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German Pages [363] Year 2011
P ICT U RA E T P O E S I S Interdisziplinäre Studien zum Verhältnis von Literatur und Kunst Herausgegeben von Joachim Gaus Christel Meier
Ulrich Ernst .
.
Band 29
Memento mori Bild und Text in Totentänzen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit
von Susanne Warda
2011 B Ö HLAU V E RL AG KÖ LN WEI MA R WI EN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Friedrich Blume und Else Jebse-Stiftung, Lübeck
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Berner Totentanz des Niklaus Manuel (zwischen 1515 und 1519): Patriarch und Bischof. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Dimograf Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Austria ISBN 978-3-412-20422-8
VORWORT Mein besonders herzlicher Dank gilt der Friedrich Bluhme und Else JebsenStiftung, Stockelsdorf, ohne deren Unterstützung die Drucklegung dieser Arbeit in der vorliegenden Form nicht möglich gewesen wäre. Ebenso zu Dank verpflichtet bin ich den Herausgebern, Frau Prof. Dr. Christel Meier und Herrn Prof. Dr. Ulrich Ernst, die die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Pictura et poesis ermöglichten, sowie der kompetenten Beratung des Böhlau-Verlags, in erster Linie Frau Elena Mohr und Frau Sandra Hartmann. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Hartmut Freytag, der meine Arbeit durch ihre gesamte Entstehungszeit begleitet und mich auch darüber hinaus stets gefördert hat, sowie Frau Prof. Dr. Ingrid Schröder, die im Promotionsverfahren als Zweitgutachterin fungierte und der ich ebenfalls wertvolle Anregungen und Unterstützung verdanke. Nicht zuletzt gilt ein besonderer Dank meinen Freunden und Angehörigen, vor allem meinen Eltern, die mir immer geduldig mit Hilfe und Ermutigung zur Seite gestanden haben. Die inhaltlichen Arbeiten an der vorliegenden Untersuchung waren im wesentlichen im März 2008 abgeschlossen. Forschungsliteratur, die erst nach diesem Zeitpunkt erschienen ist bzw. mir zugänglich wurde, konnte nur noch punktuell berücksichtigt werden. Hamburg, im Dezember 2010
Susanne Warda
INHALTSVERZEICHNIS 1.
Einleitung.................................................................................................. 11
1.1.
Bemerkungen zum Korpus der untersuchten Totentänze ......................... 13
2.
Theoretischer Teil ..................................................................................... 15
2.1.
Kurzer Abriß der Forschungsgeschichte zum Thema Text und Bild........ 15
2.2.
Grundsätzliches zur Verbindung von Text und Bild ................................ 19
2.2.1. 2.2.2. 2.2.3.
Semiotische Grundlagen der Bild-Text-Kommunikation ......................... 19 Bildlektüre – Lesen von Bildern ............................................................... 29 Exkurs: Sind Totentänze narrativ?............................................................ 33
2.3.
Grundsätzliches zur Bimedialität von Totentänzen .................................. 37
2.3.1.
2.3.6.
Grundfragen bei der Untersuchung von Text-Bild-Beziehuhgen in Totentänzen........................................................................................... 37 Zum Stand der Totentanz-Forschung – Kurzer Überblick........................ 41 Zu den möglichen Ursprüngen der Totentänze: Vorstellung verschiedener Ansätze........................................................... 45 Aspekte des Raumes – Monumentaler Totentanz vs. Buchtotentanz ....... 57 Wie entstand ein Totentanz? Praktisches Vorgehen bei der Zusammenstellung von Texten und Bildern ............................................. 63 Zur Bedeutung von Restaurierungen und Umgestaltungen ...................... 66
3.
Einzeluntersuchungen der Totentänze ...................................................... 69
3.1.
Die niederdeutschen Totentänze ............................................................... 69
2.3.2. 2.3.3. 2.3.4. 2.3.5.
3.1.1. Der Totentanz in der Lübecker Marienkirche von 1463........................... 69 3.1.1.1. Der spätmittelalterliche Totentanz in seiner ursprünglichen Form........... 69 3.1.1.2. Der neue Text Schlotts im Verhältnis zum Bild ....................................... 77 3.1.2. Die Inkunabel Des dodes dantz, Lübeck 1489.......................................... 84 3.1.3. Der Frühdruck Dodendantz, Lübeck 1520................................................ 98
8
3.1.4. 3.1.5.
Inhaltsverzeichnis
3.1.6. 3.1.7. 3.1.8.
Der Berliner Totentanz ........................................................................... 106 Der Prosa-Totentanz in Hermann Botes „Hannoverscher Weltchronik“................................................................ 120 Die Wismarer Totentänze ....................................................................... 126 Das Westfälische Totentanzfragment ..................................................... 130 Der dänische Totentanz, Kopenhagen 1550 ........................................... 132
3.2.
Die mitteldeutschen Totentänze.............................................................. 140
3.2.1. Der mittelrheinische Totentanz............................................................... 140 3.2.1.1. Der Knoblochtzer-Druck ........................................................................ 142 3.2.1.2. Die Kasseler Handschrift ........................................................................ 156 3.2.1.3. Die Zimmernsche Handschrift................................................................ 168 3.2.1.4. Der Totentanz von Kienzheim ................................................................ 178 3.2.1.5. Der Nordböhmische Totentanz ............................................................... 190 3.2.1.6. Seitenblick: Die mittelniederländische Totentanz-Überlieferung........... 194 3.3.
Die oberdeutschen Totentänze................................................................ 199
3.3.1. Der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text ......................................... 199 3.3.1.1. Die lateinisch-deutsche Mischfassung.................................................... 204 3.3.1.2. Das Heidelberger Blockbuch .................................................................. 210 3.3.1.3. Das Münchner Blockbuch....................................................................... 217 3.3.1.4. Ein Sonderfall: Der Gossembrot-Totentanz............................................ 222 3.3.2. Die Basler Totentänze............................................................................. 225 3.3.2.1. Der Basler Totentanz auf dem Friedhof der Predigerkirche – Überblick ..................................................................... 226 3.3.2.2. Die Restaurierung durch Hans Hug Kluber im Jahre 1568 .................... 233 3.3.2.3. Hulderich Frölichs Totentanz-Drucke .................................................... 240 3.3.2.4. Die neuentdeckte Gouachenfolge des Basler Totentanzes ..................... 247 3.3.2.5. Merians Kupferstiche.............................................................................. 250 3.3.2.6. Der Basler Totentanz in Beziehung zum Klingentaler Wandgemälde ... 255 3.3.2.7. Die Bedeutung der restaurierten Originalfragmente............................... 263 3.3.2.8. Schlußfolgerungen: Bild und Text im Basler Totentanz ........................ 265 3.3.3. Der Berner Totentanz.............................................................................. 269 3.3.3.1. Der Berner Totentanz und seine Stellung in der oberdeutschen Überlieferung .......................................................................................... 269 3.3.3.2. Bild und Text im Berner Totentanz ........................................................ 283 3.3.4. Die Todesbilder von Hans Holbein dem Jüngeren – Ausblick in die Frühe Neuzeit ................................................................ 291 3.4.
Exkurs: Totentänze außerhalb des deutschen Sprachraums ................... 304
4.
Bild und Text in Totentänzen – Ergebnisse ............................................ 307
Inhaltsverzeichnis
9
4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.1.3.
Texttraditionen – Bildtraditionen............................................................ 307 Die niederdeutschen Totentänze ............................................................. 307 Die mitteldeutschen Totentänze.............................................................. 309 Die oberdeutschen Totentänze................................................................ 310
4.2.
Gegenseitige Bezugnahme und Zusammenwirken von Text und Bild... 313
4.3.
Text und Bild und ihre spezifischen Aufgaben in den Totentänzen ....... 318
5.
Schlußbemerkung ................................................................................... 325
Anhang ................................................................................................................ 327 Tabellen und Übersichten zu den untersuchten Totentänzen............................... 329 Tabelle 1: Der Kienzheimer Totentanz im Vergleich zur ober- und mitteldeutschen Überlieferung ............................................ 329 Tabelle 2: Synoptische Tabelle der Figurenreihenfolge in den Textund Bildzeugen des mittelrheinischen Totentanzes............................. 331 Tabelle 3: Modell des letzten Teils des Basler Totentanzes auf der Friedhofsmauer des Predigerklosters................................................... 333 Tabelle 4: Synoptische Tabelle zum Basler Totentanz, Klingentaler Totentanz und oberdeutschen vierzeiligen Totentanz ......................... 334 Literaturverzeichnis ............................................................................................. 336 Abkürzungen........................................................................................................ 347 Bibelstellen-Register............................................................................................ 348 Stichwortverzeichnis............................................................................................ 348 Benutzungshinweis zu der beigelegten CD-ROM ............................................... 350 Bildnachweis........................................................................................................ 351
1. EINLEITUNG Totentänze sind eine der zahlreichen Bild und Text vereinenden Kunstformen des ausgehenden Mittelalters; ihre Verbreitung ist mehr oder weniger über den gesamten europäischen Raum gefächert. So finden sie das Interesse zahlreicher Philologien und fallen auch in den Zuständigkeitsbereich mehrerer Disziplinen,1 etwa der Literaturwissenschaft und der Kunstgeschichte; aber auch Musikwissenschaft, ethnologische Richtungen sowie die Medizin bzw. Medizingeschichte befassen sich mit Totentänzen, ebenso wie aus Sicht der Theologie Anhaltspunkte für die Untersuchung der Gattung2 gegeben sind. Eine umfassende Behandlung dieses Genres bedingt so notwendigerweise die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen bzw. eine Grenzüberschreitung des jeweils eigenen Fachgebiets. Die ausführlichsten Untersuchungen zu spätmittelalterlichen Totentänzen sind wohl auf dem Gebiet der mediävistischen Literaturwissenschaft entstanden. Dies brachte es allerdings mit sich, daß oftmals lediglich die Texte untersucht wurden und man den Bildern nur einen marginalen Platz in den Forschungen zugestand; natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, wie etwa den Lübecker Totentanz in der Marienkirche von 1463, der sowohl in Text als auch Bild ausführlich behandelt wurde. Die Kehrseite ist eine nur ikonographische Betrachtung, die den Textbestand außer acht läßt, wie z.B. die Publikation von Heiss zum Zimmernschen Totentanz. Anschaulich und treffend spricht Ott vom „Oszillieren“ des Totentanzes zwischen verschiedenen Überlieferungsmedien.3 Diese Kunst- und Literaturgattung sei „nur zu greifen als Einheit aus Text und Bild“4 und erfordere daher für die adäquate Untersuchung einen interdisziplinären Ansatz. Wenn also nach weitge-
1 2
3 4
Koller spricht von der „unglücklichen Zwitterstellung“ der Totentänze zwischen Literaturwissenschaft und Geistes- bzw. Kulturgeschichte (Koller, S. 10). Der Begriff ‚Gattung’ wird in der vorliegenden Arbeit – im Bewußtsein der allgemein uneinheitlichen Begriffsverwendung – im Sinne von ‚Dichtungsform’ gebraucht, d.h. es wird damit ein spezifischer, durch seine verschiedenen inhaltlichen und formalen Merkmale von anderen Texten abgegrenzter Typ von Literatur bezeichnet; im gleichen Sinne verwende ich den Terminus ‚Genre’ (vgl. z.B. auch den Artikel ‚Gattungen’ in: Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, 7., verb. u. erw. Aufl. Stuttgart 1989, S. 320-322; Wilpert spricht hier von „schwankender Terminologie“ [S. 320]). Meine Begriffsverwendung entspringt der Ermangelung einer deutlicheren und sprachlich gangbaren Alternative und nimmt dabei in Kauf, nicht mit dem Sprachgebrauch eines Großteils der Forschung übereinzustimmen. „Kaum ein Gegenstand (spät-)mittelalterlicher Kultur oszilliert so grundsätzlich zwischen den Darstellungs- und Überlieferungsmedien Literatur, bildende Kunst – und Musik – wie der Totentanz [...]“ (Ott, Rezension, S. 466). Ebd.
Einleitung
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hend übereinstimmender Ansicht in der Forschung die Bimedialität5 eines der konstitutiven Merkmale des Genres ‚Totentanz’ ausmacht,6 verdienen nicht nur beide Medien eine ausführliche Untersuchung, sondern es sind auch speziell die Bedingungen dieser gleichzeitigen Realisierung in zwei Kommunikationsformen zu erforschen. In der vorliegenden Arbeit soll daher der Frage nachgegangen werden, wie Text und Bild in Totentänzen zusammenwirken, um deren Intention – das mahnend-belehrende, aber auch tröstende memento mori – auf den Weg zu bringen; ebenso wie das Problem im Vordergrund stehen wird, auf welche Weise den einzelnen Medien spezifische, ihrer Wesensart gemäße Aufgaben zugewiesen werden und an welchen Stellen bzw. in welcher Form Text und Bild aufeinander Bezug nehmen und miteinander korrespondieren oder auch voneinander divergieren. Hierzu ist es zunächst nötig, in einem theoretischen Teil Grundbedingungen der Bimedialität zu behandeln, wobei zuerst grundlegende semiotische Aspekte festgehalten werden und in einem zweiten Schritt der spezifische Bezug auf die Bild-Text-Kommunikation in spätmittelalterlichen Totentänzen hergestellt wird. Der dann folgende Analyseteil beschäftigt sich mit der Detailuntersuchung der Totentänze. Da die Überlieferung der Totentänze ein sehr weites, in der Fülle der Zeugen kaum überschaubares Feld einnimmt, beschränkt sich die vorliegende Arbeit zum einen auf den deutschen Sprachraum und setzt zum anderen den Schwerpunkt im Spätmittelalter, d.h. im Blickpunkt werden vorwiegend Werke aus dem 15. und 16. Jahrhundert stehen. Frühneuzeitliche Totentänze werden nur vereinzelt angesprochen; daher schließt die Betrachtung mit den in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts entstandenen Todesbildern Holbeins ab. Diese Zäsur ist zugleich eine natürliche, die sich gleichsam anbietet, erlebt die Gattung der Totentänze im Spätmittelalter doch ihren Höhepunkt. In der Neuzeit lösen sich die alten Formen teilweise auf; angesichts veränderter Zeitbedingungen und Geisteshaltungen existiert das Genre nun unter anderen Voraussetzungen. Die deutschsprachigen Totentänze lassen sich in drei größere Überlieferungskreise einteilen: die nieder-, mittel- und oberdeutschen Text- und Bildzeugen.7 Nach einer theoretischen Grundlegung werden die wichtigsten Vertreter der geEinleitung
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7
Zur Begriffsverwendung siehe Abschnitt 2.2.1. Neben Ott (siehe oben) findet auch Kaiser, S. 23: „Text und Bild gehören notwendig zusammen“; ebenso Freytag, Totentanz 1463, S. 14: „Der Totentanz setzt das Miteinander von Text und Bild voraus“; vgl. auch Ehrmann-Herfort: „Entscheidend bestimmt ist der spätmittelalterliche Totentanz durch die Bimedialität von Text und Bild“ (Ehrmann-Herfort, Sp. 683), auch Kiening gehört zu den wenigen, die sich explizit der Text-Bild-Thematik der Totentänze zuwenden (vgl. Kiening, Ambivalenzen, S. 44-48); siehe auch den Abschnitt über die Gattungskriterien in Kapitel 2.3.1. „Grundfragen der Untersuchung von Text-Bild-Beziehungen in Totentänzen“. Es ist zu beachten, daß es trotz der relativen Eigenständigkeit der drei Gruppen Überschneidungen gibt sowie Einzelfälle, die sich nicht klar zuordnen lassen. Die zumeist nach der Herkunft der Handschriften und nicht nach der Herkunft der Texte selbst getroffene geographische Zuordnung mag zusätzlich im einen oder anderen Fall Verwirrung stiften. In diesem Sinne ist die hier gewählte Aufteilung grundsätzlich relativierbar und als Annäherung zu verstehen, die im Dienste der Übersichtlichkeit steht und vorrangig den Zweck eines Arbeitsinstrumentes erfüllt (vgl. zur Begrifflichkeit der Einteilungen Anm. 491).
Korpus der untersuchten Totentänze
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nannten Gruppen einzeln betrachtet; dabei sollen die oben aufgeführten Problemkreise durch Untersuchung des Text- und Bildmaterials behandelt werden. Ausgangspunkt ist die Hypothese, daß Bild und Text in den spätmittelalterlichen Totentänzen eine integrale Verbindung eingehen und in einem Großteil der Fälle ein Beziehungsgeflecht aufbauen, das eine besonders eindrückliche Realisierung des gattungsinhärenten memento mori gewährleistet. Am Ende werden in einem Überblick die gewonnenen Ergebnisse nebeneinander gestellt und verglichen, um abschließend feststellen zu können, ob die Ausgangsthese in dieser Form gehalten werden kann. Korpus der untersuchten Totentänze
1.1. Bemerkungen zum Korpus der untersuchten Totentänze Da die vorliegende Arbeit sich den deutschsprachigen spätmittelalterlichen Totentänzen widmet, wurde die Auswahl zunächst anhand zweier grundsätzlicher Kriterien getroffen: Die untersuchten Text- und Bildzeugen mußten zum einen aus dem deutschsprachigen Raum stammen – was im Mittelalter einen größeren Umkreis umfaßt als heutzutage, da nicht nur Österreich und die Schweiz, sondern auch von der Hanse beeinflußte Gebiete hierzu gehören; daher liegt mit dem Revaler Totentanz auch ein deutscher Text aus dem Baltikum vor. Totentänze aus anderen europäischen Gebieten werden nur marginal miteinbezogen, z.B. wenn es um französische Vorbilder der nieder- und mitteldeutschen Texte geht, oder wenn zum Zwecke des Vergleichs ein Seitenblick auf anderssprachige Traditionen geworfen wird. Zum anderen bedingt diese Beschränkung eine zeitliche Grenze. Mit der Frühen Neuzeit8 ändern sich, z.B. durch die Verbreitung des Buchdrucks, nicht nur die Überlieferungsgegebenheiten und Rezeptionsbedingungen von Totentänzen, sondern es schlagen sich auch veränderte Einstellungen zum Tod im allgemeinen und zum Aussagegehalt der Totentänze nieder; ebenso wie die Reformation Auswirkungen zeigt. Insgesamt ist das Genre der Totentänze ca. ab dem 16./ 17. Jh. – ein genauer Zeitpunkt läßt sich hier natürlich nicht festmachen, und es gibt auch regional starke Unterschiede – derart vielen Veränderungen unterworfen, daß das „idealtypische“ Muster des spätmittelalterlichen Totentanzes9 weitgehend verlassen wird. Daher beschäftigen sich die folgenden Untersuchungen im wesentlichen mit den Totentänzen des 15. und teilweise auch noch des 16. Jahrhunderts, was vereinzeltes Einbeziehen späterer Totentänze nicht ausschließt.
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Zur Problematisierung und zeitlichen Abgrenzung des Begriffs ‚Frühe Neuzeit’ siehe z.B. Kai Bremer: Literatur der Frühen Neuzeit. Reformation – Späthumanismus – Barock (UTB 3164). Paderborn 2008, S. 11f. Vgl. den Kriterienkatalog in Abschnitt 2.3.1.
Einleitung
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Des weiteren sollten in diesem Rahmen all diejenigen Totentänze behandelt werden, die gewissermaßen den „Kernbestand“ der bisherigen Forschung ausmachen und in den meisten Standardwerken der Totentanz-Literatur Erwähnung finden.10 Neben den Totentänzen, die aufgrund ihres hohen Bekanntheitsgrades in der Forschung sehr präsent sind, habe ich jedoch auch bewußt Werke ausgewählt, die allgemein weniger im Fokus des Interesses stehen, aber nichtsdestotrotz viel zur Erhellung der Thematik beitragen können, wie z.B. den Kienzheimer Totentanz. Insgesamt wurden die mitteldeutschen Totentänze bisher weniger untersucht als die nieder- und oberdeutschen Texte und Bilder; in den folgenden Analysen besitzen jedoch der mittelrheinische Totentanz und seine Ausläufer einen sehr wichtigen Stellenwert. Einleitung
Außerdem ist die Auswahl der untersuchten Totentänze einerseits durch Vielfalt begründet, um möglichst viele verschiedene Vertreter der unterschiedlichen Formen – Handschrift, Druck, Monumentalgemälde – einzuschließen, auf der anderen Seite werden einige Denkmäler bewußt ausgegrenzt. Hierbei handelt es sich um all diejenigen Fälle, in denen zuwenig vom Bild oder vom Text überliefert ist, um gesicherte Erkenntnisse zu gewinnen, mit deren Hilfe sich die Endergebnisse stützen ließen; dazu gehören z.B. der Metnitzer, der Straßburger und der Ulmer Totentanz.11 Zunächst mag es im Rahmen der übergreifenden Fragestellung ‚Text und Bild’ etwas verwundern, daß vereinzelt auch Totentänze berücksichtigt werden, die nur eine der beiden Komponenten aufweisen. Wenngleich die Text-Bild-Synthese im allgemeinen als konstitutiv für das Genre Totentanz begriffen wird, lohnt sich in einigen speziellen Fällen dennoch ein Blick auf diejenigen Gattungsvertreter, die dieses Kriterium nicht aufweisen, wie z.B. der Nordböhmische Totentanz, der unbebildert ist. Gerade aus der Abwesenheit der Bildkomponente können nämlich in solchen Fällen u.U. wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, was z.B. Kompensationsstrategien des Textes angeht, der die Abwesenheit von Bildern auffangen muß. So erhärtet sich gerade durch die Fälle, in denen nur eines der beiden Medien vorhanden ist, die These, daß beide Aussageebenen, Text und Bild, für eine gelungene Umsetzung der Gattungsintentionen vonnöten sind. Aus diesem Grund finden sich im Korpus der untersuchten Totentänze auch einige Werke, die keine Zusammenstellung von Bild und Text bieten.
10 11
Vgl. auch den Forschungsbericht in Abschnitt 2.3.2. Informationen zu all diesen Totentänzen finden sich bei Sörries, Katalog, und Hammerstein, Tanz und Musik (Beschreibendes Verzeichnis).
2. THEORETISCHER TEIL 2.1. Kurzer Abriß der Forschungsgeschichte zum Thema ‚Text und Bild’ Gerade auch in jüngerer Zeit widmet die Forschung sich vermehrt der Untersuchung von Verbindungen der beiden Medien Text und Bild. Schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts erlangte dieses Forschungsgebiet Aufmerksamkeit, ausgehend von Arbeiten wie Wölfflins „Grundbegriffen“.12 Für die dreißiger Jahre konstatieren Meier/ Ruberg ein „Verstummen“13 der Diskussion, dann jedoch eine erneute Wiederbelebung um 1950. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist die Weiterentwicklung des Themas zu beobachten, indem sowohl ältere Überlegungen modifiziert als auch neue Fragestellungen gefunden werden. Wichtige Beiträge zur weiteren Erforschung des Themas durch Ansätze aus verschiedenen Richtungen leisteten unter anderem K. Weitzmann,14 W. Stammler,15 F. P. Pickering16 und H. Kuhn.17 Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erlebt die Bild-Text-Forschung eine regelrechte „Renaissance“,18 wie Dirscherl es ausdrückt; dies läßt sich unter anderem an der großen Zahl von (Sammel-)Publikationen in den letzten 25 Jahren ermessen, die z.T. aus Fachtagungen hervorgegangen sind.19 An der Bearbeitung des Gebiets hat auch die Mediävistik einen nicht unerheblichen Anteil, denn
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Vgl. H. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. München 1915. Meier/ Ruberg, S. 11. Vgl. K. Weitzmann: Illustrations in Roll and Codex. A Study on the Origin and Method of Text Illustration. Princeton 1947. Vgl. W. Stammler: Wort und Bild. Studien zu den Wechselbeziehungen zwischen Schrifttum und Bildkunst im Mittelalter. Berlin 1962; dazu auch Curschmann, Wolfgang Stammler und die Folgen. F. P. Pickering: Literatur und darstellende Kunst im Mittelalter. Berlin 1966. H. Kuhn: Struktur und Formensprache in Dichtung und Kunst. In: H. K.: Dichtung und Welt im Mittelalter (Hugo Kuhn, Kleine Schriften). 2., unv. Aufl. Stuttgart 1969, S. 15-21. Dirscherl, Elemente, S. 3. Zu erwähnen wären hier beispielsweise Meier/ Ruberg sowie Harms. – Mittlerweile ist das Schrifttum zu diesem Thema zu fast unüberschaubarer Fülle angewachsen. Die Beliebtheit der Thematik ist zu einem gewissen Teil sicherlich auch der Verwendung neuer Reproduktionstechniken geschuldet, die verschiedenstes Bildmaterial einer breiten Fachöffentlichkeit so zugänglich machen wie nie zuvor (vgl. auch Curschmann, Wolfgang Stammler und die Folgen, S. 116).
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Theoretischer Teil der Zeugnisbestand der mittelalterlichen Überlieferung weist Kombinationen von Text und Bild in relativ hoher Zahl auf. Die Verbindung beider Medien geht durch fast alle Gattungen der Literatur wie der bildenden Kunst dieser Epoche.20
Die Bearbeitung der Text-Bild-Thematik erfordert in hohem Maße interdisziplinäre Vorgehensweisen, die jedoch auch Gefahren mit sich bringen. So stellt Curschmann die Notwendigkeit genauer Gebiets- und Begriffsbestimmungen heraus;21 Wolf gesteht des weiteren zu, „dass Intermedialitätsforschung [zu der auch Bild-Text-Forschung gehört] immer eine Grenzüberschreitung bedeutet und damit den einzelnen Forscher das sichere Terrain das eigenen Fachgebietes [...] überschreiten läßt“.22 Dennoch ist eine solche Herangehensweise die einzige Möglichkeit, Text-Bild-Kombinationen adäquat untersuchen zu können, um nicht der Einseitigkeit und Simplifizierung zu erliegen. Wolf folgert: Gerade in unserer zunehmend medienbestimmten und medienbewussten Zeit ist es sinnvoll, wenn sich jeder Fachgelehrte eines bestimmten Mediums wenigstens mit einem weiteren be23 nachbarten auseinandersetzt.“ Theoretischer Teil
Auch Benthien und Velten weisen explizit darauf hin, daß gerade bei der TextBild-Thematik inter- und transdisziplinäre Vorgehensweisen das Mittel der Wahl seien; sie sehen diese Feststellung jedoch zusätzlich in einem größeren kulturwissenschaftlichen Kontext, in den neuere Bestrebungen innerhalb der Germanistik die traditionelle Philologie einzuordnen suchen. Dies ermöglicht nicht nur eine Öffnung für neue Konzepte, sondern auch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Zeichen eines neuen „Globalparadigmas“, nämlich dem der Kulturwissenschaft.24 Spricht man von Text-Bild-Forschung, muß man zudem zwischen verschiedenen Richtungen und Schwerpunktsetzungen unterscheiden. Ein Teil der Untersuchungen beschäftigt sich mit dem Thema mehr unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Beziehungen zwischen bildender Kunst und Literatur. Ein anderer Teil der Forschungen ist semiotisch ausgerichtet und hinterfragt die „medienspezifischen semiotischen Strukturen“25 in der Art, wie sie für sich allein funktionieren, Sinn erzeugen und schließlich in der Kombination von Texten und Bildern zusammen20 21 22 23 24
25
Meier/ Ruberg, S. 9. Vgl. Curschmann, Wolfgang Stammler und die Folgen, S. 117. Wolf, Intermedialität: Ein weites Feld, S. 187f. Ebd., S. 188. Vgl. Benthien/ Velten, bes. S. 7-22; hier S. 17f.; siehe auch S. 24: Bei einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung „findet nicht notwendig eine Überforderung, sondern eher so etwas wie eine Kompetenzverlagerung statt: weg von einer fachsystematischen Orientierung und hin zu einer Konzentration auf konkrete kulturelle Phänomene in ihrer je historischen Ausprägung, wobei Untersuchungskorpus und Herangehensweise ebenso vom bearbeiteten Gegenstand mitbestimmt werden.“ Ähnlich betont Wenzel, vor allem auch bei mediengeschichtlichen Aufgabenstellungen werde die „fachinterne Arbeitsteilung […] relativiert“; „zur Disposition gestellt wird eine starre Fachsystematik“ (Wenzel, Medien- und Kommunikationstheorie, S. 130f., vgl. auch bes. S. 134, wo Wenzel darauf hinweist, daß gerade Text-BildForschungen Interdisziplinarität erforderten). Curschmann, Wolfgang Stammler und die Folgen, S. 117.
Forschungsgeschichte zum Thema ‚Text und Bild’
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arbeiten. Auch die vorliegende Arbeit gliedert sich in ihren theoretischen Grundlegungen eher dieser letzteren Richtung an. Bei aller Beliebtheit des Themas wird jedoch immer wieder das Fehlen einer grundlegenden systematischen Theorie der Bild-Text-Beziehungen beklagt. Meier/ Ruberg stellen 1980 fest: Forschungsgeschichte zum Thema ‚Text und Bild’
Der grundsätzlichen Bedeutung der Kombinationen von Text und Bild im Mittelalter hat die mediävistische Forschung bisher noch ungenügend entsprochen, ihre hermeneutischen Möglichkeiten nicht hinreichend genutzt. Denn meist wurde die wissenschaftliche Erschließung beide Medien beteiligender Werke aus der Perspektive jeweils nur einer der betroffenen Einzeldis26 ziplinen unternommen […].
In dem Vorwort zum Beitragsband des DFG-Symposions von 1988 zum Thema „Text und Bild, Bild und Text“ konstatiert Harms, daß das Gebiet ‚Text und Bild’ „für die Literaturwissenschaft methodisch noch nicht konsolidiert [...]“ sei.27 Dirscherl leitet 1992 seinen Sammelband zum Thema „Bild und Text im Dialog“ ganz ähnlich mit der Bemerkung ein, es sei Zeit geworden, einen ernsthaften Versuch zu unternehmen, die weiterhin eklatanten Mängel im theoretischen 28 Umgang mit dem Bild-Text-Dialog wenigstens ansatzweise zu beheben […].
Zwar gebe es durchaus Ansätze zu einer Systematisierung der Materie,29 doch die „theoretische[n] Defizite“30 hätten bislang nicht in vollem Umfang beseitigt werden können, schon allein weil es zwischen Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte erhebliche Unterschiede in Bezug auf den Terminologiegebrauch gebe.31 Ähnlich merkt Manuela Niesner auch noch 1995 in den Vorüberlegungen zu ihren Bild-Text-Studien zum Speculum humanae salvationis an, „trotz der inzwischen großen Zahl von Einzelstudien“ fehle bislang noch „eine allgemein anerkannte Methodik des Text-Bild-Vergleichs“.32 26 27 28 29
30 31 32
Meier/ Ruberg, S. 10. – Die von Meier/ Ruberg erwähnte einseitige Untersuchung eines Artefakts aus Sicht nur einer der Disziplinen wird, wie oben beschrieben, eben auch in Verbindung mit Totentänzen häufig praktiziert. Harms (Vorwort), S. 4. Dirscherl, Elemente, S. 15. Zu Versuchen methodologischer Grundlegung der Thematik ‚Text-Bild-Beziehungen’ siehe etwa Titzmann, Stöckl, Muckenhaupt, Kibédi Varga, Word-and-Image Relations, sowie Willems. – Die sprachwissenschaftlich orientierten Ansätze sind für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand nur bedingt von Nutzen, denn sie beziehen sich zuweilen auf moderne, technische Kommunikationsmedien mit grundlegend anderen Gegebenheiten, so etwa Mukkenhaupt. Stöckl z.B. entwickelt sein Instrumentarium in der Auseinandersetzung mit Werbeanzeigen; der Ansatz ist auf die Zwecke der vorliegenden Arbeit kaum übertragbar. Kibédi Varga hingegen liefert eher eine Art Typologie möglicher Text-Bild-Beziehungen als die tatsächlich im Titel angekündigten „Citeria for Describing Word-and-Image Relations“. Dirscherl, Elemente, S. 16. Vgl. ebd. Manuela Niesner: Das Speculum humanae salvationis der Stiftsbibliothek Kremsmünster: Edition der mittelhochdeutschen Versübersetzung und Studien zum Verhältnis von Bild und Text (Pictura et poesis 8). Köln u.a. 1995 [zugl.: Köln, Univ. Diss. 1993], S. 171; vgl ähnlich Kibédi Varga, Word-and-Image Relations, S. 31: „There is a great and quickly increasing
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Theoretischer Teil
So steht auch die vorliegende Arbeit vor dem Problem, ihre methodologischen Grundlegungen gleichsam eklektisch aus verschiedenen Quellen zusammentragen und ggf. mit eigenen Überlegungen ergänzen zu müssen. Zudem muß eine Systematisierung der Materie immer auch mit besonderer Rücksicht auf den Gegenstand – in diesem Fall spätmittelalterliche Totentänze – erfolgen und ist daher stellenweise entsprechend zu modifizieren und mit speziellen Fragestellungen anzureichern. Grundlegende Anmerkungen zum methodischen Vorgehen sind jedoch unbedingt vonnöten, damit anstatt einer lediglich willkürlichen Beschreibung der Bilder und Texte eine differenzierte Untersuchung der beiden Kommunikationssysteme und ihrer Bezugnahme aufeinander geleistet werden kann. Des weiteren bedingt die überaus hohe Zahl an Publikationen, die sich im weitesten Sinne mit Zusammenhängen von Bild und Text beschäftigen, notwendigerweise eine gewisse Selektion. Arbeiten, die sich ganz explizit mit Text und Bild eines bestimmten mittelalterlichen Werkes beschäftigen (wie z.B. die Untersuchungen zu den Runkelstein-Fresken) wurden daher gegenüber anderen, eher grundlegend das Thema bearbeitenden Publikationen in den Hintergrund gestellt, sofern sie nicht zur Erhellung der Thematik in Bezug auf Totentänze etwas Wesentliches beitragen können. Doch auch die grundlegenden Theorieansätze konnten nicht zur Gänze dargestellt werden und Verwendung finden. In die vorliegende Arbeit wurden deswegen vor allem diejenigen Untersuchungen einbezogen, die sich besonders zum besseren Verständnis der Text-Bild-Korrespondenzen in der ausgewählten Gattung der Totentänze eignen. Theoretischer Teil
number of studies on word-and-image relations, but few efforts have been made as yet to make explicit the general problems underlying this kind of research.“
Text und Bild: Grundlagen
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2.2. Grundsätzliches zur Verbindung von Text und Bild33 2.2.1. Semiotische Grundlagen der Bild-Text-Kommunikation Angesichts der uneinheitlichen Begriffsverwendung in der einschlägigen Forschung erscheint es zunächst notwendig, die in der vorliegenden Arbeit gebrauchte Terminologie zu thematisieren, um erstens Verwechslungen mit abweichendem Wortgebrauch zu vermeiden und zweitens die verwendeten Begrifflichkeiten – auch im Verhältnis zur benutzten Sekundärliteratur – zu reflektieren. Unter ‚Bimedialität’ wird im folgenden die gleichzeitige Umsetzung eines Inhalts in den beiden Medien34 Text und Bild verstanden. Während dieser Begriff in der Totentanzforschung auch dementsprechend verwendet wird,35 gebraucht die Bild-Text-Forschung mitunter andere Termini; so benutzt z.B. Wolf auch die Formulierung ‚plurimedial’. Ebenso wie Wolf behandelt auch Eicher den Begriff ‚Intermedialität’, der von Hansen-Löve geprägt und mit Einschränkung auf Bild und Text verwendet wurde, in jüngster Zeit aber vielfach als weitergreifender verstanden wird.36 ‚Intermedialität’ wird definiert als „intendierte, in einem Artefakt nachweisliche Verwendung oder Einbeziehung wenigstens zweier konventionell als distinkt angesehener Ausdrucks- oder Kommunikationsmedien“.37 Eicher ist der Ansicht, die Einführung des Begriffs ‚Intermedialität’ werde immer Text und Bild: Grundlagen
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Ott weist darauf hin, daß, im Unterschied zur ungenauen deutschen Terminologie, in der englischen Sprache ein Unterschied zwischen word and image und text and picture gemacht werde. „Ersteres meint das Allgemeine, die medienspezifischen semiotischen Strukturen, letzteres zielt auf das Besonderere“ im jeweils konkreten Einzelfall (Ott, Text und Bild, S. 58, Anm. 3; vgl. auch Curschmann, Wolfgang Stammler und die Folgen, S. 117f.). In der vorliegenden Arbeit wird terminologisch hier nicht differenziert. In Bezug auf den Terminus ‚Medium’ konstatiert Hallenberger: „Eine auch nur einigermaßen konsistente Verwendung des Begriffs ist nicht feststellbar“ (Gerd Hallenberger, Artikel ‚Medien’, in: RLW Bd. 2, S. 551-554, hier S. 551). In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff sehr weitgefaßt verwendet: Medien werden verstanden als „spezifische symbolische Mittel, die gesellschaftliche Austauschprozesse ermöglichen“ (ebd.); vgl. auch die Definition Posners, die für den vorliegenden Zusammenhang besonders passend erscheint. Nach Posner ist ein Medium „ein System von Kommunikationsmitteln“, „ein System von Mitteln für die Produktion, Distribution und Rezeption von Zeichen, das den in ihm erzeugten Zeichenprozessen bestimmte gleichbleibende Beschränkungen auferlegt“ (Roland Posner: Zur Systematik der Beschreibung verbaler und nonverbaler Kommunikation. Semiotik als Propädeutik der Medienanalyse. In: Perspektiven auf Sprache. Interdisziplinäre Beiträge zum Gedenken an Hans Hörmann, hg. von Hans-Georg Bosshard. Berlin und New York 1968, S. 267-313, hier S. 293f.). Vgl. z.B. Koller, S. 2: „Bi-Medialität“ in der Bedeutung „Realisierung in zwei Medien gleichzeitig“; auch Sabine Ehrmann-Herfort verwendet den Begriff „Bimedialität“ (EhrmannHerfort, Sp. 683); vgl. ebenso Wenzel, Medien- und Kommunikationstheorie, S. 132 („bimedial“). Ich entscheide mich hier für die etwas leichter lesbare Schreibung ohne Bindestrich. Vgl. A.A. Hansen-Löve: Intermedialität und Intertextualität. In: W. Schmid/ W.-D. Stempel (Hg.): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Wien 1983, S. 291-360. Werner Wolf: Artikel ‚Intermedialität’. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart und Weimar 1998, S. 238f., hier S. 238.
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dort nötig, „wo Beziehungen zwischen Zeichenkomplexen Mediengrenzen überschreiten“;38 Wolf präzisiert zusätzlich, solche Grenzüberschreitungen könnten „sowohl innerhalb von einzelnen Werken oder Zeichenkomplexen als auch zwischen solchen vorkommen [...].“39 In der vorliegenden Arbeit wird dagegen der Terminus ‚Bimedialität’ verwendet, weil der Schwerpunkt auf der zeitgleichen, nebeneinander erfolgenden Umsetzung von Aussagen in zwei Medien liegt, die wechselseitig korrespondieren bzw. sich beeinflussen; Intermedialität scheint mir dagegen einen größeren Kontext nahezulegen, der auch Beziehungsgeflechte zwischen mehr als nur zwei Medien und daher ebenso Kommunikationen zwischen mehr als zwei Seiten beinhalten kann. Zudem zieht die Verwendung des Terminus ‚Intermedialität’ meines Erachtens immer auch die Notwendigkeit ausgedehnterer Erläuterungen des Begriffs, seiner Geschichte und seines Gebrauchs mit sich; des weiteren klingen darin anderweitige Theoriekontexte mit, an die die vorliegende Arbeit sich nicht anbindet. Demgegenüber zeichnet der Begriff ‚Bimedialität’ sich durch eine größere Neutralität aus und ist zudem in seiner Bedeutung unmittelbar einsichtig. ‚Intermedialität’ betont zwar das Element der Beziehungen zwischen den Medien (analog zu ‚Intertextualität’); es muß dies jedoch nicht notwendigerweise ein „Dialog“ sein, wie er in Fällen der Text-Bild-Kommunikation vielfach zwischen den „Partnern“ vorliegt. Das Schlagwort des Dialogs wird allerdings im Zusammenhang mit Text-BildBeziehungen häufig gebraucht40 und findet so meines Erachtens seinen Niederschlag adäquat in der Begrifflichkeit der ‚Bimedialität’. Auch Schmitz-Emans spricht von einem „Dialog“, problematisiert aber die Begrifflichkeit: „Oft scheinen Bilder und Texte eine Art Dialog zu führen, in dem das eine Medium dem anderen zu komplexeren und subtileren Aussagemöglichkeiten verhilft. Aber die Rede von einem Dialog mag auch auf bedenkliche Weise suggestiv, weil allzu optimistisch hinsichtlich der Möglichkeiten gemeinschaftlicher Sinnvermittlung sein“.41 Zudem besteht zwischen den beiden hier zur Disposition stehenden Begriffen ein Unterschied auf kategorialer Ebene. ‚Intermedialität’ umfaßt ein breites Spektrum verschiedenster Phänomene ganz anderer Art als die Kombination von Texten und Bildern im Dienste der Verstärkung einer Aussage, wie sie bei den Totentänzen vorkommt. So kann ‚Intermedialität’ etwa die Annäherung an Ausdrucksformen der Malerei in literarischen Texten meinen, allgemein in einem Medium die Benutzung von Techniken, die eigentlich einem anderen Medium angehören. ‚Intermedialität’ ist daher ein besonders auch für die Neuzeit mit ihren experimentellen Formen wichtiges Konzept. Die Bedeutung von ‚Intermedialität’ geht im allgemeinen „über die bloße Beziehung zwischen semiotischen Systemen und Theoretischer Teil
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Eicher, S. 18. Wolf, Intermedialität: Ein weites Feld, S. 167. Vgl. Dirscherl, Elemente, passim; der von ihm herausgegebene Band ist programmatisch „Bild und Text im Dialog“ benannt (PINK 3, Passau 1993). Schmitz-Emans, Das visuelle Gedächtnis, S. 17f.; vgl. auch Abschnitt 2.2.1.
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ihren einzelnen Zeichenkomplexen“, die lediglich „synoptische Kombination“,42 wie sie die Bimedialität bietet, hinaus. ‚Intermedialität’ ist als ein abstraktes, übergreifendes Konzept zu verstehen, als Phänomen, das sich in bestimmten Artefakten manifestieren mag (wiederum analog zur Intertextualität); während Bimedialität im Gegensatz dazu als Eigenschaft eines Werks festgestellt werden kann. Das Adjektiv ‚intermedial’ kann etwa auch in der Bedeutung von ‚in vielen Medien realisiert’ verwendet werden; so gebraucht es zumindest Wolf, der im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zur Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik das Erzählen als ‚intermedial’ beschreibt;43 d.h. Erzählen bzw. narrative Techniken sind nicht auf ein Medium beschränkt (wie das konventionelle Erzählmedium des literarischen oder auch nicht-literarischen Textes), sondern finden sich in den verschiedensten Medien wie eben auch in Bildwerken und in der Musik. In diesem Sinne könnte man Totentänze schwerlich als ‚intermedial’ deklarieren – man kann von ihnen nicht behaupten, daß sie in verschiedenen Medien vorkämen – wohl aber als ‚bimedial’, nämlich in zwei Medien gleichzeitig realisiert. Wollte man beide Begriffe zusammenbringen, könnte man vielleicht sagen, daß Intermedialität auch Formen von Bimedialität unter sich subsumieren kann.44 Entscheidend ist nun, wie die Terminologie im Hinblick auf den speziellen Gegenstand nutzbar gemacht werden kann. Mit Wolf lassen sich Totentänze als ein Fall von „werkinterner Intermedialität“ auffassen: Text und Bild: Grundlagen
Diese läßt sich in Analogie zum [...] Konzept der Intertextualität bestimmen als eine innerhalb eines Werkes oder Zeichenkomplexes nachweisbare Einbeziehung von mehr als einem Medium, 45 die zu Art und Inhalt der Bedeutungsgenerierung beiträgt.“
Wolf, der nicht von Bi-, sondern Plurimedialität spricht (s.o.),46 weist darauf hin, daß bei derartigen Formen stets (mindestens) zwei Signifikantensysteme beteiligt sind und stellt des weiteren die Schlagworte „Medienkombination“, „Medienmischung“ und „Medienverschmelzung“ in den Raum.47 In Anlehnung an Wolf – und unter Rückbezug auf die Problematisierung interdisziplinären Arbeitens, s.o. Abschnitt 2.1. – lassen sich die Totentänze im Zuständigkeitsbereich der Literaturwissenschaft verorten, denn die Literaturwissenschaft ist „überall dort gefordert, wo verbale Texte zusammen mit anderen Medien verwendet werden.“48 42 43 44 45 46
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Thomas Eicher: Artikel ‚Kunst und Literatur’. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie [wie Anm. 37], S. 302. Zu Wolfs Theorien vgl. unten Abschnitt 2.2.3. Eine ausführliche Darstellung des Konzepts ‚Intermedialität’ bietet Werner Wolf: Artikel ‚Intermedialität’. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie [wie Anm. 37], S. 238f.; vgl. auch Thomas Eicher: Artikel ‚Kunst und Literatur’, ebd., S. 302. Wolf, Intermedialität: Ein weites Feld, S. 172. Kiening wählt eine ganz andere Begrifflichkeit und nennt Totentänze „semi-literarisch“ (Kiening, Ambivalenzen, S. 38). Diese Formulierung erscheint mir jedoch zu reduktiv; sie hebt nicht hervor, daß der Totentanz in mehreren Medien realisiert ist, sondern daß er, im Gegenteil, dem Medium des Textes nur halb angehört. Vgl. ebd., S. 172f. Ebd., S. 181. Das heißt natürlich nicht, daß hier ausschließlich die Literaturwissenschaft gefordert ist.
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Die Beschäftigung mit Text-Bild-Beziehungen setzt zunächst voraus, daß man sich mit den beiden Zeichensystemen Text und Bild und ihren jeweiligen Eigenheiten einzeln auseinandersetzt, bevor man ihre Relationen untereinander in den Blick nimmt. Es existieren eine Reihe unterschiedlicher Ansätze, die hier nicht in Vollständigkeit referiert werden können.49 Sie lassen sich jedoch grob in zwei Vorgehensweisen einteilen: einerseits diejenigen, die von einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit der beiden Zeichensysteme ausgehen, und auf der anderen Seite solche Theorien, die eher die Unterschiede betonen. So zieht Monika Schmitz-Emans grundsätzlich in Zweifel, ob es zu einer gemeinschaftlichen Bedeutungsvermittlung von Text und Bild im Sinne einer Art gemeinsamen Tiefengrammatik kommen könne, oder ob „jeder vorgebliche Dialog zwischen Texten und Bildern nur ein Umspielen des Abgrundes, der beide Welten voneinander scheidet“, sei (s.o.).50 Eco begründet einen der Unterschiede zwischen der Sinnvermittlung durch Texte und Bilder mit der Tatsache, daß die Sprache ein starker, die visuelle Kommunikation jedoch ein schwacher Code sei: Theoretischer Teil
Zum Abschluß können wir sagen, daß in den ikonischen Zeichen das vorwiegt, was wir in der 51 verbalen Sprache fakultative Varianten und suprasegmentale Züge nennen würden [...].
Fakultative Varianten sind „einfache Gebärden freier Initiative in der Ausführung bestimmter Laute“ (etwa regionale oder auch persönliche AusspracheBesonderheiten); unter suprasegmentalen Zügen versteht man hingegen „richtige signifikante Mittel“ wie z.B. Intonation, um Emotionen auszudrücken.52 Goodman problematisiert in seinen u.a. auch erkenntnistheoretisch ausgerichteten Überlegungen hingegen, ob eine adäquate Repräsentation von Wirklichkeit – mit welchen Mitteln auch immer, seien sie nun verbal oder visuell – überhaupt möglich ist, da es die eine und einzige abzubildende Wirklichkeit schlechthin nicht gibt. Jede Repräsentation vermag nur bestimmte Aspekte des dargestellten Objektes wiederzugeben. Ähnlich wie Eco stellt Goodman die grundsätzliche Frage: „Was haben pikturale Denotation und verbale oder diagrammatische Denotation gemeinsam, und worin unterscheiden sie sich?“53 Die sehr differenzierten und mit einem hohen Aufwand an spezieller Terminologie arbeitenden Ausführungen Goodmans sollen hier nicht in der Breite dargestellt werden; im vorliegenden Kontext mag es genügen, eine seiner zusammenfassenden Schlußfolgerungen wiederzugeben:
49
50 51 52 53
Wie schon einleitend angerissen, hat die Literatur zum Thema in den letzten Jahren unübersichtliche Ausmaße angenommen. Die vorliegende Arbeit muß sich daher notwendigerweise einer knappen Selektion bedienen und stellt lediglich kursorisch eine Reihe von Ansätzen vor, die für den gegebenen Zweck nutzbringend erscheinen und zudem einen Eindruck vermitteln, auf welche Weisen mit der Thematik umgegangen werden kann. Vgl. Schmitz-Emans, Das visuelle Gedächtnis, S. 17f., hier S. 18. Eco, S. 220. Vgl. ebd., S. 218. Goodman, S. 17.
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Nichtsprachliche Systeme unterscheiden sich von Sprachen, Abbildung von Beschreibung, das Repräsentationale vom Verbalen, Gemälde von Gedichten hauptsächlich aufgrund der fehlenden Differenzierung – tatsächlich aufgrund der Dichte (und des daraus folgenden völligen Fehlens 54 der Artikulation) – des Symbolsystems.
Eine methodologisch sehr ausgefeilte und mit präzisen Definitionen arbeitende Herangehensweise präsentiert Titzmann, der 15 Thesen zur Semiotik der TextBild-Relationen aufstellt. Er unterscheidet zwischen primären und sekundären Signifikanten55 und erklärt: Der grundsätzliche Unterschied der Zeichensysteme von Bildern und Texten besteht nun bekanntlich in der geringen Kodiertheit der primären Signifikanten im bildlichen, der hohen Ko56 diertheit im sprachlichen Falle.
Bresson stellt fest, daß Prozesse der Sinnkonstituierung bei sprachlichen Äußerungen eher analytisch vorgehen, bei Bildern hingegen vorwiegend synthetisch.57 Trotz dieser Unterschiede betont er jedoch, daß die Vorgänge, die beim Verstehen von Bildern und Texten ablaufen, durchaus vergleichbar sind: Text und Bild: Grundlagen
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Je distinguerai trois classes d’opérations qui doivent être effectuées pour parvenir à la compréhension de l’image: opérations que je comparerai à celles, mieux connues, qui doivent êtres 59 effectuées pour parvenir à la compréhension de la parole ou de l’écrit.
Ungeachtet unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen bei der Analyse von Bedeutungsgenerierung und -vermittlung in Texten und Bildern wird doch deutlich, daß die vorgestellten Ansätze grob in eine gemeinsame Richtung zielen: Wiederholt wird in Bezug auf ikonische Äußerungen die geringe bzw. wenig differenzierte Kodiertheit herausgestellt – das Bild als „Kontinuum nicht-diskreter Zeichenparameter“60 –, was die einfache, aber fundamentale Schwierigkeit mit sich bringt, den Inhalt eines Bildes sprachlich adäquat zum Ausdruck zu bringen. Trotz einer gewissen Vergleichbarkeit der Sinnkonstituierungs-Prozesse von Text und Bild ist daher auch zu betonen, daß eine vollständige Übersetzbarkeit vom einen Medium in das andere aus diesen Gründen natürlich nicht gegeben ist. Deswegen mögen mitunter auch beide Konstituenten vonnöten sein, um die gewünschte Intention mit all ihren Schichten und Assoziationen angemessen ver54 55
56 57 58
59 60
Goodman, S. 209f. „Primäre Signifikanten sind in sprachlichen Äußerungen [...] die einfachsten selbst schon bedeutungstragenden Elemente: die Lexeme (nicht schon die bloß bedeutungsdifferenzierenden Elemente: Phoneme, phonologische Merkmale), in ikonischen Äußerungen dementsprechend Kombinationen aus Linien, Formen, Farben.“ – „[...] sekundäre Signifikanten seien solche, die sich erst auf der Basis primärer – elementarer – Signifikanten und Signifikate desselben Zeichensystems konstituieren (können)“ (Titzmann, S. 376). Ebd. Vgl. Bresson, S. 187f. Unter diesen drei Operationen versteht Bresson folgendes: „Ces opérations sont d’abord celles qui effectuent des mises en relations entre termes, ce qui correspond surtout au traitement syntaxique dans les énoncés; ensuite ce sont des opérations non plus ‚internes’ comme les précédentes, mais ‚externes’, de réferénciation; enfin celles qui ont trait aux contraintes du signifiant et de sa réalisation materielle“ (Bresson, S. 185). Ebd., S. 185. Titzmann, S. 378.
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wirklichen zu können – daß dies auch bei den Totentänzen der Fall ist, wird im weiteren Verlauf noch vielfach gezeigt werden. Gewisse (z.B. oft abstrakte und komplexe) Sachverhalte lassen sich sprachlich besser ausdrücken als mit Hilfe bildlicher Wiedergabe, während auf der anderen Seite pikturale Repräsentation das Mittel der Wahl ist, um beispielsweise das Aussehen einer Person festzuhalten. Keine noch so große Anzahl von Worten könnte in diesem Fall ein Ersatz für das Porträt sein. Aufgrund solcher von Fall zu Fall auftretender Unterschiede sollte man auch nicht den Fehler machen, die Art der Sinnkonstituierung und Sinnvermittlung von Bild und Text zu vereinfacht darzustellen. Jaritz äußert, „die grundsätzliche ‚Mehrdeutigkeit’ von Bildinhalten“ sei ein „entscheidendes problematisches Kriterium“ für das Verständnis.61 Er übersieht dabei jedoch, daß genausogut der umgekehrte Fall eintreten kann, daß nämlich Texte bzw. allgemein sprachliche Äußerungen mit einem hohen Maß an Ambiguität arbeiten, während ein Bild auch eine leicht zu erfassende, relativ wenig Interpretationsspielraum lassende Aussage beinhalten kann. So sind gerade im Mittelalter allegorische Bedeutungsebenen Instrumente der Sinnvermittlung, und dies trifft gleichermaßen für Bilder wie für Texte zu. In Totentänzen beispielsweise kann die Linksrichtung des Tanzes als Hinweis auf die drohende Verdammnis verstanden werden,62 ohne daß dies deutlich ausgesprochen oder als einzig gültige Interpretation gekennzeichnet wird. In diesem Fall ist es also das Bild, das mit allegorischen oder symbolischen Bedeutungsebenen gefüllt wird, deren Entschlüsselung nur mit einem bestimmten Kontextwissen möglich ist, während die zugehörigen Texte meist klare, einfach verständliche Aussagen treffen. Ebenso ist aber auch denkbar, daß eine sprachliche Äußerung aufgrund verborgener Sinnschichten änigmatisch oder zumindest mehrdeutig erscheint; auch dies ist gerade in mittelalterlichen Texten vielfach feststellbar. Ein Großteil der mittelalterlichen Literatur bleibt z.B. ohne den Hintergrund des mehrfachen Schriftsinns unverständlich, oder es erschließt sich nur ein oberflächliches, literales Verständnis. Schließlich lassen sich auch Beispiele für Bilder finden, deren Aussage oder Intention recht einfach festzumachen ist. Wiederum mag der Totentanz herangezogen werden. Überall dort, wo die Bildelemente nicht besonders komplex und vor allem wenig symbolhaltig sind, dürfte die Aussage auch vom ungebildeten Betrachter ohne Vorkenntnisse einfach zu verstehen sein. Dies ist z.B. der Fall bei dargestellten Handgreiflichkeiten zwischen Tod und Mensch, deren Gestik und Mimik meist intuitiv und schneller zu erfassen sind, als dies bei einer langwierigen verbalen Beschreibung derselben Szene der Fall wäre. Ähnlich wie Jaritz legt auch Neuber den Schwerpunkt etwas einseitig auf die „Polysemantizität des Bildes“.63 Er behauptet: „Ohne Texte sind Bilder blind. Sie Theoretischer Teil
61 62 63
Jaritz, S. 72. Vgl. Abschnitt 2.3.4. Neuber, S. 192.
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bedürfen einer sprachlichen Bedeutungszuweisung.“64 Neuber scheint der Ansicht zu sein, daß die Mechanismen der Bedeutungskonstituierung von Bildern denjenigen der Texte unterlegen sind, wenn er feststellt: Bilder besitzen [...] eine höchstens rudimentäre Syntax [...]. Bei der Lektüre von Bildern ist darüber hinaus die geregelte Abfolge von sinnstiftenden Verbindungen nicht vorgegeben. Wie die Teile eines Bildes sinnerschließend zu verbinden sind, kann nur durch den jeweils sprachlichen 65 Akt der Beschreibung, Deutung und Analyse glaubhaft gemacht werden.
Zwar stellt Neuber hier, ähnlich wie einige der anderen bereits beschriebenen Ansätze, zutreffend die anhand eines linearen Musters verlaufende Bedeutungsgenerierung in Texten der nur synthetisch erfaßbaren Welt der Bilder gegenüber. Es drängt sich jedoch gleichzeitig der Eindruck auf, daß Texten damit allgemein ein höheres semantisches Potential attestiert wird als Bildern, bzw. wird suggeriert, Bedeutungsvermittlung sei allgemein überhaupt nur auf sprachlichem Wege denkbar, was entschieden anzuzweifeln ist. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß Mehrdeutigkeit und Eindeutigkeit als Gegenpole keineswegs den Medien Bild oder Text als ihre jeweils hervorstechenden Eigenschaften zugeordnet werden können. Beide stellen jeweils für sich genommen vielschichtige Kommunikationssysteme dar, die sich verschiedener Techniken bedienen und gerade dadurch in ihrer Kombination besonders reichhaltige Bedeutungsgefüge herstellen können. Text und Bild: Grundlagen
Entscheidend ist auch, daß Text und Bild, wenn sie zusammengestellt werden, nicht einfach nur additiv nebeneinander stehen, sondern stets miteinander in Aktion treten. So stellt Schmitz-Emans eine Behauptung auf, die auch für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit als grundlegend betrachtet werden kann: Meine erste These lautet, daß [...] sich die Beziehungen zwischen Texten und Bildern in ihrer Vielfalt noch am besten beschreiben lassen, wenn man sie als etwas Prozessuales betrachtet. Betont sei daher [...], daß Texte und Bilder überall dort, wo sie aufeinander treffen, interagieren, und zwar nicht nur während ihrer jeweiligen Entstehungszeit, also etwa während eine TextIllustration oder eine Bild-Beschreibung entsteht, sondern so lange und wo immer sie gemein66 sam wahrgenommen werden.
In diesem Sinne ist es auch nicht von Belang, ob – etwa bei einem Buchtotentanz – Text und Bild sozusagen ursächlich zusammengehören oder ob zum Beispiel ein schon vorhandener Text mit bereits älteren Holzschnitten anderer Herkunft zusammengestellt wird. Entscheidend ist, daß die beiden Medien in dem Moment, in dem sie gemeinsam rezipiert werden, ein Ensemble bilden, so daß – wenn auch nur im Auge des Betrachters – eine Relation zustande kommt.67
64 65 66 67
Neuber, S. 192. Ebd. Schmitz-Emans, Das visuelle Gedächtnis, S. 19. Vgl. ähnlich Kibédi Varga, Word-and-Image Relations, S. 33: „[...] we must argue from the point of view of reception rather than production.“
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Auch Curschmann hält ganz ähnlich fest, besser als bei einer punktuellen und festen, d.h. inflexiblen Definition der Text-Bild-Relationen erschlössen sich die Zusammenhänge, wenn man das Verhältnis nicht als statisch, sondern als dynamisch begreift, und zwar auf einer ganzen Reihe verschiedener Ebenen. Grundsätzlich handelt es sich doch um kategorial und semiotisch verschiedene Willensäußerungen des kommunikativen und kreativen Bewußtseins. [...] selbst, wenn es intendiert ist, bewirken Text und Bild doch nicht dasselbe. Sie richten sich auf denselben Gegenstand, gehen aber in ihrer jeweilig eigenen ‚Sprache’ anders mit ihm um, und daraus resultiert grundsätzlich diese Dynamik als Dialektik verschiedener Repräsentationsfor68 men und ihrer verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten.
Die Dynamik, die zwischen den beiden Medien im Falle ihrer Zusammenstellung entsteht, läßt sich mit den von Titzmann in diesem Kontext verwendeten Schlagworten „Semantisierung“ und „Referentialisierung“ beschreiben: „Wie die Bilder einer Kultur(-epoche) durch die Zuordnung von Texten eine Semantisierung erfahren, erfahren die Texte durch die Zuordnung von Bildern eine Referentialisierung.“69 Diese Vorgänge lassen sich auch in Totentänzen beobachten. Überall dort, wo im Text Sachverhalte angesprochen werden, die auf dem Bild nicht zu sehen sind, wird die Illustration durch die zugehörige Strophe semantisiert, also mit (zusätzlicher) Bedeutung versehen. Das kann z.B. geschehen, indem der Tod über das frühere sündige Leben seiner Opfer berichtet, oder wenn diese sich selbst ihrer Vergehen schuldig bekennen, ohne daß das Bild derartige Informationen enthält. Eine Semantisierung können in gewissem Maße schon Bildtitel darstellen, die die Ständevertreter näher beschreiben oder auch bereits moralische Urteile fällen (wie z.B. „Guter Mönch“ und „Böser Mönch“ im mittelrheinischen Totentanz). Umgekehrt verleihen die Bilder den Texten einen spezifischen Bezug auf das visuell Dargestellte und referentialisieren sie damit; so werden z.B. die Personenbeschreibungen an die abgebildeten Gestalten gebunden, so daß man das Gesagte konkret auf sie bezieht (wenngleich die Figuren natürlich typenhaft sind). In diesem Sinne entsteht schon auf einer ganz elementaren Ebene eine „direkte wechselseitige Interpretation“70 von Bild und Text. Kibédi Varga schließlich entwirft eine Art Typologie möglicher Text-BildBeziehungen und der sich daraus für die Analyse ergebenden Implikationen. Er unterscheidet dabei u.a. zwischen Koexistenz („word and image coexist within the same space“), „interreference“ („word and image are separated but presented on the same page“) und „coreference“ („word and image are not presented on the same page but refer, independently from each other, to the same event or thing in the natural world“).71 Totentänze sind z.B. ein klarer Fall von „interreference“, Text und Bild beziehen sich aufeinander. Theoretischer Teil
68 69 70 71
Curschmann, Wolfgang Stammler und die Folgen, S. 136. Titzmann, S. 380, siehe auch Kibédi Varga, Word-and-Image Relations, S. 36: „[...] words, as soon as they are added to images, tend to restrict the possibilities of interpretation; they ‚désambiguïsent’ the image, make its meaning unambiguous.“ Titzmann, S. 380. Kibédi Varga, Word-and-Image Relations, S. 39-42.
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Interessanterweise kommt Kibédi Varga im Zuge seiner Überlegungen zu dem Ergebnis, daß in der überwiegenden Mehrheit aller Fälle von Text-BildKombinationen eine deutliche Hierarchie zwischen den Medien zu beobachten sei: In single verbal-visual objects, image dominates only in the exceptional case when the given image is so well known to the beholder that he does not need any words to identify it or grasp its meaning and message; in all other cases, image is subordinate to the word. In emblems as well as in the image-title relation, the word explains the image; it restricts its possibilities and fixes 72 its meaning.
Ob diese Form der Hierarchie allerdings auch uneingeschränkt für die Text-BildRelationen in Totentänzen gelten kann, soll später noch eingehender geprüft werden. Einen Ansatz, dessen Methodik auch die in der vorliegenden Arbeit verwendeten Untersuchungstechniken teilweise ähneln, verfolgt Willems. Seine Ausführungen sollen daher hier etwas ausführlicher dargestellt werden. Willems spricht von „Wort-Bild-Formen“ und expliziert „drei Ebenen der Integration“ von Text und Bild, die es zu untersuchen gelte: „die Ebene der äußeren Faktur, die des Inhalts und die der inneren Faktur“.73 Unter der äußeren Faktur versteht Willems die Art und Weise, „wie Wort und Bild im Rahmen der Möglichkeiten des Mediums technisch zusammengebracht werden“,74 also z.B. Aspekte des Layouts etc. Die Ebene des Inhalts erklärt Willems wie folgt: Text und Bild: Grundlagen
Die zweite Ebene der Integration bezeichnet die Frage, ob Wort und Bild mit ihren je eigenen Mitteln Inhalte aus demselben stofflichen Zusammenhang gestalten und, wenn ja, auf welche 75 Weise.
Hierbei können die Phänomene „Verdopplung“ und „Ergänzung“ auftreten; d.h. im ersten Fall übermitteln Text und Bild additiv denselben Inhalt, im zweiten Fall geben sie verschiedene Inhalts-Anteile wieder, die einander ergänzen. In der Realität findet man meist eine Vermischung beider Prinzipien.76 Die dritte Ebene schließlich, die innere Faktur, erläutert Willems als „Gestaltung des Bilds mit Rücksicht auf das benachbarte Wort und die des Worts mit Rücksicht auf das benachbarte Bild“. Zu fragen ist also nach den „formalen Momente[n] der Text- und Bildteile, mit deren Hilfe sie sich bei ihrem Reden und Abbilden gegenseitig in Rechnung stellen“: Wenn Wort und Bild sich in einen Stoff teilen, die ‚Botschaft’ der Wort-Bild-Form aus dem Zusammentreten des im Wort und im Bild Gegebenen erwächst, dann wird bei solcher Aufteilung oder Zusammenfügung eines inhaltlichen Zusammenhangs immer eine entscheidende Rolle spielen, welche Aspekte sich besser im Bild und welche sich besser im Wort darstellen lassen. Stillschweigend werden auf diese Weise die spezifischen Darstellungsmöglichkeiten des Worts und des Bilds in Rechnung gestellt, so wie sie ihnen grundsätzlich zuzusprechen sind, wie sie 72 73 74 75 76
Kibédi Varga, Word-and-Image Relations, S. 42. Willems, S. 419. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 420.
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ihr Fungieren in einem bestimmten Medium kennzeichnen und wie sie vor allem auf einer be77 stimmten Stufe der kulturellen Entwicklung vorgegeben sind.
Als einen weiteren zu untersuchenden Punkt führt Willems die Funktion einer Wort-Bild-Form auf, d.h. den Grund, warum eine derartige Kombination gewählt wurde und in welchem Dienst sie steht.78 All diese Faktoren kommen auch bei den im zweiten Teil der Arbeit vorgenommenen Einzelanalysen zum Tragen. Aspekte der technischen Zuordnung von Text und Bild bei den Totentänzen werden ebenso behandelt wie die Form der „Arbeitsteilung“ zwischen den Medien, d.h. die Frage, welchem Medium wann welche Aufgabe zukommt und wie genau diese Verbindung sowohl semiotisch gesehen als auch inhaltlich strukturiert ist; und auch die Funktion des gewählten Miteinanders muß im Zusammenhang mit der Intention dieses Genres aufgezeigt werden.79 Die Kombination von Bild und Text kann dabei zu verschiedenen Formen von Beziehungen zwischen den Medien führen. So gibt es sowohl die Möglichkeit einer gegenseitigen Korrespondenz als auch einer Divergenz zwischen Text und Bild. Die Korrespondenz, also das „Aufeinanderbezogensein“ wiederum läßt sich, wie oben beschrieben, aufteilen in einerseits solche Fälle, in denen Bild und Text gewissermaßen kumulativ den gleichen Inhalt ausdrücken, und andererseits BildText-Kommunikationen, in denen verschiedene Aspekte der Aussage sich auf beide Medien verteilen. – Wie später gezeigt werden wird, lassen sich in Totentänzen sowohl Fälle von Divergenz als auch Konvergenz mit ihren beiden Unterarten finden; beziehungslos nebeneinander gestellt sind Bilder und Verse jedoch nie: Beide sind integrale Bestandteile des Genres ,Totentanz’ und gehören, wie schon oben erläutert, unmittelbar zusammen. Unterscheiden kann man des weiteren zwischen Fällen, in denen Bild und Text bereits von Beginn an aufeinander abgestimmt waren – Ott nennt so etwas „autorintendierte text-and-picture-Einheiten“80 – und solchen Beispielen, bei denen die Medien erst später eine Verbindung eingingen. Daß ersteres der Fall ist, läßt sich aufgrund der schlechten Überlieferungslage bei Totentänzen nur selten belegen; es ist zum Beispiel beim Berner Totentanz nachweisbar. Vielfach muß man auch davon ausgehen, daß erst nachträglich eine Zuordnung von Bild und Text stattfand oder daß eines der Medien bereits vorhanden war und das andere hinzugefügt wurde; zumeist lassen sich aber über das genaue Zustandekommen einer Text-Bild-Kombination lediglich Vermutungen anstellen. Da eine wie auch immer geartete Zusammenstellung jedoch stets eine bestimmte Intention ausdrückt, macht es für die Untersuchung der Text-BildRelationen nicht automatisch einen großen Unterschied, welche der beiden Möglichkeiten vorliegt. Entscheidend ist, daß Text und Bild einander sinnhaft an die Seite gestellt wurden, so daß Referenzen zwischen beiden zu beobachten sind. Theoretischer Teil
77 78 79 80
Willems, S. 420f. Vgl. ebd., S. 419. Vgl. besonders Abschnitt 4.3. Ott, Text und Bild, S. 58.
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Die absichtsvolle Zuordnung schließt nämlich, wie bereits oben bemerkt, eine Beziehungslosigkeit oder ein bloß kumulatives Nebeneinander zwischen den beiden Komponenten von vornherein aus. Nach Titzmann „addieren sich die verschiedenen (semantischen und nichtsemantischen) Leistungen“ von Bild und Text bei ihrer „Koexistenz in derselben Äußerung“;81 vielleicht kann man sogar noch weitergehen und mit einer gewissen Berechtigung behaupten, daß die Aussagen beider Medien sich durch ihre Koexistenz potenzieren.
2.2.2. Bildlektüre – Lesen von Bildern Entscheidend ist es, zu verstehen, daß sowohl Bilder als auch Texte auf je spezifische Weise vom Betrachter/ Leser dekodiert werden müssen, d.h. daß nicht nur für schriftlich Festgehaltenes, sondern auch für Bilder eine Art „Lesefähigkeit“ vorhanden sein muß, die es ermöglicht, die Intention aus dem Gesagten bzw. Abgebildeten gewissermaßen zu „extrahieren“: Wir würden uns täuschen, wenn wir annehmen wollten, Bild-Kommunikation sei eine einfachere Angelegenheit als die Mitteilung über unser abstraktes Lettern-System. Das Bilderlesen setzt einen Lernprozeß von langer Dauer voraus, und dies gilt sowohl in ontogenetischem wie in phylogenetischem Sinne.82 Lesen von Bildern
Schenda geht sogar soweit anzuzweifeln, daß es vor der weitgehenden Alphabetisierung der Bevölkerung bei den Angehörigen der Unterschicht überhaupt „verstehende[n] Bildgebrauch“83 gegeben habe und wendet sich damit unter anderem gegen die weithin vorherrschende Annahme, Bilder seien für die illitterati84 das, was Bücher für die docti bedeuteten.85 In diesem Zusammenhang kritisiert Schenda auch die unkorrekte Simplifizierung der bekannten (und gerade im Zusammenhang mit der Text-Bild-Thematik beinahe schon etwas überstrapazierten)
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83 84 85
Titzmann, S. 380. Schenda, S. 90. – Auch Camille spricht von einer „visual literacy“, gerade in Bezug auf „the systematic viewing of a series of pictures“ (Camille, S. 34); ähnlich Driver: „Certainly, in the pre-modern world, where there were fewer images and the image was much more significant, the reading of images was a complex and subtle process“ (Driver, S. 345f.); vgl. auch Schmitz-Emans, Intertextualität, S. 220. Schenda, S. 87. Zuweilen werden unter dem Begriff illitterati nicht Analphabeten verstanden, sondern „lesefähige, aber des Lateinischen nicht mächtige Schichten“ (Neuber, S. 190). Daneben variiert auch die Schreibung zwischen (il)litterati und (il)literati. Diese verbreitete These analysiert auch Madeline H. Caviness kritisch. In ihrer Untersuchung der Frage, ob mittelalterliche Glasmalereien dem einfachen Volk als „Buch-Ersatz“ dienten, kommt sie allerdings letzten Endes zu dem Ergebnis, daß bildliche Darstellungen durchaus diese Funktion gehabt haben könnten, wenngleich die medialen Unterschiede heraussgestellt werden (vgl. Caviness, bes. S. 103-107).
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Theoretischer Teil
Sentenz Gregors des Großen – dieser billigte den Gebrauch von Bildern zur Unterweisung der Nicht-Schriftkundigen –, Bilder seien nur für Analphabeten.86 Bei Gregor heißt es: Idcirco enim pictura in Ecclesiis adhibetur, ut hi qui litteras nesciunt, saltem in parietibus videndo legant quae legere in Codicibus non valent.87 Gesagt wird also lediglich, daß diejenigen, die des Schriftlesens nicht mächtig sind, aus den Bildern ihre Unterweisung schöpfen können;88 daß dagegen Bilder ausschließlich für illitterati und nicht für litterati geeignet seien, wird nicht behauptet. – Bemerkenswerterweise spricht Gregor auch in Verbindung mit Bildern von „lesen“, wie auch noch aus einer anderen Briefstelle hervorgeht: Aliud est enim picturam adorare, aliud per picturae historiam quid sit adorandum addiscere. Nam quod legentibus scriptura, hoc idiotis praestat pictura cernentibus, quia in ipsa etiam ignorantes vident qui sequi debeant, in ipsa legunt qui litteras nesciunt. Unde et praecipue gentibus pro lectione pictura est.89 Theoretischer Teil
Nach Ansicht Gregors können Bilder also ebenso wie Texte „gelesen“ werden. Untersucht man das Bedeutungsspektrum des lateinischen legere, so kommt zutage, daß es nicht nur im visuellen, sondern auch im akustischen Sinne verwendet werden kann.90 Mündliche und schriftliche wie auch „Bild-Texte“91 können demnach mit dem Verb legere verbunden werden. Die ursprüngliche Bedeutung ‚zusammenlesen, sammeln’ (so ja auch unser deutsches ‚lesen’, das ebenso im Sinne von ‚sammeln’ verwendet werden kann) setzt dabei voraus, daß die Bedeutung in 86
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91
Vgl. Schenda, S. 85. – Auch Ott weist darauf hin, daß das Vorhandensein von Illustrationen z.B. in Manuskripten keinesfalls automatisch den Schluß zulasse, das betreffende Buch sei für wenig gebildete Adressaten ohne Lesekenntnisse konzipiert. So habe man sich das intendierte Publikum der illustrierten Biblia pauperum durchaus theologisch versiert vorzustellen (vgl. Ott, Text und Bild, S. 66). Etwas abweichend äußer sich Martha W. Driver, wenn sie feststellt: „[...] illustrated books are generally designed for lay use, for readers more adept at interpreting visual, rather than verbal, signs“ (Driver, S. 345); vgl. zu diesem Thema auch Kleinschmidt, S. 80f. Gregor der Große, Epistolae 9.2,105, Patrologia Latina 177, ed. J.-P. Migne, Sp. 1027d1028a. Daß die Funktion der Bilder, gleichermaßen den Nicht-Schriftkundigen das Erfassen der Aussage zu ermöglichen, auch in Totentänzen eine Rolle spielt, zeigen die Schlußverse des Bleibacher Totentanzes: Wer doch niht lessen kan,/ beschav den tantz nvr an (vgl. W. Fladt: Der Bleibacher Totentanz. In: Mein Heimatland 19 [1932], S. 269-282). Gregor der Große, Epistolae 11.4,13, Patrologia Latina 77, ed. J.-P. Migne, Sp. 1128c. Für das Lemma ‚lego’ finden sich unter anderem folgende mögliche Übersetzungen: „mit den Augen aufsammeln od[er] auffangen“, seltener „mit den Blicken auffangen von sonstigen sichtbaren Gegenständen“, „übertr[agen] auf andere Sinne, mit den Ohren auffangen, hören, vernehmen“ (Eintrag ‚lego’ [II], Handwörterbuch der lat. Sprache, hg. v. Reinhold Klotz. 4. Aufl., unveränd. nach d. vielfach verb. 3. Aufl. 2. Band. Braunschweig 1866, S. 248f.); ähnlich „mit den Ohren auffangen“ oder „eine Vorlesung hören“ (Eintrag ‚lego’ [2.], Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Ausgearbeitet von Karl Ernst Georges. Nachdruck d. 8., verb. u. verm. Aufl. von Heinrich Georges. 2. Band. Hannover 1959, Sp. 606-608). Mündliche, schriftliche und auch Bild-Kommunikation mit dem Wort ‚Text’ zu belegen, setzt natürlich einen erweiterten Textbegriff voraus. Stöckl etwa, der das Thema von textlinguistischer Seite her untersucht, spricht von verbalem und visuellem Text bzw. in der Kombination von visuell-verbalen Texten (vgl. Stöckl, S. 49f.). Somit könnte man einen Totentanz auch als visuell-verbales Gesamtkommunikat bezeichnen.
Lesen von Bildern
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einem mehrere sukzessive Schritte umfassenden Prozeß Stück für Stück zusammengesetzt wird.92 Wie wir also die Bedeutung eines Textes sequentiell aus den Worten zusammensetzen,93 so kann auch ein Bild in einzelne sinntragende Elemente zerlegt werden, die dann schrittweise visuell wahrgenommen und zu einer Gesamtbedeutung zusammengesetzt werden. Schenda beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: Lesen von Bildern
Bildlesen bedeutet also auch ein Abtasten des gesamten Zeichensystems Bild. Rein physiologisch gesehen können die Blicke dabei, unserer Buch-Leseweise entsprechend, von links nach rechts und von oben nach unten laufen; sie können aber auch zunächst die zentralen oder die kräftigsten Signale eines Bildes zu fixieren suchen und dann zu den Randsignalen vordringen.94
Auch Titzmann beschäftigt sich mit der Frage des Lesevorgangs, stellt aber im Gegensatz zu Schenda die grundsätzliche Verschiedenheit des Bilderlesens gegenüber dem Textlesen in den Vordergrund: [...] wo sich dem rezipierenden Subjekt der Text als nach dem Prinzip linearer Sukzession geordnete Folge präsentiert, da präsentiert sich das Bild als geordnete Menge simultan gegebener Elemente; wo also der Text eine Leserichtung zwingend festlegt, stellt sie das Bild zur Wahl, wobei es natürlich gleichwohl Steuerungsmechanismen der Leserichtung von Bildern gibt [...].95
Über die Tatsache, daß sowohl bei Bildern als auch bei Texten von „lesen“ gesprochen werden kann, herrscht jedoch Übereinkunft; so faßt Eicher den Sachverhalt folgendermaßen:
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Zu der ursprünglichen Bedeutung von ‚lesen’ und metaphorischen Verstehensmöglichkeiten im Sinne eines „Lesens der Welt“ siehe auch Hugo Aust: Artikel ‚Lesen’. In: RLW Bd. 2, S. 406-410; des weiteren zum Lesen in Mittelalter und Früher Neuzeit z.B. Wieland Schmidt: Vom Lesen und Schreiben im späten Mittelalter. In: Festschrift für Ingeborg Schröbler zum 65. Geburtstag. Hg. von Dietrich Schmidtke und Helga Schüppert (PBB 95 [1973] Sonderheft). Tübingen 1973, S. 309-327. In der neueren Leseforschung kommt allerdings auch die Ansicht zum Ausdruck, daß geübte Leser den Sinn eines Satzes nicht schrittweise aus den einzelnen Worten erfassen, sondern ganze Teile des Satzes gewissermaßen simultan überblicken; auf dieser Hypothese beruhen auch einige Schnellese-Methoden. – Ähnlich enstand aus pädagogischer Sicht die Kontroverse, ob Kindern das Lesen besser mit einem analytischen oder einem synthetischen Ansatz beizubringen sei, ob also die alphabetische bzw. phonetische oder die ganzheitliche Methode angewendet werden solle; vgl. hierzu G.R. Roberts/ E.A. Lunzer: Lesen und Lesenlernen. In: Kurt Meiers (Hg.): Erstlesen. 2., überarb. und erw. Aufl. Bad Heilbrunn 1981, S. 123-128; zur Entstehung des stillen Lesens siehe Paul Saenger: Space between words. The origins of silent reading. Stanford 1997, sowie Roger Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit. Frankfurt 1990, bes. S. 146-168; siehe auch McLuhan, S. 82-84. Schenda, S. 91f. Titzmann, S. 379. Zu Titzmanns Ausführungen ist ergänzend anzumerken, daß es durchaus auch Bilder gibt, die die Leserichtung zwingend vorgeben. So kann man z.B. Totentänze nur von links nach rechts lesen, da der Reigen in der Regel nach links führt, so daß der Leser bei der den Tanz anführenden Person mit der Lektüre und Betrachtung beginnt. Dieser Sachverhalt wird später bei den Analysen der einzelnen Totentänze noch an einigen Beispielen verdeutlicht. – Interessante Überlegungen zur Leserichtung von Bildern stellt auch Caviness an, bezieht sich aber vorwiegend auf Glasfenster im Kirchenraum (vgl. Caviness, S. 122-126).
Theoretischer Teil
32
Die Verbindung zwischen Lesen und Bildersehen ist dabei durchaus nicht zufällig. Sie resultiert aus der bereits zum lexikalischen Allgemeingut gewordenen Analogie, die in Begriffen wie Bild- und Filmsprache ihren Niederschlag findet.96
Auch Schmitz-Emans rekurriert auf das Bilderlesen, einen „Modus der Bildbetrachtung, der einst geläufiger war als heute“: Für die Ablösung des Bilder-Lesens durch eine simultanistische Bildbetrachtung steht programmatisch die Medienästhetik des Lessingschen „Laokoon“ mit ihrer These von im Bild festzuhaltenden fruchtbaren Augenblick. Lessings Unterscheidung zwischen der Dichtkunst als Darstellung von „Handlungen“ und der Malerei als Darstellung von „Augenblicken“ hatte ja die illusionsästhetische Deutung von Gemälden als Darstellungen einzelner Zeit-Punkte zum Kern97 theorem gemacht.
Auch das Lesen von Bildern will gelernt sein, wie Goodman am Beispiel der Perspektive herausstellt: „Perspektivisch gemalte Bilder müssen wie alle anderen gelesen werden; und die Fähigkeit zu lesen muß erworben werden.“98 So würde jemand aus einem Kulturkreis, in dem perspektivisch gemalte Bilder unbekannt sind, mit solchen Abbildungen zunächst nach Goodman nicht viel anfangen können. Theoretischer Teil
Erkennt man die Vorstellung eines „Lesens“ von Bildern an, ist ein weiterer Schritt, zu untersuchen, ob Bilder nicht auch narrativ sein können. Hierbei ist zunächst danach zu fragen, welche Definition von Narrativität man zugrundelegt. Es ist einerseits möglich, mit einem sehr weiten Narrativitäts-Begriff zu arbeiten, der den Schwerpunkt hauptsächlich auf die zeitliche Sukzession einer in irgendeiner Weise als kohärent bzw. als zusammengehörig empfundenen Reihe von Äußerungen legt; dies würde bedeuten, daß auch Texte wie Kochrezepte oder Bedienungsanleitungen als narrativ anzusehen wären. Andererseits kann man als zusätzliches Kriterium für Narrativität die Ereignishaftigkeit als notwendig ansehen, d.h. es muß ein Zustandswechsel vorliegen, um einer Reihe von Elementen Narrativität zuschreiben zu können.99 Die Sukzessivität, die einem Text eigen ist, kann in den Dienst eines Beschreibens von Ereignissen gestellt werden, die in einem zeitlichen Nacheinander erfolgen; wenn man Elemente eines Bildes ebenso in einer temporalen Sukzession wahrnehmen kann, wäre es demzufolge möglich, auch Bildern Narrativität zuzuschreiben. Dabei ist es keine Frage, daß Bilderfolgen bzw. -zyklen eine Geschichte erzählen können; als Beispiel mögen etwa Kinderbücher mit textlosen Bildergeschichten dienen.100 Zu untersuchen bliebe allerdings, ob auch einem Einzel96 97 98 99 100
Eicher, S. 17. Eicher weist jedoch ähnlich wie Muckenhaupt ausdrücklich auch auf die Verschiedenheit der Symbolsysteme Text und Bild hin. Schmitz-Emans, Intertextualität, S. 220. Goodman, S. 25. Zu verschiedenen Auffassungen, was einen Text narrativ macht, vgl. Matías Martínez: Artikel ‚Erzählschema’. In: RLW Bd. 1, S. 506-509, bes. S. 508. Vgl. etwa Steffen Peltsch (Hg.): Auch Bilder erzählen Geschichten. Beziehungen zwischen Text und Bild im Kinder- und Jugendbuch (Beiträge Jugendliteratur und Medien, Beiheft 8). Weinheim 1997; ebenso Volker Schupp: Pict-Orales oder: Können Bilder Geschichten erzäh-
Narrativität von Totentänzen
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bild, das nicht in mehreren aufeinanderfolgenden Teilen konzipiert ist, eine narrative Struktur zugrundeliegen kann. Solchen Fragestellungen geht Kibédi Varga ausführlich nach, indem er die Konzepte der „visuellen Narrativität“ und „visuellen Argumentation“ einer eingehenden Betrachtung unterzieht. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß auch in Bildern, die nicht Teil einer komponierten Folge sind, narrative Elemente vorliegen können, nämlich dann, wenn sie Teil eines größeren, gewissermaßen „virtuellen“ Zusammenhangs sind, der nur implizit vorhanden ist. So kann der Betrachter eines Bildes sich eine Geschichte ausdenken, in die die dargestellte Szene eingebettet sein könnte; ist dem Bild ein Titel beigegeben, der auf eine historische Begebenheit oder eine bekannte Geschichte wie eine Sage oder Legende hinweist, läßt sich die Szene mit dem entsprechenden Hintergrundwissen als Ausschnitt des betreffenden Geschehens verstehen, stellt also einen Zeitpunkt in einem „größeren narrativen Zusammenhang [...]“ dar.101 Mit dem Gegenstand der Narrativität in Bildwerken beschäftigt sich auch Wolf, der versucht, eine Art systematischen Katalog an Kriterien aufzustellen, die erfüllt sein müssen, damit einer wie auch immer gearteten Äußerung (sei sie literarisch, malerisch oder gar musikalisch) Narrativität zugeschrieben werden kann. Diese Kriterien bezeichnet er als „Narreme“.102 Die meisten von ihnen sind gleichermaßen auf Text- wie auf Bildkommunikation anwendbar; im folgenden Abschnitt soll unter anderem dieser Ansatz angewendet werden, um zu untersuchen, ob es möglich ist, Totentänzen narratives Potential zu attestieren. Narrativität von Totentänzen
2.2.3. Exkurs: Sind Totentänze narrativ? Um festzustellen, ob die „Grundbedingungen jeder Entfaltung eines narrativen Potentials in der bildenden Kunst“103 vorliegen, stellt Wolf eine Reihe von Fragen bzw. Bedingungen an das zu untersuchende Bildwerk; diese sind die oben beschriebenen Narreme.104 Zunächst muß es mimetisch sein, d.h. Ausschnitte aus einer möglichen Welt darstellen, indem es z.B. anthropomorphe Figuren enthält. Diese Bedingung trifft für Totentänze meines Erachtens zu; denn neben den oh-
101 102
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len? In: Poetica 25 (1993), S. 34-69 (unter anderem mit Bezug auf die Iwein-Zyklen auf Rodenegg, die Wiener Genesis, den Malterer-Teppich und die Tabulae Iliacae). Vgl. Kibédi Varga, Visuelle Narrativität, S. 364. – Titzmann hingegen spricht Bildern, die nicht Teil einer Serie sind, das narrative Potential ab; Bilder könnten nur „synchrone Zustandshaftigkeit“ darstellen (vgl. Titzmann, S. 379). Wolfs genaue Definition von Narremen lautet: „Faktoren von Narrativität; Kennzeichen, inhaltliche ‚Hohlformen’ und ‚Syntaxregeln’ des Narrativen“ (Wolf, Das Problem der Narrativität, S. 42). Diese Narreme werden noch in qualitative, inhaltliche und syntaktische Narreme differenziert (vgl. S. 44). Ich übernehme hier jedoch nicht alle von Wolf vorgeschlagenen Narreme, sondern beschränke mich auf diejenigen, die in Verbindung mit dem Gegenstand sinnvoll erscheinen. Wolf, Das Problem der Narrativität, S. 62. Vgl. ebd., besonders S. 62-64.
34
Theoretischer Teil
nehin menschlichen Ständevertretern105 sind auch die Todesfiguren im weitesten Sinne als anthropomorph zu bezeichnen.106 Des weiteren müssen rekurrente Figuren sichtbar sein. Auch diese Bedingung ist erfüllt, taucht doch der Tod in jeder „Einzelszene“ jedes individuellen Menschen wieder auf. Außerdem postuliert Wolf für das Vorhandensein eines narrativen Potentials eine „syntaktische“, auf zeitlicher Sukzession, Kausalität und einer gewissen teleologischen Konzeption basierende Folge von Handlungen. „Liest“ man Totentänze entsprechend ihrem Aufbau von links nach rechts und schaut sich ein Figurenpaar nach dem anderen an, ergibt sich eine Form der Sukzession, die insofern zwingend ist, als die vorgegebene Leserichtung keine andere Wahrnehmungsform erlaubt. Ob allerdings die auf Sukzession aufbauende Darstellungsweise auch gleichzeitig bedeutet, daß das gezeigte Geschehen sukzessiv abläuft, oder ob man nicht vielmehr annehmen muß, daß Simultaneität vorliegt, die sich daraus ergibt, daß alle Personen gleichzeitig in dem geschlossenen Reigen tanzen – sie halten sich schließlich an den Händen –, muß hier in jedem Fall gefragt werden.107 Die Kriterien der Kausalität und Teleologie stellen ein weiteres Problem dar. Das nacheinander erfolgende Auftreten der Personen ist nicht durch Kausalität bestimmt. Daß nach dem Papst, etwa im Lübecker Totentanz von 1463, der Kaiser folgt, liegt in der Struktur des Totentanzes begründet, dessen Ständereihe sich an der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung orientiert und im Fall von Lübeck 1463 abwechselnd geistliche und weltliche Ständevertreter in absteigender Rangfolge aufzählt. Das Auftreten der einen Figur bedingt jedoch nicht kausal die Tanzaufforderung an die nächste Person. Wir haben es lediglich mit einer akkumulativen Reihung der Personen zu tun. Ebenso könnte man zwar sagen, daß ein Totentanz eine teleologische Komponente besitzt, indem die gezeigten Personen ihrem Schicksal – entweder der Hölle oder der ewigen Seligkeit – zugeführt werden, jedoch ist die Struktur des Totentanzes mit den einander folgenden Figurenpaaren nicht in einem narratologischen Sinn als teleologisch zu bezeichnen. Darüber hinaus wird das telos (in diesem Fall entweder die Verdammung oder die Erlösung) ja auch gar nicht dargestellt; es ist lediglich in der Vorstellung des Betrachters präsent oder wird allenfalls in der Figurenrede angedeutet. Theoretischer Teil
105
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Der Begriff „Ständevertreter“ ist insofern inkorrekt, als die in Totentänzen auftretenden Menschen nicht immer einem „Stand“ entsprechend der mittelalterlichen Bedeutung, d.h. einer jeweiligen Position im gesellschaftlichen ordo, zuzuordnen sind. „Berufsbezeichnung“ ist ebenfalls nur in einigen Fällen zutreffend; und es ist hier zu bedenken, daß Figuren wie etwa Dirne, Dieb oder Jude, die ja auch in einigen Totentänzen vorkommen, weder als das eine noch als das andere bezeichnet werden können und vollständig außerhalb der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung anzusiedeln sind. Da aber in der Forschung zumeist von „Ständen“ gesprochen wird, verwende ich hier diesen Begriff als Kompromißlösung (vgl. Claußnitzer/ Freytag/ Warda, S. 199, Anm. 36; dort allerdings in Bezug auf Osterspiele). Zugespitzt ließe sich formulieren, daß die Todesgestalten im Grunde ja auch einmal Menschen waren, so daß zwischen ihnen und den menschlichen Gestalten kein wesenhafter Unterschied besteht. Siehe unten die Ausführungen zur Zeitstruktur; vgl. auch Rosenfelds Überlegungen zu Simultaneität vs. Sukzessivität; Rosenfeld, Totentanz, S. 198f.
Narrativität von Totentänzen
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Einige der wichtigsten Bedingungen für das Vorhandensein einer narrativen Struktur sind also in Totentänzen nicht erfüllt. Weitere Klarheit über die Frage, ob Totentänze narratives Potential beinhalten, kann man gewinnen, wenn man versucht zu bestimmen, welche Art von Gemälde in Bezug auf die Szenenstruktur bei einem Totentanz vorliegt. Hierbei gibt es natürlich entscheidende Unterschiede zwischen Monumentalgemälde und Buchtotentanz. Da – jedenfalls nach allem, was man über die Überlieferungswege rekonstruieren kann – vermutlich die Wandgemälde die ursprünglichere Form des Totentanzes darstellen und Buchdrucke in diesem Fall eine Sekundärrezeption der Monumente sind, wende ich mich an dieser Stelle den Kirchen- oder Friedhofsmalereien zu. Diese sind zumeist als geschlossenes Gemälde konzipiert, wie etwa in der Marienkirche in Lübeck, d.h. es liegt eine einzige zusammenhängende Bildfläche vor, was unter anderem im Lübecker Totentanz am in der Regel ununterbrochenen Hintergrund zu erkennen ist. Teilungen des Gemäldes mögen durch architektonische Gegebenheiten begründet sein, wie etwa Türdurchbrüche, Ecken o.ä., also Fälle, in denen es keine durchgehende Wandfläche gibt.108 In der Pariser Danse Macabre etwa, die wir nur aus den Drucken von Guyot Marchant kennen, hat wohl eine gewisse Unterteilung durch die Arkaden der Friedhofsmauer vorgelegen; dennoch besteht kaum ein Zweifel, daß die Malerei als zusammenhängendes Gemälde zu verstehen ist. Die von Kibédi Varga entworfene109 und durch Wolf präzisierte Kategorisierung von Bildwerken entsprechend ihrer Szenenstruktur ist gerade deshalb für die Betrachtung von Totentänzen aufschlußreich, weil keine der vorgeschlagenen Kategorien ganz zuzutreffen scheint – die den Totentänzen zugrundeliegende „Zeitstruktur“ ist komplex und schwer greifbar, wie im Verlauf der Betrachtung des narrativen Potentials noch deutlicher werden wird. Wolf unterscheidet:110 Narrativität von Totentänzen
Typen potentiell narrativer Bilder
Bildserien
mehrsträngige Bildserien
108 109 110
einsträngige Bildserien
Einzelbilder
PolyphasenEinzelbild
MonophasenEinzelbild
So war z.B. auch der Lübecker Totentanz-Fries durch bauliche Gegebenheiten der Beichtkapelle unterbrochen; vgl. hierzu Vogeler, S. 77-79. Vgl. Kibédi Varga, Visuelle Narrativität, S. 360. Wolf, Das Problem der Narrativität, S. 56. Wolf greift hierbei u.a. auf die Terminologie anderer Autoren zurück, vgl. z.B. zur Klassifizierung verschiedener Formen von Narrativität in Bildwerken auch Kibédi Varga, Visuelle Narrativität, S. 360-365.
36
Theoretischer Teil
Daß Totentänze sich aufgrund des durchgehenden Bildhintergrundes (z.B. einer Landschaft) hinter allen Figuren und der zusammenhängenden, nicht unterteilten Bildfläche als Einzelbilder bestimmen lassen, war bereits festgestellt worden. Sind Totentänze nun aber ein Monophasen- oder ein Polyphasen-Einzelbild?111 Diese zunächst trivial erscheinende Frage ist ausgesprochen schwer zu beantworten. Auf den Malereien ist dargestellt, wie eine Anzahl von Menschen durch Todesfiguren in einen Reigentanz gezogen wird. Muß man sich diesen Vorgang simultan vorstellen, d.h. werden alle diese Menschen gleichzeitig zum Tanz aufgefordert, oder ist es ein Nacheinander, was das Geschehen als narrativ auszeichnen würde? In der Tat gehen diese beiden Fragen bei näherer Betrachtung am eigentlichen Sinn des Totentanzes vorbei. Der gezeigte Vorgang ist gewissermaßen „virtuell“; er findet nicht zu einem tatsächlichen, bestimmten Zeitpunkt statt, sondern immer, andauernd, weil er zeitlos ist – das Sterbenmüssen ist die immerwährende und zu jeder Zeit gültige conditio humana, die hier mit Hilfe des Tanzmotivs in Szene gesetzt und dadurch anschaulich gemacht wird. Es geht also weniger um ein konkretes, wirklich stattfindendes Geschehen als vielmehr um eine Verbildlichung des universalen Sterbevorgangs, was dem Betrachter zeigen soll, daß der Tod zu jeder Zeit gegenwärtig ist und unversehens auch für ihn selbst aktuell werden kann. Kiening formuliert, die Existenz dessen, was im Bild gezeigt wird, sei „weder eine realsymbolische noch eine allegorische, vielmehr eine rhetorische“;112 es vollziehe sich nicht „in einer wie auch immer gearteten Raum-Zeit-Situation, sondern im Bereich des Imaginären“.113 Totentänze sind also weder mono- noch pluriszenisch. Auf der Oberfläche gesehen, wären sie als monoszenisch zu klassifizieren, weil der Tanz als Simultangeschehen abgebildet wird; der tiefere Sinn des Genres hingegen entzieht sich, wie man gesehen hat, dieser Klassifikation. Wolf ist sich anscheinend dieses Problems bewußt, denn er verweist auf Darstellungen des Jüngsten Gerichts, die ja den Totentänzen durchaus nahestehen.114 Hierzu bemerkt er, solche Darstellungen seien ein pluriszenischer Bildtypus, müßten jedoch als Variante des MonophasenEinzelbildes angesehen werden, weil sie mehrere simultane Szenen verzeichnen.115 Aus den vorangegangenen Überlegungen ist zu folgern, daß Totentänze zu wenige der integralen Bedingungen für das Vorhandensein von Narrativität erfüllen, um als narrativ gelten zu können. Allerdings ist hier anzumerken, daß dieses Genre einer anderen Form, der des Dramas, dafür um so näher steht. Dafür spricht Theoretischer Teil
111
112 113 114 115
Zur Begriffsklärung: Polyphasen-Einzelbilder sind „Darstellungen, die mehrere zeitlich konsekutive Phasen eines Gegenstandes enthalten, unabhängig davon, ob diese in demselben setting, derselben Szenerie stattfinden oder nicht“. Ein Monophasen-Einzelbild ist dagegen „die Darstellung in der Regel nur von einem Szenenausschnitt, einem Zustand oder einer Handlung“ (Wolf, Das Problem der Narrativität, S. 55). Kiening, Das andere Selbst, S. 65. Ebd., S. 64. Vgl. Hammersteins Überlegung, Totentänze seien aus Weltgerichtsdarstellungen entstanden; siehe unten Abschnitt 2.3.3. „Zu den möglichen Ursprüngen der Totentänze“. Vgl. Wolf, Das Problem der Narrativität, S. 55, Anm. 67.
Bimedialität von Totentänzen
37
nicht nur die dialogische Konzeption, sondern auch die damit verbundene bildliche Darstellung – wie eine Art schriftliches und bildliches Substrat einer Aufführung bietet ein Totentanz auf der einen Seite mit Hilfe des Dialogs die sprachliche, auf der anderen Seite durch die Bilder die visuelle Komponente. So ist es nicht verwunderlich, daß der Ursprung der Totentänze im Drama gesucht wurde und es mehrere Versuche gab, die Aufführung von Totentänzen nachzuweisen; auch existieren tatsächliche Totentanz-Dramen, zumeist aber aus späterer Zeit.116 Daß Totentänze als Ganzes gesehen nicht narrativ zu nennen sind, schließt aber keineswegs das Vorhandensein von narrativen Passagen aus. Im Lübecker Druck Des dodes dantz von 1489 beispielsweise, der den Text stark ausweitet, finden sich zahlreiche Stellen, die ausgesprochen erzählend sind; hier handelt es sich um die Beschreibung des vormaligen Lebenswandels der dargestellten Figuren. Ein solches Vorgehen zur Charakterisierung der Inhaber der gesellschaftlichen Positionen mit ihren standestypischen Vergehen bringt jedoch nur eine jeweils punktuelle – zumal auf den Text beschränkte – Narrativität in den Text ein, die nicht mit einem übergreifenden Prinzip gleichzusetzen ist. Bimedialität von Totentänzen
2.3. Grundsätzliches zur Bimedialität von Totentänzen 2.3.1. Grundfragen bei der Untersuchung der Text-Bild-Beziehungen in Totentänzen In den vorangegangenen Abschnitten wurden zunächst semiotische Grundlagen des Verhältnisses von Bild und Text sowie die Frage nach dem narrativen Potential von Bildwerken behandelt. Beides sind grundsätzliche Probleme, die im Zusammenhang mit den meisten Text und Bild kombinierenden Genres untersucht werden können. Da es jedoch eine große Anzahl solcher Gattungen gibt, die sehr verschiedene Eigenschaften aufweisen können, ist es sinnvoll, für eine genauere Untersuchung Fragestellungen zu entwickeln, die speziell auf den im Vordergrund stehenden Gegenstand abgestimmt sind. Es soll daher nun versucht werden, eine Art Fragenkatalog für die Untersuchung von Text-Bild-Beziehungen in Totentänzen zu entwerfen. Das heißt nicht, daß diese Fragen für jeden einzelnen untersuchten Totentanz nacheinander abgehandelt oder in allen Fällen zur Gänze ausgeschöpft werden, aber sie sollen im folgenden bei den Detailuntersuchungen im Hintergrund präsent bleiben. In den einzelnen Totentänzen werden jeweils diejenigen Fragestellungen bevorzugt, die besonders interessante und vielversprechende Ergebnisse liefern bzw. für den speziellen Fall geeignet sind. Die leitende Fragestellung geht von der Annahme aus, daß den „typischen“ spätmittelalterlichen Totentänzen im wesentlichen die gleiche Intention und Aussage zugrundeliegt: nämlich die Paränese, die belehrende und ermahnende Erbau116
Vgl. Abschnitt 2.3.3. zu den Ursprungstheorien.
Theoretischer Teil
38
ung, die auf der Tatsache beruht, daß der Tod zu jeder Zeit jeden einzelnen Menschen ereilen kann. Deshalb soll aus dem im Totentanz gezeigten memento mori die Lehre gezogen werden, daß man sich mittels einer gottgefälligen Lebensführung stets für das Sterben bereit halten muß, indem man durch gute Taten und die richtige Auffassung des als nichtig zu erkennenden irdischen Lebens die Voraussetzung dafür schafft, einst Gottes Gnade erlangen zu können. Zu untersuchen ist nun, wie die Totentänze diese Aussage vermitteln, und zwar soll hier genauer in den Blick genommen werden, wie die Realisierung dieser Intention von den beiden Medien Text und Bild geleistet wird. Dabei wird im einzelnen zu fragen sein: Theoretischer Teil
-
Welche Anteile der intendierten Aussage werden durch den Text vermittelt? Welche Aspekte der Intention sagt das Bild aus? Welche Inhalte drücken beide Medien aus bzw. welche besondere Wirkung entsteht durch ihre Kombination? Wie nehmen Bild und Text aufeinander Bezug?
Die Behandlung dieser Fragen wird sich dabei unter anderem an den gattungskonstituierenden Merkmalen des Genres ‚Totentanz’ orientieren und einige von diesen in ihrer Konkretisierung in Text und Bild untersuchen.117 Zunächst muß also festgelegt werden, welche Aspekte als merkmalhaft für die Gattung gewertet werden. Hierzu zähle ich die folgenden Punkte: -
Ständereihe Tanzmotivik Auftreten des personifizierten Todes bzw. Auftauchen von wie auch immer gearteten Todesgestalten regelmäßige Abfolge von Menschen und Todesfiguren Didaxe und Paränese im Sinne einer Mahnung vor dem unvorbereiteten Tod und eines Aufrufs zu einem gottgefälligen Leben Dialog Verbindung von Bild und Text
Es gibt sicherlich noch eine Reihe weiterer Elemente, die in den meisten Totentänzen zu finden sind, etwa die Ständekritik oder das Motiv der Zwanghaftigkeit; jedoch sind mit den oben genannten Punkten wohl die wichtigsten gattungskonstituierenden Merkmale gegeben, die auch in den meisten „typischen“ spätmittelalterlichen Totentänzen auftreten.118 Dabei muß betont werden, daß diese Elemente 117
118
In den folgenden Analysen der Totentänze werden nicht immer alle diese Merkmale berücksichtigt, sondern ich beschränke mich auf diejenigen Aspekte, die für Text-BildZusammenhänge bedeutsam sind. So wird etwa die Ständereihe vergleichsweise wenig Beachtung finden, während z.B. die Tanzmotivik demgegenüber von größerer Bedeutung ist. Schulte nennt nur drei Gattungskriterien: „Die Umsetzung [der Aussage ‚Alle müssen sterben’] erfolgt in den mittelalterlichen Totentänzen im wesentlichen über drei gattungsdefinierende Gestaltungskriterien, die allen Überlieferungsträgern gemeinsam sind und sie von anderen, ebenfalls mit diesem Thema befaßten spätmittelalterlichen Dichtungen abgrenzen: die
Bimedialität von Totentänzen
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keinesfalls immer alle zugleich und in Reinform vorhanden sein müssen, damit ein Werk als Totentanz klassifizierbar ist; die verschiedenen Aspekte mögen in unterschiedlichen Totentänzen mehr oder weniger stark realisiert sein. Es gibt Totentänze, in denen nur noch wenig von der Tanzmotivik geblieben ist, die aber alle anderen Merkmale aufweisen; ebenso kennt man Totentänze, die entweder nur als Bild oder nur als Text umgesetzt sind. Solche Merkmale wie das Auftreten des Todes, das Auftauchen von Menschen verschiedener Gruppenzugehörigkeit und eine didaktische bzw. paränetische Grundausrichtung müssen meiner Ansicht nach jedoch gegeben sein, um eine Dichtung als Totentanz bezeichnen zu können. Gerade in der Neuzeit wurde eine Vielzahl von Werken geschaffen, die sowohl von den Künstlern selbst als auch in der Forschung als Totentänze tituliert wurden, die jedoch zu wenige der genannten Merkmale aufweisen, um wirklich als solche gelten zu können.119 Eine klare Bimedialität von Totentänzen
119
Ständereihe, die Todesfigur und das Tanzmotiv“ (Schulte, Totentänze, S. 67). Ähnlich hatte schon Buchheit die Gattung ‚Totentanz’ definiert: „Die Analyse der mittelalterlichen Totentänze ergibt besonders drei Momente, die ihr Wesen auszumachen scheinen: die mumienhafte oder skelettähnliche Gestalt der Todesfigur, das Reigenmotiv und die Differenzierung in einzelne Stände“ (Buchheit, S. 14). Freytag, Totentanz 1463, beschreibt die Gattung in ihrer „idealen Gestalt“ umfassender mithilfe weiterer Kriterien (S. 14f.): „Der Totentanz setzt das Miteinander von Bild und Text voraus; er zeigt einen Reigen, einen Tanz, bei dem jeweils ein Mensch und eine Todesfigur ein Paar bilden; der Totentanz wird bestimmt durch den Dialog des Sterbenden mit dem Tod; er ist anonym und in der Volkssprache abgefaßt, wendet sich also nicht ausschließlich an Lateinkundige; er repräsentiert Vertreter aller Stände und Gruppen [...]; der Totentanz offenbart sozialkritische Tendenzen und die Einsicht, daß der Tod [...] alle Standesunterschiede ausgleicht; er beruht auf der Konfrontation von Diesseits und Jenseits; Zeitlichkeit und Ewigkeit, Macht und Ohnmacht; der Totentanz versteht sich als Lehrdichtung, die das Publikum zu Buße und gottgefälligem Lebenswandel mahnt und ihm intensiv in Erinnerung ruft, daß der Tod jeden unversehens ergreifen und dem Richter zuführen kann“, vgl. auch Freytag, Das Theatrum mortis tripartitum, S. 51f. Natürlich gibt es auch in der älteren Forschung noch eine ganze Reihe von Versuchen, die Gattung zu definieren; bei der Wahl der Kriterien spielte allerdings meist die jeweils gewählte Ursprungstheorie eine entscheidende Rolle; vgl. dazu den Überblick bei Schulte, Totentänze, S. 66f. So entstanden im Gefolge der Weltkriege eine ganze Reihe von „Totentänzen“; es handelt sich zwar um Werke, die in irgendeiner Form das Wirken des Todes in der Welt darstellen, jedoch von dem Gedankengut und der Vorstellungswelt, die den spätmittelalterlichen Totentanz hervorgebracht haben, sehr weit entfernt sind und daher meines Erachtens eigentlich anders bezeichnet werden müßten. Die Auswirkungen des Krieges z.B. sind nur schlecht mit dem Agieren der spätmittelalterlichen Todesfiguren zu vergleichen. Ebenso geht der „Geist“ der alten Totentänze verloren in neuzeitlichen Abbildungen von Katastrophen, die dann auch in einem Atemzug mit Totentänzen genannt werden. Solche Darstellungen zeigen zwar, wie Menschen dem unvorhergesehenen Tod anheimfallen, doch ist meiner Meinung nach oft kaum eine didaktisch-moralische Ausrichtung von der Art erkennbar, wie sie für den spätmittelalterlichen Totentanz im eigentlichen Sinne ganz und gar unabdingbar ist, bzw. funktioniert die Didaxe dort unter ganz andersartigen Voraussetzungen; vgl. hierzu etwa Brigitte Schulte: Der Totentanz vor dem Hintergrund der industriellen Revolution und den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges. In: Frey/ Freytag (Hg.), S. 203-230; Jens Guthmann: Die Bedrohung des Menschen durch den Menschen. Totentanz in der bildenden Kunst seit dem Zweiten Weltkrieg. In: ebd., S. 231-258; siehe auch das dort dargestellte Abbildungsmaterial. – Auch Ehrmann-Herfort spricht die „vielfältige, häufig auch unreflektierte Verwendung“ des Begriffs ‚Totentanz’ in der Neuzeit an und weist darauf hin, daß die Verknüpfung von Tanz und Tod
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Begriffsabgrenzung ist daher meines Erachtens unbedingt vonnöten, damit man unmißverständlich das Forschungsfeld absteckt. Theoretischer Teil
Im Zusammenhang mit Text-Bild-Beziehungen in Totentänzen wurde verschiedentlich die Frage gestellt, welchem Medium die Priorität gebühre, d.h. ob dem Text oder den Bildern der höhere Stellenwert zukomme. Kaiser spricht sich hier für den Text aus und liefert unter anderem folgende Begründung: Die meisten Totentänze werden durch die Worte eines Predigers eröffnet bzw. geschlossen. Das bedeutet nach mittelalterlichem Verständnis einen klaren Vorrang des Wortes. Die Predigt ist die essentia und die Bilder sind im selben Maße Hilfsmittel, wie sie dies etwa in den Armenbibeln sind oder in den Ausschmückungen der Kirche. Sie werden dort als Mittel der Unterwei120 sung des Schriftunkundigen toleriert.
Ähnlich, wenn auch allgemeiner gehalten, äußert Rosenfeld: „Im Mittelalter ist überall der Text das Primäre, das Bild dient nur zur Illustrierung, zur Veranschaulichung eines sprachlich gegebenen Inhalts.“121 Demgegenüber weist Koller auf den Ursprung der Texte aus Spruchbandtiteln hin und meint, daß der Text als der bildlichen Darstellung untergeordnet zu betrachten sei. Während Kaiser, wie oben beschrieben, die Predigergestalt als Indiz für den Vorrang des Textes auslegt, instrumentalisiert Koller diese Figur in der genau umgekehrten Weise. Die oftmals diesen Predigerfiguren als Sprechern zugeordneten Aufforderungen zur Bildbetrachtung legt er dahingehend aus, daß der Text als sekundäre Ergänzung zum Bild zu verstehen sei. Erst in der weitergehenden Entwicklung der Totentänze gewönnen die Texte „auch inhaltlichen Eigenwert und stellen nicht mehr bloß die Ausdrucksseite einer bildlich präsentierten Inhaltsseite dar“.122 Wie bereits im Zuge der theoretischen Grundlegungen angedeutet wurde und wie auch die nachfolgenden Einzelanalysen und der Ergebnisteil zeigen werden, ist die Frage, ob Text oder Bild für die Realisierung der Aussage von Totentänzen die entscheidendere Rolle spielen, allerdings weitgehend obsolet, da beide Konstituenten eines Kunstwerks sind, das sich gerade durch ihre wechselseitige Kommunikation und ihr Zusammenwirken definiert. In diese Richtung zielen auch die Überlegungen Otts, der kritisiert, es werde auch heute noch in manchen mit interdisziplinärem Anspruch einherkommenden Arbeiten als das Vorausgehende, primär Existente der Text angesehen, zu dem das Bild erst sekundär hinzu123 tritt.
120 121 122 123
in neuzeitlichen Werken häufig „nicht an einen fest umrissenen Begriffsinhalt“ gebunden sei; der Begriff „mag [...] durchaus auch als Signal oder Reizvokabel benutzt werden“ (EhrmannHerfort, Sp. 690). Kaiser, S. 23. Rosenfeld, Totentanz, S. 293. Koller, S. 462f. Ott, Text und Bild, S. 57.
Stand der Totentanz-Forschung
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Vielmehr sei zu beachten, daß dem Bildmedium eine „eigenständige – und in der Verschränkung mit den Texten diese interpretierende – Funktion zukommt“.124 Daher wird auch in der vorliegenden Arbeit eine Entscheidung über den relativen Stellenwert von Text und Bild mit Bedacht vermieden.125 Zunächst müssen die oben genannten Fragen und Aspekte in den Einzelanalysen der Totentänze erörtert werden. Am Ende der Untersuchungen sollen dann die Ergebnisse vergleichend nebeneinandergestellt werden, um zu sehen, welches Gesamtbild sich bietet. Es ist zu beachten, daß hier keine vollständige Behandlung oder Interpretation jedes Totentanzes gegeben werden kann und soll. Im Vordergrund stehen jeweils all diejenigen Aspekte, die für die Untersuchung von Text-Bild-Beziehungen relevant sind; andere Gesichtspunkte werden bewußt aus der Betrachtung ausgegrenzt. Bevor ich mich den einzelnen Totentänzen zuwende, folgen noch einige Betrachtungen über die Grundbedingungen der Bimedialität im spätmittelalterlichen Genre des Totentanzes. Hierzu gehören neben einer kurzen Übersicht zum Forschungsstand in Bezug auf den Gegenstand der Totentänze im allgemeinen z.B. auch die Ursprungstheorien, die Überlieferungszusammenhänge dieser Werke, also in welcher Form und in welchem Raum sie auf uns gekommen sind – etwa als gedrucktes Buch oder als Wandgemälde –, sowie die Auswirkungen von Restaurierungen und Umgestaltungen.
2.3.2. Zum Stand der Totentanz-Forschung – Kurzer Überblick Einen vollständigen Abriß der vorhandenen Forschungsarbeiten zum Thema ‚Totentanz’ geben zu wollen, scheitert an der überaus reichen Literatur zu diesem Gegenstand, der, wie eingangs dieser Arbeit erwähnt, von zahlreichen Disziplinen bearbeitet wird. Allein auf dem Feld der (germanistischen) Literaturwissenschaft hat die Sekundärliteratur unübersichtliche Ausmaße angenommen. Eine Zusammenfassung der bisher vorliegenden Untersuchungen muß daher notwendigerweise selektiv vorgehen und sich auf die wichtigsten Werke und thematischen Linien konzentrieren. Innerhalb der Forschung lassen sich dabei verschiedene Richtungen und Entwicklungen ausmachen. Pionierarbeit wurde mit der editorischen Erfassung von Totentanz-Texten geleistet – zu erwähnen sind hier in Bezug auf die oberdeutStand der Totentanz-Forschung
124 125
Ott, Text und Bild, S. 57. Möglicherweise geht die jeweilige Prioritätensetzung auch zu einem gewissen Maße konform mit der Beanspruchung des Gegenstandes jeweils für die Kunstgeschichte oder die Literaturwissenschaft; vgl. aber die Feststellung von Caviness: „In this period [gemeint ist das (Hoch-) Mittelalter] texts and pictures have equal autonomy“ (Caviness, S. 146). Caviness rekurriert hier aber wohl auch auf die Ablösung von Bildprogrammen von ursprünglich textlichen Vorlagen. Vgl. zur Problematik auch Belting, S. 517-523: Belting konstatiert eine deutliche Bevorzugung des Textes gegenüber dem Bild seit der Reformation.
