Das haptische Bild: Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit 3050060115, 9783050060118

Die körperlich-plastische Wirkung von Artefakten stellt eine maßgebliche Grundlage ihrer bildaktiven Kompetenz dar. Im G

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German Pages 291 [292] Year 2013

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Table of contents :
Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit
I. Wahrnehmung
Die Haptik der Bilder. Rilievo als Verkörperungsstrategie der Malerei
The Disordered Bed in the Sleeping Venus
The Gaze, Touch, Motion: Aspects of Hapticity in Italian Early Modern Art
Lebendes Bild – haptisches Bild
II. Sujet
Rosso Fiorentinos Christus in forma Pietatis zwischen. Andacht und Schönheit
Das verräumlichte Bild im verbildlichten Raum.Jacopo Rusutis Mosaiken in Ferdinando Fugas Fassade von S. Maria Maggiore
Giovanni Gonnelli.Quellen und Fragen zum Werk eines blinden Bildhauers
Paletten und Palettenbilder
III. Material
Bildhauerisches Denken und haptische Bilder
Michelangelo’s Lesson.The Baroque Bozzetto between Creation and Destruction
Malen, Kratzen, Modellieren.Arent de Gelders Farbauftrag zwischen Innovation und Tradition
„Das Auge ward Hand, der Lichtstrahl Finger“.Bildoberfläche und Betrachterraum
Autorenverzeichnis
Bildnachweise
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Das haptische Bild: Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit
 3050060115, 9783050060118

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Das haptische Bild

BAND VII

ACTUS et I MAGO Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie Herausgegeben von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant Schriftleitung: Marion Lauschke

Das haptische Bild Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit Herausgegeben von Markus Rath, Jörg Trempler und Iris Wenderholm

Akademie Verlag

Einbandgestaltung unter Verwendung von Francesco Colonna, „Hypnerotomachia Poliphili“, 1499 (Vorderseite) und Frank Dicksee: Studie zu „The Two Crowns“, um 1900 (Rückseite), © Trustees of the British Museum.

Reihengestaltung: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2013 Akademie Verlag GmbH Ein Unternehmen von De Gruyter www.degruyter.de Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-006011-8

In ha ltsverzeic h n is

VII Markus Rath, Jörg Trempler, Iris Wenderholm Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit

I. Wa h r neh mu ng 3 Markus Rath Die Haptik der Bilder. Rilievo als Verkörperungsstrategie der Malerei 31 Jodi Cranston The Disordered Bed in the Sleeping Venus 51 Iris Wenderholm The Gaze, Touch, Motion: Aspects of Hapticity in Italian Early Modern Art 69 Philine Helas Lebendes Bild – haptisches Bild

II. Suje t 95 Alessandro Nova Rosso Fiorentinos Christus in forma Pietatis zwischen Andacht und Schönheit 113 Peter Stephan Das verräumlichte Bild im verbildlichten Raum. Jacopo Rusutis Mosaiken in Ferdinando Fugas Fassade von S. Maria Maggiore

135 Hans Körner Giovanni Gonnelli. Quellen und Fragen zum Werk eines blinden Bildhauers 159 Matthias Krüger Paletten und Palettenbilder

I I I. Mater ia l 185 Johannes Myssok Bildhauerisches Denken und haptische Bilder 209 Joris van Gastel Michelangelo’s Lesson. The Baroque Bozzetto between Creation and Destruction 227 Yannis Hadjinicolaou Malen, Kratzen, Modellieren. Arent de Gelders Farbauftrag zwischen Innovation und Tradition 253 Monika Wagner „Das Auge ward Hand, der Lichtstrahl Finger“. Bildoberfläche und Betrachterraum 267 Autorenverzeichnis 271 Bildnachweise

Markus Rath, Jörg Trempler, Iris Wenderholm

DA S H A P T I S C H E BI L D Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit

Die Geschichte der Bildwahrnehmung ist mitnichten nur eine Geschichte des Sehens. Entgegen der Auffassung, dass Bilder als virtuelle Medien allein dem Auge verpflichtet seien, steht die Erkenntnis einer plurimodalen Bildrezeption: Unterschiedliche Wirkungsweisen von Artefakten basieren stets sowohl auf optischen als auch auf körperlich-haptischen Reizen und Sinneswahrnehmungen. Dies betrifft nicht allein die dreidimensionalen Werke der Bildhauerei und der Architektur, die umlaufen oder durchschritten werden müssen, sondern schließt auch zweidimensionale Darstellungen mit ein. Ob mehr oder weniger realiter raumgreifend, manifestieren sich jedwede von Menschenhand gestalteten Gebilde durch ihre Form als eine körperlich begreifbare Struktur. Ebenso wie eine dynamisch zurückschwingende Barockfassade vermögen eine gemalte Darstellung des Medusenhauptes, ein anthropomorphes Terrakottamodell oder eine abstrakte Zeichnung anhand ihrer jeweiligen formalen Komposition unterschiedliche Facetten körperlich-haptischer Reaktionen zu evozieren. Bilder bewegen oder lassen erstarren, berühren oder stoßen ab. Doch auch ohne in jedem Fall derart expressiver Reize auszulösen, wirken Bilder durch ihre formale Gestalt aufgrund der mit ihr transportierten körperlich-materiellen Gehalte auf den Betrachterkörper. „Das haptische Bild“ ist insofern die begriffliche Umschreibung einer körperlich und emotional aktivierenden Bildrezeption. Aus biologischer Sicht umfasst haptisches Empfinden nicht nur die taktilen Reize der Hände oder der Fingerspitzen, sondern das gesamte propriozeptive, viszerale und sensomotorische Repertoire materieller Körperorientierung, also auch die Tiefensensibilität, welche die Lage und Dynamik des Körpers im Raum bestimmt, die Wahrnehmung von Temperatur und das Schmerzempfinden. Diese Grundreize der Körperwahrnehmung, die als „fünfter Sinn“ die Sensibilität eines Organismus bedingen, haben sich in Naturwissenschaft und Geistesgeschichte, in Medizin und Philosophie, über Jahrhunderte hinweg als

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lebensnotwendig erwiesen.1 Die Verortung des Körpers in seiner Umwelt, die Wahrnehmung von Raum, von Formen und Strukturen, erfolgt somit stets als eine Kombination aus verschiedenen durch das haptische Empfinden komplettierten Sinneswahrnehmungen.2 Auch im Rahmen der Bildbetrachtung, deren Natur zumeist als kontemplativ beschrieben wird, scheint diese Sinneskombination, insbesondere die Verquickung von optischen und haptischen Eindrücken, für die Fähigkeit einer instantanen Bilderfassung elementar: Indem der Betrachter einen fühlenden Körper besitzt und sich im Raum zu orientieren vermag, kann er Staffelungen und Perspektive, schwere und leichte Körper, Nah- und Fernwerte erfassen. Neben unmittelbar an das Tastempfinden gebundenen bildlichen Darstellungen von Schmerzen,3 Stillstand und Bewegung, Hitze und Kälte, bis hin zu Oberflächenstrukturen, sind es diese basalen Wahrnehmungsparameter, welche schließlich auch ein abstraktes Bild „ausgewogen“, „ruhig“ oder „dynamisch“ erscheinen lassen. Wenngleich Künstler und Kunsthistoriographen der Renaissance das Sinnbild des Visus als „Fürsten der Sinne“ geprägt haben,4 entstehen innerhalb

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Diese Erkenntnis führt von Aristoteles De Anima, 422b („Ohne Tastsinn kann es aber keinen Wahrnehmungssinn geben […]. Es ist also klar, dass nur beim Verlust dieses Wahrnehmungssinnes die Lebewesen sterben müssten.“) über Tomasîn von Zerclaeres 1215/1216 verfasstes Lehrgedicht Der Welsche Gast, 9483ff. („Nun denkt daran, dass niemand ohne den fünften Sinn zu leben vermag […] ohne taktiles Vermögen ist es niemandem möglich, lange zu leben.“) und Husserl, der in Ideen II (150) den Tastsinn zum Konstitutiv des Leibes selbst erklärt, bis hin zu den jüngsten Forschungen der International Society for Haptics (Gabriel Robles-DeLa-Torre: The Importance of the Sense of Touch in Virtual and Real Environments, in: IEEE Multimedia 13/3 (2006) S. 24–30). Vgl. Géza Révéz: Optik und Haptik, in: Studium Generale 10/6 (1957), S. 374–379 sowie allg. Martin Grunwald (Hg.): Human Haptic Perception. Basics and Applications, Basel 2008. Die in der monastischen Mystik des Mittelalters wurzelnde Auffassung der compassio generierte eine große Anzahl an Mitleid-erregenden Bildformen, wie etwa die Figur des „Schmerzensmannes“, deren Leiden unmittelbar körperlich nachempfunden werden sollten. Am Beispiel des gemarterten Körpers Christi im Isenheimer Altar spricht Hartmut Böhme diesbezüglich von der „Gestaltung von Gefühlen […], die als eine raumfüllende Kontaktkraft wirkt“, und aktiv die bildimmanenten repulsiven und anziehenden Bewegungen generieren, wodurch „das Sehen der Figuren zum Spüren des leiblichen Schmerzes“ wird: „Darin besteht die Kunst: im Visuellen das leiblich spürbar Anwesende von Gefühlen darzustellen.“ Hartmut Böhme: Der Tastsinn im Gefüge der Sinne, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Tasten, Göttingen 1996, S. 185–211, hier S. 197. Vgl. Frank Fehrenbach: Der Fürst der Sinne. Macht und Ohnmacht des Sehens in der Italienischen Renaissance, in: Horst Bredekamp/John M. Krois (Hg.): Sehen und Handeln, Berlin 2011, S. 141–154. Die Dominanz des Visualprimats beruhte hingegen auf einer vielschichtigen, durch antike, arabische und neuplatonische

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dieser Schwellenepoche zugleich Artefakte, die ganz bewusst auf eine körperhafte Bilderfahrung hin ausgerichtet sind. Der Untertitel des vorliegenden Bandes ist dieser Entwicklung geschuldet, da seit der Frühen Neuzeit sowohl Künstler als auch Bildrezipienten in Bildproduktion und Sehpraxis, Kunsttheorie und Kunstreflektion, die (wieder)errungenen Darstellungsmodi einer vorikonographisch auf Körpererfahrung beruhenden Bildsprache einforderten.5 Diese umfasste neben einer Verortung der körperhaften Gegenstände im perspektivischen Raum die stimmige Wiedergabe der Körper selbst. Mithilfe von Licht und Schatten wurde Volumen bildlich generiert, anatomische Studien wirkten auf die treffende Körperdarstellung zurück, Draperien verdeckten den Leib und ließen ihn zugleich in seiner natürlichen Ausprägung erscheinen. Die Reflektion über innovative Darstellungsmodi der Bildkörper führte dabei zu einer Ausdehnung der Gattungen, zu Assimilationen, etwa im rilievo schiaccato, oder zu Kopplungen, etwa im kombinierten Andachtsbild aus Bildtafel und Skulptur.6 Die Diskussion um adäquate künstlerische Ausdruckformen wurde im Zuge der Aufklärung eng mit ihren jeweiligen sinnlichen Implikationen verknüpft. In der Folge von George Berkley (An Essay Towards a New Theory of Vision, 1709) und Denis Diderot (Lettre sur les aveugles, 1749) entgegnete Johann Gottfried Herder durch den Impetus des Haptischen in seiner „PhysioÄsthetik“ jenen körpersublimierenden Formen klassizistischer Ästhetik, wie sie etwa in Lessings Laokoon (1766) zutage treten.7 In seiner Abhandlung Plastik (1778) entwickelte er anhand der Betrachtung von Werken der Bildhauerei eine Phänomenologie körperhafter Kunstrezeption.8 Eigene Bewegung und haptisches Sehen sind dabei eng verknüpft: Beim Umschreiten der Skulptur

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Lehren gespeisten Seh- und Perspektivgeschichte. Vgl. Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine west-östliche Geschichte des Blicks, München 2008. Dass sich dieser Wandel nicht abrupt, sondern in Stufen vollzog, wobei Künstlern wie Giotto und seinen Nachfolgern eine Sonderrolle zuzusprechen ist, wurde vielfach herausgestellt. Vgl. jüngst Frank Büttner: Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung. Die Malerei und die Wissenschaft vom Sehen in Italien um 1300, Darmstadt 2013. Vgl. Iris Wenderholm: Bild und Berührung. Skulptur und Malerei auf dem Altar der italienischen Frührenaissance, München/Berlin 2006. Vgl. Herman Parret: L’œil qui caresse. Pygmalion et l’expérience esthétique, in: Claire Van Damme/Patrick Van Rossen/Marijke Van Eeckhaut (Hg.): Touch me, don’t touch me. De toets als Interface in de Hedendaagse Kunst, Gent 2007, S. 17– 44, hier S. 24ff. Vgl. Ulrike Zeuch: Umkehr der Sinne. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der Frühen Neuzeit, Tübingen 2000; Natalie Binczek: Gewänder als Parerga. Zu Herders ‚Pastik‘, in: Pandaemonium germanicum 8 (2004), S. 151–167 sowie ausführlicher dies.: Kontakt: Der Tastsinn in Texten der Aufklärung, Tübingen 2007.

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wird der Blick des Betrachters zum tastend-liebkosenden Fingerstrahl.9 Wenngleich diese Schrift imstande war, die Sinneshierarchie zu Ungunsten des Sehsinns in Frage zu stellen, hinterließ die vollzogene Gattungstrennung in körperhafte und daher haptisch empfundene Plastik und körperloses, visuell rezipiertes Bild das Desiderat eines Explanandums für die visuellen Anteile innerhalb der Skulpturrezeption – und reziprok für die haptischen Anteile der Betrachtung von Malerei. Die Grundannahme des vorliegenden Bandes ist, dass jedwedes Bild während des Rezeptionsprozesses in Relation zum Betrachterkörper gesetzt wird, wobei visuelle und haptische Werte zugleich wirksam werden.10 In bestechender Präzision hat Heinrich Wölfflin dieses Phänomen 1886 in seinen Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur erfasst: „Körperliche Formen können charakteristisch sein nur dadurch, daß wir selbst einen Körper besitzen. Wären wir bloß optisch auffassende Wesen, so müßte uns eine ästhetische Beurteilung der Körperwelt stets versagt bleiben. Als Menschen aber mit einem Leibe, der uns kennen lehrt, was Schwere, Kontraktion, Kraft usw. ist, sammeln wir an uns die Erfahrungen, die uns erst die Zustände fremder Gestalten mitzuempfinden befähigen.“11 Dieser Ansatz hat in der Kunstgeschichte bisher wenig Nachhall gefunden. Im Gegenteil, er hat möglicherweise einem Formalismus die Tür geöffnet, den Wölfflin paradoxerweise am Ende seines Lebens selbst vertrat. Wenige Jahre nach dessen Dissertation veröffentlichte der etwas ältere Alois Riegl seine Stilfragen (1893) sowie seine Untersuchung Die spätrömische Kunst-Industrie (1901), in der er zwischen optischer und haptischer Wahrnehmung unterscheidet. Für den Zusammenhang dieses Bandes ist entscheidend, dass Riegl hier nicht die körperliche Bildwahrnehmung thematisiert, sondern auf ein antithetisches Begriffspaar abhebt, das in einen Formalismus mündet. Wie die zwei Seiten einer Medaille bedingen sich haptisch (plastisch gebunden, umrissbasiert) und optisch (binnenmodelliert) in einem dialektischen, 9

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Damit ist diese Form des Kunstgenusses nicht mehr Teil der realiter haptischen, manuellen Kunsterfahrung. Vgl. Hans Körner: Der fünfte Bruder. Zur Tastwahrnehmung plastischer Bildwerke von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Artibus et Historiae 21/42 (2000), S. 165–196. Vgl. auch den Beitrag von Monika Wagner in diesem Band. Dies bedeutet nicht ein synästhetisches Erleben, also eine Reizübertritt auf andere Primärsinne, sondern eine anthropologische Konstante körperhafter Bilderfahrung. Auch die bewusste Aushebelung derartiger Körper- (und Seh-)erfahrung als künstlerisches Ausdrucksmittel, etwa in den „kopfüberstehenden“ Bildern Georg Baselitz‘, bestätigt noch ex negativo die körpergebundenen Sehmechanismen. Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur [München 1886], Berlin 1999, S. 9. Vgl. John M. Krois: Bildkörper und Körperschema, in: Horst Bredekamp/Marion Lauschke (Hg.): John M. Krois. Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, Berlin 2011, S. 252–271.

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alternierenden Verhältnis, das Riegl letztendlich aus einem zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Verständnis heraus entwickeln konnte. Derselbe Wölfflin, der mit seiner Dissertation einen radikalen Vorstoß in Richtung der körperlichen Bildwahrnehmung gewagt hatte, formulierte später – auch unter dem Einfluss von Riegls Begriffspaar haptisch-optisch – seine berühmt gewordenen Kunsthistorischen Grundfragen (1915), die ebenfalls mit formalen, antithetischen Begriffspaaren operieren. Wird in diesem Band von „haptischen Bildern“ gesprochen, steht dies nicht in dieser formalen Tradition, sondern versucht, den Faden von Heinrich Wölfflins Dissertation wieder aufzunehmen und „haptisch“ nicht allein als Gegensatz zu „optisch“ zu begreifen, sondern im buchstäblichen Sinne von biologischen, menschlichen Körpern auszugehen, deren ästhetische Erfahrungen multisensorisch erfolgen. Die körperliche Wahrnehmung, und damit auch die Betrachtung von Bildern, ist nicht kognitiv, sondern performativ zu begreifen. Bereits ab der Mitte des 19. Jahrhundert widmete sich die Kunstwissenschaft der Erörterung eines „Mitempfindens“ mit Kunstwerken, ihrem bildimmanenten Impetus der Empathieauslösung.12 Der Vektor dieses kunstpsychologischen Ansatzes verlief jedoch stets vom Betrachter hin zum Werk und in dieses hinein, um von dort aus zurückzuwirken. Die ästhetische Einfühlung, so Theodor Lipps, „ist in ihrem letzten Grunde allemal das Erleben eines Menschen. Dies ist aber das Erleben meiner selbst. Ich also fühle mich als Menschen in der Gestalt, die mir entgegen tritt […]“.13 Indem sich der Betrachter in das Werk „hineinfühlt“, wird er durch die intrinsisch angelegten anthropomorphen Strukturen angeregt. Es war dieser Zirkelschluss, der die kunstwissenschaftliche Erforschung der Einfühlung schließlich ins Leere laufen ließ – indem der Ausgangspunkt zugleich als Endpunkt bestimmt worden war. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts begleiten und befeuern zwei kognitionswissenschaftliche Forschungsfelder die Wiederaufnahme der Untersuchung emphatischer Bilderfahrung: Einerseits erlaubte die Erkundung des Spiegelneuronensystems neue Erklärungsmuster menschlicher Wahrnehmungs- und Lernprozesse,14 andererseits führten Erkenntnisse des Paradigmas der verkör12

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Jutta Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg i. Br. 2005; Robert Curtis: Einführung in die Einfühlung, in: Robert Curtis/Gertrud Koch (Hg.): Einfühlung. Zur Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München 2009, S. 11–29. Theodor Lipps: Aesthetik. Psychologie des Schönen und der Kunst, Bd. 2, Hamburg 1906, S. 49. David Freedberg/Vittorio Gallese: Motion, Emotion and Empathy in Esthetic Experience, in: Trends in Cognitive Sciences 11/5 (2007), S. 197–203; vgl. allg. Giacomo Rizzolatti/Corrado Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt/M. 2008.

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perten Kognition („embodied cognition paradigm“) zu einem auf Haptik und Bewegung fußenden Erklärungsmodell von Intelligenz.15 Diese Ansätze werden immer mehr in das methodische Repertoire einer bis heute anhaltenden Konjunktur des Körpers in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften integriert, die einerseits auf Erkenntnisse aus Medizin und Psychologie (Maurice Merleau-Ponty, Didier Anzieu) und postmoderne Kunstformen (Body Art, Performance) reagierte, um sich andererseits gegen positivistische und zerebralzentristische Entwicklungen innerhalb der Disziplinen zu wenden.16 Mit dem vorliegenden Band soll eine Ergänzung zu den jüngeren kulturphilosophischen und kunstwissenschaftlichen Vorstößen geleistet werden, die der besonderen Funktion des Tastsinns in Kulturschaffen und Bildrezeption Tribut zollen.17 Die dabei zusammengeführten Beiträge sind Untersuchungen, die im Rahmen der Arbeit des innerhalb der DFG-geförderten Kolleg-Forschergruppe „Bildakt und Verkörperung“ angelegten Forschungsschwerpunktes „Das haptische Bild“, in Kooperation mit dem Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg, im Laufe von vier Jahren präsentiert wurden. Die unterschiedlichen Ansätze, welchen als Ausgangspunkt das körperlich aktivierende Potential sowohl zwei- als auch dreidimensionaler Bilder diente, wurden in drei Hauptfeldern – Wahrnehmung, Sujet und Material – zusammengeführt. Das erste Kapitel vereint Beiträge, die unterschiedliche Gesichtspunkte visuell-haptischer Wahrnehmung beleuchten. Markus Rath legt mit seiner Analyse des malerischen rilievo – ein zentraler Referenzwert frühneuzeitlicher Kunstpraxis – dar, inwiefern dessen Umsetzung ein strategischer Zug eignet, der auf eine den Betrachterkörper involvierende Wirkung abzielt. Die vom Bei-

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Horst Bredekamp/Marion Lauschke (Hg.): John M. Krois. Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, Berlin 2011; Alva Noe: Varieties of Presence, Cambridge, MA 2012; André Blum/John M. Krois/ Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Verkörperungen, Berlin 2012; Jörg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2013 (im Erscheinen). Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris 1945; ders.: Le Visible et l’Invisible. Suivi de notes de travail, Paris 1993; Didier Anzieu: Das HautIch, Frankfurt/M. 1996 (Le Moi-Peau, Paris 1985); vgl. allg. Emmanuel Alloa u.a. (Hg.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen 2012. Hartmut Böhme: Der Tastsinn im Gefüge der Sinne (wie Anm. 3); Elizabeth J. Harvey (Hg.): Sensible Flesh: On Touch in Early Modern Culture, Philadelphia 2003; Günter Getzinger: Haptik. Rekonstruktion eines Verlusts, Wien 2005; M a˘ d a˘ lina Diaconu: Tasten, Riechen, Schmecken. Eine Ästhetik der anästhesierten Sinne, Würzburg 2005; Constance Classen (Hg.): The Book of Touch, London u.a. 2005; dies.: The Deepest Sense. A Cultural History of Touch, Urbana 2012; Mark Paterson: The Senses of Touch. Haptics, Affects and Technologies, Oxford 2007; Ludger Schwarte: Taktisches Sehen – Auge und Hand in der Bildtheorie, in: Johannes Bilstein/Guido Reuter (Hg.): Auge und Hand, Oberhausen 2011, S. 211–228.

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spiel einer Draperiestudie ausgehende Untersuchung zeigt auf, dass die Belebung der Bildmotive unmittelbar mit ihrer körperrelevanten Erscheinung verknüpft war. Mit der Durchsetzung volumentransportierender Bildwerte eroberte die Malerei zugleich jene Domänen haptischer Rezeption, die genuin den Werken der Skulptur zugeeignet waren, um damit ein vermeintlich paragonales Verhältnis zwischen den Gattungen heraufzubeschwören. Dieses Vermögen, anhand der bildlichen Evokation von Stoffen einem unbelebten Gewebe Körperhaftigkeit und damit Lebendigkeit zu verleihen, beobachtet Jodi Cranston in Tizians Gemälde der Sleeping Venus. Sie zeigt dabei auf, welche bedeutsame Rolle in Malerei und Bildhauerei der Frühen Neuzeit Kleidung und Schleier, Knoten und Falten einnehmen, die, mit dem Impetus des Berührens, des Begehrens und allgemein des Leiblichen versehen, zu Signifikanten bildlicher Körperevokation werden. Um die Aktivierung der körperlich-sinnlichen Potentiale, die der Kombination von Skulptur und Malerei innerhalb eines Altarretabels geschuldet zu sein scheint, geht es in dem Aufsatz von Iris Wenderholm: The Gaze, Touch, Motion. Aspects of Hapticity in Italian Early Modern Art. Dabei widmet sich die Verfasserin der Frage, ob die Verquickung unterschiedlicher Medien zu einer Konfrontation bzw. einem paragone führt oder nicht vielmehr von einem Mitstreit der Bildgattungen gesprochen werden müsste. Das Interesse an der Übergängigkeit und Thematisierung der Bild-Betrachter-Grenze, das durch die suggerierte Bewegung der verlebendigt wirkenden plastischen Figuren aus dem zweidimensionalen Gemälde heraus zu beobachten ist, sowie die daraus abzuleitende Aktivierung des Betrachterkörpers teilt dieser Ansatz mit der bei Philine Helas in ihrem Beitrag Lebendes Bild – haptisches Bild formulierten Fragestellung, der sich mit dem Übertritt von Akteuren und Rezipienten in das Feld der Kunst beschäftigt. Die in der Festkultur der Frühen Neuzeit entwickelten „Lebenden Bilder“ (tableaux vivants) mythologischen oder heiligen Inhalts transferieren den fühlenden Körper in einen Bildkörper, wodurch haptisches Aneignen, Wirken und (Mit)Empfinden der Darstellung in eins fallen. Das zweite Kapitel führt Motive und exemplarische Strategien von künstlerischer Gestaltung, die gattungsübergreifend mit haptischem Erleben verbunden sind, zusammen. In der „Sinnlichkeit“ des leicht überlebensgroßen nackten Christus in forma Pietatis von Rosso Fiorentino erkennt Alessandro Nova eine intendierte Wendung zum betont Körperlichen oder gar lasziv Erotischen. Motivisch zwar in gewissem Maße an antike und biblische Quellen rückbindbar, bleibt die in ihrer Ambivalenz zwischen fühlbarem Leib und religiöser Innerlichkeit schwingende Darstellung eine genuine Invention des Malers. Im Vergleich zu diesem „haptischen“ Andachtsbild ist die Gestaltung der Andachtsarchitektur, wie sie Ferdinando Fuga bei der Gestaltung der Fassade von S. Maria Maggiore entwarf, auf weniger nahsinnliche denn räumlich involvierende

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Weise auf ein körperhaftes Empfinden hin ausgerichtet. Wie Peter Stephan in seinem Beitrag aufzuzeigen versteht, entwarf der Architekt durch die offene Gliederbauweise ein „verräumlichtes Bild im verbildlichten Raum“: Den höheren Prinzipien des Heiligen unterstellt, ist die Fassade zugleich Bild und Gefäß, Glaubensort und Öffnung. Der transformative Charakter des gleichsam Rusutis Mosaiken, Gemeinde und den Vertreter Peri umschließenden Baukörpers erweitert sich darüber hinaus bis weit in den Stadtraum hinein, so dass sich die Fassade als Kulminationspunkt einer durch Körperbewegung erfahrbaren, radialen Stadtstruktur erweist. Der Frage nach Blindheit und Tasten als „haptisches Sehen“, dessen unmittelbarer Ausprägung ein Impetus des Sinnlichen eignet, widmet sich Hans Körner in seinem Aufsatz Giovanni Gonnelli. Quellen und Fragen zum Werk eines blinden Bildhauers. An diesem ungewöhnlichen Fall eines Blinden, der aus Terrakotta die Kopie einer Papstbüste formt, verhandelt der Verfasser das Problem der überhistorischen Übertragbarkeit von Erfahrungen des eigenen bzw. des fremden Körpers und seiner künstlerischen Umsetzung. Indem der blinde Bildhauer das Darzustellende als Tastbild begreift, dessen Erscheinung in die wie eine formbare Maske eingesetzte Hand übergeht, stellen die Bildwerke Blinder besondere Zeugen haptischer Gestaltungsweisen dar. Mit der Übergangszone zwischen Hand und Bild beim Einsatz von Malwerkzeugen beschäftigt sich schließlich Matthias Krüger. Im Fall der Malpalette, mithin des kaum beachteten Sujets des Palettenbildes, vereint das polyvalente Farbrelief die Körperhaftigkeit des Malstoffes mit Fragen nach der Bildentstehung und der Eigentätigkeit des Sujets. Die hier fassbare Emanzipation der Malmaterie offenbart sich schließlich als eine bedeutende Wegmarke der Moderne. Im dritten Kapitel wird diese Problemstellung – die körperliche Autonomie und Wirkfähigkeit der Materie – im Zusammenhang mit der Formentstehung und den haptischen Dimensionen morphologisch geleiteten Schaffens verbunden. Sowohl anhand der Wider- und Eigenständigkeit des Terrakottaoder Wachsmodells als auch am Beispiel der glatten, fließenden Formen einer Marmorgestalt stellt Johannes Myssok die Frage nach haptischem Bildempfinden. Es gelingt ihm aufzuzeigen, dass durch die Verwendung plastischer Modelle (bozzetti), Vor-Bilder aus formbarem Material, ein neuer Gehalt des bildhauerischen Denkens entspringt, dessen Natur im Austausch und Wandel von Materie und Motiv besteht. Sowohl in der Komposition der Figuren für das Juliusgrabmal Michelangelos als auch in der Genese der Amor-und-PsycheGruppe Canovas ist die Praxis des sich körperlich im Raum fortentwickelnden Bildes zu beobachten. Auch für Joris van Gastel stellt der Bozzetto das Gegenmodell zu einer linearen, allein von der idea vorgeprägten Werkgenese dar. In Erweiterung zu der bei Vasari beschriebenen progressiven Bildentstehung setzt er das Motiv der „kreativen Zerstörung“, die die manuelle Umgestaltung des

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Modells nicht als definitive Destruktion, sondern als konstitutive Handlung für die Fortentwicklung barocker Bildsprachen begreift. Dem materiellen Übertritt zwischen den Gattungen im Sinne einer haptischen Verwendung der Farbe spürt Yannis Hadjinicolaou in den Bildern des Rembrandtschülers Arent de Gelder nach. Die Malweise eines Künstlers, allgemein im Niederländischen mit dem Begriff des als performativ begriffenen handeling umschrieben, erreichte bei de Gelder durch Kratzen und Modellieren der Farbe bildhauerische Qualität. Den Ausdehnungen der Bildmaterialien auf Malgrund bis hinein in den Betrachterraum und dem Thema der Teletaktilität widmet Monika Wagner den abschließenden Aufsatz Das Auge ward Hand, der Lichtstrahl Finger. Bildoberfläche und Betrachterraum. Hier wird deutlich, dass neuere Bio-FeedbackArbeiten, aber auch Arbeiten und künstlerische Aktionen der 1960er Jahre, sich verstärkt mit der Problematik der Überschreitung der ästhetischen Grenze und dem Eindringen in den Betrachterraum auseinandersetzen. Dabei kann die Verfasserin aufzeigen, dass Fragestellungen in der zeitgenössischen Kunst und Kunstkritik ähnlichen Strategien zugrundeliegen, wie sie seit dem 18. Jahrhundert bereits Theoretiker wie Herder und Maler wie Constable und Turner umtrieben. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, dass die Arbeiten, die die Problematik der taktilen Transgression berühren, sich der traditionellen Topik des Haptischen bedienen – wie es das Diktum der Aktionskünstlerin Valie EXPORT pointieren sollte: „Die taktile Rezeption feit gegen den Betrug des Voyeurismus“ (1968). Der Dank der Herausgeber gilt den Leitern der DFG-Kolleg-Forschergruppe „Bildakt und Verkörperung“, Horst Bredekamp, John M. Krois (†) und Jürgen Trabant, sowie allen Kolleginnen und Kollegen, die durch ihre Beiträge, Diskussionen und Hinweise die Arbeit des Forschungsschwerpunktes stets unterstützt und vorangetrieben haben. Allen eingeladenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Studientage und Kolloquien gilt im selben Sinne besonderer Dank. Dem Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg sei ebenso wie dem Warburg-Haus für die freundschaftlichen Kooperationen gedankt. Martin Steinbrück vom Akademie Verlag hat die Publikation umsichtig betreut, während Petra Florath für die feinsinnige Gestaltung des Bandes herzlich gedankt sei. Hamburg, Paris und Passau im April 2013 Die Herausgeber

WA H R N E H M U N G

Markus Rath

D I E H A P T I K D E R BI L D E R Rilievo als Verkörperungsstrategie der Malerei

„La scultura con poca fatica mostra quel che la pittura pare, cosa miracolosa a far parere palpabili le cose impalpabili, rilevate le cose piane, lontane le cose vicine.“1 Leonardo da Vinci

Pa n neg g io pa lpabi le – t a stba res Tuc h Die um 1475 entstandene monochrome Studie zum Gewand des Evangelisten Matthäus aus dem Berliner Kupferstichkabinett, sowohl Domenico Ghirlandaio (1449–1494)2 als auch Leonardo da Vinci (1452–1519)3 zugeschrieben, besticht durch ihre äußerst plastische Ausarbeitung des Faltenwurfs (Bild 1).4 Auf der bräunlich grundierten Leinwand leicht nach links gerückt, entfaltet das Gewand einer sitzenden Gestalt räumlich-körperliche Präsenz. Erst in einem zweiten Schritt wurden der frontal gestellte Oberkörper des Schreibenden sowie die fliegende Engelserscheinung in der rechten oberen Bildecke, zu welcher er sich hinwendet, in feinen Linien mit dem Pinsel eingetragen. Der ursprüngliche 1 2

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Leonardo da Vinci: Libro di Pittura, zit. n. Claire J. Farago: Leonardo da Vincis Paragone. A Critical Interpretation with a New Edition of the Text in the Codex Urbinas, Leiden u. a. 1992, Kap. XXXVIII, S. 284. Hein-Theodor Schulze Altcappenberg: Die italienischen Zeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts im Berliner Kupferstichkabinett. Kritischer Katalog, Berlin 1995, S. 146–149. Zum Zusammenhang mit den von Ghirlandaio ausgeführten Gewölbefresken in der Cappella Fina im Dom von San Gimignano sowie weiteren Zuschreibungen, etwa an Fra Bartolomeo, vgl. ebd. Ausst. Kat.: Leonardo da Vinci. Die Gewandstudien, m. Texten v. Françoise Viatte, Carlo Pedretti u. André Chastel, München/Paris/London 1990, S. 60f. 236 × 177 mm, Pinsel in Brauntönen, weiß gehöht, auf bräunlich grundierter Leinwand (auf Papier aufgezogen), KdZ 5039.

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Sinn und Zweck der Übung bestand offenkundig in der bildlichen Ausformung des Faltenwurfs, im malerischen Modellieren differenzierter Stoffvolumina. Über den linken Arm und die Schulter fließend, fällt das Gewandtuch locker gerafft hinter dem Rücken bis zu einer tiefen Falte, um von dort wiederum nach vorne über Schoß und Knie bis zum Boden zu gleiten. Oberhalb des amorphen Schlagschattens der Gestalt erzeugt ein Lichtnebel stärkere Tiefe und rückt die Figur zugleich nach vorn. Dieser rührt von einer Lichtquelle her, die von links oben einfällt und damit den Stoffbahnen zwischen dem aufgestellten angewinkelten rechten und dem schräg nach vorn geschobenen linken Bein größte Körperlichkeit verleiht. Binnenstrukturen, die sich von diesem Gestaltzentrum entfernen, beginnen sich aufzulösen, bevor sie in eine vielerorts fließend mit dem Hintergrund verbundene Umrisslinie übergehen. In feinen Abstufungen wurden lasierend in nuancierten Brauntönen Schattenmulden und Faltentäler angegeben, während Aufhellungen in Bleiweiß prominente Partien wie Lichtreflexe auf den Faltenrücken, dem nach vorn wölbenden rechten Knie oder der unter dem Tuch hervortretenden linken Fußspitze herausheben. Schwarze Strichbündel intensivieren schließlich tiefste Faltenhöhlen und Schlagschatten.5 Materialität und Grundton der Malfläche wurden bewusst als Gestaltungsmittel eingesetzt, indem das Gewebe der Leinwand bei ins Halblicht getauchten Partien hindurchscheint, wodurch sich nicht allein dessen Farbigkeit, sondern auch dessen stoffliche Struktur auf das Gewand selbst überträgt. Durch den virtuosen Einsatz von Hell- und Dunkelwerten entsteht eine Draperielandschaft6 aus mäandernden, übereinander gebauschten oder spitz zulaufenden Falten, die den Leib bedecken und zugleich entstehen lassen. Diesen Umstand der körperlichen Aufladung des Gewandes hat Leonardo mit der prägnanten Formel beschrieben, dass „die Gewänder, mit welchen die Figuren bekleidet sind, zeigen müssen, dass sie von eben diesen Figuren bewohnt werden“.7 Von der hochdifferenzierten Auffassung stimmiger Draperiegestaltung zeugt seine weitergehende Anweisung, außer bei Nymphen und Engeln, stets die unter dem Gewand liegenden Kleidungsschichten noch erahnen zu lassen.8 5

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In dieser Forcierung der plastisch-körperlichen Präzision erkennt Schulze Altcappenberg ein Indiz dafür, die Studie nicht den bereits von atmosphärischem Sfumato durchzogenen Arbeiten Leonardos zuzusprechen. Vgl. Schulze Altcappenberg: Die italienischen Zeichnungen (wie Anm. 2), S. 147. Zur Verbindung von Draperiestudie und Landschaftsdarstellung (ammacature) vgl. André Chastel: Leonardo: Stoffe und Falten, in: Ausst. Kat.: Leonardo da Vinci (wie Anm. 3), S. 9–14, hier S. 11. „I panni che vestono le figure debbono mostrare di essere abitati da esse figure“. Zit. n. Carlo Pedretti: ‚Bewohntes Tuch‘, in: Ausst. Kat.: Leonardo da Vinci (wie Anm. 3), S. 15–21, hier S. 19. Codex Urbinas, Hd. A, fol. 98 recto, 169b, vgl.: Ausst. Kat.: Leonardo da Vinci (wie Anm. 3), S. 112.

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Bild 1 Domenico Ghirlandaio/Leonardo da Vinci: Studie zum Gewand des Evangelisten Matthäus, um 1475, 236 × 177 mm, Pinsel in Brauntönen, weiß gehöht, auf bräunlich grundierter Leinwand (auf Papier aufgezogen), Kupferstichkabinett (SMB), Berlin.

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Der Eindruck bewohnten Tuches verweist auf jenen Zielpunkt künstlerischen Gestaltens, ein Motiv in seiner körperlichen Präsenz auf eine plane Bildfläche zu bannen. Dabei stellt die überzeugende Kleidungsdarstellung nur eine Ausprägungsform einer Zeichen- und Maltechnik dar, die mithilfe von Licht- und Schattenwerten eine differenzierte Körperlichkeit entstehen lässt und somit jedwedes Sujet „greifbar“ vor Augen zu stellen vermag. Für dieses Verfahren erlangt in der Renaissance der Terminus rilievo zentrale Bedeutung.9 Das mit ihm verbundene Vermögen stellte für Leonardo eine der primären Eigenschaften malerischen Gestaltens dar, durch die sich diese Kunstform gegenüber anderen, insbesondere der Skulptur, auszeichnet. Er entstammt unmittelbar der gängigen Werkstattpraxis, die, wie im Beispiel der Faltenwurfstudie, das plastisch-räumliche Entwickeln eines Motivs auf dem Bildgrund beschreibt. Der Begriff umfasst jedoch weit mehr, als allein den bislang herausgestellten technischen Fortschritt der Malerei in der Frühen Neuzeit. Mit der bildlichen Entfaltung des rilievo wird ein künstlerisches Verfahren entwickelt, das bewusst auf eine haptische Bilderfahrung abzielt. Es beabsichtigt nicht die bloße Steigerung der Illusion, sondern die malerische Erzeugung eines bildlichen Resonanzkörpers. Der am Übergang zur Frühen Neuzeit begrifflich etablierte und fortan vehement eingeforderte malerische rilievo deutet hin auf eine künstlerisch reflektierte Strategie der Verbindung von haptischen Erfahrungswerten mit optischen Bildgebungsverfahren. 9

Moshe Barasch bezeichnet den rilievo als „höchste[n] Wert der Renaissancetheorie“, vgl. Moshe Barasch: Licht und Farbe in der Kunsttheorie des Cinquecento, in: Rinascimento 2 (1960), S. 207–300, hier S. 213. Zum Bedeutungskomplex des Begriffs vgl. Luigi Grassi: Rilievo, in: Dizionario della critica d’arte 2 (1978), S. 480f.; Luba Freedman: ‚Rilievo‘ as an Artistic Term in Renaissance Art Theory, in: Rinascimento 29 (1989), S. 217–247; Andrea Niehaus: Florentiner Reliefkunst von Brunelleschi bis Michelangelo, München 1998, S. 17–45; Yih-Fen Wang-Hua: ‚Rilievo‘ in Malerei und Bildhauerkunst der Frühneuzeit, Dissertation, Köln 1999; Rudolf Preimesberger: Rilievo und Michelangelo. ‚…benché ignorantemente‘, in: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München/Berlin 2003, S. 303–316; Steven F. Ostrow: Playing with the Paragone. The Reliefs of Pietro Bernini. For Rudolf Preimesberger, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 67 (2004), S. 329–364, bes. S. 331–338; Christopher Ross Lakey: Relief in Perspective. Medieval Italian Sculpture and the Rise of Optical Aesthetics, Dissertation, Berkeley 2009. Zur Entstehungsgeschichte der Maltechnik vgl. zudem das in Kürze erscheinende Buch von Frank Büttner, dem es gelingt zu zeigen, wie sich in den Generationen vor Cennini – unter dem Einfluss optischer Lehren – die entscheidende Wendung zum rilievo künstlerisch durch eine stufenlose Hell-Dunkelmodellierung vorbereitet. In der Entwicklung der Grisaillemalerei erweise sich der rilievo im Kern als paragonal bestimmter Bildwert. Frank Büttner: Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung. Die Malerei und die Wissenschaft vom Sehen in Italien um 1300, Darmstadt 2013. Für die Einsicht in das Buchmanuskript sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

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Rilie v o a ls Werk st at tb eg r i f f Bereits zwei Generationen vor der Entstehung der Berliner Draperiestudie war Cennino Cennini (um 1360–vor 1427) der Ansicht, dass sich unter dem gemalten Gewand stets der Leib erschließen lassen müsse. Die Erläuterungen entstammen seinem wohl im ersten Drittel des Quattrocento entstandenen Kunsttraktat Libro dell’arte,10 in dem Cennini bekanntermaßen ein bis heute elementares Begriffsspektrum verwendete, um die künstlerische Malpraxis seiner Zeit festzuhalten.11 Seine Anleitung zur Farbgestaltung des Faltenwurfs im Fresko beschreibt eine Maltechnik, die auf eine plastische Wiedergabe des Mantelstoffes bei stetigem Respektieren des davon bedeckten Körpers abzielt.12 Besondere Bedeutung beim Entwurf einer stimmigen Bildkomposition sprach er der Lichtregie zu. Mit der Vernachlässigung der realen Beleuchtungssituation, so Cennini im neunten Kapitel, gehe eine Ermangelung an rilievo einher, infolgedessen der Maler eine nur unscheinbare, kaum meisterhafte Darstellung hervorbringen könne: „seguita sempre la piu excellente lucie; e voglia con debito ragionevole intenderla e seguitarla, perche, di cio manchando, non sarebbe tuo lavorio con nessuno rilievo, e verrebbe cosa semprice, e con pocho maestero.“13 Im Umkehrschluss kann die Malerei bei vollgültigem rilievo meisterhafte Züge erlangen.

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Vgl. die spätere Datierung durch Ulrich Pfisterer: Cennino Cennini und die Idee des Kunstliebhabers, in: Grammatik der Kunstgeschichte. Sprachproblem und Regelwerk im ‚Bild-Diskurs‘, hg. v. Hubert Locher, Emsdetten u. a. 2008, S. 95–117. Für eine Datierung um 1400 plädiert Erling Skaug: Cenniniana. Notes on Cennino Cennini and His Treatise, in: Arte Christiana 81 (1993), S. 15–22. Der Entstehungszeitraum des Traktats wird als Übergangszeit zwischen ausgehendem Mittelalter und beginnender Neuzeit gefasst. Vgl. Christiane Kruse: Fleisch werden – Fleisch malen. Malerei als ‚incarnazione‘. Mediales Verfahren des Bildwerden im Libro dell’arte von Cennino Cennini, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63 (2000), S. 305–325, hier S. 305–314; Silvia Bianca Tosatti: Trattati medievali di tecniche artistiche, Mailand 2007, bes. Kap. VI, S. 113–127. Zur Terminologie vgl. Paola Salvi: Chiaroscuro. L’origine nel Libro dell’arte di Cennino Cennini (II), in: Lingua Nostra 66/3–4 (2005), S. 92–98; zu Umfeld und Malpraxis jener Zeit vgl. den umfassenden Katalog zur Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie: Ausst. Kat.: Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco, hg. v. Wolf-Dietrich Löhr/Stefan Weppelmann, Gemäldegalerie Berlin (SMB), Berlin 2008. Im Gegensatz zu Leonardo geht Cennini jedoch vom nackten Körper aus: „Poi va’ pure con questi colori di mezo arritrovare le schurita, dove de’ essere il rilievo della fighura, mantenendo senpre bene lo ‘ngnudo.“ Cennino Cennini: Il Libro dell’arte, hg. v. Daniel J. Thompson, New Haven/London/Oxford 1932, Kap. LXXI, S. 47 [Hervorhebung M.R.]. Cennino Cennini: Libro dell’arte (wie Anm. 12), Kap. IX „Come tu de’ dare la ragion della lucie, chiaro o schuro, alle tuo fighure, dotandole di ragione di rilievo”, S. 6.

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Durch dreifache Nennung wird der Begriff rilievo im selben Kapitel bereits genauer bestimmt, zunächst als künstlerische Aufgabe figürlicher Ausstattung: „seguita di dare el rilievo alle tue figure […] secondo l’ordine delle finestre“, sodann als Teil eines komplementären Begriffspaares, „el tuo rilievo e lo schuro“, und schließlich als bildlich zu übertragende Eigenschaft, „lo simile metti il tuo rilievo chiaro e schuro alla ragion detta“.14 Die hierbei auftretende Unschärfe der begrifflichen Verwendung15 löst sich auf, wenn zugleich Ursache und Wirkung beschrieben werden sollen. Rilievo würde damit einerseits die mittels malerischer Kompetenz zu verleihende plastische Körperlichkeit der Bildfiguren unter Berücksichtigung bestehender Lichtverhältnisse beschreiben. In etymologischer Engführung16 ist dieser Prozess durch ein Hervorheben, beziehungsweise Herausheben des Motivs vom Bildgrund durch Weißhöhungen und damit eine prominentere Beleuchtung im Vergleich zur dunkleren Umgebung gekennzeichnet.17 Innerhalb des Bildes muss andererseits der dabei entstehende Körper den Regeln des Schattenwurfes folgen, so dass die rezipierte körperliche Erscheinung schließlich vom Ergebnis der richtigen Umsetzung von Beleuchtung, Binnen- und Schlagschatten abhängt.18 Die stufenhafte Entwicklung der Plastizität wird in der Freskotechnik beispielhaft angewandt, indem Cennini zufolge das Modellieren der Körper durch drei tonal abgestufte Farben erfolgt.19 Je näher der gemalte Gegenstand physisch an die Oberfläche herangerückt erscheinen soll, desto heller der gewählte Farb-

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Ebd. Indem Cennini andernorts vom rilievo der Nase und des Gesichts (Kap. LXVIII) spricht, verweist „il tuo rilievo“ weniger auf die von Maler zu Maler unterschiedliche, persönliche Stilistik des rilievo, sondern auf das am eigenen Leib erfassbare ‚Körperrelief‘. Wang-Hua: ‚Rilievo‘ in Malerei und Bildhauerkunst (wie Anm. 9), S. 14. Das lateinische relevare (ital. rilevare) bedeutet aufheben/aufrichten bzw. herausheben/hervorheben; vgl. Salvatore Battaglia: Grande Dizionario della Lingua Italiana, Bd. 16, Turin 1992, S. 365ff. „Poi togli innun altro vasello bianco puro, et va’ ritrovando perfettamente tutti i luoghi di rilievo.“ Cennino Cennini: Libro dell’arte (wie Anm. 12), Kap. LXXI, S. 48. Der Effekt des aus einem Grund hervortretenden Körpers wird etwa durch eine Schattierung des Motivs jenseits der Konturlinie erreicht: „Allora togli oppenna temperata ben sottile, oppennel sottile di vaio sottile; e con inchiostro puoi andare ricercando i contorni elle stremita del disengnio di sotto; ecchosi gieneralmente tocchando alchuno onbre, si chome atte e possibile potere vedere e fare.“ Cennini: Libro dell’arte (wie Anm. 12), Kap. XXIII, S. 13. Verkürzt wäre demnach die Ansicht von Rudolf Kuhn, der darlegt, dass Cennini rilievo „nur für die vorspringenden Teile eines Ganzen“ verwende; vgl.: Rudolf Kuhn: Cennino Cennini – Sein Verständnis dessen, was die Kunst in der Malerei sei, und seine Lehre vom Entwurfs- und vom Werkprozess, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 36 (1991), S. 104–153, hier S. 149. Niehaus: Florentiner Reliefkunst (wie Anm. 9), S. 19. Vgl. u., Rilievo als Verkörperungsstrategie.

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ton. Kommt es zum Übertritt der Maloberfläche, etwa durch Bildauflagen in Form von Wachs- oder Gipsschichten, erweitert sich die wiederum mit rilievo bezeichnete und nunmehr taktil erfahrbare Körperlichkeit bis in den Betrachterraum hinein.20 Im Herausarbeiten eines Gegenstandes aus dem Schatten des Bildgrundes scheint sich jene meist als metaphorisch bestimmte Definition der Malerei zu konkretisieren, die Cennini in seiner Schrift einleitend vorstellt: „e quest’e un’arte chessi chiama dipingere, che conviene avere fantasia e hoperazione di mano, di trovare cose non vedute, chacciandosi sotto ombra di naturali, e fermarle con la mano, dando a dimonstrare quello che nonne sia.“21 Im Sinne des rilevare sind es hier nicht allein die realiter beobachtbaren Gegenstände der Natur,22 die durch die Malerei als konkrete Gestalten hervorgebracht werden können, sondern auch jene zwar aus Sinneseindrücken und Welterfahrung gespeisten, jedoch eigenständig entworfenen Konstrukte der fantasia, die sich vom dunklen Grund der Vorstellung als Bildgegenstände erheben.23 Diese Phantasiegestalten sind allein von einer geübten Hand erfassbar. Nur im Zusammenspiel von Geist und Hand, von Intellekt und Körpererfahrung, kann eine kunstfertige Malerei erreicht werden. Deren zeichnerische Vorbereitung zielt dabei ab auf eine körperlich-geistige Aneignung der körperlich-

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Vgl. Kap. CII „Chome dei rilevare una diadema di chalcina, in muro“, Kap. CXXVI „Chome si de smaltar ciaschun rilievi di muro“, Kap. CXXIX „Come si puo rilevare in muro con vernice“, Kap. CXXX „Come si puo rilevare in muro con ciera“. Siehe dazu: Wang-Hua: ‚Rilievo‘ in Malerei und Bildhauerkunst (wie Anm. 9), S. 21 (Die Ko-existenz der „mixed media“); Wolf-Dietrich Löhr: Dantes Täfelchen, Cenninis Zeichenkiste. Ritratto, disegno und fantasia als Instrumente der Bilderzeugung im Trecento, in: Das Mittelalter 13 (2008), S. 148–179, hier S. 175 u. Anm. 119; Lakey: Relief in Perspective (wie Anm. 9), S. 197; Niehaus: Florentiner Reliefkunst (wie Anm. 9), S. 19f. Im Laufe des Quattrocento entwickelte sich aus der Kombination von Reliefauflage und Malerei eine hybride Sonderform intermediärer Altarbilder aus Malerei und Skulptur bzw. Halbrelief. Vgl. dazu grundlegend: Iris Wenderholm: Bild und Berührung. Skulptur und Malerei auf dem Altar der italienischen Frührenaissance, München 2006 sowie ihren Beitrag in diesem Band. „[Und] dies ist eine Kunst, die sich Malen nennt, für die es der Fantasie und Ausführung mit der Hand bedarf, um nie gesehene Dinge zu finden, die sich verbergen im Schatten der natürlichen [Dinge], und sie mit der Hand festzuhalten, indem jenes gezeigt wird, was nicht ist.“ Cennino Cennini: Libro dell’arte (wie Anm. 12), Kap. I, S. 2, übers. n. Löhr: Dantes Täfelchen, Cenninis Zeichenkiste (wie Anm. 20), S. 165. Vgl. Kap. XXVIII „Chome, sopra i maestri, tu dei ritrarre sempre del naturale con chontinuo uxo“, das mit dem Hinweis beginnt: „Attendi, chella piu perfetta ghuida che possa avere e miglior timone, sie la trionfal porta del ritrarre de naturale.“ Cennini: Libro dell’arte (wie Anm. 12), S. 15. Ebd.

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plastischen Ausarbeitung der Bildmotive.24 Wie Wolf-Dietrich Löhr zuspitzt, steht „am Ende der Ausbildung […] mit der ‚mano usata‘ eine spezifisch geschulte Künstlerhand, deren Fähigkeiten man mit heutiger Begrifflichkeit als ‚embodied knowledge‘ bezeichnen könnte.“25 In diesem Wechselspiel aus Beobachtung, geistiger Reflektion, Fantasie und manueller Übung erlangt der Künstler ein körperlich-geistig gebundenes Fähigkeitsreservoir, aus welchem er im Schaffensprozess schöpfen kann. Dieses beruht nicht allein auf visuellen oder kognitiven Prozessen, sondern auf einer dreifach körperbasierten Interaktion: des eigenen Körpers mit der Umwelt, der Erfassung anderer Körper sowie deren künstlerischer Wiedergabe, vorbereitet durch die zeichnerische Übung.26 Die im rilievo gebundene Körperlichkeit sollte wenige Jahre später auch für Leon Battista Alberti (1404–1472) ein zentrales Anliegen der Malerei darstellen. Im dritten Buch seines Traktates Della Pittura (1436) fasst er eine der Kernaufgaben des Malers zusammen: „Dico l’officio del pittore essere così descrivere con linee e tignere con colori in qual sia datoli tavola o parete simile vedute superficie di qualunque corpo, che quelle ad una certa distanza e ad una

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„Poi chon essenpro chomincia arritrarre chose agievoli quanto piu si puo, per usare la mano; e collo stile su per la tavoletta leggiermente, che appena possi vedere quello che prima incominci affare; crescendo i tuo’ tratti a pocho a pocho; piu volte ritornando per fare l’ombre. Et quanto l’ombre nelle stremita vuoi fare piu schure, tanto vi torna piu volte; e chosi, per lo contrario, in su e rilievi tornavi poche volte.“ Cennino Cennini: Libro dell’arte (wie Anm. 12), Kap. VIII, S. 5. Wolf-Dietrich Löhr: Finger, Hand, Manier. Geist und Körper des Künstlers am Beginn der Frühen Neuzeit, Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung an der Ruhr-Universität Bochum, gehalten am 4.11.2009, Manuskript, S. 11 [http://www. kunstgeschichte.rub.de/beta/wp-content/uploads/2009/11/03_loehr-die-handdes-kuenstlers.pdf (30.5.2011)]. Vgl. zum Wechselspiel von Hand und Geist ders.: Handwerk und Denkwerk des Malers. Kontexte für Cenninis Theorie der Praxis, in: Ausst. Kat.: Fantasie und Handwerk (wie Anm. 11), S. 153–177. Zum kognitionswissenschaftlichen Ansatz des verkörperten Wissens (embodied knowledge) vgl. Nancy Scheper-Hughes: Embodied Knowledge: Thinking with the Body in Critical Medical Anthropology, in: Assessing Cultural Anthropology, hg. v. Rob Borofsky, New York 1994, S. 229–42; Gabriel Ignatow: Theories of Embodied Knowledge: New Directions for Cultural and Cognitive Sociology?, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 37/2 (2007), S. 115–135. Zum Einüben eines Bildinstrumentariums vgl. Löhr: Dantes Täfelchen, Cenninis Zeichenkiste (wie Anm. 20), S. 162ff. u. Anm. 61. Eine semiologische Kategorisierung unterschiedlicher Formen des Zeichnens als Teil des Denkprozesses lieferte jüngst Rebekka Hufendiek: Draw a Distinction. Die vielfältigen Funktionen des Zeichnens als Formen des Extended Mind, in: Ulrike Feist/Markus Rath (Hg.): Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung. Festgabe für Horst Bredekamp, Berlin 2012, S. 441–465.

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certa posizione di centro paiano rilevate e molto simili avere i corpi“.27 Wie im Libro dell‘arte wird in Della Pittura die plastische Erscheinung des Gegenstandes unmittelbar vom Lichteinfall bestimmt: „Però che il lume e l‘ombra fanno parere le cose rilevate, così il bianco e ’l nero fa le cose dipinte parere rilevate, e dà quella lode quale si dava a Nitia pittore ateniese.“28 In der ein Jahr zuvor publizierten lateinischen Ausgabe verwendete Alberti an selber Stelle, in Anlehnung an Plinius d. Ä. (Nat. hist. 131), für rilievo den Ausdruck prominentia („[…] quaeque picta videas, eadem prominentia et datis corporibis persimillima videantur“). Bei seinem Hinweis auf den antiken Maler Nikias wählte er im ausführlicheren lateinischen Text für konvexe Flächen das Verb turgere, für konkave Flächen recedere sowie für den Gesamteffekt (maxime) eminere, um damit das erforderliche Ergebnis besonders zu betonen: „[…] quodve artifici in primis optandum est: ut suae res pictae maxime eminere videantur.“29 Von sprechender Prägnanz ist Albertis daraufhin entwickelte Forderung, dass ein gemaltes Gesicht mit skulpturaler, dynamischer Präsenz vom Bildgrund nach vorne treten müsse: „Io, coi dotti e non dotti, loderò quelli visi quali come scolpiti parranno uscire fuori della tavola, e biasimerò quelli visi in quali vegga arte niuna altra che solo forse nel disegno.“30 Bemerkenswert ist zudem die vorangestellte Einschätzung, dass auch Ungelehrte (non dotti) in der 27

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Leon Battista Alberti: Della Pittura. Über die Malkunst, hg. v. Oskar Bätschmann/ Sandra Gianfreda, Darmstadt 2002, S. 148f.: „Ich behaupte, die Aufgabe des Malers bestehe darin, auf irgendeiner ihm gegebenen Tafel oder entsprechenden Wand die sichtbaren Flächen jedes beliebigen Körpers in der Weise mit Linien zu umreißen und mit Farben zu versehen, dass sie [d. h. die Flächen] aus einem bestimmten Abstand und mit einer bestimmten Stellung des Zentralstrahls als plastische Formen erscheinen und die Körper große Ähnlichkeit [mit der Wirklichkeit] haben“. Vgl. zur Bedeutung des Betrachterstandpunktes Lakey: Relief in Perspective (wie Anm. 9), Kap. I. „Denn so wie Licht und Schatten die Dinge plastisch erscheinen lassen, bewirken Weiß und Schwarz die Erscheinung der gemalten Dinge im Relief und sie bringen jenen Ruhm ein, dem man dem Maler Nikias aus Athen verlieh.“ Alberti: Della Pittura (wie Anm. 27), S. 140f. Im „fare parere le cose rilevate“ zeigt sich die Reflektion über den ambivalenten Charakter der malerischen Körperlichkeit. Vgl. Wang-Hua: ‚Rilievo‘ in Malerei und Bildhauerkunst (wie Anm. 9), S. 27. „[…] und was ein Künstler vor allem anderen anstreben sollte: dass die von ihm gemalten Gegenstände vollkommen plastisch hervorzutreten scheinen.“ Alberti: Della Pittura (wie Anm. 27), S. 141f., Anm. 101 bzw. Anm. 41. „Zusammen mit Gelehrten und Ungelehrten werde ich jene Gesichter loben, die aus der Tafel hervorzutreten scheinen wie in Stein gehauen, und ich werde jene Gesichter bemängeln, in denen keine andere Kunst außer vielleicht in der Zeichnung zu sehen ist.“ Ebd., S. 142f. [Hervorhebung M.R.]. Frank Büttner kategorisiert diese Illusionsform eines aus einem (unhintergehbaren) Bildgrund skulptural erwachsenden rilievo, wie es bei grisaille- oder trompe l’œil-Malereien in Erscheinung tritt, als „Relief-Prinzip“ und stellt es dem „Fenster-Prinzip“ des albertischen finestra aperta-Konzepts gegenüber, das einen unendlichen Bildraum evoziert. Vgl.

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Lage seien, ein stimmiges Körperbild offenbar aufgrund ihrer alltäglichen Erfahrungswerte instantan beurteilen zu können. Verbleibe die Malerei in den Untiefen des zeichnerischen disegno, so habe sie kaum ihre Möglichkeiten voll ausgeschöpft. In diesem Sinne scheint es ihm opportun, die Lichteffekte anhand plastischer Modelle eingehend zu studieren, anstatt es beim Zeichnen nach Bildern zu belassen: „E se pure ti piace ritrarre opere d’altrui, perché elle più teco hanno pazienza che le cose vive, più mi piace a ritrarre una mediocre scultura che una ottima dipintura, però che dalle cose dipinte nulla più acquisti che solo sapere asimigliarteli, ma dalle cose scolpite impari asimigliarti, e impari conoscere e ritrarre i lumi. […] E forse più sarà utile essercitarsi al rilievo che al disegno. E s’io non erro, la scultura più sta certa che la pittura; e raro sarà chi possa bene dipignere quella cosa della quale elli non conosca ogni suo rilievo; e più facile si truova il rilievo scolpendo che dipignendo.“31 Die malerisch modellierte körperliche Ausdehnung von Figuren im Raum sei vorzugsweise anhand von dreidimensionalen Vorbildern zu erlernen, und zwar auch mit der formenden Hand des Bildhauers, die stets den rilievo im unmittelbaren Austausch mit dem Material erspürt. In diesem Appell zeigt sich besonders eindrucksvoll die Verbindung praktischer, durch haptisch-taktile Materialbearbeitung gewonnener Erfahrungswerte mit ihrer bildlichen Umsetzung. Beim Abzeichnen eines Gemäldes sei es nur möglich, einen mittelbaren, bereits in Licht- und Schattenwerte übersetzen Körpereindruck (unreflektiert) zu kopieren. Die in Hand und Geist verkörperten Fertigkeiten und Erkenntnisse von räumlichen Ausdehnungen und stofflichen Strukturen sind für den rilievo elementar und sollen in das Bild mit einfließen.

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Frank Büttner: Illusion (ästhetische), in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2011, S. 201–204. „Und falls es dir trotzdem gefällt, Werke eines anderen nachzubilden, vielleicht weil diese mehr Geduld für dich aufbringen als lebendige Dinge, so rate ich eher dazu, dass eine mittelmäßige Skulptur als ein hervorragendes Gemälde nachgebildet wird, denn von den gemalten Dingen erwirbst du nichts anderes als die Kenntnis der Ähnlichkeit, während du von den skulpierten Dingen sowohl die Ähnlichkeit lernen als auch die Kenntnis und Nachbildung von Licht [und Schatten] erwerben kannst. […] Und vielleicht wird es nützlicher sein, sich im Relief als im Zeichnen zu üben. Denn falls ich mich nicht irre, ist die Bildhauerei [darin] ihrer Sache gewisser als die Malkunst; denn selten wird es jemanden geben, der einen Gegenstand richtig zu malen versteht, von dem er nicht alle Wölbungen [rilievo] kennt; die Wölbungen aber lassen sich leichter beim plastischen Bilden als beim Malen aufspüren.“ Alberti: Della Pittura (wie Anm. 27), S. 160f.

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Als Folge dieser Forderung nach einer Entwicklung des malerischen rilievo anhand plastischer Objekte wurden bis zum Ende des Quattrocento zunehmend Instrumente und Hilfsmittel entwickelt und angewandt, die zur Umsetzung körperhaft wirkender Kompositionen beitragen sollten.32 Der sich verstetigende Einsatz von Modellen aus Ton, Wachs, Gips oder Holz war maßgeblich dieser Forderung nach einer haptischen Qualität zweidimensionaler Darstellungen geschuldet. Bereits Julius von Schlosser betont neben der bei Alberti genannten „Geduld“ und perspektivischen Variabilität des Modells dessen bedeutsame Funktion bei der malerischen Erschließung plastischer Körperlichkeit: „Modelle dieser Art dienten namentlich dazu, bei figurenreichen Kompositionen das der Renaissance so wichtige ‚rilievo‘, die klare körperliche Wirkung zu erhalten, schwierige Verkürzungen in Gruppen zu bewältigen und die Stellung einzelner Figuren zueinander im Sinne deutlicher Raumwirkung zu regeln, wo das lebende Modell wie bei der Ansicht ‚di sotto in su‘ nicht gut in den Dienst gestellt werden kann.“33 Wenngleich Antonio di Piero Averlino (1400–1469), genannt Filarete, in seinem Trattato di architettura (1461–1464) vornehmlich die Gestaltung einer Idealstadt beschreibt, die er zu Ehren seines Dienstherren Francesco Sforza Sforzinda nennt, beinhaltet der Traktat eine Fülle von Anweisungen für Künstler aller Gattungen. Durch die gleichzeitige Verwendung des Begriffs rilievo sowohl für malerische als auch für realplastische Volumina wird offenbar, dass Filarete beiden Erscheinungsformen den Effekt des körperlichen Hervortretens vollgültig zuspricht.34 Hinsichtlich der Verwendung von plastischen Modellen liegt mit Filaretes Werk die erste Quelle vor, die den Gebrauch einer Gliederpuppe beschreibt. Um Draperiestudien wie jene aus dem Berliner Kupferstichkabinett (Bild 1) anzufertigen, rät er: „Fa’ d’avere una figuretta di legname che sia disnodata le braccia e le gambe e ancora il collo, e per fa’ una vesta di panno di lino, e con quello abito che ti piace, come se fussino d’uno vivo, e mettieglele indosso in quello atto che tu vuoi ch’egli stia, l’acconcia, e se que’ panni non istessino come tu volessi, abbi la colla strutta, e bagnalo bene indosso a detta figura; e poi acconcia le pieghe a tuo modo, e falle seccare, e staranno poi ferme. E se poi la wani fare in altro mode,

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Vgl. Joseph Meder: Die Handzeichnung. Ihre Technik und Entwicklung, Wien 1919; Laurie Fusco: The Use of Sculptural Models by Painters in Fifteenth-Century Italy, in: The Art Bulletin 64/2 (1982), S. 175–194; Johannes Myssok: Bildhauerische Konzepte und plastisches Modell in der Renaissance, Münster 1999 sowie seinen Beitrag in diesem Band. Julius von Schlosser: Aus der Bildnerwerkstatt der Renaissance, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 31 (1913/14), S. 67– 135, hier S. 111. Vgl. Niehaus: Florentiner Reliefkunst (wie Anm. 9), S. 31f.

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mettilo in acqua calda, e potraqo rimutare in altra forma. E da questo ritrai poi le figure che tu vuoi che sieno vestite.“ 35 Der über Generationen tradierte Gebrauch plastischer Vorlagen zur zeichnerischen Vorbereitung von Gemälden und Wandbildern wird in den Vite (1550/1568) des Giorgio Vasari (1511–1574) am deutlichsten greifbar.36 Er bezeugt den Einsatz einer lebensgroßen hölzernen Gliederpuppe („modello di legno“) durch Fra Bartolomeo, welche dieser vor allem für Draperiestudien einsetzte, da er die Dinge nach dem Leben wiederzugeben suchte („tenere le cose vive innanzi“),37 während Garofalo dieses Verfahren als erster Maler in der Lombardei

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„Lass Dir eine kleine Holzfigur anfertigen, die über bewegliche Beine, Arme und Hals verfügt; nimm dann ein Gewand aus Leintuch und bekleide damit die Gliederpuppe nach deinen Vorstellungen, genau so, als wäre sie lebendig. Bringe sie in die Haltung, die du haben willst, und richte sie her. Sollten die Stoffe nicht so fallen, wie du es wünschst, befeuchte diese mit Leim und du kannst die Falten nach deinem Belieben gestalten; lass sie dann trocknen, und sie bleiben fest. Wenn du die Haltung des Modells später verändern willst, tauche es in warmes Wasser und du kannst sie in eine andere Form bringen.“ Filarete: Trattato di architettura, hg. v. Anna Maria Finoli/Liliana Grassi, 2, Mailand 1972, Buch XXIV, S. 676f. (Übers. M.R.). In den Vite fällt hundertfach der Begriff „modello/modelli“ als Ausdruck für verschiedenste veranschaulichende oder vorbildhafte Objekte. In dieser begrifflichen Reduzierung spiegelt sich die über Jahrzehnte andauernde terminologische Verwirrung zur Bezeichnung aller möglichen Modelle aus verschiedensten Materialien. Vgl. Myssok: Bildhauerische Konzepte (wie Anm. 32), S. 15–19. Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, 6 Bde., Bd. 4, hg. v. Rosanna Bettarini/Paola Barocchi, Florenz 1966–1987, 1976, S. 101. Insbesondere für die Draperiestudien des Fra Bartolomeo wurde die ‚offensichtliche‘ Verwendung von Gliederpuppen betont. Vgl. Gianni Carlo Sciolla: Il disegno dal manichino in legno e dal modello in terra e cera nella tradizione dal Quattrocento al Seicento. Appunti per una ricerca, in: Conservazione dei materiali librari archivistici e grafici, Bd. 1, hg. v. Marina Regni/Piera Giovanna Tordella, Turin 1996, S. 209–226, hier S. 215; Wolfram Prinz: Dal vero o dal modello? Appunti e testimonianze sull’uso dei manichini nella pittura del Quattrocento, in: Scritti di storia dell’arte in onore di Ugo Bocacci, Mailand 1977, S. 200–208, hier S. 200. Ebenso wurde eine frühe Verwendung von Gliederpuppen für die eindrucksvolle Körperlichkeit der Figuren von Masaccio, dessen rigorose Zuwendung „all’imitatione del vero et al rilievo delle figure“ vom Humanisten Cristoforo Landino (1425–1498) gefeiert wurde, vorgeschlagen. Vgl. ebd., S. 202. Vgl. zudem die unterschiedlichen Interpretationen der von Landino verwendeten Formel des „gran rilievo“ bei Niehaus: Florentiner Reliefkunst (wie Anm. 9), S. 33f. u. Anm. 154. Die Betonung der haptischen Qualitäten des rilievo in den Fresken Masaccios blieb ein Topos der Kunstgeschichte; vgl. Bernard Berenson, der durch propriozeptiven Kurzschluss bezeugt, dass Masaccio als erster (und einziger) Maler nach Giotto in unübertroffenem Maße „tastbare Werte“ zu malen vermochte. Bernard Berenson: Die italienischen Maler der Renaissance, Zürich 1952, S. 53f. sowie Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1987, S. 149f.

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praktiziert haben soll.38 Leonardo hingegen habe sich eigens dafür geformter tönerner Menschenfiguren bedient, die er mit gipsgetränkten Lappen ‚bekleidete‘, um den Faltenwurf in minutiösem Studium auf die Leinwand zu bringen.39 Wie bei Alberti wird erneut ein manuell gefertigtes Modell zum Ausgangspunkt des bildlichen disegno. Sowohl bei Fra Bartolomeo als auch bei Leonardo wird das Studium nach unbelebten Vorlagen als ein Studium nach der Natur beziehungsweise nach dem Leben bezeichnet,40 und bei Filarete soll die Gliederpuppe derart behandelt werden, „als wäre sie lebendig“. Der Natürlichkeitsgrad wurde demnach nicht am vitalen Status der artifiziellen Modelle gemessen, sondern an ihrer referentiellen Eignung, die durch sie gegebene materielle Körperlichkeit in Form von rilievo zu bannen. Als natürliche, weil real raumgreifende Wirklichkeitsinstanzen dienten die Kunstkörper im Atelier als Instrumente einer zu erzeugenden virtuell-plastischen und damit haptischen Bildwirkung.

Sup er ior it ätsa rg u ment u nd Täusc hu ng Im Sinne der von Vasari mit dem Prädikat der Natürlichkeit ausgestatteten plastischen Figuren beschrieb bereits Leonardo skulpturale Werke als Träger affektiver Körperlichkeit, derer sich ein Maler stets bewusst zu sein habe: „Ma il dipintore ha di bisogno d’intendere sempre la scultura, cioè il naturale, che ha il

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„Ma egli è ben vero che, in facendo quest’opera, fece Benvenuto quello che insin’ allora non era mai stato usato in Lombardia, cioè fece modelli di terra per veder meglio l’ombre et i lumi, e si servì d’un modello di figura fatto di legname, gangherato in modo che si snodava per tutte le bande, et il quale accomodava a suo modo con panni adosso et in varie attitudini.” Vasari: Le vite (wie Anm. 37), Bd. 5, S. 412. […] „e perché la professione sua volle che fusse la pittura, studiò assai di ritrar di naturale, e qualche volta in far modegli di figure di terra, et adosso a quelle metteva cenci molli interrati, e poi con pazienza si metteva a ritrargli sopra a certe tele sottilissime di rensa o di panni lini adoperati.” Vasari: Le Vite (wie Anm. 37), Bd. 4, S. 17. Der Hinweis gilt bis heute als wichtiges Indiz bei der Zuschreibung der leonardesken Draperiestudien auf Leinwand. Vgl. Schulze Altcappenberg: Die italienischen Zeichnungen (wie Anm. 2), S. 147. Dieses eher grobe Verfahren stimmt jedoch nicht mit dem bei Leonardo beschriebenen, hochsensiblen Einsatz unterschiedlicher Stoffarten überein: „Come i pani si debô ritrare di naturale, cioè se uorai fare pano lane usa le pieghe secôdo quello, e se sarà seta o pano fino o da vilani o di lino o di uelo, va diuersificâdo, a ci ascuno le sue pieghe, e nô fare abito come molti fâno sopra i modelli coperti di carte o corami sottili che t’ igannaresti forte.“ Handschrift A, fol. 97 verso; Codex Urbinas 169 a–b; zit. n. Ausst. Kat.: Leonardo da Vinci (wie Anm. 3), S. 111. Vgl. die Weiterentwicklung des Topos naar het leven – uyt den gheest bei Carel van Mander: Das Leben der niederländischen Maler, Bd. 2, hg. v. Hans Floerke, München/Leipzig 1906, S. 322.

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rilievo che per sè genera chiaro e scuro et scorto.“41 Im Transformationsprozess gegebener dreidimensionaler Objekte in den rilievo eines flächigen Bildraums lag für ihn der wesentliche Grund für das Primat der Malerei als weniger handwerklicher denn kognitiver Prozess: „La pittura è di magiore discorso mentale e di magior artifitio e maraviglia che la scultura, con ciò sia ché necessità costringie la mente del pittore a trasmuttarsi nella propria mente di natura, et sia interprete infra essa natura et l’arte.“42 Aus dem rilievo naturale – der durch ihre Materialbindung naturgegebenen raumgreifenden Plastizität von natürlichen und künstlichen Körpern, von Mensch und Skulptur – obliege es dem Maler, den höherwertigen rilievo finto bildlich zu generieren.43 Indem die Erzeugnisse des Bildhauers nie ohne Plastizität erscheinen können, sei dieser Effekt nicht dem Vermögen des formenden Künstlers zuzusprechen.44 Durch die Darstellung von bildlichen Volumina erlange der Maler hingegen die mirakulöse Fähigkeit, auf einer planen Ebene Untastbares haptisch erscheinen und damit Körperlichkeit entstehen zu lassen.45 Folglich erkennt Leonardo im malerischen Studium des rilievo die vorrangige Aufgabe der Malerei („La prima parte della pittura è che i corpi con quella figurati si dimostrino rilevati“),46 ausgehend von seinem berühmten Befund: „il quale rilievo è l’importanza e l’anima della pittura.“47 Die von Leonardo angefeuerte Debatte um die Vorzüglichkeit der Malerei gegenüber der Bildhauerei ist Ausdruck einer gattungsbezogenen Diskussionskultur, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts als Paragone bezeichnet wird.48 41 42 43 44

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Leonardo da Vinci: Libro di Pittura (wie Anm. 1), Kap. XXXVIV, S. 270. Ebd., Kap. XL, S. 272. Vgl. Niehaus: Florentiner Reliefkunst (wie Anm. 9), S. 36f. Leonardo vernachlässigt hier zwar die zeichnerische Vorbereitung von Skulpturen, die in besonderem Maße Komposition und körperliche Ausprägung im Raum darzustellen hatte, er ist jedoch der erste Künstler der Neuzeit, der ausführlich die verschiedenen Formen skulpturaler Reliefs vorstellt und diskutiert. Vgl. Freedman: ‚Rilievo‘ as an Artistic Term (wie Anm. 9), S. 235ff.; Wang-Hua: ‚Rilievo‘ in Malerei und Bildhauerkunst (wie Anm. 9), S. 123–165; Niehaus: Florentiner Reliefkunst (wie Anm. 9), S. 35ff. „[…] cosa miracolosa a far parere palpabili le cose impalpabili, rilevate le cose piane […]“, vgl. Anm. 1 sowie zum Begriff „palpabile“ den Beitrag von Alessandro Nova in diesem Band. Leonardo da Vinci: Trattato della Pittura, hg. v. Ettore Camesasca, Mailand 1995, Parte Seconda, Kap. CXXXIII, S. 87. Ebd., Parte Seconda, Kap. CXXI, S. 83. Vgl. Claire J. Farago: Leonardo da Vinci’s ‚Paragone‘. A critical Interpretation with a new Edition of the Text in the Codex Urbinas, Leiden 1992; Ausst. Kat.: Wettstreit der Künste: Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier, hg. v. Ekkehard Mai/ Kurt Wettengl, München 2002; Ulrich Pfisterer: Paragone, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 2003, Sp. 528–546; Alessandro Nova: Paragone-Debatte und gemalte Theorie in der Zeit Cellinis, in: ders./

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Einen ihrer quellenbelegten Höhepunkte fand sie Mitte des 16. Jahrhunderts durch die vom Dichter, Geschichtsgelehrten und Humanisten Benedetto Varchi (1503–1565) veranstaltete Umfrage unter ruhmreichen Künstlern über die nobiltà ihrer Kunstgattung, die in zwei öffentliche und später publizierte Vorlesungen mündete.49 In ihren Briefen, welche die Superiorität der Malerei oder der Bildhauerei darlegen sollten, diente den Autoren der Bedeutungskomplex des rilievo als ein zentrales Motiv der Argumentationsführung. Vasari, in Rom mit den Arbeiten an der Sala della Cancelleria beschäftigt,50 tendierte zu einer Vorrangstellung der Malerei, sei diese doch in der Lage „in un braccio di luogo scortar una figura di sei, e parer viva tonda in un campo pianissimo, ch’è grandissima cosa; e la scoltura è tonda perfettamente in sé, e quel che pare.“51 Im Gegensatz zur Skulptur, die stets vollrunde Plastizität aufweise, gelinge der Malerei diese verlebendigende Wirkung trotz ihrer Bindung an die Fläche. Die Malerei könne zudem Phänomene wie Nebel, Wind, Regen, Feuer oder Rauch sowie verschiedene Beleuchtungssituationen darstellen (ebenfalls ein Argument Leonardos) und mit ihren Farben lebendige und tote Körper zeigen. Wenngleich Vasari rilievo nicht explizit verwendete, galt ihm dennoch das Verfahren, Körperlichkeit in verschiedenen Zuständen bildhaft werden zu lassen, als eine vortreffliche Eigenschaft der Malerei.52 Neben der utilità der Beständigkeit und nobiltà der geistigen Durchdringung der Bildhauerwerke verwies Bronzino (1503–1572) besonders auf deren ontologischen Status als „wirklichere“ Kunst: im Nacheifern der Natur sei

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Anna Schreurs (Hg.): Benvenuto Cellini. Kunst und Kunsttheorie im 16. Jahrhundert, Weimar/Köln 2003, S. 183–202, zur Skepsis an der authentischen Vehemenz des Superioritätsarguments der Malerei im Codex Urbinas bes. S. 185ff.; Renate Prochno: Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen, Berlin 2006; Hanna Baader: Paragone, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2011, S. 321–324; Rudolf Preimesberger: Paragons and Paragone. Van Eyck, Raphael, Michelangelo, Caravaggio, Bernini, Los Angeles 2011. Die erste Vorlesung war Michelangelos Sonett Non ha l’ottimo artista alcun concetto, die zweite dem Rangstreit der Künste gewidmet. Vgl. Leatrice MendelsohnMartone: Paragoni: Bendetto Varchi’s ‚Due Lezzioni‘ and Cinquecento Art Theory, Ann Arbor 1982; François Quiviger: Benedetto Varchi and the Visual Arts, in: Journal of the Warburg and the Courtauld Institutes 50 (1987), S. 219–224; Paola Barocchi (Hg.): Benedetto Varchi, Vincenzio Borghini. Pittura e Scultura nel Cinquecento, Livorno 1998. Vgl. Barocchi: Benedetto Varchi, Vincenzio Borghini (wie Anm. 49), S. XI. Giorgio Vasari: Al Molto da me in grado tenuto e stimato M. Benedetto Varchi mio onorandissimo, zit. n. Barocchi: Benedetto Varchi, Vincenzio Borghini (wie Anm. 49), S. 62f. [Hervorhebung M.R.]. Wenige Jahre später wird Vasari in seinen Vite eine weiter ausgeführte Erörterung der gattungsspezifischen Vorzüge vornehmen. Vgl. ebd., S. 62ff.

