seinem Sinne wurden 1723 in London der Roman Club und die Society of Dilettanti gegründet, deren Mitglieder sich von John Snoybert, Gavin Hamilton, Reynolds und Zoffani in Gruppenporträts verewigen ließen, wel-

120

che man als »Conversation of Virtuosi« bezeichnete.125 Das Gemälde Die Uffizien-Tribuna (Abb. 246), das Johann Zoffani im Auftrag der englischen Königin Charlotte angefertigt hat, vergegenwärtigt zahlreiche englische Aristokraten, Dilettanten und Künstler in diesem zentralen Raum, dem ›Allerheiligsten‹ der Mediceischen Sammlungen.126 In jahrelanger Arbeit hat der gebürtige Frankfurter Artefakte dieser kostbarsten Kunstund Wunderkammer Europas wiedergegeben: berühmte antike Skulpturen, darunter die Venus de’ Medici und die etruskische Chimera von Arezzo, Gemälde von Raffael, Correggio, Tizian, Annibale, Guido Reni, Rubens u. a. – in der Mittelachse hängt auf Höhe der Besucher unter Johannes dem Täufer von Raffael und seiner Werkstatt und Rubens’ Folgen des Krieges mit Hans Holbeins kleinem Porträt von Sir Richard Southwell auch ein Werk des Hofmalers Heinrichs VIII. In diesem Pantheon der Künste repräsentierte Zoffani zahlreiche Briten, die während seines Aufenthalts die Stadt am Arno besuchten oder in ihr lebten, wie Sir Horace Mann, der britische Konsul in Florenz. Dieser ist links unterhalb der Mediceischen Venus in der Gruppe zu sehen, der von Pietro Bastianelli, dem hinter dem Gemälde stehenden Kustos der Galerie, Tizians Venus von Urbino präsentiert wird. Der im Profil dargestellte Konsul lauscht den Erläuterungen des Malers Thomas Patch. Zoffani selbst hat sich inmitten der Gruppe links dargestellt, wie er dieser Raffaels Große Cowper Madonna präsentiert. Sein Haupt erscheint links neben dem Gemälde, das er in Florenz von der Familie Niccolini erstanden und später an George Clavering Cowper, den dritten Earl Cowper, verkauft hat. Dieser ist als vorderster in der Reihe der vor Zoffani und dem Gemälde

Die Bewunderung allein reicht nicht, es muß sachverständige

Siehe Iain Pears: The Discovery of Painting: The Growth of Inte-

Bewunderung sein.«

rest in the Arts in England 1680–1768. New Haven, CT 1988. 121 122

Francis Haskell: Die schwere Geburt des Kunstbuchs. Berlin

124

Richardson 1773, S. 243.

1993, S. 18.

125

Haberland 1991, S. 167ff.

126

Zu diesem Werk siehe John Anthony Nicholls: Das Galeriebild

Ebda., S. 18ff.

123 Luhmann

1986, S. 639 betont: »Um 1700 steht […] fest, daß

im 18. Jahrhundert und Johann Zoffanys »Tribuna«. Bonn 2006;

Künstler an einem auf spezifische Fragen der Kunst einge-

Penelope Treadwell: Johan Zoffany. Artist and adventurer. Lon-

stimmten, kunsterfahrenen Publikum interessiert sind und daß

don 2009, S. 223ff., 269ff.

dies wichtiger ist als positive oder negative Urteile im Einzelfall.

D ie wissenschaftliche F undierung der Kennerschaft

415

Abb. 246  Johann Zoffani: Die Uffizien-Tribuna, 1772–77, Windsor Castle, Royal Collection

stehenden Männer dargestellt; er erscheint zwischen der Amor-und-Psyche-Gruppe und Charles Loraine Smith, einem Sportsmann, Künstler und späteren Parlamentarier, der sich, auf einem Stuhl sitzend, zeichnend in das antike Werk vertieft hat. Während in der Uffizien-Tribuna die vornehmen Besucher mit glänzenden Augen die ausgestellten Werke

127

und einige einen Höhepunkt ihrer Grand Tour genießen, tritt der gesellige Aspekt in Zoffanis Konversationsstück Charles Townley mit seinen Freunden in der Townley Gallery zugunsten professioneller Beschäftigungen zurück (Abb. 247).127 Das Gemälde zeigt rechts den adligen Antiquar und Sammler in seiner Bibliothek in der Park Street, Westminster, mit einem geöffneten

Siehe Treadwell 2009, S. 321ff.; John Anthony Nicholls: Das Gale-

In: Art History, 29, 2006, S. 304–324; https://de.wikipedia.org/

riebild im 18. Jahrhundert und Johann Zoffanys »Tribuna«. Bonn

wiki/Charles_Townley_in_his_Sculpture_Gallery (15.4.2020), dort

2006, S. 241–248; Viccy Coltman: Representation, replication and

zahlreiche Fotos der dargestellten antiken Skulpturen.

collecting in Charles Townley’s late eighteenth-century library.

416

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

Buch vor sich in einem Armlehnstuhl sitzend, bei der konzentrierten Beschäftigung mit seinen Kunstwerken. Townley erscheint zwischen zwei nach ihm benannten Werken, der Townley-Sphinx im Vordergrund und der Townley-Venus hinter ihm, inmitten weiterer bedeutender Antiken, darunter einem falsch rekonstruiertem Diskobolos, den Zoffani Jahre später nachträglich in das Gemälde eingefügt hat. Tiefer im Bild sitzt Pierre-François Hugues d’Hancarville, ein Freund und Protegé Townleys, Liebhaber, Kunsthändler und Kunsthistoriker, der die Sammlung von William Hamilton bearbeitet hat,128 über einem Buch. Die Lektüre unterbrechend, blickt er zum Hausherrn hinüber. Dahinter ist Charles Francis Greville, ein Neffe Hamiltons, Antiquar, Sammler und Politiker, im Gespräch mit dem Antiquar und Paläografen Thomas Astle dargestellt. Mit dem Motiv ihrer entspannten Konversation ist in diesem Werk, welches das Ideal eines egalitären, nicht auf Etikette und Stand achtenden Beisammenseins bekundet, noch der Geselligkeit Genüge getan, während man sich daneben der Kunst mit dem nunmehr gebotenen Ernst zuwendet. Betrachtet man den im Profil dargestellten Hausherrn, so ist nicht zweifelsfrei zu entscheiden, ob sein Blick ins Leere geht, während er soeben durch die Lektüre gewonnene Informationen bedenkt oder ob er konzentriert auf ein Werk gerichtet ist, an dem der Sammler das gerade Gelesene überprüft. Sicher aber ist: Das Buch, das weder in Zoffanis Darstellung der Uffizien-Tribuna, noch in den weiteren hier behandelten Galeriebildern vorkam, aber in gut einem halben Jahrhundert zum ersten Medium einer allgemeinen Mediatisierung der Kunstrezeption werden wird,129 hat hier bereits die gesellige Konversation zurückgedrängt. Der ernsthaften, professionellen Beschäftigung ist es zum unverzichtbaren Medium geworden, welches das inzwischen angehäufte Wissen über die Kunst verfügbar macht. Wer liest oder nachdenkt, will nicht gestört wer-

den, und d’Hancarvilles Blick zum Hausherrn zeigt, dass in Townleys Sammlung das Gebot ungestörten Studiums an erster Stelle steht. Gesellig kann man sein, wenn Zeit dazu bleibt. Mit der fortschreitenden Ausdifferenzierung von Profis mit unterschiedlichen Kompetenzen und des Publikums zeitigte das 18. Jahrhundert eine Pluralisierung der Formen des Sprechens über Kunst und eine grundsätzliche Problematisierung desselben. Epoche machten Winckelmanns Beschreibungen antiker Kunstwerke, deren sinnlicher Erscheinungsfülle er durch eine subjektive empfindsame Sprache gerecht werden wollte.

128

129

Siehe Francis Haskell: The Baron d’Hancarville. In: Ders.: Past

Abb. 247  Johann Zoffani: Charles Townley mit seinen Freunden in der

T­ ownley Gallery, 1781–83, überarbeitet 1793, Towneley Hall Art Gallery and Museum, Burnley Borough Council, Lancashire, England

Siehe oben, S. 34.

and Present in Art and Taste: Selected Essays. New Haven/London 1987, S. 30ff., 230ff.