Theoretischer Teil
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schen Totentänze vor allem Fehse126 und Maßmann127 (oberdeutscher vierzeiliger Totentanz-Text) sowie von Tavel128 (Berner Totentanz), bei den mitteldeutschen Textzeugen Rieger129 (Mittelrheinischer Totentanz) und Kiening130 (Handschrift Zimmern), für die niederdeutschen Totentänze Baethcke131 (Des dodes dantz) und in neuerer Zeit Sodmann132 (Dodendantz) und Freytag133 (Lübecker Totentanz von 1463).134 Eine Forschungsrichtung in der älteren Literatur befaßte sich bevorzugt mit den Ursprüngen der Totentänze (s.u. Abschnitt 2.3.3.); doch aufgrund der Verflechtung zahlreicher Literatur- und Kunstströmungen im Mittelalter konnten bis heute keine abschließenden Ergebnisse zu dieser Frage gewonnen werden. Wichtige Grundlagenarbeit, auf der zum Teil auch die vorliegenden Untersuchungen basieren, leisteten Überblicksdarstellungen wie z.B. der umfangreiche Band Hammersteins,135 der aus musikwissenschaftlicher Sicht nahezu alle bekannten Totentänze in den Blick nahm und seine Erkenntnisse u.a. in einem „Beschreibenden Verzeichnis“ zusammenfaßte. Ähnliche katalogisierende Arbeiten legten Utzinger/ Utzinger136 (für den gesamteuropäischen Raum) und Sörries137 (für den Monumentaltotentanz im deutschsprachigen Raum) vor. Erwähnung verdient hier auch die einen großen Stoffkreis umfassende Arbeit Rosenfelds,138 wenngleich seine Untersuchungen sich teilweise in Mißkredit brachten: einesteils durch den Versuch, zwecks Rückdatierung einen alten, „reinen“ mittelhochdeutTheoretischer Teil
126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138
Siehe vor allem Wilhelm Fehse: Der oberdeutsche vierzeilige Totentanztext. In: ZfdPh 40 (1908), S. 67-92 (im folgenden: Fehse, Obd. vierz. Totentanz-Text). Hans Ferdinand Maßmann: Die Baseler Todtentänze. Stuttgart 1847 (im folgenden: Maßmann, Baseler Todtentänze). Hans Christoph von Tavel: Edition des Basler Totentanzes, in: Cäsar Menz, Hugo Wagner (Hg.): Niklaus Manuel Deutsch. Maler – Dichter – Staatsmann. Bern 1979, S. 252-285. M. Rieger: Der jüngere Totentanz. In: Germania 19 N.F. 7 (1874), S. 257-280 (im folgenden: Rieger, Jüngerer Totentanz). Christian Kiening: Wilhelm Werner von Zimmern: Totentanz. Konstanz 2004 (Im folgenden: Kiening, Totentanz Zimmern). Hermann Baethcke (Hg.): Des dodes danz. Nach den Lübecker Drucken von 1489 und 1496. Stuttgart 1876. Timothy Sodmann: Dodendantz. Lübeck 1520. [Faksimile]. Vreeden und Bredevoort 2001 (im folgenden: Sodmann (Ed.)). Hartmut Freytag, Totentanz 1463: Der Totentanz in der Marienkirche in Lübeck und der Nikolaikirche in Reval (Tallinn). Edition, Kommentar, Interpretation, Rezeption. Köln u.a. 1993 (im folgenden: Freytag, Totentanz 1463). Hiermit sind selbstverständlich nicht alle edierten Totentänze erfaßt, sondern nur die wichtigste Textüberlieferung. – Sämtliche Editionen der in dieser Arbeit untersuchten Texte sind im Literaturverzeichnis genannt und werden in den betreffenden Kapiteln jeweils angegeben. Reinhold Hammerstein: Tanz und Musik des Todes. Die mittelalterlichen Totentänze und ihr Nachleben. Bern und München 1980 (im folgenden: Hammerstein, Tanz und Musik). Hélène und Bertrand Utzinger: Itinéraires des Danses macabres. Chartres 1996. Reiner Sörries: Der monumentale Totentanz. In: Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur (Hg.): Tanz der Toten – Todestanz. Dettelbach 1998, S. 9-51 (im folgenden: Sörries, Katalog). Hellmut Rosenfeld: Der mittelalterliche Totentanz. Entstehung – Entwicklung – Bedeutung. Münster und Köln 1954 [2. und 3. Aufl. 1968 bzw. 1974] (im folgenden: Rosenfeld, Totentanz).
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schen Totentanztext zu rekonstruieren, den es so nie gegeben hat, anderenteils durch die etwas problematische Argumentation bei dem Versuch, die Quelle aller Totentanzliteratur in Deutschland zu verorten, indem angebliche nationale Geisteshaltungen herangezogen werden.139 Widmete die ältere Literatur sich neben dem (weitgehend erfolglosen) Versuch, Stemmata zu erstellen, vielfach nur bestimmten Totentänzen, während andere vernachlässigt wurden, so beziehen neuere Forschungen vermehrt auch weniger beachtetere Textzeugen mit ein, und es werden sogar immer wieder – bis in die jüngste Zeit hinein – neue, bisher unbekannte Malereien, Handschriften oder Drucke entdeckt, die Zeugnis von der reichen Überlieferung geben. Dennoch beschränkt sich ein Großteil der Forschungsliteratur nach wie vor auf einen gewissen „Kanon“ von Totentänzen; bekannte Text- und Bildzeugen wie der Lübecker, Basler oder Berner Totentanz werden sehr oft untersucht, während z.B. die mitteldeutschen Totentänze demgegenüber oftmals in den Hintergrund rücken. Um diesem Ungleichgewicht Abhilfe zu schaffen, wendet die vorliegende Arbeit auch den bisher eher wenig beachteten Totentänzen besonderes Augenmerk zu, wie etwa dem Kienzheimer Totentanz. Für eine Reihe von Totentänzen liegen sehr detaillierte und materialreiche Einzelanalysen vor: So untersuchte Walther140 in aller Ausführlichkeit den Berliner Totentanz; Schulte141 beschäftigte sich vor allem mit den niederdeutschen Buchtotentänzen, während der von Freytag herausgegebene Band142 das Standardwerk zum Lübecker Totentanz in der Marienkirche von 1463 darstellt. Eine ebenfalls sehr ins Detail gehende Untersuchung lieferte Zinsli143 für den Berner Totentanz; den Basler Totentanz behandelte Egger144 in einer Monographie. Die drei letztgenannten Publikationen beinhalten zudem vorzügliches Bildmaterial, ein Vorteil der neueren Forschung, die insgesamt von den verbesserten Reproduktionsmöglichkeiten natürlich stark profitiert hat. Ältere Schriften mußten sich zuweilen auf von den Autoren selbst angefertigte Abzeichnungen verlassen oder gar ohne jedes Bildmaterial auskommen. So haben vielleicht überhaupt erst die letzten Jahrzehnte mit der verbesserten Bildtechnik die Text-Bild-Forschung in vollem Maße ermöglicht. Durch die digitale Verfügbarkeit vieler Materialien Stand der Totentanz-Forschung
139 140 141 142 143
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Neuere Forschungen votieren hier für Frankreich, bedenkenswert aber auch Volker Leppin: Der lateinische Totentanz aus Cpg 314 als Ursprungstext der europäischen Totentanztradition. Eine alte These neu bedacht. In: Archiv für Kulturgeschichte 77 (1995), S. 323-343. Peter Walther: Der Berliner Totentanz zu St. Marien. Berlin 1997. Brigitte Schulte: Die deutschsprachigen spätmittelalterlichen Totentänze. Unter besonderer Berücksichtigung der Inkunabel ‚Des dodes dantz’. Lübeck 1489. Köln und Wien 1990 (im folgenden: Schulte, Totentänze). Vgl. Anm. 133. Paul Zinsli: Der Berner Totentanz des Niklaus Manuel (ca. 1484-1530) in den Nachbildungen von Albrecht Kauw (1649). Bern 1953 (im folgenden: Zinsli, Berner Totentanz); vgl. zum Berner Totentanz auch Wilfried Kettler: Der Berner Totentanz des Niklaus Manuel. Philologische, epigraphische sowie historische Überlegungen zu einem Sprach- und Kunstdenkmal der frühen Neuzeit. Bern 2009. Da zum Zeitpunkt des Erscheinens von Kettlers Monographie die inhaltlichen Arbeiten am vorliegenden Band bereits abgeschlossen waren, konnte diese Publikation leider nicht mehr berücksichtigt werden. Franz Egger: Basler Totentanz. Basel 1990 (im folgenden: Egger 1990).
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geraten nun nochmals die Gegebenheiten in der Forschung in Umbruch. Teilweise sind jetzt Manuskripte im Internet einsehbar, die früher nur durch ausgedehnte (Auslands-)Reisen in Augenschein genommen werden konnten oder gar unter Verschluß waren und der Forschung überhaupt nicht zugänglich gemacht wurden. Für viele Werke gilt dies allerdings nach wie vor. Aber nicht nur den spätmittelalterlichen Totentänzen wandte die Forschung ihre Aufmerksamkeit zu, sondern gerade in den letzten Jahren ist man sich verstärkt der Konitinuität des Totentanz-Motivs bis in die jüngere Kunst und Literatur bewußt geworden. Der Totentanz bestand bis zu unserem Jahrhundert ungebrochen weiter und paßte sich jeweils dabei den veränderten Gegebenheiten an; so kritisierte er z.B. in der Neuzeit den Fortschrittsglauben oder erhielt im Zusammenhang mit den Weltkriegen neue Schwungkraft. Einige neuere Publikationen tragen dieser jüngeren Entwicklung des Genres Rechnung.145 Neben der Untersuchung von Problemen, die einzelne Totentänze betreffen, wird in neuerer Zeit vielfach auch versucht, einzelne Bild- und Textzeugen in größeren Zusammenhängen zu sehen oder bestimmte, übergreifende Aspekte bzw. Phänomene in verschiedenen Totentänzen zu beleuchten. In diese Kategorie gehören z.B. die Untersuchung Spoerris,146 die sich der Thematik der in Totentänzen sehr verbreiteten Spiegelmetapher zuwendet, oder auch die Studie Oosterwijks147 zu der Figur des Kindes in Totentänzen. Explizite Bild-und-TextForschungen an Totentänzen sind dabei aber, wie in der Einleitung dargestellt, noch relativ wenig unternommen worden. Das Phänomen des Totentanzes stellt in jedem Fall nach wie vor ein häufig bearbeitetes Themenfeld sowohl der Literaturwissenschaft als auch der Kunstgeschichte dar; Vereinigungen wie die Europäische Totentanz-Gesellschaft mit ihren zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen sind ein deutlicher Ausweis für die ungebrochene Popularität des Gegenstandes, der auch in der Gegenwart nicht aufhört, Dichter und Künstler zu inspirieren. In dieser Hinsicht bleibt die Totentanz-Forschung ein Feld, auf dem nach wie vor große Dynamik herrscht. Theoretischer Teil
145
146 147
Vgl. besonders die Beiträge in Winfried Frey/ Hartmut Freytag, Totentanz 1463: „Ihr müßt alle nach meiner Pfeife tanzen“. Totentänze vom 15. bis 20. Jahrhundert aus den Beständen der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Bibliothek Otto Schäfer Schweinfurt. Wolfenbüttel 2000 (im folgenden: Frey/ Freytag [Hg.]). Bettina Spoerri: Die Spiegelmetapher und das Spiegelbild in den Totentänzen von 1400 bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. Ein historischer Abriß. In: Wenninger, Markus J. (Hg.): „Du guoter tôt“. Sterben im Mittelalter - Ideal und Realität. Klagenfurt 1998, S. 157–180. Sophie Oosterwijk: ‚Muoz ich tanzen und kann nit gân?’ Death and the infant in the medieval danse macabre. In: Word and Image 22 (2006) Nr. 2, S. 146-164.
Ursprung der Totentänze
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2.3.3. Zu den möglichen Ursprüngen der Totentänze: Vorstellung verschiedener Ansätze Wiederholt wurde in der Forschung die Frage nach den Ursprüngen der Totentänze behandelt; dabei stand vielfach auch das Zusammenkommen der textlichen und bildlichen Elemente im Vordergrund, das auf verschiedenste Weise zu erklären versucht wurde. Es soll hier kein vollständiges Bild der Forschungsgeschichte gegeben werden, doch stelle ich im folgenden einige ausgewählte Theorien vor, die im Zusammenhang mit der Untersuchung der Entstehung des Genres von Bedeutung sind. Dabei ist zu beachten, daß diese verschiedenen Ursprungstheorien untereinander Beziehungen aufweisen und nicht immer als voneinander unabhängige Ansätze zu betrachten sind. So wurden mitunter mehrere Genres bzw. Dichtungs- oder Bildtypen als gemeinsame Vorläufer der TotentanzTradition aufgefaßt, und es erweist sich als schwierig, klare Trennungen zwischen den verschiedenen Linien zu ziehen. Ursprung der Totentänze
Die mittelalterliche Literatur, die sich entsprechend der zeitgenössischen Gedankenwelt im allgemeinen sehr breit mit der Todesproblematik auseinandersetzt, kennt verschiedene Genres bzw. Stoffe, die in dem einen oder anderen Zug eine gewisse Ähnlichkeit mit Totentänzen aufweisen und daher mit diesen in Verbindung gebracht oder gar als deren „Vorstufe“ angesehen wurden. Hierzu gehören etwa die Vado-mori-Dichtungen, die „Legende der drei Lebenden und der drei Toten“ sowie die Ars moriendi-Dichtungen.
Vado mori-Gedichte Bei den mittellateinischen Vado-mori-Gedichten handelt es sich in der Regel um eine Reihe von Distichen, die jeweils mit der Formel vado mori – „ich gehe sterben“ – beginnen und enden und verschiedenen Personen (Ständevertretern), aber auch personifizierten Eigenschaften, Affekten und Lastern in den Mund gelegt werden. Dieser Dichtungstyp ist der Contemptus-mundi-Literatur zuzurechnen und bis auf eine französische Fassung nur lateinisch, nie in der Volkssprache überliefert.148 Während die Reihung von Personen, die ihrem Tod entgegensehen, deutlich an Totentänze erinnert, sprechen andere Formmerkmale gegen eine direkte Entwicklung der einen Dichtungsart aus der anderen.149 So taucht keine
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Vgl. H. Rosenfeld: Artikel ‚Vado mori’. In: VL Bd. 10, Sp. 153-155, hier Sp. 153. Koller ist der Ansicht, die Differenzierung zwischen Totentänzen und Vado mori sei zuweilen problematisch. „Als entscheidendes Kriterium, diesen bis ins 18. Jahrhundert hinein fruchtbaren Texttyp trotz gelegentlich personifizierender Referenz des Todes [...] vom Totentanz zu unterscheiden, ist neben der prinzipiell fehlenden Bildseite das [...] refrainartig, doch im Gegensatz dazu verbal [...] formulierte Textthema“ (Koller, S. 604). Für Koller ist übrigens das Fortbestehen der Vado mori-Dichtungen bis ins 18. Jahrhundert ein Beleg gegen die These
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Todesfigur auf, sondern die Gedichte bleiben monologisch;150 auch wurden Vadomori-Distichen niemals illustriert. Zwar mag das wiederholte Auftauchen der Verbform vado auf ein gewisses Moment der Bewegung hinweisen, es ist aber weder von Tanz die Rede noch von einem Zwang hierzu, der ja in Totentänzen sehr oft zum Ausdruck gebracht wird. Stattdessen ist die Stimmung allgemein resignativ zu nennen.151 Ebenso ist zu bemerken, daß gegenüber dem typischen Aufbau von Totentänzen wichtige geistliche und weltliche Ständevertreter und Berufsgruppen fehlen. So meint Rosenfeld, es entspreche wohl nicht der ursprünglichen Tendenz der Vado-mori-Dichtungen, „ähnlich dem Totentanz oder der Danse macabre die Menschheit in einer Ständerevue zu erfassen“.152 Auch wenn Rosenfeld die These ablehnt, Totentänze könnten eine direkte Fortentwicklung der Vado-moriGedichte sein,153 so hält er es doch für wahrscheinlich, daß die Totentanzdichtung von diesen Texten angeregt worden ist, indem etwa zu der Konzeption dieser lateinischen Monologe die Idee hinzutrat, auch den Tod sprechen zu lassen.154 Vado-mori-Dichtungen sind sicherlich als den Totentänzen entfernt verwandtes Genre aufzufassen, weil sie einer ähnlichen Tendenz entspringen – nämlich der didaktisierenden Vermittlung des Todesgedankens –, doch lassen sich keine eindeutigen Linien ausmachen, die zum Totentanz führen. Schulte resümiert, zwar gebe es Gemeinsamkeiten, doch Theoretischer Teil
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der Entwicklung von Totentänzen aus diesen mittellateinischen Distichenfolgen (vgl. Koller, S. 604f.). Schulte (Totentänze, S. 45) stellt allerdings heraus: „Die Forschung geht davon aus, daß der Totentanz ursprünglich als lateinische, nur die Monologe der sterbenden Menschen umfassende Dichtung entstanden ist“; siehe auch ebd., Anm. 143: „So finden sich in verschiedenen älteren Abhandlungen über den mittelalterlichen Totentanz Kapitel über ‚lateinische’ Totentanztexte, wobei es sich dann in der Regel um die Vado mori-Dichtungen handelt“, vgl. hierzu auch besonders Abschnitt 3.3.1.1. Allerdings herrscht in frühen Totentänzen, z.B. der Danse macabre, von der anerkanntermaßen die weitere Totentanz-Entwicklung ausgeht, auch eine insgesamt als resignativ zu beschreibende Grundstimmung; die Menschen klammern sich nicht so sehr an ihr Leben wie etwa im Lübecker Totentanz von 1463; insgesamt ist wenig Widerstreben zu erkennen. Dies ist später im barocken Text von Nathanael Schlott wiederum der Fall; erneut hat sich die Einstellung zum Tod geändert. Daneben wird der Text nicht mehr in den einfachen und teilweise geradezu derben Paarreimen, sondern in sublimen und feierlichen Alexandrinern dargeboten. H. Rosenfeld: Artikel ‚Vado mori’ [wie Anm. 148], Sp. 154. So ging etwa Fehse davon aus, Vado mori-Dichtungen seien der Vorläufer des Totentanzes, sie hätten sich später mit dem Volksglauben vom Gräbertanz (siehe unten S. 52) vereinigt: „das Vado mori wird durch heranziehung der volksanschauung vom totentanze zum totentanztext“ (Fehse, Totentanzproblem, S. 278). Der Totentanz in seinen Anfängen sei monologisch gewesen (Fehse, Totentanzproblem, S. 272); die ursprüngliche Form sei „der reigen der toten, die die lebenden in ihren reigen hineinziehen“ (ebd., S. 261). Im Zuge seiner Ausführungen spricht Fehse sich deutlich gegen die Ursprungstheorien Künstles (legendarischer Ursprung) und Seelmanns (dramatischer Ursprung) aus. Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 42: „So wenig wie die ‚Legende von den drei Lebenden und Toten’ sich zum Totentanz entwickelt hat, [...] so wenig ist das Vado-mori-Gedicht zum Totentanz fortentwickelt, aber es kann die älteste lateinische Totentanzdichtung angeregt haben.“
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berechtigt die strukturelle und inhaltliche Nähe beider Dichtungen nicht zu der Annahme, der Totentanz bilde einen Ableger des Vado mori, wie einige Forscher annahmen.155
Die „Legende der drei Lebenden und der drei Toten“ Im Gegensatz zur Vado-mori-Dichtung ist die „Legende der drei Lebenden und der drei Toten“ sowohl im Text als auch bildlich überliefert; sie kommt nur als Text oder nur als Bild, aber auch in der Kombination beider Medien vor; mitunter ist der Text zum Spruchband verkürzt. Die Legende erzählt von der Begegnung dreier junger Könige mit drei Toten (ihren Vätern), die zu ihnen sagen: „Was ihr seid, das waren wir. Was wir sind, das werdet ihr.“ Diese mahnenden Worte sind seit dem 9. Jahrhundert als wohl aus dem alten Orient stammender Grabspruch bekannt und überaus weit in den verschiedensten Sprachen verbreitet. Die Legende kommt vom späten 13. bis zum beginnenden 16. Jahrhundert in zahlreichen Fassungen im französischen, italienischen, englischen, niederländischen, deutschen und skandinavischen Raum vor.156 Die These, daß Totentänze sich aus dieser Legende entwickelt haben sollen, stammt ursprünglich von Karl Künstle.157 Sie wurde allerdings von Anfang an bezweifelt und gilt seit Stammler als überholt. Stammler glaubt nicht an eine Überführung der Legende in die Form des Totentanzes, hält es allerdings nichtsdestotrotz für wahrscheinlich, daß es Verbindungen gibt: Ursprung der Totentänze
Es ergibt sich demnach, daß die Anregung, im Tanz der Toten neben den jammernden Menschen auch die Toten sprechen zu lassen, aus der Legende [...] gekommen ist. Mehr indes auch nicht! Die These Künstles, daß aus der Legende überhaupt der Totentanz hervorgegangen sei, ist in solcher Allgemeinheit abzulehnen.158
Interessant ist, daß sowohl die „Legende der drei Lebenden und der drei Toten“ als auch Vado-mori-Dichtungen in Verbindung bzw. großer räumlicher Nähe mit Totentänzen oder totentanzähnlichen Darstellungen auftauchen. So sind in der 2. Auflage des Danse macabre-Drucks von Guyot Marchant (1486) dem Totentanz am oberen Bildrand Vado-mori-Verse beigegeben, ohne allerdings irgendeine besondere inhaltliche Beziehung dazu aufzuweisen; auch eine Wiedergabe der Legende ist in diesem Druck enthalten.159 Ähnlich findet sich im unteren Teil des „Triumph des Todes“-Bildes160 auf dem Camposanto in Pisa eine Darstellung der 155 156 157 158 159 160
Schulte, Totentänze, S. 46. Vgl. Erich Wimmer, Artikel ‚Die drei Lebenden und die drei Toten’. In: VL Bd. 2, Sp. 226228. Karl Künstle: Die Legende der drei Lebenden und drei Toten und der Totentanz. Freiburg 1908. Stammler, Totentänze, S. 15f. Vgl. Kaiser, S. 72f. Der „Triumph des Todes“ („Trionfo della morte“) ist eine spezifisch italienische Ausprägung der memento mori-Thematik; es finden sich auch Kombinationen mit Totentänzen, wie in Clusone; vgl. z.B. Pietro Vigo: Le danze macabre in Italia. 2. Aufl. Bologna 1978 (Nachdruck der Ausgabe Bergamo 1901), sowie aus jüngerer Zeit: Il trionfo della morte e le danze maca-
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Legende. – Die Tatsache, daß diese Legende und der Totentanz zeitgleich und gemeinsam auftauchen, würde allerdings noch zusätzlich gegen eine Fortentwicklung der einen Form aus der anderen sprechen. Theoretischer Teil
Einen ähnlichen Ansatz, der jedoch etwas weiter ausgreift, verfolgt Cosacchi. Er ist davon überzeugt, die Entstehung der Totentänze zurückverfolgen zu können, indem er als Ausgangspunkt die von ihm so getaufte „Todeslegendenform der Gesamtlegende“, wie sie zuerst in Hélinands de Froidmont Vers de la mort repräsentiert sei, annimmt; spätere Dichtungsformen wie die Vado mori-Verse hätten ein übriges zur Ausformung der Totentänze getan. Die von Cosacchi eruierte Grundform der Legende besteht darin, daß ein Mensch sich angesichts des Todes bekehrt, ins Kloster geht und von dort aus den Tod zu anderen Menschen (seinen Freunden und verschiedenen Ständevertretern) schickt, auf daß diese sich auch bekehren. Unter Hinzukommen weiterer Elemente bildet sich laut Cosacchi die „Gesamtlegende“ heraus, von ihm so genannt, weil sie schon alle für die späteren Totentänze wichtig werdenden Züge in ihrer Grundform enthält. Eine Darstellung dieser Gesamtlegende wäre etwa die Wandmalerei im Camposanto in Pisa, auf der neben dem Triumph des Todes (dieser zeigt unter anderem eine mit Fledermausflügeln und Krallen bewehrte, mit Sense über die Menschen kommende Todesgestalt) das Weltgericht und die „Legende der drei Lebenden und der drei Toten“ zu sehen sind (s.o.). Indessen finde ich es schwierig, in Totentänzen die Grundelemente dieser „Basislegende“ wiederzufinden; besonders die Identifikation des Predigers am Beginn des Totentanzes oder des Eremiten mit der Legendengestalt des Bekehrten,161 der den Tod ausschickt, erscheint mir sehr fraglich. Weder in TotentanzTexten noch in den Bildern deutet irgend etwas darauf hin, daß der Prediger ein Bekehrter ist und die Todesgestalten aussendet. Vielmehr zeigt das Auftauchen der Predigerfigur, daß ein Totentanz als in Bild und Schrift festgehaltene Volksoder Bußpredigt zu verstehen ist. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß viele der in Helinands Gedicht auftauchenden Motive in den späteren Totentänzen wiederkehren, doch sind diese mit dem Tod verknüpften Stoffe, Motive und Vorstellungen allgemein in der mittelalterlichen Literatur mit Todesthematik wohl sehr verbreitet und beschränken sich nicht auf diejenigen Genres, die in irgendeine Beziehung zu Totentänzen gesetzt werden können. An dieser Stelle muß angemerkt werden, daß in der Forschung verschiedentlich zwischen „Todestänzen“ (in denen der Tod als Personifikation auftaucht) und „Totentänzen“ (in denen Tote auftreten) differenziert und für diese beiden Formen
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bre: dagli atti del VIo Convegno internazionale tenutosi in Clusone dal 19 al 21 agosto 1994. Clusone 1997; letztgenannte Publikation einzusehen war mir leider nicht möglich. Vgl. Cosacchi, S. 22. Die Betrachtung der genannten Figuren führt Cosacchi zu der Ansicht, man könne „sich kaum der Meinung enthalten, daß diese [die späteren Totentänze bzw. nach Cosacchis Terminologie Todestänze] eigentlich eine erweiterte Form des Helinand-Gedichtes illustrieren“ (ebd.). Allerdings seien noch eine Reihe von Zwischenstufen anzusetzen.
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auch unterschiedliche Ursprünge angenommen wurden.162 Die oben dargestellte These Cosacchis bezieht sich auf die „Todestänze“, während er für die „Totentänze“ als Ursprung eine andere Legendenform („Totenlegendenform der Gesamtlegende“) annimmt, in der nicht der Tod, sondern Tote figurierten. Diese Form der Legende finde sich in dem Totenlegendentext des Zisterziensers Herbert von Clairvaux (um 1178), in dem es um eine Totenvision geht.163 Beide Legendenformen hätten sich später mit den Vado-mori-Versen vereinigt, um die Todesund Totentänze zu bilden.164 Eine ähnliche Unterscheidung nimmt Stammler vor. Die Totentänze sind seiner Meinung nach aus dem Volksglauben von den tanzenden Toten, die die Lebenden mit in ihren Reigen ziehen, und einem zusätzlichen Einfluß der Vadomori-Gedichte sowie der „Legende von den drei Lebenden und den drei Toten“ entstanden, während der Text der Todestänze aus den Streitgedichten zwischen Tod und Leben hervorgegangen, später aber auch den Totentanz-Bildern hinzugefügt worden sei.165 Bemerkenswert sei, daß dieser Text „eigentlich gar nicht mehr zu den Bildern [paßt], die die Darstellung vom Tanze der Toten [...] festhalten“.166 Der Gegensatz sei offensichtlich nicht empfunden worden. Auch Fehse beschäftigt sich mit der Diskrepanz zwischen Text und Bild, die seiner Meinung nach dadurch entsteht, daß – wie er etwa auch für den Lübecker Totentanz von 1463 feststellt – das Bild Tote darstellt, während in den zugehörigen Versen vom Tod die Rede ist (s.o.). Fehse bemerkt, der Widerspruch entstünde dadurch, daß „einmal infolge handschriftlicher Verbreitung des Bildes der Reigen sich in Paare auflöst, andererseits dadurch, daß in den Text die moralische Idee: ‚Der Tod ist der Sünde Sold’ eindringt. So entsteht der auffällige Gegensatz zwischen dem alten oberdeutschen Totentanz und dem französischen mit seinen Schößlingen. Der oberdeutsche Text, ein Tanz der Toten, während die dazugehörigen Bilder, weil sie in einzelne Paare zerfallen, einen einzigen Tod darzubieten scheinen. Auf der anderen Seite der französische Totentanztext, ein Tanz des Todes, während das dazugehörige Bild einen Reigen der Toten darstellt“.167 Rosenfeld dagegen löst das Problem mit folgender Überlegung: „Der mittelalterliche Mensch war gewohnt, Bilder kontinuierlich abzulesen, und die Vielzahl Ursprung der Totentänze
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Cosacchi setzt sogar drei Formen an; die dritte Art seien die Todes-Toten-Tänze oder auch „Todtentänze“; vgl. Cosacchi, S. 7. Eine Zusammenfassung der Forschungsdiskussion zu diesem Thema gibt z.B. Koller, S. 10f. und S. 21-24. Koller spricht hier von einem „Scheinproblem“. Auch Walther ist der Ansicht, daß solche Unterscheidungen „von neuzeitlichem Erkenntnisinteresse geleitet“ seien (Walther, S. 33). Herbert von Clairvaux, De Miraculis, Patrologia Latina 185, 2. Halbband, ed. J.-P. Migne, Sp. 1271-1384. Vgl. Cosacchi, S. 120-159 und S. 169-280. Meine Darstellung von Cosacchis umfangreichen Thesen ist notwendigerweise sehr verkürzt; er nimmt noch eine Reihe weiterer wichtiger Einflüsse an, die hier nicht aufgezählt werden können; vgl. auch Dieter Wuttkes Rezension zu Cosacchi in AfdA 78 (1967), S. 125-130. Eine Zusammenfassung seiner Ergebnisse gibt Stammler auf den Seiten 36-38 (Stammler, Totentanz). Ebd., S. 24. Fehse, Ursprung, S. 47.
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Theoretischer Teil
der Totengestalten in ihrer gleichbleibenden Gestalt Hand in Hand mit den verschiedenen menschlichen Gestalten konnte ihm ebenso gut eine Vielzahl individueller Toter als auch den einen personifizierten Tod widerspiegeln.“168 Theoretischer Teil
Während es nicht zu leugnen ist, daß es Darstellungen innerhalb von Totentänzen gibt, in denen ganz eindeutig Tote, also Leichen auftauchen – man denke etwa an Abbildungen der Beinhausmusik, auf denen teilweise sogar noch offene Gräber zu sehen sind169 –, sich andererseits auch Totentänze finden, in denen zweifelsohne vom personifizierten Tod die Rede ist, wird diese Unterscheidung in der neueren Forschung zumeist wenig thematisiert, und es ist einheitlich von „Totentänzen“ die Rede, ohne daß der Begriff hinterfragt wird. Für meine weitere Darstellung soll diese Differenzierung ebenso vernachlässigt werden. Rechtfertigen läßt sich ein solches Vorgehen mit der offenkundigen Vermischung der Konzepte, die nicht zuletzt durch die Tatsache zustandekommt, daß der Tod bildlich am einfachsten durch einen Toten darzustellen ist,170 so daß es auf der ikonographischen Ebene wenig Möglichkeiten zur Unterscheidung gibt. Anders verhält es sich mit dem Text, denn in ihm kann deutlich entweder vom Tod oder von Toten die Rede sein. In einer großen Zahl von Texten wird allerdings tatsächlich vom personifizierten Tod gesprochen. Eine Differenzierung ist m.E. für den vorliegenden Zusammenhang nicht notwendig und trägt zur Fragestellung auch kaum etwas Erhellendes bei. So wird hier pauschal der gängige Begriff ‚Totentanz’ verwendet.
Die Ars moriendi Die Ars moriendi, die Lehre vom guten bzw. richtigen Sterben, bestand ursprünglich in lehrhaften Abhandlungen, die den Geistlichen eine Hilfe für die Betreuung von Kranken und Sterbenden an die Hand geben sollten. Im Spätmittelalter entwickelte sie sich – unter dem Eindruck der Seuchen und vor allem durch die Bettelorden gefördert – zu einer eigenen Literaturgattung, die sowohl auf Latein als auch in der Volkssprache vertreten ist und mit Illustrationen versehen sein kann (Bilder-Ars). Auf diesen Bildern wird etwa dargestellt, wie am Bett des Sterbenden Teufel und Engel auf den Moment des Todes warten, um dann die Seele des Menschen jeweils für sich in Anspruch nehmen zu können. Zwischen Ars moriendi und Totentanz bestehen sicherlich Verbindungen, insofern als beide literarische Gattungen mit einem starken didaktischen Anteil in der Betrachtung und Vermittlung des Todesgedankens darstellen und wohl auch beide besonders im Umfeld der Bettelorden „zuhause“ sind. Rudolf weist jedoch 168 169 170
Rosenfeld, Totentanz, S. 198f. – Diese Feststellung läßt sich vielleicht mit den Ausführungen zur Zeitstruktur korrelieren, vgl. Abschnitt 2.2.3. Offene Gräber mit heraussteigenden Toten zeigt z.B. der Knoblochtzer-Druck (vgl. Abschnitt 3.2.1.1.). Nicht immer wurde die Verbildichung des Todes in Form eines Toten als die angemessenste Art der Darstellung empfunden, vgl. die in Lessings Schrift Wie die Alten den Tod gebildet (1769) aufgenommene Kontroverse.
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auf einen seiner Meinung nach grundlegenden Unterschied in der Haltung gegenüber Leben und Tod hin: Diente die ars moriendi dazu, dem Sterbenden zu einem seligen Abscheiden zu verhelfen, so war das Ziel der Todesbetrachtung, des Contemptus mundi, des Memento mori sowie der Totentänze, durch den Hinweis auf die asketische Bedeutung des Todes zu einem „heilsamen Leben“ anzuregen, ohne das ein guter Tod nicht denkbar ist.171
Die Verbindungen zwischen Ars moriendi und Totentanz sind aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so beschaffen, daß sich irgendwelche formalen gegenseitigen Abhängigkeiten feststellen ließen; eine Formverwandtschaft suchen zu wollen ist relativ sinnlos. So finden sich in der Ars moriendi keine „Protagonisten“, die mit den Figuren der Totentänze in Verbindung gebracht werden können, wie es etwa bei der „Legende der drei Lebenden und der drei Toten“ und auch bei den Vadomori-Gedichten möglich ist. Es gibt kaum strukturell vergleichbare Ebenen, allenfalls ähnliches Gedankengut172 bzw. einen identischen religiösen und theologischen Hintergrund; so setzen beide Dichtungstypen die Vorstellung des Individualgerichts voraus, wie Schulte anmerkt.173 Auch wenn sicherlich kaum versucht werden kann, Totentänze aus der Ars moriendi abzuleiten, werden die zwei Gattungen mitunter im selben Atemzug genannt. So weist Palmer darauf hin, beide seien stark „eingebettet in das Milieu der geistlichen Seelsorge“,174 die Ars moriendi dabei noch mehr als der Totentanz. Des weiteren stellt er fest: Beiden Varianten der ‚Memento mori’-Thematik gemeinsam sind die bildlichen Darstellungen der Todesstunde, die, wenn auf ganz unterschiedliche Weise, einen vergleichbaren Schockeffekt haben sollen.175
Der Stoff der Ars moriendi werde in Bild und Text dargeboten, um allen, auch den illitterati, zugänglich zu sein. Dabei wirkten Wort und Bild in ihrer einander entsprechenden Doppelung „wie ein Spiegel [...], in dem man einen prophetischen Einblick in das Wesen des Menschen erhalten soll“.176 Diese Form der Wirkung kann ebenso für Totentänze geltend gemacht werden. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß es auch zur gemeinsamen Überlieferung von Totentanz und Ars moriendi kommt, so in der Totentanz-Handschrift Ursprung der Totentänze
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Rainer Rudolf: Ars moriendi. Von der Kunst heilsamen Lebens und Sterbens (Forschungen zur Volkskunde 39). Köln und Graz 1957, S. XVII. Eine im Hinblick auf Beziehungen zur Ars moriendi interessante Stelle enthält der Lübecker Druck Dodendantz von 1520, in dem es am Schluß heißt: Leret wol sterven unde syd bereyt!/ Wol sterven allen kunsten boven geyt,/ Wol sterven is so groten kunst,/ Dar mede men kumpt in Godes gunst (V. 419-422). Hier wird auf die Bedeutung der „Kunst des guten Sterbens“ (Ars de bene moriendi!) hingewiesen, was freilich, wie im Totentanz gezeigt wird, ein vorheriges gutes Leben voraussetzt; entgegen Rudolfs Ansicht ist also der Unterschied zwischen den Grundgedanken von Totentanz und Ars moriendi gar nicht so groß. Vgl. Schulte, Totentänze, S. 58. Palmer, S. 317. – Hier ergibt sich eine Querverbindung zu den Buchtotentänzen, deren Verwendung bei der Seelsorge auch durchaus denkbar ist. Ebd., S. 319f. Ebd., S. 325.
Theoretischer Teil
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des Grafen Wilhelm Werner von Zimmern, die einen Totentanz, eine Fassung des Speculum artis bene moriendi und andere Texte ähnlicher Thematik enthält.177
Der Volksglaube vom Gräbertanz Als weitere Ursprungstheorie ist hier der zuerst von Fehse und später besonders von Rosenfeld verfochtene germanisch-heidnische Volksglaube des Gräbertanzes zu nennen.178 Demzufolge habe es im Mittelalter den Volksaberglauben gegeben, daß zu nächtlicher Stunde die Toten (die im Fegefeuer leidenden „Armen Seelen“) aus ihren Gräbern steigen und einen zwanghaften Tanz auf dem Friedhof aufführen. Dieser Aberglaube habe dann unter zusätzlicher Einwirkung der anderen, bereits genannten Dichtungstypen zur Herausbildung der Totentänze geführt. Rosenfeld erklärt mit dieser These sowohl die Tanzmotivik als auch die Zwanghaftigkeit, die beide konstitutive Merkmale von Totentänzen darstellen.179 Diese Überlegungen stießen jedoch auf breite Kritik. So ist nach Ansicht Schultes die Theorie vom Volksglauben an den Gräbertanz der Toten [...] als ein tatsächlich moderner, in die mittelalterliche Geisteswelt hineinprojizierter Aberglauben zu entlarven, der dem zeitgenössischen Todesbewußtsein n i c h t entsprach.180
In jüngster Zeit hat sich auch Kiening181 kritisch mit dieser Ursprungstheorie beschäftigt. Es handele sich um eine Hypothese von „zweifelhafter Historizität“;182 zudem seien die Toten in Totentänzen nirgends als im Fegefeuer leidende Seelen gekennzeichnet. Die Vorstellung des Tanzes der Armen Seelen auf den Gräbern „kann an der realen Praxis der Friedhofstänze sich orientiert haben und zugleich ihrerseits schon vom Totentanzmodell beeinflußt sein“.183 Trotz der vielfach laut gewordenen Kritik ist die Arme-Seelen-Ursprungstheorie jedoch in der Fachliteratur überaus verbreitet und wird auch in Nachschlagewerken zum Stichwort ‚Totentanz’ des öfteren zitiert. Theoretischer Teil
177 178
179 180 181 182 183
Siehe hierzu ebd., S. 319; vgl. zur Handschrift Zimmern auch Abschnitt 3.2.1.3. Wie oben beschrieben, setzt sich Fehses Ursprungstheorie aus einem Miteinander von Gräbertanz-Vorstellung und Vado mori zusammen. Diese beiden Stränge hätten gemeinsam zur Ausformung des Totentanzes geführt (vgl. Fehse, Totentanzproblem, passim, sowie ders., Ursprung, Zusammenfassung der Ergebnisse S. 47); siehe auch Rosenfeld, Totentanz, S. 44-50. Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 48f. Schulte, Totentänze, S. 129. Vgl. Kiening, Das andere Selbst. In Kapitel 2 „Lebendige Tote“ (S. 45-67) setzt Kiening sich mit Totentänzen auseinander, wobei er allerdings den Schwerpunkt auf den Berner Totentanz legt; gelegentlich wird der oberdeutsche vierzeilige Totentanz mit herangezogen. Ebd., S. 51. Ebd.
Ursprung der Totentänze
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Entstehung des Totentanzes aus dem Drama Schließlich ist ein weiterer Ansatz der Totentanzforschung die Rückführung dieses Genres auf das mittelalterliche Schauspiel. Hier ist besonders Seelmann zu nennen, der einen Teil seiner Totentanzuntersuchung von 1891 mit dem Titel „Der Totentanz als Drama“ überschrieb. Ein großer Teil seiner Argumentation stützt sich allerdings auf eine Lesart eines Verses des Revaler Totentanzgemäldes, die heute, nach der Restaurierung, nicht mehr zu halten ist. So las Seelmann den zweiten Vers Seet hyr dat spectel, junck unde olden! und führte das Wort spectel auf frz. ‚spectacle’, also Schauspiel, zurück. Nachdem das Gemälde in den Jahren 1962-65 restauriert worden war, konnte man allerdings erkennen, daß das betreffende Wort spegel (Spiegel) lautete;184 Seelmanns Argumentation ist damit hinfällig. Spegel (als Übersetzung von lat. speculum) muß in diesem Zusammenhang metaphorisch verstanden werden und ist auch besonders als Buchtitelmetapher im Mittelalter durchaus geläufig; es meint hier wohl das Verständnis des Totentanzes als „das dem Betrachter warnend vor Augen gehaltene, ihn als vergänglich entlarvende Abbild seiner selbst“.185 Seelmann glaubt, daß „die Moralität vom Totentanze aus einem jener tableaux vivants entstanden ist, welche in Frankreich und Flandern im 13. und 14. Jahrhundert so beliebt waren“;186 und auch noch Rosenfeld weist auf diese „lebenden Bilder“ hin.187 Mehrfach wurden Belege für die angebliche Aufführung von Totentänzen beigebracht.188 Ursprung der Totentänze
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Siehe hierzu Freytag, spectel oder spegel; außerdem Freytag, Totentanz 1463, Kommentar zur Stelle, S. 137-139. Freytag, spectel oder spegel, S. 306. – Zur Spiegelmetapher siehe allgemein Spoerri. Seelmann, Totentänze, S. 19. Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 190. Fehse bringt einen (später viel zitierten) Beleg aus den Rechnungen der Herzöge von Burgund, in dem die Rede von der Aufführung eines „certain jeu, histoire et moralité sur le fait de la danse macabre“ im Jahre 1449 ist (de Laborde: Les ducs de Bourgogne. Etudes sur les lettres, les arts et l’industrie pendent [sic] le 15ème siècle et plus particulièrement dans les Pays-bas II, 1, S. 393, zit. nach Fehse, Ursprung, S. 5). – Einen anderen Nachweis führt Mâle an. Dieser berichtet von einem Abt namens Miette, dem ein (inzwischen verlorenes) Dokument vorgelegen haben soll, in dem sich folgende Beschreibung einer Tanz-Aufführung fand: „Les acteurs représentaient tous les états, depuis le sceptre jusqu’à la houlette. A chaque tour il en sortait un, pour marquer que tout prenait fin, roi comme berger. Cette danse sans doute [...] n’est autre que la fameuse danse macabre“ (Bibliothèque de Rouen, manuscrit 2215, Y, fol. 69; Nachweis bei Emile Mâle: L’art religieux de la fin du Moyen Age en France. Etude sur l’iconographie du Moyen Age et sur ses sources d’inspiration. 3. Aufl. Paris 1949, S. 361). Man beachte allerdings, daß die Totentanz-Deutung eine von außen an diesen Beleg herangetragene ist; der Text selbst sagt nichts von einer „danse macabre“, wenn auch strukturelle Ähnlichkeiten der beschriebenen Aufführung mit Totentänzen nicht zu leugnen sind. – Mâle berichtet auch von einem Vado mori aus der Bibliothek Mazarine (ms. no 980, fol. 83v), das er wie folgt kommentiert: „Il est impossible, en le lisant, de na pas songer à ces drames liturgiques, où les personnages défilent les uns après les autres devant le spectateur en récitant chacun un verset“ (Mâle, S. 361). – Über Totentanz-Aufführungen handelt auch Salmen; hier muß allerdings angemerkt werden, daß Salmen sich nicht mit dem literarischen Totentanz be-
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Man sollte aber meines Erachtens in Betracht ziehen, daß das Schauspiel weniger der Ursprung der Totentänze als vielmehr eine sekundäre Rezeption derselben darstellen könnte. So gibt es spätere, als Schauspiel konzipierte Totentänze,189 wie z.B. den dänischen Totentanz, der von den Lübecker Totentänzen inspiriert ist.190 Zwar würde die Schauspiel-Theorie das Zusammenkommen von Bild und Text befriedigend erklären – Totentänze wären dann gewissermaßen das bildliche und textliche Substrat einer solchen Aufführung –, doch läßt sich die Hypothese in keiner Weise belegen; und es ist keinesfalls ausreichend, die Aufführung eines Totentanzes oder totentanzähnlichen Spektakels nachzuweisen, um postulieren zu können, daß dies der Anfang der Totentanz-Entwicklung gewesen sei. Selbst wenn Schauspiele als Grundlage der Totentänze nachgewiesen werden könnten, wäre das Problem keinesfalls gelöst, denn dann müßte man wiederum fragen, woraus sich diese Form des Schauspiels ihrerseits entwickelt hat. Theoretischer Teil
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faßt, sondern „real vollzogene“ Totentänze untersucht, die dann aber um der terminologischen Klarheit willen eigentlich schon im Titel anders bezeichnet werden müßten. Es gibt z.B. auch ein mittelniederdeutsches Fastnachtspiel von Nicolaus Mercatoris, das offensichtlich an dem „Zwiegespräch des Lebens mit dem Tode“ (1484) orientiert ist (Ein Vastelauendes Spil/ van dem Dode vnde van dem Leuende, vgl. Seelmann, Fastnachtspiele, S. XXXIV, Edition des Spiels S. 31-43; die Entstehungszeit ist nach Seelmann wohl das Ende des 15. oder das erste Viertel des 16. Jahrhunderts). Seelmann hält es sogar für möglich, daß dieses Zwiegespräch selbst aufgeführt wurde: „Das Zwiegespräch mag ebenso wenig wie ‚Jesus und die Seele’ und andere erbauliche Dialoge zu dramatischen Zwecken verfaßt sein, aber es würde für die ältere Zeit vollständig als Fastnachtspiel genügt haben“ (ebd., S. XXXIV); vgl. auch Anm. 353. – Es hat also mit Sicherheit Aufführungen von zumindest totentanzähnlichen Spektakeln gegeben, aber es gibt keinerlei sichere Belege dafür, daß diese Aufführungen die Quelle der Totentänze bilden. Sie waren wohl eher ihrerseits von den Totentänzen inspiriert. Zum Zeitpunkt der Entstehung der beiden genannten Texte (die auch in Lübeck gedruckt wurden) gab es ja z.B. das Lübecker Gemälde schon, und es ist kaum anzunehmen, daß die Verfasser der Texte dieses Kunstwerk nicht kannten. Daß die Inkunabel von 1489 aus dem Zwiegespräch einige Textstellen entnimmt (siehe hierzu Abschnitt 3.1.2., „Die Inkunabel Des dodes dantz, Lübeck 1489“), läßt auch lediglich auf die Kenntnis des letzteren schließen, aber keinesfalls auf eine allgemeine Priorität solcher Spiele vor Totentänzen. Für die Abhängigkeit zumindest des genannten Zwiegesprächs von Totentänzen spricht eine Strophe, die eindeutig an die Struktur des Totentanzes gemahnt. In den Versen 37-40 heißt es nämlich: Paweß, keyser, cardinale/ Meyge ik dar nedder altomale,/ Ridder, fruwen vnde papen/ Vnde allent, dat ju wart geschapen. Abgesehen von solchen Übereinstimmungen ähneln auch die Teufelsszenen in einigen Osterspielen von der Struktur her der Totentanz-Idee (vgl. dazu Claußnitzer/ Freytag/ Warda); vgl. zum Zwiegespräch auch Anm. 353. Neben den genannten Beispielen existiert des weiteren z.B. ein lateinisches Totentanzspiel von 1532 (Abdruck bei Vanderheyden, Een dodendansspel); auch in Spanien sind aus dem 16. Jahrhundert Totentanz-Dramen bekannt. Die Liste von Totentanz-Dramen ließe sich durch entsprechende Recherchen fortsetzen; das in die Neuzeit vorausweisende Thema soll hier jedoch nicht weiter vertieft werden. Vgl. hierzu den Abschnitt 3.1.8. „Der dänische Totentanz, Kopenhagen 1550“.
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Entwicklung von Totentänzen aus Weltgerichtsdarstellungen Als letzte Ursprungstheorie soll hier in Kürze der von Hammerstein verfochtene Ansatz aufgeführt werden, nach dem sich die Totentänze aus Weltgerichtsdarstellungen entwickelt haben sollen. Hammerstein richtet sein besonderes Augenmerk auf den Zug der Verdammten, dessen strukturelle Ähnlichkeit mit Totentänzen er heraushebt: Ursprung von Totentänzen
Denken wir uns den Verdammtenzug dabei verselbständigt, dann haben wir eine Art Grundmodell für den Totentanz. Nur daß die Teufel durch den Tod und seine Gesellen ersetzt sind. Auch die Darstellung und Unterscheidung der Verdammten nach Standeszugehörigkeit findet man bereits auf Weltgerichtsdarstellungen des 13. Jahrhunderts. Ebenso entspricht die Linksrichtung in beiden Fällen der Tradition [...]. Gelegentlich finden sich auf Gerichtsdarstellungen sogar schon Andeutungen von Tanz und Musik beim Geleit zur Hölle. Sie sind kontrastierende Entsprechungen zum Geleit der Seligen mit Musik und Tanz.191
Eine relativ geradlinige Entwicklung der Totentänze aus Weltgerichtsdarstellungen erscheint mir unwahrscheinlich, weil die wichtigen Elemente des Dialogs (und der damit einhergehenden regelmäßigen und paarbildenden Abwechslung von Tod und Mensch) aus diesen Darstellungen wohl nicht hervorgegangen sein können; der Zug der Verdammten besteht zumeist aus einer Gruppe von nach Ständen differenzierten Menschen, die ein Teufel an einer Kette hinter sich herzieht.192 Eine Beeinflussung der Totentänze durch die Weltgerichtsdarstellungen ist möglich, aber sicherlich sind diese nicht die alleinige Wurzel. Neben den im vorangegangenen Abschnitt dargestellten Ursprungstheorien gibt es noch eine ganze Reihe anderer Ansätze, die hier nicht ausführlich referiert werden können. So wurde etwa vermutet, daß das für das Spätmittelalter bezeugte Phänomen der Tanzwut von Einfluß gewesen sein könnte; des weiteren läßt sich der Totentanz eventuell auch mit liturgischen Prozessionen oder der (ins Gegenbild pervertierten) Vorstellung von Jesus als himmlischem Vortänzer in Verbindung bringen, ebenso wie es bestimmte volkstümliche Bräuche gab, die mit Begräbnissen in Zusammenhang standen und an den Friedhof als Ort der Aufführung gebunden waren. All diese Ansätze sind jedoch erstens für sich allein gesehen als Erklärung nicht ausreichend, sondern allenfalls ergänzend zu sehen, und 191 192
Hammerstein, Tanz und Musik, S. 59. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß es Gruppentotentänze gibt, in denen keine Paarabfolge stattfindet, sondern in denen jeweils eine Gruppe von Menschen einer Todesfigur zugeordnet ist (z.B. den Gossembrot-Totentanz [siehe Abschnitt 3.3.1.4.]; auch in Straßburg hat sich ehemals ein Gruppentotentanz befunden [dazu Sörries, Katalog, S. 100-102, mit Abb.]). Eine gewisse Ähnlichkeit solcher Gruppentotentänze mit dem Zug der Verdammten ist nicht zu leugnen, doch müßte man erklären können, wie sich der Teufel in den Tod verwandelt haben soll. Zwar stehen Tod und Teufel seit jeher durch vielfältige Verbindungen in einem auch ikonographischen Konnex (siehe hierzu Spreitzer, bes. S. 148-186, auch Hammerstein, Tanz und Musik, passim), doch erklärt das nicht ausreichend die vollständige Ersetzung des Teufels durch den Tod. Dies kritisiert auch Kaiser, vgl. dort S. 65: „Erklärungsbedürftig ist in der Tat der Austausch der Teufels- durch die Todesfigur.“ – Hier ist erneut auf die Nähe von Totentänzen zu den Teufelsszenen in Osterspielen hinzuweisen, die ja den beschriebenen Verdammtenzug darstellen.
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zweitens bringen sie für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand, die Beziehung zwischen Bild und Text, wenig Erkenntnisse und werden daher an dieser Stelle ausgespart.193 Theoretischer Teil
Insgesamt ist kritisch anzumerken, daß der Versuch, den Ausgangspunkt der Totentänze zu finden, vermutlich nur wenig Erfolg verspricht. Das Denkmodell der Suche nach mehr oder weniger direkten Vorstufen von Totentänzen setzt eine relativ geradlinige Entwicklung der Gattung Totentanz aus einer oder mehreren anderen, in ihrer Entstehung zeitlich früher anzusetzenden Gattungen voraus. In diesen Vorstufen müßten sich dementsprechend die gattungskonstituierenden Merkmale194 nachweisen lassen, um erklären zu können, wie diese in die späteren Totentänze gekommen sind. Es gibt jedoch zahlreiche mittelalterliche Genres, die eines oder auch mehrere dieser Merkmale aufweisen, und deren Verbindungen zu den Totentänzen mangels überlieferter „Zwischenstufen“, die es dann ja geben müßte, nicht zu klären sind; es ist kaum möglich, aus dem verworrenen Bild,195 das sich bietet, die gesuchte Entwicklungslinie zu rekonstruieren. So bemerkt auch Freytag, daß der Ursprung der Totentänze wohl nicht eindeutig ermittelt werden könne: „Das Wurzelwerk, aus dem sich dieses Genre entwikkelt hat, mögen verschiedene Bilder, Vorstellungen und literarische Typen hervorgebracht haben [...].“196 Keine der vorgestellten Theorien erklärt für sich genommen befriedigend alle oder auch nur einen größeren Teil der gattungsbestimmenden Momente der Totentänze; eher könnte man alle genannten Einflüsse zusammen für die Entwicklung der Totentänze verantwortlich machen. Näher kommt man der Sachlage wahrscheinlich, wenn man in Betracht zieht, daß im Spätmittelalter sehr viele verschiedene Dichtungstypen mit ähnlicher todesbezogener Thematik auftauchen und der Totentanz sich innerhalb der Gesamtkonstellation mit ihren psychosozialen Problemstellungen (beispielsweise den Massenepidemien mit den entsprechenden gesellschaftlichen Folgen) entwickelt hat, ohne daß man ihn auf die eine oder andere isolierte Wurzel zurückverfolgen könnte. Schon Stammler bemerkt, verschiedentlich sei in der Totentanzforschung der Versuch gemacht worden, „alles auf eine Wurzel zurückzuführen, eine Methode, die in der deutschen Philologie schon manche Mißgriffe verursacht hat“.197 Anstelle solcher fruchtlosen Versuche sollte man vielmehr in Rechnung stellen, 193
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Für einen ausführlichen Überblick über die Ursprungstheorien bzw. das den Totentänzen verwandte Schrifttum siehe Schulte, Totentänze, S. 38-53; eine sehr knappe Übersicht bringt Eckhardt, S. 178f. – Im Zusammenhang mit literarischen Gattungen, die den Totentänzen nahestehen, sind etwa noch solche Texte zu nennen wie der Dialogus mortis cum homine (mnd. Bearbeitung: „Zwiegespräch zwischen Leben und Tod“, vgl. auch Anm. 189 und 353) oder auch die Conflictus-Dichtungen, die z.B. Streitgespräche zwischen widerstrebenden Teilen wie etwa Seele und Leib darstellen; hier ist auch an den „Ackermann von Böhmen“ zu denken. S.o. Abschnitt 2.3.1. mit Anm. 118. Kiening, Ambivalenzen, S. 42: „Mit verschlungenen und durch den Prozeß der Adaptation und Zersetzung undurchsichtig gewordenen Überlieferungswegen ist also zu rechnen.“ Freytag, Totentanz 1463, S. 14. Stammler, Totentanz, S. 9.
Aspekte des Raumes
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daß die zu untersuchende Erscheinung durch ein ganzes „Geflecht“ mit früheren und zeitgenössischen Phänomenen verbunden ist, wie ja auch Freytag die Metapher des „Wurzelwerks“ (s.o.) verwendet.198
2.3.4. Aspekte des Raumes – Monumentaler Totentanz vs. Buchtotentanz Reiner Sörries bemerkt zutreffend, daß eine entscheidende Frage bei der Untersuchung von Totentänzen sei, ob das jeweilige Werk in Form eines Buchtotentanzes (o.ä., z.B. als Einblattdruck bzw. Flugblatt) oder aber als monumentales Wandgemälde an Friedhofs- bzw. Kirchenmauer oder im Kircheninneren vorliege.199 Diese verschiedenen Formen seien bisher in der Forschung unzulässig vermischt worden. Eine genaue Differenzierung müsse aber getroffen werden, denn ein gewichtiger Unterschied beider Formen ist der Kreis der Rezipienten, der im Falle der monumentalen Totentänze als „jedermann“ charakterisiert werden kann, während die in Buch und Druck vorliegenden Totentänze nur jener sozialen Schicht vorbehalten waren, die sich solche 200 Druckwerke leisten konnten [sic]. Aspekte des Raumes
Monumentale Totentänze, die sich als „öffentlich, standortfest und standortbezogen“201 beschreiben lassen, waren nicht nur einfach zugänglich, sondern rückten jedes Mal, wenn Kirche oder Friedhof besucht wurden, nahezu zwangsweise ins Blickfeld (dies zunächst wohl vom Bild hervorgerufen); durch ihre monumentale Größe konnte man sich ihrem Anblick und damit ihrer Botschaft – dem memento mori – kaum entziehen. Angebracht an Friedhofs- oder Beinhausmauern (z.B. bei den bekannten Totentänzen von Basel und Bern), befanden sie sich am Ort dessen, was sie darstellten: den Tod und das Sterben. Den noch Lebenden wurde dadurch eindringlich ins Gedächtnis gerufen, daß es für die auf dem Friedhof Liegenden, nicht aber für sie selbst zu spät war, sich im Angesicht des jederzeit drohenden Todes rechtzeitig um eine gottgefällige Lebensführung zu bemühen. Andernorts befand sich das Gemälde im Sakralraum, wie etwa in Lübeck in der Beichtkapelle202 der Marienkirche. Die Verbindung zwischen Inhalt und Standort ist auch hier augenfällig, war diese Kapelle doch ein Ort der Reue und Buße, an dem einem durch das monumentale Gemälde plastisch vor Augen geführt wurde, wie die verschiedensten Menschen (die durch ihre Repräsentativität eben auch die Rolle von Identifikationsfiguren einnehmen) einem unbußfertigen Tod zum Opfer fallen. In dieser Lübecker Kirche herrscht allerdings zwischen der Bildlichkeit und dem Raum noch ein anderer interessanter Zusammenhang, denn 198 199 200 201 202
Vgl. Stammler, Totentanz, S. 9. Kibédi Varga bemerkt allgemein, daß dem Ort, an dem eine Text-Bild-Kombination sich befindet, ein semantischer Wert zukomme: „The place is related to meaning, the location has a semantic value“ (Kibédi Varga, Word-and-Image Relations, S. 35). Sörries, Der monumentale Totentanz, S. 10. Ebd., S. 11. „Obwohl diese Kapelle erst 1563 und 1538 als bychthus bezeichnet wird, war sie wohl von Beginn an in dieser Form und zu diesem Zweck ausgestattet“ (Vogeler, S. 76, vgl. dort auch Anm. 326 und 327).
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dadurch, daß der Totentanz-Fries umlaufend an allen vier Wänden angebracht war, ergab sich eine nahezu dreidimensionale Wiedergabe des wohl als Reigen gedachten Totentanzes, der sich somit um den Betrachter herumbewegte, „so daß der Besucher mit dem Hereinkommen in den Kreis der Tanzenden eintrat“.203 Ähnlich ist auch im Falle des Berliner Totentanzes durch die besondere Konzeption und die Gegebenheiten des Raumes ein Inkorporieren des Betrachters in den Reigen denkbar. Es gibt noch weitere Beispiele für eine Verbindung der Reigenform mit den baulichen Besonderheiten, so in Metnitz (Kärnten), wo der Totentanz um den runden Karner herumläuft. Sörries ist sogar der Ansicht, daß „in keinem anderen Fall die Reigenform des Tanzes so konsequent auf die Bauform des Bildträgers übertragen wurde“ wie dort.204 Er bemerkt allerdings selbst einschränkend, daß dennoch die Figuren in Paare unterteilt sind und keinen geschlossenen Reigen bilden,205 was die zuvor aufgestellte Behauptung wieder etwas relativiert. Daß ein Totentanz anscheinend durchaus mitunter als Kreisreigen gedacht sein konnte, belegen allerdings das recht häufig vorkommende Wort „Kreis“ und verwandte Ausdrücke in verschiedenen Totentänzen. In Verbindung mit räumlichen Gegebenheiten ist auch von der Bewegungsrichtung in Totentänzen zu sprechen. Die meisten Totentänze führen nach links (vom Betrachter aus gesehen), was wohl mit der schon in der Bibel gebräuchlichen Stigmatisierung der linken als der bösen Seite zusammenhängt.206 Beim Jüngsten Gericht werden die sündigen, für die Hölle bestimmten Menschen auf die linke Seite, die Guten jedoch nach rechts abgeteilt,207 und solcherart Assoziationen stimmen auch sonst gut zum Totentanz, da dieser noch eine ganze Reihe weiterer an Teufelsfiguren gemahnender Elemente enthalten kann.208 Wie beim Berliner Totentanz noch deutlicher gezeigt wird, führt eine Umkehrung dieser Linksrichtung in einen rechtsgerichteten Reigen zu Problemen in der Textverteilung. Der Text muß aus Gründen der inhärenten Logik mit derjenigen Person Theoretischer Teil
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Schulte, Totentänze, S. 192. Sörries, Katalog, S. 106. Ebd. Das Bild des Metnitzer Totentanzes (um 1500) ist anscheinend der ikonographischen Tradition des oberdeutschen Totentanzes verpflichtet; in Basel z.B. war der Reigen auch nicht durchgehend, sondern bestand aus einander folgenden Einzelpaaren. Hammerstein weist auf die Nähe zum Heidelberger Blockbuch und damit auch zum Basler Totentanz hin. Eine Besonderheit von Metnitz ist, daß der Zug der Tanzenden auf den Höllenrachen zuführt. Der Text ist leider nicht überliefert. Für nähere Informationen zum Metnitzer Totentanz vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 191f. mit Abb. 2 sowie 97-99 und Sörries, Katalog, S. 105108 mit Abb. 55-59, siehe auch auf der CD-ROM unter „Diverse Totentänze“. In Sprüche 4, 27 etwa heißt es: vias enim quae a dextris sunt, novit Dominus, perversae sunt quae a sinistris sunt; ähnlich bei Mt 25,33: et statuet oves quidem a dextris, haedos autem a sinistris. Zur Verbindung der Linksrichtung mit der Sphäre des Teuflischen vgl. z.B. Hammerstein, Diabolus, S. 39; vgl. auch Anm. 212 und 387. Aufgrund dieser Ähnlichkeit von Totentänzen mit dem Weltgericht leitet Hammerstein die Entstehung des Genres aus Weltgerichtsdarstellungen her, siehe Abschnitt 2.3.3. „Zu den möglichen Ursprüngen der Totentänze“. Vgl. hierzu Spreitzer, besonders S. 148-186. Spreitzer spricht von der „osmotische[n] Beziehung der Gestalt des Todes und derjenigen des Teufels“ (S. 186); siehe auch Hammerstein, Tanz und Musik, passim.
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beginnen, die den Reigen anführt, und da die Leserichtung von links nach rechts vorgegeben ist, muß die erste Figur dementsprechend nach links tanzen, damit sie sowohl als erstes auf dem Bild dargestellt und zugleich auch der erste Sprecher sein kann. Es ist daher sicherlich kein Zufall, wenn einige der wenigen Totentänze, die entgegen der Tradition nach rechts führen, textlos sind – zu erwähnen sind hier etwa die Totentänze von Clusone, Beram und Hrastovlje.209 Bezeichnenderweise beinhalten genau diese Gemälde auch keine Predigerfiguren; Hammerstein verbindet hiermit ebenfalls das Fehlen von Versen: „Dies dürfte mit der Abwesenheit von Text zusammenhängen [...]. Eine Predigt konnte also überflüssig erscheinen.“210 Der Prediger, dessen Auftauchen das Dargestellte als Bußpredigt kennzeichnet, wurde hier also möglicherweise weggelassen, weil das predigthafte Moment sich zu einem großen Teil auch im Wort konkretisiert, welches hier fehlt. In der Tat finden sich in einem Großteil aller mit Text überlieferten Totentänze Predigerfiguren; allerdings ist einschränkend darauf hinzuweisen, daß z.B. der Kleinbasler Totentanz im Kloster Klingental, der eine Replik des Großbasler Totentanzes war, zwar den Text, nicht aber die Predigerfiguren übernahm,211 somit also ein Gegenbeispiel zum in der Regel gemeinsamen Auftreten von Text und Predigerfiguren ist. Doch nicht nur die Bewegungsrichtung der Figuren auf dem Bild ist bedeutsam, sondern auch der Anbringungsort. So gibt es viele Totentänze, die sich – entsprechend der herausragenden Stellung der Himmelsrichtungen im Kirchenbau – an einer Nordwand befanden bzw. nach Norden als der „dem Licht und Leben abgewandten Himmelsgegend“212 ausgerichtet wurden. Dies ist etwa in Lübeck der Fall, wo sich der Totentanz in der auf der Nordseite der Marienkirche gelegenen Beichtkapelle befand, ebenso z.B. in Berlin und La-Chaise-Dieu. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß die rein äußerliche Gestaltung und Aufteilung im Raum, wie etwa die Anlage in einer bestimmten Bewegungsrichtung, in enger Verbindung mit der Textgestaltung steht. Die Untersuchung monumentaler Totentänze hat daher stets auch die räumlichen Bedingungen zu berücksichtigen. Aspekte des Raumes
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Hammerstein vermutet, daß die Gemälde von Beram und Hrastovlje vielleicht auch deshalb keinen Text haben, weil keine slawische Übersetzung vorlag (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 193). – Vgl. auch S. 305. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 193. Vgl. ebd., S. 188f. Mantels (Ed.), S. 3a. – In der Bibel taucht der Norden mehrfach in negativem Kontext auf; er ist die Richtung, aus der das Unheil kommt, vgl. z.B. Jer 1,14: Et dixit Dominus ad me: „Ab aquilone pandetur malum super omnes habitatores terrae“; Jer 6,1: Confortamini, filii Beniamin, de medio Hierusalem; et in Thecua clangite bucina et super Bethaccharem levate vexillum, quia malum visum est ab aquilone et contritio magna. – Blickt man nach Osten, wird die Richtungsbezeichnung „links“ gleichbedeutend mit Norden, was hier im Zusammenhang mit der Negativkonnotierung der Linksrichtung zu sehen ist (vgl. auch Anm. 206 und 387).
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Andere Gegebenheiten als bei Monumentalgemälden gelten für Buchtotentänze. Die Realisierung im Buchformat bedingt hier mehrere Besonderheiten, die solche Totentänze deutlich von den Monumentalgemälden abheben. Zunächst bringt die Umsetzung als Buch zumeist ein Zerfallen des ursprünglich geschlossenen Reigens in voneinander getrennte Paare auf den einzelnen Buchseiten mit sich.213 Der Reigen ist somit in seiner Gesamtheit allenfalls nur noch in der Vorstellung, jedoch nicht mehr visuell vorhanden.214 Dennoch kann es vorkommen, daß auf der Textseite deutlich auf den ursprünglichen Reigentanz Bezug genommen wird, wie im Zusammenhang mit der Lübecker Inkunabel von 1489 ausführlicher besprochen wird. Daneben ist zu erwähnen, daß der Totentanz einen erheblichen Teil seines Schreckens verliert, wenn die Figuren nicht mehr lebensgroß, sondern kleinformatig-zusammengeschrumpft auftreten und der Rezipient damit nicht mehr so unmittelbar in das Anschauungserlebnis eingebunden wird wie bei der Betrachtung eines monumentalen Gemäldes mit Figuren in nahezu naturgetreuem Maßstab. Theoretischer Teil
Doch nicht nur für die Bild-, sondern auch für die Textseite ist der Unterschied zwischen Buchtotentänzen und Monumentalgemälden von Bedeutung. Verbunden mit der allgemeinen Zugänglichkeit von monumentalen Totentänzen, setzte sich hier, wie oben erwähnt, das Publikum sowohl aus litterati als auch aus illitterati zusammen. Zu fragen wäre hier, ob den des Lesens Unkundigen die Bedeutung allein aus der Anschauung der Bilder genügend klar wurde, oder ob für sie von seiten lesefähiger Rezipienten weitere Erklärungen zum Verständnis notwendig waren. Rezeptionszeugnisse, die hierüber Aufschluß geben könnten, gibt es leider nicht, so daß wir hier auf bloße Vermutungen angewiesen sind.215 Denkbar ist sicherlich auch, daß bei im Kirchenraum angebrachten Totentänzen vielleicht im 213
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Es gibt allerdings Buchtotentänze, die das Moment des Reigens auch auf dem Bild deutlich zeigen. So ist z.B. in der Handschrift des Augsburger Humanisten Sigismund Gossembrot auf den Bildern der Kettenreigen gut zu erkennen, indem auf jeder Seite fünf bis sechs Figuren in einer Reihe abgebildet sind. Es handelt sich allerdings hier auch um einen Gruppentotentanz, d.h. es stehen jeweils eine Todesfigur und vier oder fünf Menschen auf einem Blatt (vgl. Abschnitt 3.3.1.4.). Hammerstein weist ausdrücklich darauf hin, daß der GossembrotBuchtotentanz „als fortlaufende Reihe konzipiert“ ist (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 150). Man könnte mit einigem Recht sagen, daß der Buchtotentanz das Monumentalgemälde voraussetzt; die Konzeption des Totentanzes kann meines Erachtens nur in den ursprünglichen Denkmälern voll und ganz erfaßt werden. Buchtotentänze sind deswegen keine Reduzierung des ursprünglichen Gedankens; das Bildmaterial mag zwar in seiner Bedeutung für das Gesamtwerk zurückfallen, doch dafür kommt es mitunter zu einer erheblichen Ausweitung des Textes (wie bei der Lübecker Inkunabel von 1489) und damit eventuell auch zu einer Hebung des Reflexionsniveaus. Der Totentanz wird so unter anderem in einen weiteren, etwa heilsgeschichtlichen Kontext eingeordnet. Ein Gemälde von Simon Marmion aus der Mitte des 15. Jahrhunderts zeigt, wie mehrere Personen gemeinsam ein Totentanzgemälde abschreiten, wobei sie sich – was aufgrund ihrer Gestik zu vermuten ist – anscheinend darüber austauschen. Eine solche Form gemeinschaftlichen Erlebens und gegenseitiger Erklärung des Dargestellten ist daher mit Sicherheit für die monumentalen Totentänze anzunehmen; vgl. auch Anm. 88 sowie die CD-ROM („Diverse Totentänze“).
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Rahmen der Predigt auf den Inhalt des Gemäldes Bezug genommen und/ oder eine erklärende Ausdeutung gegeben wurde.216 Die Buchtotentänze hingegen waren sicherlich (wenn nicht ausschließlich, so doch vorwiegend) für ein lesefähiges Publikum gedacht; alternativ mag man sich bei diesem Genre vielleicht auch ein geselliges Vorlesen vorstellen, etwa in seelsorgerischem Kontext.217 Neuber stellt allerdings heraus, daß Literatur seit der Erfindung des Buchdrucks nicht mehr lediglich durch Zuhören erfahrbar sei: Aspekte des Raumes
Zum Hören von Texten tritt die Möglichkeit hinzu, anhand von Bildern, die dem Text eingefügt sind oder ihm auf dem Titelblatt vorangehen, Bücher selbst ohne Lesefähigkeit zu verwenden. Wenn ein Text einmal gehört wurde und dazu die Bilder betrachtet wurden, ließ sich eine Ge218 schichte an ihrer Hand, auf visuellem Wege die Erinnerung stimulierend, rekonstruieren.
Camille weist des weiteren darauf hin, daß Lesen im Mittelalter vielfach eine Gemeinschaftsaktivität war,219 keine einsame Tätigkeit „im stillen Kämmerlein“, wie es heute meist praktiziert wird. Dies gelte auch für Wandgemälde; so wurden Monumental-Totentänze vermutlich mitunter gemeinsam rezipiert: Such collective appreciation would have been in action before the monumental cycles of wall paintings, glass, sculpture and even in some cases with illuminated manuscripts, for which 220 quasi-literate or illiterate audiences demanded oral explanations.
Während Camille auf diese Weise zwischen den Rezeptionsarten von Text-BildKommunikaten in Monumentalform auf der einen und in Buchform auf der anderen Seite Parallelen zieht, stellt Kaiser demgegenüber die Rezeptionsunterschiede heraus. Der monumentale Totentanz sei fürs gemeinsame Betrachten geschaffen [...]. Dieses Medium des Wandgemäldes ist die genuine bildnerische Entsprechung der Bußpredigt, eben indem sie jene Menschen in der gemeinsamen
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Rosenfeld stellt sich etwa (in Bezug auf den Basler Totentanz) Bußprediger vor, „die die Sprache des Bildes verdolmetschten“ (Rosenfeld, Totentanz, S. 112). – Eine Bezugnahme auf den Lübecker Totentanz von 1463 ganz anderer Art bringt das Redentiner Osterspiel, das verschiedene exponierte Verse des Totentanzes aufgreift und auch in seinem Teufelsspiel strukturelle Ähnlichkeiten damit aufweist; siehe hierzu Achim Masser: Das Redentiner Osterspiel und der Totentanz von Lübeck. In: ZfdPh 89 (1970), S. 66-74, sowie Claußnitzer/ Freytag/ Warda und Claußnitzer. In der Inkunabel von 1489 sagt der Tod der Begine gegenüber, daß den Kranken etwas vorgelesen werden solle, das ihrer Seele zum Heil verhelfen könne: Leren scholen se, dat men den kranken vor schal lesen,/ Dat en aldermeist nutte unde gut mach wesen,/ Ere sele to bringende to der ewigen salicheit (V. 1251-1253) – hierzu könnten etwa auch solche TotentanzBüchlein wie die Inkunabel selbst gedient haben. Neuber, S. 190; siehe auch Driver: „In early printed books, pictures can trigger the memory of heard texts; visual signs aid in deciphering the meaning of verbal signs“ (Driver, S. 345). Vgl. Camille, S. 32f.; vgl. auch Wenzel, Medien- und Kommunikationstheorie, S. 132: „Wird ein Text rezipiert, wird er bis ins 15./ 1. Jahrhundert hinein stimmlich realisiert, im Vortrag ebenso wie in der einsamen Lektüre“; erhellend ist hier auch die Formulierung Wenzels, „wer liest […], der spricht mit einem Anderen“; die Rede ist von der „Inkarnation des Wortes“ (ebd., S. 133). Ebd.
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Anschauung vereint – ja gleichsam als Gemeinde konstituiert –, die die Bußpredigt zum ge221 meinsamen Hören zusammenzwang.
Dem Medium Buch hingegen eignet nicht in dem Maße das Gemeinschaftserlebnis; ein Buch kann zwar, wie oben angedeutet, mit einigen wenigen Personen zugleich betrachtet werden, erreicht jedoch keine größere Menge an Rezipienten zum selben Zeitpunkt, wie es einem Wandgemälde möglich ist. Das Buch ist so nach Kaisers Meinung vorwiegend das Medium des „vereinzelten, allein gelassenen Betrachters“.222 Theoretischer Teil
Ein weiteter Unterschied zwischen Buchtotentanz und Monumentalgemälde besteht darin, daß sich das Buch zur Vermittlung seiner Intention gleichermaßen auf die Medien Bild und Text verlassen konnte, während ein Wandgemälde einen Großteil seiner Wirkung allein schon durch die Bildlichkeit erzielte. Dazu und überhaupt zum Medium des Buches paßt, wie im Lübecker Totentanzdruck von 1489, daß die Textseite erheblich mehr betont ist, indem die ursprünglich recht knappen Dialoge zwischen Tod und Ständevertretern zu mahnend-erbaulichen Reden erweitert werden und größere Textmengen in weiteren, vom eigentlichen Totentanz abgelösten Kapiteln hinzukommen. Das Buch findet nicht nur ein Publikum, das dies zu schätzen weiß, sondern bietet auch hierfür den Platz, während eine Wandmalerei schon allein des visuellen Eindrucks zuliebe nicht allzuviel Text bringen kann; ihr vorrangiges Medium ist das Bild. Das Bildmaterial, das, wie beschrieben, in Buchtotentänzen mitunter erheblich zurücktritt, ist jedoch auch dort keineswegs von nur nebensächlicher Bedeutung. Abgesehen von der Funktion, den Druck für potentielle Käufer attraktiver zu machen – wie dies Bilder auch heutzutage in Druckwerken noch leisten –, dienen Illustrationen auch der memoria, denn was man sowohl liest (bzw. vorgelesen hört) als auch sieht, behält man besser im Gedächtnis, und es wird als eindrucksvoller empfunden als eine lediglich „monomediale“ Darstellung. Um dieser fundamentalen Tatsache Rechnung zu tragen, wurden die Sinnesorgane Auge und Ohr im Mittelalter auch als „Pforten der memoria“ dargestellt;223 ebenso verfestigte sich die Wendung hoeren und sehen zu einer allgemein gebräuchlichen Formel.224 221 222
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Kaiser, S. 21. Ebd., S. 23; vgl. auch Schulte, die annimmt, daß der Druck Des dodes dantz von 1489 für die Privatnutzung bestimmt war: „Allein der Textumfang [...] weist ebenso wie die inhaltliche Ausgestaltung diese Lübecker Inkunabel als eine für die private Lektüre bestimmte Erbauungsschrift in katechetischer Wirkabsicht aus“ (Schulte, Totentänze, S. 212). Vgl. hierzu Wenzel, Hören und Sehen, S. 32f. mit Abb. I.; siehe auch Wenzel, Medien- und Kommunikationstheorie, S. 132: „[…] dementsprechend erweist sich der Zusammenhang von Bild und Sprache für das Weiterwirken der memoria als besonders wichtig“. Velten weist darauf hin, daß ein Texte „der Flüchtigkeit von Aufführungen und Gesten entgegen[wirkt], indem er sie fixiert und ihr kulturelles Wissen produktiv verarbeitet (Velten, Performativität, S. 227). Vgl. Velten, Performativität, S. 227. – Allgemein zur Frage, welche Bücher im Mittelalter illustriert wurden und welchen Zwecken die Buchillustration diente, siehe z.B. Otto Pächt: Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung. Hg. von Dagmar Thoss und Ulrike Jenni.
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Nicht in allen Buchtotentänzen wird allerdings das Bildmaterial gegenüber dem Text so sehr reduziert wie in der Inkunabel Des dodes dantz von 1489. Der Lübecker Druck Dodendantz von 1520 beschneidet den Text wiederum stark, so daß den Holzschnitten erneut ein größerer quantitativer Stellenwert zukommt; daneben gibt es auch in Buchform überlieferte Totentänze, die ein sehr starkes Gewicht auf die Bilder legen, so z.B. die aufwendig illustrierte Kasseler Prachthandschrift; Ausprägungen wie etwa die Blockbücher zeigen eine sehr ausgewogene Gewichtung von Text und Illustration, ebenso wie die Zimmern-Handschrift. Auf der anderen Seite führt das Medium des Buches auch zu Totentänzen, die nur noch Text enthalten und kaum noch oder gar keine Illustrationen bieten, wie Hermann Botes Prosa-Totentanz, dem nur ein einziges Bild beigegeben ist. Die Bedeutung, die in einem Totentanz jedem der beiden Medien zugemessen wird, ist jeweils im Einzelfall durch Untersuchung der Struktur, des Layouts und des semantischen Gehalts von Text- und Bildseite gesondert zu ermitteln.225
2.3.5. Wie entstand ein Totentanz? Praktisches Vorgehen bei der Zusammenstellung von Texten und Bildern Ein weiterer interessanter Punkt im Zusammenhang mit Text-Bild-Beziehungen bei Totentänzen ist der Problemkreis der konkreten, praktischen Entstehung eines solchen Kunstwerks, denn damit einher geht die Beantwortung der Frage, ob sich der Text nach dem Bild richtet oder umgekehrt – hier sind verschiedene, von Fall zu Fall sicherlich ganz unterschiedliche Versionen denkbar. Allgemein muß zunächst versucht werden, Aufschluß über die Arbeitsweise bei der Herstellung mittelalterlicher Totentänze zu gewinnen. Die Sachlage wird dadurch erschwert, daß Totentänze zu einem großen Teil anonym überliefert sind226 (eine Ausnahme stellt etwa der Berner Totentanz des Niklaus Manuel dar, denn es ist bekannt, daß Manuel sowohl die Bilder gemalt als auch den Text verfaßt hat). Daneben besteht eine weitere Besonderheit darin, daß Totentänze – trotz Wie entstand ein Totentanz?
225 226
München 2000, bes. S. 32-44; speziell zur Illustration früher Drucke vgl. Schramm, Der Bilderschmuck der Frühdrucke; H. Kunze, Geschichte der Buchillustration in Deutschland. Das 15. Jahrhundert. Bildband und Textband. Leipzig 1975; ders.: Geschichte der Buchillustration in Deutschland. Das 16. und 17. Jahrhundert. Bildband und Textband. Frankfurt a.M. 1993; Henning Wendland: Die Buchillustration. Von den Frühdrucken bis zur Gegenwart. Stuttgart 1987 (zu Spätmittelalter und Früher Neuzeit siehe S. 30-123); vgl. zum Thema memoria auch Belting, S. 19-24. Während in Büchern Totentänze ohne Bild vorkommen, gibt es in der bildenen Kunst Totentanz-Darstellungen ohne Text (z.B. das Dresdner Totentanz-Relief). Es scheint folglich, daß jeweils dasjenige Medium aufgegeben wird, das der betreffenden Form ferner steht. Freytag stellt die Anonymität als typisch für das Genre des Totentanzes heraus (vgl. Freytag, Totentanz 1463, S. 14). Dem Mittelalter ist unser neuzeitlicher Autorbegriff gerade in Bezug auf solche geistlichen Texte fremd; der Verfasser tritt hinter dem Inhalt seines Werkes zurück. Namenlosigkeit überwiegt allgemein bei einem Großteil moraldidaktischer Literatur (vgl. JanDirk Müller: Artikel ‚Anonymität’. In: RLW Bd. 1, S. 89-92, hier S. 91).
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ihrer prinzipiell offenen Form – sowohl auf der Bild- als auch auf der Textseite erheblich den Gattungsmustern verpflichtet sind, so daß viele Bestandteile in ähnlicher oder gar gleicher Form in zahlreichen Totentänzen aufzufinden sind, angefangen beim Figureninventar bis hin zu wörtlich gleichen Formulierungen, was es noch schwieriger macht, an diese Kunstform mit einem Autor- oder gar Originalitätsbegriff heranzutreten (der dem Mittelalter ohnehin weitgehend fremd war und eher ein neuzeitliches Konzept darstellt).227 Theoretischer Teil
Über den Lübecker Maler Bernt Notke, dem der Totentanz in der Marienkirche aufgrund verschiedener künstlerischer Charakterzüge zugeschrieben wird, hat in jüngerer Zeit Kerstin Petermann eine Untersuchung vorgelegt, die sich mit Arbeitsweise und Werkstattorganisation beschäftigt. Petermann geht auf die Totentänze von Lübeck und Reval ausführlich ein; darüber, wie man sich die Zusammenstellung von Wandgemälde und Texten allerdings ganz konkret vorzustellen hat, scheinen aber kaum historisch verläßliche Informationen eruierbar zu sein. Über den Autor der Verse des Lübecker Totentanzes ist nichts bekannt. Man vermutet ihn in franziskanischen Kreisen;228 eine nähere Identifizierung scheint aber nicht möglich zu sein, so daß über den Zusammenhang des Autors mit der ausführenden Malerwerkstatt nichts gesagt werden kann. Aus rein praktischen Gründen ist meines Erachtens anzunehmen, daß bei der Entstehung eines monumentalen Wandgemäldes der Text vorher vorgelegen haben muß, da diese Gemälde vermutlich „in einem Guß“ gemalt wurden, also die Maler erst zu einem Zeitpunkt damit begannen, als der Text bereits existierte, er somit nicht erst später (hinzu)gedichtet wurde.229 Wenn allerdings vor der Erstellung des eigentlichen Gemäldes eine Vorlage in irgendeiner Form vorhanden war (was wahrscheinlich ist; denn ohne das Vorhandensein von Vorlagen ließen sich die relativ genauen Übereinstimmungen verschiedener Gemälde in charakteristischen Zügen nur schwer erklären),230 könnte ein beauftragter Dichter den Text 227 228 229
230
Der Begriff „Original“ ist daher im Zusammenhang mit dem Mittelalter natürlich etwas problematisch. Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist mit dieser Bezeichnung stets der ursprüngliche Zustand eines Werkes bei seiner Erschaffung gemeint. Hierzu Freytag, Totentanz 1463, S. 40-42. Für den Revaler Totentanz etwa ist erwiesen, daß „die Beschriftung der Leinwand zeitgleich mit der Bemalung erfolgt ist, der ausführenden Werkstatt somit ein in Reval übersetzter Text des Totentanzgedichtes vorgelegen haben muß“ (Petermann, S. 40). Bei dem französischen Totentanz in La Chaise-Dieu wurde andererseits das Bild vollständig fertiggstellt, aber kein Text hinzugefügt, sondern man ließ Freiräume (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 162). Die wohl kaum zu beantwortende Frage ist hier, ob es lediglich aus irgendwelchen Gründen nicht zur Ausführung des letzten Arbeitsschritts kam, oder ob tatsächlich noch kein Text vorlag und man deswegen Raum ließ, um eventuell zu einem späteren Zeitpunkt noch einen Text dazumalen zu können. Dieses Beispiel zeigt jedoch, daß das Bild ganz offensichtlich ohne den Text als unvollkommen betrachtet wurde und man der Ansicht war, ein Text gehöre dazu; sonst hätte man das Bild ja von vornherein ohne die Freilassungen für den Text konzipieren können. Hier ist auf Rosenfelds Bilderbogentheorie hinzuweisen, mit der er die Übereinstimmungen in verschiedenen Totentänzen und bestimmte Überlieferungstraditionen zu erklären versucht. Seine Ausführungen stießen indes in der Forschung auf erhebliche Kritik, unter anderem des-
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eigens hierfür verfaßt haben. Es kann natürlich auch im Zuge der Weiterentwicklung von Überlieferungssträngen zu ganz neuen Zusammenstellungen eines bereits vorhandenen älteren Bildes mit einem ebenso schon längere Zeit existierenden Text kommen, so daß die kreative Leistung des Schöpfers weniger im Erfinden neuer Bild- oder Textelemente, sondern vielmehr in ihrer gegenseitigen Zuordnung liegt. Hammerstein bemerkt zur Problematik: „Die Frage schließlich, ob zuerst der Text oder die Bilder, oder ob beide zusammen entstanden sind, wird heute allgemein im Sinne einer Simultanentstehung beantwortet“.231 Leider liefert Hammerstein keine weiteren Nachweise und äußert sich auch nicht näher, wie man sich eine solche Simultanentstehung rein praktisch vorzustellen habe. Meines Erachtens ist dies jedoch nicht ganz unwichtig, denn es sind verschiedene Möglichkeiten der Realisierung eines solchen Text-Bild-Kunstwerkes denkbar, was die Abfolge der Arbeitsschritte von Maler und Dichter betrifft. Zudem ist die Frage, ob Bild oder Text zuerst vorgelegen hat, sicherlich für die Gesamtgestaltung eines Totentanzes und besonders für die Beziehungen zwischen Text und Bild von einiger Bedeutung. Wie entstand ein Totentanz?
Einfacher in Bezug auf den Ursprung der Zusammenstellung von Bildern und Texten ist die Sachlage in Fällen wie bei Holbein. Dieser hatte seine TotentanzHolzschnitte zunächst ganz ohne Textunterschriften konzipiert. In späteren Zeiten bemächtigten Verleger sich der Bildvorlagen, die sie dann mit neuen Texten versahen, die ursächlich überhaupt nichts mit den Bildern zu tun hatten und sie teilweise in ganz neuer Art interpretierten. Durch Zusammenstellung mit über die Holzschnitte gesetzten Bibelzitaten und unter den Schnitten befindlichen Sprüchen bzw. Gedichten ergab sich eine Kombination ähnlich der aus der Emblematik bekannten Bild-Text-Einheit mit Motto und Subscriptio. Spätere Zeitgenossen legten die Bilder Holbeins dann zuweilen unter Zuhilfenahme dieser Texte aus, was natürlich zu Ergebnissen führen mußte, die zwar etwas über die Intention späterer Verleger oder Bearbeiter, nicht aber über Holbeins Absichten selbst aussagten.232 Allgemein sollte man bei der Untersuchung von Text und Bild im Auge behalten, daß zwischen beiden eine nicht zu vernachlässigende zeitliche Distanz liegen kann und es außerdem möglich ist, daß sie ursprünglich keine Verbindungen zueinander haben, sondern erst später einander zugeordnet wurden. Jedoch können
231 232
halb, weil sich unter den deutschen Totentänzen (anders als z.B. in Frankreich!) kein einziger dieser Bilderbögen tatsächlich nachweisen läßt (Rosenfeld bezeichnet allerdings das Westfälische Totentanzfragment als einen dieser Bilderbögen; vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 196); siehe hierzu auch Schulte, Totentänze, S. 192 mit Anm. 137; vgl. Abschnitt 3.1.7. „Das Westfälische Totentanzfragment“. – Während Rosenfeld im Rahmen seiner Bilderbogentheorie bei seiner Untersuchung des Berliner Totentanzes die Ansicht äußert, die Arbeit des Malers sei ohne genaue Vorlagen (eben die Bilderbögen) undenkbar (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 207), weist Hühns kritisch darauf hin, daß Rosenfelds Ausführungen allem widersprächen, was über die Praxis gotischer Wandmalerei bekannt sei (Hühns, S. 240). Hammerstein, Tanz und Musik, S. 17. Zu Holbein vgl. Abschnitt 3.3.4.
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auch in einem solchen Fall Korrespondenzen zwischen Bild und Text auftreten; schließlich wurden sie ja auch in einer bestimmten, wohl sinnhaften Absicht und nicht willkürlich zusammengestellt. Theoretischer Teil
2.3.6. Zur Bedeutung von Restaurierungen und Umgestaltungen Ein großes Problem bei der Beschäftigung mit spätmittelalterlichen Totentänzen allgemein und besonders auch für den Zusammenhang von Bild und Text ist die Tatsache, daß zahlreiche dieser Werke nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustand vorliegen, sondern oft mehrfach restauriert, übermalt und damit verändert wurden. Da zu früheren Zeiten „Restaurierung“ nicht wie heute „Herstellung des originalen Zustands“, sondern oft eine tiefgreifende Veränderung bedeutete,233 kann man in vielen Fällen nur noch vermuten, wie das spätmittelalterliche Originalwerk ausgesehen haben mag. Kiening weist darauf hin, daß Totentänze als „öffentliche Monumente [...] Veränderungen der politischen und religiösen Situation unterworfen“ waren.234 So verursachte die Reformation tiefgreifende Umwälzungen des geistlichen Lebens und schlug sich als Konsequenz in Übermalungen oder Veränderungen von Totentänzen nieder, wenn diese nicht gar vollständig übertüncht wurden, wie z.B. in Straßburg oder Berlin. Übermalungen und Veränderungen konnten also einerseits durch den Wunsch motiviert sein, neben der Erneuerung der Farben oder etwaiger unleserlich gewordener Textstellen ein Werk dem veränderten Zeitgeist anzupassen; dazu kann andererseits als weitere Komplikation kommen, daß bestimmte Elemente mittelalterlicher Werke zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr richtig verstanden und durch andere Komponenten ersetzt wurden. Hier liefert der Totentanz in der Marienkirche zu Lübeck ein anschauliches Beispiel.235 Das Originalwerk, das vermutlich 1463 angefertigt wurde und in der Beichtkapelle der Marienkirche aufgehängt war, wurde 1701 vollständig durch eine Kopie des Kirchenmalers Anton Wortmann ersetzt. Den Erneuerungsbestrebungen fiel auch der alte mittelniederdeutsche Text zum Opfer, der durch neuhochdeutsche Alexandriner des Dichters Nathanael Schlott236 ersetzt wurde. Die
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Hammerstein stellt so auch für den Basler Totentanz fest, er wurde 1568 „im Sinne seiner Zeit restauriert, was gleichbedeutend ist mit einer vielfach völligen Umgestaltung, wenn nicht Neuschöpfung gegenüber dem alten Original“ (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 140). – Glatz zeigt auf, daß sich fachgerechte Restaurierungsmethoden, die versuchen, den überlieferten Originalzustand zu konservieren, anstatt ihn zu ergänzen, auszubessern oder zu übermalen, erst im 20. Jahrhundert durchsetzten (vgl. Glatz, S. 64-74). Kiening, Das andere Selbst, S. 49. Vgl. die genaueren Ausführungen zu diesem Thema in Abschnitt 3.1.1., „Der Totentanz in der Lübecker Marienkirche von 1463“. Zur Person des Dichters vgl. Hartmut Freytag: Artikel ‚Schlott, Nathanael’. In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck. Hg. im Auftrag der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte und des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde. Bd. 9. Neumünster 1991, S. 340-342.
Restaurierungen und Umgestaltungen
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neuen Verse entsprachen dem Zeitgeschmack des Barock wohl besser, hatten aber mit dem ursprünglichen Totentanz nicht mehr viel zu tun. Der damalige Hauptpastor Jacob von Melle schrieb zwar den mittelniederdeutschen Text vor der Erneuerung ab, doch waren nicht mehr alle Verse zu lesen; zusätzlich richtete er sich bei seiner Abschrift nach der Figurenabfolge des neuen Gemäldes und brachte dabei einiges durcheinander. Zudem entsprach das Gestaltungsprinzip des spätmittelalterlichen Textes nicht der Struktur der barocken Erneuerung, und so kamen die Figurenabfolge des Bildes und die Sprecherreihenfolge im Text durcheinander. Weitere Mißverständnisse und möglicherweise veränderte Auffassungen führten zu verschiedenen Umstellungen in der Reihenfolge der Ständevertreter. Eine weitere Verkomplizierung der Lage besteht in dem schwer zu entwirrenden Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Lübecker Totentanz und dem Totentanzgemälde aus der Nikolaikirche in Reval, welches sowohl für eine ebenfalls von Bernt Notke angefertigte Replik des Lübecker Totentanzes als auch für einen Teil desselben gehalten wurde. Inzwischen weist die Forschungslage auf den ersten Fall hin. Auch dieser Sachbestand soll später noch eingehender in den Blick genommen werden. Ein ähnlich komplexes – und in vielen Details durchaus vergleichbares – Beispiel ist der Basler Totentanz,237 der mehrfach übermalt wurde und dessen ursprüngliches Aussehen ebenfalls nicht überliefert, sondern allenfalls durch die Replik von Klingental zu erschließen ist. Von einigen der wenigen erhaltenen Fragmente wurden die Übermalungen in aufwendigen Restaurierungsprozessen wieder entfernt, so daß zumindest bei einigen Gesichtern der Ständevertreter nun das ursprüngliche Aussehen bekannt ist. Die verschiedenen Wiedergaben des Basler Totentanzes zeigen das Gemälde zu verschiedenen Zeiten und gleichsam in unterschiedlichen „Stufen“, jedoch sieht man bei genauem Vergleich all dieser Fassungen zahlreiche Unstimmigkeiten, so daß eine vollständige Rekonstruktion des originalen Aussehens nur eingeschränkt möglich ist. Widersprüchliche Auskünfte und Einschätzungen in der einschlägigen Forschung tun ein übriges. Selbst bei den erhaltenen Totentänzen ist der Zustand zuweilen so schlecht, daß sich auch nur noch eingeschränkt gesicherte Aussagen machen lassen. Dies ist z.B. der Fall beim Berliner Totentanz, dessen Erscheinungsbild stark angegriffen ist.238 Restaurierungen und Umgestaltungen
Die vorangegangenen Ausführungen illustrieren, wie schwierig es in manchen Fällen ist, den Zusammenhang zwischen Bild und Text in den spätmittelalterlichen Totentänzen im Detail zu analysieren, ohne in unzulässige Spekulationen zu verfallen. Die späteren Restaurierungen und Veränderungen können die ursprüngliche Beziehung zwischen den zwei Medien zu einem beträchtlichen Teil unkenntlich gemacht haben, so daß der Originalzustand oft nur noch vermutet wer237 238
Siehe die genaue Beschreibung des Sachverhalts in Abschnitt 3.3.2. Vgl. zur Problematik allgemein Glatz, bes. den Abschnitt „Technik und Erhaltungsfragen Restaurierungsmethoden“, S. 57-74.
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Theoretischer Teil
den darf. Man ist auf die Wiedergaben des ursprünglichen Bildes durch Abmalungen und Niederschriften von Zeitgenossen angewiesen. Trotz der ungünstigen Voraussetzungen ist es jedoch durchaus möglich, bei der Mehrzahl der aus dem Spätmittelalter bekannten Totentänze die Text-BildBeziehungen zu untersuchen. Das überlieferte Material reicht bis auf einige Ausnahmen – Fälle, in denen sich die Kunde von Totentänzen lediglich mehr oder weniger auf deren ehemaliges Vorhandensein beschränkt, wie beim Hamburger Totentanz – aus, um differenzierte Ergebnisse zu erarbeiten. Die Untersuchungen müssen allerdings zuweilen vor dem Hintergrund des Bewußtseins stattfinden, daß im einen oder anderen Fall mit Hypothesen gearbeitet wird, die sich zwar plausibel darstellen, jedoch nicht beweisen lassen, da keine Dokumente über die Originalzustände einiger Werke vorliegen. Theoretischer Teil
Nach diesen theoretischen Vorüberlegungen, die notwendig waren, um grundlegende Gegebenheiten der Untersuchung von Text-Bild-Beziehungen in Totentänzen zu etablieren, sollen nun im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit die spätmittelalterlichen deutschsprachigen Totentänze in Einzelanalysen untersucht werden.239 In dem darauffolgenden Ergebnisteil werden die gewonnenen Erkenntnisse vergleichend nebeneinandergestellt und in einem Überblick nochmals zusammengefaßt.
239
Ausgewählte Abbildungen zu den untersuchten Totentänzen befinden sich im Tafelteil sowie vor allem auf der beigelegten CD-ROM.
3. EINZELUNTERSUCHUNGEN DER TOTENTÄNZE240 3.1. Die niederdeutschen Totentänze
Der Lübecker Totentanz von 1463
3.1.1. Der Totentanz in der Lübecker Marienkirche von 1463 3.1.1.1. Der spätmittelalterliche Totentanz in seiner ursprünglichen Form Den interessantesten und sicherlich auch schwierigsten Fall innerhalb der niederdeutschen Denkmäler stellt das Totentanzgemälde in der Lübecker Marienkirche von 1463 dar. Die Untersuchung dieses Werks konfrontiert mit einigen Problemen. Deren schwerwiegendstes ist zunächst die Tatsache, daß das Gemälde selbst nicht erhalten ist, weil es bei einem Bombenangriff in der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942 vollständig zerstört wurde. Vor dem Krieg hatte allerdings Wilhelm Castelli den Totentanz auf Schwarz-Weiß-Fotografien festgehalten, und es gibt auch eine Reihe von graphischen, z. T. farbigen Reproduktionen.241 Doch alle diese Zeugnisse dokumentieren keinesfalls den Originalzustand des spätmittelalterlichen Kunstwerks, denn dieses wurde im Jahre 1701 durch den Kirchenmaler Anton Wortmann komplett ersetzt. An die Stelle der mittelalterlichen Verse traten, dem neuen Zeitgeschmack entsprechend, barocke Alexandriner des Dichters Nathanael Schlott, die von ihrer Gestalt her mit den eher knappen und teilweise fast derb zu nennenden mittelalterlichen Dialogen nur noch wenig gemein hatten. Doch dies war nicht die erste Restaurierung des mittelalterlichen Totentanzes. Jacob von Melle, der damalige Hauptpastor, zeichnete vor der Erneuerung die originalen mittelniederdeutschen Verse auf, konnte dies aber nur noch unvoll240
241
Angaben zur Zitierweise: Zumeist ist in den Anmerkungen angegeben, nach welcher Ausgabe die betreffenden Totentänze zitiert werden. Leider verfügen besonders die älteren Ausgaben teilweise nicht über eine Zeilenzählung, oder die im Umlauf befindlichen Zeilenzählungen sind nicht zu gebrauchen, weil die entsprechende Textedition nicht zuverlässig oder fehlerhaft ist. In solchen Fällen wird keine Zeilenzählung angegeben. Infolge der übersichtlichen Aufteilung der Totentanz-Strophen zu den einzelnen Ständevertretern sind aber die meisten Textstellen auch ohne Zeilenangaben recht schnell aufzufinden; zuweilen gibt es immerhin eine Strophenzählung. Standen mehrere Ausgaben eines Totentanz-Textes zur Auswahl, habe ich mich für diejenige entschieden, die den Text entweder mit den wenigsten Eingriffen abdruckt oder aus einem anderen Grund am brauchbarsten und zuverlässigsten erschien. Originaltitel der spätmittelalterlichen Werke und (Vers-)zitate aus den Totentanz-Texten werden stets kursiv abgedruckt; Prosazitate, z.B. aus Vorreden der frühneuzeitlichen Totentanz-Ausgaben, werden i.d.R. recte wiedergegeben. Vgl. hierzu Christa Pieske: Die graphischen Wiedergaben des Totentanzes von Bernt Notke. In: Philobiblon 12 (1968) Heft 2, S. 82-104.
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Einzeluntersuchungen
ständig tun, weil die alten Reime „theils ziemlich verloschen, theils auch, wegen der offtmaligen renovation, sehr zustümmelt [sic] waren“.242 Folglich muß man davon ausgehen, daß auch zu früheren Zeitpunkten der alte Totentanz bereits restauriert worden war und schon Wortmann das zu erneuernde Gemälde nicht mehr in seinem ursprünglichen Zustand vorfand.243 Während nun der Geschmack des angehenden 18. Jahrhunderts offenbar die spätmittelalterlichen Verse als nicht mehr zeitgemäß empfand, so daß an deren Stelle Alexandriner gewählt wurden, die das Bild eher deklamatorisch und steif begleiten244 und zudem auch eine ganz veränderte Einstellung zum Tod ausdrükken, führten auch einige tiefgreifende Mißverständnisse zur Änderung der alten Konzeption, wie Freytag ausführlich nachweist.245 Schon Mantels erkannte, daß von Melle die Verse nicht den richtigen Figuren zugeordnet hatte;246 denn offenbar war jede Strophe, die der Tod zu seinem Opfer spricht, jeweils um einen Ständevertreter nach hinten verschoben worden. Erst Freytag liefert hierzu eine einleuchtende Erklärung: Einzeluntersuchungen
Offenbar hat VON MELLE bei seiner Abschrift die Antwort des Todes auf die Worte seines letzten Tanzpartners als Anrede an seinen nächsten Tanzpartner verstanden und auf diese Weise den 247 mittelniederdeutschen Dialog entstellt.
Der Lübecker Totentanz weist nämlich eine Besonderheit in der Strophenfolge auf, die er sonst nur noch mit der spanischen Danza general de la muerte teilt: Der Tod spricht sieben Verse zu seinem jeweiligen Opfer und wendet sich dann im achten und letzten Vers mit der Aufforderung zum Tanz schon an sein nächstes Opfer, woraus sich eine besonders dynamische Strophenverkettung ergibt. In Schlotts Neudichtung dagegen ist dieses Bauprinzip nicht übernommen worden, sondern dort wird immer jeweils eine ganze Strophe an denselben Ständevertreter gerichtet; außerdem kommt bei Schlott zuerst die Strophe des Todes, dann erst folgen die Worte des Ständevertreters – also genau umgekehrt gegenüber dem
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Jacob von Melle: Ausführliche Beschreibung der kayserlichen, freyen, und der H. Römischen Reichs Stadt Lübeck, aus bewährten Scribenten, unverwerfflichen Urkunden, und vieljähriger Erfahrung, zusammen gebracht. Lübeck nach 1701, S. 181f. (Autograph; StB Lübeck, Ms. Lub. 83; zitiert nach Damme, S. 63). Natürlich mußte auch das neue Gemälde restauriert werden und war zudem baulichen Veränderungen der Beichtkapelle unterworfen; so wurde 1799 wegen einer Türvergrößerung der Herzog mit dem dazugehörigen Tod aus der Leinwand herausgeschnitten. Über den Verbleib dieses entfernten Stückes ist nichts bekannt (vgl. Mantels [Ed.], S. 5b sowie Vogeler, S. 81). Eine Abbildung des Herzogs ist noch erhalten in der Reproduktion Suhls aus dem Jahre 1783. „Während von Melle die Totentanzdichtung seines Zeitgenossen Sch[lott] positiv beurteilt, hat man in literarhistorischen Arbeiten des 19. u[nd] 20. J[ahrhunderts] bedauert, daß an die Stelle des Originals die als maniriert empfundenen barocken Verse getreten waren“ (Freytag, Artikel ‚Schlott, Nathanael’. In: Biogr. Lex. f. Schl.-Holst. u. Lüb. [wie Anm. 236], S. 340). Mantels äußert sich ebenfalls sehr abfällig, wenn er anmerkt, die modernen Verse könnten „einem heutigen Leser nur Widerwillen erregen“ (Mantels [Ed.], S. 6b). Freytag, Totentanz 1463, S. 29-36. Vgl. Mantels (Ed.), S. 6b. Freytag, Totentanz 1463, S. 30.
Der Lübecker Totentanz von 1463
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ursprünglichen Text.248 Pastor von Melle kopierte nun von Schlott die neuhochdeutschen Strophenüberschriften (in der alten Fassung hatte es wohl keine Überschriften gegeben), so daß die alte Bauweise in seinen Aufzeichnungen „unausweichlich aus den Fugen geraten mußte“,249 dabei war von Melle die „Unvereinbarkeit der Kompositionsprinzipien von altem und neuem Totentanz-Text“250 offensichtlich nicht bewußt. Als weitere Verwicklung kam hinzu, daß anscheinend um 1700 das mittelniederdeutsche amtman, das im damaligen Sprachgebrauch den Handwerker, nicht aber den neuhochdeutschen „Amtmann“ bezeichnete, mißverstanden wurde. Dies führte zu der Vertauschung der Figuren von Handwerker und Kaufmann. Daneben kam es zu weiteren Umstellungen in der Figurenreihenfolge: Offensichtlich haben Edelmann und Bürgermeister in der barocken Kopie die Plätze getauscht. Der durch von Melle überlieferte Text zeigt hier unübersehbare Brüche, die „sich nicht vorwiegend durch [...] seine Kontamination der zwei verschiedenen Aufbauprinzipien der Dialogführung erklären lassen“.251 An dieser Stelle mag die Vertauschung der Figuren durch eine inzwischen veränderte Bewertung dieser Personen oder durch Nichterkennen des mittelalterlichen Abfolgeprinzips (bis zum Bürgermeister weltlicher Adel, danach auch bürgerliche Berufe) zustandegekommen sein.252 Die offenkundigen Diskrepanzen im Zusammenhang mit der Figurenreihenfolge und dem durch von Melle überlieferten Text beseitigte Mantels in seiner Edition, so daß nun, zumal in jüngerer Zeit mit der kommentierten Edition Freytags, ein Text vorliegt, der in seiner Sprecherreihenfolge aller Wahrscheinlichkeit nach dem ursprünglichen spätmittelalterlichen Text entspricht. Aus der vorangegangenen Darstellung wird indes ersichtlich, daß eine Untersuchung der BildText-Beziehungen in diesem Totentanz mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, da nicht nur das Originalwerk zerstört ist, sondern dessen Überlieferung zahlreiche Ungereimtheiten und Unsicherheitsfaktoren aufweist. Hier drängt sich die Frage auf, inwiefern es legitim ist, nach Beziehungen zwischen einem spätmittelalterlichen Text und einem zweieinhalb Jahrhunderte jüngeren Bild zu suchen, das sich zudem überhaupt nicht auf diesen alten, sondern einen neuen Text bezieht. Von Melle hat allerdings in seinen AufzeichnunDer Lübecker Totentanz von 1463
Einzeluntersuchungen
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Im alten Text ist die Sachlage genaugenommen etwas komplexer, denn dort spricht ja der Tod zweimal mit jedem Ständevertreter: Er ruft den Menschen einmal zum Tanz auf, dann reagiert der Mensch auf irgendeine Weise, und nun spricht der Tod eine Strophe, die wiederum auf die Ausführungen des Menschen antwortet. Dies ist übrigens ein deutliches Indiz dafür, daß – entgegen der Meinung z.B. Fehses (vgl. S. 49) – auf dem Bild immer dieselbe Todesfigur, also der Tod, abgebildet ist, denn der Tanzaufruf und die dann nach den Worten des Menschen folgende Strophe spricht ja dieselbe Instanz, auch wenn die Verse auf dem Bild zwei aufeinanderfolgenden Todesfiguren zugeordnet sind. Diese Gestalten sind also ganz offensichtlich als identisch, als ein und dieselbe Figur (nämlich der personifizierte Tod) aufzufassen. Eine solche Betrachtungsweise hatte auch schon Rosenfeld nahegelegt (vgl. ebd.). Freytag, Totentanz 1463, S. 30. Ebd., S. 34. Ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 34.
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Einzeluntersuchungen
gen festgehalten, daß der neue Totentanz dem alten Bild ganz ähnlich gesehen habe;253 zudem gibt das Revaler Gemälde, das ja noch in seinem Originalzustand erhalten ist und wohl eine Art Replik bzw. erneute, wenn auch leicht veränderte Ausführung des Bildes in Lübeck ist, eine gewisse Gewähr für die Richtigkeit dieser Behauptung. Es gibt verschiedene Abweichungen zwischen beiden Gemälden (zum Teil durch die inzwischen veränderte Manier der Malweise begründet), da sie jedoch in ihrer ganzen Art – z.B. Aufbau, Kleidung und Gestik der Figuren betreffend – allgemein als sehr ähnlich bezeichnet werden können, erscheint es durchaus glaubhaft, daß Wortmann eine recht genaue Kopie der alten Malerei anfertigte. Die Untersuchung der Beziehungen zwischen Bild und Text ist also – wenn auch mit Vorbehalten – durchaus berechtigt. Einzeluntersuchungen
Nimmt man zunächst einmal nur das Bild in den Blick, wird deutlich, daß allein schon die visuelle Seite des Totentanzes außerordentlich aussagekräftig ist. Dies kommt nicht nur durch die (etwa gegenüber dem Berliner Gemälde) sehr detaillierte Ausführung zustande, sondern vor allem auch dadurch, daß im Lübecker Gemälde ein differenziertes Verweissystem zwischen Bildvorder- und Bildhintergrund aufgebaut wird. Der Hintergrund zeigt das Portrait der mittelalterlichen Hansestadt mit seinen charakteristischen, z.T. noch heute die Stadtsilhouette bestimmenden Gebäuden sowie der Travemündung. Zwar sind realistische Stadtansichten in der norddeutschen Malerei seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bekannt,254 doch eine solche „programmatische“255 Verbindung von Stadtportrait und Totentanz ist vor dem Lübecker Gemälde nicht überliefert. Die Aussage des Totentanzes, die für alle Menschen gleichermaßen zutrifft, erhält hierdurch noch eine besondere Prägnanz für den Betrachter, der das grauenerregende Geschehen dermaßen vor dem Hintergrund seines eigenen Lebensraumes dargestellt sieht –
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Laut von Melle war die neue Malerei eng an die mittelalterliche Vorlage angelehnt; zum neuen Totentanz schrieb der Pastor, die Bilder sähen „jetzo annoch eben so aus, wie sie vor dem gestalt gewesen“ (Jacob von Melle: Ausführliche Beschreibung [wie Anm. 242], S. 181 [zitiert nach Vogeler, S. 73]); siehe auch Mantels (Ed.), S. 5c: „Dass aber nichts geändert ward, dass diese absichtlich ungelenken, in sich geistreichen Stellungen des Todes, der nach der ältern Darstellungsweise noch mit muskulösem Oberkörper, nicht als völliges Gerippe, sich zeigt, dass die ganze Gruppirung der Tanzenden, Landschaft, Tracht, kurz Alles, Copie ist, wird sich dem unbefangenen Betrachter von selbst aufdrängen. Wer daran zweifeln wollte, für den hat der Maler sein eigenes Machwerk, die drei kleinen Figuren, zur Seite des Wucherers im Costüm seiner Zeit, wie zur Vergleichung, daneben gestellt.“ Somit könne man wohl von einem „engen Anschluss der Copie an das Original“ ausgehen. Daß Mantels mit dieser Einschätzung nicht ganz richtig lag, zeigt allerdings Gisela Jaacks, die nachweist, daß einige der Kleider auf dem Gemälde barocke Züge tragen (vgl. Jaacks, passim). Dennoch hat Mantels insgesamt gesehen sicherlich recht, wenn er von einem „getreuen Abbilde“ (Mantels [Ed.], S. 5c) spricht, denn wäre die Absicht Wortmanns gewesen, anstatt einer Kopie ein in allen Teilen modernisiertes Gemälde zu schaffen, müßte dies auch an anderen Details – z.B. in der Ausführung der Todesfiguren, wie Mantels anmerkt – deutlich werden, die zu Wortmanns Zeit ganz anders hätten dargestellt werden müssen als im Spätmittelalter. Vgl. Vogeler, S. 94. Freytag, Totentanz 1463, S. 7.