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die Skulptur, „per essere cosa di rilievo altresí“53, der Malerei deshalb überlegen, weil sie real tastbare Werke hervorbringe („che si possano toccare con mano“)54 und damit nicht allein den Visus, sondern mehrere Sinne anspreche.55 Zugleich müsse der Bildhauer unterschiedliche Ansichtsseiten und nicht nur die auf der Malfläche gezeigte Facette meistern.56 Dennoch erkennt er die damit verbundene Anstrengung nicht als Nobilitierungsausweis an. Er kommt vielmehr zum Schluss, dass die dreidimensionalen Erzeugnisse auf natürliche Weise bereits vollrund seien, und daher die Leistung der Bildhauer allein in der Oberflächenumgestaltung eines gegebenen rilievo liege.57 Damit ließ er am Ende seines (unvollendeten) Briefes eine Pattsituation entstehen, die er mit den Mitteln seiner Kunst fernerhin entschied. So relativiert seine Allegorie der Liebe (1540–1550) aus der National Gallery in London (Bild 2), genau in der Zeit der Umfrage entstanden, in mehrfacher Hinsicht die von ihm zugunsten der Bildhauerkunst getroffenen Aussagen, indem er innerhalb eines Bildes, im Sinne der albertischen varietà, unterschiedlichste Ansichtsseiten und Körperhaltungen des nackten, bewegten Leibes präsentiert. Viel mehr noch scheint er sein Argument – das Unvermögen der Malerei, den Tastsinn anzusprechen – bildlich ad absurdum führen zu wollen: Der den Flügel Amors touchierende Pfeil in Venus‘ rechter Hand, der Stachel am Daumen der monströsen Allegorie der Falschheit sowie der den rechten Fuß des Rosenblüten tragenden Kindes durchstoßende Dorn zeigen schmerzhafte Ausprägungen haptischen Empfindens, während das Umgreifen der Brust und der innige Kuss intimsten Formen der Körperwahrnehmung entsprechen. Noch bezwingender als die unmittelbare Allusion des Tastsinns scheint die plastische Ausarbeitung der nackten Gestalten. Dank des gegen die Allegorie des Vergessens kämpfenden Saturn wird die Liebesgruppe vom blauen Tuch nicht verhüllt, sondern kontrast53 54 55

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Bronzino: Al molto dotto M. Benedetto Varchi mio onorando, zit n. Barocchi: Benedetto Varchi, Vincenzio Borghini (wie Anm. 49), S. 67. Ebd. Im Sinne dieser Wahrheitsinstanz der Skulptur, die von Cennini („quello che nonne sia“, vgl. Anm. 21) bezüglich der Malerei problematisiert worden war und von Alberti, Baldassare Castiglione (1478–1529) oder später Francisco de Holanda (1517–1585) kolportiert wurde, argumentieren in der Umfrage Varchis auch Giovanni Battista Tasso (um 1500–1555) („essere quello che l’è e non quello che le pare“) und Niccolò Tribolo (um 1500–1550) („quello ch’é el vero“); vgl. Barocchi: Benedetto Varchi, Vincenzio Borghini (wie Anm. 49), S. 73 u. S. 81. Für Francesco da Sangallo (1494–1576), der in der längsten Antwort kaum über bekannte Begründungen hinausgelangt, ist dies ein entscheidender Beleg für Komplexität und Mühe der Bildhauerei („la scultura ha la difficultà che dove lo pittore fa una figura, cioè una sola vista, lo scultore ne ha da fare molte“). Vgl. Barocchi: Benedetto Varchi, Vincenzio Borghini (wie Anm. 49), S. 79. Vgl. hier den Dissens mit Varchi, ebenso bezüglich der ‚Nützlichkeit‘ der Künste: Ebd., S. 68f., Anm. 232 u. 240.

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Bild 2 Bronzino: Allegorie der Liebe, um 1540–1550, 146 × 116 cm, Öl auf Holz, National Gallery, London.

reich hinterfangen, so dass die Figuren im stärksten rilievo „wie in Stein gehauen aus dem Bildgrund hervortreten“.58 In dieser Visualisierung von Körperlichkeit erhellt sich der in Bronzinos Antwort angeklungene Sublimierungsprozess der Sinne: Die Vorzüge der geistigen gegenüber der ambivalenten körperlichen 58

Vgl. Anm. 30.

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Liebe entsprechen dem rilievo in bildlicher Form, der allein durch Betrachten und nicht durch tatsächliches Berühren körperliche Wirkung entfaltet und infolgedessen die höheren Weihen der Kunst erlangt. Für Benvenuto Cellini (1500–1571) liegt die nobiltà einer jeden Kunstform im disegno begründet.59 Sein in der Antwort geäußerter Topos einer durch acht Ansichtsseiten gegenüber einem Bild siebenfach verbesserten Skulptur sollte weitere Diskussionen entfachen.60 Die Malerei leiste, so Cellini in Anspielung auf Albertis Narziss-Diktum, kaum mehr als ein Spiegelbild („non è altro che o arbero o uomo o altra cosa che si specchi in un fonte“).61 Zur Mutter aller Künste („madre di tutte l’arte“) erklärt er hingegen die Bildhauerei.62 Allein in der Übertragungsleistung von skulpturalen Modellen auf die plane Fläche, des plastischen rilievo in das malerische, liege daher der Ruhm des Malers Michelangelo begründet: „solo perché tutto quello che fa di pittura lo cava dagli studiatissimi modegli fatti di scultura.“63 Wenngleich Michelangelo diesem Kurzschluss kaum zugestimmt haben dürfte,64 offenbart sich hier die tradierte Überzeugung, durch körperliche Vorbilder zu einer Bildsprache zu gelangen, die von der plastischen Wirkung des rilievo durchdrungen ist. Der von Cellini derart Vereinnahmte wird auch in der Antwort des Jacopo Carrucci, genannt Pontormo (1494–1557), als ein alle anderen überragender Künstler bezeichnet, wobei er Michelangelos komplexe Bilder den Skulpturen vorzieht.65 Mit Malerei könne gar die Natur überboten werden, da sie variieren, verschönern oder neu zusammensetzen kann, vor allem jedoch Figuren auf einer planen Ebene zum Leben zu erwecken vermag: „dare spirito a una figura e

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Benvenuto Cellini: Discorso sopra l’arte del disegno, in: ders.: Opere, hg. v. Bruno Maier, Mailand 1968, S. 847–852. Zur Debatte der unterschiedlichen Ansichtsseiten von Skulptur vgl. Lars Olof Larsson: Von allen Seiten gleich schön: Studien zum Begriff der Vielansichtigkeit in der europäischen Plastik von der Renaissance bis zum Klassizismus, Stockholm 1974. Benvenuto Cellini: Al molto eccellentissimo M. Benedetto Varchi suo osservandissimo, zit n. Barocchi: Benedetto Varchi, Vincenzio Borghini (wie Anm. 49), S. 83. Ebd., S. 81f. Ebd., S. 82. Vgl. Barocchi: Benedetto Varchi, Vincenzio Borghini (wie Anm. 49), S. XII. „Michelagnolo non aver potuto mostrare la profondità del disegno e la grandezza dello ingegno suo divino nelle stupende figure di rilievo fatte da lui, ma nelle miracolose opere di tante varie figure e atti begli e scorci di pittura; […] ma di questa eternità [de la scultura] ne partecipa più le cave de’ marmi di Carrara che la virtù dello artefice, perché è in migliore soggetto, e questo soggetto cioè rilievo.“ Jacopo Pontormo: Al molto magnifico et onorando M. Benedetto Varchi suo osservandissimo, zit. n. Barocchi: Benedetto Varchi, Vincenzio Borghini (wie Anm. 49), S. 71f.

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farla parere viva, e farla in piano“.66 Verglichen mit einem Bildhauer, dessen Schöpferkraft derjenigen Gottes ähnelt, indem beide die menschliche Figur durch vollrunden rilievo auf natürliche Weise lebendig erscheinen lassen, erweist sich die Befähigung des Malers zur Verlebendigung seines Sujets in der Fläche als umso göttlicher.67 Pontormo erkennt in der malerischen Umsetzung des rilievo naturale ein übernatürliches Potential des Malers.68 In seiner ebenso knappen wie ironiebeladenen Antwort69 stellte der hochgepriesene Michelangelo (1475–1564) schließlich die Debatte als eine auf philosophischer Ebene scheinbar müßige dar.70 Zuerst wandte er sich jedoch gegen das Primat der Malerei, da jene sich stets mit dem körperlichen rilievo der Skulptur zu messen habe: „Io dico che la pittura mi pare più tenuta buona, quanto più va verso il rilievo, et il rilievo più tenuto cattivo, quanto più va verso la pittura; e però a me soleva parere che la scultura fussi la lanterna della pittura, e che dall’una all’altra fussi quella differenza ch’è dal sole alla luna.“71 Wenn überhaupt, liege der entscheidende Bewertungsmaßstab einer „guten“ Malerei in ihrem Vermögen zur Evokation von Körperlichkeit. Da für Michelangelo die Malerei stets im Flächigen und damit im Unwirklichen verbleibt, obliegt es ihr, nach jener Körperlichkeit zu streben, die der Skulptur per se eigen ist und aus diesem Grund stets die Schwesterkunst überstrahlt.72 Indem die Malerei sich haptischer Eigenschaften bemächtigt, kommt sie der plastischen Wirkung veri66 67 68

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Ebd., S. 71. „[…] quando Dio creò l’uomo, lo fece di rilievo, come cosa più facile a farlo vivo, e’ non si arebbe preso un soggetto sì artifizionso e più tosto miracoloso e divino.” Ebd. Ebd. Pontormo bezieht sich hier auf den „ingegno sopranaturale“ Michelangelos. Vgl. dazu auch Wencke Deiters: Der Paragone in der italienischen Malerei des Cinquecento. Mittel im Wettstreit der Künste bei Mazzola Bedoli, Tizian, Pontormo, Bronzino, Daniele da Volterra und Vasari, Dissertation, Heidelberg 2002, bes. S. 104ff. sowie 140ff. unter: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/volltexte/2010/ 10687/pdf/Deiters_Paragone2002.pdf (26.06.2012). Vgl. zur literarisch-rhetorischen Technik Michelangelos grundlegend: Preimesberger: Rilievo und Michelangelo (wie Anm. 9), S. 303–308. Barocchi: Benedetto Varchi, Vincenzio Borghini (wie Anm. 49), S. XII. „Ich sage, daß die Malerei umso besser erscheint, je mehr sie sich dem rilievo nähert, und den rilievo kann man umso schlechter halten, je mehr er sich der Malerei nähert; und mir wollte es immer scheinen, es solle die Skulptur die Laterne der Malerei sein und es solle zwischen der einen und der anderen jener Unterschied sein, der zwischen Sonne und Mond ist.“ Michelangelo Buonarroti: Al molto magnifico et onarando M. Benedetto Varchi suo Osservandissimo, in: Barocchi: Benedetto Varchi, Vincenzio Borghini (wie Anm. 49), S. 84 (Übers. zit. n. Preimesberger: Rilievo und Michelangelo [wie Anm. 9], S. 304). Vgl. Anm. 59. Zur Dichotomie real tastbarer Skulptur und nur scheinbar plastischer Malerei vgl. Hans Körner: Die enttäuschte und die getäuschte Hand. Der Tastsinn im Paragone der Künste, in: Valeska von Rosen/Klaus Krüger/Rudolf Preimesberger (Hg.): Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, München/Berlin 2003, S. 221–241; Jodi

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tabler Skulpturen näher – ebenso, wie der Vollmond als vermeintlich eigenständig leuchtender Himmelskörper erscheint.73 Mit dieser Sentenz formulierte Michelangelo ein Sinnbild, das fünfundsechzig Jahre später von Galileo Galilei (1564–1642) seiner metaphorischen Schärfe beraubt werden sollte, um es zugleich in sein Gegenteil zu verkehren. Galilei revolutionierte durch seine Erforschung des Mondes und der Sonne die Kosmologie, wobei seine Erkenntnisse fundamental auf einer hochentwickelten Beobachtungpraxis und der Beweiskraft von Bildern beruhten.74 Anlass seiner Volte innerhalb des abgeebbten Rangstreits der Künste war ein Ersuchen des befreundeten Künstlers Ludovico Cardi, genannt Cigoli (1559–1613).75 Für den von diesem als „neuen Michelangelo“76 betitelten Galilei erwies sich der Vorrang der Malerei gerade in ihrer autarken, von äußeren Einflüssen unabhängigen Beleuchtungssituation. Nicht etwa die Malerei stehe im Schatten der Skulptur, vielmehr sei letztere eine manipulierbare Sklavin realer Lichtwerte.77 Als unverkennbares Bewertungskriterium galt Galilei wiederum die im rilievo gebundene plastische Wirkung, die der Skulptur auf natürliche Weise eigne, die die Malerei hingegen aufgrund ihrer Kunstfertigkeit zu erzeugen vermöge.78

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Cranston: The Touch of the Blind Man: Phenomenology of Vividness in Italian Renaissance Art, in: Sensible Flesh. On Touch in Early Modern Culture, hg. v. Elizabeth D. Harvey, Philadelphia 2003, S. 224–242. Die Bezugnahme auf den reliefierten Schattenwurf verweist auf Plinius d. Ä., Naturalis Historia, Buch 35, Kap. V u. XVIII, vgl. Preimesberger: Rilievo und Michelangelo (wie Anm. 9), S. 306. Vgl. Horst Bredekamp: Galilei der Künstler. Der Mond. Die Sonne. Die Hand, Berlin 2007. Ebd., S. 283. Ebd., S. 13ff. „Mi dichiaro. Intendesi per pittura quella facoltà che col chiaro e con lo scuro imita la natura. Ora le sculture tanto avranno rilevo, quanto saranno in una parte colórate di chiaro et in un’altra di scuro. E che ciò sia il vero, l’esperienza stessa ce lo dimostra; perché se esporremo ad un lume una figura di rilevo, et anderemola in modo colorendo, col dar di scuro dove sia chiaro, sinché il colore sia tutto unito, questa rimarrà in tutto priva di rilevo.” Galileo Galilei: Brief an Ludovico Cigoli am 26. 6. 1612, in: ders.: Le Opere di Galileo Galilei, 20 Bde., Bd. 11, hg. v. Antonio Favaro, Florenz 1968, S. 340f., Z. 8–14. Zum Zweifel an der Authentizität des Briefes vgl. zuletzt: Maurice A. Finocchiaro: Galilean argumentation and the inauthenticity of the Cigoli letter on painting vs. Sculpture, in: Studies on History and Philosophy of Science 42 (2011), S. 492–508. „È tanto falso che la scultura sia più mirabile della pittura, per la ragione che quella abbia il rilevo e questa no, che per questa medesima ragione viene la pittura a superar di maraviglia la scultura: imperciocchè quel rilevo che si scorge nella scultura, non lo mostra come scultura, ma come pittura.“ Galileo: Brief an Cigoli (wie Anm. 77), Z. 4–8.

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Aufgrund ihrer bildlichen Bindung könne die Malerei durch einen Zuwachs an Künstlichkeit das skulpturale Relief „tausendfach“ überbieten.79 Zwar spreche die Skulptur den Tastsinn am stärksten an, doch sei die Malerei in der Lage, neben dem rilievo einer Figur auch Entfernungen oder Farben authentisch zu vermitteln.80 Insofern sei die Annahme von Skulptur als „wirklichere“, weil mit den Händen begreifbare Kunst nichtig. Mit ihren erhabenen und vertieften Formen könne die Skulptur nur eine Seite eines hochkomplexen Körperempfindens wiedergeben: „[…] non si accorgendo che non solamente è sottoposto a tal sentimento il rilevato e il depresso (che sono il rilevo della statua), ma ancora il molle e il duro, il caldo e ’l freddo, il dedicato e l’aspro, il grave e ’l leggiero, tutt’ indizi dell‘ inganno della statua.“81 Mit diesem Argumentationsstrang verwies Galilei auf die gesamte Tragweite haptischer Wahrnehmung (tal sentimento), die nicht im taktilen Erfühlen einer Oberfläche verbleibt, sondern ebenso den Gewichtssinn und das Temperaturempfinden umfasst.

R i l ie vo a ls Verkör p er u ngsst rateg ie In den von Cennini am Übergang zur Neuzeit beschriebenen Maltechniken ist mit dem bildlich zu generierenden rilievo eine bewusste Hinwendung zu einer auf visuelle und haptische Qualitäten zielenden Bildauffassung erschließbar, deren Ursprünge weit zurückreichen. Bevor eminentia und prominentia von Alberti in der Volgare-Version mit rilievo übersetzt wurden,82 wiesen diese Termini zurück auf ihre antiken Quellen. An der lateinischen Form sollte nach ihm auch noch Ghiberti im ersten und dritten Commentario festhalten, um das Vermögen antiker Maler bei der Modellierung von Licht und Schatten zu beschreiben.83 79

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„[…] perciocchè quanto più i mezzi, co’ quali si imita, son lontani dalle cose da imitarsi, tanto più l’imitazione è maravigliosa.” Ebd., Z. 61–63; „Anzi quanto è da stimarsi più mirabile la pittura, se, non avendo ella rilevo alcuno, ci mostra rilevare quanto la scultura! Ma che dico io quanto la scultura? Mille volte più […]“. Ebd., Z. 14–16. „[…] non le sarà impossibile rappresentare nel medesimo piano non solo il rilevo d’una figura, che importa un braccio o due, ma ci rappresenterà la lontananza d’un paese, et una distesa di mare di molte e molte miglia […].” Ebd., Z. 17–19; „Soggiungo che la scultura imita piú il naturale tangibile, e la pittura piú il visible; perocché, oltre alla figura, che é comune con la scultura, la pittura aggiugne i colori, próprio aggetto della vista.“ Ebd., S. 342, Z. 84–86. Ebd., S. 341, Z. 36–39. Vgl. Preimesberger: Rilievo und Michelangelo (wie Anm. 9), S. 304. Vgl. Niehaus: Florentiner Reliefkunst (wie Anm. 9), S. 29; zur Hell-Dunkelmalerei der Frühen Neuzeit vgl. Thomas Da Costa Kaufmann: The Perspective of Shadows: The History of the Theory of Shadow Projection, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 38 (1975), S. 258–287.

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Als Schattenmalerei (Skiagraphia) war die Kunst der illusionistischen Darstellung von Körpern in der griechischen Antike bekannt.84 Auf eine der frühesten Quellen verweist Rudolf Preimesberger mit Xenophons (um 426–355 v. Chr.) Erinnerungen an Sokrates, in der die zwei Millennien später bei Galilei thematisierte Körpererfahrung vollgültig durch Bildgestalten evoziert wird: „Mein lieber Parrhasios, ist nicht die Malerei eine Nachahmung des Gesehenen? Denn ihr bildet und stellt doch das Vertiefte und Erhabene, das Dunkle und das Helle, das Harte und das Weiche, das Unebene und das Glatte, das Junge und das Alte der Körper, nachgebildet mit Farben dar.“85 Entscheidend ist hier, dass die durch haptische Sinneseindrücke gewonnenen Kategorien (vertieft, erhaben, hart, weich, uneben, glatt) zugleich als Gesehenes bildhaft werden können. Gemalte Strukturen erweisen sich damit als Träger propriozeptiver Reizerfahrungen. Auch für Platon zeichnete sich eine gelungene, da illusionistische Malerei besonders durch die Ausführung plastischer Hell-Dunkelwerte aus,86 und mit Apollodor von Athen erinnerten Plinius d. Ä. und Plutarch an den berühmten Skiagraphos des 5. Jahrhunderts v. Chr.,87 der die Fähigkeit besaß, seine Bildfiguren plastisch hervortreten zu lassen („primus species exprimere“).88 Neben Zeuxis war es insbesondere Nikias, der aufgrund seiner Fähigkeit zur malerischen Darstellung von Volumina gefeierte wurde.89 Die bereits in antiker Zeit vielfach bekundete Qualität des bildlichen rilievo verweist auf eine Konstante der Malereirezeption, die Bildern nicht allein optische, sondern auch haptische Werte zuspricht, indem sie in ihrer jeweiligen Ausprägungsform unterschiedliche Grade an Körperlichkeit aufweisen. Diese Beobachtung wurde immer wieder in einem erweiterten Rahmen mit antiken und mittelalterlichen wahrnehmungsund kognitionswissenschaftlichen Theorien in Verbindung gebracht, um von den unterschiedlichen Modi der Sinneserfahrung (oder der Erinnerung) auf deren bildliche Reflektion zu schließen.90 84 85 86 87 88 89 90

Eva C. Keuls: Plato and Greek Painting, Leiden 1978, bes. Kap. IV. Xenophon: Erinnerungen an Sokrates (Apomnemoneumata Sokratous), gr.-dt., hg. v. Peter Jaerisch, München 1980, S. 213, zit. n. Preimesberger: Rilievo und Michelangelo (wie Anm. 9), S. 305. David Summers: Michelangelo and the Language of Art, Princeton 1981, S. 41–45. John J. Pollitt: The Ancient View of Greek Art. Criticism, History and Terminology, New Haven/London 1974, S. 221. Plinius d. Ä.: Naturalis Historia, Buch 35, Kap. XXXVI, zit. n. Niehaus: Florentiner Reliefkunst (wie Anm. 9), S. 19. In der Antike von Plinius d. Ä. und Quintilian, in der Neuzeit etwa von Alberti und Vasari. Vgl. Niehaus: Florentiner Reliefkunst (wie Anm. 9), S. 20 u. Anm. 43. Eine Konstante der seit Aristoteles’ De Anima bis zu Cenninis Zeit diskutierten Formen visuell-haptischer Wahrnehmung bezieht sich auf die aktive Rolle des Körpers im Sehvorgang. Vgl. Suzanna Biernoff: Sight and Embodiment in the Middle Ages, New York 2002; zudem: David C. Lindberg: Auge und Licht im Mittelalter.

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Erst mit Cenninis Libro dell’arte beginnt jene intensive theoretische Auseinandersetzung vonseiten der Künstler, die eine unmittelbare Rückbindung derartiger Phänomene an die künstlerische Praxis ermöglicht. Als ausschlaggebende gedankliche Parallele zur Entwicklung körperlich-lebendiger Strukturen erweist sich für ihn das schichtweise Auftragen der Farbe auf der Fläche des Freskogrundes, das zur körperhaften Erscheinung des rilievo führt.91 Der als plastisches Modellieren begriffene Einsatz des Materials Farbe führt zu einer Leibwerdung des Motivs, etwa eines jugendlichen Gesichtes; in dessen Verkörperung – incarnazione – kulminiert die Verlebendigungskompetenz der Farben.92 Wenngleich dieser Begriff bei Cennini unmittelbar in christologischen Gefilden ankert, um das Vermögen des Malers als alter deus zu begründen, verweist er auf einen genuin anthropologischen Hintergrund der Bildwirkung. Plastische Strukturen werden als körperliche, hautfarbene als belebte Bereiche wahrgenommen. Für den Komplex der farbigen incarnazione, deren Zielpunkt im Überspielen der Artifizialität der verwendeten Materialien liegt, indem die Farben als weiches, lebendiges Fleisch erscheinen sollen (später insbesondere im gattungsübergreifenden Begriff der morbidezza gebündelt), erweist sich der plastische rilievo als ein entscheidender Referenzwert: „Or piglia il vasellino della piu chiara; e con pennello di setole ben morbido, mozzetto, togli della detta incarnazion, con le dita premendo il pennello; e va’ ritrovando tutti i rilievi del detto viso.“93

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Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler, übers. v. Matthias Althoff, Frankfurt a. M. 1987; Ralph Köhnen: Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens, München 2009, bes. Kap. 1, S. 47–73 sowie Büttner: Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung (wie Anm. 9). Die in der ciceronischen Rhetorik verankerte Lehre der Erinnerungstechnik, der zufolge optische „Eindrücke“ wie in eine Wachstafel eingeprägt werden, das Gesehene demnach als mnemotechnisches Relief erscheint, bot den Ausgangspunkt für eine Körpergeschichte der Erinnerung. Vgl. dazu zuletzt Lakey: Relief in Perspektive (wie Anm. 9), bes. Kap. 3, S. 128–181. Vgl. hierzu grundlegend Kruse: Fleisch werden – Fleisch malen (wie Anm. 11), bes. S. 316: „Die dreidimensionale Bildwirkung (rilievo) genannt [sic], entsteht, indem sich der Maler die Wand als Fläche vorstellt, auf welche er die Farbe schichtweise plastisch aufmodelliert.“; vgl. auch dies.: Wozu Menschen malen. Historische Begründung eines Bildmediums, München 2003, Kap. 4, S. 175–224. Cennini beschreibt dies in Kap. LXXVII „Il modo e ordine a lavorare in muro, cioè in fresco, e di colorire o incarnare viso giovenile“ sowie in Kap. CXLVII „In qual modo si coloriscono i visi, le mani, i piedi, e tutte le incarnazioni“. Anhand zeitgenössischer Dichtung zeigt Kruse, dass „incarna/incarno in der Bedeutung von ‚Verkörperung, Vermenschlichung, Vergegenwärtigung und Verlebendigung‘ verwendet werden […]“. Kruse: Fleisch werden – Fleisch malen (wie Anm. 11), S. 322. Cennini: Libro dell’arte (wie Anm. 12), Kap. LXVII, S. 44. Zur neuzeitlichen Terminologie von Fleisch- und Hauttönen vgl. Daniela Bohde: ‚Le tinti delle carni‘. Zur Begrifflichkeit für Haut und Fleisch in italienischen Kunsttraktaten des 15. bis 17. Jahrhunderts, in: Dies./Mechthild Fend (Hg.): Weder Haut noch Fleisch. Das

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Für Alberti sollte die Verkörperung einer Figur auf der Bildfläche im kaum überbietbaren prozessualen Sinne des Wortes vollzogen werden, indem zunächst die Knochen der Glieder entwickelt werden, um jene mit Muskeln und schließlich mit Haut zu bedecken: „ma come a vestire l’uomo prima si disegna ignudo, poi circondiamo di panni, così dipingere il nudo, prima pogniamo sue ossa e muscoli, quali poi così copriamo con sue carni che non sia difficile intendere ove sotto sia ciascuno moscolo.“94 Zum schichtweisen Malprozess Cenninis kommt der progressive anatomische Entwicklungsprozess bei Alberti hinzu, der, durch den Vergleich mit dem Bekleiden eines Körpers, Leonardos Diktum der Stoffbelebung vorwegnimmt. Zwar sollte jedweder Bildgegenstand, sei es ein Gewand oder ein Baum, mit räumlichem Volumen ausgestattet werden.95 Bei anthropomorphen Figurationen ist dessen Wirkung jedoch tiefgründiger, da hierdurch für den Betrachter das Relationsverhältnis eines Gegenübers entsteht. Die Anweisungen Albertis zur praktischen Aneignung und Umsetzung des bildlichen rilievo stellen durch seine Kombination aus veritablem plastischem Erarbeiten der Form (scolpendo) und zeichnerisch-malerischem Studium körperhafter Modelle zugleich einen frühen Kontrapunkt zur akademischen Paragonedebatte dar, der die Gattungen nicht gegeneinander ausspielt, sondern die Malerei durch die Übernahme körperlich-plastischer Werte sublimiert. Als Werkstattbegriff bezeichnete rilievo bei Cennini, Alberti und Leonardo vornehmlich die kunstvolle Modellierung haptischer Werte mithilfe von Licht und Schatten.96 Die Hauptelemente seiner Generierung stellen der natürliche Körper des Künstlers sowie derjenige seines natürlichen oder artifiziellen

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Inkarnat in der Kunstgeschichte, Berlin 2007, S. 41–63; zur Farbaktivität jüngst: Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts (wie Anm. 71), „Die Agilität der Farbe“, S. 252–272. Zum Terminus der morbidezza vgl. Roland Le Mollé: Georges Vasari et le vocabulaire de la critique d’art dans le Vite, Grenoble 1988, S. 83–98 sowie Karl Möseneder: ‚Morbido, Morbidezza‘. Zum Begriff und zur Realisation des ‚Weichen‘ in der Plastik des Cinquecento, in: Johannes Myssok/Jürgen Wiener (Hg.): Docta Manus. Studien zur italienischen Skulptur für Joachim Poeschke, Münster 2007, S. 289–299. Leon Battista Alberti: Della Pittura. Über die Malkunst (wie Anm. 29), S. 122. Mit dem gleichen Verfahren wurde der gesamte Bildaufbau vollzogen, indem zunächst aus Flächen Glieder entstehen, die, zu Körpern zusammengesetzt, zu einer istoria verbunden werden. Vgl. zu diesem ‚grammatischen‘ Vorgehen Oskar Bätschmann, Sandra Gianfreda: Einleitung, in: Leon Battista Alberti: Della Pittura (wie Anm. 27), S. 1–60, hier S. 23. Cennini verweist in Kapitel LXXXVI auf „i rilievi delli alberi e delle verdure“. Vgl. Cennini: Libro dell’arte (wie Anm. 12), S. 54. Rudolf Preimesberger zeigt am Beispiel von Jan van Eycks Verkündigung aus der Sammlung Thyssen-Bornemisza, dass der Maler durch den Einsatz der GrisailleMalerei bereits der Forderung nach rilievo ohne Farbe nachkam und diesen sogar verfeinerte, „durch den Kunstgriff vorgetäuschter weißer Steinskulptur, die gleichsam per se ‚plastisch‘ ist, und durch ihre Weiße in idealer Weise geeignet [ist],

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Modells dar. Indem der Maler alle Atelierprozesse geistig und körperlich in sich aufnimmt, stellt sich sein Leib „nicht allein als multiples Arbeitsgerät, sondern vor allem als empfindlicher Sensor“97 heraus. Der von Leonardo häufig bemühte Topos des „Ogni pittore dipinge sé“ („Jeder Maler malt sich selbst“) würde somit, jenseits seiner negativen Konnotation, auch auf den stetigen Prozess des körperlichen Einschreibens ins Bild verweisen.98 Das plastische Modell dient hingegen der prolongierten Präsenzerfahrung eines dreidimensionalen Körpers, selbst wenn dieser, wie im Fall der eingangs betrachteten Draperiestudie (Bild 1), im Bild nur mittelbar in Form „bewohnten Tuches“ erscheint. Die mithilfe von Modellen erzeugte körperliche Wirkung kann somit simultan als Anschein und Vermögen verstanden werden. Indem der Betrachter einen fühlenden Körper besitzt, ist er befähigt, körperhafte Strukturen zu erkennen und mit diesen im Rahmen der Werkbetrachtung zu interagieren. Der Begriff des rilievo beschreibt die hieraus resultierende körperliche Tiefenstruktur des Bildes. Eigene Körpererfahrungen und die damit einhergehende Ausbildung des Körperschemas99 bilden die Grundlage dieser unmittelbaren, präreflektiven Sinneserfahrung jenseits kulturell geprägter Bedeutungsschichten. Die im rilievo verankerte körperliche Tiefenstruktur erweist sich damit als ikonographisch unabhängiger Erfahrungswert.100 Begrifflich umschrieben wurde dieser in Antike

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‚reinen rilievo‘ zu verkörpern.“ Vgl. Rudolf Preimesberger: Zu Jan van Eycks Diptychon der Sammlung Thyssen-Bornemisza, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 54 (1991), S. 459–489, hier S. 467. Löhr: Dantes Täfelchen, Cenninis Zeichenkiste (wie Anm. 20), S. 178. Löhr beschreibt weiterhin: „Diese künstlerische Wendung zur Körpererfahrung kommt nicht allein in der physiologischen Mnemotechnik der Zeichnung zum Ausdruck; Cennini weist den Maler sogar an, Abgüsse vom eigenen Körper herzustellen.“ Ebd., S. 179. Vgl. Frank Zöllner: ‚Ogni pittore dipinge sé‘. Leonardo da Vinci and ‚automimesis‘, in: Matthias Winner (Hg.): Der Künstler über sich in seinem Werk. Internationales Symposium der Bibliotheca Hertziana, Rom 1989, Weinheim 1992, S. 137–160; ders.: Leonardo und Michelangelo. Vom Auftragskünstler zum Ausdruckskünstler, in: Maren Huberty (Hg.): Leonardo da Vinci all’Europa. Einem Mythos auf den Spuren, Berlin 2005, S. 131–167. Zum Körperschema vgl. John M. Krois: Bildkörper und Körperschema, in: ders.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011, S. 252–271. Wenngleich, wie François Quiviger anhand des skulpturalen Reliefs beschreibt, in ikonographischen Konstellationen (bis hin zu Pathosformeln) ebenfalls eine unmittelbare Bezugnahme auf die verkörperte Lebendigkeit des Dargestellten bestehen kann: „Tactility – gestures indicating the presence of sensed volume – served as hints and prompts to imagine the materiality of the figures themselves.“ Vgl. François Quiviger: Relief is in the Mind. Observations on Renaissance Low Relief Sculpture, in: Donal Cooper/Marika Leino (Hg.): Depth of Field. Relief Sculpture in Renaissance Italy, Bern u. a. 2007, S. 169–189; vgl. auch ders.: The Sensory World of Italian Renaissance Art, London 2010, bes. Kap. 7: „Touch“, S. 105–124.

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und Renaissance mit der enárgeia einer Darstellung. Sie benennt das Vermögen, einen Gegenstand wie lebendig „vor Augen zu stellen“.101 Die von Zeitgenossen gerühmte Fähigkeit Ludovico Ariosts (1474–1533), die Dinge derart zu schildern (dipingere), dass man sie „mit den Händen sehen und mit den Augen berühren“ kann,102 könnte als Paradigma des malerischen rilievo gelten: jene von den Gegnern der Malerei als Täuschung beschriebene Macht (forza) körperlich Abwesendes im Bild sichtbar und fühlbar werden zu lassen.103 In zwei Phasen widmete sich die Kunstgeschichte dem Phänomen der emphatischen Körperaktivierung von und durch Bilder. Ab der Mitte des 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert prägten Friedrich Theodor (1807–1887) und Robert Vischer (1847–1933), Theodor Lipps (1851–1914), Heinrich Wölfflin (1864–1945) oder Wilhelm Worringer (1881–1965) die Werkanalyse durch die Berücksichtigung von Empathie und Einfühlung.104 Seit Ende des 20. Jahrhunderts haben sich wiederum Kognitions- und Kunstwissenschaft verstärkt dem Phänomen einer enaktiven Bildwahrnehmung gewidmet, im Ansinnen darauf, die spezifische Interaktionsform zwischen Mensch und Artefakt hinsichtlich ihrer neurobiologischen und wahrnehmungspsychologischen Gehalte zu erforschen.105 Einen entscheidenden Ansatz stellt die durch Wahrnehmung aktivierte Selbst-

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Vgl. grundlegend Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des ‚Ut-pictura-poesis‘ und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208. „E’ ti dipinge una cosa sì bene, / Che ti par d’averla avanti gli occhi, / Con dir ti: quasto va, quell’altro viene. / Con le man vedi, e con gli occhi tu tocchi“, zit. n. ebd., S. 185. Johann Wolfgang von Goethe sollte in seiner fünften römischen Elegie die Sentenz leicht modifiziert für die Erfahrung von Skulpturen verwenden: „Sehe mit fühlendem Aug‘, fühle mit sehender Hand.“ (Röm. Elegien, V, Vers 10). Zum unmittelbaren Zusammenhang zwischen rilievo und forza vgl. von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes (wie Anm. 101), S. 185f. Karsten R. Stueber: Rediscovering Empathy. Agency, Folk Psychology, and the Human Sciences, Cambridge, MA 2006; Thomas Friedrich/Jörg H. Gleiter (Hg.): Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagen zu Architektur, Design und Kunst, Berlin 2007. David Freedberg/Vittorio berg/Vittorio Gallese: Motion, Emotion and Empathy in Esthetic Experience, in: Trends in Cognitive Science 11/5 (2007), S. 197–203; John Onians: Neuroarthistory. From Aristotle and Pliny to Baxandall and Zeki, New Haven u. a. 2007; John M. Krois: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011; Alva Noë: Varieties of Presence, Cambridge, MA 2012. Vgl. unter Berücksichtigung der körperlichen Doppelnatur des Bildes (Körper präsentierendes Bild und Bildkörper) Jörg Fingerhut: Das Bild, Dein Freund. Der fühlende und der sehende Körper in der enaktiven Bildwahrnehmung, in: Et in imagine ego (wie Anm. 26), S. 177–198.

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erkenntnis des Betrachters dar, die auf Prinzipien der Verkörperung beruht.106 In seiner seit dem Quattrocento konsequent eingeforderten Umsetzung eignet dem Begriff rilievo ein strategischer Zug, der sich als epistemologischer Ausdruck ästhetisch-somatischer Erkenntnisse über die Interaktion von Bildkörper und Betrachterkörper erweist. Die im rilievo kulminierende künstlerische Reflektion haptischer Bildwahrnehmung bietet zweifellos einen entscheidenden Ausgangspunkt einer historisch argumentierenden Verkörperungsphilosophie der Malerei.

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Francisco Varela/Evan Thompson/Eleanor Rosch: The Embodied Mind. Cognitive Science and Human Experience. Cambridge, MA 1992; Shaun Gallagher: How the Body Shapes the Mind, New York 2005; Andy Clark: Supersizing the Mind: Embodiment, Action, and Cognitive Extension, New York 2008; Robert A. Wilson/ Lucia Foglia: Embodied Cognition, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2011 Edition), hg. v. Edward N. Zalta, unter: http://plato.stanford.edu/archives/ fall2011/entries/embodied-cognition/ (28. 6. 2012).

Jodi Cranston

T H E D I S OR D E R E D BE D I N T H E SL E E P I N G V E N U S

In the final pages of Leo Steinberg’s seminal 1972 essay, “The Philosophical Brothel,” Steinberg described the compressed, “near-Cubist” space of Picasso’s Les Demoiselles d’Avignon, 1907 (Museum of Modern Art, NY), with metaphorical descriptions of sensuous experience: “No terms taken from other art – whether from antecedent paintings or from Picasso’s own subsequent Cubism – describe the drama of so much depth under stress. This is an interior space in compression, like the inside of pleated bellows, like the feel of an inhabited pocket, a contracting sheath heated by the massed human presence. The space of the Demoiselles is a space peculiar to Picasso’s imagination. Not a visual continuum, but an interior apprehended on the model of touch and stretch, a nest known by intermittent palpation, or by reaching and rolling, by extending one’s self within it. Though presented symbolically to the mere sense of sight, Picasso’s space insinuates total initiation, like entering a disordered bed.”1 Bellows, a sheath, a palpated nest, an inhabited pocket, a disordered bed – all of these spatial metaphors bring us vividly into the heat, the warmth, the familiarity, and the sensuous enclosure and encroachment of erotic experience. For some (formalist) readers, this is Steinberg at his best; for other (feminist) readers, this is Steinberg who infuriates by reinstating the phallocentrism of Picasso.2 Regardless of Steinberg’s mixed reception, he nonetheless recognized the potential critical tensions created by representations of the female nude body in the history of western art through his consideration of the tradition of

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Leo Steinberg: The Philosophical Brothel, in: October 44 (1988), pp. 7–73, p. 63. The essay was first published in Art News 71/5–6 (1972), pp. 22–29, 38–47, and then revised for the later publication. See, for example, the correspondence between Steinberg and Carol Duncan in Art Journal 49/2 (1990), p. 207.

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how the formal beauty of the subject channeled erotic possession into admiration.3 Steinberg’s metaphorical manifestation of embodiment through involutions of cloth in Picasso’s canonical painting resonates for another canonical painting, one that could be said to instantiate the pictorial tradition of the recumbent nude female in western art. The Sleeping Venus (fig. 1), attributed to both Giorgione and Titian and dated to ca. 1508, is the earliest surviving example in independent painting of the recumbent female nude.4 The nude figure sleeps in a mellow, pastoral landscape, which is uninhabited except for a now-removed Cupid who, until the nineteenth-century restoration, appeared at her feet.5 The body, which extends laterally to fill the rectangular composition, and the landscape formally complement one another, as the curves of flesh, grassy hills, and clouds echo each other. Steinberg’s formal economy of erotic possession easily applies here: the formal diagram leads to an ideated embrace and vice versa. But what to make of that drapery? What about that folded, turning, pleated drapery underneath the female figure that in its general outline repeats the dominant swelling profile, but otherwise seems almost ostentatiously out of place in this otherwise restrained pastoral landscape? The attention to the artifice of the fabric independent of its role as cover indicates not only a changing approach to the relationship between drapery and the human form in Renaissance painting, but also indicates Titian’s own interest in fabric in the early decades of his career as a motif of loss and tactile envelopment that aligns with 3

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Leo Steinberg: The Algerian Women and Picasso at Large, in: Other Criteria. Confrontations with Twentieth-Century Art, Chicago 2007, pp. 125–234. Carol Armstrong (Edgar Degas and the Representation of the Female Body, in: Susan Rubin Suleiman (Ed.): The Female Body in Western Culture, Cambridge, MA/London 1986, pp. 223–242) addresses the resistance of depictions of the female nude to semiotics and their yielding to formalism. Reclining nudes appear earlier in cassoni. See Paul Schubring: Cassoni. Truhen und Truhenbilder der italienischen Führenaissance. Ein Beitrag zur Profanmalerei im Quattrocento, Leipzig 1915, nos. 156, 157, 184, 185, 289, 290. Many scholars have asserted a context of marriage for the picture, and specifically the marriage of Girolamo Marcello and Morosina Pisani. See Jaynie Anderson: Giorgione, Titian, and the Sleeping Venus, in: Massimo Gemin/Giannantonio Paladini (Ed.): Tiziano e Venezia. Atti del convegno internazionale di studi, Vicenza 1981, pp. 334–342; Jaynie Anderson: Giorgione. Painter of Poetic Brevity, Paris 1997, pp. 217–226. Maria Ruvoldt (The Italian Renaissance Imagery of Inspiration, Cambridge/New York 2004, p. 200, note 41) provides a helpful list of sleeping nudes produced between 1499–1530. Marlies Giebe: Die ‘Schlummernde Venus’ von Giorgione und Tizian. Bestandsaufnahme und Konservierung – neue Ergebnisse der Röntgenanalyse, in: Beiträge und Berichte der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 23 (1992), pp. 93–110. The technical investigation of the picture questioned the longstanding hypothesis that the Cupid held a little bird.

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THE DISORDERED BED IN THE SLEEPING VENUS

Fig. 1 Giorgione: The Sleeping Venus, ca. 1508, Oil on canvas, Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen, Dresden.

the Renaissance lyric tradition and thereby anticipates the plurality of the baroque fold described by Gilles Deleuze. Fabric ceases to function solely as a indicator of human form and illusionistic relief in several pictures executed by Titian between 1510–1530, and assumes structural roles drawn from the symbolic, even devotional, significance of cloth and its fetishistic potential. In doing so, Titian rethinks the traditional role of depicted drapery and creates intimately inhabited pictorial spaces in which depicted things act on the depicted figures – and even on the viewers of the pictures – in ways not dissimilar to those of Steinberg’s pocket and disordered bed.6 The bed for the sleeping Venus in Giorgione’s and Titian’s painting received particular attention during execution. X-rays taken of the picture in the early 1990’s revealed that an earlier conception of the landscape included a more 6

This paper is greatly influenced by Gilles Deleuze: The Fold. Leibniz and the Baroque, trans. by Tom Conley, Minneapolis 1993, esp. pp. 121–137; and Georges DidiHuberman: Ninfa Moderna. Essai sur le drape tombé, Paris 2002. Didi-Huberman, influenced by Warburg, considers the “declension” of Warburg’s striding nymph figure with activated draperies into the recumbent female nude surrounded by drapery as an important origin for the early 20th-century photographs of fabric abandoned in the streets of Paris. I follow Didi-Huberman’s interest in Warburg for conceptualizing the significance of the nude figure and drapery; however, this essay seeks to understand the detachment of drapery from the female body as an artistic problem localized to Titian’s early pictures and within the lyric context of drapery and tactile desire.

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extensive area of drapery that filled the entire lower third of the composition.7 Venus lay and Cupid sat on a bed-like expanse that separated the figures from the background landscape. We know from a well-known description in an inventory taken by Marcantonio Michiel in 1525 of Girolamo Marcello’s collection in Venice that, although the Venus was painted by Giorgione, the landscape and Cupid were completed by Titian.8 Such a distribution of labor is borne out by the technical investigations, which also revealed that at some point an artist (presumably Titian) changed the now-invisible red sheet to an entirely white one and then diminished the expanse of the white sheet at its edges with the red pillow, the grassy patches at Venus’ feet and the lower left, and the rocky bower.9 The pillow and drapery read as demonstrations in how cloth folds, twists, turns, knots, snags, billows, puffs, and responds to weight – the last condition evidenced with the pulling from Venus’ right leg and not at any other point along the supportive pillow. The splotched gold pattern along the cuff of the pillowcase and the range of tones afforded by white fabric facilitate the illusion of these diverse behaviors of cloth. The various iconographic sources for the conception of a recumbent female nude sleeper feature drapery as a means to conceal and reveal the nude body.10 Drapery clings to the recumbent sculpted body of the Vatican Cleopatra, an Ariadne sleeping-type figure recovered and displayed in ca. 1510 Rome.11 Drapery also plays a central role in the literary and pictorial scenario of a male figure – usually a satyr – who lifts the drapery of a sleeping, unaware nymph to spy on her nude body. One of the possible sources for the Sleeping Venus is a passage in the dream book Hypnerotomachia Poliphili (1499) that describes a fountain relief in which a nymph lays sleeping on a folded cloth that winds up

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Giebe: Die ‘Schlummernde Venus’ (as fn. 5), pp. 99–109. “La tela della Venere nuda, che dorme in un paese con Cupidine fu di mano de Zorzo da Castelfranco; ma lo paese e Cupidine furono finiti da Tiziano” (cited in Anderson: Giorgione, (as fn. 4) p. 307). Giovanni Morelli identified Michiel’s entry as a description of the Dresden Venus in 1880. Giebe: Die ‘Schlummernde Venus’ (as fn. 5), pp. 99–109. For the iconographic tradition of sleeping Venuses, see Millard Meiss: Sleep in Venice. Ancient Myths and Renaissance Proclivities, in: Proceedings of the American Philosophical Society 110/5 (1966), pp. 348–82. Otto Kurz: Huius Nympha Loci. A Pseudo-Classical Inscription and a Drawing by Dürer, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 16 (1953), pp. 171–177; Elisabeth B. MacDougall: The Sleeping Nymph. Origins of a Humanist Fountain Type, in: Art Bulletin 57 (1975), pp. 357–365; Leonard Barkan: Unearthing the Past. Archaeology and Aesthetics in the Making of Renaissance Culture, New Haven/London 1999, pp. 231–247.

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THE DISORDERED BED IN THE SLEEPING VENUS

under her head with another part brought over her that the satyr lifts.12 The cloth facilitates a full revelatory experience, whether scopic pleasure or aesthetic delectation, of the nude female body presented and offered to the beholder. Along the same lines, the Sleeping Venus could simply give the viewer the end result of this revelatory process – the body uncovered for the viewer of the picture.13 If so, the reveal is replete with ongoing tension not mastery, as the drapery appears to have the most intimate relationship with the female body through its mapping out areas of greater and lesser intensity of folds alongside the female form, sometimes flattened by a body in movement, sometimes pressing against and interrupting the curving line of her back or thigh. Drapery has not fully detached from the human body, and vice versa, but their apparent interdependence in this picture finds analogies in other contemporary examples of deconstructed drapery, such as Titian’s nearly contemporary Sacred and Profane Love (Borghese Gallery, Rome), which allusively rotates by 90 degrees the approximation of the recumbent sleeping Venus to become the figure of Sacred Love. With her right leg tucked behind the left, Sacred Love tilts toward her seated earthly manifestation, and her saturated red drapery, no longer lying against the ground, billows heavenward toward the puffy clouds with a fluttering fullness that defies gravity and connection to its female form in allusion to her celestial personification.14 The formal dialectics of the composition fully accommodate the lifting amplitude of the drapery that would otherwise appear more at home in Northern European painting. Venetian artists certainly were familiar with the windswept, calligraphic draperies of angels and the ample folds of earthly garments in German prints, which appeared to influence Giorgione’s 12

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Francesco Colonna: Hypnerotomachia Poliphili, Venice 1499, pp. 34r–v; 35r. On the Petrarchan poetics of the dream book, see Rosemary Trippe: The Hypnerotomachia Poliphili. Image, Text, and Vernacular Poetics, in: Renaissance Quarterly 55/4 (2002), pp. 1222–1258. The placement of the nude figure on drapery could also relate to the poetic tradition of using clothes as bedsheets: “they [Pamela and Philoclea] impoverished their clothes to enrich their bed, which for that night might well scorn the shrine of Venus” (Sir Philip Sidney: The Countess of Pembroke’s Arcadia (The New Arcadia), ed. by Victor Skretkowicz, Oxford 1987, p. 151). The draperies in the Sleeping Venus do not include any details indicative of clothing, contrary to the suggestion made by Mary Pardo: Veiling the Venus of Urbino, in: Rona Goffen (Ed.): Titian’s ‘Venus of Urbino’, Cambridge/New York 1997, p. 124, note 5. See Maria Louisa Ricciardi: L’amor sacro e profano. Un ulterior tentatio di sciogliere l’enigma, in: Notizie di Palazzo Albani 15 (1986), pp. 38–43; Rona Goffen: Titian’s Sacred and Profane Love. Individuality and Sexuality in a Renaissance Marriage Picture, in: Joseph Manca (Ed.): Titian 500, Washington 1993 (Studies in the History of Art 45), pp. 121–44; and id.: Titian’s Women, New Haven/London 1997, pp. 33–44.

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own conception of drapery for the standing figure of Judith, ca. 1503 (Hermitage, St. Petersburg).15 Giorgione departs from the traditional use of columnar folds or form-fitting drapery to establish the standing leg of the contrappostal pose and conveys through the disturbance of the drapery the physical effort and energy of the otherwise placid heroine and the agitation of the aggressor – almost as though the open mouth of the decollated head of Holofernes is the uncanny source of the breeze. Such an interpretation depends on a normative conception of drapery as a visual means to make form appear self-contained and self-sufficient. Renaissance art theorists generally affirmed well into the late sixteenth century that the purpose of drapery was to define the body. Leonardo da Vinci, for example, in his writings on painting, insisted that: “the drapery should be arranged in such a way that it does not seem to be uninhabited; that it should not seem simply a piling up of drapery as is so often done by many who are so much enamoured of the groupings of various folds that they cover the whole figure with them, forgetting the purpose for which the fabric is made, which is, where possible, to clothe and surround gracefully slim limbs and not to cover illuminated projections of limbs with puffed up forms so that they resemble bladders. I do not deny that some handsome folds should be made, but let them be placed upon some part of the figure where they can be assembled and fall appropriately between the limbs and the body.”16 Drapery was a fundamental tool for creating illusionistic relief by clarifying the contours of the human form and emphasizing the shadow of recession and the highlights of projections. Pliny’s legendary description in his Natural History of the ancient painting of a curtain by Parrhasius that deceived his fellow painter Zeuxis into lifting it affirmed precisely the potential for depicted fabric to convey convincing relief.17 15 16

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Johannes Wilde: Venetian Art from Bellini to Titian, New York 1981, p. 85; Sydney J. Freedberg: Painting in Italy, 1500–1600, New Haven/London 1993, p. 680, n. 17. “[…]il panno sia in modo adattato che non paia disabbitato cioè che non paia un grupamento di panno spogliato dal’huomo, come si vede far a’ molti li quali s’inamorano tanto delli varij agrupamenti de varie pieghe che n’enpieno tutt’una figura dimenticandosi l’effetto perche tal panno è fatto, cioè per vestire et circondare con grazzia le membra dov’esi si possano e’ non empire in tutto di ventri o’ visiche sgonfiate sopra li rilevi aluminati de mebri” (Codex Urbinas, 167a–b); The Literary Works of Leonardo da Vinci, vol. 1, ed. by Jean Paul Richter/Carlo Pedretti, Berkeley/Los Angeles 1977, p. 289. Pliny the Elder: The Natural History, xxxv, 65: “[Parrhasius] entered into competition with Zeuxis, who produced a picture of grapes so successfully represented that birds flew up to the stage-buildings; whereupon Parrhasius himself produced such

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Drapery, though, could also convey motion with its variety and placement of folds. Again, we read in Leonardo: “Practise the rule in painting your draperies of making the parts that cling to the figure show its manner of movement and attitude, and show those parts of the drapery which are not joined to the figure in a fluttering, free manner (modo volante et sparso).”18 Leonardo’s prescriptions reflect not only his general pictorial practice, especially in the earlier years of his career, but also his observations of ancient sculpture, as he explicitly acknowledged in his writings.19 He also invested drapery with an emotive, expressive potential when he framed the movement of drapery as an expression of the movement of the body, since the bodily motion functioned as an index for emotion. We understand, then, his repeated criticism of piles of uninhabited drapery, which failed to serve these ends.20 Quattrocento artists, especially those working in Florence, routinely engaged in the workshop practice of drawing studies of drapery, whether for actual artworks or as part of their training.21 Vasari mentioned in his chapters on technique in his Lives, as well as in his discussion of the lives of Lorenzo Credi, Fra

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a realistic picture of a curtain that Zeuxis, proud of the verdict of the birds, requested that the curtain should now be drawn and the picture displayed; and when he realized his mistake, with a modesty that did him honour he yielded up the prize” (trans. by Harris Rackham, Cambridge, MA/London 2003, pp. 309–11). On the curtain, see Norman Bryson: Looking at the Overlooked. Four Essays on Still Life Painting, London 2001, pp. 30–35. “Usa nelli tuoi panni quella parte che circunda la figura che la mostri il modo de l’atitudine sua et quelle parti che restano fuori di quella adornale a’modo volante et sparso come si dira.” (Codex Urbinas, 167a; Literary Works of Leonardo da Vinci (as fn. 16), pp. 288–289.) “And above all, see that draperies do not conceal movement; and that the limbs are not cut off by folds nor by the shadows of folds. As much as you can imitate the Greeks and Latins in the manner of revealing limbs when the wind presses draperies against them, and make few folds […]”; “[…] et sopra ‘l tutto che li panni non ocupino il movimento cioe’ le membra et che le dette membra non sieno tagliate dalle pieghe ne’ d’all’ombre de panni et imita quanto puoi li greci e’ latini co ‘l modo del scoprire le membra quando il vento apoggia sopra di lore li panni e’ fa poche pieghe […].” (Codex Urbinas, 167b-168a; Literary Works of Leonardo da Vinci [as fn. 16], p. 290.) The act of letting draperies fall was considered an affectation in Baldassare Castiglione’s Il Cortegiano: “I don’t think that it is less a vice of affectation to let clothes fall from one’s back, than in care of dress…to hold the head stiff for fear of disarranging one’s locks.” Gigetta Dalli Regoli: Il ‘Piegar de’ Panni, in: Critica d’arte 150 (1976), pp. 35–48. Sculptors at the Florentine Academy were required to execute clay models for drapery studies. See Carl Goldstein: Teaching Art. Academies and Schools from Vasari to Albers, Cambridge 1996, p. 22.

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Bartolommeo, and Leonardo, that artists used clay and wax models and mannequins covered with cloth dipped in plaster so that attention could be given to the representation of fixed and unchanging folds.22 Vasari also mentioned drapery studies executed by Leonardo in tempera on linen that Vasari himself collected in his Libro dei disegni and that appear to relate to a larger group of specialized drapery studies, also tempera on linen, attributed to artists active in Verrocchio’s workshop in the late 1460’s and ‘70’s (fig. 2).23 The studies, which are all approximately the size of a page of notebook paper, focus on the fall and folds of drapery on the human figure. The studies are remarkable for their demonstration of inhabited drapery with only minimal, if any, visible features of the human figure. The studies attributed to Leonardo differ slightly from the other drawings in their investigation of the drapery as a means for studying optical perception rather than on the physical presence of the draped model.24 In one of the studies now in the Louvre, the lower half of a seated draped figure with feet covered affords the artist the opportunity to study transitions between light and dark and explore the depths of folds, which conceal and produce more folds. Involuted folds create darkness, as they do in the other studies, but here these pockets appear to recede deeper than a delimited range of tone and reveal further folding that seems a result of changing perception. In areas that at first appear as passages of the darkest darks there begins a new tonal range establishing folds within folds. These studies do not exactly deviate from Leonardo’s written prescriptions of formal economy in drapery, but they do not precisely conform to them either.

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Giorgio Vasari: Vasari on Technique, ed. by Gerard Baldwin Brown, New York 1960, pp. 150–151; id.: Le vite de’più eccellenti pittori, scultori, e architettori, vol. 4, ed. by Paola Barocchi, Florence 1967, p. 17 (Leonardo), p. 91 (Fra Bartolommeo), pp. 299–300 (Lorenzo Credi). Nothing similar to this group has survived in Venetian drawings. There are a few drapery studies, which appear to show the influence of Dürer. See, for example, a black chalk study in the Uffizi, Florence, reproduced in Hans Tietze and Erica Tietze-Conrat: The Drawings of the Venetian Painters in the 15th and 16th Centuries, vol. 1, New York 1944, cat. 336, p. 91. On the attribution and function of the drapery studies on linen, see Jean K. Cadogan: Linen Drapery Studies by Verrocchio, Leonardo, and Ghirlandaio, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 46/1 (1983), pp. 27– 62. The small, but spectacular, exhibition of these studies at the Louvre reopened the discussion. See François Viatte: Léonard de Vinci. Les études de draperie, Paris 1989; and thoughts prompted by the exhibition: Keith Christiansen: Leonardo’s Drapery Studies, in: The Burlington Magazine 132/1049 (August, 1990), pp. 572– 573; David Scrase: Review of “Leonardo; Italian Drawings. Paris and Lille,” in: The Burlington Magazine 132/1043 (1990), pp. 151–154. Christiansen: Leonardo’s Drapery Studies (as fn. 23), p. 573.

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Fig. 2 Leonardo da Vinci: Drapery for a seated figure, Distemper with white highlights, 26.5 × 25.3 cm, Louvre, Paris.

As much as Leonardo’s studies belong to the Verrocchio workshop group, they relate much more closely to several drawings – not of drapery – by Leonardo that extended beyond any preparatory function. Leonardo became increasingly interested in exploring the graphic implications of his optical investigations into shadows and their effect on the changing perception of form. Objects functioned as screens or mediums for the “exploration of expressive possibilities, independent of prescribed subject matter,” as Alexander Nagel has characterized Leonardo’s artworks from this later period.25 Leonardo destabilized the light/dark pairing in pictorial practice by recognizing their instability in perception, and created artworks that develop the extension of optical indeterminacy and ineffability to conditions and states of being – such as the mystery of the incarnation in his shadowy St. John the Baptist (Louvre, Paris). By the early sixteenth century, the veil or some kind of textile was a fairly well-established trope for indeterminacy and ineffability in art theory, 25

Alexander Nagel: Leonardo and sfumato, in: Res 24 (1993), pp. 7–20, p. 12.

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especially when the arts were assimilated to poetics. The motif of the veil conveyed the sensuous, palpable surface – whether poetic language or illusionistic representations – under and through which unspeakable and invisible truths were revealed.26 Painting theorists, such as Cennino Cennini had extended the metaphor of poetics into his handbook for painters as a way to convey the invisible domains involved in painting;27 and Alberti, in his On Painting, turned the trope from rhetoric into a specific veiled figure recommended for multi-figure compositions that invited imaginative, emotional projection by viewers.28 Artists participated in the visualization of the trope with veiled figures, such as in Giotto’s Lamentation (Arena Chapel, Padua) and, more contemporary with our discussion, Savoldo’s Magdalene (ca. 1520–1525; National Gallery, London).29 The veil, whether painted as fabric or conceptually in words, simultaneously concealed and served as a surface for creating meaning dependent on the idea of an “underneath” or “behind”. Titian also participated in this tradition, especially with his depiction of faces in shadow, but focused in his early secular paintings on the visual equivalent of the sensuous process and experience of reaching back into the space underneath or behind or through folds of fabric.30 One of Titian’s earliest forays into the sensuous half-length image, his Young Woman at Her Toilet, ca. 1514– 1515 (fig. 3), presents a young woman who regards herself in mirrors held by her shadow-submerged lover and who adjusts her hair with an arm bedecked with an extravagant circular sleeve.31 In a compressed, undetermined space, Titian alludes to the poetic trope of the lover who fails to distract his beloved from selfadmiration, who fades from view in contrast to the nearly impossible view of oneself from multiple sides afforded by the pair of mirrors.32 The circular sleeve 26

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Mary Pardo first developed the poetic significance of the veil for Renaissance painting. See Mary Pardo: The Subject of Savoldo’s Magdalene, in: Art Bulletin 71/1 (1989), pp. 67–91. Her more recent work addresses the textile metaphor in Renaissance art theory: Veiling the Venus of Urbino (as fn. 13), pp. 108–128. Cennino Cennini: The Craftsman’s Handbook, trans. by Daniel V. Thompson, Jr., London 1960, p. 1. Leon Battista Alberti: On Painting, trans. by Cecil Grayson, London 1991, para. 42, p. 78. Pardo: The Subject of Savoldo’s Magdalene (as fn. 26), pp. 67–91. On Titian’s shadowed faces, see Paolo Alei: Obscuratus est sol. Unveiling the Hidden Divinity in Titian’s Louvre Entombment, in: Venezia Cinquecento 16/32 (2006), pp. 85–132. Harold E. Wethey: The Paintings of Titian, vol. 3, London 1971, cat. 22, pp. 162– 163; Alessandro Ballarin: Le siècle de Titien. L’âge d’or de la peinture à Venise, Paris 1993, pp. 361–363; Rona Goffen: Titian’s Women, New Haven 1997, pp. 65– 86; Paul Joannides: Titian to 1518, New Haven/London 2001, pp. 258–260. Jodi Cranston: The Poetics of Portraiture in the Italian Renaissance, Cambridge and New York 2000, pp. 156–162.

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Fig. 3 Titian: Young Woman at Her Toilet, around 1515, Oil on Canvas, 99 × 76 cm, Louvre, Paris.

serves as a formal evocation of the circular mirror, but with an opposite effect of drawing in the viewer into some interior space rather than reflecting an image on its impenetrable convex surface. We can easily imagine where the hollow of the sleeve leads, and are invited to when our visual path concludes in unarticulated darkness on the underside of her arm. The visible brushstrokes of the hair and of the folded sleeve endow the passage with a materiality that lures in contrast to the illusionistic display of the sleeve in Titian’s contemporary Man with a Blue Sleeve, ca. 1512 (National Gallery, London), that seems more in dialogue with the bravura of the Plinian curtain by Parrhasius and keeps the viewer out.33 The viewer of the Young Woman at Her Toilet is given more access, however ideated, to the woman than is given to the depicted hovering beloved. 33

Wethey: The Paintings of Titian (as fn. 31), vol. 2, cat. 40, pp. 103–104; Joannides: Titian to 1518 (as fn. 31), pp. 206–208.

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The invitation for envelopment that emerges from the sensuous foregrounding of folded fabric materializes the conditions of presence and absence associated with poetic expressions of love. The necessary coexistence, even dependence, of folds and hollows easily extends to the parallel codependence of possession and longing, of having and wanting, of touching and seeing. Titian’s use of fabric in his depiction of love draws upon the role of the veil in lyric poetry and especially the fetishistic relationship established between fabric and the lover. Petrarch, although infrequently mentioning the clothes worn by his beloved Laura, often describes the attire of a veil and veiled conditions or situations in the tradition of poetics discussed earlier. Petrarch’s veil similarly endows the concealed with sensuous appeal. He also employs the metaphor of a knot, which describes the tension, friction, complexity, and entanglement that the poet-narrator desires and detests in his longed-for possession of his beloved.34 “For I do not complain of you [Sorrow], eyes serene beyond the mortal course, nor of him [Love] who binds me in such a knot.”35 The knot, like the fold, has no clear inside and outside, and conveys the perpetual “in-betweeness” of unfulfilled desire. As metaphors, the knot and veil serve as vehicles for the complexity of desire; their objecthood hovers around the virtual of the poetic and rarely exists with any material autonomy. But the glove concentrates Petrarch’s awareness of his unattainable love: “My luck and Love had so blessed me with a lovely golden, silken embroidery, that I had almost reached the high point of my happiness thinking to myself: Who has worn this! Nor does that day, which made me rich and poor at the same time, ever come to mind without my being moved with anger and sorrow, full of shame and amorous scorn that I did not hold my noble spoils more tightly when it was needful, and was not more constant against the force of a mere angel, or, fleeing, did not add wings to my feet and take vengeance at least on that hand which draws from my eyes so many tears.”36

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Sarah Sturm-Maddox: Petrarch’s Laurels, University Park, PA 1992, pp. 111–13; Diane Marks: The Veil and the Knot. Petrarch’s Humanist Poetic, in: John M. Hill/ Deborah M. Sinnreich-Levi/Robert O. Payne (Eds.): The Rhetorical Poetics of the Middle Ages. Reconstructive Polyphony. Essays in Honor of Robert O. Payne, London 2000, pp. 241–257, p. 255. Petrarch’s Lyric Poems: The ‘Rime sparse’ and Other Lyrics, trans. and ed. by Robert M. Durling, Cambridge, MA/London 1976, no. 71, pp. 156–157. Ibid., no. 201, pp. 346–347.

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The glove elicits feelings of longing, anger, retribution, shame; it exerts a power on and over the poet-narrator that closely approaches the Renaissance conception of the fetish. According to the influential research of William Pietz, the word “fetish”, from the pidgin fetisso, was a term first employed in the sixteenth and seventeenth centuries by Portuguese and Dutch merchants to describe the use of objects attributed with animating power.37 European observers, especially those Protestants, distanced themselves from the power of objects by demonizing the use of such idols. However, as Peter Stallybrass and Ann Rosalind Jones point out in their research on early modern clothing, certain objects such as gloves, shoes, and rings continued to disrupt the person-thing opposition established through the maligning of the fetish, especially when the glove or shoe was separated from the pair and from “normal” use.38 Renaissance portraitists, especially in England, frequently depicted lovers with a single glove as a pledge of affection, where the glove functions as a stand-in for the absent lover. Titian produced a group of male portraits, ca. 1515–20, in which the sitter holds his unworn glove in his own gloved hand, not as a sign of affection, but as a sign of gentility; however the appearance of the depicted gloves often compromises the integrity of the hand, as in his Man with the Glove (fig. 4).39 Contrasted with the functional hand that gathers up the man’s clothing, the gloved hand, limp with ease, appears emptied of its corporeality by the materiality of the paint. The layers of animal skin separate and split apart at the cuff and in the center to reveal the hand, but also appear to be inextricable from the fingers, as though the hand has fused with or even turned into the gloves. The personthing, or subject-object, division has lost its distinction, as the enveloping glove makes the hand appear thing-like. The potential agency of a thing pervaded Renaissance thought, despite the predominant insistence within modern scholarship – which is based upon a much larger western philosophical tradition – on the centrality of the subject.40 The Renaissance occupation with tropes of the speaking image and the artwork so lifelike that it lacks nothing but breath indicates the extent to which objects

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William Pietz: The Problem of the Fetish, I, in: Res 9 (1985), pp. 5–17. Peter Stallybrass/Ann Rosalind Jones: Fetishizing the Glove in Renaissance Europe, in: Critical Inquiry 28/1 (2001), pp. 114–132. (esp. pp. 114–121); and id.: Renaissance Clothing and the Materials of Memory, Cambridge/New York 2000. Joannides: Titian to 1518 (as fn. 31), pp. 224–229; Stallybrass and Jones: Fetishizing the Glove (as fn. 38), pp. 123–124; Ballarin: Le siècle de Titien (as fn. 31), pp. 372– 373; Wethey: The Paintings of Titian (as fn. 31), vol. 2, cat. 64, p. 118. On the quasi-agency of non-human materials, see Jane Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham, NC 2009; Bill Brown: Thing Theory, in: Critical Inquiry 28/1 (2001), pp. 1–22.

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Fig. 4 Titian: Man with the Glove, ca. 1520–1523, Oil on Canvas, 100 × 89 cm, Louvre, Paris.

could be seen to approach the human.41 Lodovico Dolce, after discussing the importance of drapery in indicating relief, emphasized in his dialogue on painting that painters should be able to simulate “the glint of armor, the gloom of night and brightness of day, lightning flashes, fires, lights, water, earth, rocks, grass … so comprehensively that all of them possess life.”42 Fabric and clothing were also things invested with agency, as Michelangelo wrote in one of his sonnets: 41 42

For a complication to the subject-object dialectic, see Rebecca Zorach: The Passionate Triangle, Chicago 2011, pp. 150–151; and Bruno Latour: We Have Never Been Modern, Cambridge, MA/London 1993. “Saper fingere il lustro delle armi, il fosco della notte, la chiarezza del giorno; lampi, fuochi, lumi, acqua, terra, sassi, herbe, arbori, frondi, fiori, frutti, edifici, casamenti, animali, e si fatte cose tanto a pieno, che elle habbiano tutte del vivo, e non satino mai gliocchi di chi le mira” (Lodovico Dolce: Dialogo della pittura, in: Dolce’s

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“Throughout the day, that dress is gratified which locks her breast and then seems to stream down; and what they call a spun-gold thread never ceases to touch her cheeks and neck. But even more delighted seems that ribbon, gilded at the tips, and made in such a way that it presses and touches the breast it laces up. And her simple belt that’s tied up in a knot seems to say to itself, ‘Here would I clasp forever!’ What, then, would my arms do?” [no. 4]43 The sonnet is based on a well-established lyric tradition of professed jealousy toward objects, which find greater tactile intimacy with the beloved than that afforded to the lover. We could, of course, experience the same envious love relationship with the cloth and pillow placed underneath the recumbent female in the Sleeping Venus since we have been (or will be) struck by Cupid’s arrows – if we bring to mind the pre-restoration composition. The luxuriousness of the bedding certainly vies for our attention. Artfully arranged as a shock of urbanity in the midst of the pastoral world, the cloth and the uninhabited green landscape likewise evoke Petrarch’s lyric hybridization of refined and rural spaces. The bodily desire created by the Petrarchan idealized veneration of the body also evokes the sensuous, tactile relationship between body and cloth explored in ca. 1500 devotional artworks.44 Sacred draperies frequently appear detached from clothing in their role as vestments, as a neatly unfolded cloth of honor or tablecloth – with creases still visible – and as a winding-sheet for the dead body of Christ.45 Which is perhaps why Michelangelo’s Pietà (Vatican, St. Peter’s),

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‘Aretino’ and Venetian Art Theory of the Cinquecento, ed. and trans. by Mark W. Roskill, New York 1968, pp. 154–155. The Poetry of Michelangelo, ed. and trans. by James M. Saslow, New Haven/London 1991, p. 69. A more modern source for the inversion of the superintendency of the figure over drapery is Aby Warburg, who, in his studies on the nympha, acknowledged the agency of things through his conception of “accessories in motion” [bewegtes Beiwerk]. Warburg’s work directly contrasted with that of Heinrich Wölfflin, who emphasized the empathetic projection onto bodies, whether human or thing. I will develop this historiographic aspect of drapery in Renaissance painting in a forthcoming study. The sensuousness of the devotional body emerges most clearly in central Italian painting, ca. 1520. See, for example, Rosso Fiorentino’s Dead Christ (Boston, Museum of Fine Arts). Rona Goffen: Icon as Vision. Giovanni Bellini’s Half-Length Madonnas, in: Art Bulletin 57/4 (1975), pp. 496–498. The fold creases in cloths of honor seem related to the episode of folding in the Gospel of John (20: 6–7), where Christ folds his linen burial cloth after the Resurrection as an indication of deliberateness and that

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with its voluminous, nearly engulfing folds of drapery (Vasari referred to them as “panni divini”46) strikes us as exceptional, especially within the field of Renaissance sculpture with its almost exclusive focus on the human body revealed.47 Possibly influenced by expansive draperies in Northern European sculpture given the transalpine origin of the subject, the grave memorial made the flowing and turbulent folds the focus of the sculpture in its original placement no higher than eye level.48 The fabric is comprised of the Virgin’s dress, which Christ fingers with his right hand, the loincloth (perizoma), and winding-sheet, although it appears as though the last two cloths are knotted together over the Virgin’s right thigh to form a single cloth.49 Michelangelo draws upon the liturgical, mystical, and figurative tradition of veils, shrouds, and winding-sheets, and emphasizes their metaphorical significance of mortality, humanity, and incarnation.50 Perhaps, not surprisingly, Michelangelo’s depiction of the fallen version of such humanity, the Drunkenness of Noah (ca. 1509) on the ceiling of the neighboring Sistine Chapel, involves a recumbent, nude figure lying on a cloth with his sons covering him with a shroud.51 The recumbent sleeping nude female demonstrates similar states of vulnerability, humanity, offering, and incarnation as these sacred types. The visual similarities between the Sleeping Venus and, for example, Titian’s slightly later Entombment, ca. 1520 (Paris, Louvre), draw out the attention directed in both pictures toward the dialogue between

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he will return. I have not found any mention of these folds in these cloths of honor, however. Vasari: Vite (as fn. 22), vol. 6, p. 16. Leo Steinberg: Metaphors or Love and Birth in Michelangelo’s Pietàs, in: Theodore Robert Bowie/Cornelia V. Christenson (Eds.): Studies in Erotic Art, New York 1970, pp. 231–285. William E. Wallace: Michelangelo’s Rome Pietà. Altarpiece or Grave Memorial?, in: Steven Bule/Alan Phipps Darr/Fiorella Superbi Gioffredi (Eds.): Verrocchio and Late Quattrocento Italian Sculpture, Florence 1992, pp. 243–255. Kathleen Weil-Garris Brandt: Michelangelo’s Pietà for the Cappella del Re di Francia, in: Il se rendit en Italie. Etudes offertes à André Chastel, Paris 1987, pp. 77–108. The Jewish practice of wrapping the dead body in linen dictated the similar treatment of Christ’s body. See John 19:40. Fabric also plays an important role in the celebration of the Eucharist: the Antimins is unfolded on the altar and the humeral veil is used to handle the host. Icons also were made of cloth, including the Epitaphios, which depicted Christ’s recumbent body being prepared for burial. The oldest surviving icon of this type is a cloth in Venice dating to ca. 1200. See Gertrud Schiller: Iconography of Christian Art. The Passion of Christ, vol. 2, New York 1972, pp. 173–175. Carlo Ginzburg considers representations of the Drunkenness of Noah as important iconographical sources for the Sleeping Venus. See his essay “Die Venus von Giorgione: Ikonographische Innovationen und ihre Folgen,” in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 2 (1998), pp. 3–38.

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Fig. 5

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Titian: Venus of Urbino, 1538, Oil on canvas, 119 × 165 cm, Uffizi, Florence.

body and cloth and the sensuous appeal of that rapport to viewers, regardless of their gender, which the devotional and lyric contexts both support.52 When Titian returns to the independent recumbent nude almost thirty years after his Sleeping Venus, in 1538 (fig. 5), he envisions an interior space replete with various types and folds of fabric; however, the picture explicitly dramatizes, as well as insinuates, the felt experience of sensuous folds and turns of fabric found in the Sleeping Venus. Staged within the perspectival inset, the kneeling handmaiden in white rummages through (most likely) clothes in the chest, while the standing woman in red, with unworn dress slung over her shoulder, adjusts or pushes up or reaches underneath her right sleeve. Her hand essentially inhabits the position visually offered into the sleeve of the woman in Titian’s Young Woman at Her Toilet (fig. 3) and enacts a sensual experience 52

For the problems in describing recumbent female nudes through the construct of the “male gaze,” see, in two very different contexts, Elizabeth Cropper: The Place of Beauty in the High Renaissance and Its Displacements in the History of Art, in: Alvin Vos (Ed.): Place and Displacement in the Renaissance, Binghamton, NY 1994, pp. 159–205; and Carol Armstrong: The Reflexive and the Possessive View. Thoughts on Kertesz, Brandt, and the Photographic Nude, in: Representations 25 (1989), pp. 57–70.

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JODI CRANSTON

Fig. 6 Titian: Pastoral Scene, c. 1565, Pen and brown ink, black chalk, heightened with white gouache, 19.5 × 30.2 cm, The J. Paul Getty Museum, Los Angeles.

evocative of the interplay of flesh, fabrics, and flowers in the foreground. These fabrics, whether the lazily-knotted green curtain or the folded, tucked white bedclothes and pillows, demonstrate a similar bravura of handling found in the Sleeping Venus, and yet any of the improbable extravagances of detached, sumptuous fabric found in a pastoral space appear domesticated or rationalized by their relocation to an interior setting. The proliferation of subsequent depictions of recumbent female nudes in interior settings retrospectively marked the pastoral somnolence of the Sleeping Venus as a less common version of the type. Many Venetian painters, such as Palma Vecchio, flooded the market with variations of Titian’s Dresden picture around the 1520’s, and then demonstrated an interest in depictions of the nude in interiors.53 (One notable exception is Titian’s Nymph and Shepherd, which developed the lyric situations of loss and possession through a tragic vein of the pastoral.) The move indoors effected a crucial bifurcation of the lyric context from the formal apprehension of the body, a detachment which manifested respectively in Titian’s subsequent Venus with Musician pictures, that repetitively evoke a Petrarchan courtliness, and in his stated project of depicting the female 53

John Rylands: Palma Vecchio, Cambridge/New York 1992, p. 102.

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THE DISORDERED BED IN THE SLEEPING VENUS

nude from multiple sides in the poesie for Philip II.54 That disentanglement and consequent framing of the female nude as a formal problem apart from the lyric contexts, as a body independent of the drapery, instantiates an approach to the nude that artists and historians internalized as a reification of art itself. The Sleeping Venus itself probably fed into the associations of the female nude with high art with its historically specific hybridization of nature and culture that could strike later artists and viewers as a staged scene. Paradoxically, what ends up dropping out of these self-reflexive readings is the fabric, and along with it disappears the agency of things and the relative equality and interchangeability of human and thing, subject and object. Possession and desire become mapped onto and through a formal diagram rather than experienced as engulfment, as the heat of an inhabited pocket, to return to Leo Steinberg’s terms. A drawing executed a decade or so after the Sleeping Venus, now at the Getty (fig. 6), could be seen as figuring the entanglement of thing and human, the pocket of desire, which first initiated the recumbent nude.55 Placed in the right foreground of a pastoral scene, a seated nude female appears enshrouded by a cloth that covers her head and arms – two central mediums for figurative expression. The figure functions as a mise en scène of our reading of the Sleeping Venus in which fabric and body act on and engulf each other, in which sight and touch interact and often yield to each other, in which, to paraphrase Steinberg, the contracting sheath is heated by the massed human presence, and desire exceeds the figurative.

54

55

David Rosand: Ermeneutica Amorosa. Observations on the Interpretation of Titian’s Venuses, in: Gemin/Paladini (Eds.): Tiziano e Venezia (as fn. 4), pp. 375–381; id.: So-and-So Reclining on Her Couch, in: Manca: Titian 500 (as fn. 14), pp. 101– 121. For the poesie for Philip II, see again David Rosand: Ut Pictor Poeta. Meaning in Titian’s Poesie, in: New Literary History 3 (1971–1972), pp. 527–546. Stephen J. Campbell: Naturalism and the Venetian ‘Poesia’. Grafting, Methaphor, and Embodiment in Giorgione, Titan, and the Campagnolas, in: Alexander Nagel/ Lorenzo Pericola (Eds.): Subject as Aproria in Early Modern Art, Burlington, VT 2010, pp. 115–142, p. 132, understands this drawing within a hermeneutic of touch and sight that he finds in a group of pastoral paintings and drawings produced in Venice, ca. 1500–1530; Ballarin: Le Siècle de Titien, pp. 568–569. Both Campbell and Rearick date to ca. 1525–1530, which I follow.

Iris Wenderholm

T H E G A Z E , T O U C H , M O T I O N: A S P E C T S O F H A P T IC I T Y I N I TA L I A N E A R LY M O D E R N A RT

“[Vincenzo Tamagni] fece alcune cose, le quali io mi tacerò per non coprire con questa la lode et il gran nome che s’aveva in Roma onorevolmente acquistato.”1 Giorgio Vasari In the 15th century, artists were highly creative in the ways they adapted accepted visual formulae to form a kind of imagery that enjoyed considerable popularity – at least in the more rural areas of Italy: It was the intermedia altarpiece, as I will call this particular combination of sculpture and painting in the following. Contrary to Vasari’s disparaging remarks about intermedia altarpieces, quite a few things speak for this art form having played an important role in 15th-century Italian art history and provide ample justification for salvaging them from the aesthetic isolation they experienced through subsequent art criticism.2 Due to the fact that intermedia images cannot be grasped as a 1 2

Giorgio Vasari: Le Vite de‘ più eccellenti Pittori Scultori e Architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, ed. by Rosanna Bettarini/Paola Barocchi, vol. 6, Florence 1966–1987, 1987, p. 265. While this chapter is based on my PhD thesis, it goes beyond my treatment of hapticity therein. Iris Wenderholm: Bild und Berührung. Skulptur und Malerei auf dem Altar der italienischen Frührenaissance, Munich/Berlin 2006 provides a more in-depth study with ample documentation on the outlined topics. Additionally compare the chapter by Roberta Serpolli: Crocifissi a rilievo su pittura in valle umbra tra ’400 e ’500: ipotesi per una ricognizione, in: Bollettino storico della città di Foligno 27–28 (2003/04 (2006)), pp. 273–296,, whose research could no longer be incorporated in the publication of my PhD thesis: Serpolli focuses on Umbrian syntheses of media with crucifixes and investigates, inter alia, the pivotal role played by Paolucci Trinci for the Observant movement. The reference to miracles that occurred in conjunction with crucifix sculptures is especially significant for my chapter (see ibid., p. 289).

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IRIS WENDERHOLM

Fig. 1 Vincenzo Tamagni: Adoration of the Crucified Christ, ca. 1530, San Gimignano, Sant’Agostino.

genre – because they do not conform to any established canon – no contemporary took the pains to acknowledge their merits or systematically examine their significance in art. However, their existence fundamentally argues for early modern Italian art having embraced parallel developments and artistic side roads quite separate from a stringent adherence to the accepted narrative of a progression from polyptych to Renaissance pala. The underlying thesis of the following chapter asserts that, at an early date, intermedia altarpieces contributed fundamentally to the development and formation of normative genres. They functioned as vehicles for addressing the very different medium-specific advantages of sculpture and painting. It can be safely assumed that this occurred within traditional workshop contexts in which painters and sculptors contributed to image production in equal measures. Initially it seems unlikely that reflection on media took place within Church buildings. But this art form combined the two media in total conformation with practices of piety current at the time, and it was only in the 16th century that

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ASPECTS OF HAPTICITY IN ITALIAN EARLY MODERN ART

Fig. 2 Sienese Painter/Nino Pisano: Calvary, ca. 1365, Florence, Private Collection.

sculpture and painting were played out against one another in a deeply reflective competition that was often articulated in aesthetic terms in art. We must ask to what extent the explicitly staged hapticity of intermedia images and their differentiated implementation of painting and sculpture underpinned the altarpiece’s function as an intermediary agent for Salvation during the 15th century. The very existence of such an art form raises the controversial question of how and for what reasons sacred images evoked tactile perception and how the various media explore differing haptic values. One of the artworks that Vasari would have preferred not to mention to his readers is Vincenzo Tamagni’s Adoration of the Crucified Christ, which was executed around 1530 and set up in Sant’Agostino in San Gimignano (fig. 1).3 It is 3

On this topic see Wenderholm: Bild und Berührung (as fn. 2), cat. 84; see also cat. 83 for a further example of an intermedia altarpiece by Tamagni in San Gimignano.