D ie wissenschaftliche F undierung der Kennerschaft

417

»Die Beschreibung des Apollo«, so hatte er 1756 hatte er noch in einem Brief an den Bibliothekar Francke in Nöthnitz erklärt, »erfordert den höchsten Stil, eine Erhebung über alles, was menschlich ist. Es ist unbeschreiblich, was der Anblick desselben für eine Wirkung macht.«130

Bekundete hier die Rede vom »höchsten Stil« noch ein gewisses Vertrauen in die Rhetorik, so sollte Winckelmann deren Bedeutung relativieren, als er in seinem berühmten Wort von der »edle[n] Einfalt und stille[n] Größe« durch eine chiastische Vertauschung der zu erwartenden Adjektive die in Frankreich zur kunsttheoretischen Leitkategorie avancierte naïveté adelte und dem Schweigen Größe zusprach.131 Auch in seinen einfühlsamen Werkbeschreibungen brach Winckelmann mit der tradierten Stilistik: Sie sind gewissermaßen zu verstehen als »ein beredtes Verstummen angesichts der Unzulänglichkeit und der Notwendigkeit sprachlicher Vergegenwärtigung von Kunst«.132 Im Bewusstsein der Grenzen des bildreproduktiven Vermögens der Sprache erhob er das eigene authentische Rezeptionserlebnis zur Instanz, zum Maßstab seiner sensiblen, mit tastender Sprache vorgebrachten Annäherungen.133 Zugleich hat der Autor der Antike, die mit

130

den Ausgrabungen bei Herculaneum (ab 1738) und in Pompei (ab 1748) in neuem, frischen Licht erschien, wieder höchste Autorität zugesprochen: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten«,134 schrieb er eingangs seiner Gedanken über die Nachahmung. Die Kunst des Rokokos hatte, überzeugt von der Überlegenheit der eigenen höchst kultivierten Epoche, mit dem antiken Erbe gespielt, es ironisch depotenziert. Während Piranesi dagegen in seinen Radierungen die immensité, die Erhabenheit der Architektur der römischen Antike beschwor, erhob Winckelmann die griechische Kunst der perikleischen Demokratie zum höchsten ästhetischen Maßstab, ohne sich von der dräuenden Einsicht in die Historizität der Antike als einer unwiederbringlich vergangenen Epoche irritieren zu lassen.135 Endgültig brach dann 1766 Lessing mit der Tradition der Ekphrasis, indem er in seiner allegoriekritischen Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie kategorisch die Alterität von Wort und Bild, der Poesie als einer Kunst der Zeit und der Malerei als einer Kunst des Raumes, betonte. Damit trat die Kunstrezeption in den Horizont ihrer Problemorientierung. Fortan galt, dass das Reden vor dem Kunstwerk im

Gespräch. Hrsg. v. L. Müller, Amsterdam/Dresden 1996, S. 165–

Zit. n. Winckelmanns Werke in einem Band. Ausgewählt und

196.

eingeleitet von Helmut Holtzhauer (Bibliothek deutscher Klas133

siker), Berlin/Weimar 31982, S. 322. 131

Laokoons, wie Elisabeth Décultot betont, eine »durchaus empi-

cipes de la littérature ou Cours de belles lettres (1747/48) »la naï-

rische Kenntnis der menschlichen Anatomie und ein besonders

veté« definiert hatte als »Sprache der Freyheit, der Offenherzig-

feines Gefühl für die Bewegungsphysiologie, welche von seiner

keit und edlen Einfalt«, wie es in einer deutschen Übertragung

intensiven Lektüre medizinischer Schriften herrührt«, bezeu-

von 1750 heißt, und damit zugleich einer auf Longin zurückge-

gen (Elisabeth Décultot: Die Kunsttheorie des Klassizismus. In:

henden Tradition der Verbindung des Erhabenen und des Ein-

Brassat 2017, S. 459).

fachen (Wolfgang Brassat: Das Erhabene. In: Brassat 2017,

134 Johann

S. 600). 132 Helmut

Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachah-

mung der griechischen Werke in der Malerey und BildhauerPfotenhauer: Die Typen der Beschreibungskunst im

kunst. 2. vermehrte Auflage, Waltherische Handlung, Dresden/

18. Jahrhundert oder die Geburt der neueren Kunstgeschichte.

Leipzig 1756, S. 2. Der zitierte Satz ist eine »beinahe wortwörtli-

In: Boehm/Pfotenhauer 1995, S. 328. Zu den verschiedenen Posi-

che[] Übersetzung einer Sentenz von La Bruyère: ›On ne saurait

tionen in der anschließenden Diskussion um die rechte Art des

en écrivant rencontrer le parfait et s’il se peut surpasser les An-

Sprechens über Kunstwerke, die in der Form des Dialogs auch

ciens que par leur imitation‹.« (Elisabeth Décultot: Die Kunst-

auf verschiedene Sprecher verteilt werden konnte, siehe Lothar

theorie des Klassizismus. In: Brassat 2017, S. 460.)

Müller: Nachwort. In: August Wilhelm Schlegel: Die Gemählde.

418

Wobei seine Beschreibungen des Torsos von Belvedere und des

Winckelmann folgte dabei Charles Batteaux, der in seinen Prin-

135

Vgl. ebda.

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

gedorn.136 Schenau selbst, damals Direktor der Dresdener Kunstakademie und der Mal- und Zeichenschule der Meißener Porzellanmanufaktur, hat sich im Hintergrund zwischen seinen Kollegen Adrian Zingg und Anton Graff dargestellt. Mit ehrerbietigem Respekt lauschen die Künstler und ihr Generaldirektor den Worten des Staatsmannes. Das Kunstgespräch, das der in seinen Pariser Jahren von Johann Georg Wille geförderte Schüler des Charles-François Silvestre verewigte, war am sächsischen Hof in Zeiten des aufgeklärten Absolutismus zu einer Sache von staatstragender Bedeutung geworden. Und so spricht in Schenaus Gemälde der Staatsmann und adlige Liebhaber, während die Fachleute schweigen.

Die Kunstkritik verlässt das höfische Parkett: Diderots Salonberichte

Abb. 248  Schenau (Johann Eleazar Zeissig): Das Kunstgespräch, 1772, ­Dresden, Galerie Alte Meister

Zweifel Silber sei (Abb. 10), und so bewies mancher seinen Sachverstand ungesellig schweigend. Das 1772 von Schenau (Johann Eleazar Zeissig) gemalte Kunstgespräch in der Dresdener Galerie (Abb. 248) ist in dieser Hinsicht ein signifikantes Werk. Es zeigt rechts den sächsischen Konferenzminister Thomas Freiherr von Fritsch, der dem wirtschaftlich darniederliegenden Sachsen wieder zur Blüte verhalf und auch als Mäzen und Kunstsammler hervortrat, im Gespräch mit dem Generaldirektor der Künste, Christian Ludwig von Ha-

136

Gemäldegalerie Alte Meister Dresden. Katalog der ausgestellten

Im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts öffnete sich ein Teil der Aristokratie dem gebildeten Mittelstand, eine Verbindung, aus der die literarische räsonierende Öffentlichkeit hervorging, die sich über eine zunehmend durch ihren Warencharakter bestimmte Kunst verständigte: »Die Erben jener humanistisch-aristokratischen Gesellschaft schlagen, in der Begegnung mit den bürgerlichen Intellektuellen, durch ihre alsbald zur öffentlichen Kritik entfaltete gesellige Konversation die Brücke zwischen der Restform einer zerfallenden: der höfischen, und der Vorform einer neuen: der bürgerlichen Öffentlichkeit.«137

137

Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersu-

Werke. Hrsg. v. d. Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, be-

chungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft.

arbeitet von Annaliese Mayer-Meintschel u. a., Dresden 1985,

Darmstadt/Neuwied 131982, S. 45. Zu Habermas’ Annahme, erst

S. 297f.; Kanz 2013, S. 300, 303; Anke Fröhlich-Schauseil: Sche-

die im 18. Jahrhundert ausgebildete bürgerliche Öffentlichkeit

nau (1737–1806): Monografie und Werkverzeichnis der Gemälde,

verdiene diesen Namen, sei als eigentlicher Typus der politi-

Handzeichnungen und Druckgrafik von Johann Eleazar Zeißig,

schen Öffentlichkeit zu begreifen, nicht aber die vormoderne

gen. Schenau. Petersberg 2018, S. 93, 241–243 (M 91).

»repräsentative Öffentlichkeit«, siehe die Differenzierungen von

5

D ie Kunstkritik verlässt das höfische Parkett : Diderots Salonberichte

419

Nicht zufällig war es »die Kommunikation über Kunst, die die soziopragmatischen Kontexte lieferte, in denen sich ein Publikum als ›Bürgertum‹ erleben und als solches handeln konnte.«138 In der Zeit der Regentschaft Philipps von Orléans herrschte in den Pariser Salons eine offene Atmosphäre, in der Plebejer wie d’Alembert keine Seltenheit waren. In dieser Salonöffentlichkeit, in der zahlreiche Autoren des 18. Jahrhunderts ihre Werke zunächst vorgestellt haben, erhielt das Argument mehr Gewicht als das Bonmot. Gleichwohl blieb die sich professionalisierende Kulturkritik, die sich alter Organe der Hofberichterstattung und Adelspostillen wie des Mercure Galant und des Journal des Luxus und der Moden bediente, der aristokratischen Geselligkeit verbunden, wie auch Denis Diderots ästhetische Schriften zeigen. Hatte die von ihm gepflegte Form des Briefes programmatische Bedeutung als Artikulationsform bürgerlicher Subjekte, so suchte er weiterhin die Verständigung mit der ›großen Welt‹. So kontinuieren denn auch in dem konzilianten Tonfall seiner Berichte über die alle zwei Jahre im Louvre stattfindenden Salons Elemente der tradierten Konversationsrhetorik. Diderots Briefe erschienen seit 1759 in den exklusiven Berichten des Friedrich Melchior Grimm, die in handgeschriebenen Exemplaren an die Höfe und Kul-

turzentren in Europa verschickt und später als Correspondence littéraire gedruckt wurden. Da Diderot in der Tradition Bouhours’ und Dubos’ das Gefühl als wichtige Instanz des Kunsturteils ansah, kultivierte er in seinen Salonberichten eine einfühlsame und spontane, zuweilen impulsiv wirkende Diktion.139 Gleichwohl zeigte sich der Autor auf Verständigung und Ausgleich bedacht und reagierte auf Missliebiges zumeist mit pädagogischer Nachsicht, vorerst auch auf die galante Kunst Bouchers. Haben sich die neuen Kulturkritiker, wie Habermas betont, als Sprecher der Öffentlichkeit und zugleich als ihre Erzieher verstanden,140 so zeigt sich dieser Zwiespalt auch in der Form der Salonberichte, deren Autor, normative Ansprüche vertretend, gleichwohl jede autoritäre Diktion vermied und sich zugunsten einer pädagogisch konzilianten Erziehung zum vernünftigen Urteil seit 1763 häufig der alten Form des Dialogs bediente.141 Diesen hat Diderot zunächst als Mittel der Verlebendigung seiner Berichte eingesetzt, etwa wenn er in direkter Rede imaginierte Gespräche mit Künstlern einfließen ließ142 oder die Konversation anderer Besucher wiedergab:

Hölscher, Moos und Melville (Lucian Hölscher: Öffentlichkeit

Didi-Huberman/Johannes Grave (Hrsg.): Sprechen über Bilder

und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur

– Sprechen in Bildern: Studien zum Wechselverhältnis von Bild

»Wunderlich ist die Verschiedenheit der Urteile jener Menge, die in einem Salon zusammenkommt.