Der Lübecker Totentanz von 1463
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der Bezug auf die eigene Person als Einwohner ebendieser Stadt ist ungleich stärker. Das Besondere der Darstellung ist zudem das Verhältnis, in dem jeweils die menschlichen Figuren zu ihrem Hintergrund stehen, denn viele der Ständevertreter weisen von ihrem Berufsstand oder ihrer Lebensführung her eine spezifische Verbindung zu dem hinter ihnen gezeigten Stadtausschnitt auf, wie Vogeler detailliert nachweist.256 So sind die „Repräsentanten der Stadt: der Bürgermeister, der Domherr, der Edelmann und der Arzt“257 direkt vor der Stadtsilhouette mit ihren einprägsamen Gebäuden zu sehen, bzw. steht der Arzt vermutlich vor dem Gertrudenfriedhof, was als deutliche Anspielung auf sein Gewerbe zu verstehen wäre.258 Der Kaufmann etwa ist vor der mit Schiffen befahrenen Travemündung abgebildet, was ihn als Zugehörigen des florierenden Handelswesens der spätmittelalterlichen Hansestadt auszeichnet. Der Klausner befindet sich gemäß seinem Lebensstil als Einsiedler vor einem einsamen, steilen Berg, der Bauer wird dagegen vor Wiesen und Feldern plaziert, seiner typischen Arbeitsumgebung. Das Gebäude hinter dem Junggesellen identifiziert Vogeler als die Olafsburg,259 wo die Stadtgeschlechter ihre Feste feierten – ein Hinweis auf den wahrscheinlich losen Lebenswandel des Junkers. Eine weitere differenzierte Deutungsebene, deren Aussagen das bisher Ermittelte ergänzen und unterstützen, ergibt sich aus der Untersuchung der Kleider der Ständevertreter, die Gisela Jaacks vornimmt. Neben der Erkenntnis, daß Wortmann beim Anfertigen seiner Kopie wohl einige Details der mittelalterlichen Gewänder mißverstand und die Kleidung mancher Figuren eindeutig barocke Züge aufweist, stellt Jaacks fest, daß die „Mode in betonter Überzeichnung von dem Maler gelegentlich zur moralisierenden Charakterisierung genutzt wird“.260 Dies gilt besonders für die weltlichen Personen, die sehr aufwendig und kostbar gekleidet sind. Besonders der Jüngling zeigt sich als „Musterbeispiel für die ‚Unsittlichkeit im Anzug der jungen Männer’, gegen die z.B. die Leipziger Kleiderordnung von 1463 zu Felde zog“.261 Ähnlich trägt die Jungfrau modisch extravagante Zaddelärmel; diese dienten Der Lübecker Totentanz von 1463
noch in der Mitte des 15. Jahrhunderts als Kennzeichen sündhafter Hoffahrt, das die Geistlichkeit gern in ihren Bußpredigten benutzte, und die Geste des vorantanzenden, den Zaddelärmel
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Vgl. Vogeler, besonders S. 77-79; zur Aufschlüsselung der einzelnen Gebäude des Stadtportraits siehe dort S. 95-101. Ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 101: „Das Wäldchen läßt sich nicht eindeutig identifizieren. Vermutlich handelt es sich hierbei um den Gertrudenfriedhof [...].“ Der Friedhof als Hintergrund für den Arzt verweist hier möglicherweise nicht nur auf die Nähe dieses Berufes zu Krankheit und Tod, sondern könnte auch ein Hinweis auf den Kontext der Pestepidemien sein, die ja auch sonst des öfteren mit Totentänzen in Verbindung gebracht werden; Pesttote wurden außerhalb der Stadtmauern beerdigt, wozu die Lage des Gertrudenfriedhofs vor dem äußeren Burgtor paßt (vgl. auch ebd., Anm. 410). Vgl. ebd., S. 78. Jaacks, S. 126. Ebd., S. 121.
74
Einzeluntersuchungen triumphierend in die Höhe haltenden Todes deutet ebenfalls auf einen derartigen Zusammenhang.262
An einigen Stellen wird das Beziehungsgeflecht zwischen Hintergrund, Figur und Kleidung zur mehr oder weniger deutlichen Text-Bild-Korrespondenz ausgebaut, indem auch die Verse auf die im Bild dargestellten Anspielungen oder Hinweise rekurrieren. So wird aus der Charakterisierung der (nicht nur profanen) Ständevertreter vielfach deutlich, daß ihnen eine zu starke Weltzugewandtheit vorgeworfen wird. Der Jüngling sagt von sich selbst Der Werlde Lust mi nu smaket (V. 365),263 und ebendiese Lebenseinstellung spricht auch aus seinen verwegenen Kleidern und aus der Zuordnung des Hintergrunds (Olafsburg). Ganz ähnlich meint die Jungfrau: Ik merke der Werlde Lust (V. 383); auch bei ihr spiegelt sich diese Aussage, wie gezeigt wurde, in der modischen Machart ihres Gewandes. Weniger deutlich, aber implizit erkennbar ist dieser Bezug auch bei der ausgesprochen kostbar angezogenen Kaiserin. Es wird zwar bei ihr nicht direkt etwas über Weltlust gesagt, aber sie weist darauf hin, daß sie ja noch jung sei (bin ik doch junck, V. 64); und der Tod bezeichnet sie nicht nur als vermessen (vor meten, V. 69), sondern gebraucht ihr gegenüber auch die Wendung du most myt to dessem spele (V. 74), die Freytag als ironische Anspielung auf die Annehmlichkeiten der Welt versteht, auf die die Kaiserin nun verzichten muß.264 Neben solchen Korrespondenzen der Figurendarstellung in Text und Bild finden sich im Lübecker Totentanz von 1463 bzw. im Revaler Totentanz innerhalb des Textes auch allgemeinere Hinweise auf das Bild. So heißt es in V. 2 des Revaler Fragments: Seet hyr dat spegel junck vñ olden. Nachdem nun zweifelsfrei die Lesart spegel gegen früher spectel erhärtet worden ist,265 kann das verwendete Wort eindeutig als Metapher interpretiert werden, die den Betrachter einerseits darauf hinweist, daß er sich bei der Betrachtung des Totentanzes wie in einem Spiegel sehen und damit das Gezeigte auf sich selbst beziehen soll; andererseits ist die Metapher aber auch ein Fingerzeig auf das Bild als solches, das als visueller Bestandteil der bimedial festgehaltenen Bußpredigt die besondere Anschaulichkeit des Genres ausmacht und gerade durch seine schreckenerregende Gestaltung seinen Zweck erfüllt. Das Bild hält das Wirken des Todes vor Augen (als gy hyr seen, V. 5), während der Text der weiteren Vergegenwärtigung der Thematik dient (Vnde dencket hyr aen ok elkerlike, V. 3). Beides zusammen hat eine besonders einprägsame Wirkung. Auch die besondere Struktur des Lübeck-Revaler Totentanz-Textes hat ihr Pendant in der Malerei. Die auf dem Revaler Gemälde deutliche Absetzung der ersten Strophe kennzeichnet den Text als noch nicht zum eigentlichen Totentanz Einzeluntersuchungen
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Jaacks, S. 121. Der Lübecker Totentanz von 1463 wird nach der Edition Freytags zitiert. Vgl. Freytag, Totentanz 1463, S. 182. Freytag weist darauf hin, daß in anderen Totentänzen das Wort spel „die Vergnügungen, das Treiben und den äußeren Schein der Welt, den der Sterbende hinter sich läßt“, bedeutet. Siehe hierzu Kapitel 2.3.3. „Zu den möglichen Ursprüngen der Totentänze“, Abschnitt „Entstehung des Totentanzes aus dem Drama“.
Der Lübecker Totentanz von 1463
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gehörend, sondern als reflektierendes Vorwort, das wohl dem Prediger auf der Kanzel zuzuordnen ist. Zudem unterscheidet sich diese Strophe auch durch ihren Kreuzreim von den später folgenden, im Paarreim geschriebenen Dialogen; allerdings ist auch die erste Strophe des Todes (beginnend mit To dussem dantse, V. 13), die ja eigentlich schon zum Reigen gehört, in Kreuzreimen gefaßt. Entsprechend dem Bild beginnt die verkettete Struktur der paargereimten achtzeiligen Dialogstrophen erst dort, wo der Tod den ersten Menschen erfaßt und mit sich in den Reigen zieht; es ist dies die sargtragende Todesfigur, die den Papst beim Mantel ergreift. Die dynamische Verknüpfung der Strophen, die dadurch zustandekommt, daß sich der Tod im letzten Vers seiner Antwortstrophe schon an den nächsten Menschen wendet, spiegelt sich in der ununterbrochenen Abfolge des Reigentanzes; in diesem Aspekt entsprechen sich Text und Bild.266 Jeder Mensch ist gerahmt von einer Todesfigur – was der Kardinal anschaulich ausdrückt: Se ik vore efte achter my/ ik vole den dot my al tyt by (V. 79f.)267 –, und ebenso ist auch seine Äußerung jeweils von dem Text des Todes gerahmt: Der Tod hat immer das erste und das letzte Wort. Freytag weist zudem darauf hin, daß die Verkettung noch dadurch unterstützt wird, daß der Tod oftmals Worte des Menschen aufgreift;268 weiterhin spiegelt die textliche Verknüpfung erst recht das Reigenmotiv, indem im erwähnten achten und letzten Vers der Antwortstrophen besonders häufig die Tanzmotivik erwähnt wird.269 Pörksen findet in bestimmten Merkmalen der Sprache auch den Tanzrhythmus wieder: Der Lübecker Totentanz von 1463
Der regelmäßig alternierende Vierheber wird meistens verlassen zugunsten einer Bewegung, in der das dumpfe Gefühl des Todes zum Ausdruck kommt oder der hüpfende, springende Rhyth270 mus des Tanzes wiederholt wird.
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„In seinem Aufbau ahmt der Lübeck-Revaler Text [...] den ununterbrochenen Reigen, den das Bild zeigt, im Wort auf die Weise nach, daß der Sterbende vor dem Tod spricht und dieser sich im letzten Vers seiner Antwort seinem nächsten Tanzpartner zuwendet“ (Freytag, Totentanz 1463, S. 30). Bereits Mantels hatte dieses Prinzip erkannt: „[...] in jedem Verse spricht der Tod nicht zu einer Person, sondern nach zwei Seiten hin“; auf diese Weise komme eine „richtige Rede- und Widerrede“ zustande, eine „Zusammen-Sprache“, wie von Melle es genannt habe (Mantels [Ed.], S. 6c bzw. 8b). Dies hat übrigens eine Entsprechung in der Pariser Danse macabre, in der der Sergent sagt: Je suis pris: deca et dela. Kaiserin: vp em hebbe ik ny gedacht (V. 66) – Tod: my duncket du hest myner vor gheten (V. 70); Arzt: Wat Ordel dat mi schal bescheen (V. 244) – Tod: Recht Ordel schaltu entfan (V. 245); Wucherer: Ik en wet nicht, war ik henne mot (V. 259) – Tod: Nu mustu int ander Land (V. 267); Küster: In miner Kosterie mende ik klar,/ Noch hogher to komen vorwar (V. 303f.) – Tod: Al werstu hogher geresen,/ In groter Var mustestu wesen (V. 309f.); Bauer: Noch hebbe ik myne Tyt/ Mit Arbeide hen ghebracht (V. 350f.) – Tod: Grot Arbeit hefstu ghedan (V. 357). Vgl. Freytag, Totentanz 1463, S. 23. Hier einige Beispiele: her keiser wi mote d[ansen] (V. 44, allerdings z.T. konjiziert); Men kum an, ik wil di singhen (V. 188); Kannonik, tret her an den Dans (V. 204); Kum to min Reigen, Veltgebur (V. 348); Junkvrow, mit di ik danßen beghinne (V. 380). Pörksen, Uwe: Der Totentanz des Spätmittelalters und sein Wiederaufleben im 19. und 20. Jahrhundert. Vorüberlegungen zu einer Rezeptionsgeschichte als Rezeptionskritik. In: Peter
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Einzeluntersuchungen
Im Lübecker Totentanz ist also die Tanzmotivik sowohl im Bild als auch im Text ein dominanter Aspekt. Damit verbunden ist das Widerstreben der Menschen, sich in diesen grauenerregenden Tanz ziehen zu lassen. Entsprechend sind die Menschen eher statisch abgebildet, während es paradoxerweise die Todesgestalten sind, die die wilden und grotesken Sprünge vollführen. Der im Text vielerorts ausgedrückte Widerwille der Menschen gegen den Tanz (z.B. König: Dussen dans en hebbe ik niht gelert [V. 94]; Jungfrau: Des Reiges were ik onich gherne [V. 381]; Domherr: Late mi des Dansses noch begheuen [V. 208]) spiegelt sich somit auch im Bild. Weil die Menschen sich sträuben, muß der Tod sie dazu zwingen, mit ihm zu tanzen; entsprechende Formulierungen (zahlreiche Imperative und Modalverben wie möten, z.B. V. 20, 25, 74, 103 und an vielen weiteren Stellen) spiegeln sich auf dem Bild in der Art und Weise, wie der Tod die Menschen an den Händen packt, sich bei ihnen unterhakt (z.B. beim Bauern) oder sie an Gewandzipfeln hinter sich her zieht (wie etwa den Papst). Immer wieder betont der Tod auch, daß die Menschen ihm gleich werden müssen, und es wird wiederholt auf seine gräßliche Gestalt verwiesen. Der Papst beklagt, er müsse gelik als du een slim der erden (V. 32) werden; der Kaiser bezeichnet den Tod als letlike figure (V. 45); der Kardinal fürchtet, er müsse vnwerdiger als ein vnreine stinckende hunt werden (V. 83 bzw. 84); und der Tod mahnt den König, er komme nun in den slik/ Werden geschapen myn gelik (V. 103f.). Dieses widerwärtige Äußere kommt in der Lübecker und Revaler Malerei anschaulich zum Ausdruck: Die halbverwesten Hautskelette mit der – trotz eigentlich fehlender Gesichtsmuskulatur – abstoßend verzerrten „Mimik“ sind ausgesprochen gräßlich anzusehen und gerade deshalb eindrucksvoll; man bedenke hier auch den heute verlorengegangenen monumentalen Aspekt: Die nahezu lebensgroßen Figuren schauten drohend gleichsam auf den Betrachter herab. Einzeluntersuchungen
Wie man sieht, verweisen im Lübecker Totentanz von 1463 Text und Bild an zahlreichen „Schaltstellen“ aufeinander und demonstrieren damit ihre Zusammengehörigkeit; in der gleichzeitigen Schau von Text und Bild enthüllt sich die besonders in dieser Bimedialität liegende Wirkungsmacht des Genres. Dadurch, daß bestimmte Aussagen – hier die Warnung vor Weltverfallenheit und die Mahnung an die Allgemeingültigkeit des Dargestellten für jeden einzelnen Betrachter – sowohl im Text als auch im Bild vermittelt werden, können sie besonders wirkungsvoll akzentuiert werden. Beim Betrachten der Figuren fällt deren extravagante Ausstaffierung ins Auge, gleichzeitig geißelt der Text ein Übermaß an Weltverfallenheit. Eine ähnliche Wechselwirkung wird erzielt, indem die einleitenden Worte des Predigers darauf hinweisen, daß niemand vom Tod verschont bleibt, und eben dieser Gedanke dann ausführlicher Kontemplation unterzogen wird, wenn ein Lübecker hinter den dargestellten Figuren die eigene Heimat ab-
Wapnewski (Hg.): Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion (Germanistische Symposien, Berichtsbände 7). Stuttgart 1986, S. 245-262, hier S. 247.
Der Lübecker Totentanz von 1463
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gebildet sieht und nicht umhin kann, das Gezeigte auch als für sich selbst und seine Mitmenschen relevant zu begreifen.271 Der Lübecker Totentanz von 1463
3.1.1.2. Der neue Text Schlotts im Verhältnis zum Bild Besonders interessant wird die Text-Bild-Relation des Lübecker Totentanzes von 1463 durch die erwähnte Restaurierung des Bildes in Verbindung mit der Ersetzung des alten Textes durch barocke Alexandriner. Zwar handelt es sich um eine vollkommen neue und in ihren wesentlichen stilistischen Zügen ganz andersartige Dichtung, doch sind Reminiszenzen an Topoi und Wendungen des ursprünglichen Textes vorhanden; die Neudichtung erweist sich als vom Original – wenn auch an sehr wenigen Stellen – beeinflußt.272 Dies soll im folgenden an einigen Beispielen demonstriert werden. Im alten Text sagt der Tod eingangs: [...] gy moten na myner pypen springen (V. 20). Diese charakteristische Wendung behält Schlott bei, wohl aufgrund der evokativen Wirkung und des Bekanntheitsgrades dieser zum Sprichwort gewordenen Formulierung;273 wahrscheinlich auch, weil an dieser Stelle mit den verwendeten Worten ein deutlicher Bezug auf das Bild gegeben ist. In Schlotts Text heißt es leicht verändert: Ihr müsset einen Tantz nach meiner Pfeiffe wagen (S. 58).274 Sowohl im alten als auch im neuen Text wird auf das Lösen und Binden 271 272
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Ott spricht in Bezug auf die Einbindung der Ständereihe in das Stadtportrait vom „unmittelbaren Bezug auf den Gebrauchszusammenhang des Objekts“ (Ott, Rezension, S. 468). Freytag bemerkt hierzu, der Poet habe „offenbar weder den Auftrag noch die Absicht gehabt, sich von den mittelniederdeutschen Versen auf irgendeine Weise bestimmen zu lassen, auch wenn man gemeint hat, die Worte des Kindes, Weinen ist meine Stimme gewest (Sap 7,3) (S. 67), erinnerten an die Kindesverse des alten Totentanzes“ (Freytag, Totentanz 1463, S. 363). Mantels weist darauf hin, daß in diesen Versen die einzige „Spur des ältesten Textes“ (womit die oberdeutsche Überlieferung der Kindesverse gemeint ist) erhalten sei; zudem sei man geneigt gewesen, „daraus zu folgern, dass auch in Lübeck einmal vierzeilige, der älteren Fassung näher stehende Strophen dem Gemälde zur Unterschrift dienten, und dass diese Zeilen unter dem Wiegenkinde bis zu Schlott’s neuen Versen als Rest sich erhalten hätten“ (Mantels [Ed.], S. 9c). Während ich diese Ansicht nur sehr schwer nachvollziehen kann (zumal die Überlieferung der Kindesverse ungewiß ist, denn sie wurden wohl von einer fremden Hand in von Melles Lubeca Religiosa nachgetragen und finden sich in seiner Ausführlichen Beschreibung nicht; vgl. Freytag, Totentanz 1463, S. 339-342), meine ich doch bei Schlott einige andere Textstellen zu entdecken, die an den alten Text zumindest entfernt erinnern, wie oben dargelegt. Die Wendung „nach jemandes Pfeife tanzen“ war wohl schon vor den Totentänzen als Sprichwort geprägt; es gibt frühere Belege dieser Formulierung bzw. sehr ähnlicher Schöpfungen. So heißt es in einer Chronik aus dem Zeitraum 1420-1430 Nach deiner pfeiffen tantz ich nicht; übrigens gibt es auch Belege aus dem mittelniederländischen Raum, der anerkanntermaßen die Vermittlerrolle für die Überlieferung der Totentänze von Frankreich in den norddeutschen Raum innehatte (vgl. Vroni Mumprecht, Artikel ‚Tanzen’. In: Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Begründet von Samuel Singer, hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Bd. 11. Berlin und New York 2001, S. 264-271). Aufgrund des Mangels einer modernen Edition zitiere ich Schlotts Text nach folgender Ausgabe: Eine Hand voll Poetischer Blätter/ Aus selbst eigenem Vorrath mit Fleiß zusammen ge-
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Einzeluntersuchungen
des Papstes verwiesen: Dyn losent vñ bindent dat was vast (1463, V. 27) gegenüber So bleibt mir doch die Macht zu lösen und zu binden (S. 58). Eine entfernte Erinnerung an die positive Bewertung des Bürgermeisters im alten Totentanz mag es sein, wenn bei Schlott der Tod gleichsam entschuldigend sagt: JHr Bürger/ zürnet nicht/ wenn durch des Höchsten Schluß// Der Bürgermeister selbst mit an den Reihen muß (S. 62). Auch die Gestaltung der Strophe des Arztes ist in beiden Dichtungen ähnlich. Klagt der Arzt im alten Text Mer jeghen di klene noch grot/ En helpet nine Kunst noch Medecin (1463, V. 240f.), so sagt er bei Schlott: Ihr Brüder sucht umsonst in Gärten/ Thälern/ Gründen// Um für die letzte Noth ein recipe zu finden (S. 63). Diese Ähnlichkeit besagt allerdings nicht, daß Schlott sich hier am alten Totentanz orientiert hätte, sondern ist vielmehr ein Beleg dafür, daß ihm die reiche Tradition der Darstellungen von Ärzten zusammen mit dem Tod mit ihren sehr stereotypen Topoi bekannt war.275 Trotz dieser Beziehungen zum alten Text ist die barocke Neudichtung insgesamt von einem ganz anderen Geist durchdrungen. Vor allem Resignation und zum Teil bereitwillige oder gar heitere Weltentsagung prägen die Haltung der Sterbenden. So sagt die Kaiserin, die sich im alten Text noch verzweifelt ans Leben geklammert hatte (och lat mi noch leuen des bidde ik di, 1463, V. 68), bei Schlott: ISt Zeit und Stunde da/ so schick ich mich darein (S. 59), und der Bauer meint gar in aller Gelassenheit: Doch da mein Führer mich zur Ruhe denckt zu bringen// So kan ich wohlvergnügt das Consummatum singen (S. 66). Der Tod wird vielfach nicht als Not, sondern als Übergang aus einem „Jammertal“ in ein besseres Leben aufgefaßt, wie besonders die Worte des Todes an das Wiegenkind deutlich machen: Wohl dem/ der so wie du fällt in des Todes Hände!// So krönt den Anfang schon ein hochbeglücktes Ende (S. 67). Diese Einstellung steht nicht nur in krassem Gegensatz zu der Stimmung, die den alten Lübecker Totentanz (und noch viele andere spätmittelalterliche Totentänze) prägt, sondern paßt vor allem in keiner Weise zum Bild, auf dem durch die statische Haltung und ablehnende Gestik der Ständevertreter deren Widerstreben sehr deutlich wird, wie dies etwa bei der Kaiserin und der Jungfrau durch die abwehrend erhobene Hand oder beim Kardinal an der verkrampften Körperstellung zu erkennen ist. Die im alten Totentanz organische Text-BildZusammengehörigkeit ist so empfindlich gestört, denn Text und Bild drücken in Einzeluntersuchungen
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lesen/ und denen Liebhabern der reinen und ungezwungenen Dicht=Kunst zu geziemender Gemüths=Belustigung überreichet/ durch Nathanael Schlott. Lübeck: Johann Wiedemeyer 1706. Da es keine Verszählung gibt, nenne ich als Referenz die entsprechenden Seitenzahlen dieser Ausgabe. Auf den Seiten 57-67 findet sich der Totentanz unter folgender Überschrift: Des Lübeckischen Todten=Tantzes andere Edition, Nach Abgang der vorigen in diß Format gebracht/ und an Stat einer Zugabe der Myrthen=Blätter dem Curieuxen Leser gelieffert. Nach dem Totentanz folgen noch zwei kurze Gedichte des Titels Satz. Der Tod ist kein Tantz und Gegen=Satz. Der Tod ist ein Tantz, in denen der Autor sich damit auseinandersetzt, ob das Sterben als Tanz bezeichnet werden könne; im ersten Satz wird dies verneint, im antithetischen Gegen=Satz dann aus der umgekehrten Sichtweise bejaht, wobei die beiden Strophen in Wortwahl und Satzbau deutlich parallel gebaut sind. Siehe hierzu Werner Block: Der Arzt und der Tod: in Bildern aus sechs Jahrhunderten. Stuttgart 1966.
Der Lübecker Totentanz von 1463
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der Neufassung jeweils verschiedene Geisteshaltungen gegenüber dem Tod aus. Das Bild enstpringt noch dem „renaissancehaften Lebenshunger“,276 verstärkt durch den Schrecken vor einem plötzlichen, unvorbereiteten Tod, während der Text sich bereits auf einer anderen mentalitätsgeschichtlichen Stufe befindet, deren Einstellung von Weltentsagung und der Betrachtung des irdischen Daseins als Elend gegenüber einem glückseligen Jenseits erfüllt ist. Da den vorliegenden Angaben zufolge offensichtlich beschlossen worden war, die Kontinuität mit dem alten Werk durch weitgehende Beibehaltung des hergebrachten Bildmaterials zu wahren, die Malerei also vorgegeben war, mußte Schlotts Text sich nach dem Bild richten. Der Dichter nahm auch an zahlreichen Stellen Bezug auf die Malerei, so daß deutlich wird, wie die Verse (trotz der oben beschriebenen Divergenzen) ausdrücklich als Unterschrift für das Gemälde konzipiert sind. Der erste Vers des Totentanzes lautet in der Neufassung: HEran ihr Sterblichen/ das Glaß ist aus/ heran! (S. 58). Hier wird auf das in der unteren linken Ecke des Gemäldes dargestellte Stundenglas angespielt. Es handelt sich dabei um ein vor allem im Barock beliebtes Sinnbild für die Vergänglichkeit; und so mag es sich bei diesem Attribut hier um eine spätere Zutat handeln, die im alten Gemälde noch nicht vorhanden war.277 Der Lübecker Totentanz von 1463
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Freytag, Schlott, S. 365. – Die spätmittelalterliche Einstellung zum Tod ist nicht mit einigen wenigen Schlagworten zu fassen, sondern für sich allein genommen schon ein komplexes und überaus weitreichendes (mentalitäts-)geschichtliches Forschungsfeld. Vor allem seit den Erfahrungen der Pest war der Tod aber wohl deutlich angstbesetzter als zuvor, wobei eine besondere Furcht vor dem unbußfertigen Sterben festzustellen ist. Ein solcher Tod (mors improvisa) mußte durch alle nur denkbaren Vorkehrungen vermieden werden; nur aus dieser Einstellung heraus ist überhaupt die Entstehung von literarischen Genres, die zum guten Leben und Sterben anleiten, wie die Ars moriendi oder eben der Totentanz, zu erklären. Zum Thema siehe auch (um aus dem ausgedehnten und unübersichtlichen Schrifttum nur einige wenige Beispiele zu nennen): Saugnieux, allgemeiner Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden. Übersetzt von T. Wolff-Mönckeberg. München 1924 (zahlreiche spätere Auflagen/ Neuübersetzung); Marianne Mischke: Der Umgang mit dem Tod: vom Wandel in der abendländischen Geschichte (Historische Anthropologie 25). Berlin 1996; Philippe Ariès: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland. München und Wien 1984 (bes. Teil 1 „Die Einstellungen zum Tode“, S. 19-70); ders.: Geschichte des Todes. München und Wien 1980 (unter anderem zum Totentanz siehe Abschnitt „Die makabren Themen“, S. 141-160); ders.: Bilder zur Geschichte des Todes. München und Wien 1984; zum soziologischen Hintergrund der Totentanz-Thematik siehe auch die einleitenden Kapitel bei Schulte, Totentänze. Kiening sagt über den Berner Totentanz, an dessen Ende ebenfalls ein Stundenglas zu sehen ist: „Der Tod erscheint das erste und einzige Mal im Totentanz mit Sanduhr, also mit jenem Attribut, das in der Zeit nach 1500 ikonographisch die geläufigen Tötungsinstrumente an Beliebtheit zu übertreffen begann“ (Kiening, Das andere Selbst, S. 64). Daß es sich im Berner Totentanz um den frühesten Beleg eines Stundenglases in Totentänzen handelt, mag sein, es ist jedoch nicht der einzige Fall. Neben Lübeck, wo die Uhr, wie oben ausgeführt, möglicherweise eine spätere Zutat ist, kommt z.B. noch im Dresdner Totentanz-Relief (1534/37) eine Sanduhr vor. Im übrigen kann Kienings Einschätzung wohl ohnehin nur Gültigkeit für die spätmittelalterlichen Totentänze beanspruchen, denn – wie er selbst bemerkt – ist die Sanduhr in den späteren Jahrhunderten ein überaus gängiges Attribut, das in zahlreichen Bildzeugnissen, auch Totentänzen, überliefert ist; vgl. z.B. Holbeins Totentanzbilder. – „Die
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Gleich eingangs des Totentanzes ruft bei Schlott der Tod alle Menschen auf, nach seiner Pfeife zu tanzen (wie oben ausgeführt); diese Verse nehmen Bezug auf den dargestellten Tod mit der Querflöte. Zwar ist es fraglich, ob auch schon im alten Gemälde ein Tod mit Flöte gestanden hat,278 doch wird es sich wohl in jedem Fall um eine Todesgestalt mit einem wie auch immer gearteten Blasinstrument gehandelt haben, denn die charakteristische Wendung mit der Pfeife kommt ja schon im alten Totentanz vor (gy moten na myner pypen springen, V. 20). Wie Hammerstein erklärt, kann unter dem mittelhochdeutschen Wort pfife (bzw. mittelniederdeutsch entsprechend pipe) eine ganze Reihe von Blasinstrumenten subsumiert werden.279 Im Revaler Totentanz ist zu Beginn ein Tod mit Dudelsack abgebildet; möglicherweise war dies ursprünglich auch in Lübeck der Fall. Auf solche den Figuren beigegebenen charakteristischen Attribute wird noch an zahlreichen anderen Stellen verwiesen. Die zweite Todesfigur referiert auf den Sarg, den sie auf dem Bild trägt: Kreuch aus dem Vatican in diesen Sarg hinein (S. 58), fordert der Tod den Papst unwirsch auf. Dessen charakteristische Kopfbedeckung wird ebenfalls angesprochen: Der Hut ist viel zu hoch/ du mußt ietzt enger wohnen (S. 58). Ein wenig später weist der Tod auf die im Bild ebenfalls deutlich zu sehenden Reichsinsignien des Kaisers hin: Mein alter Bund gilt mehr als Apffel/ Schwerdt und Bullen (S. 58), ähnlich heißt es beim Bischof: DU lehnest dich umsonst auf deinen Hirten=Stab (S. 60). Genauso wird beim Ritter auf dessen Rüstung verwiesen (WJrff ab den schweren Rock/ womit der Leib bedeckt// Und den polirten Stahl/ der in der Scheiden steckt [S. 61]); er selbst weist nochmals auf seine Waffen (S. 61) hin.280 Beim Kartäuser werden dessen Gebetbuch und sein charakteristisches weißes Ordensgewand hervorgehoben: Und schleuß die Augen so wie dein Gebet Buch zu.// Kanst du nun dort als hier in weiß gekleidet stehen (S. 62). Gleichermaßen wird auf das Uringlas des Arztes verwiesen: BEschaue dich nur selbst/ und nicht dein Krancken=Glaß (S. 63); etwas später folgt beim Wucherer der Bezug auf den Geldbeutel: Zahl ab/ und laß die Last des schweren Beutels hier! (S. 64). Einzeluntersuchungen
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durch das Stundenglas gemessene, relativ kurze Zeit ist immer auf eine persönliche Erlebnisspanne begrenzt, aus dem Analogon Zeit – Leben wird sie zum Vanitassymbol“ (siehe K. Maurice, Artikel ‚Stundenglas’. In: LCI 4, Sp. 219). Die erste Abbildung eines Stundenglases an sich findet sich auf einem italienischen Fresko von 1338 (vgl. ebd.). Als mhd. pfife (und konsequenterweise wohl auch mnd. pipe) konnte im Mittelalter durchaus auch eine Querflöte bezeichnet werden. Die erste deutsche Abbildung dieses Instruments findet sich schon im Hortus deliciarum. Die Querflöte gehörte zum Instrumentarium der Spielleute – wäre daher auch in einem Totentanz nicht fehl am Platz –, wurde aber auch im höfischen Bereich gebraucht. Bis auf eine kurze Unterbrechung am Ende des 15. Jahrhunderts ist die Querflöte durch das ganze Mittelalter hindurch ikonographisch belegt (vgl. Walter Kreyszig, Artikel ‚Querflöte’, in: MGG Bd. 8, Sp. 1-50). Im lateinischen Totentanz-Text ist von der fistula die Rede; im deutschen Text wird entsprechend pfife verwendet. Daher kann, was Hammerstein für die fistula sagt, wohl auch für die deutschen Äquivalente gelten, nämlich daß diese Bezeichnung für „vielerlei Windinstrumente“ stehen könne: „Flöten aller Art, Schalmeien aller Art, einschließlich Platerspiel und Dudelsack. Ja, auch der Zink gehört dazu“ (Hammerstein, Diabolus, S. 26). Der Ritter spricht in dem genannten Vers (S. 61) direkt den Betrachter des Gemäldes an bzw. wendet sich an seine Standesgenossen: Ihr Helden/ schauet mich in diesen Waffen an!
Der Lübecker Totentanz von 1463
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Es ist allerdings zu bedenken, daß es sich bei den genannten Referenzen auf das Bild keineswegs um besonders individuelle Hervorhebungen, sondern vielmehr um Bezüge auf sehr stereotype Attribute handelt, die in der Ikonographie zur Kennzeichnung von Berufsständen o.ä. sehr geläufig bzw. für die Identifikation notwendig sind; es wäre kaum zu erwarten, daß etwa ein König in einem derartigen Zusammenhang ohne seine Reichsinsignien abgebildet würde. Wie gezeigt wurde, handelt es sich bei den Text-Bild-Beziehungen in den meisten Fällen um einfache Hinweise auf Attribute der Personen; es gibt kaum andersgeartetete Bezüge auf das Bild; eine Ausnahme stellt der Ritter dar, der durch die Formulierung schauet mich an (S. 61) explizit auf die Tatsache hinweist, daß ein Gemälde vorhanden ist. Es gibt auch einige Fälle, in denen es zu leichten Divergenzen zwischen Bild und Text kommt. So spricht der Tod zur Kaiserin: REicht ohngewegert her der Hände zartes Paar (S. 59), obwohl die dargestellte Figur dem Tod nur eine Hand reicht. Der Bauer, der sich gelassen und beinahe heiter in sein Schicksal fügt (So kan ich wohlvergnügt das Consummatum singen [S. 66]), sieht auf dem Bild vielmehr aus, als wolle er sich dem Tod widersetzen, denn sein Füße scheinen nach rechts, also vom Tod weg, zu streben. Neben der grundsätzlichen Abweichung zwischen Bild und Text aufgrund der unterschiedlichen Haltungen zum Tod, die oben besprochen wurden, ist allein schon der Stil des neuen Totentanzes von der früheren mittelalterlichen Auffassung des Inhalts sehr weit entfernt.281 Der originale mittelniederdeutsche Text, der vierhebige Paarreime verwendet, wirkt einfach und manchmal derb, was durchaus zu der Art und Weise, wie der Tod mit den Menschen umgeht, paßt. Die neuen hochdeutschen Alexandriner wirken dagegen durch ihre langatmige sechshebige Struktur ausgesprochen feierlich, ja geradezu sublim, was sich im Bildmaterial und in der inhaltlichen Materie allgemein in ihrer mittelalterlichen Darstellung in keiner Weise wiederfindet. Man vergleiche solche Aussprüche des Todes an den Papst wie Her pawes du byst hogest nu/ Dantse wy voer ik vñ du (V. 22) im alten Text und dagegen in Schlotts Version KOmm/ alter Vater/ komm/ es muß geschieden seyn!// Kreuch aus dem Vatican/ in diesen Sarg hinein (S. 58). Ist der Tod im alten Totentanz-Text despektierlich und zuweilen grob (z.B. Wat batet du most in den slik [V. 103]), so muß man ihn bei Schlott in vielen Fällen als durchaus höflich bezeichnen, wenn er etwa zu der Kaiserin sagt: REicht ohngewegert her der Hände zartes Paar (S. 59). Man kann sich nur schwer vorstellen, daß die abstoßenden und grotesk verrenkten Leichenfiguren, die auf dem Bild zu sehen sind, solche geschliffenen und in ihrer konstruierten Gewähltheit durchaus ästhetischen Worte von sich geben, die einem ganz anderen Sprechgestus entstammen, als ihn der alte mittelniederdeutsche Text verwendet.282 Der Lübecker Totentanz von 1463
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Aus der Sicht des Barock war wohl der erhabene Stil „einer über die vanitas mundi handelnden Dichtung“ angemessen (vgl. Freytag, Schlott, S. 363). So fand Mantels: „Es läßt sich der Contrast zwischen Wort und Bild nicht schroffer denken“ (Mantels [Ed.], S. 6b).
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Schlotts Text wurde bereits 1702 unabhängig vom Gemälde veröffentlicht,283 was zeigt, daß man ihn offenbar auch als vom Bild abgelöst für verstehbar hielt. Dies mag allerdings nur deshalb so sein, weil das Genre ‚Totentanz’ in seiner Gesamtheit als Text- und Bildkunstwerk allgemein präsent am geistigen Horizont der Rezipienten des Textes war, so daß vor dieser „virtuellen Folie“ der Text auch für sich allein angemessen verstanden und interpretiert werden konnte; außerdem war der Lübecker Totentanz bei der kulturinteressierten Bevölkerung wohl weithin bekannt.284 Meines Erachtens setzt ein nur-textlicher ebenso wie ein nur-bildlicher Totentanz die (vorhergehende oder frühere) Erfahrung des Gesamtkunstwerks für das adäquate Aufnehmen voraus: Ursächlich gehören die beiden Medien zusammen; die Gattung hat sich über diese Zusammengehörigkeit etabliert und verbreitet. Die spätere Rezeption nur eines der beiden Medien kann nur unter der Voraussetzung stattfinden, daß das Genre in seiner idealtypischen Form mit Text und Bild im kollektiven Gedächtnis präsent ist. Diese Überlegung wird durch die Tatsache unterstützt, daß auf dem Titelblatt des 1702 erschienenen Bändchens Lübeckischer Todten=Tantz oder SterbensSpiegel ausdrücklich auf den Hintergrund des Totentanzes verwiesen wird: „[...] wie selbiger an den Wänden/ Der so genandten Kinder=Capellen/ unserer Haupt=Kirchen zu St. Marien/ durch den Pinsel des Kunst=Mahlers AO. 1701. repariret [...]“. Interessanterweise bringt auch die Textausgabe von 1706, die eine solche Bemerkung nicht enthält, die Vorrede zum eigentlichen Totentanz (S. 57), die auf dem Gemälde in einem eigenen, abgetrennten Rahmen untergebracht worden war. Dabei ist gerade diese Vorrede zum Totentanz eindeutig an die Gegebenheit des räumlichen Erlebens geknüpft: Einzeluntersuchungen
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Auch später gab es noch eine ganze Reihe weiterer Veröffentlichungen des Textes ohne Beigabe der Bilder (vgl. Freytag, Artikel ‚Schlott, Nathanael’. In: Biogr. Lex. f. Schl.-Holst. u. Lüb. [wie Anm. 236], S. 340). Der außerordentliche Bekanntheitsgrad dieses Kunstwerks wird unter anderem daraus deutlich, daß es als Sehenswürdigkeit in einen englischen Reiseführer aufgenommen wurde, übrigens mit einer Übersetzung des Schlott-Textes ins Englische (vgl. Freytag, Schlott, S. 365). Schlotts Text wurde auch ins Dänische übersetzt (vgl. Schulte, Dänischer Totentanz, S. 369).
Der Lübecker Totentanz von 1463
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Still. Vermessener. Du.seyst.auch.wer.du.seyest. Der.du. Durch.manch.unnützes.Wort. Diesen.geheiligten.Ort. Entweihest. Hier.findest.du.keine. Plauder=Capelle. Sondern.im. Todten=Tanz. Deine.gewisse.Stelle. Still.demnach.still. Laß.das.Mahl=Werck.stummer.Wände. Mit.dir.reden. Und.wo.möglich.vor.dem.Ende. Dich.überreden. Daß.der.Mensch. Sey.und.werde. Erde.285
Die in dieser Strophe vorkommenden Deiktika entbehren in der Druckausgabe jeglichen Bezugspunkts, der durch das Betrachten des Gemäldes gegeben war.286 Natürlich konnte Schlotts Text besonders durch den Bekanntheitsgrad des Gemäldes verbreitet werden; spätere Ausgaben des Totentanzes, die sowohl Text als auch Bild beinhalten,287 bringen meist den modernen Text Schlotts. Daß eigentlich der alte mittelniederdeutsche Text zu der Malerei gehörte, schien fast völlig vergessen; das ist natürlich auch dadurch bedingt, daß die alten Verse nach der Neuanfertigung des Totentanzes gar nicht mehr zugänglich, sondern nur bei von Melle verzeichnet waren. Die enorme Wirkung auf Literatur und Kunst ging indessen von dem Monumentalwerk aus, das ja nun von den barocken Versen begleitet und in dieser Form auch der breiten Öffentlichkeit in ganz Europa bekannt wurde. Der Lübecker Totentanz von 1463
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Die Anordnung der Verse läßt vermuten, daß es sich hier um eines der besonders im Barock so beliebten Figuren- oder Bildgedichte handelt, dessen äußere Form den Glaskörper einer Sanduhr darstellen soll. Hierdurch wird nicht nur das Bildelement des Stundenglases aufgegriffen, das sich zu Füßen der flötespielenden Todesfigur befindet, sondern die Verse gemahnen sowohl durch ihren Inhalt als auch durch ihre äußere Gestaltung als Vanitassymbol noch einmal ausdrücklich an die Lehre des Gemäldes – memento mori! – und verstärken bzw. spiegeln auf diese Weise dessen Intention. Hier liegt somit eine zusätzliche, gewissermaßen „verschachtelte“ und doppelschichtige Art der Text-Bild-Beziehung vor, indem erstens der Inhalt der Verse mit ihrer durch die Anordnung gegebenen Form korrespondiert und zweitens das Figurengedicht als Ganzes den Sinn des wiederum aus Text und Bild bestehenden TotentanzGemäldes reflektiert. Koller bemerkt unter anderem zu diesen Versen, weil die Einsicht, daß bildliche Anschauung mehr bewirke als bloßes verbales Belehren, auch unabhängig von der kirchlichen Predigt gültig bleibe, „kann der Totentanztext auch nach der Ablöse des mahnenden Predigers [...] durch Verleger, Übersetzer und Autor seine bildbezügliche Funktion beibehalten“ (Koller, S. 462f.). Siehe hierzu Frey/ Freytag (Hg.), S. 120-135.
Einzeluntersuchungen
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3.1.2. Die Inkunabel Des dodes dantz, Lübeck 1489 Ein oberflächliches Anschauen des Lübecker Totentanzes von 1489 mag den Eindruck erwecken, die Untersuchung von Bild-Text-Beziehungen würde hier nicht sehr lohnend ausfallen, denn das Bildmaterial tritt – etwa im Vergleich zur Kirchenmalerei von 1463 – sehr zurück; zudem wirken die Holzschnitte auf den ersten Blick etwas stereotyp und dem Text wenig zugeordnet. Ein solches Urteil muß jedoch bei näherer Betrachtung revidiert werden: Auch in diesem gedruckten Totentanz lassen sich differenzierte Beobachtungen zum Zusammenwirken von Bild und Text anstellen. Daß der Buchtotentanz, der in der Mohnkopfoffizin zweimal aufgelegt wur288 de, Beziehungen zum monumentalen Totentanz in der Lübecker Marienkirche von 1463 erkennen läßt, wurde mehrfach bestätigt;289 so weist Schulte die textlichen Zusammenhänge detailgenau nach.290 Einige Beispiele sollen im folgenden angeführt werden. Im Totentanz von 1463 sagt der Tod zum Papst (die Übereinstimmungen mit der Inkunabel sind zur Hervorhebung recte gedruckt): Einzeluntersuchungen
Her pawes du byst hogest nu Dantse wy voer ik vñ du Al heuestu in godes stede staen Een erdesch vader ere vñ werdicheit vntfaen Van alder werlt du most my Volghen vñ werden als ik sy Dyn losent vñ bindent dat was vast Der hoecheit werstu nu een gast (V. 21-28).
Einige Verse aus dieser Strophe greift die Inkunabel wieder auf: 288
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Die erste Ausgabe erschien 1489; 1496 wurde der Totentanz nochmals mit geringfügigen textlichen Änderungen aufgelegt. Friedländer, der 1910 ein Faksimile der 1489-Ausgabe besorgte, betrachtete den Totentanz-Druck von 1520 als dritte Auflage desselben Werkes (vgl. Friedländer, Vorwort [keine Seitenzählung]; dies meinte auch Tronnier, vgl. dort S. 2); da jedoch im Druck von 1520 ein kürzerer und teilweise anderer Text vorliegt und auch das Layout verändert wurde (Näheres hierzu in Abschnitt 3.3. „Der Druck Dodendantz, Lübeck 1520“), schließe ich mich dieser Ansicht nicht an und behandele den Dodendantz in einem eigenständigen Kapitel. Baethcke bemerkt: „[...] eine anregung zur abfassung unseres denkmals hat wohl ohne zweifel zunächst das totentanzgemälde in der Lübecker Marienkirche, um 1463, gegeben“; „[m]ehrere capitel lehnen vermuthlich an die entsprechenden strophen unter dem gemälde in der Marienkirche an“ (Baethcke, S. 2 bzw. 3). Auch Seelmann konstatiert, daß der Verfasser des 1489er-Totentanzes das Gemälde von 1463 als Vorlage benutzt und daraus die Anordnung der Sprecher (erst Mensch, dann Tod), „die Reihenfolge der zuerst auftretenden Stände und hin und wieder einen Gedanken“ entnommen habe (Seelmann, Totentänze, S. 35). Rosenfeld dagegen führt die vorliegende Inkunabel nicht auf das Gemälde von 1463, sondern auf einen seiner rekonstruierten Bilderbögen zurück (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 222f.). Vgl. Schulte, Totentänze, S. 212-229. Neben textlichen Abhängigkeiten weist Schulte noch auf andere Merkmale hin, die als Indiz für eine Beeinflussung der Inkunabel durch den monumentalen Totentanz von 1463 dienen können; im wesentlichen rekurriert sie auf das Figureninventar (vgl. ebd., S. 213-216).
Die Lübecker Inkunabel von 1489
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Her pawes, du bist de hogeste nu up erden, Tret hêr, du môst mîn gelîk werden. (V. 115f.) Din losent unde bindent was hêl, vullenkomen unde gans291 (V. 185).
Auch die Gestaltung der Worte an den Kaiser ist in beiden Texten ähnlich. So spricht der Tod im Text von 1463 den Kaiser an: Du werst gekoren wil dat vroden to beschermen vnde to behoden De hilgen kerken de kerstenheit myt deme swerde der rechticheit (V. 53-56).
Ganz ähnlich wird in der Inkunabel der Kaiser adressiert:
Die Lübecker Inkunabel von 1489
Her keiser, du werest gekoren to einem heren, De cristenheit to vôrstân unde to regeren Mit dem swerde der rechtverdicheit, To holden de hilgen kerken in eindrechticheit (V. 211-214).
Ebenso ist die gegenüber den anderen Ständevertretern recht positive Bewertung des Bürgermeisters im Totentanz von 1463 offensichtlich in Des dodes dantz übernommen worden. Im Text von 1463 heißt es: Grot Lon schaltu entfan, Vor din Arbeit, dat du hefst ghedan, Wil di God dusentvult belonen, Vnde in deme ewighen Leuende kronen. (V. 229-232)
Auch in der Inkunabel fallen positive Worte: Her borgermêster, de sorge unde ôk dat arbeit, Dattu hefst gehat vor de borger unde mênheit, Unde hefstu de sake vlitich overgedacht Unde nicht de personen efte gelt geacht Unde hefst den riken gerichtet so den armen, So wil sik Got diner wol erbarmen Unde wil din arbeit hôchliken belonen (V. 711-717).
Allerdings vergißt der Tod in beiden Texten nicht, den Bürgermeister einschränkend darauf hinzuweisen, daß Gott demgegenüber auch sündiges Verhalten keinesfalls übersehen würde. Neben diesen recht deutlichen Anklängen finden sich noch zahlreiche Stellen in der Inkunabel, die den Totentanz zwar nicht direkt zitieren, ihm aber „in der Charakterisierung der einzelnen Stände, [...] in der Wahl der Sprache und des Umgangstones [...], in der Art der Vorwürfe und Erwartungen“292 von seiten des 291 292
Der Lübecker Totentanz von 1489 wird zitiert nach Baethcke. Schulte, Totentänze, S. 216f.
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Einzeluntersuchungen
Todes an die Ständevertreter deutlich nahestehen. Schulte beschreibt die Bearbeitungsweise des Autors der Inkunabel zusammenfassend folgendermaßen: Er legt den dort [im Totentanz von 1463] mitgeteilten Text seinen eigenen Gedanken zugrunde, führt einzelne Aussagen, die ihm wichtig erscheinen, weiter aus, füllt sie mit anschaulichen Exempeln, Bibel- oder Väterzitaten und fügt neue Gedanken hinzu, immer in der Absicht, das Gesagte anschaulich, unterhaltsam und überzeugend zu gestalten.293 Einzeluntersuchungen
Während die Inkunabel, wie oben gezeigt, deutliche inhaltliche Beziehungen zum Lübecker Totentanz von 1463 erkennen läßt, liegt offenbar zwischen den Holzschnitten von 1489 und der Kirchenmalerei keine Abhängigkeit vor.294 Der Totentanz umfaßt 1686 Verse und beinhaltet neben den eigentlichen Zwiegesprächen zwischen den sterbenden Menschen und dem Tod, die aus insgesamt 1347 Versen bestehen, drei einleitende sowie acht abschließende Kapitel, die die Darstellung des Totentanzes in einen größeren heilsgeschichtlichen Kontext einordnen. Es treten 28 Ständevertreter auf, denen jeweils eine Todesfigur beigegeben ist. Während die Menschen fast immer einen eigenen Holzschnitt erhalten,295 ist der Tod nur mit vier verschiedenen Typen repräsentiert: mit Sense, mit Pfeil, mit Spaten und, bewaffnet mit einem Schwert, auf einem Löwen reitend. Bild und Text sind jeweils so angeordnet, daß der Ständevertreter auf dem linken, der Tod auf dem rechten Seitenrand des aufgeschlagenen Buches stehen und sich zur Buchmitte hin ansehen. Der Text steht neben und unter den Bildern und füllt den ganzen Rest der Seite aus. Am oberen Rand der Seite finden sich in etwas größerer Schrifttype die Standesbezeichnungen bzw. die Überschrift de doet. Typische Merkmale für das Medium des (gedruckten) Buches sind das Titelblatt mit der Überschrift Des dodes dantz und dem Bild des Todes mit Spaten sowie einem Textauszug296 als Bildunterschrift, das Inhaltsverzeichnis und ebenso das abschließende Blatt mit dem Kolophon Ghedichtet v ghesath in der keyserliken stad lubeck na der bord ihesu cristi mcccclxxxix und vier Wappen, darunter das charakteristische Mohnkopfsignet. Der Künstler, der die Holzschnitte geschaffen hat, ist nicht bekannt.297 Schon früh fand man Ähnlichkeiten mit Kupferstichen Israel van Meckenems,298 eines
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Schulte, Totentänze, S. 217. Vgl. Jaeger, S. 37; auch Tronnier, S. 3. Bürger und Werkmeister sowie Junker und Handwerksgeselle erhalten jeweils denselben Holzschnitt. Das dem Text vorangestellte Motto lautet O mynsche dencke wor du bist her ghekom v wattu nu byst. v wat du schalt werden in korter vryst. Fast identisch tauchen diese Worte im späteren Verlauf des Textes noch einmal in V. 1629f. auf: Bedenke, wôr du bist hêrgekomen unde wattu nu bist,/ Unde wattu werden scolt in korter vrist. Baethcke führt diesen Ausspruch auf Bernhard von Clairvaux zurück und weist daneben auf die Ähnlichkeit mit einer Sentenz Freidanks hin (vgl. Baethcke, S. 91, Anmerkung zu V. 1629). Schramm urteilt über den Illustrator: „Zwar wissen wir nicht, wer der Künstler ist; es muß aber ein Mann gewesen sein, der weit über dem Durchschnitt der damaligen Meister stand“ (Schramm, Der Bilderschmuck der Frühdrucke, Band 12, S. 4). Siehe auch die beigelegte CD-ROM.
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Goldschmiedes, der ausgangs des 15. Jahrhunderts in Bocholt tätig war;299 Irmgard Jaeger weist jedoch darauf hin, daß es sich ihrer Meinung nach in diesem Fall um ein umgekehrtes Abhängigkeitsverhältnis handelt, folglich van Meckenem die Lübecker Schnitte als Vorbild nahm.300 Daneben wurde der Künstler der Inkunabel-Holzschnitte mit dem Schöpfer einiger der Illustrationen von Steffen Arndes’ Bibel (1494) identifiziert,301 der aber ebenfalls unbekannt ist. Auch zur Herkunft des Textes läßt sich nicht viel sagen, außer daß er vermutlich auf die Kreise der Bettelorden zurückzuführen ist, die maßgeblichen Anteil an der frühen Lübecker Drucktätigkeit hatten und auch in anderen Städten mit Totentänzen in Verbindung gebracht werden.302 Die Lübecker Inkunabel von 1489
Die vorliegende Inkunabel weist einige charakteristische Züge auf, die – wenn nicht pauschal als typisch für Buchtotentänze beschreibbar – doch eindeutig aus der Buchsphäre erwachsen sind. Dazu gehört zunächst die Ausdehnung der Textseite. Bestehen bei der Kirchenmalerei von 1463 die Strophen aus je vier Versen, so wird 1489 jeder Stände- bzw. Todesfigur ungleich mehr Raum gegeben, sich auszudrücken: Die Strophenlänge beträgt im Durchschnitt etwa 21 Verse. Ebenso auf die Buchform zurückzuführen sind die zusätzlichen elf Kapitel, die nicht zum eigentlichen Totentanz gehören und in denen der Autor einen größeren, z.T. heilsgeschichtlichen Rahmen entwirft, in den er den Totentanz einordnet. So beginnt der Text mit der Vorstellung von fünferlei Tod. Diese fünf Arten sind der natürliche Tod (des Leibes), der Tod der Ehre, „der Welt sterben“, d.h. der Welt entsagen, die Belastung der Seele mit Sünden, was durch bicht, ruwe, bote (V. 19) wieder ausgeglichen werden kann, und als letztes der ewige Tod, vor 299
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Vgl. W.L. Schreiber: Die Totentänze. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 2 (1898/99) Heft 7, S. 291-304, hier S. 304; auch Tronnier, S. 4. Schreiber meint, die Stiche van Meckenems könnten das „Bruchstück eines größeren Totentanzes“ sein (Schreiber, S. 304). Ihm fällt besonders die Übereinstimmung in der Gestaltung der Todesfiguren mit ihren Attributen auf. Vgl. Jaeger, S. 38. Kristeller meint z.B., den Künstler der Totentanz-Holzschnitte zweifelsfrei mit dem Illustrator der Lübecker Bibel gleichsetzen zu können (Paul Kristeller: Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten. 4., durchges. Aufl. Berlin 1922, S. 52); auch Romdahl weist auf stilistische Übereinstimmungen zwischen den Totentanz-Holzschnitten und den Illustrationen der A-Gruppe in der Lübecker Bibel (hierzu zählt Romdahl den ersten Teil der Bibel bis zum ersten Kapitel des ersten Buchs der Könige einschließlich) hin (Axel L. Romdahl: Die Illustrationen in Stephan Arndes Bibel 1494 und andere Lübecker Holzschnitte. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 9 [1905/1906] Heft 10, S. 391-398, hier S. 394); vgl. auch Artikel ‚Lübecker Bibel’. In: Lexikon der Kunst. Architektur, Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie. Bd. IV. Begr. von Gerhard Strauss, hg. von Harald Olbrich u.a. Leipzig 1992, S. 406f. [Artikel ohne Verfasserangabe]. Tatsächlich zeigen die Holzschnitte des Totentanzes in der Figurengestaltung große Ähnlichkeit mit einigen Illustrationen der Lübecker Bibel von 1494; vgl. Schramm, Der Bilderschmuck der Frühdrucke. Band 11. Die Drucker in Lübeck. 2. Steffen Arndes. Leipzig 1928 (Abdruck der Bibel-Holzschnitte Tafel 129-177); zu den Mohnkopfdrucken vgl. ebd. (Mohnkopfdrucke Tafel 16-42; Totentanz Tafel 16-18). Anhand des letztgenannten Bandes läßt sich auch gut erarbeiten, welche Holzschnitte mehrfach in verschiedenen Mohnkopfdrucken verwendet wurden. Vgl. Jaeger, S. 49; siehe auch Freytag, Totentanz 1463, S. 40; zur Bedeutung der Bettelorden allgemein Schulte, Totentanz, S. 24-28.
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dem Christus den Menschen beschützen möge dorch sinen dôt unde siner hilgen vîf wunden ere303 (V. 24). Es folgen Ausführungen über die Nichtigkeit irdischer Güter und über die Notwendigkeit zu einer gottgefälligen Lebensführung, die die Angst vor dem Tod unnötig mache. Nach einem universalen Aufruf des Todes an alle Menschen und dem Vergleich des Todes mit einem Dieb in der Nacht304 beginnt der eigentliche Totentanz mit seinen 28 Ständevertretern. Die acht abschließenden Kapitel spannen den zum Eingang aufgerissenen Bogen noch weiter. Hier wird versucht, ein Erklärungsmodell für Krankheit und Tod auf der Welt zu finden: Grund sei die Sünde der Menschen, die sich früher moralisch besser verhalten hätten. Während all dies Schlechte vom Menschen komme, sei dagegen das Gute nicht auf dessen Rechtschaffenheit, sondern auf Gottes Barmherzigkeit zurückzuführen. Besonders sündig seien die Menschen in der Stadt;305 dort bedürfe es nur eines einzigen Teufels, um alle in ihrer Sündhaftigkeit festzuhalten, während ein ganzes Teufelsheer einen frommen Einsiedler nicht zum Bösen versuchen könne. Wieder wird die Nichtigkeit alles Irdischen hervorgehoben, woraufhin der Text mit der Ermahnung zu strenger Wachsamkeit und Vorbereitung auf den Tod schließt und damit in seinen letzten Zeilen noch einmal prägnant seine Hauptaussage formuliert. In der Inkunabel von 1489 liegt demzufolge eigentlich kein reiner Totentanz vor, sondern vielmehr eine paränetische Erbauungschrift, die den Totentanz mit seinen spezifischen Mitteln gebraucht, um der intendierten Aussage – Mahnung zu guter Lebensführung angesichts des jederzeit drohenden Todes – Nachdruck und im wahrsten Sinne des Wortes Anschaulichkeit zu verleihen. Es läßt sich also im Vergleich zum Monumentalgemälde von 1463 bei der Inkunabel Des dodes dantz ein ungleich größerer Schwerpunkt auf der Textseite feststellen. Trifft der Text gemäß dem reichlich vorhandenen Raum differenziertere Aussagen und vergrößert den Horizont des Ausgedrückten, so tritt die Bildseite demgegenüber stärker in den Hintergrund. Diese Reduktion ist am deutlichsten im Zerfall der ursprünglichen Reigenform präsent. Gemäß der Aufteilung auf einzelne Buchseiten, die zwar fortlaufend, aber doch jede für sich betrachtet werden, löst sich der ununterbrochene Kettenreigen, wie ihn etwa der 1463-Totentanz als fortlaufenden Gemäldefries zeigt, in Einzelpaare aus Tod und Ständevertreter Einzeluntersuchungen
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Christus wird im Totentanz von 1489 auffällig oft angerufen; ein Schwerpunkt liegt dabei auf seinen Wunden, die er für die Menschheit erlitten hat. – Ausgehend von Franz von Assisi entwickelte sich eine Leidensmystik, in deren Rahmen man sich auf die fünf Wunden Christi konzentrierte; sie wurden in der Volksfrömmigkeit um Heilung von erlittenen Wunden und um Bewahrung vor einem unverhofften Tod angerufen (vgl. W. Eckermann, Artikel ‚Wunden Christi’, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 9, Sp. 350f.). Dieser Vergleich gemahnt an Bibelstellen wie Mt 24,43, Lk 12,39 oder Apk 3,3, in denen die Menschen zur Wachsamkeit ermahnt werden, da der Tag des Herrn wie ein Dieb in der Nacht komme (vgl. auch Anm. 425 und 426). Die Behauptung, in der Stadt seien die Menschen besonders der Sünde verhaftet, mag darauf zurückzuführen sein, daß dieser gedruckte Totentanz der Stadtliteratur zuzuordnen ist und sich deshalb hier die städtischen (Lübecker) Leser besonders angesprochen fühlen sollten.
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auf.306 Diese sind aber auch nur durch ihre gegenseitige Zuordnung und die zur Mitte – also zueinander – zeigende Blickrichtung als solche erkennbar, denn jede Figur ist als Einzelbild konzipiert, das als solches für sich allein genommen überhaupt nicht als Totentanz-Bild erkennbar wäre.307 Die paarweise Ausrichtung ist also nur durch das Layout bedingt und wird durch den Dialog der beiden abgebildeten Personen zusätzlich konstitutiert; Tronnier spricht hier davon, daß an die Stelle das Tanzes das „Zwiegespräch“ 308 getreten sei.309 Zum Zerfall des Reigens bemerkt Jaeger ähnlich: Die Lübecker Inkunabel von 1489
Im Totentanztext von 1489 bleibt wenig von der ursprünglichen Bedeutung des Tanzmotivs übrig. Dies liegt zum einen an der Auflösung der Reigenform, wodurch die praktische Durchführung des Tanzes mit dem Tod unmöglich wird; zum anderen hat sich der Schwerpunkt der Darstellung vom ikonographischen Bereich zum Dialog zwischen Mensch und Tod verschoben.310
Man sollte allerdings meines Erachtens nicht vom vollständigen Wegfall des Tanzmotivs im Bild sprechen. Die menschlichen Figuren sind zwar wenig bewegt, sondern bleiben weitgehend statisch,311 zeigen aber insofern ein Relikt der ursprünglichen Tanzform, als sie trotz ihrer Absonderung voneinander eine ähnliche Anordnung bzw. Ausrichtung wie die Figuren eines Kettenreigens aufweisen. Dies läßt sich an der Körperhaltung und Fußstellung der menschlichen Figuren nachweisen: Die meisten von ihnen sind, mehr oder weniger deutlich erkennbar, von ihrem ganzen Habitus her nach links (vom Betrachter aus gesehen) gerichtet, 306 307
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Siehe dazu auch die Ausführungen in Kapitel 2.3. „Grundsätzliches zur Bimedialität von Totentänzen“. Die Tatsache, daß die Einzelbilder für sich genommen nicht erkennen lassen, daß sie einem Totentanz angehören, ist unter anderem wohl auch dafür verantwortlich, daß einige der Holzschnitte in anderen Verwendungskontexten wieder auftauchen; siehe dazu die Übersicht bei Friedländer, Vorwort (keine Seitenzählung), oder Sodmann (Ed.), S. 52f. Sodmann bemerkt hierzu, daß es in der frühen Geschichte des Buchdrucks häufiger vorkomme, daß dieselben Holzschnitte in mehreren Überlieferungszusammenhängen auftauchen (S. 52), also wohl nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen mehrfach verwendet wurden, wie auch schon Tronnier (S. 5) vermutet. Ein Zwiegespräch führen tw. auch die Figuren auf den Holzschnitten des Münchner Blockbuches, die sich dort manchmal auf Schemeln gegenübersitzen, anstatt zu tanzen (vgl. Abschnitt 3.3.1.3. zum Münchner Blockbuch). Tronnier, S. 3. Hier wird auch angemerkt, daß es möglicherweise einen Zusammenhang mit den Anfängen des mittelalterlichen Dramas gebe, womit sich Tronnier in die Reihe derer einordnet, die den Ursprung der Totentänze aufgrund ihrer dialogischen Form in der Nähe des Dramas ansiedeln; vgl. hierzu Kapitel 2.3.3. „Zu den möglichen Ursprüngen der Totentänze“, Abschnitt „Entstehung des Totentanzes aus dem Drama“. – Ein „Zwiegespräch“ führen tw. auch die Figuren auf den Holzschnitten des Münchner Blockbuches, die sich dort manchmal auf Schemeln gegenübersitzen, anstatt zu tanzen (vgl. Abschnitt 3.3.1.3. zum Münchner Blockbuch). Jaeger, S. 48. Die Aussage der Statik menschlicher Figuren läßt sich für viele Totentanzbilder verallgemeinern. Zumeist ist es der Tod, der die wilden, z.T. grotesken Tanzbewegungen vollführt, während das Widerstreben der Menschen auch dadurch zum Ausdruck kommt, daß sie sich weigern, ihre Körper ebenso unkontrolliert zu verrenken. Darin, daß der Tod paradoxerweise den Ausdruck menschlicher Lebensfreude par excellence, den Tanz, in den Dienst seiner grausamen Aufforderung zum Sterben stellt, liegt ja gerade ein besonderer, ästhetisch-makaberer Reiz, der auch einen Teil der Faszination des Totentanzes ausmacht.
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damit an die bereits früher erwähnten Negativkonnotierungen dieser Seite gemahnend.312 Im größten Teil der Fälle weisen nicht nur der ganze Körper, sondern vor allem auch die Füße der Personen nach links, während allerdings der Kopf zurück in Richtung auf die Todesfigur gedreht ist,313 wohl damit die paarweise Zuordnung gewährleistet ist, die auch mittels des Dialogs zum Tragen kommt. Anders gesagt: Während die im Hintergrund als präsent gedachte Form des Kettenreigens als Links-Ausrichtung zum Ausdruck kommt, spiegelt sich die Dialogform des Textes darin, daß die Köpfe der Figuren einander zugerichtet sind. Trotzdem ist natürlich der Befund richtig, daß das Tanzmotiv insgesamt im Bild nicht sehr präsent ist. Umso interessanter ist die Feststellung, daß trotzdem die Tanzmotivik aus dem Text nicht gleichermaßen verschwunden ist. Jaeger konstatiert, es werde „immer wieder, vor allem bei besonders widerspenstigen Figuren, auf das Tanzmotiv verwiesen“.314 So bemerkt der Tod der Kaiserin gegenüber: Danzen, reien unde to anderem spele/ Hefstu di geovet mit allem vlît (V. 262f.). Ähnlich heißt es bei der Jungfrau: Danze vort unde lât di des nicht vordreten./ Du plechst doch gerne to danzen unde to springen (V. 1328f.). Der Junker sagt von sich selbst, daß zu seinen Lieblingsbeschäftigungen Steken, spelen, danzen unde springen/ Seidenspil, pipen, bungen unde singen (V. 793f.) gehört habe. Auf groteske, hintersinnige Weise ruft der Tod den Herzog auf: Hastigen tret hîr an, hertoch, here hôch geboren,/ Wente to danzen bistu ganzliken ûtvorkoren (V. 427f.). Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß es sich bei den Figuren, die mit dem Tanzmotiv in Verbindung gebracht werden, um solche Personen handelt, in deren irdischem Leben das Tanzen eine große Rolle gespielt hat und die sich des Vergehens übergroßer Hingabe an weltliche Freuden schuldig gemacht haben. Bei solchen Figuren wird auch in anderen Totentänzen vermehrt das Tanzmotiv in den Vordergrund gestellt.315 Aber auch noch an anderen Stellen ist vom Tanz die Rede, nicht nur, wenn es um das vormalige Verhalten der betreffenden Personen geht. Ähnlich wie im Totentanz von 1463 taucht auch 1489 das idiomatische „nach jemandes Pfeife tanzen“ auf: se scholden na miner pipen springen (V. 421). Hier ist es allerdings der Herzog, nicht wie 1463 der Tod, der diese Wendung aufnimmt.316 Doch auch der Tod selbst erwähnt noch an anderen Stellen das Tanzmotiv. Gleich zu Beginn des Totentanzes wird der Papst angesprochen: Nu môstu mit mi in dessen minen gemeinen danz (V. 186). Weiterhin sagt der Tod zur Nonne: Desses danzes hefstu Einzeluntersuchungen
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Vgl. Abschnitt 2.3.4. „Aspekte des Raumes“ mit Anm. 206. Im weiteren Verlauf der Untersuchungen wird auf diesen Zusammenhang nicht mehr jedes Mal eigens hingewiesen. Die Gestaltung der Todesfiguren mit nach links gedrehtem Kopf setzt in der Tat voraus, daß zuerst die Menschen, dann der Tod sprechen, weil der Tod ja sonst von den Ständevertretern wegblicken würde (siehe hierzu auch Schulte, Totentänze, S. 226). Daß die Umkehrung der Sprecherreihenfolge zu Problemen führt, wird im Druck Dodendantz ersichtlich, vgl. den diesbezüglichen Abschnitt 3.1.3. Jaeger, S. 39f. Man vergleiche z.B. den Junker, den Jüngling und die Jungfrau in Der doten dantz mit figuren (Knoblochtzer-Druck), die Jungfrau im Basler Totentanz oder die Edelfrau im oberdeutschen vierzeiligen Totentanz. Vgl. Anm. 273.
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grote ere (V. 1040), während es der Jungfrau gegenüber heißt: Komet altomalen, danzet mit desser junkfrowen Giseltrût (V. 1352). Auch die Amme mit dem Kind verwendet das Tanzmotiv: Hîr en wil anders nein danzent af werden (V. 1429). In den abschließenden Kapiteln ruft der Tod gegen Ende des Textes erneut die Menschen auf: [...] komet alle her in minen kreit (V. 1606) und evoziert damit noch einmal die Form des Rundtanzes in einem geschlossenen Reigen, obwohl dieser auf der Bildseite nicht vorliegt. Jaeger begründet die Beibehaltung der Tanzmotivik folgendermaßen: „[...] das Motiv wird weitertransportiert, weil das Publikum gerade diesen Begriff mit der Gattung Totentanz verbindet.“317 Ob dies tatsächlich der Grund ist, daß die Tanzmotivik im Text, nicht aber im Bild beibehalten wird, scheint allerdings etwas zweifelhaft. Sicherlich ist auch in Betracht zu ziehen, daß der Text konservativer ist als das Bildmaterial und sich im allgemeinen stärker an die Totentanztradition hält, während die Bilder sich (gerade im gedruckten Buchtotentanz) eher davon entfernen. Im allgemeinen weisen die Totentanz-Texte bestimmter Überlieferungsstränge bzw. die Texte vieler Totentänze überhaupt ja ein starkes Beharrungsvermögen auf, so daß sich bestimmte Wendungen in sehr vielen, bildlich durchaus verschiedenen Totentänzen wiederfinden.318 Des weiteren vermutet Jaeger, der Wegfall des Tanzes mit dem Tod dokumentiere, Die Lübecker Inkunabel von 1489
daß im Totentanztext andere Dinge im Mittelpunkt stehen. Der Grund für diese Schwerpunktverlagerung könnte darin liegen, daß in der Lübecker Marienkirche bereits ein traditioneller Totentanz in Reigenform vorhanden ist und der Autor deshalb die Ermahnung zur Abkehr vom sündhaften Leben und die Vorbereitung auf das Sterben in den Vordergrund stellt.319
Auch dieses Argument erscheint etwas fragwürdig. Die Paränese steht im Totentanz von 1463 genauso im Vordergrund wie 1489, und dies ist wohl in jedem spätmittelalterlichen Totentanz der Fall, gleichgültig, ob ein aussagekräftiges Bild vorhanden ist oder nicht. Fehlen anschauliche Bilder, muß der Text umso mehr die intendierte Aussage illustrieren – dafür hat er ja 1489 entsprechend mehr Raum –; dies bedeutet aber nicht, daß in einem Monumentalgemälde weniger Wert auf die paränetische Aussage gelegt wird als in einem weniger aufwendig illustrierten Buchtotentanz. Der Wegfall des Tanzes kann daher meines Erachtens nicht mit einer vermehrten Schwerpunktsetzung auf der predigthaften Lehrwirkung erklärt werden. Zu beachten ist hier auch, daß die Paränese nicht nur durch den Text, sondern auch durch das Bild (bzw. durch deren Wechselspiel bzw. Zusammenwirken) transportiert wird, so daß das Fehlen von Textelementen nicht unbedingt zu einer Verminderung der erbaulich-mahnenden Aussage führen muß.320
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Jaeger, S. 40 Vgl. auch die Überlegungen in Abschnitt 4.1. „Texttraditionen – Bildtraditionen“. Jaeger, S. 49. Siehe dazu auch meine Ausführungen in Abschnitt 2.3.4. „Aspekte des Raumes – Monumentaler Totentanz vs. Buchtotentanz“.
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Da im vorliegenden Druck ein tatsächlicher Tanz zwischen den Figuren nicht mehr gezeigt wird, es also auch nicht mehr zu irgendeinem Körperkontakt zwischen dem Tod und seinen Opfern kommt, ist es ihm nicht mehr möglich, die Menschen physisch anzugreifen – wie dies in einigen Totentänzen mitunter drastisch gezeigt wird (vgl. die Bilder des Basler und Berner Totentanzes); der Tod kann die Menschen lediglich verbal attackieren. Das Motiv der Zwanghaftigkeit des Geschehens kann folglich nur noch im Text ausgedrückt werden. Der Autor erreicht dies mit häufigem Gebrauch von Modalverben wie „müssen“ (Nu môstu mit mi in dessen minen gemeinen danz, V. 186), zahlreichen Imperativen (Kum hêr hastigen unde drade, V. 268), Formeln wie „nicht können“ und „nicht wollen“ in Verbindung mit den Menschen, um deren Unvermögen auszudrücken (Nu kan ik mi sulven nicht lenger redden dat leven, V. 741), sowie „wollen“ in Zusammenhang mit dem Tod (Ik wil di up de erde strecken, V. 269), daneben zahlreichen anderen stereotypen Formulierungen, wie der Klage der Menschen, der Tod komme viel zu früh und sie seien noch nicht auf ihn vorbereitet (To stervende bin ik noch nenerleie wîs bereit, V. 238). Solche Formulierungen finden sich zwar auch in monumentalen Totentänzen, doch unterstützen sie dort in der Regel die auch im Bild gezeigte Zwanghaftigkeit, ein Element, das in der Inkunabel von 1489 wegfällt. Einzeluntersuchungen
Abgesehen von der Haltung der Figuren muß auch etwas zu dem Hintergrund gesagt werden, vor dem sie abgebildet sind. Es handelt sich ausnahmslos um eine Mauer (vielleicht eine Friedhofsmauer, wie unter anderem Tronnier und Jaeger vermuten);321 zudem ist gelegentlich im Hintergrund ein Baum in der Landschaft zu erkennen. Bei einigen Figuren ist jedoch der Bildhintergrund noch aufwendiger ausgestaltet, nämlich dann, wenn zusätzlich Gebäude abgebildet sind. Wie Jaeger beobachtet, stehen die Figuren mit den Gebäuden hinter ihnen in Zusammenhang,322 ähnlich wie im Totentanz von 1463323 (wenn auch auf weniger differenzierter Ebene). Im Hintergrund des Papstes ist ein nur in Andeutungen gezeichnetes Gebäude sichtbar; es könnte sich um eine Kirche mit zwei Türmen handeln. Hierin eine der bekannten Lübecker Doppelturmkirchen erkennen zu wollen, ist sicherlich möglich. Dies mag zwar bei einer nicht weiter belegbaren Vermutung bleiben, doch hat es zur betreffenden Zeit im Ostseeraum wohl keine weitere Kirche mit einer solchen Doppelturmfassade gegeben; nicht umsonst wurde die Lübecker Marienkirche schließlich zu einer Art Vorbild für die Kirchenarchitektur in dieser Region.324 – Hinter dem Abt ist ein Haus mit einem Kreuz am Dachfirst zu erkennen; es mag sich um ein nicht näher bestimmbares Sakralgebäude handeln; sinnvoll wäre natürlich ein Kloster. Ein solches ist auch passenderweise hinter der Nonne 321 322 323 324
Vgl. Tronnier, S. 3; Jaeger, S. 38. Ebd. Siehe hierzu Vogeler, bes. S. 95-101. Vgl. Artikel ‚Lübeck’. In: Lexikon der Kunst. Architektur, Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie (wie Anm. 301), Bd. IV, S. 403-406, bes. S. 405 [Artikel ohne Verfasserangabe].
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zu sehen. Ritter und Kreuzritter befinden sich jeweils vor einer Burg. Das Gebäude im Hintergrund des Handwerkers weist ebenfalls gewisse Ähnlichkeit mit einer Burg auf; hier läßt sich kein besonderer Zusammenhang feststellen. Vielleicht soll es sich um ein nicht näher bezeichnetes Stadtgebäude handeln, um anzuzeigen, daß der Handwerker dem städtischen Raum zuzuordnen ist. Ebenfalls städtische, nicht weiter identifizierbare Gebäude befinden sich im Hintergrund des Junkers, möglicherweise um eine ähnliche Zuordnung zur typischen Lebenswelt der gezeigten Figur zu treffen. Abermals ist ein Doppelturm abgebildet; auch hier könnte man versuchen, eine Verbindung zur Lübecker Stadtsilhouette zu ziehen, die seit dem Mittelalter vor allem auch durch die beiden Doppeltürme des Doms und der Marienkirche geprägt ist. Sollte dies beabsichtigt sein, wäre zumindest zu fragen, warum ausgerechnet der Junker und nicht eine geistliche Figur vor einem solchen Gebäude abgebildet sein sollte. Zusammenfassend läßt sich konstatieren, daß es zwar stellenweise ein System der Zuordnung von Figur und Hintergrund gibt, dieses aber nicht sehr komplex und ausdifferenziert ist, manchmal sogar beliebig erscheint. Daß es sich bei den Holzschnitten nicht um Abbildungen von Individuen, sondern um die Darstellung von Typen handelt, versteht sich angesichts der paränetischen Gestaltung von Totentänzen als „Volkspredigt“,325 deren Wirkung darauf beruht, daß sie niemanden ausnimmt, eigentlich von selbst.326 So werden ja auch keine individuellen Sünden, sondern standestypische und verbreitete Vergehen gegeißelt, damit jedermann sich in dem Gesagten wiedererkennen kann. Der Gestalter des Totentanzes von 1489 legt jedoch besonderen Wert auf den Aspekt der Exemplarizität, was unter anderem dadurch deutlich wird, daß z.B. bei der Jungfrau ganze 70 weibliche Eigennamen aufgeführt werden – die auf dem Bild gezeigte Person ist also eigentlich gar nicht als „Giseltrut“ zu identifizieren, sondern sie vereint in ihrer Typenhaftigkeit alle jungen Mädchen in ihrer Person, so daß sich quasi jede Angehörige dieser Gruppe in dem als Beispiel gemeinten Portrait wiedererkennen kann und soll. Ähnlich verhält es sich mit dem Handwerker, bei dem eine Vielzahl von Berufen genannt wird; ebenso gibt es beim Mönch eine Aufzählung verschiedener Orden327 – weitere Beispiele lassen sich an verschiedenen Stellen finden. Da es aber in jedem Stand auch Menschen gibt, die sich keiner Vergehen schuldig gemacht haben, vergißt der Verfasser nicht, immer wieder zu versichern, daß das Gesagte nur auf die Sündhaften, nicht aber auf die Rechtschaffenen zuDie Lübecker Inkunabel von 1489
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Rosenfeld, Totentanz, S. 56. Eine Ausnahme von dieser Regel stellt z.B. der Berner Totentanz dar, in dem Manuel verschiedene Bürger der Stadt Bern porträtierte, vgl. Abschnitt 3.3.3. Hierzu gibt es z.B. eine Parallele im mittelrheinischen Totentanz, wo der Tod vorgibt, die verschiedenen Orden nicht auseinanderhalten zu können, was gleichbedeutend mit der Indifferenz einer solchen Unterscheidung ist: MOnch ich enweyß dych nit zu nennen/ Ich eynen vor dem ander nyt erkennen (V. 401f.). Auch beim Handwerker im Berner Totentanz legt sich der Künstler nicht auf ein bestimmtes Gewerbe fest, indem er unterschiedlichste Werkzeuge abbildet. Weitere Beispiele für das Offenhalten einer typenhaften Figur auf verschiedene Bezugsmöglichkeiten lassen sich an vielen Stellen in zahlreichen Totentänzen finden.
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trifft. So sagt der Tod z.B. nach der Geißelung der Sünden des Bischofs: De werdigen prelaten, de in got ere undersaten lêf hebben unde ôk dat recht,/ Geziret mit dogeden, van den is dit nicht gesecht (V. 405f.). Einzeluntersuchungen
Neben den menschlichen Figuren muß auch untersucht werden, auf welche Weise der Tod im Bild repräsentiert ist. Hier lohnt sich eine Betrachtung der ikonographischen Typen. Wie bereits erwähnt, tritt der Tod in vier verschiedenen Gestalten auf: mit Spaten, Pfeil, Sense und schwertbewaffnet auf einem Löwen reitend. Pfeil und Sense sind häufig auftauchende, typische Attribute des Todes. Dinzelbacher merkt an, daß der Tod mit Sense im Spätmittelalter ebenso häufig, wenn nicht häufiger auftaucht als etwa Todesfiguren mit Pfeil und Bogen oder Speer. Schon für das frühe 13. Jahrhundert ist die Sense als Beigabe des Todes bezeugt; während der Pfeil vor allem seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts auf Todesdarstellungen zu finden ist.328 Neben einer möglichen Vermischung mit der „antike[n] Tradition des mit diesem Attribut ausgestattenen Saturnus“329 liegen wohl vor allem biblische Quellen zur Beigabe der Sense vor. Sowohl die Johannesapokalypse330 als auch das Buch Joel331 erwähnen die Sense. Beide Male wird das Sterben durch das Bild der Ernte ausgedrückt. Ähnlich werden im Buch Hiob332 die Sterbenden mit Garben verglichen. Interessant ist, daß sich in der Todesikonographie in diesem Fall auch die Veränderung der Lebenswelt des mittelalterlichen Menschen widerspiegelt: So erscheint der Tod seit dem 13. Jh., als man begann, das Korn mit dem Halm zu mähen, mit einer Sense anstatt, wie vorher, mit einer Sichel.333 Die Beigabe eines Pfeils rückt die Abbildung des Todes in die Nähe der Teufelsikonographie des Spätmittelalters, die zahlreiche Verbindungen zur Todesikonographie aufweist. Beide Gestalten werden des öfteren mit ähnlichen Attributen, wie z.B. den gleichen Waffen, abgebildet.334 Der Pfeil als Todeswaffe läßt sich in zahlreichen Totentänzen finden, so etwa mehrfach in der französischen Überlieferung.335 Die Beigabe des Pfeils gemahnt an die Tradition der Darstellung des Todes als Jäger, häufig mit Pfeil und Bogen.336 Des weiteren ist bei der Betrachtung 328 329 330
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Vgl. Dinzelbacher, S. 190-192. Ebd., S. 190. Et vidi: et ecce nubem candidam, et supra nubem sedentem quasi Filium hominis, habentem super caput suum coronam auream et in manu sua falcem acutam. Et alter angelus exivit de templo clamans voce magna ad sedentem super nubem: „Mitte falcem tuam et mete, quia venit hora, ut metatur, quoniam aruit messis terrae” (Apk 14, 14-15). Mittite falces, quoniam maturavit messis [...] (Joel 3,13). Ingredieris in abundantia sepulchrum, sicut infertur acervus in tempore suo (Hiob 5, 26). Vgl. H. Rosenfeld: Artikel ‚Tod’. In: LCI 4, Sp. 327-332, hier Sp. 329. Siehe dazu auch Spreitzer, S. 148-186. Vgl. Dinzelbacher, S. 199. – Beispielsweise zeigt ein Holzschnitt zu Beginn des wohl aus dem „Zwiegespräch des Lebens mit dem Tode“ entstandenen Fastnachtspiels des Nicolaus Mercatoris (siehe auch Anm. 189 und 353), wie eine Todesgestalt auf ihre menschlichen Opfer mit einem Pfeil losgeht. – Im Trionfo della morte von Clusone schießt eine Todesgestalt auf die Menschen mit Pfeil und Bogen (vgl. H. Rosenfeld: Artikel ‚Tod’ [wie Anm. 333], Sp. 329f.). Auch im Schlußbild des Berner Totentanzes kommt dieses Motiv vor. Vgl. ebd., Sp. 329.
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von bewaffneten Todesfiguren auch gerade im Kontext der spätmittelalterlichen Seuchenwellen, die immer wieder mit Totentänzen in Verbindung gebracht werden – ohne daß sich ein Zusammenhang tatsächlich beweisen läßt –, an die mittelalterliche Vorstellung des Krankheits- bzw. Pestgeschosses zu erinnern. Es lassen sich verschiedentlich Belege dafür finden, daß der Befall durch die Krankheit als Getroffenwerden durch ein Geschoß, meist einen Pfeil, visualisiert oder beschrieben wurde.337 Eine Verbindung zu den mit Pfeilen bewehrten Todesfiguren der Totentänze ist also möglich.338 Der mit einem Schwert bewaffnete und auf einem Löwen reitende Tod erscheint hingegen etwas ungewöhnlich. Zwar lassen sich viele Bilder finden, auf denen der Tod über ein Reittier verfügt, doch der Löwe ist keineswegs gängig; bekannt sind dagegen von anderen Bildzeugnissen Pferd, Kuh, Ochse und Hirsch.339 Grundlage für diese Art der bildlichen Ausgestaltung des Todes ist wohl unter anderem wiederum die Apokalypse. In Apk 6,8 heißt es: Die Lübecker Inkunabel von 1489
Et ecce equus pallidus; et, qui sedebat desuper, nomen illi Mors, et inferus sequebatur eum; et data est illis potestas super quattuor partes terrae interficere gladio, fame et morte et bestiis terrae.
Während also das Motiv des reitenden Todes mit dem Schwert auf die apokalyptischen Reiter zurückzugehen scheint, muß man betreffs des Löwen nach anderen Quellen suchen. In Verbindung mit dem Löwen mag seine bekannte Auslegung entweder als Christus oder als Teufel340 in den Sinn kommen. In diesem Sinne identifiziert Tronnier den Löwen als „Symbol des Teufels“,341 vernachlässigt dabei jedoch, daß durchaus noch andere Deutungen denkbar sind. So mag etwa von Einfluß gewesen sein, daß „Darstellungen v[on] brüllenden Löwen [...] auch auf
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340 341
Verschiedene Beispiele führt Dinzelbacher an, S. 214-216. An dieser Stelle muß auch angemerkt werden, daß es Abbildungen der personifizierten Pest gibt, die mit den besprochenen reitenden Todes-Typen durchaus Ähnlichkeit haben. So zeigt ein Bild einer italienischen Handschrift aus Sienna (1436-37) eine personfizierte Pestgestalt, die ein Pferd reitet und Menschen mit Pfeilen beschießt; die Figur ist zudem mit schwarzen Fledermausflügeln ausgestattet, ähnlich wie der Tod im bekannten Trionfo della morte-Fresko auf dem Camposanto in Pisa. Auf Verbindungen zwischen der Ikonographie des reitenden Todes mit der genannten Pestallegorie weisen auch Mollaret/ Brossolet hin (vgl. Henri H. Mollaret/ Jacqueline Brossolet: La peste, source méconnue d’inspiration artistique. In: Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Antwerpen, Jaarboek 1965, S. 3-112, hier S. 65); vgl. auch Peter Dinzelbacher: Die tötende Gottheit: Pestbild und Todesikonographie als Ausdruck der Mentalität des Spätmittelalters und der Renaissance. In: Zeit, Tod und Ewigkeit in der Renaissance Literatur [sic] (Analecta Cartusiana 117). Hg. von J. Hogg. Salzburg 1986, S. 5138. Vgl. H. Rosenfeld: Artikel ‚Tod’ [wie Anm. 333], Sp. 328. So ist der Tod in einem Holzschnitt in „Der Ackermann aus Böhmen“ (1461) auf einem Pferd reitend dargestellt; gleichzeitig ist er mit Pfeil und Bogen bewaffnet (vgl. ebd.). – Zum Motiv des reitenden Todes siehe auch Utzinger, Abschnitt „La Mort chevauchant un bœuf“, S. 87. Beispiele für die verschiedenen Auslegungen des Löwen: der Teufel als Löwe, 1. Pt 5,8 – adversarius vester diabolus tamquam leo rugiens circuit; Christus als Löwe, Apk 5,5 – ecce vicit leo de tribu Iuda radix David [...]. Tronnier, S. 4.
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Einzeluntersuchungen
die Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag verweisen“342 können oder die Tatsache, daß Löwen, die Menschen oder andere Tiere verschlingen, manchmal „Symbole für unheilvolle, bedrohl[iche] oder strafende Mächte“343 sind. Daneben verweisen Löwen mitunter auch auf die Auferstehung Christi. Ebenso ist das Bild des Löwen als König und Richter bekannt; der Löwe ist ein Zeichen der (imperialen) Macht. In der Antike etwa gab es auch Darstellungen, in denen Gottheiten zusammen mit Löwen oder auf Löwen reitend dargestellt wurden, so Kybele, Dionysos oder Bacchus.344 Das Bedeutungsspektrum des Löwen ist also sehr weit; „die Ikonographie des Löwen entzieht sich häufig präziser Deutung. Verschiedene Bedeutungen überlagern sich“.345 Deshalb läßt sich wohl kaum eine definitive Aussage der Abbildung des Löwen in der Inkunabel von 1489 festmachen. Am naheliegendsten für den Kontext des Totentanzes mag der aggressive Aspekt des Löwen als Raubtier sein, seine Eigenschaften der Stärke, Bedrohung, Gefährlichkeit und Überlegenheit gegenüber dem Menschen, was die Gegnerschaft des Todes, der den Menschen zum Sterben abruft, noch verstärkt. Der vierte ikonographische Typ stellt den Tod mit einem Spaten, also wohl als Totengräber, dar. Auch diese Form der Todesgestalt ist aus anderen Darstellungen, vor allem in der französischen Überlieferung, bekannt. Im Guyot MarchantDruck von 1485 tragen die Todesgestalten sowohl Haue und Schaufel – das Totengräberwerkzeug – als auch einen Sarg. Mit Grabscheit wird der Tod auch in deutschen Einblattdrucken des 15. Jhs. dargestellt.346 In der Zuordnung der Todes-Typen zu den Ständevertretern läßt sich kein System erkennen; sie wechseln sich auch nicht ganz regelmäßig ab. Interessant ist, daß auf den Löwen im Text zweimal ganz explizit und einmal andeutungsweise Bezug genommen wird. Der Ritter fürchtet sich: Men mi dunket, de dôt beginnet mi to drawen,/ Alse ein, de dâr ridende kumt up einem grimmigen lauwen (V. 617f.). Tatsächlich ist der Ritter zusammen mit dem auf dem Löwen reitenden Tod auf der Gegenseite abgebildet. Hier findet sich also eine ganz deutliche und offenbar beabsichtigte Text-Bild-Korrespondenz. Es scheint, daß an dieser Stelle Text und Bild aufeinander abgestimmt wurden. Der zweite Fall ist der Kriegsknecht (hoveruter), der angesichts des Todes ausruft: He kumt jagende, efte he hebbe den schrul (V. 1271). Dies kann deutlich als Anspielung auf den daherstürmenden Löwen mit dem Tod als Reiter verstanden werden. Etwas anders sieht es bei der dritten Erwähnung des Löwen aus. Die Jungfrau berichtet, übrigens denselben Reim verwendend: Ik sach den dôt riden up einem Einzeluntersuchungen
342 343 344 345 346
Artikel ‚Löwe’. In: Herder Lexikon der Symbole, S. 174f. [Artikel ohne Verfasserangabe]. Ebd. Ebd.. P. Bloch: Artikel ‚Löwe’. In: LCI 3, Sp. 112-119. Dort findet sich eine ausführliche Aufzählung möglicher Kontexte, in denen der Löwe auftauchen kann. Vgl. H. Rosenfeld: Artikel ‚Tod’ [wie Anm. 333], Sp. 331; allgemein zu verschiedenen ikonographischen Typen des Todes besonders in Totentänzen siehe Schulte, Totentänze, S. 111121.
Die Lübecker Inkunabel von 1489
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lauwen,/ Mit einem swerde begunde he mi to drauwen (V. 1307f.). Hier wird nicht nur auf den Löwen angespielt, sondern detailgenau auch auf das Schwert, das der Tod auf diesem Holzschnitt in der Hand führt. Das Problem ist an dieser Stelle nur, daß die Jungfrau überhaupt nicht mit dem Tod auf dem Löwen abgebildet ist,347 sondern mit dem spatentragenden Tod.348 Möglicherweise wurde hier das ursprüngliche Konzept der Text-Bild-Zuordnung aus irgendeinem Grund geändert. An einer weiteren Stelle wird Bezug auf ein Bildelement genommen, und zwar im vierten Kapitel, wo der Tod sagt Ik wil ju alle mit desser setzen ummemeien (V. 118); und in der Tat ist dem entsprechenden Abschnitt der Tod mit der Sense beigegeben. Diese Stelle wurde übrigens in den 1520-Totentanz übernommen, zusammen mit dem Bild, taucht dort aber nicht zu Beginn, sondern am Schluß des Totentanzes auf. Neben der oben angeführten, sehr genauen Text-Bild-Bezugnahme finden sich in der Inkunabel von 1489 noch zwei allgemeinere Texthinweise auf die beigegebenen Illustrationen. Vor Beginn des eigentlichen Totentanzes, im dritten, noch einleitenden Kapitel (V. 108-112), heißt es, den Menschen solle sowohl mithilfe von Text als auch durch Bilder gezeigt werden, wie der Tod jeden mit sich nimmt (Hervorhebungen von mir, recte): Die Lübecker Inkunabel von 1489
[...] des sit bericht, Uppe dat wi mogen rechte merken den dôt der naturen, Hîr navolgende mit schriften unde mit figuren, Wo sik vele minschen to sterven beklagen, Unde wo de dôt einen isliken gript bi dem kragen
Diese Verse können als programmatisch für die gesamte Inkunabel – und im Grunde für jeden Bild und Text kombinierenden Totentanz – gelten, denn hier wird in konziser Form ein wesentlicher Teil der Kernaussage eines jeden Totentanzes aufgenommen: Der Tod nimmt niemanden aus, letztendlich ereilt er einen isliken. Damit diese Erkenntnis unterschiedslos jedem zuteil wird, den Jungen und Alten, Reichen und Armen, Großen und Kleinen, und gleichermaßen den Schriftkundigen wie den Analphabeten, reichen die Verse allein nicht aus, sondern es müssen neben den schriften auch figuren bemüht werden, um die Aussage so klar und eindrücklich wie möglich zu gestalten und um den Inhalt dem Gedächtnis 347
348
Möglicherweise ist in diesem Zusammenhang die Verwendung des Präteritums (sach bzw. begunde) von Bedeutung; die Jungfrau ist nicht mit dem Löwen abgebildet, also auch nicht direkt mit ihm konfrontiert, aber sie könnte ihn gesehen haben, als er auf den Kriegsknecht losging, der ja unmittelbar vor ihr plaziert ist. Dies würde dann allerdings bedeuten, daß dem gesamten Reigen ein Schema der Gleichzeitigkeit zugrundeliegt, so daß die einzelnen teilnehmenden Personen einander sehen und zurück- bzw. vorausblicken können (vgl. zur Zeitstruktur von Totentänzen in Abschnitt 2.2.3.). Interessanterweise taucht dafür im 1520er-Totentanz die Jungfrau mit dem Löwen zusammen auf, obwohl dort die entsprechenden Verse nicht übernommen worden sind (es könnte sich also auch um einen reinen Zufall handeln). Im allgemeinen entspricht die Zuordnung der Todestypen 1489 jedoch nicht prinzipiell derjenigen von 1520. Dies wäre ohnehin nicht möglich gewesen, weil der Holzstock mit der Abbildung des pfeiltragenden Todes inzwischen abhanden gekommen war; siehe unten meine Ausführungen zum Layout des Totentanzes von 1520.
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Einzeluntersuchungen
einzuprägen, auf daß jeder Mensch die Allgegenwart des Todes in Erinnerung behalte. Am Ende des Totentanzes wird noch einmal ähnlich resümiert: Hîrumme latet ju desse figuren vor ogen stân (V. 1655). Die Bilder werden also trotz ihres im Vergleich zum Kirchengemälde geminderten Stellenwerts noch als integraler Bestandteil des Totentanzes aufgefaßt.349
3.1.3. Der Frühdruck Dodendantz, Lübeck 1520 1520 brachte die Mohnkopfoffizin einen weiteren Totentanz-Druck heraus. Es handelt sich um einen im Vergleich zur Inkunabel sehr viel kürzeren Text mit einem Umfang von 424 Versen, der im wesentlichen mit denselben Holzschnitten wie Des dodes dantz illustriert ist, allerdings gegenüber dem Wiegendruck nicht 28, sondern 32 Ständevertreter aufweist. Nach einer 16 Verse umfassenden Vorrede und einem ebenso langen Aufruf des Todes an die Menschen folgen die Dialoge zwischen den Menschen und den Todesfiguren; dabei spricht jede Figur jeweils sechs Verse, wobei zuerst dem Tod, dann dem Menschen das Wort zufällt, anders als in der Inkunabel von 1489. Den Abschluß bildet wiederum eine aus 32 Versen bestehende Mahnrede des Todes.350 Ungefähr zwei Drittel des Textes sind auch in Des dodes dantz enthalten, was Baethcke zu der Ansicht führte, es handele sich um einen „ziemlich ungeschickte[n] Auszug“ aus der Inkunabel.351 Seelmann dagegen glaubte: Einzeluntersuchungen
Der sog. Totentanz von 1520 ist in Wirklichkeit viel älter. Er hat nämlich bereits dem Verfasser und dem Drucker des Totentanzes von 1489, welche aus ihm viele Verse entlehnt und seine Holzstöcke benutzt haben, gedruckt vorgelegen. Dieser verschollene erste Druck kann nur um ein oder zwei Jahre früher als 1489 hergestellt gewesen sein. Die Holzschnitte bieten nämlich die Strichlagen des sogen. Lübecker Unbekannten, eines Formenschneiders, der von 1487 bis 1499 thätig und mit dem Drucker Mattheus Brandis identisch gewesen ist.352
Des weiteren war Seelmann der Ansicht, der Druck von 1520 sei, „nach Umfang und Form zu urteilen“, möglicherweise die gedruckte Kopie eines monumentalen
349 350
351 352
Vgl. auch den Knoblochtzer-Druck Der doten dantz mit figuren – dem Verfasser erschien die Beigabe der Bilder wohl immerhin so wichtig, daß sie im Titel erwähnt wird. Die Zahlenverhältnisse der Strophen- und Abschnittslängen (32 [Verse in der Einleitung] + 30 [Zahl der Ständevertreter] x 6 [Verse der Dialoge] = 360 + 32 [Verse im Schlußteil]) gibt Sodmann Anlaß zu der Hypothese, es könnte eventuell eine zahlensymbolische Aussage im Hintergrund stehen. Neben verschiedenen heilsgeschichtlichen Interpretationsmöglichkeiten unter anderem für die 32 und die 6 äußert Sodmann die Vermutung, daß die Zahl 360 für die Gradzahl eines Kreises stehen könnte, was man als impliziten Hinweis auf den Reigentanz verstehen dürfte (vgl. Sodmann [Ed.], S. 55f.). Baethcke, S. 2. W. Seelmann: Der Totentanz von 1520. In: NdJb 21 (1895), S. 108-122, hier S. 108.
Der Lübecker Frühdruck von 1520
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Totentanzes, im Gegensatz zu der Inkunabel von 1489, die schon als Buchfassung konzipiert sei.353 Rosenfeld argumentiert wieder einmal mit seiner Bilderbogen-Theorie:354 Nicht das Gemälde von 1463 habe als Vorlage gedient, sondern eine vollständige Kopie desselben, „die der Verfasser neben sich auf dem Schreibtisch liegen hatte“,355 die dann also in Form eines Bilderbogens vorhanden gewesen sein müßte – dies ist indes reine Spekulation. Schulte schließlich kommt unter Abwägung der gegensätzlichen Positionen und aufgrund weiterer eigener Überlegungen zu dem Schluß, daß der Dodendantz-Druck, entgegen Seelmann, in der Tat erst 1520 angefertigt worden sei und „unter Verwendung weiterer Quellen als Auszug aus der Inkunabel von 1489 anzusehen ist“.356 Schulte untersucht die wörtlichen Übereinstimmungen zwischen den Drucken von 1489 und 1520 und ermittelt so die Bearbeitungsweise des Dodendantz-Verfassers: Der Lübecker Frühdruck von 1520
[...] er greift einige Verse zur eindeutigen Charakterisierung [aus dem Text von 1489] heraus und fügt sie zu einer einigermaßen verständlichen bzw. sinnvollen Einheit zusammen. [...] die Strophen des Totentanzdruckes von 1520 [wirken] häufig etwas holperig, zeigen Gedankensprünge und bleiben oberflächlich [...]. Dieser Sachverhalt läßt sich m.E. darauf zurückführen, 353
354 355 356
Seelmann, Totentänze, S. 34. Die mit seiner Theorie verbundene Rückdatierung des Druckes von 1520 stützt Seelmann unter anderem durch die Heranziehung des mittelniederdeutschen „Zwiegespräches des Lebens mit dem Tod“, eines Dialogs, der auf das Jahr 1484 datiert wird (vgl. auch Anm. 189). Er findet sich in einem Manuskript von 1494, das nachweislich die Abschrift eines Drucks des 1488 verstorbenen Bartholomäus Gothan ist, muß also in jedem Fall älter als der Totentanz von 1489 sein (vgl. Seelmann, Fastnachtspiele, S. XXXIII). Seelmann meint, es sei entweder denkbar, daß der Druck Dodendantz aus dem Zwiegespräch schöpfe und Des dodes dantz wiederum vom Dodendantz abhänge, oder es könnte in der Inkunabel und im Zwiegespräch unabhängig voneinander zu Übernahmen aus dem Dodendantz gekommen sein (vgl. Seelmann, Totentänze, S. 35). Vgl. Anm. 525. Rosenfeld, Totentanz, S. 222. Rosenfeld führt weiter aus: „Ich sehe darin einen indirekten Beweis, daß niederdeutsche Totentanzbilderbogen umliefen“ (S. 222f.), wobei er übersieht, daß dieser „Beweis“ nichts anderes als seine eigene Vermutung ist. Schulte, Totentänze, S. 211. Schulte ist allerdings der Ansicht, daß es „tatsächlich einen vor 1489 mit dem bekannten Holzschnittmaterial gedruckten Totentanz gegeben haben muß“ (ebd.), der eine Art Reproduktion des Wandgemäldes in der Lübecker Marienkirche von 1463 gewesen sei und dem Verfasser der Inkunabel von 1489 als Vorlage gedient habe. Als Indiz hierfür dient ihr unter anderem die an den Drucken erkennbare Abnutzung der Holzstöcke (hier ist allerdings anzumerken, daß fehlende Bildteile auch durch zuwenig aufgetragene Druckfarbe zu erklären sein könnten, denn es gibt auch durchaus Schnitte, in denen keine solchen Fehlspuren zu erkennen sind). Des weiteren weist nach Schulte das erhaltene Holzschnittmaterial darauf hin, daß dieser rekonstruierte Druck auf das Ständeinventar von 1463 zugeschnitten war, eventuell schon erweitert um Begine und Reiter. Zudem scheint Schulte die Tatsache, daß Des dodes dantz zahlreiche strukturelle und wörtliche Entlehnungen aus der Kirchenmalerei enthält, ihre These zu stützen, daß der Schöpfer der Inkunabel eine Art Druckfassung des Gemäldes vorliegen hatte (vgl. Schulte, Totentänze, S. 228f.). Natürlich könnte ihm aber auch eine Abschrift des Textes als Arbeitsgrundlage gedient haben. In der Annahme, daß der Verfasser des Druckes eine Kopie (ob gedruckt oder handschriftlich) des monumentalen Totentanzes besessen habe, geht Schulte demzufolge mit Rosenfeld konform (siehe oben).
Einzeluntersuchungen
100
daß die meisten Strophen eben tatsächlich aus größeren Text- und Denkeinheiten herausgetrennt und zusammengefügt worden sind.357
Als Beispiel mögen hier die jeweiligen Strophen des Studenten dienen. Die übereinstimmenden Textteile sind zum Vergleich vom Kursivdruck recte abgehoben. Im 1489-Druck spricht der Student folgenden Text (V. 921-942): Non non expectate, beide wat, it is noch nein tît. Ik hebbe studeret mit grotem vlît; Dâr en wolde ik nein gelt ane sparen, Up dat ik vor einen gelerden man mochte varen. In den seven vrien kunsten plach ik jo to wunderen, Unde ik hebbe geleret eine islike besunderen. Vaken hebbe ik gekregen scharpe correxien, So wan ik jo plach to vorsumen de lexien. Up der bursen sat ik tavende wat to lange, Wi drunken scharpe, dârvan is mi so bange In dem hovede unde ôk in dem magen. Schal ik alrede sterven in minen jungen dagen, Dat do ik nicht gerne und gans node. Ach mochte ik appeleren mit dem dode, Dat desse sake worde vele jâr vorlenget, De mit mi so ernstliken is betenget. Ach leider nein, dat is impossibile, Wente mi is in alle minen ledematen we, In dem rugge, in den siden unde ôk in dem magen, In den benen, in dem halse wente to minem bragen. Hîrumme spreke ik: miserere mei deus, Vorlât mi nicht, wente du bist mîn here et redemptor meus.
Im Druck von 1520 sagt der Student nur noch (V. 339-344):
Einzeluntersuchungen
Non, non, expectate! yd is noch neen tyd. Ik hebbe studeret myt grotem flyd. Vaken hebbe ik ghekregen scharpe correcien, So wan ik jo vorsumede de leccien. Mochte ik appelleren, de doth deyt my wee. Ach leyder neen, dat is impossibile.
Das Vorgehen des Bearbeiters ist deutlich zu erkennen. Die Strophe im 1520Druck enthält so gut wie überhaupt keine eigenen Bestandteile. Einige Sätze, die ausreichen, den Studenten zu charakterisieren, werden herausgegriffen und zu einer neuen Einheit zusammengefügt, die allerdings vor allem im vorletzen Vers eine deutliche und nicht besonders glatte Nahtstelle aufweist: Der Gedankengang, mit dem Tod appelleren zu wollen, wird begonnen, die weitere Ausführung ist jedoch für die gewählte Strophenlänge zu umfangreich. Stattdessen wird der Teilsatz de doth deyt my wee direkt hinter den übernommenen Textteil gesetzt, was die Kohärenz der ursprünglichen Gerichts-Metapher aus der älteren Inkunabel zunichte macht. Zudem schließt der letzte Satz nicht mehr besonders sinnvoll an,
357
Schulte, Totentänze, S. 232.
Der Lübecker Frühdruck von 1520
101
weil der neu eingefügte Teilsatz wie ein Fremdkörper wirkt. – Ähnliche Beobachtungen lassen sich an zahlreichen anderen Stellen machen.358 Der 1489 noch sehr auf dem Text liegende Schwerpunkt verschiebt sich 1520 durch die stark verringerte Textmenge auch wieder etwas zum Bild hin. Sodmann bemerkt, daß die Illustrationen „fast die Hälfte des bedruckten Raumes in Anspruch nehmen und so dem Bändchen beinahe den Charakter eines Bilderbuchs verleihen“.359 Das veränderte Layout kommt aber nicht nur dadurch zustande, sondern auch durch die Erweiterung der Ständereihe um vier zusätzliche Figuren (Pfarrer, Handwerksgeselle, Offizial und Narr), für die keine eigenen Illustrationen vorhanden waren, vor allem aber auch durch die Tatsache, daß einer der vier Todestypen, nämlich der Holzstock mit der Abbildung des pfeilbewaffneten Todes, offensichtlich in der Zwischenzeit verlorengegangen war. Diesen Mängeln versuchte der Drucker durch verschiedene Maßnahmen abzuhelfen. Der Pfarrer wurde mit einer Abbildung des gekreuzigten Jesus illustriert, während dem Narren ein Holzschnitt aus dem ebenfalls in der Mohnkopfoffizin erschienenen Dat narren schyp (1497) beigegeben wurde. Handwerksgeselle und Offizial blieben unillustriert. Das Fehlen der vierten Todesfigur stellte ein noch größeres Problem dar. Wie Sodmann erklärt,360 machte die Konzeption des Layouts es eigentlich nötig, daß für den Druck eines Bogens vier Todesfiguren vorhanden waren, da auf jeder der späteren Buchseiten jeweils ein Tod zu sehen sein sollte; ein Bogen bzw. eine Satzform hätte demnach (der Herstellungsweise des Quartformats gemäß) vier Seiten enthalten, die später längs geteilt und dann mittig gebunden wurden. Diese Sachlage stellte den Drucker vor die Notwendigkeit, anstelle der vierten Todesfigur etwas anderes einzufügen. Hierfür wählte er teilweise Abbildungen einzelner Totenschädel361 oder teilte den Text und die übrigen drei Bilder so ein, daß keine weitere Abbildung als Füllsel gebraucht wurde. Beispiele für die genannten Unregelmäßigkeiten in der Illustration bieten die Blätter 6r, 7r, 8v, 12r, 13r und 15r. Die Veränderungen im Layout führten auch dazu, daß die Todesfiguren und Ständevertreter auf der visuellen Ebene nicht immer eindeutig einander als Paare zugeordnet sind, da sich nicht mehr in allen Fällen ein Mensch und ein Tod gegenüberstehen und sich zur Buchmitte hin anblicken. Auf Blatt 2r beispielsweise, dem Beginn des Totentanzes, stehen Papst und Tod einander nicht gegenüber, sondern schräg versetzt untereinander (ähnlich Blatt 9r). Auf den Seiten 5v und 6r ist überhaupt keine Todesfigur abgebildet (genauso 11v/12r); beim Pastor gibt es weder eine menschliche noch eine Todesfigur, die aufeinander bezogen sein könnten; und auf Blatt 13r muß ein Tod für zwei Personen genügen. Die gewählte Text-Bild-Aufteilung bringt eine weitere interessante Eigenheit mit sich. In Sodmanns Textedition sprechen Tod und Mensch abwechselnd mit Der Lübecker Frühdruck von 1520
358 359 360 361
Vgl. die Belege und Textvergleiche bei Schulte, Totentänze, S. 230-235. Sodmann (Ed.), S. 51. Vgl. ebd., S. 57 und 59. Diese Totenschädel finden sich auch in anderen Mohnkopf-Drucken; sie sind nicht eigens für den Totentanz angefertigt worden (vgl. ebd., S. 54).
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Einzeluntersuchungen
schöner Regelmäßigkeit – zuerst der Tod, dann der Mensch. Schaut man jedoch in das beigegebene Faksimile, ergibt sich ein ganz anderes Bild: Zwar beginnt der Totentanz mit den Worten des Todes, gefolgt vom Text des Papstes, doch an anderen Stellen sind auf der linken Buchseite, die man ja normalerweise zuerst liest, untereinander zwei Ständevertreter abgebildet, der Tod dagegen auf der rechten Seite.362 Das bedeutet, daß man den Text gewissermaßen im „Zickzack“ lesen muß, d.h. mitunter zwischen den linken und rechten Seiten wechselnd, damit sich eine konsequente Abfolge ergibt; ansonsten würden mehrfach die Menschen oder der Tod hintereinander sprechen, was sinnentstellend wäre, zumindest wenn man die Abwechslung der Partner im Reigentanz implizit voraussetzt. Daß beabsichtigt ist, den Tod zuerst sprechen zu lassen, geht klar z.B. aus solchen Stellen hervor, an denen ein Bild fehlt, wie bei Offizial, Kreuzritter, Narr und Handwerksgeselle; hier geht eindeutig der Text des Todes der Strophe des Menschen voraus. Eine weitere Beobachtung Schultes hängt mit dem beschriebenen Sachverhalt eng zusammen. Schulte konstatiert: „In zwei Fällen [...] setzen die Eingangsverse des Todes die Rede der sterbenden Menschen voraus [...].“363 Es sind dies die Worte des Todes an die Kaiserin Ja, keyserynne, dat is dat olde leet –/ Se spreken alle: Ick byn noch nicht bereyt (V. 81f.), die eigentlich bedingen, daß die Kaiserin zuvor gesagt hat To sterven bin ik noch nenerleyewiß bereyt (V. 92); im Druck von 1520 spricht sie diese Worte jedoch erst nach dem Tod. Der zweite Fall ist der Chorherr, zu dem der Tod sagt: Her domhere, proficiat, bona dies!/ Wordestu vorgetten, dat were wat nyes! (V. 153f.). Dieser Vers, der aus der Inkunabel von 1489 übernommen worden ist, stellt dort eine Reaktion auf die zuvor gesagten Worte des Chorherren dar. Dieser hofft Wolde de dot noch lenger hebben mit mi oversen, d.h. er wünscht sich, noch eine Zeitlang übersehen bzw. vergessen zu werden. Da der Druck von 1520 diesen Vers nicht mehr enthält, hängen die sich darauf zurückbeziehenden Worte des Todes etwas in der Luft. Die Kaiserin findet sich an einer der Stellen im Buch, an denen die zuvor beschriebene Umkehrung der Leserichtung erforderlich ist, da der Text der Kaiserin auf Blatt 3v, der Tod auf Blatt 4r abgebildet ist. Hier würde es demgemäß sogar Sinn ergeben, die herkömmliche Leserichtung beizubehalten und erst die linke, dann die rechte Seite zu lesen. Überhaupt ist es eine Überlegung wert, ob man an den anderen, ähnlichen Stellen, an denen die Menschen auf der linken und der Tod auf der rechten Buchseite abgebildet sind, nicht auch zuerst die Strophen der Menschen lesen könnte. Da zumeist der größere Teil des Textmaterials aus der Einzeluntersuchungen
362
363
Da die Menschen jeweils nach rechts blicken und der Tod nach links schaut, war es natürlich nicht möglich, die Positionen der Holzschnitte zu vertauschen, sonst hätten die Figuren sinnwidrig voneinander weggeblickt. Etwas unklar bleibt, warum überhaupt die Sprecherreihenfolge geändert wurde, denn mit dem vorliegenden Holzschnittmaterial wäre es sehr viel einfacher gewesen, die Reihenfolge Mensch – Tod beizubehalten. Ingesamt gesehen hätte das Vorgehen, die Inkunabel als Vorbild zu nehmen, auch für eine Beibehaltung der dort verwendeten Abfolge gesprochen. Schulte, Totentänze, S. 234. Schulte dient diese Beobachtung als weitere Stützung ihrer Argumentation, daß die Inkunabel von 1489 das Vorbild für 1520 war und nicht umgekehrt; der beobachtete „Fehler“ kommt zustande, weil der Text der Vorlage zwar übernommen, die Reihenfolge der Sprecher jedoch in die Abfolge Tod – Mensch umgekehrt worden ist.
Der Lübecker Frühdruck von 1520
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1489-Inkunabel übernommen wurde, in der bekanntlich der Mensch zuerst spricht, sollte dies eigentlich möglich sein. Überprüft man diese Vermutung am Text, stellt man fest, daß dies in der Tat ohne größere Probleme der inhärenten Textlogik an vielen Stellen durchführbar ist. Natürlich könnte man argumentieren, es sei unlogisch, daß die Menschen ihre Angst vor dem Tod äußern, bevor er sie überhaupt aufgerufen hat, aber dieser Einwand verliert seine Kraft angesichts der Tatsache, daß die Abfolge Mensch – Tod schon allein deshalb als eine mögliche Variante gelten muß, weil die Inkunabel von 1489 sie explizit durch die TextBild-Aufteilung vorschreibt.364 Es wäre durchaus möglich, versuchsweise einmal einen veränderten Standpunkt einzunehmen und die Voraussetzung bzw. Erwartung, daß im Hintergrund des Frühdruckes von 1520 die Vorstellung von einer festen und regelmäßigen (Tanz-)Abfolge mit der immer gleichen Sequenz Mensch – Tod stehen müsse, beiseite zu lassen. Stattdessen könnte man postulieren, der Text sei vielmehr ein den Totentanz gebrauchendes Erbauungsbüchlein, weniger selbst ein „typischer“ Totentanz, und stelle durchaus eigenständige Zwiegespräche zwischen jeweils einem Menschen und einer Todesfigur dar, die in verschiedenen Richtungen (Mensch – Tod/ Tod – Mensch) rezipiert werden können, entweder so, wie es die natürliche Leserichtung nahelegt, d.h. zuerst die Figur, die links abgebildet ist, oder auch andersherum, wenn die Logik des Textes dies sinnvoll erscheinen läßt; an einigen Stellen ist die Rezeptions- bzw. Leserichtung nämlich in der Tat nicht beliebig. Es müßte dann also nicht einheitlich von links nach rechts oder umgekehrt gelesen werden, sondern die Richtung könnte wechseln. Zu den Stellen, an denen eine dem Text innewohnende Logik vorhanden ist, die die Beliebigkeit der Richtung einschränkt, gehört etwa der Dialog mit dem Herzog, der hier als Beispiel wiedergegeben werden soll (V. 105-116): Der Lübecker Frühdruck von 1520
De doet tome hertogen Hochgheboren hertoge van eddelem slechte! Sus hebben di heten dine ridders unde knechte. Men ick wil dy anders to spreken: Holth an, ick wil dyn herte tobreken. De denne is rede, heft God ghesecht, Wan he ön esschet, salich is de knecht. De hertoch Dyt hadde ik ernstlik vaken ghewroken, De my suß hadde toghesproken. Men nu moth ik hebben paciencie, Wente mi wroget seer myne conciencie. De doet kumpt heer seer unghehür.