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Fig. 3 Cima da Conegliano/unknown sculptor: Olera-Polyptych, 1486–1488, Olera, San Bartolomeo.

a characteristic example of the heterogenous group of intermedia altarpieces that all featured a central figural sculpture with a painted background.4 The earliest examples dating from the late 14th century were found in Florentine and Sienese artistic circles and largely comprised small-format Calvary paintings with a sculpted Crucifix (fig. 2). They were an early manifestation of altarpieces that, in the course of the 15th century, had left the context of private devotion practices and moved into the latent public space of churches and chapels while adapting to meet the liturgical demands of altar retables. Since the first quarter of the quattrocento and increasingly since the mid-century in Tuscany as well as in Venice and the Venetian provinces, large painted panels were executed to decorate side altars with the sculpture of a saint as a centerpiece (fig. 3). After 1450 the dissemination of intermedia Calvaries reached its peak, propagated and fostered by the Franciscan Observants in Umbria, and simultaneously numerous intermedia altarpieces with sculptures of saints were produced in

4

For a discussion on the history and function of intermedia altarpieces see ibid.

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Fig. 4 Filippino Lippi/Benedetto da Maiano: Tavola Bernardi (reconstruction), ca. 1482/1483, Pasadena, The Norton Simon Foundation/Lucca, Curia Arcivescovile.

Tuscany. In the case of these composite sacre conversazioni, the sculpture of a saint mostly stands in a painted niche within a tabernacle-like structure. In contrast to medieval shrines and to most of the carved wooden altars produced north of the Alps, the side panels of the altarpieces were static and could not be closed, that is, they had no wings (fig. 4).5 They therefore lacked one of the original features that encouraged worshippers to tactually communicate with altars, as was typical for the small, private triptychs popular during the Trecento, where opening and closing or, succinctly, touch signified verification.6 Instead, the sculpture adorning the centre of the retable was predestined to be 5 6

Also in this case there are rare exemptions: Thus, in a private context, the wings of a Crucifixion shrine from the first quarter of the 16th century by Andrea Brescianino could be closed; see ibid., cat. 93. “Touch during ritual […] can function to transform the devotional experience into a physical, tangible act.” David G. Wilkins: Opening the Doors to Devotion: Victor M. Schmidt (Ed.): Trecento Triptychs and Suggestions concerning Images and Domestic Practice in Florence, in: Italian Panel Painting of the Duecento and Trecento, New Haven/London 2002, pp. 371–393, p. 376.

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experienced haptically. Because such altarpiece sculptures could mostly be dismounted, the possibility of being able to touch them was, as part of ritual practices, probably intended. In this context, the relationship between performativity and intermediary agency – in regard to actual hapticity or fictive tactile values – demands closer investigation.

Mater ia ls a nd Med iu m Since Gregory the Great, Christian art acquired its efficacy by its resemblance (similitudo) to the Divine Archetype. Its function was to imbue the denizens of heaven with a visual form in a material medium and, ultimately, make the unfathomable comprehensible to the senses. The merely referential character of the artefact, the categorical difference between the image and divinity, was often part of the subject matter.7 Within this complex interplay, sculptures were allocated a threshold position as, due to their plastic corporality and spatial presence, they partook of both realities – of that intrinsic to the image and of that occupied by the beholder. Therein lay the often topically enhanced possibility of mistaking reality and representation – sustenance for critical voices amongst theologians since the Early Middle Ages concerning freestanding sculptures that were not part of a building’s architectural decoration.8 It is of considerable relevance to the context in question that – comparable to the early modern sacri monti and Lamentation groups9 – most of the sculptures belonging to intermedia artworks were either (prevailingly) made out of the semantically highly charged material of polychrome terracotta, or (in some cases) of painted wood. Even though both materials were not valuable, they nevertheless had special significance due to their far-reaching connotations in the Renaissance, and must be understood as vehicles of meaning in regard to intermedia altarpieces. In the case of terracotta, it was Lorenzo Ghiberti who, calling on Pliny, described sculpting with clay in the words: “madre dell’arte statuaria e della 7 8

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For an in-depth treatment of this issue see Klaus Krüger: Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, Munich 2001, pp. 11ff. The theological position in regard to the medium of sculpture is explained in Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, Munich 1990, pp. 331ff. as well as in Reinhard Hoeps: Aus dem Schatten des goldenen Kalbes. Skulptur in theologischer Perspektive, Paderborn et al. 1999. For a general account of this topic see Kathleen Weil-Garris: ‘Were this clay but marble‘, a reassessment of Emilian terra cotta group sculpture, in: Andrea Emiliani (Ed.): Le arti a Bologna e in Emilia dal XVI al XVII secolo, Bologna 1982, pp. 61– 79 and Grazia Agostini/Luisa Ciammitti (Eds.): Niccolò dell’Arca. Seminario di Studi. Atti del Convegno, Bologna 1987, Bologna 1989.

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scultura.”10 In Christian tradition, clay also bears the mythic connotations of being an archetypal substance.11 For Pomponio Gaurico this sufficed to allot primacy – among the sculptores – to the fictores working with this malleable material, analogous to the God of Genesis.12 Thus, terracotta had desirable characteristics independent of its material value and was preferred to marble in sacred buildings in Italy during the Early Renaissance and, especially after Petrarch, was considered to represent virtue.13 The same was valid for the materials of wood and clay, which could signify close affinity to nature and the complete inverse of artificiality in early modern trea10

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12

13

Quoted by Mario Pepe in: Luigi Grassi/Mario Pepe (Eds.): Dizionario di Arte, Turin 1995, s.v. scultura, pp. 747–749, p. 748. Ghiberti apparently was acquainted with Pliny’s Naturalis historia even before it was published in 1469 in Venice and, in Italian translation, in 1476. Cf. Susan Jean Vick: Pictura and the Concept of the Cognate Arts in Florence, New Brunswick 2001, p. 30. In Christian tradition terracotta references the notion of God the Creator as a potter who mixes three kinds of colored dust with his saliva and forms man as the first “sculpture.” On further sources of images and texts that adopt the view from Genesis 2.7, such as Libri Carolini, Isidor of Seville and Rabanus Maurus, see Hans-Rudolf Meier: Ton, Stein und Stuck. Materialaspekte in der Bilderfrage des Früh- und Hochmittelalters, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 30 (2003), pp. 35–52, p. 42. Johannes Taubert: Farbige Skulpturen. Bedeutung – Fassung – Restaurierung, Munich 1978, p. 11, points out an alternative source in the Mayan legend of the genesis of man where the gods first made humankind out of clay, and after such figures dissolved in the rain, the waterresistant material of wood was used. On the history of ideas-context of the self-mythologisation of Renaissance artists see Rudolf Preimesberger: Albrecht Dürer. ‚…propriis sic… coloribus‘, in: Porträt, ed. by Rudolf Preimesberger et al., Berlin 1999, pp. 210–219, pp. 212–213, including older literature. Marco Collareta: Le immagini e l’arte. Riflessioni sulla scultura dipinta nelle fonti letterarie, in: Exh. cat.: Scultura lignea. Lucca 1200–1425, Lucca, Museo Nazionale di Palazzo Mansi/Museo Nazionale di Villa Guinigi, ed. by Clara Baracchini, 2 vols., vol. 1, Florence 1995, pp. 1–7, p. 5. “G[audium]: Variis delector statuis. R[atio]: Harum quippe artium, manu naturam imitantium una est, quam plasticen dixere haec gypso & ceris operatur ac tenaci argilla, quae cognatis licet artibus, cunctis amicitior sit, virtuti aut certe minus inimica modestiae in primis & frugalitati, […].” Francesco Petrarca: Operum, 3 vols., vol. 1, Ridgewood 1965 [reprint Basel 1554], p. 51. Meier points out that also in Carolingian times in Rabanus Maurus’s De universo, following Isidor of Seville’s Etymologiae (book 19, chapter 12), works in plaster and stucco were simply called “sculptures,” and these materials were never subject to the criticism of idolatry. Cf. Meier: Ton, Stein und Stuck (as fn. 11), pp. 40–41. Meier sees the reason for this in the fact that such works were integrated into the architecture of Church buildings and, because of their polychrome state, were more closely related to painting than to sculpture. – In general on the issue of the semantics of materials, see Monika Wagner/Dietmar Rübel (Eds.): Material in Kunst und Alltag, Berlin 2002,, especially the chapters by Bruno Reudenbach and Karl Schawelka, and additionally, on material und technique, see Majorie Trusted (Ed.): The Making of Sculpture. The Materials and Techniques of European Sculpture, London 2007.

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tises on art. The opening lines of Leon Battista Alberti’s treatise on sculpture present a much-cited example, in which his narrative has sculpture begin with a chance image formed by nature: “They probably occasionally observed in a treetrunk or clod of earth and other similar inanimate objects certain outlines in which, with slight alterations, something very similar to the real faces of Nature was presented.” According to Alberti, as the art of humankind grew more refined, artists became increasingly proficient in creating things that resembled the works of nature out of inorganic materials “[…] even when they found no assistance of half-formed images in the material to hand, they were still able to make the likeness they wished.”14 Alberti outlined the goal of artistic creation as: “[…] the work they have undertaken shall appear to the observer to be similar to the real objects of Nature.”15 Paradigmatic for 15th-century perception of sculpture, Alberti was convinced that its merit lay in the medium’s ability to imitate nature perfectly. Wood and clay had an intrinsic affinity to nature as materials, and thus they required less artistic manipulation than metals or stone. In comparison to the latter, they were considered less “artificial” and more “natural.” Their use in intermedia altarpieces would certainly have significantly reduced aesthetic distance for the beholders of the sculptures of saints. It is therefore obvious that religiously motivated touching of statues of saints was linked in some way to the use of these materials.

Tra nsit ions/Tra nsg ressions Reading the use of materials such as clay and wood as referencing Christianity, virtue, and naturalness does not yet adequately explain why a sculpted element was placed at the very centre in front of a background painting or a two-dimensionally painted tabernacle. Rather, we can assume that, in the new representational contexts of intermedia altarpieces, sculptures developed a new and different form of presence that was directly linked to the connotations they conveyed while guaranteeing special efficacy for the entire tabernacle. Since the biblical narrative of Genesis, plastic reality and colour are the essential representational characteristics of humankind. Their anthropological properties play an important role for theories of embodiment – in the sense of a potential identification of humankind with the medium of sculpture – and can be designated as the features that definitely make a sculpture appear specifically lifelike.16 We see the ontological transition from inanimate sculpture to human 14 15 16

Leon Battista Alberti: Opere volgari, vol. 3: I. De Pictura/Della Pittura [1434/1435], ed. by Cecil Grayson, Bari 1973, p. 121 (De statua, section 1). See ibid., p. 121 (De statua, section 2). Taubert: Farbige Skulpturen (as fn. 11), p. 11. For studies on the implications that the topic of images coming to life involves see Ernst Kris/Otto Kurz: Die Legende

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life mirrored especially in the suggestion of movement, which is articulated in a wide range of anecdotes – from artists carving statues to the total liberation of the latter from the fetters of an inorganic material substance. By means of the sculpture’s almost life-size dimensions and its animated corporality in intermedia altarpieces, the central devotional image conveyed identity and proximity to the devout observer. The boundaries between the reality of the image and that of the beholder had become, to an extent, fluid due to the suggested transgression of aesthetic boundaries, strongly underpinning corporeal identification with the viewer.17 Manifold legends from the Middle Ages and early modern times have been passed on to us about miracles of artworks coming to life and about visual imagery stepping into the space of worshippers. Greatly due to the fact that the sculptures we are dealing with here were not free-standing statues within Church buildings, but instead located in a welldefined pictorial space, their dynamic presence was enhanced by their relation to a painted panel as a static point of reference. It is therefore justifiable to speak of medium-specific enhancement of their impact on beholders: The sculptures’ suggestion of movement makes them appear to advance out of the altarpiece context. During the 15th century, defying the flatness of the picture surface was a key issue in art and art theory. When Alberti wrote his treatise on painting in 1435, he appealed for more realism in painting by rendering the faces in such a way as to evoke the illusion of plasticity on two-dimensional surfaces: “In painting I would praise […] those faces which seem to stand out from the pictures as if they were sculpted […].”18 Interestingly, he does not describe protrusion from a flat surface “as resembling reality” but in terms of the vocabulary usual for sculpture: “come scolpiti.” Alberti was of course addressing fictive transgression through painted rilievo. But in intermedia artworks something else occurred: The medium of sculpture enhanced painting and vice versa because – in their direct juxtaposition on one common support – the potential of the early modern image became manifest. However, the convincingness of an intermedia altarpiece’s effect in no way relied on a paragone-based representation, but instead on all visual media pursuing a mutual goal.

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vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt/M. 1995 (original edition Vienna 1934) and especially Victor I. Stoichita: L’effet Pygmalion. Pour une anthropologie historique des simulacres, Geneva 2008. Hoeps: Aus dem Schatten des goldenen Kalbes (as fn. 8), pp. 87–88 as well as Krüger: Das Bild als Schleier (as fn. 7), with his fundamental study on transitional states and aesthetic illusion in early modern art. Alberti: Opere volgari (as fn. 14), p. 89 (De pictura, book 2, section 46).

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The statues themselves assumed the role that Alberti saw fulfilled in the bridging function of emotions19 in successful history paintings.20 By gazing out of the image the figures involve the beholder at the altar directly in a Sacra Conversazione. The images address beholders with the aim of stirring their emotions – inciting either empathy or fear, evasion or nearness. The visual relationship established between pictured persons and beholders can be characterized in terms of motion.21 The almost life-size dimensions and the fact that the sculptures encroach into the viewer’s space were pivotal characteristics for intermedia altarpieces to achieve the desired impact, underscoring the importance of the statues as intermediary agents. A three-dimensional devotional image experienced haptically and set at the centre of an intermedia altarpiece opened up new channels of making it accessible to believers and invited their active participation. Vasari’s Vite provide insight into the contemporary reception of the central figure of a saint. Although he only mentioned three intermedia altarpieces, his acknowledgement of Tavola Bernardi is particularly interesting with regard to the subject matter in question here. In fact, his comments allow us to rediscover the terms in which the altarpieces were discussed at the time (fig. 4). As in the other examples and already by virtue of its three-dimensionality as opposed to two-dimensional altarpieces, Vasari remarks that the polychrome terracotta sculpture of St. Anthony appears to step out of the altarpiece and stand on the threshold of pictorial space and the real space occupied by the viewer. The suggestion of movement is strengthened by a combination of different media: 19 20

21

Moshe Barasch addressed this issue under the term “Affektbrücke,” see Moshe Barasch: Der Ausdruck in der italienischen Kunsttheorie der Renaissance, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 12 (1967), pp. 33–69, p. 38. “E piacemi sia nella storia chi ammonisca e insegni a noi quello che ivi si facci, o chiami con la mano a vedere, o con viso cruccioso e con gli occhi turbati minacci che niuno verso loro vada, o dimostri qualche pericolo o cosa ivi maravigliosa, o te inviti a piagnere con loro insieme o a ridere. E così qualunque cosa fra loro o teco facciano i dipinti, tutto apartenga a ornare o a insegnarti la storia.” Quoted from Alberti: Opere volgari (as fn. 14), pp. 72–74 (book 2, section 42). See Norbert Herold: Bild der Wahrheit – Wahrheit des Bildes. Zur Deutung des ‘Blicks Blicks aus dem Bild’ in der Cusanischen Schrift ‘De De visione Dei’, in: Volker Gerhardt/Norbert Herold (Eds.): Wahrheit und Begründung, Würzburg 1985, pp. 71– 98, p. 75; he bases his interpretation of the archer at Nürnberger Markt on Nicolaus Cusanus’ De visione Dei: the archer, by means of extreme foreshortening, seems to aim at the beholder. For basic further reading on identificatory agency in images see Wolfgang Kemp: Kunstwerk und Betrachter. Der rezeptionsästhetische Ansatz, in: Hans Belting et al. (Eds.): Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 51996, pp. 241–258, pp. 247–248; on the limitation and reciprocal complementation of the aesthetics and psychology of reception see Kemp’s introduction in: Wolfgang Kemp (Ed.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985.

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Especially the varying degrees of depth lead to a media-specific disparity between feigned and actual plasticity. The physiognomic resemblance between the head of the statue of St. Anthony at the centre and that of the painted figure of St. Benedict on the left guides the gaze, causing it to oscillate between fictive and factual corporality, between two- and three-dimensionality. Vasari assessed the sculpture of St. Anthony Abbas as “cosa prontissima e bellissima,” while also mentioning that it was set up within a tavola.22 His choice of terms referenced a special pictorial semantics that addressed the sculpted figure of the saint: The category of vivacità or prontezza of represented figures was a familiar topos that addressed the expectation of fictional vitality in art and was an aesthetic demand of contemporary art criticism.23 Motion as evidence of life and enargeia were the notions with which the impression of vitality could be grasped in the case of static images.24 This effect was achieved through plasticity, life-size dimensions, and by transgressing aesthetic representational boundaries. The phenomenon of suggested media transgression between painting and polychrome sculpture as well as their reciprocal enhancement can be appropriately designated as media contrapposto. In intermedia representations, life-size figures made of polychrome wood or clay were charged in a specific way, which also influenced the aesthetic impact of the accompanying painted panels. A distinctive characteristic of polychrome sculptures is the immediacy with which they address beholders, while the flat, painted areas were integrated for the rhetorical purpose of persuasio. The impact of painted panels was enhanced especially in the case of intermedia Calvary panels in which the crucifix is fixed directly onto the support, because 22 23

24

On the term tavola and its use see Wenderholm: Bild und Berührung (as fn. 2), pp. 19ff. Joachim Poeschke: ‘Prontezza’. Zu Donatellos Georgsstatue und Albertis mutmaßlichem Selbstbildnis, in: Damian Dombrowski (Ed.): Zwischen den Welten. Beiträge zur Kunstgeschichte für Jürg Meyer zur Capellen. Festschrift zum 60. Geburtstag, Weimar 2001, pp. 28–38 investigates the notion of prontezza; on the category of animation see as basic reading material Frank Fehrenbach: Calor nativus – Color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des ‘Lebendigen Bildes’ in der frühen Neuzeit, in: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Eds.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, Munich/ Berlin, pp. 151–170, esp. p. 151, n. 4, with suggestions for further reading. On enargeia see Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), pp. 171– 208, as well as a comprehensive study with a focus on the phenomenon of intermedia images in Wenderholm: Bild und Berührung (as fn. 2), pp. 107ff. Furthermore, see the fundamental study on transgressivity of artworks by Frank Fehrenbach: Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik lebendiger Bilder, in: Ulrich Pfisterer/ Anja Zimmermann (Eds.): Animationen, Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, Berlin 2005, pp. 1–40.

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the feigned corporality achieved by rilievo was underpinned by the actual three-dimensionality of the plastic medium. Thus, in Vincenzo Tamagni’s Crucifix altar (fig. 1), the fabricated plasticity of the purely painted stem of the cross is accentuated by St. Mary Magdalene appearing to hug it – an artifice on which the three-dimensionality of the pictorial space largely depends.25 The plastic Crucifix was set on the carved suppedaneum, which was transformed into an intermediary zone between twoand three-dimensionality. Tamagni painted his figures of saints with great dedication to plasticity in depicting the folds of their clothes and shadows so that, by these means, their corporality would much resemble true three-dimensionality. Pietro Perugino too succeeded in achieving the same effect in the double-sided altarpiece for San Francesco a Monteripido in Perugia (fig. 5).26 As the original Crucifix has survived in its original position, we can closely scrutinize how the two representational media interact. A crucifix some 40 years older made by Giovanni Tedesco was mounted onto Perugino’s background painting, evidencing the esteem enjoyed by art north of the Alps in the field of religious devotional images. Just as in Francisco da Hollanda’s reflections 100 years later or those of a contemporary on his travels during the early cinquecento, the nonartificial and non-idealized appearance of northern sculpture was considered as evidencing a high degree of truth and thereby seen, in this connection, as being especially effective for evoking religious emotions, in particular empathy. Secretary Antonio de Beatis left one of the rare testimonies to the reception of northern Crucifixes while he accompanied Roman Cardinal Luigi d’Aragona on a trip to Germany, France, and the Netherlands in 1517. On viewing a Calvary representation executed north of the Alps he noted down that he had seen “crucifixi revelatissimi e grandissimi,” describing the effect they had on him in the following words: “el che veramente induce non meno terrore che devozione.”27 In close affinity to the terribilità attributed to Michelangelo, “German” crucifixes enjoyed great popularity in Italy during the 15th and early 16th centuries due to the tension arising from the brutal excessiveness that marked the veristic style of art north of the Alps and due to their impact on beholders, inciting empathy or compassio.

25 26

27

Unfortunately no information can be found on the Crucifix that originally was attached to Tamagni’s painted altarpiece panel. On the Pala di Monteripido see Pietro Scarpellini: Il Perugino, Milan 1984, cat. 127, as well as the fundamental study on Perugino by Rudolf Hiller von Gaertringen: Raffaels Lernerfahrung in der Werkstatt Peruginos. Kartonverwendung und Motivübernahme im Wandel, Munich et al. 1999. Quoted in Valentin Groebner: Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter, Munich/Vienna 2003, pp. 96–97.

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ASPECTS OF HAPTICITY IN ITALIAN EARLY MODERN ART

Fig. 5 Pietro Perugino/Giovanni Tedesco: Pala di Monteripido, 1502–1504 and ca. 1460, Perugia, Galleria Nazionale dell’Umbria.

Just as we find in the example of Tamagni’s image, in the Pala di Monteripido the gaze of the beholder follows the eyes and exchange of looks of the painted figures – who look at the Crucifix as well as out of the painting at the faithful. In the example in San Gimignano, the realistic details of a stone and a wedge appear to hold the vertical beam of the cross upright, accentuating and defining, with the front edge of the frame, the threshold between the beholder and the image. The sculptural object can be described in relation to the painted background as well as to the aesthetic boundaries of the frame, whose specific characteristics lie in its ability to link the respective realities of image and beholder while simultaneously segregating the two.28 Because no written sources have survived that testify to contemporary reception of intermedia images, we must take recourse to the sacri monti that similarly combined background painting and sculptures to make a kind of history painting resembling an immobile holy theatre. The example of the Crucifixion chapel of the sacro monte di San Vivaldo built in the early 16th century, only a short distance from Florence, makes apparent how materiality, colour, and real as well as feigned plastic qualities address worshippers’ emotional and physical (tactile, corporeal) empathy. The faithful enter at a lower level and, once inside, are confronted by a cavity in the floor that channels their gaze to offer an ideal view of the Crucifixion group on the floor above. Viewers are not only 28

On this topic see Krüger: Das Bild als Schleier (as fn. 17), pp. 60ff.

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guided by the opening in the floor, but find themselves in close company with life-size terracotta figures who demonstrate the appropriate reactions by displaying their emotions of grief and mourning. A prerequisite for such specific perception was that the artwork not only addressed the faculty of sight, but that it appealed to all the senses by means of its representational media transgressing into the space occupied by beholders, making their perception comprehensively corporeal, while at the same time corporeal perception was the precondition for the intended mode of reception to become manifest.

Mobi l it y a nd Hap t ic I mage St rateg ies The specific function of the central sculpture in intermedia altarpieces needs to be investigated in regard to the question of why such combinations of various representational media were considered the appropriate and perhaps even the necessary solution for places of worship in the 15th century. Presumably, because sculptures could be experienced tactually, their physical presence was regarded as having a different status in devotional practices than the flat surface of a painting. Due to the fact that intermedia altars were largely dedicated to patron saints called on against plague and sickness, a real corporeal and tactual experience of the saint by the suffering was not only logical but highly desirable. Worn members of the statues, such as the foot of Antonio Rossellino’s St. Sebastian,29 evidence an aesthetic appeal to our sense of touch (tactus), targeting the emotions of beholders and offering consolation via haptic experience. Contemporary woodcuts reveal that the desire for tactile proximity to saints was especially prevalent in the case of plague altarpieces: As votive picture offerings to the individual saints they depict physical contact with the same as a means of ensuring their actual presence.30 Because of the transgressive character of factual and feigned plasticity, it was employed as proof of religious efficacy in intermedia images. The transgressive quality peculiar to statues of saints before a painted background addressed the aspect of their intrinsic mobility, and cannot be comprehended without considering the cultural background of religious processions in the Middle Ages and early modern times.31 Research has shown that worship 29 30 31

Francesco Botticini/Antonio Rossellino, Tavola of St. Sebastian, executed after 1476, today in Empoli, Museo della Collegiata, see Wenderholm: Bild und Berührung (as fn. 2), cat. 19. Cf. the example of the Swabian woodcut of St. Antonius Abbas made around 1440– 50, in: Wenderholm: Bild und Berührung (as fn. 2), ill. 28. Processions were understood as visualizations of the specifically Christian notion of the mobility of saints and holy beings, see Peter Brown: The Cult of the Saints. Its Rise and Function in Latin Christianity, Chicago 1981.

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of saints in medieval times was not restricted to staging the sacred inside church buildings. Instead, worship was channeled to focus primarily on holy objects, also at the heart of religious processions – whereby processions must be viewed as virtual manifestations of sacred space that had been transposed from the inside of churches and chapels to the outside.32 Hence, Edward Muir, basing his thoughts on Arnold van Gennep’s theory of the rites de passages, describes processions as mobile and extended threshold zones in which the saints were taken out of their arcane existence and periodically unveiled to worshippers.33 Muir pointed out the impracticability of taking a whole retable over a specific size and weight along on a procession, so that we can with certainty assert that such festive events centering around a revered object – such as the Pala d’Oro in S. Marco in Venice – proffered an additional possibility for believers to ritually come into contact and confer with the saints. The plastic devotional images of intermedia altarpieces provided a practical alternative: The saint or Crucifix could not only be readily removed and was at the free disposal of the clergy, but could also fit into an extensive framework (static and immobile) and a comprehensive program of images. Intermedia altarpieces demonstrated the desired mobility in a formal way by deploying different media that referenced removability and presence: The sculptures – because of the material they are made of, their three-dimensionality, and their different state to that of the painted background – appeared to optically advance out of the retable context towards worshippers, and for religious ceremonies they could actually be removed. In this case they literally “moved out of” the altarpiece. Indeed, most of the figures of saints could be physically taken out of an altarpiece context, and it is only logical to conclude, as can be verified in individual cases, that they accompanied processions celebrating the respective saint’s feast day. The ritual parading of sculptures of saints in the center of people clad in ceremonial dress gave impetus to the reception of such statues as having actual presence and efficacy because, by appearing to move with the crowd much like the celebrants, their credibility as intermediary agents on earth was enhanced. The sculptures’ aesthetic impact of actual presence and liveliness was facilitated by a particular that was not related to the formal qualities of representation. In this regard it must be underscored that form and actual function of the compound altarpieces often greatly diverged: Intermediary altars appear to 32

33

Edward Muir: The Eye of the Procession. Ritual Ways of Seeing in the Renaissance, in: Nicholas Howe (Ed.): Ceremonial Culture in Pre-Modern Europe, Notre Dame, Indina 2007, pp. 129–153, p. 133: “Instead of sacred places, medieval Christians oriented worship around sacred objects, most notably the eucharistic body of Christ and the remains of the dead.” See ibid., p. 131.

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have been box-like receptacles for the most part, rather than shrines that could be opened and closed. Auratization of the sculptures at the center of the altarpieces was achieved by artistic means alone and the valence intrinsic to the plastic medium. The fact that the central piece of sculpture was seen as a relic receptacle was one of the possible modes of reception. Hans Belting pointed out the analogy between relics and three-dimensional seated statues in altars, arguing that both – which much resemble one another – address the physical presence of the saint. “The relic as pars pro toto was the body of a saint, who remained present even in death and gave proof of his or her life by miracles. […]. The bodylike sculptures made the saint physically present.”34 It has been proven that relics were encased in a number of the centrally positioned sculptures. The Borghesi altarpiece contained a highly revered relic in the figure of St. Catherine. The fact that the donor Niccolò Borghesi was healed evidenced, for contemporaries, her powers.35 The hidden relic was embodied in the figure of the saint, thus acquiring a form, by means of art, that could be haptically experienced. Indeed, we must ask if not alone the three-dimensional form and the structural orchestration of the shrine-like receptacle in which they were set already bore a special connotation for the sculptures. Accordingly, similar to a relic tabernacle, the sole material presence of the sculpture of a saint evoked his or her presence as well as his or her powers and offered the haptic experience of the same.36 This seems quite obvious if we consider the many reports of miracles allegedly performed by statues. The now dismantled St. Nicolas of Tolentino Altarpiece that was executed around 1478 for the Finetti family in Sant’Agostino in Siena presents a well-documented example.37 The polychrome wooden figure of the saint carved by Giacomo Cozzarelli is 180 cm high and was originally placed in the middle of two painted panels. SS. Cosmas and 34 35 36

37

Hans Belting: Likeness and Presence. A History of the Image before the Era of Art, Chicago 1997, p. 299. On the now dismantled Borghesi altarpiece, which was made by the artists Mariotto Albertinelli and Giacomo Cozzarelli 1509–1511/12 and was formerly in S. Spirito in Siena, see Wenderholm: Bild und Berührung (as fn. 2), cat. 108. On the material presence of saints and, in devotional practices of the Middle Ages, the assumed identity and presence of salvation in representations as well as of the representations themselves, see Belting: Bild und Kult (as fn. 8) and also Thomas Lentes: Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. Thesen zur Umwertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht des 14.–16. Jahrhunderts, in: Klaus Krüger/Alessandro Nova (Eds.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz 2000, pp. 21–46, esp. pp. 22–23. For a more in-depth treatment see Wenderholm: Bild und Berührung (as fn. 2), cat. 96. See also for a general account Serpolli: Crocifissi a rilievo su pittura (as fn. 2) and Elvio Lunghi: La Passione degli Umbri. Crocifissi di legno in Valle Umbra tra Medioevo e Rinascimento, Foligno 2000.

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Damian together with representations of the miracles they wrought were illustrated on the two now lost panels, and they were accompanied by a program – probably in the predella – the content of which is best comprehended in the context of salvation and miraculous deliverance or healing. The commission for the St. Nicolas altarpiece probably was closely connected to the relic of the saint’s finger that was first mentioned in Sant’Agostino in 1467. Girolamo Macchi’s 1671 reports of miracles testify to the saint’s great popularity in Siena. The altar of the first Augustinian hermit to be canonized was overhauled in 1747 when the paintings were taken away, but the wooden figure was again installed and, according to 18th- and 19th-century eyewitnesses, was taken on processions in honour of the saint. In the case of the intermedia Calvaries of Umbrian Franciscan Observants, the antiquity of objects guaranteed their authenticity and potency even without relics.38 Visual rhetorics explains the use of the Crucifix so that later generations of faithful and Observants could experience Christ appearing before them, too, just as he did for St. Francis. Separable as a haptic image from a painted background, the historically timeless representation of the body of Christ as a veristic Crucifix is an evocation of the verum corpus as the “true body” worshipped by the Franciscan friars. Intermedia images present a significant response to the subject of hapticity in painted panels. In the context of the new orientation of religious painting during the 15th century, they present a solution to the aesthetic proposition of an image advancing out of its realm into the reality of the beholder – as was demanded by Alberti and picture-making practices at the time. Intermedia altarpieces are testimonies of transitional alternative solutions addressing the problem of how this was to be achieved: They were made during the nascent phase of early modern genre formation and before the paragone debate underwent theoretical concretization in written form. Therefore, they must be viewed as having made an independent contribution to imagetheory problems of the time. The conditions that facilitated the invention of the intermedia altarpieces are to be found in the fact that the dividing lines between the genres were fluid in the 15th century, and that they provided the option of transgressing the limits of working in just one medium. Because they were formally and essentially variable they could be used for a number of functions and represented artistic experimentation in different media before the canonization of genres. As a simultaneous phenomenon to the development of the purely painted pala, it is justifiable to view them as an attempt to rejuvenate devotional images in which the pronounced haptic experience of images played a fundamental role. The key characteristic is not in deceiving the eyes as we know from 38

Because no actual corporeal relics of Christ exist, the image itself serves as a surrogate to fill this void, see Belting: Bild und Kult (as fn. 8), p. 333.

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trompe-l’œil painting, but rather that the beholders’ senses are made to oscillate between visual and the possibility of haptic experience. Intermedia altarpieces made a significant contribution to laying the foundations for a devotional art form that had a tactile and visual impact on viewers while also reflecting key positions of contemporary art theory and practices.

Philine Helas

L E BE N D E S BI L D – H A P T I S C H E S BI L D

„Lebende Bilder“ sind seit mindestens 30 Jahren ein vertrautes Phänomen der westlich geprägten Kultur; sie begegnen ebenso als künstlerische Ausdrucksform zwischen Performance und photographischer Inszenierung wie als populäres Spektakel im öffentlichen Raum der Stadt, wo sich die Darsteller eine Spende vom flanierenden Publikum erhoffen.1 Viele referieren auf wiedererkennbare Vorbilder wie Kinofiguren bzw. Schauspieler, historische Persönlichkeiten und mythologische oder literarische Figuren, oder beziehen sich auf historische Epochen oder Orte. Aber sie können auch nur auf den Effekt der Überraschung oder des Witzes angelegt, besonders unbequem oder schwierig (wie die Mumie) sein oder das Absurde vorführen (wie kopflose Menschen). Sie simulieren verschiedene Materialen, mal eines, dessen Verwendung für eine Statue wahrscheinlich ist, wie Silber oder Bronze, mal ein weniger übliches, wie Gold oder Sand. Sie können aber auch eine dynamische Figur still stellen, wie einen Mann, dem der Wind den Schirm entreißt, oder einen, der im Gegenwind durch die Stadt zu eilen scheint. Nicht nur im letzteren Fall macht die Photographie als Medium der Reproduktion oder Dokumentation die Paradoxien evident: Das lebende Bild unserer Zeit arbeitet mit dem Festhalten eines Momentes, der aber seine Wirkung daraus bezieht, dass er auf Dauer gestellt ist. Zugleich rechnet es mit der Dokumentation durch die Passanten. Doch mit der Ablichtung, die ebenso gut

1

Zu den künstlerischen Formen siehe Ausst. Kat.: Tableaux Vivants. Lebende Bilder und Attitüden in Fotografie, Film und Video, hg. v. Sabine Folie/Michael Glasmeier, m. e. Text v. Mara Reissberger, Wien 2002. Hier werden auch die Formen von lebenden Bildern verhandelt, die in den Zwanziger und Dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt zur Darstellung erotischer Sujets dienten. Beispiele für lebende Bilder als Teil der heutigen Straßenkunst lassen sich zahlreich über das Internet unter Schlagworten wie lebende Bilder, living statues, living mannequins etc. finden, in Jewpatorija (Ukraine) findet jährlich eine Meisterschaft der lebenden Statuen statt.

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eine nur sekundenlang dauernde Pose festhalten könnte, geht die Stillstellung des Lebens, das Einfrieren der lebendigen Körperlichkeit, die zugleich sie selbst bleibt, verloren, sie wird aber als Momentaufnahme in ein kongeniales Medium übertragen. Angesichts des digitalen oder papiernen Produkts ist letztlich nicht zu entscheiden, ob es sich um ein lebendes Bild im Sinne einer Performance mit Publikum handelt, oder aber um eine Inszenierung für eine im Bild fixierte, gleichsam gemäldehafte Wiedergabe – die Selbstinszenierungen von Cindy Sherman können performativ sein, sind aber als und für die Photographie konzipiert. Anders verhält sich dies bei bewegten lebenden Bildern, wie sie seit den 70er Jahren im Film aufgegriffen werden2 oder in der aktuellen Musikkultur. In dem Musikvideo 70 Million von Hold Your Horses rekurrieren sie beispielsweise auf bekannte Gemälde (Bild 1).3 Als Ausdrucksform einer musikalischen Performance sind sie doppelt verlebendigt: durch die Bewegung und durch die Musik, die aber in keinem ersichtlichen Zusammenhang zu dem dargestellten malerischen Sujet steht, ebenso wenig handelt es sich um Motive, die eine musikalische Umsetzung nahelegen. Hier liegt der Reiz wohl vielmehr in der Adaption von durch den kunstgeschichtlichen Kanon ikonisierten Bildern in die Welt der Popkultur, die damit ihren Schabernack zu treiben scheint. Wenige Zeichen genügen dabei, um einen Wiedererkennungseffekt zu bewirken, selbst wenn die Geschlechter vertauscht und die Requisiten rudimentär sind. Es handelt sich hier um eine andere Form der Vitalisierung, nämlich die eines Gemäldes, die auf die Tradition der tableaux vivants rekurriert, wie sie in der Goethezeit zu einem Gesellschaftsspiel geworden waren.4 Der französische Terminus tableau macht den Bezug zu einem vom Rahmen begrenzten Bildträger oder Bildraum explizit, das tableau vivant wird entsprechend an einem definierten, unter Umständen bühnenartigen Raum für einen vorgegebenen Blickwinkel inszeniert. Diese Art der tableaux vivants blieb nicht auf die europäische Kultur beschränkt, sondern wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts beispielsweise auch in Japan populär.5 Die Bilder aus dem Video unterscheiden sich zwar in ihrer Verzahnung mit der Musik, einer sonoren Dynamisierung, sind aber vergleichbar in ihrem Inszenierungscharakter, sie sind eine Aufführung, die zu Goethes Zeiten eine festgelegte Zeitspanne dauert, hier auf von der Band vorgesehenen Sequenzen 2 3 4 5

Joanna Barck: Hin zum Film – Zurück zu den Bildern. Tableaux Vivants. ‚Lebende Bilder‘ in Filmen von Antamoro, Korda, Visconti und Pasolini, Bielefeld 2008. unter: http://www.youtube.com/watch?v=erbd9cZpxps. (27. 11. 2012). Birgit Jooss: Lebende Bilder. Zur körperlichen Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin 1999. Yoshinori Kyotani: Three Tableau Vivant Shows of Meiji 36 (1903), in: Kyushu Bunkashi Kenkyujo = Bulletin of the Research of Kyushu Cultural History 5 (2007), S. 11–26.

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Bild 1

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Hold Your Horses: 70 Million, Filmstill (1min47).

begrenzt ist. Die tableaux vivants bezogen und beziehen sich auf bereits bestehende Kunstwerke und suchen mit der Nachstellung deren ästhetische Qualitäten zu aktualisieren. Ihre Wirkkraft beruht also darauf, dass der Betrachter das Original kennt und den Schwierigkeitsgrad ermessen kann, den die Nachstellung fordert bzw. den Grad der Annäherung an dieses beurteilen kann. Sie können auch gerade damit spielen, dass ein Gemälde in seiner ganzen Dramatik und komplexen Komposition nicht nachstellbar ist, und charakteristische Elemente herausgreifen, kondensieren oder karikieren. Als Filmstill sind sie wiederum nicht zu unterscheiden von arrangierten lebenden Bildern, wie sie nicht nur für Cindy Sherman zum künstlerischen Medium geworden sind.6 Die lebenden Bilder im urbanen Raum hingegen sind Stolpersteine im Fluss der (Stadt)Menschen, sie kreieren um sich herum eine Aura, einen Raum, der sie als Kunstwerk wahrnehmbar macht. Ihre Unberührbarkeit wird unter Umständen kalkuliert durchbrochen – in der Begegnung mit dem zahlenden Passanten, der sich auf einem Photo mit der Figur verewigt sehen möchte. Eher selten stellen sie die Frage nach dem Medium selbst und thematisieren damit das ihnen innewohnende Problem: Die potentielle Berührbarkeit bzw. das potentielle hap6

Vgl. beispielsweise das Floß der Medusa in dem Musikvideo (wie Anm. 3) und Adad Hannah, The Raft of the Medusa (100 Mile House) 2009, unter: http://www.cbc. ca/arts/theatre/story/2009/11/05/mid-career-award.html?ref=rss#ixzz0kp40BZ7X (27. 11. 2012).

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tische Empfinden der Darsteller, die sich in einem stetigen Konflikt mit der Stillstellung des Lebendigen befinden. Ein solches Bild ist die Nymphe Daphne, die vom bleiernen Pfeil Amors getroffen der Liebe nicht fähig, vor Apoll flieht, und in höchster Not ihren Vater Penäus bittet, sie zu retten, was durch die Verwandlung in einen Baum, den Lorbeer, geschieht. Der Moment der Verwandlung wird von Ovid präzise beschrieben, sie vollzieht sich unter der Berührung Apolls, vermittelt dem Leser das Gefühl des unglücklichen Liebhabers, unter dessen Händen sich Haut in Rinde und Glieder in Äste verwandeln.7 Das lebende Bild der Daphne im Park Guell von Antonì Gaudi in Barcelona bringt den Besucher auf andere Weise in dieselbe Lage (Bild 2). Hier ist es nicht die haptische Erfahrung, sondern der Betrachter wird durch seinen Blick zum Verfolger. Daphne befindet sich in der Metamorphose, das Transitive des Momentes ist im Medium des lebenden Bildes enthalten.8 Damit wird eine anthropologische Grundproblematik berührt, welche die abendländische christliche Kunst nachhaltig geprägt hat. Das authentische Bild Christi, die Vera Icon, der Abdruck seines Gesichtes auf dem Schweißtuch der Veronika, entsteht durch die Berührung, ein nicht wiederholbarer Moment, dessen Undarstellbarkeit ebenso wie die Nichtreproduzierbarkeit des Resultates Künstler seit dem 14. Jahrhundert beschäftigte.9 Die Veronika mit dem Schweißtuch Christi als Skulptur oder Gemälde kann an das Mitfühlen des Betrachters adressiert sein, aber auch dessen Reflektion über die Natur des wahren Bildes anregen. Hier geht es um die Generierung eines Bildes durch Berühren und die Übertragung von Berührung auf Sehen, das im Blickkontakt diese substituiert.10 In ihrer Form als lebendes Bild wohnt Veronika, wie sie beispielweise in der Karfreitagsprozession in Orte (Latium) anzutreffen ist,11 eine weitere Dimension

7 8

9 10 11

Ovids Metamorphosen übers. u. erl. v. Reinhart Suchier (Ovids Werke deutsch in den Versmaßen der Urschrift von Suchier, hg. v. Klußmann Berg), Berlin 1882, Buch 1, Vers 546–556. In den Park, der aus dem Konzept für eine nur ansatzweise realisierte Wohnsiedlung entstanden ist, fügt sich dieses lebende Bild besonders gut ein, da dieser durch eine Verbindung von Natur und Kunst, von Vegetation, Architektur und Bauplastik charakterisiert ist. Gerhard Wolf: Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance, München 2002, bes. S. 43–146. Ebd. Carla di Domenico: Il venerdì nero del Borgo, in: Bell’Italia 287 (2010), S. 58–66, Abb. S. 60. Es handelt sich nicht um ein Passionsspiel, sondern um eine Prozession, in der die Mitglieder der Konfraternitäten des Ortes teilweise barfuß mitziehen und die wenige semidramatische Elemente enthält: die Bahre des toten Christus, eine hölzerne Statue der trauernden Madonna, sowie die Darstellerin der Veronika, die der Bahre vorangeht.

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Bild 2

Lebendes Bild der Daphne, Barcelona, Park Güell, März 2010.

der Verlebendigung des Entstehungsprozesses inne. Das Schweißtuch ist hier kein Tuchbild, sondern das Gemälde einer Vera Icon, die sich als Abdruck auf dem Tuch präsentiert, und sich so selbst als Repräsentation ausweist.

D ie leb enden Bi lder der Rena issa nc e Im Folgenden soll es um das Phänomen der lebenden Bilder im Quattrocento gehen, als diese semidramatische und zugleich bildkünstlerische Ausdrucksform elaboriert und bei religiösen und städtischen Festen, zumeist mit Prozessionen bzw. mit Um- und Einzügen verbunden, eingesetzt wurden. Es gibt für diese Zeit keine (kunst)theoretischen Äußerungen und kaum Schriftliches aus

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dem unmittelbaren Umfeld der Beteiligten, die Aufschluss über Intention oder Inszenierungsstrategien geben könnten.12 Unsere Kenntnis beruht daher vor allem auf den Berichten von Augenzeugen und Chronisten der Ereignisse – mit allen Problemen der Interpretation und Fehlinterpretation und der Transformation eines performativen Ereignisses in eine literarische, chronikale Beschreibung mit ihren Konventionen. Zudem werden die Personen, die durch Gewand, Pose und Requisiten etwas „verkörpern“, selten als ein spezifisches Medium charakterisiert. Vielfach ist daher schwer zu entscheiden, ob es sich um Skulpturen, Bilder oder Personen handelt, da nur das Dargestellte benannt wird. Der Begriff „lebendes Bild“ ist also keine Bezeichnung des 15. Jahrhunderts, hier soll er jedoch benutzt werden, da er offener ist, als tableau vivant, da die Referenz nicht das tableau oder ein Kunstwerk ist, sondern Bild in einem umfassenderen Sinne. Im italienischen Quattrocento geht es, soweit man dies beurteilen kann, nicht um die Verlebendigung eines bereits existierenden gemalten oder skulpturalen Bildes, vielmehr dürften die Inszenierungen ihrerseits oft die Anregungen für Bildfindungen geliefert haben.13 Ein Wiedererkennungseffekt ist aber insofern ein kalkulierter Bestandteil, als sich die dargestellten Figuren mit ihrer Bekleidung, ihren Attributen oder Posen auf Konventionen der bildenden Kunst bezogen. Lebende Bilder traten in verschiedener Form in Erscheinung: Sie konnten auf einer Bühne aufgebaut werden, wie es vor allem in den Niederlanden und in Frankreich üblich war. Bei dem Einzug der Johanna von Kastilien 1496 in Brüssel wurde auf diese Weise unter anderem das Parisurteil dargestellt (Bild 3).14 12 13

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Vgl. Philine Helas: Lebende Bilder in der italienischen Festkultur des 15. Jahrhunderts (Dissertation), Berlin 1999, S. 179–189. Dies lässt sich bei formalen Lösungen wie der Mystischen Geburt von Botticelli unterstellen, die an die Apparate der Verkündigungs-Aufführungen in Florenz erinnert, aber auch für ikonographische Inventionen, wie die Personifikation der Fortuna-Occasio, vgl. Helas: Lebende Bilder (wie Anm. 12), S. 19–22 u. 78–86 sowie dies.: Fortuna-Occasio. Eine Bildprägung des Quattrocento zwischen ephemerer und ewiger Kunst, in: Städel-Jahrbuch 17 (1999), S. 101–124. Sollte es sich hier tatsächlich um drei nackte Darstellerinnen gehandelt haben, wäre dies spektakulär gewesen, denn bei derartigen öffentlichen Spektakeln traten Frauen in der Regel nicht einmal bekleidet in Erscheinung. Hinsichtlich der medialen Präsentation vermerkt der Chronist einleitend: „Es folgen die Bilder oder Posen von Figuren (die wir personagias nennen) auf erhöhten Bühnen bzw. verschlossenen Gerüsten, die in den Winkeln der Gassen aufgestellt waren und für die Vorübergehenden im rechten Moment auf Befehl durch daran angebrachte Vorhänge mal verhüllt wurden, mal den Blicken offenstanden. Sie vermochten nicht nur durch die passende Darstellung der Taten und durch den wunderbaren prächtigen Apparat, sondern auch durch Anwendung einer aufs beste angemessenen Bildrhetorik (wie deutlich werden wird) die Gemüter aller (der Gebildeten insbesondere) zu ergötzen.“ Berlin, SMPK, Kupferstichkabinett, 78 D 5, Fol. 31v. Siehe Max Herrmann: Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der

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Bild 3 Parisurteil, lebendes Bild anlässlich des Einzuges Johannas von Kastilien 1496 in Brüssel, Berlin, SMPK, Kupferstichkabinett, 78 D 5.

In Italien wurden lebende Bilder eher in ephemere Architekturen wie Triumphbögen oder Brunnen integriert, so anlässlich der Hochzeit von Costanzo Sforza und Camilla d’Aragona in Pesaro 1475 (Bild 4).15 Häufig wurden sie auch auf mobilen Wagen bzw. Plattformen gezogen oder getragen im Zug mitgeführt. Im letzteren Fall wird die Stillstellung durch die Dynamik der Bewegung wiederum kontrastiert. Beispiel hierfür bietet auch die Illustration aus einer

15

Renaissance, Berlin 1914, S. 364–411, der entsprechende lateinische Passus S. 368. Die insgesamt 27 Stationen zeigten in ungewöhnlichem Maße weibliche (alttestamentliche, antike und zeitgeschichtliche) Persönlichkeiten, mit denen sich das Programm explizit an die Braut wandte. Vgl. Anne-Marie Legaré: L‘ entrée de Jeanne de Castille à Bruxelles. Un programme iconographique au féminin, in: Dagmar Eichberger/Anne-Marie Legaré/Wim Hüsken (Hg.): Women at the Burgundian Court. Presence and influence, Turnhout 2010, S. 43–55. BAV, Urb. lat. 899, fol. 11r, zu dem Einzug vgl. Helas: Lebende Bilder (wie Anm. 12), S. 124, 129, 186.

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Bild 4 Brunnen anlässlich der Hochzeit von Costanzo Sforza und Camilla d’Aragona in Pesaro 1475, Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb. lat. 899, fol. 11r.

neapolitanischen Stadtchronik, die ein lebendes Bild anlässlich des Einzuges des französischen Königs 1494 wiedergibt.16 Es stellt sich die Frage nach der Verortung dieses Phänomens in einer Epoche, in der die Bildkünste eine Revolution erleben, die man mit einigen Schlagworten charakterisieren kann und die sowohl inhaltliche (hier ist vor allem an die Erweiterung des Spektrums profaner Bildthemen zu denken) wie formale Aspekte – durchaus gegensätzlicher Natur – betrifft: Einerseits führt die zentralperspektivische Konstruktion zu einer Begrenzung des Bildraumes und Schließung der Bildfläche als Schnitt durch die Sehpyramide nach vorn, andererseits wird diese durch die Plastizität des Dargestellten, den rilievo unterlaufen und Bildgrenzen mittels illusionistischer Darstellung überschritten, die sich in den Dienst der Erzeugung des Eindrucks einer „naturalistischen“ bzw. „realistischen“ Wiedergabe von zeitgenössischen Personen, Orten und Handlungen 16

Riccardo Filangieri: Una cronaca napoletana figurata del Quattrocento, Neapel 1956, S. 135; Helas: Lebende Bilder (wie Anm. 12), Abb. 16.

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stellt. Es handelt sich um Strategien, die das „Leben“ näher an die „Kunst“ holen, die mit der „Augentäuschung“ des Betrachters arbeiten, die den Bildträger als eine durchlässige, zum Betrachter hin offene Fläche begreifen, ihn in das Geschehen durch vermittelnde Figuren hineinziehen, ihm im Porträtierten den abwesenden Freund oder die Geliebte nah bringen. Hier beginnt auch die Metaphorik der Lebendigkeit des Kunstwerkes, welche die Beurteilung von künstlerischer Qualität in der Renaissance, vor allen in den Künstlerbiographien von Giorgio Vasari, dominieren wird.17 Damit wird wiederum eine Natur des Artifiziellen definiert, ein Diskurs der Kunst, des ästhetischen Genusses und der Wahrnehmung von Bildern als Kunstwerken eröffnet, die diese Strategien als Leistungen einer anderen Berührung ausweisen, jener der Künstlerhand.18 Die lebenden Bilder sind hier ein Medium, das sich an einer Schaltstelle dieser Diskurse zwischen Leben und Kunst befindet. Im Folgenden sollen einige Fallbeispiele vorgestellt werden, bei denen haptische Momente eine besondere Rolle spielen.

Bei m Sc hopfe pac ken 14 4 3 Neap el, E i n z ug von A l fonso d’A ragona Als Alfonso d’Aragona 1443 als Eroberer in Neapel einzog, war es insbesondere die Florentinische Kaufmannskolonie, die sich durch aufwendige Darbietungen hervortat. Die Florentiner, die dabei auf die reiche Festkultur ihrer Heimatstadt zurückgreifen konnten, traten mit mehreren lebenden Bildern in Erscheinung, die in ikonographischer und technischer Hinsicht innovativer und in ihrer politischen Repräsentation komplexer waren, als alles bis zu diesem Zeitpunkt Überlieferte.19 Diese lebenden Bilder wurden etwa zwanzig Jahre später zum 17

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Vgl. David Freedberg: The Power of Images. Studies in the History and the Theory of Response, Chicago 1989; Frank Fehrenbach: Lebendigkeit, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart/ Weimar 2003, S. 222–227; ders.: Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik lebendiger Bilder, in: ders./Anja Zimmermann (Hg.): Animationen, Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, Berlin 2005, S. 1–40. So beispielsweise Polidoro da Caravaggio „der mit seinen Händen die gemalten Figuren lebendig erscheinen läßt“. Giorgio Vasari: Die Künstler der Raffael-Werkstatt, neu übers. v. Victoria Lorini u. Sabine Feser, hg., eingel. u. komm. v. Sabine Feser (u. a.), Berlin 2007, S. 79. Vgl. Hanno Walter Kruft/Magne Malmanger: Der Triumphbogen Alfonsos in Neapel. Das Monument und seine politische Bedeutung, in: Acta ad Archaeologiam et Artium Historiam Pertinentia, Institutum Romanum Norvegiae 6 (1975), S. 213–305; Helas: Lebende Bilder (wie Anm. 12), S. 61–88 sowie dies.: Der Triumph von Alfonso d’Aragona 1443 in Neapel. Zu den Darstellungen herrscherlicher Einzüge zwischen Mittelalter und Renaissance, in: Peter Johanek/Angelika Lampen

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Bildgegenstand eines florentinischen Cassone, der den Einzug aus der entsprechenden Perspektive schildert. Aufgetreten waren die sieben Kardinaltugenden, von denen der Cassone nur Justitia mit dem Thron für den gerechten Herrscher verewigt, der antike Imperator Caesar auf einer sich drehenden Erdkugel und eine für die Renaissance signifikante Personifikation: Fortuna-Occasio (Bild 5). Der neapolitanische Hofhumanist Antonio Panormita nennt sie in seinem Bericht über den Einzug lediglich Fortuna, beschreibt sie aber folgendermaßen: „[…] die Locken fielen ihr lang ins Gesicht, das Hinterhaupt wiederum war kahl und unter ihren Füßen war eine ungeheuer große goldene Kugel […].“20 Diese Frisur charakterisiert seit der Antike die Occasio, die flüchtige Gelegenheit, wie sie Ausonius in Form einer Statue des Phidias besingt: „[…] ‚Du bedeckst dein Gesicht mit deinen Haaren.‘ – ,Ich will nicht erkannt werden.‘ – ‚Aber warum bist Du kahl am Hinterkopf?‘ – ,Damit man mich nicht am Schopf packen kann, wenn ich fliehe.‘[…].“21 Der Schopf ist also Tarnung und Angriffspunkt der Personifikation zugleich. In den Versen, mit denen Caesar in Neapel auftritt, wird der Schopf zu einem Angebot umformuliert und Fortuna und Occasio zu einer Person verschmolzen, denn dort heißt es, Alfonso solle sich nicht auf Fortuna, die ihm „den Schopf reicht“ verlassen.22 Das lebende Bild fordert den Herrscher damit zum „Zupacken“ auf und doch entzieht es sich einem solchen Angriff, wie es der Natur der Fortuna-Occasio entspricht, denn die Personifikation ist auf einem hoch aufragenden Gerüst installiert und befindet sich in Bewegung: Sie wird von unter dem Gerüst verborgenen Trägern getragen, mit eben jener überraschenden Dynamik, die der „flüchtigen Gelegenheit“ eignet. In literarischer Form wird der Gestus ein Jahr nach dem Triumphzug durch Enea Silvio Piccolomini in seinem Somnium de fortuna ausformuliert. Der Autor findet sich im Reich der Göttin Fortuna wieder, wo sich Alfonso d’Aragona einer Fortuna genannten, aber implizit mit den Eigenschaften der Occasio ausgestatteten Personifikation nähert, sie am Schopfe packt und sie mit den Worten „sive velis sive nolis“ zwingt, sich ihm zu unterwerfen.23 Hatte das lebende

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(Hg.): Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt, Köln/Weimar/ Wien 2009, S. 133–228. „[…] capillis a fronprotensis, occipite autem calvo, sub cuius pedibus erat ingens aurea pila […]“. Antonio Beccadelli: Alfonsis Regis Triumphus, in: Antonii Panormitae de dictis et factis Alphonsi regis aragonum, Basel 1538, S. 229; vgl. Helas: Lebende Bilder (wie Anm. 12), S. 72, 78–86; dies.: Fortuna-Occasio (wie Anm. 13), S. 101. Zitiert nach Ernst H. Gombrich: Das symbolische Bild. Zur Kunst der Renaissance II, Stuttgart 1986, S. 162. „[…] la ventura che ti porge il crino […]“, Helas: Lebende Bilder (wie Anm. 12), S. 72, 78–86; dies.: Fortuna-Occasio (wie Anm. 11), S. 101. Aeneas Sylvius Piccolomini: Brief an Prokop von Rabenstein, in: Opera omnia, Basilea 1538 (Reprint Frankfurt 1967), S. 611; vgl. Helas: Lebende Bilder (wie Anm. 12), S. 83–84; dies.: Fortuna-Occasio (wie Anm. 13), S. 106.

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Bild 5 Fortuna-Occasio, Detail eines Cassone-Bildes mit der Darstellung des Einzuges von Alfonso d’Aragona 1443 in Neapel, Privatbesitz.

Bild noch mit der potentiellen Ergreifbarkeit des Schopfes gespielt, so wird der Gewaltakt hier ausformuliert. In der Folge ist diese Form der Bezwingung vielfach in den Bildkünsten im Dienste der Glorifizierung von Herrschern und Kriegshelden anzutreffen.24 Dass diese Metaphorik einen realen Hintergrund hatte, zeigt die Überschneidung mit Bildformularen, die Gewalt gegen Frauen zeigen.25 Der Schopf der Fortuna-Occasio im Triumph von 1443 war auf den 24 25

Vgl. Helas: Lebende Bilder (wie Anm. 12), S. 79f.; dies.: Fortuna-Occasio (wie Anm. 13), S. 114–116. Siehe die Darstellung der Eroberung einer Stadt mit Übergriffen auf die Zivilbevölkerung in der Bibel von Borso d’Este, Biblioteca Estense Modena, Ms. lat. 422– 423, Bd. 1, Fol. 148r. (Faksimile: La Bibbia di Borso d’Este, hg. v. Silvia Panini, Modena 1996–1997).

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einziehenden Herrscher als dem „ersten“ Betrachter bezogen, bot sich aber potentiell jedem Zuschauer des Einzuges dar. Doch angesichts der neuartigen Ikonographie waren wohl die wenigsten in der Lage, das lebende Bild zu interpretieren und den concetto zumindest gedanklich zu vollenden.26

Ü b erg r i f f 145 4 Floren z, Prozession z u m Fest des St adt pat rons Sa n Giova n n i In Florenz waren die Festlichkeiten zu Ehren des Stadtpatrons San Giovanni Battista Anlass eines Umzuges der sogenannten edifici, Bühnenwagen, die von Bruderschaften und Orden mit je einer Szene ausstattetet wurden. Diese zogen durch die Stadt, um vor der Signoria kurz das von ihnen Dargestellte zu spielen. Die lebenden Bilder, die sich teils zu Fuß oder Pferd bewegten, teils auf den mobilen Bühnenwagen postiert waren, erwachten so an einem bestimmten Punkt zum Leben.27 Eine Beschreibung, die der Humanist Matteo Palmieri im Jahr 1454 verfasste, dokumentiert die Szenen der Heilsgeschichte, die dabei zur Aufführung kamen, darunter den Auftritt des Kaisers Augustus (Oktavian), dem die Tiburtinische Sybille das Kommen Christi prophezeite.28 Als der edificio des templum pacis vor der Signoria anhielt, um die Weissagung aufzuführen, kam es zu einem Zwischenfall.29 Augustus war vom Pferd abgestiegen und hatte 26 27

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Ein Beobachter erkannte nur einen „Engel“, ein anderer konnte sich das „Mädchen mit zerzaustem Haar“ erklären lassen. Helas: Lebende Bilder (wie Anm. 12), S. 79f.; dies.: Fortuna-Occasio (wie Anm. 13), S. 104. Die Konstruktion der edifici darf man sich wohl ähnlich vorstellen, wie beispielsweise der Triumph der Fama auf einem Cassone dargestellt wurde, oder wie es eine Zeichnung der Chronik eines florentinischen Goldschmiedes für den Raub der Proserpina zeigt. Helas: Lebende Bilder (wie Anm. 12), Abb. 62 u. 14. Matthei Palmeri: Liber de temporibus (AA. 1-1448), hg. v. Gino Scaramella, Città di Castello 1906 [erschienen 1915], Rerum italicarum scriptores 26, 1, S. 172f. Zur Überlieferung der Weissagung der Sybille, die unter anderem durch die Mirabilia Urbis Romae und die Legenda Aurea Verbreitung fand, vgl. Wolfgang Augustyn: Zur Bildüberlieferung der Sibyllen in Italien zwischen 1450 und 1550, in: Klaus Bergdolt/Walther Ludwig (Hg.): Zukunftsvoraussagen in der Renaissance, Wiesbaden 2005, S. 365–435, bes. S. 386–393. In Florenz griff sie Antoninus Pierozzi in seiner zwischen 1450 und 1459 verfassten Chronik auf, ebd., S. 388. „[…] […] Optaviano inperadore con molta cavalleria e colla Sibilla, per far rapresentazione, quando la Sibilla gli predisse dovea nascere Xristo e monstrògli la Vergine in aria con Xristo in braccio. Templum pacis coll’edificio della natività per fare la sua rappresentazione. E avenne che, essendo l’edificio inanzi a Signori e scavalcato Ottaviano e salito in su l’edificio sotto, overo nel tempio, per cominciare la sua rapresentazione, sopragiunse un Tedesco pazo, che avea solo indosso una camicia molle, e a piè dell’edificio

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eben den auf dem edificio errichteten Tempel betreten, als sich ein Deutscher dem Wagen näherte und fragte: „Wo ist der König von Aragon?“ Als einer ihn auf Augustus verwies, erstieg er die Plattform, zerschmetterte zuerst die Kultstatue des Tempels und stürzte dann den Darsteller des Kaisers vom Wagen. Als er schließlich begann, eine Säule zu erklimmen, um zu den auf dem Tempel als „Engel“ installierten Knaben zu gelangen, erkannten die Umstehenden, dass dies nicht Teil der Darbietung war und er wurde gewaltsam an weiteren Aggressionen gehindert. Der Deutsche griff offenbar an, weil er den antiken Kaiser mit Alfonso d’Aragona identifizierte. In der Tat hatte Florenz ein schwieriges Verhältnis zu dem Eroberer Neapels – doch handelte der „verrückte“ Deutsche hier also als Florentiner Patriot? Ging er davon aus, Alfonso d’Aragona hielte nun Einzug in Florenz? Der Chronist charakterisiert ihn als „verrückt und mit einem schäbigen Hemd bekleidet“, als einen Außenseiter also. Der „Fremde“ steht aber auch dafür ein, welche starken Emotionen die florentinische Inszenierungskunst auslösen konnte. Palmieri spricht damit zugleich ein Problem an, dass den lebenden Bildern bzw. semidramatischen Inszenierungen innewohnt: Die Differenzierung zwischen Spiel und Realität, zwischen zwei Repräsentationsebenen, die visuell nah bei einander liegen können: Auf der einen Seite der Herrscher, der gleichsam als „Bild“, als Ikone seiner selbst inszeniert wird oder sich inszeniert wie Alfonso d’Aragona bei seinem Triumphzug in Neapel.30 Auf der anderen Seite stehen die lebenden Bilder, die Herrscher oder Autoritätspersonen verkörpern, was in der Regel in Italien nicht geschah, sofern diese selbst anwesend waren. Hier wurde zwischen den Realitätsebenen der Darsteller und der Würdenträger klar unterschieden, selten fand eine Interaktion zwischen

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domando: Dov’è el Re di Raona? Fu chi rispose: Vedilo quivi, e mostrogli Ottaviano. Lui salì sull’edificio, multi credeano fusse di quegli avea a intervenire alla festa, e però non fu impedito. Lui prima prese l’idolo era in dicto tempio e scagliollo in piaza, e rivolto a Ottaviano, ch’era vestito d’un velluto paonazzo broccato d’oro, ricchissimo vestire, el prese et fello capolevare sopra’l popolo in piaza, et poi s’appiccò supra una colonna del tempio per salire a certi fanciulli soprastavano dicto tempio in forma d’agnoletti, et, qui sendo, sopragiunsono circustanti con maze aveano in mano e precotendolo gravissimamente con dificultà lo volsono a terra, donde rittosi e ingegnandosi risalire, percosso da molte mazate di sotto e di sopra fu vincto.“ Palmieri: Liber de temporibus (wie Anm. 28), S. 173. Florenz als Republik hatte zwar kein solches personenbezogenes Zeremoniell, aber es empfing auswärtige Herrscher: zwei Jahre zuvor im Februar 1452 war beispielsweise der deutsche Kaiser Friedrich III. in Florenz eingezogen. Die Inszenierung von Alfonso als triumphierendem Herrscher wurde in unterschiedlichen bildlichen Medien elaboriert, vgl. Helas: Der Triumph (wie Anm. 19), zu Friedrich III., S. 190–192.

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diesen statt, die Repräsentationsebenen blieben getrennt.31 Der Deutsche in Florenz griff nicht nur den Herrscher an, er wandte sich auch gegen das Idol, das auf dem Boden zerschellte und mithin aus Ton oder ähnlichem Material gewesen sein dürfte, sowie gegen die „Engelchen“, die als „Bauskulptur“ eingesetzten Knaben. Sein haptischer Übergriff scheint sich so gegen jede Form von körperlicher Repräsentation zu richten.

Blut u nd Sc hwei ß 14 62 Viterb o, Cor pus-Dom i n i-Prozession Die neue Dimension der Festgestaltung, charakterisiert durch die Antikenrezeption aber auch durch den elaborierten Einsatz von semidramatischen Elementen wie lebenden Bildern, erreichte in der zweiten Hälfte des Quattrocento auch Rom bzw. Papst und Kurie. Unter Pius II. fanden dabei zwei bedeutende Ereignisse statt: Die Ankunft des Hauptes des Apostels Andreas 1460 in Rom wurde von aufwendigen Festlichkeiten begleitet, die dann zwei Jahre später von einer Corpus-Domini-Prozession im nahe gelegenen Viterbo, das als Residenz der Päpste diente, übertroffen wurden.32 Der Prozessionsweg war dort in Abschnitte aufgeteilt, deren Ausstattung die Zünfte, die Kardinäle und andere geistliche Würdenträger übernommen hatten. Es gab Stationen mit lebenden Bildern, die teilweise „Verse“ sangen und Aufführungen von einzelnen Szenen. Die erste Station zeigte einen Altar, auf dem ein nackter junger Mann, flankiert von zwei Engeln, postiert war.33 In der Hand trug er eine Standarte, und das aus seiner Seitenwunde entspringende Blut füllte einen Kelch. Das Sujet assoziiert das Gemälde Das Blut des Erlösers von Giovanni Bellini, das etwa zum selben Zeitpunkt entstand und dessen Auftraggeber, Bestimmungsort und Funktion nicht 31 32

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Helas: Lebende Bilder (wie Anm. 12), S. 139–177. Neben dem Bericht des Papstes gibt der Stadtchronist Nicola della Tuccia Auskunft über die Prozession. Vgl. Enea Silvio Piccolomini, Papa Pio II: I commentarii, hg. v. Luigi Totaro, Bd. 2, Mailand 2008, S. 1595–1615 und Cronica di Anzillotto viterbese dall‘anno MCLXIX all’anno MCCLV. Continuata da Nicola di Nicola di Bartolomeo della Tuccia sino all’anno MCCCCLXXIII, hg. v. Francesco Cristofori, Roma 1890. (Nachdruck hg. v. Franco Turchetti o. J.), S. 134–138. Vgl. Helas: Lebende Bilder (wie Anm. 12), S. 39–41. „[…] et gionto ad Santo Lucha: poi aduiato gionse ad pie’ la detta Strada, oue trouò l’Altare già detto, et iui era uno giouene tutto ignudo ornato come quando Christo resuscitò colla bandiera in mano, e pariua spargesse lo sangue de lo suo costato, et cantò certi uersi appartinenti alla fede nostra; et due fanciulli, figlioli de uno nostro Ceptadino chiamato Ser Rosato, uestiti a modo de Agnili ogniuno da per sì, cantorno certi uersi ad commendatione del Papa; et sopra quello Altare erano altri giouani belli, uestiti come Agneli coll’ala d’oro. El Papa si restò ad sentire decti canti […].“ So der Chronist della Tuccia, siehe Cronica di Anzillotto (wie Anm. 32), S. 137.

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Bild 6

Vittore Carpaccio, Das Blut des Erlösers, 1496, Udine, Pinacoteca.

geklärt sind.34 1496 griff Carpaccio das Thema in einem Gemälde für die Kirche San Pietro Martire in Udine auf, und stellte es in einem Modus dar, wie man sich wohl die Inszenierung eines lebenden Bildes vorstellen kann (Bild 6).35 Das Gemälde ist ebenso wie die Darstellung in Viterbo wahrscheinlich im Kontext der Diskussion um das Blut Christi zu sehen. Im Jahr 1459 war der erkrankte Papst Pius II. nach Anrufung der Mantuaner Blutreliquie gesundet, worauf sich

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Mauro Lucco/Giovanni Carlo Federico Villa (Hg.): Giovanni Bellini, Cinisello Balsamo 2008, S. 152–154. Der Entstehungszeitpunkt wird zwischen 1460 und 1464 angenommen. Zu dem Gemälde vgl. Vittorio Sgarbi: Carpaccio, Mailand 1994, S. 104–105. Vergleichbar ist auch ein Holzschnitt, der den blutspendenden Christus allerdings ohne Assistenzfiguren zeigt. Stefan A. Horsthemke: Das Bild im Bild in der italienischen Malerei. Zur Darstellung religiöser Gemälde in der Renaissance, Glienicke (Berlin) 1996, S. 97, Abb. 55.

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insbesondere zwischen Franziskanern und Dominikanern die Diskussion um die Blutreliquien entspann, deren Existenz 1464 von Pius II. mit einer Bulle bestätigt wurde.36 Das lebende Bild war aber zugleich auf das Corpus-Domini-Fest bezogen, visualisierte die Eucharistie und evozierte die Gregorsmesse, die als erstes eucharistisches Wunder galt.37 Auf dem Altar in Viterbo hatte der Erlöser, welcher Gregor I. bei der Elevation der Hostie als Vision erschienen war, die Gestalt aus Fleisch und Blut angenommen.38 Pius II., der mit der Hostie in der Hand die Prozession anführte und die Station aufsuchte, nahm so den Platz Gregors I. ein und vervollständigte die Inszenierung.39 In der Verlebendigung Christi liegt eine physische, gleichsam haptisch erfahrbare Konkretisierung des sich im Sakrament vergegenwärtigenden Wunders.40 Das lebende Bild in Viterbo könnte als Anregung für einen Stich gedient haben, den Baccio Baldini im selben Zeitraum schuf und der eines der seltenen Beispiele für die Darstellung des Themas in Italien in dieser Zeit ist.41 Er zeigt 36 37

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Marita Horster: Mantuae sanguis preciosus, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 25 (1963), S. 151–180, hier S. 163f. Zur Gregorsmesse vgl. zuletzt Christian Hecht: Von der Imago Pietatis zur Gregorsmesse. Ikonographie der Eucharistie vom hohen Mittelalter bis zur Epoche des Humanismus, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 36 (2005), S. 9–44; Esther Meier: Die Gregorsmesse. Funktionen eines spätmittelalterlichen Bildtypus, Köln u.a. 2006, die jedoch nicht auf italienische Exemplare eingeht, sondern nur das Fehlen entsprechender Untersuchungen vermerkt (S. 12) sowie Andreas Gormans/Thomas Lentes (Hg.): Das Bild der Erscheinung. Die Gregorsmesse im Mittelalter, Berlin 2007, wo Italien ebenfalls ausgeklammert bleibt. „Qua Pontificis ornamenta desivere, Rothomagensis inceperunt et Constantiensis et Lebretei cardinalium, qui suae gentis more pannis quos vocant Atrebatenses obduxere parietes, et altaria argento et auro ditia construxerunt et multo thure cumularunt. Post eos referendarii suas domos apparavere, imaginem Salvatoris sub altari, quod in sublimi locaverant, iuvenem quaemdam qui emularetur sudaretque sanguinem et aperto latere saluberrimo cruore impleret calicem, imposuerunt et pueros quasi angelos addidere alatos qui versus heroicos canerent, aut elegiacos a doctis ingeniis editos.“ Piccolomini: I commentarii (wie Anm. 32), Bd. 1, S. 1598. Der Chronist Nicola della Tuccia erkannte lediglich einen „nackten Jüngling geschmückt wie der auferstandene Christus“, ohne den Bezug zur Gregorsmesse herzustellen. Siehe Anm. 31. Die Wahl des Gegenstandes, in bildlichen Darstellungen im späten 15. und 16. Jahrhundert hauptsächlich in Deutschland, den Niederlanden und Frankreich verbreitet, könnte sich durch die Herkunft seiner französischen Initiatoren, der Kardinäle Guillaume D’Estouteville von Rouen, Olivier di Longueie von Cahors und Luigi d’Albret erklären, vgl. Anm. 38. Vgl. Arthur M. Hind: Early Italian Engraving. A Critical Catalogue with Complete Reproduction of all the Prints Described, London 1938, A.I.44, Bd. I, S. 42–43, der ihn zwischen 1460–1470 datiert und als einzigen solchen italienischen Stich des 15. Jahrhunderts bezeichnet, sowie Horsthemke: Das Bild im Bild (wie Anm. 35), S. 96f.

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den aufrecht stehenden Christus auf dem Altar, vor dem der Papst in Begleitung weiterer Kleriker kniet. Im Gegensatz zu zeitgleichen Darstellungen im Norden, bei denen sich Christi Blut aus Wundmalen und Seitenwunde in den Kelch zu seinen Füssen ergießt, ist es hier nur ein Blutstrahl aus der Seitenwunde, der gezielt den Kelch füllt.42 Der päpstliche Zug selbst enthielt ein spektakuläres lebendes Bild, das einzige, das nicht fest installiert war, sondern mitgeführt wurde: einen kreuztragenden Heiland, der sich bis auf ein Lendentuch nackt, dornengekrönt und „bemalt, als ob er Blut schwitze“ den Augen der Zuschauer darbot. Er wurde auf einem Wagen bis zur Kathedrale gefahren und stand dort während der Messe und der darauf folgenden Darstellung der Verkündigung „unbeweglich wie eine Statue“.43 Der Vergleich mit einer Skulptur verweist auf die Nähe zu den lebensgroßen Kreuzabnahme- und Beweinungsgruppen, welche in semidramatische Erweiterungen der Liturgie einbezogen werden konnten. Allerdings war in solchen nicht der kreuztragende Heiland dargestellt. Ebenso wenig ist die isolierte Figur des Kreuztragenden ein Thema der Malerei, hier findet er sich in der Regel nur innerhalb der Narratio des Passionsgeschehens. Eine Ausnahme ist ein kleines Tafelbild von Barna da Siena, das um 1330–1350 datiert wird.44 Hinsichtlich des lebenden Bildes in Viterbo ist darüberhinaus zu bemerken, dass Christus – in Abweichung zu solchen möglichen gemalten Vorbildern – bis auf einen Lendenschurz nackt präsentiert wurde. Damit wird in einer für die lebenden Bilder eher ungewöhnlichen Weise der menschliche Körper als solcher zum Objekt gemacht. Die Frage ist, inwiefern hier nicht eine dem eucharistischen Christus vergleichbare Figur zu sehen war – eher kreuzweisend als kreuztra-

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Diese Übereinstimmung und zeitliche Nähe zur Prozession in Viterbo lässt einen Zusammenhang unterstellen, zumal das Thema auch in der Folge in Italien nur selten auftritt. Wenige Beispiele aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts siehe bei Horsthemke: Das Bild im Bild (wie Anm. 35), S. 97–102, Abb. 55–58. Den Charakter einer Aufführung zeigt dabei ein Gemälde von Andrea di Niccolò (Abb. 57). In Viterbo schloss direkt an die Gregorsmesse eine weitere auf die Eucharistie bezogene Darstellung an. Der Kardinal von San Sisto hatte Christus mit seinen Jüngern beim Abendmahl und damit die „Einführung des Sakramentes“ darstellen lassen. Darüber hinaus sah man Thomas von Aquin, der nach der traditionellen Auffassung den liturgischen Ordo des Corpus Domini-Festes verfasst hatte. Piccolomini: I commentarii (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 1598. „Atque ita solemnitati finis impositus, in qua illud miraculi praecipuum fuit quod aulici Pontificis paravere: homo Christum exprimens, pudibunda tectus, cetera nudus, coronam spineam in capite gerens et tanquam sudaret sanguinem pictus, crucem baiulans in qua pependisse videretur, ab ecclesia Sancti Francisci usque ad maiorem, curru vectus in pompa, cum missa celebraretur, et assumptio repraesentaretur matris Domini, immobilis, et quasi statua perseveravit.“ Ebd., S. 1608–1610. Barna da Siena, Kreuztragender Christus mit Dominikanermönch, 1330–1350, New York, Frick Collection.

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gend.45 In beiden Fällen – mit dem eucharistischen blutspendenden Christus auf dem Altar und dem blutschwitzenden Kreuztragenden – wird die quasi skulpturale Erscheinung des lebenden Bildes durch die Transgression der Körpersäfte durchbrochen. Die Durchlässigkeit der Haut und der scheinbare Austritt des Blutes lassen das lebende Bild gleichsam seine Hülle durchdringen und in die Betrachterwirklichkeit einwirken – vergleichbar den nur wenig später das Thema neufassenden Gemälden und Skulpturen, die das nahansichtige Antlitz des leidenden Christus mit Tränen- und Bluttropfen zeigen.46 Bei den Christusdarstellungen in Viterbo ging es um eine Visualisierung des Mysteriums der Transsubstantiation, es ging aber auch in einem allgemeineren Sinne um eine Verkörperung von Heilsgewissheit. Der Verlebendigung des Religiösen wohnt eine spezifische Kraft inne, insofern sie das „Unbegreifliche“ scheinbar „begreifbar“ macht, in das hier und jetzt des Gläubigen versetzt. Bis heute werden zahlreiche Prozessionen in Italien auf diese Weise belebt, wie die hochverehrte Incoronata aus Foggia. Dabei geht es nicht darum, dass die Betrachter „getäuscht“ würden, sondern vielmehr findet eine haptische Aneignung von Heilsgeschehen und Wundern von der Vorbereitung durch die Konfraternitäten bis über die Präsentation selbst statt.47 Bei dieser Art lebender Bilder greift zugleich ein anderer Mechanismus der haptischen Erfahrung, der im „Mitleiden“ besteht, der eine physische Erfahrung mit einem religiösen Gefühl verschränkt, und zwar für Darsteller und Zuschauer gleichermaßen. Im Jahr 1448 stellte ein Barbier namens Lorenzo Eliseo de Cristofano während der Karfreitagspredigt von Roberto da Lecce in Perugia den leidenden Christus dar „mit dem Kreuz auf den Schultern, mit der Dornenkrone auf dem Haupt, und sein Fleisch schien geschlagen und gepeitscht, so wie das des geschlagenen Christus“. Obgleich er dabei keinen physischen Schmerz erleiden mußte, wirkte sich diese Anverwandlung so stark auf ihn aus, dass er (zusammen mit fünf weiteren Männern) dem Franziskanerorden beizutreten beschloss – allerdings hielt in

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Vgl. das Gemälde von Niccolò di Liberatore da Foligno detto Alunno, Das Blut des Erlösers, um 1499. Zu diesem siehe Anna Tambini: Il sangue del Redentore, in: Pinacoteca Comunale di Ravenna. Museo d’Arte della Città. La collezione antica, hg. v. Nadia Ceroni, Ravenna 2001, S. 48, Kat.-Nr. 34, Abb. S. 131. Zu nennen wären hier Antonello da Messina, Leonardo, Giorgione und Tizian, die den Kreuztragenden, aus dem Passionsgeschehens gelöst, in Blickkontakt mit dem Betrachter setzen. Vgl. Pietro Marani: Leonardo e il Cristo portacroce, in: Jeanette Kohl/Rebecca Müller (Hg.): Ausst. Kat.: Leonardo & Venezia, hg. v. Paolo Parlavecchia, Mailand 1992, S. 344–357; Philine Helas: Ondulationen. Zur Christusbüste in Italien (ca. 1460–1525), in: Kopf / Bild. Die Büste in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 2007, S. 157–213, hier S. 174–182. Ein Photo der Madonna als lebendes Bild siehe in Claudio Grenzi (Hg.): In tabula. Colori e cultura del tavoliere di Puglia, Foggia 2008, S. 58f.

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seinem Fall die Anwandlung von Frömmigkeit nur drei oder vier Monate vor.48 Es handelt sich gewissermaßen um die Erfahrung am eigenen Leib durch Fiktion einer Verwandlung in ein Bild – dagegen wäre die Geisslerbewegung zu setzen, die als über den Schmerz erfahrenes haptisches Erleben der Passion ihre eigene Beziehung zu den Bildern hat.