Entstehung der Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 1979; Peter von Moos: Die Begriffe »öffentlich« und »privat« in

139

Habermas 1982, S. 57. Zur politischen Dimension der Salonkriti-

der Geschichte und bei den Historikern. In: Saeculum, 49, 1998,

ken siehe Thomas Crow: La critique des Lumières dans l’art du

S. 161–192; Ders./Gert Melville: Das Öffentliche und das Private

18ème siècle. In: Révue de l’Art, 73, 1986, S. 9–17.

in der Vormoderne. Köln/Wien 1998). Differenzierungsbedürftig

138

und Sprache. Berlin/München 2014, S. 33–50. 140

141

In den Salonberichten von 1759 und 1761 informierte Diderot

ist auch die kategorische Setzung, nach der erst mit dem Ende

über die ausgestellten Werke. Die zunächst knappe Form inven-

des Ancien Régime das Kunstwerk als Ware freigesetzt und

tarähnlicher Auflistungen suchte er zunehmend durch einen

damit zum Objekt eines ernstzunehmenden Räsonnements ge-

spontanen Sprachgestus, z. B. direkte Ansprachen, Exklamatio-

worden sei.

nen und Fragen, zu beleben. [»Wenn sie da mehr sehen, gratu-

Heiko Hausendorf/Marcus Müller: Formen und Funktionen der

liere ich Ihnen! … Was soll der König von Preußen mit diesem

Sprache in der Kunstkommunikation. In: Hausendorf/Müller

schlechten Urteil des Paris anfangen?« (Über ein Werk von Pi-

2016, S. 14.

erre, Salon von 1761. In: Denis Diderot: Ästhetische Schriften.

Zu Diderots Kunsttheorie siehe Pochat 1986, S. 410–419; Hubertus Kohle: Ut pictura poesis non erit. Denis Diderots Kunstbe-

Hrsg. v. Friedrich Bassenge, Berlin/West 1984, Bd. I, S. 371.)] 142 »Wenn

Sie zu dem Maler sagen: ›Aber, Herr Boucher, woher

griff. Hildesheim 1989; Beate Soentgen: Distanz und Leiden-

haben Sie diese Farben genommen …‹, so wird er Ihnen antwor-

schaft: Diderots Auftritte vor dem Bild. In: Lena Bader/Georges

ten: ›Aus meinem Kopf‹.« (Ebda., S. 439.)

420

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

Abb. 249  François Boucher:

Die Rückkehr vom Markt (Une Marche de Bohémiens, ou Caravane dans le goût de Benedetto di Castiglione), 1767, Boston, Museum of Fine Arts

Nachdem man durch den Salon gegangen ist, um zu sehen, sollte man auch noch einige Rundgänge machen, um zu hören. Die Leute von Welt werfen einen geringschätzigen und zerstreuten Blick auf die großen Kompositionen und bleiben nur vor den Porträts stehen, deren Originale sie tatsächlich kennen.

Später diente ihm der Dialog als Form der nachsichtig pädagogischen Auseinandersetzung mit Fehlgeleiteten, z. B. als er im Bericht von 1769 zwei kontroverse Stimmen zu Bouchers Phantasiegemälde Une Marche de Bohémiens ou Caravane dans le goût de Benedetto di Castiglione (Abb. 249),144 das »schönste Gewühl, das Sie jemals gesehen haben«, einführte:

Der Schriftsteller tut genau das Gegenteil. Während

143

er an den Porträts schnell vorbeigeht, fesseln die

»Wenn mein Freund irgend jemand trifft, der ihm

großen Kompositionen seine volle Aufmerksam-

sagt, die Karawane von Boucher sei eines der bes-

keit.

ten Gemälde des Salons, so widerspreche er ihm

Die Menge betrachtet alles und versteht nichts.

nicht. Trifft er jemand, der ihm sagt, die Karawane

Wenn sich die Leute dann am Ausgang treffen, so

von Boucher sei eines der schlechtesten Gemälde

ist es lustig, sie zu hören. Einer sagt: ›Haben Sie die

des Salons, so widerspreche er ihm erst recht nicht.

Trauung der Jungfrau Maria gesehen? Das ist ein

Um Sie zu unterhalten, will ich nun diese beiden

schönes Stück!‹«143

Personen auftreten lassen. […]«145

Ebda., S. 437.

the Museum of Fine Arts, Boston. New York 1987, S. 53; Rees 1996,

144 Zu

S. 120ff.

diesem Werk, das zusammen mit einem Pendant für das

Hôtel de Richelieu in Auftrag gegeben wurde, siehe Theodore

145

Diderot 1984, Bd. II, S. 253.

Stebbins Jr./Peter C. Sutton (Hrsg.): Masterpiece Paintings from

D ie Kunstkritik verlässt das höfische Parkett : Diderots Salonberichte

421

Im Salon von 1771 sind in jedem Artikel zwei Meinungen präsentiert, wobei die zweite freier und strikter im Urteil ist.146 Das Bemühen des Kritikers, der, situiert zwischen den »Leuten von Welt« und der ›Menge, die nichts versteht‹, als kompetenter, integrativer Erzieher agieren will, hat Diderot offenbar mehr und mehr als mühselig und aussichtslos angesehen. Deutlich zeichnet sich dies im vorletzten Salonbericht aus dem Jahr 1775 ab, der erst 1857 in der Revue de Paris veröffentlicht wurde. Er hat die Form eines durchgehenden Gesprächs des Autors mit einem jungen Künstler mit Namen Saint-Quentin.147 Dieser, soeben aus Rom zurückgekehrt und zerknirscht, wie er vor Gemälden Vernets gesteht, über dessen Kritik an seinen Arbeiten, tritt als rigider Kritiker mit dem Credo auf: »ich sage, was ich denke«.148 Er spricht in »gallebitterem Redefluß«,149 so dass ihn Diderot zur Besonnenheit und zu einem freundlichen Tonfall aufruft: »Piano, di grazia.«150 Auch das Ende dieser Konversation lässt indessen jede Konzilianz vermissen:

Salonberichts von 1775 scheint paradoxerweise gerade das Ende der Verständigung besiegelt. Zwar bezieht Saint-Quentin keine markante Position in Hinblick auf die galante Rokokomalerei, doch er erweist sich als akademisch geprägter, ausgesprochener Traditionalist,152 mit dem eine fruchtbare Verständigung kaum möglich ist. Die Kunstkritik, so scheint es, muss vor einem künstlerischen Pluralismus und einem nicht konsensfähigen, vielfältigen Meinungsbild kapitulieren und verlässt die Bühne der Salonkonversation. Tatsächlich hatte Diderot zum Auftakt dieses Salonberichts erklärt, dass er sich eigentlich alleine, ungestört ein Bild machen wollte:

»Saint-Quentin: […] Aber … aber ich habe nun

Den Salon von 1667 hatte Diderot mit der Warnung an Grimm eingeleitet:

wirklich genug, ich halte es nicht länger aus. Leben

»Dank der Gunst des Pförtners Phelipot hatte ich frühzeitig den Salon betreten. Ich glaubte dort allein zu sein und schickte mich an, in aller Ruhe die Meisterwerke zu betrachten, die unsere Künstler dieses Jahr ausgestellt hatten; aber es war durchaus nicht so, wie ich gehofft hatte.«153

Sie wohl. Diderot: Nur ein Wort noch.

»Erwarten Sie nicht lieber Freund, daß ich diesmal

Saint-Quentin: Nein. Diejenigen, von denen ich

ebenso reich, ebenso mannigfaltig, ebenso weise,

nicht gesprochen habe, werden mir für mein

ebenso toll und ebenso fruchtbar sein werde, wie

Schweigen dankbar sein.

ich es in den vorangegangenen ›Salons‹ noch sein

Daraufhin lief mein Begleiter davon, und ich

konnte. Alles erschöpft sich einmal.«154

konnte ihn nicht mehr einholen.«151

Das suggestive Motiv dieses Abgangs legt es nahe, auf Bedeutsames zu schließen: In der Dialogform des

Was hier zweifellos noch stolze Koketterie war, scheint 1775 zur traurigen Tatsache geworden zu sein. Der Bericht aus diesem Jahr, in dem Diderot erklärte:

146

152

Siehe Jean Seznec: Vorwort. In: Diderot: Salons. Texte établi et

Auf Diderots Würdigung von Lepiciés Erziehung der Gottesmut-

présenté par Jean Seznec (et Jean Adhémar), Bd. IV, Oxford 1967,

ter, einer familiär intimen, sentimentalisierten Darstellung, ant-

S. VIIIff.

wortet er erstaunt: »[…] ce n’est pas la mère d’un Dieu […] tous

147

Diderot 1984, Bd. II, S. 545–563.

ces personnage ne sont pas d’origine céleste.« (Zit. n. Kohle 1989,

148

Ebda., S. 550.

S. 96.)

149

Ebda., S. 549.

153

Diderot 1984, Bd. II, S. 545.

150

Ebda., S. 546.

154

Ebda., S. 7.

151

Ebda., S. 563.