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Auch im Totentanz in der Marienkirche von 1463 spricht zuerst der Mensch seinen Text, bevor eine ausführliche Antwort des Todes folgt; allerdings werden die Ständevertreter durch die Verschränkung der Strophen (im letzten Vers jeder Antwortstrophe ruft der Tod jeweils schon den nächsten Menschen in den Tanz) zuvor vom Tod mit einem Vers aufgefordert, so daß die Abfolge stimmig und vielleicht etwas logischer wirkt als in der Inkunabel von 1489, wo die Menschen vor dem Tod erschrecken, bevor sie von diesem überhaupt angesprochen worden sind.
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Einzeluntersuchungen
Ick moth vort, yd sy lucke effte effentür!
Der Gedanke, daß der Herzog jeden, der in solcher Weise mit ihm sprechen würde, dafür bestrafen wolle, dies aber dem Tod gegenüber nicht tun kann, erfordert hier in der Tat die umgekehrte Leserichtung im Sinne Sodmanns,365 da der Herzog auf der linken, der Tod auf der rechten Seite des aufgeschlagenen Buchs abgebildet ist. Ein ähnlicher Fall liegt etwa beim Kreuzritter vor, der auf den Aufruf des Todes mit den Worten reagiert Seet, wo greselik synt desse word! (V. 135). Ebenso enthalten etwa die Strophen von Abt, Kreuzritter, Offizial, Bürgermeister, Kaufmann und Handwerksgeselle relativ deutliche Rückbezüge auf die Worte des Todes, was an diesen Stellen die Leserichtung vom Textmaterial her eindeutig vorgibt; Kreuzritter, Offizial und Handwerksgeselle zählen aber ohnehin zu den Fällen, in denen durch das Fehlen von Bildern der Text des Todes demjenigen des Menschen eindeutig vorausgeht, wie oben erwähnt. Relativ problemlos ist dagegen die Abfolge Mensch – Tod möglich bei Bischof, Kaiser, Pastor, Mönch, Ritter und Klausner, eventuell auch bei der Begine und beim Ritter. Alle übrigen Figuren beziehen sich zwar nicht direkt auf den Tod, aber dort ist es meist sinnvoller, dessen Strophe zuerst zu lesen, weil in den verschiedenen Fällen die eine oder andere Wendung nahelegt, daß die Worte des Ständevertreters eine Art Reaktion auf das Erscheinen und den Anruf des Todes darstellen, wie wenn etwa die Jungfrau der Tanzaufforderung des Todes mit den Worten begegnet Ach neyn, ick byn jo noch eyne junge derne (V. 279). Ist also die Frage der Leserichtung ein Aspekt, in dem die Aufteilung und Plazierung von Text und Illustrationen nicht immer ganz konsistent und stimmig sind, so offenbart auch die Suche nach expliziten inhaltlichen Bezugnahmen zwischen Bild und Text, daß die Zuordnung der Holzschnitte zu den Worten der Ständevertreter keinem besonderen Ordnungsprinzip zu unterliegen, sondern oftmals relativ zufällig zu sein scheint. So hätte es sich angeboten, solche Textstellen wie De doet kumpt heer seer ungehür (Herzog, V. 115) und viel mehr noch Nu kumpstu, dot, vortjagen myt macht (Handwerksgeselle, V. 377) mit dem Bild des auf einem Löwen reitenden Todes zu illustrieren, doch im ersten Fall findet sich der Tod mit dem Grabscheit, im zweiten Fall gibt es überhaupt kein Bild.366 EinEinzeluntersuchungen
365 366
Vgl. Sodmann (Ed.), S. 57, Anm. 32. – Zudem greift der Herzog genau die vom Tod verwendete Formulierung ick wil dy anders to spreken (V. 107) wieder auf, wenn er sagt: Dyt hadde ik ernstlik vaken ghewroken,/ De my suß hadde toghesproken (V. 111f.). Man könnte natürlich einwenden, die Forderung, Text und Bild müßten in den genannten Fällen wie beschrieben übereinstimmen, sei allein schon deswegen völlig abwegig, weil der Totentanz in keiner Weise als real gedachtes Geschehen verstanden wird, sondern ohnehin als gleichsam allegorische Darstellung des Sterbevorgangs gedacht ist. Dagegen sprechen jedoch die deutlichen Textanspielungen auf das Bild in der Inkunabel von 1489 wie etwa Men mi dunket, de dôt beginnet mi to drawen,/ Alse ein, de dâr ridende kumt up einem grimmigen lauwen (Ritter, V. 617f.). Hier ist offensichtlich an eine tatsächliche und real stattfindende Konfrontation zwischen Mensch und Todesfigur gedacht, die es dem Menschen möglich macht, die ihn anfallende Gestalt visuell wahrzunehmen, auch wenn nicht beide in einem gemeinsamen Bildrahmen abgebildet sind – ein weiteres Indiz dafür, daß die Inkunabel als durchgängige Bilderfolge konzipiert ist und damit durchaus noch an die ursprüngliche Vorstellung des ununterbrochenen Reigentanzes gemahnt. Einschränkend ist anzumerken, daß
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zig die abschließenden (1489 im einführenden vierten Kapitel gebrauchten) Worte des Todes Ick wyl jw alle ummemeyen/ Myt desser setzen, grot unde kleyne (V. 394f.) korrespondieren mit der beigegebenen Illustration des sensentragenden Todes. Des weiteren heißt es im prologartigen Anfangsteil des Totentanzes, man solle sich immer der Bedrohung des Todes bewußt sein, und es wird resümiert Hirumme latet jw dyt vor ogen staen (V. 13), was sich als impliziter Hinweis auch auf den visuellen, durch die Bilder repräsentierten Aspekt des Totentanzes werten läßt, ähnlich wie in der Inkunabel von 1489 – mit fast demselben Wortlaut – auf die beigegebenen figuren (V. 109f. und 1655) hingewiesen wird.367 1597 gab der Dichter und Pädagoge Nathan Chytraeus den Totentanz von 1520 neu heraus.368 Bis auf meist orthographische Abweichungen wurde der alte Text wörtlich abgedruckt; die Ausgabe beinhaltet allerdings nur eine einzige Illustration, und zwar den Holzschnitt eines Todes mit Sense auf dem Titelblatt. Ob dieser der sensentragenden Todesfigur aus den alten Drucken nachempfunden sein soll, ist fraglich; das Bild weist jedenfalls keine besondere Ähnlichkeit mit dem alten Holzschnitt auf – der Tod steht nicht vor einer Mauer, sondern auf einem Grasstück, und er hält auch die Sense auf andere Art bzw. weist eine ganz andersartige Positur auf. Chytraeus ließ allerdings von den Holzschnitten des alten Druckes Kopien anfertigen, um sie in einer späteren Auflage zu verwenden (in der Ausgabe von 1597 war dies aus Geldmangel nicht möglich gewesen), er starb jedoch bereits 1598 und konnte dieses Vorhaben wohl nicht mehr verwirklichen. Der von Chytraeus abgedruckte Text enthält einen neugedichteten Einschub des Titels Deß Druckers thogave. Im dem Dialog des Druckers mit dem Tod droht letzterer, sein Opfer zu drucken und pressen in Ewicheit, sollte der Drucker kein rechtschaffenes Leben geführt haben.369 Chytraeus bezeichnete die alten Verse als „schlecht vnd recht“ und die Bilder als „altfrenckisch“370 (altmodisch), maß dem Totentanz aber dennoch genügend geschichtlichen Wert zu, um ihn in seiner alten Form zu veröffentlichen; Claußen spricht hier von der „älteste[n] philologische[n] Ausgabe eines niederdeutschen Textes“.371 Chytraeus stellte den Text mit fünf geistlichen Liedern zusammen und schrieb dazu ein „An den Christlichen Leser“ adressiertes Vorwort, das sich allDer Lübecker Frühdruck von 1520
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man solche Überlegungen auch nicht zu weit führen sollte, weil man möglicherweise auch nicht voraussetzen kann, daß die Schöpfer der Totentänze derart weitreichende Implikationen bedacht haben. Zum Vergleich noch einmal die entsprechenden Verse in der Inkunabel von 1489, V. 109f.: Uppe dat wi mogen rechte merken den dôt der naturen,/ Hîr navolgende mit schriften unde mit figuren, und V. 1655: Hîrumme latet ju desse figuren vor ogen stân. Der Alte Todtendantz Sächsisch. Wie derselbe für Achtzig Jahren in der Keyserlichen Seestadt Lübeck in offentlichem Truck außgangen. Mit einer neuwen Vorred Nathanis Chytraei. Bremen: Arent Wessels Erben 1597. Angaben nach Claußen, S. 70. – Auch in einem Lyoner Danse macabre-Druck von 1499 gibt es übrigens die Darstellung eines Druckers mit Todesfiguren. Es handelt sich zugleich um die älteste Abbildung einer Druckerei. Vorrede (Bl. 8r/9v), zit. nach Sodmann (Ed.), S. 60. Claußen, S. 69.
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Einzeluntersuchungen
gemein mit der Thematik der Vergänglichkeit befaßt.372 So entstand wiederum ein Erbauungsbüchlein, das auf seine Weise ganz in der Tradition der alten Werke steht, indem ebenfalls eine Art Fundierung des eigentlichen Totentanzes in theologischem Gedankengut vorgenommen wird, wie es auch aus ähnlichen Werken bekannt ist, die den Basler (Frölich, Merian) und Berner Totentanz (Frölich) dergestalt instrumentalisieren.
3.1.4. Der Berliner Totentanz Ebenso wie beim Totentanz in der Marienkirche in Lübeck handelt es sich auch im Falle des Berliner Totentanzes um ein Werk, das sowohl in Bild als auch Text relativ gut untersucht ist und in Bezug auf Bild-Text-Korrespondenzen zudem ein sehr lohnendes Objekt bildet. Der Berliner Totentanz zeichnet sich durch seine besondere Komposition aus, die ihn von allen anderen Totentänzen unterscheidet: In seinem Zentrum befindet sich eine Kreuzigungsszene.373 Auf der linken Seite tanzen in aufsteigender Rangfolge die geistlichen Ständevertreter, die sich auf das Kreuz zubewegen; auf der rechten Seite des Kreuzes wird der Reigen von den weltlichen Ständevertretern fortgesetzt, die in absteigender Folge von der Mitte weg, also wie die Geistlichen nach rechts, tanzen. Diese besondere Komposition wird an späterer Stelle noch detailliert in den Blick genommen und untersucht. Der Berliner Totentanz galt als verloren und wurde erst 1860 unter einer Putzschicht wiederentdeckt. Wann genau das Gemälde übertüncht wurde, ist unklar; als terminus ante quem ist lediglich bekannt, daß das Bild 1729 bereits unter die „res deperditas“ gezählt wurde.374 Walther vermutet, der Totentanz sei bald nach der Reformation übergestrichen worden.375 Nachdem man den Totentanz freigelegt hatte, stellte sich heraus, daß er schon einmal übermalt worden war, und zwar, um den bis dahin wohl recht steif einherschreitenden Todesgestalten die Beine anzuwinkeln und damit im Bild eine deutlichere Tanzmotivik zu gestalten, wie sie etwa aus dem Lübeck-Revaler Gemälde bekannt ist, auf dem die Todesfiguren in geradezu grotesken Sprüngen dargestellt sind. Nach der Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert wurde das Denkmal rekonstruiert; diese Übermalungen wurden jedoch 1955-58 wieder entfernt, um die ursprüngliche spätmittelalterliche Malerei wieder sichtbar zu machen. Zur Zeit ist das Gemälde in einem relativ schlechten Zustand; große Teile des Farbauftrags und auch des Textes sind nicht mehr zu erkennen. So ist man auf Lesarten früheEinzeluntersuchungen
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Vgl. Sodmann (Ed.), S. 60. Kreuzigungsbilder gibt es auch noch in anderen Totentänzen, so im Lübecker Druck von 1520, im Berner Totentanz, in Klingental oder im Totentanz von Pinzolo, jedoch nicht als Zentrum der Komposition wie in Berlin. In einer Beschreibung der Marienkirche von 1729 wird erwähnt, daß der Totentanz mit Kalk übergestrichen worden war; vgl. Walther, S. 17. Vgl. ebd., S. 20.
Der Berliner Totentanz
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rer Wissenschaftler angewiesen, die den Text zu einem Zeitpunkt festhielten, als noch erheblich mehr davon zu sehen war. Das Entstehungsdatum des Berliner Totentanzes ist nicht bekannt; Walther spricht sich für die Zeit um 1490 aus.376 Eindeutig ist dagegen die Beziehung zu den Lübecker Totentänzen herausgearbeitet worden, denn im Berliner Totentanz tauchen mehr oder weniger deutliche Textzitate aus den Lübecker Werken auf; daneben gibt es besondere Übereinstimmungen des Figurenrepertoires. Einige der textlichen Gemeinsamkeiten sollen im folgenden dargestellt werden. Gleich eingangs des Berliner Totentanzes, in der dem Franziskaner auf der Kanzel zugeschriebenen Strophe, finden sich einige Verse, die auch im Dodendantz von 1520 auftauchen.377 Der Franziskaner sagt: Der Berliner Totentanz
bytterlyken sterven ys dy erste sanck dy ander alzo dy klokkenklanck. dy drudde van frunden syn vorgeten altydes dat svlle gy weten (V. 9-12).
Ähnlich spricht der Tod am Beschluß des Lübecker Druckes von 1520: Alsus heth de sanck, den ick meen: Bytterlyken sterven is de erste sanck, De ander is der klocken klanck, De drydde is: in korter stunden Werstu vorgetten van dynen frunden. (V. 400-404)
Aus dieser Stelle wird meines Erachtens auch die Richtung des Entlehnens deutlich: Der Berliner Totentanz verkürzt den zitierten Vers, der im Lübecker Druck syntaktisch etwas breiter und glatter ausgeführt ist. Wiederum an den Druck von 1520 erinnern die Worte des Arztes im Berliner Totentanz: Och almechtige god gef du my nu rath/ wente dat water is utermaten quat (V. 103f.). In Lübeck klagt der Arzt: Ach God, hir is gantz klene rath,/ Dyt water is vorware gantz quath (V. 146f.). Die Bezugnahme auf das Uringlas des Arztes ist allerdings in spätmittelalterlichen Totentänzen so stereotyp, daß diese Textstelle allein kaum als Beweis für eine Abhängigkeit dienen kann.
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Vgl. Walther, S. 21. Die Übereinstimmungen mit dem Lübecker Totentanzdruck von 1520 lassen sich – hält man etwa an Walthers Datierung auf ca. 1490 fest – nur erklären, wenn man eine frühere, nicht überlieferte Auflage des Lübecker Druckes oder eine gemeinsame, ebenfalls verlorengegangene Vorlage von Dodendantz und Berliner Totentanz ansetzt. Diese gemeinsame Vorlage halten sowohl Seelmann als auch Rosenfeld und auch noch Schulte für wahrscheinlich. Für Seelmanns (vgl. W. Seelmann: Der Berliner Totentanz. In: NdJb 21 [1895], S. 81-108, bes. S. 88f.) und Rosenfelds (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 206f.) Überlegungen spielt allerdings der nicht überlieferte Hamburger Totentanz eine große Rolle, so daß sie spekulativ bleiben. Rosenfeld geht soweit, vom „Hamburg-Berliner Totentanz“ zu sprechen (ebd., S. 212). Schulte weist darauf hin, es könne auch ein umgekehrtes Abhängigkeitsverhältnis vorliegen (also eine Textübernahme von Berlin nach Lübeck), die andere Lösung der gemeinsamen Vorlage hält sie jedoch für plausibler (vgl. Schulte, Totentänze, S. 206f.); siehe auch Walther, S. 23-27.
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Aus einem anderen Lübecker Totentanz, nämlich der Kirchenmalerei von 1463, stammen zum Teil die Worte des Todes an den Papst: Pawes erdescher vader volget my na vnde syet wu schone ik jw nu vor gha gy hebben in der stede gades ghestan dar vmme schole gy vor an den dantz gan (V. 169-172).
In Lübeck (bzw. hier im Revaler Teil) liest man ähnlich: Her pawes du byst hogest nu Dantse wy voer ik vñ du Al heuestu in godes stede staen Een erdesch vader ere vñ werdicheit vntfaen (V. 21-24).
Ebenfalls an den Totentanz in der Lübecker Marienkirche von 1463 gemahnen die Worte, die der Tod in Berlin an die Kaiserin richtet: gy muthen snel met my yn eyn ander lant (V. 210). In Lübeck taucht diese Wendung in den Worten des Todes an den Wucherer auf: Nu mustu int ander Lant (V. 267). Auch die Formulierungen, die in Zusammenhang mit dem Kaufmann gebraucht werden, sind in Lübeck und Berlin378 recht ähnlich. In beiden Totentänzen finden die widrigen Witterungsbedingungen Erwähnung, unter denen der Kaufmann arbeitet (Lübeck: Wind, Regen vñ Snee [V. 288]; Berlin: reghenwedder edder wynt [V. 290]); des weiteren klingt in der Berliner Klage des Kaufmanns doch is myne rekenschop noch gar unclar (V. 297) deutlich die entsprechende Stelle aus Lübeck 1463 an, wo es heißt Mine Rekenscop is nicht klar (V. 290). Wie an diesen ausgewählten Stellen deutlich wird, ist das Textmaterial des Berliner Totentanzes zum Teil von den Lübecker Werken inspiriert. Keine Anklänge an irgendeinen anderen Totentanz zeigt jedoch das Berliner Bild, weder was die Komposition angeht, noch was die Darstellungsweise betrifft. Zwar ist das Gemälde schlecht erhalten, doch ist noch erkennbar, daß die Todesfiguren äußerst „schablonenartig“379 angelegt sind; sie wirken steif und zeigen weder irgendeine „Mimik“ (wie in Lübeck) noch sonst irgendwelche Attribute oder Merkmale, die die einzelnen Leichengestalten voneinander unterscheiden.380 InsEinzeluntersuchungen
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Da sowohl Lübeck als auch Berlin im Spätmittelalter Handelszentren waren, durfte natürlich der Kaufmann in der Ständerevue nicht fehlen. Während es sich allerdings in Lübeck um einen Fernkaufmann handelt – hinter ihm ist die Travemündung mit verschiedenen (Handels)schiffen abgebildet, außerdem wird dies aus der Selbstbeschreibung des Kaufmanns deutlich, denn er erwähnt, daß er weite Reisen gemacht habe –, identifiziert Walther den Kaufmann im Berliner Totentanz als lokalen Kleinhändler (vgl. Walther, S. 55). Ebd., S. 26. Cosacchi ist der Meinung, daß hierdurch die Identität der Todesfiguren hervorgehoben werden soll: „Der Maler wollte also dadurch offenbar jenen Umstand andeuten, daß es sich tatsächlich immer um ein und dieselbe Todesgestalt handelt“ (Cosacchi, S. 663). Walther stellt ähnliche Überlegungen an, meint jedoch, daß der Text den Befund einer „allegorische[n] Auffassung der Todesgestalt“ (Walther, S. 33) nicht stütze, weil die Todesfiguren zwar als der Tod angesprochen würden, das Geschehen jedoch neben des dodes dantze (V. 207) auch als
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gesamt sind die Figuren des Berliner Bildes wenig detailliert ausgeführt. Walther ist der Ansicht, Gestus und Ausdruckswille des Berliner Totentanzes seien ganz eigenständig und ließen sich allenfalls mit dem Westfälischen Fragment vergleichen.381 Da dieses jedoch nur vier Figuren enthält, ist es nicht möglich, ausgedehntere Vergleiche anzustellen. Während beispielsweise Rosenfeld über den Maler ein recht abschätziges Urteil fällt,382 meint Walther differenzierter, daß das Schablonenhafte den Zeichencharakter des Bildes betone,383 und äußert die Vermutung, die immer gleiche Darstellung der Todesfigur leiste der Idee Vorschub, daß hier immer derselbe personifizierte Tod und nicht verschiedene Tote dargestellt seien.384 Der Text ist in diesem Punkt widersprüchlich. Zwar wird die Todesgestalt von den Ständevertretern immer wieder als dot angesprochen,385 und der Tod sagt auch mehrfach von sich selbst ik byn dy doet (V. 63, 74, 126), daneben gibt es die Benennung des dodes dantze (V. 207); doch ist auch vom dantze der doden (V. 122) die Rede. Weiterhin kommt die Bezeichnung dodendantz vor, die am häufigsten auftaucht (V. 186, 197, 233, 246). Ebenso wie unsere heutige pauschale Gattungsbezeichnung ‚Totentanz’ keine Differenzierung in dieser Hinsicht vornimmt, läßt sich aus diesen unterschiedlichen Benennungen wohl kaum eine Entscheidung darüber ableiten, ob in Berlin der Tod oder Tote dargestellt sind; davon abgesehen liefert diese Frage meines Erachtens hier auch keine weiterführenden Erkenntnisse und soll daher unbeantwortet bleiben. Der Berliner Totentanz
Ein weitaus signifikanteres und für das Verständnis des gesamten Totentanzes bedeutungsvolles Problem, das auch für die Behandlung der Text-BildBeziehungen eine Rolle spielt, ist die Komposition des Bildes mit der mittig angeordneten Kreuzigungsdarstellung. Diese Kreuzigung befindet sich auf einem Wandvorsprung und ist vom Maßstab her kleiner dargestellt; die Horizontlinie schließt nicht an das übrige Bild an. Links davon tanzen die geistlichen Ständevertreter darauf zu, rechts bewegen sich die weltlichen Ständevertreter davon weg; es sieht also aus, als führe der Reigen einheitlich und durchgehend nach rechts. Diese Richtung an sich ist schon ungewöhnlich, denn die meisten Totentänze führen nach links, was wohl mit der Ne-
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dantze der doden (V. 122) bezeichnet würde (ebd.); vgl. auch meine Bemerkungen zur Problematik Tod vs. Toter auf S. 49. Vgl. Walther, S. 26. Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 206. Vgl. Walther, S. 29: „In seinem formelhaften Stil war der Berliner Totentanz schon zur Zeit seiner Entstehung ein ‚kunstgeschichtlicher Anachronismus’. Seine eigentliche Bedeutung liegt gewiß nicht in der konkreten technischen Ausführung des Motivs, sondern in der kompositorischen Leistung des Künstlers [...].“ Vgl. ebd., S. 33. Interessant ist, daß der Tod vielfach mit positiven Attributen belegt wird: So wird er etwa als der leue dot angesprochen (z.B. V. 55), und einmal heißt es sogar Och gude doet geff my doch noch lengher frist/ wen du myn alder leueste kumpan bist (V. 67f.). Man hat den Eindruck, die Menschen wollten den Tod mit dieser geheuchelten Schmeichelei beeindrucken, auf daß er glimpflich mit ihnen verfahren möge.
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gativkonnotierung der linken Seite zusammenhängt.386 Zudem ist es befremdlich, daß sich die weltlichen Ständevertreter alle vom Kreuz wegbewegen (zudem führt ja nach dieser Abfolge widersinnigerweise der Narr den Reigen an!);387 eine pauschale Negativbewertung aller weltlichen Stände hierfür als Ursache ansehen zu wollen, wäre absurd und widerspricht auch dem Textbefund, der in Bezug auf die Bewertungen keine besondere Differenzierung zwischen säkularen und geistlichen Personen erkennen läßt. Diese von anderen Totentänzen abweichende Konzeption führte Rosenfeld zu der Ansicht: Einzeluntersuchungen
Wir sehen daraus, daß der Maler ein biederer Handwerksmeister ist und seiner Aufgabe, eine vorhandene Vorlage den besonderen Verhältnissen gemäß umzukomponieren, nicht gewachsen war.388
Hühns, der ebenso wie Rosenfeld davon ausgeht, daß das Kreuzigungsbild vor der Fertigung des Totentanzes vorhanden war und deshalb in diesen inkorporiert werden mußte, beurteilt die Ausführung dieser Idee allerdings gänzlich anders, denn er bezeichnet sie als einen „großen Wurf“389 und als „einzigartige künstlerische Lösung“.390 Hühns nimmt an, das Mittelbild habe zum schon früher in der Marienkirche bezeugten Sigismund-Altar gehört – der heilige Sigismund wurde übri386
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Es gibt, wie früher erwähnt, noch einige andere Totentänze, die ebenfalls nach rechts führen, so die Reigen auf den Gemälden von Beram, Hrastovlje und Clusone; vgl. hierzu Abschnitt 2.3.4. „Aspekte des Raumes“. – Als sehr gewagte Hypothese ließe sich formulieren, daß der Berliner Totentanz absichtsvoll nach rechts führt, um zu kennzeichnen, daß den Personen die Gnade Gottes zuteil wird, im Einklang mit der Präsenz des heilbringenden Christus am Kreuz. Diese Deutung läßt sich jedoch durch keinerlei weitere Belege stützen, so ist ja auch im Text nicht die Rede davon, daß die Menschen alle begnadigt würden; ganz im Gegenteil werden sowohl die Gnade als auch die Verdammung als Möglichkeit angesprochen und offen gehalten. In der Rechtsrichtung und der Führerschaft des Narren findet Hammerstein sogar einen Sinn: „Vielleicht soll hier auf besondere Weise die höllische Verkehrtheit des Tanzes betont werden. In dieselbe Richtung weist der Umstand, daß die Reihenfolge der weltlichen Stände verkehrt ist, indem die niederen den Zug anführen und die höchsten den Beschluß machen. In der Demonstration des ecce sunt novissimi qui erunt primi (Lk 13,30) – die Ersten werden die Letzten sein – war der eschatologische Sinn für den zeitgenössischen Betrachter augenfällig“ (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 68). – Daß die Rechtsrichtung – also gemessen an anderen Totentänzen, die verkehrte Richtung – eine besondere Darstellung der Verkehrtheit des Tanzes sein soll, ist allerdings schon ein Widerspruch in sich, denn die Linksrichtung in Totentänzen ist ja bereits eine Demonstration der Verkehrtheit: Links ist die „böse“, „falsche“ Richtung, während die „guten“, die himmlischen Tänze oder Engelsreigen nach rechts führen, wie Hammerstein selbst an anderer Stelle beschreibt (vgl. Hammerstein, Diabolus, S. 15-19 und 38-49, auch mit verschiedenen Hinweisen auf Totentänze); vgl. auch Anm. 206 und 212. Es ist natürlich auch möglich, die Richtung aus Sicht des gekreuzigten Christus aufzufassen; von ihm aus gesehen, tanzen die Menschen nach links – allerdings nur, wenn man einen linear verlaufenden Ketten- und keinen Kreisreigen voraussetzt (siehe die Ausführungen hierzu weiter unten); denn wenn die Menschen in einem Kreis tanzen, bewegt sich dieser aus jeder Sichtweise entweder links- oder rechtsherum, ganz gleich, ob von einem Außenstehenden oder einem im Mittelpunkt des Kreises befindlichen Betrachter aus gesehen. Rosenfeld, Totentanz, S. 206. Hühns, S. 241. Ebd.
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gens auch um Schutz vor Seuchen angerufen, was in den Kontext der Gattung ‚Totentanz’ mit ihren, wenn auch nicht beweisbaren, Verbindungen zu den Pestepidemien paßt – und wurde, als Kurfürst Friedrich II. die Gelder für den Altar abzog, „zur Verstärkung des Abwehrzaubers und um dem ungeliebten Herrscher einen Affront anzutun“,391 als Zentrum eines darum herum angelegten neuen Totentanzes verwendet. Hühns war es auch, der eine Lösung für das Dilemma der „verkehrten“ Richtung fand – indem er postulierte, die Darstellung des Reigens müsse als räumlich verstanden werden, als in einem Kreis um das Kreuz herumführend. Die Idee an sich hatte zwar schon Cosacchi gehabt;392 sie steht jedoch im Kontext seiner insgesamt recht abwegigen Interpretation des Berliner Totentanzes (siehe unten). Wenn man sich die Kreisreigen-Konzeption als geschlossenen Rundreigen vorstellt und konsequent zuende denkt, ergäbe auch das aufsteigende bzw. absteigende Reihungsprinzip der geistlichen und weltlichen Stände einen weiteren Sinn, denn es würden sich in diesem Fall der jeweils höchste geistliche und weltliche Ständevertreter die Hände reichen – also Papst und Kaiser – ebenso wie die jeweils niedrigsten Plätze in der Hierarchie einander zugeordnet wären (Küster und verlorene letzte Figur, wahrscheinlich Mutter und Kind). Alle Personen wären gleich weit vom Kreuz enfernt und würden es gewissermaßen anblicken; dies spiegelt sich in der häufigen textlichen Bezugnahme der Menschen auf Christus.393 Hühns versteht allerdings den dargestellten Reigen nicht als von sich aus geschlossen: Der Berliner Totentanz
Gemessenen Schrittes schreiten die Stände in Uhrzeigerrichtung um das Kreuz – vom Eingang in die Kirche die Westwand entlang und hinter der die abgeschrägte Nordwestecke füllenden Kreuzigung auf der Nordwand weiter, in Richtung Osten umbiegend. Der Reigen ist also nach einer Seite offen. Hier aber wird der Kreis durch die in ihrer Not Hilfe suchenden Gläubigen geschlossen.394
Die Wirklichkeit der Betrachtenden verschmilzt also gewissermaßen mit dem Gemälde, indem die Menschen, die sich den Totentanz anschauen, gleichsam in diesen mit hineingezogen, in ihn aufgenommen werden, was die beabsichtigte Wirkung des memento mori potenziert, indem der reale Vollzug des Geschehens das bloße Rezipieren desselben ersetzt. Trotz der Plausibilität der Kreisreigen-Annahme erklärt diese Hypothese lediglich die Anordnung der Figuren, nicht aber ihre Tanzrichtung. Denn auch mit einer nach links gerichteten Reihe wäre die Vorstellung eines räumlich verlaufen-
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Hühns, S. 241. Vgl. Cosacchi, S. 663. Einige Beispiele für die Anrufung Jesu: sunder help my nu jhesu marienn kynt (V. 48), ik rupe tho jhesu dat he mi berede (V. 96), o criste jhesu help my nhu dat ick genese (V. 264). Jesus wird von der großen Mehrheit aller Ständevertreter um Hilfe angerufen, von den geistlichen ebenso wie den weltlichen Figuren. Hühns, S. 241f., vgl. auch die Abbildung zum Berliner Totentanz auf der CD-ROM.
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den Reigens möglich gewesen.395 Vielleicht erschien es dem Künstler absurd, den Papst so weit weg vom Kreuz darzustellen (denn dieser hätte ja dann ganz links tanzen müssen); die Vorstellung des Kreises macht diesen Einwand aber eigentlich zunichte, denn es befinden sich schließlich alle Personen im selben Radius zum Kreuz. Außerdem hätte bei einer nach links gerichteten Konzeption der Papst den Reigen angeführt, wie dies in allen anderen Totentänzen der Fall ist. Kann zwar bei einem im Raum verlaufenden Kreisreigen niemand der Anführer sein, weil der Ring weder Anfang noch Ende hat, so muß doch die zweidimensionale Malerei mit einer Person anfangen, ebenso wie der Text. Dieser beginnt nun aber mit dem Küster; ihm wurde, entsprechend der Konzeption, die Anrede des Todes ik wil vor an den dantz met jw springhen (V. 15) zugewiesen. Daß sich auch beim Papst die Worte dar vmme schole gy vor an den dantz gan (V. 171) finden, spricht entweder für die gedankenlose Übernahme einer Vorlage, die konventionell gestaltet war (z.B. Lübeck 1463), oder man muß diese Worte, wie Hühns es tut, „im Sinne von Vorbild [...] und nicht räumlich“396 verstehen. Die Betrachtung der oben zitierten Worte des Todes an den Küster widerspricht eigentlich der dreidimensionalen Kreisreigen-Deutung, denn in dieser gibt es ja keinen Vortänzer. Es könnte sich um ein Zugeständnis an den zweidimensionalen Charakter der Malerei handeln, die die Räumlichkeit nur schwer wiederzugeben vermag und daher den Reigen mit einer bestimmten Person beginnen muß; desgleichen mögen diese Worte des Todes verwendet worden sein, weil es der in vielen Zügen stereotypen Gattung ‚Totentanz’ entspricht, den Text mit einer solchen Wendung anfangen zu lassen. Ebenso muß man jedoch in Betracht ziehen, daß die Deutung der beabsichtigten Dreidimensionalität eine in neuzeitlichem Verständnis an das alte Gemälde herangetragene Interpretation sein könnte, die einem mittelalterlichen Betrachter gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Ein weiteres Problem bleibt ungelöst, nämlich die Divergenz zwischen Leserichtung und Figurensequenz. Die Leserichtung muß in jedem Totentanz aufgrund der natürlichen Gegebenheiten des Lesevorgangs von links nach rechts verlaufen. Gleichzeitig müßte sinnvollerweise der Totentanz mit derjenigen Figur beginnen, die den Tanz anführt – folglich ergibt sich in einem „typischen“, linksgerichteten Totentanz ein Gegeneinander von Tanz- und Leserichtung; d.h. der Betrachter liest sozusagen den tanzenden Figuren entgegen, da sie sich auf den Beginn des Totentanzes, die linke Seite, zubewegen. In Berlin sind nun aber Tanz- und Leserichtung deckungsleich – dies führt mithin zu dem logischen Problem, daß man nicht dort anfängt zu lesen, wo der Tanz beginnt, bzw. nicht dort, wo er eigentlich von der Schrittführung her beginnen müßte, sondern dort, wo er endet. Der Maler schien diese Problematik nicht zu empfinden, denn der Text gibt ja eindeutig in der ersten Strophe vor, daß hier auch der Tanz beginnt: ik wil vor an den dantz met jw springhen (V. 15). Einzeluntersuchungen
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Hühns hat jedoch auch hierfür eine Erklärung, denn er meint, im Falle eines nach links führenden Reigens würde dieser aus der Kirche hinausweisen und die Vorstellung, daß die Betrachter mit einbezogen werden, erschwert (vgl. Hühns, S. 243). Ebd., S. 242, Anm. 27.
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Die Vorstellung eines Kreises löst das Problem nicht ganz: Nur wenn der Reigen nach links ausgerichtet wäre, könnte man das Dilemma beheben. So wie der Berliner Totentanz tatsächlich gestaltet ist, bleiben aber immer Divergenzen zwischen Sinngehalt, Sequenz und Richtung bestehen – ob der mittelalterliche Betrachter diese allerdings in irgendeiner Weise als störend empfunden hat, so wie wir es von unserer neuzeitlichen Warte her sehen, muß stark bezweifelt werden, denn der paränetischen Aussage, dem Hauptanliegen des Totentanzes, wird im Grunde durch diese Details kein Abbruch getan. Für die Kreishypothese spricht andererseits, daß die äußere Form des über eine Ecke laufenden Totentanzes sich in gewisser Weise schon einer Kreisform annähert; solch eine Raumaufteilung ist ja auch aus Lübeck bekannt, wo durch die umlaufende Anbringung des Bildes in der Beichtkapelle der Eindruck zustande kommt, der Reigen bewege sich um den Betrachter herum. Außerdem liefert die Annahme des Kreises immer noch die plausibelste Erklärung für die bildlichen Besonderheiten des Berliner Totentanzes. Man mag in Betracht ziehen, daß es vom modernen Standpunkt her gesehen ist und nicht den mittelalterlichen Gestaltungsprinzipien entspricht, die Konzeption bis ins kleinste Detail hinein stimmig und widerspruchslos machen zu wollen. Da wir nicht wissen, wie die spätmittelalterlichen monumentalen Totentänze zu ihrer Zeit von den Betrachtern rezipiert worden sind, bleibt es in diesem Bereich bei bloßer Spekulation unter einem sorgfältigen Abwägen von wahrscheinlichen oder weniger wahrscheinlichen Hypothesen, die aber keinesfalls zweifelsfrei zu beweisen sind. Der Berliner Totentanz
Eine ganz andere, allerdings höchst spekulative und in der späteren Forschung häufig kritisierte Deutung erfährt die Kreuzigungsszene bei Rosenfeld. Dieser nimmt als Vorbild des Berliner Totentanzes den ehemals in der Hamburger Maria-Magdalenenkirche angebrachten Totentanz an, von dem aber außer beiläufigen Erwähnungen nichts überliefert ist.397 Dem Berliner Maler habe ein Bilderbo397
Der Hamburger Totentanz befand sich in der 1807 abgerissenen Klosterkirche St. MarienMagdalenen. Das Kloster, zu dem sie gehörte, unterstand einem Franziskaner- oder Minoritenorden, was ins Bild paßt, da die Franziskaner auch in anderen Städten in Verbindung mit Totentänzen ins Blickfeld treten. Der Totentanz wird mehrfach in Urkunden in Form einer Ortsangabe erwähnt. Zum ersten Mal taucht er 1551 in einem Schriftstück des Leineweberamtes auf, wo auf eine ältere Urkunde, ausgestellt tho der Monnicken Tyden, Bezug genommen wird, in der dem Amt ein Platz zu einem Gestühl zugestanden wird achter in düsser Karken, an dem steinen Pyler vor dem Dodendanße. Erwähnungen solcher Art finden sich noch bis 1623; ab 1673 wird ein inzwischen erbauter Lector anstelle des Totentanzes als räumliche Angabe gebraucht (es bleibt etwas unklar, ob hier mit dem Begriff ‚Lector’ ein Lesepult gemeint ist oder der Lettner; das Wort ‚Lettner’, das heute die Querbühne zwischen Schiff und Kirche bezeichnet, hängt etymologisch mit ahd. ‚lector’/ ‚lectar’ bzw. mlat. ‚lectorium’ [Lesepult], aber aufgrund von Bedeutungsverschiebungen auch mit mlat. ‚lectionarium’ [Buch mit liturgischen Lesungen] zusammen. [vgl. Kluge, Etymologisches WB, Artikel ‚Lettner’, S. 516]). Eine letzte Erwähnung des Hamburger Totentanzes gibt es 1706, dies mag aber eine gedankenlose Übernahme einer älteren Beschreibung gewesen sein. Beneke schließt aus den vorhandenen Angaben, daß der Totentanz wohl mindestens bis 1623 existiert hat. Aus der überlieferten Anzahl bzw. den Maßen der Gräber, die sich vor dem Totentanz befunden ha-
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gen vorgelegen, der einen Totentanz nach Art des Lübeckers zeigte, wie er auch in der Maria-Magdalenenkirche vorhanden gewesen sei. Im Hamburger Totentanz habe jedoch die Kreuzigungsszene am Anfang gestanden, begleitet von den Worten Jesu Kamet al met my an den dodendantz (Berliner Totentanz, V. 186): [...] anstelle der Aufforderung des Todes zum Totentanz steht die Aufforderung des Heilands, und da die Totenprozession sich auf ihn zubewegte, steht er zugleich am Anfang und am Ende, als das A und O, und zugleich als Zeugnis, daß [...] der Tod zugleich Gewähr und Voraussetzung der Auferstehung ist. 398
Da das Kreuz nun in Berlin für die Mitte vorgegeben war, mußte der Maler eine Umgruppierung vornehmen, wobei er den Richtungsfehler beging – die Stände hätten nach Rosenfelds Meinung von beiden Seiten auf das Kreuz zutanzen müssen. Daraus resultiert Rosenfelds bereits erwähntes Urteil über den „biederen Handwerksmeister“, der hier eine „Ungeschicklichkeit“ beging.399 Rosenfeld kann den Bilderbogen, der dem Berliner Maler als Vorlage gedient haben soll, sogar genau beschreiben: Einzeluntersuchungen
Die Vorlage des Berliner Malers, der Hamburger Bilderbogen, aber hat sicherlich eine zweireihige Darstellung geboten, am Anfang den Prediger und den Inhalt seiner Predigt, den gekreuzigten Heiland, dann die Geistlichen, und in der unteren Reihe die weltlichen Stände, alle mit dem Blick zu dem Heiland, der willig war, Todesangst und Sündennot zu tilgen!400
Die Vorstellung eines Totentanzes, dessen Anfang eine Kreuzigungsszene bildet, ist an sich nicht abwegig (eine solche Konzeption findet sich auch beim Totentanz von Pinzolo und ähnlich in Bern),401 doch können Rosenfelds Überlegungen sich auf zu wenige Belege stützen und bleiben spekulativ. Eine etwas skurril anmutende Interpretation des Berliner Totentanzes mit seiner Richtungsproblematik gibt Cosacchi. Dieser geht von dem Vorhandensein von Nasen bei einigen Todesfiguren aus und erklärt diese Auffälligkeit folgendermaßen: Der Maler hat meist eine lebendige Figur als Modell benutzt, die sich anscheinend eine „Totenschädelmaske“ anlegte, wobei in den Augenlöchern die Augen hervorstachen und die Nase freilich nicht abgestumpft erscheinen konnte.402
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ben, leitet Beneke ferner her, daß der Totentanz „ziemlich groß, etwa 40-45 Fuß lang“ gewesen sei. „Es ist mithin zu schließen, daß der Gegenstand hier in ähnlich umfassender Weise wie auf dem Lübecker Bilde behandelt war. Höchst wahrscheinlich also war der Todtentanz ein großes Wandgemälde, welches die Westseite des Mittelschiffs bis zur Fensterhöhe schmückte“ (Beneke, S. 613). Rosenfeld, Totentanz, S. 212. Ebd., S. 205f. Ebd., S. 241. Der Totentanz von Pinzolo (1539) beginnt mit drei musizierenden Todesgestalten, nach denen ein Christus am Kreuz abgebildet ist, bevor der eigentliche Totentanz anfängt (vgl. Utzinger, S. 164f.); in Bern bildet eine Kreuzigung das dritte von vier einleitenden Bildern. Cosacchi, S. 663. – Cosacchi vernachlässigt die Tatsache, daß die Darstellung von Todesfiguren im Spätmittelalter keineswegs, wie heute bei uns üblich, in Form von vollständig skelettierten Figuren erfolgte. Vielmehr sind die Todesgestalten auf sehr vielen Abbildungen eher als mumienhaft zu beschreiben; sie können aus diesem Grunde auch Körperteile aufweisen,
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Dadurch werde der ganze Berliner Totentanz zu einer Volksmaskerade, die um eine Kirchhofs- oder einfach Kirchen-Kreuzszene und um den Prediger einen Tanzkreis, einen Zauberzirkel bildete.403
Auf diese Weise findet Cosacchi seine eigene Erklärungsmöglichkeit für die besondere räumliche Gestaltung des Berliner Totentanzes, die er des weiteren durch die Annahme zu stützen versucht, Christus tanze hier „seinen sieghaften Triumphtanz über den Tod“, wie dies auch aus den apokryphen Johannesakten bekannt sei.404 Cosacchi liefert jedoch keine Belege für seine Masken-Theorie; es scheint sich, ähnlich wie im Falle Rosenfelds, um reine Mutmaßungen zu handeln.405 Wie auch immer es sich mit dem Kreuzigungsbild verhält, ob es schon vor dem Totentanz vorhanden war oder erst zusammen mit ihm gemalt wurde – aus Sicht der heutigen Forschung hat die Kreuzesszene einen sinnvollen Platz im organischen Gefüge der Totentanz-Konzeption, indem sie die dem Genre inhärente Todesdrohung um die Hoffnung auf Erlösung bereichert und so eine positivere Perspektive schafft: Der Berliner Totentanz
[...] unabhängig von Gleichzeitigkeit oder Sukzessivität ihrer Entstehung nehmen das Mittelbild und die umlaufende Bilderfolge in Text und Bild aufeinander Bezug.406
Der Text spiegelt die Präsenz des Gekreuzigten in den bereits erwähnten, häufigen Anrufungen Jesu durch die Ständevertreter407 und gesellt sich so harmonisch zum Bild. Der Heiland wird offenbar als tatsächlich in corpore präsenter Mittel-
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die bei Skeletten nicht mehr vorhanden sind, wie Augen, Nasen oder Ohren oder auch Haare; vgl. auch Anm. 436. – Davon abgesehen darf man an spätmittelalterliche Darstellungen nicht das Kriterium anatomischer Genauigkeit herantragen. Cosacchi, S. 663. Ebd., S. 664. Cosacchi weitet seine Maskentanz-Hypothese noch auf andere Totentänze aus, ebenfalls ohne Belege zu liefern: „Ja, sogar Affenköpfe wurden statt Totenschädel gezeichnet, offenbar aus dem Grunde, weil diejenigen, die der Maler als ‚Todes-Gestalten’ oder ‚Toten-Gestalten’ [...] kennzeichnen wollte, solche Masken trugen. Sogar der vierzeilige oberdeutsche Todtentanztext nennt die ‚Toten’ einfach ‚Affen’, weil sie vermutlich ‚Herlekinspieler’ waren, die eine ‚Diablerie’ aufgeführt hatten und sich dabei Tierfelle um den Leib wickelten und Tierköpfe statt Herlekinkappen aufsetzten“ (ebd., S. 663). Wesentlich wahrscheinlicher ist meines Erachtens indes die Annahme, daß diese Charakterisierung der Totengestalten als „Affen“ einerseits mit der allgemeinen Pervertiertheit des Totentanzes im Einklang steht und andererseits durch die im Mittelalter verbreitete Auffassung des Teufels als simia dei zustandegekommen ist, vielleicht auch darauf rekurriert, daß die Leichengestalten im Totentanz die Lebenden nachäffen.. Möglicherweise dachte Cosacchi auch an den Totentanz von Kermaria (Bretagne), in dem Figuren mit Tierköpfen vorkommen. Hammerstein glaubt, diese knüpften an Teufelssymbolik an (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 165). Walther, S. 58. Anrufungen Jesu bzw. Gottes gibt es allerdings zahlreich auch in anderen Totentänzen; so wenden sich z.B. in der Inkunabel von 1489 sehr viele Ständevertreter an Gott, Christus, Maria oder die Heiligen: Got vorbarme di over mi, miserere mei,/ Maria de helpe mi unde ok de gracia dei (V. 145f.), Berat Got unde alle mine hilgen patronen (V. 189), Deus meus, Got vorbarme di over mi to desser stunt (V. 279), Helpet gi hilgen dre koninge (V. 407), O domine Jesu adjuva me (V. 472).
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Einzeluntersuchungen
punkt des Reigens gedacht – was nach mittelalterlichen künstlerischen Gesichtspunkten nicht als anachronistische Unmöglichkeit empfunden wurde.408 Ist schon das Bild für sich genommen aufgrund seiner Eigenheiten ein besonders interessantes Untersuchungsobjekt, so sollen im folgenden die Beziehungen zwischen Text und Bild in den Blick genommen werden, die im Berliner Totentanz sehr zahlreich sind und daher – stärker als in einigen anderen Totentänzen – die Zusammengehörigkeit der beiden Medien betonen. Am Beginn des Totentanzes befindet sich der predigende Franziskaner auf der Kanzel. Dessen erhobene Hand kann sowohl als Segensgeste als auch als Hinweis, als Zeigegestus auf den Tanz verstanden werden, also quasi wie ein „Bildzeichen für die verbale Hinwendung zum Reigen“.409 Leider sind die dem Franziskaner beigegebenen Worte nur sehr unvollständig erhalten, so daß nicht entschieden werden kann, ob sie diese Deutung des Bildes unterstützen. Jedoch sind die beiden ersten Verse – die nicht der Prediger selbst spricht – schon ein Hinweis auf das Bild, indem sie eine Erklärung dafür abgeben, was hier am Anfang des Bildes zu sehen ist: Hyr steet dy bruder van sunte franciscus orden uppe eyneme predickstul unde seeth: [...]. Der Beginn des Satzes mit dem Wort hyr erinnert dabei im allgemeinen an mittelalterliche Bildunterschriften in Manuskripten und Drucken, in denen erklärt ist, was man auf dem Bild sieht. Das vom Franziskaner mehrfach gebrauchte Wort gy ist dabei als kollektive Anrede zu verstehen, die sich nicht nur an die im Bild gezeigten Personen richtet, sondern vor allem auch an die Gläubigen, die den Totentanz anschauen; sie werden durch dieses Ansprechen und auch durch das betrachtende Abschreiten des Reigens gleichsam in ihn aufgenommen, wie es auch Hühns in seiner KreisHypothese postuliert hatte. Zugleich verweist das Vorhandensein des Franziskaners auf der Kanzel auf die Eigenschaft des Totentanzes, bimediale, in Wort und Einzeluntersuchungen
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Man denke nur an die zahlreichen mittelalterlichen Gemälde, auf denen die Stifter oder Auftraggeber in biblische oder sonstige religiöse Szenen integriert wurden, so daß es zu einer unmittelbaren Verquickung von Gegenwart, eigener Wirklichkeit und – nicht vergangenem! – sondern ewig gültigem Heilsgeschehen kommt. Die Vorgänge der Heilsgeschichte sind nicht als abgeschlossen zu betrachten, sondern sie vollziehen sich im Zyklus des Kirchenjahres jederzeit erneut; so ist auch die Kreuzigung Christi einerseits geschichtliches Ereignis, andererseits aber immer präsentes und jeweils neu zu aktualisierendes Geschehen, das demzufolge auch an jedem Karfreitag wieder als wirklich begriffen wird, wie auch die Osterspiele die Auferstehung stets als lebendiges Ereignis erneut nach- und mitvollziehen. Dies beschreibt Binski folgendermaßen: „Christianity, though premised upon a teleological notion of salvation and time, is fundamentally a religion of cyclical repetition and collection; the religious year is divided according to this cycle, and at the centre of religious worship lay the regular commemoration, at Mass, of Christ’s sacrifice and, in the temporal calendar of the year, the lives of the saints“ (Paul Binski: Medieval Death. Ritual and Representation. London 1996, S. 125).– So kann auch der Totentanz die Wirklichkeit der dargestellten Menschen (die für den Betrachter auch als eigene Wirklichkeit zu verstehen ist) mit der Heilsgeschichte, veranschaulicht durch den gekreuzigten Christus, verbinden; Christus kann zu den sterbenden Menschen sprechen, und sie können ihre Blicke zu ihm wenden und seine direkte Hilfe erflehen. Walther, S. 38.
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Schrift festgehaltene Bußpredigt zu sein, wie dies auch in Reval und Pinzolo zu sehen ist – die Anfänge dieser drei Totentänze sind bildlich ähnlich gestaltet.410 Auf die am Fuße der Kanzel befindlichen, monsterartig anmutenden Gestalten, deren eine die sonst vom Tod ausgeführte Aufgabe des Dudelsack-Spielmanns übernimmt, erfolgt kein textlicher Hinweis. Hammerstein ist der Ansicht, diese „Mischgestalt[en] aus Teufel und Tod“ seien ein Beweis für die „höllische Provenienz“ der Totentanzvorstellung und Todesmusik.411 Rosenfeld hält die Monstren sogar ganz für Teufel; gemäß seinem auch sonst abwertenden Urteil spricht er vom „Dudelsackbläser, den freilich der verständnislose Maler nicht als Tod, sondern als Teufel gezeichnet hat“.412 Walther weist jedoch richtig darauf hin, daß sich teuflische Elemente von der Darstellung selbst nicht ableiten lassen, und spricht seinerseits von „Lemuren“.413 In jedem Fall gehören diese Figuren aber in die teuflische oder höllische Sphäre, die allgemein in Totentänzen durch verschiedene, nicht nur ikonographische Aspekte immer wieder implizit oder explizit zum Tragen kommt. Verweisen Text und Bild am Beginn des Totentanzes also quasi auf sich selbst, so offenbaren die beiden Medien auch im übrigen Werk ihre Zusammengehörigkeit, indem sie im gegenseitigen Bezug aufeinander in der Formulierung und Konkretisierung des Inhalts zusammenwirken.Vor allem bei der Charakterisierung der menschlichen Figuren mit ihren standestypischen Attributen finden sich zahlreiche Korrespondenzen zwischen Text und Bild. Zum Küster sagt der Tod: Ik wil vor an den dantz met jw springhen/ dat jw de slotelle alle scholen klynghen (V. 15f.). Das Schlüsselbund des Küsters ist dabei deutlich im Bild zu erkennen; allerdings reflektiert das weitgehend statische Gemälde in keiner Weise die in diesen Worten anklingende Bewegung und Dynamik. Ebenso zeigt die Malerei keine Entsprechung zum in der Strophe erwähnten tidebuck (V. 17). Gleiches gilt für den Offizial, bei dem auch die Rede vom tidebuck (V. 38) ist, das jedoch im Bild fehlt. – Weitgehend stereotyp ist die Darstellung des Arztes; die Bezugnahme auf das Uringlas (legget wech dat glaß, V. 101), das auch auf dem Bild zu sehen ist, findet sich in den meisten Darstellungen von mittelalterlichen Ärzten und ist keineswegs nur auf Totentänze beschränkt.414 – Der Berliner Totentanz
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Vgl. die entsprechenden Abbildungen auf der CD-ROM. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 68. Rosenfeld, Totentanz, S. 206. Auch Cosacchi bezeichnet die Ungestalten als Teufel (vgl. Cosacchi, S. 662). Walther, S. 38. Lemuren waren nach altrömischem Glauben Totengeister: „Die am weitesten verbreitete [...] Deutung [des römischen Staatsfestes mit diesem Namen] leitete Lemuria von einem Gattungsbegriff lemures ab, der die als Gespenster nächtlich umherschweifenden Geister der Verstorbenen [...] bezeichnet habe“ (Georg Wissowa, Artikel ‚Lemuria’. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. 24. Halbband. Neue Bearbeitung begonnen von Georg Wissowa, hg. von Wilhelm Kroll. Stuttgart: Metzler 1925, Sp. 19311933, hier Sp. 1932). Der Wortgebrauch gemahnt ein wenig an Rosenfelds GräbertanzHypothese (vgl. Abschnitt 2.3.3.). Plausibler erscheint mir jedoch eine Deutung, die diese Figuren der Teufelssphäre zuordnet. Siehe hierzu Block [wie Anm. 275].
Einzeluntersuchungen
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Die charakteristische Kopfbedeckung des Domherrn wird auch vom Tod angesprochen: legghet myt hulde neder dat byreydeken rot (V. 125). Auch bei den weltlichen Ständevertretern wird auf typische Kleidungsstücke oder bestimmte Attribute Bezug genommen; so erwähnt der Tod das gulden stukke (V. 217), das goldene Gewand des Königs, oder den Harnisch des Ritters (Her ritter med juweme krewete stolt, V. 241). Den Wucherer spricht der Tod an: Her wukerer med jwen blawen sacke (V. 265). Der Geldbeutel darf natürlich beim Wucherer nicht fehlen; er ist – wie viele der Attribute der anderen Personen – stereotyp und gehört zur Darstellung des Standes dazu. Somit sind solche Fälle von Text-Bild-Beziehungen weder eine originelle Schöpfung der Künstler noch ein Zeichen für besondere Korrespondenz zwischen Bild und Text; vielmehr ist es zu erwarten, daß der Wucherer einen Geldbeutel besitzt, ob er nun deutlich gezeigt bzw. erwähnt wird oder nicht. Andererseits ist die Bezugnahme im Berliner Totentanz explizit auf das Bild ausgerichtet, da ja auch die Farbe des Beutels erwähnt wird. Verläßt man sich auf den Text, so muß das Gemälde beim Jüngling einmal einen Habicht als Beigabe gezeigt haben, denn der Tod adressiert ihn: Her juncker med jwen haweke fyn (V. 277). Zu diesem Fall bemerkt Walther kritisch: Einzeluntersuchungen
Allerdings kam der Vogel erst bei der „Ent-Restaurierung“ 1955-58 zum Vorschein. Inwieweit die Freilegung des Habichts womöglich der verständlichen Willensanstrengung geschuldet war, den Widerspruch von Bild und Text aufzulösen, läßt sich anhand der heute noch vorhandenen Farbreste kaum sagen. Vor Ort muß man jedenfalls feststellen, daß die aufgehellte Kontur, die wahrscheinlich durch ein Zuviel an Bindemitteln bei der spätmittelalterlichen Bemalung entstanden ist, zwar die umliegenden Partien umfaßt, nicht aber den vermeintlichen Habicht.415
Es gibt auch Fälle, in denen die Art, wie der Tod den Ständevertreter bei der Anrede beschreibt, keineswegs mit der bildlichen Darstellung übereinstimmt. So wird der Bauer ohne jede Beigabe abgebildet, obwohl der Tod zu ihm sagt: Legghe dal dat pluchschar unde prekel (V. 317). Man mag diesen Satz vielleicht im metaphorischen Sinne verstehen – das Niederlegen des täglichen Arbeitsgeräts ist gleichbedeutend mit dem Sterben. Im übrigen wäre es wohl ein Fehler, völlige Deckungsgleichheit von Bild und Text erwarten zu wollen. Die Charakterisierung des Bauern im Text reicht aus, um die standestypischen Elemente, von denen die adäquate Identifikation der Figur von seiten des Rezipienten abhängt, zu etablieren; sie muß sich nicht unbedingt wirklichkeitsgetreu auch im Bild spiegeln. In den Fällen, wo sowohl im Bild als auch im Text bestimmte Attribute gezeigt bzw. beschrieben werden, ist jedoch keineswegs eines von beiden als überflüssig zu werten. So meint Walther zusammenfassend über die Verwendung von Beigaben zu den menschlichen Figuren: [...] erst der außertextliche Bezug läßt im scheinbar Zufälligen das Pendant eines bildlichen Ausdrucks erkennen. Was im Bild ohnehin schon zu sehen ist, wird im Text zusätzlich beschrieben; erscheint dies in Bezug auf die Wahrnehmung des Gegenstands als redundant, hat es
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Walther, S. 54.
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doch eine Funktion im Wechselspiel der beiden Medien Schrift und Bild. Beide werden an den genannten Stellen unmittelbar als zusammengehörig erkennbar.416
Neben der Verwendung von Attributen – also der Referentialisierung von im Text genannten Gegenständen durch deren Erscheinen im Bild – korrespondieren Text und Bild im Berliner Totentanz bisweilen auch im Hinblick auf die Art, wie die menschlichen Figuren auf den Aufruf zum Sterben reagieren. So gibt es Fälle, in denen der Mensch in seinen Worten deutlich sein Widerstreben zum Ausdruck bringt und dies auch mit seiner Haltung und Gestik unterstreicht. Ein Beispiel ist etwa der Mönch, dessen abwehrend erhobene Hände zu seinem Ausruf Och gode gheselle taste my nicht an (V. 115) passen. Auf der anderen Seite gibt es Figuren, die dem Tod fügsam die Hand reichen, wie beispielsweise der Kaiser, der im Einklang hiermit resignativ sagt ik muth steruen des dodes ed ys neyn spoth (V. 200). Allerdings muß beachtet werden, daß die Figuren des Berliner Totentanzes allgemein eher unbeweglich und stereotyp gemalt sind, weswegen man Nuancen der Haltung nicht überbewerten sollte. Diese steife, hölzerne Haltung der Menschen, besonders aber der Todesfiguren, führt mitunter gar zu einer gewissen Diskrepanz zwischen Bild und Text, denn auf der Textebene ist die Tanzmotivik deutlich vorhanden. Einige Beispiele seien im folgenden genannt: ik wil vor an den dantz met jw springhen (V. 15), sagt der Tod zu Beginn des Reigens, obwohl die entsprechende Todesgestalt, der diese Verse zugeordnet sind, höchstens in der Schrittstellung der Füße eine leichte Bewegung aufweist. Ebenso gehen (meist auffordernd vom Tod gesprochene) Verse wie [...] seet wu wol ik iw vordantzen kan (V. 102), sprynghet up ik wyl jw vore synghen (V. 305) und überhaupt die zahlreichen Erwähnungen des Wortes dantzen oder dantz/ dodendantz (z.B. V. 112, 122, 162, 172, 197, 233 u.ö.) nicht mit der entsprechenden bildlichen Wiedergabe dieser Bewegung einher. Das eher gravitätische Schreiten der Figuren scheint sich dagegen in der Wendung dantz der druffheit (V. 201), was an eine Trauerprozession denken läßt, zu spiegeln. Das bereits angesprochene, nachträgliche Anwinkeln der Beine der Todsesgestalten mag durchaus geschehen sein, um dieser Diskrepanz entgegenzuwirken.417 Der Berliner Totentanz
Aus den vorangegangenen Betrachtungen wird deutlich, daß im Berliner Totentanz Bild und Text an vielen Stellen deutlich aufeinander Bezug nehmen. Von einem bloßen akkumulativen „Nebeneinanderher-Existieren“ von Bild und Text, wie Dirscherl es pauschalisierend für das gesamte Mittelalter annimmt,418 kann daher nicht die Rede sein. Vielmehr gehen Text und Bild eine Verbindung ein, die in ihrer „Zweisamkeit“ besonders nachdrücklich den Betrachter anspricht und
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Walther, S. 34. Zu bedenken ist allgemein bei der Untersuchung von Tanzmotivik in Totentänzen, daß es meist die Todesfiguren sind, die sich dynamisch bewegen. Die Menschen sind fast immer steif und statisch, was deren Widerstreben ausdrücken soll, bei diesem Tanz mitzuwirken. Insofern sind die recht statischen Todesfiguren des Berliner Totentanzbildes etwas untypisch. Vgl. Dirscherl, Elemente, S. 17; siehe auch Abschnitt 4.2. „Gegenseitige Bezugnahme und Zusammenwirken von Text und Bild“.
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Einzeluntersuchungen
sich in dessen Gedächtnis einprägt, indem Sachverhalte in beiden Medien übereinstimmend ausgedrückt werden. Einzeluntersuchungen
3.1.5. Der Prosa-Totentanz in Hermann Botes „Hannoverscher Weltchronik“ Einen interessanten Einzelfall stellt der Prosa-Totentanz in der um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert entstandenen mittelniederdeutschen sogenannten „Hannoverschen Weltchronik“ des Hermann Bote dar. Der Totentanz befindet sich in den Anhängen der Chronik vor der Beschreibung der 15 Zeichen des Jüngsten Gerichts und ist damit in einen heilsgeschichtlichen Kontext gestellt und dem Ende aller Zeiten zugeordnet. Damit kann man ihn in einen Zusammenhang mit der in der Schedelschen Weltchronik an ähnlicher Stelle auftauchenden Abbildung tanzender Toter setzen.419 Nach den in Abschnitt 2.3.1. genannten Gattungskriterien handelt es sich bei diesem Text genaugenommen zwar nicht um einen Totentanz im engeren Sinne, 419
Auch die Abbildung bei Schedel (siehe CD-ROM, „Verschiedene mittelniederdeutsche Totentänze“) wurde und wird gelegentlich als Totentanz bezeichnet; meines Erachtens ist jedoch hier eine Begriffsdifferenzierung vonnöten. Das Bild erfüllt keineswegs die notwendigen Gattungskriterien, die die Benennung als Totentanz rechtfertigen: Es handelt sich um eine Abbildung ohne irgendwelche Verbindung zu einem beigegebenen Text, der sich als Totentanz verstehen ließe (in der deutschen Fassung findet sich überhaupt keine Bildüber- oder unterschrift; in der lateinischen Fassung stehen über dem Holzschnitt lediglich die unscharfen Worte imago mortis); außerdem kommen keine Menschen vor, und damit gibt es natürlich auch kein Agieren zwischen Tod und Ständevertreter. Allerdings ist mit der Flöte ein musikalisches Element gegeben, das auch den Zwang zum Tanz auszudrücken scheint; ganz gegen ihren Willen müssen die Leichen aus ihren Gräbern zum Tanz auferstehen. Der Tote in der Mitte ist in das Leichentuch verschlungen, das sich auch um die linke Figur wickelt; er kann so gar nicht anders als sich zu erheben. – Die Chronik selbst identifiziert den Bildinhalt als Darstellung der zum Weltgericht auferstehenden Toten. Der Holzschnitt befindet sich innerhalb der Abhandlung über die Weltzeitalter am Ende des Das sibend alter. Von dem todt vnd endschaft der ding überschriebenen Abschnitts; im darauf folgenden Kapitel Das letst alter. Von dem iungsten gericht vnnd ende der werlt heißt es: Am aylften [Tag] die gepayne der todten auffersteen vnd auff den grebern steen: Dies stellt der Holzschnitt offensichtlich dar. – Auch Kiening hält es für möglich, daß die Abbildung mit dem elften Zeichen des Jüngsten Gerichts, dem Aufstehen der Toten aus den Gräbern (welches nicht mit der endgültigen leiblichen Auferstehung des 15. Zeichens zu verwechseln ist!), in Verbindung gebracht werden kann. Er stellt jedoch andererseits kritisch heraus: „Die Toten, die sich in illustrierten Fassungen der Fünfzehn Zeichen aus den Gräbern erheben, formieren sich zu keinem wie auch immer gearteten Tanz. Die des Totentanzes wiederum erscheinen nirgendwo als auferstehende Kadaver“ (Kiening, Das andere Selbst, S. 55). Möglicherweise bestand an einer „präzisen Fixierung von Art und Charakter der lebendig gewordenen Toten“ (ebd., S. 53) kein Interesse, so daß – wie auch in manchen Totentanz-Bildern – in der Schwebe bleibt, was für eine Art von Todesgestalten nun eigentlich dargestellt sein soll: „Uneindeutigkeiten spielten eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung des Totentanzmodells“ (ebd., S. 56); siehe hierzu auch Kiening, Ambivalenzen. Auch Spreitzer stellt fest, daß der Totentanz sich in einem „ambivalente[n] Spannungsfeld“ (S. 186) befindet.
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da nur die Verse des Todes vorhanden sind und die Menschen nicht zu Wort kommen, es zudem keine Abbildung des Reigens gibt; weil jedoch eine Gliederung in Stände vorgenommen und auch die Tanzmotivik im Text stark betont wird, führe ich das Werk hier als Beispiel des Genres ‚Totentanz’ an.420 Die einzelnen Ansprachen des Todes an die Ständevertreter sind untereinander aufgeführt, darüber steht jeweils de doet, und daneben am Seitenrand befindet sich ein Kreis mit der Ständebezeichnung des angeredeten Menschen darin. Der Totentanz enthält nur eine einzige Illustration, und zwar eine Todesfigur, die sich in dem Kreis befindet, der neben der Schlußrede des Todes steht, die allmählich zu den Anzeichen für das Jüngste Gericht überleitet. Totentanz und folgender Text gehen so sinnfällig ineinander über. Auffällig ist, daß der Text – obwohl nicht als Unterschrift zu einem Totentanzbild konzipiert – die Tanzmotivik sehr oft verwendet. Entsprechende Wendungen finden sich nahezu bei jedem Ständevertreter.421 Dieser Schwerpunkt auf dem Tanzmotiv veranlaßte Borchling zu der Feststellung, es spräche nichts dagegen, daß die Dichtung „nicht ursprünglich als Text zu einer bildlichen Darstellung des Totentanzes entstanden sein sollte“.422 Der Ausdruck alle de vvnder dusse vorbeschreuen staten besete(n) syn (Z. 399f.)423 am Ende des Totentanzes ist nach Borchlings Meinung kein Gegengrund. Schon Borchling wies auch auf die Beziehung von Botes Prosawerk zu den Lübecker Totentänzen hin und machte dies an Gemeinsamkeiten des Figureninventars mit der Inkunabel Des dodes dantz von 1489 fest: „In der Anordnung der Personen zeigt unsere Prosa grosse Aehnlichkeit mit den Lübecker Totentänzen, besonders dem Druck von 1489.“424 Was das Textmaterial betrifft, so ist der Prosa-Totentanz nur in den Reden des Todes an die Ständevertreter relativ eigenständig. Es lassen sich jedoch in den übrigen Teilen deutliche Anklänge an Des dodes dantz finden. Eine lediglich entfernte Reminiszenz an die Jungfrau im Totentanz von 1489 mag es sein, wenn der Tod ihre Tanzlust herausstellt: du weyst dach vele to dansen (Z. 349f.). Dieser Hinweis auf die Tanzmotivik ist jedoch insbesondere bei den Personen, deren Weltverfallenheit gegeißelt wird – hierzu gehören oft die Frauen und auch die jungen Männer –, in den meisten Totentänzen stereotyp. Ähnlich verhält es sich mit dem Hinweis auf die Pfründe des Kanonikers; im Prosa-Totentanz heißt es de vette(n) prouen helppet nicht (Z. 254f.), während in Des dodes dantz der KanoniHermann Botes Totentanz
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Würde man die Gattungskriterien derart streng anwenden, gäbe es auch Probleme bei der Kategorisierung der frühen Form des oberdeutschen Totentanzes, die ebenfalls monologisch ist und zumindest in den überlieferten Handschriften ohne Bildbeigabe auftaucht (vgl. Abschnitt 3.3.). Einige Beispiele für die dominante Tanzmotivik seien hier angeführt. Kardinal: du most hyr mydde anden danß (Z. 186f.); Herzog: Danse vort (Z. 210); Abt: du most mydde dansen den reygen (Z. 218-220); Begine: Rek her dyne hant [...] vvnd(e) danse vort (Z. 316f.); Knecht: gha her vvn(de) danse mede (Z. 374f.). Borchling, S. 27. Der Totentanz wird nach Worms Edition der Anhänge zitiert; ich übernehme daher auch Worms Zeilen-Zählung. Borchling, S. 26.
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ker sagt Mine provene hebbe ik ôk noch nicht lange gehat (V. 650). Solche Wendungen sind zu oft in ähnlichen Formen überliefert, um als Beweis für ein unmittelbares Zitat gelten zu können. Es gibt allerdings noch andere Fälle, in denen der Dichter des ProsaTotentanzes in der Tat Des dodes dantz wörtlich zitiert. Um ein eindeutiges Zitat handelt es sich bei den unter der Abbildung des Todes mit roter Tinte geschriebenen Worten O Mynsche, dencke wur du bist hergekomen bist vvn(de) wat du nu bist vvnd(e) wat du werden schast in korter tyt! (Z. 406-410). Diese Wendung kommt in der Inkunabel von 1489 gleich zweimal vor. Auf der Titelseite unter dem Holzschnitt des Todes mit dem Grabscheit heißt es in geringfügig anderer Formulierung: O mynsche dencke wor du bist her ghekom v wattu nu byst. v wat du schalt werden in korter vryst; und die Verse 1629f. lauten wiederum Bedenke, wôr du bist hêrgekomen unde wattu nu bist,/ Unde wattu werden scolt in korter vrist. Bei Hermann Bote tauchen die Worte also in ähnlich exponierter Stellung auf wie in Des dodes dantz; für die Umformung in Prosa wurde das Reimwort vryst in tyt geändert. Des weiteren ist die in der Schlußrede des Todes vorkommende Formulierung ick kome sliken also ey(n) deyff (V. 408f.) interessant, denn diese Worte finden sich ebenso im Druck von 1489, wiederum zweimal. Die Verse 143f. lauten Hîrumme waket, went de dôt sendet ju nenen brêf;/ He kumt sliken recht so ein dêf; im Schlußabschnitt heißt es noch einmal ähnlich Wente de dôt sendet ju nenen brêf;/ He kumt sliken recht so ein dêf (V. 1661f.). Dieser Vers ist allerdings auch keine eigene Erfindung des Verfassers der Inkunabel, sondern er wurde aus dem mittelniederdeutschen ‚Zwiegespräch des Lebens mit dem Tode’ (1484) übernommen.425 Die Formulierung kommt wieder vor im Druck Dodendantz von 1520 und noch in weiteren niederdeutschen Drucken; sie scheint sich in ihrer Prägnanz zu einer Art „geflügeltem Wort“ entwickelt zu haben und lag also auch Hermann Bote vor; möglicherweise war sie ihm nicht nur aus Des dodes dantz bekannt.426 Schulte weist auf weitere Übereinstimmungen zwischen Botes Text und dem Lübecker Druck hin, die zuvor übersehen worden waren, weil nur der eigentliche Totentanz und nicht der weitere Zusammenhang innerhalb der Weltchronik beEinzeluntersuchungen
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In diesem Text heißt es: De dod sendet jw nenen breff,/ Men he kummet slikende alse eyn deff (V. 63f.). Aus diesem Zwiegespräch übernimmt die Inkunabel noch weitere Verse, nämlich die Wendung Ik wil dy uppe de erden strecken/ Vnde eynnen vot lengher recken (Zwiegespräch, V. 55f.); im Druck von 1489 taucht diese Formulierung des Todes in den Versen 269f. sowie 1607f. auf (vgl. auch Anm. 189 und 353). Der Vers erinnert zudem an eine Stelle aus dem Lübecker Totentanz von 1463: In der Nacht der Deue Gank/ Slikende is min Ummewank (V. 373f.); vgl. zu diesem Motiv auch Freytag (1993), S. 322-326, mit vielen weiteren Belegstellen. Das Bild vom Tod als Dieb in der Nacht ist wohl durch die Bibel inspiriert, wo mithilfe eines ähnlichen Vergleichs zur Wachsamkeit auf das Kommen des Herrn gemahnt wird, so in 1 Thess 5,2: Ipsi enim diligenter scitis quia dies Domini, sicut fur in nocte, ita veniet, ebenso Mt 24,42-43: Vigilate ergo, quia nescitis qua hora Dominus vester venturus sit. Illud autem scitote, quoniam si sciret paterfamilias qua hora fur venturus esset, vigilaret utique.
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achtet worden waren.427 So tauchen einige Verse aus dem 65. Kapitel des Lübekker Totentanzes von 1489 in leicht veränderter Form bei Bote in der dem Totentanz folgenden Beschreibung des Jüngsten Gerichts wieder auf. Die Korrespondenzen gehen allerdings noch um einiges weiter, als Schulte es angibt. So finden sich nicht nur die von ihr herausgestellten Verse 1574-1576 bei Bote wieder, sondern das Zitat erstreckt sich über die gesamte Schilderung der Taten und Worte des Hieronymus. Im Lübecker Druck heißt es: Wente men lest van sunte Jeronimus dem groten hilgen, He dede den willen Godes mit vlite unde ôk gans willigen; Bi sinen dagen was nemant, de so strenge unde hillichliken levede, Jodoch eme alle tît gruwede, zetterde unde he bevede, So wan he overdachte dat gerichte, den jungesten dach. He schrift sulven: ik ete, ik drinke efte wat ik dôn mach, Alle tît hore ik des gerichtes basunen, des, dunket mi, Dede alsus lût: stât up, gi doden, unde sumet nicht, Komet alle to der rekenschop vor dat rechte gericht. (V. 1567-1576)
Ganz ähnlich liest man bei Bote:
Hermann Botes Totentanz
wente me lest van Sunte Ieronymuß, de vorde ey(n) strengk, hilich leuent. iodoch so entsetterde de vvnd(e) gruwe de ome alle tyt, so wan he ouerdachte dat strenge richte, den iungesten dach. he sprack vvnd(e) secht in synen schrifte(n): ik ethe, ick drincke, ik slape, ick wake, ick lese, ick schriue, alle tydt duncket my, dat ik hore deß richterß besunen, dede alduß luden: stat vvp, gy doden vvnd(e) sumet nicht vvnd(e) komet alle to der rekenschop vor dat strenge richte godeß! (Z. 422-429)
Das Bibelzitat aus Sirach 41,1 O mors quam amara est memoria tua homini pacem habenti in substantiis suis, das den Lübecker Druck von 1489 abschließt, findet sich – an gleicher Stelle und somit in ähnlicher Funktion – am Schluß von Botes Darstellung zum Jüngsten Gericht (Z. 483f.), und somit vielleicht auch am Ende der gesamten Weltchronik. So ist zusammenfassend festzustellen, daß „Bote seine Vorlage zu zwei neuen Texten, nämlich einem Prosa-Totentanz und der Schrift zum jüngsten Gericht verarbeitet“.428 Ist aufgrund der verwendeten Zitate also erwiesen, daß Botes Prosa-Totentanz von der übrigen mittelniederdeutschen Totentanz-Überlieferung trotz seiner relativen Eigenständigkeit keineswegs unabhängig ist, so bleibt nach wie vor ungeklärt, warum Bote eine monologische Prosa-Fassung erarbeitete, die nur den Tod sprechen läßt. Etwaige einleitende Vorbemerkungen in der Chronik selbst, die vielleicht Aufschluß geben könnten, sind nicht überliefert, denn der Beginn des Totentanzes ist verloren gegangen. Bräuer versucht, eine Lösung dieses Problems anzubieten. Er kritisiert Schultes Interpretation von Botes Totentanz, die ein starkes Gewicht auf den sozialkritischen Aspekt sowie das Moment der „Überbetonung der Gerichtsmotivik“,429 der Drohung durch die besondere Schwerpunktsetzung auf das strenge Gottesge427 428 429
Vgl. Schulte, Bote und Lübeck, S. 18f. Bräuer, S. 33. Schulte, Bote und Lübeck, S. 21.
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Einzeluntersuchungen
richt, legt;430 seine alternative Auslegung beruft sich vielmehr auf die Position des Totentanzes innerhalb der Weltchronik. Die sogenannten „Anhänge“ seien als integraler Bestandteil der Chronik anzusehen, wodurch auch dem Totentanz eine stärkere Bedeutung für die Gesamtkonzeption zukomme. Die Zusätze entpuppten sich als ein „Abriß der Glaubensgeschichte“,431 in dem auch der Totentanz seinen Platz finde, so daß er nicht mehr als lediglich „erbauungsliterarischer Anhang“ zu betrachten sei, sondern als „Bestandteil vom Abschluß der Weltchronik“.432 Bräuer führt aus, von daher werde einsichtig, weshalb Bote die Versform des Lübecker Totentanzes in Prosa umgesetzt hat. Der Übergang vom Dialog zwischen Mensch und Tod zum Monolog bzw. zur Anrede des Todes an den Menschen erklärt sich ebenfalls durch den Funktionswechsel in der Verwendung der literarischen Gattung. [...] Nicht das poimenische Anliegen, nicht das memento mori steht im Mittelpunkt, sondern das letzte Kapitel der Weltgeschichte als Heilsgeschichte. [...] Eine differenzierte Ständedidaxe hat hier keinen Ort mehr. Botes Konzentration auf die Anreden des Todes an die Ständerepräsentanten ist durchaus funktionsgerecht. Noch stärker als im Lübecker Totentanz werden die Anreden zu Urteilen.433 Einzeluntersuchungen
Vielleicht hat die Überführung der Lübecker Dichtung in Prosa auch zum kleineren Teil mit der einfachen Tatsache zu tun, daß Bote den Totentanz harmonisch in den restlichen, ebenfalls in Prosa verfaßten Text eingliedern wollte. Für diese Vermutung spricht auch der Befund, daß der Totentanz rein formal vom äußeren Erscheinungsbild her ebenfalls an andere Teile der Weltchronik angepaßt wurde. Gemeint ist hier die Seitenaufteilung mit den Kreisen am Rand der Seite und dem restlichen Fließtext in einer Spalte daneben, die sich schon vor dem Totentanz bei der Beschreibung der römischen Götter findet: In den Kreisen ist jeweils der Name des Gottes eingetragen, während sich der erläuternde Text nebenan in der Spalte befindet, ganz ähnlich wie bei den Anreden des Todes an die Ständevertreter. Die zunächst nicht abwegig erscheinende Vermutung, die Kreise seien ursprünglich dazu gedacht gewesen, Illustrationen zum Totentanz darin unterzubringen – wie ja auch der letzte Kreis eine Abbildung des Todes mit Sense beinhaltet – wird dadurch obsolet. An dieser Stelle der Schlußrede des Todes, die sich an keinen individuellen Adressaten richtet, wäre es wohl nur wenig sinnvoll gewesen, die Textspalte mit de doet zu beschriften und dann nochmals in den Kreis de doet zu schreiben. Möglicherweise erklärt sich hierdurch das Vorhandensein der Abbildung. Vielleicht ist es aber auch von Bedeutung für diese Wahl, daß der Schlußrede eine besonders pointierte Bedeutung zugemessen werden sollte (an dieser Stelle steht ja auch das in roter Tinte geschriebene Sirach-Zitat) und sie deshalb mit einer Todesgestalt illustriert wurde. Die Wahl eines Sensenmannes mag durch das Vorbild der Inkunabel von 1489 inspiriert sein; die Abbildung
430 431 432 433
Vgl. Schulte, Bote und Lübeck, S. 20f. Schulte spricht hier von den „dünkelhaft-lamentierenden“ Moralisationen Botes. Bräuer, S. 88. Ebd., S. 90. Ebd.
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eines Todes mit Sense ist jedoch so weit verbreitet,434 daß ihr Vorhandensein sich allein durch ikonographische Traditionen erklären läßt. Die von Borchling als „roh“ bezeichnete Abbildung435 zeigt keinerlei Verwandtschaft mit den Holzschnitten aus Des dodes dantz. Die Zeichnung erweckt nicht den Eindruck eines Hautskeletts, wie sonst bei vielen spätmittelalterlichen Todesabbildungen, sondern ähnelt vielmehr einer Art Gliederpuppe. Man vergleiche die Abbildung eines Totenschädels einige Blätter weiter: Dort sind ebenfalls Augen in den eigentlich leeren Höhlen des Schädels dargestellt; zudem hat dieser Totenkopf auch ein deutlich erkennbares Ohr und eine angedeutete Nase. Eine solche Darstellungsweise436 ist aber nicht ungewöhnlich und findet sich, wie bereits erwähnt, auch in anderen spätmittelalterlichen Totentänzen. So sehen z.B. die Todesgestalten des Münchner Blockbuchs mit den deutlich gezeichneten Augen ähnlich aus; ein Tod mit Nase ist aus der Pariser Danse macabre überliefert, und eine Todesgestalt, die überhaupt nicht skeletthaft, sonder eher wie ein magerer alter Mann wirkt, findet sich im Basler Totentanz. Eine ganz andere Interpretation des „Hannoverschen Totentanzes“ (wie er das Werk nennt), die von grundsätzlich anderen Prämissen ausgeht, liefert Rosenfeld. Die Reduktion des Dialogs auf das bloße Sprechen des Todes resultiert nach Rosenfelds Ansicht aus weltanschaulichen Veränderungen: Hermann Botes Totentanz
Einst hatte die Disharmonie der Welt, das Bewußtsein der furchtbaren Zerfallenheit der Welt den Dialog gezeugt. Jetzt, wo der Tod mit der Verheissung der Gnade zu den Menschen tritt, kann der Mensch verstummen. Der Hannoversche Totentanz [...] verzichtet deshalb ganz auf die Antworten der Menschen und verzichtet auch auf die poetische Form.437
Diese sehr eigenwillige und meines Erachtens nicht besonders plausible Erklärung verträgt sich allerdings nicht mit der schlichten Tatsache, daß auch im 16. Jahrhundert noch zahlreiche andere Totentänze überliefert sind, die keineswegs auf den Dialog verzichten und damit Rosenfelds Theorie eindeutig widerlegen. Eine grundlegende weltanschauliche Verschiebung müßte allgemein das Genre des Totentanzes in der Richtung, wie Rosenfeld sie andeutet, beeinflußt haben. Ebenso erscheint Rosenfelds Hypothese, der Text des Hannoverschen Totentanzes sei ursprünglich dazu gedacht gewesen, ihn den Illustrationen der Inkunabel von 1489 beizugeben, äußerst spekulativ.438 Das Urteil, dieser Totentanz sei 434 435 436
437 438
Zur Sense als ikonographischem Attribut des Todes siehe S. 94. Borchling, S. 26. Die Darstellung des Todes als vollständig skelettierte Gestalt, also als reines Gerippe, wie er heute meist abgebildet wird, kommt erst in der Renaissance auf; vgl. zur Todesikonographie z.B. Eva Schuster (Hg.): Das Bild vom Tod. Graphiksammlung der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Recklinghausen 1992; ebenso Schulte, Totentänze, S. 108-110; vgl. auch Rosenfeld, Artikel ‚Tod’ [wie Anm. 333]; siehe daneben auch Rudolf Helm, Skelettund Todesdarstellungen bis zum Auftreten der Totentänze (Studien zur Deutschen Kunstgeschichte 255). Straßburg 1928. [Zugl.: Marburg, Univ. Diss. 1928]. Rosenfeld, Totentanz, S. 227f. „Da die Personenauswahl weitgehend mit dem Spiegel des Todes von 1489 und dem Totentanzbuch von 1520 übereinstimmt, könnte man sich vorstellen, daß die Prosareden des Todes den Holzschnitten dieser Drucke beigefügt werden sollten.“ Der „Hannoversche Totentanz“ sei in jedem Fall „für die Illustration geschaffen“ (ebd., S. 228 bzw. 229).
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Einzeluntersuchungen
eine „Überwindung von Todesschreck und Todesangst und [...] darin ein Erzeugnis des Renaissancegeistes“,439 paßt zudem nicht zu der Deutung, die der Platz dieser Dichtung innerhalb der Weltchronik nahelegt: Die Position vor den 15 Zeichen des Jüngsten Gerichts bindet den Totentanz in das Heilsgeschehen ein und ruft somit nicht nur die Perspektive des möglichen Gnadenurteils Gottes auf, sondern beinhaltet auch gegebenenfalls die Aussicht auf immerwährende Verdammnis – je nachdem, wie der angesprochene Ständevertreter seinen Lebenswandel gestaltet hat. Weder Rosenfelds einseitige Interpretation im Hinblick auf das Moment der Gnade noch die alleinige Betonung des bedrohlichen Aspekts der Gerichtsmotivik wie bei Schulte treffen daher den Kern; der Totentanz beinhaltet beides zugleich: Erlösungshoffnung und drohende Strafe Gottes.
3.1.6. Die Wismarer Totentänze Neben den bereits besprochenen Denkmälern sind zu den im niederdeutschen Sprachraum entstandenen Totentänzen im weiteren Sinne440 noch die Wismarer Totentanz-Malereien und -texte zu rechnen. Überliefert ist, daß ehemals drei verschiedene Wismarer Totentänze vorhanden waren, von denen aber keiner komplett in Text und Bild erhalten ist. Laut Crull gab es in der Wismarer Nikolaikirche einen Totentanz an der nördlichen Turmwand, der aus zwei Friesen bestand (der obere enthielt die weltliche, der untere die geistliche Ständereihe) und von dem noch sechs Figuren identifizierbar waren (Kaiserin, Ritter, Papst, Kardinal, Bischof und Arzt).441 Das Gemälde stammte möglicherweise aus dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts.442 Texte waren offensichtlich nicht zu erkennen. Heute ist von diesem Totentanz nichts mehr erhalten. Ein zweiter Totentanz, von dem ebenfalls Crull Nachricht gab, befand sich im Gartensaal der St. Marien-Pfarrei. Dort wurde bei Restaurierungsarbeiten unter der Tünche neben anderen Wandmalereien auch ein Totentanz entdeckt. Der etwa 60 cm hohe Fries mit den 43 cm großen Figuren zeigte folgende noch sichtbare Ständevertreter: Kardinal, Patriarch, (vermutlich) Erzbischof, Kriegsmann, Bischof, eine nicht näher identifizierbare weltliche Figur, drei nicht ganz sicher zu erkennende Geistliche, Doktor und Domherr.443 Der beigegebene Text war nicht mehr zu entziffern. Crull beschreibt die Malerei folgendermaßen: Einzeluntersuchungen
439 440
441 442 443
Rosenfeld, Totentanz, S. 229. Genaugenommen hätten die schon hochdeutschen Fassungen, da sie bereits in die Neuzeit gehören, ausgegrenzt werden müssen; sie zeigen jedoch noch so deutliche Beeinflussung durch die spätmittelalterlichen Vorbilder, daß sie hier in das Korpus mit hineingenommen wurden. Vgl. Crull, Decoration St. Nicolai, S. 102. Auch im Zusammenhang mit seiner Beschreibung des Totentanzes in der St. Marien-Pfarrei äußert Crull sich über den Totentanz in der Nikolaikirche (siehe unten). Angabe nach Krogmann, S. 389. Crull, Wismarer Totentanz, S. 6.
Die Wismarer Totentänze
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Die Bewegung der Figuren erschien durchweg als eine sehr ruhige, und auch der Tod, dessen von lederfarbener Haut eng umschlossenes Knochengerüst übrigens ohne jegliche Drapierung war, gleichfalls gemessen und ohne jenen Humor, welchen er in den sonstigen zum Anblick für die Gemeinde bestimmten Bildern gleicher Art zur Schau trägt. Die Mahlerei bestand nicht bloß in schlichter Färbung, mit kräftigen Konturen und der nothwendigen Schraffierung, wie es bei den älteren Wandmahlereien der Fall ist, vielmehr waren durch Abtönung der Farben alle Theile sorgfältig gerundet [...].444 Die Wismarer Totentänze
Crull datiert die Malerei auf etwa 1500.445 Seiner Veröffentlichung ist auch eine Abzeichnung beigegeben, die angefertigt wurde, als die erhoffte Restaurierung und Konservierung sich als unmöglich herausstellten.446 Der Versuch, anhand der durchgepausten Zeichnung Vergleiche mit anderen Totentanzgemälden anzustellen, bringt aufgrund der Spärlichkeit des überlieferten Materials jedoch kaum Ergebnisse.447 Klar erkennbar ist, daß der Totentanz wie die meisten anderen Reigen nach links führt; die wenigen erhaltenen Todesfiguren zeigen zwar eine bewegte Beinstellung, aber keinesfalls grotesk verrenkte Tanzbewegungen wie etwa die Todesgestalten in der Lübecker Kirchenmalerei von 1463. Die Figuren fassen sich nicht durchgehend an den Händen; einige Menschen halten stattdessen in der freien, linken Hand eine standestypische Beigabe (der Papst trägt sein Doppelkreuz, der Bischof hält einen Krummstab, der Arzt hat eine Schriftrolle). Krogmann schließlich veröffentlichte den Text eines dritten Wismarer Totentanzes, von dem aber kein Bild erhalten ist, denn während Crull noch der Meinung war, der Text gehöre zum ehemals in der Nikolaikirche befindlichen Gemälde,448 ist Krogmanns Ansicht dem entgegengesetzt: Nicht auf diesen Totentanz [das Gemälde in der Nikolaikirche] können sich die Verse beziehen, die in dem bis 1724 reichenden ersten Taufregister von St. Nikolai auf S. 736 bis 746 vor dem Namensverzeichnis eingetragen sind. Sie müssen zu einem zweiten Totentanz in der St. Nikolaikirche, also zu einem dritten Wismarer Totentanz gehört haben.449
Daß die Abschrift des Totentanzes zu einem ehemals in der Nikolaikirche angebrachten Gemälde gehört haben muß, geht aus dem Vermerk „Anno: 1616 hat Jacob Midtag den Toden Tantz in St: Nicolai Kirche mahlen laßen“450 hervor. Crull urteilt über die Verse abschätzig: „Der Mittheilung sind die Reimereien nicht werth“.451 Krogmann teilt diese Einschätzung offensichtlich nicht, liefert außer einigen kurzen Anmerkungen aber auch keine weitere Untersuchung des Wismarer Totentanz-Textes. Weitergehende Überlegungen bringt Koller, der folgenden Überlieferungszusammenhang rekonstruieren zu können glaubt: Im 444 445 446 447
448 449 450 451
Crull, Wismarer Totentanz, S. 6. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. ebd. Im Rahmen seiner umstrittenen Bilderbogen-Theorie führt Rosenfeld das Bildprogramm dieses Wismarer Totentanzes auf die Tradition des von ihm so getauften „Würzburger Totentanzes“ (oberdeutscher Überlieferungszweig) zurück; vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 101 (siehe Anm. 690). Vgl. Crull, Wismarer Totentanz, S. 1. Krogmann, S. 389. Ebd., S. 389. Crull, Wismarer Totentanz, S. 2.
Einzeluntersuchungen
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ersten Viertel des 16. Jahrhunderts wurde an die Turmwand der Nikolaikirche ein Totentanz gemalt. 1596 schrieb das Ratsmitglied Gregor Jule dazu einen Text (diese Angabe stammt von Crull),452 der vielleicht eine ältere vorreformatorische Dichtung ersetzen sollte. 1616 wurde das Gemälde restauriert, finanziert von Jacob Midtag.453 Diese Hypothese läuft also wiederum auf nur zwei Wismarer Totentänze hinaus. Dafür spräche, daß somit in der Wismarer Nikolaikirche nicht zwei Totentänze nebeneinander vorhanden gewesen wären. Andererseits sind Kollers Überlegungen sehr spekulativ und lassen sich nicht belegen; außerdem heißt es in der von Krogmann überlieferten Notiz eindeutig, Jacob Midtag habe den Totentanz „malen“ lassen; es ist nicht von Auffrischen oder Übermalen die Rede. Die Behandlung des Wismarer Totentanz-Textes in Zusammenhang mit den mittelniederdeutschen Totentänzen ist vor allem durch die eindeutig erkennbaren Anklänge an andere Texte dieses Überlieferungszweiges gerechtfertigt. Denn obwohl der Wismarer Totentanz auf Hochdeutsch verfaßt ist und damit in einer gewissen sprachlichen Entfernung zu den bisher behandelten Denkmälern steht,454 finden sich doch textliche Übereinstimmungen mit den Lübecker TotentanzDichtungen. Schultes Auffassung, die „zeitliche und mentale Distanz [sei] zu groß, als daß noch Abhängigkeiten aufgezeigt werden können“,455 teile ich daher nicht. Vielmehr gehe ich mit Rosenfelds Einschätzung konform, der von einem deutlichen Einfluß des Lübecker Totentanzes von 1463 auf den Wismarer Totentanz spricht.456 Dieser Einfluß ist allerdings lediglich auf der Ebene des Textmaterials zu suchen und erstreckt sich nicht auf die Geisteshaltung, denn den Wismarer und die Lübecker Totentänze trennt mit der inzwischen vollzogenen Reformation eine weltanschauliche Kluft: Im Wismarer Text ist reformatorisches Gedankengut deutlich zu spüren, kulminierend in Prägungen wie Ach Pabst, du rechter Anti-Christ (V. 9). Schon die Wismarer Anfangsverse [...] niemand kann entgehen/ den Tod, als ihr hie möget sehen (V. 3f.) sind möglicherweise vom Lübecker Totentanz von 1463 beeinflußt: Dat sik hyr nemant kann ontholden/ Wanneer de doet kumpt als gy hyr seen (V. 4f.). Auch die Formulierung, die im Zusammenhang mit dem Papst gebraucht wird – der du auff Erd der höchste bist,/ doch fälschlich, mit mier tantz voran (V. 10f.) – erinnert deutlich an den Lübecker Totentanz: Her pawes du byst hogest nu/ Dantse wy voer ik vñ du (V. 21f.), ist aber auch ein in Totentänzen allgemein häufig wiederkehrender Topos. Weniger an die Lübecker Kirchenmalerei, sondern vielmehr an die Inkunabel von 1489 gemahnen die Verse der Kaiserin: Ach schon doch mein, du heslich todt,/ ich wil dier geben all mein Einzeluntersuchungen
452 453 454 455 456
Vgl. Crull, Wismarer Totentanz, S. 1. Vgl. Koller, S. 544. Krogmann ist der Ansicht, der Verfasser sei ein Niederdeutscher gewesen, dies verrieten „die Unsicherheiten im Gebrauch von Dativ und Akkusativ“ (Krogmann, S. 396). Schulte, Totentänze, S. 248. Rosenfeld, Totentanz, S. 101. – Koller sieht zwar nur vereinzelte Anklänge an den Lübecker Totentanz von 1463, gibt jedoch zu, daß der Wismarer Totentanz „kaum ohne das Lübecker Vorbild denkbar“ sei (Koller, S. 543).
Die Wismarer Totentänze
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Kleinod (V. 29f.). In der Inkunabel heißt es ganz ähnlich: Och wolde he mi doch laten leven,/ Dar wolde ik alle mine suverliken klenode umme geven (V. 1319f.). Zwar versucht auch die Kaiserin der Inkunabel Des dodes dantz, den Tod mit ihrer morgengave (V. 245) zu bestechen, doch werden hier andere Formulierungen verwendet. Ein weiterer Vers des Wismarer Totentanzes stammt teilweise aus dem Lübecker Totentanz von 1463, nämlich die Anrede des Todes an den Abt: O Abt, dein bleibend hier nicht ist (V. 65); dies erinnert deutlich an die Mahnung des Todes an den Jüngling im Totentanz von 1463: Hir is nene bliuende Stat (V. 377). Des weiteren knüpft vielleicht die mehrfache Metaphorisierung des Sterbens als Spiel (V. 68, 84) an die Erwähnung dieses Wortes in ähnlichem Sinne bei der Kaiserin in Lübeck (1463) an: du most myt to dessem spele (V. 74). Die Charakterisierung des Arztes im Wismarer Totentanz erinnert an eine ähnliche Stelle in einem dritten niederdeutschen Totentanz, nämlich an den Berliner Text. Dort heißt es: dar jegen wasset keyn krut in den garden (V. 107); dies scheint entfernt in Wismar widerzuhallen, wenn dort der Arzt sagt Kein kraut im Garten wachsen ist (V. 109); vielleicht handelt es sich aber auch lediglich um eine stereotype Wendung, die keinem speziellen Vorbild verpflichtet ist. Dagegen ist der Ausruf des Kindes Sol tantzen ich und kan niht gehen (V. 183) eine deutliche Entlehnung aus der übrigen Totentanz-Tradition; er findet sich nicht nur im niederdeutschen Zweig – was den Vers Ik schal danssen vñ kan nicht ghan (V. 398) im Lübecker Totentanz von 1463 betrifft, ist jedoch die Überlieferung nicht ganz sicher457 –, sondern vor allem auch in der oberdeutschen Tradition (oberdeutscher vierzeiliger Totentanz: Muss ich tanzen und kan nit gan?, XXIII). Aus der vorangegangenen Aufzählung der Textstellen, die an die Lübecker Totentänze erinnern, wird ersichtlich, daß Schultes erwähnter Hinweis auf die für nachweisbare Abhängigkeiten zu große Distanz zwischen den Werken zu kurz greift. Die einzige Reminiszenz, die Schulte zugibt, ist die Strophe der Kaiserin mit ihrem Kleinod;458 wie gezeigt wurde, sind jedoch eine zu große Anzahl Verse aus dem Lübecker Totentanz mehr oder weniger direkt übernommen worden, als daß man von einem bloßen Zufall sprechen könnte. Eine solche Aneignung von Text verwundert in Anbetracht der großen Breitenwirkung des Lübecker Totentanzes von 1463 auch nicht; dieses Werk entfaltete bereits im Spätmittelalter seine große Strahlkraft, die es bis heute nicht eingebüßt hat. Der Wismarer Totentanz-Text ist demgemäß als ein weiteres Rezeptionszeugnis des Lübecker Totentanzes von 1463 anzusehen; er demonstriert zudem die beträchtliche Konsistenz in der Textüberlieferung innerhalb der mittelniederdeutschen Totentänze, die es erlaubt, auch nach einem Jahrhundert, das mit der Reformation den völligen Umsturz von Glaubensprinzipien erlebt hatte, noch aus dem alten, katholisch geprägten und zudem einer anderen Sprachform und -stufe Die Wismarer Totentänze
457 458
Vgl. Freytag, Totentanz 1463, S. 340-342. – Bis auf diese Textstelle des Kindes sind eigentlich die ober- und niederdeutsche Gruppe voneinander textlich unabhängig. Das würde dafür sprechen, daß die Überlieferung dieser Verse im Lübecker Totentanz nicht authentisch ist. Vgl. Schulte, Totentänze, S. 248 mit Anm. 288.
Einzeluntersuchungen
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angehörenden Text Teile zu entlehnen und für andere Zielsetzungen zu modifizieren. Leider kann im Fall der Wismarer Totentänze kaum untersucht werden, ob diese signifikante Textübernahme auch mit der Aneignung von bildlichen Gestaltungselementen einherging. Aus einigen Formulierungen des vorliegenden Textes wird jedoch ersichtlich, daß die Bildgestaltung des zugehörigen Gemäldes vermutlich relativ konventionell war, d.h. sich innerhalb der hergebrachten, in vielen Totentänzen verwendeten Darstellungsformen bewegte; es lag offensichtlich ein abwechselnd geistliches und weltliches Figurenrepertoire vor (das hier wohl trotz reformatorischer Ausrichtung nicht um protestantische Geistliche erweitert wurde!). Vorangestellt war eine ausgegliederte Vorrede, die möglicherweise unter einer Todesgestalt mit einem Blasinstrument (also wohl dem typischen Dudelsack oder einer Flöte) stand: Wer solchs nicht Acht, dem blase ich (V. 5, meine Hervorhebung). Zudem ist die Formulierung als ihr hie möget sehen (V. 4) ein deutlicher Hinweis auf das Vorhandensein eines Bildes, wie sich dies in vielen spätmittelalterlichen Totentänzen findet.459 Es handelte sich wohl auch um einen fortlaufenden Kettenreigen, wie sich anhand solcher Aufforderungen des Todes wie greiff an (V. 28, 100) vermuten läßt; es wird auch das Wort Reih verwendet: [der Papst] mus sein der erst in diesem Reih (V. 39). Dagegen spricht die relativ dominante Tanzmotivik460 nicht unbedingt für eine auch im Bild deutlich vorhandene Dynamik; so sind ja auch die Figuren im Berliner Totentanz trotz Nachbesserung recht steif und hölzern, obwohl die Tanzmotivik im Text durchaus vertreten ist. Einzeluntersuchungen
3.1.7. Das Westfälische Totentanzfragment Ein weiteres Zeugnis eines mittelniederdeutschen Totentanzes liefert das sogenannte Westfälische Totentanzfragment. Dieses 19 x 22 cm große Pergamentstück zeigt zwei Todesfiguren im Wechsel mit zwei im beigegebenen Text als greuer und junchere bezeichneten Ständevertretern. Die beiden Todesfiguren sind als Sargträger dargestellt, eine von ihnen spielt zusätzlich Flöte. Der Text besteht aus kreuzgereimten, achtzeiligen Strophen und ist eine recht nahe Übersetzung der Verse von ‚Laboureur’ (Landmann) und ‚Lescuier’ (Schildträger) der Danse macabre, die allerdings in keinem der bekannten Überlieferungsträger in dieser Reihenfolge auftreten.461
459 460
461
Vgl. hierzu Abschnitt 4.2. „Gegenseitige Bezugnahme und Zusammenwirken von Text und Bild“. Vgl. z.B. folgende Stellen: mit mier tantz voran (V. 11); ich tantz ungern (V. 14); tantz mit mier säüberlich (V. 28); doch weil du tantzst, tantz ich mit hin (V. 56); tantz oder wehr dich mein (V. 76); ich tantz mit macht (V. 162); du must auch mein Mitt-tantzer seyn (V. 182); Sol tantzen ich und kan niht gehn (V. 183). Schulte, Totentänze, S. 192. – In Seelmanns Textedition sind die entsprechenden Verse der Danse macabre zum Vergleich mit abgedruckt.
Das Westfälische Totentanzfragment
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So lassen sich auch keinerlei Beziehungen zum restlichen Überlieferungsstrang der mittelniederdeutschen Totentänze ausmachen. Seelmann, der den Text herausgegeben hat, datiert das Fragment ins 15. Jahrhundert und stellt aufgrund der Sprachform als Heimat „das südliche mik-Gebiet oder das südliche Westfalen“ fest.462 Er ist im übrigen der Ansicht, daß das beschnittene Pergamentstück ursprünglich von solchen Ausmaßen gewesen sei, daß es nicht zu einer Buchhandschrift gehört haben könne. Die rohe Ausführung der Zeichnung lasse vermuten, daß sie nicht selbst Zweck des Zeichners war, sondern daß sie als Skizze eines monumentalen Totentanzes, der für irgend eine Kirche beabsichtigt war, hat dienen sollen.463
Das Motiv des sargtragenden Todes könnte ebenfalls von der französischen Tradition übernommen worden sein; auch der Lübeck-Revaler Totentanz, der ja (wenn auch wohl über eine mittelniederländische Zwischenstufe) ebenfalls auf die französische Totentanz-Überlieferung zurückgeht, zeigt einen sargtragenden Tod als zweite Todesfigur. Von den beiden auf dem Pergamentstück erhaltenen Sargträger-Toden allerdings gleich auf ein „durchgängiges Gestaltungsprinzip“464 zu schließen, wie Schulte es tut, erscheint mir etwas voreilig. Die Kürze des Fragments und die auf den verfügbaren fotomechanischen Reproduktionen relativ schlechte Erkennbarkeit lassen weitergehende Vergleiche mit anderen Bild- oder Textzeugnissen kaum zu. Man kann lediglich erkennen, daß die Figuren sich wie gewohnt nach links bewegen; sie schreiten eher gemessen einher, Tanzbewegungen sind nicht zu erkennen. Die Todesfiguren scheinen, wie in den meisten spätmittelalterlichen Totentänzen, als Hautskelette dargestellt zu sein. Da am linken und rechten Rand die Reste von weiteren Figuren zu erkennen sind, liegt es nahe zu vermuten, daß es sich um einen fortlaufenden Kettenreigen gehandelt hat, nicht wie etwa im Danse macabre-Druck des Guyot Marchant um abgetrennte Gruppen. Daher resultierte vielleicht auch Seelmanns oben erwähnter Schluß, das ursprüngliche Format dieses Totentanzes sei nicht einer Buchhandschrift zuzuordnen. Konsequent gilt das Westfälische Totentanzfragment Rosenfeld daher als Beleg für seine problematische Bilderbogen-Theorie: Das Westfälische Totentanzfragment
Dieses Bilderbogenfragment ist [...] als eins der wenigen Dokumente der sonst verschollenen Bilderbogenliteratur und als Beweis für die Verbreitung der Totentänze auf Bilderbogen von größtem Wert.465 462
463 464 465
Schulte versucht zu präzisieren, dieser Totentanz sei möglicherweise als Übersetzung der ab 1485 im Umlauf befindlichen Danse macabre-Drucke entstanden (Schulte, Totentänze, S. 192). Rosenfeld dagegen möchte das Fragment „der Tracht nach“ wesentlich früher, nämlich zwischen 1430 und 1450, ansiedeln (Rosenfeld, Totentanz, S. 194). Seelmann, Fragment, S. 126. Schulte, Totentänze, S. 192. Rosenfeld, Totentanz, S. 196. – Rosenfeld interpretiert das Westfälische Fragment im übrigen dahingehend, daß der Redaktor desselben das französische Vorbild von „allem, was ihm fremd vorkam“, gesäubert und es „deutscher Gefühlshaltung“ angeglichen habe (Rosenfeld, Totentanz, S. 197). Aufgrund dieser und anderer Bemerkungen kritisiert Schulte Rosenfelds „prekäre nationalistische Geisteshaltung“ und seine „verzerrende Interpretation der Totentänze“ (Schulte, Totentänze, S. 192, Anm. 137).
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Einzeluntersuchungen
Da es sich aber nur um ein Fragment eines größeren Totentanzes handelt, über dessen ursprüngliches Format und Aussehen lediglich spekuliert werden darf, kann Rosenfelds Hypothese hierdurch keinesfalls zweifelsfrei bewiesen werden. Es wäre z.B. auch möglich, daß das Westfälische Fragment doch einer Buchhandschrift angehört hat, vielleicht ähnlich aufgebaut wie die Augsburger GossembrotHandschrift, in der auf jeder Seite mehrere Personen in einer Reihe abgebildet sind, um den fortlaufenden Kettenreigen darzustellen.466 Das Westfälische Totentanzfragment ist ein interessantes Zeugnis einer relativ unmittelbaren Danse macabre-Rezeption auf niederdeutschem Gebiet, bringt aber aufgrund seiner Abseitigkeit von anderen mittelniederdeutschen Überlieferungsträgern keine weitere Erkenntnis, als daß eben die vermutete mittelniederländische Vermittlung der französischen Totentänze nach Norddeutschland467 nicht der einzige Weg gewesen sein muß, auf dem sich die spätmittelalterlichen TotentanzTraditionen von Westen nach Nordosten verbreitet haben.468 Einzeluntersuchungen
3.1.8. Der dänische Totentanz, Kopenhagen 1550 Um 1550469 erschien in Kopenhagen bei Hans Vingaard der älteste überlieferte Totentanz in dänischer Sprache,470 der 699 Verse umfaßt (das Manuskript ist allerdings unvollständig) und mit denselben Holzschnitten wie die Mohnkopfdrukke ausgestattet ist; auch für die Schrift wurden Mohnkopfdrucktypen verwendet – die Druckstöcke gelangten nach der Aufhebung der Mohnkopfoffizin (um 1520) nach Dänemark.471 Die Verwendung derselben Druckstöcke ist jedoch bei weitem nicht das einzige, was diesen Zeugen mit der mittelniederdeutschen Totentanzüberlieferung verbindet, denn im dänischen Text finden sich zahlreiche, oft wörtliche Entlehnungen aus den Lübecker Totentanz-Drucken von 1489 und 1520. Aus der Tatsache, daß sowohl Zitate vorkommen, die nur in der 1489-Inkunabel stehen, als
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Vgl. Abschnitt 3.3.1.4. Vgl. hierzu Damme, S. 69. Seelmanns Überlegung, der Lübeck-Revaler Text gehe auf eine mittelniederländische Vorlage zurück (vgl. Seelmann, Totentänze, S. 68-80), wird durch Dammes philologische Untersuchung erhärtet; Damme weist allerdings im Gegensatz zu Seelmann sowohl für den Revaler als auch für den Lübecker Textteil zahlreiche „Niederlandismen“ (Damme, S. 69) nach. Der mittelrheinische Totentanz zeigt einen anderen Weg, auf dem französische Vorbilder in das deutsche Sprachgebiet kamen und dort den lokalen Verhältnissen angepaßt wurden (vgl. Abschnitt 3.2.). Anscheinend haben aber die nieder- und mitteldeutschen Totentänze unabhängig voneinander die französischen Vorbilder verarbeitet. Schulte hält es (einer Vermutung von Meyer nachgehend, vgl. Meyer, Vorwort zur Edition, S. 4f.) für möglich, daß es in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts schon einmal eine Auflage gegeben hat (vgl. Schulte, Dänischer Totentanz, S. 367 mit Anm. 551 und 552). Vgl. Schulte, Totentänze, S. 235. Vgl. Frey/ Freytag (Hg.), S. 115. – 1643 erschien in Kopenhagen bei Salomo Sartorius eine Neuauflage des dänischen Totentanzes (vgl. Schulte, Dänischer Totentanz, S. 367f.).
Der dänische Totentanz
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auch solche Anklänge an Textstellen, die sich exklusiv im Druck von 1520 finden, schließt Schulte, daß Der dänische Totentanz
der dänische Bearbeiter mit dem Druckmaterial, das er von der Lübecker Mohnkopfoffizin übernommen hatte, zumindest auch je ein Exemplar der Totentänze von 1489 und 1520 in seinen Besitz bekam.472
An einigen Beispielen soll im folgenden die enge Anbindung des dänischen Totentanzes an die Lübecker Drucke – die die Zuordnung zur mittelniederdeutschen Totentanztradition, wie sie hier vorgenommen wird, rechtfertigt – demonstriert werden.473 Besonders der Beginn des dänischen Totentanzes läßt seine Quellen deutlich erkennen. Der Text fängt mit einer prologartigen Einführung an, die sich die Vorstellung der verschiedenen Arten des Todes474 aus der Lübecker Inkunabel von 1489 zu eigen macht (V. 15-17): Fordi alt det som vorder fød475 det bliffuer en gang met døden ødt Om fire haande døde haffuer ieg læst476 [...].
Im Lübecker Druck beginnt die Passage ganz ähnlich: Al, dat geboren wert, kumt in de nôt, Dat it môt liden den bitteren dôt. Van vîfleie dôt hebbe ik gelesen: (V. 1-3).
Die im dänischen Text nun folgende Erklärung, wie der Tod in die Welt kam, stammt dagegen aus dem Frühdruck Dodendantz von 1520. Hier zum Vergleich die beiden Textstellen, zunächst der dänische Totentanz, V. 19-24: Gud forbød Adam i Paradis Æd icke aff den fruct som ieg dig vis Giør du der emod da skalt du dø Oc alle som fødis i verdens ø
472 473
474 475 476
Schulte, Totentänze, S. 242. Meyer ist der Ansicht, der dänische Autor müsse die Lübecker Kirchenmalerei gekannt haben, weil er die Verse wie der Lübeckische Totentanz-Dichter miteinander verbinde (vgl. Meyer, S. 4f.). Ich gehe jedoch hier mit Schulte konform, die die Art der Verknüpfung im dänischen Text darauf zurückführt, daß in einem dramatischen Text notwendigerweise mehrfache Sprecherwechsel vorhanden sein müssen (vgl. Schulte, Dänischer Totentanz, Anm. 555). Allerdings stellt der Lübecker Autor fünf Todesarten vor, die der dänische Bearbeiter auf vier reduziert hat. Wo im dänischen Text eine größtenteils wörtliche Übernahme bzw. Übersetzung der mittelniederdeutschen Verse vorliegt (wie es meistens der Fall ist), wird keine deutsche Übersetzung gegeben. Herzlich danken möchte ich Herrn Martin Hagstrøm, der mich sehr freundlich bei der Bearbeitung der dänischen Originaltexte unterstützt hat; siehe auch die informative, von ihm erstellte Internetseite zum dänischen Totentanz, die auszugsweise Übersetzungen dieses Textes ins Englische enthält, unter www.dodedans.com. – Neuerdings ist der dänische Totentanz auch komplett abrufbar auf der Internetseite der Dänischen Königlichen Bibliothek Kopenhagen unter http://www.kb.dk/perma-link/2006/manus /673/dan/.
Einzeluntersuchungen
134 Adam brød budet foruden all nød Saa kom oss offuer den Euige død
Dodendantz, V. 1-6 God vorboth Adam in deme paradyse: Eth nicht van desser frucht, de ick dy wyse. Deystu hir entjegen, so mostu sterven, Nicht du alleyne, men ock al dyne erven. Adam brack dat gheboth ane noth, Alsus quam an uns de natürlike doth [...].
Des weiteren verwendet der dänische Redaktor den Vergleich des Todes mit dem Kommen des Diebes:477 Viste hosbonden i huilcken tiid at tyffuen ville komme han vogede mz flid (V. 79f.).
In der Lübecker Inkunabel von 1489 lautet die Stelle: Wuste de hûswert, to welker tît Dat de dêf queme, he wakede mit vlît (V. 131f.).
Weiterhin greift der dänische Bearbeiter auch folgende Wendung aus Lübeck auf: Ieg vil eder alle paa Iorden vdstrecke oc huer eder een fod lenger recke (V. 115f.).
Einzeluntersuchungen
In der Inkunabel lautet die vorbildgebende Stelle: Ik wil di up de erde strecken Unde einen vôt lenger recken. (V. 269f.)
Ähnlich heißt es in V. 1607f.: Ik wil ju up de erden nedderstrecken Unde ernstliken einen vôt lenger recken.
Daneben wird auch in der Charakterisierung der Ständevertreter häufig einer der Lübecker Texte als Quelle verwendet, etwa wenn der Tod den Papst anspricht: Her Paffue, følg nu snarlige med du holder paa Iorden den høyeste sted En Vicarius Christi du høyste Prelat Dantz du her fore, effter din stat (V. 123-126).
Im Druck Dodendantz wird der Papst mit sehr ähnlich lautenden Worten vom Tod angerufen: Her pawes, dy mene ik, wes hastigen rede! Du holdest up erden de hoghesten stede, 477
Vgl. auch Anm. 304, 425 und 426.
Der dänische Totentanz
135
Eyn vicari Cristi, de hogheste prelate, Dantze du voran nach dyneme state! (V. 33-36)
Beim Kaiser finden sich charakteristische Parallelen mit dem Lübecker Text von 1489: Beraad nu gud, oc alle Helgens skare mig tycker døden vil mig icke spare Saa we er mig som mit hierte vil bryste der fore kand ieg ey lægedom myste Om alle Doctor aff Greckeland vore hoss mig, ath beskue mit vand Oc kunde ieg æde en Apoteck op det hielper dog inthet min siuge krop (V. 218-225).