E i n „v it a l isier tes“ Gemä lde 1496 Ma nt ua , D ie Ü b ergab e der M a d o n n a d ell a Vit to r i a von Ma nteg na Eine Inszenierung, bei der die mediale Differenz von Bild und lebendem Bild unmittelbar zusammenstießen, war die Überführung der von Mantegna im Auftrag von Francesco II. Gonzaga geschaffenen Madonna della Vittoria im Jahr 1496 in die für sie bestimmte Kapelle. Das Gemälde zeigt eine thronende Muttergottes, flankiert von den Heiligen Michael und Andreas auf der linken, dem Heiligen Longinus und Georg auf der rechten Seite. Michael und Georg heben den Mantel Mariens an, der so auf der linken Seite dem Auftraggeber und auf der rechten Seite dem Johannesknaben und der heiligen Elisabeth Schutz bietet (Bild 7).49 Das Gemälde wurde in einer feierlichen Prozession auf einem großen festlich geschmückten Gerüst ausgestellt und dabei gleichsam von lebenden Bildern gerahmt: „Über diesem Bild war ein Knabe als Gottvater gekleidet und zwei Propheten an jeder Ecke, an den Seiten drei Engelchen, die einige Lauden sangen und gegenüber waren die zwölf Apostel. Als es an der Zeit war, erhob man dieses Gerüst, das von 20 Trägern getragen wurde, und so brachte man dieses Bild in Prozession bis zu San Simone mit einer so großen Anzahl von Männern und Frauen, wie es nie in Mantua gesehen worden war.“50 48 49 50

Alessando d’Ancona: Origini del teatro italiano, 2 Bde., Bd. 1, Turin 1891 (Reprint 1971), S. 280f. Paris, Musée du Louvre; vgl. Ausst. Kat.: Mantegna, 1431–1506, hg. v. Giovanni Agosti/Dominique Thiébaut, Paris 2008, S. 304–306. Sigismondo Gonzaga an Francesco Gonzaga, am 6. Juli 1496; Paul Kristeller: Andrea Mantegna, Berlin 1902, Dok. 140, S. 561: „[…] Et cossi havemo ordinato una bella processione, la quale questa matina solemnemente cum tutte le regole de frati e preti s’è facta in questo modo: Tutti li religiosi si adunoreno a San Sebastiano cum la mazor parte del populo, dove era exaltata la Imagine di la gloriosa Verzene che ha fornita m. Andrea Mantinea suso uno tribunale grande adornato molto solemnemente, et sopra ad essa imagine gli era uno zovene vestito da Dio Patre et dui propheti da ogni canto, da li ladi tri anzoletti che cantavano certe laude et per contra gli erano li XII apostoli. Quando fue el tempo, se levò questo tribunale che era portato da XX fachini et cossì processionaliter se portò questa imagine fin a San Simone cum tanto numero de persone maschij e femine che mai non ne fu viste tante in Mantua. Quivi era aparechiato uno solemne altare suso il cantono de la

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Bild 7 Mantegna: Madonna della Vittoria, 1496, 280 × 166 cm, Tempera auf Leinwand, Louvre Paris.

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Die aufwendige Zeremonie sollte die Verehrung des Bildes anregen, wobei sich mit dem Ereignis verschiedene Interessen verbanden: Den Gonzaga ging es um das Andenken an eine Schlacht, die nicht einhellig als Sieg empfunden wurde, dem geistlichen Berater von Francesco Gonzaga hingegen bot sich die Gelegenheit, judenfeindliche Agitation ins Werk zu setzen.51 An dem Ort der neuen Kapelle hatte sich an einem Haus ein Muttergottesbild befunden, das der jüdische Inhaber mit Genehmigung des Bischofs hatte entfernen lassen. Dennoch wurde ihm bald zum Vorwurf gemacht, er habe das Bild zerstört und er wurde schließlich nicht nur aus seinem Haus vertrieben, sondern auch verurteilt, die Kosten des Gemäldes von Mantegna zu tragen.52 Das bereits populäre Bildthema der sacra conversazione wird von Mantegna selbst durch das Heranrücken des marmornen Sockels an die Grenze zwischen Bild- und Betrachterrealität „verlebendigt“. Die lebenden Darsteller doppeln nicht die im Bild Anwesenden, sondern ergänzen sie um Gottvater, Apostel und singende Engel. Leibhaftig anwesend unterstreichen diese hier die Lebendigkeit des Bildes selbst. Den synästhetischen Effekt musizierender Engel, setzte Mantegna selbst oft in seinen Bildern ein, hier gewinnt dieser malerische Kunstgriff eine akustische Dimension. Gottvater, Propheten und Apostel legitimieren gewissermaßen als zusätzliche, patriarchalische Autoritäten das Gemälde. Es ist kein weiterer Fall überliefert, das ein Kunstwerk auf diese Weise in Wechselwirkung zu lebendigen Darstellern gesetzt wurde. Im Falle der Madonna della Vittoria könnte man unterstellen, dass nicht nur der Kontext – die problematische Umdeutung eines Ortes in eine antijüdische sakrale Topographie – eine forcierte Vitalisierung des Marienbildes verlangte, sondern das Mantegna selbst mit seiner „haptischen“ Darstellungsweise dazu einlud, Lebendigkeitsgrade gegeneinander auszuspielen.

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nova Capella, dove celebrò una solemne messa m. Christhophoro Arrivabeno. Ma prima frate Petro da Caneto fece una bella oratione vulgare al populo […] Il doppo disnare essa imagine fu collocato al loco deputato, dove non stete tre hore che ge furono presentate alcune imagine de cera e doperi et altri voti, per il che credo che in breve tempo gli acrescerà grandissima devotione […]“. Vgl. Molly Bourne: Mantegna’s ‚Madonna della Vittoria‘ and the Rewriting of Gonzaga History, in: Jonathan K. Nelson/Richard J. Zeckhauser (Hg.): The Patron’s Payoff. Conspicuous Commissions in Italian Renaissance Art, Princeton, NJ u.a. 2008, S. 167–183. Kristeller: Andrea Mantegna (wie Anm. 50), S. 324–326; Dana E. Katz: Painting and the Politics of Persecution. Representing the Jew in fifteenth-century Mantua, in: Art history 23 (2000), S. 474–495.

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Gren zen der A n nä her u ng 1512 Floren z, I nszen ier u ng des goldenen Z eit a lter s Der Mythos von der Wiederkehr des goldenen Zeitalters hatte in der Selbstdarstellung der Medici schon im Quattrocento eine Rolle gespielt. Aus Anlass der Wahl Giovanni de‘ Medicis zum Papst wurde im September 1512 ein Festumzug aufgeführt, der dieses Argument aufgriff. Die von Jacopo Pontormo ausgestatteten Dekorationen überliefert Giorgio Vasari in der Vita des Künstlers. Einer der Wagen zeigte die Wiederauferstehung des Goldenen Zeitalters und das Ende des Eisernen in Gestalt eines Globus, auf dem ein Mann in rostiger Rüstung wie tot darniederlag, während aus seinem am Rücken geöffneten Panzer ein nackter und vergoldeter Knabe erstieg.53 Es handelte sich um eine ikonographische invenzione, die im Übrigen keine weiteren Darstellungen kennt – das goldene Zeitalter wird in der Regel als paradiesischer Zustand, wie beispielsweise von Pietro da Cortona um 1641–1646 in Florenz im Palazzo Pitti dargestellt. Im Jahr 1512 starb der Darsteller, der Sohn eines Bäckers, nach der Aufführung an den Folgen der Vergoldung. Die Verwandlung in ein Kunstwerk erweist sich im Extremfall als ein dem Leben Gegensätzliches, Unvereinbares, die haptische Erfahrung der Verwandlung in ein Kunstwerk wird mit dem Tode bezahlt.54 War der Tod des Bäckerknaben ein Unfall, der auf der Unkenntnis der Tatsache beruhte, dass auch die menschliche Haut als Atmungsorgan lebensnotwendig ist, so wohnt im Prinzip allen lebenden Bildern die Möglichkeit der Katastrophe inne: die oftmals recht aufwendigen technischen Vorrichtungen konnten versagen, die Zugtiere ausbrechen, die Engelchen abstürzen, und nicht zuletzt konnte auch das Wetter alle Anstrengungen zu Nichte machen. In vielen Fällen beruht der Reiz der lebenden Bilder gerade darauf, dass sie für Menschen Unmögliches zu tun scheinen: in den Himmel fahren und Herabsteigen aus dem Himmel, Fliegen, auf (Erd)

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„[…] nel mezzo del carro sorgeva una gran palla in forma d’appamondo, sopra il quale stava prostroto boccioni un uomo come morto, armato d’arme tutte rugginose; il quale avendo le schiene aperte e fesse, dalla fessura usciva un fanciullo tutto nudo e dorato, il quale rappresentava l’età dell’oro resurgente, e la fine di quella del ferro (…) non tacerò che il putto dorato il quale era ragazzo d’un fornaio, per lo disagio che patì per guadagnare dieci scudi; poco appreso se morì […]“. Vasari: Le Vite de’più eccelenti Pittori, Scultori ed Architettori, Bd. 4, hg. v. Gaetano Milanesi, Florenz 1878–1885, S. 254f. Anregung für Rebecca Horn Umanesimo, desumanesimo nell’ arte europea 1890/1980, Palazzo Frescobaldi, Florenz (Das Goldene Bad).

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LEBENDES BILD – HAPTISCHES BILD

Kugeln stehen etc. Die Aufhebung des menschlichen Bewegungs- und Lebensraums vollzieht sich in haptischen Dimensionen, und sie wird von einer großen Zahl von Mitwirkenden und Gestalteten gewusst und vorbereitet. Die Veranstalter, seien es Bruderschaften, Zünfte, Stadtviertel aber auch höfische oder städtische Gremien, arbeiteten gelegentlich über Wochen daran, Kostüme, Requisiten und technische Vorrichtungen herzustellen und die Darsteller zu instruieren. In das lebende Bild (sei es die einzelne Figur oder ein ganzer Apparat) gehen die haptischen Energien eines Kollektivs ein, das sich im Moment seiner Aufführung darin wiedererkennt und darüber identifiziert. Hierin liegt zweifellos der größte Unterschied zu den lebenden Bildern der Gegenwart, die von Einzelpersonen letztlich zum Zwecke des Gelderwerbs konzipiert und realisiert werden: der „Straßenkünstler“ als Individuum mit seinem mal größeren und mal geringerem künstlerischen Anspruch steht nur für sich selbst, ein haptisches Bespielen des Ereignisraums der Stadt kann, muss aber nicht Teil des Konzeptes sein.

Resü me e Welche also sind die spezifischen Eigenschaften der lebenden Bilder in Differenz zu anderen künstlerischen Medien? Die haptischen Qualitäten eines Gemäldes bemessen sich an dem Grad der Augentäuschung, die dargestellte Person scheint zu leben, das Fleisch zu atmen etc. Es lädt ein, berührt zu werden, doch im Moment der Berührung ist die Enttäuschung gewiss und darin liegt potentiell ästhetischer Genuss, die Enttäuschung wird Teil der Wertschätzung der künstlerischen Leistung, ja der Künstlerhand. Eine Skulptur kann ebenfalls mit den Kategorien des Haptischen spielen: der Marmor imitiert die Struktur von Haut und Muskeln, von Bewegung und pulsierenden Leben – die Finger von Berninis Pluto graben sich in den Schenkel der Proserpina. Wieder liegt der Moment der Enttäuschung – bereits vorbereitet durch die Farbigkeit des Steines – in der Berührung: statt des warmen Körper, kalter Stein, statt weichem Fleisch, harter Marmor etc. Bei Bernini wird dies marmorintern vorgespielt. Hier ist es die Differenz der haptischen Eindrücke, oder anders, das Auge „begreift“ die Materialität auch ohne Berührung, will aber getäuscht und enttäuscht werden. Die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio, die 1483 in einer Nische von Orsanmichele in Florenz aufgestellt wurde, spielt den Diskurs der Berührung, das Argument der Begegnung des ungläubigen Jüngers mit dem auferstandenen Gottessohn, in den Stadtraum hinein aus: Dem Betrachter erschließt sich im Vorbeigehen die Bewegung des Heiligen Thomas sukzessive, kurz vor ihrem Zielpunkt scheint sie festgestellt, der Fuß des Ungläubigen schiebt sich über die Begrenzung der Nische hinaus, bietet sich nur mit einer Sandale bekleidet in dynamischer Eleganz dem Be-

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trachter als haptischer Angriffspunkt an, dessen Impuls der Berührung sublimierend.55 Bei den lebenden Bildern ist dies invertiert: Die Qualitäten des Haptischen wohnen ihnen selbst inne, sie sind Fleisch und Blut, sie treten aber in die Position des Kunstwerks ein, das „Berührungsverbot“ verhindert hier eine Enttäuschung im umgekehrten Sinne. Die Attraktion der lebenden Bilder beruht also nicht darauf, dass sie unmittelbar haptisch zu erfahren wären, denn das würde den „Bildcharakter“ in Frage stellen. Die gewünschte Fiktion, einen leibhaftigen antiken Gott, christlichen Heiligen oder historischen Herrscher zu sehen, kann nur in der Distanz aufrecht erhalten werden – und doch besteht die Faszination gerade darin, dass die Darsteller denselben Erfahrungsraum, die gleiche Potentialität haptischer Erfahrung mit den Zuschauern teilen, vorher und nachher sind sie in das Netz sozialer Berührung eingebunden, das ihren Status als „Bild“ umklammert. Für den Moment, die Dauer der Prozession bzw. des Einzuges sind sie den Bewegungsabläufen des Lebendigen, der Zeit gleichsam enthobenen, auf Dauer gestellt, und dies ohne Verlust der Leiblichkeit. Wird für die Renaissance die Errichtung eines Regime des Blickes, konstruiert über die Zentralperspektive, postuliert, ein mathematisches Sehen, ein reiner Blick, so wäre dem u. a. zu entgegnen, dass gerade die lebenden Bilder, als ein Phänomen derselben Epoche, sich diesem Regime entziehen oder entgegenstellen. Sie entsprechen den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Theorien des Sehens, einem taktilen oder auch contagiösem Sehen:56 In den meisten Fällen sind sie mehransichtig, gelegentlich freistehend, vielfach ziehen sie an den Zuschauern vorbei. Selbst wenn ein Herrscher, wichtiger Gast oder die städtische Signoria als Adressat einer Inszenierung benannt wird, ist die Partizipation von größeren und sozial differierenden städtischen Kollektiven nicht ausgeschlossen, im Gegenteil sind solche oft wie im Übrigen auch die „Fremden“ als Zuschauer einkalkuliert. Hier wäre auch die Differenz zum Theater zu sehen, zur zentralperspektivischen Konzeption eines Bühnenraumes, wie er seit dem späten 15. Jahrhundert zu fassen ist und der einen idealen Betrachterstandpunkt – den des Herrschers und seines Hofes – vorgibt. Die ontologische Differenz zwischen Malerei, Skulptur und lebendem Bild liegt in den unterschiedlichen Konstruktionen eines Kontaktraumes. Und in diesem Punkt begegnen sich die lebenden Bilder der Renaissance mit jenen der Gegenwart. 55

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Vgl. Gerhard Wolf: ‚Nec tamen oculos habebat ille in digito‘: Annäherungen an das Christusbild Verrocchios, in: Herbert Beck/Maraike Bückling/Edgar Lein (Hg.): Die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio, Frankfurt/M. 1996, S. 143–161; Philine Helas: San Tommaso contro San Giovanni – Verrocchios „ungläubiger Thomas“ im Kontext zeitgenössischer Festkultur und mediceischer Politik, in: ebd., S. 163–174. Vgl. dazu Markus Rath: Albertis Tastauge. Neue Betrachtung eines Emblems visueller Theorie, in: kunsttexte.de, Nr. 1, 2009 (7 Seiten), unter: www.kunsttexte.de.

SUJET

Alessandro Nova

RO S S O F I OR E N T I N O S C H R I S T U S I N F O R M A P I E TAT I S Z W I S C H E N A N DAC H T U N D S C H Ö N H E I T 1

In den letzten Jahrzehnten hat die Geschichte des Körpers und der Sinne eine immense Erweiterung erfahren. Meine Analyse des von Rosso Fiorentino gemalten und heute in Boston aufbewahrten Toten Christus in forma Pietatis (Bild 1) hat jenen Forschungen viel zu verdanken: In der Folge werde ich immer wieder auf die taktilen Qualitäten des Bildes zu sprechen kommen, die es vermögen dem Betrachter eine emotionale Reaktion abzuringen. Meine Interpretation entwickelt sich deshalb entlang folgender Konzepte von Körperlichkeit – Tastsinn – Zeit bzw. Zeitpunkt und Einbindung des Betrachters. Das zwischen Ende 1526 und Anfang 1527 in Rom ausgeführte Bild Rossos konfrontiert uns mit einem fast unversehrten Körper von außergewöhnlicher christlicher Schönheit.2 Das Gesicht, welches von dem schulterlang herabfallenden Haar und einem dünnen Bart eingerahmt wird, den ein elegant gezwirbelter Schnauzbart ergänzt, ist bestimmt von einem verzückten Gesichtsausdruck: Die Kontraktionen an den Mundwinkeln entblößen tatsächlich einen Teil des Gebisses, auch wenn dieses Detail in einer Reproduktion kaum zu erkennen ist. Das verzückte Gesicht und der mit an der Oberfläche pulsierenden Gefäßen versetzte Körper – Einzelheiten, die dem Bild taktile Qualitäten von ungewöhnlicher Realitätsnähe verleihen – sind nicht von einander zu trennen. Rossos Werk ist in vielerlei Hinsicht einzigartig: Nicht nur vom ikonographischen Standpunkt aus, denn der von vier prächtigen Engeln umringte 1 2

Der Beitrag erschien zuerst in italienischer Sprache: Alessando Nova: Il Cristo in forma Pietatis del Rosso Fiorentino fra devozione e bellezza, in: Christoph L. Frommel/Gerhard Wolf (Hg.): L’immagine di Cristo, Rom 2006, S. 324–340. Die Bibliografie zum Werk Rossos hat sich beträchtlich erweitert. Die wichtigsten Beiträge sind in den folgenden Verweisen zusammengefasst. Für grundlegende Informationen zum Bild kann auf diese Monografie zurückgegriffen werden: David Franklin: Rosso in Italy. The Italian Career of Rosso Fiorentino, New Haven/London 1994, S. 139–148.

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Bild 1 Rosso Fiorentino: Christus in forma Pietatis, 133,5 × 104,1 cm, Museum of Fine Arts, Boston.

Christus ist just in dem Moment wiedergegeben, als er im Halbschatten des Grabes zu neuem Leben erwacht, sondern auch in Bezug auf eine viel weitergehende visuelle Kultur. Bis dahin hatte es außer Rosso kein anderer Künstler gewagt, den Körper Christi völlig nackt und in voller Lebensgröße zu malen. Das Altarbild misst in der Höhe einen Meter und dreiunddreißig Zentimeter, und käme die Figur zum Stehen, würde sie eine beeindruckende Größe erlangen.

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Wie konnte es aber dazu kommen? Die tiefe Religiosität des Bildes kann keinen Augenblick bezweifelt werden – und was sollte ein Christus „in forma pietatis“, der in der ersten Hälfte des Cinquecento in Rom gemalt wurde, anderes verkünden?3 Doch an dieser Stelle ist es nicht so sehr von Interesse, nach dem Was und dem Warum zu fragen, als vielmehr das Wie zu erkunden. Unter diesem Aspekt scheint es mir durchaus berechtigt, davon auszugehen, dass nur wenige Betrachter die Beklemmung zu unterdrücken vermöchten, die von dieser Darstellung ausgeht – ein Missbehagen, das zum Teil von den leicht geöffneten Lippen Christi und der Geste des jünglinghaften Engels herrührt, der mit dem Druck seiner Finger die Seitenwunde erneut öffnet. Selbstverständlich muss man zwischen unserer Wahrnehmung und jener frühneuzeitlichen unterscheiden, doch muss man sich dabei auch fragen, welche Kultur das Aufkommen eines so eigenartigen Andachtsbildes begünstigt haben könnte und ob das Gemälde seinerzeit auch eine solche Irritation auslöste – oder ob es diese Wirkung nur auf uns heutzutage hat. Mit diesem Unbehagen konfrontiert, können wir nichts anderes tun, als mit den herkömmlichen Mitteln des Fachs zu reagieren, das heißt die Texte und Kontexte zu erörtern, um eine erste gewiss oberflächliche Lektüre des Bildes zu korrigieren, und auf kulturelle Modelle zurückzugreifen, die seinerzeit akzeptiert waren. Angesichts des Unbehagens, das dieses Bild hervorruft, schützen wir uns also mit den Texten der Theologen und mit der Nachahmung der Antike. Wir werden uns nicht die Frage stellen, wie Rosso auf die Idee gekommen sein könnte, ein verzücktes Gesicht und einen schönen, pulsierenden und fühlbaren Körper darzustellen, sondern stattdessen die Frömmigkeit erforschen, die in diesem Bild ausgedrückt, widergespiegelt oder hervorgerufen wird. In der Vergangenheit wurde das Bostoner Bild auf unterschiedlichste Art kontextualisiert. Manche sahen darin einen Anklang an Savonarolas Trattato dell‘amore di Gesù Cristo.4 Einige einen sehr orthodoxen Ausdruck theatiner Frömmigkeit mit antilutherischen Konnotationen.5 Andere interpretierten Ros3

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Die Vollmacht vom 29. September 1527, ausgehändigt vom Maler an einen gewissen Lodovico Bruschi da Reggio, autorisiert diesen, die, aufgrund des Sacco (di Roma) in Rom hinterlassene Tafel wieder herzustellen, die von Rosso selbst beschrieben wird als: „unum quadrum lignaminis, ornatum picturis, et in quo inest picta figura domini nostri Iesu Christi in forma Pietatis“; siehe auch: David Franklin: New Documents for Rosso Fiorentino in Sansepolcro, in: Burlington Magazine 131 (1989), S. 817–827 u. insb. S. 822 u. 826f., Dokument 5. Carlo Falciani: Intorno alla committenza Appiani: l’„immaginazione“ della morte di Cristo nelle opere del Rosso Fiorentino, in: Roberto Paolo Ciardi/Antonio Natali (Hg.): Pontormo e Rosso. Atti del convegno di Empoli e Volterra. Progetto Appiani di Piombino, Venedig 1996, S. 272f. Philippe Costamagna: La création de l’ordre des Théatins et ses répercussions sur l’art de Rosso Fiorentino et de ses contemporains, in: Ciardi/Natali (Hg.): Pontormo

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sos Bild im Kontext der eucharistischen Theologie des Tommaso de Vio als Erwiderung auf die Anschuldigungen Zwinglis.6 Nicht weniger überzeugend sind die Argumente jener, die das Gemälde in das „spirituelle“ Ambiente um Vittoria Colonna stellen, wobei sie sich auf den folgenden Passus der Pianto della Marchesa di Pescara sopra la Passione di Cristo beziehen: „la bruttezza de la morte era non solo bella nel bellissimo volto ma la fierezza se convertí in dolcezza grande, la oscurità in chiara luce.“7 Und man könnte noch die Überlegungen O’Malleys anfügen, der sich im postscriptum von Steinbergs Buch über die Sexualität Christi fragte, ob die in der franziskanischen Frömmigkeit des Spätmittelalters beliebte und auch zu Beginn des Cinquecento noch aktuelle Redewendung Nudum sequi nudum Christum nicht zum Teil die allgegenwärtige „Man of Sorrows“-Ikonographie in der Renaissance rechtfertigen könnte.8 Zweifellos steckt in allen diesen Vorschlägen etwas Wahres oder Wahrscheinliches, doch bleiben einige der Thesen bestenfalls hypothetisch, solange wir nicht mit Sicherheit wissen, wer das Werk in Auftrag gegeben hat (wahrscheinlich Bischof Leonardo Tornabuoni, ab 1522 Bischof von San Sepolcro)9

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e Rosso (wie Anm. 4),, S. 157–163, welcher den „theatinischen“ Weg wieder aufnimmt und weiterentwickelt, wie er bei Hartt angelegt war: Frederick Hartt: Power and the Individual in Mannerist Art, in: The Renaissance and Mannerism. Studies in Western Art. Acts of Twentieth International Congress of the History of Art, II, New York, 7.–12. September 1961, Princeton 1963, S. 231. Regina Stefaniak: Replicating Mysteries of the Passion. Rosso’s Dead Christ with Angels, in: Renaissance Quarterly 45 (1992), S. 677–738. Alberto Mugnaini: Feritas, humanitas, divinitas nell’opera del Rosso. Il problema degli influssi religiosi, letterari e scientifici, in: Ciardi/Natali (Hg.): Pontormo e Rosso (wie Anm. 4), Venedig 1996, S. 133. John W. O’Malley, S. J.: Postscript, in: Leo Steinberg: The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion, New York 1983, S. 199–203 u. insb. S. 202. Als Auftraggeber des Werkes galt bislang Leonardo di Lorenzo Tornabuoni, obgleich in Vasaris Viten überliefert ist, dass ein toter Christus von zwei und nicht von vier Engeln gestützt wird: Giorgio Vasari: Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, 6 Bd., Bd. 4, hg. v. Rosanna Bettarini/Paola Barocchi, Florenz 1966–1987, S. 481. Weitere Indizien scheinen die Identität jenes Gemäldes zu bestätigen, welches von Vasari im römischen Haus des Monsignor Della Casa, dem Erbe Tornabuonis, oder einer seiner Nachfahren, gesehen worden ist, mit der heute in Boston befindlichen Tafel. Allerdings sind diese Indizien nicht ausreichend, um zu zeigen, dass das Gemälde, das heute in den Vereinigten Staaten ist, vom Bischof in Auftrag gegeben wurde, auch wenn dies die wahrscheinlichste Hypothese bleibt. Dennoch konnte bislang nicht geklärt werden, weshalb der Auftraggeber das Gemälde nicht mit sich in die Toskana gebracht hatte, wenn dieses tatsächlich für die Ausschmückung einer Kapelle vorgesehen war, die von ihm gegründet worden war. Der Auffassung von André Chastel: Il sacco di Roma, Torino 1983, S. 149, zufolge hielt sich der Bischof während der Plünderung in Rom auf. Wenn das Gemälde ihm gehört hätte, so hätte er es nach Sansepolcro mitnehmen können, als er die Stadt verließ. Warum tat er dies nicht? Das Gemälde hat moderate Ausmaße, aber in den chaotischen Tagen des Sacco konnte

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und welche genaue Funktion ihm ursprünglich zugedacht war, obwohl das Gemälde sicherlich als Altarbild geplant war. Angesichts der Fülle von Bezügen kommen einem die monita Leo Steinbergs in den Sinn, mit denen er sich gegen eine Tendenz der Interpretation wandte, die er selbst als „textism“ bezeichnete und der man einen ebenso diffusen „contextualism“ hinzufügen könnte. Darüber hinaus könnte man eine Passage aus John Shearmans Buch über die Wandteppiche in der Sixtinischen Kapelle zitieren: „The iconography of [Raphael’s] tapestries has no positive tendency that can be isolated as Augustinian, Dominican or Franciscan […].“10 Die grundlegenden Ideen waren vielmehr im Umlauf und gehörten zum Allgemeingut. Bezogen auf unser Problem ergibt sich daraus die folgende Frage: Könnte es nicht sein, dass Rosso Fiorentino von sich aus ein Werk geschaffen hat, das ungewollt ambivalent ist? An die Theologen geht die Aufgabe, die ungewöhnlichen Aspekte des Gemäldes zu deuten. Die Passionssymbole sind augenfällig: der Schwamm auf der Spitze der gebrochenen Lanze, die drei Nägel und der königliche Mantel, die ostentatio vulnerum, jenes Opferzeichen, das für unsere Errettung und für die Furcht vor dem Tod steht, und das, übertragen auf die Schönheit des nackten

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auch ein relativ kleines Objekt wie dieses sperrig sein. Es ist auch möglich, dass das Gemälde noch nicht fertig war. Dennoch ist nicht klar, warum der Bischof nicht versuchte, zurückzukehren oder nach dem Sacco wieder in den Besitz des Gemäldes zu gelangen. Wenn das Werk von Tornabuoni in Auftrag gegeben wurde, warum hätte Rosso nicht einfach seine Kontakte in Rom nutzen können? Warum jemanden Unbekannten beauftragen, um mit den Franziskaner-Nonnen von San Lorenzo in Panisperna zu verhandeln, wo der Künstler sein Gemälde aufbewahrt hielt. Wäre es nicht logischer gewesen, direkt den mächtigen Prälaten zu involvieren, dem das Gemälde ja auch theoretisch zustand? Wenn wir versuchen eine Antwort auf diese Fragen zu finden, so geht die Sicherheit, mit der der Bischof Tornabuoni als Auftraggeber des Christus „in forma pietatis“ benannt wird, verloren. Es scheint hingegen möglich zu sein, dass Rosso sich die Tafel nach Sansepolcro hat zuschicken lassen, weil er es an den Bischof hätte verkaufen können, auch weil die Ikonographie des Gemäldes sich in glücklicher Koinzidenz mit dem Titel seiner Diozöse befand. Wenn sich diese Überlegungen bewahrheiten sollten, so müsste nach einer möglichen Alternative zu Tornabuoni als Auftraggeber gesucht werden, einer Person, die möglicherweise im Sommer 1527 verstorben ist. Auch wenn keine unzweideutigen Beweise zur Stützung dieser Hypothese gefunden werden konnten, so lässt sich zumindest ein Kandidat benennen: Eubel zufolge wurde der Bischof von Lucera Domenico de’ Jacobacci, ein fähiger Rechtsgelehrter und Theologe, am 6. Juli 1517 zum Kardinal mit dem Titel von San Lorenzo in Panisperna gewählt; es ist wahr, dass Jacobacci wenige Tage später auf einen anderen Posten versetzt wurde, aber Charles Berton: Dictionnaire des Cardinaux, Paris 1857, col. 1099, teilt uns mit, dass Jacobacci am 2. Juli 1527 starb. Zu einer Biografie des Kardinals, einem der Protagonisten des 5. Lateranischen Konzils, siehe Josef Klotzner: Kardinal Dominicus Jacobazzi und sein Konzilswerk, Rom 1948. John Shearman: Raphael’s Cartoons in the Collection of Her Majesty the Queen and the Tapestries for the Sistine Chapel, London 1972, S. 90.

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Körpers des Heilands, zu einem Versprechen der Erlösung wird. Doch bilden die greifbare Realität dieses nackten Körpers und das verzückte Antlitz eigentlich das aufsehenerregendste Motiv des Bildes, das häufig zu sehr an den Rand des ikonographisch-theologischen Diskurses gerückt wird. Zweifellos tauchen in den Analysen der Tafel die sinnlichen, erotischen und sogar androgynen Aspekte immer wieder auf, doch hat nur Regina Stefaniak auf die laszive Natur der Darstellung, die geradezu anrüchige Pose und den außerordentlichen erotischen Einschlag des Bildes hingewiesen, ganz zu schweigen von den „phallischen Symbolen“ und der mutmaßlich weiblichen Natur des auferstanden Christus.11 Ich bin nicht davon überzeugt, dass diese Begriffe dazu geeignet sind, die Ambivalenz des Bildes zu erklären, doch haben sie dankenswerterweise ans Licht gebracht, was andere verschwiegen oder nur verlegen angedeutet haben. Stefaniak irrt, doch hat sie den Finger in die Wunde gelegt. Ich schlage deshalb vor, zwei Richtungen weiter zu verfolgen. Erstens: Auch wenn der Begriff Engelpietà eine Erfindung der Kunstgeschichte ist und Rossos Bild eine ikonographische Besonderheit darstellt, kann es hilfreich sein, das Gemälde ähnlichen Bildern gegenüberzustellen, um seine taktilen Qualitäten hervorzuheben und letztlich nachzuvollziehen, was den modernen Betrachter so irritiert.12 Zweitens möchte ich in diesem Kontext die Begriffe bellezza und decoro diskutieren, was bei der Definition von möglichen Rezeptionsebenen des Gemäldes im Hinblick auf Rossos Zeitgenossen von Nutzen sein kann.

E ngelpie t à Was den ersten Punkt betrifft, so ist die von Engeln flankierte Imago pietatis spätestens seit Beginn des Trecento in Italien bekannt, insbesondere seit der Zeit von Giovanni Pisanos Kanzel, heute in Berlin. Weite Verbreitung fand sie vor allem seit dem vierten Jahrzehnt des Quattrocento und mit besonderer Intensität seit der Mitte des 15. Jahrhunderts,13 nicht zuletzt weil das Mantuae sanguis preciosus anlässlich des von Pius II. 1459 einberufenen Reichstages zur Abwehr

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13

Stefaniak: Replicating Mysteries of the Passion (wie Anm. 6), S. 715. Unter den vielen Beiträgen zum Thema siehe: Gehrt von der Osten: Engelpietà, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, V, hg. v. Ludwig Heydenreich/KarlAugust Wirth, Stoccarda 1967, coll. 601–621; und: Staale Sinding-Larsen: Christ in the Council Hall, Rom 1974, S. 99–119. Andrea de Marchi: Un raggio di luce su Filippo Lippi a Padova, in: Nuovi Studi. Rivista di arte antica e moderna 1 (1996), S. 10f. und 19, Anm. 35. Siehe ebd.: Centralità di Padova: alcuni esempi di interferenza tra scultura e pittura nell’area adriatica alla metà del Quattrocento, in: Quattrocento Adriatico. Fifteenth-Century Art of the Adriatic Rim. Papers from a Colloquium held at the Villa Spelman, Florenz 1994, hg. v. Charles Dempsey, Bologna 1996, S. 71–76.

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Bild 2 Giovanni Bellini: Der tote Christus von zwei Engeln gestützt, 1475–1478, Gemälde, Pappelholz, Gemäldegalerie (SMB), Berlin.

der türkischen Gefahr zum erneuerten Kultobjekt wurde.14 Nach dem wiederbelebten Kult des Mantuae sanguis preciosus nehmen die Beispiele in der zweiten Hälfte des Quattrocento in großem Maß zu, vor allem in Norditalien, angefangen bei Carlo Crivelli15 und Giovanni Bellini (Bild 2) bis Antonello da Messina und Francesco Francia16. Die Serie bringt uns zu folgenden Resultaten. Erstens: Ungeachtet der Funktion der Bilder, ist Christus immer mit dem Lendentuch oder dem Schweiß14 15 16

Andreas Hauser: Andrea Mantegnas ‚Pietà‘. Ein ikonoklastisches Andachtsbild, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63 (2000), S. 455. Martin Davies: The Earlier Italian Schools, London 1986, S. 153–156. Andrea Emiliani/Konrad Oberhuber: Bologna 1490. Dall’umanesimo severo alla suavitas rinascimentale, in: Marzia Faietti/Konrad Oberhuber (Hg.): Bologna e l’umanesimo 1490–1510, Bologna 1988, S. XII. Emilio Negro/Nicosetta Roio: Francesco Francia e la sua scuola, Modena 1998, S. 134f.

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Bild 3 Andrea Mantegna: Schmerzensmann mit zwei Engeln, 1500, Tempera/Holz, 78 × 48 cm, Statens Museum for Kunst, Kopenhagen.

tuch bedeckt. Zweitens: Die Engel sind fast immer als Knaben, kleine Jungen, gegeben und selbst wenn sie als Jünglinge erscheinen und mit der Haut des Erlösers in direktem Kontakt kommen, wie bei der Tafel von Giovanni Bellini in Berlin, berühren sie niemals die Seitenwunde. Niemals reißen sie die Wunde auf, wie es der von Rosso gemalte androgyne Engel tut. Auch wenn das Werk Mantegnas, das sich heute in Kopenhagen befindet (Bild 3), nur 83 auf 51 Zentimeter misst (genau 50 Zentimeter weniger als Rossos Gemälde), steht es in gewisser Hinsicht der Version des Florentiner Malers

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sehr nah.17 Wie bei dem Bostoner Bild ist die Signatur unten rechts angebracht, der athletische Körper Christi ist ganzfigurig, auf einem Sarkophag sitzend dargestellt, und die beiden Engel sind jünglingshaft. Darüber hinaus haben wir es auch in diesem Fall mit einer Hybridform von symbolischem und narrativem Bild zu tun, denn während der Bildvordergrund durch die Pietà bestimmt wird, sind im Hintergrund links zwei Marien zu erkennen, die sich zum Grab begeben. Dabei provoziert Mantegnas Werk eine andere Art von Beklemmung:

Bild 4 Signorelli: Pietà und Heilige, um 1507–1510, Öl auf Holz, 153 × 182 cm, San Niccolò, Cortona.

Obgleich einer der auf dem Sarkophag knienden Engel die Haut des Erlösers mit den Händen streift, geht er nicht so weit, die Wunde wieder aufzureißen. Christus Miene deutet den erlittenen Schmerz, nicht aber die Ekstase an. Sie ist voller Aktivität und zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich, so dass wir nicht „ver17

Wenn sich das Werk Mantegnas auf seinen Romaufenthalt zurückführen ließe, so könnte man sogar annehmen, dass Rosso es gekannt haben könnte. Das Gemälde ist zum ersten Mal im Inventar des Kardinal Silvio Valenti in Rom erwähnt worden; siehe die Liste bei Keith Christiansen, in: Jane Martineau (Hg.): Andrea Mantegna, Mailand 1992, S. 244.

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Bild 5 Agostino Veneziano (nach Andrea del Sarto): Puccini Pietà, Kupferstich, Metropolitan Museum of Art, New York.

gnüglich“ bei seinem Brustkorb verweilen können, wie wir es dagegen bei Rossos Christus tun können. Im Unterschied zu diesem ist in Mantegnas Werk die Morgendämmerung bereits angebrochen und taucht die Landschaft in ein Licht, das der Szene einen Anklang von Zuversicht verleiht. Vor allem aber ist der Salvator nicht in völliger Nacktheit wiedergegeben. Wohl deshalb hat man sich bei der Analyse des von Mantegna geschaffenen Leidensbildes nie auf die Konzepte von Sexualität und Erotik berufen. Wenn wir zu den toskanischen Beispielen übergehen, die Rosso gekannt haben könnte, etwa Signorellis Altarbild in San Nicolò in Cortona (Bild 4) oder die von Andrea del Sarto gemalte und heute verlorene Pietà Puccini18 (Bild 5) 18

John Shearman: The ‚Dead Christ‘ by Rosso Fiorentino, in: Boston Museum of Fine Arts Bulletin 64 (1966), S. 150–152.

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fallen die wesentlichen Unterschiede ins Auge. Zwar stellte auch Signorelli jünglingshafte Engel dar, doch distanzierte er sie vom Körper Christi; bei Andrea del Sartos Altarbild spielt sich die Szene hingegen vor offener Landschaft, am Fuße des Kalvarienberges ab und nicht am Grab. Der Sarkophag ist hier nicht vorhanden. Fassen wir also zusammen. Die ikonographischen Varianten dieses Typus sind so zahlreich, dass man sich fragen muss, ob die sogenannte Engelpietà tatsächlich existierte. Zudem gibt es auch für die Gemälde von Andrea del Sarto und Mantegna keine unmittelbaren Vergleiche, doch vermittelt uns, den heutigen Betrachtern, erst Rossos Werk ein gewisses Gefühl von Beklommenheit. Dieses Missbehagen wird mindestens durch fünf Faktoren verursacht: 1. 2.

3.

4.

5.

Nur hier wird der muskulöse Körper Christi in der Malerei in voller Lebensgröße und in völliger Nacktheit wiedergegeben. Die Masse eines „realen“ Körpers, der auf einer reduzierten Fläche zusammengedrängt ist, erzeugt zudem eine Art Klaustrophobie: es entsteht der Eindruck, als befände man sich in Angesicht zu Angesicht mit dem Erlöser auf engem Raum im Inneren des Grabes. Die offenen und Ruhe ausstrahlenden Landschaftshintergründe Andrea del Sartos und Mantegnas fehlen. Keiner der Abgebildeten sucht den Blickkontakt zum Betrachter, so dass wir unmittelbar mit dem nackten Körper konfrontiert sind. In diesem Fall rührt das Unbehagen von dem Umstand her, dass sich uns das Bild gleichsam passiv darbietet. Auch wenn die Engel geschlechtlos sind, gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen den Knaben, die Donatello, Crivelli oder Francia geschaffen haben, und den Jünglingen Rossos. Einer davon streift nicht die Haut des Erlösers, sondern betastet die Seitenwunde. Auf dem Gesicht Christi zeigt sich eine gewisse Verzückung.19

bel l ez z a u nd d ec o r Wie kann man diese neue fleischliche Schönheit erklären? Der locus classicus hinsichtlich der äußeren Erscheinung Christi ist der Psalm 45(44),3: „Speciosus forma prae filiis humanis“, „Du sollst schön sein, der Schönste unter den mensch-

19

Auch die Farben können in der Kunstliteratur des 15. Jahrhunderts als lasziv angesehen werden; siehe in diesem Zusammenhang: Giovan Battista Armenini: De’ veri precetti della pittura, hg. v. Marina Gorreri, m. e. Vorw. v. Enrico Castelnuovo, Torino 1988, S. 191.

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Bild 6 Michelangelo: Grablegung Christi, um 1501, Tempera und Öl auf Holz, 159 × 149 cm, National Gallery, London.

lichen Nachkommen: auf deinen Lippen liegt ein anmutiger Zauber“, eine Auffassung, die die Theologen um 1500 teilten.20 Auch in den Schriften Albrecht Dürers, die einige Jahre vor Rossos Gemälde in Umlauf waren, taucht das Lob auf die Schönheit des Erlösers wieder auf, etwa in jenem Passus, in dem der Künstler fordert, daß beim Malen der Figur Christi dieselben Kriterien zugrunde gelegt werden sollten wie jene, die die von Plinius gelobten griechischen Künstler bei der Darstellung der Schönheit des Gottes Apoll anwandten: „Dann zu gleicher Weis, wie sie die schönsten Gestalt eines Menschen

20

Hans Rupprich (Hg.): Dürer. Schriftlicher Nachlass, Bd. 2, Berlin 1966, S. 104, Anm. 5.

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Bild 7 Michelangelo: Auferstandener Christus, um 1518/1520, Marmor, 250 cm, Santa Maria sopra Minerva, Rom.

haben zugemessen ihrem Abgott Apollo, also wollen wir dieselb Moss brauchen zu Crysto dem Herren, der der schönste aller Welt ist.“21 Diese Eindrücke verhallen jedoch in der Stille oder bleiben unvollständig, solange wir nicht die visuelle Kultur jener Zeit in Erwägung ziehen. Dabei ist der Rekurs auf die Modelle Michelangelos und jene der Antike nicht hinreichend, wenn er allein als ein ikonographisches Schema oder formales und gelehrtes Zitat verstanden wird. Die Unterschiede sind in der Tat von größerer Bedeutung als die Analogien. Michelangelo bleibt für Rossos Bild ein unumgänglicher Referenzpunkt, 21

Siehe Erwin Panofsky: Erasmus and the Visual Arts, in: Journal of the Warburg and Courtald Institutes 32 (1969), S. 213f.

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doch stellt der für Santo Spirito geschaffene Gekreuzigte, wenngleich vollkommen nackt, eine Ausnahme dar und ist nicht lebensgroß. Der Christus der vatikanischen Pietà ist mit einem Lendentuch bedeckt. Der zum Grab getragene Christus (Bild 6), der einzige wirkliche Vorgänger von Rossos Gemälde, ist bezeichnenderweise unvollendet geblieben, vor allem aber zeigt der Körper kaum Anzeichen von Gewalt. Hände und Füße weisen keine Wunden auf,22 nur unterhalb der Brustbinde öffnet sich eine kleine Risswunde, doch ist diese sicher nicht mit dem fast wollüstigen Schnitt im Fleisch von Rossos Figur zu vergleichen. Auch andere Modelle Michelangelos reichen nicht aus, um die besondere Komposition des Bostoner Gemäldes näher zu beleuchten. Die ignudi der Sixtinischen Decke, die zu Recht als formale Inspirationsquellen von Rossos invenzione bezeichnet wurden, stellen nicht Christus dar. Dasselbe könnte man von dem sterbenden Sklaven sagen. Der auferstandene Christus in der Minerva-Kirche (Bild 7) ist hingegen nicht im Zustand der Erschlafftheit dargestellt, sondern in jenem der Vitalität: Sein heroischer Körper gibt sich nicht passiv einer ekstatischen Pose hin, sondern schreitet bei vollem Bewusstsein und in vollkommener Autonomie einher. Auch Verweise auf die antike Skulptur dienen, obwohl legitim, lediglich dazu, die beängstigende Einzigartigkeit von Rossos Bild zu verschleiern. Zwar könnte sich der Künstler am Bett Poliklets inspiriert haben, doch hat er von der antiken Bildhauerei und den Skulpturen Michelangelos vor allem den Wunsch assimiliert, den Körper plastisch wiederzugeben – nicht im Sinne eines unmittelbaren Zitates, sondern vielmehr hinsichtlich der Konzeption des Körpers. Für Rossos Christus wurden häufig die Begriffe erotisch und sinnlich verwendet, doch welche Bedeutung hatten diese Begriffe im 16. Jahrhundert? Mir scheint es naheliegender, von einem fühlbaren Körper zu sprechen. Palpabile, fühlbar, ist ein äußerst selten vorkommender Begriff in Vasaris Viten. Er verwendet ihn nur drei oder vier Mal: beispielsweise in der Paragone-Diskussion im Proemio der ersten Edition (1550), in dem es heißt, dass „allo scultore basta aver notizia delle vere forme e fattezze de’ corpi solidi e palpabili e sottoposti in tutto al tatto […] [mentre] al pittore è necessario non solo conoscere le forme di tutti i corpi retti e non retti, ma di tutti i trasparenti et impalpabili.“23 („Dem Bildhauer genügt die Kenntnis der wirklichen Formen und der Beschaffenheit der festen, tastbaren [palpabile] und ganz dem Tastsinn unterworfenen Körper […]. Für den Maler besteht nicht nur die Notwendigkeit, die Form aller gradlinigen

22 23

Alexander Nagel: Michelangelo and the Reform of Art, Cambridge 2000, S. 93. Giorgio Vasari: Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue insino a’ tempi nostri, hg. v. Luciano Bellosi/Aldo Rossi, m. e. Vorw. v. Giovanni Previtali, Torino 1986, S. 12.

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Bild 8 Rosso Fiorentino (Kopie nach): Venus und Bacchus, 1532, 209 × 161,5 cm, Musée national d’art et d’histoire, Luxembourg.

und nicht geraden Körper zu kennen, sondern auch diejenige aller durchsichtigen und nicht berührbaren.“24) Vasari benutzt den Begriff ein weiteres Mal in der Vita Rossos. Doch bezieht er sich dabei nicht auf den von Engeln gestützten toten Christus, sondern auf das Bild von Bacchus, Venus und Amor (Bild 8), das sich einst in der Galerie von Fontainebleau befand und uns nur durch eine Kopie im Nationalmuseum von Luxemburg bekannt ist. Die Tendenz, Kunstwerke durch eine Gegenüberstellung von plastisch Fühlbarem mit visuell Erfahrbarem zu erörtern, war schon seit Mitte des Quat24

Giorgio Vasari: Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibung berühmter Künstler, neu übers. v. Victoria Lorini, hg., eingel. u. komm. v. Matteo Burioni/Sabine Feser, Berlin 2004, S. 51.

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trocento weit verbreitet25 und wurde in die Diskussionen über den paragone aufgenommen. In diesen trat die Skulptur als natürliches Vehikel erotischer Darstellungen in Erscheinung, da der Tastsinn in enger Verbindung mit der Wollust gedeutet wurde.26 Aus diesem Grund scheinen mir die statuarische Qualität des von Rosso gemalten Körpers (nicht seine vollkommene Nacktheit) und die Geste des Engels, der als Metapher für den Tastsinn die Seitenwunde berührt, darauf zu verweisen, dass das, was wir als sinnlich wahrnehmen, trotz unterschiedlicher Konventionen auch damals ähnlich verstanden worden sein könnte. Wenn wir beim Anblick eines derart schönen und völlig nackten Körpers in einem sakralen Zusammenhang in Verwirrung geraten, müssen die Zeitgenossen Rossos, auch wenn sie in der Verherrlichung der nach antiken Modellen gestalteten Schönheit einen möglichen Weg zum christlichen Heil sahen, ebenfalls begriffen haben, was die taktilen Qualitäten des Werks implizierten. Dennoch ist es nur den Engeln und den Heiligen gestattet, den Körper Christi zu berühren oder zu umarmen. Uns hingegen bleibt nur die Enthaltung, zu der schon Maria Magdalena mit den Worten „noli me tangere“ angehalten wurde, wenn wir nicht in Idolatrie verfallen wollen. Doch Rosso Fiorentino ist es wie kaum einem anderen gelungen, den Körper Christi physisch so präsent wiederzugeben und gleichzeitig die Spannung zwischen Tast- und Sehsinn zu thematisieren – zu einer Zeit, als der Sehsinn im Begriff war, sich gleichberechtigt neben jenem privilegierten erotischen Sinn zu etablieren. Daher scheint die Frage legitim, ob das aus der Verbreitung einer neuen bildlichen Laienkultur resultierende Klima bei der druckgraphischen Reproduktion nicht in irgendeiner Weise, wenn auch indirekt, dazu beigetragen haben könnte, im sakralen Bereich eine solche sinnliche Atmosphäre zu erzeugen? Freilich ist es nicht erlaubt, Sakrales mit Heiligem zu vermischen, die körperliche Schönheit mit jener himmlischen und ewigen zu verwechseln. Trotzdem deuten die Texte dieser Epoche die Möglichkeit von Mißverständnissen an, nicht nur auf der Rezeptionsebene, sondern auch im Bereich der Produktion. Während Mario Equicola im zweiten Teil seines 1526 in endgültiger Fassung erschienenen Libro di natura d’amore die Wahrnehmung des wahren Philosophen, der sich der göttlichen Kontemplation von Schönheit hingibt, von der Wahrnehmung der lasterhaften und unzüchtigen Menschen unterscheidet, die von den Mysterien der Religion keine Kenntnis haben, verdammt Erasmus

25 26

Mary Pardo: Artifice as seduction in Titian, in: James G. Turner (Hg.): Sexuality and Gender in Early Modern Europe, Cambridge 1993, S. 55–89, S. 62. Wie es die explanatio von Jodocus Badius Ascensius in der französischen Übersetzung des Narrenschiffs von Sebastian Brant bestätigt; siehe Carl Nordenfalk: The Five Senses in Late Medieval and Renaissance Art, in: Journal of the Warburg and Courtald Institutes 48 (1985), S. 10–15.

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in seinem 1528 gedruckten Ciceronianus explizit jene Künstler, die Christus wie einen Apoll darstellen. Was das schwierige Verhältnis von bellezza und decoro angeht, bleibt Vasaris Position exemplarisch, die er zu Beginn der Vita Fra Angelicos in der Edition von 1550 formuliert: „Zweifellos sollte jemand, der geistliche und fromme Werke erschafft, auch stets geistlichen Standes und fromm sein, denn wenn sie von Personen gestaltet sind, die wenig Glauben besitzen und die Religion wenig schätzen, sieht man, daß sie häufig unehrenhafte Gelüste und wollüstige Begierden wecken [….]. Ich möchte jedoch nicht, daß manche sich schon dazu verleiten lassen, den Frommen als geschmacklos und unpassend zu interpretieren, wie es gewisse Leute tun, die beim Anblick von Gemälden, in denen eine Figur, sei es eine Frau oder ein Jüngling, ein wenig liebreizender, schöner und anmutiger als sonst üblich dargestellt ist, diese sofort als lasziv ansehen und beurteilen.“27 Dieses Konzept wird in einem weniger beachteten Passus der 1568er-Ausgabe wieder aufgegriffen: „Giovan Francesco Caroto war beim Antwortgeben überaus geistvoll; so erzählt man sich auch, daß zu der Zeit, als er an einem Tag von einem Priester gesagt bekam, seine Altarfiguren seien zu lasziv, er zur Antwort gab: Ihr seid verloren, wenn die gemalten Dinge Euch erregen: Bedenkt wie man Euch Vertrauen schenken soll, wenn lebendige und tastbare [palpabile] Personen da sind.“28 (Dies ist neben den beiden oben genannten Abschnitten der dritte Passus der Vite, in dem Vasari den Begriff „palpabile“ gebraucht). Der Begriff „palpabile“ bedeutet also „wirklich“, „real“, und Vasari verwendet ihn signifikanterweise sowohl zur Beschreibung von Qualitäten der Skulptur als auch für ein Gemälde Rossos. Rossos lebendiger und fühlbarer Christus war im herkömmlichen Sinne des Wortes, wie es im Cinquecento verstanden wurde, gewiss nicht „lasziv“, doch zeigen die Zeilen des Erasmus und jene Vasaris wie eine solch ungestüme Fleischlichkeit hätte missverstanden werden können, zumindest von denjenigen, die mit den körperlichen Augen des Pöbels urteilen, um Leone Ebreos Worte zu gebrauchen.29 Ich möchte deshalb zwischen zwei Positionen vermitteln, die nur dem Anschein nach unversöhnlich sind: Zwischen der Auffassung derjenigen, die explizit die sinnliche Ambivalenz dieses Körpers hervorgehoben haben,30 und der Auffassung jener, die sich einzig und allein auf den theologischen Filter und 27 28 29 30

Vasari: Le Vite (wie Anm. 23), S. 344. Vasari: Le Vite (wie Anm. 9), Bd. 4. Paola Barocchi: Scritti d’arte del Cinquecento, Bd. 2, Mailand/Neapel 1973, S. 1631. Siehe z. B. die Position von Sidney J. Freedberg: Painting in Italy 1550–1600, Harmondsworth 1971, S. 131: „The Dead Christ may be the most immediate evidence

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die visuellen Codes verlassen haben, die wie die Antike kulturell akzeptiert waren, und sich dabei weigerten, den Unruhe stiftenden Charakter des Gemäldes anzuerkennen. (Und bei dieser Gelegenheit muss man betonen, dass die taktilen Qualitäten des Bildes seinerzeit auch Missbehagen hervorgerufen haben müssen). In Wirklichkeit kann das Bild auf zwei Ebenen gelesen werden: als bewusste und orthodoxe theologische Botschaft von Gott, der für unsere Erlösung Mensch wurde, und als unbewusste Manifestation einer unlösbaren Spannung zwischen einer sakralen Utopie, die einen Kompromiss mit den Modellen der klassischen (fühlbaren) Schönheit anstrebt, und den optischen Anregungen einer neuen bildlichen Laienkultur, die sich für nackte Körper begeisterte. Mit anderen Worten, wir müssen zwischen Produktion und Rezeption differenzieren: Auch wenn der Christus in forma Pietatis im Hinblick auf die Darstellung eines sublimen christlichen Glaubens ein vollkommenes Werk ist, und das verzückte Antlitz des Erlösers dazu dient, die geistige Liebe Jesu, der sich für uns geopfert hat, bewusst zu vermitteln, bleibt das Bild auf der Rezeptionsebene dennoch unlösbar, weil es in sich die Spuren des unüberwindbaren Konflikts zwischen dem Wunsch zur Berührung (Thomas) und der diesbezüglichen Untersagung (Maria Magdalena) trägt, zwischen dem Blick jener, die mit den körperlichen Augen des Pöbels urteilen, und jener, die mit klaren Augen urteilen und „viel mehr als jene mit körperlichen Augen sehen“. Wenn Rosso das Werk in ein Umfeld entlässt, das nicht mehr seines und nicht länger kontrollierbar ist, ist dies der Augenblick, in dem sich die unbewussten Widersprüche manifestieren, in dem die rein christliche Absicht den Zwiespalt der Entstehung aufdeckt. Das Werk ist nicht blasphemisch, da die Intention zweifellos „rein christlich“ war, doch kreiert es eine Beklommenheit, weil es versucht, zwei separate Welten in einem sakralen Kontext in Einklang zu bringen: in diesem Bild haben sich indirekt die neuen Konventionen der Sinnlichkeit eingeschlichen. Wie Erasmus ein Jahr zuvor in seinem Ciceroniano schrieb: Es ist nicht erlaubt, Gottvater im Gewand Jupiters zu malen, noch Christus als Apoll „quia signa rebus non congruent“31, denn dieses Aussehen wäre der Bedeutung der Person nicht angemessen. Dass der von Rosso und seinem Auftraggeber eingeschlagene Weg nicht begehbar war, wird durch den Umstand bezeugt, dass die kühne Erfindung des Künstlers, jedenfalls soweit mir bekannt ist, niemals weder kopiert noch wiederholt wurde.

31

we possess of religiously as well as morally cynical attitudes within élite circles of contemporary Rome.“ Desiderius Erasmus: Il Ciceroniano o dello stile migliore, hg. v. Angiolo Gambaro, Brescia 1965, S. 123.

Peter Stephan

DA S V E R R ÄU M L IC H T E BI L D I M V E R BI L D L IC H T E N R AU M Jacopo Rusutis Mosaiken in Ferdinando Fugas Fassade von S. Maria Maggiore

Vorb emerk u ng 1741 erteilte Papst Benedikt XIV. Ferdinando Fuga den Auftrag, die Vorhalle von S. Maria Maggiore, die Gregor XIII. 1575 hatte erneuern lassen, niederzulegen und – unter Wiederverwendung der alten Säulen – durch einen neuen Portico samt Benediktionsloggia zu ersetzen (Bild 1 u. 2). Mit dieser Maßnahme vollendete Fuga die Umbauung der Basilika, die 1300 unter Bonifaz VIII. mit dem Neubau des Chores begonnen hatte. Zugleich umschloss er das Mosaik, das die Fassade des spätantiken Langhauses ziert, wie mit einem kostbaren Reliquiar. Dieses Mosaik, das Filippo Rusuti 1294–1308 gefertigt hatte, erzählt im unteren Register in vier Szenen die Gründungslegende der Kirche: die Traumoffenbarungen, in denen Maria erst Papst Liberius und dann dem Patricius Johannes Anweisungen zur Errichtung der Vorgängerkirche gab, die Audienz des Patricius beim Papst und schließlich das berühmte Wunder, durch das der im August auf der Kuppe des Esquilin gefallene Schnee den Umriss der zu erbauenden Basilika vorgab (Bild 3a u. 3b). Im Register darüber erscheint Christus in der Majestas Domini, von den Evangelistensymbolen und mehreren Heiligen umgeben (links Jakobus d. Ä., Paulus und Maria, rechts Johannes der Täufer, Petrus und Andreas; Bild 4). Um von dem Mosaik, das bis in das Traufgesims des spätantiken Langhauses hinaufreicht, so viel wie möglich sichtbar zu lassen, zog Fuga das Gewölbe seiner Loggia weit nach oben und versah es überdies mit perforierten Stichkappen (Bild 4, 5 u. 7). Das untere Register blieb auf diese Weise ganz unverdeckt, während auf das obere immerhin breite Durchblicke möglich waren. Damit letzteres darüber hinaus genügend Licht erhielt, stattete Fuga das Dach über dem Gewölbe mit einer breiten Schleppgaube aus. Des Weiteren verzichtete er an der Mosaikwand auf Pilaster, die eigentlich aus zwei Gründen nötig gewesen wären: um das Gewölbe zumindest optisch aufzufangen und zu tragen, und um

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Bild 1

Ferdinando Fuga: Portico von S. Maria Maggiore, um 1750, Rom.

Bild 2

Benediktionsloggia des Portico von S. Maria Maggiore bei Nachtbeleuchtung.

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Bild 3 a, 3b Filippo Rusuti: Mosaik, 1294–1308, Langhausfassade von S. Maria Maggiore, Rom.

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Bild 4 Stichkappe der Benediktionsloggia von S. Maria Maggiore.

die Säulen der Fassadenfront zu hinterfangen. Stattdessen begnügte er sich mit Konsolen, die in die Substanz der Mosaiken nur geringfügig einschnitten. Um diesen Konsolen trotzdem eine tragende Unterfütterung zu geben, setzte er sie auf die Köpfe kleiner Cherubim. Hermann Schlimme1 und Elisabeth Kieven2 haben Fugas Konzept vor allem hinsichtlich seiner außerordentlichen szenographischen Wirkung gewür1 2

Hermann Schlimme: La Facciata d’ingresso di Santa Maria Maggiore da Gregorio XIII da Ferdinando Fuga, in: Quaderni dell’Istituto di Storia dell’Architettura N.S. 34/39 (1999/2002), S. 483–488, hier v.a. S. 485. Elisabeth Kieven: Ferdinando Fuga (1699–1781), in: Storia dell’Architettura Italiana, Bd. 2, Mailand 2000, S. 540–555, hier v. a. S. 549: „La facciata di Santa Maria

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Bild 5 Benediktionsloggia von S. Maria Maggiore.

digt und auf die Funktion der Fassade als Blickpunkt innerhalb des Stadtraums hingewiesen. David Ganz hat die Einbeziehung des hochmittelalterlichen Mosaiks in die spätbarocke Architektur als Ausdruck eines von Benedikt XIV. betriebenen „Christian Revival“ gedeutet. Dem Papst sei es darum gegangen, die Maggiore (1741–1743), concepita come un grandioso spettacolo destinato alla vista, dimostra la capacità die Fuga di ottenere il risultato migliori in situazioni predeterminate”. Vgl. auch dies.: Alessandro Galilei, Nicola Salvi, Ferdinando Fuga, in: Light on the Eternal City: Observations and Discoveries in the Art and Architecture of Rome, Pennsylvania State University, S. 255–276 u. dies.: Ferdinando Fuga e l’Architettura Romana del Settecento. I disegni di architettura dalle collezioni del Gabinetto Nazionale delle Stampe Il Settecento, Rom 1988.

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restauratio Ecclesiæ mit der Rückbesinnung auf die historische Tradition der Kirche zu verbinden. In diesem Zusammenhang habe Fugas Architektur dazu gedient, die Mosaiken zugänglich zu machen, damit diese noch deutlicher als Zeugen einer bis ins 4. Jahrhundert zurückreichenden historischen Kontinuität sprechen konnten.3 Über diese Beobachtungen hinaus will dieser Beitrag vier Thesen formulieren. Erstens: Fuga hat seine Fassade so gestaltet, dass sie im Zusammenspiel mit den sie flankierenden Zwillingspalästen, vor allem aber mit dem vor ihr gelegenen Stadtraum und mit dem sie hinterfangenden Mosaikbild, eine vielschichtige Transformation auslöst. In demselben Maße, in dem sie die Instrumentierung der Zwillingspaläste aufgreift, um sie von der flächenhaft-geschlossenen Wandbauweise in eine raumhaltig-körperliche und offene Gliederbauweise zu übertragen, transponiert sie den Bildapparat des Mosaiks in die dritte Dimension des Stadtraums. Und in dem Maße, in dem sie in gegenläufiger Richtung den Stadtraum an die Fläche der beiden Palastfronten anbindet, überführt sie ihn in die imaginäre Immaterialität des Mosaiks.4 Zweitens: Die Fassade ist zu dieser Transformation fähig, weil sie die Eigenschaften von Bild und Raum mit ihren eigenen architektonischen Qualitäten vereint. Einerseits paraphrasiert sie bildliche Sujets mit den genuinen Strukturelementen eines umbauten Raumes. Andererseits inszeniert sie den Raum wie ein Bild. Wie sie ihre Umgebung transformiert, so changiert sie zwischen den verschiedenen Kunstgattungen. Drittens: Obwohl diese Transformation eine außerordentliche szenographische Wirkung besitzt, beruht Fugas Architektur mehr noch als auf (syn-) ästhetischen auf theologischen Erwägungen. Sein Konzept reflektiert in hohem Maße das Patrozinium von S. Maria Maggiore, dessen Grundgedanke das Wechselverhältnis von Ver- und Enträumlichung sowie von Ver- und Entstofflichung ist. Viertens: Die Fassade von S. Maria Maggiore war der Bezugspunkt einer komplexen städtebaulichen Kodierung und einer liturgischen Inszenierung, die den Prozess der Transformation auf den gesamten Stadtraum ausdehnte. Ebenso wie die Fassade war Rom, um einen in anderem Zusammenhang verwendeten Begriff Michel Foucaults aufzugreifen, ein „lebendes Tableau“.5 Und ebenso wie 3 4 5

David Ganz: Barocke Bilderbauten. Erzählung, Illusion und Institution in römischen Kirchen 1580–1700, Petersberg 2003, S. 235–237. Erste Ansätze der folgenden Überlegungen finden sich in Peter Stephan: Der vergessene Raum. Die dritte Dimension in der Fassadenarchitektur der frühen Neuzeit, Regensburg 2009, S. 210–232. Vgl. hierzu Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994, S. 184 u. 190.

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die Loggia war der römische Stadtraum ein begehbares Bild, das durch diejenigen, die sich in ihm aufhielten, verändert wurde, um im Gegenzug jene zu verändern, die es begingen.

Da s Pat roz i n iu m S. Ma r ia Mag g iore Beginnen wir unsere Betrachtungen mit dem Patrozinium von S. Maria Maggiore. Wie kann es die gedankliche Grundlage einer Architektur bilden, die ganz auf den optischen Effekt abzuzielen scheint? Zunächst ist zu bedenken, dass es sich bei der Basilika um keine gewöhnliche Marienkirche handelt, sondern um ein Heiligtum der Theotokos, der „Gottesgebärerin“. Nicht von ungefähr erfolgte die Grundsteinlegung im Jahre 432 – ein Jahr, nachdem das Konzil von Ephesos feierlich erklärt hatte, dass Maria nicht nur die Mutter des Menschen Jesus von Nazareth, sondern auch des fleischgewordenen Logos sei. Dieses Dogma enthält neben der mariologischen eine christologische Aussage. Somit ist S. Maria Maggiore eine Marien- und eine Christuskirche. Und das Hauptthema dieses Doppelpatroziniums ist die Inkarnation Gottes in Maria und die Erhebung Marias zur himmlischen Braut Christi. Dieses Hauptthema lässt sich folgendermaßen abstrahieren: Der Logos taucht aus Ewigkeit und Unendlichkeit ein in Zeit und Raum. Durch seine Menschwerdung in Maria begibt er sich aus der Substanzlosigkeit des Jenseits in die Körperlichkeit des Diesseits. Nachdem er in seine Herrlichkeit zurückgekehrt ist, sendet er seinen göttlichen Geist auf Maria und die Apostel herab, die nun die Keimzelle der Kirche bilden. Diese Kirche versteht sich als das irdische Gefäß des göttlichen Geistes und strebt danach, sich und die Welt auf Christus hin zu verändern. Paradigmatisch geschieht dies in Gestalt der Maria, die Inbegriff der vollkommenen imitatio Christi ist und von ihrem Sohn in den Himmel aufgenommen und zur Himmelskönigin gekrönt wird. Die Kirche dient Christus als Werkzeug, um die Welt zu heiligen: indem sie seine Botschaft verkündet, seine Sakramente spendet und zu seiner Nachfolge aufruft. Auf diese Weise ordnet sie die Welt auf Gott hin und trägt dazu bei, dass er immer wieder aufs Neue in die Welt hineintritt und sie erneuert. Eben diese Reziprozität von Emanation und Transzendenz wollte Fuga veranschaulichen. Dabei wies er dem Mosaikbild die Aufgabe zu, die himmlische Welt des göttlichen Logos zu vergegenwärtigen, vor allem im oberen Register mit der Majestas Domini. Der römische Stadtraum stand hingegen für die diesseitige Welt des Menschen. Die dazwischen angesiedelte Architektur der Loggia hypostasierte Maria und die Kirche. In ihr begegneten sich Jenseits und Diesseits. Dass die Mittlerfunktion der Theotokos und die Bedeutung der Kirche als Heilsraum sich nirgendwo passender inszenieren ließen als am prominentesten Marienheiligtum des katholischen Erdkreises, leuchtet ein. Doch wie

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funktionierte diese Inszenierung im Einzelnen? Wie wirkten Bild, Architektur und Stadtraum bei der Vergegenwärtigung des Dogmas zusammen?

D ie Fa ssade a ls z weid i mensiona les Bi ld Im 18. Jahrhundert, als Loggia und Portico noch nicht mit einer elektrischen Beleuchtung ausgestattet waren, traten der Fassadenraum und das Mosaik abends und des Nachts kaum oder nur teilweise in Erscheinung (vgl. Bild 1). Daher hatte Fuga die Fassade so konzipiert, dass sie auch dann wirkte, wenn man nur ihre vordere Ebene sah. Der erste Eindruck, den sie dabei vermittelte, war der einer Spange, welche die Zwillingspaläste wie die beiden Teile eines Mantels zusammenhält. Die Assoziation mit einem Mantel dürfte Fuga beabsichtigt haben. Schon im mittelalterlichen Apsismosaik von S. Maria Maggiore trägt Maria zum Zeichen ihrer Erwählung und ihrer Erhebung zur Himmelskönigin ein kostbares Kleid. Dieses identifiziert sie als die kostbar geschmückte Braut des Hohenliedes (vgl. Hld 4,12–16 4) und als die sponsa ornata der Apokalypse (vgl. Offb 21,2). Und es entspricht den Gewändern des Heils, welche die Stadt Jerusalem nach den Worten des Propheten Jesaja in Erwartung ihrer Errettung anlegt (vgl. Jes 61,20). Die biblische Gleichsetzung der Stadtarchitektur Jerusalems mit den Gewändern des Heils bildete die Voraussetzung dafür, dass der Bischof und Kirchenvater Eusebius von Cäsarea in einer Rede auf der Synode von Tyros im Jahre 335 die Architektur der Kirche mit dem Kleid der Braut Christi gleichsetzte.6 In den Kirchweihpredigten des Barock wurde diese Metapher zu einem festen Topos. Außerdem deckte sie sich mit Leon Battista Albertis Definition von der Fassade als dem Pelz eines Gebäudes.7 Angesichts dieser ikonographischen Tradition verwundert es nicht, dass auch die sukzessive Ummantelung des spätantiken Langhauses von S. Maria Maggiore auf das Brautgewand Marias bzw. der Kirche anspielt – zumal sie meist anlässlich eines der Heiligen Jahre erfolgte, in denen die durch Maria präfigurierte Kirche ihre Vermählung mit Christus feiert. Zu den wichtigsten Abschnitten der Umkleidung gehörten die Errichtung einer neuen Apsis um 1300, die zeitgleiche Entstehung des Mosaiks an der Westfront, die Erbauung der Cappella Cesi um 1550, die Vollendung der Cappella Sforza im Jahre 1573, die Erneuerung der Vorhalle 1575, die 1590 erfolgte Fertigstellung der Cappella del Prese6 7

Eusebius von Cäsarea: Kirchengeschichte, Buch X, 4. Kapitel, S. 36 u. S. 47f. Leon Battista Alberti: L’Architettura [De re ædificatoria]. Testo latino e traduzione a cura di Giovanni Orlandi. Introduzione e noti di Paolo Portoghesi, Mailand 1966, hier lib. VI, cap. 12, Bd. 1, S. 515–517. –517. 517. Siehe auch Veronica Biermann: Ornamentum. Studien zum Traktat ‚De re ædificatoria‘ des Leon Battista Alberti, Hildesheim/Zürich 1997.

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pio, die Planung der Zwillingspaläste an der Westseite unter Paul V., von denen der rechte ab 1605, der linke hingegen erst 1721–1743 von Fuga aufgeführt wurde, die Errichtung der Cappella Borghese als Pendant zur Cappella Sistina in den Jahren 1605 bis 1613 und nicht zuletzt der Bau der um 1670 von Carlo Rainaldi entworfenen Chorfassade. Über die Verleihung des kostbaren Brautkleides hinaus manifestierte sich Marias Erwählung zur Braut Christi in der Erhebung der Gottesmutter in den Himmel. Diesen Vorgang hatte Fuga an der Stirnseite seiner Fassade dargestellt, und zwar erneut in einer Synthese figürlicher und architektonischer Motive. So überragt die mittlere Arkade die beiden seitlichen Bögen nicht nur, um den Blick auf die Majestas Domini freizugeben (Bild 9). Gleichsam durch die Kraft des Heiligen Geistes, der als Relief über dem Bogenscheitel schwebt, stemmt sie sich geradezu nach oben, schiebt sich in das Giebelfeld der sie rahmenden Ädikula und entfaltet so eine Dynamik, durch welche die Madonnenstatue auf der Giebelspitze gen Himmel gehoben wird.8 Diese Dynamik lässt sich an einem architektonischen Detail sogar besonders deutlich ablesen. Gewöhnlich ist die Mittelarkade barocker Benediktionsloggien – wie in S. Maria in Via Lata oder der Ostfassade der Lateranbasilika – als eine Serliana gebildet, also als eine Archivolte, die als ein separates Element auf dem von den Säulen getragenen Gebälk sitzt. Fuga hingegen griff auf das viel seltenere Motiv des sogenannten syrischen Architravs zurück. Entgegen der tektonischen Logik separierte er innerhalb des Gebälks den Architrav von Fries und Kranzgesims, um ihn – wiederum gegen die tektonische Logik – zu einer Archivolte zu krümmen. Aus den verbleibenden Elementen des Gebälks bildete er dann – auch dies auf atektonische Weise – den Giebel, der die Arkade überfängt. Fuga gestaltete die Erhebung Marias also ganz bewusst als einen Vorgang, bei dem die Gesetze der Natur und der menschlichen Logik durch Einwirkung eines höheren Prinzips außer Kraft gesetzt wurden. Damit nicht genug, erweiterte Fuga die Symbolik der Mittelarkade um die Personifikationen der Humilitas und der Castitas, die auf dem Giebel des Portico lagern. Sie sind mit dem syrischen Architrav durch Säulen verbunden, die in diesem Kontext fraglos auch als Symbole tugendhafter Stärke zu deuten sind. Somit findet die Assunta in Marias Tugendhaftigkeit ihre buchstäbliche Begründung. Die Architektur wird zur expliziten Paraphrasierung des Magnifikatverses „Et exaltavit humiles“, mit dem Maria ihre Erwählung zur Braut Gottes selbst kommentierte (Lk 1,52). 8

Die Vorstellung, dass Architektur durch das Wirken des Heiligen Geistes selbst agiert, ja dass sie letztlich der materielle Ausfluss dieses Wirkens ist, ist nicht zuletzt in Rom von Borromini thematisiert worden, wie mir scheint v.a. in S. Ivo alla Sapienza; vgl. Peter Stephan: Der vergessene Raum (wie Anm. 4), S. 157–195.

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Wie die Mittelarkade beispielhaft zeigt, ist Fugas Architektur durchaus imstande, gleich den Protagonisten eines Bildes zu agieren – freilich nur im Zusammenspiel mit figürlichen Motiven. Sie tut dies als eine Materie, die vom Göttlichen Geist ähnlich erfüllt ist wie der Leib Marias nach der Empfängnis.

D ie Fa ssade a ls ver räu m l ic htes Bi ld Ist die Loggia so ausgeleuchtet, dass man sie in ihrer Dreidimensionalität erfassen kann und die Fassadenfront mit dem Fassadenraum und dem Mosaik eine Einheit ergibt (Bild 2), so wird deutlich, dass der Fassadenmantel das mittelalterliche Mosaik wie ein älteres Untergewand bedeckt und dieses seinerseits dem noch älteren Baukörper des spätantiken Langhauses appliziert ist. Die Umkleidung der Basilika, so zeigt sich nun, ist nicht auf einmal, sondern über einen langen Zeitraum erfolgt. Das Heilshandeln Gottes ist kein einmaliger Akt, es ist ein kontinuierlicher Vorgang. Vor allem aber wird erkennbar, dass die Fassade dem Mosaik nicht einfach nur vorgesetzt ist, sondern es in vielfacher Hinsicht verräumlicht. Im unteren Mosaikregister hat Rusuti die vier Episoden des Schneewunders in eine aus Vierkant- und Achteckpfeilern bestehende Rahmenarchitektur eingebettet. Diese setzt sich in Fugas plastischer Pilaster- und Säulenordnung unmittelbar fort. Fugas Gebälk liegt sogar exakt auf derselben Höhe wie das von Rusuti. Über die Architektur hinaus hat Fuga den Figurenapparat des Mosaiks in die dritte Dimension übertragen. So erweisen sich die Standfiguren, die in der vorderen Ebene seiner Fassade die Dachbalustrade und die seitlichen Mauersegel krönen, als Vorposten jener Versammlung von Heiligen, die Rusutis Majestas Domini flankieren. Ebenso korrespondieren die Cherubim, die innerhalb der Loggia das Gewölbe und in der Fassadenfront die Bogenscheitel abstützen, mit den Engeln, die in der Darstellung des Schneewunders9 die Glorien bevölkern und in der Majestas Domini die Mandorla halten. Darüber hinaus verleihen die Cherubim dem Gewölbe, das sie tragen, und den Archivolten, die sie stützen, den Charakter einer Himmelsarchitektur. Fuga hat also das gesamte Obergeschoss seiner Fassade als Pendant des goldenen Himmelsgrundes im oberen Bildregister konzipiert, aber auch der sternenbesetzten Mandorla in der Majestas Domini. Diese Beobachtung erlaubt den Rückschluss, dass die Cherubim in einer ganz besonderen Absicht aus dem Mosaikgrund herausgetreten sind: um den Himmel aus der Fläche des Mosaiks in die plastische Struktur einer Gewölbearchitektur zu überführen (vgl. Bild 6). 9

Siehe die einzelnen Belegstellen bei Ilse von zur Mühlen: Nachtridentinische Bildauffassungen. Cesare Baronio und Rubens’ Gemälde für S. Maria in Valicella in Rom, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 41 (1990), S. 23–49, S. 31–34.

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DAS VERRÄUMLICHTE BILD IM VERBILDLICHTEN RAUM

Folglich haben wir es mit der Vergegenwärtigung eines weiteren heilsgeschichtlichen Ereignisses zu tun: Mithilfe der Engel hat sich die göttliche Weisheit ihr Haus erbaut (Spr 9,1). Durch das Gewölbe dieses Hauses tritt der Logos aus der substanzlosen Sphäre des Himmels in die Welt hinein, um unter den Menschen Wohnung zu nehmen (Sach 2, 14 u. Jes 40, 9). Nach biblischer Überlieferung ist das Haus, in dem Gott Wohnung genommen hat, mit jenem Tempel identisch, zu dem er sich Maria erwählt hat.10 Fugas Loggia hypostasiert demnach das tabernaculum Dei und das templum cœleste, zu dem Maria durch die Empfängnis geworden ist. Besonders sinnfällig wird diese Vorstellung am Motiv der Ädikula, die in der vorderen Fassadenebene die Figur der Gottesmutter trägt (Bild 9). Wie die Arkade, die sie rahmt, gehört sie der Himmelsarchitektur an, wobei sie in ihrer Semantik (ædicula als Synonym für Haus) auf die ædes oder domus sapientiæ anspielt, während sie in ihrer äußeren Form (Giebel über Säule und Gebälk als Abbreviatur einer Tempelfront) das templum cœleste evoziert. Über die Empfängnis hinaus veranschaulicht Fugas Architektur die Inkarnation des Logos. Paulus umschreibt die Menschwerdung im Epheserbrief mit dem griechischen Verb e’j'emorem (ekénosen), dem der lateinische Begriff exinanire entspricht (Phil 2,7). Die gängige Übersetzung „sich entäußern“ kann die Semantik dieser beiden Worte nicht vollständig erfassen. Gemeint ist vielmehr ein „Sich-Ausgießen“, ein „Sich-Entleeren“, das sich während der Passion bis zu einem „Sich-Entblößen“ und „Sich-Preisgeben“ steigert. Damit ist derselbe Vorgang gemeint, den der christliche Neuplatonismus mit dem Begriff der emanatio (wörtlich: Ausgießung) umschrieben hat. Eben diesen Vorgang veranschaulicht die Loggia. In ihrer Gestalt ergießt sich der in der Majestas Domini herabgestiegene Logos in die Welt hinein. In der Architektur wird der Geist zur Materie. Und da die barocke Kunst die Emanation stets mit von oben einfallendem Licht assoziiert, evoziert auch das Tageslicht, das sich durch die offene Stichkappe über die Majestas ergießt, die Herabkunft des Logos. Verstärkt wird die Identifizierung des Lichts mit dem Logos durch die Inschrift in dem Buch, das Christus in seiner Linken hält: ego svm lvx mvndi (vgl. Joh 8,12). Der Logos ist jenes „aufstrahlende Licht aus der Höhe“, das nach den Worten des Benedictus die Menschen „durch die barmherzige Liebe Gottes“ besucht („per viscera 10

In der Legenda Aurea bezeichnet Christus seine Mutter, als er ihre Seele in den Himmel aufnimmt, als tabernaculum gloriæ, vasculum vitæ, templum cœleste (Jacobus de Voragine: Jacobi a Voragine Legenda Aurea. Vulgo historia Lombardica dicta / ad optimorum librorum fidem recensuit Th. Graesse, Leipzig 1890, Kap. 119, S. 509). Zu der im Mittelalter einsetzenden Verehrung Marias als „Gottes Tabernakel“ siehe auch Hans Ost: Die Cappella Sistina in S. Maria Maggiore, in: Werner Busch/Reinher Haussherr/Eduard Trier (Hg.): Kunst als Bedeutungsträger. Gedenkschrift für Günter Bandmann, Berlin 1978, S. 279–303, S. 291.

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misericordiæ Dei nostri, in quibus visitabit nos oriens ex alto“; Lk 1,78). Fugas Architektur ist in Stein gegossenes Licht. Und schließlich steht die Fassade für die Kirche, die den mystischen Leib Christi auf Erden bildet (1 Kor 6,15 u. Kol 1,18), deren Eckstein Christus ist (Apg 4,11) und in deren Gestalt sich der göttliche Geist an Pfingsten ausgegossen hat. Darüber hinaus wird die Kirche durch Maria präfiguriert, womit sich der Kreis der Bedeutungen schließt. Mariologie, Christologie und Ekklesiologie bilden bei Fuga eine unauflösliche Einheit. Innerhalb dieser Einheit stellen die verschiedenen Elemente der Architektur sechs aufeinanderfolgende Ereignisse dar: Zunächst vergegenwärtigt die Vorderseite als Teil des Fassadenmantels die Erwählung Marias zur Braut. Sodann paraphrasieren das Gewölbe und die Ädikula als Teile der domus sapientiæ, des tabernaculum Dei und des templum cœleste die Empfängnis. Des Weiteren alludiert die Loggia in ihrer Eigenschaft als Emanationsarchitektur auf die Menschwerdung. Die Mittelarkade vollzieht die Aufnahme Marias in den Himmel nach. Nun evoziert der Fassadenmantel die Erhebung Marias zur Himmelskönigin. Und schließlich steht die gesamte Architektur für die Stiftung der Kirche und das sakramentale Hineintreten Christi in die Welt. Den Versuch, die Architektur von S. Maria Maggiore durch die Verräumlichung ihres musivischen Figurenapparats selbst zum Bild werden zu lassen und im Gegenzug den Bildinhalt durch seine architektonische Verlängerung in den Realraum ausgreifen zu lassen, hatte Fuga schon 1736, in der ersten Projektphase, unternommen (Bild 6). Allerdings hatte damals nur eine Erneuerung des Portico angestanden. Ein zweites Geschoss mit Loggia war noch nicht geplant. Daher dachte Fuga vor allem daran, den Raum zwischen Portico und Zwillingspalästen als eine Art Guckkasten zu gestalten. Innerhalb desselben hätten die Heiligenstatuen noch mehr als an der ausgeführten Fassung den Eindruck erweckt, sie seien aus dem Mosaik ins Freie getreten. Das (zu Beginn des 20. Jahrhunderts leider entfernte) gotische Radfenster wiederum hätte die Gottesmutter wie eine Gloriole hinterfangen und wäre dadurch zu einem bildhaften Element geworden. Es hätte jene rosa mystica paraphrasiert, als die Maria in der Lauretanischen Litanei verherrlicht wird. Zweifellos deckte schon der erste Entwurf das reiche szenographische Potential auf, welches das Ensemble von Mosaiken, Portico und Zwillingspalästen besaß. Ebenso wurde das bildhafte Potential der Architektur fassbar. Die Aussicht, dieses zweifache Potential durch Hinzufügung einer Loggia gänzlich auszuschöpfen und es darüber hinaus zu nutzen, um den dramatischsten Akt der Heilsgeschichte, nämlich das Hineintreten Gottes in die Welt, darzustellen – diese Aussicht könnte mit ein Grund für die weiterführenden Planungen gewesen sein.