422

D E R HÖHE PU N KT U N D AU SKL AN G D E R E POCHE D E R KON VE RSATION

»Im allgemeinen mißfällt mir Tadel (critique), denn er setzt so wenig Talent voraus«,155 hat kaum mehr ein Zehntel des Umfangs des Salons von 1767. In dem ebenfalls erst Mitte des 19. Jahrhunderts publizierten letzten Bericht aus dem Salon von 1781 sind nur noch auf wenigen Seiten hervorragende Werke besprochen, darunter die klassizistischen Gemälde der ›neuen Römer‹, allen voran Jacques-Louis Davids. Dazwischen, im Jahr 1776, hatte Diderot seine Verstreute[n] Gedanken über Malerei, Skulptur, Architektur und Poesie als eine Art Fortsetzung der ›Salons‹ verfasst, eine trotz ihrer Form einer Aphorismensammlung systematischere Darstellung, in der er sich weit entschiedener in der Ablehnung des galanten Rokokos zeigte als in den Salonberichten zuvor. Mit diesem Gattungswechsel vollzog er seine Abwendung von der Salongesellschaft. Mit fast schon agitatorischer Schärfe fragte er eingangs der Verstreute[n] Gedanken, in denen er den aristokratischen Werten der lässigen Grazie die ästhetischen Qualitäten der Einfachheit und des Naiven entgegensetzte:156 »Kann man einen reinen Geschmack haben, wenn man ein verdorbenes Herz hat? Besteht kein Unterschied zwischen dem Geschmack, den man der Erziehung oder dem Verkehr in der großen Welt zu verdanken hat, und dem

Geschmack, der aus dem Gefühl für das Rechtschaffene entspringt? Hat der erstere nicht seine Launen? Hat er nicht auch seinen Gesetzgeber? Und wer ist dieser Gesetzgeber?«157

Man hat wiederholt festgestellt, dass von der Horazschen Bestimmung, Poesie und Kunst sollten erfreuen und nützen, die erste bei Diderot zurücktrat. »Da die Zeit das Vergnügen fast nur als unmoralisches Vergnügen kannte und sich auch die Kunst zum Dienste an diesem Vergnügen herabwürdigte,« so hat Friedrich Bassenge erklärt, »erschien es Diderot notwendig, das Steuer herumzureißen und allein an das prodesse im Sinne der moralischen Besserung zu denken.«158 Die Kunst nach 1800 hat sich programmatisch an den neuen Gesetzgeber, die Öffentlichkeit, ja schon bald an die moderne Medienöffentlichkeit gerichtet und sich zugleich ihrer ästhetischen Erziehung verschrieben. Für das Thema Malerei und Geselligkeit wird man nun lange kaum noch fündig.159 In der Romantik trat die Kunst der Moderne unter den Vorzeichen ihrer neuen, höheren Bestimmung zumeist ernst und gravitätisch auf (Abb. 11). Zum Humor hat sie erst zurückfinden müssen, obwohl Hegel darin die Perspektive der »romantischen Kunst« im »Zeitalter des objektiven Humors« – er meinte damit das seinige – gesehen hat.160

155

Ebda., S. 549.

Birgit Verwiebe (Hrsg.): Karl Friedrich Schinkel und Clemens

156

Denis Diderot: Verstreute Gedanken über Malerei, Skulptur, Ar-

Brentano. Wettstreit der Künstlerfreunde. Ausst.-Kat. Berlin,

chitektur und Poesie. In: Ebda., S. 630ff.: Kap. VI (»Von der Gra-

Alte Nationalgalerie, Dresden 2008, passim, bes. zu Schinkels

zie, Lässigkeit und der Einfachheit«) u. Kap. VII (»Vom Naiven

Schloss am Strom S. 33 u. 68. Zu der in der Romantik einsetzen-

und von der Schmeichelei«). Dort heißt es u. a.: »Die Manier ist

den Moralisierung der Kunstrezeption siehe Wolfgang Ulrich:

157

in den schönen Künsten, was die Heuchelei in den Sitten ist.

Vor dem Fürsten: Über die Moralisierung von Kunstrezeption.

Boucher ist der größte Heuchler, den ich kenne.« (Ebda., S. 633.)

In: Neue Rundschau, 110, Nr. 1, 1999, S. 131–145. Über die Kunst

Ebda., S. 575.

des Schweigens und die Aufrufe der Künstler zum Gespräch in

158 Friedrich

Bassenge: Einführung in die Ästhetik Diderots. In:

Ebda., Bd. I, S. XLIII. 159

Zu einem bemerkenswerten Beispiel, wie der Paragone und das

Moderne und Postmoderne siehe Brassat 2007. 160 Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hrsg. v. Friedrich

Bassenge, Berlin/Weimar 1984, Bd. I, S. 582ff.

Sprechen über die Künste dann doch fortgesetzt wurden, siehe

D ie Kunstkritik verlässt das höfische Parkett : Diderots Salonberichte

423

424

VE R ZE ICHN IS D E R AB GE KÜ R Z T ZITIE RTE N LITE RATUR

D ie Kunstkritik verlässt das höfische Parkett : Diderots Salonberichte

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442

Apollonio di Giovanni 108f. Appiani, Semiramide 89, 94, 97, 103, 105f., 127, 167 Apuleius 117, 130 Archytas von Tarent 45 Arcimboldo, Giuseppe 179–185, 219, 242, 266f., 305 Aretino, Pietro 50f., 110, 182f., 188, 195, 299, 361 Argensola, Bartolomé Leonardo de 299 Ariosto, Ludovico 152, 202, 278, 280, Aristoteles 14, 38, 40, 42, 46f., 106, 108, 140, 199, 238, 257f., 261, 263, 265, 368 Äsop 324 Astle, Thomas 417 Attalos I., König von Pergamon 230 Audran III., Claude 408 Augurelli, Giovanni Aurelio 101f., 112 August, Kurfürst von Sachsen 180, 183 Augustinus 48, 185, 229, 305, 368 Augustus 211

B

Baccio del Bianco, Luigi 221 Bacon, Francis 271 Baglione, Giovanni 228, 234, 238, 245, 255, 270, 315–317 Baiardo, Andrea 189 Bailly, Jacques 370 Baldinucci, Filippo 221f., 224f. Baldovinetti, Alesso 74, 82 Baldung Grien, Hans 191f. Bandinelli, Baccio 166, 186, 308, 374, 380 Barbari, Jacopo de’ 98f. Barbaro, Ermalao 311 Barbaro, Francesco 39, 50, 106 Bargagli, Girolamo 102f., 278, 361 Bargagli, Scipione 102, 361

Barocci, Federico 138f. Baroncelli, Niccolò 135 Bassano, Francesco (da Ponte) 209, 252f. Bassano, Jacopo (da Ponte) 209, 252f., 367 Bastianelli, Pietro 415 Batteaux, Charles 418 Baumgarten, Alexander Gottlieb 35 Bellini, Giovanni 20, 82f., 141, 167–169, 172–174, 394 Bellini, Jacopo 135 Bellori, Giovanni Pietro 213, 221, 226, 228, 235, 240f., 245f., 266, 268, 270, 272f. 275, 278–283, 311, 367, 385, 413f. Bembo, Bernardo 101 Bembo, Pietro 46, 99, 132, 152, 167f., 170, 384 Bernini, Gian Lorenzo 152, 186f., 220f., 223–225, 283, 373–376, 380–385, 387 Beroaldo, Filippo 130 Beuckelaer, Joachim 214, 250f., 253 Bianchini, Anna 240 Binet, Étienne 17, 27, 33, 56, 358, 365–367, 373, 412 Biset, Charles Emmanuel 337f. Birken, Sigmund von 363 Bisschop, Jan de 357 Bisschop, Cornelis 360, 367 Blaise de Vigenère 282, 361, 364–366, 399 Boccaccio, Giovanni 39, 46f., 91, 96, 103f., 122, 125, 368 Bocchi, Francesco 210f. Bol, Ferdinand 360 Bollioud de Saint-Julien, MarieFrançois-David, Baron von Argental 390 Bolswert, Schelte a 302f., 307 Bonaiuto, Andrea da (Andrea da Firenze) 114

Borghese, Scipione Caffarelli, Kardinal 220, 272, 274 Borghese, Scipione Tommaso 127 Borghini, Raffaello (Raffaele) 54, 169, 210f. Borghini, Vincenzio 27, 207–210, 254, 364 Borso d’Este, Herzog von Modena und Reggio 97 Botticelli, Sandro 19, 22, 73, 84f., 87–90, 92, 94–100, 103, 105– 108, 112–125, 127, 135, 195, 285, 353 Boucher, François 390, 393, 420f., 423 Bouhours, Dominique 371, 420 Boulez, Pierre 19 Bracciolini, Poggio 39f., 103 Bramante, Donato 136–138, 148, 298 Bronzino, Agnolo di Cosimo di Mariano, gen. B. 165f. Brouwer, Adriaen 405 Bruegel, Jan d. Ä. 289, 325 Bruegel, Jan d. J. 293 Bruegel, Pieter d. Ä. 217f., 248f. 252f. Brunelleschi, Filippo 52, 59, 62, 71, 85, 135 Bruni, Leonardo 39f. Bruno, Giordano 299 Burckhardt, Jakob 40, 99, 309, 315

C

Caillière, Jacques de 56 Calder, Alexander 19 Calvaert, Denys 272 Camden, William 372 Campi, Vincenzo 214, 253 Capella, Martianus 91f., 112 Capodiferro 131 Caravaggio, Michelangelo ­Merisi da 20, 22, 27, 55, 76,