Die entsprechenden Lübecker Verse aus der Inkunabel Des dodes dantz lauten: Berât Got unde alle mine hilgen patronen, Mi dunket, de dôt en wil miner nicht schonen. So we is mi, efte mi dat herte wil barsten, [...] Men mi dunket, al lete ik halen alle arsten ût Greken, Unde mochte ik to mi nemen eine hele appoteken, Dat were mit mi altes nicht gewêrt. (V. 189-191 bzw. 197-199)
An diesem letzten Beispiel wird auch die Bearbeitungsweise des dänischen Redaktors deutlich: Er nimmt nicht durchgehend den Text der Inkunabel als Vorbild, sondern greift bestimmte Verse heraus, die er mit eigenen Hinzufügungen – wie hier dem Vers über das Beschauen des Urins (ath beskue mit vand, „mein Wasser zu beschauen“) – anreichert. Eine besonders interessante Stelle ist die Strophe des Reiters, denn hier wurde nicht, wie bei den anderen oben zitierten Stellen, der Inhalt weitgehend wörtlich übersetzt, sondern sogar die Sprachform beibehalten – der dänische Bearbeiter übernahm die mittelniederdeutschen Verse 357f. und 363f. (mit leichten Abweichungen in der Schreibung) aus dem Druck von 1520: Der dänische Totentanz
Du rytter woldest gerne iuncker heten Dantze vort, laet di nicht vordreten [...] Vol vmme, wolheer mit lichten sinnen. de nicht enuogen, de kan nicht winnen (Dänischer Totentanz, V. 665f. bzw. 671f.)
Offensichtlich ging der Bearbeiter davon aus, daß diese Verse vom dänischen Publikum auch in der mittelniederdeutschen Fassung verstanden werden konnten, denn die beiden Sprachen stehen sich aufgrund verschiedener Merkmale (wie z.B. der nicht vollzogenen Diphthongierung im Übergang vom Mittel- zum Frühneuhochdeutschen) ja sehr viel näher als etwa das heutige Dänisch und modernes Hochdeutsch.
Einzeluntersuchungen
136
Die vorgestellten Textbeispiele demonstrieren deutlich die enge Abhängigkeit des dänischen Totentanzes von den Lübecker Texten. Neben diesem Anschluß an die mittelniederdeutsche Tradition zeigt der dänische Totentanz aber auch Merkmale, die ihn zu einem außergewöhnlichen Sonderfall machen, da er offensichtlich als Schauspiel konzipiert ist. So sagt Meyer vergleichend über die niederdeutschen und dänischen Texte: Et Særkende for den danske Dødedans Fortale og Dødens Opraab til „Menheden“ i Modsætning til de tilsvarende Stykker i A og B er imidlertid det dramatiske. Hine indeholder intet, der tyder i denne Retning, udover Dialogformen. Man mener ogsaa, at de nedertyske Dødedansdigtninge aldrig selv har gjort Tjeneste som Dramaer, ja at de end ikke er forfattede som saadanne, medens de Kilde, hvoraf de er øste, har været dramatisk. Anderledes forholder det sig med den danske Dødedans. Her har vi i Fortalen Prologen til et Drama, hvormed dog ikke skal være sagt, at dette Drama nogensinde har været opført.478 („Das Kennzeichen für die Vorrede des dänischen Totentanzes und den Aufruf des Todes an die Gemeinde ist im Gegensatz zu den entsprechenden Stücken in A und B [hier meint Meyer Des dodes dantz und Dodendantz] das Dramatische. Jene enthalten nichts, was in diese Richtung deutet, abgesehen von der Dialogform. Es wird auch vermutet, daß die niederdeutschen Totentanzdichtungen niemals als Dramen gedient haben, ja daß sie nicht einmal als solche verfaßt sind, während die Quelle, aus der sie hervorgegangen sind, dramatisch war. Anders verhält es sich mit dem dänischen Totentanz. Hier haben wir in der Vorrede den Prolog zu einem Drama, womit jedoch nicht gesagt sein soll, daß dieses Drama jemals aufgeführt worden sei.“)
Erkennbar wird dies unter anderem an einer Reihe von Formulierungen, die sich im Sinne Nowés als implizite Regieanweisungen479 auffassen lassen. Wiederholt kündigt nämlich der Tod an, er werde den Ständevertreter, mit dem er gerade spricht, in seine „Burg“480 (dänisch borg) bringen, wie er z.B. dem Papst und dem Kaiser androht: Einzeluntersuchungen
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Meyer, S. 21. Vgl. Johan Nowé: „Wy willen ju eyn bilde gheven“. Explizite und implizite Regieanweisungen als Grundlage für Inszenierung und Aufführung des Redentiner Osterspiels. In: Leuvense Bijdragen. Leuven Contributions in Linguistics and Philosophy. Tijdschrift voor germaanse filologie 90 (2001) 1-3, S. 325-359: „Explizite Regieanweisungen sind solche, die im Nebentext eines Dramas vorkommen. Sie werden bei der Aufführung also nicht in Dialog umgesetzt, sondern fungieren einzig als Hinweise für Inszenierung und Spiel“ (S. 326); implizite Regieanweisungen befinden sich dagegen im Haupttext und werden gesprochen (vgl. S. 330). Nowé unterscheidet dabei zwischen „Hinweisen, die sich auf tatsächliche Handlungen und Bewegungen beziehen, und anderen, die den Auftrag oder Befehl dazu enthalten“ (S. 339). Eine solche implizite Regieanweisung wäre im dänischen Totentanz z.B., was der Prolocutor zum Abschluß seiner Vorrede sagt: Ieg meen ieg seer hannem nu komme („Ich glaube, ich sehe ihn jetzt kommen“) (V. 95). Diese Worte beziehen sich auf den Tod, der in diesem Moment die Bühne betreten soll; sie fungieren also gewissermaßen als Stichwort. Dieser „Burg“ werden interessanterweise die Eigenschaften zugeschrieben, die man sonst mit der Hölle bzw. mit den Verdammten assoziiert: Ieg vil dig i min borg indkaste/ der skalt du græde, oc hyle, oc faste/ Dine tænder skulle knabre alle sammen („Ich will dich in meine Burg hineinwerfen, dort sollst du weinen und heulen und fasten, deine Zähne sollen alle klappern“) (V. 214-216), sagt der Tod gegenüber dem Kaiser. Man vergleiche die entsprechende Stelle bei Mt 8,12: filii autem regni eicientur in tenebras exteriores, ibi erit fletus et stridor dentium. – Dies legt die Frage nahe, ob etwa alle am dänischen Totentanz Teilnehmenden als verdammt zu betrachten sind. Andererseits werden im Text beide Möglichkeiten, sowohl die
Der dänische Totentanz
137
Nu vil ieg dig skiude i min borg hun er opfyldt met suck och sorg („Jetzt werde ich dich in meine Burg sperren [eigtl. ‚schieben’], sie ist angefüllt mit Seufzen und Leid“) (V. 155f.) Ieg vil dig i min borg indkaste der skalt du græde, oc hyle, oc faste („Ich werde dich in meine Burg hineinwerfen, dort sollst du weinen und heulen und fasten“) (V. 214f.)
Diese „Burg“ muß man sich offensichtlich als eine(n) der mansiones oder loci der spätmittelalterlichen Simultanbühne vorstellen. Formulierungen wie Saa taler nu Døden til Paffuen („So spricht nun der Tod zum Papst“) können dabei entweder aus expliziten Regieanweisungen entstanden oder für den Druck hinzugefügt worden sein; ein ähnlicher Satz findet sich auch in der Lübecker Inkunabel, um den Beginn des eigentlichen, dialogischen Totentanzes anzuzeigen. Im letzten Vers des dritten, noch einleitenden Kapitels sagt der Verfasser nämlich, es folge nun die Darstellung des Todes, wo he dem pawese int erste alsus tosprikt (V. 114). Ein Sachverhalt, über den man nur Vermutungen anstellen kann, ist die Frage, ob es auf der Bühne in der Tat eine Form von tänzerischer Bewegung gegeben hat, oder ob die Ständevertreter lediglich gehend dem Tod folgten. Im Text kommt wiederholt das Wort „tanzen“ vor: Holt ved dantz fram, det maa alt vere („Faß an, tanze vor, es muß sein“) (V. 248) sagt der Tod zur Kaiserin, wie er auch die Jungfrau auffordert: Læg strax aff din pærle krantz/ Och følg mig nu i denne dantz („Lege schnell deine Perlenkette481 ab und folge mir jetzt in diesen Tanz“) (V. 589f.); und die Nonne klagt: nu maa ieg hæden i døden dantz („nun muß ich dahin in den Totentanz“) (V. 578). Einen prozessionsartigen Kettenreigen kann man sich allerdings nur schwer vorstellen, da der Tod die Menschen ja einzeln abholt und nacheinander zu seiner Burg bringt, wie aus den Versen Her er min Der dänische Totentanz
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Verdammung als auch die Begnadigung, angedeutet. Die „Burg“ ist demzufolge wohl nicht mit der Hölle gleichzusetzen, sondern muß als ein Ort verstanden werden, an dem die Menschen auf ihren endgültigen Urteilsspruch warten sollen. Wie andere Totentänze zeigt also auch der dänische Totentanz nicht, was mit den Menschen nach ihrem Tod geschieht. Ihr Schicksal bleibt in der Schwebe, so wie auch der Betrachter noch für sich entscheiden kann, ob er sein Leben zum Schlechten oder zum Guten wendet; der Totentanz hält ihn natürlich zu letzterem an. Zu bedenken ist hier auch, daß die Bühne bei den Fastnachtspielen auf niederdeutsch als „borch“ bezeichnet wurde. Daß im vorliegenden Zusammenhang mit dem Wort allerdings die Bühne gemeint sein soll, ist nicht besonders logisch. Man könnte sich höchstens vorstellen, daß der Tod die Ständevertreter aus dem Publikum holte und mit sich auf die Bühne nahm; auch das ist jedoch m.E. keine ganz befriedigende Erklärung, da die „Burg“ hier anscheinend ein Ort mit ganz bestimmten Eigenschaften sein soll. Übrigens trägt die Jungfrau auf dem Holzschnitt tatsächlich eine deutlich erkennbare Perlenkette. Ob es sich um einen Reflex auf das Bild handelt, ist allerdings fraglich; der Text gehört letzten Endes zu dem Schauspiel. Vielleicht wurde hier aber auch textlich (für die Lesehandschrift?) eine Anpassung vorgenommen.
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Einzeluntersuchungen
borg, her skalt du bliffue/ Ieg vil nu heden oc flere hid driffue („Hier ist meine Burg, hier sollst du bleiben; Ich will nun von hinnen und andere hierher treiben“) (V. 234f., Tod zum Kaiser) deutlich wird. Vielleicht wurde die Tanzmotivik beibehalten, weil sie sehr evokativ wirkt und aus den zahlreichen Vertretern der Gattung ‚Totentanz’ – in die sich dieses Schauspiel ja trotz formaler Eigenheiten letzten Endes einreiht – bekannt ist. Weitere Formulierungen unterstützen die Identifizierung des dänischen Totentanzes als Schauspiel. Die Prologstrophe war vermutlich einer Art magister ludi bzw. Prolocutor482 zugewiesen, der die Zuschauer mit der für den Beginn mittelalterlicher Schauspiele charakteristischen Wendung Ville i nu alle stille være („Wollt ihr jetzt alle still sein“) (V. 11) anspricht und auf das im folgenden zu sehende Schauspiel hinweist: Der fore lader oss for øyen staa/ ath wi skulle snarlige heden gaa („Deswegen laßt es euch vor Augen stehen, daß wir alle bald von dannen gehen werden“) (V. 31f.).483 Ähnlich ermahnt der Prolocutor in Vers 93: Thi staar nu stille, at see och høre („Deshalb steht jetzt still, zu sehen und zu hören“). Das Schauspiel wird auch einmal explizit erwähnt: Thi acter nu vel paa dette spil/ huor døden alle fange vil (V. 85f.) („Deshalb achtet jetzt gut auf dieses Spiel, wo der Tod alle fangen will“). Am Ende seiner Rede kündigt der Spielleiter an, daß der Tod die Bühne betritt: Ieg meen ieg seer hannem nu komme („Ich glaube, ich sehe ihn jetzt kommen“) (V. 95). Bei einem Schauspiel kann der Einbezug der Zuschauer natürlich auf besonders wirkungsvolle Weise geleistet werden, indem vielleicht auch Personen aus dem Publikum vom Tod abgeholt oder zumindest attackiert werden. Daß so etwas in der mittelalterlichen Bühnenpraxis durchaus gängig war, beschreibt im Zusammenhang mit Osterspielen Spiewok: Einzeluntersuchungen
So muß man wohl bei Akteuren und Publikum einen weit höheren Grad naiver Identifikation mit der gestalteten Rolle bzw. der vorgeführten Handlung voraussetzen, zudem ist von einem weit engeren Zusammenwirken von Ensemble und Zuschauern auszugehen, als wir es heute gewohnt sind. [...] Die Zuschauer umlagerten [...] die Bühne, so daß – bei engstem Kontakt zwischen ihnen und den Schauspielern – das Publikum unmittelbar in die Handlung einbezogen werden konnte. Wenn sich freilich einzelne Zuschauer gar zu engagiert in das Spiel einmischten [...], holten die Teufel [...] die Störenfriede aus der Menge, um sie in der Hölle einer nicht eben sanften Beruhigungsprozedur zu unterziehen.484
Ähnliches läßt sich auch über das vorliegende, strukturell den Teufelsszenen in Osterspielen sehr ähnliche485 Totentanz-Schauspiel vermuten.
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Daß die Vorrede von einem Prolocutor gesprochen wurde, vermutet auch Meyer: „I Vers 11 henvender Dramaets Prolocutor sig til det forsamlede Publikum og opfordrer til Tavshed“ („In Vers 11 wendet sich der Prolocutor des Dramas an das versammelte Publikum und fordert zum Schweigen auf“) (Meyer, S. 21). Vgl. hier die ganz ähnlich lautenden Verse 1655f. in der Inkunabel von 1489: Hîrumme latet ju desse figuren vor ogen stân,/ Wente in korten tiden mote gi dâran. Wolfgang Spiewok: Das Redentiner Osterspiel. In: W. S.: Mittelalterliche Literatur up plattdütsch (Reinekes TB-Reihe 20). Greifswald 1998, S. 76-97, hier S. 84f. An dieser Stelle ist auf die allgemeine Ähnlichkeit der Teufelsszenen in Osterspielen mit Totentänzen hinzuweisen; in besonderer struktureller Nähe zu solchen Teufelsspielen steht
Der dänische Totentanz
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Mag auch die Konzeption des dänischen Totentanzes eine dramatische und für die Aufführung vorgesehene sein, so liegt mit dem überlieferten Druck offensichtlich eine zum Lesen gedachte Bearbeitung vor; darauf läßt etwa die Bebilderung mit Holzschnitten schließen, die in einem für die Aufführungspraxis gedachten Textexemplar obsolet wäre. Ein weiteres Indiz hierfür bietet der Inhalt des ersten, der Prologstrophe zugeordneten Holzschnittes, der nicht aus Lübeck stammt. Das Bild zeigt einen Prediger auf der Kanzel486 und gesellt den dänischen Druck damit anderen Totentänzen zu, die eine ähnliche Gestaltung zeigen, wie das Revaler Gemälde, der Berliner Totentanz und der Totentanz von La Chaise-Dieu. Der Prediger, dem konsequenterweise dann auch die erste Strophe in den Mund gelegt werden muß, ist in der Lesehandschrift also das Pendant des magister ludi; ebenso wie dieser kann er das Publikum mit dem kollektiven „ihr“ anreden und konstituiert mithilfe des liturgischen „wir“ die der Bußpredigt beiwohnende Gemeinde.487 Durch die Beigabe des Holzschnitts wird die Konvertierung des Schauspiels in ein Erbauungsbuch geleistet, wird gewissermaßen der Medienwechsel vollzogen. Ähnlich ist auch der am Ende des Druckes befindliche Holzschnitt zu verstehen, der an die Autorfiguren der Danse macabre erinnert. In einem Epilog wendet sich hier unter der Überschrift Een endelig beslutning488 Oc formaning („Ein endgültiger Beschluß und eine Ermahnung“) der Conclusor489 – Der dänische Totentanz
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natürlich der vorliegende dramatisch konzipierte Totentanz; vgl. auch Claußnitzer/ Freytag/ Warda sowie Claußnitzer. Siehe die Abbildung auf der CD-ROM. Meyer glaubt, das Vorhandensein eines Predigers spreche für die Kenntnis des Bildes in der Marienkirche (vgl. Meyer, S. 15). Ob dieses in der alten Fassung wie das Revaler Bild einen Prediger enthielt, weiß man allerdings nicht genau. In jedem Fall zeigt die Verwendung dieses Bildes (das übrigens zweimal auftaucht, am Anfang und ebenso am Ende), daß dem dänischen Bearbeiter die Totentanz-Tradition der Rahmung durch Predigerfiguren bekannt war, ohne auf einen bestimmten Totentanz zu verweisen. So ist ja auch der nach dem Prolog folgende, dem Tod zugeschriebene Abschnitt, der noch nicht zu den Dialogen gehört, Døden til Meenheden („Der Tod zur Gemeinde“) überschrieben. Es gilt allerdings zu bedenken, ob das Wort meenhed nicht auch „Allgemeinheit“ (dän. almenhed) anstatt „Gemeinde“ (dän. menighed) bedeuten könnte. Im Mittelniederdeutschen kann das Wort meenhed bzw. menighed auch die Bedeutung von „Bürgergemeinde“ haben; vgl. hierzu Antjekathrin Graßmann (Hg.): Lübeckische Geschichte. Lübeck 1988, S. 233. Meyer versteht beslutning im Sinne von „Summe dieses Buches“ („summen paa denne bog“, vgl. Meyer, S. 79); neben „Entschluß“ kann das Wort auch „Beschluß“, „Schluß“ bedeuten. Am Ende des Totentanzes, nach den Worten der Amme mit Kind, wendet sich der Tod noch an eine weitere Person: Læg nu aff din Spanske kappe/ Padder og Orm skulle dine Tarme nappe („Leg nun deinen Spanischen Mantel ab, Kröten und Wurm sollen an deinen Gedärmen nagen“) (V. 696f.). Meyer bezeichnet diese Figur als „Epilogus“, als den Conclusor, der die letzten Worte spreche. Meyer hält es des weiteren für möglich, daß auf der Bühne diese Figur in ihrer Rede vom Tod abrupt unterbrochen werden sollte, damit der Tod, wie überall in den einzelnen Redewechseln, und wie es für ein Totentanzdrama nur natürlich bzw. angemessen sei, das letzte Wort behält: „Maaske bliver Epilogus pludselig afbrudt af Døden. Det var i et Dødedansdrama – ligesom Døden jo i det enkelte Replikskifte stadig fik det sidste ord i den danske Bearbejdelse – naturligt, at det hele sluttede med en Replik af Knokkelmanden“ (Meyer, S. 25). – Daß Meyer sich hier offenbar irrte, weist Hagstrøm nach, der mithilfe der jüngeren Ausgabe des dänischen Totentanzes von 1634 (die leider in keiner Edition zugänglich ist) den an dieser Stelle nur fragmentarisch erhaltenen alten Text zu ergänzen vermag.
Einzeluntersuchungen
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bzw. auf das Buch bezogen, der Autor – an sein Publikum: Christelige venner, i haffue nu seet/ det som er for eder teet („Christliche Freunde, ihr habt nun das gesehen, wie es für euch aufgeführt wurde“) (V. 698f.). Es wird hier also noch einmal der visuelle Aspekt des Vor-Augen-Stellens hervorgehoben; da das Wort teet nach Meyer aber nicht nur im Sinne von „aufgeführt“ verstanden werden kann, sondern auch „gezeigt“ heißen mag,490 ist diese Formulierung auch in dem in das Buchmedium konvertierten Totentanz noch passend. Hinweise wie Der fore lader oss for øyen staa („deswegen laßt es euch vor Augen stehen“) (V. 31) ergeben auch in dieser schriftlich fixierten Buchform des Totentanzes einen Sinn, indem nun das verlorengegangene dramatisch-visuelle Element durch die Neuzugabe von Holzschnitten kompensiert wird, so daß nach wie vor eine – wenn auch weniger eindrucksvolle – Veranschaulichung gewährleistet ist. So lassen sich zwar naturgemäß aufgrund dieser speziellen Genese des dänischen Totentanzes keine direkten Korrespondenzen zwischen Bild und Text aufzeigen (abgesehen von der Jungfrau mit der Perlenkette), doch wird deutlich, daß gerade in diesem Druck den Holzschnitten eine spezielle Rolle zukommt, die sich vom Stellenwert der Bilder in anderen Totentänzen unterscheidet: Im dänischen Totentanz sind die Illustrationen offensichtlich eine Art Ersatz für das dramatische Vor-Augen-Stellen des Todes in Form eines Schauspiels. Daneben mögen sie – wie in vielen Drucken – auch als optischer Anreiz zum Erwerb der Textausgabe gedient haben; diese Funktion der Holzschnitte läßt sich wohl in einem gewissen Maße auch für die anderen in dieser Untersuchung behandelten Buchtotentänze behaupten. Einzeluntersuchungen
3.2. Die mitteldeutschen Totentänze 3.2.1. Der mittelrheinische Totentanz Der Begriff „mittelrheinischer Totentanz“ wird in der neueren Forschung verwendet, um eine Reihe von Denkmälern zusammenzufassen, die die gleiche Textgrundlage verbindet.491 Die wichtigsten Text- und Bildzeugen sind der wahr-
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Nach Amme und Kind, die im alten Text an letzter Stelle stehen, befindet sich nämlich in der Ausgabe von 1634 noch eine weitere Figur, der Handwerksgeselle; an ihn, nicht an den „Epilogus“ sind wohl die oben zitierten Worte adressiert – da Meyer der vollständige Text nicht vorlag, hielt er die oben zitierten Verse für einen an den Conclusor gerichteten Anruf (siehe unter http://www.dodedans.com/Dkbh37.htm#handvs); zum Spanischen Mantel bzw. Mäntelchen siehe auch Jaacks, S. 121. Vgl. Meyer, S. 91. Zum Wortgebrauch ist präzisierend noch folgendes anzumerken: Der Begriff „mittelrheinischer Totentanz“ bezeichnet im engeren Sinne lediglich den Text, der den in diesem Abschnitt behandelten Totentänzen ganz oder in Teilen zugrundeliegt und in der sozusagen „reinsten“ Form im Knoblochtzer-Druck überliefert ist. Die mit diesem Titel ausgedrückte regionale Zuordnung gründet auf der dialektologischen, von Stammler und Rosenfeld vorge-
Der mittelrheinische Totentanz
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scheinlich um 1485/88 in Heidelberg bei Heinrich Knoblochtzer erschienene Doten dantz mit figuren clage vnd antwort schon von allen staten der werlt und eine in der Landesbibliothek Kassel aufbewahrte illustrierte Handschrift, die wohl ebenfalls aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts stammt. Neben diesen beiden Hauptvertretern der mitteldeutschen Linie gibt es noch einige andere Totentänze, die auf die eine oder andere Art eine Verbindung mit diesem Überlieferungszweig aufweisen und daher zu seinem weiteren Umkreis zu zählen sind. So ist die illustrierte Handschrift der Grafen von Zimmern vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis in Details hinein vom mittelrheinischen Totentanz inspiriert. Ebenfalls unter dessen Einfluß entstand ein Kirchengemälde im elsässischen Kienzheim, von dem nur der Text samt einer Beschreibung des ehemals zugehörigen Wandbildes überliefert wurde.492 Des weiteren ist ein mittelniederländisches Textfragment zu nennen, das unter dem Namen „Overijsselscher Totentanz“ in die Forschungsliteratur einging, sowie ein als „Nordböhmischer Totentanz“ bezeichneter Text. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Denkmälern werden an späterer Stelle im Detail betrachtet. Hier sei vorerst lediglich angemerkt, daß die mitteldeutsche Überlieferungslinie, ähnlich wie die nieder- und oberdeutschen TotenDer mittelrheinische Totentanz
492
nommenen Bestimmung (s.u.) und sagt nichts über die tatsächlichen Ursprungsorte der anderen Totentänze aus, die auch zu dieser Gruppe gehören – ebenso wie der Begriff „mitteldeutsch“, der hier ähnlich als Oberbegriff für die Totentänze dieser Gruppe verwendet wird (z.B. Rosenfeld, Totentanz, S. 230; Schulte, S. 180), obwohl etwa der Kienzheimer und der Nordböhmische Totentanz aus ganz anderen Regionen stammen. Die Terminologie mag in diesem Sinne nicht ganz schlüssig erscheinen, wird aber in der Forschung so verwendet und ist notwendig, um eine klare Abgrenzung zur oberdeutschen Gruppe zu schaffen. Mit dieser verhält es sich ähnlich: „Oberdeutsch“ bezeichnet ebenfalls im wesentlichen die Sprachform desjenigen Textes, der den Totentänzen dieser Linie in mehr oder weniger gleicher, zuweilen etwas abgewandelter Form als Grundlage dient. Es bleibt also zusammenfassend festzuhalten, daß die Begriffe „mittelrheinisch“ bzw. „mitteldeutsch“ auf der einen und „oberdeutsch“ auf der anderen Seite verwendet werden, um zwei verschiedene Textgrundlagen zu bezeichnen, anhand derer sich die Totentänze gruppieren lassen. Es werden damit jedoch nicht unbedingt Aussagen über den Heimatort der entsprechenden Totentänze gemacht. Die regionalen Verhältnisse liegen zuweilen anders, da im Verlauf der Entwicklung des Genres diese Texte auch wanderten, so daß es durchaus Totentänze geben kann, die im oberdeutschen Raum beheimatet sind, aber den mittelrheinischen Text benutzen (wie z.B. der Zimmernsche Totentanz), oder theoretisch auch umgekehrt. Insgesamt muß beachtet werden, daß regionale Überschneidungen und Kontaminationen verschiedener Versionen eine rein geographische oder dialektologische Klassifikation der Totentänze oftmals zunichte machen, so daß anstelle solcher Kriterien die Aufteilung in Gruppen bestimmter „Basistexte“ durchaus sinnvoll – wenn nicht die einzig handhabbare Möglichkeit der Klassifikation – ist. Da Text- und Bildtraditionen nicht immer konvergieren, kann grundsätzlich natürlich sowohl anhand der Bilder als auch anhand der Texte klassifiziert werden (vgl. hierzu Anm. 312), letzteres ist jedoch einfacher, erstens, weil Textübereinstimmungen und -entlehnungen oft eindeutiger festgemacht werden können als ikonographische Anklänge (es sei denn, es handelt sich um regelrechte Kopien), und zweitens, weil meist aus Texten konsistenter und durchgehender entlehnt wird, während die Übernahmen aus Bildern oftmals sporadischer sind und zuweilen nur einzelne Elemente betreffen. In der Forschung wird der Kienzheimer Totentanz aufgrund seiner Stellung als Mischform gelegentlich auch den oberdeutschen Totentänzen zugeschlagen; s.u. Abschnitt 3.2.1.4.
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Einzeluntersuchungen
tänze, eine in sich relativ abgeschlossene Gruppe konstituiert.493 Wie die gesamte Totentanz-Thematik überhaupt, können aber auch diese in sich zusammengehörigen Totentänze nicht isoliert vom gesamteuropäischen Kontext gesehen werden. Gerade bei den mitteldeutschen Texten und Bildern zeigt sich der überaus starke Einfluß der französischen Danse macabre, im Besonderen des Druckes von Guyot Marchant, der erstmalig 1485 erschien. In diesem Sinne wird im folgenden daher immer wieder vergleichend auf die französische Tradition Bezug genommen, um offenzulegen, in welchem Maße der mittelrheinische Totentanz Anleihen bei ihr macht und sich dabei durch verschiedene Modifikationen das Material aneignet, um es den eigenen lokalen Gegebenheiten anzupassen. Da der Doten dantz mit figuren und die Kasseler Handschrift überlieferungsgeschichtlich besonders eng zusammenhängen, kann in der folgenden Besprechung nicht immer eine strikte Trennung aufrechterhalten werden. Einige der Aussagen und Untersuchungsergebnisse treffen mithin auf beide Denkmäler gleichermaßen zu und werden daher nicht eigens doppelt aufgeführt. Aus dem gleichen Grund muß in dem Abschnitt über den Knoblochtzer-Wiegendruck zuweilen schon auf die Kasseler Handschrift vorgegriffen werden. Einzeluntersuchungen
3.2.1.1. Der Knoblochtzer-Druck Die in verschiedenen Exemplaren überlieferte Inkunabel Der doten dantz mit figuren clage vnd antwort schon von allen staten der werlt494 konnte anhand eines Typenvergleichs der Druckerei von Heinrich Knoblochtzer zugewiesen werden,495 der zuerst in Straßburg arbeitete und 1485 nach Heidelberg übersiedelte.496 Verschiedene äußere Umstände lassen darauf schließen, daß der vorliegende Druck
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Nur vereinzelt wird in der Forschung die Ansicht vertreten, es gebe Beziehungen zum oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text (vgl. etwa Breede, S. 71 und 80f.; die dort als Beleg angeführten Textstellen sind jedoch nicht sehr beweiskräftig). Im allgemeinen herrscht Übereinstimmung, daß der mittelrheinische Totentanz innerhalb der deutschen Tradition recht eigenständig dasteht. Aus diesem Grunde wird in diesem Kapitel auch wenig Bezug auf etwaige Relationen zu anderen deutschen Totentänzen genommen. Eine Ausnahme stellt der Kienzheimer Totentanz dar. Dieser Titel stammt vom Vorblatt des Drucks. Im folgenden wird der Titel der Einfachheit halber abgekürzt mit Doten dantz (mit figuren) wiedergegeben, wenngleich dies genaugenommen den Genitiv unterschlägt (‚Tanz der Toten’). Aus Gründen des Satzbaus wäre dies jedoch teilweise nur unter Verwendung periphrastischer Formulierungen zu vermeiden. Voulliéme erbrachte mithilfe einer genauen Typenanalyse den Nachweis, daß es sich bei dem Doten dantz mit figuren um einen der Heidelberger Drucke Knoblochtzers handelt und widerlegte damit die bis dahin gültige Zuschreibung an Johann Zainer in Ulm (vgl. Voulliéme 1925, S. 141). Knoblochtzers Residenz in Heidelberg ist durch seine Eintragung in die Universitätsmatrikel schon für das Jahr 1486 belegt; sein erster firmierter Druck erschien dort jedoch erst 1489. Voulliéme vermutet allerdings, Knoblochtzer habe bereits 1485 in Heidelberg gedruckt. Seine letzten datierten Straßburger Drucke stammen von 1484, er könnte somit auch in diesem Jahr schon übergesiedelt sein (vgl. Voulliéme 1922, S. 73 und 149).
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wohl in Heidelberg beheimatet ist.497 Ein Hinweis auf die Entstehungszeit der Inkunabel bzw. ein terminus post quem ist das Erscheinungsdatum des Danse macabre-Drucks von 1485, dessen Einfluß deutlich nachweisbar ist.498 Die Datierungen in der Forschungsliteratur weichen – wie üblich – stark voneinander ab, in diesem Fall zusätzlich verkompliziert durch die divergierenden Einschätzungen der Überlieferungszusammenhänge zwischen Knoblochtzers Inkunabel und der Kasseler Handschrift. Die ältere Forschung ging noch von handschriftlich eingetragenen Jahreszahlen auf zwei der erhaltenen Drucke aus und datierte demnach diese Exemplare auf 1459 bzw. 1470. Später konnte jedoch nachgewiesen werden, daß die Eintragungen höchstwahrscheinlich nicht als Entstehungsdaten der betreffenden Drucke gewertet werden können.499 Inzwischen hat sich in der moderneren Sekundärliteratur die Datierung um 1485 – wahrscheinlich sogar etwas später500 – weitgehend durchgesetzt. Der Doten dantz mit figuren clage vnd antwort schon von allen staten der werlt besteht aus 37 Einzelszenen zwischen jeweils einem Ständevertreter und dem Tod, ergänzt durch eine von allem staidt betitelte Szene, in der alle bisher nicht genannten Stände noch einmal pauschal angerufen werden. Wie in anderen Buchtotentänzen (z.B. Lübeck 1489), so ist auch hier noch die aus den fortlaufenDer Knoblochtzer-Druck
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Vgl. z.B. Voulliéme 1925, S. 141. – Aufgrund eines abgebildeten Wappens mit drei Hirschgeweihen, das er mit Württemberg in Verbindung bringt, lokalisiert Hammerstein als einziger den Knoblochtzer-Druck nach Straßburg (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 206). Heidelberg als angenommener Druckort schlägt sich dagegen bei Lemmer sogar in seiner Titelgebung nieder – er nennt die vorliegende Inkunabel kurzerhand „Heidelberger Totentanz“, vielleicht im Anschluß an Baer. Es ließe sich natürlich einwenden, der französische Einfluß könnte ebensogut von dem Original-Wandgemälde ausgegangen sein, doch setzt das Vorhandensein genauer textlicher Entlehnungen – in einigen Fällen richtiggehender (freier) Übersetzungen – wohl zumindest die Benutzung einer Abschrift voraus; da Knoblochtzer-Inkunabel und Danse macabre-Druck sich aber von ihrer ganzen medialen Aufmachung her sehr ähnlich sind, kann man wohl von einer Beeinflussung durch das Druckwerk und nicht durch die Friedhofsmalerei ausgehen. Erstaunlicherweise geht auch noch Cosacchis Untersuchung (1965) von diesen Daten aus. Dieser Irrtum ist eigentlich unverständlich, war doch seit den Erkenntnissen Voulliémes, die Cosacchi schon um einige Jahrzehnte vorausgingen, in der Forschung bekannt, daß die handschriftlichen Jahreszahlen offensichtlich nicht die Erscheinungsdaten bezeichnen können; so weisen z.B. sowohl die verbreiteten Publikationen Rosenfelds (Totentanz, S. 237) als auch Stammlers (Totentanz, S. 71, Anm. 15) ausdrücklich darauf hin. Voulliéme gibt an, die im betreffenden Druck verwendete Type sei zwischen 1486/88 und 1493 verwendet worden (vgl. Voulliéme 1925, S. 141). Ähnlich meint Koller, die Inkunabel sei in keinem Fall früher als 1488/98 zu datieren und stehe vielleicht sogar mit einer Pestepidemie gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Zusammenhang (vgl. Koller, S. 538); Baer vermutet ebenfalls eine Verbindung zur Pest, bevorzugt aber eine Entstehungszeit vor 1488 (Baer, S. 270). Hammerstein dagegen ist aufgrund seiner Wappenanalyse (s.o. Anm. 497) geneigt, an dem etwas früheren Datum 1485 festzuhalten: „Wäre der Druck in Heidelberg erfolgt, dann wäre [anstelle des württembergischen] mit Sicherheit das Pfälzer Wappen zu erwarten gewesen“ (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 206). Da Knoblochtzer aber nur bis 1485 in Straßburg wirkte, bevor er nach Heidelberg ging, muß für Hammerstein die Entstehungszeit davor liegen. Auch Rosenfeld spricht sich für 1485 aus (Rosenfeld, Totentanz, S. 234 mit Anm. 5).
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Einzeluntersuchungen
den Reigen der Wandgemälde stammende Ausrichtung nach links rudimentär erkennbar. Die Figuren sprechen in achtzeiligen Reimpaarstrophen,501 die sich über den Holzschnitten502 befinden und deren Beginn durch geschmückte Initialen abgesetzt ist. Am Anfang des Totentanzes steht die Abbildung einer Gruppe musizierender Toter, komplementiert durch die Worte Einzeluntersuchungen
WOL an wól an ir herren vnd knecht Springet her by von allem geslecht Wie iunck wie alt wie schone ader kruß Ir mußet alle in diß dantz huß 503
Der zweite Holzschnitt zeigt in einem Grab neben einem Karner einen von anderen Hautskeletten umtanzten Toten, der eine Art Prolog an alle mentschen adressiert. Danach beginnt der eigentliche Totentanz, der mit einem längeren Epilog endet; am Schluß steht nochmals der Holzschnitt eines Beinhauses, umgeben von mehreren Gräbern, aus denen Tote heraussteigen.504
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Koller glaubt, als Autor Johannes von Soest ausmachen zu können, der seit 1471 Kapellmeister der kurpfälzischen Hofkantorei in Heidelberg war. Durch dessen Anregung, so vermutet Koller, könnte auch die Prominenz des Instrumentenmotivs zu erklären sein (vgl. Koller, S. 539f.). Belege kann Koller indessen nicht anführen. Ausgehend von der Beobachtung, daß die ersten 26 Holzschnitte sich qualitativ von den folgenden 15 unterscheiden, vor allem was die Dynamik der Figuren betrifft, schreibt Baer den zweiten Teil des Totentanzes dem sogenannten „Hausbuchmeister“ zu und nimmt an, der erste Teil könnte von einem Schüler dieses Künstlers gefertigt worden sein, einem „Meister h“ (vgl. Baer, S. 271f.). Rosenfeld polemisiert gegen diese These: „Es ist dies eine jener unhaltbaren Zuweisungen unbekannter Werke an einen bekannten Namen […]. Man operiert mit allgemeinen ästhetischen Urteilen, ohne wirklich beweisendes Vergleichsmaterial zu erbringen“ (Rosenfeld, Totentanz, S. 237). Nahezu einmütig spricht sich die Forschung für den insgesamt hohen Stellenwert aus, den der vorliegende Wiegendruck in der Buchillustration der Zeit einnimmt (vgl. hierzu Baer, passim, sowie Kunze, der dem Knoblochtzer-Druck z.B. auch den künstlerischen Vorrang vor der Lübecker Inkunabel von 1489 einräumt, vgl. Kunze, S. 357). Erstaunlich abweichend lautet dagegen Breedes Urteil, die der Ansicht ist, daß der Künstler „weder in seinen Bildern noch in seiner Ausführung zu den Grossen gehört“. Sie findet, der Text zeige einen „etwas kleinlichen Ton“ und sei „beinahe ermüdend“; im ganzen Totentanz herrsche „eine gewisse Eintönigkeit“ (Breede, S. 69). Der Text des Knoblochtzer-Druckes wird nach der Ausgabe von Lemmer zitiert, die mir zuverlässiger erscheint als die ältere von Rieger; Rieger scheint sich zudem meist auf die Kasseler Handschrift zu beziehen. Im Gegensatz zu Rieger bietet Lemmer allerdings leider keine Verszählung; ich übernehme daher Riegers Zählung, damit Textstellen leichter aufgefunden werden können. Pro- und Epilog zählt Rieger nicht mit. Rosenfeld hält diese „unorganisch angestückte“ Szene nicht für einen ursprünglichen Teil des Totentanzes (Rosenfeld, Totentanz, S. 248), ähnlich Hammerstein, der diese Illustration samt abschließendem Text als „Fremdkörper“ bezeichnet (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 84). Tatsächlich finden sich einige Verse des Totentanzes auch im ‚Spiegelbuch’, einer in Form mehrerer aneinandergereihter Gespräche abgefaßten Versdichtung vermutlich aus dem 2. Viertel des 15. Jahrhunderts. Das epilogartige Ende des Totentanzes scheint fast vollkommen aus dieser Dichtung übernommen worden zu sein, nur die letzten zwei Verse hat der Totentanz-Dichter hinzugefügt. Rosenfeld hat wohl ebenfalls recht mit seiner Vermutung, daß nicht nur der Text, sondern auch die Anregung für das Bild aus dem ‚Spiegelbuch’ kam, denn dort werden die entsprechenden Verse ebenfalls mit einem (noch dazu ganz ähnlich aussehenden) Beinhaus illustriert (s. auch Nigel F. Palmer, Artikel ‚Spiegelbuch’, in: VL Bd. 9, Sp. 134-
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Die Benennung „mittelrheinischer Totentanz“ geht – angeblich unabhängig voneinander – auf Stammler505 und Rosenfeld506 zurück und trägt den Dialektmerkmalen der Sprache Rechnung, die ins rheinfränkische Gebiet weisen. Die Nähe der betreffenden Gegend zu Frankreich ist wohl auch dafür verantwortlich, daß hier eine besondere Empfänglichkeit für die Impulse der Danse macabre vorlag.507 So teilt der Doten dantz mit figuren einige Charakteristika dieses französischen Totentanzes. Möglicherweise sind die vier musizierenden Toten am Beginn des Doten dantz ein Echo der Toten-Kapelle am Anfang der Danse macabre,508 ebenso wie vermutlich der aus dem Grab sprechende Tote dem französischen roy mort entspricht (der allerdings in der Danse macabre nicht zu Beginn, sondern am Ende positioniert ist). Bezeichnenderweise trägt der König im Doten dantz ein Banner mit der französischen fleur-de-lys;509 dies ist jedoch kein Merkmal ausschließlich des vorliegenden Totentanzes. Der Knoblochtzer-Druck
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138; eine Textausgabe bietet Rieger [1871], Reproduktionen der Abbildungen bei Cosacchi, für den vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse sind Tafel X und XII). Vgl. Stammler, Totentanz, S. 61. Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 233-236. – Auf mittelrheinische Sprachmerkmale hatte allerdings schon Rieger hingewiesen (vgl. Rieger, Jüngerer Totentanz, S. 259), bei ihm läuft das betreffende Denkmal jedoch noch unter der Bezeichnung „Jüngerer Totentanz“, in Abgrenzung zum „älteren Totentanz“, dem deutsch-lateinischen Mischtext, der mit dem mittelrheinischen Totentanz das Merkmal der Achtzeiligkeit teilt und von Rosenfeld mit der Bezeichnung „Würzburger Totentanz“ versehen wurde (vgl. Anm. 690). Vor Rosenfelds und Stammlers Benennung war noch der Name „oberdeutscher achtzeiliger Totentanz“ gebräuchlich (vgl. z.B. Breede); Maßmann betitelte seinen entsprechenden Abschnitt „Deutscher Doten dantz“; und die größte Konfusion verursacht Cosacchi, indem er vom „Casseler Toten-Tanz“ spricht, aber damit neben der Kasseler Handschrift auch den Knoblochtzer-Druck meint. Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 230-233. Die vier musizierenden Toten treten allerdings erst in der Danse macabre-Neuauflage von 1486 auf (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 172, siehe auch CD-ROM). Will man hier tatsächlich von Entlehnung sprechen, müßte man entweder davon ausgehen, daß die zweite und nicht die erste Auflage des französischen Totentanzes den Knoblochtzer-Druck inspiriert hat (was den terminus post quem um ein Jahr nach hinten verschieben und damit eine Entstehungszeit der deutschen Inkunabel um oder nach 1486 nahelegen würde), oder man kann mit Rosenfeld davon ausgehen, daß der Überlieferungsweg umgekehrt war und der Reißer des französischen 1496-Drucks sich von Knoblochtzer hat anregen lassen (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 253f. Die einzig mögliche Datierung des Doten dantz ist für Rosenfeld damit natürlich 1485, da die Entstehung zwischen den beiden Danse macabre-Drucken stattgefunden haben muß. Letzteres halte ich allerdings für wenig wahrscheinlich; wie oben erörtert, lassen Voulliémes Befunde auf eine etwas spätere Druckzeit schließen, was dann auch zu dem späteren terminus post quem paßt). Natürlich können die beiden Holzschnitte aber auch ganz unabhängig voneinander sein; immerhin stimmen weder die Pose der vier Todesfiguren noch deren Instrumente überein. Wackernagel erklärt: „der könig von Frankreich stand dem deutschen mittelalter wie erklärlich an der spitze alles [sic] königtums“ (Wackernagel, S. 337); und auch Cosacchi meint, der französische König habe „im Mittelalter immer als der oberste Führer aller Könige“ gegolten (Cosacchi, S. 729). Das Auftreten eines französischen Königs im deutschen Totentanz gründet aber vielleicht auch auf der Tatsache, daß in Deutschland zu der betreffenden Zeit Kaiser und König identisch waren, da deutsche Könige sich in der Tradition Karls des Großen, basierend auf dem translatio imperii-Gedanken, zum Kaiser krönen ließen. Daher tritt neben dem deutschen Kaiser der König eines anderen Herrschaftsgebietes auf; in diesem Fall liegt aufgrund der Impulse, die von der Danse macabre ausgehen, ein französischer König nahe. – In-
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Einzeluntersuchungen
Eine kleinere Übereinstimmung betrifft die Darstellung des Chorherrn in beiden Totentänzen. Sowohl in der Danse macabre als auch auf dem KnoblochtzerHolzschnitt hat der Domherr die Almuzia510 aufgesetzt. In der deutschen Illustration sind allerdings die gefütterten hornartigen Ecken der Kopfbedeckung betonter ausgeführt als im französischen Bild. Da die Chorherren in vielen anderen deutschen Totentänzen – z.B. in Basel und im Heidelberger Blockbuch – die Kapuze zurückgeschlagen haben, so daß nur der untere Teil des befransten Umhangs auf den Schultern zu erkennen ist, mögen die mittelrheinischen Abbildungen vielleicht tatsächlich in dieser Hinsicht von der Danse macabre inspiriert sein; es kann natürlich auch eine zufällige Ähnlichkeit vorliegen, da es sich um ein für die Kanoniker des Mittelalters typisches Kleidungsstück handelt.511 Einzeluntersuchungen
Neben diesen ikonographischen Anklängen hat der Dichter des mittelrheinischen Totentanzes sich aber auch an vielen Stellen textlich recht detailliert von der Danse macabre anregen lassen. Hier sei nur eine Auswahl aus vielen möglichen Beispielen getroffen. Oft wird auf die Verwendung von achtzeiligen Strophen in beiden Dichtungen hingewiesen;512 allerdings ist zu beachten, daß die Danse macabre den Kreuzreim verwendet, während der deutsche Text in Paarreime gesetzt ist. Offensichtliche Entlehnung liegt bei den Versen des Kindes vor: Der deutsche Text A.a.a. ich enkan noch nit sprechen/ Hüde geborn hüde müß ich auffbrechen (V. 345f.) geht deutlich auf den Beginn der entsprechenden französischen Strophe zurück: A.a.a. ie ne scay parler/ Enfant suis: iay la langue mue./ Hier naquis huy men fault aler/
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teressanterweise gibt jedoch die Kasseler Handschrift den König als deutschen Herrscher wieder, gegen die üblichen ikonographischen Traditionen bartlos und „nicht im Krönungsornat, sondern in normaler höfischer Kleidung […]. Sein Wappen zeigt den Reichsadler mit nur einem Kopf“ (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 204). Die Almuzia (auch Almutium, frz. aumusse) war ein aus Pelz gefertigtes oder pelzgefüttertes Kleidungsstück mit einer Art Kapuze und einem capeähnlichen, am Rand mit Fransen besetzten Unterteil, das im Mittelalter die Kanoniker trugen. Es hatte zwei gefütterte, hornartige Ekken am Kopfteil. In späterer Zeit (16. Jh.) trug man es über dem Arm (wie im Danse macabre-Bilderbogen aus Paris von 1490, gedruckt bei Vérard, abgebildet, Reproduktion bei Hammerstein, Abb. 49-53, Beschreibung S. 174f.); schließlich wurde es zunehmend von anderen, noch heute gebräuchlichen Kopfbedeckungen wie Birett und Mozetta verdrängt (siehe z. B. J. A. Jungmann, Artikel ‚Almuzia’, in: LThK, Bd. 1, Sp. 363). Im Gegensatz zu den oben erwähnten oberdeutschen Totentänzen hat der Domherr, ebenso wie in der Danse macabre und im Knoblochtzer-Druck, im Lübecker Totentanz von 1463 – der ja auch der französischen Überlieferung nahesteht – das Almutium ebenfalls auf dem Kopf. Allerdings handelt es sich merkwürdigerweise nicht um ein Kleidungsstück aus Pelz. Vielleicht liegt hier ein kleinerer kostümgeschichtlicher Irrtum des Malers vor. Das Charakteristikum der achtzeiligen Strophen teilt auch der ebenfalls zum Einflußkreis der Danse macabre gehörige Lübecker Totentanz von 1463, wie der mittelrheinische Totentanz in Paarreimen.
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Ie ne faiz quentree et yssue.513 Auch der Arzt spricht in beiden Totentänzen ähnliche Verse:514 Ie ne scay que ie contredie Plus ny vault herbe ne racine: Nautre remede quoy quon die. Contre la mort na medicine515
beklagt er sich in der Danse macabre und regte damit vielleicht die folgenden Verse des Knoblochtzer-Drucks an: Sünder widder den doit tz disser fart/ Finden ich keyn krdt das mych verwart (V. 139f.). Der Text des Kaufmanns Ich han gelauffen durch berge vnd dail (V. 585) ist ebenfalls aus der Danse macabre übernommen: Iay este amont et aval […].516 An dieser Stelle muß darauf hingewiesen werden, daß textliche und vereinzelt auch bildliche Anklänge an die Danse macabre nicht auf den KnoblochtzerDruck beschränkt sind, sondern allgemein für den mittelrheinischen Totentanz festgestellt werden können, der in dem Heidelberger Druck ja nur in einer von mehreren unterschiedlichen Ausprägungen vorliegt. Da es sich z.B. in der Kasseler Handschrift um einen nahezu identischen Text handelt, können die oben erwähnten Entlehnungen natürlich auch dort gefunden werden. Die KnoblochtzerInkunabel weist jedoch m.E. eine besondere Affinität zum Danse macabre-Druck von Guyot Marchant auf.517 Sie steht ihm schon deshalb näher, weil es sich bei beiden um gedruckte Buchtotentänze handelt. Zwar muß auch die Kasseler Handschrift einen eigentlich fortlaufend gedachten Reigen in Einzelpaare zerlegen, doch ist die bildliche Ausprägung des Doten dantz mit figuren dem Danse macabre-Druck vergleichbarer als die Illustrationen der Prachthandschrift. Allerdings kann man nicht sicher sein, ob die fragmentarische Kasseler Handschrift nicht auch ursprünglich Szenen wie die Beinhausmusik518 und die FriedDer Knoblochtzer-Druck
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Die Danse macabre wird nach dem Abdruck bei Kaiser zitiert. – Übersetzung: „A, a, a, ich kann nicht sprechen,/ ich bin ein Kind, ich bin stumm. Gestern geboren, muß ich heut’ schon gehen. Ich trete ein und geh’ sogleich hinaus“ (Übersetzung von Kaiser). Wie bereits erwähnt, ist gerade bei der Figur des Arztes zu beachten, daß die oftmals stereotype Gestaltung zu gewissen Ähnlichkeiten bei sehr vielen Totentänzen führt; so gibt es kaum einen spätmittelalterlichen Totentanz, in dem nicht Bezug auf das Urinbeschauen genommen wird (vgl. Block, wie Anm. 275). „Ich weiß nicht, was ich entgegnen soll,/ Kräuter und Wurzeln helfen nicht mehr,/ noch andre Medizin, was immer man auch sagt. Gegen den Tod gibt es kein Kraut [eigentlich ‚Heilmittel’]“ (Übersetzung von Kaiser). „Ich strebte über Berg und Tal“ (Übersetzung von Kaiser). Koller vermutet, daß die Druckausgaben des mittelrheinischen Totentanzes „den französischen Verkaufserfolg Guy Marchants im deutschen Sprachgebiet mit einem an den französischen angelehnten Text und künstlerisch hochwertigen Holzschnitten […] wiederholen wollen“ (Koller, S. 538). Auch Kunze weist auf den verkaufstechnischen Aspekt hin: Es sei naheliegend, daß der frühe Buchdruck, „nach gangbarer Ware Ausschau haltend“, die Totentanzliteratur für sich entdeckte (Kunze, S. 354). Die Bezeichnung „Beinhausmusik“ für den ersten Holzschnitt des Knoblochtzer-Drucks ist m.E. eigentlich nicht ganz korrekt, da es sich eher um eine Art Tanzhaus zu handeln scheint – so ist ja auch im Text vom dantz hus die Rede; von einem solchen spricht auch Kaiser, S. 109. Die Bezeichnung eines Beinhauses als „Tanzhaus“ könnte aber auch eine durchaus beabsich-
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hof- bzw. Grabesszene enthalten hat,519 die – wie oben gezeigt – vermutlich auf die Danse macabre zurückgehen. Trotzdem bestehen zwischen dem MarchantDruck und dem Doten dantz mit figuren mehr Gemeinsamkeiten, wohl auch was die Adressaten betrifft: Der mehrfach aufgelegte Druck erreichte weitaus mehr Publikum als die – vermutlich speziell für eine Person angefertigte – illustrierte Handschrift, ein Unikat. Die im höfischen Bereich angesiedelten Rezipienten der Kasseler Handschrift stehen dabei vermutlich einem größeren Leserkreis des Druckes aus z.T. auch niedrigeren Schichten gegenüber; vielleicht ist ein Gebrauch solcher Druckwerke im seelsorgerischen Kontext denkbar. Einzeluntersuchungen
Die teilweise sehr deutlichen Reminiszenzen an die Danse macabre dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der mittelrheinische Totentanz – und somit im engeren Sinne auch der Doten dantz mit figuren – ein auf örtliche Verhältnisse zugeschnittenes Werk ist, das ein spezifisch deutsches Publikum im rheinfränkischen Raum ansprechen will. So kommen auch lokale Anspielungen wie die Erwähnung des „Wirtes von Bingen“ zustande, ein Umstand, der Rosenfeld dazu veranlaßte, als Heimat dieses Totentanzes das Erzbistum Mainz anzunehmen.520 Eine Verortung im franziskanischen Milieu legt die Bewertung der verschiedenen Orden nahe: Der „gute Mönch“ ist in der Kutte eines Franziskaners dargestellt, während es sich bei dem „bösen Mönch“ um einen Dominikaner handelt.521
Exkurs: Zu den Mönchsgestalten und ihren Ordenstrachten Unter Berufung auf Hammersteins Vergleich des Personals der Danse macabre und der Kasseler Handschrift (siehe Hammerstein, Tanz und Musik, S. 120f.) gibt Schulte an, bereits die Danse macabre treffe „eine Unterscheidung zwischen einem ‚guten Mönch’ (le cordelier) und einem
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tigte Ironie sein. In diese Richtung weist auch Hammerstein, wenn er sagt: „Das Beinhaus ist der Ort, wo alle sich treffen, die längst Gestorbenen, die soeben Ankommenden und schließlich auch diejenigen, die noch kommen werden. So wird das dantzhaus gleichzeitig zum Ort eines neuen, obszönen Tanzes, der den Totentanz als Zug der Stände aufhebt“. Hammerstein sieht darüber hinaus eine deutliche Ähnlichkeit zur Basler Beinhausszene (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 85). In der Forschung wird jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang von einem Beinhaus gesprochen (z.B. auch bei Wilhelm-Schaffer, S. 9), und es ergibt sich damit auch eine Anknüpfung an die Beinhausmusik-Bilder anderer Totentänze, so daß ich diesen Begriff hier beibehalte. Das eigentliche, deutlich als solches zu identifizierende Beinhaus wird im Doten dantz mit figuren jedoch erst auf dem zweiten Holzschnitt (auch dort gibt es ein musikalisches Element im Bild, den paukeschlagenden Tod) sowie auf dem Schlußbild gezeigt. Hammerstein vertritt die Ansicht, die Kasseler Handschrift habe auch einmal ein Einleitungsbild gehabt, „das wie bei Knoblochtzer den im Sarge liegenden Leichnam gezeigt haben dürfte. Ob die Handschrift, wie der Druck, eine Beinhausszene hatte, ist natürlich nicht mehr feststellbar, wir halten es jedoch für unwahrscheinlich“ (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 199). Rosenfeld meint, „die Eingangs- und Schlußszenen haben der Handschrift jedenfalls schon früh gefehlt“ (Rosenfeld, Totentanz, S. 237). Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 236, auch Stammler, Totentanz, S. 61. Vgl. Kaiser, S. 111.
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‚schlechten Mönch’ (le moine) […], die in der Bildredaktion eindeutig als Franziskaner und Dominikaner zu unterscheiden sind“ (Schulte, Totentänze, S. 182 mit Anm. 68). Dies ist meiner Meinung nach nur teilweise richtig. Zum einen wird in der Danse macabre nicht, wie im Text des mittelrheinischen Totentanzes, in den Überschriften explizit zwischen „gutem“ und „bösem Mönch“ unterschieden. Die Bewertungen sind allenfalls aus der Art und Weise zu erschließen, wie die betreffenden Ordensträger im Text repräsentiert werden: Der Franziskaner ist recht neutral dargestellt, während auf den anderen Mönch etwas (undefinierte) Kritik entfällt – er bekennt, für einige Sünden nicht richtig gebüßt zu haben. Zum anderen ließe es sich wohl auch bezweifeln, daß le moinne eindeutig als Dominikaner gekennzeichnet ist. Wenn eine solche „Etikettierung“ beabsichtigt gewesen wäre, hätte der Autor anstatt des neutralen moinne die Ordensbezeichnung wählen können – wie er es bei dem Franziskaner und Kartäuser ja auch tat –, und zudem ist der Ordenshabit auf dem Holzschnitt recht unklar dargestellt. Die für Dominikaner charakteristische schwarz-weiße Tracht (weiße, gegürtete Tunika, weißes Skapulier und schwarzer Mantel) ist m.E. nicht klar zu erkennen. Das Problem liegt natürlich z.T. in der fehlenden Farbwiedergabe der Holzschnitte. Für die Ausweisung als Dominikaner würde hingegen die Tatsache sprechen, daß in einer späteren Danse macabre-Abbildung die betreffende Figur eindeutig mit dem charakteristischen schwarz-weißen Habit ausstaffiert ist (s.u.). Einer der überlieferten Knoblochtzer-Drucke ist koloriert, so daß dort der Dominikaner besser zu identifizieren ist; auch erkennt man recht gut die einzelnen Kleidungsteile. Hammersteins einfache Gleichsetzung der Mönche von deutschem und französischem Text ist in jedem Fall zumindest kritisch zu hinterfragen. Der Abt soll vielleicht ein Benediktiner sein (z.B. nach Kaiser, S. 111). Hier stützt Kaiser sich möglicherweise auch auf das von ihm verwendete kolorierte Exemplar des Drucks, in dem das Gewand des Abtes dunkel gefärbt ist (wenngleich nicht so deutlich schwarz wie z.B. der Umhang des Dominikaners). Allerdings gibt es mehrere Totentänze, in denen der Abt in eine schwarze Tracht gekleidet ist, die ihn vielleicht als Benediktiner ausweisen soll, so etwa im Heidelberger Blockbuch (dort allerdings mit hellem Hals- bzw. Brusttuch) und im Berner Totentanz. Allgemein ist anzumerken, daß es zahlreiche Orden mit verschiedenen Untergruppierungen gegeben hat, die z.B. auch regional verschieden gekleidet waren. Hinzu kommt eine grundsätzliche Schwierigkeit: Nicht immer ist die Ordenstracht auf den mittelalterlichen Abbildungen – gerade den oft sehr groben Holzschnitten – in all ihren Einzelheiten zu erkennen. Als Beispiel mag der „böse Mönch“ im Knoblochtzer-Druck gelten. Er wird in der Forschungsliteratur einheitlich als Dominikaner interpretiert, doch wurde in dem kolorierten Münchner Exemplar sein Skapulier schwarz eingefärbt, obwohl Dominikaner im allgemeinen ein weißes Skapulier tragen. Sehr gut zu erkennen ist der Ordenshabit der Dominikaner z.B. in der Abbildung des Mönches auf dem Pariser Danse macabre-Bilderbogen von 1490 (vgl. Anm. 510, siehe auch CD-ROM, „Diverse Totentänze“). Die Praxis der Kolorierung von Holzschnitten verdient an dieser Stelle einen Seitenblick, ist dieser Aspekt doch für den zu behandelnden Gegenstand nicht ganz unbedeutend. Zur Farbwiedergabe in Xylographa bemerkt etwa Geldner: „Nach der Auffassung des 15. Jahrhunderts sollten alle Holzschnitte mit der Hand koloriert werden. Das ist – glücklicherweise, wie wir heute meinen – nicht immer geschehen“ (Geldner, Inkunabelkunde, S. 86). Friedländer schreibt ähnlich: „Der Holzschnitt um 1470 erscheint gewöhnlich farbig […]. Zwischen 1470 und 1490 wurden in Deutschland zahlreiche Bücher mit kolorierten Holzschnitten unter Mühe und hohen Kosten hergestellt und höher bewertet als die selteneren mit unbemalten Bildern.“ Später sei die Einfärbung jedoch als „überflüssig, schädlich und stilwidrig“ erkannt worden (Friedländer, S. 32-34). – Interessant wäre im Fall des Knoblochtzer-Totentanzes die Frage, ob die Art der Einfärbung den ursprünglichen Aussageabsichten des Künstlers entsprach, denn es ist zu bedenken, daß Kolorierung von Holzschnitten stets eine nachträgliche Sinnzuweisung ist, da die Farben nicht vorgegeben sind. Eine Antwort muß sich jedoch auf Mutmaßungen beschränken. Der Knoblochtzer-Totentanz
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Insgesamt läßt sich feststellen, daß das Personal des Totentanzes den eigenen Verhältnissen angepaßt wurde.522 An Aspekten wie den oben aufgeführten ist folglich zu erkennen, daß trotz gewisser Konstanten in der Überlieferung im jeweiligen Einzelfall jedoch immer eine recht deutliche Aneignung des Materials stattfindet. Dies wird daran erkennbar, daß sich örtliche Gegebenheiten, gesellschaftliche Strukturen, Anschauungen und Haltungen von Auftraggeberkreisen oder sonstige Besonderheiten des Entstehungsortes – wie etwa in Lübeck das Stadtprofil – in den verschiedenen Totentänzen auf je eigene Weise niederschlagen. Einzeluntersuchungen
Eine weitere besondere Eigenheit des mittelrheinischen Totentanzes ist, daß er nicht auf ein monumentales Wandgemälde zurückzugehen scheint,523 wie viele der anderen in Buchform überlieferten Totentänze – wobei eventuelle Verluste in Betracht gezogen werden müssen. Auf der Grundlage des derzeitigen Forschungsstandes handelt es sich jedoch um einen reinen Buchtotentanz. Folgt man allerdings Rosenfeld, sind als Vorstufe ein oder mehrere Bilderbögen anzusetzen. Die bereits mehrfach kritisch erwähnte Bilderbogen-Hypothese erlaubt Rosenfeld einerseits eine bemerkenswert frühe Datierung der „Urform“ des mittelrheinischen Totentanzes, andererseits aber auch eine bequeme Erklärung für die offensichtlich etwas verworrene Ständereihenfolge im zweiten Teil des KnoblochtzerDrucks, die vielfach die Aufmerksamkeit der Forschung erregt hat.524 So sei bei 522
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Rosenfeld ist der Ansicht, der Personenkreis des mittelrheinischen Totentanzes gehöre eindeutig in das Milieu einer großen (rheinischen) Stadt. Deshalb seien z.B. der Patriarch und der Bauer aus dem französischen Totentanz in der deutschen Version weggelassen worden (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 246f.); vgl. dazu auch Hammerstein, der „eine Bischofsstadt mit bestimmendem franziskanischen [sic] Einfluß“ (Tanz und Musik, S. 124) als Ursprungsort annimmt, sich allerdings für Besançon entscheidet. Allerdings steht im Hintergrund das Wandgemälde der Danse macabre, wenn auch über einige Zwischenstufen entfernt. In dem Wolfenbütteler Exemplar, das mir vorlag (Signatur 19.2 Ethica 2°), wird die Problematik zusätzlich verkompliziert, indem offensichtlich versucht wurde, die verderbte Reihenfolge zu verbessern. Die Numerierungen über den Holzschnitten wurden dort durchgestrichen und durch neue Ziffern ersetzt. Es ergibt sich somit ab dem Jüngling eine veränderte Reihenfolge, und zwar wurden die Figuren von Kind, Wirt, Spieler und Dieb hinter den Schreiber verschoben (vgl. auch Tabelle 2 im Anhang). Vielleicht wurden diese Personen als niedriger in der Hierarchie empfunden und daher weiter nach hinten gestellt. Die Frage ist nun, wie diese Veränderung technisch bewerkstelligt wurde. Es scheint sich nicht um den Austausch kompletter Lagen o.ä. zu handeln. Möglicherweise ist es ein Exemplar, bei dessen Herstellung aus irgendeinem Grund die Druckplatten in die falsche Reihenfolge geraten waren. Die Gruppe der vier ausgetauschten Figuren ist in sich von der Abfolge her stimmig. Bei dem Folioformat, um das es sich handelt, müssen sich auf einem Bogen bei der Herstellung vorn und hinten je zwei Seiten befunden haben; das Kind steht auf einer recto-Seite. Es ist demzufolge technisch nicht möglich, von einem falsch eingebundenen Bogen auszugehen: Die vier Personen können nicht auf einen einzigen Bogen gedruckt worden sein. Bei genauer Betrachtung des Drucks erhält man an einigen Stellen den Eindruck, als seien einzelne Blätter des Drucks neu auf Trägerpapier aufkaschiert worden – was allerdings bedeuten würde, daß sie nur einseitig bedruckt gewesen sein können, ein Phänomen, das für den Typendruck sehr ungewöhnlich wäre und eher von Blockbüchern bekannt ist, die nicht auf der Presse, sondern mit dem Reiber hergestellt wurden (vgl. Geldner, Inkunabelkunde, S.
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der Überführung eines mehrreihigen Bilderbogens ins Buchformat die Abfolge des Personals durcheinandergeraten.525 Das Problem besteht, wie an vielen Stellen von Rosenfelds überlieferungsgeschichtlichen Ausführungen, im mangelnden Nachweis der Existenz dieser Bilderbögen.526 Ein besonders auffälliger Zug des mittelrheinischen Totentanzes, der ihn von allen anderen Totentänzen absetzt, ist die hervorstechende Dominanz des Instrumentenmotivs:527 Nahezu alle Todesgestalten sind mit einem Musikinstrument ausgestattet. Kommen in anderen Totentänzen sporadisch Musikinstrumente zum Einsatz – man denke etwa an Basel oder an die Ubiquität des Dudelsacks –, so wird dieses Motiv im mittelrheinischen Totentanz zu einer „beherrschenden Bildidee“.528 In diesem Sinne liegt auch die Frage nahe, ob den Musikinstrumenten im einzelnen eine besondere Bedeutung zukommt, und so sucht Hammerstein nach semantischen Beziehungen zwischen Instrument und jeweiligem Ständevertreter. In dem einen oder anderen Fall mag sinnhafte Zuordnung vorliegen – Hammerstein entdeckt „viele Nuancen und beziehungsreiche Anspielungen“,529 meist im Sinne Der Knoblochtzer-Druck
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78). In den Inkunabelkatalogen, die das betreffende Exemplar verzeichnen, finden sich leider keine weiterführenden Hinweise zu dem Problem. Insofern bleibt diese Änderung in der Reihenfolge zumindest in technischer Hinsicht bis auf weiteres ein Rätsel. Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 249-252. Rosenfeld behandelt dort die Überlieferungsgeschichte unter Betrachtung der möglichen Beziehungen zwischen dem Knoblochtzer-Druck und der Kasseler Handschrift. Ich verzichte hier auf die genaue Wiedergabe der Überlieferungswege, die Rosenfeld rekonstruieren zu können glaubt, und werde an späterer Stelle noch detaillierter auf die möglichen Beziehungen zwischen der Kasseler Handschrift und dem Wiegendruck eingehen. Anderer Ansicht ist Kunze, der wie Rosenfeld trotz der dünnen Überlieferung glaubt, daß es solche Bilderbögen zahlreich gegeben hat (vgl. Kunze, S. 361). Es soll hier keineswegs negiert werden, daß Totentanz-Bilderbögen an sich existiert haben – ein Beispiel ist etwa der zweireihige Danse macabre-Bilderbogen aus Paris (vgl. Anm. 510, siehe auch CD-ROM, „Diverse Totentänze“), auch das Westfälische Fragment (vgl. Abschnitt 3.1.7.) mag ein Rest eines Bilderbogens sein –, jedoch muß man kritisch darauf hinweisen, daß Rosenfeld rekonstruierte Bilderbögen quasi als „missing links“ überall dort einsetzt, wo es ihm dienlich erscheint. Deutliche Kritik an der Bilderbogen-Theorie äußert auch Schulte: „Anzumerken ist, daß Rosenfeld in vielen Fällen solchen de facto nicht überlieferten ‚Bilderbogen’ eine ganz wesentliche Vermittlerfunktion zuschreibt. Sie erscheinen in seinem Stammbaum der europäischen Totentanzüberlieferung […] an wesentlichen Gelenkstellen und dienen ihm dazu, tatsächlich nebeneinander stehende Überlieferungsstränge miteinander zu verknüpfen. So arbeitet Rosenfeld bei 59 Denkmälern […] mit 14 Unbekannten, davon acht Bilderbogen“ (Schulte, Totentänze, Anm. 72); vgl. auch Koller, S. 4. Vgl. zu Musikinstrumenten in Totentänzen allgemein Maus. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 119. Ebd., S. 126; allgemein zum Thema dort S. 119-128. Auch Wallner betrachtet jede Szene einzeln und untersucht die gezeigten Musikinstrumente. Obwohl sie zu Beginn ihres Beitrags ankündigt, nachweisen zu wollen, daß es sich in den meisten Fällen um sinnvolle Zuordnung von Instrument und Figur handelt, wird im weiteren Verlauf tatsächlich bei der Minderzahl eine nachvollziehbare Erklärung geboten. Zur Nonne, deren Tod die Laute spielt, sagt Wallner z.B.: „Die Nonne bereut, nicht immer pflichtgemäß gelebt zu haben. Daraus erklärt sich wohl die Wahl des Instruments“ (Wallner, S. 71). Eine verständliche Erklärung vermag ich dieser Äußerung jedoch nicht zu entnehmen, ebensowenig wie der lapidaren Bemerkung zur Gitarre bei der Jungfrau: „Die Wahl des Instruments ist durch den Vorwurf bedingt“ (ebd.).
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negativer Konnotationen530 –, doch werden Bemühungen um ein Gesamtkonzept der Interpretation von Instrumenten teilweise dadurch ad absurdum geführt, daß die Verteilung des Instrumentariums im Doten dantz und in der Kasseler Handschrift voneinander abweicht, so daß es sich zumindest in einigen Fällen um eine willkürliche Zuteilung zu handeln scheint.531 Beachtung verdient jedoch Hammersteins Erklärung der fehlenden Erwähnung von Musikinstrumenten in den Strophen, denn im Hinblick auf Text-BildBeziehungen überrascht es tatsächlich, daß auf die Instrumente mit keinem Wort eingegangen wird. Hammerstein ist der Ansicht, daß Bild und Text ursächlich nicht zusammengehören, weil sie aus zwei verschiedenen Redaktionen stammen; sie seien erst später einander zugeordnet worden.532 Diese Überlegungen entbehren auf den ersten Blick nicht einer gewissen Plausibilität. Zieht man andere Totentänze zum Vergleich heran, fällt immerhin auf, daß Instrumente, die auf dem Bild vorkommen, oft auch im Text erwähnt sind. Beispiele hierfür wären etwa der flötespielende Tod auf dem Lübecker Totentanz von 1463 bzw. die dudelsackspielende Todesfigur in Reval mit dem gemeinsamen Text gy moten na myner pypen springen (V. 20), der lautespielende Tod mit der Herzogin (Nr. 9) in Basel, wo es heißt Ach Gott der Armen Lauten thon oder die Leichengestalt mit der Pauke, die im Heidelberger Blockbuch dem Papst (Nr. 1) zugesellt ist und spricht Her bobist merckt off meyner pawken don. Viele weitere Beispiele ließen sich hier anführen. Der mittelrheinische Totentanz ist (zusammen mit dem Klingentaler Totentanz) der einzige Text, der keinerlei Bezüge zu den Instrumenten aufweist.533 Eine Möglichkeit, Hammersteins Theorie zu prüfen, wäre, nach anderen Text-BildEinzeluntersuchungen
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Mithin kann m.E. in solchen Fällen nicht von sinnvollen Beziehungen zwischen Text und Bild (bzw. im engeren Sinne dem Instrument auf dem Bild) gesprochen werden. Zwar behauptet Wallner: „Auch die Durchforschung der Texte gäbe manche Anhaltspunkte für Tanzmusik und Suite“ (Wallner, S. 73) und deutet an, daß an „musikalische Behandlung des Dialogs zu denken sei“ (ebd., S. 66), doch muß sie gleich darauf eingestehen: „Positive Anhaltspunkte hierfür fanden sich noch nicht […]“ (ebd.). In diesem Zusammenhang wäre die Frage aufzuwerfen, ob nicht zumindest in einigen Fällen die pervertierte Darstellung von Instrumenten (z.B. falsches Spielen o.ä.) auch auf musikalischer Unkenntnis des Künstlers beruhen könnte. Hammerstein kommentiert die abweichende Instrumentenzuordnung in Druck und Handschrift folgendermaßen: „Konnten wir bei der Kasseler Handschrift so etwas wie ein einheitliches und abgestuftes Konzept erkennen, so läßt sich das vom Knoblochtzerdruck nicht sagen. Man hat eher den Eindruck, daß es dem Künstler um die Aufzählung möglichst vieler Instrumente ging, und daß er dabei dem Bedürfnis nach Varietas folgte. Das Instrumentenmotiv entfaltet sich dadurch zwar in einer außerordentlichen Breite, geht aber weniger in die Tiefe […]“ (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 126). Vgl. ebd., S. 119, S. 198-206, S. 207f. und passim. Kritik an Hammersteins Überlieferungshypothesen kommt von Schulte: „Insgesamt ist anzumerken, daß die von Hammerstein vorgetragenen Hypothesen ein so großes Maß an komplizierten und spekulativen Sachverhalten voraussetzen, daß sie mehr als unwahrscheinlich erscheinen“ (Schulte, Totentänze, S. 183 mit Anm. 78). Erst in der Neufassung des Basler Totentanzes wurden die Musikinstrumente auch in den Text einbezogen; der alte Text, den das Klingentaler Gemälde konserviert, enthielt ebenfalls keine Referenzen auf die gleichwohl abgebildeten Instrumente.
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Bezügen zu suchen – hat er recht mit seiner Annahme der unterschiedlichen Herkunft von Bild und Text, dürften sich kaum Korrespondenzen irgendwelcher Art finden, es sei denn zufällige oder sehr stereotype. Der Knoblochtzer-Druck
Bereits die erste Strophe, die im Knoblochtzer-Druck über dem Bein- bzw. Tanzhaus mit den musizierenden Todesgestalten angeordnet ist, scheint jedoch eine deutliche Referenz zu eben dieser Illustration aufzuweisen, denn die Verse deuten auf diß dantz huß hin. Auch der dem zweiten Holzschnitt (Toter im Grab, umtanzt von anderen Leichen) zugeordnete prologartige Text, beginnend mit den Worten Alle mentschen dencken an mych, paßt zu diesem Bild, insofern als die Worte offenbar dem Hautskelett im Grab in den Mund gelegt sind, das mithin vor dem Beginn des eigentlichen Reigentanzes als erste negative Exempelfigur den Sinn des Folgenden prägnant zusammenfaßt, kulminierend in der Formel Merckent nü vnd sehent an dissze figure/ War tzü kommet des mentschen nature.534 Es handelt sich hier wieder um einen jener programmatischen Hinweise auf die integrale Verbindung von Bild und Text, wie man sie in vielen Totentänzen findet. Zwar sagen diese zwei Verse nichts über eine Verknüpfung mit einem spezifischen Text aus, doch wird deutlich, daß die Worte dieses Totentanzes für ein Bild gedichtet wurden, welcher Art auch immer. Auch der epilogartige Schlußtext paßt zu dem Bild am Ende des Totentanzes (auch wenn sie im Layout einander nicht direkt zugeordnet sind, sondern das Bild auf einer Einzelseite allein den Totentanz beschließt): Das in den Versen besprochene Motiv des Kerners dominiert auch den Holzschnitt.535 Im eigentlichen Totentanz finden sich dann in der Tat viele Text-BildBeziehungen, die recht stereotyp sind, weil sie auf standestypische Attribute referieren, die vermutlich in nahezu jeder Abbildung eines bestimmten Standes zu finden wären. Beim Kardinal wird etwa auf dessen Mantel und roten536 Hut ange-
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Diese Verse erinnern ein wenig an eine Formulierung aus der Lübecker Inkunabel Des dodes dantz von 1489: Uppe dat wi mogen rechte merken den dôt der naturen,/ Hîr navolgende mit schriften unde mit figuren (V. 109f.). Figur und natur bieten sich offensichtlich als Reimworte an, weshalb mit dieser Ähnlichkeit hier keine Abhängigkeit behauptet werden soll. – Übrigens enthält auch die Danse macabre einen sogar im Wortlaut ganz ähnlichen Vers, der dem roy mort am Ende zugeordnet ist. Dieser spricht: Vous: qui en ceste portraiture/ Veez danser estas divers/ Pensez que humaine nature:/ Ce nest fors que viande a vers („Ihr, die ihr in diesen Bildern/ diese verschiedenen Stände tanzen seht,/ bedenkt, was die menschliche Natur ist:/ sie ist nichts als Fleisch für die Würmer“; Übersetzung von Kaiser). Im Gegensatz zum betreffenden Bild der Danse macabre werden jedoch die angesprochenen Würmer bei Knoblochtzer auch deutlich in der Illustration dargestellt, eine weitere Text-Bild-Referenz. Allerdings ist hier zu bedenken, daß es sich bei dem Text, wie oben dargestellt, vermutlich um eine Entlehnung aus dem ‚Spiegelbuch’ handelt. Das Vorhandensein von Farbbezeichnungen muß nicht heißen, daß der Text ursprünglich nicht als Beigabe eines Holzschnittes gedacht war – wie bereits oben erwähnt (vgl. Anm. 521), wurden Holzschnitte oft koloriert, wie es im vorliegenden Fall auch mit einem Münchner Exemplar geschah. Außerdem sind natürlich die Standestrachten stereotyp und nicht individuell verschieden, so daß z.B. ein Kardinalshut im Text ohne weiteres als „rot“ bezeichnet werden kann, ohne daß dies notwendigerweise auf der Illustration zu sehen sein muß. Der
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spielt, beim Bischof auf seinen Stab; beim Kaplan erwähnt der Text dessen Barett und Stola; gegenüber dem Kaiser wird das Schwert angesprochen. Solche Übereinstimmungen zwischen Bild und Text gibt es fast überall in Totentänzen: Sie allein sagen über eine etwaige intendierte Verbindung von Strophe und Illustration nicht besonders viel aus, wenn es nicht noch andere Anhaltspunkte gibt. Der Knoblochtzer-Wiegendruck ist m.E. indes nicht ganz bar weiterer Hinweise. Es gibt auch Textbeschreibungen von Personen, die nicht so stereotyp sind, daß man erwarten könnte, sie in den meisten bildlichen Repräsentationen wiederzufinden, die aber dennoch auf den Knoblochtzer-Bildern einen Widerhall finden. Ein Grenzfall ist vielleicht der Jüngling. In vielen Totentänzen wird dessen verfeinertes gesellschaftliches Leben kritisiert, oft in Verbindung mit Tanz. So auch im Doten dantz, wo es heißt: Einzeluntersuchungen
JVngelyng hart hübsch vnd fyn Spring her tzü den gesellen myn Du kanst gar sußlichen syngen Hofieren dantzen vnd spryngen. (V. 321-324)
Die Art, wie der Jüngling auf dem Holzschnitt abgebildet ist, nämlich als ob er die Füße zu einem zierlichen Tanzschritt setzt, mag zufällig zu dieser Strophe passen oder auch nicht – das ist hier kaum zu entscheiden. Bei einigen anderen Personen erscheinen mir die Text-Bild-Referenzen jedoch mehr als akzidentiell, etwa wenn der Tod auf die lange Schleppe der Jungfrau hinweist (IR inckfrauwe in dem groißen swantze, V. 561), die auf dem Bild an dem überreichen Faltenwurf des Gewandes zu erkennen ist, oder wenn der Kaufmann sich beklagt […] dodes krafft myn hert vmb gijt (V. 592) und sich dabei ans Herz greift. Hammerstein behauptet, die Verse und Illustrationen der Inkunabel stimmten „nur sehr oberflächlich“537 zusammen. Die oben erbrachten Belege zeigen jedoch, daß, abgesehen vom Fehlen des Instrumentenmotivs im Text, Holzschnitte und Strophen insgesamt durchaus ein Ensemble bilden. Aufgrund dessen erscheint mir die Vermutung, daß eine Totentanz-Bildserie und ein davon unabhängiger Text –
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Text reicht vermutlich bereits aus, um in einem solchen Fall durch die Imagination des Rezipienten das Bild der charakteristischen farbigen Gewandung entstehen zu lassen. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 207f. Hammerstein bezieht sich vor allem auf die das Instrumentenmotiv betreffenden Divergenzen, weist aber auch darauf hin, daß die in den Bildtiteln genannten Bezeichnungen doctor und rather/ Ratsherr nicht zu den Beschreibungen im Text (groißer meister von pariß bzw. fürstlicher Rat) passen würden sowie auf die Tatsache, daß „guter“ und „böser Mönch“ nur auf dem Bild, nicht aber im Text als Franziskaner und Dominikaner gekennzeichnet sind. – Zu den beiden Mönchen ist einschränkend folgendes anzumerken: Zwar werden sie im Text nicht mit ihren Ordensbezeichnungen angesprochen, doch ergeben sich Bild-Text-Korrespondenzen durch die Art ihrer bildlichen Darstellung. Der böse Mönch strebt nämlich von der Todesfigur fort, während der gute Mönch ihr mit einer frommen Betgeste demütig folgt. Daneben ist zu bedenken, daß auch in anderen Totentänzen Ordensträger vorkommen, deren Ordenszugehörigkeit nur auf dem Bild zu erkennen und im Text nicht angegeben ist (z.B. der Dominikaner im Revaler Fragment und im Pariser Bilderbogen [vgl. Anm. 510]). Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, daß es Denkmäler gibt, in denen sowohl ikonographisch als auch sprachlich eine übereinstimmende Identifizierung vorgenommen wird, so beim Franziskaner am Beginn des Berliner Totentanzes.
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sowohl in Ständerepertoire und Ständeabfolge, inklusive Pro- und Epilog – derart kohärent zusammenpassen, nicht besonders plausibel. Die Übereinstimmungen überwiegen quantitativ und qualitativ die Diskrepanzen. Es ist daher wohl eher unwahrscheinlich, daß sich im mittelrheinischen Gebiet eine Bildfolge und ein Text fanden, zwischen denen es überlieferungstechnisch keinerlei Verbindung gab, die dann aber ohne größere Probleme zusammengestellt werden konnten. Dem möglichen Einwand, daß ja bei der gegenseitigen Zuordnung auf Seiten des Textes die eine oder andere Anpassung vorgenommen worden sein könnte, so daß sich in der Tat ein lückenloses Miteinander beider Medien ergab, kann man mit dem Argument begegnen, daß bei einem solchen Adaptationsvorgang vermutlich auch versucht worden wäre, das im Bild sehr deutliche Instrumentenmotiv ebenfalls auf der Textseite einzubinden. Eingängiger erscheint demgegenüber der Schluß, daß Bild und Text, wenn nicht derselben, so doch verwandten Redaktionen entstammen. Der Grund für das Fehlen jeglicher Erwähnung von Musikinstrumenten muß mithin anderswo zu suchen sein. Man fühlt sich hier daran erinnert, daß in einigen der zuvor untersuchten Denkmäler in Bezug auf die (mit der Musik durchaus verwandte) Tanzmotivik Diskrepanzen zu verzeichnen sind, indem zwar im Wortlaut vom Tanz ziemlich ausgiebig die Rede ist, während jedoch die Bilder nur recht steif einherschreitende Todesgestalten zeigen – dies ist etwa im Berliner Totentanz der Fall, wo aufgrund dieser deutlichen Unstimmigkeit später noch einmal versucht worden war, durch Übermalungen die Todesgestalten zu dynamisieren. In nahezu jedem Totentanz ist auf der sprachlichen Ebene der Tanz mehr oder weniger gegenwärtig, ungeachtet der bildlichen Repräsentation; dies mag daran liegen, daß der Tanz eines der gattungskonstituierenden Momente ist, welches in den eher konservativen Textredaktionen stärker bewahrt wurde als in den individueller ausgeprägten Bildern. Dennoch läßt sich, abgesehen von Hammersteins Erklärungsansatz, keine vollständig zufriedenstellende Antwort auf die Frage finden, warum der mittelrheinische Totentanz die Musikinstrumente im Text nicht erwähnt. Möglicherweise war der Text vorgängig, d.h. er war schon vorhanden, weil er aus einer älteren Quelle stammte – vielleicht wirklich in Verbindung mit anderen Bildern –, und man fertigte die Holzschnitte speziell für diesen Text an. Der Künstler war dabei aber so frei, mit den Instrumenten ein zusätzliches Motiv einzubringen, von dem in den Strophen nicht die Rede war. Dies würde zumindest die starken Übereinstimmungen zwischen Text und Bild erklären, die bei Hammersteins Hypothese unberücksichtigt bleiben. Wie auch immer es sich verhalten haben mag: Überlegungen über die Vorgänge von Überlieferung und Zusammenstellung bleiben Spekulation und sollten daher nicht zu sehr ausgeweitet werden. Demgegenüber steht aber zweifelsfrei fest, daß Text und Bild des Knoblochtzer-Wiegendrucks über weite Strecken ein sinnvolles Miteinander ergeben, ob sie nun ursächlich zusammengehören oder nicht. Damit ist die in der Forschung mehrfach wiederholte Behauptung, der Wortlaut des Totentanzes und seine IlluDer Knoblochtzer-Druck
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strationen paßten nicht sehr gut zueinander, zumindest zu relativieren.538 In jedem Fall ist die das Instrumentenmotiv betreffende Unstimmigkeit m.E. kein sicheres Zeichen, daß Bild und Text in diesem Totentanz nicht ursächlich zusammengehören.539 Einzeluntersuchungen
3.2.1.2. Die Kasseler Handschrift Der zweite540 wichtige Überlieferungszeuge des mittelrheinischen Totentanzes ist die sogenannte Kasseler Handschrift, ein illuminiertes Manuskript, von dem aufgrund von Verlusten während des Zweiten Weltkrieges nur noch 26 Blätter erhalten sind. Von den verlorengegangenen Bildern existieren allerdings die Beschreibungen Strucks; eine Textabschrift nahm Rieger vor.541 Der Text ist weitgehend identisch mit demjenigen des Knoblochtzer-Drucks, während die Bilder eine sehr 538
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Auch Rosenfeld entdeckt Diskrepanzen zwischen Bild und Text, jedoch aufgrund einer ganz andersartigen (und etwas problematischen) Argumentation: Die Bilder seien keine „kongeniale Illustration des Textes“: „Uns ist […] wesentlich, daß diese übertriebenen Bilder ein getreues Ebenbild der ziellos und verwirrt herumtastenden spätmittelalterlichen Menschheit sind, während der Text aus dem Geiste der literarischen Tradition des Totentanzes, aus dem Erleben der Fragwürdigkeit des Daseins und aus der Inbrunst des Glaubens dem Menschen seiner Zeit gab, was er brauchte: die Verbindung mit der Ewigkeit“ (Rosenfeld, Totentanz, S. 254). Es ist nicht ganz leicht zu verstehen, was hier gemeint ist; offenbar zielt Rosenfeld darauf ab, daß hinter Text und Bild unterschiedliche Geisteshaltungen stünden. In zwei Fällen könnte man vermuten, daß der Text sich subtil auf das gezeigte Instrument beziehen soll: Beim Ritter wird u.a. davon gesprochen, daß er seine Zeit mit Jagen verbracht habe, und das im Gürtel des Todes steckende Instrument ist passenderweise wohl eine Art Jagdhorn. Dem Kaplan, dem der Tod klipp klapp vnd doricht sagen vorwirft, tritt er mit einer Triangel mit drei Ringen gegenüber: Dieses Instrument konnte sicherlich auch Klappergeräusche hervorbringen. – Diese beiden Bezüge erscheinen in der nachträglichen Interpretation zwar möglich, doch ob sie in der Tat beabsichtigt waren, halte ich für fraglich. Bei einer derartigen zugrundeliegenden Intention wären wohl noch mehr und vor allem deutlichere Textbezüge auf die Instrumente zu finden. Der Doten dantz mit figuren ist in drei Druckversionen überliefert, von denen es sich bei zweien um Nachdrucke handelt (Jacob Meydenbach, Mainz 1492, sowie Hans Schobser, München ca. 1510 (vgl. H. Rosenfeld, Artikel ‚Mittelrheinischer Totentanz’, in: VL Bd. 6, Sp. 625-628, hier Sp. 625); da aber in allen Fällen das Text- und Bildmaterial größtenteils identisch ist, behandle ich diese drei Versionen als Einheit und betrachte die Nachdrucke nicht gesondert. In diesem Sinne läßt sich dann von der Knoblochtzer-Inkunabel und der Kasseler Handschrift als den zwei Hauptvertretern der mittelrheinischen Totentanz-Überlieferung sprechen. Von einer Edition des Textes der Kasseler Handschrift, wie oftmals in der Forschung behauptet, läßt sich genaugenommen allerdings nicht sprechen. Rieger gab den Text des mittelrheinischen Totentanzes unter Berücksichtigung von zwei Drucken sowie der Handschrift kritisch heraus, wobei er aber nicht das Kasseler Manuskript zur Leithandschrift machte, sondern davon ausging, daß der von ihm als B bzw. b bezeichnete Druck „den eigentlichen Kern der Überlieferung“ enthalte (Rieger, Jüngerer Totentanz, S. 259). Leider ist aufgrund der uneindeutigen Benennungen nicht klar auszumachen, von welchem Exemplar die Rede ist. Es scheint sich nicht um den „originalen“ Knoblochtzer-Druck, sondern einen der Nachdrucke zu handeln. Insofern wird mangels einer Alternative in der vorliegenden Arbeit stets nach dem Knoblochtzer-Druck (nach Lemmer) zitiert, ohne einen Unterschied zu machen.
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andersartige Ausprägung zeigen. Beinhaus- und Friedhofsszene mit den prologartigen Vorbemerkungen, die aus der Inkunabel bekannt sind, wurden hier nicht überliefert; es ist unklar, ob sie jemals vorhanden waren. Vieles in bezug auf die Kasseler Handschrift scheint etwas rätselhaft. So weichen schon die Datierungen in der Forschung um einiges voneinander ab: Die früheste Zuschreibung nimmt Rosenfeld vor – er geht von einer Entstehung um 1460 aus.542 Hammerstein dagegen plädiert dafür, die Bilder seien um 1470 gemalt worden.543 Hauptsächlich aufgrund von Sprache und Schrift datiert Stammler auf 1480-1500,544 während Struck sich nicht auf genauere Einengung einläßt und pauschal von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts spricht.545 Ebenfalls uneinheitlich wird das Verhältnis zwischen dieser Handschrift und der Inkunabel Doten dantz beurteilt. Rosenfeld geht von einer gemeinsamen Vorlage beider aus,546 während Hammerstein meint, der Text der Kasseler Handschrift sei von einem Exemplar des Knoblochtzer-Drucks abgeschrieben worden; die Bilder seien allerdings älter.547 Rosenfeld kommt u.a. zu seinem Schluß, weil er von der Beobachtung ausgeht, daß der Schreiber des Kasseler Manuskripts in den Strophen von Ritter und Kaplan die Angeredeten durch die Bezeichnungen Herzog und Pfarrer ersetzt und dafür letztere Gestalten ausfallen läßt.548 Damit umfaßt die Kasseler Handschrift weniger Figuren als der Knoblochtzer-Druck, eine komplette Ständeabfolge muß aber vorgelegen haben – dies sieht man daran, daß auf den Rückseiten der Blätter in roter Schrift Numerierungen eingetragen wurden, die im wesentlichen mit den Ziffern über den KnoblochtzerDie Kasseler Handschrift
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Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 235. Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 199. Vgl. Stammler, Totentanz, S. 63. Vgl. Struck, S. 94. Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 239. „Da jedoch die Bilder der Kasseler Handschrift mit den dortigen Holzschnitten [den Bildern des Knoblochtzer-Drucks] stilistisch keine Verwandtschaft zeigen, können nicht beide auf eine illuminierte Handschrift als beiden gemeinsame Vorlage zurückgehen, wie Rosenfeld annahm“ (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 199f., hier S. 200). Daneben fehlt noch die Figur des Arztes; Bürgerin und Jungfrau wurden in ihrer Reihenfolge gegenüber dem Doten dantz mit figuren vertauscht. – Im Gegensatz zu Rosenfeld, der von bewußtem Austausch von Herzog/ Ritter und Pfarrer/ Kaplan auszugehen scheint (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 237), spricht Hammerstein von Verwechslung und ist der Ansicht, daß die Handschrift ursprünglich 38 Blätter gehabt, mithin also das vollständige Ständeinventar enthalten habe (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 199f.) – er muß folglich annehmen, daß die Handschrift die Figuren von Ritter und Kaplan auch noch umfaßte. Dies ist jedoch eher unwahrscheinlich. Zwar sprechen die Numerierungen auf der Rückseite der Bilder für eine vollständige Vorlage, jedoch nicht unbedingt für Vollständigkeit der Handschrift selbst; Durchstreichungen bzw. Korrekturen der Ziffern zeugen von der offensichtlichen Konfusion des Schreibers. Da Anfangs- und Schlußszenen auch bei Knoblochtzer nicht mitnumeriert sind, sagen die Zahlen über deren früheres Vorhandensein nichts aus. Was nun Ritter und Kaplan betrifft, ist eine bloße versehentliche Vertauschung schwer vorstellbar, wurden doch nur die Ständebezeichnungen der Figuren ausgewechselt und nicht die ganzen Strophen. Dies scheint mir für ein absichtsvolles Vorgehen zu sprechen; möglicherweise wurden Ritter und Kaplan aus irgendeinem Grunde für entbehrlich gehalten.
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Holzschnitten übereinstimmen.549 Während Rosenfeld allgemein eher auf die Übereinstimmungen zwischen der Kasseler Handschrift und dem KnoblochtzerDruck achtet, bilden die Basis von Hammersteins Untersuchung die Differenzen zwischen Prachthandschrift und Inkunabel. Er glaubt, die Kasseler Bilder seien ursprünglich nicht textiert gewesen und nachträglich mit dem mittelrheinischen Totentanz-Text unterlegt worden. Die Kasseler Bilder mit dem Text aus dem Frühdruck zu kombinieren, sei möglich gewesen, weil „Holzschnitte und Miniaturen, ungeachtet der gattungsbedingten Unterschiede, eine gewisse Familienähnlichkeit zeigen“.550 Während beide Ansätze etwas für sich haben, weil sie jeweils besonderen Eigenschaften der Kasseler Handschrift Rechnung tragen, bleibt eine letztendliche Klärung jedoch aufgrund mangelnder Belege unmöglich. Zudem gibt es in den oben dargelegten Hypothesen auch manch kritische Punkte. Rosenfelds gemeinsame Vorstufe ist wieder einmal ein nur in der Spekulation vorhandener Bilderbogen.551 Demgegenüber stehen die ebenfalls nicht zu belegenden Ausführungen Hammersteins, die Bilder der Kasseler Handschrift gingen möglicherweise auf eine Pantomime zurück, wie sie 1449 in Brügge vor Herzog Philipp aufgeführt wurde, und seien vielleicht deshalb textlos gewesen.552 Dies würde auch die „beziehungsreiche Disposition“ der Illustrationen befriedigend erklären: „Denn gerade in einer solchen textlosen Gattung mußte dem attributiven, symbolischallegorischen Moment eine erhöhte Bedeutung zukommen“.553 Einzeluntersuchungen
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Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 248f. Wie Rosenfeld glaubte auch schon Struck, diese Numerierung ginge auf den Schreiber selbst zurück (vgl. Struck, S. 95). Hammerstein, Tanz und Musik, S. 123. Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 250-252. Hammerstein merkt allerdings selbst einschränkend an, die Annahme einer Vorgängigkeit der Bilder ließe „auf einen höchst ungewöhnlichen Arbeitsvorgang schließen. Denn normalerweise wurde bei einer Handschrift zuerst vom Schreiber der Text eingetragen und dabei Platz für den Miniator gelassen, der dann seinerseits die Bilder anfertigte“ (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 205). Für Hammerstein gibt indes die Theorie einer Pantomime als textloses Vorbild eine plausible Begründung für ein solches Vorgehen ab: „Eine Erklärung dafür bietet sich an, wenn man davon ausgeht, daß hinter dem Bildprogramm der Kasseler Handschrift eine textlose Vorlage steht. Diese Vorlage aber könnte ihrerseits die Aufzeichnung eines allegorischen Spiels ohne Text, einer Totentanzpantomime sein“ (ebd.). Trotzdem bleiben einige Fragen offen. Wenn die Intention hinter der Anfertigung der Kasseler Handschrift war, eine textlose Pantomime festzuhalten, bliebe unklar, warum dann überhaupt ein Raum für Texte gelassen wurde. Es müßte dann von vornherein die Absicht bestanden haben, später Verse hinzuzufügen. Zudem müßte man wohl davon ausgehen, daß die ganze Bilderserie eine recht freie Wiedergabe der Pantomime ist, hätte der Künstler doch in einem solchen Fall zumindest in der Gestaltung der Hintergründe seiner Fantasie freien Lauf gelassen, denn bei einer wie auch immer gearteten Aufführung kann es solche verschiedenartigen Szenerien, wie die Miniaturen sie zeigen – sowohl Innenräume als auch Naturkulissen –, wohl nur schwerlich gegeben haben. Dieselben Zweifel äußert auch Rosenfeld (vgl. Rosenfeld, Mittelrheinischer Totentanz, Sp. 626). Hammerstein, Tanz und Musik, S. 121, vgl. auch S. 205f. Hammersteins Annahme einer Pantomime als Hintergrund läßt sich hier mit denjenigen (zumeist älteren) Untersuchungen verknüpfen, die die in manchen Aspekten unbestreitbar dramatische Form des Totentanzes zum Anlaß nahmen, eine Schauspieltradition als Ursprung dieses Genres zu postulieren (siehe Abschnitt 2.3.3. sowie Anm. 188). – Ein weiterer Punkt ist allerdings etwas problematisch. In
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Zudem erscheint mir eine bloße „Familienähnlichkeit“ (s.o.) nicht genug, um zwei Totentänze kohärent mit demselben Text unterlegen zu können. Voraussetzung dafür ist vielmehr, daß die Anzahl (nicht zwingend die Reihenfolge) der Figuren, vor allem aber das Inventar der auftretenden Stände einigermaßen übereinstimmen. Dies ist bei den Kasseler Bildern und den Holzschnitten zumindest insoweit der Fall, als keine allzu großen Ungereimtheiten auftreten. Vielmehr sind gegenseitige Entsprechungen zu konstatieren, die vor dem Hintergrund von Hammersteins Annahme, daß es sich um Bildredaktionen ganz verschiedener Herkunft handeln soll, geradezu erstaunlich anmuten. So verfügt nicht nur die Inkunabel, sondern auch die Handschrift über eine Abbildung des Todes mit mehreren Ständen gleichzeitig (bei Knoblochtzer betitelt von allem stait). Eine solche Szene findet sich weder bei den nieder- noch den oberdeutschen Totentänzen, sondern nur im mittelrheinischen Text.554 Weiterhin enthalten beide Bildformeln, abgesehen vom Abt, drei Mönche – bei Knoblochtzer der bose monich, der gude monich sowie der bruder. Übereinstimmend sind zwei der auftretenden Mönche auch in der Kasseler Handschrift durch ihre Ordenstracht als Dominikaner und Franziskaner gekennzeichnet.555 Die Kasseler Handschrift
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dem Beleg zu dem oft angeführten und auch von Hammerstein herangezogenen Schauspiel der Herzöge von Burgund von 1449 ist von einem „certain jeu, histoire et moralité sur le fait de la danse macabré“ die Rede. Wie Hammerstein selbst angibt, wurden gesprochene dramatische Gattungen als historiés [sic] und moralités bezeichnet, während man die Pantomimen entremets nannte (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 205). Es liegt somit kein Anhaltspunkt vor, daß es sich bei besagter Aufführung um eine Pantomime handelte, eher klingt es aufgrund der Ähnlichkeit der Terminologie nach einer gesprochenen In-Szene-Setzung einer totentanzähnlichen Handlung. Außerdem gibt es eine ähnliche Szene noch in der spanischen Danza general, wo sich der Tod unter der Überschrift lo que dice la Muerte a los que non nombro an all diejenigen wendet, die bisher noch nicht aufgetreten sind. Cosacchi glaubt hier an einen direkten Einfluß der Danza general auf den mittelrheinischen Totentanz (vgl. Cosacchi, S. 730f.). Im Zusammenhang mit den drei Mönchsfiguren fällt ein merkwürdiges Detail ins Auge. Dank der bereits erwähnten roten Numerierung (keinesfalls zu verwechseln mit Foliierung oder Paginierung!) auf der Rückseite der Kasseler Miniaturen kann man deren ursprüngliche Abfolge, die sonst mit Knoblochtzer so gut wie identisch ist, rekonstruieren (vgl. die Übersichtstabelle 2 im Anhang). An dieser Stelle stolpert man jedoch über Ungereimtheiten, wenn man nach Strucks Aufstellung geht. Ein Vergleich der Bild- und Textabfolgen in beiden Überlieferungszeugen offenbart Diskrepanzen (B = Bild, T = Text): Figur Nr. 26 Nr. 27 Nr. 28
Knoblochtzer-Druck B: Dominikaner T: „Böser Mönch“ B: Franziskaner T: „Guter Mönch“ B: Bruder (nicht spezifiziert) T: Bruder
Kasseler Handschrift B. Dominikaner T: „Böser Mönch“ B: Bruder (Struck: „Mönch“) T: „Guter Mönch“ B. „Guter Mönch“ T: Bruder
Man sieht, daß nach Strucks Aufstellung in der Kasseler Handschrift die Bilder von Bruder und gutem Mönch vertauscht sind, während die Strophenreihenfolge die gleiche ist wie bei Knoblochtzer. Sieht man sich jedoch die Bilder genauer an, muß man an der Richtigkeit dieser Aufstellung zweifeln. Die Sachlage wird dadurch verkompliziert, daß das Blatt Nr. 28 der
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In den ober- und niederdeutschen Totentänzen ist jeweils nur ein Mönch vorgesehen (wiederum ohne den Abt mitzurechnen). Wie läßt sich dies erklären? Man könnte, zumindest auf die Mönche bezogen, vermuten, daß der Kasseler Handschrift ein französisches Modell zugrundeliegt; und in der Tat ist dies auch die Argumentation Hammersteins556 (s.u.). Warum aber beide angeblich so verEinzeluntersuchungen
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Kasseler Handschrift heute verloren ist. Man muß sich daher auf die Beschreibungen Riegers und Strucks verlassen. Auf dem Kasseler Blatt Nr. 27 ist ganz offensichtlich ein Franziskaner abgebildet: Man erkennt ihn deutlich an dem weißen Strick mit den drei Knoten. Dieser ist den Franziskanern eigen; die drei Knoten stehen für die Gelübde Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam. Ebenfalls typisch für einen Franziskanermönch sind die auf der Malerei wiedergegebenen Sandalen. Struck hingegen bezeichnet diese Figur vage als „Mönch“. Auf der anderen Seite spricht Struck in Bezug auf Bild Nr. 28 von einem „Franziskaner, nach Rieger vielleicht ein Kugelherr oder Bruder des gemeinsamen Lebens“ (Struck, S. 97). Erstens einmal ist dies ein Widerspruch: Die Kugelherren oder „Brüder vom gemeinsamen Leben“ waren eine religiöse Gemeinschaft ohne strenges klösterliches Gelübde, die gegen Ende des 14. Jahrhunderts in den Niederlanden gegründet wurde und deren Angehörige aufgrund ihrer Kapuzen – lat. cuculla, deutsches Lehnwort ‚Kukulle’, im Volksmund ‚Gugel’ – Kugelherren genannt wurden. Der dargestellte Ordensangehörige kann also nicht gleichzeitig ein Franziskaner und ein Kugelherr sein. Riegers Beschreibung des dargestellten Mannes lautet wie folgt: Er trug „einen langen Bart, schwarzen Rock mit Gürtel und schwarzer Capuze und ein hellrothes Käppchen“ (Rieger, Jüngerer Totentanz, S. 258). Nach einem Franziskaner hört sich dies nicht an. Im Zusammenhang mit einem Kugelherren ist allerdings das rote Käppchen schwer zu verorten. Da ein Nachprüfen am Original nicht möglich ist, muß dieses Problem bis auf weiteres dahingestellt bleiben. Als einzig sinnvolle Schlußfolgerung bleibt hier nur, daß es sich um ein Versehen in der Auflistung Strucks handelt. Da man schließlich die Textreihenfolge der Kasseler Handschrift rekonstruieren kann und sie offensichtlich an dieser Stelle, wie fast überall, mit dem Doten dantz übereinstimmte, war allem Anschein nach auch in Bezug auf die Charakterisierung von Dominikaner und Franziskaner als „bösem“ und „gutem Mönch“ Deckungsgleichheit beabsichtigt. Über die Kennzeichnung des auch auf dem Knoblochtzer-Holzschnitt nicht eindeutig identifizierbaren „Bruders“ lassen sich aufgrund der lückenhaften Überlieferung keine weiteren Angaben machen. Unter dem Gesichtspunkt der Kennzeichnung der Mönche als einem bestimmten Orden zugehörig ist auch die Anrede des Todes an den Dominikaner interessant: MOnch ich enweyß dych nit zu nennen/ Ich eynen vor dem ander nyt erkennen/ Vwer vetter anders gekleydt waren/ Anders gestalt anders geschoren […] (V. 401-404). Im Grunde herrscht hier ein subtiler Widerspruch zwischen Text und Bild, sowohl im Doten dantz mit figuren als auch in der Kasseler Handschrift. Denn während der Tod gerade betont, es sei gleichgültig, welcher Gemeinschaft der Angesprochene angehört, und sich somit ausdrücklich nicht festlegt, nehmen die Bilder mit Hilfe der Tracht eine relativ deutliche Zuweisung vor. Übrigens herrscht in der Forschung keineswegs immer Einstimmigkeit über die Ordenskleidung. So hält z.B. Stammler den „bösen Mönch“ der Kasseler Handschrift, der meist als Dominikaner verstanden wird, für einen Benediktiner (vgl. Stammler, Totentanz, S. 62). Ikonographische Verbindungen zur Pariser Danse macabre tun sich nur vereinzelt auf, dies mag aber daran liegen, daß Marchants Holzschnitt-Wiedergabe, wenngleich insgesamt wohl recht getreu, das alte Wandgemälde eventuell in dem einen oder anderen Punkt nicht ganz korrekt wiedergibt und zudem durch die andersartigen künstlerischen Mittel auch stilistisch eine recht große Kluft zwischen dem Druck und der Prachthandschrift liegt. Wenngleich ich nicht konform gehe mit Hammersteins Hypothese, daß von den Kasseler Miniaturen Verbindungslinien zum französischen Text zu ziehen sind, so darf doch ein möglicher Hinweis auf die Richtigkeit seiner Vermutung, daß die Kasseler Handschrift der französischen Tradition
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schiedenen Bildredaktionen dann trotzdem gegen die restliche TotentanzÜberlieferung die frappierende Identität des letzten Bildes, Tod mit allen Ständen, aufweisen, läßt sich so nicht erklären. Sinnvoll wäre nur die Annahme, daß die Bilder der Kasseler Handschrift und des Knoblochtzer-Frühdrucks doch in engerem Überlieferungsverhältnis zueinander stehen, als Hammerstein glauben mag. Die Kasseler Handschrift
Recht geben muß man Hammerstein jedoch andererseits in Bezug auf die Diskrepanzen, die er zwischen Personenbezeichnung und dargestellter Figur im Kasseler Manuskript feststellt: Deckungsgleich ist die Zusammensetzung der abgebildeten Stände in beiden Totentänzen keineswegs, was wiederum eine enge Überlieferungsverbindung fraglich macht. Hammerstein nimmt eine Rückübersetzung des Kasseler Personals in Stände der französischen Tradition vor und entdeckt so, daß im Falle von einigen Personen entweder aufeinanderfolgende Figuren bildlich vertauscht wurden, oder – die weitaus schwerwiegenderen Fehler – auf den Bildern nicht diejenigen Stände gezeigt werden, die der Tod im Text anspricht.557 Das beste Beispiel ist hier der Domherr, der – wie in vielen anderen Totentänzen
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nahesteht, nicht unterschlagen werden. Es finden sich nämlich gewisse Anklänge an ein französisches Exemplar des Frauentotentanzes (La danse macabre des femmes). Diese Handschrift, die nach 1491 entstand, aber auf älteren, verlorenen Vorbildern beruht, führt die Tanzpaare in Innenräumen auf, aber zuweilen sind hinter einem offenen Säulengang Naturszenen erkennbar, und in einigen Fällen wird auch ganz im Freien getanzt (Abbildungen und Beschreibung bei Hammerstein, Tanz und Musik, S. 178f. mit Abb. 69-84; siehe auch CDROM). In der ganzen Art der Ausführung dieser Bilder lassen sich leichte Ähnlichkeiten mit den Kasseler Malereien erkennen, ohne daß jedoch im einzelnen von direkten Übernahmen gesprochen werden könnte. Derartigen Hypothesen sperrt sich auch die unsichere Datierung. Eine gewisse Nähe zur französischen Überlieferung kann jedoch plausibel angenommen werden, ist doch auch im Knoblochtzer-Druck und im Text beider Denkmäler der französische Einfluß spürbar. Daneben wird in der Forschung wiederholt darauf hingewiesen, daß „Burgund als Hintergrund für die Bildredaktion der Handschrift“ in Frage komme (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 204, ähnlich Rosenfeld, Totentanz, S. 231-233). – Vielleicht ist auch der Vérard-Bilderbogen von 1490 im gesamten Zusammenhang bisher in der Forschung zuwenig beachtet worden; eine ausführliche Untersuchung der Beziehungen zwischen deutschen und französischen Totentänzen unter Berücksichtigung weiterer Danse macabre-Fassungen bleibt ein Desiderat (vgl. Anm. 510). Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 200-203. Die von Hammerstein in diesem Zusammenhang genannten Figuren sind Junker, Wappenträger, Offizial, Domherr, Nonne, Jungfrau, Räuber, Bürger, Herzog und Doktor (Gelehrter). Allerdings kann ich Hammerstein nicht in allen Fällen zustimmen. Seine kritische Betrachtung des Räubers – dieser sei durch sein Attribut viel eher als Armbrustschütze im Waffendienst charakterisiert –, übersieht, daß diese Figur auch bei Knoblochtzer mit einer Armbrust dargestellt ist; ebenso wie der Wappenträger, der angeblich keiner ist, auch mit dem Knoblochtzer-Wappenträger gewisse Ähnlichkeiten der Kleidung teilt. Dieser Einwand wäre für Hammerstein vermutlich nicht beweiskräftig, bestreitet er doch auch im Falle Knoblochtzers eine Verbindung zwischen Bild und Text. Ich meine jedoch im vorangegangenen Abschnitt gezeigt zu haben, daß durchaus Grund zu der Annahme besteht, Bilder und Texte des Doten dantz mit figuren könnten in gewissem Maße aufeinander abgestimmt sein. Die beiden genannten Beispiele könnten darüber hinaus die Hypothese stützen, daß zwischen Kassel und Knoblochtzer – wenn auch schwache – ikonographische Verbindungen bestehen.
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– eigentlich in seinem traditionellen Gewand, der Almuzia, dargestellt sein müßte. Auf der Illustration ist jedoch eindeutig ein weltlicher Würdenträger erkennbar.558 Wie sich diese Divergenzen erklären lassen, wenn man annimmt, daß zwischen den Bildern von Kassel und Doten dantz ein Zusammenhang besteht, muß dahingestellt bleiben. Beziehungen zwischen beiden Bildausprägungen sehen jedoch auch Rosenfeld und Rieger. Letzterer beschränkt sich allerdings darauf, allgemein zu bemerken: „Die Holzschnitte sind nah [mit den Kasseler Bildern] verwandt, ohne je ganz übereinzukommen“;559 die Verwandtschaftsbeziehungen werden nicht präzisiert. Einer genaueren Untersuchung in diesem Punkt widmet sich Rosenfeld, der zwischen den Miniaturen und den Holzschnitten „schlagende Parallelen“560 entdekken will. Einige der von ihm angeführten Übereinstimmungen erscheinen indessen sehr vage und können kaum eine tatsächliche Verbindung belegen. Daß z.B. der Tod beim Kaufmann in Kassel ein Horn am Schulterriemen trägt, während bei Knoblochtzer die entsprechende Leichengestalt eine Trompete am Band über die Schulter gehängt hat, sagt m.E. wenig aus. Ebenso wird es kaum von tieferer Bedeutung sein, daß der Wucherer beide Male mit Geldbeutel und -truhe zu sehen ist: Dieser Bildtyp ist ausgesprochen stereotyp und in vielen Totentänzen anzutreffen. Interessanter scheint es mir, daß auf der Bekleidung der Wappenträger in beiden Fällen an der Brust drei kleine, ähnlich angeordnete Wappen zu erkennen sind, oder daß auf beiden Abbildungen des Wirts ein Radkreisstock als Schankzeichen dient (eine Parallele, auf die Rosenfeld besonderen Wert legt). Ansonsten sind die Bilder der Kasseler Handschrift und des Heidelberger Frühdrucks aber sehr verschieden, nicht nur stilistisch – bedingt durch die unterschiedlichen Gegebenheiten von Buchmalerei und Holzschnitt –, sondern auch in anderer Hinsicht. Die mit fratzenhaften „Gesichtern“ ausgestatteten Todesfiguren der Kasseler Handschrift wirken ausgesprochen grotesk; sie verrenken sich in den abnormsten Posen (z.B. beim König) und treten den Sterbenden außerordentlich respektlos entgegen: So läßt der Tod vor dem Dominikaner seine Hosen fallen und streckt ihm sein entblößtes Hinterteil entgegen. Das für Totentänze typische Motiv der Pervertierung begegnet in diesem Totentanz ebenfalls häufig, etwa wenn der Tod beim Bürger und Räuber auf seinem Spaten bläst wie auf einem Einzeluntersuchungen
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Interessanterweise scheint aber der Tod auf diesem Bild eine geistliche Kopfbedeckung zu tragen: Seine rote, pelzbesetzte Kappe sieht aus wie ein Camauro, eine Art Mütze aus rotem Samt mit Pelzrand, die es in verschiedenen Formen gab und von Päpsten, Kardinälen, aber auch weltlichen Würdenträgern wie etwa den venezianischen Dogen getragen wurde. Rieger bezieht dies auf die Figur des Domherrn: „ Mitunter hat er [der Tod] dem abzuholenden seine standesmäßige Kopfbedeckung, z. B. dem Domherrn die rothe mit weißem Pelz verbrämte Mütze abgenommen und sich selber aufgesetzt“ (Rieger, Jüngerer Totentanz, S. 258). In der Tat äffen die Leichengestalten in den Totentänzen ja des öfteren ihr Gegenüber nach oder eignen sich dessen Attribute an. In diesem Fall jedoch wäre der Camauro unpassend, war er doch in der abgebildeten Form dem Papst vorbehalten. Außerdem handelt es sich ja bei dieser Figur offensichtlich gar nicht um einen Domherren (s.o.); vgl. Johannes Wagner, Artikel ‚Camauro’, in: LThK Bd. 2, Sp. 906. Rieger, Jüngerer Totentanz, S. 258. Rosenfeld, Totentanz, S. 238.