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Bild 6 Ferdinando Fuga: Erster Entwurf für den Portiko von S. Maria Maggiore, um 1740/41.

Bild 7 Ferdinando Fuga: Ausführungsentwurf für Portiko und Benediktionsloggia von S. Maria Maggiore, um 1744 (Quer- und Längsschnitt), Rom, Istituto Nazionale per la Grafica, Gabinetto Disegni e Stampe, FN 13862.

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D ie Fa ssade a ls ha ndel ndes Bi ld Indes brachte die Hinzufügung der Loggia das szenographische und ikonische Potenzial der Westseite noch in einer anderen Hinsicht zur Entfaltung. Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) –1965) 65) war die Loggia Schauplatz päpstlicher Segensspendungen (Bild 8 u. 9). Dabei verlieh die Architektur der Zeremonie einen besonders würdigen Rahmen, da sie den Pontifex wie ein steinerner Baldachin überfing. Darüber hinaus galt der syrische Architrav, in dem die Mittelarkade ausgeführt war, wie die ihr verwandte Serliana als ein imperiales Hoheitsmotiv.11 Vor allem aber waren die Protagonisten der Segensspendung in Fugas Inszenierung einbezogen. Nun erfolgte die Verräumlichung der Architektur nicht nur durch den ikonographischen Bildapparat, sondern auch durch reale Personen. Papst, Klerus und Gläubige repräsentierten das Gottesvolk, das sich – wie in den Darstellungen der Schutzmantelmadonna – unter dem Gewand der Muttergottes versammelt hatte. Darüber hinaus wiederholte der Papst den Segen, den Christus in der Majestas Domini spendet (Bild 4), bzw. leitete diesen an die Gläubigen weiter. Auf diese Weise präsentierte er sich als ein Ebenbild Christi und als ein Mediator Dei. Die typologische Entsprechung zu Christus wurde durch den Stoffbaldachin verstärkt, der den Pontifex überfing. Er paraphrasierte den Himmel auf eine ähnliche Weise wie das Gewölbe der Loggia. Dagegen wurde das päpstliche Mittleramt in der architektonischen Verräumlichung des mosaizierten Himmelsgrundes sinnfällig. Sie erschien nun als die äußerliche Manifestation der Segensspendung, zeigte sie doch an, dass der Papst die Gnade des Himmels nachgerade auf die Erde herabgerufen hatte. Zugleich gewann die Aussage, die Kirche sei eine Emanation des Logos, weiter an Anschaulichkeit. Und noch klarer offenbarte sich in der Metamorphose der Architektur das Heilshandeln Gottes. Freilich war dieses Handeln nun kontextualisiert: es geschah innerhalb der Kirche – in Interaktion mit den Menschen. Außerhalb der Segensspendungen war dieses Wechselverhältnis von menschlicher Actio und göttlicher Reactio nicht minder wirksam. Besonders in der Liturgie der Adventszeit antwortete die Architektur den verschiedenen Bitten und Anrufungen der Kirche auf vielfache Weise, wobei sie zusätzliche Eigenschaften offenbarte. Wenn die Schola beispielsweise die Rorate-Antiphon intonierte, schien es, als öffne sich das Loggiagewölbe, um wie die Himmel „den Erlöser herabzutauen“ („Rorate cœli de super, et nubes pluant justum“; vgl. Jes 45,8).

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Vgl. Dorothy Metzger Habel: The Urban Development of Rome in the Age of Alexander VII, Cambridge 2002, S. 232–341 u. Ursula Nilgen: Das Fastigium in der Basilica Constantiniana, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 72 (1977), S. 1–31.

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DAS VERRÄUMLICHTE BILD IM VERBILDLICHTEN RAUM

Bild 8 Papst Pius XI. erteilt im Heiligen Jahr 1933 von der Loggia von S. Maria Maggiore den Segen.

Wie das Bildmotiv des aufgezogenen Vorhangs wurde das offene Gewölbe zur Chiffre der apparitio und des adventus Christi. Dasselbe galt für die erhöhte Mittelarkade. Wenn der 24. Psalm angestimmt wurde, machte sie sich für den „König der Herrlichkeit“ so „weit und hoch“ wie die Tore der Stadt Jerusalem und des Tempels („Attollite portas, principes, vestras […]. Dominus virtutum ipse est rex gloriæ“; Ps 24,9.10). Und erklang die Marien-Antiphon „Ave Regina Cœlorum“, so öffnete sie sich, um wie Maria das göttliche Licht in die Welt einzulassen („Salve radix, salve porta, ex qua mundo lux est orta“). Ebenso tat sich die Arkade während der Alma-Redemptoris-Mater-Antiphon auf, um zur „allzeit zugänglichen Himmelstür“ („pervia cæli porta“) zu werden. Bewirkte die Architektur in der ersten Leserichtung das Hereintreten des Göttlichen aus der immateriellen Sphäre des Himmels in die Welt, so vollzog sie in der gegenläufigen Bewegung das Transzendieren der Welt aus Raum und Zeit in die Substanzlosigkeit des Ewigen und Unendlichen nach. Damit

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Bild 9 Papst Pius XI. erteilt im Heiligen Jahr 1933 von der Loggia von S. Maria Maggiore den Segen.

„imitierte“ sie gleichsam die gehorsame Mitwirkung Marias am göttlichen Heilsplan. Wohl kaum ein Architekt hat die Interaktion zwischen Gott und Schöpfung so anschaulich gemacht, ja so „bildhaft“ in Szene gesetzt wie Fuga. Diese Inszenierung schloss sogar die Erbauung der Fassade an sich ein. Wie die Schilderungen des Schneewunders zeigten, hatte Gott den Umriss der Vorgängerkirche durch herabfallenden Schnee vorgegeben, damit Papst Liberius und der Patricius Johannes ihn in reale Architektur umsetzten. Fugas Fassadenkonzept war in der Gründungslegende der Basilika also schon angelegt: hinsichtlich der Übertragung eines himmlischen Bildes in Architektur, der materiellen Verwirklichung einer göttlichen Idee und des kooperativen Gehorsams der Menschen.

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DAS VERRÄUMLICHTE BILD IM VERBILDLICHTEN RAUM

Mosa i k u nd Fa ssade i m Kontex t des St adt rau m s Eine weitere Eigenschaft von Fugas Architektur bestand darin, dass sie nicht nur in szenographischer, sondern auch in gedanklicher Hinsicht ein räumliches Umfeld voraussetzte. Hierfür gab es eine Reihe von Gründen. Einer davon war die Ikone der Salus Populi Romani, die seit dem 9. Jahrhundert in S. Maria Maggiore als wundertätiges simulacrum verehrt wurde.12 Der Schutz, den die Theotokos durch ihr Bild gewährte, galt explizit der stadtrömischen Bevölkerung. Diese wiederum stand exemplarisch für das gesamte Gottesvolk – ein Gedanke, der schon der Weiheinschrift am spätantiken Triumphbogen des Langhauses zugrundelag (xystvs episcopvs plebi dei).13 Nach römischem Selbstverständnis verdichtete sich die Heilsgeschichte der Menschheit im Stadtgebiet des einstigen caput mundi. Diese Vorstellung griff die Fassade in ihrer Bedeutung als Gewand der Schutzmantelmadonna implizit auf: Aus dem römischen Stadtraum kommend, hatte die Menschheit bei der Madonna, wie der Hymnus „Sub tuum præsidum configimus“ es ausdrückte, „Zuflucht genommen“ (vgl. Bild 9). Desgleichen verlangte die Symbolik der Fassade als Himmelstür bzw. als Stadttor nach einem Vorraum: in den Christus bei seinem Adventus eintrat und von dem aus das Gottesvolk ins Jenseits gelangte. Und nicht zuletzt wurde der Vorraum durch die Metapher des Weges nahegelegt. Diese Metapher war im Mosaik selbst enthalten (Bild 4). In dem von Christus präsentierten Buch hatte Rusuti den Worten ego svm lvx mvndi ein qvi angehängt, so dass man den Satz so zu Ende denken muss, wie er in Joh 8,12 steht: „[…]qui sequitur me, non ambulabit in tenebris, sed habebit lucem vitæ“ („[…] und wer mir nachfolgt, wird nicht im Finstern wandeln, sondern das Licht des Lebens haben“). Auch die mit der Inschrift assoziierte Stelle im Benedictus „Uns wird besuchen das aufstrahlende Licht auf der Höhe“ mündet in das Bild des Weges: „[…] um unsere Füße auf den Pfad des Friedens zu lenken“ („ad dirigendos pedes nostros in viam pacis“; Lk 1,79). Im Pilgersegen, den der Papst von Fugas Loggia herab spendete, wurde diese Bitte leicht verändert wiederholt: „Der allmächtige und barmherzige Herr führe euch auf dem Weg des Friedens und des Wohlergehens“ („In viam pacis et prosperitatis dirigat vos omnipotens et misericors Dominus“).14

12 13

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Hierzu ausführlich: Gerhard Wolf: Salus populi Romani. Die Geschichte römischer Kultbilder im Mittelalter, Weinheim 1990. Über die „Zuspitzung“ der Heilsgeschichte auf Rom, gerade auch mit Blick auf das spätantike Triumphbogenmosaik, siehe: Jochen Martin: Der Weg zur Ewigkeit führt über Rom. Die Frühgeschichte des Papsttums und die Darstellung der neutestamentlichen Heilsgeschichte im Triumphbogenmosaik von S. Maria Maggiore, Stuttgart 2010, S. 105f, 115f, 127–132. Rituale Romanum, Benedictio Peregrinorum ad Loca Sancta prodeuntium.

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Die Inszenierung der Ankunft Gottes in der Welt war in S. Maria Maggiore also mit dem Aufruf verbunden, auf dem von Gott gewiesenen Weg aus der Welt ins Jenseits zu gehen. In diesem Sinne hatten schon in Fugas erstem Entwurf die Heiligen den Eindruck erweckt, sie seien eigens deshalb aus dem Bild herausgetreten, um die Pilger, die von der Stadt her auf den Esquilin gezogen waren, zu empfangen und sie ins Jenseits zu Christus zu geleiten. Schon vor dem Bau der Fassade war die Majestas Domini der Zielpunkt einer von Heilswegen durchzogenen urbanen Topographie. Diese Wechselbeziehung von Bild und Stadtraum war in Rusutis Mosaik selbst angelegt. Ebenso war sie aber auch durch die Gestaltung der römischen Topographie vorgegeben, auf die wir abschließend eingehen wollen. Wie ich an anderer Stelle dargelegt habe, hatte Sixtus’ V. (1585–1590) –1590) 90) das römische Stadtgebiet in architektonischer wie in liturgischer und (kirchen-)politischer Hinsicht zu einem dramaturgisch inszenierten Abbild der Heilsgeschichte umgestaltet, dessen Mittelpunkt S. Maria Maggiore bildete.15 Zunächst hatte der Papst auf der Kuppe des Esquilin mehrere Straßenachsen in Gestalt eines Sterns zusammengeführt (Bild 10). Nach René Schiffmann alludierte diese „forma syderis“ auf die stella maris, als die Maria in der Alma-Mater-Antiphon bezeichnet wird. Zugleich symbolisierte sie Christus, die stella matutina. (Erneut fielen Christus- und Mariensymbolik zusammen.) Und schließlich erinnerte das sidus – in Anspielung auf die Krippenreliquie – an den Stern von Bethlehem.16 Indes war Sixtus’ Konzept noch komplexer. Da der Straßenstern vom höchsten Hügel der Stadt ausging, erinnerte er natürlich auch an die Erhebung Marias auf das solivm stellatvm, wie sie im Apsismosaik von S. Maria Maggiore dargestellt ist. Zudem war der Stern im buchstäblichen Sinne der Fluchtpunkt, an dem die schutzbedürftigen Gläubigen gemäß dem Hymnus „Sub tuum præsidium confugimus“ zusammenkamen. Außerdem symbolisierte er das „Licht“, das bei der Geburt Christi „die Menschen aus der Höhe“ besuchte (vgl. Lk 1,78) und das nun vom Esquilin in die Stadt herab strahlte. Und wie der Stern von Bethlehem sollte er die Menschen zu Christus führen. Daran erinnerte der

15

16

Zum Folgenden siehe: Peter Stephan: Rom unter Sixtus V. Stadtplanung als Vergegenwärtigung von Heilsgeschichte, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 72 (1/2009), S. 165–214. –214. 214. Eine weitere Publikation zur liturgischen Inszenierung des sixtinischen Stadtraums ist im Erscheinen begriffen: Peter Stephan: Transformation und Transfiguration. Die bauliche und geistige Erneuerung Roms unter Sixtus V., in: Werner Oechslin (Hg.): Heilige Landschaft – Heilige Berge, Zürich 2012. René Schiffmann: Roma felix. Aspekte der städtebaulichen Gestaltung Roms unter Papst Sixtus V., Bern/Frankfurt/M. 1985, hier S. 123.

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DAS VERRÄUMLICHTE BILD IM VERBILDLICHTEN RAUM

Bild 10 Giovanni Maggi (?) Die von Sixtus V. angelegten Sraßenachsen als „Forma Syderis“.

Pilgersegen des Papstes: „Deus, qui […] tribus Magis iter ad te stella duce pandisti: tribue eis, quæsumus, iter prosperum, tempusque tranquillum.“17 Indes lenkte der sixtinische Straßenstern die Menschen nicht nur auf ihren Wegen; er bestand auch selbst aus diesen Wegen. Daher ließ sich auch eine weitere Passage des Pilgersegens auf ihn beziehen. Diese verglich den Weg der Heiligen Drei Könige mit jenen Pfaden, auf denen Gott sein Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft geführt hatte.18 Verortete man diese Metaphern innerhalb der sixtinischen Stadtplanung, so standen die Straßenachsen für den Aufbruch der Kirche, die nach dem Trienter Konzil unter Führung des Papsttums aus der Knechtschaft der Sünde befreit worden war. Nun sollte das Gottesvolk wieder ganz auf Christus, das lvx mvndi, ausgerichtet werden.

17 18

Rituale Romanum (wie Anm. 14). „Deus, qui filios Israel per maris medium sicco vestigio ire fecisti, quique trius Magis iter ad te stella duce pandisti: tribue eis, quæsumus, iter prosperum, tempusque tranquillum[…].“ Ebd.

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Über die geometrische Grundform des Sterns hinaus sollte sich diese Neuordnung in der konkreten Ausgestaltung der einzelnen Wegachsen niederschlagen. Sixtus wollte die innere iustificatio der Kirche durch eine äußere iustificatio der Landschaft sinnfällig machen. Die moralische und kirchenpolitische „Korrektur“ sollte ihren Niederschlag in einer topographischen „Begradigung“ finden. Zugleich sollte die iniquitas des Gottesvolkes beseitigt werden – und dies ebenfalls im doppelten Wortsinn: durch die Überwindung der „Sünde“ und durch die Beseitigung aller geographischer „Unebenheiten“. Wie es Jesaja und Johannes nachdrücklich gefordert hatten, sollten die neuen Heilswege, die auf Gottes heiligen Berg führten (Jes 2,2–3), nicht nur gerade, sondern auch eben verlaufen (Jes 40,3f u. Lk 3,4–6). Konkret bedeutete dies, dass sich auf den Wegen zum Esquilin alle Erhebungen senkten und alle Vertiefungen erhoben. In der Bibel steht dieser Vorgang für die ausgleichende Gerechtigkeit Gottes und die sich gegen alle Widerstände Bahn brechende Herrschaft Christi. Eben diese alles überwindende Neuordnung der Welt wollte Sixtus in Rom modellhaft inszenieren. Nicht von ungefähr findet sich bei Domenico Fontana der Hinweis, der Papst habe seine geraden Straßen „von einem Ende der Stadt zum anderen“ erbaut, und zwar „ungeachtet der Hügel oder Täler, die sie kreuzten: indem er die ersteren abtrug und die zweiten füllte […]“.19 Auch der päpstliche Pilgersegen griff das Bild der begradigten und geebneten Wege auf – zum Teil unter wörtlicher Zitierung Jesajas: „Vias tuas, Dominus, demonstra nobis. Et semitas tuas edoce nos. Utinam dirigantur viæ nostræ. Ad custodiendas iustificationes tuas. Erunt prava in directa. Et aspera in vias planas.“ Und schließlich schuf Sixtus mit seinen semitæ rectæ eine städtebauliche Dramaturgie, die es ihm erlaubte, entlang der Pilgerwege die wichtigsten Stationen der Heilsgeschichte zueinander in Beziehung zu setzen: das Wirken des Mose (Aqua Felix) und Johannes des Täufers (Lateranbasilika mit Baptisterium) sowie das Leben Jesu und Mariens, die Stiftung der Kirche und die Wiederkunft Christi (S. Maria Maggiore). Diese Verräumlichung von Heilsgeschichte war möglich, weil die Geschichte der Kirche nach eigenem Selbstverständnis einer Pilgerschaft gleicht. An diese Vorstellung knüpfte Fuga unmittelbar an. Der Weg, der durch seine Fassade zu Christus führt, steht für den Weg der Kirche durch die Zeit. So blickt der Betrachter aus seiner eigenen Gegenwart auf eine Abfolge mehrerer historischer Schichten, die in den verschiedenen Bauphasen fassbar werden: auf das Jubeljahr 1750 und den Pontifikat Benedikts XIV. (Loggia), die Pontifikate

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Domenico Fontana: Del modo tenuto nel trasportare l’obelisco vaticano di Nostro Signore Papa Sisto V. fatte dal Cavalier Domenico Fontana Architetto di Sua Santità, Rom 1590, libro primo, 101 r.

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Pauls V. (Zwillingspaläste), Gregors XIII. (Säulen des Portico) und Gregors XI. (Campanile von 1377), das erste Heilige Jahr 1300 unter Bonifaz’ VIII. (Fassadenmosaiken) sowie den Pontifikat Sixtus II. (spätantikes Langhaus).

Mosa i k , Fa ssade u nd St adt rau m a ls Tei le ei nes ta bl e a u v i v a nt Indes hatte Sixtus mit der Umgestaltung der Stadt nicht nur den Verlauf der Heils- und Kirchengeschichte nachzeichnen wollen, sondern auch die Mitwirkung der Menschen am göttlichen Heilshandeln. Auch dies erreichte er durch das Anlegen der geraden Wege, da diese Maßnahme mit höchst aufwändigen und kostspieligen Nivellierungsmaßnahmen verbunden war und sich folglich als ein Akt kollektiver Buße deuten ließ. Auf diese Weise mutierte die Stadt zum kollektiven konfessionellen Disziplinarraum. Im Rahmen der Liturgie wurde die Stadtraumkodierung aufgerufen und kontextualisiert, so dass die Gläubigen die theologischen Botschaften, die der urbanen Semantik zugrundelagen, internalisierten und habitualisierten. Letzteres geschah vor allem, wenn die Pilger auf der Via Merulana von San Giovanni nach S. Maria Maggiore zogen. In dem schon mehrfach erwähnten Pilgersegen betete der Papst auch darum, Gott möge seinem Volk helfen, der Aufforderung Johannes des Täufers Folge zu leisten: auf den geraden Wegen des Herrn zu wandeln, sich auf das Kommen Christi vorzubereiten und dem Anbruch des Gottesreichs entgegenzusehen.20 Eben dies taten die Rompilger, wenn sie bei der Kirche des Täufers aufbrachen, um auf der von Sixtus angelegten schnurgeraden Straßenachse Rusutis Majestas Domini entgegenzugehen. Während der gleichfalls auf der Via Merulana stattfindenden Fronleichnamsprozession baten die Gläubigen im Hymnus „Sacris Solemnis Juncta“ Gott, er möge sie auf „seinen Wegen zum Licht“ zu führen („Per tuas semitas duc nos quo tendimus ad lucem“). Der darauffolgende Hymnus „Verbum Supernum“ verherrlichte die heilbringende Hostie, die „den Weg zur Pforte des Himmels bahnt“ („O salutaris hostia, quæ cæli pandis ostium“). Der Hymnus „Salutis Humanæ Sator“ feierte Jesus als das „reine Licht“, als den „Weg“ und als den „Führer zu den Sternen („tu dux ad astra, et semita“). Das Lied „Æterne Rex Altissime“ schließlich verherrlichte Christus, der als Weltenherrscher zu den Kreisen der Sterne („orbes siderum“) aufgefahren war. Alle diese Bilder standen den Gläubigen vor Augen, wenn sie sich auf Fugas Fassade zubewegten. 20

„Præsta, quæsumus, omnipotens Deus: ut familia tua per viam salutis incedat; et beati Joannis Præcursoris hortamenta sectando, ad eum, quem prædixit, secura perveniant, Dominum nostrum Jesum Christum Filium tuum.” Rituale Romanum (wie Anm. 14).

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Nicht zuletzt dürfte den Pilgern die Fassade von S. Maria Maggiore als ein gewaltiger Straßenaltar erschienen sein, wobei die Loggia jetzt jenes tabernaculum evozierte, in dem das Altarsakrament aufbewahrt wird. In diesem Zusammenhang erinnerte der in der Mandorla gegenwärtige Christus an die konsekrierte Hostie. Das imaginierte Hineintreten des Logos in die Welt hatte damit den letzten Zustand des „Sich-Entäußerns“ erreicht. Über das Stadium der Verräumlichung und Verkörperlichung hinaus hatte sein Bild haptische Qualität erlangt. Nun strahlte der Leib Christi über den Straßenstern in die Welt aus. Der Stadtraum war zu einer begehbaren Strahlenmonstranz geworden. Schon unter Sixtus V. hatte der Straßenstern das von Rusutis Majestas ausgehende Wirken Christi in den Stadtraum weitergeleitet und der Interaktion zwischen Mosaikbild und Stadtbevölkerung eine konkrete Struktur verliehen. Anderthalb Jahrhunderte später schuf Fuga mit seiner Fassade eine Art Katalysator, der diese Prozesse intensivierte. Nachdem Sixtus den lebenden Stadtraum mithilfe des Straßensterns verbildlicht hatte, verlebendigte und verräumlichte Fuga nun Rusutis Mosaikbild mithilfe seiner Fassade (vgl. Bild 9). Mosaik, Fassade und Stadt waren zu einem riesigen tableau vivant verschmolzen.

Hans Körner

G I OVA N N I G O N N E L L I Quellen und Fragen zum Werk eines blinden Bildhauers1

D ie „b este Da r stel lu ng“ Urba ns V II I. Wer im ausgehenden 17. Jahrhundert Rom mit dem Reisebericht François Maxi­ milien Missons im Gepäck besuchte, wurde im Palazzo Barberini auf eine Mar­ morbüste Urbans VIII. aufmerksam gemacht, die „die beste Darstellung ist, die man von diesem Papst besitzt“.2 Die Angaben Missons sind nicht korrekt. Nicht um eine Marmor­, sondern um eine Terrakottabüste handelt es sich (Bild 1) und das Lob, es sei das beste Porträt des Barberini­Papstes, war zweifellos zu hoch gegriffen. Die Terrakotta­Büste des Palazzo Barberini ist nur eine freie Kopie nach einem Werk Gianlorenzo Berninis.3 Vorlage war die im Palazzo Spada auf­ bewahrte Bildnisbüste,4 bzw. der Prototyp, auf den das Exemplar des Palazzo Spada vermutlich zurückgeht (Bild 2).5 Am 15. März 1637 melden die Dokumente des Barberini­Archivs den Eingang von „zwei Bildnissen des Papstes Urban […] aus Terrakotta von dem

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Publiziert wurde dieser Aufsatz erstmals in: Johannes Bilstein/Guido Reuter (Hg.): Auge und Hand, Oberhausen 2011, S. 135–154. „[…] un buste de marbre du Pape Urbain huitième, lequel […] est la meilleure re­ présentation que l’on ait de ce Pape.“ François Maximilien Misson: Nouveau Voyage d’Italie fait en l’année 1688 […], 2 Bde., Bd. 2, Den Haag 1691, S. 79. Chiara d’Afflitto: Il ritratto seicentesco, in: Ausst. Kat.: La civiltà del cotto. Arte della terracotta nell’area fiorentina dal 15 al 20 secolo, hg. v. Antonio Paolucci, Florenz 1980, S. 127. Sandro Bellesi: Giovanni Gonnelli, in: Allgemeines Künstlerlexikon. Die bilden­ den Künstler aller Zeiten und Völker, München, Bd. 58, München 2008, S. 141. Philipp Zitzlsperger: Gianlorenzo Bernini. Die Papst­ und Herrscherporträts. Zum Verhältnis von Bildnis und Macht, München 2002, S. 82.

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HANS KÖRNER

Bild 1 Giovanni Gonnelli: Bildnis Urbans VIII., 1637, Vatikanische Museen, Rom.

Bild 2 Gianlorenzo Bernini: Bildnis Urbans VIII., um 1640 (Prototyp 1637 oder früher), Palazzo Spada, Rom.

Bildhauer Gio. Gamassi, dem Blinden“.6 Eine dieser beiden Büsten wird für den 24. März 1637 als Erwerbung Kardinal Francesco Barberinis erwähnt.7 Im 1649 verfassten Inventar dieses Barberini­Kardinals sind dann „zwei Köpfe […] des Papstes Urban […], gemacht von Gio. Camassio dem Blinden“8 aufgelistet. Das Inventar Carlo Barberinis, das im späten 17. Jahrhundert die Sammlung im Pa­ lazzo Barberini alle Quattro Fontane zusammenfasst, erwähnt eine Tonbüste Papst Urbans von „Gio: Gambasse dem Blinden“ und notiert, dass diese Tonbüs­ te auf einem Alabastersockel stehe.9 Von diesen beiden in den von Marilyn Aronberg Lavin publizierten Quellen des Barberini­Archivs erwähnten Terra­ kotta­Porträts des Barberini­Papstes wird mit großer Sicherheit die eine Büste mit derjenigen identisch sein, die Misson den Italienreisenden zur Besichtigung

6 7 8 9

„Entro dui retratti de Pappa Urbano cioe petto è testa fatti di terra cotta de Gio. Gamassi scoltori Chieco.“ Marilyn Aronberg Lavin: Seventeenth­century Barber­ ini documents and inventories of art, New York 1975, S. 17. Ebd., S. 51. „Due teste con un mezzo busto fatte di terra cotta […] di Papa Urbano […], fatte da Gio.: Camassio Cieco.“ Lavin: Barberini documents (wie Anm. 6), S. 257. Ebd., S. 446.

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empfohlen hatte.10 Als erstes, leider auch als einziges im positivistischen Sinne positives Ergebnis dieses Beitrags kann somit festgehalten werden, dass mit dem Erwerb von Gonnellis Kopie von Berninis Porträt Urbans VIII. ein Terminus ante für die Datierung der vorbildhaften Büste Berninis gewonnen ist. Die Entsprechungen von Vor­ und Nachbild sind offensichtlich. Interes­ santer sind die Unterschiede. Giovanni Gonnellis Kopie zieht das Gesicht des Papstes in die Breite, ist flächiger als Berninis Marmorbüste. Wie in Berninis Porträt sind in der Terrakotta­Büste die Iriden mit Einritzungen konturiert und die Pupillen mit einer runden Vertiefung markiert. Gerade in diesen Details der Augenbildung aber manifestiert sich am nachdrücklichsten der Qualitätsunter­ schied: In der Terrakotta­Büste ist der Blick unkoordiniert, starr, leer. Das war nicht anders zu erwarten, wenn die Angabe zuverlässig sein sollte, die wohl in erster Linie das Interesse Missons und seiner Leser geweckt haben dürfte. Diese „Büste war von einem Blinden gemacht worden“.11 Die ersten Nachrichten über Leben und Werke Giovanni Gonnellis gab Petrus Servius in seiner Dissertatio de Unguento Armario, sive de Naturae Miraculis (Rom 1642). Es sei keineswegs ein „erdichtetes Mährlein“, dass ein „blinder Bildhauer einem anderen (das Bildniß) gantz ähnlich aus Leyme nach­ gemacht.“12 Persönliche Bekanntschaft führte der Autor ins Spiel. Zum Dank für eine ärztliche Behandlung habe der blinde Künstler ihm „seine Dienste“ angeboten, die Servius jedoch bescheiden ablehnte.13 1661 verwies Giovanni Andrea Borboni bei der Diskussion der Frage, ob die Gattung der Skulptur die Augen benötige, auf den berühmten „Cieco Gambassi“.14 Bernardo Oldoini (Ristretto dell’ historie del mondo 1679) pries Gonnelli als „eines der größten Wunder“.15 Die wichtigste Quelle über Leben und Werk dieses Künstlers ist die Lebensbeschreibung in der Vitensammlung des Filippo Baldinucci. Baldinucci lernte Giovanni Gonnelli und seine Weise zu porträtieren als 15jähriger per­ sönlich kennen. Um Informationen für seine Vita des blinden Bildhauers zu bekommen, besuchte Baldinucci die Witwe, die Tochter und die Enkelkinder.16

10 11 12 13 14 15 16

Das zweite in den Quellen erwähnte Porträt Urbans VIII. wird das ehemals in der Bibliotheca Vallicelliana befindliche sein. Vgl. Bellesi: Gonnelli (wie Anm. 4), S. 141. „lequel buste a esté fait par un aveugle“. Misson, II: Nouveau Voyage (wie Anm. 2), S. 79. Petrus Servius: Petri Servii […] Außführliches Bedencken Von der insgemein so genannten Waffen­Salben Oder von den Wunderwercken der Natur und Kunst [lat. Ausg. 1642], Frankfurt 1677, S. 31. Ebd., S. 32. Giovanni Andrea Borboni: Delle statue, Rom 1661, S. 69. Bernardo Oldoini: Ristretto dell’ historie del mondo, parte seconda, Dall’Anno MDCXXXV per fino al MDCL, Venedig 1674, S. 10. Filippo Baldinucci: Notizie dei professori del disegno da Cimabue […], Bd. 4, Flo­ renz 1846, S. 620ff. Zusammenfassend Delphine Fitz Darby: Ribera and the Blind Men, in: The Art Bulletin 39 (1957), S. 195f.

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Giovanni Gonnelli wurde 1603 in Gambassi, einem kleinen toskanischen Ort nahe Volterra, geboren. Als seine künstlerische Begabung offensichtlich wurde, schickte ihn sein Vater nach Florenz. Er ging dort zuerst als Schüler zu Chiarissimo Fancelli, später zu Pietro Tacca. In der Werkstatt Taccas erkannte Herzog Carlo Gonzaga das Talent des jungen Künstlers und nahm ihn mit nach Mantua. 1630 wurde Mantua von kaiserlichen Truppen belagert und nach der Einnahme geplündert. Giovanni Gonnelli beteiligte sich an der Verteidigung der Stadt. Danach – die Gründe sind nicht bekannt – begann Gonnellis Augen­ licht zunehmend schwächer zu werden. 1632 war er zumindest gemäß dem Zeugnis Baldinuccis vollständig erblindet. Einige Jahre verbrachte er in seinem Heimatort. Nachdem es ihm gelungen war, eine Terrakotta­Büste, die er von Großherzog Cosimo II. angefertigt hatte, zu restaurieren, fasste er den Entschluss, wieder als Bildhauer zu arbeiten.17 Großherzog Ferdinand II. wurde auf ihn auf­ merksam. Gonnelli übersiedelte deshalb wieder nach Florenz, nahm Unterricht an der Kunstakademie und fertigte eine Reihe von Bildnisbüsten in Wachs und Ton. Ein Porträt des Großherzogs Ferdinand II. „von der Hand des Blinden von Gambassi“ ist im Inventar der Apotheke des Großherzogs erwähnt.18 1637 kam er nach Rom, wo er unter anderem die genannte Tonbüste Papst Urbans VIII. mo­ dellierte. In Rom, 1664, im Alter von 61 Jahren, starb er. Es gibt keine Monographie über das Werk des blinden Bildhauers; die Mehrzahl der kunsthistorischen Texte zu Gonnelli wurde im Zeitraum vom späten 19. bis zum mittleren 20. Jahrhundert publiziert.19 Den aktuellen Stand der Forschung dokumentiert Bellesis Artikel über Gonnelli im 58. Band von Saurs Allgemeinem Künstlerlexikon (2008).20 Die gebotene wissenschaftliche Aufarbeitung von Leben und Werk dieses Künstlers ist auch von diesem Aufsatz nicht zu erwarten. Nur einige weitere – in der Gonnelli­Literatur bekannte und unbekannte – Quellen zu Leben und Werk des blinden Künstlers sollen im fol­ genden zitiert, und einige Fragen in diesem Zusammenhang formuliert werden, ohne dass in jedem Fall auch eine Antwort mitgeliefert wird. 17 18 19

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Karla Langedijk: The Portraits of the Medici. 15th–18th Centuries, Bd. 1, Flo­ renz 1981, S. 563. „una testa di terracotta del ritratto del Ser. Gr. D. Ferdinando, di mano del Cieco di Gambassi“, ebd., Bd. 2, S. 804. Eine Zusammenfassung geben Afflitto: Il ritratto seicentesco (wie Anm. 3), S. 126 und Volkmar Mühleis: Kunst im Sehverlust, München 2005, S. 119–121. Nicht dis­ kutiert werden in diesem Beitrag die angeblichen Bildnisse Gonnellis von Jusepe de Ribera und Livius Mehus. Dazu Darby: Ribera (wie Anm. 16), S. 195–217 und Hans Körner: Die enttäuschte und die getäuschte Hand. Der Tastsinn im Paragone der Künste, in: Valeska von Rosen/Klaus Krüger/Rudolf Preimesberger (Hg.): Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, München/Berlin 2003, S. 221ff. Bellesi: Gonnelli (wie Anm. 4), S. 141f.

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Zu m Œuv re des „Bl i nden von Ga mba ssi“ Eine noch nicht abschließend beantwortete Frage ist die nach dem erhaltenen Œuvre Gonnellis. Gesichert dürfte die Zuschreibung der Papstbüste an Gonnel­ li sein. Neben dem Eintrag von 1637 im Barberini­Archiv hat die Büste das Zeugnis des Servius (1642) für sich, der berichtete, der Blinde habe „deß Pabstes Urbani VIII Bildnuß ihme gantz ähnlich mit jedermanns Verwunderung ge­ macht und es ihme verehret“.21 Roger de Piles’ Dialogue sur le coloris von 1673 lobt diese Büste zusammen mit einem Porträt des verstorbenen englischen Kö­ nigs als „sehr ausgearbeitet und sehr ähnlich“.22 Bereits Roger de Piles notierte, dass die Papstbüste wie die des englischen Herrschers von Gonnelli nach Mar­ morbildnissen kopiert worden sei.23 Dokumentiert wird das Urbansporträt neben anderen Porträts von römischen Prälaten und Fürsten in der von Baldinucci publizierten Vita.24 Nach Missons Publikation seiner Italienreise des Jahres 1688 finden sich Hinweise auf Gonnellis Urbansporträt u. a. in folgenden Reiseberich­ ten, Reiseführern oder Briefen: William Bromleys 1692 erschienene Remarks in the Grand Tour of France & Italy zitieren die Sockelaufschrift: „Gio Gam­ bassi cieco fecit“ und betonen, dass der Blinde im Porträtfach exzellente Arbeit geleistet habe, wobei er Porträtähnlichkeit ausschließlich durch Befühlen der Gesichter erzielt habe.25 Francois Jacques Deseines Romführer (1713) lobt die „starke Ähnlichkeit“, führt das Porträt aber nun auf die Hand eines von Geburt Blinden zurück.26 In einem der erst zwischen 1745 und 1755, also Jahre nach seiner Italienreise von 1739 verfassten Briefe27, beließ es Charles de Brosses bei der Erwähnung der Büste und der Nennung des Künstlernamens Gambassio.28 De Blainville nutzte in seinen Travels through Holland, Germany, Switzerland 21 22 23 24 25 26

27 28

Servius: Außführliches Bedencken (wie Anm. 12), S. 32. „tres­finis & tres­ressemblans“, vgl. Roger de Piles: Dialogue sur le coloris, Paris 1673, S. 21. Auch Roger de Piles: Cours de peinture par principes, Paris 1708, S. 331. Piles: Dialogue sur le coloris (wie Anm. 22), S. 21. Auch Piles: Cours de peinture (wie Anm. 22), S. 331. Baldinucci: Notizie dei professori (wie Anm. 16), Bd. 4, S. 625. William Bromley: Remarks in the Grand Tour of France & Italy […], London 1692, S. 253. „[…] fort ressemblant, fait de terre cuite par un Aveugle né“. François Jacques Deseine: Rome moderne, Première Ville de l’Europe. Avec toutes ses Magnificences et ses Delices; Nouvellement & très­exactement décrite […], 6 Bde., Bd. 1, Leyden 1713, S. 184. In der Ausgabe von 1690 ist Gonnellis Büste noch nicht erwähnt. Insgesamt ist die Beschreibung des Palazzo Barberini in der Ausgabe von 1690 knap­ per ausgefallen (François Jacques Deseine: Description de la Ville de Rome en Fa­ veur des Etrangers, divisée en trois Parties, 4 Bde., Bd. 2, Lyon 1690, S. 133ff.), wohl weil der Autor damals nicht alle später beschriebenen Räume besichtigen durfte. Charles de Brosses: Lettres familières sur l’Italie, Einl. u. Anm. v. Yvonne Bezard, 2 Bde., Bd. 1, Paris 1931, Einleitung, S. X. Ebd., Bd. 2, S. 455.

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and Other Parts of Europe; But especially Italy die Gelegenheit der Erwähnung des Papstporträts zur Polemik: Die Büste, die „Monsieur Misson unerklärlicher­ weise irrtümlich als aus Marmor gemacht bezeichnete“ sei in Wahrheit aus ge­ brannter Erde.29 Ungeachtet dieser Richtigstellung ist in Thomas Nugents vier Jahre später erschienenem Reisebegleiter für die Grand Tour erneut von einer „ausgezeichneten Marmorbüste von Papst Urban VIII., gemacht von Gambassi, einem blinden Mann“, die Rede.30 Was lässt sich mit diesem Quellenmaterial, das sich vermutlich noch vermehren ließe, anfangen? Der Informationsgewinn ist gering. Die präziseste Auskunft über Gonnellis Papstbüste liefert bereits die Erwähnung bei Roger de Piles. Doch wichtig ist eben nicht nur das, was an korrekten Informationen transportiert ist, wichtig ist auch das, was inkorrekt übermittelt wird, wichtig ist, wie etwas zur Sprache kommt, ob überhaupt. Tatsächlich verkürzen, ja ver­ fälschen die späteren Texte Roger de Piles’ Information wieder. Verfälschungen können Signifikanz gewinnen. Sie erweisen sich gelegentlich als Strategien der Steigerung: Als Werk eines von Geburt blinden Bildhauers, wie bei Deseine nachzulesen, wäre das Urbansporträt sicher um einiges beachtlicher, und noch spektakulärer erschien die Leistung des Blinden durch die irrtümliche Materi­ alangabe – Marmor statt Ton. Wichtig für das Geschäft der kunsthistorischen Rekonstruktion des historischen Betrachterverhaltens ist schließlich der Anteil, den Objekte innerhalb der Texte beanspruchen. So verdient es Beachtung, dass William Bromley in seinen Remarks in the Grand Tour of France & Italy nur sehr knappe bis keine Informationen zu den Kunstwerken in Rom liefert. Der Eintrag zu Gonnellis Büste im Palazzo Barberini ist in diesem Kontext unver­ hältnismäßig ausführlich geraten. Welche Werke darf man dem blinden Bildhauer sonst noch zuschreiben? John Pope­Hennessy publizierte in seinem Katalog der italienischen Skulptur des Victoria & Albert Museums zwei Köpfe (Bild 3a u. 3b), in denen er Heiligen­

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„Tis is of baked Earth, tho’ Monsieur Misson, by an unaccountable Mistake, says of Marble.“ De Blainville: Travels through Holland, Germany, Switzerland and Other Parts of Europe; But especially Italy […] translated from the Author’s own Manuscript [Never yet Published] by George Turnbull and William Guthrie, 3 Bde., Bd. 3, London 1745, S. 84. „[…] an excellent marble bust of pope Urban VIII, done by Gambassi, a blind man“, Thomas Nugent: The Grand Tour Containing an Exact Description of most of the Cities, Towns, and Remarkable Places of Europe […], 4 Bde., Bd. 3, London 1749, S. 230.

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Bild 3a Giovanni Gonnelli zugeschr.: Heiliger, Victoria & Albert Museum, London.

Bild 3b Giovanni Gonnelli zugeschr: Heiliger, Victoria & Albert Museum, London.

darstellungen erkannte, als Werke des blinden Bildhauers,31 eine Zuschreibung, der sich Pratesi 1993 anschloss.32 Von den weiteren für Gonnelli reklamierten Werken hat das folgende das Zeugnis Baldinuccis auf seiner Seite. In einer der Nischen des Mönchschors der Florentiner Kirche S. Stefano stand die Statue des Kirchenpatrons (Bild 4). Gonnelli habe in Florenz nicht nur Bildnisse, sondern, was Bewunderung fand, auch Figuren geschaffen, „und unter diesen diejenige des heiligen Protomärty­ rers Stefanus, den wir heute in einer Nische innerhalb des Chors der Augustiner in der Kirche des Heiligen an der Ponte Vecchio sehen können“.33 Baldinucci fügte hinzu, dass eine der Hände des Heiligen mit der Zeit beschädigt worden sei und von Francesco Ciardi durch eine hölzerne Hand ersetzt worden sei.34

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John Pope­Hennessy: Catalogue of Italian Sculpture in the Victoria and Albert Museum, 3 Bde., Bd. 2, London 1964, S. 574f. sowie ebd., Bd. 3, Abb. 594, 595. Giovanni Pratesi (Hg.): Repertorio della scultura fiorentina del Seicento e Settecen­ to, 3 Bde., Bd. 1, Turin 1993, S. 48f. „[…] e fra queste quella del Santo Stefano protomartire, che oggi veggiamo in una nicchia per entro il coro de’ frati Agostiniani nella chiesa del Santo presso al ponte vecchio“. Baldinucci: Notizie dei professori (wie Anm. 16), Bd. 4, S. 624f. Ebd., S. 625.

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Bild 4

Giovanni Gonnelli: Hl. Stefanus, ehem. S. Stefano, Florenz.

Falls noch nicht geschehen – Baldinuccis Zeugnis wird sich nicht mehr nach­ prüfen lassen. 1993 wurde die Plastik zerstört.35 Die Augenbildung des Heiligen lässt sich gut mit der Form der Augen Urbans VIII. in der Terrakotta­Büste vergleichen (Bild 5). Ähnlich schematisch wie dem Barberini­Papst sind dem Märtyrer die Iriden und Pupillen eingezeich­ net. Die unterschiedlich gerichteten Blicke des hl. Stefanus sollen wohl das Außer­ sichsein bei der Vision vielleicht auch nur Frömmigkeit anzeigen; doch der Blick ist so leer und ausdruckslos geraten wie der Urbans VIII. Blick und Augenaus­ druck entziehen sich der Tastwahrnehmung. Gonnelli beschränkte sich dem 35

Trotta, Giampaola, La chiesa di Santo Stefano e Santa Cecilia al Ponte Vecchio, unter: http://www.museodiocesanofirenze.org/pagine/chiesa.htm (17. 7. 2010).

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Bild 5 Giovanni Gonnelli: Hl. Stefanus (Detail), ehem. S. Stefano, Florenz.

Bericht Baldinucci zufolge auf das Hilfsmittel eines Röhrchens, mit dem er die Augen sozusagen stempelte.36 Lebendiger geraten die Augen dadurch nicht. Eher verstärkte der mechanische Vorgang der Pupilleneintragung noch den Ein­ druck eines leeren, toten Blicks. Die auffällige Augenbildung ist kein hinrei­ chendes aber doch ein wichtiges Kriterium, auf das hin die in die Diskussion gebrachten Zuschreibungen zu überprüfen sind.

Der A rb eitsprozess des bl i nden Bi ld hauer s Filippo Baldinucci äußerte sich am ausführlichsten über die Arbeitsweise des blinden Bildhauers: Nachdem Gonnelli im Groben die Grundform einer Büste in Ton oder in Wachs modelliert hatte, stellte er vor sich Büste und den zu Por­ trätierenden oder ein Bildnis, das zu kopieren war, um bequem abwechselnd Vorbild und Abbild betasten zu können. Rasch legte er die Hauptabmessungen des Gesichtes und das Relief in seinen allgemeinen Abmessungen fest. Baldi­ nucci zufolge krümmte der Blinde dabei seine das Gesicht befühlende Hand zu einer Art „Maske“,37 die er in die Modelliermasse übertrug. Anschließend for­ mulierte er die Details aus. Dabei arbeitete Gonnelli grundsätzlich mit beiden Händen gleichzeitig, um die Symmetrie des Gesichtes nicht zu stören. Abschlie­ ßend, wie erwähnt, markierte er mit Hilfe eines Röhrchens die Pupillen. Zu­ allerletzt überzog er seine Porträts noch mit einer Art Firnis, der den Büsten eine Oberflächenwirkung ähnlich dem einer oxidierten Metalloberfläche gab.38 36 37 38

Baldinucci: Notizie dei professori (wie Anm. 16), Bd. 4, S. 624. „maschera“, ebd., S. 623. Ebd., S. 623f.

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Roger de Piles nannte, als er im Dialogue sur le coloris (1673) von seiner Begegnung mit dem blinden Bildhauer im Palazzo Giustiniani erzählte, keinen Namen, doch die Redaktion dieser Erzählung im Cours de peinture par principes (1708) identifiziert den Blinden deutlich genug mit dem Hinweis, er stamme aus „Cambassi in der Toskana“.39 Roger de Piles ließ Giovanni Gonnelli selbst seine Arbeitsweise schildern: „Ich betaste […] mein Modell, ich untersuche aufmerksam die Größen­ verhältnisse, die Erhöhungen und die Vertiefungen; ich bemühe mich sie im Gedächtnis zu behalten; dann lege ich Hand an meinen Wachsblock und durch den Vergleich, den ich anstelle, indem ich wiederholt und ab­ wechselnd mit der Hand dieses [das Modell] und jenes [die Wachsbüste] befühle, vollende ich mein Werk so gut ich es vermag.“40 Ein Jahr nach Roger de Piles Dialogue sur le coloris erschien Raffaelo Sopranos Vita des Giovanni Gonnelli. Soprani (und mit ihm Oldoini in seiner im gleichen Jahr 1674 publizierten Geschichte der Welt zwischen 1635 und 1650) ergänzen die Nachrichten über die Arbeitsweise Gonnellis mit dem Hinweis auf einen „Zirkel“, mit dem Gonnelli beim Kopieren die Maße der abzubildenden Mar­ morstatuen zu übertragen pflege.41 Das in der neueren kunsthistorischen Literatur mit Gonnelli verbundene Œuvre ist ein kleines. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, als vor allem lokale Autoren über den Blinden von Gambassi publizierten, konnte freilich jede toskanische Terrakotta in den Verdacht geraten, ein Werk Gonnellis zu sein. So auch die folgenden: Um die Kirche des toskanischen Klosters S. Vivaldo wurden ab dem frü­ hen 15. Jahrhundert dreißig Kapellen mit plastischen Szenen aus dem Leben Jesu erbaut. Nicht zuletzt wegen der Nähe des Klosters zu Gonnellis Geburtsort Gambassi, wegen des Materals – Terrakotta – wurden von Faustino Ghilardi und anderen mehrere Werke in der Klosterkirche und in den Kapellen dieses

39 40

41

„L’Aveugle […] étoit de Cambassi dans la Toscane“, Piles: Cours de peinture (wie Anm. 22), S. 329. „Je taste […] mon Original, j’en examine attentivement les dimensions, les émi­ nences & les cavités, je tasche de les retenir dans ma memoire, puis je porte la main sur ma cire, & par la comparaison que je fais de l’un à l’autre, portant & rapportant ainsi plusieurs fois la main, je termine le mieux que je puis mon Ouvrage.“ Piles: Dialogue sur le coloris (wie Anm. 22), S. 20. „compasso“, Raffaelo Soprani: Le Vite de’Pittori, Scoltori et Architetti Genovesi, e de’Forastieri che in Genova operarono […]. Genua 1674, S. 331, Bernardo Oldoini: Ristretto dell’historie del mondo, col suppl. di L. Aurelij tr. dell’opera. Can la 2a pt. di B. Oldoini. Accresciuto in questa vltima impr. fino l’anno M.DC.LXXIV, 1674, S. 11.

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Bild 6 Ehem. Giovanni Gonnelli zugeschr.: Himmelfahrt Christi, Himmelfahrtskapelle, S. Vivaldo.

„toskanischen Jerusalems“42 dem blinden Bildhauer zugeschrieben.43 Im Thieme­ Becker werden ausdrücklich die Himmelfahrt Christi (Bild 6), das Pfingstwun­ der (Bild 7), ein hl. Sebastian und eine Pietàgruppe aufgeführt.44 Zur „Madonna dello Spasimo“ in der Kapelle der Schmerzensmutter (Bild 8) soll es ein modello

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Luigi Civilini: San Vivaldo, das Jerusalem in der Toskana, Bologna o. J. Faustino Ghilardi: San Vivaldo in Toscana, Florenz 1895. Zit. n. Geza Révész: Die Formenwelt des Tastsinnes, 2 Bde., Bd. 2: Formästhetik und Plastik der Blinden, Den Haag 1938, S. 246. Einen Überblick über den damaligen Stand der Zuschrei­ bungen gibt Révész, Bd. 2, S. 245ff. Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Ulrich Thieme/Felix Becker, Bd. 14, Leipzig 1921, S. 371.

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Bild 7

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Ehem. Giovanni Gonnelli zugeschr.: Pfingstwunder, Pfingstkapelle, S. Vivaldo.

geben, das inschriftlich den „Blinden von Gambassi“ als Autor nennt.45 Gleichwohl ist die Zuschreibung der genannten und gezeigten Werke an den Blinden von Gambassi mehr als zweifelhaft. Die Reliefs und Figurengruppen des Kloster­ bezirks von San Vivaldo gehören ins frühere 16. Jahrhundert und stehen dem Werk Giovanni della Robbias nahe.46 Doch da in der neueren wissenschaftlichen Literatur niemand mehr für diese Zuschreibungen eintritt, erübrigt sich eine entsprechende Bemühung von meiner Seite. Diskutiert seien stattdessen zwei Argumente, mit denen sehr früh schon die Autorschaft des blinden Gonnelli an den S. Vivaldo­Terrakotten zurückgewiesen wurde. Géza Révész, der im 2. Band seiner 1938 erschienenen Formenwelt des Tastsinnes Werke und Arbeitsprozesse „Blinde[r] Bildhauer der Vergangenheit und Gegenwart“ vorstellte, hielt die Reliefs des Klosterbezirks von San Vivaldo entweder nicht für Werke Gonnellis oder aber nicht für Werke des blinden Gon­ nelli. Wenn diese Bildwerke von Gonnelli herrührten, dann könne er sie nicht im Zustand der völligen Erblindung modelliert haben. Zweifel erweckte in ihm, dass Gonnelli, wie überliefert, noch 1637 Schriftstücke leserlich unterschreiben 45 46

Révész: Die Formenwelt des Tastsinnes (wie Anm. 43), Bd. 2, S. 246. Pope­Hennessy: Catalogue of Italian sculpture (wie Anm. 31), Bd. 2, S. 574.

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Bild 8 Ehem. Giovanni Gonnelli zugeschr.: Madonna dello Spasimo, Kapelle der Schmerzensmutter, S. Vivaldo.

konnte.47 Er dürfte also bis dahin noch Sehreste besessen haben, und auch in den späteren Jahren habe man wohl eher schwere Sehstörungen als einen völligen Verlust des Sehvermögens anzunehmen.48 Ich schließe an diesen Zweifel von Géza Révész nicht die Frage an, wie es denn in Wahrheit gewesen ist, sondern plädiere dafür, die Zweifel am Völlig­Erblindet­Sein Gonnellis, die schon zu Lebzeiten aufgekommen waren, der Anekdoten­Forschung als Aufgabe anzu­ tragen, denn es sind im wesentlichen Anekdoten, die die Diskussion führen. Servius berichtete, man habe, da man an der Erblindung zweifelte, den Künstler in einem dunklen Raum arbeiten lassen und so „seine fürtreffliche Kunst bey jedermänniglich bekräfftiget und glaubhafft gemacht.“49 Baldinucci und Roger de Piles ergänzen, dass es eine hochgestellte Persönlichkeit gewesen sei, die diese Überprüfung angeordnet habe. Ungeachtet der Umstände habe Giovanni Gonnelli eines seiner schönsten Bildnisse modelliert.50 Ferdinando, 47 48 49 50

Carlo Ajraghi: Giovanni Gonnelli detto Il Cieco di Gambassi, in: Emporium 22 (1905), S. 126; Darby: Ribera (wie Anm. 16), S. 198. Révész: Die Formenwelt des Tastsinnes (wie Anm. 43), Bd. 2, S. 251f. Servius: Außführliches Bedencken (wie Anm. 12), S. 33. Baldinucci: Notizie dei professori (wie Anm. 16), Bd. 4, S. 626 und Piles: Dialogue sur le coloris (wie Anm. 22), S. 20f.

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der Sohn Pietro Taccas, testete Gonnelli, indem er einen Kardinal, mit dessen Porträt Gonnelli befasst war, gegen einen seiner Domestiken austauschte. Es ver­ steht sich, dass Gonnelli auch dieser Prüfung standhielt.51 Nougarets Anekdo­ tensammlung zur Kunst, publiziert in den Jahren 1776 –1780, berichtet von der Begegnung eines illegitimen Sohn des französischen Königs Heinrichs IV. mit Gonnelli. Um die Pointe zu verstehen, muss man wissen, dass uneheliche Kin­ der gerne als „Hurenkinder“ diskriminiert wurden: „Gonnelli weilte für einige Zeit in Venedig; er hatte gerade eine Tonbüs­ te vollendet, als der Graf von Moret, der uneheliche Sohn Heinrichs IV., ihn bei der Arbeit beobachten wollte. Dieser Herr wollte ihm einen Streich spielen und verdrehte die Nase der Büste; Gonnelli bemerkte dies wenig später und sagte: ‚Wer ist der Hurensohn, der mir diese Gemein­ heit angetan hat?‘ Darauf rief der Graf aus: ‚Ah, dieser Betrüger! Er kann sehen.‘“52 Ich belasse es bei der Nacherzählung dieser Geschichten. Gefordert, wie gesagt, wäre eine Analyse solcher Anekdoten hinsichtlich der Strategien der Anekdo­ tenliteratur und hinsichtlich des Stellenwerts solcher Erzählungen innerhalb der von Ernst Kris und Otto Kurz erstmals thematisierten Künstlertopik. In der Anekdote mit dem Grafen von Moret sagt Gonnelli die Wahrheit, die sonst nie­ mand zu sagen gewagt hätte. „Narren und Kinder sagen die Wahrheit“, heißt es im Sprichwort. Das provoziert die Frage nach der von der Anekdote unaus­ gesprochen unterstellten Nähe des Blinden zu kindlicher Naivität und / oder närrischer Unbedarftheit. Auf solche Konnotationen hin untersucht, würden die Anekdoten zwar nicht die historische Wahrheit über Gonnellis Blindheit preisgeben, könnten aber das Diskursfeld, in dem über Blindheit verhandelt wurde, näher beleuchten. Das Argument von Révész, dass keinesfalls der vollständig erblindete Gonnelli die Terrakotta­Reliefs des Klosterbezirks von S. Vivaldo geschaffen haben könne, verdient aus anderem Grund Interesse. „Das wichtigste und ent­ scheidende Argument ist aber, dass der Zustand völliger Blindheit die Komposi­ 51 52

Baldinucci: Notizie dei professori (wie Anm. 16), Bd. 4, S. 626f. „Gonelli demeura pendant quelque tems à Venise; un jour qu’il y finissoit un buste en terre cuite, le comte de Moret, fils naturel de Henri IV. eut la curiosité de venir le voir travailler. Ce Seigneur, voulant lui faire pièce, tordit le nez du buste; Go­ nelli s’en apperçut quelques momens après, & dit: – ‚Quel est le fils de P … qui m’a fait cette malice?‘ – Le Comte alors s’écria: – ‚Ah le fourbe! il y voit.‘“ Pierre Jean Baptiste Nougaret: Anecdotes des Beaux­Arts, contenant tout ce que la Peinture, la Sculpture, la Gravure, l’Architecture, la Littérature, la Musique, &c., & la vie des Artistes, offrent de plus curieux & de plus piquant, chez tous les Peuples du monde, depuis l’origine de ces différens Arts, jusqu’à nos jours, 3 Bde. (1776–1780), Bd. 2, Paris 1776, S. 396.

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Bild 9 Fotografie des Ateliers von Jakob Schmitt im Frankfurter Kriegsblindenheim, 1918.

tion und Ausführung von Reliefwerken prinzipiell ausschließt.“53 Diese katego­ riale Aussage provoziert die Frage nach dem Verhältnis von Tastwahrnehmung und Relief im Allgemeinen. Bildnerische Äußerungen von Blinden im 20. Jahrhundert führen eher sogar zum Schluss, dass Tastwahrnehmung Objekte, soweit es sich nicht um sehr kleine Objekte handelt, zuerst und zunächst als Reliefs erfährt. Die repro­ duzierte Fotografie (Bild 9) zeigt zwei Reliefs, die nachweislich von einem blin­ den Bildhauer geschaffen wurden. Es sind zwar nicht sonderlich bedeutende Arbeiten, aber es sind Reliefs. Die Aufnahme aus dem Jahr 1918 dokumentiert Jakob Schmitts Atelier im Frankfurter Kriegsblindenheim. Heiligabend 1914 stand der angehende Mainzer Silberschmied Jakob Schmitt mit seinem Regi­ ment bei Roye in der Picardie. Bei einem Patrouillengang geriet er zu nahe an die französischen Stellungen. Eine Gewehrkugel traf ihn so, dass er beide Augen verlor. Im Kriegsblindenheim begann Jakob Schmitt zu modellieren.54 Der Tendenz zum Relief entspricht in Jakob Schmitts Porträtdarstellun­ gen die Tendenz zur Maskenhaftigkeit. 1941 formte Jakob Schmitt die explizit als Maske ausgewiesene Darstellung des Blinden (Bild 10a u. 10b). Dass ein 53 54

Révész: Die Formenwelt des Tastsinnes (wie Anm. 43), Bd. 2, S. 252. Zu Jakob Schmitt: Hans Körner: Ein blinder Bildhauer. Der Mainzer Jakob Schmitt, Mainz 1984 (Kleine Mainzer Bücherei, hg. v. Werner Heist).

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Bild 10a Jakob Schmitt: Der Blinde, 1941.

Bild 10b Fotografie: Jakob Schmitt und seine Plastik Der Blinde.

Blinder Masken gestaltet, also nicht eine vollrunde Plastik, sondern nur eine Ansichtsseite, mutet befremdlich an, da Blinde bekanntlich keine Ansichtsseite kennen. Ein vollrundes Gebilde scheint den gestalterischen Fähigkeiten eines Blinden gemäßer, könnte man meinen. Und man könnte sich dabei täuschen. In den 1920er Jahren regte Viktor Löwenfeld in den Modellierkursen des Israeliti­ schen Blinden­Institutes in Wien seine blinden Schüler zu freiem plastischen Gestalten an. Die Ergebnisse, die Ludwig Münz wissenschaftlich auswertete, wa­ ren überraschend insofern, als sie den gängigen Erwartungen in keiner Weise entsprachen. Ein geburtsblinder 14jähriger beispielsweise bearbeitete das Thema Hörender (Bild 11). Was er formte, war aber nun gerade nicht das plastische Volumen eines Kopfes, sondern die reliefartige Zusammenstellung repräsentierender Zeichen: kugelförmige Gebilde, umrahmt von Tonwülsten für die Augen; für Nase und dem bei angestrengtem Hören weit geöffneten Mund wurde ein ver­ einfachtes plastisches Zeichen gewählt, wie es nicht tastend, sondern nur in der eigenkörperlichen Erfahrung der eigenen Gesichtsmuskulatur erlebt werden kann. Ähnlich maskenhaft geriet das Selbstporträt des im Alter von sieben Jahren erblindeten, nur mit seinen Initialen M. R. bekannten Schülers des Israelitischen Blinden­Instituts. Ebenfalls von M. R. stammt eine Maske mit dem Titel Entsetzen (Bild 12), die einen während eines Judenprogroms Geblendeten darstellen

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Bild 11

GIOVANNI GONNELLI

P. H.: Maske Hörender, 1930.

Bild 12 M. R.: Entsetzen (Progromblinder), 1924/25.

soll – eine nicht nur des Themas, sondern auch der Gestaltung wegen beein­ druckende Kinderplastik. Die im Vorhergehenden genannten Plastiken Blinder sind alle keine Rundplastiken; sie bleiben auf die Vorderseite beschränkte. Ludwig Münz resü­ mierte denn auch: „Das Tastbild des Blindgeborenen […] ist, so paradox es zu­ nächst klingen mag, einansichtig.“55 Für im Kindesalter erblindete, selbst noch für Späterblindete scheint dies gleichermaßen gültig zu sein. Es scheint sogar eine generelle Eigentümlichkeit des plastischen Arbeitens ohne Zuhilfenahme des Auges zu sein. Diesen weitergehenden Schluss legt zumindest ein Versuch nahe, den Révész mit dem Bildhauer Vedres unternahm. Um zu testen, welche Konsequenzen der Verlust des Sehvermögens bei einem Bildhauer haben kann, verband Révész Vedres die Augen. Als dieser in diesem Zustand eine Büste for­ men sollte, klagte er über sein mangelndes Maßgefühl und über die Schwierig­ keit, von der Bildung der Details zu einem organischen Ganzen zu kommen. „Alles“, so Vedres, „fühle ich frontal, und doch nicht reliefartig.“56 Diese eigentümliche Erfahrung hat vielleicht grundsätzlich mit dem be­ sonderen Charakter der Tastwahrnehmung, wenn sie ohne Zuhilfenahme des 55 56

Ludwig Münz/Viktor Löwenfeld: Plastische Arbeiten Blinder, Brünn 1934, S. 31. Révész: Die Formenwelt des Tastsinnes (wie Anm. 43), Bd. 2, S. 37.

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Bild 13a

HANS KÖRNER

Ewald Mataré: Maske, um 1927.

Bild 13b Ernst Barlach: Bildnis Paul Wegener, Maske, 1930.

Sehens erfolgt, zu tun. Beim Abtasten größerer Gebilde, die nicht mehr von den Handflächen umschlossen werden können, deren Form also nur in sukzessiven Tastakten erschlossen werden kann, wird die räumliche Differenz der verschie­ denen Seiten eines Gegenstandes weniger wahrgenommen, als dies beim Sehen der Fall ist. Vorne und Hinten, Rechts und Links werden zunächst und vor allem als eigenkörperliche Bewegungen erfahren, wohingegen der Sehende die ver­ schiedenen Ansichtsseiten eines Objektes leichter von der notwendigen Tätigkeit des Herumgehens gedanklich abtrennen und als vom Betrachter unabhängige Eigenschaften des Objektes erleben kann. Die Zöglinge des Wiener Blinden­ Instituts haben bei der Tastwahrnehmung und bei der plastischen Umsetzung ähnlich wie Vedres die Erfahrung gemacht, dass die – für den Sehenden – unter­ schiedlichen Ansichtsseiten für den Nichtsehenden räumlich zusammenrückten, ihnen frontal entgegenstanden. Und diese Erfahrung entspricht der Wahrneh­ mung von Reliefs, auch wenn Vedres das Gefühl der frontalen Tastwahrnehmung, von der Wahrnehmung eines Reliefs unterschieden wissen wollte. Im Vorhergehenden wurde, um die These von Révész, Giovanni Gonnelli können nicht der Autor der Reliefs von San Vivaldo sein, in Frage zu stellen, Bezug auf Phänomene des 20. Jahrhunderts genommen. Das war methodisch problematisch, zumindest dann, wenn man davon ausgeht, und ich gehe davon aus, dass auch Körpererfahrungen zu historisieren sind. Die methodische Pro­ blematik einer solchen Übertragung wird verschärft dadurch, dass in der Zwischen­

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GIOVANNI GONNELLI

kriegszeit, in die die Versuche von Viktor Löwenfeld gehören, die Maske zu einem Hauptthema der avantgardistischen Plastik aufstieg (Bild 13a u. 13 b). Auch aus diesem Grund muss ein Fragezeichen hinter die eben gemachten Ausführun­ gen. Allerdings darf in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, welche Rolle in Baldinuccis Schilderung von Gonnellis Methode der Wahrnehmung des zu Porträtierenden und der Übertragung der Tastwahrnehmung in den Werkstoff der Begriff der „Maske“ spielte. Nach Baldinucci habe Gonnelli dabei, wie oben paraphrasiert, seine Hand zu einer „Maske“57 gekrümmt. Und ist nicht auch die konstatierte größere Flächigkeit in der Repräsentation des Papstkopfes gegenüber dem Vorbild ein Argument für die „Einansichtigkeit“ der Werke eines blinden Bildhauers? Gleichwohl, die Frage der überhistorischen Übertragbarkeit von Körpererfahrungen steht im Raum, und da soll sie vorläufig auch stehen bleiben.

Bl i nd heit u nd Sex ua l it ät Baldinucci berichtete, Gonnelli sei bereits seit seinem frühen Jünglingsalter in ein Mädchen namens Lisbetta Sesti verliebt gewesen, mit der er im Ehestand dann auch zahlreiche Kinder zeugte, von denen freilich die meisten früh ver­ starben.58 Trotzdem Baldinucci die dauerhafte Liebe Gonnellis zu Lisbetta seit dem Jünglingsalter hervorhob, attestierte ihm der Biograph gleichwohl, er sei vor seiner Heirat derart exzessiv zur Liebe geneigt gewesen, dass er ein Mäd­ chen nur sprechen hören musste, um sich zu verlieben. Dies sei Gonnellis schwa­ che Seite gewesen.59 Welchen biographischen Wert man dieser Mitteilung und dieser Wertung zumesse will, steht dahin. Bemerkenswert ist es per se schon, dass Baldinucci gegen Ende seiner Vita die übersteigerte Sexualität des Blinden betonte. Aufgabe müsste es sein, diese biographische Angabe in den Rahmen der topischen Zuordnung von Sexualität zum Tastsinn zu stellen. Dazu nur wenige Hinweise: Der Blinde erschließt sich seine Welt durch den Tastsinn. Der aber war mit Sexualität konnotiert. Ebendeshalb hatte Laktanz den Tastsinn den sündigs­ ten Sinn genannt.60 In der Ikonographie der Fünf Sinne gehört seit dem 16. Jahr­ hundert bei der Personifizierung des Gefühls die Referenz auf Sexualität neben der Referenz auf Schmerzempfindung zum Standard (Bild 14).61 Diese Referenz 57 58 59 60 61

„maschera“, Baldinucci: Notizie dei professori (wie Anm. 16), Bd. 4, S. 623. Ebd., S. 627. Ebd., S. 628. Vgl. Louis Vinge: The Five Senses. Studies in a Literary Tradition, Lund 1975, S. 35–37. V. a. Carl Nordenfalk: The Five Senses in Late Medieval and Renaissance Art, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 48 (1985), S. 1–22; Carl Norden­

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HANS KÖRNER

Bild 14 Hendrick Goltzius: Die fünf Sinne (Gefühl) (Stich von Jan Saenredam).

nimmt in der frühen Neuzeit konsequenterweise auch einen wichtigen Platz im Diskurs über das Medium der Skulptur ein. Die Liebe des Pygmalion zu seiner Elfenbeinstatue, die von Plinius d. Ä. und Lukian erzählte Geschichte des athe­

falk: The Five Senses in Flemish Art before 1600, in: Görel Cavalli­Björkman (Hg.): Netherlandish Mannerism. Papers given at a Symposium in Nationalmuseum Stockholm 1984, Stockholm 1985, S. 135–154; Carl Nordenfalk: The Sense of Touch in Art, in: Karl­Ludwig Selig/Elizabeth Sears (Hg.): The Verbal and the Visual. Essays in Honor of William Sebastian Heckscher, New York 1990, S. 109–132; Hans Körner: Schmerz – Lust – Erkenntnis. Auguste Clésingers ‚Femme piquée par un serpent‘ und Gustave Courbets ‚Femme au perroquet‘ als Allegorien des Tastsinns, in: Andrea Gottdang/Regina Wohlfarth (Hg.): Mit allen Sinnen. Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen in der Kunst, Leipzig 2010, S. 85–104.

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Bild 15

Hans Speckaert: Allegorie der Skulptur (Pygmalion), 1582.

nischen Jünglings, „der von Liebe [zur knidischen Venus des Praxiteles, d. V.] ergriffen war, sich nachts verborgen hielt, das Standbild umarmte und als Be­ weis seiner Begierde einen Flecken hinterließ“62, die analoge Erzählung vom

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„aedicula eius tota aperitur, ut conspici possit undique effigies deae, favente ipsa, ut creditur, facta. nec minor ex quacumque parte admiratio est. ferunt amore captum quendam, cum delituisset noctu, simulacro cohaesisse, eiusque cupiditatis esse in­ dicem maculam.“ (Plinius Secundus d. Ä.: Naturalis historiae libri XXXVII / Natur­ kunde, Buch XXXVI: Die Steine, hg. u. übers. v. Roderich König in Zusammen­ arbeit mit Joachim Hopp, München 1992, S. 26. Dt. Übersetzung ebda., S. 27. Vgl. Berthold Hinz: Statuenliebe. Antiker Skandal und mittelalterliches Trauma, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 22 (1989), S. 135–142; Berthold Hinz: Aphrodite. Geschichte einer abendländischen Passion, München 1998.

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lüsternen Spanier, der sich in den Petersdom einschließen ließ, um mit der Per­ sonifikation der Justitia am Grabmal für Papst Paul III. Unzucht zu treiben,63 diese und andere Geschichten galten als zwingende Beweise für die Macht, die die Kunst der Bildhauerei über die Menschen auszuüben versteht. Und auch Donis Lob von Michelangelos Tageszeitenallegorien der Medici­Kapelle münde­ te brieflich in einer Liebeserklärung: Die Statue der Aurora sei Schuld daran, dass man (Mann) selbst von den schönsten lebenden Frauen lasse, um statt ihrer die verführerische Aurora „zu umarmen und zu küssen“.64 In einem Stich Speeckaerts von 1582 ist ein Sinnbild der Skulptur dar­ gestellt (Bild 15). Die Allegorie bedient sich der Pygmalion­Sage. Statuenliebe kann also stellvertretend für die Kunst der Bildhauerei insgesamt stehen, und das verrät doch einiges über das Selbstverständnis der Bildhauer und die Weise, wie sie wahrgenommen wurden, zumal wenn man sich deutlich macht, wie deftig dieses Sinnbild hier geraten ist.65 Das lässt aber auch erahnen, dass wohl nicht erst seit dem Skandal, den die Freizügigkeit Rodins im Umgang mit seinen Modellen auslöste,66 das Geschäft des Bildhauers mit Sexualität konnotiert wur­ de. Nimmt man hinzu die noch im frühen 19. Jahrhundert kontrovers diskutierte These von der spezifischen Geilheit der Blinden,67 dann musste Giovanni Gon­ nelli geradezu mit Notwendigkeit in seiner ungezügelten Sexualität seine „schwa­ che Seite“ haben.

Fa z it Zu erfahren „wie es eigentlich gewesen“ – dem von Leopold von Ranke vor­ gebenen Ziel historischer Forschung bringen die literarischen Quellen zu Per­ son und Werk Giovanni Gonnellis nur eingeschränkt näher. Die meisten der in diesem Beitrag zitierten Quellentexte beschreiben weniger den historischen 63 64

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Zu dieser Statuenliebe: Hans Körner: Statuenliebe in St. Peter. Rompilger und Romtouristen vor Guglielmo della Portas Grabmal für Papst Paul III., Düssel­ dorf 1999. „[…] per abbracciare e baciar lei.“, Anton Francesco Doni: Disegno […], Venedig 1549, zit. n. Paola Barocchi: Trattati d’arte del Cinquecento, Bd. 1, Mailand/Neapel 1971, S. 564. Vgl. Hans Körner: Der fünfte Bruder. Zur Tastwahrnehmung plasti­ scher Bildwerke von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Artibus et historiae 4/XXI (2000), S. 165–196, S. 165. Vgl. Hans­Joachim Raupp: Untersuchungen zu Künstlerbildnis und Künstlerdar­ stellung in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, Hildesheim/Zürich/New York 1984, S. 326. Alain Kirili: Rodin und seine Modelle. Der Skandal, in: Rainer Crone/Siegfried Salzmann (Hg.): Genius Rodin. Eros und Kreativität, München 1991, S. 215–219. August Zeune: Belisar. Über den Unterricht der Blinden (1808), Berlin 1821, S. 31, S. 34; William R. Paulson: Enlightenment, Romanticism, and the Blind in France, Princeton 1987, S. 104f., S. 112f.

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Giovanni Gonnelli, als dass sie das Feld markieren, innerhalb dessen über den konkreten Künstler Gonnelli hinaus über Blindheit und über Blindheit und Kunst im Allgemeinen verhandelt wurde. Für den ausstehenden Werkkatalog ist damit wenig gewonnen, für die Bestimmung des kulturgeschichtlichen – nicht zuletzt auch des klischeegeschichtlichen – Ortes der Kunst Gonnellis viel­ leicht etwas.

Matthias Krüger

PA L E T T E N U N D PA L E T T E N BI L D E R 1

D ie Pa le t te a ls t a ng ibles D i ng Die Ausstellung Tangible Things, die im Frühjahrssemester 2011 an der Harvard University zu sehen war, versammelte etwa hundert Objekte aus den verschiedenen universitären Sammlungen – darunter auch eine Palette des amerikanischen Malers John Singer Sargent aus den Beständen des Fogg Art Museum (Bild 1).2 Laut Wörterbuch ist tangible mit „greifbar“, „materiell“, „körperlich“ zu übersetzen.3 Sein Gebrauch im Englischen ähnelt dem des Wortes „haptisch“ im Deutschen; tangible ist, was sich anfassen und berühren lässt, etwas, das an den Taktus, den Tastsinn appelliert. Im Fall von Sargents Palette geht ein solcher Appeal von dem wulstigen und knorrigen Relief der sie bedeckenden Farbe aus. Als ein Utensil, das der Künstler während der Ausführung eines Gemäldes in der Hand hält, mit dem er hantiert, ist die Palette indes schon ihrem Gebrauch nach ein tangibles Ding. Mit der einen Hand den Pinsel führend, hält der Künstler die Palette oft zusammen mit weiteren Pinseln in der anderen. Er greift sie dabei über ein eigens dafür vorgesehenes Daumenloch und eine sowohl bei den ovalen als auch rechteckigen Paletten vorhandene Einbuchtung. Von diesem typischen Griff ist in Sargent’s kleinformatigem Gemälde Claude Monet Painting by the Edge of a Wood freilich nichts zu sehen (Bild 2). Hier 1

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Mein Dank gilt Terry van Druten, der mich auf das Thema gebracht hat, der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung für zahlreiche hilfreiche Hinweise und Kommentare sowie Christine Krüger, Aldona Krüger-Kuczkowska und insbesondere Michael Seydel für die kritische Lektüre. Siehe Tangible Things, unter: http://www.fas.harvard.edu/~hsdept/chsi-tangible_ things.html (01. 01. 2012). „tangible“, in: Langenscheidts Großwörterbuch der Englischen und Deutschen Sprache („Der Kleine Muret-Sanders“), Englisch-Deutsch, Berlin u. a. 41989, S. 991.

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MATTHIAS KRÜGER

Bild 1 Palette von John Singer Sargent, spätes 19. oder frühes 20. Jahrhundert, Öl auf Holz, 56,5 × 35 cm, Fogg Art Museum, Cambridge.

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Bild 2 John Singer Sargent: Monet Painting at the Edge of a Wood, Detail, 1888, Öl auf Leinwand, 54 × 56 cm, Tate Gallery, London.

scheint das Bündel an bunten Pinselstrichen, mit dem die Palette des Künstlers skizziert ist, direkt aus seinem Arm oder Schoß zu schießen. Genau genommen ist nicht einmal von der Palette etwas zu sehen, vielmehr ist es Farbe, die sich von jedem Träger befreit auf bizarre Weise verselbstständigt hat.4 Und eben diese „Befreiung der Farbe“ aus ihrer gegenständlichen Bindung wurde bekanntlich zu einer der zentralen Losungen moderner Malerei. Im Folgenden soll die These verfochten werden, dass der Palette innerhalb dieses Prozesses die Funktion eines Katalysators zukam, bot sie sich doch als Tableau an, auf dem sich die Autonomisierung der Farbe erproben und vorbereiten ließ. Das konnte jedoch erst zu einem Zeitpunkt geschehen, an dem die Palette nicht bloß als Werkzeug, sondern zugleich auch als ein „haptisches Bild“ begriffen wurde. Zwei Phänomene zeigen, dass sich ein solches Verständnis gegen Ende des 19. Jahrhunderts etabliert hatte. Zum einen fanden in dieser Zeit die ersten Ausstellungen von Paletten bekannter Künstler statt. Zum anderen ist aus dieser Zeit eine große Zahl von „Palettenbildern“ überliefert. 4

Zu diesem Gemälde vgl. Alison Syme: A Touch of Blossom. John Singer Sargent and the Queer Flora of Fin-de-siècle Art, University Park, PA 2010, S. 153.

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Pa le t ten ver sc h iedener Cou leu r Die ersten Ausstellungen von Paletten wurden am Ende des 19. Jahrhunderts veranstaltet, in einer Zeit, aus der auch die ersten Palettensammlungen datieren, deren größte der Kunsthändler Georges Beugniet zusammentrug und seit 1885 mehrfach öffentlich präsentierte. Als sie am 10. Juni 1911 in der Galerie Georges Petit unter den Hammer kam, damals bereits im Besitz des Galeristen Georges Bernheim, umfasste die Sammlung 123 Künstlerpaletten, darunter auch diejenigen so namhafter Vertreter ihres Faches wie Eugène Delacroix, Camille Corot, Rosa Bonheur, Gustave Courbet, Puvis de Chavannes und Camille Pissarro. Zwar wurden Paletten berühmter Künstler seit dem 18. Jahrhundert verwahrt, doch dienten sie zunächst vornehmlich als Erinnerungstücke. Schon der Umstand, dass sie, wie z. B. die Palette Sir Joshua Reynolds in der Royal Academy oder diejenige Francisco Goyas in der Real Academia de Bellas Artes de San Fernando in Madrid, in makellosem sauberem Zustand konserviert wurden, zeigt, dass sie nicht als Bild wahrgenommen wurden.5 Die Sammler des späten 19. Jahrhunderts interessierten sich dagegen vornehmlich für Paletten, an denen noch die vom Künstler aufgetragene Farbe haftete. Solche Paletten lassen sich grob in drei Kategorien unterteilen: erstens Paletten, auf denen die Farbe in Reihen kleiner Häufchen oder Tupfer angeordnet war, so wie sie sich der Künstler vor der Ausführung eines Gemäldes anzulegen pflegte – also Paletten, die den Zustand vor dem Malen repräsentierten; zweitens mit Farbe verschmierte Paletten, im „schmutzigen“ Zustand nach Fertigstellung des Gemäldes; drittens mit einem Bild bemalte Paletten.6 Diese „Palettenbilder“ erfreuten sich dabei der größten Beliebtheit, wie dies etwa der Auktionskatalog von 1911 belegt, dessen 17 Abbildungen ausschließlich Palettenbildern vorbehalten blieben. Die meisten dieser Bilder wurden auf Veranlassung Beugniets selbst gemalt, der – einem Artikel im Pall Mall Magazine zufolge – beim Aufbau der Sammlung strategisch vorgegangen war: 5

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Beide Paletten geben sich dagegen als Andenken zu erkennen. So wurde Reynolds Palette mit einer silbernen Plakette versehen, die sie nicht nur als „relic“ ausgibt, sondern auch ihre Provenienz bis zu ihrer Schenkung an die Royal Academy nachzeichnet. Zu dieser Palette siehe N. Usherwood: Every Palette Tells a Story, in: The Magazine for the Friends of the Royal Academy 18 (1988), S. 26–29, S. 28f. Goyas Palette wurde durch die Anbringung des sie rahmenden Lorbeerkranzes in ein auratisches Erinnerungsstück verwandelt. Eine eingehendere kunsthistorische Untersuchung zu diesen Palettenbildern steht bislang noch aus. Vorüberlegungen finden sich jedoch bei John Gage: Colour and Culture. Practice and Meaning from Antiquity to Abstraction, London 1993, S. 187–189 („The Palette as Painting“). Vgl. auch Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, S. 18–22 („Transformationen der Farbe: von der Palette zum Bild“).