RE GISTER

156f., 161, 185, 213, 222f., 226– 248, 253–263, 265–272, 277, 285, 298f., 305, 315–318, 321f., 325, 330, 349, 352, 356, 406 Cardano, Gerolamo 169 Carducho, Vincente 228, 251, 270, 297 Carlo, Ferrante 279 Carracci, Agostino 213, 219–221, 224, 227, 233, 272, 283 Carracci, Annibale 7, 55, 156f., 161, 213–218, 220f., 233, 253, 267, 273, 275–277, 280–283, 313, 316f., 367, 379, 384, 414f. Carracci, Ludovico 132, 213, 218 Carrara, Francesco 39 Cartari, Vincenzo 182 Casa, Giovanni della 289 Casanova, Giacomo 390 Cassiano dal Pozzo 22 Castiglione, Baldassare 41, 43, 46–52, 55, 99, 102f., 109, 118, 128, 135, 145, 149, 152, 167–169, 185, 189, 192f., 201f., 289, 307, 361, 377, 380, 384, 393 Castiglione, Giovanni Benedetto 421 Caterina de’ Medici, Königin von Frankreich 262, 278 Cats, Jacob 306, 332f., 347, 349f., 368 Catull, Gaius Valerius (Catullus) 169 Cavalcanti, Ginevra 39 Caylus, Anne Claude Philipp de 393, 408, 415 Cellini, Benvenuto 260, 308, 311f., 374f., 414 Cennino Cennini 44, 122, 168, 261, 414 Cervantes, Miguel de 270 Cesari, Giuseppe, gen. Cavaliere d’Arpino 233–235, 245 Chantelou, Paul Fréart de 187, 224, 246, 283, 373–376, 380– 384 Chardin, Jean Siméon 351, 393 Charles III. de Bourbon-Montpensier, Herzog von Montpensier, Connétable von Frankreich 198 Charlotte Sophia, Königin von Großbrittanien 415 Chigi, Agostino 137, 141, 145 Chigi, Flavio, Kardinal 379f. Chodowiecki, Daniel 32–35, 391, 409

REGI S TER

Christian V., König von Dänemark 359f. Chrysoloras, Manuel 120, 261 Cicero, Marcus Tullius 37–40, 42f., 45–49, 91, 110, 125, 128, 131, 145, 207f., 221, 276, 297, 304, 307, 310, 333, 367 Cimabue (Cenni di Pepo) 52, 125, 413 Clemens VII., Papst (Giulio de’ Medici) 158, 160, 163, 188 Clemens VIII., Papst (Ippolito Aldobrandini) 139 Colbert, Jean-Baptiste, Marquis de Seignelay 380f., 383–385, 387 Colonna, Giovanni, Kardinal 38 Colonna, Marcantonio 131 Colonna Vittoria 191 Comanini, Gregorio 27, 54, 184f., 266, 305 Coques, Gonzales 338 Cornaro, Caterina 132 Correggio, Antonio da (Antonio Allegri) 53, 167, 298, 367, 410, 415 Cort, Cornelis 191 Cosimo I. de’ Medici, Groß­ herzog der Toskana 54, 203, 205f., 210, 312 Cossa, Francesco del 97 Costa, Lorenzo 167 Cowper, George Clavering 415 Croce, Giulio Cesare 213f. Crozat, Pierre 408, 415

D

Daniele da Volterra 206 Dante Alighieri 48, 59, 96, 122, 125, 185, 223, 300, 368 David, Jacques-Louis 423 David, Johannes 319f. Decembrio, Angelo 88 Dedeke, Wilm 76f. Dell’Anguillara, Giovanni ­Andrea 397f. Demokrit von Abdera 297f., 300, 317 Demosthenes 125 Dente, Marco 215f. Descartes, René 369, 371, 392 Diderot, Denis 34, 54, 419–423 Diogenes Laertius 297 Dion Chrysostomos 9f., 13 Dionysios von Halikarnassos 48 Dionysius Cato 38 Dolce, Lodovico 43, 53f., 132, 145, 170, 209, 211

Domenichino (Domenico Zampieri) 213, 268, 272–282, 301, 335, 384 Donatello (Donato di Niccolò di Betto Bardi) 52, 62, 117, 209, 320 Doni, Anton Francesco 54, 174, 211 Donne, John 80 Doria, Andrea 204 Doria, Giovanni Andrea 295 Dossi, Dosso 169, 177, 209 Dou, Gerrit 355 Dubos, Jean Baptiste 413, 420 Dufresnoy, Charles-Alphonse 367, 387 Dürer, Albrecht 189, 234f., 305, 322, 325 Dyck, Anthonis van 50, 238, 287, 308f., 316, 322f., 327f.

E

Eleonora von Toledo, Herzogin von Florenz 205 Erasmus von Rotterdam 51, 109–112, 160, 251, 303, 305f., 320 Estius, Franco (Francius) 313 Eugen IV., Papst (Gabriele Condulmer) 63 Evelyn, John 414 Eyck, Jan van 65, 70, 78–80, 248f.

F

Facchetti, Pietro 295 Faerno, Gabriele 324 Faret, Nicolas 377 Farnese, Alessandro, Herzog von Parma und Piacenza, Statthalter der habsburgischen Niederlande 253, 290 Farnese, Alessandro, Kardinal 204 Félibien, André 17, 54, 226, 377, 385 Ferdinand I. (Ferrante), König von Neapel 45 Ferdinand I., Kaiser 179, 260 Ferdinando I. de’ Medici, Großherzog der Toskana 265, 296 Ferrari, Gaudenzio 232 Feuchtmayer, Joseph Anton 401 Ficino, Marsilio 91f., 112f., 118, 129f., 311, 318 Figino, Giovanni Ambrogio 185 Filarete (Antonio di Pietro Averlino) 81, 136, 168 Florio, John 237

Floris, Frans 165 Fontenelle, Bernard de 333, 371, 392 Fonteo, Giovanni Battista 182, 225 Fonzio, Bartolommeo (auch Fonzi, della Fonte) 53 Fortin de la Hoguette, Pierre 36, 56 Fountaine, Andrew 409f. Fra Angelico, auch Beato A. 20, 26, 59, 62–65, 69–77, 80–82, 98, 119, 135, 146, 285 Fra Bartolommeo 137 Fragonard, Jean-Honoré 390, 392f., 395 Francesco I. de’ Medici, Großherzog der Toskana 203–205, 260, 263 Francesco Maria I. della Rovere, Herzog von Urbino 127, 130, 204 Francesco I. Sforza, Herzog von Mailand 136 Francisci, Erasmus 52 Francisco Gómez de Sandoval y Rojas, Herzog von Lerma 295–300 François de Clèves, Duc de Nevers 364 Francken, Frans d. J. 286, 288– 294, 300 Francken, Hieronymus d. J. 292f. Frangipane, Giovanni Michele 182 Frangipane, Niccolò 236f. Franz I., König von Frankreich 172, 197–202, 321, 404 Franz von Sales 365 Fréart de Cambray, Roland 367, 412 Frederik III., König von ­Dänemark 359 Fritsch, Thomas von 419 Froben, Johannes Erasmus (Erasmius) 110 Fromentin, Eugène 344 Fuentes, Conde de 378f. Fulvio, Andrea 211

G

Gainsborough, Thomas 50 Galilei, Galileo 271, 371 Galle, Philips 324 Galle, Theodoor 319f. Garofalo (Benvenuto Tisi da G.) 169 Garzoni, Tomaso 17, 282

443

Gattaro, Andrea 107 Gauricus, Pomponius (Pomponio Gaurico) 54, 147f., 159f., 189, 280, 304 Gentile da Fabriano 61f., 64, 72 Germain, Jean 364 Gersaint, Edme-François 393, 406–408 Gheeraerts, Marcus 324 Ghezzi, Pier Leone 224f. Ghiberti, Lorenzo 135, 262 Ghirlandaio, Domenico 76, 92f., 156 Gianni (Zani), Bartolomeo 188 Gianni (Zani), Dionigi 188 Gigault de Bellefonds, Bernardin 382, 384 Gijsbrechts, Cornelis Norbertus 20, 359f. Gilio, Giovanni Andrea 54, 207, 210, 270 Giorgione (Giorgio da Castelfranco) 108, 134, 144, 173–175, 192, 207 Giotto di Bondone 39, 52, 66–68, 78, 125, 128 Giovio, Paolo 53, 100, 103, 138, 170, 183, 203f., 277 Girardon, François 385 Giustiniani, Vincenzo 266–268 Godewijk, Margareta 367 Goes, Hugo van der 89 Goethe, Johann Wolfgang von 29, 31f., 34, 49, 288, 350f. Goltzius, Hendrick 132, 313 Gonzaga, Francesco d. Ä., Kardinal 170 Gonzaga, Francesco II., Markgraf von Mantua 89, 105 Gonzaga, Lodovico III., Markgraf von Mantua 111 Gozzoli, Benozzo 14f., 81f., 262 Gracián y Morales, Baltasar 310, 377f. Graef, Abraham de 327f. Graff, Anton 419 Grave, Marie-Anne-Éléonore de 395 Greuze, Jean-Baptiste 351 Greville, Charles Francis 417 Grimm, Friedrich Melchior von 420, 422 Guarini, Guarino 120, 261 Guazzo, Stefano 185, 289, 361 Guercino (Giovanni Francesco Barbieri) 273 Guidobaldo I. da Montefeltro, Herzog von Urbino 46