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Instrument. Das makabre, widernatürliche Element ist insgesamt stärker betont als in den Holzschnitten der Inkunabel, die im Vergleich zuweilen geradezu „zahm“ wirken.561 Ein weiterer Unterschied besteht in der Gestaltung der Einzelszenen. In der Kasseler Handschrift gibt es keine Kontinuität des Raumes, in dem sich der Tanz abspielt, vielmehr findet jede einzelne Begegnung zwischen Tod und Mensch vor einem eigenen, andersartigen Hintergrund statt. Gelegentlich handelt es sich um Landschaften mit Gebäuden, aber einige Szenen sind auch in Innenräume verlegt worden. So läßt sich hier eine Tendenz feststellen, die in Holbeins Imagines mortis ihren Höhepunkt erfährt: eine Aufspaltung des Reigentanzes in weitgehend voneinander abgelöste Einzelbilder. Während diese Disjunktion aber bei Holbein dadurch verstärkt wird, daß der Tod dem Menschen jeweils in dessen lebensweltlicher Umgebung begegnet (so trifft der Bauer ihn z.B. beim Pflügen des Ackers an), ist in der Kasseler Handschrift der ursprüngliche Reigentanz noch in Ansätzen zu erkennen. Wie bei der Knoblochtzer-Inkunabel ist auch in den Miniaturen die Linksrichtung der Bewegung zu sehen, so daß die Tanzmotivik im Gegensatz zu Holbeins Holzschnitten noch erhalten bleibt, in diesem Fall sogar durch die besonders grotesken Bewegungen deutlich hervorgehoben wird – ganz im Gegensatz zu etwa solchen Buchtotentänzen wie der Lübecker Inkunabel Des dodes dantz, wo sowohl Tod als auch Menschen recht statisch abgebildet sind und sich zudem jeweils auf getrennten Holzschnitten befinden. Ein gewisser Zusammenhalt zwischen den einzelnen Bildern kommt also dadurch zustande, daß der Reigentanz als zugrundeliegendes Muster zumindest in der Vorstellung des Betrachters evoziert wird. Während Hammerstein, wie oben wiedergegeben, im Falle der Kasseler Handschrift nicht an einen Zusammenhang zwischen Text und Bild glaubt, meint er in einigen Fällen nachweisen zu können, daß die Kasseler Miniaturen zum Text der Danse macabre passen – für ihn ein weiterer Hinweis, daß es sich um eine aus der französischen Totentanz-Tradition kommende Bildredaktion handelt.562 So ist er der Ansicht, daß die Worte Ri nest darmes qut mort assault („Wenn der Tod angreift, ist alle Wehr vergeblich“563) auf das Bild des Herzogs (in Wirklichkeit der französische Konnetabel, zu dem diese Worte in der Danse macabre gesagt werden – auch hier wieder eine Abbildung des „falschen“ Standes) passen, der mit einer „verzweifelten Geste […] dem Tod das Schwert zu entwinden trachtet“.564 Schaut man genau hin, ist es jedoch umgekehrt der Tod, der dem Herzog die Waffe entzieht (freilich würde der Text auch in diesem Fall passen). Ähnlich fehlerhaft ist die Betrachtung des Wucherers, dessen „Handgeste, mit der er die Augen bedeckt“, nach Hammerstein „auf die im Text erwähnte BlindDie Kasseler Handschrift
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Auch Rieger betont den Aspekt der Dynamik in den Kasseler Bildern; er findet sie gegenüber den Holzschnitten „lebendiger“ (Rieger, Jüngerer Totentanz, S. 258). Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 202f. Fraglich ist in bezug auf diese Hypothese allerdings, wie sich die Miniaturen auf den Text der Danse macabre beziehen können, obwohl sie ursprünglich nicht für eine Textierung vorgesehen gewesen sein sollen. Die Übersetzungen folgen wiederum Kaiser. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 202.
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heit“565 hindeutet (Dusure estes tant aueugles – „Vom Wucher seid ihr so geblendet“). Zwar führt der Wucherer auf der Miniatur die Hand zur Stirn, bedeckt damit aber keinesfalls seine Augen. Als weitere Beispiele führt Hammerstein den Gelehrten an, bei dem es sich in Wirklichkeit um den Astrologen der Danse macabre handele – der Stab in seinen Händen sei ein falsch wiedergegebenes Triquetrium zur Messung von Himmelsentfernungen.566 In diesem letzten Fall ist es schwer, ein Urteil zu fällen, da auf der entsprechenden Miniatur die Todesgestalt mit ihren Attributen nicht besonders gut zu erkennen ist. In Hinsicht auf die beiden vorgenannten Beispiele sind Hammersteins Behauptungen über das auf dem Bild Dargestellte jedoch eindeutig unpräzis;567 vor allem beim Wucherer vermag ich somit keinen sinnfälligen Bezug zum Danse macabre-Text zu erkennen. Beispiele wie diese zeigen, daß in jedem neuen Einzelfall eine äußerst genaue Betrachtung von Bild und Text nötig ist, um zu verläßlichen Ergebnissen zu kommen. Während ein deutlicher Bezug zum Danse macabre-Text somit nicht zweifelsfrei belegt werden kann, sind auf der anderen Seite jedoch trotz aller festgestellten Diskrepanzen in der Kasseler Handschrift durchaus Text-Bild-Korrespondenzen vorhanden. In einigen Fällen hat man gar den Eindruck, der Text würde zu den Kasseler Miniaturen besser passen als zu den Inkunabel-Holzschnitten. Beim kleinen Kind spricht der Tod von der abgebildeten Wiege: Die werlt mocht dich betriegen:/ besser ist du sterbest in der wiegen (V. 339f.); auf dem Holzschnitt bei Knoblochtzer ist keine Wiege zu sehen. Der Wirt ist beim Ausschenken des Weins abgebildet und wird entsprechend beschuldigt, er habe in seinem Wirtshaus unter anderem das win langen (V. 356), also den Verkauf von verdünntem Wein, praktiziert. Beim fürstlichen Rat scheint gleichfalls eine (wenn auch schwache) Text-Bild-Verbindung vorzuliegen, wenn der Tod den Mann an den Handgelenken packt, ihn also gleichsam abführt, und dazu sagt: ganck furt, du bist nu min gefangen (V. 488). Ähnlich wie auf dem entsprechenden Holzschnitt des Frühdrucks Doten dantz sieht es aus, als fasse sich der Kaufmann ans Herz, Einzeluntersuchungen
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Hammerstein, Tanz und Musik, S. 202. Ebd. Eine Ungenauigkeit unterlief Hammerstein auch im Fall des Franziskaners, über dessen Todespartner er behauptet, er trage den Kopf unter dem Arm. Dies sei eine subtile Anspielung darauf, „daß der zum Tanz geführte Stand das Leben auf dem Schafott gelassen“ habe, was freilich eine Verwechslung des Standes voraussetzt, da „Geköpftwerden ein Adelsprivileg war“ (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 203). Ein Blick auf die entsprechende Miniatur zeigt aber, daß die Todesfigur sich nach vorne beugt, so daß der Betrachter quasi von oben auf seinen Kopf blickt. Dieser Ansicht ist auch Struck. Er schreibt, „der Tod beugt tanzend vor dem Mönch das Haupt“ (Struck, S. 95). – Eine ganz ähnliche Haltung nimmt übrigens der Tod des Einsiedlers auf den Marchant-Holzschnitten an. Dies läßt sich als weiteres Indiz für ikonographische Verbindungen der Kasseler Handschrift mit der französischen Tradition werten; in Hammersteins Sinne stellte das betreffende Kasseler Bild dann wohl in Wirklichkeit nicht den Franziskaner, sondern den französischen hermite dar (der bei Marchant allerdings kein Franziskaner ist, so daß in der deutschen Handschrift in jedem Fall eine Vermischung von verschiedenen Figuren stattgefunden hätte).
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was in beiden Fällen zu seiner Klage paßt, sein erworbenes Gut könne ihm nun nicht mehr helfen, wan dodes kraiff 568 min hertze umb git (V. 591). Wie auch immer die tatsächlichen Überlieferungsverhältnisse ausgesehen haben mögen – festzuhalten bleibt, daß die Hypothese verschiedener Herkunft von Text und Bild schlecht zu den trotzdem vorhandenen Korrespondenzen paßt, während es auf der anderen Seite auch verwundert, daß für eine gemeinsame Provenienz wiederum zu viele Diskrepanzen auftreten. Offensichtlich läßt sich die Weitergabe und Zusammenstellung von Text und Bild im vorliegenden Fall nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren, weshalb diese Fragen im Raume stehenbleiben müssen. Die Kasseler Handschrift
Ein weiterer im Zusammenhang mit der Kasseler Handschrift interessanter Aspekt besteht im Rückgriff auf die Ursprungstheorie des Totentanzes als Drama, die in Abschnitt 2.3.3. behandelt wurde. Nicht nur Hammerstein nimmt, wie oben dargelegt, Rekurs auf derartige Überlegungen. Vor allem auch die ältere Forschung betrachtet den mittelrheinischen Totentanz unter diesem Gesichtspunkt. So spricht etwa Rieger von einem „Spiel“, wenn er über die betreffenden Denkmäler handelt. Hier ist nochmals auf die Beziehung des mittelrheinischen Totentanzes zum „Spiegelbuch“ einzugehen. Auch hier war Rieger der Ansicht, es handele sich um ein Schauspiel; das Auftauchen von einigen Versen sowohl in dieser Dichtung als auch im mittelrheinischen Totentanz könnte denn auch eine Verbindung auf der Gattungsebene569 nahelegen.570 In jüngerer Zeit hat allerdings Palmer für das Spiegelbuch die Schauspiel-Theorie zurückgewiesen: RIEGERS Behauptung eines Zusammenhangs mit dem geistlichen Spiel ergibt sich aus einer Fehleinschätzung der Dialogform, die beim ‚Sp[iegelbuch]’ als ein Charakteristikum der in den (oft bebilderten) Erbauungsbüchern des 15. J[ahrhunderts] weit verbreiteten Contemptus-mundi571 Literatur zu bewerten ist.
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Gegenüber kraiff in Riegers Textedition hat der Knoblochtzer-Druck an dieser Stelle krafft. Bei Rieger ist allerdings nicht klar, ob die Lesart kraiff aus der Handschrift oder aus einem der von ihm benutzten (Nach-)Drucke stammt. Hier sei noch auf einige motivische Parallelen zwischen dem ‚Spiegelbuch’ und dem mittelrheinischen Totentanz hingewiesen, die allerdings bei der ähnlichen inhaltlichen Ausrichtung beider Werke nicht wundernehmen und auch nicht auf diese Werke beschränkt, sondern in thematisch ähnlich ausgerichteter mittelalterlicher Literatur vermehrt anzutreffen sind. Da aber in vielen Aspekten zwischen dem mittelrheinischen Totentanz und dem ‚Spiegelbuch’ Berührungspunkte bestehen (siehe dazu auch Abschnitt 3.2.1.3. zur Zimmernschen Handschrift), ist es erwähnenswert, daß in beiden Dichtungen ein aus dem Grabe sprechender Leichnam auftritt, dessen Worte den noch Lebenden als Warnung dienen sollen. Eine kleinere Übereinstimmung speziell mit den Illustrationen der Kasseler Handschrift fällt ins Auge: Auf der Miniatur hält der Tod der Jungfrau einen Spiegel vor (ikonographische Verbindungen zum Basler Totentanz, wo dieses Motiv ebenfalls vorkommt, bestehen allerdings nicht). Im ‚Spiegelbuch’ taucht das programmatische Schönheitsutensil sogar mehrfach auf: Einmal hält der Teufel es der Jungfrau vor, an anderer Stelle verlangt die mittlerweile im Grabe liegende Schöne selbst danach. Rieger meint, das ‚Spiegelbuch’ reihe sich „in die Familie der Todtentanzpoesie ein“ (Rieger, Spiegelbuch, S. 175, vgl. auch S. 177f.). Palmer, Spiegelbuch, Sp. 137.
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Auch Kiening meint, „das Spiegelbuch hat dramatischen Charakter und ist doch kein Text für die Aufführung“.572 In der älteren Literatur geht neben Seelmann vor allem auch Wackernagel, u.a. in Bezug auf den mittelrheinischen Totentanz, auf die Drama-Theorie in einiger Breite ein. So urteilt er über diesen Totentanz-Text, „dass gleich die ersten eingangsworte fast noch lebendiger als irgend sonst den eindruck eines aufführbaren und aufgeführten dramas machen“.573 Wackernagel bezieht sich hier wohl auf die Verse Einzeluntersuchungen
WOL an wól an ir herren vnd knecht Springet her by von allem geslecht Wie iunck wie alt wie schone ader kruß Ir mußet alle in diß dantz huß
Ähnliche Formulierungen, z.B. wol her, wol her, kennt man etwa als Auftrittsworte von Teufeln in Oster- bzw. Passionsspielen. An mittelalterliche Schauspiele erinnern aber auch die Schlußworte, die mit der Formel beginnen Merckent vnd gedenkent yr mentschen gemeyn, die vielleicht entfernt mit den Worten eines Conclusors oder Magister Ludi verglichen werden können, der die Aufmerksamkeit des Publikums einfordert und an dieser Stelle noch einmal eindrücklich ermahnt, daß das Gezeigte im Gedächtnis behalten werden soll. Zu hinterfragen ist m.E. auch die Erklärung, die Wackernagel für den Titel dieses Totentanzes gibt. Er hält die Schrift bzw. das Wort für das primäre Medium des Genres, die Bilder dagegen „kamen erst später und überall nur im verhältnis der unterordnung zu den worten hinzu. darum heißt auch die zuletzt besprochene dichtung auf dem titel ihrer alten drucke der doten dantz mit figuren“.574 Genausogut könnte man entgegengesetzt interpretieren und die Erwähnung der figuren schon im Titel als ein Zeichen dafür auffassen, daß die Bilder von integraler Bedeutung sind und den Text komplementieren, nicht nur als nebensächliches Beiwerk dienen. Der solchermaßen exponierte Hinweis auf die Bilder könnte in diesem Sinne auch ein Kaufanreiz gewesen sein. Während Wackernagel so auch diesen Totentanz auf eine Schauspiel-Tradition zurückführt (die allerdings zur Zeit der Aufzeichnung zumindest in Deutschland nicht mehr aktiv gewesen sei575), zieht Rosenfeld im Zuge seiner BilderbogenUrsprungstheorie Schlüsse aus der Anordnung des Textes über den Bildern. Er 572
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Kiening, Totentanz Zimmern, S. 178. Kiening betont in diesem Zusammenhang, die Contemptus-mundi-Literatur, der das ‚Spiegelbuch’ ja auch zuzurechnen ist, charakterisiere eine Offenheit für „Bearbeitungen und Variationen, Umstellungen und Verschiebungen“, weil sie „statt auf theologische oder argumentative Stringenz, Identität oder Kohärenz der Figuren auf bildkräftige Anschaulichkeit“ ziele (Kiening, Totentanz Zimmern, S. 178). Dies gilt in hohem Maße auch für die Totentänze. Wackernagel, S. 334. Ebd., S. 337. Ebd., S. 337f.: „wirklich auch ist von etwa der mitte des fünfzehnten jahrhunderts, von derselben zeit an, als sie in Frankreich noch die chorea Machabaeorum spielten, für Deutschland keine spur und kein grund zu der annahme mehr vorhanden, dass der todtentanz noch aufgeführt und in anderer weise sei vor augen gebracht worden als durch bild und schrift und druck.“
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folgert hieraus, daß der mittelrheinische Totentanz nicht auf ein Wandgemälde zurückgeht, da sich bei den Malereien in der Regel die Verse unter den Bildern befanden und so leichter lesbar waren als in großer Höhe. Dagegen sei eine solche Text-Bild-Anordnung aus Bilderbögen bekannt.576 Hierzu ist zweierlei anzumerken. Zum einen gibt es durchaus Totentänze, bei denen der Text über den Bildern stand (z.B. in Basel). Zum anderen ist es fraglich, ob bei der Transformierung eines Monumental-Totentanzes in einen Buchtotentanz zwangsläufig die TextBild-Anordnung beibehalten werden muß, sind doch ohnehin wegen der veränderten Gegebenheiten Anpassungen notwendig, etwa die Aufteilung des Reigens in Einzelpaare. Als Beispiel kann hier wiederum Basel dienen: Obwohl bei diesem Totentanz die Verse über den Bildern angebracht waren, befinden sie sich in den bekannten Reproduktionen darunter.577 Ob also hier tatsächlich aufgrund des Drucklayouts davon ausgegangen werden kann, daß kein Wandgemälde, sondern ein Bilderbogen als Vorbild diente, scheint sehr zweifelhaft. Die Kasseler Handschrift
Wie deutlich wurde, wirft die Kasseler Handschrift zahlreiche Detailprobleme auf, die nicht immer befriedigend zu lösen sind. Das trotz einiger Verbindungen zur französischen Tradition recht eigenständige Bildprogramm wurde mit einem Text kombiniert, der auch in anderen Zusammenhängen auftritt – ein Befund, der bei der Untersuchung der Bild- und Texttraditionen der Totentänze wiederholt begegnet. In diesem Sinne läßt sich die Kasseler Handschrift in schon Bekanntes einreihen, weil sie bisherige Ergebnisse bestätigt und in den Widerständen, die sie letztgültigen Rekonstruktionen der Überlieferungswege entgegensetzt, anderen Exemplaren der Gattung ‚Totentanz’ gleicht.
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Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 250. Wüthrich gibt an, die Verse hätten sich 1616, als Merian den Basler Totentanz kopierte, noch über den Bildern befunden (vgl. Wüthrich, S 347). Auf Merians Kupferstichen sind die Verse des Todes oben, die Antworten der Menschen dagegen aber unter den Bildern angeordnet. Später wurden die Strophen auf Holztafeln unter den Bildern auf der Friedhofsmauer angebracht.
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3.2.1.3. Die Zimmernsche Handschrift Vermutlich in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts stellte Wilhelm Werner von Zimmern sein ‚Vergänglichkeitsbuch’578 zusammen, eine bebilderte Handschrift, die auf 262 Blättern verschiedene Texte zu Themen wie Sterben und Tod, gottgefälliger Lebensführung, Heilsgeschichte (vorwiegend unter eschatologischem Aspekt) und Ähnlichem vereint. Wilhelm Werner fertigte das Manuskript selbst an und bebilderte es auch eigenhändig mit großer Sorgfalt. Einen relativ großen Teil des Umfangs macht eine Abschrift des mittelrheinischen Totentanzes aus, kombiniert mit Bildern, die der Graf, wie auch die Verse, aus einem Exemplar des Knoblochtzer-Drucks übernahm.579 Er kopierte die Holzschnitte jedoch nicht einfach, sondern variierte sie gelegentlich und reicherte sie mit eigenen Ideen an, ebenso wie er die achtzeiligen Strophen jeweils um sechs Verse ausdehnte. Daneben stellte er die Figurenreihenfolge in Teilen um. Das ‚Vergänglichkeitsbuch’ des Grafen von Zimmern ist ein illustratives Beispiel für eine Aneignung vorgegebenen Materials unter bestimmten Vorzeichen, die es im folgenden darzustellen gilt. Der Weg, den der mittelrheinische Totentanz im Zuge seiner Überlieferung geht, wobei er verschiedenen Abwandlungen unterworfen wird, läßt sich hier anschaulich verfolgen. Da der Urheber dieser speziellen Fassung mit seinem biographischen Hintergrund und den daraus zu erschließenden Intentionen bekannt ist, kann eine absichtsvolle Modifikation von Bild und Text in gegenseitiger Abstimmung erschlossen werden. Im Gegensatz zu Kiening, der von einer direkten Inspiration des Zimmernschen Totentanzes durch den Knoblochtzer-Druck ausgeht,580 glaubt Hammerstein an eine nicht überlieferte handschriftliche Vorlage aus dem 15. Jahrhundert, die vor 1485 anzusetzen sei und die gemeinsame Vorlage für den ZimmernTotentanz und die Inkunabel darstelle.581 Der Knoblochtzer-Druck gebe deren Einzeluntersuchungen
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‚Vergänglichkeitsbuch’ ist ein in der Forschung gewählter, sekundär zugewiesener Titel. Die Handschrift selbst enthält auf der Innenseite des Einbands den Spruch Das ist ain gaistlichs A.B.C., welches dem nachkömpt leydet gewißlich in der hell nimmermer kain wee. – Die komplette Handschrift mit allen Abbildungen ist im Internet einzusehen: Das Vergänglichkeitsbuch des Wilhelm Werner von Zimmern. Eine Bilderhandschrift der frühen Neuzeit (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen A III 54). In Abbildung und Transkription herausgegeben von Christian Kiening und Cornelia Herberichs. Mitwirkende: Josiane Aepli, Beate Böckem, Sarah Bussmann, Ralf Junghanns, Astrid Krisen, Ursula Kundert, Patrick Layet, Katja Mettler, Sabina Neumayer, Silvio Riedi (http://www.ds.uni zh.ch/kiening/vergaenglichkeitsbuch/). Hinzuweisen ist auf die mit ausführlichen Untersuchungen und reichhaltigem Bildmaterial ausgestattete Edition des Totentanzes von Kiening, nach der im folgenden auch der Text zitiert wird. Vgl. Kiening, Totentanz Zimmern, S. 195f. Hierin geht Hammerstein zum Teil mit Cosacchi konform, der auch annahm, daß der Zimmernsche Totentanz „nach bisher unbekannt gebliebenen Manuskripten des sog. Casseler Totentanzes“ – gemeint ist bei Cosacchi hiermit stets allgemein der mittelrheinische Totentanz – kopiert wurde (Cosacchi, S. 544). Im übrigen stellt das ‚Vergänglichkeitsbuch’ für Cosacchi ein wichtiges Zeugnis für seine „Gesamtlegenden“-Theorie dar (vgl. Abschnitt 2.3.3.), weil es
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Illustrationen verkürzt wieder; die mannigfaltigen Details der Zimmernschen Totentanzbilder müßten in diesem Sinne nicht als eigene Hinzuerfindungen Wilhelm Werners, sondern als getreue Kopie des dilettierenden Grafen aus dieser unbekannten älteren Handschrift angesehen werden. 582 Indizien sind für Hammerstein einige der von Wilhelm Werner gezeichneten Instrumente, die ihm altertümlicher erscheinen als die bei Knoblochtzer wiedergegebenen583 sowie einige Details der Figurengestaltung. Neben auch hier wieder ins Feld geführten Hinweisen auf die französische Tradition meint Hammerstein jedoch – im Gegensatz zur Kasseler Handschrift – als Hintergrund für den Knoblochtzer- und Zimmern-Totentanz eine spezifisch deutsche Redaktion ausmachen zu können, die im Ständeinventar zum Ausdruck komme. Plausibel erscheint ihm wiederum eine Verwurzelung in einer Aufführung: Die angebliche Totentanzaufführung in Besançon im Jahre 1453 käme nach Hammerstein hier in Frage.584 Da der Graf von Zimmern, wie Kiening anhand verschiedener Beispiele nachgewiesen hat, in vielen Fällen nicht nur kopiert, sondern sich das Material zu eigen macht, es umgestaltet und den für ihn aktuellen Gegebenheiten anpaßt, scheint es jedoch nicht abwegig, die offensichtlichen Unterschiede der Bilder zu den Holzschnitten auf seine eigene Erfindung zurückzuführen. Ein weiterer wichtiger Hinweis, daß die abweichenden Bildelemente in der Tat vom Grafen selbst stammen und nicht aus einer älteren, detaillierteren Version als Knoblochtzer übernommen wurden, ist die Mode der Figuren. Hin und wieder finden sich nämlich Kleidungsstücke, die eindeutig zeitgenössisch, d.h. in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts anzusiedeln sind.585 Die Behauptung, Wilhelm Werner habe eine ältere Vorlage in allen Details getreu abgemalt, wird somit hinfällig. Ein weiteres, eher in die Kunst der Renaissance als ins Spätmittelalter weisendes Kennzeichen ist zudem die Darstellung der Toten nicht als Hautskelette, sondern als Gerippe.586 Daß Totentänze des öfteren zusammen mit anderen Texten und Bildern aus dem Umkreis der contemptus mundi-Literatur auftreten, zeigt sich auch an diesem Beispiel wieder. Wie schon die Danse macabre-Ausgabe des Guyot Marchant, so ist auch der mittelrheinische Totentanz in der Handschrift des Grafen von Zimmern mit der Legende der drei Lebenden und der drei Toten verbunden, des weiteren mit einer Version des bereits erwähnten ‚Spiegelbuchs’, verschiedenen Todesvisionen, einem Zwiegespräch zwischen Tod und Mensch, einer Sterbelehre und anderen, ebenfalls diesem Kreis zuzurechnenden Texten. Der Totentanz wird Die Zimmernsche Handschrift
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verschiedene Texte enthält, die in seinem Argumentationsgang wichtige Glieder bilden, so etwa das ‚Spiegelbuch’ und mehrere Totenvisionen (vgl. Cosacchi, S. 545). Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 209f. Vgl. ebd., S. 210 sowie S. 87f. Eventuell könnte für die Darstellung der Instrumente aber zum Teil auch einfache Unkenntnis verantwortlich sein, wie bereits früher vermutet. Man kann m.E. nicht voraussetzen, daß einem Maler jede Einzelheit einer Vielzahl verschiedener Instrumente bekannt gewesen sein muß. Vgl. ebd., S. 212; siehe auch Abschnitt 2.3.3. Vgl. hier im einzelnen die von Kiening aufgeführten Details (Kiening, Totentanz Zimmern, S. 197f.). Vgl. Anm. 436.
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Einzeluntersuchungen
somit in einen Rahmen eingebunden, der ihn einerseits in einer heilsgeschichtlichen Perspektive verankert, andererseits zusammen mit den aus der Tradition der Sterbelehre stammenden Texten in den Kontext der Seelsorge stellt und ihm so eine unmittelbar praktische Aufgabe zuweist. Die Verwandtschaft zwischen dem Totentanz und den erwähnten anderen Abschnitten des ‚Vergänglichkeitsbuches’ ist nicht nur gattungsmäßiger Natur, sondern teilweise kommt es auch zu motivischen Überschneidungen, wie oben am Beispiel des ‚Spiegelbuches’ bereits gezeigt wurde.587 Die dialogische Struktur findet sich im ‚Zwiegespräch zwischen Tod und Mensch’ wieder. Auch beschränkt sich die Verbindung von Text und Bild im ‚Vergänglichkeitsbuch’ nicht auf den Totentanz, sondern ist ein durchgängiges Element. Insgesamt zeigt der Graf sich mit den Traditionen, in denen auch das Genre des Totentanzes steht und innerhalb deren Bezugsrahmen es gesehen werden muß, sehr vertraut. Mithin müssen auch bei diesem Zeugnis wieder beide Ebenen gleichwertig und in ihrem Verhältnis zueinander behandelt werden, was in der Forschung nicht immer geschah. Die Untersuchung von Heiss ist hier ein Beispiel für recht einseitige Betrachtung. Als Kunsthistoriker gilt Heiss’ Hauptaugenmerk derart ausgeprägt nur den Bildern, daß die Texte lediglich mit wenigen Worten erwähnt werden. Auch die Beschäftigung mit den Illustrationen beschränkt sich im wesentlichen auf Beschreibungen sowie bewertende Kommentare.588 Da Heiss die Texte, denen ja unter anderem die Aufgabe obliegt, das Bild zu erläutern, auf diese Weise vernachlässigt und sich nur auf das Bildmaterial stützt, kommt es zu einigen Fehlinterpretationen des Bildinhalts. Unfreiwillig gibt Heiss damit ein Beispiel dafür, zu welch verzerrter Rezeption es kommen kann, wenn nur eine der beiden Ausdrucksformen, die einen Totentanz ausmachen, beachtet wird. Einige Beispiele sollen dies veranschaulichen. So beschreibt Heiss das Bild des „guten Mönchs“ folgendermaßen: „Als Kilbepfeifer zieht der Knochenmann im lustigen Tanze einen Gnade heischenden Mönch am Bussgürtel hinter sich her.“589 Ein Blick auf den Text offenbart jedoch, daß die Geste der gefalteten Hände keineswegs als Flehen um Gnade, sondern als willige Ergebenheit ins Schicksal aufzufassen ist: Einzeluntersuchungen
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Auch die von Wilhelm Werner zum Text des ‚Spiegelbuches’ angefertigten Illustrationen zeigen durchaus Ähnlichkeit mit Totentanz-Bildern im allgemeinen (und natürlich vor allem mit dem Totentanz in der Handschrift selbst); man vergleiche zum Beispiel die Abbildung des Predigers auf der Kanzel (fol. 11v) mit den Anfängen anderer Totentänze, ebenso die von Würmern und Schlangen umwundenen, mit einer Sanduhr sowie anderen typischen Attributen ausgestatteten Leichengestalten. Allerdings ist hier anzumerken, daß solche Abbildungen insgesamt natürlich nicht auf Totentänze beschränkt sind, sondern in der Kunst der Zeit in verschiedenen Zusammenhängen auftreten und eben im Totentanz eine besonders eindrucksvolle Ausprägung erfahren. So äußert Heiss sich z.B. in einiger Breite zu den anatomischen Fehlern der Figuren, vor allem der Skelette (vgl. Heiss, S. 46). An anderen Stellen kritisiert er, „dass der Maler mit der Perspektive in gespanntem Verhältnis lebt“ (Heiss, S. 44). Insgesamt erhält man den Eindruck, Heiss lege bei seinen Urteilen moderne Maßstäbe zugrunde. Ebd., S. 28.
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Got se ewig lob / danck vnd ere Nün vnd alleweg mmer mere Der mich hät gegeben Z fren ain gastlichs leben Vnd der brder bin worden Die dä gehalten habend iern orden Darümb der td ist mier ain trost Nün würd ich gantz fre vnd erlost Von aller bürdin die ich jetz trag Der ich mich kümm erweren mag Ich was geflissen tag vnd nacht Wie ich gottes ere aüf brächt Vnd das gemeret würd sen lob Das würt mier jetz des hmmels gäb (V. 287-300)
Eine ebenso in Teilen unpassende und ungenaue Interpretation wird der Figur der Nonne zuteil, über die bei Heiss zu lesen ist: Nur um Eine ist’s den Unerbittlichen leid, um die Schwester, zum Trost hat er ihr auf der Guitarre ein Lied gespielt, gerne ist sie, die in ihrer Jugend wider Willen den Schleier genommen, 590 ihm gefolgt, und gefaßt geht sie in seiner Begleitung der lang ersehnten Erlösung entgegen.“
Im Text heißt es nicht, die Nonne habe sich „wider Willen“ ins Kloster begeben, sondern die von Wilhelm Werner selbst gedichteten Verse rekurrieren auf Unkenntnis der Bedeutung eines solchen Gelübdes: In der jügend bin ich z kloster kümmen/ Ee das ich het recht vernommen/ Wie es ain gestalt darümb het (V. 381382). Des weiteren zeigt der Tod in seinen Worten keineswegs Mitleid mit der Schwester, die auch nicht „gefaßt“ der „lang ersehnten Erlösung“ entgegensieht, sondern sich im Gegenteil selbst vorwirft, sie habe gedacht wenig an dise letste fart (V. 374). Heiss’ Ausführungen sind zuweilen recht frei und gehen ein wenig über das hinaus, was auf den Illustrationen zu sehen ist, wenn er etwa über das Bild des Kindes schreibt: Das Glück und die Hoffnung der Eltern, zwei herrliche, unschuldige Kinder, die noch nichts Böses kennen, selbst sie verschont der Grausame nicht. Doch nur den Eltern gegenüber zeigt er 591 sich mitleidlos; denn die lieben Kleinen möchte er irdischen Qualen entreißen […].
Auf dem Holzschnitt ist jedoch nur ein Kind zu sehen, nicht zwei. Die Beschreibung und Auslegung des Bildes ist insgesamt etwas gewagt. Ein wesentliches Verdienst Heiss’ liegt allerdings darin, zu einer Zeit, als noch keine Untersuchung und nur wenige Reproduktionen der Zimmernschen Handschrift vorlagen, den Inhalt des ‚Vergänglichkeitsbuches’ für die Forschung wenigstens auf diesem Wege teilweise verfügbar gemacht zu haben. Die Zimmernsche Handschrift
590 591
Heiss, S. 28f. Ebd., S. 33.
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Wie bereits eingangs erwähnt wurde, zeichnen sich sowohl Bild als auch Text dadurch aus, daß es sich bei ihnen nicht um reine Kopien handelt, sondern Wilhelm Werner eigene schöpferische Anteile einfließen ließ. Seine Methode der Textbearbeitung ist in allen Strophen gleich: Er übernimmt hauptsächlich die acht Verse des mittelrheinischen Totentanzes und ändert nur gelegentlich Worte oder Ausdrücke (manchmal im Zeichen der Modernisierung), fügt auch zuweilen Worte hinzu. Die weitreichenderen Änderungen betreffen den Textumfang. Der Graf fügt jeder Strophe nochmals sechs Verse hinzu, die auch meist syntaktisch glatt angeschlossen werden. Neue Gedanken kommen jedoch im wesentlichen nicht dazu; die Textaussage wird breiter ausgeführt, aber nicht verändert. Gelegentlich drängt sich sogar der Eindruck von Redundanz auf. Als typisches Beispiel mag hier der Text des Pfarrers dienen, der in beiden Versionen einander gegenübergestellt wird (geänderte Worte und Wortgruppen sind zur besseren Übersicht recte hervorgehoben): Einzeluntersuchungen
HEtte ich myn schafflyn woill behut Als eyn rechter hyrtt dut. Sye vnd mych ane sunde bewart Frolich für ich diße leste fart Nu han ich gesucht zijtlichs gt Als der falsch hyrt dt Dar vmb ich mych sere betrüben Got wolle doch das beste pruben. Mittelrheinischer Totentanz, V. 89-96
Het ich mene scheffle wol beht Als ain rechter gter hrte tht S / vnd mich selb vor sünden bewart Frölich fr ich jetz dise letsten fart Nün hab ich gescht das zetlich gt Als der böß vnrecht hrt tht Deß halben ich mich billich th betrben Got wöll sen barmhertzickait an mier ben Vnd mich des nit engelten lon Das ich in vil schweren sünden ston Söllichs hät aller maist der pfenning gemacht Vnd mich in dises leden gebrächt Het ich mener sele war genomen So wer ich in diese not nit kümmen Zimmernscher Totentanz, V. 203-216
Wie man sieht, hat Wilhelm Werner den Text seinem Sprachstand angeglichen; so ist etwa die Diphthongierung durchgeführt. Im großen und ganzen ist der Inhalt des Textes der gleiche geblieben. Gelegentlich hat man den Eindruck, die Sprache soll insgesamt (zuweilen auch metrisch) geglättet und kohärenter gemacht werden, wie etwa im dritten Vers der Strophe, wo das hinzufügte Pronomen selb anscheinend im Dienste der Klarheit steht. Eventuell schwer verständliche und veraltete Wendungen werden ebenfalls ersetzt, so der letzte Vers des alten mittelrheinischen Textes Got wolle doch das beste pruben592 durch das auf denselben Reim endende Got wöll sen barmhertzickait an mier ben, woran die hinzugedichteten sechs Verse mittels der Konjunktion vnd angeschlossen werden. Die neu hinzugekommenen Verse sind eigentlich zum Teil nur Wiederholung des schon Gesagten, eine weitere Klage des Pfarrers, zu sehr an weltlichen Gütern 592
Lemmer übersetzt diesen Vers mit „Ach, wollte Gott dennoch das Beste für mich erwirken“, während die betreffende Stelle bei Kaiser lautet: „möcht’ Gott doch Gnade walten lassen!“. Es handelt sich wohl um eine Dialektform von prüeven, das auf lat. probare zurückgeht und neben anderen Bedeutungen u.a. auch mit ‚erweisen, hervorbringen, bewirken’ wiedergegeben werden kann.
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bzw. Geld gehangen und zuwenig auf das Seelenheil geachtet zu haben. Diese Art der Textbearbeitung findet sich bei allen Figuren, nur gelegentlich kommen neue Ideen hinzu, wie etwa bei der oben besprochenen Figur der Nonne, die der Graf sagen läßt, sie habe ihr Gelübde in der Jugend abgelegt, ohne wirklich um dessen Bedeutung zu wissen. Kiening stellt fest, daß „alter und neuer Text ununterscheidbar werden“, dies auch „in inhaltlicher Hinsicht“.593 Etwas origineller geht der Graf von Zimmern mit seinem Bildmaterial um. Zwar sind auch hier alle wesentlichen Züge des Vorbilds beibehalten, doch die neu eingeführten Elemente stellen durchweg eine semantische Anreicherung der Illustrationen dar. Die kolorierten Zeichnungen sind insgesamt feiner und detailreicher ausgeführt und um differenzierte und sehr verschiedenartige Landschaftshintergründe ergänzt. Zersplitterte oder abgehauene Baumstümpfe (z.B. bei Papst, Kardinal und König) sowie zusätzliches Verwesungsgetier (etwa in den Abbildungen von Domherr und Offizial) oder auch Elemente wie Grabsteine oder ausgehobene Gräber (zu Füßen des Kaisers und der Jungfrau), beim Dieb der originelle Einfall eines Galgens, akzentuieren die Vergänglichkeitsthematik. Manchmal hat der Graf die Figuren aber auch abweichend vom Knoblochtzer-Druck gezeichnet, so etwa im Falle des Räubers, den er beritten vor einem Hintergrund mit Bäumen darstellt, oder den Wucherer, der bei seinem Warenlager mit mehreren Geldsäcken vom Tod überrascht wird. Der Jungfrau hält der Tod einen Spiegel vor, ein Motiv, das aus anderen Totentanzbildern bekannt ist (z.B. in der Kasseler Handschrift594 und im Basler Totentanz) und im vorliegenden Fall vielleicht durch das entsprechende Motiv aus dem ‚Spiegelbuch’ inspiriert ist. Die Gestalt des Grafen hat Wilhelm Werner mit Zimmernschen Wappen ausgestattet. Dies kann einerseits als Demutsgeste aufgefaßt werden, indem er sich selbst nicht vom Todesreigen ausnimmt, sondern ganz im Gegenteil durch dieses Bild die eigene Todesbetrachtung anregen und festschreiben will – diesem Zweck dient nicht zuletzt das gesamte ‚Vergänglichkeitsbuch’. Auf der anderen Seite kann diese Abbildung als Äußerung einer spezifischen Form von Aneignung gelesen werden, wie Kiening in anderem Zusammenhang ausführt: Die Zimmernsche Handschrift
Texte wie Bilder sollen Heilswirkung haben, und dies nicht nur aufgrund ihrer frommen Inhalte, sondern aufgrund ihres Geschrieben- und Gemaltseins durch den, der sich im Schreiben und Malen immer wieder dieser Inhalte versichert und zugleich seine Gesinnung zu erkennen gibt. Verallgemeinerung und Individualisierung stehen so nicht im Widerspruch zueinander. Wilhelm Werner begreift sich als exemplarischer Sünder, der im je neuen Durchgang durch die letzten Dinge sein individuelles Heil zu finden hofft. […] Deshalb ist die Handschrift, wie angedeutet, durchzogen von den Zeichen der Personalisierung: Eintrag eigener Texte, Nennung des eigenen Namens und der Namen verwandter Geschlechter, Hinzufügung von Personen und Wappen 595 […].
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Kiening, Totentanz Zimmern, S. 200. Hammerstein vertritt die Annahme, der Zimmernsche Totentanz sei „zweifellos“ mit der Kasseler Handschrift verwandt (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 211f.). Für eine solche Verwandtschaft kann ich allerdings keinerlei sichere Anzeichen entdecken. Kiening, Totentanz Zimmern, S. 187.
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In diesem Zusammenhang ist auch der Adressatenkreis des ‚Vergänglichkeitsbuches’ und damit des vorliegenden Totentanzes zu sehen, der ihn von den meisten anderen Exemplaren des Genres trennt. Die Handschrift war primär erst einmal für ihren Schöpfer selbst gedacht, war sicherlich auch dem Grafen nahestehenden Personen wie Familie und Freunden zugänglich und wurde später als Familienerbstück weitergegeben, wie eine Bemerkung auf der Innenseite des Einbands zeigt.596 Kiening beschreibt die Zwecksetzung und die daraus erwachsende Struktur als Einzeluntersuchungen
Sammlung, die das, was sie aussagt, auch selbst sein will: angelegt nicht auf sukzessivlogische Stringenz, sondern auf ein verweilendes Sich-Versenken, bei dem Lesen und Betrachten unter597 schiedliche Stimuli bieten und zugleich verschmelzen.
Als weitere Eigentümlichkeit der Zimmernschen Totentanzbilder ist auf den ausführlichen Gebrauch hinzuweisen, den Wilhelm Werner in seinen Illustrationen von Zeigegesten macht. In vielen Fällen weist der Tod mit einer Hand auf die Bildelemente, die der Vergänglichkeitsthematik entstammen, so z.B. auf den Galgen, an dem der Dieb vielleicht seinen Tod finden wird, oder auf das Grab bei der Jungfrau. Beim Wucherer weist er mit der linken Hand auf den im Hintergrund zu erkennenden Kirchhof. Auch die auf die Grabplatte am Boden gerichtete Trompete beim Kaiser kann in diesem Sinne verstanden werden. Im vorletzten Bild mit allen Ständen deutet die erhobene Hand des Todes auf den Friedhof.598 Besonders bemerkenswert ist Wilhelm Werners Umgang mit der Beziehung zwischen den Komponenten Bild und Text. Die fehlende Erwähnung der Musikinstrumente in den Strophen des mittelrheinischen Totentanzes fiel ihm offenkundig auf und regte Kompensationsversuche an, die sich allerdings nur auf relativ wenige Stellen beschränken und daher kein durchgehendes Muster der Text- und Bildbearbeitung konstituieren. Die betreffenden Fälle sollen im folgenden vorgestellt werden. Der Kardinal ist mit einer Todesfigur abgebildet, die ein Trumscheit trägt. Unter Bezugnahme auf dieses Instrument bemerkt der Kardinal in den hinzugedichteten Versen, er fände kein Gefallen an der Musik: Vnd gefelt mier nit diß satenspl (V. 101). Ganz ähnlich wird auch beim Bischof auf den dort vom Tod gespielten Dudelsack hingewiesen, wiewohl diese Bezugnahme auf das Instrument vom Sinnzusammenhang her nicht besonders plausibel eingefügt ist. Der Tod sagt hier: Nit laß ich mich den treben ab/ Wie wol ich nün ain sackpfeff hab/ Denocht so bin ich also starck/ Das ich kan derren ewer marck (V. 113116). Es scheint, als sei das Hauptanliegen gewesen, auf irgendeine Weise eine
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Kunigundt frey fraw zu Königseggh vnd Aulendorf geborene greffin zu Zimbern gehert dis Buch zu. Darüber steht die Jahreszahl 1592. Kiening, Totentanz Zimmern, S. 188. Dem Maler, der die Bilder für die um 1600 entstandene Prachthandschrift (s.u.) kopierte, scheint die Signifikanz der deutenden Gesten entgangen zu sein. So zeichnete er beim Wucherer und bei der Versammlung aller Stände zwar die Pose des Gerippes getreu ab, aber im Verhältnis zum Hintergrund so verschoben, daß in beiden Fällen die Hand des Todes ins Leere weist.
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Erwähnung des Dudelsacks unterzubringen; auf die semantische Qualität der Verse wurde erst in zweiter Linie geachtet. Ein offenkundiges Versehen geschah dagegen beim Räuber. Zu diesem sagt der Tod in Wilhelm Werners neugedichteten Versen: Nmm war dens gesellen hörnlins thon (V. 986). Das angesprochene Horn ist zwar auf dem KnoblochtzerHolzschnitt vorhanden, nicht aber auf dem Zimmernschen Bild, das nur lose an das Vorbild angelehnt ist – hier trägt der Tod überhaupt kein Instrument, sondern Pfeil und Bogen. Zu erklären ist diese Divergenz wohl nur, indem man annimmt, daß der Graf ursprünglich eine getreuere Abzeichnung des Holzschnitts beabsichtigte und den Text schon eingetragen hatte, bevor er sich aus irgendwelchen Gründen entschloß, das Räuber-Bild wesentlich abzuändern, so daß dann die Bild-Text-Korrespondenz aus den Fugen geriet. Eine kleinere Ungereimtheit liegt beim Spieler vor, dem der Tod mit einem Trumscheit gegenübertritt, wozu er spricht: Dann ich zeüch dier den bogen an der gegen (V. 1005). Letzterer Begriff läßt sich auf das Trumscheit beziehen (das auch als „Nonnengeige“ bekannt war, ebenso aber als „Nonnentrompete“ bezeichnet wurde), doch von dem dazugehörigen Bogen, ohne den das Instrument nicht spielbar ist, fehlt jede Spur. Möglicherweise hat der Graf ihn einfach vergessen. Eine stimmige Text-BildBeziehung stiftet Wilhelm Werner dagegen bei der Figur des Wappenträgers, dem der Tod ein Wappenschild mit Schädel und gekreuzten Knochen vorhält, woraufhin der sterbende Mensch erschrocken bekennt: Was mier ist worden z lone/ Das hlfft mich jetz nit vmb ain bone/ Es mag mier nichtz erschiessen gar/ Sed ich das tten wapen nmm war (V. 629-631; von Wilhelm Werner stammen nur die letzten beiden Verse, die er hier glatt an den Knoblochtzer-Text anschließt). Die Zimmernsche Handschrift
Insgesamt geht Wilhelm Werner mit den Komponenten Bild und Text und ihren spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten durchaus bewußt um. Er erkennt, daß sich gegenüber den schlicht gehaltenen Holzschnitten des Knoblochtzer-Drucks die Aussagekraft der Bilder wesentlich erweitern läßt und daß an einigen Stellen Elemente der Illustration gerade dazu herausfordern, auch entsprechende Texthinweise einzuarbeiten – dahingestellt bleibt lediglich, warum dies nicht konsequenter durchgeführt wurde. Von der Zimmernschen Handschrift existieren zwei Kopien, die teilweise von Heiss beschrieben wurden. Dem Original, das er mit A bezeichnete, stehen noch die beiden Exemplare B und D gegenüber. Bei B handelt es sich um eine Kopie des Originals mit wenigen Abweichungen gegenüber A.599 Von einigem Interesse 599
Diese Angaben folgen der Beschreibung von Heiss (vgl. Heiss, S. 34-42). B wurde der Forschung bisher kaum zugänglich gemacht. Anhand der wenigen und zudem relativ schlecht erkennbaren Reproduktionen, die Heiss veröffentlichte, läßt sich nur feststellen, daß die Illustrationen von A und B sehr genau übereinzustimmen scheinen. Heiss war der Meinung, daß B ebenfalls von Wilhelm Werner angefertigt wurde (vgl. ebd., S. 35f. sowie S. 54f. und S. 66), während er D dem Sekretär des Grafen, Johannes Müller, zuschreibt (vgl. ebd., S. 66), eine Annahme, die Koller unter Hinweis auf die in der Handschrift befindlichen Initialen D.B. bezweifelt (vgl. Koller, S. 542). Daß der Künstler des Manuskripts B u.a., soweit sich erkennen
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Einzeluntersuchungen
für die vorliegende Arbeit ist D, eine um 1600600 ausgeführte Handschrift mit Illustrationen eines professionellen Malers.601 In dieser Version des Zimmern-Totentanzes wurden einige Figuren durch von Holbein abgemalte Bilder ersetzt.602 Einzeluntersuchungen
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läßt, die anatomischen Fehler der Todesgestalten getreu und auf genau die gleiche Art übernahm, ließe sich wohl in der Tat als Indiz werten, daß die Kopie B ebenfalls auf Wilhelm Werner zurückgeht. Allerdings ist einschränkend anzumerken, daß die Bildunterschriften der Reproduktionen bei Heiss in einigen Fällen nicht ganz zuverlässig wirken. So hat man zuweilen das Gefühl, die Siglen wurden verwechselt. Im Einzelfall läßt sich dies ohne direkten Zugang zu allen Handschriften (vor allem zum unveröffentlichten Exemplar B) leider nicht klären; da es sich aber um marginale Probleme handelt, die zur Erhellung der Text-Bild-Thematik kaum etwas beitragen können, sollen diese Einzelheiten nicht weiter verfolgt werden. Über die Datierungen sowohl des Originals als auch der Kopien herrscht Uneinigkeit. Während Kiening sich, wie eingangs erwähnt, für eine Entstehung der Handschrift A in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts ausspricht (vgl. Kiening, Totentanz Zimmern, S. 175) und D „um 1600“ ansetzt (vgl. ebd., S. 51), glaubt Heiss, daß A „frühestens 1569“ geschrieben wurde und B etwa gleich alt sei (vgl. Heiss, S. 64-67); in der Datierung der Kopie D stimmen beide überein. Koller spricht sich für eine Entstehung von A „zwischen 1569 und 1575“ aus und setzt D „nach 1575 an“, allerdings mit einem Fragezeichen versehen (vgl. Koller, S. 541). Rosenfeld datiert D gleich und A ähnlich auf „ca. 1569“, allerdings nicht wie die anderen Forscher aufgrund von aus den Lebensereignissen und -daten des Grafen gewonnenen termini post und ante quem, sondern unter Heranziehung von „Modehose u[nd] Helfensteinwappen“ (vgl. Rosenfeld, Artikel ‚Mittelrheinischer Totentanz’ [wie Anm. 540], Sp. 626). Hammerstein datiert den Totentanz wesentlich früher, nämlich auf etwa 1520 (aufgrund der Tatsache, daß sich nur das Wappen von Wilhelm Werners erster Frau, die 1521 starb, findet, nicht aber das seiner zweiten Gemahlin), gesteht aber dann ein, daß andere Teile des ‚Vergänglichkeitsbuches’ auf eine spätere Entstehung schließen lassen, was daher kommen mag, „daß der Codex zu einem relativ späten Zeitpunkt aus einzelnen Faszikeln zusammengestellt und zusammengebunden wurde“ (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 208f., hier S. 209). Reproduktionen der Malereien bietet ebenfalls die oben erwähnte Totentanz-Ausgabe Kienings. – Eine tabellarische Übersicht der Figurenabfolgen mit Angaben, welche Bilder durch Holbein-Kopien ersetzt wurden, enthält die Publikation von Heiss (vgl. Heiss, S. 37f.). Hier unterlief Heiss jedoch eine Verwechslung: Er bezeichnet die Holbein-Abbildungen durchgehend als den „Grossbasler Totentanz“. Statt einer vollständigen Ersetzung kommt es aber auch zur Vermischung von Knoblochtzerund Holbein-Motiven, so im Falle des Kaisers: Dieser ist in der Prachthandschrift D nach Holbein auf seinem Thron mit Untertanen abgebildet, der Tod kommt jedoch nicht von hinten, um den Herrscher zu entkrönen, sondern ist deutlich an die Todesgestalt aus dem Frühdruck bzw. die Zimmernsche Version angelehnt: Das Skelett steht, vom Betrachter aus gesehen, zur Linken des Kaisers und bläst eine Trompete mit Reichsadler-Banner. Anders als in der Originalhandschrift A und bei Knoblochtzer trägt es allerdings keinen Hut und bricht zusätzlich dem Schwert des Kaisers die Spitze ab. – An anderen Stellen wandelt der Künstler die Holbein-Vorbilder leicht ab, läßt etwas weg oder fügt Neues hinzu: Auf der Ablaßbulle, die der Kardinal in der Hand hält, sind, anders als bei Holbein, die Worte Gib Gelt zu lesen. Gelegentlich ändert der Maler aber auch das Zimmernsche Vorbild leicht um, ohne Motive von Holbein zu Hilfe zu nehmen, wie z.B. beim Bruder, den er mit einer Axt über der Schulter und einem Rosenkranz abbildet, während der ihn abführende Tod nicht wie bei Knoblochtzer und Zimmern einen Dudelsack spielt, sondern ein Hackbrett. Manchmal figurieren die Holbeinschen Personen auch unter anderen Titeln (eine Technik, die auch schon Hulderich Frölich angewendet hatte): Holbeins Äbtissin dient in der Prachthandschrift D als einfache Nonne – das Nonnen-Bild bei Holbein eignete sich wegen seines statischen Aufbaus (die Nonne kniet dort am Boden) wenig für einen Totentanz, der stärker als die Imagines mortis
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Auch dies ist wieder ein Beleg für die überaus weite Verbreitung des Holbeinschen Abbildungsmaterials, das in weiten Teilen die frühneuzeitlichen Totentänze durchsetzt und zu verschiedensten Kombinationen und „Kontaminationen“ führt, wie im vorliegenden Fall.603 Die Substitution einiger Bilder durch Holbein-Kopien604 mag dem zeitgenössischen Bedürfnis nach „Verbesserung“605 nachkommen, in modernerer Betrachtungsweise liegt jedoch eine andere Bewertung nahe. Die neuen Bilder zerstören teilweise das Bild-Text-Gefüge, das entweder schon im mittelrheinischen Totentanz angelegt war oder von Wilhelm Werner durch Hinzufügungen hergestellt wurde. Ein Beispiel ist der Kardinal, den der Graf in den von ihm gedichteten Versen, wie oben beschrieben, von dem in der Illustration zu erkennenden satenspl (V. 101) sprechen läßt. Statt des Todes mit dem Trumscheit ist aber nun bei Holbein eine Szene zu sehen, in der eine Todesgestalt im Begriff ist, dem Kardinal, der für einen Ablaß von einer anderen Figur Geld fordert, den Hut zu stehlen. Eine Bild-Text-Verknüpfung kann so allenfalls noch in der stereotypen Erwähnung von rotem Mantel und Hut des Kardinals gesehen werden, die enge Verbindung, wie der originale Zimmernsche Totentanz sie bot, ist jedoch zerstört. Gleiches gilt für den Dudelsack des Todes beim Bischof, der in Wilhelm Werners Text erwähnt wird, wohingegen die Holbein-Abbildung Tod und Bischof mit einem anscheinend davonlaufenden Schaf zeigen. Von den sprichwörtlichen „Schäflein“ des Geistlichen ist aber im zugehörigen Text nicht die Rede: Der Verweisungskontext dieses Bildelements steht somit für sich allein und findet in den Versen kein Pendant. Hätte beim Räuber durchaus die einfache Möglichkeit bestanden, Wilhelm Werners Versehen (s.o.) durch die Abbildung eines Horns zu beheben, so wurde hiervon jedoch kein Gebrauch gemacht. Ein weiterer ähnlicher Fall ist der Spieler, den der Kopist der Prachthandschrift zwar nach dem Zimmernschen Vorbild gestaltet, jedoch unter Weglassung des Trumscheits. Der wegen des fehlenden Bogens auch schon in der Originalhandschrift etwas ‚holprige’ Textbezug (Dann ich zeüch dier den bogen an der geygen [V. 1006]) hängt so vollends in der Luft. Insgesamt scheint das Bewußtsein für das Zusammenspiel von Bild und Text bei dem Maler der Prachthandschrift nicht besonders ausgeprägt gewesen zu sein. Die Zimmernsche Handschrift
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noch den Reigencharakter aufweist. Relativ eigenständige Schöpfungen des Malers von D sind der Junker (nur entfernt erinnert hier die Haltung des Todes an Holbeins EdelmannHolzschnitt) und der Bürgermeister. Daß dem Künstler nicht nur die Zimmernschen Bilder, sondern auch die Knoblochtzer-Inkunabel vorlag, zeigt die Illustration zum Schreiber, der im Gegensatz zu Wilhelm Werners ziemlich statischer Version wieder die deutliche Gegenwehr des Sterbenden mit dem gegen den Tod gestemmten Bein zeigt, wie auch der entsprechende Holzschnitt im Frühdruck. – Insgesamt läßt sich sagen, daß die Malereien aus D, verglichen mit den sehr detailfreudigen Holzschnitten Holbeins, meist eine leichte Reduzierung der Fülle an Einzelheiten vornehmen. Vgl. Abschnitt 3.3.4. Die Holbein-Kopien sind durchweg seitenverkehrt. Vielleicht wurden als Vorlage seitenverkehrte Nachschnitte verwendet, wie sie z.B. auch in Hulderich Frölichs Bern-BaselKompilation auftauchen. Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 212.
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Da er das ihm vorliegende Material unter diesem Aspekt offensichtlich nicht gedanklich durchdrungen hat, mag er dem von Hammerstein als Dilettant606 bezeichneten Grafen vielleicht in künstlerischer Hinsicht überlegen sein, das spezielle Charakteristikum der Bimedialität behandelt Wilhelm Werner jedoch fundierter. In jedem Fall ist der Zimmernsche Totentanz ein Zeugnis für die Aneignung und somit Weiterentwicklung und Umgestaltung einer gegebenen Vorlage. Als solches ist er bei der Untersuchung von Text- und Bildtraditionen auf ihren Überlieferungswegen von einiger Bedeutung. Auch an diesem Beispiel hat sich wieder gezeigt, daß Text und Bild in ihrem Verhältnis zueinander keinesfalls statisch weitergegeben werden, sondern im Gegenteil auf ihren „Wanderungen“ durch Zeit und Raum stets Modifikationen unterworfen werden, die Rückschlüsse auf die jeweilige Verwertungsintention und die ihr zugrundeliegenden Gegebenheiten und Präferenzen zulassen. Einzeluntersuchungen
3.2.1.4. Der Totentanz von Kienzheim607 Im allgemeinen lassen sich die Totentänze anhand textlicher Kriterien recht klar der nieder-, mittel- oder oberdeutschen Überlieferungsgruppe zuordnen; zu Überschneidungen und Mischformen kommt es meist nicht hier, sondern auf der ikonographischen Seite. Der Totentanz aus dem elsässischen Kienzheim stellt in dieser Hinsicht eine einzigartige Ausnahme dar, als die er in der Forschung m.E. bislang nicht genügend gewürdigt wurde. Er beinhaltet nämlich neben offenbar eigenständigen Teilen sowohl Entlehnungen aus dem mittelrheinischen Totentanz als auch Verse, die dem oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text entnommen sind. Man könnte ihn damit als eine Art Bindeglied zwischen den ober- und mitteldeutschen Gruppen betrachten, die sonst im allgemeinen textlich recht klar getrennt bleiben.608 606 607 608
Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 209; die Bezeichnung ‚Dilettant’ hat allerdings nicht grundsätzlich pejorative Bedeutung, wenngleich sie heute meist so verwendet wird. In der Literatur kommt auch die Schreibung ‚Kientzheim’ vor. Dem stehen einige Versuche z.B. Breedes und Rosenfelds entgegen, im mittelrheinischen Totentanz Textentlehnungen aus dem oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text und der Basler Version desselben nachzuweisen. Stärker als Breede (vgl. dort S. 71: Von einer stärkeren Abhängigkeit des mittelrheinischen Totentanzes von Basel könne man kaum sprechen, „wenn auch verschiedene Stellen darauf hindeuten, daß der Text dem Dichter bekannt gewesen ist“) betont Rosenfeld einen angeblichen Einfluß seines „Würzburger Totentanzes“ (vgl. Anm. 690) auf den mittelrheinischen Totentanz (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 241f.). Wenn er findet, die Verse des Predigers im oberdeutschen vierzeiligen Text Dar umbe solt ir von sünden lan (Der prediger hie her nach) klängen im Prolog des mittelrheinischen Totentanzes (Laßent von sunden das ist myn radt) wieder an, so kann ich dem kaum beistimmen. Dieser und andere Belege sind m.E. nicht so beweiskräftig, daß sie eine tatsächliche Verbindung belegen könnten. Vielmehr handelt es sich um recht stereotype Ausdrücke, die in der einen oder anderen Form in sehr vielen Totentänzen und verwandten Genres anzutreffen sind. – Auch der nordböhmische Totentanz enthält einige wenige, anscheinend aus der oberdeutschen Tradition stammende Verse und ist daher nicht ganz eindeutig ausschließlich der mitteldeutschen
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In weiterer Hinsicht ist dieser Totentanz eine Ausnahme. Während der Text nicht im Original, aber immerhin als Abschrift überliefert ist, sind die Bilder in ebendiesem Manuskript nur beschrieben worden. Diese Beschreibung ist jedoch so minutiös, daß mit ihrer Hilfe durchaus Text-Bild-Beziehungen in diesem Totentanz untersucht werden können. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts wurde im Kienzheimer Archiv eine vermutlich aus dem 16. Jahrhundert stammende Handschrift gefunden, die eine Abschrift des Totentanzes der örtlichen Kirche enthielt, der bis dahin als vollständig verloren gegolten hatte. Er befand sich an der Innenseite der südlichen Kirchhofsmauer,609 wurde im späten 18. Jahrhundert übertüncht und fiel dann im 19. Jahrhundert mitsamt der Mauer den Zeitläuften zum Opfer.610 Aufgrund zweier Vermerke in der Handschrift kann man die Wandmalerei auf das Jahr 1517 datieren.611 Der Totentanz von Kienzheim
Das Manuskript beinhaltet nun nicht nur die Strophen des Totentanzes, sondern, wie angedeutet, auch eine Beschreibung der Bilder, die so detailliert ist, daß sie zuweilen den zwei- bis dreifachen Raum der Verse einnimmt.612 Alle Einzelheiten des Gemäldes sind hier festgehalten: Aussehen, Haltung, Ausdruck sowie Bekleidung und Attribute der Personen werden auf das präziseste geschildert. Das Wandgemälde muß ungemein genau ausgeführt gewesen sein – vor allem was die Gewänder der menschlichen Gestalten betrifft – und war vermutlich auch sehr ausdrucksvoll. Besonderen Stellenwert nahm anscheinend die groteske Darstellung der Todesfiguren ein, die nach der Beschreibung nicht nur überaus einfallsreich anmuten, sondern auch mit einem überbordenden Reichtum an Verwesungsgetier aller Art613 ausgestattet waren. Darüber hinaus gaben sich die Leichengestalten anscheinend sehr dynamisch. Um der Anschaulichkeit willen sei eine solche Beschreibung einer Todesfigur hier in voller Länge zitiert: Hie gryfft der tot den schultheyss mit der lincken hand vnder dem kin an die gulger vnd kert dz mul harumer z dem schultheiss, hat vnden keinen kyffel, nur obenand zn, ein grose schlang vmm den halss gewyckel, hat dz mul wit offen, die zung streck sich gegen dem schultheyss, ein krot am rechten backen sitzen, der todenkopff hat noch ein wenig har da hinden hencken vnd zeygt mit zweygen finger mit der rechten handt im bersich an den rymen, hat ein lyr mit einem schwartzen sidenen binden am halss hangnen, stot krumb mit dem lincken knüg, ryert dem
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Gruppe zuzuordnen. Er kann jedoch in viel weniger ausgeprägtem Maße als Bindeglied zwischen den Gruppen bezeichnet werden als der Kienzheimer Totentanz (vgl. den folgenden Abschnitt 3.2.1.5.). Hierüber herrscht Unstimmigkeit, denn einige Forscher sprechen sich auch für die Außenseite aus (vgl. Sörries, Katalog, S. 103 mit Anm. 46). Angaben nach Stehle, S. 4-6. Vgl. ebd., S. 19f. Dies ist ein Beleg dafür, daß ein vergleichsweise hoher Aufwand nötig ist, um den Aussagewert eines Bildes auch nur annähernd in Worte zu fassen – und bei dieser Wiedergabe wird es sich auch immer nur um eine Annäherung, keinen Ersatz handeln. Genannt werden die üblichen Schlangen und Würmer, daneben Kröten sowie ein Frosch, aber an einer Stelle auch eine Maus.
Einzeluntersuchungen
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schulteyssen den rock ann, den rechten fss hebt hoch vff, hat innen vff dem lincken beyn obend 614 des knüeg ligen. (Text beim Schultheiß, Nr. 14)
Wie man sieht, ist die Haltung des Todes genau beschrieben,615 so daß man hier und auch an anderen Stellen erschließen kann, daß die Tanzbewegung recht ausgeprägt gewesen sein muß. So heißt es einmal, der Tod fart […] für vnd vir, alss wolt er fürsich tantzen (Tod beim Waldbruder, Nr, 18) oder ähnlich hat die bein oben hart an ein nander mit gebuckten knigen, alss ob er tantz (bei der Bürgerin, Nr. 17), genauso steht anderswo zu lesen, der Tod hat dz linck bein ouch krum gekrympt, all wolt er tantzen (Tod beim Bauern, Nr. 21), ebenso wie andernorts hebt dz recht knüg vnd fuoss hoch vff, als er dantz (beim Handwerker, Nr. 20); eine Vielzahl von weiteren Belegen läßt sich finden. Aus den Beschreibungen kann man schließen, daß es sich nicht um einen fortlaufenden Kettenreigen gehandelt haben kann – dafür hätten die mit zahlreichen Attributen ausgestatteten Todesfiguren die Hände nicht freigehabt –, sondern die Tanzreihe in einzelne Paare zerfiel, wie es z.B. auch bei den Gemälden von Basel oder Metnitz der Fall ist. Dies stellt das vorliegende Denkmal ikonographisch in die Nähe der oberdeutschen Überlieferung. In Richtung der mitteldeutschen Linie weist jedoch ein anderer typischer Zug dieses Totentanzes, nämlich die oben erwähnte Ausstattung der meisten Todesgestalten mit Musikinstrumenten, was deutlich an den Doten dantz mit figuren und die Kasseler Handschrift erinnert. 20 von 25 Toten616 tragen ein Instrument. Allerdings stimmt die Instrumentenzuordnung nur an wenigen Stellen mit derjenigen aus den genannten Buchtotentänzen überein. Auch im vorliegenden Fall sucht Hammerstein wieder nach möglichen Bedeutungen bzw. Anspielungen, die der Instrumentenzuordnung zugrunde liegen könnten. Insgesamt gelingt es ihm so, plausibel zu machen, daß die Zuweisungen nicht arbiträr vorgenommen wurden – diesen Eindruck gewann man zuweilen beim Knoblochtzer-Totentanz und auch in der Kasseler Handschrift –, sondern daß in Kienzheim in der Tat fast durchgängig eine semantische Beziehung zwischen Ständevertreter und Instrument aufgemacht werden kann.617 Beispielsweise begegnet der Tod der Kaiserin mit einer Laute, die auf höfische Musik hinweisen mag, der Graf und Ritter – in Kienzheim sind sie eins – wird mit einem Jagdhorn zur Todesstunde gerufen, und der Kürassier muß dem Ton der Heertrommel folgen. Einzeluntersuchungen
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Der Text wird nach Stehles Abdruck zitiert; leider bietet dieser keine Zeilenzählung, sondern nur eine grobe Numerierung der Ständevertreter, die ich hier übernehme (nicht zu verwechseln mit Stehles Bild-Numerierungen). Manchmal greift der Autor zu anschaulichen Vergleichen, um die Positur des Todes adäquat sprachlich „abbilden“ zu können; so sagt er über eines der Hautskelette am Ende des Reigens, es stünde mit angewinkeltem Bein da wie ein storck. Genaugenommen enthält der Kienzheimer Totentanz noch mehr Todesfiguren, 25 ist jedoch die Anzahl derjenigen, die im eigentlichen Reigen tanzen. Die ikonographisch originell gestalteten Anfangs- und Schlußszenen sind hier nicht mitgerechnet. Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 128-132.
Der Totentanz von Kienzheim
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Trotz solcher Eigenschaften, die an bestimmte Traditionen der übrigen Totentanzüberlieferung denken lassen, muß jedoch betont werden, daß der Kienzheimer Totentanz auch vieles bietet, was sehr eigenwillig anmutet und anderswo kaum in dieser Form zu finden ist. Dies betrifft z.B. Anfang- und Schlußszenen des Totentanzes. Das Gemälde begann zwar wie viele andere seiner Art mit einem Prediger auf der Kanzel, allerdings ist dieser dargestellt, wie er gerade erst die Treppe heraufsteigt. Der Tod folgt ihm mit einem Stundenglas. Unter der Stiege sitzen zwei Nonnen, über die gesagt wird: hebt inen der tyffel die köpff zammen vnd wert inen die mucken mit einem muckenwadel. In diesem Totentanz tritt also neben dem Tod auch der Teufel auf, meines Wissens ein Einzelfall. Entfernt ähnlich ist nur der Beginn des Berliner Totentanzes, in dem vor der Kanzel zwei Ungeheuer sitzen, die auch der teuflisch-dämonischen Sphäre entsprungen scheinen;618 bei Holbein tauchen ebenfalls dämonische Figuren in den verschiedensten Formen auf. Zudem erinnert das Motiv an Holbeins Holzschnitt aus den Imagines mortis, auf dem ebenfalls eine Todesgestalt mit Sanduhr hinter dem Prediger auf der Kanzel zu sehen ist. Dies ist auch nicht die einzige Parallele, die sich zu Holbeins Großem Totentanz finden läßt. Ebenso scheint die zweite Szene in Holbeins „Gebein aller Menschen“ wieder anzuklingen. In der entsprechenden Bildbeschreibung heißt es: Hie heben an vil dotten vnd pfiffen den dantz an mit drumethen, mit scharmygen, mit zincken, mit hör hornn, mit gygen, Lutten, Hackbred, Lyren, mit Trumen vnd pfiffen, Busunen vnd hrtrummen; vnd ist einer do, der dylbt dz grab mit hougen, kerst vnd Schufflen vnd spathen, die andren tragen mit dotten boumen zü, vnd ist dz ir spruch, Wol hr, ir herren vnd ouch ir knecht, Springnent hr bey, vom allem geschlecht, Wie jung, wie alt, wie schon vnd kruss, Ir müessen alle in diss dantzhuss Anno 1 . 5 . 1 . 7.
Unschwer sind die Verbindungen zum Knoblochtzer-Druck zu erkennen, der mit ebendiesen Versen beginnt. Die Menge der mit Instrumenten ausgerüsteten Toten erinnert jedoch weniger an die dortige Beinhausmusik-Szene oder das entsprechende Basler Bild, auf dem es nur zwei musizierende Tote gibt, sondern vielmehr an Holbeins Holzschnitt. So konstatiert auch Hammerstein, daß die Kienzheimer Bilder „deutlich Spuren in anderen Totentänzen“619 hinterlassen hätten, neben der Wirkung auf Holbein ist hier auch die Klubersche Restaurierung des Basler Totentanzes zu nennen. Diese Einschätzung mag angesichts der etwas abseitigen Stellung, die der Kienzheimer Totentanz (zu Unrecht) heute in der Forschung einnimmt, gewagt scheinen. In diesem Sinne meldet Sörries Zweifel an: Der Totentanz von Kienzheim
618 619
Auf diese Ähnlichkeit weist auch schon Stehle hin (vgl. Stehle, S. 8). Hammerstein, Tanz und Musik, S. 214f.
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Einzeluntersuchungen
Eine Rezeptionsgeschichte des Kientzheimer Totentanzes ist konkret nicht beweisbar, er war auch über lange Jahrhunderte wohl kaum überregional bekannt. So muß Hammersteins Ein620 schätzung […] Vermutung bleiben. Einzeluntersuchungen
Hierbei ist allgemein anzumerken, daß Verbindungen zwischen Totentänzen in den seltensten Fällen tatsächlich zweifelsfrei bewiesen werden können, wenn sie nicht gerade überdeutlich ins Auge fallen. Durch sorgfältige Arbeit an Text und Bild können Ähnlichkeiten festgestellt werden, was je nach dem Grad ihrer Ausprägung Entlehnungen plausibel macht. Eine tatsächliche Rezeptionsgeschichte für Totentänze zu schreiben, dürfte sich aber mangels eindeutiger Zeugnisse in den meisten Fällen tatsächlich als schwierig erweisen. Schließlich existieren, zumindest was die Ursprungszeit der Totentänze betrifft, nur in den wenigsten Fällen schriftlich festgehaltene Zeugnisse von Zeitgenossen, die etwas Derartiges ermöglichen würden. Was den speziellen Fall Kienzheims betrifft, weist Stehle jedoch darauf hin, daß es im Spätmittelalter ein häufig aufgesuchter Wallfahrtsort war.621 So möchte man durchaus annehmen, daß auch auswärtige Personen diesen Totentanz gekannt und vielleicht Eindrücke davon weitergetragen haben. Neben der oben beschriebenen Anfangsszene gibt es noch weitere ikonographische Anklänge an andere Totentänze, die sich aus den Beschreibungen erschließen lassen. Einige von ihnen sollen hier aufgeführt werden. In dem von Stehle als drittes, noch nicht zum eigentlichen Reigen gehöriges Bild beschriebenen Teil des Wandgemäldes622 lüt ein todt im grab, ist vol schlangnen, krötten, würm, sagt den spruch, an einem langen zedel ‚ Alless, dass das leben ye gwann,/ Das muss den tod hann!’ [Anführungszeichen zur Verdeutlichung von mir hinzugefügt]. Diese Szene erinnert an den zweiten Holzschnitt aus dem Doten dantz mit figuren, wenngleich der aus dem Grab sprechende Tote dort kein Spruchband o.ä. hat, wie es offenbar in Kienzheim der Fall war.623 Auch kommt der Spruch dort nicht vor. Er wird später im Kienzheimer Totentanz, nämlich beim Jüngling, nochmals ähnlich wieder aufgenommen. Auch die nachfolgende Darstellung des Papstes (Nr. 1) mit einem banner, zwein schlyssel dorin Crütz wiss schien dem betreffenden Knoblochtzer-Holzschnitt nahezustehen, obwohl in Kienzheim noch 620 621 622
623
Sörries, Katalog, S. 104. Kienzheim war nach Stehle „das Einsiedeln oder Lourdes des 15. Jahrhunderts“ (Stehle, S. 21f.). Aus dieser Segmentierung – von der leider nicht ganz klar wird, ob sie von Stehle oder schon vom Schreiber selbst stammt – muß man wohl nicht schließen, daß das Gemälde in irgendeiner Form unterteilt war. Zwar handelte es sich anscheinend um einen in Einzelpaare aufgeteilten Reigen, aber es wird doch wie bei den meisten anderen monumentalen Totentänzen eine durchgehende Bildfläche gewesen sein, die nur aus technischen Gründen im Manuskript in einzelnen Abschnitten beschrieben wurde. Spruchbänder, allgemein im Mittelalter eine beliebte Methode, Text und Bild miteinander zu verbinden, werden in mehreren Totentänzen verwendet, um den Todesfiguren Aussprüche eindeutig zuzuweisen bzw. „in den Mund zu legen“. Diese Technik findet sich z.B. auch im Totentanzgemälde von Bleibach, wo dem trompetespielenden Tod ein Spruchband beigegeben ist, das so in der Luft schwebt, daß es aus dem Trichter des Instruments hervorzudringen scheint, und die Aufschrift trägt Mein Trompeten schal bringt Freudt oder Trüebsal in Ewigkeit (Abb. z.B. bei Sörries, Katalog, S. 229, Abb. 162).
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andere Elemente hinzukommen, wie ein Stundenglas und eine Harfe. Ebenso ist bzw. war in beiden Totentänzen der Begleiter des Kaisers mit einer Trompete und Reichsadlerbanner abgebildet. Die Illustration zur Kaiserin (Nr. 4) hingegen – die Leichengestalt hat ein hübsch wiss sydenen bing vier elen lang durch die bein vm die zwein arm vnd vm die schultern vnd halss – erinnert an die Art und Weise, wie in Klingental und Basel der Tod gelegentlich dargestellt war, worauf auch Stehle hinweist.624 Die Beschreibung des Todes bei „Graf und Ritter“ (Nr. 8) weist in der Erwähnung des Horns am Gürtel sowie des in der Hand gehaltenen Schenkelknochens, bereit zum Zuschlagen, wiederum Übereinstimmung mit dem Doten dantz mit figuren auf. An den Knoblochtzer-Holzschnitt fühlt man sich auch beim Kleinkind durch die Windmühle erinnert, die der Tod trägt, wenngleich das Kind in Kienzheim entgegen allen anderen Totentänzen angekleidet war. Insgesamt läßt sich die ikonographische Ausgestaltung des Kienzheimer Totentanzes keiner bestimmten Linie zuweisen. Selbst diejenigen Teile, die aus anderen Denkmälern übernommen scheinen, sind doch immer wieder eigenständig abgewandelt, wie etwa die Schlußszene, wo zwar auch wie im mittelrheinischen Totentanz verschiedene Stände zusammen auftreten, wo aber als ganz originelle Ausprägung des Themas drei weitere Todesgestalten vorkommen. Eine von ihnen wird als weiß,625 die anderen als gelbfarbig beschrieben. Der weiße Tod spielt eine Querpfeife, der zweite schlägt die Trommel und der dritte trägt eine Fahne mit Totenkopf. Es folgen ein Narr (Nr. 26) und nochmals ein Tod mit einer als weybel vnd bot beschriebenen Figur, der es obliegt, die summarisch aufgeführten Stände zum Sterben abzuholen. Der Totentanz schließt mit einer längeren epilogartigen Strophe, die dem Boten und den Ständen in den Mund gelegt ist. Neben dieser in Teilen aus der mittelrheinischen Linie bekannten Bildformel erinnert ein Element noch an den Berner Totentanz sowie an Klubers BaselUmarbeitung, und zwar die auch in Kienzheim auftretende Figur des Malers. Ähnlich wie in Basel (Hans Hug Klauber lasz Malen stohn) heißt es hier Dass malen solt du ligen lon. Nach den zur Zeit. in der Forschung als anerkannt geltenden Datierungen sind der Kienzheimer und der Berner Totentanz als etwa gleichzeitig anzusetzen.626 Laut Manuskript muß der Kienzheimer Totentanz jedoch 1517 fertiggestellt worden sein, während der Berner Totentanz zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch in der Entstehung begriffen war. Man könnte folglich vorsichtig vermuten, daß der Einfall, den Maler abzubilden, aus Kienzheim Der Totentanz von Kienzheim
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625 626
Vgl. Stehle, S. 12. Auch Schulte spricht allgemein von „erwartungsgemäß großen Parallelen zu den Baseler Totentanzmalereien“ (Schulte, S. 185). Insgesamt ist jedoch nach den von mir durchgeführten Vergleichen m.E. die Ähnlichkeit mit der bildlichen Gestaltung des Knoblochtzer-Totentanzes erheblich größer. – Die Ausstattung des Todes mit Leichentüchern ist allerdings in vielen Totentänzen zu verzeichnen. Daß nicht nur beim Kind eine weiße Todesfigur auftritt, könnte auch als Hinweis gewertet werden, daß Stehles Deutung der Farbe unzutreffend ist (s.o.). Ich vermag allerdings keine alternative Interpretation anzubieten. Vgl. zur Datierung des Berner Totentanzes den betreffenden Abschnitt 3.3.3.
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stammt.627 Belegen läßt sich dies freilich nicht. Um eindeutige Entlehnung handelt es sich dagegen bei Kluber, der erst 1568 den Basler Totentanz erneuerte und dabei anscheinend auch Kienzheimer Ideen verwertete. Der Ort des Malers innerhalb des Totentanzes ist in Kienzheim allerdings mehr als merkwürdig. Im Manuskript finden sich seine Verse mitten zwischen der Strophe des Todes an den Pfarrer und dessen Antwort. Noch seltsamer ist, daß seine Antwort und die Beschreibung seiner Figur (Hie stot der moler gmolt vntz an die hosen) erst drei Figuren später, nach dem Schultheiß, auftauchen. Stehle vermutet: Einzeluntersuchungen
Vielleicht ist diese Unterbrechung der einheitlichen Darstellung dadurch zu erklären, dass der spätere Künstler, von dem die letzten Bilder herrühren,628 irgend welchen wohl zufällig freien Platz zur Anbringung der beiden sechszeiligen Strophen und des Bildes des Malers benutzte und sich dabei um die bis dahin streng durchgeführte Anordnung des Stoffes ebensowenig kümmerte, wie er es in den Schlussbildern getan.629
Eventuell könnte man sich auch vorstellen, daß die Figur des Malers und seine Verse irgendwo über oder unter dem eigentlichen Reigen angebracht waren630 – vielleicht waren sie auf eine Weise gemalt, daß sie sich vom Pfarrer bis zum Schultheiß erstreckten –, so daß der Schreiber sie an diesen Stellen in seine Beschreibung aufnahm. Da die ursprüngliche Aufteilung des Bildes aus der Beschreibung an diesen Stellen jedoch nicht erschlossen werden kann, muß die Frage unbeantwortet bleiben. Den zahlreichen aus anderen Totentänzen bekannten Bildformeln stehen die bereits angesprochenen Textverbindungen zur restlichen Totentanz-Literatur gegenüber. Einige Beispiele mögen auch hier den Sachverhalt zeigen. Schon bei der ersten Ständefigur, dem Papst, findet sich ein Strophenbeginn, der bekannt klingt: Hayliger vatter, ir send vor an,/ Billich mit mir den vor dantz han. Ganz ähnlich heißt es in der Kluberschen Neubearbeitung des Basler Totentanzes: Komm Heiliger Vatter werther Mann/ Ein Vortantz mußt ihr mit mir han (Nr. 1).631 Hier handelt es sich also nicht um eine Entlehnung aus dem oberdeutschen Text, sondern unter Zuhilfenahme aller bekannten Daten muß die Überlieferungsreihenfolge als umgekehrt vorausgesetzt werden. Wenn es zutrifft, daß diese Verse erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Basel zu lesen waren, muß der Impuls vom Kienzheimer Totentanz ausgegangen sein. Andernfalls müßte man annehmen, daß es sich um einen bloßen Zufall und eine stereotype Wendung handelt. 627 628 629 630 631
Natürlich kann es auch einmal vorkommen, daß dieselbe Idee unabhängig an verschiedenen Orten auftaucht. Stehle vermutet aufgrund der Verschiedenartigkeit des Endes gegenüber dem eigentlichen Reigen bis zum Kind, daß die Schlußszenen später hinzugefügt wurden und zum Kienzheimer Totentanz nicht ursprünglich dazugehören (vgl. Stehle, S. 18f.) Ebd., S. 19. Die Formulierung, daß der Maler vntz an die hosen, also offensichtlich nur mit dem Oberkörper, abgebildet war, könnte eventuell dafür sprechen, daß diese Figur keinen Teil des eigentlichen Personenreigens bildete. Der Basler Totentanz wird zitiert nach dem Frölichschen Druck von 1608; die Numerierung der Figuren wird nach Maßmann angegeben (vgl. Anm. 813).
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Doch auch für den umgekehrten Fall, nämlich deutliche Entlehnung aus dem oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text,632 gibt es Beispiele. So sagt der Tod in Kienzheim zum Kardinal (Nr. 3): Her Cardinal mit uwerem ht,/ Springet har nach, der dantz ist gt. In diesem Fall ist die Ähnlichkeit mit dem oberdeutschen Text sehr klar und nicht anzuzweifeln, denn dort heißt es: Springet auf mit euerm roten hut,/ Her kardinâl. der tanz ist gut (Nr. V).633 Auch für direkte Anleihen beim mittelrheinischen Totentanz gibt es Belege, so z.B. beim Abt (Nr. 9): Her abt, im geistlichen orden,/ Ir sind mir ouch zu theyl worden. Die entsprechende Stelle im mittelrheinischen Text – hier in der Knoblochtzer-Fassung – lautet: HEr Apt in geystlichem orden/ Ir sint myr nu tz teyl worden (V. 113). Typisch für die Arbeitsweise des Kienzheimer Dichters ist, daß er oft nur zwei Verse entlehnt – vielfach die Anfangsverse einer Strophe – und den Rest selbst hinzudichtet. Gelegentlich stammen aber auch größere Teile einer Strophe aus fremden Quellen. Manchmal erinnert der Kienzheimer Text nur entfernt an den ober- oder mitteldeutschen Text, zuweilen sind auch nur die Reime ähnlich. Ein solches Beispiel ist der Kienzheimer Barfüßer-Mönch. Dessen Strophe enthält sowohl Elemente, die an den „Bruder“ im mittelrheinischen Text erinnern, als auch einen Teil, der u.a. in den Reimen dem Text des „guten Mönchs“ ähnelt. Zum Vergleich seien die entsprechenden Strophen hier nebeneinander gestellt. Zur Verdeutlichung sind die ähnlichen Stellen und Reimwörter recte hervorgehoben: Der Totentanz von Kienzheim
Ich danck dir, ewiger gott, Das ich hab gehaltten din gebott Vnd also jung in Minen orden Z tugend bin gezoghen worden. Darumb du mir nur bist ein trost, Von aller pin bin ich erlost. Ich bit ouch gott für die alle schon, Die mir gotzs hie hand gethon. „Barffuosser Münch“, Kienzheimer Totentanz (Nr. 13) ICh dancken goit von dißer stunden daz ich in gehorsamkeyt byn funden. Nü laiß mych genyeßen allmechtiger goit Daz ich gehalden han dyn gebodt. […] „Bruder“, Mittelrheinischer Totentanz, V. 441-444 GOit sij lopp vnd danck vnd ere Nu allwege vnd vmmer mere Der mich hat gegeben Z furen eyn geistlichs leben Vnd der brder byn worden 632
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Im einzelnen wird sich kaum klären lassen, ob der Kienzheimer Dichter die Verse aus der Basler Version des oberdeutschen Textes entnahm oder aus einem anderen Textzeugen dieser Überlieferungslinie. Die Nähe zu Basel macht ersteres durchaus wahrscheinlich; ebensogut kann aber auch etwa ein Blockbuch (wie z.B. das Heidelberger oder Münchner Blockbuch) oder eine andere kursierende Überlieferungsform wie eine einfache Abschrift verwendet worden sein. Der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text wird zitiert nach Fehse (vgl. Anm. 680).
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dye da gehalten hant den orden Dar ymb der doit ist myr eyn troist N werden ich frijhe vnd gantz erloist. „Guter Mönch“, Mittelrheinischer Totentanz, V. 425-432
Es finden sich auch zuweilen Entlehnungen aus beiden Überlieferungslinien (der ober- und der mitteldeutschen) bei einer einzigen Figur. Die an das Kind (Nr. 25) gerichtete Strophe schöpft beispielsweise aus dem mittelrheinischen Totentanz (Du kleines jungnes kindelin/ Es hat ein end das leben din./ Die falsch welt mecht dich betriegen,/ Dy styrbscht wger jn der wegen), während die Antwort Verse aus dem oberdeutschen Text übernimmt (O we, o we, wass mag das sin! Ein wiser man viert mich dahin). Hier ergibt sich allerdings eine interessante Diskrepanz. Im oberdeutschen Text ist von einem schwarzen Mann die Rede (in Klingental übrigens von einem mageren). Der Kienzheimer Vers spricht jedoch überraschenderweise von einem weißen Mann. Stehle versucht diese Besonderheit folgendermaßen zu erklären: Einzeluntersuchungen
[...] da wo er das unschuldige Kind zum letzten Gange holt, erscheint er in der Farbe der Unschuld [...]. Sicherlich wollte der Künstler [...] durch Abtönung der Farben auch das Schreckli634 che des Eindrucks in etwas abschwächen.
Ob dies allerdings der tatsächliche Grund für die besondere Farbgebung ist, kann angezweifelt werden. Die Wirkung und Intention des Totentanzes beruhen gerade darauf, daß der Tod alle Menschen unterschiedslos abholt, auch das Kleinkind, das, wenngleich in seinem Lebenswandel noch sündelos geblieben, doch auch wie alle anderen Menschen in die Ursünde hineingeboren ist und darum sterben muß. Der Wunsch, an dieser Stelle die grundlegende Aussage durch die Färbung des Todes wieder relativieren zu wollen, erscheint mir darum widersinnig. Plausibler ist dagegen Stehles Hinweis, daß Weiß die Farbe der Unschuld sei, was hier die Wahl eines weißen Todes motiviert haben mag. Bis jetzt wurden Text und Bild des Kienzheimer Totentanzes unter Berücksichtigung der jeweiligen Quellen, aus denen sie schöpfen, bzw. des Echos, das sie in der weiteren Ausprägung des Genres hinterlassen haben, vorwiegend getrennt betrachtet. Für das vorliegende Thema ist der Kienzheimer Totentanz jedoch unter anderem deswegen so interessant, weil er eine noch engere Verknüpfung von Bild und Text als viele andere Denkmäler stiftet. Das Bewußtsein für diesen Aspekt scheint also dort besonders hoch gewesen zu sein, und auch der Autor der Beschreibung trägt diesem Punkt Rechnung, wenn er bei der Schilderung des Gemäldes dieselbe Sorgfalt walten läßt wie bei der Abschrift der Strophen. Wie viele andere der bereits besprochenen Totentänze enthält auch der Kienzheimer Text Formulierungen, die die Bildaussage bzw. das Bild als solches thematisieren. Im Prolog des Predigers von der Kanzel heißt es: O ir lieben kind dieser welt,/ Ir sollen ansnhen diss gemeld! 635 Anschließend fordert der Geistli634 635
Stehle, S. 13. Dieser Vers erinnert an die Eröffnung bzw. an die predigthaften Pro- oder auch Epiloge anderer Totentänze, in denen ebenfalls die Welt oder die Menschheit im allgemeinen angespro-
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che auf: In gantzen trauwen Ich dz rat,/ Das ir betrachten sond den tod. „Betrachten“ kann dabei wohl hier nicht nur als Hinweis auf die optische Wahrnehmung des Gemäldes verstanden werden, sondern zielt vielleicht auch auf ein damit einhergehendes oder darauf folgendes geistiges Betrachten, Reflektieren im Sinne von Kontemplation. Diese figur sollend schwowen, daß alle Welt sterben muß, führt der Prolog weiter aus, Alss man es harnach finden vnd hören würt, wie der Autor des Manuskripts ankündigt. Das Wort „hören“ scheint dabei explizit auf den sprachlichen Anteil zu rekurrieren.636 Ein interessantes Detail, auf das auch Stehle hinweist, sind einige Zeigegesten des Todes. 637 In den Beschreibungen der entsprechenden Bilder heißt es, der Tod weise nach oben auf die über ihm befindlichen Reime: Er zeygt mit zweygen finger mit der rechten handt im bersich an den rymen, steht beim Schultheiß (Nr. 14), analog bei der Kaiserin (Nr. 4) und ebenso noch zweimal gegen Ende des Totentanzes beim Narren (Nr. 26) mit den drei Todesfiguren. Dies ist ein quasi spiegelbildlicher Vorgang zum Eingang des Totentanzes, wo der Prediger verbal auf das Gemälde hinweist. In den vier anderen Fällen zeigen die Toten mit bildlichen Mitteln auf das Wort, das begleitende Medium der Bußpredigt. Auf diese Weise werden in ganz besonderer, aus anderen Totentänzen meines Wissens nicht bekannter Art Text und Bild verklammert. Es wirkt, als wollten die Todesfiguren zum Betrachter sagen: „Lies diesen Text, um den vollen Sinn des Bildes zu erfassen!“ Daneben werden Strophen und Malerei aber auch auf konventionelle Art an einigen Orten miteinander verknüpft, indem der Text Bildelemente erwähnt. An all diesen Stellen hat der Autor der Handschrift das erwähnte Attribut auch getreu in seiner Beschreibung aufgeführt. Einiges sei als Beispiel herausgegriffen. So ist der Kienzheimer Totentanz dem Knoblochtzer-Druck voraus, indem er im Gegensatz zu diesem die abgebildeten Instrumente zuweilen anspricht, wie beim König (Nr. 5), dessen Tod einen Zink spielt und dazu sagt Ein neüws lied will ich vch Der Totentanz von Kienzheim
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chen werden, oft in Verbindung oder mit einem wenig später folgenden Hinweis auf das Gemälde, vgl. etwa den Lübecker Totentanz von 1463: Och redelike creatuer sy arm ofte ryke/ Seet hyr dat spegel junck vñ olden (V. 1f.), die (für letzteres Beispiel indirekt als Quelle verwendete) Danse macabre mit ihrer Eröffnung O creature roysonnable/ […] En ce miroer chascun peut lire, den Doten dantz mit figuren mit dem Beginn von Pro- und Epilog Alle mentschen dencken an mych/ […] Merckent nü vnd sehent an dissze figure, den Anfang des oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Textes O diser welt weisheit kind sowie den kurz darauf angebrachten Hinweis auf des gemldes figuren; vgl. auch oberdeutscher vierzeiliger Totentanz-Text, Die dritte predig, Beginn: O mensch, sich wie du tust,/ Wann in der erd du faulen must; Gossembrot-Manuskript, epilogartige Verse der Totengestalten am Ende des Totentanzes: O werlt nu sihe hie gancz an mich/ Du wirst geschaffen gleich als ich (V. 209f.). Einschränkend zu dieser Bemerkung ist einzugestehen, daß natürlich im vorliegenden Fall eine rein sprachliche Realisierung vorliegt, da auch die visuellen Anteile in die Sphäre des Wortes transponiert werden. Vgl. Stehle, S. 10. Stehle schließt hieraus auch, daß an der Mauer die Verse über den Bildern angebracht waren.
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pfiffen. Ganz ähnlich spricht der Tod beim Herzog (Nr. 7): Ich pfiff vch vss mynem horn, obwohl es sich auch hier um einen Zink handelt.638 Neben den Instrumenten tauchen noch andere Gegenstände sowohl im Bild als auch im Text auf, wie etwa der Jungfrauenkranz (Jungfrau, Nr. 24): Junckfrouw mit vwerem schenen krantz,/ Kummen har an mynen tantz! Diese Stelle erinnert übrigens zumindest vom Reim her leicht an den mittelrheinischen Totentanz, wo es heißt: IR inckfrauwe in dem groißen swantze/ Ir gehoret auch an mynen dantze (V. 561). Im Doten dantz mit figuren war dies auch eine Gelegenheit zur TextBild-Verquickung, indem der Holzschnitt die Jungfrau mit großer, faltenreicher Schleppe zeigt. Ein weiteres Beispiel bietet sich in der Schlußszene des Totentanzes. Eine Leichengestalt packt eine als Bote angeredete Figur mit siner rechten hant by den hor, by sinem rechten or, ein gantz handuol vnd vm die hand gewykkelt und sagt dazu: By dem hor hab ich dich genummen – auch hier also wieder eine genaue Übereinstimmung von Vers und Malerei. In zwei Fällen werden auch sprachliche Elemente ins Bild inkorporiert: Der Todesgeselle des Stadtschreibers (Nr. 16)639 trägt ein Schriftstück, auf dem folgende Worte zu lesen sind: Ich sag dir, in kurtzer frist der todt dir nach ist, du sin eygen bist; die Banderole mit der Aufschrift Alless, dass das leben ye gwann,/ Das muss den tod hann war bereits erwähnt worden. In jedem Fall stellt der Kienzheimer Totentanz eine Bereicherung für das Thema der Text-Bild-Beziehungen dar, hat man an ihm doch zeigen können, daß die Überlieferung einiger Bildformeln – wie etwa der aus den Imagines mortis als „Gebein aller Menschen“ bekannten Ansammlung einer großen Zahl musizierender Toter oder auch die Einbeziehung des Malers in den Totentanz – vermutlich hier ihren Anfang nimmt und gleichsam als Echo in der späteren Entwicklung des Genres widerhallt. Daneben wurde deutlich, daß das bimediale Beziehungsgefüge in diesem Gemälde anscheinend sehr bewußt aufgebaut war: Verschiedene konventionelle, auch in anderen Denkmälern verwendete Techniken „verfugen“ Bild und Text gleichsam nahtlos, gehen aber auch einher mit Methoden, die aus anderen Totentänzen nicht bekannt sind, wie dem Einsatz von auf die Reime gerichteten Zeigegesten der Todesfiguren. Wie andere Totentänze stand das Kienzheimer Gemälde so in einer Spannung aus Tradition und individueller Ausprägung, wobei es aber gegenüber anderen Vertretern der Gattung einen sehr großen Anteil an Originalität aufweist. Unter anderem aufgrund dieser relativen Eigenständigkeit ist es kaum zu entscheiden, ob der Kienzheimer Totentanz eher zur oberdeutschen Überlieferungsgruppe zu rechnen ist oder der mitteldeutschen Linie zugeschlagen werden sollte. Einzeluntersuchungen
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Hammerstein vermutet bei dieser Bezeichnung des Instruments zeitgenössischen Sprachgebrauch (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 131). Diese Kienzheimer Szene ist besonders originell und grotesk gestaltet: Am Schriftstück des Todes henck ein kinds dotten kopff dran vnd hat zwey kleine todten bein Crtzwiss yberzwerch im mul in den zennen; [der Tod] hat am rechten arm ein langs dotten bein z einem schrybzüg, ist ein knüg schenckel, hat zw fedren im schrybzyg, hat einen dotten kopff z einem dynten hernlin […]. Die schiere Menge an Todesattributen wirkt hier schon fast aufdringlich.
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Eine weitere Schwierigkeit bei der Zuordnung liegt in der Vielzahl der dargestellten Verbindungen mit mehreren anderen Denkmälern. Prüft man, aus welchen Texttraditionen der Dichter am meisten schöpfte, so ergibt sich ein leichtes Übergewicht des mittelrheinischen Totentanzes. Eigenheiten des Ständeinventars und der Abfolge640 sowie die räumliche Nähe zu Basel und die Tatsache, daß die Kienzheimer Kirche zum Bistum Basel gehörte,641 sprechen eher für den oberdeutschen Kreis. Hingegen ist die konsequente Durchführung des Instrumentenmotivs ein exklusives Kennzeichen der mitteldeutschen Totentänze, vor allem auch ikonographische Züge wie die überreichlich vorhandenen Verwesungstiere, der aus dem Grab sprechende Tote sowie der Schluß des Totentanzes, der zwar sehr eigenständig gestaltet ist, aber immerhin wie der mittelrheinische Totentanz ein Ensemble von vielen Ständen aufführt. Die große Anzahl an sowohl textlichen als auch bildlichen Anklängen an den mittelrheinischen Totentanz ist der Grund für die Stellung des Kienzheimer Totentanzes in der vorliegenden Untersuchung. Koller rechnet den Kienzheimer Totentanz zur Basler Gruppe, räumt aber ein, daß er mit ebensolcher Berechtigung zu dem Kreis um den mittelrheinischen Totentanz gerechnet werden kann. Zusammenfassend bezeichnet er dieses Denkmal treffend als „eklektische Mischform zwischen 2 größeren Textgruppen“.642 Die aus den Beschreibungen zu erschließende „Buntheit und exzentrische Bewegtheit“643 veranlaßt Hammerstein, diesen Totentanz in einem Atemzug mit dem etwa gleichzeitigen Berner Gemälde des Niklaus Manuel zu nennen. Doch auch noch in eine andere Richtung weisen einige Indizien: So lassen sich Verbindungen zwischen Kienzheim und der Person des Grafen Wilhelm Werner von Zimmern belegen.644 Ob allerdings Kienzheimer Anregungen in das ‚Vergänglichkeitsbuch’ eingeflossen sind, läßt sich nicht nachweisen und bleibt reine Spekulation. Als Endergebnis steht in jedem Fall fest, daß der Kienzheimer Totentanz trotz vieler sehr origineller Anteile kein isolierter Einzelfall ist, sondern auch im Geflecht der ihn zeitlich und räumlich umgebenden Totentanzüberlieferung geseDer Totentanz von Kienzheim
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Der Kienzheimer Totentanz führt geistliches und weltliches Personal relativ gleichmäßig abwechselnd auf und ähnelt damit auch einem sonst eher fern liegenden Text, nämlich dem Lübecker Totentanz von 1463. In der oberdeutschen Linie herrscht zwar auch eine gewisse Abwechslung vor, doch ist die Alternation nicht regelmäßig. Im mittelrheinischen Totentanz hingegen sind Klerus und weltliche Personen einigermaßen klar getrennt, zumindest in der ersten Hälfte des Totentanzes (vgl. auch die synoptischen Tabellen 1 und 2 zur Ständereihenfolge im Anhang. Verwiesen sei auch auf Maßmanns große Übersichtstabelle, die sich allerdings auf die oberdeutsche Überlieferung beschränkt, sowie auf die Tabelle bei Sörries, Katalog, S. 125). Der Kienzheimer Totentanz stellt sein Ständeinventar aus verschiedenen Quellen zusammen, denn es treten in ihm sowohl Gestalten aus dem oberdeutschen Text auf als auch solche, die sonst nur in Klingental bzw. Basel (z.B. Schultheiß) oder nur im mittelrheinischen Totentanz (z.B. Schreiber) vorhanden sind. Ebenso sind aber auch Figuren enthalten, die exklusiv nur für Kienzheim belegt sind, so der Landsknecht. Vgl. Stehle, S. 21, sowie Hammerstein, Tanz und Musik, S. 213. Vgl. Koller, S. 534f., hier S. 535. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 213. Hammerstein weist nach, daß das Unterdorf von Kienzheim ein Lehen der Familie von Lupfen war, der Wilhelm Werners erste Frau entstammte (vgl. ebd., S. 213).
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Einzeluntersuchungen
hen werden muß. Er läßt sich nicht klar einer bestimmten Gruppe zuweisen und demonstriert so eindrücklich, daß der Künstler aus verschiedenen Traditionen schöpfte und kompilierte, ein Vorgehen, das vielfach anzutreffen ist – man denke nur an die Zusammenstellung Hulderich Frölichs, die den Basler und Berner Totentanz sowie Holbeinsche Elemente vereinigt,645 oder die spätere Kopie D des Zimmernschen ‚Vergänglichkeitsbuches’, die sich ebenso an verschiedene Vorbilder anlehnt. Der Unterschied des Kienzheimer Totentanzes gegenüber diesen anderen Zeugnissen besteht jedoch, wie zu Beginn ausgeführt, in den weiter auseinander liegenden Quellen, nämlich den mittelrheinischen und oberdeutschen Text-Traditionen, die sonst im allgemeinen eher voneinander geschieden bleiben.
3.2.1.5. Der Nordböhmische Totentanz Dieser Totentanz wurde in der Forschung unter verschiedenen Namen behandelt: Breede bespricht ihn als „Jüngeren oberdeutschen vierzeiligen Totentanz“, während Cosacchi ihn nach dem Herkunftsort der Handschrift „Teplitzer Totentanz“ nennt. Rosenfeld prägte die Bezeichnung „Nordböhmischer Totentanz“, die im folgenden in der Forschung (z.B. Koller, auch Schulte) aufgegriffen wurde und die ich darum auch hier verwende. Überliefert wurde dieser bildlose Text in einer Handschrift vom Ende des 15. Jahrhunderts, die noch andere religiöse Schriften enthält.646 Verschiedentlich wurde in der einschlägigen Literatur bemerkt, daß dieser Totentanz aus mehreren Quellen Textteile entlehnt, unter anderem aus der Sibyllen Wissagunge647 (von dort stammt der mit Conclusio überschriebene Schlußteil). In unserem Zusammenhang ist jedoch von besonderem Interesse, daß auch hier, wie beim vorhergegangenen Beispiel, wieder der Fall einer (wenngleich weit weniger ausgeprägten) Mischform vorliegt: In diesem Sinne schließt sich der Nordböhmische Totentanz an das Kienzheimer Gemälde an. Im Gegensatz zum teilweise vorbildgebenden mittelrheinischen Totentanz – in dessen Gefolge der Nordböhmische Totentanz deshalb auch behandelt wird – handelt es sich hier nicht um einen achtzeiligen, sondern nur vierzeiligen Text. Rosenfeld meint deshalb, der Autor habe seine Vorlage „barbarisch [...] zusammengestrichen“.648 Cosacchi hingegen hält – im Gegensatz zur gesamten übrigen Forschung – den Nordböhmischen Totentanz für die ursprüngliche Form; der Einzeluntersuchungen
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Vgl. Abschnitt 3.3.2.3. Vgl. Schröer, S. 296. Schröer gibt an, Eintragungen in der Handschrift legten eine Entstehung zwischen 1496 und 1499 nahe, aufgrund einer weiteren im Manuskript befindlichen Angabe erweitert Rosenfeld die Zeitspanne bis 1501 (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 255 mit Anm. 18). – Von Schröer stammt auch die Ausgabe dieses Textes, nach der im folgenden zitiert wird. Siehe zum Thema Bernhard Schnell/ Nigel F. Palmer, Artikel ‚Sibyllenweissagungen’, in: VL Bd. 8, Sp. 1140-1152; vgl. auch Koller, § 323, sowie Schröer, S. 308f. Rosenfeld, Totentanz, S. 255.
Der Nordböhmische Totentanz
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mittelrheinische Text stelle eine Erweiterung davon dar.649 Diese Hypothese läßt sich jedoch mit einigen wenigen Textuntersuchungen schlüssig widerlegen. Ein gutes Beispiel zur Verdeutlichung ist die Strophe, die der Tod zum Abt spricht: Her Apt in geystlichem orden Ir sint myr nu tz teyl worden. Ir mussent alle dynck lasszen stan Vnd n an mynenen reyen gain Vch vnd uwern brudern Junck vnd alten Were gut hettent ir den orden gehalten Vnd des cloisters gut nit so viell verczeret Vnd arme lude da von erneret. Mittelrheinischer Totentanz, V.113-120
Her apt in geistlichem orden du bist mir nu zu teile worden. Ir jungen und alten, ir habt euern orden nit recht gehalten! Nordböhmischer Totentanz, V. 65-68
Hier wird deutlich, daß der Nordböhmische Totentanz eine verkürzte Version des mittelrheischen Textes bietet und nicht umgekehrt. Noch klarer ist das im Falle der Bürgerin zu erkennen: Der Nordböhmische Totentanz
DEr welt lauf hait mych betrogen Nach gewainheyt byn ich yff getzogen. Wye ander frauwen drügen sich. So hielt min lyeber man auch mych Doch han ich sere gelauffen üß Versümet kynder man vnd huß Dar vmb si forchten ich den dot Daz er mych brenge in große noit. Mittelrheinischer Totentanz, V. 553-560
Mein liber man zog mich von, ander frauen hilten sich mit schleiern und mit gewant: mit dem Tod awer zu danzen tut mir ant. Nordböhmischer Totentanz, V. 253-256
An diesem Beispiel sieht man, daß der Bearbeiter etwas sinnentstellend gekürzt hat. Der semantische Zusammenhang des Vorbilds wurde verstümmelt. An anderen Stellen komprimiert der Autor jedoch recht geschickt, so daß das Ergebnis im Vergleich zum mittelrheinischen Text sogar prägnanter klingt – dies war vermutlich auch ein Grund für Cosacchis Überlegungen. Ein weiterer Textausschnitt soll dies zeigen, und zwar die Vorwürfe des Todes an den Wirt: Her wyrt her wirdt von bingen An dyßen reyen must du nü springen. Vil boßheit hast du begangen Myt falscher spijse vnd myt wyn langen Du hast gehalten lüde allerley Dye myt flüchen vnd schweren
Vil bosheit hast du begangen mit falscher speis und weinlangen und bist der leut fluchen ein ursach gewesen; wi mag dein sele nu genesen? Nordböhmischer Totentanz, V. 185-188
hatten eyn groiß geschrey Des bist dü eyn vrsach gewesen Bit goit das dyn sele moge genesen Mittelrheinischer Totentanz, V. 353-360
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Cosacchi, S. 731: „Wie eine Gegenüberstellung beider Texte zeigt, scheint der Casseler Toten-Tanz-Text [Cosacchis Bezeichnung für den mittelrheinischen Totentanz] eine geschickte Erweiterung des Teplitzer Todes-Tanz-Textes zu sein.“ Eine solche Überlieferungsreihenfolge kann natürlich unter der Annahme der Existenz von Vorstufen begründet werden, denn aufgrund der heute gültigen Datierungen muß der mittelrheinische Totentanz (Druck des Doten dantz mit figuren vermutlich um 1488) als älter angesehen werden.
Einzeluntersuchungen
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Auch Breede bemerkt zu verschiedenen Beispielen, der Totentanz „gewinnt aber durch die kürzere, knappere Form“, er sei „wuchtiger“ als sein Vorbild.650 Nicht in allen Strophen arbeitet der Autor jedoch auf die vorgeführte Weise. Es gibt auch zahlreiche Ständefiguren, bei denen nur wenig an den vorbildgebenden Text erinnert. Einige Verse scheinen auch ganz eigene Schöpfungen des Nordböhmischen Dichters zu sein, obwohl es für die entsprechende Figur eine Strophe im mittelrheinischen Text als Vorlage gegeben hätte (z.B. die Anrede an den Kardinal, den Edelmann, der dem mittelrheinischen Junker entspricht, oder die an den Handwerker gerichteten Worte). Zuweilen erinnert nur ein Begriff, eine Formulierung oder ein Reim an den mittelrheinischen Text. So ist beispielsweise die Antwortstrophe des Domherrn eine fast vollkommene Neuschöpfung, lediglich die Erwähnung der Pfründe und der weltlichen Güter (Vil pfrunt und großes gut/ mir inzunt disen schaden tut, V. 54f.) gemahnen inhaltlich leicht an die mittelrheinische Vorlage (Vijl pfründen vnd groiß gut han ich besesszen, V. 75). Einmal wird auch Text einer Figur zu einer ganz anderen übernommen, denn es tauchen Verse des mittelrheinischen Abtes bei der Klosterfrau wieder auf. Interessanterweise verwendete aber der Dichter bzw. Bearbeiter nicht nur den mittelrheinischen Text als Muster, sondern er muß auch ein (Text-) Exemplar des oberdeutschen Totentanzes besessen haben. Dies zeigt sich vornehmlich gegen Ende des Totentanzes in einigen wenigen Versen, und zwar bei der Kaiserin, für die es im mittelrheinischen Ständeinventar kein Vorbild gab: Einzeluntersuchungen
Tod : Ich tanze iu für frou Keiserin. Springet her nâch: der tanz ist mîn. Die sperbrechre sint iu entwichen Der tôt hât iuch allein erslichen.
Tod: Ich danz dir vor, fraue keiserin! mir nâch! das ist mein sin! hettestu dich langest in gnade geben so hettestu vordînet das ewige leben.
Kaiserin: Wollust hete mîn stolzer lîp. Ich lebte als eines keisers wîp. Nu hât der tôt ze schanden brâcht, Daz mir kein freude ist mêr erdâcht. Obd. vierz. Totentanz-Text, Nr. 3
Kaiserin: Wollust het mein stolzer leip do ich was eines keisers weip; nu bin ich mit dem tod umb geben, der bringet mich umb mein leben. Nordböhmischer Totentanz, V. 201-208
Wie bei der Übernahme aus dem mittelrheinischen Text werden auch in diesem Beispiel nur einige Teile der Vorbild-Strophe verwendet und der Rest hinzugedichtet (hier wie auch anderswo gelegentlich etwas nichtssagend).651 Bei dem vorangegangenen Beispiel handelte es sich um eine Figur, die nicht zum Personal des mittelrheinischen Totentanzes gehört. Dies bringt uns zur Ständeabfolge im Nordböhmischen Totentanz, die eine ganz eigene Zusammenstellung aufweist.652 Es gibt 32 Figuren, deren Anordnung getrennt nach geistlichen 650 651 652
Breede, S. 78. Auch Breede beurteilt die Eigenanteile des Nordböhmischen Dichters etwas abschätzig: Es handele sich um „unbedeutende Reimereien“ (ebd., S. 80). Rosenfeld meint, in diesem Ständeinventar schlügen sich lokale Gegebenheiten der nordböhmischen Heimat des Totentanzes nieder, aus diesem Grund fehle auch alles Großstädtische (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 260f.)
Der Nordböhmische Totentanz
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und weltlichen Ständen entsprechend dem mittelrheinischen Vorbild gestaltet scheint. Dem stehen jedoch eine Reihe von Gestalten gegenüber, die es nur in der oberdeutschen Tradition gibt, so der Bauer und vor allem einige weibliche Figuren. Gegenüber den Frauen, die im oberdeutschen Totentanz-Text vorgesehen sind (Kaiserin, Herzogin und Edelfrau), werden aber nochmals einige neue hinzugefügt, so die Königin (diese gibt es in der alten oberdeutschen Form nicht, sie taucht erst in der Basler Neufassung auf), die Gräfin, eine etwas seltsam anmutende Ritterin – was immer man sich darunter vorzustellen hat –, Handwerksfrau und Bäuerin. Die Strophen dieser Personen scheinen denn auch Neuschöpfungen zu sein.653 In Hinblick auf das Figurenensemble weist sich also der Nordböhmische Totentanz wie das Kienzheimer Denkmal als Mischform zwischen der oberdeutschen und der mitteldeutschen Überlieferung aus, Züge der letzteren überwiegen jedoch bei weitem. Zu einem Sonderfall macht ihn allerdings seine Bildlosigkeit. Man hat auch bei der Lektüre den Eindruck, daß diese Fassung von vornherein nicht für ein Bild geplant war,654 es fehlen nämlich – anders als bei anderen nurtextlichen Zeugnissen, die vermutlich ursprünglich zu einem Bild gehörten – jegliche textimmanenten Hinweise auf Illustrationen. Der Prolog des mittelrheinischen Totentanzes, in dem ausdrücklich auf die figuren hingewiesen wird, wurde nicht übernommen, auch vermißt man diejenigen Verse, die z.B. im Knoblochtzer-Holzschnitt Text-Bild-Korrespondenzen herstellen. Lediglich die TanzmotiDer Nordböhmische Totentanz
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Breede hält einen Einfluß der Danse macabre des femmes für möglich (vgl. Breede, S. 76), was allerdings von Rosenfeld abgelehnt wird (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 260f.). Des weiteren sieht Breede bei Herzogin und Gräfin Anklänge an den oberdeutschen vierzeiligen Text. Während ich dies im letzten Fall nicht nachvollziehen kann – es wird lediglich beide Male das Wort „Wollust“ gebraucht – findet sich in der Strophe der Herzogin tatsächlich eine Reminiszenz an die oberdeutsche Überlieferung, und zwar an einige Verse aus der als Die dritte predig überschriebenen längeren Epilog-Strophe. Hier heißt es: Du warst nie so hoch oder so weis,/ Du must werden der würm speis./ Gedenk, du must manchen schönen tag/ Ligen und faulen in dem grab. Diese Verse scheinen bei der Herzogin des Nordböhmischen Totentanzes wiederzukehren: Gedenk darnach das du manchen tag/ must ligen faul in dem grab spricht der Tod zu ihr (V. 219f., hier übrigens mit wahrscheinlich unfreiwilliger Sinnverschiebung von „verfaulen“ zu „faul sein“), und sie beklagt: ich was edel unde weis,/ nu so muß ich werden der wurmer speis (V. 223f.). Weitere Textübereinstimmungen mit der handschriftlichen oberdeutschen Tradition zählt Cosacchi auf (vgl. Cosacchi, S. 673-676); seine Ausführungen sind jedoch etwas schwer zu durchschauen, da er für die verwendeten Quellen stets seine eigenen idiosynkratischen Benennungen benutzt, die in seiner Legenden-Theorie wurzeln (vgl. hierzu Abschnitt 2.3.3.). Nichtsdestotrotz liefert Cosacchi eine wertvolle Zusammenstellung von Übereinstimmungen. Rosenfeld begründet das Fehlen von Bildern auf folgende Weise: „bei dem stofflichen Interesse des Sammlers wurde verständlicherweise die Illustrierung seiner Vorlagen außer acht gelassen“ (Rosenfeld, Totentanz, S. 255). Diese lapidare Bemerkung kann jedoch kaum als Erklärung ausreichen. Schließlich handelt es sich auch bei dem ‚Vergänglichkeitsbuch’ um eine Sammelhandschrift ähnlicher Art, die der Verfasser bzw. Kompilator dennoch mit viel Liebe zum Detail illustriert hat. – Rosenfeld meint im übrigen aus dem Vorhandensein einiger verderbter Stellen erschließen zu können, daß der vorliegenden Fassung mehrfache Abschriften vorausgingen und es Vorstufen gab, denen auch Bilder beigegeben waren. Auch hier glaubt Rosenfeld wieder an einen vorangegangenen Bilderbogen, ohne dafür Belege beibringen zu können (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 256f.).
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vik, die letzten Endes aus der Bildsphäre stammt, blieb, wenngleich nicht gerade hervorstechend, erhalten.655 So liegt mit dem Nordböhmischen Totentanz eine Bearbeitung des mittelrheinischen Totentanz-Textes vor, die anscheinend bewußt jegliche Bildreferenz tilgt und damit eine Ausprägung des Genres schafft, die sich allein auf ihre verbale Ausdruckskraft verlassen muß. Zwar klingen die Verse, wie oben angedeutet, dank der Kürzung zuweilen prägnanter und kraftvoller als diejenigen des bearbeiteten Musters. Dennoch gehen durch den Verzicht auf das Bild wichtige Sinnschichten verloren: Den für Totentänze typischen Zug des Abstoßenden, Grotesken und gerade dadurch besonders Eindrucksvollen und Bewegenden sucht man hier vergebens. Der Rezipient kann den dargebotenen Inhalt nur auf dem Wege des Verstandes aufnehmen, ohne daß die sinnliche Wahrnehmung besonders berührt wird, denn der Bearbeiter versucht auch nicht, die Abwesenheit der Illustrationen etwa durch lebhafte Beschreibungen oder sprachliche Bilder o.ä. zu kompensieren.656 In diesem Sinne muß die „Monomedialität“ des Nordböhmischen Totentanzes als Reduktion betrachtet werden. Einzeluntersuchungen
Einzeluntersuchungen
3.2.1.6. Seitenblick: Die mittelniederländische Totentanz-Überlieferung Die Totentanzüberlieferung in den Niederlanden ist sehr spärlich, da aufgrund der politischen und religiösen Situation im 16. Jahrhundert viele kirchliche Kunstwerke zerstört wurden. Stoett vermutet, daß Totentanzdarstellungen vor diesen Geschehnissen sehr viel zahlreicher vorhanden waren: Zeer zeker zullen in een land, waar allegorische voorstellingen zoo geliefd waren […], wel meer dergelijke voorstellingen hebben bestaan, die later door vernielzucht of de witkwast zijn verd657 wenen.