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„Whenever he bought an important picture from an artiste of note, he handed him, at the same time as his cheque, a brand-new palette, with a polite request, in his pleasant, smiling way, for the old one; and, when he had secured it, followed this up with a further application for ‚just a little sketch‘.“7 Die Palettenbilder lassen sich in drei Unterkategorien einteilen: erstens Bilder, die der Künstler auf eine gesäuberte Palette gemalt hat. In diesem Fall diente die Palette lediglich als eine Alternative zu den herkömmlichen Bildträgern. Da die Palettenbilder gern als künstlerische Visitenkarte abgegeben wurden, wählten die Künstler meist ein Sujet aus dem angestammten Motivkreis. Zu diesem Typus gehört etwa die Palette Gustave Courbets, die eine gegen eine Felsküste brandende Woge zeigt, in welcher der Künstler ingeniös die kunstvoll geschwungene Form des Malgeräts aufgenommen hat.8 Zweitens Bilder, bei denen die Palette zunächst auf gewöhnliche Weise mit Farben bestückt wurde, diese dann aber nicht auf einem separaten Bildträger, sondern auf der Palette selbst verstrichen wurden. Die Bilder lassen sich als Schaustücke begreifen, welche die Transformation des Rohstoffs Farbe in ein Bild vorführen.9 Ein besonders prägnantes Beispiel dafür ist etwa die Palette von Ernest Hébert, auf der die grobe Materialität der in zwei Reihen angelegten Pigmenthäufchen mit der Zartheit eines weiblichen Aktes kontrastiert, der mit einem so hauchdünnen Film von Farbe ausgeführt ist, dass er die Maserung des hölzernen Untergrundes durchscheinen lässt (Bild 3). Bei der dritten Sorte Palettenbild diente das mehr oder weniger zufällige Farbgemenge, das sich im Prozess des Malens ergeben hatte, als Ausgangspunkt 7

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Frederic Lees: Pictures on Palettes, in: The Pall Mall Magazine 38 (1906), S. 36–40, S. 37. Ähnlich ging auch George Lucas vor, ein seit 1957 in Paris ansässiger amerikanischer Kunsthändler, der Beugniets Sammelleidenschaft teilte. Seine Sammlung von 71 Künstlerpaletten gehört heute dem Baltimore Museum of Art. Lucas’ Vorgehen beim Aufbau seiner Sammlung ist in seinen Tagebüchern gut dokumentiert. George Lucas: The Diary of George Lucas. An American Art Agent in Paris. 1857–1809, transkr. v. Lilian M. C. Randall, 2. Bde., Princeton 1909. Eine Abbildung dieser Palette findet sich bei Skinner. Auctioneers and Appraisers. American and European Paintings - Sale 2507 - Lot 254A, unter: http://www.skinnerinc.com/asp/fullcatalogue.asp?salelot=2507+++ ++254 A&refno=++ 755570& image=0 (01. 01. 2012). Auch Camille Pissarros um 1878 entstandenes Palettenbild – vermutlich das bekannteste Exemplar seiner Gattung – hat die Funktion eines Demonstrationsobjekts. In ihm geht es vor allem um ein farbtheoretisches Experiment, mittels dessen der Künstler darlegte, dass es lediglich sechs Regenbogenfarben bedürfe, um aus ihnen eine Landschaft entstehen zu lassen. Zu Pissarros Palettenbild vgl. vor allem Anthea Callen: The Art of Impressionism. Painting Technique and the Making of Modernity, New Haven/London 2000, S. 153; Gage: Colour and Culture (wie Anm. 6), S. 86; Franziska Uhlig: Konditioniertes Sehen. Über Farbpaletten, Fischskelette und falsches Fälschen, München 2007, S. 38f., jeweils mit Farbabbildungen der Palette.

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MATTHIAS KRÜGER

Bild 3 Ernest Hébèrt: Une torse de femme nue, les bras relevés, les mains réunies derrière la tête, 1885, Öl auf Holz, 32 cm × 43 cm, Verbleib unbekannt.

einer Komposition. Im Unterschied zur zweiten Kategorie wird bei dieser nicht nur Farbe in ihrer Materialität zur Schau gestellt. Vielmehr geht es hier zugleich auch um den Eigensinn des Farbmaterials, den der Künstler produktiv für die Bildgenese nutzbar zu machen wusste,10 wie dies etwa bei dem heute nur photographisch überlieferten Palettenbild Edouard Manets der Fall ist (Bild 4).11 Der Überlieferung nach ist es auf just jener Palette ausgeführt, mit der Manet sein Gemälde Le Bon Bock gemalt hatte – einem Gemälde, mit dem er im Salon von 1873 einen enormen Publikumserfolg verbuchen konnte.12 Entsprechend zeigt das Palettenbild ein Glas Bier. Manet platziert den Henkel genau unterhalb des Daumenlochs und stellt so eine Parallele her zwischen Bierglas und Palette. Zugleich wird jedoch auch der farbliche Fond der Palette mit dem Sujet ver-

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Der Auktionskatalog von 1911 beschreibt die Palettenbilder als „petits et délicieux tableaux qui semblent jaillir du chaos de la matière, comme le diamant, en travail ébauché, jaillit de la gangue.“ Léon Roger-Milès: Préface, in: 123 Palettes d’Artistes peintes Galerie Georges Petit, 10. Juni 1911: Auktions-Kat.: Paris 1911, S. 5–8, S. 7f. Diese Palette war nicht Teil der Sammlung Beugniet/Bernheim. Zu diesem Bild vgl. Barbara Wittmann: Gesichter geben. Edouard Manet und die Poetik des Portraits, München 2004, S. 218; Carol Armstrong: Manet Manette, New Haven/London 2002, S. 360, Anm. 37. Armstrong: Manet (wie Anm. 11), S. 360, Anm. 37.

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Bild 4 Edouard Manet: La palette au bock, Öl auf Holz, 51 × 38 cm, Verbleib unbekannt.

schnitten. Denn das Eigenleben der Farben auf der Palette findet sein Äquivalent im Schaum des Bieres, der über den Rand des Glases quellend in dichten Rauch aufzugehen scheint, um sich in der oberen Palettenausbuchtung wie in einer Dunstglocke zu stauen. Im Folgenden sollen tentativ nicht nur die Palettenbilder, sondern alle überlieferten Paletten, auf denen sich Farbe erhalten hat, als Bilder begriffen werden. Bereits in dem Moment, in dem der Künstler sein Malbrett mit Farben bestückt hat, lässt sich prinzipiell von einem wenngleich ephemeren Bild sprechen. Sein Status ist dem einer Vorstudie vergleichbar, da Auswahl und Anmischen der Farbe stets im Hinblick auf das Kolorit des zu malenden Gemäldes erfolgen. Aus diesem Grund waren Paletten im 19. Jahrhundert meist aus einem Holz gefertigt, das dem Farbton der üblichen Braungrundierung des Bildträgers

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entsprach; in der Regel handelte es sich um Nussbaum oder Mahagoni.13 Zugleich lässt sich das Anlegen der Farbe auf der Palette auch als eine Abstraktion des zu malenden Sujets begreifen. So sind Farbtöne, die etwa ein Figurenmaler auf seiner Palette für das Inkarnat anlegt, vom menschlichen Körper abstrahiert; entsprechend lassen sich die grünen Farben, die der Landschaftsmaler auf seinem Malbrett anmischt, als von der Landschaft abstrahiert verstehen, vor der dieser seine Staffelei errichtet hat. So gesehen reiht sich die präparierte Palette sogar in die „Vorgeschichte der abstrakten Malerei“ ein. Dem entspricht es, dass die mit Farben bestückte Palette gern mit einem Klavier verglichen wurde bzw. das Anordnen der Farbtöne auf der Palette mit dem Stimmen eines Musikinstruments – Vergleiche, die jene später immer wieder aufgestellte Analogie zwischen abstrakter Malerei und Musik gleichsam präfigurierten.14 Doch auch eine benutzte Palette, auf der die Farbe ihrer anfänglichen Ordnung oft gänzlich verlustig gegangen ist und nur noch ein unstrukturiertes Gemenge bildet, lässt sich durchaus als Bild begreifen, wenn dieser Status auch in den meisten Fällen nicht von Dauer war: dann nämlich, wenn der Künstler nach Beendigung seines Werks die Palette von den Farbresten säuberte. Allerdings sind strukturelle Ähnlichkeiten mit einem konventionellen Ölgemälde kaum von der Hand zu weisen: Hier wie dort wurde eine Fläche mit farbigen Markierungen versehen. Diese Gemeinsamkeiten mögen solange als trivial erachtet werden, wie die Palette ihren Dienst als Werkzeug tut. Doch gewinnen sie in dem Moment, in dem die nun mit einer Signatur versehene Palette zum Objekt einer Sammlung oder sogar zum Exponat einer Ausstellung erhoben wird,15 geradezu zwangsläufig an Bedeutung. Signiert und ausgestellt wird die scheinbar sinnlose Faktizität des an der Palette haftenden Farbmaterials zum Bild.

D ie domest i z ier te Pa le t te des Jea n-L é on Gérôme In der idealistischen Kunsttheorie wurde dem Farbmaterial weder im Gemälde noch auf der Palette ein eigener ästhetischer Wert zugebilligt. Das Kunstwerk hatte ganz dem Geist des Künstlers zu entspringen. Entsprechend niedrig war der Stellenwert, welcher der handwerklichen Ausführung zukam. Die Handhabe der Werkzeuge musste sich ganz der Konzeption unterordnen. Ihnen wurde 13

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Dementsprechend sind die Paletten der Aquarellmaler in der Regel aus weißen Materialien, etwa Porzellan, gefertigt. Vgl. „Palette“ in: Dictionnary of Art, Bd. 24, hg. v. Jane Turner, New York u. a. 1996, S. 848f.; Callen: Impressionism (wie Anm. 9), S. 65f. Zu diesen Vergleichen siehe Gage: Colour and Culture (wie Anm. 6), S. 185. Die einzelnen Signaturen sind im Auktionskatalog genau verzeichnet, siehe 123 Palettes d’Artistes (wie Anm. 10).

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mithin nur eine dienende Funktion zugestanden. Im fertigen Kunstwerk sollte seine materielle Gemachtheit hinter der künstlerischen Idee zurücktreten. So sollte ein Gemälde, Charles Blanc zufolge, eine „Emanation der Seele“ darstellen und sich nicht als ein „Produkt der Palette“ zu erkennen geben.16 Erst vor dem Hintergrund solcher Anschauung ist das Kunststück eines Jean-Léon Gérôme zu verstehen, von dem der amerikanische Maler Cady Eaton berichtet, der die Erlaubnis erhalten hatte, dem Meister einmal beim Malen zusehen zu dürfen. Erstaunt schildert Eaton in seinem Handbook of Modern French Painting: „He [Gérôme] knew the exact amount of every pigment necessary for the production of any required color, tone, shadow. When the work was finished, his palette was clean.“17 Der Künstler hatte also, noch bevor er Hand an sein Werk legte, die Quantität der benötigten Farbe so genau vorausberechnet, dass mit der Vollendung seines Werks seine Palette keine Farbrückstände mehr aufwies. Weder auf der Leinwand noch auf der Palette befand sich auch nur ein Gramm Pigment zuviel! Die Konzeption steuerte hier die Ausführung mit einer nahezu mathematischen Präzision. Die Anekdote zeigt mithin Gérôme als einen Künstler, der sein Werkzeug voll im Griff hat. Ein Eigenleben wird der Farbe hier nicht zugestanden. Eine ganz ähnliche Kontrolle über das Farbmaterial führt Gérômes Gemälde der Bottega eines orientalischen Farbhändlers in Kairo vor Augen (Bild 5). Wenn das Gemälde auch auf der Darstellungsebene die Vorstellungen von der üppigen Farbenpracht des Orients beschwört, so wird diese aufgrund ihrer betörenden Sinnlichkeit als suspekt erachtete Potenz der Farbe18 hier doch durch die extreme Politur der Gemäldeoberfläche gleichsam domestiziert.19 16

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Charles Blanc: Salon de 1866, in: Gazette des Beaux Arts 21 (1866), S. 497–520, S. 504. Dort heißt es in Bezug auf Gustave Courbets im Salon von 1866 ausgestellte La Remise de chevreuils: „C’est un produit de la palette, mais non pas une émanation de l’âme.“ Cady Eaton: A Handbook of Modern French Painting, New York 1909, S. 190. Vgl. Gage: Colour and Culture (wie Anm. 6), S. 10. Dass indes Jean-Auguste-Dominique Ingres, für viele das Haupt der idealistischen Schule, entgegen aller Doktrin seiner Palette einen durchaus aktiven Part an der Genese seiner Bilder zugestand, lässt sich anhand einer in Montauban verwahrten Mahagoni-Palette des Meisters dokumentieren. Wohl kein anderer Akademiker hat zeitlebens eine solch tiefe Geringschätzung gegenüber den handwerklichen Belangen der Malerei bekundet wie Ingres: gemäß eines seiner Dicta bedurfte es zur Erlernung der technischen Belange des Fachs lediglich acht Tage. Diese öffentlich zur Schau getragene Haltung hinderte ihn jedoch nicht daran, mit handschriftlich auf die Palette geschriebenen Zeilen ihr – im Moment ihrer Ausmusterung – emphatisch für die ihm geleisteten Dienste zu danken: „Adieu vieux serviteur, ma chère palette qui avez peint Œdipe, l’Odalisque, Philippe V, le vœu Louis XIII, St. Pierre, Homère et tant d’autres; ce n’est pas ta faute, si tous ces ouvrages ne sont pas meilleurs“ (zit. n. Georg Friedrich Kempter: Dokumente zur französischen Malerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1968, S. 36). Zwar spricht

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Bild 5 Jean-Léon Gérôme: Le Pileur de couleur, 65 × 54,5 cm, Öl auf Leinwand, Museum of Fine Arts, Boston.

D ie vor präpa r ier te Pa le t te Maltechnische Lehrwerke des 19. Jahrhunderts reglementierten die Anordnung der Farben auf der Palette. Im Manuel des jeunes artistes et amateurs en peinture von 1828 etwa, dem am häufigsten wiederaufgelegten Malhandbuch des 19. Jahrhunderts, empfiehlt Pierre-Louis Bouvier dem angehenden Künstler, schon vor dem Malen alle für das Gemälde benötigten Farbnuancen auf der

der Künstler die Palette hier zunächst als „Diener“ an. Doch attestiert Ingres ihr zugleich, maßgeblich an der Erschaffung einer Reihe seiner Hauptwerke beteiligt gewesen zu sein, denn sie war es, die sie gemalt habe, so als ob er ihr dabei allenfalls zur Hand gegangen sei. Zugleich nimmt Ingres alle Schuld auf sich, dass die genannten Werke nicht noch besser gelungen seien, so als habe die Leistungsfähigkeit der Palette in seiner Unzulänglichkeit ihre Grenze gefunden. Das ist zum einen natürlich eine rhetorische Bescheidenheitsfloskel, zum anderen aber auch ein Beleg für die durchaus als emotional zu bezeichnende Beziehung des Künstlers zu seinem Malgerät.

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Bild 6 Diagramm einer Palette mit den zwei Farbanordnungen für die Anlage und die Ausführung der Fleischpartien, Stich aus Pierre-Louise Bouvier: Manuel des jeunes artistes et amateurs de peinture, Paris 1828.

Palette anzulegen und bei der Ausführung des Gemäldes möglichst gänzlich auf das Mischen zu verzichten, um dadurch die Reinheit der Farbtöne nicht zu gefährden. Erst nach einiger Übung könne dazu übergegangen werden, mit der Spitze des Pinsels auch während des Malprozesses Farben auf der Palette anzurühren.20 Eine dem Lehrwerk beigefügte Tafel zeigt die zwei Farbanordnungen, die der Figurenmaler für das Malen der menschlichen Haut zu beachten hatte (Bild 6). Sie repräsentieren die zwei Etappen bei der Ausführung eines Gemäldes. Die inneren drei Reihen von je 15 Farbtönen zeigen die Farbanordnung für die ébauche (die erste Anlage des Gemäldes). Zwar bedurfte es für die ébauche Bouvier zufolge nur neun verschiedener Pigmente, die allerdings durch Mischen in 45 Mischverhältnissen auf der Palette anzulegen waren. Noch komplexer in ihrer Anlage war die palette à finir, d. h. die Anordnung der Farben für die Fertigstellung des Gemäldes, wie sie die äußeren, jeweils 22 Farbtöne umfassenden drei Reihen in Bouviers Schaubild zeigen.21 In einem solchen Diagramm wird anschaulich, in welchem Ausmaß zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch Farbgebung und Farbauftrag, die allgemein 20 21

Pierre-Louis Bouvier: Manual des jeunes artistes et amateurs en peinture, Paris 1827. Zu Bouvier vgl. Callen: Impressionism (wie Anm. 9), S. 138f. Vgl. Ausst. Kat.: Art in the Making. Impressionism, hg. v. David Bomford u. a., National Gallery, New Haven/London 1990, S. 12.

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als weniger theorietauglich als etwa die Zeichnung galten, einer Verwissenschaftlichung unterzogen wurden. Palettenordnungen wie diejenige Bouviers gerieten jedoch im Laufe des Jahrhunderts immer mehr in die Kritik. Die normierte, streng hierarchische Anordnung der Farbvaleurs wurde zunehmend als Korsett des künstlerischen Temperaments empfunden.22 Die in Selbstbildnissen präsentierten Paletten bezeugen eine sowohl in der Auswahl als auch in der Anordnung der Farbtöne fortschreitende Individualisierung.23 Als 1905 Georges Bernheim der in den Räumen seiner Galerie in der rue Laffitte veranstalteten Ausstellung der Palettensammlung den Titel Graphologie par les palettes verleiht, hatte sich das Blatt endgültig gewendet: Nun erhoffte man sich, dass die Farbspuren auf den Paletten beredt über ihre ehemaligen Besitzer Auskunft gaben.

Zu To de gema lte Fa rb e Der Kampf gegen die Palettenordnungen à la Bouvier wurde jedoch nicht nur im Namen des künstlerischen Individuums geführt, sondern auch zugunsten der Farbe. Einer ihrer wichtigsten Advokaten war Thomas Couture, erfolgreicher Salonmaler, Lehrer und Verfasser von maltechnischen Manualen. Couture ging von der Annahme aus, dass auch dem Farbmaterial ein „Leben“ (vie) innewohne.24 Der Künstler, der lebendiges Fleisch darstellen wolle, müsse daher Sorge dafür tragen, dass die Farbe im Transfer von der Palette auf den Bildträger nicht dieses Leben aushauche. Mit dem tradierten Malverfahren, wie es ihm selbst noch gelehrt wurde, war dies jedoch seiner Meinung nach nicht zu leisten. Scharfe Kritik übt Couture daher an den Paletten seiner Lehrer. Sie seien oft mit 22

23

24

Siehe z. B. Théophile Silvestre: Les artistes français. Etudes d’après nature, Brüssel/Leipzig 1861, S. 195f. In seiner Vita Alexandre Decamps spricht Silvestre von den Regeln, denen Farbauftrag und Palettenordnung seinerzeit an der Akademie unterworfen gewesen seien, als einer das Temperament des Künstlers einschnürenden „Zwangsjacke“. Gage: Colour and Culture (wie Anm. 6), S. 187: „For whatever reason, from the 1850s in France and elsewhere the notion that the palette should be organized along tonal lines lost its attraction. Painters as different as Gustave Courbet in France and the more academic Alfred Stevens in Belgium presented themselves to the public in a sort of painterly déshabillé, with palettes arranged according to no recognizable principle.“ Bereits auf den in den Selbstbildnissen des 18. Jahrhunderts präsentierten Paletten konstatiert Gage eine Tendenz zur individuellen Palettenordnung; ebd.,., S. 180. Vgl. Petra Kathke: Modifikationen eines Künstlerattributs. Die Palette im Zürcher Selbstporträt von Paul Cézanne, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter 3 (2001), H. 11, S. 27–38. Georges Bertauts-Couture: Thomas Couture (1815–1879). Sa vie – son œuvre – ses idées – sa méthode par lui-même et par son petit-fils, Paris 1932, S. 109. Zu Coutures Kritik an den tradierten Palettenordnungen vgl. Callen: Impressionism (wie Anm. 9), S. 140f.

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bis zu fünfzig Tönen allein für das menschliche Inkarnat bestückt gewesen, denen jedoch während des Malens durch die Zurichtung durch Palettmesser und Borstenpinsel das Leben ausgetrieben werde – mit fatalen Folgen sowohl für das Gemälde selbst wie auch für das Erscheinungsbild der Palette: „Je vois encore ces palettes si précieusement préparées; comme les tons n’étaient pas encore flétris, elles étaient séduisantes à voir. Mais, le travail achevé, ces tons si frais étaient devenus louches, gris, plombés, huileux et s’étalaient sur la palette comme une peau morte.“25 Die Farben waren demnach im Prozess des Malens zur Strecke gebracht worden. Interessant in unserem Zusammenhang ist dabei, dass Couture die Verfehlungen der tradierten Maltechnik nicht nur mit dem Zustand des Gemäldes, sondern auch mit dem der Palette nach der Ausführung des Gemäldes begründet, zeigt sich darin doch, dass Couture den Farbrückständen auf der Palette einen ästhetischen Eigenwert zuerkannte.

Da s vege t abi le L eb en der Fa rb e Eine ähnliche Vorstellung findet sich auch bei Landschaftsmalern der Zeit, bei denen Palettenordnungen, wie sie Bouviers Malhandbuch vorführt, schon oft aus rein pragmatischen Gründen auf Ablehnung stießen, denn die oft überdimensionierten, ovalen Paletten, die nötig waren, um eine derart große Anzahl an Farben aufzunehmen, eigneten sich nicht für das Malen im Freien. Insbesondere die Plein-Air-Maler mischten daher ihre Farbe meist vor Ort auf den wesentlich kleineren rechteckigen Paletten an.26 Doch spielten auch ideologische Gründe eine Rolle, wie die Beschreibung, die Alfred Sensier, einer der radikalsten Advokaten der Ecole de Barbizon, von der Palette Théodore Rousseaus gibt, deutlich macht (Bild 7):

25

26

Zit. n. Bertauts-Couture: Thomas Couture (wie Anm. 24), S. 118 („Ich sehe noch die so aufwendig vorbereiteten Paletten; solange die Töne noch nicht geschunden waren, waren sie noch verführerisch anzuschauen. Aber, sobald die Arbeit abgeschlossen war, waren diese [zuvor] so frischen Töne trübe, grau, bleifarbig, ölig geworden und lagen auf der Palette wie eine tote Haut auf“). Paul Eudel: L’Hotel Drouot [et la curiosité] en 1885–1886, Paris 1887, S. 117. Dort heißt es in Bezug auf die Palette von Camille Corot: „La palette de ce poète exquis est carrée comme celle d’ailleurs de la plupart des paysagistes. Ils choississent cette forme parce qu’elle s’adapte le mieux à la boite à couleurs et laissent les silhouettes contournées aux peintres de genre ou d’histoire qui travaillant à l’atelier, n’ont pas besoin de courir la champagne le sac au dos.“ Zur Ausstattung des Landschaftsmalers siehe Callen: Impressionism (wie Anm. 9). Ausst. Kat.: Wie das Licht auf die Leinwand kam, hg. v. Iris Schaefer/Caroline von Saint-George/Katja Lewerentz, Wallraf-Richartz-Museum und Fondation Corboud, Mailand 2008, S. 78–83.

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Bild 7 Palette von Théodore Rousseau, Öl auf Holz.

„Sa palette était aussi fort simple, quoiqu’elle produisît à l’œil les richesses les plus lumineuses des harmonies forestières. Il ne la disposait pas comme Géricault ou Delacroix avec la méthode d’un stratégiste qui met sous son œil touts ses ressources et ses réserves, par des gammes ascendantes ou des tons rompus. Elle n’était pas cependant désordonnée, car elle brillait au soleil comme les roches grises couvertes de mousses, de

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lichen, de parasites et de toutes les végétations infinies. Je me suis bien souvent donné le plaisir d’observer la palette de Rousseau, et j’y voyais revivre en éléments rudimentaires tout ce que Fontainebleau recèle de trésors de couleurs.“27 Dass Sensier hier die Palette Delacroix’ als Kontrastfolie bemüht, geschieht nicht ohne Hintersinn. Wohl keinem anderen Künstler wurde eine solche, geradezu leidenschaftliche Beziehung zu seinen Paletten nachgesagt – sogar auf das Sterbebett habe er sich noch eine Palette bringen lassen, um neue Farbkombinationen zu erproben.28 Die posthum mehrfach ausgestellten Paletten Delacroix’ riefen indes wenig Begeisterung hervor, nicht zuletzt, weil sie dem Bild eines Revolutionärs, das die Kritik zeitlebens von ihm gezeichnet hatte, zu widersprechen schienen (Bild 8). So heißt es in einer Besprechung anlässlich der 1885 bei Beugniet veranstalteten Ausstellung seiner Palettensammlung von Delacroix’ Palette, sie sei „si extraordinairement propre et soignée, car il la nettoyait tous les jours. Voilà certes un soin méticuleux que je n’aurais pas soupçonné chez le fougeux romantique“.29 Und tatsächlich äußerte sich Delacroix’ notorische Obsession für Paletten weniger in ihrer virtuosen Handhabung als in der Akribie, mit der er oft Wochen damit zubrachte, nur eine einzige Palette zusammenzustellen, bevor er überhaupt Hand an das zu malende Werk legte. Eine solche Herangehensweise widersprach diametral den Vorstellungen einer einfachen, „natürlichen“ Malweise, wie sie im Kreis der Barbizoner gehegt wurde. Wenn Sensier Delacroix mit einem militärischen Befehlshaber verglich, ließ sich das zum einen durch einen Ausspruch des Künstlers selbst legitimieren, der von sich behauptete, gleich einem Krieger angesichts seiner Waffen, allein aus dem Anblick seiner Palette Mut und Siegeszuversicht zu ziehen.30 Doch baute Sensier diese martialische Metaphorik noch dahingehend aus, dass 27

28 29 30

Alfred Sensier: Souvenir sur Théodore Rousseau, Paris 1872, S. 200 („[…]seine Palette war einfach, wenn sie auch dem Auge die reichsten Harmonien des Waldes darbot. Er verteilte die Farbe nicht wie Géricault oder Delacroix in der Art eines Strategen, der seine Ressourcen und Reserven unter seinen Augen versammelt, in aufsteigenden Reihen oder nach gebrochenen Tönen geordnet. Sie ist deshalb nicht ungeordnet, denn sie funkelt in der Sonne wie graue, mit Moos, Flechten, Parasiten und dem ganzen Reichtum der Vegetation bedeckte Felsen. Ich fand oft daran Gefallen, Rousseaus Palette zu betrachten, ich sah in rudimentärer Form all dasjenige zum Leben erweckt, was [der Wald von] Fontainebleau an Farbschätzen birgt.“ Übersetzung des Verfassers). René Piot: Les palettes de Delacroix, Paris 1931, S. 67. Siehe Eudel: L’Hotel Drouot (wie Anm. 26), S. 116. „Dans la vue seule de la palette, comme le guerrier dans celles de ses armes, le peintre puise la confiance et l’audace.“ Zit. n. André Michel: L’exposition d’Eugène Delacroix à l’Ecole des Beaux-Arts, in: Gazette des Beaux-Arts 31 (1885), S. 285– 308, S. 306.

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Bild 8 Palette [mit Pinseln] von Delacroix, 19. Jahrhundert, Öl auf Leinwand, Musée National d’Eugène Delacroix, Paris.

er die akkurate Staffelung der Farbe auf der Palette Delacroix’ und Gericaults gezielt mit einer militärischen Schlachtordnung verglich. Impliziert ist hier auch, dass die Farben dem absoluten Gehorsam des Künstlers unterstellt sind. Eine solche Auffassung wäre Rousseau hingegen fremd gewesen. Auf seinen Paletten herrschte vielmehr eine natürliche, vegetabile Ordnung; hier kann die Farbe, aus der Befehlsgewalt des Künstlers befreit, ein ähnliches Eigen-

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leben entfalten wie die Pflanzen im Wald von Fontainebleau, der, wenn er de facto auch längst kein Urwald mehr war, so doch zumindest damals noch als solcher galt. Das Unterholz, das sous-bois oder sotto bosco, das zu den beliebtesten Bildmotiven der Barbizoner gehörte, findet hier gleichsam im Wuchern der Farbe auf der Palette sein Analogon.31 Als pars pro toto einer urwüchsigen Natur besaß das sous-bois für die Ecole de Barbizon eine nahezu ideologische Bedeutung, die sich – wie Claudia Einecke herausgestellt hat – nicht im Motivischen erschöpfte, sondern vielmehr auch mit einer innovativen als „natürlich“ propagierten „somatischen“ Malweise einherging. „Indem es [das sous-bois] auf Nahsicht von Baumstämmen, Gestrüpp, Blättergewirr und ähnlichen, in hohem Grade taktilen Gegenständen hin konzipiert ist und einförmige Elemente wie offene Himmel und stille Wasserflächen weitgehend ausklammert, bietet es Anlaß für maximale Applikation unebener, rauher Farbstriche: der Bildgegenstand erlaubt und fordert, die ganze Malfläche mit dichten, sicht- und fühlbaren Markierungen zu bedecken.“32 In Anbetracht eines solch haptischen Verständnisses von Malerei, nimmt es nicht Wunder, dass die von Farbe überbordende Palette zum Markenzeichen der Künstler der Ecole de Barbizon wurde. Schon Alexandre Decamps, einem der Pioniere der Ecole de Barbizon, wird nachgesagt, er habe sich angesichts der Palette seines Lehrers Alexandre Abel de Pujol gefragt: „Comment transporter le spectateur dans les bois avec une palette aussi métaphysique, pour ainsi dire; avec une couleur aussi mince et qui offrait si peu de prise au regard?“33 Zweifelsohne boten die farbverkrusteten Paletten der Barbizonier dem Blick mehr Gelegenheit, sich in ihnen zu verfangen. Das gilt auch für die Exemplare aus der Sammlung Beugniet. Rousseaus Paletten, hieß es etwa in einer Besprechung, gleichen „a piece of a bark of an old oak, thickly plastered with a mixture of

31

32 33

Die Analogie wurde jedoch auch außerhalb der Ecole de Barbizon aufgegriffen, etwa in einem heute im Besitz des Minneapolis Institute of Art verwahrten Palettenbild Rosa Bonheurs, das ein auf einer Waldeslichtung kniendes Reh zeigt – indem der Bereich, in dem die Künstlerin die Farbe anmischte, sich zugleich als Teil des gemalten Hintergrundes lesen lässt. In der Sammlung Beugniet/Bernheim war die Künstlerin mit einem Palettenbild vertreten, das einen Kopf eines Fuchses zeigte, „which emerges in a most effective manner from a background of green“. Lees: Pictures on Palettes (wie Anm. 7), S. 39. Claudia Einecke: Das sous-bois. Motiv und Strategie der Natürlichkeit, in: Daniela Christmann u. a. (Hg.): RückSicht. Festschrift für Hans-Jürgen Imiela zum 5. Februar 1997, Mainz 1997, S. 129–140, S. 137. Charles Blanc: Alexandre-Gabriel Decamps, in: ders.: Histoire des peintres des toutes les écoles, Paris 1861–1876, Ecole Française, Bd. 3, Paris 1865, S. 4.

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colors“.34 Die sich türmende Farbe auf der Palette Jules Duprés erklärte die Kritik gar zu einer Reliefkarte der Schweiz, wobei das Daumenloch den Genfer See verorte.35

Da s Spiel m it dem Zu fa l l Dass die farbverschmierte Palette tatsächlich als Quell der Inspiration verstanden wurde, zeigt die Beliebtheit, welche die „Palettschabselmalerei“ bei den Künstlern Barbizons genoss.36 Bei ihr handelt es sich um eine Malerei, die mit von einer Palette gekratzten Farbrückständen ausgeführt wurde. Diese Palettschabsel (râclures de palette) wurden zunächst willkürlich auf einer leeren Leinwand oder Holztafel verstrichen. Die Aufgabe des Künstlers bestand nun darin, aus den auf diese Weise erzeugten Zufallsstrukturen mittels eines oder mehrerer sinnstiftender Eingriffe ein Bild zu generieren. Das Verfahren ähnelte also dem der Palettenmalerei, nur dass bei der Palettschabselmalerei die Palette allein den Rohstoff für das neu zu schaffende Bild lieferte und nicht selbst als Bildträger diente. Eines verwandten Verfahrens bediente sich mit Narcisso Virgilio Díaz de la Peña ein weiterer Künstler aus der Ecole de Barbizon für das Malen eines sous-bois: Dabei verstrich er zunächst wild Farbe auf der Leinwand, um sich daraufhin in den Wald zu begeben, überzeugt, dass es „schon mit dem Teufel zugehen müsste, wenn sich dieses Motiv nicht dort finden ließe“, um dann in situ das Gemälde fertigzustellen.37 Aus der Hand Díaz de la Peñas stammt zudem ein berühmtes in der Auberge Ganne, dem Stammlokal der Künstler Barbizons, verwahrtes Palettenbild (Bild 9). Es zeigt eine Vase mit einem bunten Blumenstrauß. Der Vergleich zwischen den Farbklecksen oder -tupfern auf einer Palette und einem Bouquet war topisch.38 Entsprechend waren Blumen ein beliebtes Sujet von Palettenbil34 35 36 37 38

Anonym: Palettes of Modern Painters, in: The Art Amateur 17 (1887), S. 38. Eudel L’Hotel Drouot (wie Anm. 26), S. 120. Vgl. aber auch Jules Claretie: Peintres et sculpteurs contemporains, Bd. 2: Artistes vivants en janvier 1881, Paris 1884, S. 196. Zur Palettschabselmalerei siehe Matthias Krüger: Gespachtelter Zufall. Gustave Courbet und die Messermalerei, in: Philippe Cordez/Matthias Krüger (Hg.): Werkzeuge und Instrumente, Berlin 2012, S. 109–127, S. 119–122. Georges Gassies, zit. n.: Pierre Miquel/Roland Miquel: Narcisse Díaz de la Peña, Bd. 1: Monographie, Paris 2006, S. 184. Vgl. Syme: A touch of blossom (wie Anm. 4), S. 145–153; James Rubin: Manet’s Silence and the Poetics of Bouquets, London 1994, S. 158. Beide Autoren zitieren Baudelaires Beschreibung der Palette Delacroix’: „je n’ai jamais vu de palette aussi minutieusement et aussi délicatement préparée que celle de Delacroix. Cela ressemblait à un bouquet de fleurs, savamment assorties.“ Charles Baudelaire: La vie et l’œuvre d’Eugène Delacroix [1863], in: Charles Baudelaire: Œuvres complètes, hg. v. Claude Pichois, Bd. 2, S. 748.

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Bild 9 Narcisse Vergilio Diaz de la Peña: Bouquet des fleurs, ca. 1850, Öl auf Holz, 29 × 39,5 cm, Musée Municpal de l’Ecole de Barbizon, Barbizon.

dern.39 In der Version Díaz de la Peñas kommt dabei wieder jene für das Palettenbild so spezifische Spannung zwischen dem amorphen Material und dem Dargestellten zum Tragen. Was sich einerseits als Gewimmel von Blütenblättern lesen lässt, bleibt andererseits doch stets als Akkumulation von Farbtupfern und Farbflecken auf einer Palette wahrnehmbar.40 Signifikant und Signifikat scheinen hier auseinanderzutreten. Dass ähnliche Ambivalenzen auch die übrige Bildproduktion des Künstlers auszeichneten, wurde bereits von den Zeitgenossen registriert. Ein Anhänger des L’art-pour-l’art wie Théophile Gautier konnte das durchaus goutieren: Wie immer, schreibt der Kritiker in seinem Salonbericht von 1846, handele es sich bei den Bildern Diaz de la Peñas um Prismen, Pfauenschwänze und Regenbögen. Angesichts eines solchen Farbenrausches könne man sich des Eindrucks nicht erwehren, es sei eine mit Farbe beladene Palette aus Unachtsamkeit auf eine Leinwand gefallen, um hier einen Abdruck zu hinterlassen, den der Zufall zu einer Figur, einer krausen Wurzel oder einem in der Verästelung seiner Venen einzigartigen Achat gebildet habe.41 39 40 41

Siehe etwa die im Auktionskatalog von 1911 abgebildete Palette von Madeleine Lemaire. 123 Palettes d’Artiste (wie Anm. 10), S. 39. Zu dieser Palette vgl. Syme: A Touch of Blossom (wie Anm. 4), S. 147. Théophile Gautier: Salon de 1846, in: La Presse, 3. April 1846, zit. n.: Théophile Gautier: Critique d’Art, hg. v. Marie-Hélène Girard, Paris 1994, S. 199.

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Bild 10 Aldolphe Monticelli: Le retour de la chasse, ca. 1861, 52 × 100 cm, Öl auf Leinwand, Corocoran Gallery of Art, Washington.

Der Absolut ismus der Fa rb e Üblicherweise wurde ein solcher Vergleich zwischen einem Gemälde und einer Palette allerdings pejorativ verwendet. Wenige Kritiker des 19. Jahrhunderts wollten der Farbe im fertigen Gemälde dieselbe Freiheit gewähren, die man ihr auf der Palette durchaus zugestand. So erkennt etwa de Lagenevais in seinem Salonbericht von 1849 in der Landschaft in Rousseaus Gemälde Terrains d’automne ein unentwirrbares Durcheinander an Pinselstrichen, in dem „beim besten Willen der Welt“ nicht einmal die Andeutung einer entzifferbaren Form auszumachen sei. Stattdessen fühlt er sich an eine abgeschabte Palette erinnert (On dirait une palette râclée).42 In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Maurice Chaumelin in seiner Besprechung eines 1861 im Marseiller Salon gezeigten Gemäldes des Díaz-Schülers Adolphe Monticelli (Bild 10): „[…] Or, que voyons-nous dans le Retour de chasse? Des plaques roses, vertes, balances, grises, rouges, dorées, qui ont la prétention d’être des figures, des arbres, des étoffes […]. Ajoutez à l’obscurité impénétrable de la composition, la confusion des plans, l’incorrection et l’inélégance des contours, et vous vous demanderez si M. Monticelli, après avoir assorti sur sa palette les couleurs les plus riantes et les plus riches, ne s’est pas borné à en prendre l’empreinte avec sa toile.“43 42 43

Frédéric de Lagenevais (Pseud. v. Frédéric Bourgeois de Mercey): Le Salon de 1849, in: Revue des deux mondes, n.s., 3 (1849), S. 559–593, S. 582. Maurice Chaumelin in der Tribune artistique et littéraire du Midi im Oktober 1858, zit. n. Charles Garibaldi/Mario Garibaldi: Monticelli, Genf 1991, S. 29 („Was sehen wir in der Rückkehr von der Jagd? Lauter rosa, grüne, weiße, graue, rote, goldbraune Flecken, die sich anmaßen Figuren, Bäume und Stoffe zu sein […]. Wenn man die Verworrenheit der Komposition mit der Konfusion der Bildgründe

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Bild 11 Adolphe Monticelli: Nu de Face, ca. 1875, Öl auf Leinwand, 37 × 25 cm, Coll. Bérengier, Marseille.

Hier wird ein Topos begründet, der die Rezeption des Werks Monticellis in den folgenden Jahrzehnten begleiten sollte. Tatsächlich spielten Paletten für Monticellis künstlerisches Selbstverständnis eine große Rolle. Einem überlieund den inkorrekten und uneleganten Konturen zusammenrechnet, fragt man sich doch, ob Herr Monticelli, nachdem er auf seiner Palette die heitersten und kostbarsten Farben versammelt hat, sich nicht damit begnügt hat, auf der Leinwand einen Abdruck seiner Palette zu machen.“).

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Bild 12 Adolphe Monticelli: Société de dames, ca. 1884–1885, Öl auf Holz, 23,3 × 29,7 cm, Privatsammlung.

ferten Ausspruch des Künstlers zufolge habe Glück für diesen stets darin bestanden, wenn seine Palette mit Farben und sein Teller mit Makkaroni angerichtet gewesen seien.44 Von der Bedeutung, die der Künstler der Palette zumaß, zeugen auch die drei überlieferten Palettenbilder aus seiner Hand, die allerdings innerhalb seines Œuvres kaum aus dem Rahmen fallen (Bild 11). Denn so polemisch der Vergleich seiner Bilder mit Paletten auch intendiert war, so sehr gründete er doch durchaus auf wirklichen Vergleichsmomenten. Das betrifft bereits die Wahl des Bildträgers: Monticelli malte meist auf einfachen Brettern, die er sich aus alten, beim Trödelhändler erworbenen Schränken, Anrichten oder Betten zurechtgeschnitten hatte.45 Da der Künstler die Farbe auf seinen Bildern keineswegs systematisch verstrich, ist oft der Bildgrund in seiner hölzernen Textur sichtbar geblieben. In erster Linie sind es jedoch Farbgebung und Farbauftrag Monticellis, die den Vergleich mit Paletten nahelegen. Monticelli hat die Farbpaste, die er oft direkt auf die Leinwand aufgetragen zu haben scheint, dort meist fingerdick verstrichen, wobei er auch das Palettmesser benutzte – ein 44 45

Ebd., S. 142; siehe auch die Variante dieses Spruchs bei André Alauzen: Le vrai Monticelli, Marseille 1986, S. 92. Garibaldi: Monticelli (wie Anm. 43), S. 74.

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Utensil, das in seiner ursprünglichen Funktion nicht dem Farbauftrag diente, sondern zum Anrühren der Farbe auf der Palette vorgesehen war. Aufgrund dieser Malweise hat Monticelli sich selbst ironisch Crousticelli getauft46 – das französische Wort crôute für Kruste bezeichnet in einer Nebenbedeutung ein Gemälde, bei dem die Farbe derart dick aufgetragen war, dass sie den Bildträger wie eine Kruste überzog.47 In Monticellis Gemälden löst sich die Farbe mithin ähnlich stark vom Bildgegenstand wie bei den Palettenbildern. In der Damengesellschaft von 1884/85 (Bild 12) etwa versinken die drei nur anhand weniger Anhaltspunkte entzifferbaren Frauen im linken Bildvordergrund förmlich in diffusen Texturen pastos verstrichener Farben. Wenn auch der Sonderling Monticelli in der Kunstgeschichtsschreibung meist nur als Randfigur vorkommt, so hat ihm zumindest Richard Muther in seiner Geschichte der französischen Malerei einen bedeutenden Platz zugewiesen, sah er doch in ihm den Vollender einer von Delacroix initiierten Tendenz: „War durch Delacroix die Farbe befreit worden aus dem plastischen Gefängnis, in das der Klassizismus sie sperrte, so flutet sie bei Monticelli überhaupt gleich einem brausenden Orchester mit dem Recht des Absolutismus daher. Alle Zeichnung ist aufgelöst, aller Inhalt geleugnet. Nur üppige Farbenbuketts windet er mit sinnenfroher Hand zusammen. […] Seine Malerei ist feinste Palettenkunst.“48 Wenn mit Monticelli die Palettenmalerei ihren Höhepunkt erreicht, so markiert er jedoch zugleich ihr Ende: Denn in dem Moment, in der die Malerei die Lektion verinnerlicht hatte, die ihr die Palette erteilte, hatte die Palettenmalerei ihren Beitrag zur modernen Malerei abgeleistet.

46 47 48

Alauzen: Monticelli (wie Anm. 44), S. 76. Siehe z. B. die Erklärung des Begriffs bei Jacques-Nicolas Paillot de Montabert: Traité Complet de la peinture, Bd. 8, Paris 1829, S. 155. Richard Muther: Geschichte der Malerei, Bd. 3: 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1922, S. 161.

M AT E R I A L

Johannes Myssok

BI L D H AU E R I S C H E S D E N K E N U N D H A P T I S C H E BI L D E R

Bildhafte Vorstellungen konkretisieren und materialisieren sich nicht nur in der zweidimensionalen Fläche der Zeichnung oder des Bildschirms, sondern ebenso in plastischen Modellen als Zeugnisse des bildhauerischen Schaffensprozesses oder im Architekturmodell als Planungsmittel der Baukunst. Als solche hat sie Horst Bredekamp zuletzt in seiner Theorie des Bildakts gewürdigt, doch soll es hier vielmehr um Modelle als bildhauerische Entwürfe gehen, die spätestens seit Albert Erich Brinckmanns Barock Bozzetti von 1923 im Rufe stehen, künstlerische Absichten mit großer Unmittelbarkeit und Spontaneität zu artikulieren.1 So verstanden wären sie ein Abbild des sich ausprägenden Bildaktes, eine Momentaufnahme aus dem Prozess zwischen unkörperlicher, mentaler Konzeption und ihrer Verkörperung in der Materie. Die Konzeption des „haptischen Bildes“ bietet nun die Möglichkeit, einmal die klischeehaften qualitativen Wertungen einer vorgeblich „größeren Frische“ oder „größeren Unmittelbarkeit“ plastischer Modelle beiseite zu lassen und diese statt dessen als Ausdruck einer spezifischen künstlerischen Denk- und Erkenntnisweise zu betrachten, die zwar bildhaft ist, zugleich aber auch raumbezogen und an den Tastsinn rückgebunden. Wenn man plastische Modelle in der skizzierten Weise sicherlich als Ausprägungen des Bildaktes begreifen kann, so sind sie dennoch keineswegs Produkte einer künstlerlosen Kunstgeschichte wie sie in der zeitgenössischen Kunst zunehmend propagiert wird. Vielmehr entsteht diese eigene Form des haptischen Bilds überhaupt erst aus einer bestimmten historischen Situation heraus und auch die partikulären Formen der weiteren Evolution konkretisieren sich

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Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 288–293, bes. S. 288f. Brinckmann gebührt das Verdienst der eigentlichen Entdeckung des Bozzettos für die Kunstgeschichte, wenn auch zunächst aus der Perspektive der vermeintlichen Kulmination mit dem barocken Bozzetto, vgl. Albert Erich Brinckmann: Barock-Bozzetti, Bd. 1–4, Frankfurt/M. 1923–1925.

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erst durch die Auseinandersetzung eines Künstlerindividuums mit einer sich nur in Bezug auf eine bestimmte Aufgabe thematisierenden künstlerischen Fragestellung.

Von der Z eic h nu ng z u m pla st isc hen Mo del l Bildhauerische Planungsmedien hat es wohl immer gegeben, doch ist es meines Erachtens kein Zufall der Überlieferung, dass der Übertritt von zweidimensionalen Planungszeichnungen hin zu plastischen Modellen – oft im gleichen Maßstab wie das noch zu schaffende dreidimensionale Objekt – durch Dokumente bezeugt erst im Spätmittelalter fassbar wird.2 Das plastische Modell ist damit offenbar die Folge eines neuen Denkens, in dem Vorausplanung und Überprüfung zu entscheidenden Kategorien wurden. Damit setzte auch die Entwicklung ein, das künstlerische Objekt nicht mehr nach nur einem Muster zu schaffen, sondern verschiedene alternative Vorlagen in die Planung einzubeziehen und die Synthese hieraus in einem neuen eigenen Muster zu präsentieren, bevor dieses in kostspieligem Material umgesetzt wurde. Mit diesem Übergang von zweidimensionalen Planungsmedien zu haptisch erfahrbaren verbinden sich deshalb gleich zwei Aspekte: die ökonomische Einsparung von Kosten und die direkte Vorstellbarkeit, ja Greifbarkeit des geplanten dreidimensionalen Objektes. Der entscheidende intellektuelle wie auch konzeptionelle Wandel von derartigen in gleicher Größe, aber in preiswerten Materialien wie Gips oder Ton ausgeführten „Stellvertretern“ des projektierten Objekts hin zu einer Vorplanung im verkleinerten Maßstab und in skizzenhafter Form ist erneut nicht durch erhaltene Werke nachvollziehbar, vollzog sich aber über das 15. Jahrhundert in Florenz vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung der Zeichnung zum privilegierten Planungsmedium.3 All dies wird mit einem Schlag fassbar durch Andrea del Verrocchios Londoner Modell zum Forteguerri-Monument in Pistoia (Bild 1).4 Mit ihm ist das erste über Dokumente und seine Provenienz gesicherte 2

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Dazu Johannes Myssok: Bildhauerische Konzeption und plastisches Modell in der Renaissance, Münster 1999, S. 71–74 zu den plastischen Modellen der Skulptur. Um einiges früher sind plastische Modelle aus Holz in Dokumenten zum Florentiner Dom greifbar, dazu Andres Lepik: Das Architekturmodell in Italien 1335– 1550, Worms 1994, S. 27–33. Siehe bes. S. 30–33 zu den offenbar teilweise in Originalgröße ausgeführten Pfeilermodellen des Florentiner Doms nach 1355. Vgl. Myssok: Bildhauerische Konzeption (wie Anm. 2), S. 75–81; ähnlich Jeannine Alexandra O’Grody: ‚Un semplice modello‘. Michelangelo and His Three-Dimensional Preparatory Works, Ann Arbor 1999, S. 1–51, die jedoch weniger kritisch differenziert. Zur Zentralität der Zeichnung siehe Francis Ames Lewis: Drawing in Early Renaissance Italy, New Haven 22000. Aus der umfangreichen Literatur seien hier nur die wichtigsten Beiträge herausgegriffen: John Pope-Hennessy: Italian Renaissance Sculpture, London 41996,

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Bild 1 Andrea del Verrocchio: Modell des Forteguerri-Monuments, 1476, London, Victoria and Albert Museum.

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plastische Modell erhalten, und es ist zugleich auch das früheste bekannte skizzenhaft ausgeführte plastische Modell überhaupt. Es ist jedoch auch im vollen Wortsinn ein haptisches Bild, denn hier ist nicht eine Einzelfigur entworfen, sondern ein noch zu schaffender Kenotaph, der sich in Form eines Hochreliefs von einem flachen Reliefgrund ausgehend bis hin zu vollplastischen Figuren in der größten Nähe zum Betrachter nach vorn in den Raum stufen sollte. Diese besondere, Verrocchio eigene Konzeption des Reliefs verband dadurch die statische, zweidimensionale Bildhaftigkeit der Totalansicht mit einer dynamischen, plastischen Entwicklung der Einzelelemente im Realraum. Das Modell ist 1476 entstanden. Mit ihm präsentierte der Bildhauer dem Pistoieser Stadtrat im Rahmen einer Konkurrenz sein Projekt zum Grabmal für Niccolò Forteguerri und sicherte sich hierdurch den Auftrag, um den sich dann auch Piero del Pollaiuolo mit einem weiteren Modell bewarb.5 Zwei Gründe führten erkennbar zur Erhaltung: zum einen wurde aus dem Modell ein juristisches Dokument, da es eine Form fixierte, auf die sich im Vertrag und in den folgenden Rechtsstreitigkeiten um die Vollendung des Grabmals immer wieder berufen wurde.6 Zum anderen war es ganz konkret die Referenz im künstleri-

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6

S. 165–168; ders.: Catalogue of Italian Sculpture in the Victoria & Albert Museum, Bd. 1, London 1964, S. 164ff.; Günther Passavant: Verrocchio. Skulpturen, Gemälde und Zeichnungen, London 1969, S. 27–34 u. S. 185–187, Kat. Nr. 9; Joachim Poeschke: Die Skulptur der Renaissance in Italien, Bd. 1: Donatello und seine Zeit, München 1990, S. 189f.; Andrew Butterfield: The Sculptures of Andrea del Verrocchio, New Haven/London 1997, S. 138ff. u. Kat. 22; Myssok: Bildhauerische Konzeption (wie Anm. 2), S. 82–109 u. S. 346f., Kat. Nr. 1 (m. älterer Lit.); Bruce Boucher: Italian Renaissance terracotta. Artistic revival or technological innovation?, in: Ausst. Kat.: Earth and Fire. Italian terracotta sculpture from Donatello to Canova, hg. v. Bruce Boucher, London/New Haven 2001, S. 16f. u. Kat. Nr. 126ff.; Franziska Windt: Andrea del Verrocchio und Leonardo da Vinci. Zusammenarbeit in Skulptur und Malerei, Münster 2003, S. 160–165 u. S. 242–249, Kat. Nr. 15; Dario A. Covi: Andrea del Verrocchio. Life and Work, Florenz 2005, S. 121–128, zum Modell S. 126f. Dazu Cristina Acidini Luchinat: Pistoia, i Medici e le arti, in: Franca Falletti (Hg.): I Medici, il Verrocchio e Pistoia. Storia e restauro di due capolavori nella cattedrale di S. Zeno. Il monumento al Cardinale Niccolò Forteguerri. La Madonna di Piazza, Livorno 1996, S. 14–17; Myssok: Bildhauerische Konzeption (wie Anm. 2), S. 82– 86; jetzt besonders zur Auftragsfrage Stephen J. Milner: The Politics of Patronage: Verrocchio, Pollaiuolo, and the Forteguerri Monument, in: Stephen J. Cambell/ Stephen J. Milner (Hg.): Artistic exchange and cultural translation in the Italian Renaissance city, Cambridge, MA 2004, S. 221–245; zusammenfassend Alison Wright: The Pollaiuolo Brothers. The Arts of Florence and Rome, New Haven/London 2005, S. 312f. Hannelore Glasser: Artists Contracts of the Early Renaissance, New York/London 1977, S. 133; Butterfield: The Sculptures (wie Anm. 4), S. 138; Myssok: Bildhauerische Konzeption (wie Anm. 2), S. 90.

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Bild 2 Andrea del Verrocchio: Entwurfszeichnung zu einem Grabmal, um 1485, London, Victoria and Albert Museum.

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schen Zusammenhang, auf die sich alle mit der Fertigstellung des Grabmals beauftragten Künstler bis weit ins 16. Jahrhundert bezogen.7 Aus dieser Perspektive nimmt es Wunder, daß Verrocchio hier keine genau ausgearbeitete Projektzeichnung einreichte, sondern ein skizzenhaftes plastisches Modell als haptisches Bild dessen, was er in Marmor zu schaffen beabsichtigte. Was also leistete das plastische Modell besser als eine Zeichnung, so daß es offenbar an deren Stelle treten konnte? Man könnte sicherlich das Londoner Modell zunächst als Zeichnung in Ton verstehen wie es auch wiederholt betrachtet worden ist.8 Die Formen sind mit kurzen, schwungvollen Strichen eines spitzen Instruments in den feuchten Ton gedrückt oder gezogen und deuten vielfach nur generalisierend eine Form an, ohne diese genau zu definieren. Dennoch ist gegenüber Verrocchios ebenfalls höchst innovativen Zeichnungen zu differenzieren, dass hier keine Reuezüge stehen geblieben sind und dass es auch keine zusätzlichen Striche gibt, die ein Erproben oder in diesem Fall ein Ertasten der zu schaffenden Form verrieten – alles ist trotz der skizzenhaften Formensprache klar definiert. Dennoch ist deutlich die Analogiebildung zur Zeichnung erkennbar, vergleicht man etwa seine etwas jüngere Projektzeichnung für das Vendramin-Grabmal in Venedig (Bild 2) mit dem in Florenz entstandenen Entwurf.9 Auch in der Zeichnung, die dem gleichen Zweck der Präsentation wie das Londoner Modell gedient haben dürfte, gibt es Bereiche, die gegenüber der nur dünn einskizzierten Gesamtanlage der Grabmalstruktur und ihrer Elemente zeichnerisch deutlicher herausgearbeitet werden, wodurch sie vor allem eine größere Plastizität und Präsenz erhalten.10 Hier wie dort sind dies besonders die Draperien, durch deren plastische Definition die Figuren körperhaft greifbar werden und Volumen erlangen. Geht man davon aus, dass sich in beiden Fällen der Entwurf unmittelbar auf dem Blatt bzw. im Relief konkre7 8 9

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Myssok: Bildhauerische Konzeption (wie Anm. 2), S. 86–90 u. 100–109. Ebd., S. 97ff. Dazu in Ansätzen ebd., S. 128–132. Zu der Zeichnung Passavant: Verrocchio (wie Anm. 4), S. 67f. u. S. 201, Kat. Nr. D 11; Wendy Williams Stedman Sheard: ‚Asa Adorna‘. The Prehistory of the Vendramin Tomb, in: Jahrbuch der Berliner Museen N.F. 20 (1978), S. 117–156, hier: S. 133–156; Peter Ward-Jackson: Victoria and Albert Museum. Italian Drawings, 2 Bde. , Bd. 1, London 1979, S. 24ff.; Windt: Andrea del Verrocchio und Leonardo da Vinci (wie Anm. 4), S. 289f., Kat. Nr. 43; Covi: Andrea del Verrocchio (wie Anm. 4), S. 231–234. Wie ich bereits an anderer Stelle anknüpfend an Ward-Jackson argumentiert habe, sind vor allem im unteren Bereich der Zeichnung von späterer Hand zur Verdeutlichung mit Feder Linien nachgezogenen worden, im gegenwärtigen Zusammenhang sind die oberen Partien um die Hauptfiguren gemeint, vgl. Myssok: Bildhauerische Konzeption (wie Anm. 2), S. 131, dazu auch Windt: Andrea del Verrocchio und Leonardo da Vinci (wie Anm. 4), S. 290. Nicht überzeugen kann die von Dalli Regoli und Covi vertretene Zuschreibung dieser entstellenden Nachzeichnung an Lorenzo di Credi, vgl. hierfür Covi: Andrea del Verrocchio (wie Anm. 4), S. 232f.

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tisiert und damit aus einer mental konzipierten Formvorstellung durch den Zeichnungsakt bzw. durch das Modellieren eine konkrete Form entsteht, ist die mit dem Relief vollzogene mentale Leistung letztlich größer und reicher an Implikationen. In der Zeichnung ist es ein lockeres Verdichten von Strichlagen über einer ersten flüchtigen Skizze, wobei das offene Umkreisen und selektive Bestätigen von Linienzügen prozesshaft nach und nach zu einer Formdefinition führt. Die Zeichnung entsteht demnach einerseits aus dem mimetischen Nachvollzug von zahllosen, durch Zeichnungsstudien eingeübten Naturvorbildern, folgt andererseits jedoch einer ornamentalen Eigenlogik des Zeichnungsaktes im Duktus der zeichnenden Hand Verrocchios.11 Eben diese ist trotz des anderen Mediums auch im haptischen Bild wiederzufinden und definiert hier ein reales Davor und Dahinter als räumliche Verhältnisse der Körper und Körperteile zueinander. Auch hier konstituiert sich Form über Vorgewusstes, denn die plastische Gesamtform des in der Mandorla getragenen Christus ebenso wie die herabschwebende Caritas und die noch stärker plastisch hervortretenden Figuren auf und um den Sarkophag sind als Gesamtmassen aufmodelliert worden, bevor ihre Haltungsmotive, Körperformen und Oberflächen durch das skizzierende Zeichnen in den Ton näher definiert wurden. Eine bildhafte Vorstellung steht also auch hier an der Basis der daraus gewonnenen plastischen Form, doch ist eine räumliche Entwicklung sogleich mitgedacht, die wie beim späteren Entwurf des Vendramin-Grabmals oder bei der Christus und Thomas-Gruppe an Or San Michele ein Vortreten in den Betrachterraum, eine Verknüpfung der Sphäre des Kunstwerks mit der des Betrachters anstrebte. Das künstlerische Denken in einem haptischen Bild wie dem Londoner Modell diente demnach nicht nur einer konkreten Werkplanung und der unmittelbaren Umsetzbarkeit eines bildhauerischen Projektes, sondern führte auch zur Entstehung einer für die Skulptur völlig neuartigen Konzeption, zu einem Innovationsschub in der Skulptur des späten 15. Jahrhunderts.

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Zu diesem komplexen Zusammenhang vgl. Michael Wiemers: Bildform und Werkgenese. Studien zur zeichnerischen Bildvorbereitung in der italienischen Malerei zwischen 1450 und 1490, München/Berlin 1996, S. 137–157.

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M ic hela ngelos Ju l iusg rabma l u nd d ie Ver selbst ä nd ig u ng bi ld hauer isc her For m f i ndu ng Ohne dass damit behauptet sei, plastische Modelle hätten eine katalytische Bedeutung für die Evolution bildhauerischer Konzeptionen gehabt, könnte doch der Eindruck eines kausalen Zusammenhangs entstehen, betrachtet man das vielleicht bedeutendste bildhauerische Projekt des 16. Jahrhunderts, das Juliusgrabmal Michelangelos.12 Während recht wenig über die Gestalt des Freigrabprojektes von 1505 bekannt ist, konkretisiert sich das Vorhaben mit dem neuen Vertrag von 1513 nicht nur in Michelangelos eigener Vorstellung und in der Ausführung erhaltener Skulpturen wie dem Moses, sondern auch in einer erstaunlichen Vielzahl von Zeugnissen des Werkprozesses, die einen Zugriff auf das bildhauerische Denken Michelangelos ermöglichen.13 Als haptische Bilder verstanden lassen sie zugleich erkennen, wie sich die Gestalt in einem Dialog zwischen Zeichnung und plastischem Modell entwickelt und schließlich das dreidimensionale modellierte Bild sich zum eigentlichen Innovationsträger etabliert, zugleich jedoch die Planung hierdurch höchst problematisch über das Realisierbare hinauswächst. Bereits die Projektzeichnungen wie diejenige zum Untergeschoß der Grabmalswand in den Uffizien (Bild 3) lassen das enge Mit- ja Ineinander von Architektur und Skulptur erkennen, wobei die Architektur hier den Skulpturen klar ihren Ort zuweist: in den beiden Nischen stehen große Viktorien über Besiegten, dann stuft sich die Wand über flache Pilaster vor, denen Hermen vorgeblendet sind, die wiederum den Figuren Gefesselter als Rücklagen dienen.14 Was sich so als schichtweise räumliche Entwicklung wie eine Bildwand zum Betrachter darbietet, zeigt schon an den Seiten, dass es hier eben nicht um eine geradezu reliefhafte, dem Bild analoge Struktur geht, sondern der zeichnerisch entworfene architektonische Körper vielmehr eine größere Tiefe und Komplexität aufweist. Die Skulpturen sind hier noch klar als Teil der Architektur zu ver12

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Für die schier endlose Forschungsgeschichte sei auf die jüngste, umfassende Studie Echinger-Maurachs verwiesen: Claudia Echinger-Maurach: Michelangelos Grabmal für Papst Julius II., München 2009. Zuvor mit einer ausführlichen Diskussion der Forschungsgeschichte dies.: Studien zu Michelangelos Juliusgrabmal, Bd. 1–2, Hildesheim/Zürich/New York 1991. Mit zum Teil divergierenden Schlüssen vgl. Horst Bredekamp: Michelangelo. Fünf Essays, Berlin 2009, S. 21–38. Zum Projekt von 1513 siehe Echinger-Maurach: Michelangelos Grabmal (wie Anm. 12), S. 26–44. Zum Moses ebd., S. 101–113. Zum Werkprozess vgl. auch Myssok: Bildhauerische Konzeption (wie Anm. 2), S. 215–224. Zu der Zeichnung Florenz, Gabinetto dei Disegni e delle Stampe degli Uffizi, 608 E r., siehe Charles de Tolnay: Corpus dei disegni di Michelangelo, Bd. 1, Novara 1975, Kat. Nr. 561r; Echinger-Maurach: Michelangelos Grabmal (wie Anm. 12), S. 22–25; hier auch zu der Beckerath-Zeichnung in Berlin und der Kopie Giacomo Rocchettis.

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Bild 3 Michelangelo Buonarroti: Entwurf zum Untergeschoß des Juliusgrabmals, 1513, Florenz, Uffizien, Gabinetto dei Disegni e delle Stampe.

stehen, artikulieren deren Kräfte, ohne jedoch ein Eigenleben zu entfalten und sind formal wie erzählerisch an diese gebunden. Dies ändert sich entschieden mit dem Oxforder Skizzenblatt (Bild 4), das die sogenannten Gefangenen weitgehend aus ihrem architektonischen Zusammenhang löst und in kleinen Skizzen die Haltungen dieser Figuren variantenreich entwirft.15 Neben dem später realisierten Entwurf zum rebellischen Gefangenen finden sich hier auch äußerst kompliziert angelegte Körperhaltungen, welche einerseits den Gedanken einer Fesselung aufgeben und sich dadurch andererseits in vielfacher Weise von der Architektur lösen, um ein reiches figuratives Eigenleben zu entfalten. Nun könnte man entwicklungslogisch postulieren, dass es hier sicherlich einen konzeptionellen Weg von stärker architektonisch gebundenen, reliefhaft aus der Rückbindung an die Architektur entwickelten Figuren hin zu diesen freieren, räumlich höchst komplizierten Figurenkonzeptionen gegeben haben 15

Tolnay: Corpus dei disegni (wie Anm. 14), Bd. 1, Kat. Nr. 157r; Myssok: Bildhauerische Konzeption (wie Anm. 2), S. 218; Echinger-Maurach: Michelangelos Grabmal (wie Anm. 12), S. 38.

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Bild 4 Michelangelo Buonarroti, Skizzenblatt, 1511–1512, Oxford, Ashmolean Museum.

muss und die Formen des Entwurfs eine derartige Entwicklung von einfach zu komplex spiegelten. Dies scheint sich zunächst auch zu bestätigen, ist der sogenannte sterbende Gefangene im Louvre (Bild 5) doch durch eine Skizze auf einem Studienblatt am gleichen Ort zeichnerisch so vorgeplant, dass man annehmen könnte, von hier aus sei es nur ein kleiner Schritt zur Ausführung gewesen.16 16

Vgl. die Zeichnung Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 688v. Tolnay: Corpus dei disegni (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 38f., Kat. Nr. 20v.; Echinger-Maurach: Michelangelos Grabmal (wie Anm. 12), S. 43 u. S. 175, Anm. 187 m. der Literatur. Zu der Figur und ihrer konzeptionellen Entwickung in der Zeichnung vgl. Myssok: Bildhauerische Konzeption (wie Anm. 2), S. 218f. u. EchingerMaurach: Michelangelos Grabmal (wie Anm. 12), S. 38–43.

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Bild 5 Michelangelo Buonarroti: ‚Sterbender Gefangener’, 1513–1515, Paris, Louvre.

Bild 6 Michelangelo Buonarroti: Männlicher Torso, 1513, Florenz, Casa Buonarroti.

Ein kleines plastisches Modell in der Casa Buonarroti (Bild 6) lässt indes erkennen, wie weit noch der Weg von der Konzeption der Körperhaltung in der Zeichnung zur Ausführung in Marmor war.17 Das meines Erachtens in zeitlicher Nähe zu der Zeichnung um 1513 entstandene Modell Michelangelos beschränkt sich nicht darauf, die Haltung des Oberkörpers demgegenüber zu spiegeln, sondern artikuliert den antithetischen Bewegungsvollzug des Herabsinkens einerseits und den des Hinter-das-Haupt-Streckens eines Arms ande17

Florenz, Casa Buonarroti, Inv. Nr. 191. Für die Zuordnung zum sterbenden Gefangenen siehe Myssok: Bildhauerische Konzeption (wie Anm. 2), S. 219–223 u. S. 352f., Kat. Nr. 22; O’Grody: ‚Un semplice modello‘ (wie Anm. 3), S. 226ff., Kat. Nr. 2 u. dies.: Michelangelo. The Master Modeler, in: Ausst. Kat.: Earth and Fire. Italian Terracotta Sculpture from Donatello to Canova, hg. v. Bruce Boucher, London/New Haven 2001, S. 32–42, hier: S. 40f.; meine, auch von O’Grody vertretene Zuordnung jetzt bei Echinger-Maurach: Michelangelos Grabmal (wie Anm. 12), S. 43.

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Bild 7a Michelangelo Buonarroti: Männlicher Torso (Seitenansicht), 1513, Florenz, Casa Buonarroti

Bild 7b Michelangelo Buonarroti: Männlicher Torso (Ansicht von der Rückseite), 1513, Florenz, Casa Buonarroti.

rerseits auf völlig neuartige Weise. Letztlich konnte das neuartige Körperbild der späteren Marmorfigur nur dadurch entstehen, dass dieses plastische Modell ein haptisches Bild ist – es entwickelt aus einer zweidimensionalen Zeichnung eine dreidimensionale Form, doch in dem Prozess, diese Form in Ton zu modellieren, entsteht aus der Haptik mehr als nur eine Verräumlichung. Die Gestalt beginnt sich aus dem Flächenbezug zu lösen und sich frei im Raum zu entfalten. Erst hierdurch scheint das extreme, steile Ausgreifen des Armes bis weit über den Kopf denkbar geworden zu sein, dem bereits im Modell ein elastischer Bewegungszug durch den ganzen Körper antwortet.18 Im Akt des Modellierens 18

Bezeichnend ist m.E., dass in den von Echinger-Maurach stimmig auf die Figur bezogenen Hand- und Armstudien in Haarlem und Florenz vor allem der exzentrische Gestus der rechten Hand an der Brust studiert wird, nur am unteren Blattrand in Florenz ist eine Skizze zu finden, die indes erkennen lässt, wie Michelangelo hier noch in der Zeichnung weiter das extreme Ausgreifen des Armes mit dem emporgeführten Ellenbogen ausprobierte, vgl. Echinger-Maurach: Michelangelos Grabmal (wie Anm. 12), S. 43.

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haptisch artikuliert, regte dieser offenbar zu dem Gedanken an, eine Torsion einzuführen, den Unter- gegen den Oberkörper zu verdrehen, was sich so weder in der Zeichnung noch an der schließlich ausgeführten Marmorskulptur wiederfinden lässt. Es ist jedoch nicht die Haptik des Modellierens in Ton allein, die das Modell zu einem Paradigma für das haptische Bild werden lässt, sondern mehr noch seine Faktur, die einerseits zwar durchaus auf eine bildhafte Frontalansichtigkeit abzielt, andererseits aber das Modell zu einem dezidiert dreidimensionalen, ausschließlich der haptischen Formerarbeitung dienenden Objekt macht. Dies zeigt sich in den Seitenansichten (Bild 7a) und von der Rückseite (Bild 7b), von denen aus erkennbar wird, dass dieser Torso schon als Torso geschaffen wurde und ein Stück Ton am unteren Ende dabei so ausgearbeitet worden ist, dass mit ihm das Modell in der Hand gehalten und während des Modellierens gedreht werden konnte.19 Dadurch, so könnte man hier formulieren, dass das Bild haptisch wird, impliziert es Veränderungen in seiner räumlichen Struktur, was seinerseits wiederum einschneidende Rückwirkungen auf die bildhafte Ansichtigkeit von der Hauptansicht des plastischen Objekts aus hat. Dies ist letztlich auch durch die Materialität des haptischen Bildes bedingt. Während es hier weicher Ton ist, der zur Artikulation der Körperhaltung, zugleich aber auch zur anatomisch präzisen Definition der Körperoberfläche genutzt wurde, haben sich überdies mindestens zwei Modelle Michelangelos aus Wachs erhalten, mit denen sich eine ganz eigene Haptik verbindet, wodurch sie auch als haptische Bilder die zuvor angesprochenen Aspekte radikalisieren. Blickt man nochmals auf die Figurenconcetti des Oxforder Skizzenblattes (Bild 4), so sind hier wie bereits hervorgehoben Figurenhaltungen erdacht, die schon in der Zeichnung eine große räumliche Komplexität ausbilden, welche in der bildhaften Ansicht auf dem Blatt nur unzureichend erfasst scheint. Der am Modell des sterbenden Gefangenen erkennbare Gedanke, die Körperhälften und Körperachsen extrem gegeneinander zu verdrehen und hierdurch eine gewaltige Torsion im Körper als Ausdruck seelischer oder psychischer Spannungen zu erzeugen, findet hier seine Entsprechung und wird auch im kleinen Wachsmodell des Victoria and Albert Museums in London (Bild 8) aufgegriffen.20 Dieses ist schon 19 20

So schon Myssok: Bildhauerische Konzeption (wie Anm. 2), S. 219. London, Victoria and Albert Museum, Inv. Nr. 4117-1854, dazu ebd., S. 261ff. u. S. 354f., Kat. Nr. 13; O’Grody: ‚Un semplice modello‘ (wie Anm. 3), S. 229–233, Kat. Nr. 3; Echinger-Maurach: Michelangelos Grabmal (wie Anm. 12), S. 53. Obwohl mit Ausnahme Tolnays in der älteren Literatur nie ernsthaft als Werk Michelangelos angezweifelt, häufen sich – m. E. ohne überzeugende Gründe – in jüngerer Zeit die Stimmen gegen eine Autorschaft Michelangelos, siehe zuletzt Michael W. Cole: Ambitious form. Giambologna, Ammanati, and Danti in Florence, Princeton/Oxford 2011, S. 38f. (als „Late sixteenth-century Florence artist, after Michelangelo (?)“).

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lange als vorbereitendes Modell für den sogenannten Jugendlichen Gefangenen in der Florentiner Accademia (Bild 9) erkannt worden, möglicherweise aber mit einigem zeitlichen Abstand vor diesem um 1515 entstanden, worauf nicht nur die gesteigerte Massigkeit der Proportionen in der Marmorausführung schließen lässt.21 Es sind in der Tat nicht nur die Proportionen, die sich im Ausführungsprozess wandeln, sondern erneut verfestigt sich die Form, womit eine Reduktion der im Modell angelegten Beweglichkeit und räumlichen Komplexität einhergeht. Die Wachsfigur, die mit ihrem rechten Bein zum Teil noch in der rötlichen Wachsmasse steckt, aus der sie modelliert wurde und das linke auf diesen amorphen Klumpen Materie setzt, ist auf einem runden Holzsockel befestigt.22 Erneut dient dieser als Dispositiv, um die kleine Skulptur in der Hand zu bewegen, ohne dabei die weiche Wachsmasse fester berühren zu müssen und hierdurch ihre Form zu verändern. Sogleich fällt gegenüber dem Modell zum sterbenden Gefangenen die weitaus generalisiertere, ja regelrecht abstrahierte Formensprache auf, die weitgehend auf Details der Oberflächengestaltung und Anatomie verzichtet. Der Zurückdrängung des Details antwortet dagegen die dynamische Modellierung, welche durch die Materialität des Wachses bedingt scheint. Um die Figurenachse durch das rechte Bein herum scheint die Figur regelrecht in Schwingung zu geraten: angeregt durch die leichte Formbarkeit des geschmeidigen Wachses sind die Arme wie in einem kreisförmigen Schwung um den Oberkörper gelegt, aneinander gebunden um Haupt und Thorax geführt, während das höher gesetzte Bein mit dem Knie weit nach vorn in den Raum vorstößt. Wiederum könnte man auch hier behaupten, dass die Gestaltfindung von einer bildhaften Frontalansicht in naher Beziehung zu den zeichnerischen Figurenentwürfen des Oxforder Blatts ausging, doch durch die taktile Ausarbeitung eine materialbedingte Verselbständigung der Formensprache einsetzte, die sich dabei erstaunlich weit von der Mimesis menschlicher Anatomie entfernte. Hierdurch wurde ein Körper entworfen, der eine in sich kreisende Bewegung vollzieht und dadurch den Betrachter selbst zu einem Umkreisen der Figur anregt. Die haptische Erarbeitung der Form führt hier zu einem Körperbild, das mehransichtig den Umraum der Skulptur ergreift und die Figur dadurch von ihrer ursprünglichen Rückbindung an die Architektur löst, so weitgehend, dass die ursprünglich geplante Fesselung der Gefangenenfiguren an Hermenpilaster

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Myssok: Bildhauerische Konzeption (wie Anm. 2), S. 354f., Kat. Nr. 13. EchingerMaurach: Michelangelos Grabmal (wie Anm. 12), S. 53 hat sich jüngst für eine weitaus spätere Entstehung „ca. 1519“, in unmittelbarer Nähe zur Marmorausarbeitung ausgesprochen. Zur Faktur des Londoner Modells vgl. in jüngerer Zeit Peta Evelyn: ‚Broken and repaired‘. Michelangelo’s Wax Slave in the Victoria and Albert Museum, in: The Burlington Magazine 138 (1996), S. 809–812.

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Bild 8 Michelangelo Buonarroti: Männlicher Torso, um 1519, London, Victoria and Albert Museum.

Bild 9 Michelangelo Buonarroti: ‚Jugendlicher Gefangener‘, um 1519–1523, Florenz, Accademia.

der Grabmalswand (Bild 3) fast in Vergessenheit gerät – die Figur artikuliert die Fesselung nun aus sich heraus. Das haptische Bild generiert in dieser Perspektive nicht allein formal neuartige Skulpturen, indem der Entwurf sich von zweidimensionalen zu räumlichen Planungsmedien entwickelt und mittels des hierdurch plastisch Konzipierten auf die bildhafte Gestalt zurückstrahlt, die taktile Formfindung induziert in ihrer spezifischen Materialität und Materiebezogenheit mehr noch eine Form,

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die sich weitgehend von einem bildhaften Bezugssystem distanziert und nur noch als dreidimensionale Gestalt vollgültig erfasst werden kann. Die Bedeutung von plastischen Modellen als haptische Bilder ist jedoch nicht ausschließlich auf die Form bezogen, sondern hat wie schon bei Michelangelo Rückwirkungen auf die inhaltliche Bedeutung der Skulptur, die sich hier im Modell aus ihrer dienenden Rolle in der Architektur und von der Figurenfamilie des Juliusgrabmals löst, wodurch die zeichnerisch noch als untergeordnet konzipierte Figur mit einem Mal sowohl zur Freifigur als auch zur inhaltlich neu, aus sich heraus bestimmten Skulptur wird.

Bi ld hauer isc hes Den ken z w isc hen for ma ler Bi ndu ng u nd t hemat isc her I n novat ion: A nton io C a nova s pla st isc he Mo del le z u Am o r un d Ps yche Derartige Wandlungen vollziehen sich immer wieder über die Auseinandersetzung mit dem plastischen Modell und helfen zu belegen, dass diese weitaus mehr waren als Spielwiesen für Formalisten – in ihnen äußert sich vielmehr bildhauerisches Denken, wodurch über sie die komplexe Beschäftigung mit Themen auf dem Weg zur vollendeten Skulptur nachvollziehbar wird. Dies trifft in vielleicht überraschender Weise auch für die klassizistische Skulptur zu, deren Werke nach gängiger Meinung in einer scheinbar eindimensionalen Relation zu antiken Skulpturen stehen. So auch im Falle von Antonio Canovas Amor und Psyche-Gruppe im Louvre (Bild 10), die sich vermeintlich vollauf mit der hellenistischen Amor und Psyche-Gruppe der kapitolinischen Sammlungen in Rom (Bild 11) vergleichen lässt.23 Hier wie dort geht es um den Moment der zärtlichen Annäherung zwischen den beiden Liebenden, die vor dem Kuss angehalten ist. Die einzige Neuerung Canovas scheint es demnach gewesen zu sein, aus der stehenden eine liegende, kompliziert am Boden ausgestreckte Gruppe gemacht zu haben. Doch wie schon der Weimarer Karl Ludwig Fernow 1806 bemerkte, muss man um die Gruppe „herumspringen“, um diese vollständig in ihrem Zusammenhang wahrzunehmen, wodurch er eigentlich gleich seiner eigenen Rückführung der Gruppe auf ein Fresko aus Herkulaneum widersprach, das in bildhafter Form zeigt, wie ein Faun eine Mänade hinterrücks überfällt.24 Dennoch 23 24

Zur Gruppe Canovas vgl. Johannes Myssok: Antonio Canova. Die Erneuerung der klassischen Mythen in der Kunst um 1800, Petersberg 2007, S. 73–86 m. der älteren Lit. „Nächstdem ist durch diese gesuchte Anordnung der Figuren, die sich auf eine so unbequeme Art küssen, eine solche Stellung beider Köpfe, und eine solche Haltung der Arme entstanden, daß man nie zu einer befriedigenden Ansicht des Werks gelangt, man mag die Gruppe betrachten von welcher Seite man will. Man muß

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Bild 10 Antonio Canova: Amor und Psyche, 1787–1793, Paris, Louvre. Bild 11 Hellenistisch, Amor und Psyche, Römische Kopie nach einem Werk aus dem frühen 1. Jh. v. Chr., Rom, Kapitolinische Museen.

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Bild 12 Antonio Canova: Bozzetto zu einer Venus und Adonis-Gruppe, 1787, Possagno, Gipsoteca.

scheint bereits bei Fernow der Gedanke an haptische Bilder anzuklingen: durch die Übertragung aus dem Fresko bzw. dem Stich in den Antichità di Ercolano in eine Marmorgruppe verräumlicht Canova Fernow zufolge das Bild und versieht es mit haptischen Werten, die der Theoretiker dann aber schonungslos kritisiert. Doch lief Canovas Ideationsprozess keineswegs in dieser Form ab. Erneut sind es plastische Modelle, die erkennen lassen, dass die formale Konzeption der Amor und Psyche-Gruppe einerseits aus einer längeren Entwurfsreihe ent-

um dieselbe herumspringen, bald von unten hinauf, bald von oben hinab sehen, und verwirrt sich im Einzelnen der Theilanschauungen, ohne je den Eindruck des Ganzen zu erhalten. Dem Besucher wird zwar diese Mühe dadurch etwas erleichtert, daß die Gruppe sich auf ihrem Fusgestelle drehen läst; aber er sucht vergebens eine Ansicht aus der er beide Gesichter, wo der Ausdruck der Zärtlichkeit zusammenstralt, zugleich erblicken könte“, Carl Ludwig Fernow: Über den Bildhauer Canova, Zürich 1806, in: Römische Studien, Bd. 1–3, Zürich 1806, Fotomechanischer Nachdruck hg. v. Alexander Auf der Heyde, Bd. 1–2, Bassano del Grappa 2005, S. 89f. Zum Vorbild des Freskos aus Herkulaneum ebenda, S. 89. Dies wurde emphatisch erneut von Draper betont, vgl. James David Draper, in: Ausst. Kat.: Playing with fire. European terracotta models 1740–1840, hg. v. James David Draper/ Guilhem Scherf, New Haven/London 2003, S. 36–38.

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Bild 13 Antonio Canova: Bozzetto zu einer Skulpturengruppe, Venedig, 1787, Museo Correr.

stand, das Thema andererseits aber aus einem ganz anderen Strang der Auseinandersetzung gewonnen wurde.25 Seit 1786 hatte der Bildhauer eine nie realisierte Venus und AdonisGruppe für den polnischen König konzipiert (Bild 12), die den sterbenden Adonis liegend mit seinem Haupt auf dem Schoß der sitzenden, ihm zärtlich zugewandten Venus zeigen sollte.26 Hiervon griff Canova offenbar den Gedanken zu einer am Boden bewegten Gruppe für das Werk auf, das er 1787 ohne thematische Vorgaben seitens des Auftraggebers für seinen Freund John Campbell schaffen sollte.27 Canovas erste Überlegungen zur Amor und Psyche-Gruppe sind in zwei nahe verwandten Bozzetti (Bild 13) erhalten, deren Zusammenhang mit der Marmorgruppe des Louvre nie bestritten worden ist, doch immer 25 26

27

Der folgende Zusammenhang bereits ähnlich in Myssok: Antonio Canova (wie Anm. 23), S. 74f. Dazu Bruce Boucher, in: Ausst. Kat.: Earth and Fire. Italian Terracotta Sculpture from Donatello to Canova, hg. v. Bruce Boucher, New Haven/London 2001, S. 260, Nr. 76; Myssok: Antonio Canova (wie Anm. 23), S. 68–71; Mario Guderzo, in: Ausst. Kat.: Canova e la Venere Vincitrice, hg. v. Anna Coliva/Fernando Mazzocca, Rom/Mailand 2007, S. 168f. Zur Vorgeschichte und zum ‚Auftrag‘ vgl. Myssok: Antonio Canova (wie Anm. 23), S. 73–78. Die Verknüpfung der Werke schon bei Bruce Boucher: Earth and Fire (wie Anm. 26), S. 260, Nr. 76.