444

Guillain, Simon 267 Guimard, Marie-Madelaine 395 Günther, Ignaz 401

H

Hadrian, Publius Aelius ­Hadrianus, röm. Kaiser 175 Haecht, Willem van 286f. Hagedorn, Christian Ludwig von 419 Haimo von Auxerre 74 Halmale, Hendrik van 338 Hals, Dirck 350 Hamilton, Gavin 415 Hamilton, William 417 Hancarville, Pierre-François (Hugues) d’ 417 Hardouin-Mansart, Jules 382 Harsdörffer, Georg Philipp 18, 27, 31f., 51, 55f., 255, 287, 358, 361–364, 373 Hartley, David 409 Heemskerck, Maerten van 217f., 310f. Hegel, Georg Friedrich 18, 80, 343f., 423 Heinrich IV. von Frankreich 295 Heinrich VIII. von England 111, 200, 415 Heraklit von Ephesos 138f., 297f., 300, 317 Herodot 124, 313, 330–332, 337 Herri met de Bles 248f. Heumann, Christoph August 391 Heyden, Pieter van der 217f. Holanda, Francisco de 54, 169 Hogarth, William 30, 222, 409– 412 Holbein d. J., Hans 111, 193, 415 Hollar, Wenzel 222 Homer 9f., 12, 124, 275 Hooghe, Romeyn de 372 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 14, 19, 42, 44, 91f., 114, 185, 257, 261f., 297, 423 Huel, Nicolas 364 Hutcheson, Francis 409 Huygens, Constantijn 265

I

Iberti, Annibale 296f., 300 Innozenz VII., Papst (Cosma dei Migliorati) 45 Isabella Clara Eugenia von Spanien 287 Isabella d’Este, Markgräfin von Mantua 105, 167, 169 Isidor von Sevilla 44

J

Jamnitzer, Wenzel 262 Jegher, Christoffel 307 Jode, Pieter de 332f. Johann Wilhelm von der Pfalz, Kurfürst 339 Johannes VIII. Palaiologos 62 Jordaens, Jacob 321–333, 335–339 Joseph Henri of Straffon 225 Joyce, James 19 Julius II., Papst (Giuliano della Rovere) 136, 147, 187, 200 Juvenal (Decius Iunius Iuvenalis) 298

K

Kant, Immanuel 35 Karl der Kühne, Herzog von Burgund 89 Karl I. von England 323 Karl V., Kaiser 53, 188, 203f., 260 Karl V., König von Dänemark 360 Karl IX., König von Frankreich 364 Karl von Österreich, Erzherzog 179 Katharina von Aragon 111 Katharina von Siena 76f. Kielmannseck, Friedrich Christian Kielmann von 341 Klenze, Leo von 11, 14 Kopernikus, Nikolaus 392 Kresilas 258 Krul, Jan Harmensz. 350

L

La Bruyère, Jean de 418 Ladislaus (Wladislaw) IV. Sigismund Wasa, König Polen 287 La Hyre, Étienne de 309 Lairesse, Gérard de 232, 251 Lancret, Nicolas 392–395, 403, 409 Landi, Ottavio 183 Landino, Cristoforo 59, 61, 64, 68 Lanfranco, Giovanni 213, 272, 279 Langenhoven, Martinus van 330 La Tour, George de 269, 345–347 Lauro, Pietro 171, 208 Le Brun, Charles 17, 24, 369, 376–379, 385–387, 408 Leclerc, Jean 56 Le Jay, Gabriel François 371, 373 Leo IV., Papst 148

Leo X., Papst (Giovanni de’ Medici) 92f., 156 Leonardo da Vinci 22, 52, 136f., 169–171, 179, 222–224, 232, 234, 241f., 258f., 261, 265, 279, 281, 298, 301, 337f., 343, 356, 373, 380, 414 Leonello d’Este, Markgraf von Ferrara 88, 135f. Leopold Wilhelm von Österreich, Erzherzog 293f. Lessing, Gotthold Ephraim 10, 418 Lichtenberg, Georg Christoph 32f., 35, 391, 409, 412 Ligorio, Pirro 202, 324 Lippi, Fra Filippo 59, 62, 69 Lipsius, Justus 309 Lomazzo, Giovanni Paolo 43, 184, 189, 222, 226, 232, 235f., 353, 364, 367, 413 Lope de Vega 271, 299 Loraine Smith, Charles 416 Lorenzetti, Ambrogio 114 Lorenzo di Niccolò 62 Lorrain, Claude 273 Lotto, Lorenzo 134, 175, 177–179, 206, 263, 343 Ludwig XIV. von Frankreich 56, 224, 269, 369, 374–382, 384– 387, 404 Ludwig XV. von Frankreich 390, 393 Lukian 13, 27f., 120, 122–124, 397, 399 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 91f. Luther, Martin 74, 110

M

Machiavelli, Niccolò 46, 271, 378 Macrobius Ambrosius Theodosius 128f. Maes, Nicolaes 165, 335, 406 Maffei, Francesco 21f. Maintenon, Françoise d’Aubigné, marquise de 404 Malvasia, Carlo Cesare 132, 219, 221f., 228, 277, 280–283 Mancini, Giulio 220f., 245, 251, 275, 319 Mander, Karel van 132, 248, 311, 339 Manet, Èdouard 165 Manfredi, Bartolomeo 255 Mann, Horace 415 Mantegna, Andrea 15, 20, 62, 65, 68, 77, 104f., 111, 167, 170, 232

RE GISTER

Manutius, Aldus (Aldo Pio Manuzio) 46 Maratta, Carlo 279, 413 Marcolini da Forlì, Francesco 186 Margarete von Navarra 341 Maria de’ Medici, Königin von Frankreich 295 Marie Antoinette, Königin von Frankreich 391 Mariette, Pierre-Jean 415 Marigia, Paolo 179 Marinetti, Filippo Tommaso 29 Marino, Giambattista [Giovan(ni) Battista] 27, 186, 237, 265, 270 Marmion, Simon 35 Martinengo, Asciano 184 Masaccio (Tommaso di Ser Giovanni di Mone Cassai) 52, 59–64, 72, 81, 113, 119 Masetti, Fabio 267 Masolino (Tommaso di Cristoforo Fini) 62 Massani, Giovanni Antonio (Giovanni Antanasio Mosini) 55, 220f. Massys, Quentin 287f. Mathieu, David 361 Mathieu, Georg David 360 Mattei, Giovanni Battista 242 Matthias I. Corvinus (Hunyadi), König von Ungarn 169 Maximilian II., Kaiser 184 Medici, Alessandro de’, Herzog von Florenz 204f., 374 Medici, Cosimo d. Ä. de’ 39f., 62, 68f., 74, 203, 205 Medici, Giovanni de’ 210 Medici, Giovanni di Pierfrancesco de’ 93 Medici, Giuliano di Lorenzo de’ 52, 92f. Medici, Giuliano di Piero de’ 100–102 Medici, Isabella de’ 278 Medici, Lorenzo de’, ›Il Magnifico‹ 62, 69, 93f., 97, 99–101, 103, 130, 311 Medici, Lorenzo di Giovanni de’ 39 Medici, Lorenzo di Pierfrancesco de’ 89, 93f., 96f., 103, 106, 112f. Medici, Piero di Lorenzo de’ 92f., 100 Mejia, Pero 299 Melzi, Francesco 223

REGI S TER

Menestrier, Claude François 256, 361, 368f., 372f. Metsu, Gabriel 349f. Michelangelo Buonarroti 24, 26, 28, 52, 59, 70, 135–140, 143– 145, 147, 150–156, 158–160, 163, 166, 168, 187, 190, 193, 195, 200f., 206, 215, 217–220, 222, 232f., 241, 270, 285, 311, 313, 316, 318, 367, 414 Michele da Silva, Bischof von Vasco 46 Mieris, Frans d. Ä. van 354 Milesi, Marzio 270 Miseroni, Gasparo 264 Molanus, Johannes 251 Molza, Francesco 237 Montaigne, Michel de 80, 299, 303–305, 318, 336 Monte, Francesco Maria del, Kardinal 224, 229, 242, 245, 247, 257, 271 Montefeltro, Federigo da, Herzog von Urbino 167 Montfort, Jan van 287 Morgante, Nano 165f. Morus, Thomas 51, 110f. Moschus, Demetrius 169 Murtola, Gaspare 254, 261, 270 Mydorge, Claude 372 Myron 397, 400

N

Nanteuil, Robert 384 Neer, Eglon van der 336 Negreti, Giovanni 186 Newton, Isaac 392, 409 Niccolò III. d’Este, Markgraf von Ferrara, Modena u. Reggio 135 Nietzsche, Friedrich 23 Nikolaus von Kues (Nicolaus Cusanus) 73f., 80, 118, 299 Nivelon, Claude 17 Noort, Adam von 322

O

Odoni, Andrea 175 O’Murphy, Marie-Louise 390 Orsini, Vicino 202f. Ovid (Publius Ovidius Naso) 47, 71, 88, 90, 92, 141, 175, 182, 259, 276, 301, 313, 353f., 397f.

P

Paganino, Giovanni Antonio 151f.