In seiner Untersuchung „Iets over doodendansen in Nederland“ beschäftigt Stoett sich daher mit einer Spurensuche nach Resten der niederländischen Totentanztradition. Vollständig überlieferte Zeugnisse sind jedoch kaum zu finden, nur hier 655
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Breede gibt an, die Erwähnungen des Tanzmotivs würden vollkommen ausgespart (vgl. Breede, S. 79). Dies ist jedoch nicht zutreffend. Die Tanzmotivik nimmt keine prominente Stelle ein, aber es finden sich doch (typischerweise bei vielen weiblichen Figuren) einige Erwähnungen, die auch nicht alle übernommen wurden, sondern zuweilen ebenso in den neu hinzugedichteten Teilen vorkommen. Dies ist m.E. als deutlicher Hinweis zu werten, daß der Bearbeiter sich bewußt um Erhaltung der Tanzmotivik bemüht hat. Sie ist offenbar ein so gattungsbestimmendes Moment, daß sie ungern ganz geopfert wird. Anders meint Rosenfeld: „Die Strophen-Überschriften der vorliegenden Fassung, z.B. „Der Tod spricht“ oder Mors dicit und Der Pabst antwort, sind wahrscheinlich ein bescheidener Ersatz für fortgelassene Bilder der Vorlage“ (Rosenfeld, Totentanz, S. 257). Dem steht entgegen, daß auch in bebilderten Handschriften solche inquit-Formeln vorkommen können, zum Beispiel im ‚Spiegelbuch’. Als „Ersatz“ für Bilder wären diese Überschriften sehr dürftig, sie können allenfalls eine eindeutige Sprecherzuweisung vornehmen – in der Tat das einzige Zugeständnis, das der Autor im Sinne der Kompensation fehlender Bildelemente macht. Stoett, Spreekwijzen verklaard, S. 156; vernielzucht = ‚Zerstörungswut’; witkwast = ‚Streichbürste’, gemeint ist sicherlich Übertünchung; verdwenen = ‚verschwunden’.
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und dort tauchen Überbleibsel auf, die auf ursprünglich vorhanden gewesene Denkmäler weisen oder doch wenigstens den Einfluß solcher Kunstwerke erkennen lassen. Auch Schulte, die einen kurzen Überblick über die mittelniederländische Totentanzüberlieferung gibt658 – erwähnt werden u.a. Totentanz-Verzierungen an Glockenreliefs und Meßgewändern sowie ein 1532 in Antwerpen gedrucktes lateinisches Totentanz-Schauspiel – stellt fest, „daß es zwar zahlreiche Hinweise auf eine vormalige mittelniederländische Totentanz-Tradition gibt, Textzeugen jedoch, die etwas über Konzeption, Gestaltung und Text der ‚niederländischen Totentänze’ mitteilen könnten“, sehr selten anzutreffen sind.659 Neben seinen Nachforschungen zum Ursprung der Redensart „den dans ontspringen“, die er auf Totentänze zurückführt, und einigen anderen kleineren Hinweisen auf eine ursprünglich reichere Überlieferung druckte Stoett auch den Text eines niederländischen Totentanzes ab, der die Randleisten eines Stundenbuches mit dem Titel Die ghetijden van onser liever vrouwen met vele schoone loven ende oracien (Paris, Thielman Kerver, 1509) ziert. Über die zugehörigen Illustrationen verliert Stoett leider kaum ein Wort. Er schreibt lediglich, es gebe „66 afbeeldingen van den doodendans […]. Onder ieder dezer afbeeldingen bevindt zich eene tweeregelige strophe.“660 Demnach scheint es eine klare TextBild-Zuordnung gegeben zu haben. Auffällig ist, daß im Text vom Tod – der im übrigen nicht zu Wort kommt, denn es sprechen nur die Menschen – stets in der dritten Person die Rede ist. Neben einer relativ hohen Anzahl von weiblichen Figuren tauchen auch ganz ungewöhnliche und aus anderen Totentänzen nicht bekannte „Stände“ auf, wie zum Beispiel de bigote oder de vogelaer (‚Vogelfänger’). Es mag offen bleiben, ob Stoett, wenn er von der „zeldzaamheid“ dieses Totentanzes spricht,661 ‚Seltenheit’ oder tatsächlich ‚Seltsamkeit’ meint – beide Wortbedeutungen sind möglich, und in diesem Zusammenhang wäre das eine wohl ebenso angebracht wie das andere. Die mittelniederländische Totentanz-Überlieferung
Ein weiterer mittelniederländischer Totentanz ist in Form von vier Fragmenten überliefert. Sie enthalten einen Text, der u.a. dem mittelrheinischen Totentanz nahesteht und vor einigen Jahren als ‚Klever Totentanz’ in der Forschung Aufsehen erregte. Eines dieser Fragmente war schon von Stoett erwähnt und abgedruckt worden, 1996 veröffentlichten jedoch Geert H. M. Claassens und Brigitte Sternberg drei weitere neu entdeckte Fragmente, die offenbar zu dem älteren Fund-
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Vgl. Schulte, Totentänze, S. 186-191. Zur mittelniederländischen Totentanz-Tradition siehe des weiteren Vanderheyden, Een dodendansspel, sowie ders., Het thema en de uitbeelding van de dood in de poëzie der late middeleeuwen en der vroege renaissance in de Nederlanden (K. Vlaamsche Academie voor Taal- en Letterkunde. Bekroonde Werken. Uitgaven der K. Academie R. 6 vol. 47). Ledeberg/ Gent 1930. Enklaar, De Dodendans, erwähnt die mittelniederländische Totentanz-Tradition leider nur im Vorübergehen und bietet ansonsten einen allgemeinen Abriß zur Entwicklung des Genres. Schulte, Totentänze, S. 190. Stoett, Iets over doodendansen, S. 11. Der Text ist abgedruckt auf den Seiten 11-17. Ebd., S. 17.
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stück gehören.662 Die Editoren verorten die Fragmente aufgrund des dialektologischen Befundes im Raum Kleve,663 wohingegen Stoett noch glaubte, einen overijsselschen Text vor sich zu haben. So begegnet man auch heute noch in der Forschung der Bezeichnung ‚Overijsselscher Totentanz’.664 Die Textfragmente umfassen 180 Verse und beinhalten neben einem Prolog die Strophen von Kaufmann, Wucherer, des Wucherers Erbe, Bürger, Handwerker, Bürgerin und Waldbruder sowie eine an (a)l(rel)ey [..]lck (V. 170), also vermutlich „allerlei Volk“ (vgl. von allem staidt im mittelrheinischen Totentanz) gerichtete Strophe. Teile des Textes sind nahe mit dem mittelrheinischen Totentanz verwandt,665 was Rosenfeld, dem natürlich nur das erste Fragment mit eben diesen Textstellen bekannt war, dazu veranlaßte, den Fund pauschal als „größtenteils eine wörtliche Übersetzung“ des deutschen Textes ins Mittelniederländische zu bezeichnen.666 Während einige Verse eine Beziehung zum Lübeck-Revaler Totentanz vermuten lassen, wie Freytag 1997 herausstellte,667 und der Text insgesamt auch im Umkreis der Danse macabre zu sehen ist, scheinen andere seiner Bestandteile, wie die Verse vom Erben des Wucherers sowie diejenigen des Waldbruders, einzigartig zu sein. Abgesehen von den Beziehungen zum mittelrheinischen Totentanz gerät man bei diesem Fragment offensichtlich auch in die Nähe der vermuteten mittelniederländischen Vermittlung zwischen Danse macabre und Lübecker Totentanz, ohne daß behauptet werden könnte, es handele sich bei den jüngst gefundenen Fragmenten um einen Text, der mit einem der anderen erwähnten Überlieferungszeugen in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis steht. Wieder einmal müssen aufgrund der lückenhaften und unübersichtlichen Überlieferung die genauen Tradierungswege offen bleiben. So bemerkt auch Freytag, daß „die heute überlieferten Einzeluntersuchungen
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Die drei weiteren Fragmente kamen 1992 im Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf zutage. Sie entstammen zwei Aktenbänden, in denen sie als Bindematerial verwendet worden waren (vgl. Claasens/ Sternberg, S. 56; vgl. auch Sternberg, S. 45f.). „Der Text ist sprachlich der Übergangszone zwischen dem mnl. und dem mnd. Sprachraum zuzuordnen. […] Obwohl die einzelnen sprachlichen Phänomene mehrdeutig bleiben müssen, erscheint in der Gesamtschau eine Verortung des Textes im Gebiet des Kleverländischen sinnvoll möglich“ (Claassens/ Sternberg, S. 71 und 72). In einem Folgeartikel arbeitete Sternberg heraus, daß die historische Situation im Hinblick auf den weiteren Überlieferungskontext der Totentanzliteratur im französisch-deutsch-niederländischen Grenzgebiet eine solche Einordnung durchaus plausibel erscheinen läßt (vgl. Sternberg, S. 49, S. 55f. und S. 58-60). Diese Benennung verwenden z.B. Rosenfeld und Schulte. Große Übereinstimmungen und oft nahezu identischer Text finden sich in den Strophen von Kaufmann, Wucherer, Bürger, Handwerker, Bürgerin und in der Strophe an „allerlei Volk“. Die Reihenfolge ist allerdings in den beiden Texten nicht gleich. Es wurde jedoch verschiedentlich schon bemerkt, daß im mittelrheinischen Totentanz vor allem im hinteren Teil die Reihenfolge ganz willkürlich zu sein scheint. In dem Fragment des Klever Totentanzes ist ebenfalls eine Ungereimtheit zu bemerken, denn die Bürgerin folgt nicht dem Bürger. Weitere Schlußfolgerungen sind jedoch aufgrund des fragmentarischen Zustandes nicht möglich. Rosenfeld, Totentanz, S. 253, Anm. 16a. Vgl. die Übersicht der Textanklänge (Freytag, Klever Totentanz, S. 93).
Die mittelniederländische Totentanz-Überlieferung
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Textzeugen nicht unmittelbar, sondern allenfalls mittelbar voneinander abhängen.“668 Die Datierung erlaubt auch weiter keine Schlüsse, die die Überlieferungszusammenhänge in irgendeiner Weise erhellen könnten. Claassens und Sternberg stellen lediglich fest, daß die Schrift „nur eine grobe Datierung ins 15. Jahrhundert“ zulasse und keine weiteren externen Angaben vorhanden seien, die hier helfen könnten. 669 Um einen kurzen Einblick in diesen sogenannten Klever Totentanz zu ermöglichen und anhand dessen die Art der Beziehung zu anderen Textzeugen zu veranschaulichen, sollen im folgenden einige Zitate aufgeführt werden. Ein Beispiel für engen Zusammenhang mit dem mittelrheinischen Totentanz bietet etwa der Kaufmann.670 Die beiden Strophen seien hier einander gegenüber gestellt: Die mittelniederländische Totentanz-Überlieferung
ICh han gelauffen durch berge vnd dail Durch alle werlt breyt vnd smail Gesuchet gewyn wie ich mocht Myn arme sele wenig ich bedacht Hette ich alles daz güt gewonnen. Das in der werlt ist vnder der sonnen Daz mocht myr nü gehelffen nyt Wan dodes krafft myn hertz vmb gijt. Mittelrh. TT, V. 585-592
Ic heb gelopen doer berch in da(el) Doer al die werlt breet ind sma[..] Vm koepmans guet waer ic mochte. To gewynnen dat ic altijt sochte. Hed ic al dat guet gewonnen. Dat inder werlt is vnder der sonnen. Dat en mochte my nu helpen nycht. Want van dodes cracht myn hert to bry(cht). Klever TT, V. 53-60671
Wie man sieht, handelt es sich tatsächlich um nahezu wörtliche Übereinstimmung. An anderen Textstellen, die dem mittelrheinischen Totentanz gleichen, wurden hier und dort einzelne Wörter oder die Wortstellung verändert oder auch gelegentlich kleinere Änderungen im Sinngehalt vorgenommen, so zum Beispiel bei zwei Reimversen in der Antwortstrophe der Bürgerin, die im mittelrheinischen Text lauten: Dar vmb so forchten ich den dot/ Daz er mych brenge in große noit (V. 559-560). In der mittelniederländischen Version heißt es abweichend: Daer om vrucht ic toe steruen./ Got geue my genaede to verweru[..] (Klever TT, V. 150f.). Welcher der beiden Texte der ursprünglichere ist, vermag ich nicht ohne weiteres zu entscheiden. Ich würde mich jedoch in keinem Fall unkritisch ohne tiefergehende Untersuchungen der Behauptung Rosenfelds anschließen, es handele sich um eine Übersetzung des Deutschen ins Niederländische.672 Allerdings mutet diese Überlieferungsrichtung wahrscheinlicher an, gibt es doch im Klever Text nicht nur völlig mit der deutschen Version übereinstimmende Strophen; sondern auch einzelne, gleichsam aus dem mittelrheinischen Totentanz „herausgerissene“ Verse finden sich im niederländischen Pendant wieder. 668 669 670 671 672
Freytag, Klever Totentanz, S. 92. Claassens/ Sternberg, S. 61. Mit dem ersten Vers dieser Strophe lehnt sich der mittelrheinische Text seinerseits wiederum an die Danse macabre an, wo es entsprechend heißt: Jay este amont et aual. Ich zitiere nach der Edition von Claassens und Sternberg, S. 77-83. So bezeichnet Rosenfeld ohne weitere Untersuchung den mittelrheinischen Text als „Original“ (Rosenfeld, Totentanz, S. 235, Anm. 6).
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An den Beginn des Lübecker Totentanzes, aber auch allgemein an geistliche Spiele erinnert der Prolog: Syet hijer an al gemeyne Jonck alt groit ind kleyn[.] Mercket seer euen desen dantz. Den gy moet spryngen alto han[..] Latet (v)an sunden dat is myn r[….] Ind bid got om syne genaede. […] Klever Totentanz, V. 1-6
Neben diesen Anklängen enthält der Prolog aber auch Anteile, die ebenso im mittelrheinischen Totentanz vorkommen, wie die Aufforderung Latet (v)an sunden dat is myn r(at). Diese Wendung bildet im mittelrheinischen Text den vorletzten Vers des dortigen Prologs. Claassens und Sternbergs Feststellung, im Falle des Klever Totentanzes handele es sich um einen „einzigartigen Prolog“, 673 ist mithin zu relativieren. Ganz eigenständig sind wohl die Verse des Waldbruders sowie die „des Wucherers Erbe“ überschriebene Strophe,674 wenn sich auch diese Textteile in der Art der Formulierungen und des Inhalts eng an die sonst bekannten TotentanzTexte anlehnen und teilweise sogar auch ähnlich stereotype Wendungen gebrauchen. So bedauert der Erbe des Wucherers: Dat wolde ic nu ist toe spade./ Der doet wil my halen drade (Klever Totentanz, V. 88f.) Insgesamt ist kein Totentanz bekannt, der sowohl im Wortlaut als auch in der Abfolge der Personen diesem Fragment gleicht. Die Frage, welche genaue Rolle es in der Überlieferungsgeschichte spielt, harrt daher noch der Untersuchung. Einzeluntersuchungen
Für die Bild-Text-Forschung bieten die Fragmente leider nicht allzuviel Material, denn dieser Totentanz war offenbar ein unbebilderter Text. So finden sich auch kaum Formulierungen, die auf ein zugehöriges Bild schließen lassen.675 Der Grund für das Fehlen von Illustrationen könnte sein, daß es sich nach den Vermutungen von Claassens und Sternberg wohl um eine für den Bereich der Totentänze ziemlich einzigartige Überlieferungsform, nämlich einen Rotulus, gehandelt hat, eine als Spieltext für eine Aufführung gedachte Handschrift in Form einer Rolle.676 Darauf läßt nicht nur die Form der Fragmente schließen, sondern der Text enthält auch „durch Rubrizierung hervorgehobene Überschriften […], die jeweils
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Claassens/ Sternberg, S. 57. Sternberg identifiziert in des wokeners erue[n] „ein Motiv, das bereits in hochmittelalterlichen Predigten Verwendung fand“ (vgl. Sternberg, S. 46, Anm. 10). Zu solchen auf ein Bild deutenden Formulierungen wären nicht nur explizite Hinweise auf eine Illustration zu zählen, sondern auch jegliche Anspielungen auf Außertextliches z.B. in der Form eines verstärkten Gebrauchs von Deiktika oder etwa Formulierungen in der Art von „wie hier zu sehen ist“ u.ä. Im gesamten Text kommen jedoch keinerlei Wendungen vor, die nicht ohne ein zugehöriges Bild zu verstehen wären. Vgl. Claassens/ Sternberg, S. 57. Die Verfasser sprechen hier von einer „semi-dramatische[n] Textform“.
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den Sprecherwechsel ankündigen“,677 die in diesem Zusammenhang als Regieanweisung zu werten sein könnten (obwohl darauf hinzuweisen ist, daß so etwas auch in nicht-dramatischen Totentänzen vorkommt). Die Vermutung, Totentänze seien allgemein als dramatische Form zu verstehen, gilt inzwischen als überholt und kann sich allenfalls auf sehr wenige, immer wieder zitierte angebliche „Belege“ stützen,678 doch die spezielle Form der Textfragmente könnte im vorliegenden Fall tatsächlich einmal in eine derartige Richtung weisen. Vielleicht ist in diesem Sinne auch die Eröffnung Syet hijer an al gemeyne in der Prologstrophe zu verstehen, die ansonsten in einem bildlosen Totentanz etwas in der Luft hinge. Mit dieser Formulierung würde dann nicht nur auf die visuelle Darbietung hingewiesen, sondern sie spricht auch die zuschauende Gemeinde in ihrer Vielgestaltigkeit – jonck alt groit ind kleyn – an und fordert zur aufmerksamen Rezeption auf: Mercket seer euen desen dantz. Claasens und Sternberg halten fest, daß der Text „als gewichtigster Zeuge einer mittelniederländischen Totentanztradition gilt, deren Existenz jedoch noch nicht schlüssig bewiesen werden konnte.“679 Wenngleich einige der Urteile aus der älteren Forschung revidiert werden mußten, so bleibt dieser Totentanz doch ein wichtiger Beleg für die Tatsache, daß die Totentanz-Überlieferung auch den niederländischen Raum eingeschlossen hat. Auf eine eigene, ausgedehnte mittelniederländische Tradition kann mit den spärlichen Hinweisen vielleicht nicht geschlossen werden, aber dieser Fund trägt in jedem Fall dazu bei, die Überlieferungssituation der Totentänze im Grenzgebiet zwischen der französischen, deutschen und niederländischen Region ein Stück weiter zu erhellen. Der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text
3.3. Die oberdeutschen Totentänze 3.3.1. Der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text680 Der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text bildet gewissermaßen den „Basistext“, der fast allen Totentänzen aus dem oberdeutschen Raum zugrunde liegt. Die Variationsbreite der verschiedenen Textzeugen, zumindest derjenigen des 15. Jahrhunderts, ist dabei erstaunlich gering. Stärkere Abwandlung findet sich nur in der frühneuzeitlichen Umarbeitung des Basler Totentanzes; die meisten anderen Totentänze dieser Gruppe ändern nur hier und dort den Wortlaut, entweder, weil ältere Wörter nicht mehr verstanden wurden oder eine verderbte Stelle berichtigt werden mußte, gelegentlich aber auch, um den Text besser einer bestimmten Illu-
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Sternberg, S. 56. Vgl. Abschnitt 2.3.3. Claassens/ Sternberg, S. 64. Wo nicht anders angegeben, wird der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text zitiert nach Fehse, Obd. vierz. Totentanz-Text, S. 83-90. Ich übernehme ebenfalls Fehses Numerierung der Figuren.
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stration anzupassen. Besonders auf solche Fälle wird im folgenden noch einzugehen sein. Schon sehr früh galt in der Forschung eine von Bartsch auf 1443-1447 datierte681 Handschrift dieses Totentanz-Textes als die älteste, die die Verse in einer monologischen Form und sowohl auf lateinisch als auch auf deutsch enthält.682 Hier setzte sich die Annahme durch, der in leoninischen Hexametern geschriebene lateinische Text sei der ursprüngliche und die deutsche, mit vierzeiligen Strophen doppelt so lange Version eine Paraphrase desselben. Dies wurde u.a. daran festgemacht, daß in einigen Fällen der deutsche Text den Eindruck erweckt, der Übersetzer habe auf sehr ungelenke Weise versucht, den Inhalt der lateinischen Hexameter wiederzugeben und zuweilen zwecks Anschwellung auf vierzeilige Strophen redundantes Material eingefügt. 683 Eine Frage, der sich vor allem auch die ältere Forschung widmete, ist die Überlieferungsproblematik dieses Totentanzes. Aufgrund des Vorhandenseins vieler verschiedener Textzeugen und der notwendigen Annahme, daß mit einigen Verlusten zu rechnen ist, kann kaum sicher festgestellt werden, wo und wann das Genre als solches seinen Ausgangspunkt hat. Fehse z.B. vermutet, auch die französische Danse macabre-Tradition ginge ultimativ auf die Überlieferungslinie zurück, deren frühestes Zeugnis die lateinisch-deutsche Handschrift bildet, während in der neueren Forschung auch in Erwägung gezogen wurde, daß in Frankreich der erste Totentanz entstanden sein könnte.684 In jedem Fall ist die Pariser Einzeluntersuchungen
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Vgl. Bartsch, S. 72. Hammerstein weist allerdings einen um 1438 geschriebenen Text (auf dem wiederum der Gossembrot-Totentanz basiert, siehe Abschnitt 3.3.1.4.) nach, der offenkundig den oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text voraussetzt, was bedeutet, daß dieser (und damit natürlich auch die lateinische Fassung [siehe Kapitel 3.3.1.1.], die somit wohl noch älter sein muß) 1438 nach Hammerstein bereits existiert haben müßte (vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 151f.; Stolz legt sich bei der Datierung des betreffenden Textes nicht ganz fest und gibt 1438-1450 an [vgl. Stolz, S. 579]); zur in der älteren Forschung vertretenen These, daß der oberdeutsche vierzeilige Totentanz eigentlich schon aus dem 14. Jahrhundert stammt, siehe weiter unten in diesem Abschnitt. Der Text ist z.B. abgedruckt bei Fehse, Ursprung, S. 50-58. Die lateinisch-deutsche Mischfassung wird hier, falls nicht anders angegeben, auch nach Fehses Abdruck zitiert. Auch Rosenfeld bringt den Text im Anhang (S. 320-323), doch im Gegensatz zu Fehse ohne die deutschen Verse. Dafür bietet Rosenfeld auch die Anmerkungen des Schreibers, die darauf schließen lassen, daß die vorliegende Handschrift die Abschrift eines älteren, bebilderten Codexes ist. Als Beispiel nennt Fehse etwa die Königsverse. Deren erster lautet auf Latein: Ut ego rex vrbem, sic rexi non minus orbem. Der Gedanke, das Wort ‚Rom’ in die Übersetzung einzubringen, mündete dann in die syntaktisch etwas wirre Formulierung Ich hån als ain koning geweltiklych/ Die welt geregyrt als rom das reych (vgl. Fehse, Obd. vierz. Totentanz-Text, S. 77). Hiermit mag es auch zusammenhängen, daß spätere Textfassungen an dieser Stelle z. T. verderbt sind (vgl. Fehse, Ursprung, S. 23f.; siehe auch Rosenfeld, Totentanz, S. 66f.). Eine kurze Übersicht über die unterschiedlichen Ansätze der Forschung, den ersten Totentanz entweder im romanischen oder im germanischen Gebiet zu verorten, gibt Leppin, S. 324 mit Anm. 10.
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Danse macabre mit ihrem Entstehungszeitraum 1424-25 das älteste Bild seiner Art.685 Fehse beschäftigt sich mit der Problematik unter dem Gesichtspunkt des Aufbaus der verschiedenen Totentänze. Er meint, die einzelnen Totentanz-Texte chronologisch u.a. nach dem Kriterium ordnen zu können, wie sehr sie die dialogische Struktur686 und die Anschauung vom Tanz der Toten (im Gegensatz zur späteren Abstrahierung zu dem Tod687) umsetzen. Unter dieser Perspektive emergiert der monologische lateinische Totentanz nach Fehse als die ursprünglichste Form.688 Während Fehses Kriterien der „Ursprünglichkeit“ im einzelnen schwer nachprüfbar bzw. zu beweisen sein mögen, sucht er doch immerhin mit philologiDer oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text
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Sind zwar die ältesten Totentanzbilder in Frankreich zu finden, so könnte das älteste Textzeugnis des Genres doch möglicherweise die spanische Danza general sein. Saugnieux z.B. vermutet, dieser Text könnte in den letzten Jahren des 14. Jahrhunderts verfaßt worden sein (vgl. Saugnieux, S. 45-49). Schulte spricht von einer Entstehungszeit um 1400 (vgl. Schulte, Totentänze, S. 154 mit Anm. 1); auch Vorschläge für eine spätere Datierung wurden gemacht (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 159f.). Fehse versucht dabei die Priorität des Monologs mit folgenden Argumenten plausibel zu machen: Erstens sei kaum anzunehmen, daß eine Abschrift einer dialogischen Totentanzversion vorgenommen wurde, bei der man nur die Menschenverse übernahm und die Todesverse wegließ. Sich vorzustellen, daß die lateinisch-deutsche Fassung auf solche Weise zustande gekommen sein soll, sei relativ abwegig (vgl. Fehse, Obd. vierz. Totentanz-Text, S. 72). Zweitens sei nicht ganz von der Hand zu weisen, daß im oberdeutschen vierzeiligen Text durch den neuen Dialog noch der alte Monolog hindurchzuschimmern scheint. Menschen und Tod sprechen nicht wirklich miteinander, sondern eher nebeneinander her, obwohl bei der Abfassung der Menschenverse offensichtlich versucht wurde, dialogische Bezüge herzustellen. Bei den Figuren von Mutter und Kind dagegen falle auf, daß die Mutter der Klage ihres Kindes antwortet. Die nun dazwischenstehende Strophe des Todes zerstöre hier also einen ursprünglich gegebenen Zusammenhang (vgl. ebd., S. 71f.). Dennoch ist es in gewissem Grade schwer vorstellbar, daß die ältesten Totentanz-Versionen nur Texte für die Menschen enthielten. Wie Rosenfeld richtig anmerkt, „schrie“ die Leerstelle bei den Todesfiguren geradezu nach Versen (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 75). Demgegenüber ist aber auch kaum die alternative Erklärung denkbar, daß erst die dialogischen Totentänze illustriert wurden – man muß folglich wohl annehmen, daß tatsächlich bei den allerersten Totentänzen der Tod stumm war. Um der Vollständigkeit willen muß auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß die ersten Totentanz-Illustrationen keine abwechselnde Reihenfolge von Mensch und Tod zeigten, sondern (in der Art der Gerichtsdarstellungen, bei denen der Teufel eine Menschenmenge an einer Kette hinter sich herzieht – in der Tat leitet ja Hammerstein den Totentanz ikonographisch auf diese Weise her) quasi einen Gruppentotentanz mit nur einem Tod an der Spitze des Zuges. Diese Hypothese läßt jedoch vollständig offen, wie dann die Todesverse zustande gekommen sein sollen bzw. warum sich später überhaupt eine alternierende Reihenfolge entwickelt haben soll. Zudem deuten verschiedene Verse, in denen von mehreren Todesfiguren gesprochen wird, in eine ganz andere Richtung: So wird der Tanz der schwarzen Brüder erwähnt (Ich wil euch füren bei der hend/ An diser schwarzer bruder tanz, beim König, Nr. IV) sowie von des Todes Gesellen gesprochen (Nun wil der tod mich zwingen/ Mit seinen gesellen zu springen, beim Patriarchen, Nr. VI); und auch der Bischof (Nr. IX) weist auf Tote in der Mehrzahl hin: Nu ziechen mich die ungeschaffen/ Zu dem tanz als einen affen, ähnlich ist beim Ritter (Nr. XII) die Rede vom tod und seinen knechten. Diese Beispiele sollten genügen, um zu zeigen, daß offensichtlich an einen Reigen gedacht ist, bei dem Tod und Mensch sich abwechseln. Vgl. S. 49. Vgl. Fehse, Totentanzproblem, bes. S. 272-276.
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schen Mitteln wie strukturellen Textvergleichen seine Ursprungsthese zu begründen. Demgegenüber greift Rosenfeld u.a. zu nationalpsychologischer Argumentation, um den Ursprung der Totentänze in Deutschland zu verankern. Er versucht seine Überlegungen zu stützen, indem er den ältesten oberdeutschen Text zurückdatiert und eine Fassung in gleichsam „reinem“, noch gänzlich undiphthongiertem Mittelhochdeutsch rekonstruiert. Dieses Vorgehen ist in der Forschung allgemein auf Kritik gestoßen.689 Zwar ist es richtig, daß gelegentlich die unreinen Reime der überlieferten Fassung anmuten, als gingen sie auf eine ältere Version zurück;690 mangels überlieferter Belege können jedoch alle Rekonstruktionsversuche nur Spekulation sein. Ein solchermaßen hergestellter Text ist Fiktion und für wissenschaftliche Argumentation wenig geeignet. In der jüngeren Forschung unternahm Leppin noch einmal den Versuch, die Verhältnisse zwischen den einzelnen Totentanz-Linien zu entwirren. Sein Ergebnis – es sei wahrscheinlich, daß „die Danse macabre und die Danza general in einen vom lateinischen Totentanz abhängigen Traditionsstrom gehören“,691 im Grunde die Bestätigung der Resultate der älteren Forschung auf anderem Wege – kommt (etwas vereinfacht dargestellt) durch folgende Überlegung zustande: Die Rahmung des Totentanzes (die Predigten) und der eigentliche Reigen selbst differieren in Bezug auf ihren Inhalt insofern, als die Menschenverse selbst nur von der Vergänglichkeit sprechen, ohne einen moralisierenden Ton anzuschlagen,692 Einzeluntersuchungen
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Verwiesen sei hier auf die ausführliche Besprechung von Rosenfelds Thesen bei Schulte, S. 164-168; vgl. z.B. auch Kaiser, der Rosenfelds Textherstellung als „bizarr“ bezeichnet (Kaiser, S. 276, Anm. 1). Ähnlich urteilt Leppin: „Das meiste, was Rosenfeld [...] bietet, sind heute nicht mehr akzeptable völkerpsychologische Wertungen“ (Leppin, S. 325, Anm. 12). Eine ausführliche Rezension zu Rosenfelds Publikation bietet Pickering, der ebenfalls Rosenfelds Textrekonstruktion verwirft und seine gesamte Argumentationsweise beißend kritisiert. Nach Rosenfeld weisen die teilweise durch Diphthongierung entstellten Reime und andere Merkmale ins 14. Jahrhundert. Rosenfeld identifiziert die Sprache des weiteren als Ostfränkisch und lokalisiert den Text nach Würzburg, weshalb er auch mit dem Begriff „Würzburger Totentanz“ arbeitet (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 89-91 sowie S. 308-318). Der von ihm in ein normalisiertes Mittelhochdeutsch zurückübersetzte Text ist natürlich ein Kunstprodukt, das in dieser Form wohl niemals existiert hat. – Die zweite Auflage des Verfasserlexikons führt konsequenterweise keinen Artikel mehr zum Stichwort ‚Würzburger Totentanz’, sondern weist darauf hin, daß die von Rosenfeld vertretene Position forschungsgeschichtlich nicht mehr gehalten werden könne (VL Bd. 10, Sp. 1458). Der neue Eintrag in der überarbeiteten Version des Nachschlagewerks figuriert dann auch unter dem Stichwort ‚Oberdeutscher vierzeiliger Totentanz’ (Bd. 11 [Nachträge], Sp. 1074-1079, verf. von Kiening). Wenn auch die meiste Kritik an diesen Thesen Rosenfeld zuteil wurde, so war er doch nicht der erste, der den oberdeutschen Totentanz zurückdatieren wollte. In der älteren Forschung wurde oftmals davon ausgegangen, daß die Wurzeln weiter zurückreichen. So stellt auch Maßmann zu den oberdeutschen Texten fest: „[…] die Reime jener Handschriften laßen [sic] sich leicht in das vierzehnte Jahrhundert zurück übersetzen“ (Maßmann, Baseler Todtentänze, S. 88). Allerdings ging Maßmann aufgrund eines Irrtums noch davon aus, daß der Klingentaler Totentanz auf das frühe 14. Jahrhundert zu datieren sei (vgl. Abschnitt 3.3.2.6.). Leppin, S. 341. Auf das Fehlen jeglichen moralisierenden Inhalts wies schon Fehse hin. Für ihn war dies jedoch ein deutlicher Beleg dafür, daß es sich bei diesem Text um einen reinen Totentanz in dem Sinne handelt, daß Tote auftreten und nicht der Tod. Ein Großteil von Fehses ganzer Ar-
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während die Predigten einen deutlichen theologischen Kontext bereitstellen, der sich demgegenüber sehr stark auf moralisierende Überlegungen stützt. Leppin erklärt dieses Phänomen dadurch, daß der Rahmen „erst sekundär als korrigierende und moralisierende Deutung zur Ständereihe hinzugetreten ist“.693 Des weiteren sei dadurch der Gerichtsgedanke zum alten inhaltlichen Bestand der Vorstellung vom Tod als Gleichmacher hinzugekommen.694 Die Tatsache, daß sowohl in der Danza general als auch in der Danse macabre all diese Motive schon in beiden Teilen – sowohl in der Ständereihe als auch in der Rahmung – vorkommen, während sie im oberdeutschen vierzeiligen Text noch getrennt voneinander vorliegen, veranlaßt Leppin zu der Vermutung, daß letztere Ausprägung die ursprünglichere sei, denn bei den romanischen Versionen sei „die kompositionelle Geschlossenheit [...] offensichtlich stärker fortgeschritten“.695 Er schließt seine Überlegungen allerdings mit der einschränkenden Anmerkung, daß die Priorität der lateinisch-deutschen Fassung damit „nicht streng philologisch bewiesen, aber doch typologisch wahrscheinlich gemacht“ sei.696 Zu diesen Überlegungen ist anzumerken, daß sie zwar einen anderen Ausgangspunkt nehmen als die ältere Forschung, sich aber doch z.B. mit Fehses Argumentation, etwa im Hinblick auf den Fortschritt der „kompositionellen Geschlossenheit“, durchaus Berührungspunkte finden. Der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text ist neben dem genannten Manuskript in seiner späteren dialogischen Form noch in mehreren anderen, zum Teil auch bildlosen Handschriften überliefert;697 und er ist ebenso im Heidelberger und Münchner Blockbuch erhalten. Neben der lateinisch-deutschen Fassung sollen daher auch diese beiden Druckwerke im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. In allen Fällen wird zu fragen sein, wie sich die Verbindung von Text und Bild jeweils darstellt und welche Implikationen sich daraus ergeben. Der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text
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gumentation beruht auf dieser Unterscheidung, mittels derer er zahlreiche Differenzierungen unter den verschiedenen Vertretern des Genres unternimmt; siehe zu der Problematik auch S. 49. Leppin, S. 337. Vgl. ebd., S. 338. Ebd., S. 340. Ebd., S. 341. In jüngster Zeit wurde ein bisher in der Forschung nicht weiter berücksichtigter Zeuge ausführlicher behandelt, der sogenannte „Güssinger Totentanz“ (Budapest, Bibl. et Archivum P.P. Franciscanorum, Cod. Esztergom 11, 137r-141v). Eine ausführliche Untersuchung samt Edition nahm Linke vor (Hansjürgen Linke: Der Güssinger Totentanz. In: Ernst Sowinski [Hg.]: Architectura poetica. Festschrift für JohannesRathofer [Kölner Germanistische Studien 30]. Köln und Wien 1990, S. 277-297, vgl. auch ders.: Artikel ‚Güssinger Totentanz’, in: VL Bd. 11 [Nachträge], Sp. 571). Es handelt sich um einen bildlosen Textzeugen aus der Zeit um ca. 1500, der sich im wesentlichen der übrigen Hauptüberlieferung – Linke spricht von der „Vulgatfassung“, etwa im Heidelberger oder Münchner Blockbuch – an die Seite stellt, gelegentlich aber auch Abweichungen zeigt. Eine Übersicht der Überlieferung bietet Kiening, Artikel ‚Oberdeutscher vierzeiliger Totentanz’ [wie Anm. 690].
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3.3.1.1. Die lateinisch-deutsche Mischfassung Fest steht, daß die bildlose lateinisch-deutsche Version aus einem anderen Codex abgeschrieben wurde, der mit Illustrationen zu den Texten versehen war. Darauf weist ein Eintrag des Schreibers, den Rosenfeld als vide de hoc in albo codice de commendatione artium a principio picturas, (‚sieh die Illustrationen dazu in dem weißen Codex über die Empfehlung des Studiums der VII Artes am Anfang’) wiedergibt.698 Hammerstein allerdings löst die lateinischen Abkürzungen anders auf. Er meint, daß der verschollene Codex nicht de commendatione artium, sondern de commendatione animarum gehandelt habe; dies sei „ein im Mittelalter durchaus geläufiger Begriff“. Der Gegenstand der Handschrift sei mithin „die Anempfehlung der Seelen“ gewesen.699 Da Rosenfeld sich jedoch auf Bernhard Bischoff, eine Autorität der lateinischen Paläographie, beruft, ist man geneigt, seine Version vorzuziehen. Die jüngste Forschung löst diesen Querverweis als eine Referenz auf das Gossembrot-Manuskript auf700 (was übrigens Rosenfelds Lesart eindeutig bestätigen würde). Es ist allerdings m.E. nicht ganz stimmig, daß sich in einer reinen Totentanz-Handschrift ein Verweis auf Bilder befinden soll, die eben nicht einer solchen ‚richtigen’ Totentanz-Fassung angehören, sondern einer Mischform, wie das Gossembrot-Manuskript sie bietet. Weitaus logischer wäre es, anzunehmen, der Verweis beziehe sich auf einen Codex mit Totentanz-Illustrationen, die auch zum oberdeutschen vierzeiligen Text passen. Die Gossembrot-Illustrationen tun dies nun gerade nicht, da der Gossembrot-Totentanz ganz anders aufgebaut ist. Die Lösung, diesen Vermerk auf Gossembrots ‚Vermahnung’ zurückzuführen, erscheint mir daher teilweise unbefriedigend. Einige weitere Hinweise lassen darauf schließen, daß die Vorlage – sei es nun der Gossembrot-Codex oder nicht – Illustrationen besaß. Der in zwei Predigten und die Menschenverse gegliederte Totentanz wurde zwischen den beiden Predigttexten mit einer Anmerkung versehen, die sich auf die Abbildung des Predigers bezieht: Item alius doctor depictus predicando in opposita parte de contempEinzeluntersuchungen
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Rosenfeld, Totentanz, S. 320f., Anm. 1. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 149. Tatsächlich scheint aber die lateinische Anmerkung, wie Fehse sie (notwendigerweise mit einer gewissen Umschrift der Abkürzungen) abdruckt, Hammersteins Lesart kaum zuzulassen: vide d’ ho albo codice d’ qmda arti a pn’o pict’as (Fehse, Ursprung, S. 50). Bartsch gibt die Anmerkung abweichend folgendermaßen wieder: vide do hoc in albo codice de 9da arti apo (Bartsch, S. 75). Vgl. Stolz, S. 590. Stolz führt die Randbemerkung auf Gossembrots eigene Hand zurück und bemerkt, mit der lateinischen Notiz habe dieser „den ‚Oberdeutschen vierzeiligen Totentanz in der Heidelberger Handschrift Cpg 314 überschrieben, um die thematische Nähe zur ‚Vermahnung’ in Clm 3941 [vgl. Abschnitt 3.3.1.4.] aufzuzeigen“. Kiening gibt Gossembrot als Schreiber von cpg 314 an (vgl. Kiening, Artikel ‚Oberdeutscher vierzeiliger Totentanz’ [wie Anm. 690], Sp. 1074), insofern wäre diese Verknüpfung durchaus logisch. – Da die Vorlage für den Gossembrot-Text, die ebenfalls schon den oberdeutschen vierzeiligen Totentanz voraussetzt, auf 1438-1450 datiert wird (vgl. Stolz, S. 579), wäre dies, wie bereits weiter oben erwähnt, ein terminus ante quem für die Entstehungszeit des oberdeutschen vierzeiligen Totentanzes und damit auch der lateinischen Version.
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tu mundi. Auch diese Notiz wurde unterschiedlich interpretiert.701 Während Rosenfeld sie als Beleg dafür wertet, daß es sich bei der Vorlage um einen Bilderbogen gehandelt habe – andernfalls wäre nicht „vom entgegengesetzten Teil“, sondern „vom letzten Blatt“ die Rede gewesen702 –, ist Hammerstein der Auffassung, daß man in opposita parte auch als „auf der gegenüberliegenden Seite“ übersetzen könne.703 Kritik an Rosenfelds Interpretation kommt auch von Leppin, der ebenfalls darauf hinweist, eine solche Formulierung könne nicht als Beweis für die angebliche Bilderbogen-Form genommen werden, der Frage aber noch wesentlich detailgenauer nachgeht: Diese Annahme legt zum einen die Bedeutung von „in opposita parte“ allzu sehr fest. Aus dieser Angabe geht nicht mehr hervor, als daß zwei Bilder einander gegenüber abgebildet waren, was selbst auf einer einzigen Buchseite möglich ist. Zum anderen setzt sie [...] die kaum zu begründende Annahme voraus, der zitierte Satz sei aus dem Codex albus abgeschrieben und verweise daher nicht auf diesen, sondern auf eine andere Bildfolge – obwohl doch der einzige andere [...] explizite Hinweis auf Bilder in Cpg 314 f. 79f ausdrücklich auf die im Codex albus selbst ver704 weist [...], die eine Bildbeschreibung in dessen Text zweifellos überflüssig machten.
Es ist zutreffend, daß Rosenfeld angibt, dieser Satz sei seiner Meinung nach aus dem Codex albus abgeschrieben.705 Natürlich wäre eine solche Anmerkung in einem bebilderten Manuskript nur schwer erklärbar. Daher bleibt Rosenfelds Kommentar in der Tat unklar. Wollte man diese Bemerkung in opposita parte de contemptu mundi auf den Gossembrot-Codex Clm 3941 beziehen, könnte man annehmen, daß damit die Darstellungen gemeint sind, die sich am Ende der Totentanzfolge befinden, nämlich ein mit Verwesungsgetier behangener Kadaver in einem Sarg sowie ein aufrecht stehender Toter, denen Verse beigegeben sind, die die Vergänglichkeit der Welt beklagen. Dies wäre folglich ein Argument für die Identifikation des Querverweises als Bezug auf Clm 3941. Neben solchen textexternen – im Sinne von ‚dem eigentlichen Totentanz nicht immanenten’ – Anmerkungen706 gibt es aber auch in den monologischen Äußerungen der Personen einige Formulierungen, die möglicherweise als zusätzliche Hinweise darauf zu verstehen sind, daß dem Text ursprünglich ein Bild zugehörte, quasi Relikte der Text-Bild-Beziehungen. Hierzu gehören z.B. Deiktika, die einen temporalen oder lokalen Bezug ausdrücken bzw. in Form von Demonstrativpronomina auf bestimmte Gegenstände hinweisen. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß solche Worte auch in unbebilderten Texten vorkommen, doch im vorlieDie lateinisch-deutsche Mischfassung
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Eine von allen anderen Hypothesen abweichende Vermutung äußerte Goette, der der Ansicht war, die oben zitierte lateinische Bemerkung lasse darauf schließen, daß die Handschrift ursprünglich für die nachträgliche Aufnahme von Bildern vorgesehen war (vgl. Goette, S. 104). Dem stehen jedoch die jüngeren Untersuchungen eindeutig entgegen; zudem ist in Bartschs Handschriftenbeschreibung von freigelassenen Stellen für Bilder keine Rede. Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 68. Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 149. Leppin, S. 323f., Anm. 4. Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 68. Man könnte auch von „Paratext“ sprechen.
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genden Fall, wo einigermaßen sicher davon ausgegangen werden kann, daß es ein zugehöriges Bild gab, kommt solchen Formulierungen eine besondere Bedeutung zu. Ein Beispiel findet sich etwa in den Versen des Erzbischofs, der auf Latein sagt: Doctrina fultis hoc signum pretuli stultis.707 Mit hoc signum ist vermutlich sein Kreuzesstab gemeint, in der deutschen Version deshalb auch mit crücz wiedergegeben. Es ist sehr wahrscheinlich, daß dieses typische Attribut auch auf dem Bild zu sehen war, wo es einerseits als Identifikationsmerkmal für die dargestellte Figur fungiert und andererseits genutzt werden kann, um in der oben beschriebenen Weise Text und Bild zu verknüpfen. In dieselbe Kategorie kann man die Worte der Nonne einordnen, die sagt: Quid valet orare, me mors iubet hic corisare. Das hic hatte möglicherweise auch die Funktion, ähnlich wie manchmal in anderen mittelalterlichen Bildunterschriften, im Text noch einmal auf den dargestellten „Bildraum“ zu verweisen. Interessanterweise gibt die deutsche Fassung in beiden Fällen die Deiktika nicht wieder. Man könnte spekulieren, ob dies eventuell daran liegt, daß die Übersetzung des lateinischen Textes angefertigt wurde, ohne daß gleichzeitig ein Bild vorlag, so daß die deutschen Verse gleichsam bildlos (bzw. im Anschluß an Verse, zu denen Bilder gehörten, die aber nicht in die betreffende Handschrift mit übernommen wurden) zustande gekommen und erst später illustriert worden sind. Diese Annahme läßt sich jedoch nicht sicher beweisen. Es paßt aber gewissermaßen zu dieser Vorstellung, daß in der weiterentwickelten oberdeutschen vierzeiligen Form viele Text-Bild-Bezüge in denjenigen Teilen des Textes zu finden sind, die offenbar erst später hinzukamen, nämlich in den Todesstrophen. Vielleicht entwickelten sich diese Korrespondenzen erst, als man den deutschen Text zusammen mit Illustrationen wiedergab und dabei die Notwendigkeit engerer Korrelation zwischen beidem empfand. Wie genau die Überlieferung hier vor sich ging und auf welche Weise Text und Bild zusammengestellt wurden, kann jedoch im einzelnen kaum nachvollzogen werden. Es ist daher oft nicht möglich, das Zustandekommen der Übereinstimmungen zwischen Text und Bild zweifelsfrei darzulegen. Noch klarer als in den Menschenversen äußert sich die predigthafte Vorrede zum zugehörigen Gemälde. Ob diese 12 Verse jedoch zum ursprünglichen Bestand gehören, wird bezweifelt;708 sie könnten auch eine spätere Hinzufügung sein. Der letzte Vers dieser ersten Predigt lautet: Hec ut pictura docet exemplique figura,709 auf deutsch wiedergegeben als [...] Als des gemäldes figuren/ Sind sy ain ebenbild z truren. Dieser eindeutige Bezug auf ein dem Text zugeordnetes Bild wird noch einmal verstärkt von einer weiteren Anmerkung, nämlich dem Einzeluntersuchungen
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Die deutsch-lateinische Handschrift wird zitiert nach Fehse, Ursprung, S. 50-58. Vgl. z.B. Leppin, S. 333-338, bes. S. 337, der darauf hinweist, daß Ständereihe und Rahmung in Bezug auf den gedanklichen Gehalt stark voneinander differieren, was sich dadurch erklären ließe, daß sie unabhängig voneinander entstanden sind. Faßt man hec als Demonstrativpronomen zu pictura auf, so handelt es sich hier ebenfalls um eine der oben besprochenen deiktischen Formulierungen mit unmittelbarer Zeige- bzw. Hinweisfunktion. Zur Übersetzungsproblematik dieser Zeile siehe Leppin, S. 328 mit Anm. 29.
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bereits oben zitierten Hinweis auf den alius doctor depictus predicando [...], den predigend abgebildeten Kleriker, dem die epilogartige zweite Predigt zugeordnet ist. Obwohl in der betreffenden Handschrift diese zweite Predigt an den Anfang vorgezogen ist, kann man wohl mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß sie ans Ende gehört.710 So schließt sich nämlich der Kreis, den der erste Prediger mit O vos uiuentes beginnt, in dem komplementären O uos mortales der Schlußrede. Sind am Anfang Alle die noch in leben sint angesprochen, adressiert der zweite Prediger (den man sicherlich auch gewissermaßen mit dem ersten in eins setzen kann) nun seine Zuhörer als O ir tötlichen menschen all. Gemeint sind damit nicht nur die in den Totenreigen gezwungenen Menschen, sondern der Geistliche spricht aus dem Bild heraus zu den Betrachtern und Lesern, die, nun am Ende der bimedialen Predigt angekommen, einen Erkenntnisprozeß durchlaufen haben sollen und sich jetzt nicht mehr uneingeschränkt als viventes, sondern in ihrer menschlichen Begrenztheit als mortales begreifen. Die lateinisch-deutsche Mischfassung
In Bezug auf die Bildlosigkeit der hier besprochenen Handschrift sind noch einige andere Aspekte zu berücksichtigen. Die beigefügten Anmerkungen lassen keinen Zweifel an der Tatsache, daß zu dem Text ein Bild gehört. Der Schreiber läßt den Text nicht allein im Raume stehen, sondern fand es offenbar wichtig, einschlägige Hinweise auf die Illustrationen zu geben. Dies läßt darauf schließen, daß Text und Bild als etwas Zusammengehöriges betrachtet wurden; ohne die Bilder fehlt ein wichtiges Element. Wenn sie weitgehend irrelevant bzw. redundant wären – zumindest verzichtbar – und zur Intention des Genres kaum etwas Wesentliches beitragen würden, hätte der Schreiber von derartigen Anmerkungen absehen können. Daß er es nicht tat, hat seinen Grund wohl darin, daß ein Totentanz-Text in der vorliegenden Form nicht selbsterklärend ist, d.h. zumindest vor dem inneren Auge des Lesers, also in seiner Vorstellung, muß die Idee des Reigentanzes von Menschen und Tod präsent sein, damit der Text in vollem Ausmaß verstanden wird. Schließlich tauchen nirgendwo explikative Sätze auf wie „Hier tanzt der Tod paarweise mit den Menschen“ oder ähnliche Formulierungen. Es wird also vorausgesetzt, daß der Leser mit der Bildvorstellung vertraut ist. 710
In der Tat steht diese zweite Predigt bei den späteren deutschen Handschriften am Ende (vgl. Fehse, Obd. vierz. Totentanz-Text, S. 89). Eine einzige Handschrift (M3) enthält noch eine dritte Predigt, die u.a. Verse beinhaltet, die offenbar eine verwesende, mit Würmern behangene Leiche spricht, vielleicht aus einem Grab heraus: O mensch, sich an mich./ Was du bist, das was ich./ Auch sich, wie recht jämerlich/ Die würm beissen umb mein fleisch./ Sich mein freund kriegen umb das gut./ Sie enruchen, wie mein arme sel tut (abgedruckt bei Fehse, Obd. vierz. Totentanz-Text, S. 90). Die entsprechende Handschrift ist bildlos, doch die mehrmalige Aufforderung „sieh“ könnte darauf hinweisen, daß der Text eigentlich zu einer Illustration gehört bzw. diese evoziert. Allerdings sind Verben des Sehens durchaus nicht immer ein Anzeichen dafür, daß Illustrationen zum Text gehören. Zuweilen werden sie verwendet, gerade um die Abwesenheit von Bildern zu kompensieren, indem sie vor dem inneren Auge des Lesers lebhafte Vorstellungen wachrufen sollen (z.B. Von des todes gehugde des Heinrich von Melk: Nv ginc dar, wip wolgetan/ vnt schouwe... [V. 597f.], nv sich... [V. 610, V. 616 und V. 618], nv schouwe [V. 630]). Hier soll der Leser oder Zuhörer sich anschaulich vorstellen, wie durch den Tod aus dem einstmals schönen Körper ein ekelerregender Leichnam geworden ist.
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Einzeluntersuchungen
Ein Beispiel mag den Sachverhalt veranschaulichen. Läge jemandem ein schriftlich niedergelegtes Drama vor, in dem es keinerlei Regieanweisungen bzw. allgemein keinen Nebentext zu Ort und Zeit der Handlung, zum Aussehen und dem Handeln der Personen (Gesten, Bewegungen etc.) gibt, wäre es wohl sehr schwer für den Leser, das Theaterstück zu verstehen, wenn in den Texten der Schauspieler auch keine diesbezüglichen Hinweise (implizite Regieanweisungen) gegeben würden. Man wüßte weder, wo sich die Handlung abspielt, noch in welchem räumlichen Verhältnis sich die Personen zueinander befinden (Proxemik) oder welche Bewegungen und welche Mimik sie ausführen. Ähnlich verhält es sich mit einem reinen Totentanz-Text. Nur durch den vom Bild gegebenen erklärenden Rahmen weiß man, daß es sich um einen Kettenoder Kreisreigen handelt, in dem abwechselnd Tod und Mensch hintereinander her tanzen. Aus späteren, bildlos überlieferten Totentanz-Texten können wir dies erschließen, weil es uns quasi als „Idealtyp“, als Muster eines Totentanzes bekannt ist. Aus diesem Grund ist es sehr wahrscheinlich, daß schon die frühesten, nicht überlieferten Totentanz-Zeugnisse bimedial waren.711 Der Vollständigkeit halber sei jedoch angemerkt, daß es auch ganz gegensätzliche Interpretationen dieser Sachlage gibt. So äußert Leppin: Einzeluntersuchungen
Es ist bemerkenswert, daß der Auftraggeber [...] für diesen Text die Bilder nicht mit übernehmen ließ, daß der Text also [...] als in sich suffizient verstehbar galt: Dieses Abschreibeverfahren ist ein Beleg dafür, daß der Totentanz, so wichtig seine normalerweise zu findende Verquikkung von Text und Bild kulturgeschichtlich ist, auch einfach als Text rezipierbar war und als 712 solcher auch Gegenstand heutiger Untersuchung sein kann und muß [...].
Der Hinweis des Schreibers auf die Bilder kann jedoch m. E. ebensogut als Beleg für ihre Unverzichtbarkeit gelesen werden, sonst wäre jeder diesbezügliche Fingerzeig obsolet gewesen und hätte weggelassen werden können. Daß ein Totentanz, der ohne Bilder überliefert ist, auch als vollwertiges Forschungsobjekt behandelt werden muß, steht ohnehin außer Frage. Bei dieser Forschung ist jedoch nicht zu vernachlässigen, sondern im Gegenteil verstärkt zu berücksichtigen, daß 711
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Vgl. ähnlich Fehse: „Ich möchte die Frage, ob der Totentanztext der Handschriften ohne ein dazugehöriges Bild als selbständiges Gedicht bestanden habe, durchaus verneinen. Die Eigenart gerade dieses Textes läßt eine solche Auffassung schwerlich zu“ (Fehse, Ursprung, S. 34). Saugnieux glaubt: „La Danse macabre n’est sans doute d’origine picturale, mais elle fut représentée très tôt par les peintres et les graveurs dans le but d’atteindre plus facilement les sensibilités. Le texte de la Danse française n’était à l’origine que le commentaire en vers d’une fresque“ (Saugnieux, S. 17). Auf den ersten Blick scheinen sich diese beiden Behauptungen zu widersprechen: Wie kann der Danse macabre-Text ursprünglich nichts weiter als ein Bildkommentar gewesen sein, wenn doch der Ursprung des Genres kein bildlicher ist? Der Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man in Betracht zieht, daß die Quellen der Gattung nicht rein bildlich oder rein textlich gewesen sein müssen, sondern daß noch andere (z.B. dramatische Einflüsse) geltend gemacht werden können, wie Saugnieux es später auch unternimmt. Doch auch wenn man voraussetzen wollte, daß es „ursprüngliche“ TotentanzTextformen ohne Bilder gegeben hat, müßten diese anders aussehen als die uns überlieferten Fassungen, die, wie oben dargelegt, ohne Bilder nicht vollständig von sich aus selbsterklärend sind. Leppin, S. 329.
Die lateinisch-deutsche Mischfassung
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vor dem Hintergrund einmal vorhanden gewesener Bilder (und sei es nur in Vorstufen des betreffenden Textes) eventuell mit anderen Ergebnissen zu rechnen ist als bei einem Text, der von vornherein als bildlos konzipiert wurde. Genau dies ist aber bei der lateinisch-deutschen Fassung nicht der Fall. „In sich suffizient verstehbar“ ist dieser Totentanz eben nur aufgrund des Vorwissens (quasi „Gattungswissens“), das der Leser, ausgehend von anderen überlieferten Bildzeugen, bereits mitbringt. Besonders dominant kommt im vorliegenden Text die Bildvorstellung des Todes als Spielmann, der den Reigen anführt, zum Tragen, denn der Prediger spricht von der fistula tartarea, und die Menschen nehmen auch mehrfach auf dieses Motiv Bezug. Vielleicht wurde der Todeszug auf dem Bild von einer Leichengestalt mit Blasinstrument (z.B. Dudelsack oder Flöte) angeführt, ähnlich wie auf dem Lübecker Gemälde, wo der Tod eine (allerdings vielleicht nicht ursprüngliche) Querflöte spielt. Auch der Berliner Totentanz verwendet dieses Motiv, wenn auch abgewandelt, in Form der Dudelsack spielenden Ungestalten am Fuße der Kanzel; und eine weitere Verwirklichung dieser Bildidee trifft man im Gossembrot-Totentanz an, wo menschliche Musikanten auftreten. Dies sind nur einige wenige Beispiele; die Vorstellung des Todesspielmanns gehört wohl zu den eindringlichsten und häufigsten Motiven der Totentanzliteratur und -kunst und kann in vielen Bild- und Textzeugnissen in den verschiedensten Ausprägungen beobachtet werden. Der lateinisch-deutsche Totentanz ist ein Beleg dafür, daß diese Bildvorstellung offenbar schon im frühesten Bestand des Genres vorhanden war. Setzt man tatsächlich voraus, daß der lateinische Text der Ursprung zumindest der deutschen Überlieferungslinie gewesen ist,713 so verwundert die Wahl der Sprache doch ein wenig. Das Genre des Totentanzes ist – im Gegensatz zur Ars moriendi, die als Handreichung für Kleriker gedacht war – gerade dadurch gekennzeichnet, daß es sich an jedermann, an die breiten Massen wendet, durch die Kombination mit einem Bild auch an die nicht des Lesens Kundigen. Die Verwendung des Lateins läuft einer solchen Ausrichtung jedoch zuwider.714 Andererseits ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß die lateinische Sprache im Die lateinisch-deutsche Mischfassung
713
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Etwas unklar bleibt bei dieser These allerdings, in welcher Form die Aufteilung in drei Gruppen – oberdeutsch, niederdeutsch und mitteldeutsch – damit in Einklang gebracht werden kann. Während sich die oberdeutschen Totentänze ganz klar auf die lateinische Version zurückführen lassen (sofern es sich nicht um eine Übersetzung in umgekehrter Richtung, nämlich aus dem Deutschen ins Lateinische, handelt, was aber unwahrscheinlich ist, s.o.), sieht es mit den nieder- und mitteldeutschen Gruppen anders aus. Diese lassen sich eher mit der Danse macabre in Verbindung bringen, deren Zurückgehen auf die lateinische Dichtung auch kaum zu beweisen ist; schon weil man aus chronologischen Gründen dafür einen sehr viel älteren lateinischen Totentanz ansetzen müßte (wie ja auch Rosenfeld die Texte zurückdatiert, um nachzuweisen, daß der französische Text in letzter Konsequenz auf dem deutschen fußt). Alle diese Hypothesen sind denkbar, aber mangels sicherer Überlieferungszeugnisse läßt sich nichts davon belegen. So bleibt nur, die letztendlichen Überlieferungswege offen zu lassen und lediglich auf die verschiedenen Möglichkeiten hinzuweisen. Zum lateinischen Text bemerkt Leppin, Adressaten seien „Kleriker oder gebildete Laien“ (Leppin, S. 327).
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Einzeluntersuchungen
Mittelalter (und noch weit darüber hinaus) ein Garant für Universalität war. So konnte ein lateinischer Text sicherlich einfacher in einen anderen Sprachraum übernommen werden als ein volkssprachlicher, sofern es sich nicht um einander sehr naheliegende Sprachen handelt. Der Sprung vom germanischen ins romanische Gebiet wäre von einem lateinischen Text eventuell leichter zu bewerkstelligen gewesen. Sollten aber von diesem lateinischen Text wirklich die späteren Totentänze ausgegangen sein, verwundert es zumindest nicht, daß eine deutsche Übersetzung unternommen wurde, bevor sich die Gattung dann im deutschen Sprachgebiet ausbreitete und zahlreiche Totentänze in den verschiedensten Formen hervorbrachte, die sich nahezu ausschließlich der Volkssprache bedienen. Auch die anderen breitenwirksamen Ableger des Genres im restlichen Europa bedienen sich der Volkssprache.715 Die rein deutschen Fassungen des oberdeutschen vierzeiligen Totentanzes sollen nun im folgenden betrachtet werden.
3.3.1.2. Das Heidelberger Blockbuch Das Heidelberger Blockbuch wurde kurz vor 1460716 gedruckt und enthält neben den pro- und epilogartigen Predigten an Anfang und Ende noch immer die 24 schon aus der lateinisch-deutschen Mischversion bekannten Ständevertreter. Im Gegensatz zu jener bietet es aber nun den zum Dialog weiterentwickelten oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text. Obwohl dieses Druckwerk einer der wichtigsten Vertreter der oberdeutschen Totentanz-Gruppe ist,717 wurde es in der Forschung meist nicht besonders ausführlich behandelt, ebenso wie das Münchner Blockbuch. Ein Grund dafür mag darin liegen, daß diesem Erzeugnis der noch relativ am Anfang ihrer Entwicklung stehenden Kunst des Buchdrucks718 kein großer künstlerischer Wert zugestanden wurde. So urteilte etwa Seelmann recht abfällig: „Die grob geschnittenen Figuren ahmen die Basler nur nach, ohne eine Copie zu bieten […]“.719 Wenngleich diese Einzeluntersuchungen
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Das schließt indes nicht aus, daß es auch immer wieder einmal lateinische TotentanzVersionen gegeben hat. So existiert z.B. eine Übersetzung der Danse macabre ins Lateinische mit dem Titel Chorea ab eximio macabro von Melchior Goldast aus dem Jahr 1613 (vgl. Fehse, Totentanzproblem, S. 280). Das Phänomen einer späteren Übertragung eines volkssprachlichen Totentanzes ins Lateinische begegnet auch bei dem Basler Totentanz (vgl. Abschnitt 3.3.2.); auf Latein ist auch das Totentanz-Spiel aus den Niederlanden abgefaßt (vgl. Abschnitt 3.2.1.6.). Datierung nach Kiening, Artikel ‚Oberdeutscher vierzeiliger Totentanz’ [wie Anm. 690]. So bezeichnet auch Kaiser das Heidelberger Blockbuch als ein „Rezeptionszeugnis von breiter Wirkung“ (Kaiser, S. 277). Wie Geldner herausstellt, ist es ein Mißverständnis, Blockbücher als technische Vorstufe des Typendrucks zu betrachten (vgl. Geldner, Inkunabelkunde, S. 28f.); darüber hinaus erlebten die Blockbücher ihren eigentlichen Höhepunkt aber auch erst, als der Typendruck sich schon in voller Entwicklung befand: „Wann und wo die ersten inhaltlich verbundenen Folgen von Holzschnitten mit dem Reiberverfahren hergestellt wurden und als ‚Blockbücher’ auf den Markt kamen, ist noch umstritten. Soviel ist aber sicher, daß die Blütezeit der Blockbücher erst in die Zeit nach der Erfindung der Buchdruckerkunst fällt“ (ebd., S. 77f.). Seelmann, Totentänze, S. 30.
Das Heidelberger Blockbuch
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Behauptung etwas oberflächlich ist und den Holzschnitten kaum gerecht wird, so weist Seelmann doch hier auf eine wichtige Tatsache hin, nämlich den ikonographischen Zusammenhang mit dem Basler Totentanz, eine Beziehung, die an späterer Stelle noch einmal genauer betrachtet werden soll. Es ist zwar zutreffend, daß die Illustrationen nicht besonders fein und detailgetreu ausgeführt sind, aber gerade dadurch kommt eine gewisse Derbheit zustande, die vor allem den Todesfiguren zuweilen einen ausgeprägt grotesken Charakter verleiht. In diesem Sinne ergänzen die Bilder sich besonders gut mit den kurzen und prägnanten Versen. In Bezug auf die Text-Bild-Korrespondenzen des Heidelberger Blockbuches muß noch einmal an die Ergebnisse der früheren Forschung angeknüpft werden, die sich auf die ursprünglich monologische Struktur des oberdeutschen Totentanzes beziehen. Es fällt nämlich auf, daß besonders viele der Text-Bild-Referenzen in den später hinzugekommenen Strophen des Todes auftreten, als habe man bei der Weiterverbreitung dieses Totentanzes mehr und mehr die Notwendigkeit zur engeren Verknüpfung beider Zeichensysteme empfunden. So wiesen zwar auch die Monologe der Menschen schon Verse auf, die vermutlich auf die verlorenen Bilder rekurrierten, aber bei den Todesstrophen wurde offenbar ganz bewußt darauf geachtet, zusätzliche Beziehungen herzustellen. Von welchem Medium diese Relationen ausgehen, ist dabei nicht mehr zweifelsfrei nachzuvollziehen. Vielleicht regten bereits vorhandene Illustrationen zu den Leichengestalten720 den oder die Dichter der Todesstrophen an, Bezüge auf diese Bilder in die Verse aufzunehmen (das ist z.B. gut vorstellbar für die Bildidee des Todesspielmanns). Alternativ ist es natürlich auch möglich bzw. sogar relativ wahrscheinlich, daß dem Künstler der Heidelberger Holzschnitte der vollständige Text vorlag (der schließlich nach den geltenden Hypothesen schon um einiges früher in Umlauf gewesen sein wird), so daß er die Bilder entsprechend entwarf, wobei er sich anscheinend stellenweise an der Basler Friedhofsmalerei orientierte.721 Ob also die Text-BildBeziehungen in diesem speziellen Fall eine „Erfindung“ des Holzschnittkünstlers sind, oder ob auch schon frühere, nicht überlieferte Zeugnisse an den betreffenden Stellen derartige Verknüpfungen aufwiesen, muß offen bleiben. Wenngleich die Korrelationen zwischen Versen und Illustrationen im Heidelberger Blockbuch nicht besonders ausgeprägt sind, so stehen diese doch keinesfalls unverbunden nebeneinander. Schon im Layout findet eine klare Zuteilung statt: Die Strophen des Todes befinden sich in einem abgetrennten Feld direkt über den Holzschnitten, etwas nach links gerückt, und die Antwortstrophen der Menschen sind unter den Bildern angebracht, ein wenig nach rechts verschoben. Unter anderem auch dadurch kommt es zu einer quantitativen, auch visuellen Das Heidelberger Blockbuch
Das Heidelberger Blockbuch
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Es wurde bereits im Zusammenhang mit der deutsch-lateinischen Mischform darauf hingewiesen, daß vermutlich auch schon die monologische Form illustriert war, es also textlose Bilder der Todesgestalten gegeben hat. Schreiber meint, daß der Zeichner die Basler Friedhofsmalerei nicht nur gekannt habe, sondern daß das Blockbuch sogar in Basel gedruckt worden sei (vgl. Schreiber, Basels Bedeutung, S. 14f.).
Einzeluntersuchungen
212
Balance zwischen Bild und Text.722 Beide sind, wie oben angedeutet, einfach und prägnant. Es wird nicht weniger und nicht mehr dargeboten, als zum Verständnis der zentralen Aussagen notwendig ist. Durch das Einrücken nach links bzw. rechts findet auch optisch eine gewisse Anknüpfung an die betreffenden Figuren statt, da der Tod stets rechts, der Mensch dagegen auf der linken Seite des Bildes steht. Dieses Einrücken führt im Grunde auch dazu, daß gewissermaßen automatisch zuerst der obere Bildrand betrachtet und somit die Strophe des Todes als Anrede und darauf folgend die Menschen-Strophe als Antwort gelesen wird. Aufgrund dieser recht klar erkennbaren und sicherlich auch beabsichtigten „Führung“ der Augen stimme ich auch nicht mit Rosenfelds Betrachtungsweise überein, der ausführt: Einzeluntersuchungen
[…] trotzdem [d.h. trotz der beschriebenen Anordnung] besteht noch die Möglichkeit, die Verse der Neuverstorbenen in ursprünglicher Weise vorweg zu lesen, die Verse der namenlosen Toten 723 als Antwort hinterher.
Was Rosenfeld hier voraussetzt, ist eine umgekehrte Leseweise, die die Ständevertreter-Verse als erste Äußerung und die Todesstrophen als darauffolgende Entgegnung auffaßt.724 Bis auf die Stelle bei Mutter und Kind, wo eine solche Anordnung durchaus sinnvoll erscheint, sind die Begründungen Rosenfelds für seine Hypothese jedoch kaum stichhaltig. Neben diesen Überlegungen verknüpft Rosenfeld des weiteren das Heidelberger Blockbuch mit seiner Bilderbogen722
723 724
Daß für diesen Blockbuch-Totentanz eine Version gewählt wurde, deren Text weit weniger Raum einnimmt als beispielsweise in der Inkunabel Des dodes dantz, paßt zu dem Befund von Martha W. Driver, die zu den Unterschieden zwischen Blockbüchern und mit Typendruck hergestellten Werken anmerkt: „Block-books […] are primarily pictorial with minimal text, while illustration is not, at least initially, the primary emphasis in books printed with moveable type“ (Driver, S. 341). Dies rührt wohl daher, daß Blockbücher und TypendruckErzeugnisse sich jeweils an ein unterschiedliches Publikum richten: „Picture books represent a transitional phase between hearing a story and reading it; illustrated books are generally designed for lay use, for readers more adept at interpreting visual, rather than verbal, signs“ (Driver, S. 345). Dieser Befund besitzt sicherlich auch für die monumentalen Totentänze Gültigkeit. Rosenfeld, Totentanz, S. 93. Siehe ebd., S. 74: „Erst eine fehlerhafte Überlieferung hat diese Verse umgestellt und dadurch zu einem Anruf gemacht, was nur ein höhnendes Echo war. Schon immer wunderten sich die Forscher, daß die Verse der Standesvertreter auf den Anruf der Toten keinerlei Antwort geben, sondern ins Blaue reden, aber keiner kam auf den Gedanken, daß hier eine ursprüngliche Ordnung verkehrt ist.“ Dieses Ins-Blaue-Reden (Layet [Münchner Blockbuch, S. 80] spricht recht treffend von einer „Pseudoantwort“) läßt sich allerdings ebenso gut mit Fehses Erklärung plausibel als Relikt der ursprünglich monologischen Form verstehen, die erst später in einen Dialog umgearbeitet wurde (s.o.). Daneben erlaubt die Bildform der Totentänze, in denen im allgemeinen der Tod dem Menschen vorausgeht, kaum eine andere Reihenfolge, als zuerst die Todesstrophen und danach die Menschenverse zu lesen. Ein abweichendes Beispiel bietet der Lübecker Buchtotentanz von 1489, wo aber, wie man gesehen hat, das ReihenfolgeProblem bildtechnisch nicht zum Tragen kommt, weil dort Menschen und Tod ohnehin auf einzelnen Holzschnitten abgebildet sind. Dies machte es möglich, die Figuren als einander durch die gemeinsame Hinwendung zur Buchmitte zugewandte Paare abzubilden (vgl. Abschnitt 3.1.2.).
Das Heidelberger Blockbuch
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Theorie, denn er wertet die rekonstruierte Bilderbogen-Überlieferungstradition als Voraussetzung für Formen wie das Blockbuch, in dem er die „Bildtradition des Bilderbogens ziemlich getreu bewahrt“ sieht.725 Ein gravierender Unterschied zu einem solchen Bilderbogen dürfte allerdings die wohlbekannte Zerstückelung des zusammenhängenden Reigens auf die einzelnen Buchseiten sein. Wie bei den meisten anderen der bisher besprochenen Beispiele finden sich aber auch im Heidelberger Blockbuch Relikte dieser ursprünglichen Form, denn auch hier ist wieder die allgemeine Bewegung nach links in der Haltung der Personen noch als Tendenz zu erkennen. Auch Überreste der Tanzmotivik sind den Figuren geblieben, wie immer hauptsächlich bei den Todesgestalten, die zum Teil recht dynamisch dargestellt sind. Im Text ist der Tanz ebenfalls ziemlich dominant, 726 eine deutliche Korrespondenz zu den Illustrationen; und auch hier wieder fällt auf, daß das einschlägige Vokabular vor allem in den Todesstrophen zu finden ist. Ein paar Beispiele seien hier genannt. So sagt der Tod gleich eingangs zum Papst (Nr. 1): Der tod wil euch den tantz hofyren; der Erzbischof (Nr. 7) muß tanczen ouch mit desen affen; auch der Ritter (Nr. 12) ist wedir rytters orden/ An dezen tancz getwungen worden; und auch das sehr häufig mit dieser Formulierung auftretende Kind (Nr. 23) muß tanczen und kann noch nicht gan.727 Wie viele andere Totentänze, so enthält auch dieser eine Predigerfigur. Beim Zusammenfügen mit anderer Literatur in einen Einband, vermutlich Mitte des 16. Jahrhunderts geschehen,728 wurde die intendierte Reihenfolge durcheinandergebracht, was auch an den Numerierungen der Blätter in den Holzschnitten zu erkennen ist. So geriet der Prediger ans Ende des Reigens; seine ursprüngliche Position wirft demzufolge Fragen auf. Die Figur ist deutlich nach links gewendet. Wenn der Prediger am Anfang des Reigens zu stehen kommen soll, müßte er nach rechts gerichtet sein. In dieser Form wäre der Holzschnitt folglich eher als abschließender Prediger am Ende des Totentanzes denkbar, so daß der Tanzreigen von zwei Geistlichen eingerahmt würde (es ist allerdings hier nur einer überliefert), wie z.B. im Danse macabre-Druck von Marchant oder auch im Münchner Blockbuch, das ebenfalls zwei Predigerfiguren enthält. Hammerstein hält den Prediger ohnehin für eine Hinzufügung des 16. Jahrhunderts: Das Heidelberger Blockbuch
Das Heidelberger Blockbuch
Das Schriftband mit der Inschrift Dy gnade unsers (Herrn Jesu Christi…), d. i. der die Predigt einleitende Kanzelgruß (2. Kor. 13,13), schließt eine Totentanzpredigt des alten Typus aus.
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Rosenfeld, Totentanz, S. 95. Beim Tod ist in 20 von 25 Strophen vom Tanz die Rede, bei den 25 Menschenstrophen nur in acht (für diese Zählung wurde der später hinzugefügte Apotheker mitgerechnet). Daneben ist auch im Prolog vom Tanz die Rede, denn es wird dort vom Tod gesprochen, der mit seyner pfeyfen geschrey/ Brengt […] sie alle an seynen reyn. Das Heidelberger Blockbuch wird zitiert nach dem Abdruck bei Maßmann, Basler Todtentänze (Anhang). Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 190.
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Dies, sowie der Kelch auf dem Kanzelrand deuten auf eine Predigt reformatorischen Inhalts, 730 etwa über die Abendmahlslehre, und damit auf eine andere Provenienz des Bildes.
Eine weitere Figur, die in jedem Fall später hinzukam, ist der Apotheker (Nr. 16b). Schon Goette wies darauf hin, daß diese Illustration „eine ganz andere Hand, als die den Totentanz schuf“, verrät.731 Die Todesgestalt ist anatomisch abweichend gebaut und verfügt im Gegensatz zu den anderen Leichen über eine Andeutung von Augäpfeln; zudem ist dort auch die Schädelnaht erkennbar, und das „Gesicht“ hat zwei deutlich zu sehende Nasenlöcher anstatt nur einen nach unten offenen Winkel, wie sonst in diesem Blockbuch der Fall. Auch das Gebiß ist genauer gezeichnet. Das Bild ist nicht numeriert. Ohnehin ist aber die lückenhafte, teilweise fehlende oder schlecht zu erkennende Numerierung kaum geeignet, um die vollständige Reihenfolge zu rekonstruieren, auch wenn an ihr immerhin zu sehen ist, daß die Abfolge der Bilder beim späteren Binden geändert wurde. Nur der Rückgriff auf andere Überlieferungszeugen, die die korrekte Reihenfolge zeigen und keinen Apotheker enthalten, hilft hier weiter. Da es für diesen hinzugefügten Apotheker natürlich auch keinen Text gab, wurde ein neuer gedichtet. Es liegt folglich aller Wahrscheinlichkeit nach hier ein Fall vor, in dem Text und Bild aufeinander abgestimmt werden konnten, weil beides Neuschöpfungen sind. Hier erwies sich der Dichter jedoch als nicht sehr erfinderisch, denn die Verse erinnern bei der Ansprache des Todes deutlich an die Strophe des Juristen (Nr. 13); die Antwort ähnelt dagegen der Strophe des Kochs. Hier seien die Reime einmal im Vergleich aufgelistet: Tod zum Juristen Her iurist, das tut des todis craft. Mogit ir, zo beweist ewr meisterschaft.
Tod zum Apotheker Dy do sint wedir todis craft Beweyst nw ewir meysterschaft.
Koch Ich h)abe irlert vil pfeffirsecke Vnd g)emacht manch susz gelecke, Doch ku(n)dich des kostlyns nye fynden (Do) methe ich den tot möchte obirwynden. 732
Apotheker Ich kunde syrop vnd confect machen Electuaria vnd vil ander sachen Wer nw erne eyns gut vor den tot Is wer mir czu dezer stunden not.
Immerhin wurden Text und Bild leidlich, wenn auch nicht besonders originell, miteinander verknüpft; der Holzschnitt zeigt den Apotheker bei der beschriebenen Arbeit, der Herstellung von syrop, confect oder sonstigen electuaria: Er rührt in einem großen Topf (oder Mörser) zu seinen Füßen. Der Tod faßt ihn beim Arm, als wolle er ihn von seiner Beschäftigung wegführen. Goette behauptet des weiteren, man erkenne die spätere Hinzufügung auch daran, daß das Bild des Apothekers weniger Abnutzungserscheinungen des HolzEinzeluntersuchungen
729 730 731 732
Goette hält das betreffende Objekt für eine Sanduhr (vgl. Goette, S. 238, Anm. 3), ebenso Schreiber (vgl. Schreiber, Manuel, S. 435). Hammerstein, Tanz und Musik, S. 190. – Selbst wenn es sich bei dem Geistlichen um eine spätere Hinzufügung handelt, so ist das Bild jedoch stilistisch weitaus besser an den Rest der Holzschnitte angeglichen als der deutlich abweichende Apotheker. Goette, S. 99. Der Text des Kochs ist zum Teil unleserlich, weil die linke untere Ecke des Holzschnittes fehlt.
Das Heidelberger Blockbuch
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stocks zeige als die anderen Illustrationen.733 Dies ist jedoch schwierig im Detail zu beurteilen. Meiner Ansicht nach kann man auch bei diesem Holzschnitt erkennen, daß z.B. links oben der Abdruck nicht ganz vollständig ausgefallen ist; und auch unter den anderen Bildern des Totentanzes finden sich solche, die weniger Abnutzungsstellen, also weißgebliebene Flächen, als andere Schnitte aufweisen. Wie die Einfügung des Apothekers motiviert ist, bleibt etwas unklar. Schreiber äußerte eine einigermaßen phantasievolle und kaum nachprüfbare Vermutung: Sollte etwa unser Schreibstubenbesitzer zugleich Apotheker gewesen sein? Die Apotheker waren damals Krämer, die nicht nur mit Arzneistoffen und Konfekt, sondern auch mit vielen anderen Dingen, wie Papier und Schreibmaterial, handelten. [...] es wäre immerhin nicht unmöglich, 734 daß ein Schreiber zugleich Apotheker war.
Ein wichtiger Punkt bei der Betrachtung des Heidelberger Blockbuchs ist die Beziehung zu den Bildern des Basler Totentanzes. Da man nicht sicher weiß, wann die Holzschnitte erstmals gedruckt wurden – Goette weist zu Recht darauf hin, daß die Bilder durchaus älter sein können als der einzig überlieferte Druck von 1465735 –, muß man sich auch hier auf Vermutungen beschränken. Geht man nach der reinen überlieferten Chronologie, so stellt sich das Heidelberger Blockbuch gegenüber dem Basler Totentanz als jünger dar. Wahrscheinlich ist jedoch, wie auch Fehse herausstellt,736 daß die kürzere Version mit 24 Ständevertretern älter ist als die erweiterte Basler Form mit 39 Personen. Demzufolge scheint das Heidelberger Blockbuch eine ältere Stufe des oberdeutschen vierzeiligen Totentanzes darzustellen, als es die Basler/ Klingentaler Version tut. Wie auch immer sich diese Totentänze nun chronologisch zueinander verhalten, fest steht, daß es ikonographische Zusammenhänge gibt.737 So ist z.B. das Papstbild ganz klar ähnlich gestaltet (s.o. S. 262). Berührungspunkte zeigen sich auch bei dem Bild der Kaiserin. Bei anderen Illustrationen läßt sich jedoch kaum sicher eine Relation nachweisen. Die Haltung des Bettlers ist z.B. in beiden Bilderreihen entfernt vergleichbar, und gewisse stereotype Bildformeln finden sich bei beiden Totentänzen. Engere Verbindungen lassen sich aber ansonsten nicht knüpfen. In diesem Sinne ist das eingangs von Seelmann zitierte Urteil, die Holzschnitte seien eine bloße Nachahmung des Basler Freskos, vollständig fehlgeleitet und zeugt von nur oberflächlicher Betrachtung. Ist also sowohl nach den älteren Untersuchungen als auch zufolge neuester Erkenntnisse der oberdeutsche vierzeilige Text etwas älter als die überlieferten Text- und Bildzeugen, so kann man in der Folge mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, daß im Falle des Heidelberger Blockbuchs die Texte, wie oben beschrieben, zuerst vorhanden waren, zumal die bisherigen Untersuchungen gezeigt Das Heidelberger Blockbuch
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Vgl. Goette, S. 99. Schreiber, Basels Bedeutung, S. 15f. Vgl. Goette, S. 100f. Vgl. z.B. Fehse, Ursprung, bes. S. 10-27. Bei einem Vergleich muß auf den Klingentaler Totentanz zurückgegriffen werden, da man für diesen Zweck nicht die wesentlich jüngere Version des Basler Totentanzes von Merian heranziehen kann; vgl. hierzu die Ausführungen im Abschnitt 3.3.2. zum Basler und Klingentaler Totentanz.
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Einzeluntersuchungen
haben, daß sich die Texte bei der Überlieferung zuweilen „zäher“ behaupten als die Bilder. Kann man also, wie bereits früher angedeutet, auf der einen Seite vermuten, daß der Holzschneider sich nach den bereits vorhandenen Versen richtete – was übrigens anscheinend auch beim Münchner Blockbuch der Fall war (s.u.) –, so verunklaren jedoch auch einige kleinere Indizien die Sachlage. Ein Beispiel hierfür ist das bereits an anderer Stelle besprochene Bild des Papstes (vgl. S. 262). Das Heidelberger Blockbuch erwähnt als einziger Überlieferungszeuge im Text eine Pauke, ganz im Einklang mit dem Bild, auf dem der Tod zwei Trommeln vor dem Bauch hängen hat. In allen anderen Texten ist jedoch von einer Pfeife die Rede. Man fragt sich nun, wie diese Abweichung der Heidelberger Version zustande kommt. Daß der Text ganz unmotiviert und ohne ersichtlichen Grund umgeändert wurde, ist kaum plausibel – zumal die Pfeife für den Tod eigentlich auch ein näherliegendes, weil stereotypes Instrument ist als eine Pauke. Es scheint also, daß hier – d.h. speziell für diese Blockbuch-Ausgabe – der Text zugunsten des Bildes abgeändert wurde, weil der Reißer den Tod mit Trommel dargestellt hatte. Dies steht jedoch der oben dargelegten Hypothese von der Priorität des Textes entgegen. Vielleicht handelt es sich auch um irgendeine Art von Versehen oder Mißverständnis zwischen den an der Edition beteiligten Handwerkern bzw. Künstlern. Aufgrund der mangelhaften Beweislage kann hier keine letztgültige Antwort gegeben werden.738 Wie bei dem genannten Musikinstrument wird auch an anderen Stellen wieder die beliebte und einfache Möglichkeit genutzt, die Verse und die Illustrationen durch bestimmte Attribute miteinander zu verknüpfen. Bei Patriarch (Nr. 6) und Erzbischof (Nr. 7) wird das creutze erwähnt; der Tod des Chorherrn (Nr. 14) spricht vom pfeyfen schal und spielt eine Art Horn (das übrigens auch der Chorherr selbst noch ein zweites Mal anspricht); und beim Arzt (Nr. 15) ist es wie so oft das Uringlas, welches zur Text-Bild-Korrelation dient. Den Bauern (Nr. 22) spricht der Tod auf sein Schuhwerk an: Pewrlyn, mit deynen schuen grob/ Rawsche her, du must irwerben lob. Zum sich mühsam voranquälenden Bettler (Nr. 20) heißt es: Hynke her an myt deyner krucken; und die Mutter (Nr. 24), hinter der die Kindeswiege zu erkennen ist, wird abkommandiert: loft dem kinde noch mit der wygen. Auch Gesten können zur Verbindung von Bild und Text dienen, wenn z. B. der Tod zum Kaiser (Nr. 2) sagt: Ich habe euch bey der hand genomen. An nicht wenigen Stellen im vorliegenden Totentanz gibt es jedoch auch Diskrepanzen, die durch Flüchtigkeit und mangelnde Rücksichtnahme auf die Zusammenhänge zwischen den Medien zustande gekommen sein mögen. So spricht der Tod der Edelfrau (Nr. 17) von einer Pfeife, und auch die Edelfrau selbst sagt: Des todis pfeyfe mich betreuget, obwohl die ihr zugesellte Todesgestalt kein Instrument spielt. Diese Bemerkung könnte allenfalls noch als Reflex auf einen möglicherweise in einer früheren Bildredaktion den gesamten Todesreigen anführenden Todesspielmann verstanden werden und nicht als Bezugnahme auf den in diesem Holzschnitt dargestellten Tod. Solche Fälle, in denen beide Tanzpartner ein bestimmtes Attribut o.ä. erwähnen, mögen im übrigen auch dazu dienen, geEinzeluntersuchungen
738
Mit der Problematik dieses Bildes beschäftigt sich auch Fehse, Ursprung, S. 31f.
Das Münchner Blockbuch
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genüber dem alten Monolog noch einen etwas stärkeren dialogischen Charakter hervorzubringen. Die offenbar später hinzugekommenen Todesverse wurden hier also anscheinend so gedichtet, daß es aussehen soll, als nehme die Edelfrau auf die Todesanrede in ihrer Antwort Bezug. Diese Technik wurde noch bei anderen Tanzpaaren angewendet, etwa bei dem Patriarchen (Nr. 6) und dem Erzbischof (Nr. 7), weniger geschickt beim Chorherrn (Nr. 14; dort klingt es eher nach Redundanz, wenn erst der Tod sagt: Her korpfaffe, habit ir gesungen vor/ Suszen gesang yn ewrem kor, und der Chorherr antwortet: Ich habe als eyn korhirre frey/ Gesungen manche lipliche melodey), und eingeschränkt auch beim Koch (Nr. 21), wo pfeffirlyn und pfeffirsecke vielleicht aufeinander Bezug nehmen sollen. Bildreflexe generellerer Art finden sich schließlich auch in der ersten Predigt (die zweite fehlt beim Heidelberger Blockbuch). Dort heißt es – neben der bereits besprochenen Anspielung auf dezes gemeldis figuren – auch über den Tod: [...] mit seyner pfeyfen geschrey/ Brengt her sie alle an seynen reyn/ Doran dy weyzen czu den sprungen/ Mit den toren werden getwungen. Vorbild für diese Verse war möglicherweise eine Bildredaktion, bei der ein zusammenhängender Reigen mit einem Todesspielmann als Anführer gezeigt wurde, möglicherweise ein Wandgemälde739 oder vielleicht auch eine Illustration in der Art der Bilderbögen, wie Rosenfeld es annimmt. Die Belege für solche Totentanz-Bilderbögen sind aber, wie bereits mehrfach herausgestellt, recht dünn. Innerhalb der Überlieferungsgruppe des oberdeutschen vierzeiligen Totentanzes kommt dem Heidelberger Blockbuch in jedem Fall ein wichtiger Stellenwert zu. In Bezug auf das vorliegende Thema wurde an den genannten Beispielen wieder deutlich, wie fest die Bindungen zwischen den unterschiedlichen Textversionen auf der einen Seite sind, gegenüber der auf der anderen Seite stärker abweichend ausgeformten bildlichen Ebene, die in diesem „illustrierten Volksbuch“, wie Rosenfeld es beschreibt,740 eine einfache, aber effektive Form annimmt. In dieser wenig anspruchsvollen, aber gerade mit dem Potential zur Breitenwirkung ausgestatteten Version kommen alle wichtigen Aspekte des Totentanzes zur Entfaltung. Das Münchner Blockbuch
3.3.1.3. Das Münchner Blockbuch Bei dem zweiten hier zu besprechenden Text- und Bildzeugen handelt es sich um das sogenannte Münchner Blockbuch,741 dessen von ca. 1480 stammende Holzschnitte742 in eine ältere Handschrift eingeklebt wurden. Diese Vorgehensweise 739 740 741 742
Gemeld muß nicht notwendigerweise ‚Wandgemälde’ bedeuten; das Wort läßt sich pauschal mit ‚Bild, Gemälde, Malerei’ übersetzen (vgl. Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch); es kann folglich auch eine Buchillustration o.ä. gemeint sein. Rosenfeld, Totentanz, S. 94. Da hier Holzschnitte mit einem handschriftlichen Text verbunden wurden, handelt es sich genaugenommen nicht um ein Blockbuch, sondern um ein chiro-xylographisches Erzeugnis. Angabe nach Hammerstein, Tanz und Musik, S. 153. Goette hält die Holzschnitte für älter und datiert sie auf die vierziger Jahre des 15. Jahrhunderts (vgl. Goette, S. 103). Schreiber da-
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Einzeluntersuchungen
macht den Überlieferungsträger zu einer Besonderheit. Es wurde festgestellt, daß die Bilder ursprünglich selbst mit einem xylographischen Text versehen waren, der aber abgeschnitten wurde. Ein Fragment davon, die Verse des Ritters, tauchte allerdings wieder auf, weil der Buchbinder es zum Überkleben verwendet hatte. Es handelt sich ebenfalls um den oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text, allerdings mit mundartlichen Unterschieden zu dem handschriftlichen Text, mit dem die Bilder später verbunden wurden.743 Verschiedene Hypothesen zum Zustandekommen dieses Werks wurden geäußert. So meinte Goette, die Handschrift sei für Bilder eingerichtet gewesen, die nicht gleich zur Stelle waren und dann später hinzukamen. Der Schreiber könne die Bilder und ihre Herkunft aber nicht vorher gekannt haben, sonst wäre es nicht besonders sinnvoll gewesen, die Verse abzuschneiden, nur um sie im Prinzip durch denselben, nur in einem etwas anderen Dialekt verfaßten Text wieder zu ersetzen.744 Layet dagegen vermutet genau das, was Goette für abwegig hielt. Er rekonstruiert: Einzeluntersuchungen
In den sechziger Jahren des 15. Jahrhunderts besaß ein Bayer eine Sammelhandschrift, heute Xyl. 39 genannt, die noch viele leere Seiten hatte. Er erwarb ein alemannisches Blockbuch mit einer bebilderten Version der oberdeutschen Totentanztradition. Er übersetzte den alemannischen xylographischen Text, von den heutigen Forschern OBD-M4 genannt, ins Mittelbayrische, schrieb die so entstandene Totentanztextversion [...] in die Handschrift Xyl. 39 und ließ die Rückseiten frei, um Illustrationen darauf zu kleben. Dann schnitt er die Textversion OBD745 M4 weg und klebte die Bilder aus dem Blockbuch in die Handschrift ein.
Wie auch immer es zu der speziellen Kombination gekommen sein mag – der genaue Vorgang ist für die Untersuchung der Text-Bild-Beziehungen relativ unwesentlich, da sowohl der ursprüngliche xylographische als auch der spätere handschriftliche Text beide den oberdeutschen vierzeiligen Totentanz wiedergaben, offenbar nur dialektal unterschieden. Die Illustrationen des Münchner Blockbuches weichen von denjenigen des Heidelberger Druckes stark ab, obwohl beide demselben Text zugesellt sind – wiederum ein Beleg für die Hypothese, daß die Textüberlieferung oftmals weitaus weniger ausdifferenziert ist als die zugehörigen Bildausprägungen. Auf den Münchner Holzschnitten sind die Paare vielfach sitzend in einer Art Disput abge-
743
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tiert auf einen Zeitraum zwischen 1465 und 1470 (vgl. Schreiber, Manuel, S. 433) und bezieht sich damit anscheinend auf das originale Blockbuch, aus dem die Bilder ausgeschnitten wurden. Damit wird das Münchner Blockbuch chronologisch in die Nähe des Heidelberger Blockbuches gestellt, das Schreiber für etwas älter hält (vgl. ebd.). Bei Rosenfeld fallen die Jahreszahlen 1446 (in Bezug auf die Texte) und 1480 (zu den Bildern), jedoch ohne nähere Begründung (vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 94). Layet führt eine aus neueren Untersuchungen hergeleitete Datierung des handschriftlichen Textes in das dritte Viertel des 15. Jahrhunderts an (vgl. Layet, Münchner Blockbuch, S. 83). Der wiedergewonnene Text des Ritters ist nachzulesen bei Layet, Münchner Blockbuch, S. 92. Die Sprache identifiziert Layet als alemannisch (vgl. ebd., S. 93), während er den handschriftlichen Text, dem die Bilder später zugesellt wurden, für bairisch mit alemannischem Einfluß hält (vgl. ebd., S. 83f.). Vgl. Goette, S. 103. Layet, Münchner Blockbuch, S. 93f.
Das Münchner Blockbuch
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bildet, möglicherweise beeinflußt von der Tradition der Streitgespräche, z.B. zwischen Leben und Tod, in deren Umkreis auch der Ackermann von Böhmen gehört.746 Rosenfeld interpretiert diese Darstellungsweise allerdings abweichend: Es ist ein äußerst ungeschickter Versuch, der Vereinzelung der Totentanzpaare durch szenische Darstellung eine neue Nuance zu geben: dem Illustrator schwebte also etwa das vor, was dann 747 Holbein in souveräner Weise durchgeführt hat [...].
Diese Form der Darstellung werde „in keiner Weise dem aufrüttelnden Ernst des Totentanzes gerecht“;748 auch Goette meint ähnlich, dem Illustrator sei „die Bedeutung des Totentanzes nicht völlig klar“.749 Ob man nun so weit gehen muß, bleibe dahingestellt; jedenfalls sei festgehalten, daß die Münchner Bildformulierung von allen anderen Illustrationen in einigen signifikanten Zügen abweicht. Diese pauschale Behauptung soll aber nun noch mit einigen Einzelbetrachtungen untermauert werden. Es trifft nämlich keineswegs zu, daß Tod und Mensch überall in der disputierenden Haltung dargestellt sind, sondern es gibt auch Illustrationen, auf denen der Tod tanzt. Leider ist das Münchner Blockbuch der Forschung nicht zugänglich, und Reproduktionen gibt es nur zu einigen wenigen Bildern. Es existiert aber eine sehr ausführliche Bildbeschreibung von Schreiber, auf die man sich stützen kann.750 Sie ist natürlich kein Ersatz für eine Betrachtung des Originals, aber in Ermangelung dieser Möglichkeit können Schreibers Ausführungen doch zur Klärung einiger Details dienen. Zunächst einmal zum Aufbau des Totentanzes: In dieser Fassung findet sich die traditionelle Rahmung durch zwei Prediger, deren erster auf einer Kanzel dargestellt ist, vier Ständevertreter belehrend (erkennbar sind Papst, Kaiser und König; die vierte Figur identifiziert Schreiber als „chevalier“751). Der zweite Geistliche predigt nach Schreiber vor einer Ansammlung von 22 Totenschädeln,752 von denen einige mit standestypischen Kopfbedeckungen versehen sind. Dazwischen befinden sich die 24 Paare von Tod und Mensch. Das Münchner Blockbuch
Besonders interessant sind am Münchner Blockbuch die Beziehungen zwischen Bild und Text. Es handelt sich um einen Fall, in dem sich eindeutig der Illustrator nach dem ihm offenbar vorliegenden oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text 746 747 748 749 750 751 752
Vgl. Anm. 193. Rosenfeld, Totentanz, S. 94. Ebd. Goette, S. 108. Eine genaue Beschreibung der Handschrift bietet die rezente Untersuchung von Layet. Schreiber, Manuel, S. 435. Man wundert sich an dieser Stelle ein wenig, warum nicht 24 Totenschädel abgebildet sind. Vielleicht kann man die Anzahl auf der Abbildung nicht eindeutig erkennen, oder es war gar nicht beabsichtigt, eine genaue Entsprechung zu den 24 Ständevertretern herzustellen, denn die Bedeutung der Illustration wird auch so hinreichend klar. Jedenfalls handelt es sich auch bei dieser Bildidee um einen originellen Einfall des Künstlers des Münchner Blockbuches, was noch einmal seine relative Unabhängigkeit von der restlichen ikonographischen Tradition (ob aus Unkenntnis oder gewollt) bezeugt.
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Einzeluntersuchungen
richtete. So einfach die Holzschnitte ihrer Form nach sind, so genau verwirklichte der Reißer doch den durch die Verse vorgegebenen Inhalt. Zuweilen hat man den Eindruck, daß er sich geradezu sklavisch an die Aussage der Strophen hält. Dies gipfelt in der mehrfach in der Forschung zitierten Stelle des Ritters, zu dem der Tod im Text sagt: Her ritter, ir seid angeschriben (Nr. XII).753 Auf der Illustration weist der Tod dem Ritter eine Liste vor, auf der er offenbar (zum Sterben) eingetragen ist. Rosenfeld bemerkt zur Stelle: Einzeluntersuchungen
Angeschriben sin heißt „verpflichtet sein“. Der Illustrator nimmt es ganz wörtlich als „aufgeschrieben sein“: bei ihm hält der Tote dem Ritter eine Liste vor die Augen, um ihm vorzuwei754 sen, daß er auf der Liste derer stehe, die mit dem Tode kämpfen müssen [...].
Ganz ähnlich ging der Künstler beim Juristen vor, zu dem der Tod sagt: Das urteil ist also gegeben,/ Das ir lenger nit solt leben (Nr. XIII). Dazu paßt, was Schreiber über den zugehörigen Holzschnitt sagt, wo der Tod dem Juristen anscheinend das schriftliche Urteil zugestellt hat: Der Jurist „est assis sur son siège et fait la lecture d’un arrêt.“755 An anderen Stellen hält der Illustrator sich peinlich genau daran, wenn im Text ausgedrückt wird, daß der Tod seine Opfer bei der Hand nimmt (so bei Kaiser und König). Auch Instrumente werden erwähnt. Her pabst, merkt auf der pfeifen ton (Nr. I) spiegelt sich im Bild in einem Dudelsack; der Chorherr hat sich laut Text vor der Pfeife des Todes erschreckt – Schreiber bezeichnet sein Gebaren auf dem Bild entsprechend als „effrayé“756 –, die der Illustrator ebenfalls abbildet (Schreiber spricht von einer „flûte“,757 welche Art Flöte hier gemeint ist, bleibt aber unklar); auch bei der Edelfrau ist die Rede von einer Pfeife, und auch diese bildet der Reißer getreu ab.758 Des weiteren zeigt er den Tod in Bewegung, wenn der Text dies ausdrücklich verlangt, so z.B. bei der Kaiserin (Ich tanze euch vor, frau keiserin, Nr. III), beim Kaufmann (Tanzt mir nach, Nr. XVIII) und beim Abt (ebenfalls mit der Formulierung Tanzt mir nach, Nr. XI). Hier und dort wird versucht, einzelne Textaussagen im Bild auch noch einmal hervorzuheben, etwa beim Bischof, den der Tod am Mantel gepackt hat, so daß dieser vergeblich versucht, sich zu entziehen; hierzu mag der Illustrator durch die Formulierung des Todes Ich wil euch an den reien ziechen,/ Da ir dem tod nit mügt entfliechen (Nr. IX) inspiriert worden sein. Auch bei den rahmenden Predigerfiguren versuchte der Reißer anscheinend, in die Bilder Referenzen auf die Texte einzubauen. Die erste Predigt beginnt mit den Worten O diser welt weisheit kind,/ Alle die noch im leben sind, wohingegen die abschließende zweite Predigt komplementär eröffnet wird, indem es dort heißt: O Einzeluntersuchungen
753 754 755 756 757 758
Mangels einer eigenen Edition des Münchner Blockbuchs wird der Text im folgenden zitiert nach Fehse, Obd. vierz. Totentanz-Text, S. 83-90. Rosenfeld, Totentanz, S. 94. Schreiber, Manuel, S. 438f. Ebd., S. 439. Ebd. An dieser Stelle war dem Illustrator des Heidelberger Blockbuches eine Ungenauigkeit unterlaufen, denn es ist kein Instrument abgebildet. Hier wie auch an anderen Stellen verfuhr der Münchner Zeichner genauer.
Das Münchner Blockbuch
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ir tödlichen menschen all. Diesen Gegensatz wollte der Illustrator offenbar auch in seinen Bildern ausdrücken, indem er den ersten Geistlichen vor lebenden Ständevertretern, den zweiten Prediger hingegen vor deren Totenschädeln abbildete. Insgesamt handelt es sich beim Münchner Blockbuch um eine TotentanzIllustration, die überaus genau auf die Korrespondenzen zwischen Bild und Text ausgerichtet ist, weitaus stärker, als es z.B. das Heidelberger Blockbuch zeigt. Dies beweist u.a. eindeutig, daß fehlender Detailreichtum keineswegs ein Hindernis für die präzise Verknüpfung der Zeichensysteme darstellen muß. Daneben demonstriert dieser Sachverhalt, daß der Zeichner – so naiv seine Vorgehensweise an einigen Stellen auch anmutet – doch genügend Gespür für die Wichtigkeit der Verbindung von Text und Bild mitbrachte, indem er ausgeprägt Wert darauf legte, Verse und Holzschnitte eng miteinander zu korrelieren.759 Dennoch soll nicht verschwiegen werden, daß es auch zu Diskrepanzen zwischen Bild und Text kommt, etwa beim Papst, dessen Abbildung trotz der im Text recht deutlich angesprochenen Tanzmotivik (der Tod sagt zu ihm: Her pabst, merkt auf der pfeifen ton,/ Ir sullet darnach springen schon, Nr. I) ausgesprochen statisch ausfällt. Allerdings wird die Text-Bild-Korrespondenz hier ja durch das Instrument gewährleistet. Des weiteren fällt auf, daß zur Darstellung des Todes ein anderer ikonographischer Typ gewählt wurde als im Heidelberger Blockbuch. Die Todesfiguren erscheinen reichlich mit Verwesungsgetier behangen, das sich auf die verschiedensten Arten um die entfleischten Körperteile herumrollt oder aus ihnen hervorbricht; Schreiber spricht zumeist von Würmern760 oder benutzt undifferenziert die Bezeichnung „reptile“, an einer Stelle kommt aber auch eine übergroße Kröte vor („un crapaud énorme“,761 beim Kaufmann). Diese Beschreibungen erinnern somit eher an den Stil des Knoblochtzer-Drucks. Außerdem wird der Tod nicht mit leeren Augenhöhlen gezeigt, sondern besitzt eine Andeutung von Augäpfeln. Der Rhythmus des Reigens kommt bei der gewählten Form der Darstellung insgesamt ziemlich zum Erliegen, denn der Tod wendet sich zwar zuweilen, aber keineswegs immer mit seinen Opfern nach links; und besonders bei den disputierenden, auf Schemeln sitzenden Gestalten kann man nicht mehr von „Tanzpaaren“ sprechen. Daraus resultiert eine stärkere Vereinzelung der Paare als im Heidelberger Blockbuch, vermutlich ein Zugeständnis des Künstlers an die Buchform. Das ist es wohl auch, was Rosenfeld meint, wenn er diesen Totentanz als eine Art Vorstufe zu Holbein bezeichnet (s.o.). Die Zerstückelung des Reigens Das Münchner Blockbuch
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760 761
Layets Urteil – „Die potentiellen Käufer seines [des Künstlers] Blockbuches interessierten sich vor allem für die berühmten oberdeutschen Verse. Die Bilder waren nur eine Veranschaulichung des Textes“ (Layet, Münchner Blockbuch, S. 92) – ist nach meiner Ansicht unzutreffend. Ich halte Text und Bild im Münchner Blockbuch (wie überhaupt im Großteil aller Totentänze) für absolut gleichwertig, was allein schon daran zu erkennen ist, daß den Bildern optisch genauso viel Raum zugestanden wird wie den Versen, wie dies auch für das Heidelberger Blockbuch konstatiert werden kann (vgl. Abschnitt 3.3.1.2.). Es könnte sich natürlich auch um Schlangen handeln; bei einigen dieser Kreaturen fällt jedoch auf, daß sie oben am Kopf Auswüchse besitzen, die beinahe wie kleine spitze Ohren aussehen. Dies ist auf den wenigen in Reproduktion bekannten Bildern recht gut zu sehen. Schreiber, Manuel, S. 440.
Einzeluntersuchungen
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war jedoch nicht erst die Idee Holbeins, sondern ist schon im Basler Totentanz angelegt.762 Daß dennoch „die Semantik der Prozession nicht völlig verschwunden ist“, macht Layet u.a. an den Relikten der Tanzmotivik fest, die überall dort im Bild auftaucht, wo „der Text sehr eindeutig die Haltung des tanzenden Todes erwähnt“,763 wie oben anhand einiger Beispiele nachgewiesen wurde. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Münchner Blockbuch, wenngleich es in der Forschung keine prominente Stellung einnimmt und nur selten tiefergehend betrachtet wird, doch ein lohnendes Objekt bildet und gerade für die Text-BildThematik viele Erkenntnisse zu bieten hat. Eine vollständige Veröffentlichung in Form von Reproduktionen aller Bilder wäre in jedem Falle wünschenswert, um das Werk einer größeren Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen sowie die geäußerten Thesen und Vermutungen verifizieren und weitere Detailuntersuchungen anstellen zu können. Einzeluntersuchungen
3.3.1.4. Ein Sonderfall: Der Gossembrot-Totentanz Ein Unikum unter den Totentänzen stellt in mancher Hinsicht eine Handschrift aus dem Besitz des Augsburger Humanisten Sigismund Gossembrot dar. Es handelt sich um eine der Sammelhandschrift Clm 3941 (ca. 1480764) eingebundene Lage, deren Text sowie Federzeichnungen nicht von Gossembrot selbst stammen, sondern von fremder Hand sind, die Gossembrot aber mit einigen Randbemerkungen und zusätzlichen Erklärungen versehen hat. Der auf acht Blättern eingetragene Totentanz ist sowohl in bildlicher als auch in textlicher Hinsicht etwas Einzigartiges. Dargestellt ist ein Gruppentotentanz, d.h. Tod und Mensch sind nicht als alternierende Tanzpartner abgebildet, sondern auf jeder der acht, als fortlaufende Reihe an den oberen Rändern der Seiten konzipierten Illustrationen zieht der Tod mehrere, meist fünf menschliche Gestalten hinter sich her. Am Beginn des Reigens sieht man einen Prediger auf der Kanzel, dem vier Geistliche gegenübersitzen, dann folgen zwei menschliche Musikanten,765 und schließlich tritt der Tod mit den jeweils hinter ihm aneinandergereihten Ständevertretern auf. Der Tod ist dabei, wie fast überall, als Hautskelett dargestellt; der Reigen führt – ebenfalls gattungstypisch – nach links. Am Ende befin-
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Vgl. Layet, Münchner Blockbuch, S. 86: „Der für die spätmittelalterlichen Totentänze charakteristische Rhythmus der Prozession, der sich von Bild zu Bild fortführt, ist in OBD-M4 gebrochen. Man kann jedes Bild dieses Blockbuches als selbständige Szene bezeichnen [...]. Es fehlt aber in diesen Holzschnitten ein detaillierter Hintergrund (wie zum Beispiel im Totentanz von Holbein), der den Tod plötzlich mitten im Alltag seiner Opfer erscheinen lassen würde.“ Ebd., S. 88f. Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 150. In den meisten Totentänzen fällt dem Tod, nicht den Menschen die Aufgabe des Musizierens zu. Deshalb handelt es sich hier um eine erwähnenswerte Ausnahme.
Der Gossembrot-Totentanz
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den sich die von epilogartigem Text begleiteten Abbildungen eines Leichnams im Grab sowie eines aufrechtstehenden, von Schlangen umzüngelten Kadavers.766 Bei dem Text handelt es sich jedoch nicht um reine Totentanzverse. Verstehen läßt er sich nur, wenn man seine Herkunft kennt. Es ist dies nämlich ein in der einschlägigen Forschung als „Eine Vermahnung der geistlichen und weltlichen Stände Deutschlands“ bekannter Text, der aus dem Umkreis der Artes-Literatur stammt und jüngst von Stolz einer genauen Analyse unterzogen wurde.767 Die Fassung bei Gossembrot ist eine verkürzte und bearbeitete Version eines älteren, vermutlich von 1438 - 1450768 stammenden Textes, der anhand verschiedener recht komplizierter Strukturprinzipien aufgebaut ist. Zugrunde liegt der Gedanke einer Schule, in der die Herrschenden ihre Untertanen unterrichten. Diese wiederum verklagen die ihnen Übergeordneten der fehlerhaften Herrschaftsausübung bei dem als Richter fungierenden Tod. Die weltlichen und geistlichen Ständevertreter und ihre Wechselreden sind daneben unter Rückgriff auf die sieben freien Künste, das Schachspiel sowie das Schulwesen als Ordnungskriterien organisiert. In der Gossembrot-Fassung spielt allerdings das Schachspiel als Analogie keine Rolle mehr. Dafür fügte Gossembrot weitere (allegorische) Komponenten hinzu; so weist er den Kontrahenten teilweise zusätzliche Bezeichnungen im Sinne einer Psychomachie zu, z.B. Luxuria versus Castitas oder Acedia gegenüber Spirituale gaudium. Der Gossembrot-Totentanz
Insgesamt handelt es sich bei dem vorliegenden Text um ein recht kompliziertes Gebilde, das auch noch mit Versatzstücken aus der Totentanz-Tradition angereichert wurde. So finden sich einige Stellen, die Kenntnisse des oberdeutschen vierzeiligen Totentanztextes zu verraten scheinen, z.B. die folgenden Verse: O cardinal mit deynnem hut/ Du weist wol was der alfancz tut769 (V. 95f.) oder (an den Erzbischof gerichtet) Du lerst weder pfaffen noch leyen/ An meynnem tancz furstu den reyen (V. 57f.). Diese Stellen erinnern an die Wendungen Springet auf mit euerm roten hut,/ Her kardinal, der tanz ist gut./ Ir habt gesegnet wol die leien,/ Ir müßt nun mit den toten reien (Nr. V) aus dem oberdeutschen vierzeiligen Totentanz. Die Schlußpredigt, beginnend mit den Worten O werlt nu sihe hie gancz an mich/ Du wirst geschaffen gleich als ich (V. 209f.) ist ebenfalls deutlich nach dem Muster anderer Totentänze gestaltet, man vergleiche etwa den oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text oder den mittelrheinischen Totentanz. Besonders stark ist interessanterweise die Reminiszenz an die sogenannte „Dritte Predigt“, 766 767 768 769
Der Tote im Grab erinnert an die ähnliche Bildformulierung bei Knoblochtzer, während der stehende Tod mit Verwesungsgetier an eine Abbildung aus dem Münchner Blockbuch denken läßt. Stammler hielt es für möglich, daß die Bilder das Zeugnis eines ehemals in Augsburg vorhandenen monumentalen Totentanzes seien; es kursierte auch die Bezeichnung „Augsburger Totentanz“ (vgl. Stammler, Totentanz, S. 48-50). Vgl. Stolz, S. 579. Ich zitiere nach der Edition bei Stolz (S. 733-756), die im Gegensatz zu derjenigen Stammlers auch die Anmerkungen Gossembrots in vollem Umfang bietet.
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Einzeluntersuchungen
die nur eines der Manuskripte des oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Textes enthält, und wo es heißt: O mensch sich an mich/ Waz du pist daz waz ich/ Ouch sich wy recht jämsleich/ Dy wuerm peissnt vmb mein fleisch […].770 Diese Anrede stellt übrigens ein Komplement zum Prolog des Textes dar, der mit den Worten beginnt: O mensch nu merck nu hie in gedicht […] (V. 1). Daß Gossembrot die Totentanzliteratur durchaus in der Breite bekannt gewesen sein dürfte, weisen verschiedene Randbemerkungen aus, die sich auf andere Text- und Bildzeugnisse dieses thematischen Umkreises aus Gossembrots Bibliothek beziehen. Der Hinweis auf den lateinisch-deutschen Mischtext wurde bereits an anderer Stelle erwähnt.771 Aufgrund der Tatsache, daß sich die Illustrationen zwar durchaus in den Rahmen der übrigen Totentanz-Überlieferung einfügen – wenngleich Gruppen-Totentänze relativ selten sind –, die zugehörigen Texte jedoch im Grunde aus einem anderen Motivkreis stammen, sind im vorliegenden Fall verhältnismäßig wenig Text-BildKorrespondenzen zu beobachten. Die Text- und Bildanteile sind nicht einmal layout-technisch eindeutig einander zugeordnet, was z.B. die Sprecherwechsel etc. betrifft. Vielleicht sind deshalb auch zur Verdeutlichung inquit-Formeln eingefügt (z.B. Der tod spricht zu dem keýser – Der keser spricht – Der vntertan Antwort). Die Tatsache, daß der aus der Artes-Literatur stammende Text hier für Todesdidaktik instrumentalisiert und von Gossembrot auch noch zusätzlich so ausgestaltet wird,772 sorgt für eine gewisse Überschneidung der Aussageebenen von Text (Artes-Literatur) und Bild (Totentanz). Jedoch ist die Anbindung der Dialogverse an das Bild schwächer als in anderen Ausprägungen, die eher dem „Idealschema“ eines Totentanzes mit abwechselnden Sprechszenen zwischen Tod und Mensch entsprechen. Textanteile wie die Zwölfsilber, die auf die Begründer der verschiedenen Künste rekurrieren (z.B. Der pictagoras Arismetrica der lert/ Den kauffmon der durch czal mit seyn hantrung lert, V. 179f.) finden im Bild wenig Entsprechung und sind nur insofern an die visuelle Darstellung gekoppelt, als die menschlichen Figuren mit entsprechenden Attributen bestückt sind, die sie als Vertreter der jeweiligen Ars ausmachen.773 So tragen z.B. die Kaufleute u.a. eine Waage und einen Zollstock. Dennoch gehen Text und Bild auch hier Verbindungen ein. Im Falle der weiblichen Figur mit dem Spruchband Das war von dem falschen wird der Text z.B. direkt in die Zeichnung inkorporiert.774 Interessanterweise werden sogar einmal die Bezeichnung ‚Totentanz’ und diverse andere Male die Worte ‚tanzen’ oder Einzeluntersuchungen
770 771 772 773 774
Zitiert nach dem Abdruck bei Maßmann, Baseler Todtentänze. Vgl. Kapitel 3.3.1.1. Vgl. Stolz, S. 621: „Die Artes-Mnemonik des Grundtextes tendierte unter Gossembrots Händen dazu, in eine Ars moriendi überzugehen.“ Stolz weist nach, daß die Frauengestalten, die sich jeweils am Ende der Menschengruppen befinden, vermutlich als Personifikationen der verschiedenen Artes aufzufassen sind. Zur Bedeutung des Spruchbandes siehe Stolz, S. 598.