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wahrgenommen wurde, dass nicht nur das räumliche Verhältnis der Figuren zueinander umgekehrt wurde, sondern auch die Art, wie sie sich einander nähern.28 Denn während Amor in der Marmorgruppe Psyche zärtlich umfängt und diese sich sehnsüchtig zu ihm emporreckt, wehrt sich im Bozzetto die männliche Figur gegen die Umarmung durch die weibliche, ja er versucht sogar, sie mit aller Gewalt von sich wegzustoßen. Vergeblich sucht man in Apuleius‘ Amor und Psyche-Märchen – Canovas vermeintlicher Textquelle – eine Episode, die mit diesem Befund übereinstimmen würde.29 Vielmehr vollzieht das plastische Modell einen komplexen Übersetzungsprozess, der nicht nur auf der formalen Seite von Canovas eigenen Experimenten mit der Venus und AdonisGruppe ausgeht, sondern vor allem auch die Restaurierungsgeschichte der kapitolinischen Amor und Psyche-Gruppe einbezieht. Deren berühmteste, nur fragmentarisch erhaltene Variante war am Jahrhundertanfang von dem französischen Bildhauer Pierre le Gros restauriert und vom Grafen Fede angekauft worden.30 Er ergänzte den Torso jedoch nicht nach heutigem Verständnis korrekt 28

29

30

Zu den Bozzetti Giuseppe Pavanello, Mario Praz: L’opera completa del Canova, Mailand 1976, S. 98, Nr. 66 u. Nr. 67; Giuseppe Pavanello, in: Ausst. Kat.: Venezia nell’età di Canova 1780–1830, Venedig 1978, S. 86, Nr. 112; Giuseppe Pavanello, in: Ausst. Kat.: Antonio Canova, hg. v. Giuseppe Pavanello/Giandomenico Romanelli, Venedig 1992, S. 163, Nr. 79; Draper: Playing with fire (wie Anm. 24), S. 36–38; Mario Guderzo, in: Ausst. Kat.: Canova e la Venere Vincitrice, hg. v. Anna Coliva/ Fernando Mazzocca, Mailand 2007, S. 178f. Zweifel an der thematischen Identifikation des Bozzettos in Venedig äußerte vor allem Giovanni Mariacher: Bozzetti inediti di Antonio Canova al Museo Correr di Venezia, in: Arte neoclassica, Venedig/Rom 1964, S. 185–198, hier: S. 190. Boucher vermutete dann, dass ein früherer Moment in der Amor und Psyche-Geschichte des Apuleius dargestellt sei, in der Amor, kaum dass er von Psyche geweckt wurde, zu fliehen versucht; Bruce Boucher: Earth and Fire (wie Anm. 4), S. 258, Nr. 75. Isabelle Leroy-Jay Lemaistre identifizierte die beiden Bozzetti mit „lutte pour Psyché ranimée par le baiser de l‘Amour (?)“ und fügte bei demjenigen in Possagno noch hinzu „dit aussi Hylas et une nymphe“, Isabelle Leroy-Jay Lemaistre: Canova. Psyché ranimée par le baiser de l‘Amour, Paris 2003, S. 17. Die zutreffende Thematik von Kaunos und Byblis wurde von Draper kursorisch neben anderen erwähnt, vgl. Draper: Playing with fire (wie Anm. 24), S. 36. In einem Brief an seinen französischen Freund Quatremère de Quincy verweist Canova selbst auf seine Quelle: „[…] Psiche e Amore che si abbracciano: momento di azione cavato dalla Favola dell‘ Asino d‘oro di Apulejo“, Canova an Quatremère de Quincy, Rom, 12. Dezember 1801, zit. n.: Giuseppe Pavanello (Hg.): Il carteggio Canova-Quatremère de Quincy 1785–1822 nell’edizione di Francesco Paolo Luiso, Ponzano 2005, S. 15. Zur Restaurierungs- und Rezeptionsgeschichte vgl. Francis Haskell/Nicholas Penny: Taste and the Antique, The Lure of Classical Sculpture 1500–1900, New Haven/London 1981, S. 190f.; zu Le Gros’ Restaurierung vgl. Hermann Walter: Fundgeschichte und Echtheit der sog. Fede-Gruppe, in: Die Rezeption der ‚Metamorphosen‘ des Ovid in der Neuzeit. Der antike Mythos in Text und Bild, hg. v. Hermann Walter/Hans-Jürgen Horn, Berlin 1995, S. 239–251; Gerhard Bissell:

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Bild 14 Martin Gottlieb Klauer: Kopie der Kaunos und ByblisGruppe, 1780, Weimar, Landesbibliothek.

nach dem Vorbild der kapitolinischen Gruppe als Amor und Psyche, sondern interpretierte ihn durch seine Restaurierung zu einer Kaunos und Byblis-Gruppe nach Ovids Geschichte um (Bild 14).31 Kern der Erzählung und der hier dargestellten Szenerie ist die Zurückweisung der ‚unnatürlichen‘ Liebe der Byblis

31

Pierre Le Gros 1666–1719, Reading 1997, S. 114–117 u. ders.: ‚Haud Dubiè amoris & Psyches imagines fuerunt statuae istae‘, in: ‚Wiedererstandene Antike‘. Ergänzungen antiker Kunstwerke seit der Renaissance, München 2003, S. 73–80. So korrekt identifiziert bei Roberta Roani Villani/Gabriella Capecchi: Per Francesco Carradori copista e restauratore, in: Paragone 41 (1990), S. 129–189, hier: S. 150– 158.

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durch ihren Bruder Kaunos.32 Hierdurch erklärt sich schlagartig auch der von Canova gewählte Darstellungsmoment, indem hier nun im plastischen Modell in völlig unantiker Weise ein regelrechtes körperliches Ringen zwischen Mann und Frau dargestellt ist. Dieses artikuliert sich nicht wie in der antiken Gruppe des Kapitols bildhaft-einansichtig, sondern differenziert sich über die Möglichkeiten des haptischen Bildes im Raum. Dennoch kommt es auch hier wie zuvor bei Michelangelo zu sehen zu Formverkettungen, die durch die Materialität des Tons und durch die haptische Formfindung induziert sind. Diese in der Marmorausführung so prominenten, geradezu abstrakten Schwünge und Kreisformen, mit denen die X-Form der gesamten Gruppe in der bildhaft geschlossenen Hauptansicht verknüpft wird, sind hier in der dynamischen Ausarbeitung des Themas in den Bozzetti noch verräumlicht. Der erstaunlichste Schritt im gesamten konzeptionellen Prozess ist dann jedoch derjenige von der diametral entgegengesetzten Thematik im Modell hin zu der amourösen Hinwendung von Amor und Psyche in der Marmorgruppe, was nur auf die archäologische Wahrnehmung der Zusammengehörigkeit von Fede-Gruppe und kapitolinischer Gruppe zurückgeführt werden kann. Das plastische Modell wird damit als haptisches Bild zum Medium der Auseinandersetzung mit der Antike, ja der Wiedergewinnung von Antike, da Canova offenbar durch die Verwerfung der Bozzetti sich für den thematisch letztlich konventionelleren, aber durch die unrestaurierte kapitolinische Gruppe als originär antikennah identifizierten Darstellungsmoment entschied. Dabei hielt er jedoch an der mit dem Modell artikulierten formalen Konzeption fest, die in kurzer Zeit zu dem im Pastell Hugh Douglas Hamiltons gezeigten großen Modell der Gruppe führte.33 Gerade dem Bild gegenüber fällt jedoch auf, wie wenig haptisch Canovas Bozzetto in Venedig eigentlich ist – sind an Michelangelos Modellen und an denen vieler anderer Bildhauer oftmals die Fingerabdrücke der modellierenden Hand noch stehen geblieben, ist die Oberfläche hier dagegen vollständig von den Werkzeugspuren eines gezahnten Spatels oder ähnlichem strukturiert, was die Oberfläche derart ‚unpersönlich‘ werden lässt, wie es in einem gängigen Klischee die extreme Glättung und Ausdifferenzierung seiner Marmoroberflächen auch zu sein scheint. In beiden Fällen der Oberflächendifferenzierung geht es 32 33

Ovid: Metamorphosen, Buch IX, 454–665, Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, übers. v. Erich Rösch, München/Zürich 101983, S. 241–247. Zu dem Bild vgl. Hugh Honour: A List of Artists who Portrayed Canova, in: Alessandro Bettagno (Hg.): Studi in Onore di Elena Bassi, Venedig 1998, S. 155–172, S. 158, Nr. 2 u. Myssok: Antonio Canova (wie Anm. 23), S. 77; zuletzt ders.: Modern Sculpture in the Making: Antonio Canova and Plaster Casts, in: Rune Frederiksen/Eckart Marchand (Hg.): Plaster Casts. Making, Collecting and Displaying from Classical Antiquity to the Present, Berlin 2010, S. 269–288, hier: S. 279ff.

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Bild 15 Antonio Canova: Amor und Psyche, 1787–1793, Detail, Paris, Louvre.

jedoch gerade in besonderer Weise um Haptik – um die Ablehnung der auf den Tastsinn bezogenen Haptik in der Barockskulptur.34 Die eigene Haptik der Amor und Psyche-Gruppe Canovas (Bild 15) ist dagegen eine auf das Kunstwerk selbst beschränkte und damit eine für den Betrachter rein bildhafte: In der Art wie hier die Marmorfinger der Figuren die als Haut und Haare differenzierten Texturen der Marmoroberfläche ertasten, thematisiert sich einerseits das Material, andererseits aber auch die Skulptur selbst als geschaffenes Werk.35 Die haptischen Aspekte der Skulptur differenzieren sich in dieser Weise über die verschiedenen Schritte des bildhauerischen Denkprozesses ausgehend von haptischen Bildern bis hin zu der Haptik der Oberfläche aus. 34

35

Zu diesem Prozess in der klassizistischen Skulptur vgl. auch Hans Körner: Versteinerte Skulpturen. Oberflächenwerte der Skulptur von Gianlorenzo Bernini bis zu Antonio Canova und Bertel Thorvaldsen, in: Caroline Welsh/Christina Dongowski (Hg.): Sinne und Verstand: ästhetische Modellierungen der Wahrnehmung um 1800, Würzburg 2001, S. 103–126. Myssok: Antonio Canova (wie Anm. 23), S. 85 anknüpfend an Körner: Versteinerte Skulpturen (wie Anm. 34), S. 106ff.

Joris van Gastel

M IC H E L A N G E L O ’ S L E S S O N The Baroque Bozzetto between Creation and Destruction

When during restoration works in 1982 Roman workers broke through a chimneypiece on the first floor of a house at the Via del Colosseo, they made an incredible find.1 Among the rubble that was used to stuff the construction were shards of garden vases, fragments of antique sculptures, and several pieces of clay figures. The latter, now restored and conserved at the Museo di Roma, can certainly be deemed unique. No less than nine terracotta sketch models or bozzetti could be reconstructed and are now attributed to some of the most renowned sculptors working in seventeenth-century Rome. The person who brought these objects together has been identified as the little known sculptor Francesco Antonio Fontana, who must have cherished them as tangible reminders of his work with more talented contemporaries. Even so, some later inhabitant of Fontana’s house discarded them as “things of little value,” cutting the models up and using them for filling the chimneypiece.2 Among these sketches, so miraculously saved from oblivion, we may zoom in on one particularly attractive exemplar (figs. 1–2). Depicting what in all

1

2

Elena Bianca Di Gioia: Le collezioni di scultura del Museo di Roma: il Seicento, Rome 2002, p. 257ff.; Elena Bianca Di Gioia: ‘Casa e bottega del Cav. Francesco Antonio Fontana’. Materiali dallo studio di un scultore romano della seconda metà del ’600, in: Maresita Nota (Ed.): Archeologia nel centro storico, Rome 1986, pp. 151–160. Di Gioia: ‘Casa e bottega’ (as fn. 1), p. 151, suggests this will have happened towards the end of the eighteenth century. Some broken bozzetti from Bernini’s estate, even if regarded as things of little value, were still considered useful for his pupil Giulio Cartari; cf. Stanislao Fraschetti: Il Bernini. la sua vita, la sua opera, il suo tempo, Milano 1900, p. 431: “Nel detto studio vi erano alcune teste di gesso ed altre parti umane con alcuni modelli di creta mezzi rotti, quali tutti per essere stati trasportati in guardaroba sono rotti e spezzati, e qualche porzione ne fu donata al Sig. Giulio Cordorè [Cartari] allievo del Sig. Cav.re [Bernini], per essere cose di poco rilievo.”

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JORIS VAN GASTEL

Fig. 1

Gian Lorenzo Bernini (attributed): Bozzetto for a Saint.

probability must have been a saint, and now attributed to Gian Lorenzo Bernini, it is characterized by a directness and velocity of modelling that hardly any of the preserved works of this type equals.3 In its restored, though still incomplete state, rather than suffering from its careless treatment – that of the artist itself, and that of the later owner – the figure has managed to preserve a striking pres-

3

Di Gioia: Le collezioni di scultura (as fn. 1), no. 16.

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MICHELANGELO’S LESSON

Fig. 2

Other view of figure 1.

ence. From the smears and cracks emerges the sensation of a physical, moving body covered by thick draperies that, despite their heaviness, seem vibrantly alive. And at the same time, with this small body, we sense another presence, no less animate: that of the skilful hands of which the ostensive traces are here forever cast in clay. This image, then, so close to the verge of obliteration, does not dissolve into nothingness, but reaffirms itself as a creative statement, and not in spite of, but precisely because of its hampered state. The destructive gesture has become its own opposite.

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Even if this dual nature may be deemed exemplary for the bozzetto in general, there is little in the scholarly literature that helps us to account for the tension between creation and destruction.4 As Malcolm Baker has noted, there are roughly two ways in which this material is generally discussed.5 Where sketch models in wax or clay are part of monographic studies and catalogues – Baker singles out Jennifer Montagu’s landmark study on Alessandro Algardi – they often function as illustrations to a narrative that is structured primarily by the “archival thread”; the discussion of the role of these sketches thus remains subordinate to the main chronological argument.6 When, on the other hand, the discussion focuses on sculptural practice in particular, such as in Rudolf Wittkower’s Sculpture: Processes and Principles, the view of the sculptural process is, in Baker’s words, “essentially proleptic” in that the “concern above all is with the finished work and the procedures involved in producing this.”7 The result of both approaches is the suggestion of a “linear development of composition through models…”8 Notwithstanding one or two interesting contributions, also more recent scholarly literature has little to offer to counter this way of thinking.9 This is all the more surprising considering the recent interest in topics revolving around terms such as ‘model,’ ‘medium,’ ‘imprint,’ ‘indexicality,’ and ‘trace,’ which all relate in interesting ways to the bozzetto and its characteristics.10 Moreover, it 4

5 6 7 8

9 10

Though see James Elkins: Marks, Traces, ‘Traits,’ Contours, ‘Orli,’ and ‘Splendores’: Nonsemiotic Elements in Pictures, in: Critical Inquiry 21/4 (1995), pp. 822– 860, who notes in more general terms that (832) “[m]arks, together with the figures and images they build, are always compromised by age, by accident, and – most importantly – by each other, and they are always partly illegible.” Malcolm Baker: Limewood, Chiromancy and Narratives of Making. Writing About the Materials and Processes of Sculpture, in: Art History 21/4 (1998), pp. 509–510. Jennifer Montagu: Alessandro Algardi, 2 vols., New Haven/London 1985. Baker: Limewood, Chiromancy and Narratives of Making (as fn. 5), p. 509; Rudolf Wittkower: Sculpture: Processes and Principles, London 1977. Baker: Limewood, Chiromancy and Narratives of Making (as fn. 5), p. 510. Cf. Colette Czapski Hemingway: Of Clay, and the Initial Stages of Sculpture, in: Ivan Gaskell/ Henry Lie (Eds.): Sketches in Clay for Projects by Gian Lorenzo Bernini, Cambridge, MA 1999, p. 33. A significant exception is Michael W. Cole: The Figura Sforzata: Modelling, Power and the Mannerist Body, in: Art History 24/4 (2001), pp. 520–551. See e.g. Gottfried Boehm: Ikonisches Wissen. Das Bild als Modell, in: idem: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, pp. 114–140; Horst Bredekamp: Modelle der Kunst und der Evolution, in: Modelle des Denkens, Debatte 2, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin 2005, pp. 13–20; Michael W. Cole: The Cult of Materials, in: Sébastien Clerbois/Martina Droth (Eds.): Revival and Invention. Sculpture through its Material Histories, Oxford 2011, pp. 1–15; Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, pp. 19–33; Georges Didi-Huberman: La ressemblance par contact: Archéologie, anachronisme et modernité de l’empreint, Paris 2008; Mary Ann Do-

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MICHELANGELO’S LESSON

remains to be seen if this idea of a linear development reflects actual artistic practice to begin with. In his study of Angelo de’ Rossi’s monument to Pope Alexander VIII in Saint Peter’s, Edward Olszewski has problematized precisely this kind of teleological treatment of the sculptor’s models. His observations are worth repeating here at length: “In those rare instances where several bozzetti survive for a project, caution must be registered in any attempt to identify one of a number of bozzetti as a modello, or to arrange them in a sequence, because by definition bozzetti served first as compositional studies for the sculptor, with a selected group afterward intended to offer a variety of choices to the patron. […] The selection of one terra-cotta model from among several for a given figure reveals nothing of the sequence of execution. That is, a bozzetto picked as the final design for a figure might have been the first of a dozen or more possibilities, or one of the last. Also, a modello could be fashioned as a combination of elements from several bozzetti, the turn of the head taken from one figure, placement of arms from a second, and pose, expression, and drapery from still others.”11 Although Olszewski’s remark may have a rather relativist tone to it, this does not mean that nothing remains to be said. For, indeed, there are other questions we may ask of these objects. For example, the question of their particular role in the creative process, and more specifically, what qualities allowed them to fulfil this role, has hardly been touched upon. Focusing on some seventeenth-century sources, this paper aims to provide a first ground for a new perspective.

Two Ti mes Ba ld i nuc c i A seemingly insignificant source may be introduced to open such a perspective, namely, Filippo Baldinucci’s short definition of the term modello in his Vocabolario toscano dell’arte del disegno of 1681.12 “The model,” he writes there,

11 12

ane (Ed.): Indexicality. Trace and Sign, in: Differences 18 (2007); Sybille Krämer/ Gernot Grube/Werner Kogge (Eds.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt/M. 2007. Edward J. Olszewski: Cardinal Pietro Ottoboni (1667–1740) and the Vatican Tomb of Pope Alexander VIII, Philadelphia 2004, pp. 237f. The distinction between the terms bozzetto and modello as the rough first sketch and the more finished model, respectively, develops only towards the end of the seventeenth century; cf. Czapski Hemingway: Of Clay (as fn. 8), p. 34, n. 8. For a more general discussion of the term modello in early modern Italy see Johannes Myssok: Bildhauerische Konzeption und plastisches Modell in der Renaissance, Münster 1999, pp. 15–19; Michael Hirst/Carmen Bambach Cappel: A Note on the Word Modello, in: The Art Bulletin 74/1 (1992), pp. 172f.

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“is the first, and most important effort of the whole work, for in breaking apart, and rebuilding again [guastando, e raccomodando], the artist achieves the greatest beauty and perfection.”13 The radical character of this definition stands out if we contrast it for example with Giorgio Vasari’s ideas about modelling. The artist, he writes, working “with judgement and the hands,” adds the material “little by little,” shaping it with the spatulas, thus building and refining “until with the fingers he gives the model its final finish.”14 Whereas for Vasari, then, modelling is primarily an art of adding and subtle modelling (Leon Battista Alberti had defined it as an art of adding and taking away in his De Statua), Baldinucci rather focuses on a moment of destruction or breaking apart.15 Baldinucci’s surprising reversal of the traditional account of modelling may be better understood when we relate it to an anecdote he has noted down in his Notizie de’ professori del disegno, published in the same year as the Vocabolario. The anecdote, which discusses the modello in strikingly similar terms, relates about the Roman encounter between the Flemish sculptor Giambologna and the then old Michelangelo. Having made a model of his own invention, finished “with the breath,” as Baldinucci writes, the Flemish sculptor, proud as he must have been, went out to show it to the aged master. But Michelangelo was not impressed. Taking the model in his hands, he crushed it completely [tutto glie lo guastò]. Then, rearranging the figure with “marvellous skill” and according to his own insights, he said to the young Fleming: “now go and first learn to sketch [bozzare] before you learn to finish.”16 13 14

15

16

Filippo Baldinucci: Vocabolario toscano dell’arte del disegno, Firenze 1681, s.v. “modello”: “È il modello prima, e principal fatica di tutta l’opera, essendo che in essa guastando, e raccomodando, arriva l’artefice al più bello ed al più perfetto.” Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccelenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, vol. 1, ed. by Rosanna Bettarini/Paola Barocchi, Firenze 1966, p. 88: “…et a poco a poco col giudicio e le mani lavorando, crescendo la materia, con istecchi d’osso, di ferro o di legno si spinge indentro la cera, e con mettere dell’altra sopra si aggiugne e raffina, finché con le dita si dà a questo modello l’ultimo pulimento. E finito ciò, volendo fare di quegli che siano di terra, si lavora a similitudine della cera…” Leon Battista Alberti: On Painting and On Sculpture. The Latin Texts of De Pictura and De Statua, ed. and trans. by Cecil Grayson, London 1972, p. 121. Cf. Michelangelo’s remark in Paola Barocchi (Ed.): Pittura e scultura nel Cinquecento, Livorno 1998, p. 84: “Io intendo scultura quella che si fa per forza di levare; quella che si fa per via di porre è simile alla pittura.” For a detailed account of modeling practice in the seventeenth century see Anthony B. Sigel: The Clay Modeling Techniques of Gian Lorenzo Bernini, in: Ivan Gaskell/Henry Lie (Eds.): Sketches in Clay (as fn. 8), pp. 48–72. Filippo Baldinucci: Notizie dei professori del disegno da Cimabue in qua, ed. by Ferdinando Ranalli/Paola Barocchi, vol. 2, Firenze 1975, p. 556: “[…]soleva poi in vecchiaia raccontare a’ suoi famigliare, che avendo un giorno fatto un modello di propria invenzione, il quale aveva finito, come noi usiamo dire, coll’alito, l’andò a

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MICHELANGELO’S LESSON

Fig. 3 Federico Zuccari: Portrait of Giambologna, Drawing, National Gallery of Scotland, Edinburgh.

Even if Michelangelo’s destructive act must have been quite a blow to the young sculptor, the lesson was not lost on him. A portrait of the artist, drawn by his friend Federico Zuccari, shows him glancing upward to the sky as if searching for divine inspiration while holding in his hands Michelangelo’s model for the Samson and a Philistine (fig. 3).17 As Michelangelo’s work was never execu-

17

mostrare al gran Michelagnolo; il quale presolo in mano, tutto glie lo guastò, secondo però quello che parve a lui, attitudinandolo di nuovo, e risolvendolo con meravigliosa bravura tutto al contrario di quello che il giovanetto aveva fatto, e sì gli disse: or va prima ad imparare a bozzare e poi a finire.” The drawing is a preparatory drawing for Giambologna’s portrait in the cupola of the Santa Maria del Fiore in Florence. Here, the modello is replaced by the more straightforward attributes of hammer and square. For the friendship between Giambologna and Zuccari see Joris van Gastel: Hoc opus exculpsit Io. Bologna. Andreas Andreanus Incisit. Andrea Andreani’s chiaroscuro houtsneden naar Giambologna, in: Bulletin van het Rijksmuseum 1 (2007), pp. 26–28. On the Samson and a Philistine model and its influence see Eike Schmidt: Die Überlieferung von Michelangelos verlorenem Samson-Modell, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen

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ted in marble, we may interpret the drawing as suggesting that Giambologna fulfilled the promise it holds. In any case, the drawing, like Baldinucci’s anecdote, stresses the importance of Michelangelo-as-a-modeller for Giambologna; holding his example firmly in his hands, he touches it where the hands of Michelangelo had touched it before.18 It is not this particular relation between Michelangelo and Giambologna that interests us here, though, but rather the message of Michelangelo’s lesson itself, or rather, how it has been conceived of by Baldinucci. For indeed, whether or not we believe this episode ever to have taken place, it is clear that Baldinucci favours the big gesture. Giambologna’s perfectly finished model is contrasted here with the rough character of the sketch, the bozza, defined in the Vocabolario della Crusca of 1612 as “neither polished, nor brought to perfection.”19 Giambologna’s model may have been the result of an approach as described by Vasari, the artist working little by little towards the cleanly finished sculpture; Michelangelo’s intervention suggests a breaking apart and rearranging in quick, powerful gestures. Where Giambologna’s model was finished “with the breath,” that of Michelangelo carried the traces of his destructive hands.

Creat ive Dest r uc t ion Baldinucci’s definition in his Vocabolario indicates that Michelangelo’s destructive act in itself can already be deemed productive. Moreover, it implies that there is always already something there to be destroyed, to be rearranged. We may further develop Baldinucci’s accounts in terms of creative destruction, a term which has its origins in economics, but was introduced to the critical vocabulary of art history by Horst Bredekamp as produktive Zerstörung.20 Explor-

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Institutes in Florenz 40, 1/2 (1997), pp. 78–147; Angela Hass: Michelangelo’s Samson and the Philistine. Conception, Meaning and Subsequent Influence, in: Apollo 139 (1993), pp. 383–386. For its significance for the work of Giambologna, and for Giambologna as a modelmaker more generally, see Volker Krahn: I bozzetti del Giambologna, in: Beatrice Paolozzi Strozzi/Dimitrios Zikos (Eds.): Giambologna. gli dei, gli eroi, Florence/ Milano 2006, pp. 44–61, –61, 61, in part. p. 46, and Charles Avery: Giambologna. The Complete Sculpture, Mt. Kisco, NY 1987, pp. 63–70; –70; 70; for Michelangelo Jeannine Alexandra O’Grody: ‘Un semplice modello’: Michelangelo and his Three-Dimensional Preparatory Works, PhD thesis, Cleveland 1999. For a broader discussion of this practice in Renaissance Italy, see Myssok: Bildhauerische Konzeption (as fn. 12). Accademia della Crusca: Vocabolario della Crusca, Venezia 1612, s.v. “Bozzo”: “[…] la prima forma non ripulíta, ne condotta a perfezione, propriamente di scultura, pittura, e scrittura.” Horst Bredekamp: Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung. Bau und Abbau von Bramante bis Bernini, Berlin 2000. See also Uwe Fleckner/Maike Steinkamp/Hendrik Ziegler: Produktive Zerstörung. Konstruktion und

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ing the complicated building history of the Roman basilica of Saint Peter’s, Bredekamp shows how, throughout the sixteenth and seventeenth centuries, this history can be understood as a constant oscillation between old and new, between creation and destruction. In our case, though, we have a more intimate form of creative destruction. It is not, or not only, the old that is destroyed in order to make way for the new, but the destructive gesture in itself becomes creative. If in architecture, and to an extent also on paper or canvas, the new is drawn over the old, disturbing it by partly obscuring, blotting it out by the suggestive presence of the new line, in wax or clay we cannot speak of such an overlap.21 Here, it is always the material itself that takes on a new shape. The old becomes part of the new. Peter Geimer has argued that this kind of creative destruction, or more literally, disturbance, is still very much part of the intentional practice of making. If the disturbance is intended, he argues, it does not really disturb.22 But is this actually the case? A hint of the disturbance involved in this reshaping of old forms can be found in an often cited passage from Marco Boschini’s Breve instruzione, published in 1674 as a preface to his Ricche minere della pittura veneziana. The author here gives a description of the painting technique of Titian, though his choice of words is indicative of a very sculptural way of thinking about paint. After Titian had made the first sketches of the figures he wanted to paint, Boschini writes, he returned to them only much later: “[…]he examined them with rigorous observance, as if they had been his capital enemies, to see if he could find some fault in them; and discovering something that did not conform to the delicacy of his intentions, as a charitable surgeon he cured the patient, cutting away some bulge, or surplus of flesh, straightening an arm, if the shape of the bones was not all

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Dekonstruktion eines Forschungsgebiets, in: idem (Eds.): Der Sturm der Bilder: Zerstörte und zerstörende Kunst von der Antike bis in die Gegenwart, Berlin 2011, pp. 1–11. For a history of the term in economics see Hugo Reinert/Erik Reinert: Creative Destruction in Economics. Nietzsche, Sombart, Schumpeter, in: Jürgen G. Backhaus/Wolfgang Drechsler: Friedrich Nietzsche (1844–1900), New York 2006, pp. 55–85. There are, in other words, significant differences between the mark placed on a surface and a trace drawn in a certain material. For an “ontology of marks” see Elkins: Marks (as fn. 4), pp. 840–60. Peter Geimer: Bild und Bildstörung. Wissen im ‘Modus der Aufdringlichkeit,’ in: Renate Lachmann/Stefan Rieger (Eds.): Text und Wissen. Technologische und anthropologische Aspekte, Tübingen 2003, p. 92: “Künstler, die eigene oder fremde Werke zerstören, deren materiellen Verfall oder das Werk des Zufalls miteinbeziehen, bewegen sich immer noch innerhalb einer Ordnung der Autorschaft, der Intentionalität und der Herstellung. Eine solche intendierte Störung stört aber nicht wirklich.”

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to well adjusted, [and] if the foot had turned out ugly when first placed, he put it on its place without feeling sorry for the pain it caused[…]”.23 Boschini’s metaphor of the surgeon makes the destructive character of Titian’s interventions in his own sketches painfully apparent. Bernini is said to have remarked that the artist always has a prejudice in favour of his last sketch, “a particular love for novelty.”24 In the light of such a love, Titian’s remorselessness is very much a heroic feat.25 Without flinching, he cuts into his own darlings. It is not only the pain of the patient, though, which is at stake here. To be sure, Giambologna felt the pain too, when the less charitable surgeon Michelangelo cured his patient. Bernini’s “particular love” can be seen as what in research concerned with sketching and design has been called fixation: the inability of the artist to see alternative solutions where one has been found.26 The deadlock of fixation can be broken by literally breaking away the detail that closes the image off for 23

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Marco Boschini: La carta del navegar pitoresco. Edizione critica con la ‘Breve Instruzione’ premessa alle ‘Ricche Minere della Pittura Veneziana,’ ed. by Anna Pallucchini, Venice/Rome 1966, p. 711: “[…]con rigorosa osservanze li esaminava, come se fossero stati suoi capitali nemici, per vedere se in loro poteva trovar difetto; e scoprendo alcuna cosa, che non concordasse al delicato suo intendimento, come chirurgo benefico medicava l’infermo, se faceva di bisogno spolpargli qualche gonfiezza, o soprabondanza di carne, radrizzandogli un braccio, se nella forma l’ossatura non fosse così aggiustata, se un piede nella positura avesse presa attitudine disconcia, mettendolo a luogo senza compatir al suo dolore, e cose simili.” For further discussion of the association with sculpture Joris van Gastel: Il Marmo Spirante: Sculpture and Experience in Seventeenth-Century Rome, PhD thesis, Leiden 2011, p. 132 ff. Paul Fréart Seigneur de Chantelou: Journal de voyage du Cavalier Bernin en France, ed. by Milovan Stani c,’ Paris 2001, pp. 48–49: “[…]s’attachant toujours à la dernière production par un amour particulier qu’on a pour la nouveauté.” And also: “[…]l’amour de la nouveauté, lequel empêche presque toujours qu’on ne puisse faire choix de la meilleure pensée.” Cf. Carlo Cesare Malvasia: Felsina pittrice. Vite dei pittori bolognesi, ed. by Giovanni Pietro Zanotti, Bologna 1841, vol. 2, p. 54: “Interrogato [Guido Reni] da un gran signore, qual fosse la più bell’opera avesse mai fatto: quella che ora lavoro, disse; e se dimane un’altra ne farò, sarà quella; e se dopo un’altra quella pure.” Thus, the anecdote reflects the masculine terminology associated with Titian’s loose brushwork; cf. Philip Sohm: Gendered Style in Italian Art Criticism from Michelangelo to Malvasia, in: Renaissance Quarterly 48/4 (1995), p. 798: “[…]bold, thrusting, courage, punched, frank, vehement, and stabbed (ardito, botte, bravura, colpato, franco, furioso, pugnato, schermendo, sfodrando).” On this passage in particular see Jodi Cranston: The Muddied Mirror. Materiality and Figuration in Titian’s Later Paintings, University Park, PA 2010, pp. 8–11. See e.g. Masaki Suwa et al.: Seeing into Sketches. Regrouping Parts Encourages New Interpretations, in: John Gero/Barbara Tversky/Terry Purcell (Eds.): Visual and Spatial Reasoning in Design II, Sydney 2001, p. 208 (with further references).

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further interpretation, thus replacing definition for ambiguity. It is, we may argue, precisely such an ambiguity that characterizes the traces of destruction; rather than pointing stubbornly in a single direction, they point away, drawing attention to the act that lies at their ground. Before looking closer at these indexical traces themselves though, some remarks concerning what they are indexical of are in order.

Ha nd a nd To ol Michelangelo takes the model in his “most divine hands,” and crushes it.27 Indeed, it is the hand that brings the pain, but also the hand that builds anew. An interesting picture of the role of the hand in modelling appears in Raffaele Soprani’s vita of the sculptor Nicolò Roccatagliata, Genovese by birth but mainly active in Venice roughly between 1593 and 1636.28 Soprani, writing in 1674, relates that: “[…]thanks to the assiduousness of his studies, [Roccatagliata] had trained [affacilitato] his hand in such a way, that when modelling in wax, he worked the usual spatula with an extraordinary ease and directness [franchezza], carving from the rough material a head in only four strokes[…]”.29 Rather than the question if Roccatagliata’s practice is described accurately here, our interest is in the way this practice is discussed by Soprani. Apparently, the sculptor’s striking ability in modelling is the result of a continuous training of the hand; it is the hand itself (with, we may add, in its extension the spatula) that has obtained a certain ease which lies at the base of the artist’s accomplishments. The term franchezza, in addition, suggests a kind of unmediated directness. Having been first introduced in the art critical discourse in debates regarding questions of authenticity, it indicates a certain spontaneity on the part of the artist, a directness and speed of handling the material that shows the connoisseur the true “hand” of the master.30 For a further understanding of the significance of the hand in the practice of modelling, we may turn to Orfeo Boselli’s contemporary treatise on the 27 28

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Vasari: Le vite (as fn. 14), vol. 6, p. 40: “[…]divinissime mani[…]” For Roccatagliata see Claudia Kryza-Gersch: Due altari seicenteschi a San Marco. Nicolò Roccatagliata e Sebastiano Nicolini, e la produzione di ornamenti in bronzo per le chiese veneziane, in: Matteo Ceriana/Victoria Avery (Eds.): L’industria artistica del bronzo del Rinascimento a Venezia e nell’Italia settentrionale, Verona 2008, pp. 253–272 (with further references). Raffaele Soprani: Le vite de pittori, scoltori, et architetti genovesi, Genova 1674, p. 89: “[…]mercè l’assiduità de’ suoi studi, havevasi egli di modo affacilitata la mano, che modellando di cera adoperava con tal franchezza il solito stecco, che dalla rozza massa di quella cavava in quattro colpi una testa[…]”. For a further discussion of the term franchezza see Gastel: Il Marmo Spirante (as fn. 23), pp. 161–184.

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sculptor’s practice, the Osservazioni della scoltura antica, even if modelling here too is discussed only briefly.31 The “agents” involved in modelling, writes Boselli, are the same as with drawing, namely: the eye, the intellect, and the hand; the materials are clay, wax, spatulas [stecche] and brushes.32 Indeed, Boselli’s description does not seem to involve anything considerably new. As we have seen, already Vasari had written that the sculptor uses “his judgement and his hands” when making a model.33 Boselli’s introduction of the eye is significant, though, as it points to an understanding of the dialectic nature of the interaction with the material. The sculptor is not only the creator of the work, but also the first beholder. It is in the eye that the love for novelty originates, but also the eye that discovers the new in that what is broken apart. In Boselli’s discussion of the actual practice, however, the eye quickly gets left behind, and the hand takes over. When modelling, so Boselli advises, “one must cut with the nail, working more with the fingers than with the spatulas[…]”.34 And if the hand seems to be treated here primarily as a tool, earlier, the hand, like the eye and the mind, is defined as an agent, and as such explicitly contrasted with the materials, which include the wax, the clay, the spatulas and the brushes.35 Yet, in the early modern period, the hand is generally seen as a tool, subordinate to the mind.36 What can it mean to define the 31

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Two editions, based on different manuscripts, have been published: Orfeo Boselli: Osservazioni sulla scultura antica. I manoscritti di Firenze e di Ferrara, ed. by Antonio P. Torresi, Ferrara 1994; and Orfeo Boselli: Osservazioni della scoltura antica, dai manoscritti Corsini e Doria, ed. by Phoebe Dent Weil, Florence 1978. A comprehensive edition is being prepared by Anthony Colantuono. For a recent discussion of the treatise see Elisabetta Di Stefano: Orfeo Boselli e la ‘nobiltà’ della scultura, in: Aesthetica Preprint 64 (2002), pp. 1–84; and Maria Cristina Fortunati: Il trattato ‘Osservationi della scoltura antica’ di Orfeo Boselli (1657–1661). per una rilettura, in: Storia dell’arte 100 (2000), pp. 69–101. Boselli: Osservazioni sulla scultura antica (as fn. 31), p. 206 [= ff. 14v–15r]: “Modellare non è altro che imitare il rilievo col rilievo. Gli agenti sono gl’istessi del disegno [cf. id., 202 (= f. 10v): ‘[…]l’occhio, intelletto e mano.’]; le materie sono creta, cera, stecche e pennelli.” Vasari: Le vite (as fn. 14), vol. 1, p. 88: “[…]col giudicio e le mani lavorando[…]”. Boselli: Osservazioni sulla scultura antica (as fn. 31), p. 206: “Si deve, nel modellare, tagliare a ugna, lavorando più con le dita che con li stecchi, per schivare le durezza e seccarie.” I quote here the Ferrara manuscript which contains a bit more detail in this sequence than the Florence manuscript. Cf. André Félibien: Des principes de l’architecture, de la sculpture, de la peinture, et des autres arts qui en dependent, Paris 1676, p. 303: “[…]les plus Pratics se servant plus de leur doigts que d’aucun outil.” Cf. as fn. 32. Cf. Martin Warnke: Der Kopf in der Hand, in: idem: Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zu Kunst und Kunsttheorie, ed. by. Michael Diers, Köln 1997, pp. 112–113. For a more general discussion of the hand in art see Andreas Gormans: Argumente in eigener Sache – Die Hände des Künstlers, in: Mariacarla Gadebusch Bondio

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hand as agent, on a par with the eye and the intellect? Even if we would not easily think of the hand as acting on its own, the significance of the hand as an independent agent was well recognized in the seventeenth century. Some sources outside the art discourse may illustrate this. In his popular Ricreazionde del savio of 1659, a book in praise of the magnificence of God’s creation, the Ferrarese letterato Danielo Bartoli speaks extensively about the hand. And even if he certainly adheres to the idea that the hand but follows the mind – his point of reference, as for the other authors quoted, is the work of Aristotle and Galen – he does suggest that a slippage may concur between the realms of agent and tool:37 “[…]the hand [is] first among the instruments; or better still, it is not just the one instrument, […] but as many instruments as it [the hand], for every art its own, shapes and employs, becoming one with them, as it imbues them with that motion from which they have, together with the hand, almost a soul and intellect[…]”.38 If only hesitantly, Bartoli recognizes how the hand and, in its extension, the tool – his list runs from hammer to chisel to brush to plectrum – may gain a life of their own.39 Hand and tool act as one, almost without regard for the mind. A wholly different approach to the hand is that of the Neapolitan scholar Giambattista della Porta. His Della Chirofisonomia is essentially a treatise about the art of hand reading, now hardly taken seriously. Nevertheless, like Bartoli, he does not fail to praise the hand as man’s most sophisticated tool. In

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(Ed.): Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte, Münster 2010, pp. 189–223. Daniello Bartoli: La ricreazione del savio, ed. by Bice Mortara Garavelli, Parma 1992, p. 314: “Ordina dunque la mente come inventrice, la mano come fabbra eseguisce; quella dà l’idea in disegno, questa ne mette il lavoro in opera[…]”. Ibid., p. 333: “Per tutte esse verissimo è quel di Galeno, che la mente è arte prima dell’arti e la mano è istrumento prima che gli strumenti: anzi non un solo, dice il Filosofo, ma tanti quanti ella, per ciascun’arte i propri, ne forma e gli adopera, facendosi uno con essi, onde loro imprime quel moto per cui hanno con lei quasi spirito e ingegno: scarpelli, seghe, lime, tanaglie, martelli, ancudini, taglie, pennelli, agora, spuole, telai, plettri, cetere, e che so io?” Cf. Claudius Galenus: On the Usefulness of the Parts of the Body. Peri chreias mori o¯ n. De usu partium, trans. by Margaret Tallmadge May, Ithaca 1968, p. 71 (= I.3); Aristotle: The Parts of Animals, in: idem: The Complete Works, ed. by Jonathan Barnes, vol. 1, Princeton, NJ 1984, p. 1072 (= IV.10). For a similar suggestion of autonomy of the hand with regard to speech see Giovanni Bonifaccio: Arte de’ cenni, Vicenza 1616, pp. 274–275: “Ma particolarmente molte cose con le mani esprimiano, senza leqauli ogni nostra attione sarebbe imperfetta: l’altre parti del corpo aiutano colui, che favella, ma le mani, quasi che elle da se stesse parlano[…]”. For ideas about integration of body and tool, see the classic discussions in Martin Heidegger: Sein und Zeit, Frankfurt/M. 1977, p. 92ff.; and Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris 1945, pp. 177–178. For a more neuroscientific perspective see Andy Clark: Supersizing the Mind. Embodiment, Action, and Cognitive Extension, Oxford 2008, in particular pp. 30–39.

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fact, Della Porta takes his praise even a step further: “[…]without hands, we would not only be vile and helpless, but the most wretched of savages, and the use of reason (which, moreover, is a heavenly gift), it would have been wanting, and devoid of any function, and afflicted.”40 For Bartoli and even more so for Della Porta, the hand is really on a par with the intellect; the two are mutually dependent. The hand and the tool it holds become agents as they determine and define, taking up a guiding role. Bartoli and Della Porta focus in the first place on the hand that manipulates, but as it touches, the hand also feels. This point is discussed at length in a book that talks exclusively about the hand: Giovanni Battista Pacichelli’s Chiroliturgia of 1673.41 Whereas already Aristotle had argued that particularly the sense of touch places man above the animals, Pacichelli refers to Thomas Aquinas and again Galen to demonstrate that the sense of touch is most receptive in the fingers.42 To feel someone’s pulse, he writes, we use the hand, and no other member. This has its significance for the practice of the sculptor too. As Lorenzo Ghiberti had already experienced, there may be subtleties in sculpture that “the eye does not perceive, neither by bright, nor by dimmed light, and only the touching hand may find.”43 When we think of the clay model, it is the hand that feels the cold wetness of the clay, the fine grain of the sand, and the ease with which it gives way under the finger’s pressure. Here, the human body interacts with the material at the point where it is both most agile and most sensitive. It is in this light that we may also understand accounts of the artist as having the 40

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Giovan Battista della Porta: Della chirofisonomia, in: idem: Della magia naturale, trans. by Pompeo Sarnelli, Naples 1677, p. 564: “Ardisco dire, che senza le mani, non solo saressimo vili, & inermi, ma più infelici de’ bruti, e l’uso della ragione (che per altro è dono celeste) sarebbe stato egli manco, e privo d’ogni operatione, & afflitto.” Giovanni Battista Pacichelli: Chiroliturgia, Coloniae Agrippinae 1673, pp. 46–68. Ibid., pp. 46–47. Lorenzo Ghiberti: I Commentari, ed. by Lorenzo Bartoli, Firenze 1998, p. 108 (= III.2): “À moltissime dolcezze, le quali el viso no lle comprende, né con forte luce, né con temperata, solo la mano a toccarla la truova.” Cf. ibid., p. 108 (= III.1): “nessuna cosa il viso scorgeva, se non col tatto la mano la trovava.” For a more general discussion on sculpture and touch see Gastel: Il Marmo Spirante (as fn. 23), p. 150–159; Peter Dent: Sculpture and Touch from Pygmalion to the Present, in: Francesca Bacci/ Peter Dent (Eds.): Sculpture and Touch, London 2008, pp. 14–19; James Hall: Desire and Disgust. Touching Artworks from 1500 to 1800, in: Robert Maniura/Rupert Shepherd (Eds.): Presence. The Inherence of the Prototype within Images and Other Objects, Aldershot 2006, pp. 145–160; Geraldine A. Johnson: Touch, Tactility, and the Reception of Sculpture in Early Modern Italy, in: Paul Smith/Carolyn Wilde (Eds.): A Companion to Art Theory, Oxford 2002, pp. 61–74; Hans Körner: Der fünfte Bruder. Zur Tastwahrnehmung plastischer Bildwerke von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Artibus et historiae 21/42 (2000), pp. 165– 196.

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image “at the fingertips.”44 The hands and the tools they hold find their own way, both forming and feeling, cutting through the material without regard for what the eye perceives.

Trac es Returning for a moment to the actual practice of the sculptor, we can now see how the hand indeed plays a central role. If the initial wedging of the clay, a repeated folding and beating of the material to drive out the air, has an element of brutality to it, the subsequent shaping of the figure proceeds in a more subtle manner. Members are added, first rolled, then attached and shaped by pushing, pinching, squeezing, and pulling. The clay is twisted, stretched, and bent into place.45 Where the fingers are used, we may recognize the imprints of the incongruities of the skin, the living flesh of the artist. At the same time, these traces are a reminder of his destructive touch; like a dirty fingerprint on a clean window, they disturb the illusion, drawing attention to the artist rather than the image.46 Often, these marks themselves are distorted by the forces with which the clay is shaped and reshaped. In exceptional cases, this distortion in itself is again made productive. Thus, for example, in one of Bernini’s sketch models for angels in the Fogg Art Museum, the artist uses the texture of his fingertip, impressing it in a series of overlaps to suggest the texture of the angel’s feathered wings (fig. 4).47 As our initial example illustrates, though, an artist such as Bernini only partly adheres to Boselli’s advice to work primarily with the fingers. Where the flesh parts – here largely absent – are modelled with the hands, to avoid a “hardness and dryness” as Boselli writes, in other parts chisels or spatulas are used to cut away the material. Larger masses of superfluous clay are removed in broad strokes, leaving sleek planes and sharp ridges. The draperies too, are largely shaped with a tool, its tip leaving smooth traces, becoming more coarse when the clay runs dryer. The speed and resoluteness with which the tools are employed, the franchezza, is echoed by the dynamic qualities of the traces they

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Letter from Lelio Guidiccioni to Gian Lorenzo Bernini, dated 4 June 1633, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ms. Barb.Lat. 2958, f. 205 recto: “Vostra Signoria tenga in punta de dita l’imagini[…]”. On the bending of the material see Cole: The Figura Sforzata (as fn. 9). Cf. Peter Geimer: Image as Trace. Speculations about an Undead Paradigm, in: Differences 18/1 (2007), pp. 7–28; and Bettina Uppenkamp: Der Fingerabdruck als Indiz. Macht, Ohnmacht und künstlerische Markierung, in: Vera Dünkel (Ed.): Kontaktbilder, Berlin 2010, pp. 7–17. See Sigel: Clay Modeling Techniques of Gian Lorenzo Bernini (as fn. 14), p. 54 and fig. 16.

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Fig. 4 Gian Lorenzo Bernini: Bozzetto for Angel Holding the Scourge, Fogg Art Museum, Cambridge, MA.

leave.48 The cuts run deeper and broader where more force is applied, ending in a shallow, blunt point when the hand pulls back. In contrast with the fluid feel of the parts modelled with the fingers, those cut with the tool are cruder, providing abrupt changes of direction and moments of sharp contrast between light and dark. The sculptor, then, does not build his image in a one-directional flow. Every piece of clay that is attached means the misshaping of what was already there. Clean surfaces are marked by rough furrows, smooth traces are smudged 48

For the dynamic qualities related to the term franchezza see Gastel: Il Marmo Spirante (as fn. 23), pp. 161–184.

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and distorted. The material is inscribed by the artist’s bodily engagement, not in a single indexical trace, but in a pattern of traces, indicative of both creation and destruction. This dialectics between creation and destruction forces us to question the “proleptic” view of the artistic procedure adhered to by so many authors. Michelangelo’s destructive act, in highlighting the agency of hand and tool, disrupts the one-directional flow from mind to finished model suggested by Vasari’s account. Moreover, we have seen that the hand, and in its extension the tool, is also a locus of the sense of touch; as it feels its way through the wet, grainy clay, it engages a material that is tenacious, sometimes unpredictable. Through the sensing hand the material speaks back, suggesting directions, solutions, or new problems. The hand, then, challenges us to inquire both into the materiality of the model, and into the manner the material hosts, so to speak, the pattern of traces indexical of the artist’s engagement with it. But it also leaves some question unanswered. By focussing on the destructive nature of the creative process, we seem to have steered away from explaining just how an image asserts itself through the mangled clay. An attempt to formulate an answer to this question should bring us back to the eye that we so quickly abandoned, but also, and again, to the body of the beholder and that of the artist.

Yannis Hadjinicolaou

M A L E N , K R AT Z E N , M O D E L L I E R E N Arent de Gelders Farbauftrag zwischen Innovation und Tradition1

Por t rät des Her ma n Bo erhaave u nd sei ner Fa m i l ie Im Vordergrund des Familienbildnisses mit dem berühmten Professor Boerhaave aus Leiden (Bild 1) erscheint der Arzt in einem Interieur mit der Tochter in der Mitte und seiner Frau rechts. Der Familienbund wird durch die Verbindung

Bild 1 Arent de Gelder: Porträt des Herman Boerhaave und seiner Familie, signiert, um 1722, Öl auf Leinwand, 104,5 × 173 cm, Rijksmuseum, Amsterdam. 1

Der vorliegende Aufsatz ist die überarbeitete Fassung des letzten Kapitels aus der Magisterarbeit „Arent de Gelders Porträts und das Problem ihrer formalen Diversität“, welche der Freien Universität Berlin im November 2010 vorgelegt wurde. Es sei hier erlaubt, den Betreuern der Arbeit Werner Busch und Horst Bredekamp herzlichst zu danken. In Amsterdam hat Ernst van de Wetering unermüdlich mit mir Diskussionen über den Maler geführt und mir in jeder Hinsicht geholfen.

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der Hände unterstrichen. Hinter der Frau Boerhaaves zeichnet sich in der Ferne eine Landschaft mit einer Stadt ab (aus der Vogelperspektive gesehen), welche sich aus der autonomen Dynamik von Farbe und Kratzern speist. Die Figuren bestehen ebenfalls aus ungestalteter Farbe und gekratzten Linien, ohne dass im Hinblick auf die Hände oder das Körpervolumen auf eine anatomische und zeichnerische Korrektheit geachtet worden wäre. Ziel ist es, Stimmung und Lebendigkeit durch die atmosphärische Wiedergabe und Wirkung der Farbe zu erzeugen. Der von Frau und Tochter angeblickte Boerhaave trägt einen üppigen Japonschen Rok, welcher aus oranger und gelber Farbe mit aufgesetzten Zickzack-Kratzern geschaffen worden ist und so den Eindruck von Stofflichkeit vermittelt (Bild 2a). Ähnlich verhält es sich bei den Ärmeln des Gewandes, die feinere, weniger auffallende Kratzer aufweisen. Sein Doppelkinn sowie das rechte Ohr und sein Haar nehmen ebenfalls durch Kratzer Gestalt an. Sein Hals wird von einem gelblichen Farbton bestimmt, der dick mit den Fingern appliziert worden zu sein scheint. Das Gewand der Tochter wurde mal mit dickerer, mal mit dünnerer Farbe aufgetragen und weist zickzackförmige, zufällig anmutende Linien auf (Bild 2b). Die scheinbare Willkürlichkeit des Farbauftrags offenbart sich vor allem anhand der gelblichen Sonnenmotive auf dem Gewand der Tochter. Die Farbe des weißen pastosen Bändchens im Haar des Mädchens könnte mit den Fingern verteilt worden sein. Die Beschaffenheit des Ohres besteht allein aus Farbmaterie, ohne ausgeprägte Formung. Die Perlen, die die Frauen tragen, bestehen aus einzelnen Tupfern weißer Farbe, welche aus der Ferne als Halskette erscheinen. Die Form des Gewandes der Mutter ist durch Kratzen in die nasse Farbe entstanden (Bild 3a). Der Stoff, welcher von der Schulter der Frau herabfällt (Bild 3b), scheint auf die weiße Fläche mit dem Spachtel geschoben zu sein. Dort sind die Haupttöne des Gemäldes zu finden, nämlich Gelb, Schwarz, Rot und Grün, welche zugleich in die Landschaft übergehen und mit ihr eins werden. Die Pinselstriche weisen bisweilen das Zickzack-Prinzip des Kratzens auf. An solchen Details wird ersichtlich, wie sehr sich die Farbe zu ornamentalen Gebilden verselbstständigt hat. Dies spricht für die Auffassung des Malerischen. Das Bild wird um 1722 datiert, befindet sich im Amsterdamer Rijksmuseum und wurde vom letzten, sogenannten „treuesten“ Schüler Rembrandts Arent de Gelder (1645–1727) gemalt.2 2

1998 fand in Dordrecht und Köln die bisher größte Ausstellung von Werken de Gelders statt. Erstmals wurde der Versuch unternommen, den Topos von der Überschattung des Künstlers durch Rembrandt zu relativieren. Dieses Vorhaben kann als Durchbruch innerhalb der de Gelder-Forschung angesehen werden. Folgende These wurde bis dato überwiegend vertreten: Obwohl die Manier seines Lehrers Rembrandt aus der Mode gekommen war, hielt de Gelder, als treuester und letzter Schüler, mit Beharrlichkeit an ihr fest. Schon zu seinen Lebzeiten urteilte entspre-

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Bild 2a, b

Detail Bild 1.

Bild 3a, b

Detail Bild 1.

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Ha ndel i ng Die Handhabung des Pinsels und die damit einhergehende Erscheinung der Farbe können als indirekter Ausdruck der besonderen gesellschaftlichen und ökonomischen Stellung des Künstlers in seiner Stadt Dordrecht angesehen werden.3 Der Terminus Handeling scheint in diesem Zusammenhang geeignet zu sein, weil er nicht gleichbedeutend mit dem Stilbegriff, sondern als dessen Vorstufe zu betrachten ist (als Äquivalent zum Begriff „Manier“). Gleichzeitig bedeutet Handeling – seit dem 16. Jh. bis heute – im Niederländischen „Handlung“. Dies konstituiert einen Akt, der als Formakt zu bezeichnen wäre und beschreibt einen aktiven Prozess, der unmittelbar mit der Hand und ihrer Motorik verbunden ist. In der niederländischen rhetorischen Theorie eines Vossius wird Handeling, wie Thijs Weststeijn erwähnt, folgendermaßen verwendet: „to describe the orators ability to involve his audience in his argument appealing to mind and body and all five senses […] Handeling is situated in the body“.4 Das Handeling

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chend der Freund und Mitbürger Arnold Houbraken. Dies wird bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts größtenteils übernommen. Dem steht jedoch die Einsicht gegenüber, dass jedes Porträt des Künstlers als unkonventionelles Unterfangen zu bezeichnen ist. Selbst das einzelne Bild weist unterschiedliche Malmodi auf. Es sei hier erlaubt, auf eine kommende Publikation hinzuweisen, die diese These entwickelt: Yannis Hadjinicolaou: Arent de Gelders Porträts. Ein paradoxaler Bruch mit der Tradition, in: Mnemosyne. Schriften des Internationalen Warburg-Kollegs, hg. v. Uwe Fleckner, Berlin (in Vorbereitung). De Gelder verbrachte (abgesehen von den zwei Jahren bei Rembrandt in Amsterdam) sein gesamtes Leben in der ältesten Provinzstadt Hollands. Das gehobene Bürgertum Dordrechts folgte althergebrachten Prinzipien und blieb in einer Zeit des ökonomischen Niedergangs den alten holländischen Idealen treu. Es stand zum Teil den neuen Moden der neureichen Eliten anderer Städte reserviert gegenüber. So schien es offenbar konsequent, Maler wie de Gelder zu unterstützen, die in den Augen der Dordrechter an der Rembrandt-Tradition festhielten bzw. sie fortsetzten. Gleichzeitig war der Künstler von dem „altertümlichen“ Stil Rembrandts fasziniert und verwandelte ihn in eine „avantgardistische Bildsprache“. Je „älter“ seine Formensprache war, desto „moderner“ erscheint sie heute. In den Quellen taucht de Gelder häufiger als „de Heer“ oder/und Kapitän und weniger als Maler auf. Das bedeutet, dass er Ansehen und Respekt genoss. Viele seiner bekannten Auftraggeber pflegten schon soziale Beziehungen zu seiner Familie. Einige waren Freunde oder Nachbarn, andere dienten in derselben Bürgerwehr oder waren entfernte Verwandte. Sie stammten aus dem kleinen, aber führenden Kreis des Patriziats und der Kaufleute. Sie markieren im hochrangigen Kreis der Freunde des Malers eine gewisse Exklusivität und bestätigen seine soziale Position und ökonomische Unabhängigkeit. Die Werke de Gelders können deshalb als Folge einer ausgeprägten Experimentierlust betrachtet werden. Über die Rolle Dordrechts: John Anthony Loughman: Paintings in the Public and Private Domain. Collecting and Patronage at Dordrecht 1620– 1749, unveröffentlichte Doktorarbeit, London 1993. Thijs Weststeijn: The Visible World. Samuel van Hoogstraten’s Legitimation of Painting in the Dutch Golden Age, Amsterdam 2008, S. 234.

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Bild 4a Auschnitt aus Arent de Gelder: Esther, Ahasver und Haman (oder Mordechai), signiert, um 1680, 105 × 150 cm, Dordrechts Museum, Dordrecht. Bild 4b Ausschnitt aus Arent de Gelder: Das Loblied Simeons, um 1700, Öl auf Leinwand, 94,5 × 107,5 cm, Koninklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis, Den Haag.

erscheint als ein Prozess, der nicht Tactus gegen Visus setzt, haptisch gegen optisch, nah gegen fern, tote Materie gegen Lebendigkeit, sondern Bilder hervorbringt, die als eine gesamtkörperliche Aktion verstanden werden können. Anhand des Formakts kann einerseits die künstlerische Vergangenheit des Malers stärker hervorgehoben, andererseits seine innovative Arbeitsweise unterstrichen werden. Wie auch im Familienbildnis Boerhaaves (Bild 1) festgestellt wurde, ist die Technik des Kratzens ein zentrales Merkmal der Kunst de Gelders.5 Es handelt 5

Diese Technik wird von Houbraken in der Biographie des Künstlers beschrieben. Vgl. Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche Konstschilders en Schilderessen, Bd. III, Den Haag ²1753, S. 207f.: „Somwylen smeert hy ook de verf wel, als hy by voorbeeld een franje of borduursel op eenig kleed wil schilderen, met een breet tempermes, op het paneel of doek, en krabt de gedaante van het borduursel, of de draden der franje daar uit met zyn penceelstok, zonderende geene

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Bild 5 Ausschnitt aus Arent de Gelder: Porträt der Charlotte Elisabeth von Blijenburgh, signiert, 1702, Öl auf Leinwand, 68 × 59 cm, Museum Mr. Simon van Gijn, Dordrecht.

sich um eine Nass-in-Nass-Technik, bei welcher der Künstler mit der Griffspitze seines Pinsels, einem Hölzchen oder gar Messer in die nasse Farbe einkratzte. Durch Entfernen der Farbe werden der Malgrund und dessen Farbigkeit sichtbar. Ziel ist es, auf unterschiedliche Art und Weise Vibration und Lebendigkeit im Bild anhand des Mediums der Farbe zu erzeugen. Was zum Beispiel aus der Ferne wie ein gedruckter Text aussieht, offenbart sich in einer Nahaufnahme als eine Serie von harschen, groben Kratzern (Bild 4a). De Gelder greift in die Leinwand ein, als handele es sich um einen skulpturalen Körper (Bild 4b). Daraus entstehen ornamentale Gebilde von hohem Abstraktionsgrad. Solche Vertiefungen auf der Leinwand sprechen die haptischen Sinne an. Es könnte von einem zerstörerischen (im Abtragen der Farbe) und von einem schöpferischen Element die Rede sein, die durch das entstehende Relief betont werden. Das Kratzen wird eingesetzt, um die „Produktivkraft der Malmittel transparent zu machen. Der

wyzen uit, als zy maar tot zyn oogmerk behulpig zyn; en ’t ist e verwonderen hoe natuurlyk en kragtig zulk doen fomwylen zig in afstant vertoont“. Van de Wetering beschreibt das Kratzen de Gelders in einer multisensorischen geradezu synästhetischen Art und Weise: „Das schabende Geräusch, welches das flache Messer auf der straff gespannten Leinwand verursacht, das rhythmische Kratzen mit dem Pinselstiel muß die Stille […] häufig unterbrochen haben“. Ernst van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder – Ein Vergleich mit Rembrandt, in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727]. Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, hg. v. Dordrechts Museum/Wallraf-Richartz-Museum, Gent 1998, S. 19.

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Malprozess trägt das Bild aus“.6 Selbst seine Signatur entsteht oft auf diese Weise und kann deshalb sowohl buchstäblich wie metaphorisch als die ‚künstlerische Signatur’ de Gelders verstanden werden (Bild 5). Der Künstler setzt sich anhand des spontanen Farbauftrags mit dem Prinzip des Zufalls auseinander. Damit ist auch die Anwendung des Kratzens selber gemeint, da sich de Gelder sicherlich der Tatsache bewusst war, dass er bis zu einem gewissen Grade die Motorik seiner Hand kontrollieren kann, wenn er auf die Leinwand kratzt (kontrollierte Affekthandlung). Durch das Zusammenspiel aus gekratzten Linien und willkürlichen Farbflecken entstehen Formen, welche wie vom Zufall bestimmt zu sein scheinen. Dies findet seine Entsprechung in den wichtigsten Schriften der Zeit.

K a rel va n Ma nder Van Mander erwähnt in Den grondt der edel vry schilder-const (1604) neutral zwei Arten von Handeling,7 und vollzieht die übliche Trennung zwischen Disegno und Colore, die in der italienischen Kunsttheorie vorherrschte. Am Ende rät er den jungen Künstlern, obwohl er beide Malweisen empfiehlt,8 dennoch mit „Een suyver manier/ end’ een net beginnen“.9 Van Manders erster Lehrer war Pieter Vlericks, der in Tintorettos Werkstatt ausgebildet wurde und dadurch mit der venezianischen Malerei bestens vertraut war.10 Bei van Mander wird hier das Beispiel Tizians anhand der Ausführungen Vasaris gegeben. Als der Venezianer jung war, habe er sauber gemalt, sodass von nah und fern alles gleichermaßen zu erkennen war. Als er aber älter wurde, bearbeitete er seine Bilder „met vlecken en rouw’ streken“,11 die nur aus der Entfernung betrachtet illusionsstiftend waren. Die Betrachtung der Werke des späten Rembrandt sowie de Gelders macht verständlich, weshalb eine solche Aussage van Manders von Bedeutung ist. Wie Ernst van de Wetering gezeigt hat, inszenierte sich Rembrandt als neuer 6 7 8 9 10 11

Nicola Suthor: Bravura. Virtuosität und Mutwilligkeit in der Malerei der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 250. Ernst van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandts Art Theory, in: Ders. (Hg.): A Corpus of Rembrandt Paintings, V, The Small-Scale History Paintings, Dordrecht 2010, S. 113. Rudolf Hoecker: Das Lehrgedicht des Karel van Mander, Den Haag 1916, S. 264– 267, S. 274f. Ebd., S. 274f.: „Doch möchte ich euch raten, zuerst mit einer sauberen Manier [anzufangen].“ Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandts Art Theory (wie Anm. 7), S. 113. Hoecker: Das Lehrgedicht des Karel van Mander (wie Anm. 8), S. 274f.: „mit Flecken und groben Pinselstrichen“.

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Tizian anhand der Ausführungen van Manders, der das niederländische Publikum mit den Aussagen Vasaris bekannt gemacht hatte.12 In der Biographie de Gelders argumentiert Houbraken, dass seine Bilder am besten aus der Ferne betrachtet werden sollten, was ihn mit Tizian verbindet.13 An anderer Stelle berichtet Houbraken über Rembrandt, dass er die Menschen davon abhielt, seine Werke von Nahem anzuschauen, da der Geruch der Farbe sie belästigen würde.14 Die Dialektik zwischen Totem und Lebendigem manifestiert sich insbesondere in der Beziehung zwischen Nah (Pinselstriche als tote Materie) und Fern (Lebendigkeit des Bildes).15 Chantelou erwähnt Berninis Umgang bei der Betrachtung eines Gemäldes von Veronese: „Der Cavaliere sah das Bild eingehend an, zuerst von nah, dann von fern, näherte sich abermals an und sagte schließlich: Ein schönes Bild, aber es ist in höchstens acht Tagen gemalt“.16 Hier wird paradigmatisch die Antinomie von Nähe (haptisch) und Distanz (optisch) durch das Körperschema17 des Betrachters und in diesem Falle durch das eines Künstlers aufgehoben. In seiner Funktion als Connaisseur muss sich Bernini ständig bewegen, um ein gültiges Urteil über das Bild fällen zu können. Ähnliches geschieht, wenn ein Betrachter ein Kunstwerk studieren will. Es scheint, dass de Gelder sich nicht nur als Nachfolger der rembrandtschen Tradition inszenierte, sondern auch auf die fleckige Malerei und die raue Manier Tizians Bezug genommen hat. Van Mander beschreibt die körperliche Macchia-Fleckenmalerei Tizians, die wie hartes Gestein bzw. gemeißeltes Relief wirke und einen Blinden zum Tasten und Befühlen motiviere.18 Oder wie es Houbraken über Rembrandt formulierte: „Ook word ’er getuigt dat hy eens een pourtret geschildert heeft daar de verw zoodanig dik op lag, datmen de schildery by de neus van de grond konde opligten. Dus zietmen ook gesteente en paerlen, 12

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Ernst van de Wetering: Technik im Dienst der Illusion, in: Ausst. Kat.: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde, hg. v. Christopher Brown/Jan Kelch/ Pieter van Thiel, London/Berlin/Amsterdam 1991, S. 16–22; ders.: Rembrandt. The Painter at Work, Berkeley/Los Angeles/London, ²2004, S. 155–190. Vgl. Werner Busch: Wirklich Rembrandt? 400 Jahre nach seiner Geburt gibt der Maler der Forschung noch immer Rätsel auf, in: Der Tagespiegel, 25.6.2006, unter: http://www. tagesspiegel.de/zeitung/wirklich-rembrandt/724388.html (7.7. 2012). Houbraken: De Groote Schouburgh (wie Anm. 5), S. 207f. Ebd., Bd. I, S. 269. Frank Fehrenbach: Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik lebendiger Bilder, in: Ulrich Pfisterer/Anja Zimmermann (Hg.): Animationen/Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, Berlin 2005, S. 20. Pablo Schneider/Philipp Zitzlsperger (Hg.): Bernini in Paris. Das Tagebuch des Paul Freart de Chantelou über den Aufenthalt Gianlorenzo Berninis am Hof Ludwigs XIV., Berlin 2006, S. 83. Vgl. John Michael Krois: Bildkörper und Körperschema, in: ders.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, Berlin 2011, S. 253–271. Hoecker: Das Lehrgedicht des Karel van Mander (wie Anm. 8), S. 273.

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op Borstcieraden en Tulbanden door hem zoo verheven geschildert al even of ze geboetseerd waren, door welke wyze van behandelen zyne stukken, zelf in wyden afstand, kragtig uitkomen“.19 Ähnlich funktioniert der körperliche Farbauftrag seitens de Gelder.20 Sein abstraktes bzw. ornamentales Kratzen wird bei Rembrandt oder Lievens eher um der Komposition willen und zur scharfen Betonung der Unterzeichnung verwendet. Sein radikaler Umgang mit der Farbmaterie macht de Gelder zu einer einzigartigen Figur der niederländischen Kunst. Ein anderer Aspekt in der Verbindung Tizian-Rembrandt-de Gelder ergibt sich über den viel diskutierten und für die Niederlande schwierigen Sprezzatura-Begriff.21 Van Mander bemerkt anhand von Vasaris Informationen bezüglich der späten Manier Tizians, dass „En als gheseyt is/ dat zijn dinghen schijnen Lichtveerdich/ die doch zijn ghedaen met pijnen“.22 De Gelders Porträts tragen sichtbare Spuren seiner Arbeit, seien es Fingerabdrücke, Pinselstriche oder Kratzer. Dadurch steigert sich die „Natürlichkeit“ der Erscheinung, welche den Eindruck hinterlässt, dass alles mit Leichtigkeit geschaffen wurde. Hier sei auch an das Beispiel von Frans Hals erinnert, der wie Eugène Fromentin erkannte, seine Figuren leichtfertig, schnell und mit zufällig anmutenden Strichen ausführte.23

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Houbraken: De Groote Schouburgh (wie Anm. 5), Bd. I, S. 269. Vgl. Arnold Houbraken: Grosse Schouburgh der Niederländischen Maler und Malerinnen, hg. v. Alfred von Wurzbach, Osnabrück ²1970, S. 116: „ Man sagt, dass er einmal ein Porträt gemalt habe, in welchem die Farbe so dick aufgetragen war, dass man das Bild bei der Nase vom Boden aufheben konnte. Man sieht auch Steine und Perlen, in Halsketten und Turbans, so pastos gemalt, als wenn sie gemeisselt wären, durch welche Manier seine Bilder, selbst auf weite Entfernung, ungeschwächt wirken.“ Van de Wetering hat einen fundamentalen Beitrag zum Thema „Zufall“ bei de Gelder verfasst und die Ähnlichkeiten mit Rembrandt sowie die Unterschiede in der Technik aufgezeigt. Vgl. van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder (wie Anm. 5), S. 18–35. Christopher Atkins: Frans Hals’s virtuoso brushwork, in: Jan de Jongh (Hg.), Virtus. Virtuositeit en kunstliefhebbers in de Nederlanden, 1500–1700, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 54 (2004), S. 280–307; Maria Isabel Pousão-Smith: Sprezzatura, Nettigheid and the Fallacy of Invisible Brushwork in Seventeenth Century Dutch Painting, in: de Jongh: Virtus, S. 259–279; Herman Roodenburg: The Eloquence of the Body. Perspectives on Gesture in the Dutch Republic, Zwolle 2004. Pousão-Smith spricht sich gegen eine Verbindung der italienischen „Sprezzatura“ mit der rauen Malerei in den Niederlanden aus. Hoecker: Das Lehrgedicht des Karel van Mander (wie Anm. 8), S. 274f.: „und wie gesagt ist, scheinen seine Gemälde leichtfertig hingestrichen zu sein und sind doch mit Mühe gemalt.“ Vortrag von Martina Sitt über „Die Wahrnehmung des Lichts in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts aus der Sicht Eugène Fromentins und Jacob Burckhardts“, gehalten am 31. März 2010 im Kunstgewerbemuseum in Berlin im Rahmen der Tagung „Lichtgefüge“.

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Im neunten Kapitel des Grondt spricht van Mander über ein Problem, mit dem Protogenes konfrontiert wurde, als er den Schaum im Maul eines Pferdes darzustellen versuchte.24 Als er einen Schwamm nach dem Bild warf, um bereits gemaltes zu entfernen, entstand durch Zufall das gewünschte Resultat: der Schaum. Van Mander zieht daraus folgenden Schluss: „Hoe een dingen gemaeckt is/ ’t zy met duymen/ Met sponsy/ oft anders buyten costuymen/ ’t Is al goet wat wel staet/ ick houdt in weerden“.25 Für ihn wird sowohl der Zufall, als auch das Malen mit den Daumen zwar nicht negativ konnotiert, doch als außergewöhnliche Malpraxis eingestuft.26 Das Beispiel vom Malen mit dem Daumen erinnert an die Erzählung Houbrakens, nach der de Gelder, abgesehen von der Nutzung des Pinselendes für das Kratzen, auch mit den Fingern gemalt habe.27 Demnach bearbeitet er seine Bilder wie ein plastisches Gebilde. Dies erinnert an Cornelis Ketel, der in van Manders Schilderboek als ein Künstler der mit Fingern und Füßen malte, beschrieben wird.28

Zu fa l l Seit der Antike wird über den Begriff des Zufalls nachgedacht. Cicero, Lukrez und Plinius bezeichnen diesen als „Fortuna“. Albertis Ausführungen zur antiken Auffassung sind diesbezüglich einschlägig.29 Das zufällige Erkennen von Formen in Naturgebilden wäre als ein erster Schritt des Zufalls zu bezeichnen. Die Imaginationskraft des Künstlers verwandelt solche Gestalten in Bilder. Die Möglichkeit der produktiven Nutzung von Zufallsobjekten für einen Künstler lässt sich folgendermaßen erklären: Die Wahrnehmung von Formen in der Natur und die Aktivierung der Imagination sind kein passiver Prozess, sondern 24 25 26

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Hoecker: Das Lehrgedicht des Karel van Mander (wie Anm. 8), S. 224–227. Ebd., S. 228f.: „Ich schätze jedes Ding, wie es auch gemacht ist, sei es mit dem Daumen, mit dem Schwamm oder anderm aussergewöhnlichen, denn es ist alles gut, was angemessen ist.“ Karel van Mander: Das Leben der niederländischen und deutschen Maler, hg. v. Hans Floerke, Bd. II, München/Leipzig 1906, S. 194. Van Mander geht noch viel weiter, wenn er die Gewohnheit Ketels mit der „Lust schwangerer Frauen seltsame, rohe oder ungekochte Dinge zu verzehren“ vergleicht. Das bedeutet, dass die rohe Malweise Ketels mit der „komischen“ Gewohnheit schwangerer Frauen Rohes/Ungekochtes zu essen, durch den niederländischen Maler und Schriftsteller gleichgesetzt wird. Dies wird zwar seitens van Mander akzeptiert, steht aber in einem ungewöhnlichen, kuriosen Zusammenhang. Houbraken: De Groote Schouburgh (wie Anm. 5), S. 207. Perry H. Chapman: Cornelis Ketel, fingerpainter and poet-painter, in: ders.: Joanna Woodall: Envisioning the artist in the early modern Netherlands, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 59 (2010), S. 248–273. Leon Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hg. v. Oskar Bätschmann/Christian Schäublin, Darmstadt 2000, S. 142f.

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eine körperliche Aktion (Interaktion mit der Umwelt) im Gegensatz zur mentalen. Der aktive, performative Zufall wird anhand der „Protogenes“-Anekdote deutlich, und ist für de Gelder von Belang.30 Durch den Akt des Zerstörens wird durch Zufall ein körperliches Gebilde hervorgebracht. Auch Leonardo spricht in seinem Malereitraktat von gegenständlich lesbaren Wandflecken.31 Wie aus der wiederum von Leonardo erzählten Episode über Botticelli hervorgeht, ist der Zufallsaspekt nur ein Generator, weil der Künstler Talent und Einfühlungsvermögen haben muss (hier kritisiert Leonardo Botticelli), um diese Flecken überhaupt wahrnehmen und daraus ein interessantes Kunstwerk im Sinne der Inventio schaffen zu können.32 Die Fleckenmalerei Tizians kann als eine solche Aktion verstanden wer33 den. Wie der epikureische Atomist Lukrez sagen würde, besteht die Malerei Tizians aus Atomen/Flecken, welche aus dem Chaos heraus eine Form (aus einer akzidentellen Konstellation) ergeben.34 Aus der Nähe betrachtet ist das Bild amorph. Aus der Ferne jedoch ergibt sich eine „Morphe“ (Form) aus Flecken/Atomen bestehend, welche aber nicht als solche erkennbar sind, wie die Pixel eines digitalen Bildes oder die Punkte der Pointilisten. Nach Lukrez formen diese Atome in ihrer ständigen Bewegung, in der Dialektik von Erschaffung und Zerstörung, zufällige körperhafte Gebilde, welche ähnlich wie Farbpartikel in die Augenretina geworfen werden.35 In ähnlicher Weise wie die Flecken Tizians funktioniert de Gelders Malerei in Bezug auf das Prinzip des beschriebenen „aktiven“ Zufalls.

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Van Mander beschreibt die Protogenes-Anekdote folgendermaßen: „Sehr verlegen war einst ein grosser Maler […] als er ein wunderschönes Pferd gemacht hatte […] zur Forderung der Kunst auch den Schaum, der aus dem Mund [des Pferdes] hervortrat, malen wollte […] Sein kunstvolles Werk konnte er nicht vollenden […] er [hat] es [das Kunstwerk] verflucht, und hat den Schwamm, womit er seine Farben abwusch, darauf geworfen, um es zu verderben, und da kam die Sache so heraus, dass es ihm gefiel.“ Hoecker: Das Lehrgedicht des Karel van Mander (wie Anm. 8), S. 224–227. Leonardo da Vinci: Treatise on Painting, hg. v. Amon Philip McMahon, Princeton 1956, Bd. I, S. 50. Horst W. Janson: The Image Made by Chance in Renaissance Thought, in: Millard Meiss (Hg.): De Artibus Opuscula XL. Essays in Honor of Erwin Panofsky, Bd. I, New York 1961, S. 262. Vgl. Leonardo da Vinci: Treatise on Painting (wie Anm. 31), S. 59; Suthor: Bravura (wie Anm. 6), S. 243. Ein anderes Beispiel in diesem Zusammenhang wäre die Malerei Tintorettos. Vasari kritisiert, dass der Zufall die colpi seines Pinsels regiert. Vgl. Valeska von Rosen: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians. Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Emsdetten u. a. 2001, S. 327. Lukrez: De rerum natura. Welt aus Atomen, hg. v. Karl Büchner, Stuttgart ²2008, S. 262f. Vgl. Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 317–323. Lukrez: De rerum natura (wie Anm. 34), S. 258: „Principio quoniam mittunt in rebus apertis/ corpora res multae, partim diffusa solute […] quae quoniam fiunt, tenuis quoque debet imago/ ab rebus mitti summo de corpore rerum.“

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Sa muel va n Ho ogst raten Die kunsttheoretische Schrift Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst: Anders de zichtbaere werelt des Malers, Kunsttheoretikers und ersten Lehrers de Gelders Samuel van Hoogstraten ist 1678 erschienen. Diese orientiert sich, was Aufbau und Inhalt angeht (in einer unsystematischen Weise), an dem Grondt van Manders.36 Auf dem Stich der Titelseite des Siebten Buches „Über die Farbe“ (Bild 6) ist in einem Interieur eine Malerwerkstatt erkennbar. Unter der Begleitung des Lautenspiels von Terpsichore, der Muse der Musik und des Tanzes, also „performativer“ Tätigkeiten, die in Richtung des Betrachters schaut, sind vier Menschen mit dem Malen beschäftigt. Sie sind jedoch nicht allein: Zwei Gehilfen sind links zu erkennen, die sich mit dem Reiben der Farben beschäftigen, andere, vor allem männliche Zuschauer, geben sich der Betrachtung der Maltätigkeit hin. Ein Künstler ist im Hintergrund mit dem Malen eines Wandgemäldes beschäftigt, ein weiterer malt eine nackte weibliche Figur. Verwunderlich ist die Figur des Malers im mittleren Teil, der in Begleitung eines Paares nicht mit dem Pinsel, sondern mit dem Fuß malt, den er mit seinen Händen wie einen Pinsel zu lenken scheint. Er ist im Begriff das Porträt einer vornehmen Dame zu vollenden. So sind zwei Weisen des Malens dargestellt, welche nicht gegeneinander gerichtet sind, sondern komplementär als zwei Arten der „noblen“ Kunst der Malerei angesehen werden können. Einerseits die „orthodoxe“, feine, klassische Weise und andererseits die „unorthodoxe“, raue, unklassische Weise, welche vom mit dem Fuß malenden Künstler verkörpert wird. Bei einem Vergleich der Ausführungen van Manders mit dem Kommentar der Titelseite wird ersichtlich, dass es sich bei dem mit dem Fuß malenden Künstler um Cornelis Ketel handelt.37 Wiederum sei an Tizian erinnert, der die

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Über van Hoogstraten siehe unter anderem: Jan A. Emmens: Rembrandt en de regels van de kunst, Verzameld Werk, Bd. 2, Amsterdam 1979; Michiel Roscam Abbing: De schilder & schrijver Samuel van Hoogstraten 1627–1678. Eigentijdse bronnen & oeuvre van gesigneerde schilderijen, Leiden 1993; Brusati: Artifice and Illusion. The art and writing of Samuel van Hoogstraten, Chicago 1995; Hans Jörg Czech: Im Geleit der Musen. Studien zu Samuel van Hoogstratens Malereitraktat „Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst: Anders de Zichtbaere Werelt“ (Rotterdam 1678), Münster 2002; Jan Blanc: Peindre et penser la peinture au XVIIe siècle. La théorie de l’art de Samuel van Hoogstraten, Bern u. a. 2008; Weststeijn: The visible world (wie Anm. 4). Samuel van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst: Anders de zichtbaere werelt, Rotterdam 1678, S. 214: „Maer Ketel schilderte […] uit het leeven“. Die verschiedenen Malweisen (wie bei van Mander) werden mit ihrem jeweils eigenen Wert vorgestellt.

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Bild 6 Samuel van Hoogstraten: Terpsichore, Titelseite des 6. Kapitels der Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst.

Farbe bisweilen mit den Fingern und Händen aufgetragen hat.38 Die Körperlichkeit der Farbe spielt eine zusätzliche Rolle gegenüber der den Gegenstand fixierenden Zeichnung, weil die Farbe über eine „Seele“ bzw. einen Körper verfügt und zur Perfektion und Lebendigkeit führt.39 Farbe ist Stimmung.40

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Werner Busch: Das unklassische Bild. Von Tizian bis Constable und Turner, München 2009, S. 99 u. S. 130. Dies erwähnt Boschini anhand des Berichtes von Palma Giovanne. Vgl. von Rosen: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians (wie Anm. 33), S. 416f. Verena Krieger: Die Farbe als ‚Seele‘ der Malerei. Transformationen eines Topos vom 16. Jahrhundert zur Moderne, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 33 (2006), S. 91–112. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München 2011, bes. S. 88–98.