Paleotti, Gabriele 206, 209f., 216, 222, 254, 277, 283, 320, 347, 364 Palissy, Bernard 261f., 264 Pallavicino, Sforza 283 Palma il Vecchio 175-177, 193 Paride da Ceresara 167 Parmigianino (Girolamo Francesco Maria Mazzola) 20, 53, 163-165, 188-190, 206f., 244, 367, 380 Parrhasios 10, 64f., 70, 77, 120, 135, 359, 367 Pascal, Blaise 80, 371f. Passari, Giuseppe 413 Passarotti, Bartolomeo 214, 253 Passeri, Giovanni Battista Patch, Thomas 415 Pater, Jean-Baptiste Joseph 393, 395 Patinir, Joachim 248 Paul III., Papst (Alessandro Farnese) 204 Pausanias 96, 101 Pedro Álvarez de Toledo 204 Pellegrino di San Daniele 169 Peretti Damasceni di Montalto, Alessandro 272 Perino del Vaga (Pietro Buonaccorsi) 195 Perrault, Charles 359, 369, 371f., 377, 385f. Perrault, Claude 376, 381, 383 Perugino, Pietro 137, 167 Peruzzi, Baldassare 141 Peterzano, Simone 234–236 Petrarca, Francesco 9, 38f., 41, 44, 48f., 77, 125, 135, 189, 277f. Petronius (Titus Petronius Arbiter) 13 Phaidon von Elis 304 Phidias 9f., 71 Philipp II. von Spanien 191 Philipp III. von Spanien 295f. Philipp IV. von Spanien 293, 323, 379 Philippe II. de Bourbon, duc d’Orléans 404, 415, 420 Philon von Alexandria 73 Philostrat d. Ä. 9f., 122–125, 169, 184, 194, 282, 364–366, 399f. Philostrat d. J. 399 Pico della Mirandola, Giovanni 91, 115, 119, 131, 311, 319 Piero della Francesca 61f., 82, 150 Piles, Roger de 367, 372, 387, 409, 412f.

Pino, Paolo 27, 53f., 99, 170, 211 Pinturicchio (Bernardino di Betto di Biagio) 138 Piranesi, Giovanni Battista 418 Pisanello, Antonio 89, 135 Pius II., Papst (Enea Silvio ­Piccolomini) 107, 125 Platon 14, 37, 46, 110, 117, 129f., 258, 303–305, 310, 318f., 331, 333 Plinius d. Ä. 10, 49, 64, 71, 82, 120–122, 185, 209, 252, 261, 275, 339 Plotin 91 Plutarch 91f., 117, 262, 313 Polidoro da Caravaggio (Polidoro Caldara) 232 Poliziano, Angelo 92, 100f., 103f., 112, 119, 141 Pollaiuolo, Antonio del 97 Pollaiuolo, Piero del 97 Polyklet (Polykleitos, der ›Vielgerühmte‹) 10, 258 Pontano, Giovanni Gioviano 45f., 110, 133, 185, 361 Pontormo , Jacopo da (J. Carrucci di Pontormo) 54, 76f., 380 Porta, Giambattista della 221, 304 Pourbus, Franz d. J. 295f. Poussin, Nicolas 54, 226, 238, 273, 281, 322, 365, 373, 380f., 384, 386 Praxiteles 71 Primaticcio, Francesco 198 Properz, Sextus Aurelius Propertius 182 Pseudo-Longinos 48, 145, 172, 418 Ptolemaios IV. Philopator 122 Pucci, Antonio 103 Pufendorf, Samuel Freiherr von 391 Pulci, Luigi 165

Q

Quiccheberg, Samuel (van) 262 Quintilian, Marcus Fabius 19, 43f., 47f., 110, 114, 131, 148, 152, 160, 199, 223, 336f.

R

Rabelais, François 66, 299, 303f. Raffael (Raffaello Sanzio) 20, 24–26, 28, 52, 55, 59, 64, 73, 76, 82, 127–133, 135–161, 163– 165, 186–190, 193, 195, 200,

445

213, 215–217, 220, 229, 232, 240f., 246, 258, 272f., 277, 279–282, 285, 295, 298, 312, 316, 344f., 367, 384, 386, 415 Raimondi, Marcantonio 139, 188, 344–346 Rambouillet, Catherine de Vivonne, Marquise de R. 352 Raspantino, Francesco 273 Rembrandt, Harmensz van Rijn 330, 332f., 336, 349, 355, 360, 404 Reni, Guido 161, 213, 268, 272, 282, 316f., 381, 384, 415 Reusner, Nikolaus 332f. Reynolds, Joshua 350, 409, 415 Ribera, Jusepe de 281, 298, 313– 316 Richardson, Jonathan d. Ä. 36, 57, 413–415 Richeome, Louis 364f. Ringhieri, Innocentio 278, 361 Ripa, Cesare 233, 256f., 260, 356, 363 Rockox, Nicolaas 287 Rohr, Julius Bernhard von 391 Romano, Giulio 127f., 152, 160f., 164f., 172, 188, 280, 299, 313 Rosso Fiorentino 198–200, 232 Rostand, Edmont 57 Rousseau, Jean-Jacques 30 Rubens, Peter Paul 23, 32, 50, 176f., 265, 267, 284, 287, 289, 293, 295–312, 317–323, 325f., 328f., 332–338, 367, 394f., 404, 412f., 415 Rudolf II. von Habsburg, Kaiser 172, 181f., 184, 267, 305 Ruskin, John 32

S

Sacchi, Andrea 281 Sade, Marquis de 391 Saint-Simon, Louis de Rouvroy, Duc de Saint-Simon 381f. Salutati, Coluccio 40, 130 Salviati, Francesco 194–197 Sanderson, William 319 Sandrart, Joachim von 339 Sannazaro, Jacopo 45, 185 Sansovino, Francesco 211 Sansovino, Jacopo 211 Sanvitale, Girolamo 248 Savonarola, Girolamo 90 Scamozzi, Vincenzo 282 Schaumburg-Lippe, Wilhelm Friedrich von 397f

446

Schenau, Johann Eleazar Zeissig, gen. S. 419 Schlegel, Friedrich 34 Schlegel, August Wilhelm 34 Schlottheim, Hans 264 Schnoor von Carolsfeld, Julius 29f. Schottelius, Justus Georg 364 Schubert van Ehrenburg, ­William 337f. Scorel, Jan 217 Scudéry, Georges de 186 Scudéry, Madelaine de 371, 389, 391, 393 Sebastián de Covarrubias y Orozco 305f. Sebastiano del Piombo (Sebastiano Luciani) 140–145, 158– 160 Segni, Antonio 121 Segni, Fabio 121 Sellaio, Leonardo 158 Seneca, Lucius Annaeus 38, 40, 49, 92, 118, 298 Seuse, Heinrich 75f. Shakespeare, William 303 Siegen, Ludwig von 55 Silius Italicus 128 Silvestre, Charles-François 419 Sirigatti, Ridolfo 54, 210 Snoybert, John 415 Soderini, Piero 136 Sokrates 37, 46, 110f., 130, 266f., 303–305, 307f., 311, 318f. Solario, Andrea 234 Sorel, Charles 361 Sperling, Otto 301 Spinola, Ambrogio 287 Stalbemt, Adriaen van 292f. Steen, Jan 345–348, 352–355 Stockhausen, Karlheinz 19 Strabon 8 Strozzi, Palla 62 Summonte, Pietro 45 Swanenburg, Willem Isaacsz. van 325

T

Tasso, Bernardo 170, 195 Tasso, Torquato 185, 277, 280 Temple, William 343 Teniers, David d. J. 293f., 316f. Ter Borch, Gerard 349–352, 355, 407 Terzi, Fra Girolamo 177 Tesauro, Emanuele 242 Theokrit 242 Thomas von Aquin 73, 140

Thomasius, Christian 23, 57, 391f. Thoré (Thoré-Bürger), Théophile 343 Tiepolo, Giovanni Battista 396– 400 Tilborch, Gillis van 291 Timanthes 120, 193 Tintoretto, Jacopo 50, 174, 253, 269, 300 Tizian (Tiziano Vecellio) 50, 133f., 169, 190–193, 232, 275, 295, 300, 312f., 367, 394, 415 Tournabuoni, Lorenzo 91 Townley, Charles 416f. Trublet, Nicolas-Charles-Joseph 391

U

Uccello, Paolo 89, 380 Urban VIII., Papst (Maffeo Barberini) 185, 382, 384

V

Valentin de Boulogne 269 Valéry, Paul 29 Valla, Lorenzo 37, 40, 44f., 56, 106, 112, 129, 131f., 333 Van der Geest, Cornelis 286f., 291 Varchi, Benedetto 136, 169 Varin, Jean 385 Varro, Marcus Terentius 8, 43f. Vasari, Giorgio 52–54, 97, 120f., 131f., 137f., 142, 145f., 149, 151, 153, 158, 160, 163, 170, 188, 190f., 193–195, 197, 203–207, 209f., 216–220, 222, 232, 243, 258f., 261, 269, 280, 299, 301, 311, 356, 367, 380 Velázquez, Diego Rodríguez de Silva y 165, 298, 326 Vendramin, Gabriele 175 Veneziano, Domencio 62 Venne, Adriaen van de 332 Verbruggen, Pieter 338 Vergil (Publius Vergilius Maro) 90–92, 96, 149, 152, 185f., 275, 277, 301, 309 Verino, Ugolino (di Vieri) 120f. Vermeer van Delft, Jan 348f., 355 Vernansal, Guy-Louis 371 Veronese, Paolo 251f., 300, 376, 386, 399 Vespucci, Simonetta 100f. Vignola, Giacomo Barozzi da 202 Villani, Filippo 125

Vincenzo I. Gonzaga, Herzog von Mantua 295f., 300 Viti, Timoteo 140 Vittrici, Alessandro 245 Vittrici, Gerolamo 245 Vitruv 8 Vives, Juan Luis 51

W

Wallop, Henry 200f. Watteau, Antoine 50, 393–395, 401–409, 415 Weyden, Rogier van der 65, 69 Widmanstetter, Johann Albrecht 184 Wijckersloot, Jan van 355–359 Wilde, Oscar 7 Wilhelm von Ockham 73 Wille, Johann Georg 350f., 419 Winckelmann, Johann Joachim 33f., 270, 417f.

X

Xenophon 40, 128, 303f.