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Marco Boschini hat etwa achtzehn Jahre früher als van Hoogstraten, 1660, seine Carta del navegar pitoresco verfasst. Wie schon die Worte Carta del navegar im Verhältnis zum pitoresco bezeugen, ist bei ihm ein starker sensomotorischer Bezug vorhanden. Boschini scheint die Verknüpfung Tizian – Ketel – de Gelder zu legitimieren, wenn er schreibt: „A caress with the fingers, a poke with the brush, this makes the figures jump.“41 Die Körperlichkeit der Farbe, die wie Haut wahrzunehmen ist, wird ebenfalls in dieser Tradition vertreten. Van de Wetering hat die Poren der Farbe, welche von einem trockenen Pinsel im Sinne des Impasto verursacht werden, mit denen der Haut verglichen.42 Dies spricht das haptische Gefühl besonders an und trägt zur Lebendigkeit der Figur bei. Der körpermotorische Unterricht beim Schattentheater van Hoogstratens trug zu der körperlichen Auffassung der Figuren de Gelders entscheidend bei. Jedoch nicht im Sinne einer ausgesprochenen Theatralität, verbunden mit sprachlichen bzw. rhetorischen Mustern, sondern der Geheimnisse der Bewegung bzw. der intrinsischen Qualitäten des menschlichen Körpers, um diese zu begreifen und „ikonisch“ ins Bild zu setzen. Nicht zu vergessen wäre die Erwähnung Houbrakens, dass der Dordrechter eine Gliederpuppe besaß, welche für die gesamtkörperliche Konzeption des Künstlers spricht: „Uit dezen ryken voorraad haalt hy de toerustinge zyner beelden: gelyk hy dan ook voor gebruik houd, zynen Leeman van hoofd tot teen te bekleeden, en in zulk een gedaante te zetten, als hy noodig heeft, ’t geen hy dan met het penceel, of met duim en vinger nabootst“.43 Für den Erkenntnisgewinn ist es von Bedeutung, die Gemälde de Gelders aus der Nähe zu betrachten und wenigstens im Geiste zu berühren, auch wenn nur Striche, Kratzer oder Flecken zu erkennen sind. Eine solche haptische Hal41

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Marco Boschini: La Carta del navegar pitoresco; ed. critica, con la ‚Breve istruzione‘ premessa alle Ricche minere della pittura Veneziana, hg. v. Anna Pallucchini, Venedig/Rom 1966, zit. n.: Philip Sohm: Pittoresco. Marco Boschini, his critics, and their critiques of painterly brushwork in seventeenth and eighteenth century Italy, Cambridge 1991, S. 1. Die zweite Ausgabe erschien 1672. Zitiert nach der englischen Übersetzung Sohms, da das Original im venezianischen Dialekt verfasst ist. Eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor. Ernst van de Wetering: Rembrandt’s self-portraits. Problems of authenticity and function, in: ders. (Hg.): A Corpus of Rembrandt Paintings IV, The Self Portraits, Dordrecht 2005, S. 307–311. Auch Bohde vertritt ähnliche Thesen bezüglich Tizian. Vgl. Daniela Bohde: Haut, Fleisch und Farbe. Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians, Emsdetten u. a. 2002, S. 13–18. Houbraken: De Groote Schouburgh (wie Anm. 5), S. 207. Vgl. Houbraken: Grosse Schouburgh (wie Anm. 19), S. 370: „Aus diesem reichen Vorrath holt er den Aufputz seiner Figuren und hat auch die Gewohnheit, seinen Gliedermann vom Kopf bis zu den Zehen anzukleiden und in einen solchen Zustand zu versetzen, wie er ihn nöthig hat, worauf er dies mit dem Pinsel oder mit dem Daumen und Finger nachahmt“. Zu der Frage und dem Gebrauch der Gliederpuppe siehe: Markus Rath: Die Berliner Gliederpuppe, Magisterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin 2008.

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tung wurde von den Kunstliebhabern besonders geschätzt, da aus der Nähe die künstlerische Virtuosität am besten zu bemerken sei.44 So wird der Betrachter zu einer Zeugenschaft (im Sinne der Erkenntnis) nach Art des ungläubigen Thomas durch das Bild aufgerufen. Das Kratzen bestärkt eine solche Situation, weil das Bild dadurch mit Wundmalen an seiner Oberfläche versehen wird. Was die idealistische Kunsttheorie (Vasari, Houbraken) aus der Nähe als bloße Striche ohne Erkenntniswert versteht, weiß dagegen die antiidealistische Kunsttheorie eines Boschini zu schätzen. Bezüglich des Handeling und der rauen45 Manier verweisen van Hoogstraten wie van Mander auf Tizian.46 Der Unterschied ist nun, dass van Hoogstraten das Phänomen pathologisch, als Folge der fehlenden Sehkraft im Alter erklärte.47 Die Beziehung zwischen Rembrandt und Tizian wird deutlich, wenn van Hoogstraten erwähnt: „Ook heb ik in andere gezien […] met te meerder stoutigheyt het penseel begosten te handelen“.48 Das zunehmende Alter des Künstlers soll auch mit einer kühneren Malweise einhergehen. Wenn an die Ausführung Weyermans über das Schielen de Gelders nochmals erinnert wird, so könnte sie paraphrasierend eine Erklärung dafür geben, weshalb de Gelder von Anfang an in der Tradition der beiden Alten gemalt hat! Van Hoogstraten, der seine Rembrandt-Phase in jener Zeit hinter sich gelassen hatte und einem gewissen „Klassizismus“ näher gekommen war, ist selbst allerdings der rauen

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Sohm erwähnt, dass „Boschini loved to rub his fingers over the sharp edges of Bassanos work as if his touch could help him to understand the densely jagged surfaces“. Vgl. Sohm: Pittoresco (wie Anm. 41), S. 6. Es ist charakteristisch, dass die akademische Kunsttheorie die Verdammung der antiklassischen Kunst auch begrifflich gefasst hat, indem sie mit negativ konnotierten Kategorien operierte, wenn eine Malweise als grob und rau bezeichnet war. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst (wie Anm. 37), S. 233f: „De Vroege Dingen van Titiaen zijn zeer in een vloejende geschildert […] ook dies te grooter kracht hebben“. Vgl. van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandts Art Theory (wie Anm. 7), S. 115: „The early pieces by Titian are painted in a manner with the colours smoothly merging into one another, which nevertheless was done with a full brush, but in his last [phase], when the sharpness of his eyesight was failing, he left the broad brushstrokes unworked, which, seen from a distance further than arm’s length, have all the more powerful effect.“ Dies erinnert an die Deutung der Malweise El Grecos im frühen 20. Jahrhundert, welche als Ergebnis eines angeblichen Astigmatismus betrachtet wurde. Vgl. Germán Beritens: El astigmatismo del Greco – Nueva Teoría que explica las anomalías de las obras de este artista, Madrid 1914. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst (wie Anm. 37), S. 242. Vgl. van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandts Art Theory (wie Anm. 7), S. 117: „I have also seen in others that, when their eyesight became dimmed with the onset of old age, they began to handle the brush with greater daring.“

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Bild 7a Arent de Gelder: Porträt eines Mannes in seinem Studienzimmer, signiert, 1680, Öl auf Holz, 53 × 43,5 cm, Museum Mr. van Gijn, Dordrecht.

Manier weniger wohlgesinnt als van Mander. 49 Trotzdem hat er in der Rembrandtwerkstatt in den 1640er Jahren gelernt.50 Van Hoogstraten nimmt eine praktische Einstellung gegenüber den Unterschieden des „Handeling“ innerhalb eines Gemäldes ein.51 So sei alles, um 49 50 51

Czech: Im Geleit der Musen (wie Anm. 36), S. 97–118. Durch van Manders und van Hoogstratens Schriften sowie ihre künstlerische Praxis versucht van de Wetering (Anm. 7) die „Kunsttheorie“ Rembrandts zu rekonstruieren. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst (wie Anm. 37), S. 235: „Nu zoo moetmen ook zijn handeling voornamentlijk veranderen na de plaets […] die by zich zelven steekende zijn“. Vgl. van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandts Art Theory (wie Anm. 7), S. 117: „One should also adapt his brushwork [Handeling] according to the place where the work has to stand: for you will assuredly regret it if, in painting a piece that has to hang high up, and has to be seen from a distance, you have wasted much time on small things. Don’t hesitate then to take brushes that fill a hand, and let every stroke [of the brush] stand on its own, and [let] the colours remain in many places almost unmixed; for the height and the thickness of the air will show many things merged together which should [seen closer] stand out separately.“

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Bild 7b Detail Bild 7a.

der Lebendigkeit und Natürlichkeit willen, seiner Natur und seinem Material nach in adäquater Weise wiederzugeben.52 Wenn das 1680 signierte Porträt eines Mannes in seinem Studierzimmer von de Gelder inspiziert wird (Bild. 7a u. 7b), so ist zu erkennen, dass die Farbe in einigen Partien dünner und in anderen dicker aufgetragen ist.53 Im Innenteil des Japonschen Roks entfalten sich autonom wirkende Pinselstriche. Dicker appliziert, scheinen sie am Ende des Werkprozesses gesetzt worden zu sein und bilden so die Farbsignatur des Malers. Selbst bei der weißen Spitze scheint de Gelder mehr Farbe an den Seiten aufgetragen zu haben und weniger in der Mitte. Es sind also verschiedene Grade der Bearbeitung zu verzeichnen, wobei die „feine“ die „grobe“ Malweise übertrifft.

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Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandts Art Theory (wie Anm. 7), S. 119 u. S. 122f. Chris de Bruyn und Sander Paarlberg haben den Zugang zu diesem Bild im Museum Mr. Simon van Gijn in Dordrecht ermöglicht. Beiden sei herzlich dafür gedankt.

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D ie den kende Ha nd Das Zufallsprinzip de Gelders hat wohl im schon beschriebenen Familienbildnis Boerhaaves (Bild 1) direkten Bezug zu van Hoogstraten.54 Vor allem soll das Augenmerk auf die sich seitlich der Frau erstreckende Landschaft gerichtet werden (Bild 8a), welche aus Kratzern und Farbe besteht. Dies gilt auch für die Kirche (Bild 8b), die an die Dordrechter Oude Kerk denken lässt, obwohl es sich nicht um ein topographisch genaues Bild der Stadt handelt. Dies erinnert an den seitens van Hoogstraten erzählten „topischen“ Wettstreit zwischen den Künstlern Knipbergen, van Goyen und Porcelles.55 Alle drei sollten dieselbe Landschaft malen, und es sind drei vollkommen unterschiedliche Resultate entstanden, welche mit Usus, Fortuna und Idea verbunden wurden. Im Rahmen der platonisch besetzten Kunsttheorie gewann die Idea und damit Porcelles.56 Das Werk van Goyens war, so van Hoogstraten: „want hy zijn geheel panel in ’t gros overzwadderende, hier licht, daer donker, min noch meer al seen veelverwige Agaet […] en in ’t kort zijn oog, als op het uitzien van gedaentens, die in een Chaos van verwen verborgen laegen, afgerecht, stierde zijn hand en verstandt op een vaerdige wijs, zoo datmen eeb volmaekte Schildery zag, eermen recht merken kon, wat hy voor hadt“.57 Die Beschreibung scheint mit der Landschaft im Familienbild in Einklang zu stehen, welche in der Machart und Farbigkeit an Landschaften Rembrandts sowie van Goyens erinnert.58 Aus dem Chaos der Farben und Kratzer, im Sinne der Ausführung van Hoogstratens, entsteht das Bild einer Stadt und ihrer landschaftlichen Umgebung. Ähnlich geschieht es beispielsweise mit der aus Kratzern und Farbe bestehenden

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Der Verfasser möchte Anna Krekeler dafür danken, dass er zweimal die Gelegenheit hatte, das Familienbildnis im Depot des Rijksmuseum in Lelystad aus der Nähe studieren zu können. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst (wie Anm. 37), S. 237ff. Vgl. van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work (wie Anm. 12), S. 81–87. Emmens: Rembrandt en de regels van de kunst (wie Anm. 36), S. 283; van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work (wie Anm. 12), S. 86. Vgl. van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst (wie Anm. 4), S. 237f. Vgl. Weststeijn: The visible world (wie Anm. 37), S. 251: „having roughly splashed all over his panel, here light, there dark, more or less like a multicoloured Agate […] and in short his eye, trained to see forms that were concealed in a Chaos of paint, directed his hand and understanding so skillfully that one saw a complete Painting before one could rightly perceive what he had in mind.“ Mark Roskill: The Languages of Landscape, Philadelphia 1997, S. 78. Jan Nicolaisen: Chaos unentwirrbarer Farben. Künstlerische Handschrift als Ausdruck von Subjektivität in der niederländiischen Malerei und Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts, in: Ausst. Kat.: Augenkitzel. Barocke Meisterwerke und die Kunst des Informel, hg. v. Dirk Luckow, Kiel 2004, S. 37.

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Bild 8a

Detail Bild 1.

Bild 8b

Detail Bild 1.

Landschaft in Jacobs Traum von de Gelder (Bild 9a u. 9b).59 Auch Boschini sprach über das Chaos der Farben Bassanos, welche aus der Nähe wie ein Wirrwarr und aus der Entfernung als erkennbares Ganzes, als organisierte Gestalt wahrgenommen werden.60 Van Hoogstraten erwähnt nicht nur die Episode mit dem Schwamm des Protogenes,61 sondern auch eine andere, welche mit der Geschichte van Goyens übereinstimmt und in der Tradition des Wandflecks von Leonardo steht: „of dat 59 60 61

Auch die Signatur des Bildes ist hier in die nasse Farbe gekratzt. Sie scheint in einem Zug, zusammen mit den ebenfalls gekratzten Linien der Büsche entstanden zu sein. Boschini: La Carta del navegar pitoresco (wie Anm. 41), S. 725, zit. n.: Weststeijn: The Visible World (wie Anm. 4), S. 238. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst (wie Anm. 37), S. 233.

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Bild 9a Arent de Gelder: Jakobs Traum, signiert, um 1715, Öl auf Leinwand, 65,1 × 53,6 cm, Dulwich Picture Gallery, London. Bild 9b

Detail Bild 9a.

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het oog in de ruwe schetssen van gevallige voorwerpen eenige vormen uitpikt, gelijk wy aen den haert in het vuer pleegen te doen; of dat de handt, door gewoonte, iets formeert, min noch meer als wanneer wy schrijven; want een goedt schrijver maekt goed letteren, schoon hy ’er niet aen gedenkt, en zijn oog en verstandt schijnen in zijn hand geplaetst te zijn“.62 Mit diesen Worten beschreibt er die zentrale Rolle der Hand, welche eine denkende Funktion hat und als eine Art „extended mind“63 des Künstlers (in dieser Hinsicht im Gegensatz zu der Vorstellung des disegno interno, wonach die Idee der Ausführung vorangeht)64 agiert. Form, Körper und Denken sind eins. Dies kommt auch in einer italienischen Redewendung vor (als Kritik an dem mangelnden disegno), wonach die nordländischen Künstler „das Hirn in den Händen hätten“ (hanno il cervello nelle mani).65 Aufgrund der spontanen Bewegungen der Handmotorik des Künstlers (was gewiss mit Übung zusammenhängt) schafft er Formen, die wie vom Zufall erzeugt erscheinen und eine größere Natürlichkeit besitzen als jeder durchdachte und fein applizierte Pinselstrich. Dies erwähnt auch Reynolds in seinen Diskursen (1784) über die Technik Rembrandts: „Rembrandt in order to take the advantage of accident, appears often to have used the pallet-knife to lay his colours on the canvass, instead of the pencil. Whether it is the knife or any other instrument, it suffices if it is something that does not follow exactly the will. Accident in the hands of an Artist who knows how to take the advantage 62

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Ebd., S. 237. Vgl. van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work (wie Anm. 12), S. 85f.: „Whether the mind acquires the ability to form immediately the desired image; or whether the eye picks out single forms in rough sketches of chance objects, as we do when we sit at the hearth gazing into the fire; or whether the hand makes something by habit, more or less as when we write; for a good scribe makes fine letters without thinking about it, as though the mind and the eye were placed in his hand“. [Hervorhebungen Y.H.] Hier ist auf den klassischen Artikel einer enaktiven Theorie zu verweisen: Andy Clark/David Chalmers: The Extended Mind, in: Analysis 58/1 (1998), S. 7–19. Nach Hoogstaten wären Auge und Gehirn schon in der Hand platziert. Nicola Suthor erwähnt in diesem Kontext die „denkende Pinselspitze“. Vgl. Suthor: Bravura (wie Anm. 6), S. 240. Jedoch wäre es in diesem Kontext angebrachter, von der „denkenden Hand“ zu sprechen, die die Pinselspitze motorisch führt (nämlich im Sinne des Handeling). Wolfgang Kemp: Disegno. Beiträge zu einer Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19 (1974), S. 219–240. Vgl. A. F. Doni: Disegno, Venedig 1549, zit. n.: Martin Warnke: Der Kopf in der Hand, in: ders.: Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zur Kunst und Kunsttheorie, Köln 1997, S. 113. Das Motiv der Hand mit einem Auge versehen kommt schon bei Claes Jansz. Visscher (1587–1652) vor. Vgl. Georg Braungart: Die tastende Hand, die formende Hand. Physiologie und Ästhetik bei Johann Gottfried Herder, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Beiheft 1 (2005), S. 31. Zur Formel „Denkende Hand“ grundlegend: Horst Bredekamp: Denkende Hände. Überlegungen zur Bildkunst der Naturwissenschaften, in: Räume der Zeichnung, hg. v. Angela Lammert u. a., Nürnberg 2007, S. 12–24.

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of its hints, will often produce bold and capricious beauties of handling and facility, such as he would not have thought of, or ventured, with his pencil, under the regular restraint of his hand. However, this is fit only on occasions where no correctness of form is required, such as clouds, stumps of trees, rocks, or broken ground. Works produced in an accidental manner, will have the same free unrestrained air as the works of nature, whose particular combinations seem to depend upon accident“.66 Je natürlicher die Erscheinung auf der Leinwand zu erreichen ist, desto freier und spontaner soll die Hand des Künstlers agieren. Letzten Endes ist die Natur selbst voll von zufälligen Konstellationen, wenn zum Beispiel an die Maserung der Achatsteine, von der Plinius spricht, gedacht wird. Die Kunst de Gelders ist körperlich und performativ – wie van Hoogstratens denkende Hand – und wendet sich geradezu gegen alle platonische Kunst (Konzept der Idea) und somit gegen Porcelles, den Sieger des Wettstreits. Vondel, der bedeutende niederländische Dichter, kritisierte die Künstler, die nach dem Zufallsprinzip arbeiteten und verglich sie mit den Atomisten.67

Nat u r u nd Ku nst Relevant wird das Bild de Gelders (Bild 1) auch in Hinsicht auf die Beziehung zwischen Natur und Kunst, welche auch bei van Hoogstraten oder Reynolds eine wichtige Rolle spielte, wie es in den vorangehend erwähnten Passagen zu lesen ist. Auch im dritten Kapitel des Neunten Buches spricht van Hoogstraten über die malende und bilderschaffende Natur.68 Ein Zeitgenosse de Gelders, Simon Schijnvoet, besaß eine Kunstkammer, wie sein Freund Jacob Moelaert und Rembrandt auch.69 Der Gelehrte Rumphius, der mit Boerhaave befreundet war,70 verfasste 1705 die D’Amboinsche Rariteitkamer. Zwei Erklärungen waren im

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Sir Joshua Reynolds: Discourses on Art, hg. v. Robert R. Wark, New Haven/London 1997, S. 223. Vgl. van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder (wie Anm. 5), S. 35. Weststeijn: The Visible World (wie Anm. 4), S. 256f. Vgl. Joost van den Vondel: Bespiegelingen van Godt en godtsdienst, hg. v. J. J. Zeij, Utrecht u. a. 1937, S. 32f. Vondel ist gegen die Auffassung, dass die Welt aus „’t wild geval/ Het t’zamenrunnen der ondeelbre vezelingen/ En stoffe’“ besteht. Er glaubt nicht, dass die „Natuur kann zonder hand en verf geen landschap schilderen./ Wat kan dit wild geval? Niet anders dan verwilderen.“ Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst (wie Anm. 37), S. 340ff. Van de Wetering verwies auf die Erklärungen der Sammler oder Kenner von Naturalien in den Niederlanden: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder (wie Anm. 5), S. 33. Ausst. Kat.: Rembrandts Schatkamer, hg. v. Bob van den Boogert u. a., Museum het Rembrandthuis, Zwolle 1999. G. A. Lindeboom: Herman Boerhaave. The Man and His Work, London 1968, S. 165f.

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Umlauf: Eine religiöse, wonach hinter der gemalten Natur der Schöpfer stünde (Vondel) und auch eine epikurisch-atomistische, welche die Achatsteine für eine zufällige Konstellation von verschiedenen Stoffen hielt (Rumphius).71 In diesem Zusammenhang spielte die überragende Gestalt des Jesuiten Athanasius Kircher eine wichtige Rolle, der an die göttliche Intervention glaubte, ohne jedoch die Kraft der Natur selbst zu unterschätzen. Kircher war in den Niederlanden bekannt, da seine Werke auch ins Niederländische übersetzt waren.72 Bei van Hoogstraten gibt es einige Ausführungen über China, bezüglich der Natur als Bildhauerin, was eine mögliche Kenntnis von Kirchers China Illustrata voraussetzt, die 1667 in lateinischer Sprache und ein Jahr später auf Niederländisch erschienen ist.73 Für Kircher sind solche Zufallsbilder zwar unvollkommen, unregelmäßig und unordentlich, aber gerade dies mache ihre Schönheit aus.74 Kann dies mit dem genannten Wettbewerb und vor allem mit dem Zufallsbild van Goyens verglichen werden? Ist jene „Unvollkommenheit“ der Kratzer de Gelders in diesem Kontext zu verstehen? Es sind nicht die Zufälle der Natur, welche solche Gebilde körperlich hervorbringen, sondern diejenige der Kunst, die im Einklang mit dem Schöpfungsakt bzw. der Legende der Veronika stehen; wenn zum Beispiel Hände und Finger nicht nur benutzt, sondern deren Abdrücke sichtbar werden. Dadurch steigert sich die Lebendigkeit des Artefakts. Der Zufallsaspekt und die pulsierende Aktivität der Farbe de Gelders stehen in direkter Verbindung mit der Vorstellung von der denkenden Hand seitens van Hoogstraten.

Gera rd de L a i resse Das 1707 verfasste Schilderboek des Malers und Kunsttheoretikers de Lairesse, ist vom Aufbau her nicht an die Gronden van Manders oder an van Hoogstraten angelehnt, obwohl es zum Teil ähnliche Probleme behandelt.75 Sowohl die Malerei de Lairesses, als auch sein Traktat, lassen sich als akademisch-klassizistisch 71

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Van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder (wie Anm. 5), S. 33; Bert van de Roemer: De Geschikte Natuur. Theorieën over natuur en kunst in de verzameling van zeldzaamheden van Simon Schijnvoet (1652–1727), Dissertation, Amsterdam 2004, S. 137. Van de Roemer: De Geschikte Natuur (wie Anm. 71), S. 136, S. 141ff. Vgl. Jurgis Baltrusaitis: Aberrations. Essai sur la légende des formes, Paris ²1983, S. 55–88. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst (wie Anm. 37), S. 343; Sheng-Ching Chang: Natur und Landschaft. Der Einfluss von Athanasius Kirchers ‚China Illustrata‘ auf die europäische Kunst, Berlin 2003, S. 11 u. S. 16. Ebd., S. 45 u. S. 61. Die zweite Ausgabe von 1740 zusammen mit der englischen Übersetzung des Textes (1778) wird hier verwendet. Vgl. Lyckle de Vries: Gerard de Lairesse. An Artist between Stage and Studio, Amsterdam 1998, S. 13.

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bezeichnen. De Lairesse meinte, dass Kunst auf Mathematik und Geometrie basiere, so dass er sich trotz seiner Erblindung mit Kunsttheorie befassen konnte. Eine solche These widerspricht bestimmten heutigen Verkörperungstheorien (z. B. dem Enaktivismus), die ein Bilderschaffen unabhängig vom Sehsinn annehmen.76 De Lairesse legte nicht nur in seiner Malerei, sondern auch in seiner Kunsttheorie Wert auf einen rationalen und insofern weniger sensomotorischen, körperlichen Bezug, wie etwa de Gelder. Die Kunst Rembrandts wird demnach bei ihm als bürgerlich verworfen, wohingegen die „klassizistischen“ oder in der „fijnen“ Manier geschulte Maler, wie van Mieris, van Dyck und Poussin, „adlig“ waren.77 De Lairesses Beschreibungen der zwei unterschiedlichen Maltechniken weisen einen Bruch auf. Er bezeichnete die eine Malweise als „vloeijende“ und „gladde“ und die andere als „wakkere“, „vaardige of stoute“, und erwähnte, wie manche Meister (er meinte sicherlich Tizian und Rembrandt, ohne sie zu nennen) am Ende ihres Lebens „echter styf en morssig schilderen“.78 De Lairesse wurde von Rembrandt 1665–1667 in der aus der Mode geratenen rauen Manier porträtiert, die der Lütticher später verdammen sollte. An anderer Stelle, in seiner Dreiteilung der Kunst, ordnete de Lairesse Rembrandt zusammen mit Jordaens in die bürgerliche, mittlere Kunst ein.79 Er hätte in diese Kategorie sicherlich auch de Gelder eingeordnet. Van Dyck fügte er zusammen mit Rubens in das höhere, adlige, van Laer mit Brouwer in das niedrige und somit bäuerliche „Genre“ ein.80 Es handelt sich um eine ultrakonservative Position des Künstlers, der das Ideale im Adel, das Mittelmäßige im Bürgertum und das Niedrige im Bauerntum sah. Dies erinnert auch an den Stich aus seinem Schilderboek mit der Gegenüberstellung der Grazie in der

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John Michael Krois: Für Bilder braucht man keine Augen. Zur Verkörperungstheorie des Ikonischen, in: ders.: Bildkörper und Körperschema (wie Anm. 17), S. 132– 160. Claus Kemmer: In Search of Classical Form. Gerard de Lairesse’s ‚Groot Schilderboek‘ and Seventeenth Century Dutch Genre Painting, in: Oud Holland 26/1/2 (1998), S. 92, S. 97; Lyckle de Vries: Gerard de Lairesse. The Critical Vocabulary of an Art Theorist, in: Oud Holland 117/1/2 (2004), S. 80. Gerard de Lairesse: Groot Schilderboek, 2 Bde., Haarlem ²1740, S. 7f. [Erster Band der ersten Ausgabe erscheint 1707]. Vgl. Gerard de Lairesse: The Art of Painting in all its Branches, London 1778, S. 1: „fluent and smooth“, „expeditious and bold“, S. 2: „fall into an hard and muddy manner.“ De Lairesse: Groot Schilderboek (wie Anm. 78), S. 185. Dies entspricht, nach Emmens: Rembrandt en de regels van de kunst (wie Anm. 36), S. 273, der antiken Unterscheidung zwischen den drei genera dicendi: das genus sublime, das genus mediocre und das genus humile. De Lairesse: Groot Schilderboek (wie Anm. 78), S. 185.

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Körperhaltung der Adligen und der bückenden Haltung der Bauern bzw. dem Halten eines Löffels auf adlige und bäuerliche Art. Das Konzept der Grazie ist in Verbindung mit den neuen Idealen des Großbürgertums französischer Prägung und seiner aristokratischen Inszenierung zu sehen. Als de Lairesse die Draperie der Esther aber auch Ahasvers und Hamans im Kapitel über die Kleider erwähnt, scheint es, als ob er seinem Geschmack entsprechend an de Gelder gedacht hätte, der die Esther-Geschichte mehrmals malte, wenn er kritisch notierte: „want hoe bespottelyk zou het zyn […] En nochtans ziet men zulks al gebeuren“.81 Weiter behauptete er, dass eine „tronje“ Rembrandts nicht der Natur und den Regeln der Kunst entspräche und empfiehlt den jungen Malern, die Farbe nicht wie Exkremente auf der Leinwand verlaufen zu lassen, wie es Rembrandt oder Lievens performativ taten, sondern sie farbenprächtig auf feinmalerische Art aufzutragen, so dass die Objekte abgeschlossen (rond) und nicht klecksig (kladdery) erscheinen.82 Weiterhin meinte er, dass die Manier Rembrandts und Lievens nicht ganz zu verwerfen sei, zumal sie „natürlich“ wäre, obwohl diejenigen, die ihr folgten, zu Grunde gingen.83 Hier kann er nicht von de Gelder sprechen, einerseits weil er damals noch am Leben war und andererseits, weil er ihn nicht für erwähnenswert hielt (denn dieser ging bei Rembrandt die Lehre). De Lairesses kritische Stellung gegenüber Tizian ist deshalb nicht überraschend.84 Dennoch ist es verwunderlich, dass der Maler von Prinzen, Königen und Höflingen zusammen mit Rembrandt als „bürgerlich“ wahrgenommen wird, was wohl mit der späten Malweise des ersteren und weniger mit seinen Auftraggebern und seiner hohen sozialen Stellung zusammenhängt.

D ie For tse t z u ng des Ma ler isc hen Eine negative Kritik klassizistischer Prägung (die genauso von de Lairesse hätte stammen können), bezüglich der Kunst de Gelders findet sich im Lexikon von Lévesque und Watelet aus dem Jahre 1792. De Gelder wird von den Autoren kritisch unter dem Begriff des manoeuvre eingeordnet, weil er Werke der Hand (Zufall) und nicht des Verstandes (Idea) schuf: Talent und Verstand machen

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Ebd., S. 196. Vgl. de Lairesse: The Art of Painting in all its Branches (wie Anm. 78), S. 113f.: „How ridiculous would it be, to dress queen Esther in a stiff-bodied gown […] and yet such things happen.“ De Lairesse: Groot Schilderboek (wie Anm. 78), S. 320 u. S. 324. Vgl. de Lairesse: The Art of Painting in all its Branches (wie Anm. 78), S. 193. Ebd., S. 325. De Lairesse: Groot Schilderboek (wie Anm. 78), Bd. II, S. 17f. Vgl. de Lairesse: The Art of Painting in all its Branches (wie Anm. 78), S. 270f.

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nach Lévesque den großen Künstler aus und nicht bloß seine Arbeitsweise.85 Dies erinnert somit an die zuvor von Hoogstraten erwähnte „denkende Hand“; sie wird von einer akademischen entkörperlichten Auffassung nicht geduldet. Der Kunsthistoriker Karl Voll kommentierte schon 1903 in einem Brief an Max Slevogt de Gelders Selbstbildnis als Zeuxis in Frankfurt: „Denke nur an den merkwürdigen Rembrandtschüler [Arent] von Geldern, von dem in Frankfurt ein Selbstbildnis vis à vis von dem großen Rembrandt hängt und der in der pikanten Farbe Dich, der im Raum [in der Raumauffassung] aber – auf Bildern, die Du nicht kennst – thatsächlich Degas vorweggenommen hat. Unglaublich, aber wahr“.86 De Gelder wurde auch mit „Impressionisten“-Augen betrachtet, was das Interesse der Maler dieser Richtung für Rembrandt und seine Schule bezeugt. Sie erkannten bei ihm ihre eigene Radikalität.87 Die Farbe hat sich seit Tizian und Rembrandt, wie Horst Bredekamp gezeigt hat, vom Gegenstand gelöst und führt durch ihre selbstständige Aktivität allmählich zur abstrakten Kunst.88 De Gelders Handhabung der Farbe scheint ebenfalls in die „Abstraktion“ zu münden. Es handelt sich jedoch um grundverschiedene geschichtliche Bedingungen. Der Künstler zielte nicht auf die Abstraktion als Selbstzweck ab, sondern vielmehr im schon erwähnten Sinne Boschinis. Die aus nächster Nähe amorphen Gebilde beziehen sich auf seinen Umgang mit der Farbmaterie und den Malwerkzeugen. So lässt sich die Fortsetzung des Malerischen verfolgen. Turners Begeisterung über de Gelders Jacobs Traum (Bild 9a u. 9b) kann als Erklärung für die Beschäftigung des Künstlers nicht nur mit der Chiaroscuro-Tradition, sondern auch mit dem Zufall dienen, aufgrund dessen er sich mit der „Klecksographie“ auseinandergesetzt hat.89 De Gelder verweist somit nicht nur auf die Vergangenheit sondern aus der Sicht eines heutigen Betrachters auch in die Zukunft.

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Claude Henri Watelet/Pierre Charles Lévesque: Dictionnaire des Arts de Peinture, Sculpture et Gravure, Paris 1792, Bd. 3, S. 379, zit. n.: Suthor: Bravura (wie Anm. 6), S. 246f. Johannes Stückelberger: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900, München 1996, S. 113. Voll spricht von „Zerlegung der Farbe“. Karl Voll: Malerei des 17. Jahrhunderts, Entwicklungsgeschichte der Malerei in Einzeldarstellungen, München 1917, Bd. 3, S. 120f. Bredekamp: Theorie des Bildakts (wie Anm. 34), S. 267–270. Ausst. Kat.: Turner – Hugo – Moreau. Entdeckung der Abstraktion, hg. v. Raphael Rosenberg, Schirn Kunsthalle Frankfurt, München 2007, S. 125ff. Turner benutzte de Gelders Bild als Inspirationsquelle für seine Vision der Himmelsreiter. Das Gemälde aus der Dulwich Gallery wurde Rembrandt zugeschrieben und erst 1946 endgültig Arent de Gelder. Vgl. John Loughman: Jakobs Traum, in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727] (wie Anm. 5), S. 246.

Monika Wagner

„ DA S AU G E WA R D H A N D, D E R L IC H T S T R A H L F I N G E R“ Bildoberfläche und Betrachterraum1

Eine Rehabilitierung des Tastsinns nach einer Epoche der ‚Okulartyrannis’2 versprachen zu Beginn der 1990er Jahre Theoretiker der neuen Medien wie etwa Derrick de Kerckhove oder Peter Weibel. In seinem viel zitierten Aufsatz Touch versus Vision von 1993 prognostizierte de Kerckhove eine vitale Rückkehr der Taktilität dank der virtual reality, insbesondere des bio-feedback.3 Die Hoffnung auf die Rückkehr des Taktilen fügt sich in eine Matrix latenter Kritik an der Dominanz des Visus. Die bei französischen Kulturtheoretikern verbreitete Grundhaltung fand vor allem über die USA Verbreitung.4 Angeheizt von der medialen Revolution der Computertechnologie, ihren Versprechen, vor allem aber auch den befürchteten Verlusten, wie sie etwa jüngst Richard Sennett in Handwerk darlegte,5 hat das Interesse am Haptischen in den beiden letzten Jahrzehnten enorm zugenommen.6 Das entsprechende Schlagwort für die Rückgewinnung einer nicht nur das Auge betreffenden körperlichen Erfahrung im medialen Bereich ist Interaktivität. Doch in vielen künstlerischen Arbeiten, in denen Interaktivität als Berührung charakterisiert

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Eine veränderte Version des vorliegenden Textes habe ich auf der Tagung Körperlichkeit der Abstraktion 2011 in Konstanz vorgetragen. Den TeilnehmerInnen danke ich für Anregungen während der Diskussion. Astrit Schmidt-Burckhardt: ‚Okulartyrannis’. Vom Foto-Auge zum Kamera-Auge, in: Fotogeschichte 26/100 (2006), S. 37–49. Derrick de Kerckhove: Touch versus Vision. Ästhetik neuer Technologien, in: Wolfgang Welsch (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen, München 1993, S. 137– 168. Martin Jay: Den Blick erwidern. Die amerikanische Antwort auf die französische Kritik am Okularzentrismus, in: Christian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 154–174. Richard Sennet: Handwerk, Berlin 2008. Vgl. Michael Diers: Von Sinnen in der Kunst, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Der Sinn der Sinne, Bonn 1998, S. 51–80.

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Bild 1

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Ulrike Gabriel: Breath, 1994–1995, interaktive Installation.

wird, ist vor allem das Berühren des Bildschirms gemeint,7 wie etwa in Monika Fleischmann und Wolfgang Strauss’ Liquid View: The virtual mirror of Narcissus. Eine von Kerckhoves verheißungsvollen Prognosen richtete sich auf Arbeiten des Bio- und Neuro-Feedback. Doch das Paradebeispiel, die Arbeiten des kalifornischen Kunstkollektivs Biomuse, basieren auf dem Prinzip des eye-trackers, das zum Ziel hat, den Blick zu „führen, als wäre er ein Curser auf dem Bildschirm“.8 Der eye-tracker, eine psycho-physische Aufzeichnungstechnik der muskulären Augenbewegungen, lässt sich allenfalls als imaginäre Berührung bezeichnen. Kerckhoves Zeugen belegen eher die Einbettung taktiler Elemente in den Visus als die Rückgewinnung von Taktilität.9 Wie in anderen Verfahren im Bereich des Neuro- und Bio-Feedback wird das unwillkürliche körperliche Verhalten mit Bildern rückgekoppelt, so wie in Ulrike Gabriels interaktivem Environment Breath, das zu den Trendsettern der 7 8 9

Vgl. den kritischen Beitrag von Matthias Bickenbach: Knopfdruck und Auswahl. Zur taktilen Bildung technischer Medien, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft 30/117 (2000), S. 9–32. Kerckhove: Touch versus Vision (wie Anm. 3), S. 156. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der ‚Teletaktilität’ s. auch Claudia Benthien: Hand und Haut. Zur historischen Anthropologie von Tasten und Berührung, in: Zeitschrift für Germanistik, NF, 8/2 (1998), S. 335–348.

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Bild 2 Valie Export: Tapp- und Tastkino, 1968, Foto einer Aktion in Wien.

Kunst des Bio-Feedback zählt (Bild 1). Der Teilnehmer (oder Akteur) trägt einen Gürtel mit Sensoren um die Taille, die so konfiguriert sind, dass das Atmen zum Mensch-Maschine Interface wird. Ein durch die Atmung beeinflusstes Bild scheint sich in den Betrachterraum hinein auszudehnen und den Teilnehmer geradezu zu bedrängen. Obwohl sich hier eine somatische Bildwirkung einstellt, ist sie über das Auge vermittelt, nicht über den physischen Kontakt der Haut.10 Das Bild erscheint als ein eigenes Lebewesen, das sich zeitversetzt zum Atemrhythmus des Teilnehmers verändert. Eine virtuelle Aktivierung der Bildoberfläche in den Betrachterraum zeichnet zwar auch das Kino aus, so dass Filmtheoretiker unter Berufung auf Walter Benjamin ebenfalls von einer taktilen Bilderfahrung sprechen;11 doch in den Bio-Feedback-Arbeiten ist die Rückbindung an die unwillkürlichen körperlichen Lebensäußerungen des Teilnehmers entscheidend, so dass das Bild als unheimliche Begegnung erlebt wird, die mit der eigenen Körperlichkeit auf undurchsichtige Weise verbunden zu sein scheint. Man begegnet sich gewisserma-

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Vgl. ebd. Siehe: Nicolas Perthes: Die Ferne der Berührung. Taktilität und mediale Repräsentation nach 1900. David Katz, Walter Benjamin, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 30/117 (2000), S. 33–57.

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ßen als Naturwesen, doch ist diese Begegnung nicht auf die doppelte Empfindung von aktivem und passivem Berühren angelegt, die den Tastsinn auszeichnet. Im Gegensatz zu den über das Einfallstor des Auges ausgelösten Empfindungen propagierten KünstlerInnen der 1960er Jahre, wie etwa Valie EXPORT mit ihrem legendären Tast- und Tappkino „taktile statt visuelle Kommunikation“ (Bild 2). „Die taktile Rezeption“, so ließ Valie EXPORT 1968 über ihr Expanded Cinema verlauten, „feit gegen den Betrug des Voyerismus“, mit dem der Kapitalismus die Entfremdung vom Körper betreibe.12 Taktilität wurde gegen die „Sinnlichkeitsreserven“ der Mediengesellschaft in Stellung gebracht. Selten zuvor war Taktilität derart positiv bewertet und geradezu als ein kritisches Potential eingesetzt worden. Sie sollte als Reflexionsmodus dienen und damit etwas leisten, das ihr als ‚unmittelbarem’ Zugang zur Welt traditionell abgesprochen worden war. Valie EXPORT reagierte damit ähnlich wie andere zeitgenössische Künstler der 1960er Jahre auf die Vorherrschaft des Auges, die durch die Medienindustrie forciert und durch eine Kunsttheorie fundiert worden war, und die noch kurz zuvor die Überwindung aller Materialität durch die ungegenständliche Kunst gefeiert hatte: 1958, zehn Jahre vor der Wiener Aktion, hatte Clement Greenberg, der einflussreiche New Yorker Kritiker, in seinem Essay Sculpture in Our Time verkündet, die Malerei sei von allen „taktilen Assoziationen befreit“. Selbst die zeitgenössische Skulptur sei eine nahezu rein optische Kunst, ihre „Substanz wird zu etwas ausschließlich Optischem“. „Das Verlangen nach Reinheit“, so Greenberg, „verleiht der schieren Visualität einen noch höheren Wert und dem Taktilen und allem, was damit in Verbindung steht, einschließlich des Gewichts und der Undurchdringlichkeit, einen noch geringeren“.13 Greenbergs puristische Ablehnung multisensorischer Werke als unrein entsprach zwar dem New York Modernism, als deren Wortführer der Kritiker agierte, nicht aber europäischen Tendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die informelle Malerei, wie Jean Dubuffet und Jean Fautrier in Frankreich zu Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelten, hatte in Jean-Paul Sartre und Francis Ponge, die sich für Zwischenzustände, für das Klebrige und die haptischen Abenteuer der Vermischung stark machten, renommierte Anwälte.14 Die Hand, das 12 13

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Valie EXPORT, zit. n. Anita Prammer: Valie EXPORT. Eine multimediale Künstlerin, Wien 1988, S. 106. Clement Greenberg: Sculpture of Our Time, in: Arts Magazine Juni (1958), wieder abgedruckt in: ders.: The Collected Essays and Criticism, hg. v. John O’Brian, Bd. 4, Chicago/London 1993, S. 55–61, hier S. 59, 60 (Übersetzung M.W.). Vgl. auch Caroline A. Jones: Eyesight alone. Clement Greenberg’s Modernism and the Bureaucratisation of the Senses, Chicago 2005. Mechthild Haas: Jean Dubuffet. Materialien für eine ‚Andere Kunst‘ nach 1945, Berlin 1997; Dietmar Rübel: Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen, München 2012, S. 99–102.

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Gemachtsein und die Taktilität der Oberflächen wurden von ihnen gegenüber einer Malerei der optischen Erscheinungen, die der abstrakte Expressionismus verfolgte, gestärkt. Greenberg dagegen führte jene „Kultur des Optischen“ fort, die seit den 1920er Jahren von der europäischen Avantgarde beansprucht worden war und im amerikanischen Exil weiterlebte.15 Die physische Überschreitung der Grenze zwischen Werk und Betrachter, die Valie EXPORT am eigenen Leib demonstrierte, richtete sich auf die Überwindung einer „Kultur der Distanz“,16 und äußerte sich in den 1960er Jahren in vielen Varianten auch jenseits der Performance, insbesondere in der Aufwertung physischer Materialien und Dinge in der bildenden Kunst. Von einer direkten gesellschaftspolitischen Kritik an der „Kälte des skoptischen Regimes“17 und der „Bürokratisierung der Sinne“18 durch das Insistieren auf taktiler Nähe sind interaktive Arbeiten wie Ulrike Gabriels Breath meilenweit entfernt. Vielmehr liegt ihnen ebenso wie Theoretikern der Teletaktilität offenbar eine strukturell ähnliche Strategie zugrunde, wie sie bereits im späten 18. Jahrhundert Johann Gottfried Herder in anderen Kontexten vertreten hatte.19 Herder fügte sich in eine breite Strömung des 18. Jahrhunderts, durch die der Tastsinn im Gefüge der Sinneswahrnehmung neu justiert wurde. In der lange anhaltenden Auseinandersetzung um das Verhältnis von Visualität und Taktilität kam der Berührung ein ungewöhnliches Maß an Aufmerksamkeit zu. Was mit John Lockes und George Berkeleys Überlegungen zur Sinneswahrnehmung von Blinden begonnen hatte, war in Frankreich durch Denis Diderots Lettres sur les Aveugles von 1749 und Etienne Bonnot de Condillacs Traité des Sensations von 1754 weitergeführt worden. Diderot bezeichnete im Taubstummenbrief das Auge als oberflächlichsten, den Tastsinn dagegen als den „gründlichsten und philosophischsten Sinn“20. In Deutschland wurde die Debatte

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Walter Gropius: Architektur. Wege zu einer optischen Kultur, Frankfurt/M. 1956, das im Jahr zuvor in New York unter dem Titel Scope of Total Architecture erschienen war. Helmuth Lethen: Versionen des Authentischen. Sechs Gemeinplätze, in: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 219. Martin Jay: Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought, Berkeley u. a. 1993, S. 149ff. Siehe den Titel von Jones’ Buch (wie Anm. 13). Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen 1995; Ulrike Zeuch: Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns in der frühen Neuzeit, Tübingen 2000. Zit. n. Hans Körner: Paragone der Sinne. Der Vergleich von Malerei und Skulptur im Zeitalter der Aufklärung, in: Ausst. Kat.: Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung, Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, München 1999, S. 365–378, hier S. 374.

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durch Herders Schriften zur Plastik aufgenommen. Condillac hielt den Tastsinn für denjenigen, der alle anderen Sinne koordiniere. Ähnlich wie Condillac nahm auch Herder an, dass der Taktus, weil er ontogenetisch der erste Sinn sei, notwendigerweise auch Lehrmeister aller anderen Sinne sein müsse. „Die Natur geht mit jedem einzelnen Menschen vom Fühlen zum Sehen, von der Plastik zur Piktur“. „Kommt in die Spielkammer des Kindes und sehet, wie der kleine Erfahrungsmensch fasset, greift, nimmt, wägt, tastet, misst, mit Händen und Füßen […] In wenigen Augenblicken lernt er da mehr und alles lebendiger, wahrer, stärker als ihm in zehntausend Jahren alles Angaffen und Worterklären beibringen würde“21. Doch trotz der starken Beachtung des Tastsinns – und das entsprach demselben entwicklungsgeschichtlichen Vorstellungshorizont – sollte taktile Erfahrung in optische Erkenntnis überführt werden: Schon das tastende Kleinkind verbindet, wie es bei Herder heißt, „Gesicht und Gefühl unaufhörlich“. In der weiteren Entwicklung war der Tastsinn in das Regime des Auges zu integrieren. So ging die Aufwertung des Tastsinns im späten 18. Jahrhundert z. B. mit der Sublimierung des taktilen Kunstgenusses einher: die tatsächliche körperliche Berührung selbst der Skulptur wurde im Erziehungsideal der Aufklärung, wie Hans Körner überzeugend dargelegt hat,22 geradezu systematisch abtrainiert. Daniel Chodowieckis Gegenüberstellung aus Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens sind visuelle Lehrstücke dieser Disziplinierung hin zu einer in das Auge hinein verlagerten Taktilität. Bei Herder heißt es über den Kunstliebhaber: „Was tut er nicht“, „um sein Gesicht zum Gefühl zu machen, zu schauen, als ob er im Dunkeln taste? […] sein Auge ward Hand, der Lichtstrahl Finger“.23 Der Primärsinn sollte durch Bildung in das Auge hinein verlagert werden. Das war die Kulturleistung, die jeder Einzelne zu vollbringen hatte. Von der primären, tastenden Orientierung in der Welt hatte sich der Kulturmensch zu emanzipieren, um zu einer integriert-optischen Erfahrung zu gelangen. Nur der altmodisch-skurrile Kunstsammler blieb im taktilen Begreifen und der erotischen Nahsicht des Liebhabers befangen, wie dies die Karikatur der Zeit um 1800 vielfach heraus stellte. Der handgreifliche Umgang mit dem Kunstwerk (Bild 3) war eine Frage des Besitzes, die im Zeitalter der Museumsgründungen und Überführungen 21 22 23

Johann Gottfried Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume (1768–1770), hg. von Lambert Schneider, Köln 1969, S. 36f. Hans Körner: Der fünfte Bruder. Zur Tastwahrnehmung plastischer Bildwerke von den Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: artibus et historiae XXI/42 (2000), S. 165–196. Johann Gottfried Herder: Von der Bildhauerkunst fürs Gefühl (1769), in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 8, hg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1892, S. 13.

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Bild 3 James Gillray: Der Connoisseur betrachtet eine Kupferminiatur (George III), 1792, kolorierte Radierung.

von privaten in öffentlichen Besitz von besonderer Brisanz war. Darauf nahm auch Johann Christian Hagedorn Bezug, der den Liebhabern vorhielt, Gemälde „mehr mit den Händen als mit den Augen [zu] beurtheilen“. Die glatten Bildoberflächen solcher Gemälde seien „minderen Kennern, aber freygebigen Liebhabern gefällig“.24 Dass körperliche Nähe und taktiler Zugriff auf Kunst auch heute an Besitz gebunden sind, thematisiert Louise Lawler in ihrer auf der vorletzten Documenta gezeigten Arbeit unter dem Titel Does it Matter, Who Ownes it?, in der sie ein Andachtsbild der Renaissance auf einem Schreibsekretär platzierte (Bild 4). Jenseits eines physischen Zugriffs ging es in der longue durée der Auseinandersetzungen um optische und haptische Potenziale der bildenden Kunst um die Verbindung der Sinnesempfindungen, also um eine multisensorische Wahrnehmung. Jacqueline Lichtenstern resümierte ihre Analyse des Verhältnisses von Sehen und Tasten in den Traktaten des 17. Jahrhunderts, indem sie Roger de Piles’ Forderung nach Berührung durch das Auge paraphrasierte: Vor den Augen der großen Koloristen habe der Betrachter den Eindruck, seine Augen

24

Johann Christian Hagedorn: Betrachtungen über die Mahlerey, 2 Bde., Reprint der Ausg. Leipzig 1762, Hildesheim u. a. 1997, Bd. 2, S. 756.

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Bild 4 Louise Lawler: „Does it matter who owns it?“ 1989–1990, Foto, New York, Metro Pictures Gallery.

seien Daumen.25 Auch finden sich in der Kunstliteratur vielfache Hinweise auf Faktur und Textur der Bildoberfläche als Angebote für das ‚tastende Auge’.26 Eine differenzierte Faktur der Bildoberfläche schien eine somatische Malerei zu erzeugen und das Haptische über den Visus einzuschleusen. Was eine solch physische Dimension der Bildoberfläche jenseits der Charakterisierung der dargestellten Stoffe leisten konnte, soll am Beispiel von John Constables Malerei näher skizziert werden.27 Als John Constable um 1820 eine ganz eigene Art des taktilen Bildes zu entwickeln begann, ging es dem Maler nicht um eine materialmimetische Darstellung rauer Felsen oder schorfiger Baumrinden, sondern darum, in seinen Landschaftsgemälden den Eindruck bewegten Lichts zu erzeugen. Dass für die Darstellung des ungreifbaren Lichts auf dem gewissermaßen ‚fertig‘ gemalten 25 26 27

Jacqueline Lichtenstein: La couleur éloquente. Rhétorique et peinture à l’âge classique, Paris 1999, S. 182. Karl Ludwig Fernow: Über den Begriff des Kolorits, in: Römische Studien, 2. Teil, Zürich 1806, S. 184. Der folgende Teil, der sich mit John Constable befasst, basiert auf meinem Aufsatz: Taktiles Sehen fluider Landschaften, in: Werner Busch unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (Hg.): Verfeinertes Sehen. Optik und Farbe im 18. und frühen 19. Jahrhundert, München 2008, S. 41–56.

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Bild 5 John Constable: Bauernhaus am Fluß, 1834, Öl auf Leinwand, Washington DC, The Phillips Collection.

Bild mit dem Palettenmesser unzusammenhängende Gespinste aus Hieben und Spritzern pastoser weißer Farbe dienten, erschien den Zeitgenossen befremdlich. Dieses oberste, fleckige Farbgespinst ist keinem Gegenstand zugehörig, sondern breitet sich über die gesamte Bildoberfläche aus. Es handelt sich nicht um die Textur eines dargestellten Bildelements, sondern das Gespinst schafft eine Textur des Bildes. Die weißen Farbhiebe und Kleckse wurden zum Markenzeichen von Constables Malerei (Bild 5). In den Augen vieler Kritiker zerstörten sie die lieblichen Sujets der englischen Coutryside, und damit „die Schönheit der englischen Landschaft“. Wie sattsam bekannt, wurden die Oberflächen von Constables Bildern von Kritikern über einen Zeitraum von zwanzig Jahren abwechselnd als „gehäckseltes Heu“, „Paniermehl“, als „Mörtel eines Gipsers“ oder gar als „zersplittertes Eis bei Nachtfrost im Morast“ und ähnlich handgreiflichen Dingen beschrieben.28 In der Mitte des Jahrhunderts kritisierte man Gustave Courbets Malerei mit ähnlichen Argumenten.29 Ich werde im Folgenden nicht weiter auf die vielfältigen Facetten dieser materialistischen Vorwürfe an Constable eingehen, sondern einen signifikanten 28 29

Vgl. Judy Crosby Ivy: Constable and the Critics: 1802–1837, Woodbridge u. a. 1991. Matthias Krüger: Das Relief der Farbe. Pastose Malerei in der französischen Kunstkritik 1850–1890, München 2007, S. 206–208.

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Strang der zeitgenössischen Rezeption näher betrachten. Er betrifft die bildliche Vermittlung spezifisch englischer Wettersituationen, die als somatische Erfahrung beschrieben wurden. In den zahlreichen Kritiken heißt es, Constables Gemälde vermittelten den Eindruck kühlen Regens. Sie seien „wohl während eines Regenschauers gemalt worden“, sie „fühlten sich an wie das typisch englische Klima“; als Höhepunkt des „aquatischen Charakters“ wurde mehrfach der Akademiepräsident Johann Heinrich Füssli zitiert. Er habe anlässlich der Ausstellung von Constables Bildern in der Royal Academy seinen Diener angewiesen: „John, bring me my umbrella – I’m going to see Meester Constable’s picture“.30 Constables Malerei stellte wie keine andere der ewigen Sonne von Claude Lorrains Ideallandschaften die „humid atmosphere“ des heimischen Klimas gegenüber. In diesen nationalen Landschaften schien es vorwiegend zu regnen. Das Wetter in Constables Malerei wurde als momentane Bewegung, als Ausdruck unbeständigen Wetters, eines vorübergehenden oder gerade abklingenden Schauers charakterisiert. Frische und Lebendigkeit gehörten ebenso zu den durchgängigen Charakterisierungen seiner Landschaften. Das ließe sich als Konvention abtun, doch stellt dies in Verbindung mit dem Regen ein so dominantes Rezeptionsmuster dar, dass es lohnt, den Ursachen genauer nachzughen. Denn wie in keinen anderen Gemälden der Zeit verbindet sich mit den Oberflächen von Constables Landschaftsbildern die Atmosphäre des Bildes mit derjenigen des Betrachterraums. Constable legte größten Wert darauf, seine Gemälde unter solchen Lichtbedingungen betrachtet zu wissen, unter denen er sie auch gemalt hatte. Das bedeutete eine niedrige Hängung und seitlich einfallendes Tageslicht.31 Das Streiflicht ruft winzige Schatten hervor, die von den verstreuten Farbhöhungen aus kompakten Bleiweiß herrühren, dem, was als „gehäckseltes Heu“ kritisiert wurde. Jeder der zahllosen weißen Farbgrate der Bildoberfläche wirft einen sich mit der Beleuchtungssituation des Betrachterraums verändernden Miniaturschatten auf das Bild. Je stärker Constable die Oberfläche des Bildes durch die weißen Hiebe zerklüftete, um so folgenreicher wurde das Licht des Betrachterraums für die Bildwirkung. Auch der mit dem Maler bekannte Chemiker und Hersteller von Künstlerfarben, George Field, von dem Constable seine Farben bezog, kam in seiner einflussreichen Grammar of Colouring, dem populärsten Handbuch der Malerei in England, auf diesen Effekt des Impasto zu sprechen. Die Schatten, welche durch „the parts thus mechanically raised are strongly illuminated by the light 30 31

Zitiert bei Crosby Ivy: Constable an the Critics (wie Anm. 28), S. 141, S. 147. Vgl. John Constable’s Correspondence, Bd. 6: The Fishers, hg. v. Ronald Brymer Beckett, Ipswich 1968, S. 53.

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impinging on their prominences these protuberances of paint will, of course, in certain lights, cast a shadow of their own“.32 Diese innerbildlichen, realen Schatten, den die Farbmaterie der weißen Spachtelhiebe werfen, wurden von Constable gezielt hervorgetrieben: Um den Schattenwurf zu steigern, legte er zwischen den unteren Malschichten und den weißen Hieben häufig einen glänzenden Firnis. Dadurch wird das Licht des umgebenden Raums besonders stark reflektiert und die entsprechenden Schatten der kleinen Farbgrate und Farbhügel zeichnen sich umso deutlicher ab. Berücksichtigt man, dass im Unterschied zur heutigen, völlig unveränderlichen, indirekten Museumsbeleuchtung Constables Gemälde in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in natürlichem, d. h. sich permanent veränderndem Licht betrachtet wurden, dann wird vorstellbar, in welchem Maße die Bedingungen, unter denen die Bilder gesehen wurden, selbst bildwirksam waren. Die innerhalb des Bildes dargestellte Lichtsituation und die Lichtsituation des Betrachterraums verschränkten sich, so dass man nicht allein von einer Subjektivierung des Sehens sprechen kann, sondern auch von einer somatischen Bilderfahrung. Die gängige Reaktion der zeitgenössischen Kritik auf Constables unregelmäßige Bildoberflächen war es, dem Betrachter zu empfehlen, die Bilder aus möglichst großer Distanz zu betrachten. Das war eine altbekannte Taktik. Doch Constable suchte, ebenso wie sein Malerkollege und Konkurrent, William Turner, eine Distanznahme auch bei öffentlichen Ausstellungen zu verhindern. Als 1824 mehrere Arbeiten Constables im Pariser Salon ausgestellt waren, wo sie großes Aufsehen erregten und einen Ehrenplatz in der Mitte der Wand erhielten, setzte er durch, dass sie umgehängt wurden, damit die „richness of the texture and the attention [paid] to the surface“ wahrgenommen werden konnten.33 Nur in der Nahsicht eines sich bewegenden Betrachters war die Interaktion von Bild und Betrachterraum zu erzielen. Die minimalen Veränderungen auf dem Bildkörper durch die Schatten werden zwar optisch wahrgenommen, erzeugen aber subtile somatische Effekte, weil dies mit der Lichtveränderung im Betrachterraum korrespondiert. Auch William Turner arbeitete an einer somatischen Wirkung seiner Gemälde, allerdings mit anderen Mitteln und anderen Effekten als Constable. Turners Lichtmalerei ist nicht durch ein erhabenes weißes Farbgespinst an der Bildoberfläche vermittelt, sondern über eine diffuse Farbräumlichkeit, die schon mit der ersten Farbschicht angelegt wird, der viele weitere Lasuren und Verwischungen folgen (Bild 6). Die Farben scheinen sich von der Bildfläche zu lösen 32 33

George Field: Grammar of Colouring, hg. v. Ellis A. Davidson, London 1877, S. 171. John Constable and Fisher 17.12.1824, zit. n. John Constable’s Correspondence (wie Anm. 31), S. 185.

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Bild 6 William Turner: Norham Castle bei Sonnenaufgang, 1835–1840, Öl auf Leinwand, London Tate Gallery. Bild 7 Olafur Eliasson: Your strange certainty still kept, Installation, 1996, New York, Tanya Bonakdar Gallery.

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Bild 8 James Turrell: Ganzfeld Piece, 2009, Installation, Kunstmuseum Wolfsburg.

und – wie Zeitgenossen es vielfach beschrieben – einen „unbestimmten Farbnebel“ zu erzeugen.34 Statt hellen Seitenlichts bevorzugte Turner ein gedämpftes, indirektes Oberlicht, wie er es in seinem privaten Ausstellungsraum einrichten ließ.35 Im schattenlosen, indirekten Licht wurde der Eindruck oszillierender, gegenstandsunabhängiger Farben verstärkt.36 Duldete Turner ausnahmsweise einmal Besucher in seinem Atelier, mussten sie – selbst wenn es sich um Auftraggeber wie den Earl of Egremont in Petworth House oder den berühmten Anatom und Zoologen Richard Owen handelte – zunächst in einem dunklen Raum warten, bis sich die Augen adaptiert hatten. Erst dann waren sie für die feinen, konturlosen Farbdifferenzierungen sensibilisiert. Die Konturlosigkeit von Turners Farbnebeln erzeugte bei Zeitgenossen den Eindruck, man müsse die Dinge ertasten, weil sie nicht klar und distinkt sichtbar waren. Indem Turner Farben nicht an Gegenstände band, also die Lokalfarben schwächte, schien sich die Farbigkeit von der Bildfläche abzulösen und gewissermaßen im Raum zu schweben.

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Vgl. Monika Wagner: William Turner, München 2011, Kap. 3. James Hamilton: Turner. A Life, London 1997, S. 213. Wagner: William Turner (wie Anm. 34), S. 14f.

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Nicht das empathische Eintauchen in ein Gemälde, sondern die psychophysische Interaktion war für die englischen Landschaftsmaler von Interesse. Aus heutiger Perspektive könnte man sagen, Turners und Constables Arbeiten waren Vorläufer von gegenwärtigen Erlebnisräumen, wie sie Olaffur Eliasson oder James Turrell gestalten. In dem stroboskopisch beleuchteten Wasserfall Eliassons (Bild 7) lassen sich – wenn auch in rasender Beschleunigung – Interaktionen von Bild- und Betrachterraum neu entdecken. Und Turners Farbnebel lassen sich bis hin zu Turrells betretbaren Farbräumen (Bild 8), in denen das farbige Licht wie eine taktile Materie erscheint, verfolgen. In all diesen Arbeiten geht es um eine Verbindung von Visus und Taktus, so dass das Auge nicht länger als uneingeschränkter „Herr“, über untergeordnete „Knechte“37 regiert. Gleichwohl bleibt es im Bereich der Bildkünste der entscheidende Akteur, der durch den Taktus sensibilisiert und optimiert wird. – Vielleicht lässt sich der Befund mit der Skulptur eines chinesischen Jahresgottes präzisieren (Bild 9), dem aus den Augen Hände wachsen. Zunächst war der spätere Gott Minister am Hofe des grausamen Königs Zhou, der ihn ungerechterweise blenden ließ. Draufhin legte ihm ein Heiliger goldene Perlen in die Augenhöhlen, woraus Hände wuchsen, auf denen neue Augen entstanden. Sie waren viel tauglicher als seine ursprünglichen Augen.38

Bild 9 Chinesischer Jahresgott, Bemalte Skulptur, Shanghai, Longhua Tempel.

37 38

Bei Jacob Grimm heißt es 1860: „Das Auge ist ein Herr, das Ohr ein Knecht“, s. Donat de Chapeaurouges gleichnamige Schrift, Wiesbaden 1983, S. 1. Die Erläuterungen zu dem Gott, dem Hände aus den Augen wachsen, verdanke ich Ni Shaofeng, Universität Hamburg.

AU T OR E N V E R Z E IC H N I S

JODI CRANSTON 1991 B.A. in Renaissance Studies an der Yale University, 1994 M. Phil. sowie 1998 Ph.D. in Kunstgeschichte an der Columbia University. Seit 1998 Associate Professor am Department of the History of Art & Architecture der Boston University. JORIS VAN GASTEL Studium der Kunstgeschichte und der Psychologie, B. A. und M.Phil. an der VU University Amsterdam, Ph.D. 2011 an der Universiteit Leiden. Fellowships am Royal Dutch Institute in Rom, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung, HU-Berlin, sowie der Fondazione Ermitage Italia, Ferrara. Seit Januar 2013 Research Fellow an der University of Warwick. YANNIS HADJINICOLAOU Studium der Kunstgeschichte, der Indischen Kunstgeschichte und der Neueren Geschichte in Berlin und Amsterdam; M.A. 2010 an der Freien Universität Berlin. Als Doktorand Stipendiat der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung HU-Berlin. PHILINE HELAS 1987–1993 Studium der Italianistik und Kunstgeschichte an der Universität Hamburg; M. A. 1993; 1993–1998 wiss. Mitarbeiterin an der HU-Berlin; 1997 Promotion ebenda. 2000–2002 PostDoc-Stipendium des KHI Florenz, anschließend bis 2005 wiss. Mitarbeiterin an der Universität Trier. Seit 2005 wiss. Mitarbeiterin an der Bibliotheca Hertziana in Rom, MPI. HANS KÖRNER Studium an den Universitäten in Würzburg, Salzburg und München; 1977 Promotion und 1986 Habilitation an der Ludwig-MaximiliansUniversität München; Seit 1992 Lehrstuhlinhaber am Seminar für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

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AUTORENVERZEICHNIS

MATTHIAS KRÜGER Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Anglistik an der Universität Hamburg; 2004 Promotion. 2005–2008 wiss. Mitarbeiter an den Universitäten Hamburg und Bern; 2009 wiss. Assistent an der OttoFriedrich-Universität Bamberg, anschließend bis 2012 wiss. Mitarbeiter an der LMU; seit Wintersemester 2012/13 Vertretung der Professur für moderne und zeitgenössische Kunst, Universität Hamburg. JOHANNES MYSSOK 1987/88–1992 Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Romanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; 1996 Promotion an der Westfälischen Wilhelms Universität Münster; 1996 wiss. Mitarbeiter am KHI in Florenz; 1998–2004 wiss. Assistent an der Universität Münster, 2004 Habilitation; ebenda bis 2009 wiss. Oberassistent. Seit 2009 Professor für Kunstgeschichte der Neuzeit an der Kunstakademie Düsseldorf. ALESSANDRO NOVA Studium der „Lettere e Filosofia“ mit Schwerpunkt Kunstgeschichte in Mailand und London. 1982 Ph.D. am Courtauld Institute of Art in London. 1986 Dottore di Ricerca an der Università degli Studi di Milano. 1988–1994 Assistant Professor, Stanford University, California, USA. Ab 1994 Professor für Kunstgeschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/M. Seit Juli 2006 Honorarprofessor an Universität Frankfurt/ M. und seit Oktober 2006 Direktor am KHI in Florenz, MPI. MARKUS RATH Studium der Kunstgeschichte und Französischen Philologie in Freiburg i. Br. und Berlin. M. A. 2008. Ab 2009 als Doktorand zunächst Stipendiat, ab 2010 wiss. Mitarbeiter der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung, HU-Berlin; ebenda Leiter des Forschungsschwerpunkts Das haptische Bild. Seit September 2012 Assistent des Direktors am Deutschen Forum für Kunstgeschichte Paris. PETER STEPHAN 1982–1989 Studium Alte Geschichte, Klass. Archäologie, Christliche Archäologie, Alte Kirchengeschichte und Patrologie in Freiburg und Heidelberg; M.A. 1990. 1990–1996 Studium der Kunstgeschichte und Klass. Archäologie in Würzburg und Freiburg, Promotion 1996. 1998–1999 Dozent am Institut für Internat. Kulturmanagement in Freiburg, sodann wiss. Mitarbeiter an der Friedrich Schiller-Universität Jena. 2006 Habilitation an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ab 2008 Forschungsprojekt der Gerda Henkel Stiftung. Seit WS 2011/12 Professor für Architekturtheorie an der FH Potsdam. JÖRG TREMPLER Studium der Kunstgeschichte und Deutschen Sprachwissenschaft an den Universitäten Passau, Amsterdam und Erlangen-Nürnberg. Promotion 2001 an der Universität Erlangen-Nürnberg. 2007–2008 Postdoktorand

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AUTORENVERZEICHNIS

am KHI in Florenz. Seit 2008 wiss. Mitarbeiter der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung, HU-Berlin; 2010 Habilitation ebenda. Vertretungsprofessuren in Greifswald, Jena und an der LMU. Zur Zeit Vertretungsprofessur an der Universität Passau. MONIKA WAGNER Studium der Malerei in Kassel, dann Kunstgeschichte, Archäologie und Literaturwissenschaft in Hamburg und London. Anschließend Assistentin an der Universität Tübingen. Leiterin des Funkkollegs Moderne Kunst. Seit 1987 Professorin für Kunstgeschichte am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg. IRIS WENDERHOLM Studium der Kunstgeschichte, Französischen Philologie und VWL in Hamburg, Neuchâtel und an der FU Berlin. 2002–2004 Assistentin des Vorstands bei der Kulturstiftung der Länder, Berlin. Promotion 2004 an der FU Berlin. 2004–2006 Museumsassistentin (i. F.) bei den Staatlichen Museen zu Berlin, 2007/2008 wiss. Mitarbeiterin an der Universität Frankfurt/M. 2008/2009 wiss. Mitarbeiterin an der FU Berlin, 2009 wiss. Assistentin an der TU Berlin. Seit Oktober 2009 Juniorprofessorin am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg.

BI L D N AC H W E I S E

Rath: Die Haptik der Bilder Bild 1: Hein-Theodor Schulze Altcappenberg: Die italienischen Zeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts im Berliner Kupferstichkabinett. Kritischer Katalog, Berlin 1995, S. 149. Bild 2: Philippe Morel/Daniel Arasse/Mario d’Onofrio (Hg.): L’art italien, Bd. I, Paris 1997, S. 615. Cranston: The Disordered Bed Figure 1: © bpk, Berlin, Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen, Dresden, Germany, Photo by Hans-Peter Klut, Art Resource, NY. Figure 2: © Réunion des Musées Nationaux, Louvre, Paris, France, Photo by Thierry Le Mage, Art Resource, NY. Figure 3–5: © Réunion des Musées Nationaux, Louvre, Paris, France, Photos by Erich Lessing, Art Resource, NY. Figure 6: © The J. Paul Getty Museum, Los Angeles. Wenderholm: The Gaze, Touch, Motion Figure 1: © Photo: Klaus Krüger. Figure 2: Florence, Private Collection. Figure 3: © Mailand, Soprintendenza PSAE per le province di Milano, Bergamo, su concessione del Ministero per i Beni e le Attività Culturali. Figure 4: © Lucca, Soprintendenza per i beni architettonici, per il paesaggio e per il patrimonio storico artistico ed etnoantropologico per le province di Lucca e Massa Carrara, Photo by Lucio Ghilardi, Pasadena (California), The Norton Simon Foundation. Figure 5: © Perugia, su gentile concessione della Soprintendenza BAPPSAE dell’Umbria – Perugia. Helas: Lebendes Bild – haptisches Bild Bild 1: © Hold your Horses, unter: http://vimeo.com/9752986 [27. 11. 2012]. Bild 2: © Foto: Philine Helas. Bild 3: © SMPK, Kupferstichkabinett, 78 D 5. Bild 4: © Biblioteca Apostolica Vaticana, Urb. lat. 899, fol. 11r. Bild 5: Privatbesitz, Archiv der Autorin. Bild 6: © Pinacoteca, Udine. Bild 7: Günter Brucher: Geschichte der venezianischen Malerei, Wien/Köln/ Weimar 2010, S. 388. Nova: Rosso Fiorentinos Christus in forma Pietatis Bild 1: David Franklin: Rosso in Italy. The Italian Career of Rosso Fiorentino, New Haven u.a. 1994, S. 143, Abb. 108. Bild 2: © bpk, Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin. Bild 3: Jane Martineau (Hg.): Andrea Mantegna, London/New York 1992, S. 244. Bild 4: Antonio Paolucci: Luca Signorelli, Florenz 1990, S. 77, Abb. 89. Bild 5: John Shearman: Andrea del Sarto, Vol. 1, Oxford 1965, Abb. 46a. Bild 6: Bernard Lamarche-Vadel: Michelangelo.

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BILDNACHWEISE

Leben und Werk, Stuttgart/Zürich 1989, S. 40. Bild 7: Gabriele Bartz/Eberhard König: Michelangelo Buonarroti. 1475–1564, Köln 1998, S. 67. Bild 8: Henri Zerner: L’art de la renaissance en France. L’invention du classicisme, Paris 1996, S. 82, Abb. 84. Stephan: Das verräumlichte Bild Bild 1: © Bildarchiv Kunstgeschichtliches Institut, Freiburg. Bild 2: Christina Strunck (Hg.): Rom. Meisterwerke der Baukunst von der Antike bis heute, Petersberg 2007, S. 129, Abb. 3. Bild 3 a, b: Carlo Pietrangeli: Santa Maria Maggiore a Roma, Florenz 1988, S. 156f. Bild 4: Carlo Pietrangeli: Santa Maria Maggiore a Roma, Florenz 1988, S. 154. Bild 5: Carlo Pietrangeli: Santa Maria Maggiore a Roma, Florenz 1988, S. 298. Bild 6: Elisabeth Kieven: Ferdinando Fuga, Rom 1988, S. 158, Abb. 50. Bild 7: Elisabeth Kieven: Ferdinando Fuga, Rom 1988, S. 159, Abb. 50. Bild 8: © Osservatore Romano, Rom. Bild 9: © Osservatore Romano, Rom. Bild 10: Giovanni Francesco Bordini: De rebus præclare gestis a Sixto V. Pont. Max., Rom 1588, S. 51. Körner: Giovanni Gonnelli Bild 1: Geza Révész: Die Formenwelt des Tastsinnes, 2 Bde., II: Formästhetik und Plastik der Blinden, Haag, 1938, S. 246. Bild 2, 5, 6, 7, 8, 10, 11, 12: Archiv des Autors. Bild 3, 4: John Pope-Hennessy: Catalogue of Italian sculpture in the Victoria and Albert Museum, Bd. 3, London 1964, S. 363. Bild 9: Geza Révész: Die Formenwelt des Tastsinnes, Bd. 2, Haag, 1938, S. 249. Bild 13, 14: Ludwig Münz/Viktor Löwenfeld: Plastische Arbeiten Blinder, Brünn 1934, S. 74. Bild 15: Hans Theodor Flemming: Ewald Mataré, München 1955, Abb. 1. Bild 16: Wolf Stubbe: Ernst Barlach. Plastik, München 1959, Abb. 81. Bild 17, 18: Hans Körner: Der fünfte Bruder. Zur Tastwahrnehmung plastischer Bildwerke von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Artibus et historiae. An art anthology, 4/XXI (2000), S. 167. Krüger: Paletten und Palettenbilder Bild 1: © Harvard Art Museums/Fogg Museum. Bild 2: David Bomford u. a. (Hg.): Art in the Making. Impressionism, New Haven/London 1990, S. 26. Bild 3: Aukt. Kat.: 123 Palettes d’Artistes peintes, Galerie Georges Petit, 10. Juni 1911, Paris 1911. Bild 4: Barbara Wittmann: Gesichter geben. Edouard Manet und die Poetik des Portraits, München 2004, S. 320. Bild 5: Laurence de Cars (Hg.): The Spectacular Art of Jean-Leon Gerome, Mailand 2000, S. 257. Bild 6: Anthea Callen: The Art of Impressionism. Painting Technique and the Making of Modernity, New Haven/London 2000, S. 141. Bild 7: Michel Schulman (Hg.) : Théodore Rousseau. Catalogue raisonné de l’œuvre peint, Paris 1999, S. 51. Bild 8: © Musée National Eugène Delacroix, unter: http://www.musee-delacroix.fr/spip. php?page=document&id_document=136 (30.11.2012). Bild 9: Ulrich Großmann (Hg.): Künstlerkolonien in Europa. Im Zeichen der Ebene und des Himmels, Nürnberg 2001, S. 290. Bild 10: André Alauzen/Pierre Ripert: Monticelli. Sa vie et son œuvre, Paris 1969, S. 443. Bild 11: Charles Garibaldi/Mario Garibaldi: Monticelli, Genf 1991, S. 39. Bild 12: Georges Raillard: Monticelli l’étrange, Marseille 2008, S. 233. Myssok: Bildhauerisches Denken Bild 1: Bruce Boucher (Hg.): Earth and Fire. Italian terracotta sculpture from Donatello to Canova, London/New Haven 2001, S. 127. Bild 2: Dario A. Covi: Andrea del Verrocchio. Life and Work, Florenz 2005, S. 232. Bild 3: Charles de Tolnay: Corpus dei disegni di Michelangelo, Bd. 1, Novara 1975, Kat. Nr. 561r. Bild 4: Charles de Tolnay: Corpus dei disegni di Michelangelo, Bd. 1, Novara 1975, Kat. Nr. 157r. Bild 5: © Foto : Johannes Myssok. Bild 6: Bruce Boucher (Hg.): Earth and Fire. Italian terracotta sculpture from Donatello to Canova, London/New Haven 2001, S. 39. Bild 7a: © Foto: Johannes Myssok. Bild 7b: Bruce Boucher (Hg.): Earth and Fire. Italian terracotta sculpture from Donatello to Canova, Lon-

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BILDNACHWEISE

don/New Haven 2001, S. 40. Bild 8: Archiv des Autors. Bild 9: Archiv des Autors. Bild 10: © Foto: Johannes Myssok. Bild 11: Bernard Andreae: Skulptur des Hellenismus, München 2001, Taf. 175. Bild 12: Le antichità di Ercolano esposte, Bd. 1, Neapel 1757, Taf. XV. Bild 13: © Museo Correr, Venedig. Bild 14: Klaus Parlasca (Hg.): Antike Motive bei Thorvaldsen. Studien zur Antikenrezeption des Klassizismus, Tübingen 1979, S. 62. Bild 15: © Foto: Johannes Myssok. van Gastel: Michelangelo’s Lesson Figure 1, 2: © Photos: Joris van Gastel. Figure 3: Volker Krahn: I bozzetti del Giambologna, in: Beatrice Paolozzi Strozzi/Dimitrios Zikos (Hg.): Giambologna. Gli dei, gli eroi, Florenz/ Mailand 2006, p. 47, fig. 3. Figure 4: Ivan Gaskell/Henry Lie (Hg.): Sketches in Clay for Projects by Gian Lorenzo Bernini. Theoretical, Technical, and Case Studies, in: Harvard University Art Museums Bulletin 6/3 (1999), p. 55, fig. 16. Hadjinicolaou: Malen, Kratzen, Modellieren Bild 1: Dordrechts Museum/Wallraf Richartz-Museum/Snoeck-Ducaju & Zoon (Hg.): Arent de Gelder [1645-1727]. Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, Gent 1998, S. 252. Bild 2a, 2b, 3a, 3b, 4a, 4b, 7b, 8a, 8b, 9b: © Foto: Yannis Hadjinicolaou. Bild 5: Dordrechts Museum/Wallraf Richartz-Museum/Snoeck-Ducaju & Zoon (Hg.): Arent de Gelder [1645-1727]. Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, Gent 1998, S. 205. Bild 6: Thijs Weststeijn: The visible world. Samuel van Hoogstraten´s Legitimation of Painting in the Dutch Golden Age, Amsterdam 2008, S. 218. Bild 7a: Dordrechts Museum/Wallraf Richartz-Museum/Snoeck-Ducaju & Zoon (Hg.): Arent de Gelder [1645-1727]. Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, Gent 1998, S. 141. Bild 7b: © Foto: Yannis Hadjinicolaou Bild 8a, 8b: Dordrechts Museum/Wallraf Richartz-Museum/Snoeck-Ducaju & Zoon (Hg.): Arent de Gelder [1645-1727]. Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, Gent 1998, S. 246f. Bild 9a: Dordrechts Museum/Wallraf Richartz-Museum/Snoeck-Ducaju & Zoon (Hg.): Arent de Gelder [1645-1727]. Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, Gent 1998, S. 246. Wagner: Das Auge ward Hand Bild 1: © Ulrike Gabriel, unter: http://www.asquare.org/networkresearch/wp-content/ uploads/2009/09/breath.jpg (30.11.2012). Bild 2: Anita Prammer: Valie Export. Eine multimediale Künstlerin, Wien 1988, S. 104. Bild 3: Archiv der Autorin. Bild 4: Dietmar Elger u.a. (Hg.): Die Orte der Kunst. Der Kunstbetrieb als Kunstwerk, Bonn 1994, S. 68. Bild 5: Leslie Parris/Ian Fleming-Williams (Hg.): Constable, Tate Gallery 1991, S. 374. Bild 6: Martin Butlin/Evelyn Joll: The Paintings of J.M.W. Turner, New Haven, London 1977, Nr. 458. Bild 7: Anna Engberg-Pedersen (Hg.): Studio Olafur Eliasson. An Encyclopedia, Köln 2008, S. 362. Bild 8: © James Turrell. Foto: Zooey Braun. Bild 9: © Foto: Monika Wagner.

ACTUS et I MAGO Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie Herausgegeben von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant Bilder sind keine Abbilder, sondern erzeugen im Bildakt, was sie darstellen. Sie verfügen über eine handlungsstiftende Kraft und wirken selbst lebendig. Bildkompetenz lässt sich keineswegs ausschließlich aus der traditionell überbewerteten Visualität des Menschen ableiten: Menschen reagieren auch deshalb auf Bilder, weil ihr unbewusstes neurologisches Körperschema, das aus der Integration taktiler, propriozeptiver, vestibulärer, visueller und akustischer Informationen entsteht, durch Bildschemata affiziert wird. Diese neuere Erkenntnis der Kognitionswissenschaften entspricht älteren Vorgaben der Verkörperungsphilosophie, die eine genuine Tradition im europäischen Sprachraum hat. In den Studien der Reihe „Actus et Imago“ wird eine Bild- und Verkörperungstheorie entwickelt, die in der Lage ist, Bildproduktion, Bildverstehen und Bildakte zu erklären. Im Ausgang vom belebten Leib leisten sie einen Beitrag zum Verständnis des menschlichen Reflexionsvermögens, das sich in ikonischen wie sprachlichen Formen und Interaktionen verkörpert.

In der Reihe sind bereits erschienen: BAND 1

Sehen und Handeln hrsg. von Horst Bredekamp und John M. Krois ISBN 978-3-05-005090-4

BAND II

John Michael Krois. Bildkörper und Körperschema hrsg. von Horst Bredekamp und Marion Lauschke ISBN 978-3-05-005208-3

BAND III

Thomas Gilbhard Vicos Denkbild. Studien zur „Dipintura“ der „Scienza Nuova“ und der Lehre vom Ingenium ISBN 978-3-05-005209-0

BAND IV

Stefan Trinks Antike und Avantgarde. Skulptur am Jakobsweg im 11. Jahrhundert: Jaca – León – Santiago ISBN 978-3-05-005695-1

BAND V

Das bildnerische Denken: Charles S. Peirce hrsg. von Franz Engel, Moritz Queisner und Tullio Viola ISBN 978-3-05-005696-8

BAND VI

Verkörperungen hrsg. von André L. Blum, John M. Krois und Hans-Jörg Rheinberger ISBN 978-3-05-005699-9

B A N D V I I I John Bender, Michael Merrinan Kultur des Diagramms ISBN 978-3-05-005765-1 BAND IX

Bodies in Action and Symbolic Forms. Zwei Seiten der Verkörperungstheorie hrsg. von Horst Bredekamp, Marion Lauschke und Alex Arteaga ISBN 978-3-05-006140-5

BAND X

Ulrike Feist Sonne, Mond und Venus. Visualisierungen astronomischen Wissens im frühneuzeitlichen Rom ISBN 978-3-05-006365-2

BAND XI

Paragone als Mitstreit hrsg. von Joris van Gastel, Yannis Hadjinicolaou und Markus Rath ISBN 978-3-05-006425-3