Z

Zaccolini, Matteo 275 Zasius, Ulrich 183f. Zedler, Johann Heinrich 31 Zeuxis von Herakleia 10, 49, 64, 70, 77, 121f., 135, 237, 255, 265, 276–278, 359, 367 Zingg, Adrian 419 Zoffani, Johann (John) Joseph 415–417 Zuccari, Federico 132, 203

RE GISTER

ABBILDUNGSNACHWEIS

Abb. 1, 2, 6, 8, 11–13, 24–26, 29, 33, 34, 38, 39, 41, 45–52, 54, 62, 67, 68, 76, 79, 81, 83, 89–93, 95, 105, 114, 117, 124, 126, 128, 134, 140, 141, 146, 148, 151, 158, 171, 185, 187–189, 190, 191, 196, 197, 199, 204, 206, 223, 228, 234, 236, 237, 238, 240, 243, 246–248: Wikipedia, gemeinfrei; Abb. 3: Foto Michael Squire, mit frdl. Genehmigung; Abb. 4, 145, 147, 172, 175, 242: Alamy Stock Photo; Abb. 5: nach Pfisterer 1996; Abb. 7, 77, 121, 122: nach F. Zöllner: Leonardo da Vinci 1452–1519. Köln [u.a.] 2007; Abb. 58, 60, 137: nach Oberhuber 1999; Abb. 9, 10, 22, 37, 65, 113, 115, 118, 133, 212: Archiv des Autors; Abb. 14, 15, 73, 74, 78, 111, 160, 173, 239: AKG Images; Abb. 16: http://images.zeno.org/Kunstwerke/I/big/1050034a.jpg gemeinfrei; Abb. 17, 18: nach G. Basile (Hrsg.): Giotto. The Frescoes of the Scrovegni Chapel in Padua. Mailand 2002; Abb. 19: nach Ausstellungskatalog Florenz 2008; Abb. 20, 174, 205: ARTOTHEK; Abb. 21, 80, 96: nach M. Gregori: Uffizien und Palazzo Pitti. Die Gemäldesammlungen von Florenz. München 1994; Abb. 23: @St. Annen–­Museum Lübeck; Abb. 27: nach Grave 2018; Abb. 28, 35: nach Körner 2006; Abb. 30: nach A. Rapp Buri/M. Stucky-Schürer: Burgundische Tapisserien. München 2001; Abb. 31: http://images.zeno.org/Kunstwerke/I/big/ 76a027a.jpg gemeinfrei; Abb. 32: nach Ebert 2016; Abb. 36: nach Bredekamp 1988; Abb. 40: nach Fabienne Joubert: La tapisserie médiévale. Paris 2002; Abb. 42: © Victoria and Albert Museum, London; Abb. 43: nach O. Bätschmann/P. Griener: Hans Holbein d.J. Köln 1997; Abb. 44: nach A. Grömling/T. Lingesleben: Alessandro Botticelli 1444/45 – 1510. Köln 1998; Abb. 53, 55, 63, 64, 66, 69, 94, 108: nach P. de Vecchi: Die Sixtinische Kapelle. Freiburg/Basel/Wien 1996; Abb. 56, 57, 59, 61, 70, 71, 75, 161: nach Pfisterer 2019; Abb. 72: nach J. Dunkerton/S. Foister/ N. Penny: Dürer to Veronese. New Haven/London 1999; Abb. 82: https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/zwei-ruhendenymphen-jupiter-in-gestalt-der-diana-und-kallis; Abb. 84, 85: KHM Museumsverband; Abb. 86, 155: nach P. Humfrey: Lorenzo Lotto. New Haven/London 1997; Abb. 87, 88: nach F. Cortesi Bosco: Il coro intarsiato di Lotto e Capoferri per Santa Maria Maggiore in Bergamo. Bergamo 1987; Abb. 89–93, 154, 156: nach Ausstellungskatalog Wien 2008; Abb. 97-99, 183: nach P. Humfrey: Titian. The Complete Paintings. Gent 2007; Abb. 100–104: nach L. Mortari: Francesco Salviati. Rom 1992; Abb. 106, 107: nach J. Cox-Rearick: The Collection of Francis I: Royal Treasures. New York/Antwerpen 1995; Abb. 109, 110: https:// civitavecchia.portmobility.it/it/parco-dei-mostri-di-bomarzo-le-fotopiu-spettacolari#; Abb. 112: nach G. Vasari: Mein Leben. Berlin 2011; Abb. 116, 123, 216: https://www.metmuseum.org/art/collection, gemeinfrei; Abb. 119: nach Malvasia 1678; Abb. 120: nach Hofmann 2007; Abb. 125, 127, 129, 130, 135, 138, 139: nach Puglisi 2002; Abb. 131, 132, 136, 152: nach Ebert-Schifferer 2009; Abb. 142: http://syndrome-de-stendhal.blogspot.com/2015/06/; Abb. 143: nach Pieter Bruegel d. Ä. im

ABBI LDU NGSNACH WE I S

KHM, Ausst.-Kat. Wien 1997; Abb. 144: nach G. Thiem: ­Staatsgalerie Stuttgart. Recklinghausen 1984; Abb. 149: nach L. Treves u.a.: Beyond Caravaggio. Ausst.-Kat. London 2016; Abb. 150: nach Ripa 1988; Abb. 153: nach Rubens. Kraft der Verwandlung. Ausst.-Kat. KHM Wien, Frankfurt, Städel Museum, München 2017; Abb. 157: nach K. T. Spike: Caravaggio. New York/London 2001; Abb. 159: nach Spear 1982; Abb. 162: DiDi - ­Digitale Diathek, Technische Universität Berlin, Institut für Kunstgeschichte; Abb. 163, 165, 166, 167, 170, 171, 207, 208, 221, 222: nach Ausstellungskatalog München 2002; Abb. 164, 225: nach Harsdörffer 1968/1969; Abb. 168 nach: http://dejonckheere-gallery. com/wp-content/uploads/2017/07/Stalbempt-cabinet-108-x-1372-cm. jpg, gemeinfrei; Abb. 169: nach Stoichita 1998; Abb. 176: nach G. della Porta: De Humana Physiognomonia. ND Paris 1990; Abb. 177: nach Henkel/Schöne 1967; Abb. 178-180: nach Alpers 1995; Abb. 181: nach R. Grosshans: Maerten van Heemskerck: Die Gemälde. Berlin 1980; Abb. 182: nach R. Harprath: Italienische Zeichnungen des 16. Jahrhunderts aus eigenem Besitz. Ausst.-Kat. München, Staatliche Graphische Sammlung, München 1977; Abb. 184: nach Hendrik Goltzius. The Complete Engravings and Woodcuts. Hrsg. v. W. L. Strauss, New York 1977, Bd. 1; Abb. 186: nach Ausstellungskatalog Bonn 1996; Abb. 192: nach Ganz 2010; Abb. 193: nach Rubens. Ausst.-Kat. Lille, Palais des Beaux-Arts, Stuttgart 2004; Abb. 194, 195, 198, 200, 201: nach Ausstellungskatalog Brüssel 2012; Abb. 202: nach Ausstellungskatalog Antwerpen 1993; Abb. 203: https://www.musinskyrarebooks.com/pages/ books/2666/adriaen-van-de-venne-artist-jacob-cats/tooneel-van-demannelicke-achtbaerheyt-aen-gewesen-in-de-voor-sprake-teghensprake-ende-uyt-sprake; Abb. 209–211: nach Freytag/Harms/Schilling 2004; Abb. 213: nach J. Thuillier: Georges de La Tour. Paris 2012; Abb. 214, 218–220: nach Ausstellungskatalog Berlin 1984; Abb. 215: nach U. Neidhardt (Hrsg.): Der frühe Vermeer. Ausst.-Kat., Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Berlin/München 2010; Abb. 217: nach A. K. Wheelock Jr.: Gerard ter Borch. Ausst.-Kat. Washington, Nat.Gall. u.a., New Haven/London 2004; Abb. 224: https://www.pinterest.de/ pin/645351821586654162/; Abb. 226: nach Chr. Wright: Poussin. ­London 2007; Abb. 227: nach Grivel/Fumaroli 1988; Abb. 229: nach M. Gareau: Charles Le Brun. Premier Peintre du Roi Louis XIV. Paris 1992; Abb. 230–232: nach D. Meyer: L´histoire du Roy. Paris 1980; Abb. 233: nach E. Fuchs: Illustrierte Sittengeschichte. Bd. 2, München 1910; Abb. 235: nach M. D. Sheriff: Fragonard. Art and eroticism. Chicago/London 1990; Abb. 241: nach J. O. Hand: National Gallery of Art. Master Paintings from the Collection. Washington 2004; Abb. 244, 245: nach Ausstellungskatalog London 2006; Abb. 249: nach Masterpiece paintings from the Museum of Fine Arts. Boston 1986.

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DANK Das vorliegende Buch entstand über einen langen Zeitraum an verschiedenen Orten. Viele, Angehörige, Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen, denen ich allen herzlich danke, haben daran Anteil genommen. Namentlich erwähnen möchte ich Michael Zimmermann (Eichstätt), Ulrich Pfisterer und Hubertus Kohle (München), David Ganz (Zürich), Christina Strunck (Erlangen-Nürnberg), Ulrich Heinen und Michael Rohlmann (Wuppertal), Nadia Koch (Salzburg), Michael Squire (London) und Dieter Wuttke (Bamberg). Sie waren mir alle mit Ihren Anregungen, Hinweisen und Korrekturen eine große Hilfe. Susanne Drexler vom Verlag De Gruyter danke ich für Ihre freundliche und sorgfältige Betreuung bei der Herstellung dieses Buches. Bamberg, im August 2021 Wolfgang Brassat

ISBN 978-3-11-072617-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-072600-8 Library of Congress Control Number: 2021940584 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Covergestaltung: Katja Peters, Berlin Layout und Satz: Edgar Endl, bookwise medienproduktion gmbh, München Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com