Der Basler Totentanz
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‚Reigen’ mit in den Text aufgenommen und binden diesen damit stärker an die bildliche Komponente an.775 Ausgeprägter ist der Zusammenhalt von Bild und Text dagegen bei den predigthaften Anteilen, besonders am Ende des Totentanzes. Die Zeichnung des verwesenden Leichnams im Grabe ist mit einer Ermahnung verbunden, die mit den Worten O werlt nu sihe hie gancz an mich (V. 209) beginnt und damit ganz deutlich auch die somit als Exempel776 gekennzeichnete Illustration miteinbezieht und auf sie verweist, wie man dies schon aus anderen Totentänzen kennt. Die auf das Bild rekurrierende Aufforderung sihe […] an mich wird dabei flankiert von den auf die verbal übermittelten Lehren zu beziehende Formulierung Du hast gehort alle diese wort (V. 219). Die Gossembrot-Handschrift ist in jedem Fall als ein weiteres Indiz für die prinzipielle Offenheit der Gattung ‚Totentanz’ zu werten, die hier eine Verbindung mit einem anderen Genre eingeht, wodurch es wieder zu einer ganz neuen Kombination von Bild und Text kommt. Diese ergeben hier allerdings kein ganz lükkenloses und stimmiges Miteinander, sondern lassen Brüche erkennen. Stolz spricht von einem „Klitterungsprinzip“, das sich sowohl „auf Text- wie auf Bildebene“ zeige.777 Der Basler Totentanz
3.3.2. Die Basler Totentänze Im folgenden Kapitel werden der Basler Totentanz auf dem Predigerkirchhof und das Wandgemälde im Kloster Klingental z.T. gemeinsam behandelt, denn angesichts der Tatsache, daß die Klingentaler Malerei nach Erkenntnissen der jüngeren Forschung eine Nachbildung des Basler Gemäldes darstellt, bietet sich ein solches Vorgehen als einzig sinnvolle Methode an. Eine genaue Trennung kann schon deshalb nicht vorgenommen werden, weil erstens eine Reihe von Erkenntnissen für beide Totentänze Gültigkeit besitzt und weil zweitens das Klingentaler Bild herangezogen werden muß, um – innerhalb gewisser Grenzen – auf den ursprünglichen Zustand der Basler Malerei schließen zu können. Der genaue Vergleich zwischen beiden Denkmälern ist folglich unverzichtbar und bedingt daher eine enge Verknüpfung bei ihrer Untersuchung. Aus derartigen Vorüberlegungen folgt zwangsläufig die Einsicht, daß es in Hinsicht auf bestimmte Aspekte unangemessen wäre, unterschiedslos von „dem“ Basler Totentanz zu sprechen, wie dies in der Forschung gelegentlich gehandhabt 775 776 777
Z.B.: An meynnem tancz furstu den reyen (V. 58), Noch muß ich an den Totentancz (V. 94), Jch tancz mit dir jn grýmmen zoren (V. 178). In diese Richtung weist auch die zweite Strophe: Der frey will der jr [= der Seele] geben ist/ Auß eben pild hie lert vnd list/ Das gaistlich vnd das werntlich reht/ Auß peyspil hie ein schul anueht (V. 5-8). Stolz, S. 610, vgl. auch S. 621: „In der ‚Vermahnung’ treffen die sieben freien Künste auf den Gattungsbereich des Totentanzes, wobei die Konfrontation von den eigentümlichen Ambivalenzen dieser Gattung lebt.“
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wird. Es ist nötig, zu differenzieren, von welcher Fassung des Basler Totentanzes man jeweils spricht, denn letzten Endes zeigt das Gemälde in Klingental auch nichts anderes als den Basler Totentanz, allerdings in einem früheren Erscheinungsbild. Aus diesem Grund wurde im Titel des vorliegenden Kapitels auch der Plural verwendet. Wenn des öfteren dennoch ohne nähere Angaben vom „Basler Totentanz“ die Rede ist, meine ich damit das Gemälde auf dem Predigerkirchhof, das vorwiegend in der Fassung von Merians Kupferstichen bekannt wurde. Das ursprüngliche Gemälde des Spätmittelalters auf der Friedhofsmauer ist verloren, ein weiterer Grund, weshalb „der Basler Totentanz“ schlechthin notwendig ein Konstrukt bleiben muß. Verwendet man diese Bezeichnung, ist stets ein ganzer Umkreis unterschiedlicher Kopien, Fassungen und Bearbeitungsstufen mitgedacht, von denen jede auf ihre Weise zur Erhellung des Themas beitragen kann. Es zeigt sich jedoch eine derartige Verknüpfung und gegenseitige Abhängigkeit der Versionen untereinander, daß sich keine von ihnen aus dem Kontext der anderen herauslösen läßt. Dieser Sachverhalt macht die Erforschung der Basler Totentänze zu einer außergewöhnlichen Herausforderung und bedingt eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand.
3.3.2.1. Der Basler Totentanz auf dem Friedhof der Predigerkirche – Überblick „Die Würdigung [des Basler Totentanzes] muß überwiegend eine Problemstellung sein.“778 Diese 1966 von Maurer geäußerte Feststellung ist auch heute trotz des Weiterschreitens der einschlägigen Forschung noch uneingeschränkt gültig. Der Basler Totentanz, neben dem Lübecker Gemälde wohl das bekannteste Exemplar der Gattung im deutschsprachigen Raum, stellt jegliche Untersuchung vor eine Reihe von Hindernissen, angefangen mit der Tatsache, daß das Gemälde selbst nur in 19 Fragmenten, größtenteils Brustbildern von Figuren, erhalten ist. Dazu kommt, daß der Totentanz mehrfach restauriert und dabei offenbar stellenweise bis zur Unkenntlichkeit übermalt wurde; leider zeigt keine der zahlreichen Kopien, die davon angefertigt wurden, das Bild im Originalzustand. Dabei ist allgemein die Überlieferungslage nicht nur schlecht, sondern dank verschiedener, sich zum Teil widersprechender Zeugnisse auch mitunter verwirrend. Zahlreiche Publikationen beschäftigen sich mit diesem Totentanz, der zweifellos zu den bekanntesten seiner Art gehört. Die Autoren kommen bei ihren Untersuchungen mitunter zu den verschiedensten, gelegentlich untereinander unvereinbaren Ergebnissen und oftmals lediglich auf Mutmaßungen beruhenden Schlußfolgerungen. Zwar ist einzugestehen, daß manche Fragestellungen notwendigerweise nur zu hypothetischen Ergebnissen führen können, weil mangels Originalmaterials nicht immer Überprüfbarkeit gegeben ist. Dennoch muß natürlich eine größtmögliche Absicherung von Vermutungen durch Einbeziehung aller Einzeluntersuchungen
778
Maurer, S. 307.
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verfügbaren Ressourcen und Vergleich der Quellen untereinander angestrebt werden. Der Basler Totentanz, gelegentlich auch Großbasler oder Prediger-Totentanz genannt,779 befand sich auf der Innenseite der Mauer, die den zum Dominikanerkloster gehörigen Laien-Friedhof begrenzte, und zwar auf deren nördlicher Partie.780 Er war etwa 57,6 m lang und ungefähr 1,5 m hoch.781 39 Tanzpaare bewegten sich, am rechten Ende von einem Sündenfall ausgehend, nach links auf ein Beinhaus und eine Predigerszene zu. Den einzelnen Figuren waren vierzeilige Strophen beigefügt; am Anfang und Ende des Gemäldes befanden sich zusätzlich Inschrifttafeln. Die Entstehungszeit des Gemäldes wurde in der Forschung sehr kontrovers diskutiert. Die weitverbreitete Ansicht, das Bild sei im Zuge des Basler Konzils der Jahre 1431 bis 1448 angefertigt worden, im Zusammenhang mit der 1439 in Basel ausgebrochenen Pestepidemie, geht auf Merian zurück, der sich in der Vorrede zu seiner Kupferstich-Ausgabe des Totentanzes folgendermaßen äußert: Das Werk sei Der Basler Totentanz
bey Zeiten Kysers Sigismundi in dem grossen Concilio allda gestifftet worden von denen anwesenden Vttern und Prlaten/ zur Gedchtnuß deß grossen Sterbens oder Pest/ so allda Anno MCDXXXIX. in noch wehrendem Concilio grassirt/ vnd sehr viel Volcks weggerissen hat/ dar782 unter auch etliche vornehme Herren Cardinl vnnd Prlaten waren [...].
Merian beruft sich hier vermutlich auf alte mündliche Überlieferung;783 keine dieser Angaben ist jedoch zweifelsfrei verbürgt. Egger beleuchtet den geschichtlichen Hintergrund kritisch und kommt zu dem Schluß, die historischen Gegebenheiten der frühen Konzilsjahre (1431-1435/36) seien als Entstehungsdatum wahrscheinlicher als die von Merian angegebene Jahreszahl.784 Des weiteren weist er darauf hin, daß die Anfertigung von Totentänzen durchaus nicht zwingend mit dem Datum einer Pestepidemie koinzidieren 779
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Die Benennung „Großbasler Totentanz“ wird in der Forschung häufig verwendet, um dieses Gemälde vom Klingentaler Totentanz abzusetzen, der zuweilen unter dem Namen „Kleinbasler Totentanz“ aufgeführt wird, da Klingental als „Minderes Basel“ oder „Kleinbasel“ bekannt ist. „Prediger-Totentanz“ heißt das Basler Gemälde auch, weil das Kloster, auf dessen Friedhof es sich befand, den Predigermönchen bzw. Dominikanern gehörte. Die Ausrichtung nach Norden mag durch die Gegebenheiten des Friedhofsgeländes zustande gekommen sein, paßt aber in jedem Fall zum theologischen Hintergrund des Totentanzes; vgl. hierzu Abschnitt 2.3.4. Angaben nach Maurer (S. 304), der sich auf Büchel beruft. Vorrede an den Christlichen Leser, S. 10f. (vgl. den Abschnitt über Merians Totentanz-Kopie weiter unten). Vgl. Egger 1990, S. 35. Wüthrich betrachtet allerdings gerade die Tatsache, daß Merians Angaben wohl auf „direkter“ mündlicher Überlieferung beruhen, als Indiz für Glaubwürdigkeit, denn Merians Beschäftigung mit dem Totentanz habe „weniger als 200 Jahre nach seinem Entstehen“ stattgefunden (vgl. Wüthrich, S. 349). Das bedeutet allerdings schon eine Weitergabe der Fakten über diverse Generationen hinweg und somit m.E. eine relativ hohe Anfälligkeit für falsche oder zumindest ungenaue Tradierung; von „direkter“ Überlieferung kann man hier eigentlich nicht mehr sprechen. Vgl. Egger 1990, S. 35.
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Einzeluntersuchungen
müsse: „[...] sie können – nachdem der Typus einmal geschaffen war – ebenso gut durch die allgemeine Zeitstimmung hervorgebracht worden sein.“785 Merians Angaben, die unhinterfragt von vielen Forschern zitiert werden, sollten daher mit Vorbehalt betrachtet werden.786 Ebenfalls auf Merian gehen die später oftmals unkritisch reproduzierten Personenzuschreibungen zurück: Die Figuren von Papst, Kaiser und König stellen angeblich Felix V., Sigismund und Albert II. dar.787 Auch der Künstler ist unbekannt – Merian äußert, es sei einer der „besten Mahler“ gewesen, „dessen Nahmen man doch nicht wissen kan“.788 Verschiedentlich wurde versucht, die Urheberschaft auf den Basler Meister Konrad Witz zurückzuführen, so u.a. mittels Stilanalyse durch Boerlin,789 doch gibt es auch Gegenargumente.790 Auf ein Mißverständnis des 16. Jhs. geht der gelegentlich anzutreffende und vor allem in der frühen einschlägigen Literatur verbreitete Glaube zurück, der Basler Totentanz sei ein Werk von Holbein.791 Überliefert sind einzig die Namen der Restauratoren. Für das Jahr 1568 ist eine Erneuerung durch Hans Hug Kluber (oder Klauber792) bezeugt, eine zweite Auffrischung durch Emanuel Bock fand 1614-1616 statt – kurz bevor Merian den Basler Totentanz abzeichnete. Es folgten eine weitere Restaurierung durch Hans Georg Meyer und Samuel Wurstisen in den Jahren 1657/58 sowie eine erneute Übermalung 1703, ausgeführt von den Brüdern Benedikt und Hans Georg Becker.793 Danach fanden keine konservatorischen Maßnahmen mehr statt, und das Einzeluntersuchungen
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Egger 1990, S. 35f. Die meisten in der Forschung vorgetragenen Datierungen des Basler Totentanzes weichen nur um wenige Jahre voneinander ab: Koller datiert aufgrund verschiedener historischer Hintergrundereignisse (u.a. wegen der auch von Merian erwähnten Pestepidemie) auf das Jahr 1439 (vgl. Koller, S. 523-525); Hammerstein spricht sich für eine Entstehungszeit „um 1445“ aus (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 183); Cosacchi nennt pauschal die Mitte des 15. Jhs. (Cosacchi, S. 759); Schulte hält den Zeitraum von 1439-1445 für plausibel (Schulte, Totentänze, S. 173). Zuverlässig erscheint in jedem Fall die Begründung Boerlins für seine Datierung um 1440, denn er stützt sich auf den kunsthistorischen Befund der von den Übermalungen befreiten Bruchstücke (vgl. Boerlin, S. 134); unter Zuhilfenahme kostümgeschichtlicher Datierung merkt Maurer an: „Tracht und Stil weisen auf die Jahre um 1445-1450“ (Maurer, S. 310). Vorrede, S. 11. – Die Abbildung von geschichtlichen Personen widerspricht eigentlich dem Geist der Totentänze, da diese ja gerade durch die Darstellung von nicht-individualisierten Typen ihre Allgemeingültigkeit erzielen (vgl. auch Maurer, S. 294). Historisch nachweisbare Personen finden sich jedoch auch im Berner Totentanz (vgl. dazu Abschnitt 3.3.3.). Vorrede, S. 11. Vgl. Boerlin, S. 137-140; siehe hierzu auch Wüthrich, S. 350. Boerlin verweist u.a. auf Burckhardt-Werthemann, der versuchte, Witz als Urheber nachzuweisen (vgl. Daniel Burckhardt-Werthemann: Kunstgeschichtliche Basler Sagen und ihr Kern. In: Festschrift zur Eröffnung des Kunstmuseums. Hg. von der Öffentlichen Kunstsammlung Basel. Basel 1936, S. 119-140). Vgl. Maurer, S. 311f. Siehe dazu weiter unten die Ausführungen zu den Drucken von Hulderich Frölich; vgl. z.B. auch Maßmann, Baseler Todtentänze, S.16-27. Beide Namensformen kommen vor. Angaben nach Maurer, S. 298-300.
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Gemälde verfiel zusehends. Egger beschreibt die verminderte Wertschätzung des Denkmals als Folge einer veränderten inneren Haltung. Die Epoche der Aufklärung, die das Diesseits betonte und die Menschheit besonders von allen religiösen Zwängen befreien wollte, vermochte einem Bild, das an die letzten Dinge erinnerte, die Allmacht des Todes vergegenwärtigte und zur Busse 794 und Umkehr mahnte, keinen Wert abzugewinnen.
So wurde der Totentanz als „Relikt eines glücklich überwundenen Zeitalters“795 im Jahre 1805 schließlich abgerissen. Basler Bürger retteten dabei die heute im dortigen Historischen Museum ausgestellten Fragmente. Zumeist werden der Restaurierung durch Kluber die einschneidendsten Veränderungen zugesprochen.796 Seit der Entstehungszeit des Gemäldes hatte in der Schweiz die Reformation Fuß gefaßt, auf die einige der Umgestaltungen Klubers zurückgehen. Er veränderte manche Figuren und fügte weitere Szenen hinzu, wie etwa sein Selbstporträt am Ende des Reigens. Nur wenige Jahre nach der Restaurierung des Basler Totentanzes durch Kluber, 1581, erschien der Text desselben zusammen mit einem Stadtlob-Gedicht von Hulderich Frölich. Weitere Drucke in den Jahren 1588 und 1608 brachten eine erweiterte Zusammenstellung des Totentanz-Textes von Basel mit demjenigen Berns, u.a. illustriert durch eine Reihe von Holbein-Nachschnitten.797 Auf eine weitere, bisher der Forschung unbekannte Version des Basler Totentanzes weist Layet hin. Es handelt sich um einen Druck aus dem Jahr 1583, der sich im Besitz der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel befindet. Die Schrift umfaßt einen Holzschnitt (der aber offenkundig in keiner Verbindung zum Basler Totentanz steht) sowie den Basler Text in einer Version mit 37 Ständevertretern und zahlreichen Varianten gegenüber Frölich.798 Eine ausführliche Untersuchung dieser neu aufgetauchten Quelle steht noch aus. Im zweiten Jahrzehnt des 17. Jhs. wurde der Totentanz an der Friedhofsmauer wiederum einer Erneuerung unterzogen. Auf diese, in den Jahren 1614-1616 durch Emanuel Bock ausgeführte Restaurierung gehen vermutlich die „fleischigwulstigen Gesichter“799 der menschlichen Figuren zurück. Außerdem übermalte Bock wohl einige Figuren wieder, so den (nur bei Frölich überlieferten) Türken und das Kind. An der Eliminierung des Türken zeigt sich beispielhaft, wie der Totentanz kontinuierlich nicht nur dem jeweils gültigen Geschmack, sondern auch der (politischen) Gesamtsituation angepaßt wurde: Die Türkenkriege lagen vielleicht für die Erinnerung der Zeitgenossen schon zu weit zurück, als daß diese Figur noch hätte aktuell wirken können. Der Basler Totentanz
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Egger 1990, S. 39. Ebd. Eine Ausnahme bildet hier Boerlin, der erst die Restaurierung von Bock für eine „eigentliche Neufassung“ hält (Boerlin, S. 135). S.u. den Abschnitt 3.3.2.3. zu Frölich. Vgl. Layet, Basler Totentanz 1583, S. 59. Egger 1990, S. 33; Maurer bezeichnet die Gesichtsbildungen der Figuren als „michelangelesk“ (Maurer, S. 310).
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Auch nach Bock wurden noch entscheidende Änderungen vorgenommen; so übermalte man später die Darstellung des Malers wieder und veränderte anscheinend ebenso den Sündenfall. Über den Zustand des Wandbildes nach der letzten Renovation urteilte ein Zeitgenosse, die Erneuerungsarbeiten seien „so gar elend“ ausgeführt worden, daß der Rat der Stadt „besser gethan hätte, das alte Gemählde so zu lassen, wie es war, als es so abscheulich zu verhunzen“.800 Die vorhandenen Kopien des Basler Totentanzes sind zu verschiedenen Zeiten entstanden und zeigen demzufolge unterschiedliche „Stufen“ im Aussehen der Malerei. Die früheste Kopie des Totentanzes lag mit einer lavierten Federzeichnung von Hans Bock d. Ä. (dem Vater des späteren Restaurators Emanuel Bock) von 1596 vor,801 von der jedoch nur ein Blatt, der Beginn des Reigens mit Papst und Kaiser, erhalten ist. Die Einschätzungen der Zuverlässigkeit dieser Kopie variieren: Während Maurer sie für „freigestaltet“ hält,802 meint Wunderlich aufgrund verschiedener Indizien, es handele sich um eine exakte Kopie.803 Als Merian den Fries 1617 abzeichnete, hatte sich das Gemälde, wie beschrieben, schon in mancher Hinsicht von seinem ursprünglichen Zustand entfernt. 1621 erfolgte die erste (allerdings nicht von Merian selbst initiierte) Veröffentlichung seiner berühmt gewordenen Kupferstichfolge, die danach noch unzählige Male wiederaufgelegt und nachgestochen bzw. kopiert wurde. 1770 erging an den Maler Emanuel Büchel, der 1766-1768 schon den Totentanz im Kloster Klingental abgemalt hatte, der Auftrag einer Kopie des Totentanzgemäldes auf dem Predigerkirchhof. Er erfüllte auch diese neue Aufgabe mit großer Genauigkeit und stellte sie 1773 fertig. Nebenbei hielt er zahlreiche interessante Beobachtungen und Überlegungen zu dem Gemälde fest.804 1806 schließlich erschien eine Zeichnung von Rudolf Feyerabend, die den Tanz panoramaartig in untereinanderstehenden Reihen festhält und neben Merians Version zu den verbreitetesten Kopien des Basler Gemäldes gehört. Feyerabend hatte das Bild kurz vor dem Abriß unter Zuhilfenahme früherer Reproduktionen kopiert. Da somit keine Nachbildung des Basler Totentanzes in seinem ursprünglichen Zustand existiert, sondern sämtliche Abzeichnungen nach 1568 entstanden sind, kann man sich keine vollständige Vorstellung vom spätmittelalterlichen Aussehen des Gemäldes machen. Fünf der erhaltenen Fragmente wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufwendig von jüngeren Farbschichten befreit. Als Ergebnis dieser Arbeiten blieb festzuhalten, daß die verschiedenen Übermalungen das Bild in der Tat zum Teil stark verändert haben. Da im wesentlichen nur die Köpfe der menschlichen Figuren erhalten sind, kann man keine weitergehenden Schlüsse ziehen; an diesen wenigen Teilen sieht man jedoch bereits bedeutende Einzeluntersuchungen
Einzeluntersuchungen
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Zit. nach Maurer, S. 300. Bei Bocks Federzeichnung handelte es sich vielleicht um die früheste vollständige Kopie; die frühesten Wiedergaben von Einzelbildern des Basler Totentanzes überhaupt sind jedoch vermutlich einige der Holzschnitte in Frölichs Buchausgabe (s.u. Abschnitt 3.3.2.3.). Maurer, S. 309, Anm. 2. Maurer glaubt, daß die Kopie von Hans Bock die spätere Restauration seines Sohnes maßgeblich beeinflußt habe. Vgl. Wunderlich, Ubique Holbein, S. 83, Anm. 32. Vgl. hierzu z.B. Egger 1990, S. 37f.
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Abweichungen zwischen spätmittelalterlicher und jüngerer Fassung, was z.B. die Gesichtsausdrücke der Personen betrifft. 1998 entdeckte Wunderlich eine Folge von Gouachen wieder, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts schon die Aufmerksamkeit eines italienischen Kunsthistorikers erweckt hatten und dann offensichtlich wieder in Vergessenheit geraten waren. Aufgrund verschiedener Abweichungen dieser Malereien von den anderen vorhandenen Kopien vermutet Wunderlich, daß sie einen früheren Zustand festhalten als die Zeichnungen Merians und Büchels, und datiert die Gouachen-Serie auf den Zeitraum zwischen 1568 und 1614: Sie muß nach der Restaurierung Klubers, aber vor derjenigen Bocks angefertigt worden sein. Dadurch würde diese Bilderfolge zur frühesten bekannten Kopie des Basler Totentanzes in seiner Gänze; es wäre zudem die einzige Malerei, die den Zustand des Totentanzes vor der Ausbesserung durch Bock im Jahre 1614 festhält. Die gängigen Publikationen zum Basler Totentanz konnten diese Neuentdeckung noch nicht würdigen; das Echo in der Fachwelt bleibt daher noch abzuwarten. Eine weitere Möglichkeit, das Aussehen des spätmittelalterlichen Gemäldes zumindest in beträchtlichen Teilen zu erschließen, ist der Vergleich mit Klingental. Von der frühen Forschung für das ältere Gemälde gehalten, ist man heute der Meinung, daß es sich um eine etwa 40 Jahre jüngere Nachschöpfung des Basler Totentanzes handelt. Da die Klingentaler Wandmalerei weniger stark den Witterungseinflüssen ausgesetzt war und nicht durch aufwendige Restaurierungen „verfälscht“ wurde, halten viele Wissenschaftler es für legitim, in einem gewissen Maße Rückschlüsse auf den Basler Totentanz zu ziehen. Auch hier ist jedoch Vorsicht geboten, denn der Klingentaler Totentanz weicht in einigen Zügen entscheidend von seinem Basler Vorbild ab. Der Basler Totentanz
Licht in das Dunkel um diese verschiedenen Fassungen und Überlieferungen des Basler Totentanzes kann nur ein genauer Vergleich der verschiedenen Kopien und erhaltenen Fragmente bringen. Sie sind entsprechend ihrer zeitlichen Abfolge zueinander ins Verhältnis zu setzen und auf Abweichungen und Übereinstimmungen zu untersuchen. Neben den Bildern zeigen auch die überlieferten Textfassungen einige Unterschiede. So ist der Text aus Klingental keineswegs überall mit dem des Basler Totentanzes identisch: In Basel wurden zugleich mit den Bildern auch die Texte modernisiert und einer veränderten Zeit angepaßt. Neben den inhaltlichen Unterschieden läßt auch bereits ein kurzer Blick auf den (seit Frölich) überlieferten Text erkennen, daß es sich nicht um die ursprünglichen Verse handeln kann, denn sie repräsentieren nicht die Sprache der Zeit um 1440. Ein Vergleich mit Klingental zeigt starke Abweichungen, die nicht auf regionale Differenzen zurückgehen: Die Klingentaler Verse scheinen eine ältere Sprachstufe zu konservieren. Zudem enthält der Großbasler Text Anspielungen, die aus dem Kontext der Reformation entstanden zu sein scheinen, wie z.B. die im Vergleich zum alten Text noch ausgeprägtere Aggressivität und Respektlosigkeit gegenüber kirchlichen Würdenträgern; daneben gibt es noch verschiedene andere inhaltliche Modernisierungen.
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Vor dem Hintergrund der angerissenen Probleme sollen im folgenden die Basler und Klingentaler Text- und Bildfolgen im Detail betrachtet werden, um die Unterschiede zwischen den einzelnen Bild- und Textzeugen zu erfassen und auf ihre Ursprünge hin zu überprüfen. Keinesfalls soll jedoch der Versuch unternommen werden, etwaige „Urfassungen“ zu rekonstruieren. Zwar hat sich die ältere Forschung oftmals in dieser Richtung betätigt,805 doch bleiben solche Ergebnisse mit dem Makel der Spekulation behaftet und können daher nicht als sichere Basis verwendet werden. Wenn auch gelegentlich die Notwendigkeit besteht, Vermutungen über das spätmittelalterliche Gemälde anzustellen – z.B. was die Figurenabfolge betrifft –, so muß doch stets im Hintergrund einschränkend bewußt bleiben, daß es sich um größtenteils nicht verifizierbare Annahmen handelt. Die vorliegende Untersuchung sieht ihre Hauptaufgabe darin, die Relationen sichtbar zu machen, die die einzelnen Fassungen des Basler Totentanzes zwischen Bild und Text herstellen, sowie die Mechanismen herauszuarbeiten, die die Verse und Bilder jeweils zu einem organischen Ganzen zusammenführen. Folglich wird auch keine erschöpfende Untersuchung der Basler Totentänze vorgelegt, sondern eine Beschränkung auf die Fragestellung ‚Bild und Text’ vorgenommen, indem hauptsächlich die hierfür relevanten Aspekte herausgegriffen werden. Dabei können nicht alle Figuren der (ja auch besonders umfangreichen) Basler Totentänze genauestens untersucht werden, so daß einige Sachverhalte an hierfür besonders geeigneten Beispielgestalten aufgezeigt werden. Da als Basis für die Untersuchung des Basler Totentanzes seine verschiedenen Kopien dienen müssen, werden diesen im folgenden jeweils einzelne Abschnitte gewidmet. Zwecks Vergleichs zwischen den einzelnen „Fassungen“ ist es oftmals nötig, Querverbindungen zu ziehen, doch soll als grober Rahmen die Chronologie dienen. In diesem Sinne werden zunächst die Drucke des Hulderich Frölich im Vordergrund stehen, gefolgt von der neuentdeckten Gouachenserie; zuletzt werden Merians Kupferstiche behandelt. Da zur Formulierung von Rückschlüssen auf das ursprüngliche spätmittelalterliche Aussehen alle späteren Kopien, wie diejenigen Büchels und Feyerabends, von weniger prominenter Bedeutung sind,806 werden letztere in der vorliegenden Untersuchung einen vergleichsweise marginalen Stellenwert einnehmen. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen zuletzt unter Heranziehung des Klingentaler Totentanzgemäldes sowie mithilfe der restaurierten Originalfragmente vertieft und erweitert werden. Einzeluntersuchungen
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Vgl. Anm. 690. Büchel und Feyerabend waren in neuzeitlichem Geist vorrangig um Konservierung und getreue Wiedergabe bemüht. Obwohl in bestimmtem Maße jede Abzeichnung auch eine Interpretation darstellt, kann man ihre Totentanz-Kopien daher nicht als eigene Schöpfungen bezeichnen. Im Gegensatz dazu kommt Merians Fassung noch ein gewisser Eigenwert zu: Nach Egger werden seine Radierungen „unter einer kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise nicht als blosse Bildkopie verstanden, sondern als Spiegel des späthumanistischen, antiquarischen Sammeleifers mit moralisierend-belehrender Absicht“ (Egger 1990, S. 8).
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3.3.2.2. Die Restaurierung durch Hans Hug Kluber im Jahre 1568 1568 erfuhr der Basler Totentanz seine wohl bedeutendsten Veränderungen durch die Restaurierung von Hans Hug Kluber. In der Forschung herrscht weitgehend Übereinstimmung, daß das ursprüngliche Aussehen des Gemäldes durch diese Maßnahme in mancher Hinsicht überdeckt wurde. Egger resümiert: Der Basler Totentanz
Kluber behandelte den Totentanz nicht als historisches Dokument, sondern restaurierte ihn nach damaligem Zeitgeschmack historisierend im Sinne der Renaissance in so intensiver Weise, dass 807 dessen ursprünglicher Stil verwischt wurde.
So wurden die Figuren lebendiger gestaltet und die Menschen modisch gekleidet;808 insgesamt neigt die Neufassung stärker zu Ausschmückungen, zur Hinzufügung von Details und zu einer allgemeinen Verschärfung in der Art, wie Tod und Mensch einander begegnen.809 Einige Motive, wie der Arzt und der Koch, wurden völlig neu entworfen: Der Arzt wird nun von einer vollkommen skelettierten Leiche dahingezogen, und der Koch wirkt – verglichen mit Klingental – sehr viel echter aus dem Leben gegriffen.810 Prägnanter gestaltet wurde z.B. auch der Blinde. Kluber erneuerte ebenso die Predigtszene, indem er dem Kirchenmann – der vorher vermutlich als Dominikaner zu identifizieren war – die Züge des berühmten Basler Reformators Oekolampad verlieh. Der Totentanz war somit in den Dienst der Reformation gestellt, seine Aussage kam quasi aus dem Mund des reformierten Predigers.811 In mehreren Aspekten richtete Kluber sich bei seiner Umarbeitung nach bekannten Vorbildern. So machte er Anleihen beim Berner Totentanz, als er wie dessen Schöpfer Niklaus Manuel sich selbst am Ende des Totentanzes verewigte, gleichzeitig, wie Wunderlich anmerkt, ein aus renaissancezeitlichem Selbstbewußtsein geborener „Akt der Repräsentation“,812 wie auch eine Demutsbezeugung, begibt der Maler sich dergestalt doch auch in die Hand des Todes, indem er sich dem Sterbereigen zugesellt. Beides drücken auch die neugedichteten Verse aus (Nr. 40): Der Basler Totentanz
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Egger 1990, S. 28. Vom modischen Zeitgeschmack legt besonders die (hinzugefügte) Figur des Malers mit der geschlitzten Kleidung Zeugnis ab. Bei einem Vergleich von Klubers Neufassung (anhand von Merian oder den Gouachen) und dem alten Bild von Klingental sticht ins Auge, daß die Abweichungen zum Ende hin stärker werden. Ebenso fällt bei dem Vergleich der zwei Totentänze auf, daß der zweite Teil in Großbasel gleichzeitig auch textlich stark verändert wurde. Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß Großbasel und Klingental in der ersten Hälfte insgesamt näher beieinanderliegen als in der zweiten (siehe hierzu die weiteren Ausführungen später in diesem Kapitel). In Bezug auf den Koch vermutet Egger eine Inspiration durch den Berner Totentanz (vgl. Egger 2000, S. 52). „Es war nun die neugläubige Kirche, die zu Busse und Umkehr mahnte. [...] Mit einem Kunstgriff war der didaktisch-moralisierende Charakter des Totentanzes zu einer Busspredigt der reformierten Kirche umgedeutet worden“ (Egger 1990, S. 29). Egger glaubt, daß dieses Vorgehen mit dafür verantwortlich war, daß der Basler Totentanz nicht wie so viele andere katholische Denkmäler im protestantischen Bildersturm unterging. Wunderlich, Ubique Holbein, S. 42.
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Mein Gott du wllest bey mir stohn/ Dieweil ich auch mß jetzt darvon: Mein Seel befihl ich inn dein Hendt/ Wann die Stundt kompt zu meinem Endt/ Vnd der Todt mir mein Seel außtreibt/ Verhoff doch mein Gedechtnuß bleibt/ Solang man diß Werck haltet schon: Beht euch Gott ich fahr darvon [...]813
An anderen Stellen des Totentanzes hielt Kluber sich offenbar an Holbein. Die dynamische Gestaltung der Leichen scheint z.T. der Anlehnung an diesen bekannten Basler Künstler geschuldet. Deutlich erkennbar ist das große Vorbild z.B. bei der Todesfigur, die dem Waldbruder zugesellt ist. Die gleiche Haltung (allerdings seitenverkehrt) findet sich beim Tod in Holbeins Folge, und zwar auf dem Holzschnitt, der in einigen Ausgaben „Die Edelfrau“, in anderen „Das neue Paar“814 überschrieben ist (Nr. XXXV). Anders lautet Maurers Erklärungsansatz für die Ähnlichkeiten zwischen der Kluber-Fassung und Holbein. Er stellt fest, daß die Figuren Krämer und Koch in einer anderen Publikation des Jahres 1568 auftreten und folgert hieraus sowie aus der Gestaltung einiger anderer Figuren, daß „mehrere manieristische Handlungsmotive“ vielleicht nicht auf Kluber zurückgehen, sondern er lediglich „eine etwa dem 2. Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts angehörende ältere Erneuerung im Sinne des späteren Manierismus übersteigert“ habe.815 Somit könnte die Reihenfolge der Entlehnung umgekehrt gewesen sein, so daß Holbein sich in den frühen 1520ern von diesen Motiven des Basler Totentanzes inspirieren ließ, die kurz zuvor dort hinzugefügt worden waren.816 Einzeluntersuchungen
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Wo nicht anders angegeben, wird der Basler Totentanz nach der Frölichschen Ausgabe von 1608 zitiert. Da diese nicht ediert ist, wird keine Verszählung angeführt. Maßmann bietet eine aus den Ausgaben von 1588 und 1608 kompilierte Edition des Basler Totentanzes, in der er die Strophen zählt; da sich meine Untersuchung jedoch weitgehend auf den Druck von 1608 stützt, ziehe ich es vor, auch nur aus diesem zu zitieren; Maßmann bietet außerdem nicht den kompletten Text. Zur leichteren Auffindbarkeit der Textstellen übernehme ich jedoch die Numerierung der Figuren von Maßmann. In der Ausgabe von Dobson „Die Edelfrau“, bei Schlotthauer „Das neue Paar“. Wo nicht anders angegeben, folge ich den Bildtiteln der Schlotthauer-Ausgabe. In der Erstausgabe Les simulachres & historiées faces de la mort von 1538 gab es keine Bildtitel, so daß es sich anscheinend ohnehin um nachträgliche Zuschreibungen ohne Quellenwert handelt, ebenso wie bei den hinzugefügten Versen. Maurer, S. 310 mit Anm. 1-8. Hier läßt sich eine Verbindung zu der u.a. von Koller postulierten Renovation um 1520 ziehen (vgl. Anm. 878). Zwar ist hiervon nichts überliefert, es kommt jedoch die allgemeine Annahme in den Sinn, daß bei Wandgemälden aus diesem Zeitraum etwa alles halbe Jahrhundert mit einer Restaurierung zu rechnen ist (s. ebd.), demnach wäre bei einer Entstehungszeit um 1440-1450 lange vor 1568 eine Ausbesserung fällig gewesen. In diesem Sinne hält auch Egger es für möglich, daß nicht alle Restaurierungen überliefert sind (Egger 2000, S. 43, Anm. 2). Diese Vermutungen lassen sich jedoch durch keinerlei Zeugnisse belegen. Die beim Totentanz angebrachten Inschrifttafeln, die seit 1568 Details zu den Renovationen festhielten, lassen ebenfalls nicht auf eine Restaurierung vor Kluber schließen, denn die Inschrift von 1658 spricht von einer Erneuerung zum dritten mahl nach 1586 und 1616 (vgl. Maßmann, Baseler Totentänze, S. 52, der hier Tonjolas Abdruck der Inschrift zitiert).
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Der Sündenfall, eine vielleicht von Kluber neu ergänzte Szene,817 weist leichte Anklänge an Dürers „Adam und Eva“ von 1504 auf. In der Auswahl der allegorischen Tiergestalten war der Restaurator allerdings eigenständig. Bis auf den Papagei, den er übernahm, weist seine Paradiesesdarstellung andere Sinnträger auf als Dürers Kupferstich,818 und zwar ein Einhorn, einen Löwen und ein Rebhuhn.
Exkurs: Zu allegorischen Tierdarstellungen in der Frühen Neuzeit In der Kunst der Frühen Neuzeit sind allegorische bzw. symbolische (die Begriffsabgrenzung ist zuweilen schwierig und wird sehr unterschiedlich gehandhabt) Tiergestalten insgesamt sehr verbreitet; die christliche Ikonographie spielt dabei die wohl wichtigste Rolle. Zu beachten ist allgemein, daß die Deutungsspektren sehr weit sind, was zuweilen gegenteilige Interpretationen gleicher Figuren möglich macht; die Sinnzuschreibung ist jedoch keineswegs beliebig, sondern muß stets unter genauer Beachtung des Kontextes vorgenommen werden. Sündenfall-Darstellungen mit allegorischen Tierfiguren sind überaus häufig; meist beziehen sich die Deutungen der Tiere dabei auf Laster (Sinnenlust), Sündhaftigkeit und das Böse bzw. den Teufel. Im vorliegenden Fall scheint mit Löwe und Einhorn (die einzeln sonst häufig Teufels- bzw. Christussymbole sind) ein Anschluß an Ps 21,22 vorzuliegen, wo u.a. diese beiden Tiere als Manifestationen des Bösen gebraucht werden, das den um Hilfe rufenden Menschen umringt: salva me ex ore leonis et a cornibus unicornium humilitatem meam (vgl. A. Vizkelety: Artikel ‚Einhorn’, in: LCI I, Sp. 590-593). Das Rebhuhn wird in Zusammenhang mit Adam und Eva, wo es öfter auftaucht, als Symbol der Liebe gedeutet (vgl. Artikel ‚Rebhuhn/ Steinhuhn’, in: Sigrid und Lothar Dittrich: Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.-17. Jahrhunderts. Petersberg 2004, S. 379-388); sinnvoller erscheint mir in diesem Zusammenhang jedoch die ebenfalls belegte Deutung als Bild des vom Teufel verführten Sünders (vgl. S. Braunfels: Artikel ‚Rebhuhn’, in: LCI III, Sp. 504f.). Der Papagei schließlich kann einerseits auf die Todsünde der luxuria hinweisen – hier im Sinne der Verführung durch die Frau –, andererseits Schwatzhaftigkeit bedeuten: Durch dieses Laster löste Eva den Sündenfall aus (vgl. Artikel ‚Papagei’, in: Dittrich [wie oben], S. 322-334). Erkennbar wird in jedem Fall, daß der Erneuerer des Basler Totentanzes sich der gängigen ikonographischen Traditionen bewußt war, als er die Gestaltung der Paradiesesszene entwarf. – Wiederum andere Sinnträger zeigt der Sündenfall-Holzschnitt von GS (möglicherweise aufzulösen in Gregor Sickinger, vgl. Maurer, S. 298, Anm. 2) im Frölichschen Druck. Dort sieht man, wie bei Merian, das Einhorn, daneben aber auch einen Hasen, eine Schnecke und eine Eidechse. Der Hase steht oft für die bereits erwähnte luxuria und ist daher auf Sündenfall-Darstellungen des öfteren zu finden (vgl. W. Kemp, Artikel ‚Hase’, in: LCI II, Sp. 221-225; ebenso Dittrich [wie oben], Artikel ‚Hase/ Kaninchen’, S. 194-206). Die Schnecke kann oft als Hinweis auf das Überwältigtwerden durch Laster interpretiert werden (vgl. S. Braunfels: Artikel ‚Schnecke’, in: LCI IV, Sp. 98f.). Die Eidechse wird gelegentlich als Symbol des Bösen verwendet und mag im Zusammenhang mit Adam und Eva für die Sündhaftigkeit der Welt stehen (vgl. Dittrich [wie oben], Artikel ‚Eidechse’, S. 7884). Sie wurde im Mittelalter als giftig betrachtet und ist wohl auch in einer gewissen Nähe zur (in bestimmten Kontexten) ähnlich gedeuteten Symbolgestalt des Salamanders zu sehen. Der Basler Totentanz
817 818
Zur strittigen Urheberschaft des Sündenfalls siehe auch Anm. 821. Bei Dürer sind neben dem Papagei noch Maus, Katze, Hirsch, Rind und Hase zu sehen (sowie natürlich die Schlange, die aber während der weiteren Untersuchung der SündenfallDarstellungen keine Erwähnung mehr finden soll). Sämtliche Sinnträger sind hier als Hinweise auf das Böse und die Sündhaftigkeit zu verstehen, mit Ausnahme des Hirsches, der nach legendenhafter Auslegung ein Feind der Schlange ist und diese vernichtet – hier wohl ein Fingerzeig, daß selbst in der dunklen Stunde des Sündenfalls Gott den Menschen nahe ist und sie nicht verderben lassen wird (vgl. P. Gerlach, Artikel ‚Hirsch’, in: LCI II, Sp. 286-289).
Einzeluntersuchungen
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In dem GS-Holzschnitt sieht Maurer „wesentliche Elemente“ des später durch Merian überlieferten Sündenfalls „vorgebildet“ (Maurer, S. 309, Anm 2). Die Haltung von Adam und Eva ist derjenigen auf Merians Kupferstich allerdings sehr ähnlich. Anstatt aber wie Maurer zu vermuten, der Sündenfall sei erst durch Bock hinzugefügt worden (vgl. ebd.: „Auf BOCK [1616] könnte der Sündenfall zurückgehen [statt des von FRÖLICH genannten Türken]“), könnte man genauso postulieren, der Sündenfall-Holzschnitt von GS sei eine der wenigen Illustrationen bei Frölich, die auf dem direkten Vorbild der Wandmalerei basieren, wie auch der Koch, die Heiden sowie Maler und Malerin. Dann bliebe allerdings zu fragen, warum die Ähnlichkeiten zwischen dem GS-Holzschnitt und Merians Kupferstich nicht größer sind; die Unterschiede könnten z.B. auf die Erneuerung Bocks zurückgehen. Vielleicht arbeitete GS aber auch in diesem Fall relativ eigenständig und ohne genaue Beachtung des konkreten Vorbilds sowie unter Orientierung an anderen, ihm bekannten SündenfallDarstellungen. Neben dem – wie auch immer gearteten – Zusammenhang zwischen den Bildern von GS und Merian spielt auch noch die bereits erwähnte, von Wüthrich herausgestellte Anlehnung an Dürer (s.o.) eine Rolle – dessen prominentes Bildelement des Papageis wiederum ist bei GS nicht vorhanden, wohl aber ein (allerdings ganz anders positionierter) Hase. Es erstaunt ein wenig, daß ausgerechnet die Sündenfall-Darstellung des GS eher wenig mit Holbeins Sündenfall gemein hat, sind doch von letzterem Künstler so viele andere Holzschnitte übernommen worden. – Bei Frölich befindet sich übrigens der (im Gemälde wohl am Ende plazierte) Sündenfall am Anfang des Totentanzes; in einer Buchausgabe stellt jedoch der räumliche Austausch von Abbildungen durch das ohnehin notwendige Aufsplittern in Einzeldarstellungen kein Problem dar. Die zum Sündenfall abgedruckte Strophe ist eine einführende Anrede an den Leser: ADAM vnd EVA durch den Fall/ Inn was noht bracht vns Menschen all/ Werden ordentlich in Latein/ Vnd Teutsche Verß erklren fein. Eine ähnlich lautende lateinische Strophe ist ebenfalls an gleicher Stelle vorhanden: Terrigenm Genitor fruitur dum munere mali,/ Quae mala Terrigenis omnibus intulerit,/ Commemorant PATRII versus, pariter; LATINI,/ Quos lustres oculis, LECTOR amice, tuis. Diese beiden Strophen stammen wohl von Frölich selbst, denn sie erscheinen unter der Überschrift OPVSCVLI CONCINNATOR AD. LECT. Das Beispiel der drei Sündenfall-Darstellungen demonstriert, wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich es im Detail sein kann, den Zusammenhang und die Übernahmewege zwischen Bildquellen zu entwirren. Gerade was die Abbildung bedeutungsgeladener Sinnträger wie z.B. Tierfiguren betrifft, sollte man sich allerdings vor Augen halten, daß das Vorkommen derselben Symbole auf zwei verschiedenen Bildern keineswegs schon auf einen Überlieferungszusammenhang hinweist, denn es handelt sich um zu der betreffenden Zeit allgemein verbreitete ikonographische Traditionen, die zu ähnlichen, aber voneinander vollkommen unabhängigen Abbildungen führen können. Gerade bei symbolisch bzw. allegorisch überfrachteten und sehr traditionsgebundenen Motiven wie demjenigen des Sündenfalls ist mit relativ großen Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Versionen dieses Themas zu rechnen. Einzeluntersuchungen
Ein weiteres Bildelement des Basler Totentanzes, das möglicherweise auf Kluber zurückgeht, ist das Jüngste Gericht im Giebel des Beinhauses. Es wirkt im Verein mit dem Sündenfall am anderen Ende des Totentanzes wie eine Art thematische und temporale Klammer: Die Sterblichkeit entspringt aus dem abgebildeten Biß in den Apfel und führt den Menschen über seinen Tod zum Jüngsten Gericht. Die Sterbenden des Reigens vollziehen demnach einen Weg vom ersten Punkt der spirituellen Menschheitsgeschichte bis zu ihrem Ende. – Es ist nicht zweifelsfrei nachzuweisen, daß der spätmittelalterliche Totentanz noch keinen Sündenfall enthielt; die Tatsache, daß sich das überlieferte Bild an Dürer anlehnt, widerlegt dies nicht unbedingt. Eine ältere Darstellung kann hierdurch ersetzt worden sein. Es ist jedoch m.E. sinnvoll anzunehmen, daß Jüngstes Gericht und Paradiesesdarstellung aus thematischen Gründen Teil derselben Konzeption waren und daher zur gleichen Zeit geschaffen wurden.
Der Basler Totentanz
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Die von Kluber eingeführten Änderungen hatten z.T. Auswirkungen auf die Gesamtstruktur. So variierte er die Figurenfolge819 leicht am Ende des Totenreigens, indem er die Mutter zur Frau des Malers (eine Darstellung seiner Gattin Barbara Hallerin) umgestaltete und ihr das Kind zugesellte. Wunderlich vermutet, daß das zweite Kind (d.h. die ursprüngliche Kindesdarstellung) deshalb später als redundant empfunden und bei der Restaurierung von Bock wieder übermalt wurde.820 Ein Problemfall ist die Figur des Türken. Diese ist nur in der Totentanz-Ausgabe von Frölich enthalten und taucht in späteren Kopien des Basler Totentanzes nicht mehr auf – außer in der Gouachenserie. Sie muß also später wieder übermalt worden sein.821 Wunderlich ist der Ansicht, diese Darstellung sei erst vor dem historischen Hintergrund der frühneuzeitlichen Auseinandersetzungen mit den Türken im östlichen Europa entstanden;822 die Erwähnung von „Solyman“ im Text scheint einen nur allzudeutlichen terminus post quem abzugeben.823 Dennoch läßt diese Argumentation m.E. einige Probleme ungelöst. Schaut man sich den Klingentaler Totentanz an, entdeckt man an der Stelle, die in Großbasel der Heide ausfüllt, eine Gestalt, die durch ihre Anrufung Mohammeds eindeutig als Moslem gekennzeichnet ist – anders als die Großbasler Figur, die sich hilfesuchend an Jupiter, Neptunus vnd Pluton (Nr. 34) wendet, die eher die prototypische Vorstellung von heidnischen Göttern ausfüllen als Allahs Prophet. Die betreffende Klingentaler Gestalt wird bei Riggenbach denn auch als „Türk“ apostrophiert.824 Dagegen bietet Maßmanns Textausgabe des Klingentaler Totentanzes an gleicher Stelle die Bezeichnung „Heid“. Fraglich bleibt, woher die Autoren diese Benennungen nehmen, denn auf Büchels Kopie des Klingentaler Gemäldes sind zu den Figurenstrophen keine Überschriften erkennbar, und im Text selbst werden die Figuren nicht mit ihren Bezeichnungen angesprochen. Da kaum zu Der Basler Totentanz
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Weitere Änderungen in der Figurenreihenfolge durch Kluber werden im Abschnitt über den Klingentaler Totentanz näher beschrieben, weil die Modifikationen vor dessen Hintergrund anschaulicher dargestellt werden können. Vgl. Wunderlich, Ubique Holbein, S. 34. Hier wurzelt Maurers Hypothese, der Sündenfall (und entsprechend als Gegenpart auch das Jüngste Gericht im Giebel des Beinhauses) stamme allein von Bock (vgl. Maurer, S. 309, Anm. 2), denn man könnte argumentieren, daß durch die Entfernung des Türken zusätzlicher Raum frei wurde, um einen Sündenfall anzufügen. Nach Bock wurde der Sündenfall jedoch anscheinend noch einmal verbreitert, wie aus Überlegungen Büchels hervorgeht, der die Unterschiede zwischen der Merianschen Fassung und dem Zustand des Gemäldes zu seiner Zeit peinlich genau katalogisierte. Der Raum für die zusätzliche Ausdehnung des Sündenfalls muß durch die Übermalung der Kluber-Figur entstanden sein, vielleicht bei der Restaurierung von Meyer und Wurstisen oder Becker (vgl. Egger 1990, S. 37; siehe auch die Ausführungen weiter oben sowie die zugehörigen Tabellen 3 und 4 im Anhang). Ein Indiz, das sich für die Unterstützung von Maurers These verwenden ließe, ist die Abwesenheit eines Jüngsten Gerichts auf dem Beinhaus-Giebel sowie eines Sündenfalls in der Gouachenserie. Wenn diese Bilderfolge den Zustand des Basler Totentanzes nach der Kluber-Renovation getreu wiedergibt (was allerdings noch keineswegs bewiesen ist!), könnte man vermuten, daß es damals weder ein Jüngstes Gericht noch einen Sündenfall gab. Wunderlich, S. 44. Vgl. Anm. 845. Vgl. Riggenbach, S. 104.
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Einzeluntersuchungen
ermitteln ist, ob Maßmann und Riggenbach sich die Überschriften ausgedacht haben oder sich auf irgendeine Quelle beziehen, muß die Fragestellung offenbleiben. Letzten Endes war für den mittelalterlichen Betrachter der Unterschied wahrscheinlich nicht einmal besonders groß. Die Kenntnisse fremder Religionen dürften ohnehin begrenzt gewesen sein, was die Verwendung von Mohammed anstelle des plausibleren Allah erklärt; dadurch war hinreichend deutlich gemacht, daß es sich um einen Anhänger einer nichtchristlichen Religion, folglich um einen Heiden, handelt. Das naheliegendste Volk, das diese Eigenschaft erfüllte, waren vermutlich eben die Türken, die zu dieser Zeit den Erfahrungshorizont der Europäer betraten. Richtig ist, daß die Figur, wie Frölich sie überliefert – ganz am Ende des Reigens, versehen mit dem auf Sleimn anspielenden Vers – erst im 16. Jh. hinzugefügt worden sein kann. Gleichzeitig wurde wahrscheinlich der alte Text des Heiden, der wohl demjenigen aus Klingental glich, durch die neue Strophe mit den antiken Gottheiten ersetzt, so daß es nun im Basler Totantanz sowohl einen unspezifizierten Heiden als auch einen Türken gab.825 Einzeluntersuchungen
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Die Türkenfigur, wie Frölich sie überliefert, bereitet dennoch etwas Kopfzerbrechen. Warum befindet sie sich ganz am Ende des Totentanzes, noch hinter dem Maler? So wird sie praktisch aus dem eigentlichen Reigen ausgeschlossen, der doch mit Klubers Selbstporträt einen ausdrucksvollen Schlußpunkt erhält. Könnte es sich also um eine Hinzufügung Frölichs selbst handeln, wie er ja auch sonst in seiner Kompilation einiges hinzuzuerfinden scheint? Dies würfe die Frage auf, wie es sein kann, daß in der Gouachenfolge der Türke auftaucht. Außerdem wäre damit auch Maurers Hypothese gefährdet, Bock hätte den Türken durch den Sündenfall ersetzt (s.o. Anm. 821) – es sei denn, man nähme an, am Ende der Friedhofsmauer hätte es noch viel Platz gegeben (was bis zu einem gewissen Grade ohnehin der Fall gewesen sein muß, war doch Klubers Fassung etwas länger als der Reigen in seiner spätmittelalterlichen Form). Folglich könnte der Sündenfall auch schon durch Kluber hinzugekommen sein; es mußten für diese zusätzliche Szene nicht erst Figuren wegfallen. Vergleicht man die verschiedenen Bildzeugnisse des Basler Totentanzes, fallen allerdings ohnehin einige Ungereimtheiten in der Figurenfolge am Ende des Reigens auf. In der Merian-Ausgabe von 1621 lautet die Abfolge Bauer – Malerin – Maler – Sündenfall (vgl. Wüthrich, S. 356), 1696 dagegen kommt Kluber nach seiner Frau, genau wie auch bei Frölich. Bei Büchel folgt dem Bauern der Sündenfall, die Kluber-Figur fehlt. (Feyerabends Panorama-Bild zeigt ebenfalls nach dem Bauern den Sündenfall, danach aber noch den Maler sowie hinter ihm seine Frau. Büchel hatte jedoch bei seinen Kopiearbeiten des Basler Totentanzes durch Vergleich mit Merian festgehalten, daß die Malerdarstellung fehlte; nach Hammerstein, Tanz und Musik, S. 187, verschwand zusammen mit Kluber auch seine Frau. Da Feyerabends Version Klubers Selbstbildnis enthält, ist seine Abzeichnung des Basler Totentanzes also in jedem Fall zum Teil eine Rekonstruktion unter Zuhilfenahme anderer Kopien, unter diesem Aspekt also keine getreue Wiedergabe der Wandmalerei kurz vor ihrem Abbruch.) Ist die Folge, wie Merian (1696) sie wiedergibt, wahrheitsgetreu, könnte der Sündenfall durchaus von Kluber stammen. Hält man sich jedoch an Büchel, entstehen neue Probleme: Die passende Schlußfolgerung scheint zu sein, daß der Sündenfall in der Tat nicht von Kluber, sondern von Bock stammt und an der Stelle steht, wo sich früher das Kind befand, wie Wunderlich meint (Ubique Holbein, S. 34). Das würde jedoch bedeuten, daß der Sündenfall irgendwann im 18. Jahrhundert nach vorne verlegt worden sein muß, denn man kann sich nur schwer vorstellen, daß er so sehr verbreitert wurde, daß er den gesamten Raum abdeckte, den vorher das Kind, Klubers Selbstporträt und seine Frau einnahmen. Was also war auf dem Rest
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Festzuhalten bleibt, daß die Figur eines Türken im Totentanz an sich nicht erst eine Schöpfung der frühen Neuzeit sein muß, sondern durchaus schon ein Konzept des ausgehenden Spätmittelalters gewesen sein kann.826 Die allgemein verbreitete Türkenfurcht in Europa nahm ihren Anfang bereits nach der Schlacht von Nikopolis 1396. 1443/44 mißlang in Zusammenhang mit der Schlacht bei Varna der Versuch, die Türken aus Europa zu verdrängen. 1456 scheiterten die Türken, als sie versuchten, weiter nach Europa vorzurücken; in den späten 60er Jahren des 15. Jhs. kam es dann jedoch verstärkt zu Türkeneinfällen. Diese Geschehnisse könnten motivierend gewirkt haben, eine Türkenfigur in den Totentanz einzubauen. Das von Wunderlich herangezogene Vordringen der Türken nach Belgrad und Wien in den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts mag dann ein Anlaß gewesen sein, die neuen Verse unter Erwähnung Sleimns zu dichten. Wie bereits erwähnt, wurden gleichzeitig mit der Übermalung des Wandgemäldes auch die zugehörigen Verse erneuert, wobei nicht nur die inzwischen altertümliche Sprache neueren Entwicklungen angeglichen wurde, sondern auch inhaltlich eine Anpassung und z.T. vollkommene Substituierung stattfand. Im einzelnen werden diese Änderungen im Abschnitt über den Klingentaler Totentanz abgehandelt, um einen direkten Vergleich mit dem dortigen Textbestand vornehmen zu können. Der Basler Totentanz
Wenn Kluber auch zuzugestehen ist, daß er wesentliche Veränderungen vornahm, zeigt doch eine Gegenüberstellung des Basler Totentanzes in seiner überlieferten Form mit dem Klingentaler Bild, das wohl zumindest in großen Teilen das ursprüngliche Aussehen festhält, daß die Gesamtkonzeption bis hinein in viele Details beibehalten wurde.827 Aus diesem Grund ist es m.E. durchaus gerechtfertigt – unter Zuhilfenahme aller verfügbaren älteren Zeugen und Vergleichsobjekte – bei der Untersuchung dieses Totentanzes auch Aussagen zu machen, die für dessen spätmittelalterlichen Zustand Geltung haben. Daneben kann Klubers Version jedoch auch ihr künstlerisches Eigenrecht als ein den Zeitgeist widerspiegelndes Zeugnis beanspruchen. Die Erneuerung von 1568 bedeutet demgemäß nicht nur einen „Verlust“ des ursprünglichen Bild- und Textmaterials, sondern legt auch
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der Mauer zu sehen, wo der „alte“ Sündenfall gewesen war? Auch Wunderlichs Hypothese zur Figurenabfolge ist nicht ganz unproblematisch, was dadurch zustandekommt, daß der Zustand des Gemäldes im 16. Jh. rekonstruiert werden soll, indem man eine Kopie aus dem 18. Jh. zu Hilfe nimmt (vgl. zur Veranschaulichung die Grafik im Anhang). Außerdem: Wenn der Sündenfall eine Neuschöpfung Bocks war, wie erklären sich dann die Übereinstimmungen zwischen Bocks Bild und dem Paradies-Holzschnitt bei Frölich? Diese Fragen scheinen aufgrund des Mangels an Originalmaterial nahezu unlösbar und müssen daher vor dem gegenwärtigen Stand der Forschung offengelassen werden. In keinem Fall ist die betreffende Figur des Klingentaler Totentanzes jünger als 1512; dieses Datum findet sich über dem Herzog und bezeichnet vielleicht den Zeitpunkt, als einige marginale Ausbesserungen vorgenommen wurden. Ursprünglich wurde die Zahl fehlerhaft als 1312 gelesen (vgl. Riggenbach, S. 97 sowie S. 99-101, siehe auch Anm. 878). Merian berichtet, das Totentanzgemälde sei durch Kluber zwar erneuert worden, „doch dem vorigen allerdings gleich“ (Vorrede, S. 12). Da Merian aber kein Augenzeuge der Erneuerung war, muß man diese Aussage mit Skepsis betrachten – sie geht wohl auf Hörensagen zurück.
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Einzeluntersuchungen
Zeugnis ab von Veränderungen des Geschmacks und der Mentalität im Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Daneben zeigt sie auf, wie ein religiöses, vor dem Horizont des Katholizismus entstandenes Denkmal dem neuen, reformierten Glauben flexibel angepaßt wurde und dadurch dem protestantischen Ikonoklasmus entging.
3.3.2.3. Hulderich Frölichs Totentanz-Drucke Die Totentanz-Drucke des Hulderich Frölich verdienen nicht nur eine umfassende Behandlung, weil sie die ersten ausführlichen Nachrichten des Basler Totentanzes bieten und den Text überliefern, sondern auch weil sie gerade in Bezug auf TextBild-Beziehungen eine singuläre Quelle darstellen und deshalb interessante Aspekte zum Thema beitragen. Frölich gab mehrere Schriften heraus (erster Druck 1581, erweiterte Version 1588, erneut aufgelegt 1608),828 die u.a. auch den Text des Basler Totentanzes enthalten und sich nicht so sehr im Wortlaut, in dem dieser wiedergegeben wird, unterscheiden – es handelt sich im wesentlichen um Schreibvarianten sowie Berichtigungen offenkundiger Fehler oder verderbter Reime –, sondern vor allem in Umfang, Illustration und Layout. Frölich inkorporiert den Totentanz in ein Stadtlob von Basel und weist ihn damit als Sehenswürdigkeit aus.829 Als solche verdient er demzufolge nicht nur Einzeluntersuchungen
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Lobspruch An die Hochloblich vnnd Weitbermpte Statt Basel: Inhaltende mancherley nahaffte vnnd fürneme Sachen/ so darinn z sehen: Auch die Vrsachen/ Warumb gemelter Statt Schlagglocken bey einer Stund andern vorlauffen. Hieneben werden auch die Reumen/ so am Todtentantz bey jedem Stande verzeichnet/ der Ordnung nach/ weil sie mngklichem z lesen anmtig/ eingeleibet. 1581. Durch Hulderichum Frlich Plauensem/ jetzt Burger zu Basel/ in Teutsche Rhythmos gestellet. – Zwen Todentäntz: deren der eine zu Bern dem anderen Ort hochloblicher Eydtgnoschaft zu Sant Barfüssern: der ander aber zu Basel dem neundten Ort gemelter Eydtgnoschafft auff S. Predigers Kirchhof mit Teutschen Versen, darzu auch die Lateinischen kommen, ordentlich sind verzeichnet: Ordnung und Innhalt dieses Buchs belangende, wird nach der Lateinischen Vorrede kürtzlich erzehlet: mit schönen und zu beyden Todentäntzen dienstlichen Figuren, allerley Ständt und Völcker gebreuchliche Kleydung abbildende, gezieret: allen Christ und ewig Frewdliebenden, ihren armseligen Standt und Wesen hie in diesem Jammerthal darinn zu ersehen und erspieglen/ jetzt erstmals in Truck verfertigt: durch Hulderichum Frölich Plauensem, jetzt Burger zu Basel. Getruckt zu Basel: durch Huldericum Frölich, im Jar nach der gnadenreichen Geburt Jesu Christi 1588.– Der Hochloblichen vnd weitbermpten Statt Basel kurtze/ aber nutzliche Beschreibung: Inn welcher nicht allein von ihrem Ursprung/ Namen/ Regiment: Sondern auch was frnemlichen da zu sehen vnd sich verloffen/ tractieret/ sampt des Todtentantzes/ Basels vnd Berns/ Reümen/ mit darzu dienstlichen Figuren gezieret. Alles der Statt Basel zu sonderlichem Lob zusaen getragen/ vnd in Teutsche Rhythmos verfasset: Jetzt widerumb durch Hulderichum Frlich Plav. P. L. vnd Burger zu Basel/ den Auctorem selbs/ mit Fleiß vbersehen/ augmentieret/ mit Zuthuung der Nammen Der Herrn Obersten Hupteren/ Rectorum vnd Antistitum biß auff das jar CIƆ D C VIII. Getruckt zu Basel/ Durch Sebastianum Henricpetri. – Die obigen Ausführungen stützen sich im wesentlichen auf die Ausgaben von 1581 und 1608. Der Druck von 1588 war mir leider nicht zugänglich; er entspricht jedoch nach Maurer zum großen Teil der Version von 1608 (vgl. Maurer, S. 290f., Verzeichnis der Textwiedergaben und Nachbildungen). Hier läßt sich eine Verbindung zum Lübecker Totentanz in der Marienkirche ziehen. Auch dieser war weithin berühmt und wurde gar in einen englischen Reiseführer aufgenommen.
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Erwähnung, weil er für den Rezipienten lehrreich und nützlich ist, sondern auch, weil er das Prestige der Stadt hebt.830 In einem fiktiven Spaziergang geleitet Frölich den Leser zum Prediger-Friedhof. Ein Satyr tritt auf und sagt, er habe den Totentanz rühmen hören; daraufhin erklärt sich der Verfasser bereit, die Reime zu erzehlen gantz// Der Ordnung nach/ von wort zu wort/ Wie sie verzeichnet an dem Ort. Während der Druck von 1581 lediglich den Basler Totentanz-Text wiedergibt, versehen mit nur drei Illustrationen, beinhalten die späteren Versionen von 1588 und 1608 (die einander im großen und ganzen entsprechen831) eine wesentlich diversifiziertere Zusammenstellung. Neben dem Basler Text und einer lateinischen Übersetzung desselben werden auch die Strophen des Berner Totentanzes dazugegeben. Das Ganze ist durch 71 Holzschnitte illustriert, die meisten davon Holbein-Nachschnitte des Meisters GS, von dem auch die drei Bilder in der 1581Ausgabe stammen. Weitere Holzschnitte stammen z.T. von Niklaus Manuel sowie von einem Monogrammisten HIW bzw. HW.832 Neben den 39 bzw. 40 Figuren, die seit der Renovation durch Kluber im Basler Totentanz aufgeführt sind,833 umfaßt Frölichs Version noch ein weit ausgedehnteres Personal. Grund dafür ist seine singuläre Kompilation aus den beiden Totentänzen von Basel und Bern, dem lateinischen Text sowie den Holbeinschen Totentanz-Schnitten. Diese Zusammenstellung führt aufgrund der Unterschiede zwischen den jeweiligen Figurenfolgen naturgemäß zu Schwierigkeiten, da keine deckungsgleiche Zuweisung von Texten und Bildern möglich ist. So gibt es z.B. im Basler Text Personen, die weder in Bern auftauchen noch in Holbeins Holzschnittfolge vorhanden sind; andererseits beinhalten die Imagines mortis Figuren, die in den Ständereihen der anderen Totentänze nicht vorkommen. Als Folge hiervon sieht Frölich sich gezwungen, in einigen Fällen für passende Illustrationen zu sorgen, in anderen einen geeigneten Text zu finden. Die Zusammenstellung von Berner und Basler Totentanz, ergänzt um weitere Figuren aus Holbeins Todesbildern, scheint vom Bestreben nach Totalität getragen. In keinem Fall stehen dabei Illustrationen oder Verse allein – Frölich war offenbar der Meinung, daß auch in einem Totentanz-Druck Bild und Text untrennbar zusammengehören. Der Grund, den er für seine besondere Zuordnung von Text und Bild angibt, scheint allerdings etwas seltsam, denn in dem Abschnitt des Stadtlob-Gedichtes, der den Totentanz einführt, schreibt er: Der Basler Totentanz
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Man könnte eventuell sogar ein solches Stadtlob wie Frölichs Gedicht, in dem die besonders erwähnenswerten Orte Basels aufgeführt sind, als eine Art Vorstufe von Reiseführern betrachten oder doch zumindest als ein entfernt verwandtes Genre. Dieselben Gründe sollte später Merian für seine Ausgabe des Totentanzes anführen. Vgl. Maurer, S. 290f, Anm. 2. Vgl. ebd., S. 295 mit Anm. 4 und S. 298. HIW steht möglicherweise für Hans Jerg Wannenwetsch. Die Anzahl der Figuren differiert, je nachdem, ob man die später wieder übergemalten Figuren von Türke und Kind sowie das Maler-Selbstbildnis mitzählt. Rechnet man alle diese Figuren mit, kommt man sogar auf 41 Personen. Sehr hilfreich für einen Überblick zum Personeninventar ist die von Wunderlich zusammengestellte Konkordanztabelle (s. Wunderlich, Ubique Holbein, S. 76).
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Einzeluntersuchungen
Vnd weil der Berner Todtentantz Zu diesem [i.e. dem Basler Text] sich fgt gar vnd gantz/ Acht ich/ daß es wol mag geschehen/ Weil die Figurn sonst ledig stehen/834 Daß desselbigen Sprch allein G’setzt werden zun Figuren fein.
Verständlich wird dies vor dem Hintergrund, daß die Berner Strophen sich stets über und unter den Illustrationen finden, während auf der gegenüberliegenden Buchseite der Basler Text mit seiner lateinischen Übersetzung abgedruckt ist. Die Abbildungen stehen folglich nicht „ledig“ auf der Buchseite. Zwar wird auf diese Weise gewährleistet, daß Text und Bild zumindest äußerlich stets ein Ensemble bilden; doch vom inhaltlichen Gesichtspunkt aus kommt es zu einigen Problemen bei der Zuordnung, da die von Frölich ausgewählten Verse und Illustrationen ursprünglich nicht zusammengehören, also nicht aufeinanderzu komponiert sind. Die dabei entstehenden Diskrepanzen werden jedoch in Kauf genommen; oberste Priorität scheint zu sein, daß stets irgendeine Illustration vorhanden sein muß, selbst wenn diese inhaltlich nicht genau paßt. Ein Beispiel mag die Problematik veranschaulichen. Auf dem Basler Totentanz-Gemälde findet sich ein besonders deutlicher Fall von Text-Bild-Korrespondenz bei der Figur der Äbtissin. Der Tod spricht sie frech an: Einzeluntersuchungen
Gnedige Fraw Eptissin rein/ Wie habt ihr so ein Beuchlein klein:835 Doch will ich euch das nicht verweissen: Ich wolt mich ehe in Finger beissen. (Nr. 20)
Auf dem zugehörigen Bild836 ist deutlich zu erkennen, wie der Tod einen Teil des Gewandes der Äbtissin hochzieht und aus leeren Augenhöhlen einen „Blick“ auf ihren Bauch wirft; gleichzeitig führt er einen Finger zum Mund, was einerseits eine grüblerische und fragende Geste sein mag, andererseits auch das bildliche Pendant zu der Ankündigung, sich in den Finger beißen zu wollen. Text und Bild sind folglich an dieser Stelle eng aufeinander abgestimmt. In Frölichs Druck jedoch wird die betreffende Strophe durch den 15. Holzschnitt aus Holbeins Imagines mortis illustriert, in den gängigen Ausgaben ebenfalls „Äbtissin“ betitelt. Dort zieht der Tod, der einen Federhut trägt, die Äbtissin jetzt hinter sich her, die er834 835
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Ganz ähnlich klingt es bei Merian in der Vorrede, wenn er seine Zusammenstellung der Kupferstiche mit den erbaulichen Texten motiviert; dies sei geschehen, damit die Bilder „nicht gar bloß// vnd allein stünde[n]“ (Vorrede, S. 12f.). Frey glaubt, es handele sich um eine Anspielung auf eine Schwangerschaft, womit er die Äbtissin zu einer „heuchlerische[n] Hure“ degradiere (Frey, S. 80). Meines Erachtens könnte diese Formulierung aber auch als bloße Kritik an übermäßig üppigem Lebenswandel gemeint sein. Wird ohne nähere Angaben auf Bilder des Basler Totentanzes Bezug genommen, so meine ich damit die durch Merian überlieferte Fassung, die – zumindest solange die Gouachenfolge nicht vollständig publiziert und zweifelsfrei datiert ist – die verläßlichste und früheste Quelle darstellt.
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schrocken ihren Rosenkranz umklammert. Außer der Identität der gezeigten Person enthält das Bild nichts, was einen Bezug zur Basler Strophe ermöglichen würde. Text-Bild-Korrespondenz liegt hier folglich, anders als auf dem Wandgemälde, nicht vor. Insgesamt ist es bei einer Kombination, wie Frölich sie vornimmt, fast unmöglich, eine vollständig stimmige Text-Bild-Relation herbeizuführen, denn die Bilder sollen ja nicht nur den Basler Totentanz illustrieren, sondern auch die Berner Verse. Letztere sind sogar noch enger mit den Holzschnitten verknüpft, da sie direkt darüber und darunter angeordnet sind. Es müßte demzufolge eine Dekkungsgleichheit nach zwei Seiten hin vorliegen, wenn die Abbildungen sowohl zum Berner als auch zum Basler Totentanz passen sollten. Dies ist allenfalls in solchen Strophen gegeben, wo relativ neutral und ohne deutliche Bildbezüge über stereotype Verfehlungen der Menschen berichtet wird, oder wo die Personen sich in allgemein gehaltenen Formulierungen darüber beklagen, daß sie sterben müssen. Die durchaus beabsichtigt erscheinende gegenseitige Bezugnahme von Text und Bild, wie sie im Basler Totentanz häufig anzutreffen ist (genauso wie auch im Berner Totentanz, siehe dazu Abschnitt 3.3.3.), geht also in Frölichs Version weitgehend verloren. Dennoch scheint eine gewisse Notwendigkeit der engeren Text-Bild-Verknüpfung Frölich bewußt gewesen zu sein, denn an einigen Stellen entsteht mit Hilfe durchdachter Anordnung der Anschein von Zusammengehörigkeit. Hierzu wird bisweilen auch eine Umdeutung der Holbein-Schnitte vorgenommen. So illustriert Frölich die Verse der Begine bzw. Nonne (Berner Totentanz) mit dem 25. Holzschnitt aus Holbeins Imagines mortis, betitelt „Die Alte“. Schon auf dem Originalbild ist zu erkennen, daß die abgebildete Frau einen Rosenkranz in der Hand hält; auf dem Nachschnitt von GS ist dieser jedoch sehr viel deutlicher zu sehen. Zudem macht die Physiognomie der Frau weniger den Eindruck des Alters als bei Holbein; der weite Umhang kann auch als Ordenshabit verstanden werden. Text und Bild können in diesem Fall trotz unterschiedlicher Herkunft problemlos einander zugeordnet werden.837 Eine derartige Umdeutung von Holbeins Schnitten kommt noch an mehreren anderen Stellen vor, so bei der Herzogin (bei Holbein „Das neue Ehepaar“), beim Juristen (Holbein: „Der ReiDer Basler Totentanz
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Man könnte hier auf den Gedanken kommen, daß auf Seiten des Holzschneiders GS eine bewußte Umgestaltung des Holbein-Vorbilds vorliegt mit der von vornherein feststehenden Absicht, einen bestimmten, vorher festgelegten Text zu illustrieren. Hier ist jedoch Vorsicht geboten: Erstens sind die Holzschnitte von GS vermutlich etwas älter als die Frölichsche Ausgabe (auf dem Oekolampad-Portrait – der Abbildung des Basler Reformators Johannes Hausschein [alias Oekolampad] am Anfang des Reigens – etwa findet sich die Jahreszahl 1576 – andererseits steht nicht fest, daß alle Bilder zur selben Zeit entstanden sind). Zweitens kann man sich nur schwer vorstellen, daß diese Holbein-Nachschnitte eine Auftragsarbeit waren, von Anfang an dazu gedacht, den Basler und Berner Totentanz zu illustrieren. Wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte man sicherlich durch weitergehende Änderungen eine größere Anpassung an den Text zu erreichen versucht; nicht zu erklären wäre dann auch, warum es bei einigen Ständevertretern notwendig war, zwei einzelne Holzschnitte abzudrucken. Diese Vorgehensweise spricht eher dafür, daß Frölich aus verschiedenen älteren Quellen seine Illustrationen zusammengesucht hat.
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Einzeluntersuchungen
che“), bei der Hoffart bzw. Edelfrau (Holbein: „Die Braut“), beim Waldbruder (Holbein: „Der Greis“) sowie beim Wucherer (Holbein: „Der Geizige“). Insgesamt ist zu den Nachschnitten des Meisters GS anzumerken, daß sie durchaus nicht immer als Kopien bezeichnet werden können. In einigen Fällen gibt es deutliche Unterschiede zu Holbeins Bildern, so z.B. beim Bischof: Die Schafe im Hintergrund fehlen gänzlich – was dem Bild einen großen Teil seines Sinns raubt, denn der implizite Vorwurf an den Bischof, er habe nicht gut auf seine Schäflein achtgegeben, geht so verloren. Manchmal hat GS im Hintergrund eine andere Kulisse gewählt (so beim Herzog); in der Abbildung des Jünglings ist die Gewichtung zwischen Hinter- und Vordergrund neu, und die Sicht auf die Figur ist verändert worden. Auf dem Holzschnitt vom Jüngsten Gericht thront der Weltenrichter auf einer im Vergleich zu Holbein sehr viel kleineren Weltkugel, der entstehende Freiraum wird mit Posaunenengeln gefüllt. Einige wenige Bilder scheinen sich zwar vom Stil her an Holbein anzulehnen, sind aber offensichtlich freie Erfindungen, so die Illustrationen zur Jungfrau (in Bern: „Schöne Tochter“), zum (Blut-)Vogt und König. Eine Reminiszenz an den Berner Totentanz des Niklaus Manuel ist dagegen die Szene mit dem Papst: Hier tragen drei Todesgestalten, teilweise in geistlicher Kleidung, den Papst auf einer Sänfte, der sich ihrer Anwesenheit gar nicht bewußt zu sein scheint und unbekümmert die Hand zum Segenszeichen erhebt.838 Da in Totentänzen stets der sterbende Mensch zusammen mit einer Todesfigur abgebildet ist und Frölich sich diesem Schema offensichtlich verpflichtet sah, aber nicht überall Bilder finden konnte, die dieses Kriterium erfüllen, besteht die Illustration zuweilen aus zwei kleineren einzelnen Bildern, die Frölich nebeneinander abdruckt. So ist bei Ratsherr, Krüppel, Herold, Blutvogt, Jude, Türke, Patriarch, „Ritter mit dem schwarzen Kreuz“, Bürger/ Handwerker, Astrologe, „Wittfraw“ und Hure jeweils ein Schnitt der betreffenden Figur neben einer Todesgestalt abgebildet (einmal sind es sogar drei Bildchen). An Todesdarstellungen war offenbar kein Mangel, denn es tauchen verschiedene Typen von Skeletten bzw. Leichengestalten auf, wenn auch einige davon mehrmals. Möglicherweise handelt es sich um Holzschnitte aus anderen Zusammenhängen, die für die vorliegende Publikation wiederverwendet wurden, eine in der Frühen Neuzeit durchaus gängige Praxis.839 Neben den Holbein-Nachschöpfungen und von anderswo zusammengesammelten Holzschnitten weist Frölichs Druck interessanterweise auch einige Illustrationen auf, die möglicherweise direkt vom Großbasler Wandbild abgezeichnet wurden und damit die wohl frühesten Reproduktionen sind. Es handelt sich um den Holzschnitt von den Heiden (hier wurden anscheinend die zwei getrennten Bilder der Friedhofsmauer in eins gesetzt), den Koch und die Figuren von Maler und Malerin (wiederum auf nur einem Holzschnitt zusammengestellt). Maurer vermutet des weiteren für den Holzschnitt des Blinden sowie das OekolampadEinzeluntersuchungen
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Vgl. zu dieser Darstellung auch S. 283 im Abschnitt über den Berner Totentanz. Vgl. Sodmann (Ed.), S. 52; auch Maurer (S. 298) glaubt, daß es sich z.T. um wiederverwendete Holzschnitte handelt.
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Portrait einen Zusammenhang mit dem „Original“;840 der Sündenfall-Schnitt wurde in dieser Hinsicht bereits oben untersucht. Aufgrund der zeitttypischen Ermangelung jeglichen Urheberrechts sieht Frölich sich auch nicht veranlaßt, die Herkunft aller Verse und Illustrationen anzugeben. Er weist allerdings implizit darauf hin, daß nicht alles aus seiner eigenen Feder stammt, indem er an mehreren Stellen des Werks als dessen Concinnator firmiert, also quasi als Kompilator. Auch sagt Frölich nicht ausdrücklich, die Bilder (der Name Holbein wird nicht erwähnt) gehörten zu den Versen des Basler Totentanzes. Seine Formulierung lautet, ihm seien „endtlichen etliche feine Figuren zu handen kommen/ die meinem erachten nach/ hie einzuverleyben bequemlich und tauglich“ (Vorrede). Der Irrtum, der Basler Totentanz stamme von Holbein, kann also nicht allein Frölich angelastet werden, sondern geht auch auf ungenaue Rezeption zurück, sicherlich verstärkt durch die späteren Wiederauflagen der Frölichschen Kompilation durch die Gebrüder Mechel. Daneben ist zu beachten, daß allein schon die Tatsache, daß Holbein ebenfalls in Basel wirkte und dort seinen Totentanz schuf, Anlaß zu der Vermutung gegeben haben mag, daß er auch den Prediger-Totentanz malte. Solche Überlegungen konnten natürlich nur vor dem Hintergrund der Unkenntnis von dessen Entstehungszeit angestellt werden, denn Holbeins Schaffensperiode beginnt erst mehrere Jahrzehnte später; als der Basler Totentanz gemalt wurde, war er noch nicht einmal geboren. Das Personeninventar von Berner und Basler Totentanz erweitert Frölich nochmals um fünf Figuren aus Holbeins Imagines mortis: Domherr, Schiffmann, Spieler, Säufer und Räuber. Die Texte zu diesen Bildern erscheinen bei ihm unter der schon oben erwähnten Überschrift Concinnator. Ihre Herkunft ist daher unklar; vermutlich hat Frölich sie selbst gedichtet. Interessanterweise hat er hier darauf geachtet, die Verse den Bildern anzugleichen. In der an den Spieler gerichteten Strophe läßt er den Tod ausrufen: Huy Todt truck ab die Gurgel sein und nimmt damit deutlich auf den im Bild erkennbaren Würgegriff der Leichengestalt Bezug. Der Spieler seinerseits ruft seine Gesellen um Hilfe an vor dem wsten Thier, das auf der anderen Seite der Abbildung, dem Tod gegenüber, zu sehen ist. Ähnlich spricht der Tod den Spieler an: Halt halt ich will dir schencken eyn – Der Basler Totentanz
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Vgl. Maurer, S. 298. Sollte es sich in der Tat bei dem Oekolampad-Bildnis um eine Kopie vom Gemälde handeln, bliebe zwar zu fragen, warum GS sich dafür entschied, nur den Kopf abzuzeichnen anstatt das ganze Bild, jedoch fällt auf, daß eine gewisse Ähnlichkeit des Geistlichen mit dem Prediger auf Merians Kupferstich vorliegt; beide Männer tragen zudem die gleiche Kopfbedeckung (dies allein muß allerdings noch nichts heißen; es handelt sich um eine zeittypische Form des Baretts – auch Luther und andere Reformatoren oder auch Humanisten wurden z.B. häufig so dargestellt). Die Abbildung bei Frölich ist jedoch seitenverkehrt. Die Arbeitsweise bei Hoch- und Tiefdruckverfahren bedingt bei Reproduktionen zwar die Spiegelung der Bilder, doch läßt sich dieses Problem bei Nachbildungen technisch durchaus lösen – in der Praxis ersparte man sich aber beim Kopieren von Holzschnitten oftmals die Mühe des erneuten Umkehrens. Seitenverkehrte Abbildung liegt noch bei zahlreichen anderen (nicht allen!) Illustrationen des Frölichschen Druckes vor, wie sich anhand eines Vergleichs mit Holbein leicht feststellen läßt. Möglicherweise sind auch die Heiden verkehrtherum abgebildet: Es fällt auf, daß sie, anders als sonst die Figuren auf den Basler Totentanzbildern, deutlich nach rechts gerichtet sind. Der Koch dagegen steht richtigherum.
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auch hier ist der Text eindeutig auf die Illustration zugeschnitten, auf der das Hautskelett den Säufer zwingt, aus seinem Krug zu trinken. Einen Sonderfall stellt in gewisser Hinsicht die Figur des Prädikanten (Bern: „Doctor der H. Geschrifft“) dar. Für diese Figur gibt es nicht nur Verse aus Bern, sondern auch eine im selben Schrifttyp und gleicher Anordnung wie der Basler Text gedruckte Strophe mit acht Versen; ebenso existiert hierfür eine lateinische Übersetzung. Der Basler Totentanz hatte allerdings auf der Seite zuvor mit dem Türken geendet, betont durch den Hinweis: „Ende des Todtentantzes zu Basel“. Maßmann nimmt die Strophe in seine Edition des Basler Totentanzes auf, vielleicht im Anschluß an Vermutungen, das Gemälde habe wohl ehemals auch am Ende einen Prediger gezeigt,841 wie dies ja in mehreren Totentänzen der Fall ist – so auch im oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text, von dem die Basler Verse eine Variante darstellen (s.u.). Frölichs Hinweis auf das Ende des Basler Totentanzes scheint Maßmann dabei übersehen zu haben. Möglich scheint es auch, daß Frölich diese Strophe selbst gedichtet hat; dies ist um so wahrscheinlicher, als sich auch über dieser Strophe wieder die Bezeichnung Concinnator findet. Es fällt auf, daß auch die Prädikanten-Strophe von einer lateinischen Übersetzung begleitet wird. Maßmann behauptet nämlich, daß die lateinische Version des Basler Totentanzes von einem Dichter namens Caspar Laudismann stamme und einige Jahre älter sei als Frölichs Druck.842 Wenn dem so ist und der Text des Prädikanten tatsächlich auf Frölich selbst zurückgeht, dürfte für diese Figur keine lateinische Strophe vorhanden sein, es sei denn, Frölich hätte sie selbst hinzugedichtet.843 Überhaupt fällt auf, daß die Strophen von Maler, Türke und Prädikant aus dem üblichen Rahmen von vier Versen fallen.844 Diese letzten, wohl bei der Kluberschen Renovation hinzugefügten Strophen des Totentanzes sind ein deutliches Einzeluntersuchungen
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Maßmann nimmt zumindest für den Klingentaler Totentanz an, das Gemälde habe sowohl vorn als auch hinten einen Prediger besessen (Maßmann, Baseler Todtentänze, S. 63); vgl. des weiteren Egger 2000, S. 52; ebenso Hammerstein, Tanz und Musik, S. 184: „Wenn auch die Kleinbasler Kopie […] keine Rahmung des Totentanzes durch die beiden Prediger zeigte, so müssen wir doch aus anderen Indizien schließen, daß im Großbasler Fresko am Anfang und am Ende ein Prediger stand. […] Den zweiten Prediger hatte bereits die Klaubersche Restaurierung von 1568 beseitigt und nach dem Zeugnis von Frölich (1588) durch das Bild eines […] Türken ersetzt“. Hammerstein bezieht sich dabei auf das Beinhaus-Fresko von Metnitz, das „nahe mit Basel verwandt“ sei und ebenfalls einen zweiten Prediger zeige (ebd.). Da es in diversen Totentänzen eine Predigerfigur am Ende gibt und auch der Text des oberdeutschen vierzeiligen Totentanzes eine zweite Predigt am Ende enthält, sind Vermutungen, der Großbasler Totentanz habe ursprünglich am Ende auch einen Prediger aufgewiesen, nicht ganz unberechtigt. Maßmann, Baseler Todtentänze, S.19, Anm. 1. In der neueren Literatur wird es in der Tat für möglich gehalten, daß Frölich die lateinischen Verse selbst gedichtet hat (vgl. Layet, Basler Totentanz 1583, S. 57). In diesem Fall müßte man annehmen, daß Maßmann sich geirrt hat. Er unterstützt seine Ausführungen allerdings mit einem bibliographischen Nachweis, so daß man geneigt ist, sie für zutreffend zu halten. Fünf Verse umfaßt die eigentlich zum alten Textbestand gehörende Strophe des Kindes. Der letzte Vers Ach lehr mich vor im Krrlein gohn (Nr. 38) scheint allerdings bei der Renovation von 1568 hinzugefügt worden zu sein; im ansonsten übereinstimmenden Text des oberdeutschen vierzeiligen Totentanzes wie auch in Klingental befinden sich nur vier Verse.
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Zeugnis ihrer Zeit und heben sich dadurch vom restlichen, älteren Textbestand ab. Der durch seine Länge herausstechende Text des Malers mag auf dessen exponierte Stellung zurückzuführen sein – schließlich setzt Kluber sich hier am Ende des Totentanzes selbst ein Denkmal. Die selbstbewußte Darstellung des Malers ist dabei sehr verschieden von dem Vorgehen früherer spätmittelalterlicher Künstler, anonym hinter ihr Werk zurückzutreten. Dem Prädikanten kann, da er den Totentanz beschließt, auch eine längere Rede in den Mund gelegt sein; dies ist noch in anderen Totentänzen der Fall. Warum aber dem Türken mehr Raum zugestanden wird als anderen Personen, bleibt etwas unklar. Vielleicht ist der Grund hierfür in der Bedeutung zu suchen, die die Türkenkriege als aktuelle Bedrohung im Bewußtsein der Zeitgenossen besaßen.845 Wenngleich die Totentanz-Drucke des Hulderich Frölich bis auf wenige Ausnahmen in den meisten Publikationen zum Basler Totentanz eher an den Rand gedrängt erscheinen, so handelt es sich bei ihnen jedoch um eine ganz eigene Form der Aufarbeitung dieses Denkmals, die gerade auch in Bezug zum Thema der Bild-Text-Beziehungen manche aufschlußreiche Erkenntnis ermöglichen. In jedem Fall ist Frölich einer der wichtigsten Überlieferer des Basler TotentanzTextes (sowie einiger weniger Bilder) und gibt so einerseits Auskunft über die Figurenfolge, andererseits wird durch einen Vergleich mit dem Text bei Merian deutlich, an welchen Stellen die Strophen im frühen 17. Jh. dann nochmals modernisiert wurden. Darüber hinaus geben die Frölich-Drucke auch Auskunft, in welcher Form der Basler Totantanz rezipiert wurde und wie das zeitgenössische Verständnis mit diesem Mahnmal umging und es sich aneignete. Der Basler Totentanz
3.3.2.4. Die neuentdeckte Gouachenfolge des Basler Totentanzes Die 1998 von Uli Wunderlich der Fachwelt bekanntgemachten Gouachen846 aus dem Besitz eines italienischen Kunsthistorikers des 19. Jhs.847 nehmen in der Forschungsgeschichte eine Sonderstellung ein. Erst in jüngster Zeit beschrieben und untersucht, waren sie dem Gros der Wissenschaftler, die den Basler Totentanz
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Der Türke des Basler Totentanzes sagt in Frölichs Text: O Machomet ich rff dich an/ Vnd mein gantz Geschlecht Solyman/ Die g’wunnen haben so vil Landt (Nr. 36). Damit liefert er einen relativ präzise datierbaren historischen Hintergrund für die Abfassung dieser Strophe: Süleymn der Prächtige war 1521 bis nach Belgrad vorgedrungen und hatte die Stadt besetzt. Vor den Toren Wiens wurden die Türken schließlich 1529 und 1532 besiegt. Zur vermuteten Entstehungszeit dieses Textes (das Jahr der Erneuerung durch Klauber, 1568) dürften diese Ereignisse in der kollektiven Erinnerung noch ausreichend präsent gewesen sein, um eine solche Erwähnung auf einem öffentlichen Denkmal zu rechtfertigen. Schuchard bezeichnet die Bilder als Tempera-Malereien (vgl. Schuchard, S. 57). Der Unterschied besteht in der Zusammensetzung der Farben: Während es sich bei Tempera meist um Farben auf Ei-Basis handelt, ist Gouache eine Wasserfarbe. Mit beiden Farbarten lassen sich deckende Malschichten erzeugen. Nähere Angaben ebd., S. 58 mit Anm. 32f.
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untersuchten, noch unbekannt.848 Vielleicht können aber gerade diese Malereien über einige bisher unklare Punkte Auskunft geben. Leider sind bisher nur 8 der 40 Blätter als Reproduktionen publiziert worden. Aufgrund der Tatsache, daß die Gouachenfolge zwar schon die Änderungen Klubers beinhaltet, aber noch die Figuren von Kind und Türke enthält, die Bock übermalt hatte, ergibt sich ein Zeitfenster von 1568 bis 1614-16, innerhalb dessen die Bilderfolge entstanden sein muß, wie Wunderlich meint.849 Einzeluntersuchungen
Fraglich bleibt, ob die Gouachen tatsächlich direkt vom Wandgemälde an der Friedhofsmauer abgemalt wurden oder auf einer verlorenen Zwischenstufe fußen. Wunderlich konstatiert große Übereinstimmungen mit der von Hans Bock d. Ä. überlieferten Federzeichnung,850 dagegen aber Abweichungen von Merian: Dies würde für Authentizität sprechen. Andererseits ist zweifelhaft, ob der Text wirklich die Strophen festhält, die am Wandbild zu sehen waren, denn ein Vergleich mit Frölichs Text zeigt, daß die Gouachen zum Teil andere Sprachformen aufweisen. Wunderlich beurteilt die Texte folgendermaßen: Die Wortwahl weist auf eine stark umgangssprachliche Vorlage hin, altertümlicher und stilistisch weniger geglättet als die Texte in den ältesten Buchausgaben. Denkbar wäre sowohl die Niederschrift nach einer nicht dokumentierten Version als auch nach der mündlichen Überlieferung.851
Für bloße mündliche Überlieferung sind allerdings m.E. die wörtlichen Übereinstimmungen mit den schriftlich auf uns gekommenen Texten doch wieder zu groß. Als Beispiel für einen Textvergleich zwischen den verschiedenen Versionen mögen die Strophen des Kindes (Nr. 38) dienen, die hier denjenigen aus Großbasel, Klingental und dem oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text gegenübergestellt sind: Kreüch har Kind du muost Tantzē lehrē Wein oder lach magst dich nit Wehren Hettest schon die Brüst in deinem mund So hilffts dich nitt zuo dißer Stund Gouachenfolge
O wee mein liebes Müetterlein, Ein dürrer man zücht mich dahin. O müetterlein wilt du mich Lahn Muoß Tantzen vnd kann noch kaum gaħ
Kreich hehr Kindt du mst tantzen lehren/ Weyn oder klag/ magst dich wehren: Hettest schon die Brüst an deim Mundt/
O wee mein liebes Mtterlin/ Ein drrer Mann zeucht mich da hin: O Mtterlein wilt du mich Lohn/
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Die beiden einzigen mir bekannten Reaktionen auf Wunderlichs Publikation finden sich bei Schuchard, die sich Wunderlichs „stichhaltigen Argumenten“ anschließt (Schuchard, S. 57), sowie bei Layet, der über die Gouachen sagt, sie stammten aus dem Anfang des 18. Jhs., seien aber eine sehr getreue Kopie eines Werkes aus dem 17. Jh. (Layet, Basler Totentanz 1583, S. 57). An anderer Stelle dagegen spricht Layet unverständlicherweise von „den Gouachen aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts“ (ebd., S. 59). Hierbei mag es sich um einen Druckfehler handeln; ob Layets Datierungen anderweitiger Forschungsliteratur entnommen oder selbst erarbeitet sind, bleibt mangels näherer Angaben leider unklar. Wunderlich, Ubique Holbein, S. 48. Vgl. S. 230. Wunderlich, Ubique Holbein, S. 32.
Der Basler Totentanz So hilffts dich nicht z dieser Stundt.
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Muß tantzen/ vnd kann noch kaum stohn: Ach lehr mich vor im Krrlein gohn.
Frölich (1608) Ksiuch her du musz danzen leren wein oder lach du magt dich neit herweren vn(d) hettestu die tutten an dem Mundt Es hulf (dich) neit zo disser Stundt. Klingental
O we min liebes mutterlin Ein Magere man zucht mich dahin (A) de wilt du mich also lon Ich motz danzen ich kan noch nit gon852
Kreuch her, du must hie tanzen lern. Wein oder lach, ich hor dich gern Hettest du den dutten in dem mund, Es hulf dich nit an diser stund. Obd. vierz. Totentanz-Text (Nr. XXIII)
O we, liebe muter mein, Ein schwarzer man zeucht mich dahin. Wie wiltu mich also verlan? Muss ich tanzen und kann nit gan?
Für den Text gab es möglicherweise irgendeine andere Vorlage, vielleicht eine ältere Abschrift. Wenn nun aber der Text nicht von der Wandmalerei abgenommen wurde, könnte man ebenso gut anzweifeln, daß es sich bei den Gouachen um eine direkte Bildkopie handelt, zumal sich der Künstler verschiedene Freiheiten nahm. Zwar scheinen die Figuren recht genau abgemalt worden zu sein, wie ein Vergleich mit Merian zeigt, doch sind die (auf dem Wandbild wohl schlichten) Hintergründe sehr frei und oft ausgesprochen detailliert gestaltet. Die Landschaft ist offenbar der reinen Fantasie entsprungen, wie dies vor allem die fernöstliche Architektur im Bild des Waldbruders veranschaulicht. Besonders interessant sind die bereits erwähnten Abbildungen von Kind und Türke, da diese nirgends sonst erhalten sind.853 Bei der Darstellung des Kindes fällt auf, daß abweichend zum sonstigen Muster zwei Todesgestalten auftreten. Anders als bei den meisten anderen Figuren ist in diesem Bild auch nicht einmal ansatzweise eine Ausrichtung nach links zu erkennen. Diese beiden Besonderheiten mögen aber dadurch bedingt sein, daß das Kind selbst – wie im Text ausgedrückt – noch nicht gehen kann und daher von zwei Todesfiguren (vielleicht als Zerrbild eines Elternpaares, die dem Kind das Gehen beibringen) aufgerichtet wird. Das Bild des Türken zeigt ebenfalls mehr Figuren als gewöhnlich, nämlich in treuer Fortführung des Ordnungskriteriums ‚Geschlecht’ auch die Frau des Türken sowie eine dritte menschliche Gestalt. Diese hält Wunderlich für den Maler der Gouachen, der sich hier selbst verewigt hat. Seine modisch anmutende Kleidung ist möglicherweise als weitere Datierungshilfe zu gebrauchen und scheint ins frühe 17. Jh. zu weisen.854 Der Tod dagegen verschwindet fast hinter Der Basler Totentanz
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Der Klingentaler Totentanz wird zitiert nach Maßmann, Baseler Totentänze. Nicht ganz von der Hand zu weisen wäre wohl auch die Möglichkeit, daß die Bilder von Kind und Türke Erfindungen des Gouachen-Malers sind: Vielleicht wollte er diese beiden Figuren in den Reigen einarbeiten, weil seine Textvorlage sie enthielt; ob sie aber auf seiner Bildvorlage enthalten waren und so aussahen, wie er sie wiedergibt, ist nicht nachprüfbar. Eventuell würden sich so auch die oben besprochenen Abweichungen gegenüber dem restlichen Bildbestand erklären. Wunderlich, Ubique Holbein, S. 44.
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den Menschen, die aufgrund des Bildformats etwas zusammengepfercht erscheinen. Insgesamt ist die Gouachenfolge ein weiteres interessantes Dokument aus der bewegten Rezeptionsgeschichte des Basler Totentanzes. Wünschenswert wäre eine vollständige Veröffentlichung aller 40 Bilder, um diese neue Quelle der Forschung in ihrer Gesamtheit zugänglich zu machen, so daß weitere detaillierte Vergleiche mit den anderen Bild- und Textzeugen angestellt werden können. Des weiteren steht noch eine genaue stilgeschichtliche Untersuchung der Malereien von kunsthistorischer Seite aus, um ihren bisher nur durch externe Randdaten abgesteckten Entstehungszeitraum zu verifizieren.
3.3.2.5. Merians Kupferstiche Matthäus Merian d. Ä. fertigte seine Abzeichnung des Basler Totentanzes im Jahre 1616 an, kurz nachdem Emanuel Bock die zweite (verbürgte) Restaurierung des Gemäldes beendet hatte. Möglicherweise war diese Renovation auch der Anlaß für Merians Arbeit, wie Wüthrich vermutet.855 Die Totentanz-Radierungen erschienen 1621 in Basel, allerdings nicht durch Merian selbst verlegt. Nach einer weiteren Auflage von 1625 besorgte Merian schließlich 1649, kurz vor seinem Tod, persönlich eine neue Ausgabe, die sich von den vorhergehenden grundsätzlich dadurch unterschied, daß die Totentanz-Radierungen mit verschiedenen Abhandlungen zusammengestellt wurden.856 Einer an den Beginn gestellten Widmung an seinen Vetter (der dem Rat der Stadt Basel angehörte) läßt Merian die „Vorrede an den Christlichen Leser“ folgen, die Angaben über die Geschichte des Totentanzes und moralisierende Betrachtungen über dessen Zielsetzung enthält. Eine Schrift über die Stadt Basel von Aeneas Sylvius (Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II.) geht dem eigentlichen Totentanz noch voran. Dieser wird um sechs Strophen verlängert, die den Sündenfall und die Erlösung der Menschheit durch Christus behandeln; ihre Herkunft ist unklar.857 Den Beschluß bilden ein vierseitiges Gedicht des Titels Einzeluntersuchungen
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„Anlaß zu seinen [Merians] Zeichnungen mag die vom Maler Emanuel Bock im Auftrag der Pfleger der Predigerkirche ausgeführte Restauration der Wandgemälde gewesen sein, die 1616 nach zweijähriger Arbeit ihren Abschluß fand. Vielleicht handelte Merian wie Bock ebenfalls im Auftrag der Pfleger, denen das nach seinen Radierungen später hergestellte Buch gewidmet ist“ (Wüthrich, S. 347). Die Angaben im vorliegenden Kapitel basieren auf dem 1696 erschienenen Nachdruck: Todten=Tantz/ Wie derselbe in der lblichen und weitberhmten Statt Basel/ Als ein Spiegel Menschlicher Beschaffenheit/ gantz knstlich gemahlet und zu sehen ist. Mit beygefgten/ aus H. Schrifft vnd denen Alten Kirchenlehrern gezogenen/ Erinnerungen/ vom Todt/ Aufferstehung/ Jngsten Gericht/ Verdanß der Gottlosen/ und dem Ewigen Leben. Nach dem Original in Kupffer gebracht/ und herauß gegeben; durch MATTH. Merians sel. Erben. Franckfurt/ Im Jahr M DC XCVI. Man könnte vermuten, daß Merian diese Zusatzstrophen selbst verfaßt hat, betätigt er sich doch auch im restlichen Teil des Werks als Schriftsteller, wenn er dem Totentanz seitenlange
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Betrachtung der Sterblichkeit/ Besserung deß Lebens/ und standhaffte Beharrung in allem Guten biß ans Ende, eine lange erbauliche Betrachtung der VanitasThematik unter Rückgriff auf die Bibel und verschiedene Kirchenlehrer sowie zwei Predigten von Cecilius Cyprianus und Johannes Chrysostomos.858 Durch diese Erweiterung wird aus dem Totentanz ein regelrechtes Erbauungsbüchlein,859 vergleichbar den Buchtotentanz-Ausgaben früherer Jahrhunderte wie etwa der Lübecker Inkunabel Des dodes dantz von 1489. Diese Textaufschwellung zeigt auch, daß für den Zeichner Merian keineswegs nur die Bilder von alleiniger Bedeutung sind. Die zusätzlich zu den TotentanzStrophen den moralischen Gehalt der Bilderreihe ausbauenden Texte sind von ebenso hohem Stellenwert – mit insgesamt 115 Seiten beanspruchen die Abhandlungen sogar mehr Raum als der eigentliche Totentanz mit 83 Seiten. So überrascht es nicht, daß Merian sich mit der Aussage und Wirkung des Totentanzes intensiv beschäftigt hat: In seiner Vorrede hält er acht „Nutzbarkeiten“ des Gemäldes fest.860 In diese Richtung geht auch die Titelformulierung, die – allerdings auch schon in ähnlicher Form in den Ausgaben von 1621 und 1625 vorhanden und daher nicht unbedingt von Merian stammend – dem Basler Totentanz beigegeben wurde: Todten-Tantz// Wie derselbe in der lblichen und weitberhmten Stadt Basel/ Als ein Spiegel Menschlicher Beschaffenheit/ gantz knstlich gemahlet und zu sehen ist. Mit beygefgten/ aus H. Schrifft und denen alten Kirchenlehrern gezogenen Erinnerungen/ vom Todt/ Aufferstehung/ Jngsten Gericht/ Verdanß der Gottlosen/ und dem ewigen Leben. Die bereits früher mehrfach erwähnte Buchtitelmetapher des Spiegels kommt hier wieder einmal zum Tragen. Abgesehen von der offenkundigen moralischen Sinnsetzung ist Merian, wie vor ihm Frölich, der Ansicht, daß der Totentanz der Stadt Basel zur Ehre gereiche. Er versteht sein Werk daher zu einem gewissen Teil auch als Stadtlob. Das Totentanzgemälde, so Merian, sei „ein altes Monument vnd rare Antiquitet“; es sei „denckwrdig“ und werde immer wieder von vielen Reisenden gern betrachtet.861 Unbestritten ist der Stellenwert, der Merians Radierungen für die Erforschung des Basler Totentanzes zukommt. In diesem Sinne merkt auch Wüthrich an: Der Basler Totentanz
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moralisierende Betrachtungen vorausgehen läßt, die sich auf einem relativ hohen Reflexionsniveau befinden und durchaus mit dem Tonfall in der Widmung und der Vorrede zusammenstimmen, die ja mit Sicherheit von Merian sind. Den eingeschobenen Zusatzversen folgt dann noch der Schlußsatz, den auch Frölich überliefert: Mit stiller Stund/ gehn wir zu Grund, ebenso wie die lateinische Inschrift über die Auftraggeber der Renovation, ergänzt durch eine zweite Inschrift, die offenbar bei der erneuten Restaurierung durch Bock hinzugefügt wurde. Diese Angaben stützen sich auf den Nachdruck, den Merians Erben 1696 mit den Originalplatten veranstalteten; die Ausgabe von 1649 war mir leider nicht zugänglich. Die beiden Drucke sind jedoch bis auf kleine Abweichungen in der Titelformulierung identisch (vgl. die Übersicht bei Wüthrich, S. 357-362). Merian selbst bezeichnet sein Buch als „Tracttlein“ (Vorrede, S. 10). Vgl. auch Wüthrich, S. 350f. – Weil Merian zum Zeitpunkt des Erscheinens der Ausgabe seinen eigenen Tod kommen sah (vgl. Vorrede, S. 14), besaß der Totentanz nun für ihn auch eine ganz neue, besonders persönliche Relevanz, die sicherlich auch in seine moralischen Betrachtungen einfloß. Vorrede, S. 10 bzw. 12.
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Ohne Merians Totentanzkopie mit ihren wichtigen Angaben zur Entstehung und zur Geschichte des leider untergegangenen Malwerks kommt auch heute kein Bearbeiter der Basler Wandbilder aus. Das immer wieder von neuem aufgegriffene Thema bleibt ohne Merians Kommentar un862 vollständig.
Die Vorrede stellt nach Meinung der neueren Forschung „die erste und aufs Ganze gesehen zuverlässigste Abhandlung über das Großbasler Totentanzgemälde“863 dar. Es sind jedoch nicht nur Merians Bemerkungen in seiner Vorrede, die das Werk in diesem Zusammenhang unersetzlich machen, sondern vor allem auch die einfache Tatsache, daß Merians Abzeichnung die älteste vollständige Kopie des Basler Totentanzes ist. So sind die Radierungen vor allem auch für die Untersuchung des Bildmaterials nach wie vor eine wichtige, wenn nicht sogar die bedeutendste Basis – letzteres jedenfalls solange keine vollständige Veröffentlichung und Rezeption der Gouachenserie stattgefunden hat. Der bei Merian abgedruckte Text dagegen gleicht im wesentlichen Frölichs Version. Hier und dort wurden Schreibungen angeglichen, doch haben die Änderungen keine inhaltlichen Auswirkungen und können daher im vorliegenden Zusammenhang vernachlässigt werden. Will man Merians Radierungen als Untersuchungsgrundlage verwenden, ist natürlich zunächst die Frage zu beantworten, wie getreu seine Kopie des Basler Wandgemäldes ist. Letztgültige Sicherheit wird in diesem Punkt nicht zu gewinnen sein, da das Original zum Abgleichen nur in (zudem größtenteils noch übermalten) Fragmenten vorhanden ist. Der Vergleich von Merians Stichen mit den wenigen Holzschnitten aus Frölichs Drucken, die nicht Holbein nachempfunden, sondern Kopien des Gemäldes in der Kluberschen Fassung sind, zeigt, daß Merian recht genau gearbeitet haben muß. Ebenso entspricht die Figurengestaltung der zuvor erwähnten Gouachenserie in vielen Zügen derjenigen Merians. Insgesamt zeigen sowohl die vor als auch nach Merian erschienenen Reproduktionen große Übereinstimmungen mit seinen Kupferstichen. Es scheint sich in der Tat bei den Restaurierungen nach Kluber größtenteils um ausbessernde Tätigkeiten gehandelt zu haben (bis auf wenige Ausnahmen bei Bock), so daß Merians Fassung alles in allem eine recht getreue Nachbildung des Gemäldes ist, wie es sich vom späteren 16. Jh. an den Betrachtern darbot. Der Figurenhintergrund wurde von Merian in der von ihm selbst herausgegebenen Auflage seiner Radierungen neu gestaltet; die Kunsthistoriker sprechen hier vom I. und II. Zustand.864 Merian ließ die Platten überstechen, so daß die zunächst freigelassenen Hintergründe nun mit Schraffur und Wolken versehen waren und die Böden eine differenziertere Gestaltung bekamen. Dies wirft die Frage auf, wie der Hintergrund auf dem Wandgemälde ausgeführt war. Auf den wenigen verbliebenen Originalfragmenten ist sehr wenig davon zu sehen; es scheint sich um Einzeluntersuchungen
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Wüthrich, S. 351. Ebd., S. 349. Vgl. ebd., S. 348, sowie die dort beigegebenen Abbildungen 209-221.
Der Basler Totentanz
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einen dunkelblauen Himmel mit Wolken gehandelt zu haben, der jedoch auch durch die Restaurierungen verändert worden sein mag. In einigen Fällen erscheinen auch die Figuren auf den Radierungen des II. Zustands leicht variiert. Als Beispiel ist hier der Wucherer zu nennen: Im II. Zustand ist die Todesgestalt durch stärkere Schraffur dunkler geworden.865 Interessanterweise ist dies eine der Stellen mit besonders deutlicher Text-Bild-Korrespondenz, denn in der zugehörigen Strophe heißt es Ein schwartzer Todt ist dein Gefehrt (Nr. 24). Die Frage ist nun, ob diese Todesfigur schon auf dem Wandgemälde als schwarz dargestellt war und Merian es übersehen hatte, dies auf der Radierung des I. Zustands getreu wiederzugeben, es aber im II. Zustand verbesserte, oder ob diese Übereinstimmung von Bild und Vers erst durch Merians eigene Idee zustandekam, das Hautskelett zu schwärzen.866 Abweichend vom „originalen“ Zustand des Wandgemäldes ist, wie bereits oben angedeutet, die Figurenfolge bei Merian,867 da diese von Bock einigen Änderungen unterzogen wurde. So beinhaltet Merians Version nicht mehr den Türken und auch kein Bild des Kindes, wohl aber in den ersten Ausgaben vor 1649 noch dessen Verse.868 Eine grundlegende Änderung erfuhr die Bilderfolge bei Merian durch die Gegebenheiten der Buchausgabe, nämlich den Zerfall des fortlaufenden Reigens in einzelne Paare. Hierzu ist allerdings anzumerken, daß nach allem, was man über das ursprüngliche Gemälde weiß, auch auf diesem schon die Figuren in einzelnen Paaren tanzten, die sich untereinander nicht an den Händen hielten und daher auch keinen Kettenreigen bildeten. Die Aufteilung, die Merian vorzunehmen hatte, stellte also keine drastische Zerstückelung der Figurenfolge dar; der alte Totentanz zerfiel schon durch seine Anlage von selbst in Einzelpaare. An dieser Stelle läßt sich die Frage der Tanzformation mit Hammersteins Einteilung in die nieder- und oberdeutschen Totentänze als jeweils diejenigen des Branle- und Basse-danse-Pavanentypus verknüpfen. Nach seiner Darstellung war das historische Vorbild für die niederdeutschen Totentänze der Branle oder Kettenreigen (der auch als Kreisreigen praktiziert werden kann), während die oberdeutschen Totentanzbilder von der Basse danse bzw. Pavane inspiriert scheinen, Der Basler Totentanz
865 866 867
868
Vgl. Wüthrich, Abb. 220f. Dieses Problem ließe sich nur zweifelsfrei klären, wenn man die vollständige Gouachenserie zu Hilfe nehmen könnte. – Zur möglichen Interpretation der schwarzen Todesfigur s. Egger 2000, S. 45, sowie Hammerstein, Tanz und Musik, S. 40 und 45f. Einen etwas verzerrten Eindruck von Merians Bilderfolge vermittelt die Ausgabe von Kaiser. Durch den unvollkommenen Abdruck unter Aussparung des Predigers und des Beinhauses sowie des Sündenfalls entsteht ein schiefes Bild, denn diese beiden Radierungen als Anfangsund Endpunkt des Totentanzes sind integrale Bestandteile zum Verständnis der Gesamtaussage: Das Predigerbild kennzeichnet das Gemälde als monumentale Bußpredigt, während der Sündenfall, von dem der Todeszug ausgeht, die Herkunft des Todes aus dem verhängnisvollen Biß in den Apfel erklärt – nach Art der mittelalterlichen, auf Wortähnlichkeiten begründeten Etymologie sah man hier auch eine Analogie von mors und morsus. Bei Kaiser fehlt somit ein Teil des für die adäquate Rezeption notwendigen Rahmens des Totentanzes. Vgl. Kaiser, S. 271. Da mir leider nur der Nachdruck von 1696 zugänglich war, konnte ich die Angabe Kaisers nicht nachprüfen.
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Einzeluntersuchungen
einem Paartanz.869 Hammerstein ist der Meinung, die Abstände zwischen den Tanzpaaren gäben „die Möglichkeit zu einer Freizügigkeit der Gesten, die vorher unbekannt war.“870 Er attestiert dem Basler Totentanz durch diese Art des Aufbaus einen „außerordentlich lebendigen Eindruck eines raumgreifenden, prozessionsartigen Aufzuges“.871 Einzeluntersuchungen Folglich bietet sich der Basler Totentanz für eine Wiedergabe in Buchform eher an als Totentänze wie das Gemälde in der Lübecker Marienkirche, dessen Aufteilung in Einzelpaare noch zusätzlich dadurch erschwert würde, daß die Strophen durch die spezielle Struktur eng und ununterbrochen wie die Tanzpaare auf dem Bild miteinander verknüpft sind. Feyerabend hat auf seiner Zeichnung versucht, den Gesamteindruck des Basler Totentanzes als fortlaufende Folge von Tanzpaaren wieder einzufangen. Doch auch auf Merians Einzelbildern ist die Herkunft der Figurenpaare aus einem nach links führenden Tanz an der Ausrichtung und Bewegung der Gestalten noch zu erkennen. Dennoch zeigen sich „Auflösungserscheinungen“, die an Holbeins abgeschlossene Todesbilder erinnern,872 was in Merians Einzelbildern pointierter auffällt. Beispiele hierfür sind der Wucherer und besonders der Maler, in einem gewissen Maße auch der Blinde, dessen Bild mit zahlreichen Details ausgeschmückt ist.873 Bei diesen Figuren ist deutlich die Tendenz zu erkennen, das Tanzpaar zu einer eigenen, aus dem Reigen herausfallenden Szene auszugestalten. So sitzt der Wucherer an einem Tisch und ist daher nicht weit von der Holbeinschen Darstellungsweise entfernt, wo die Todesbegegnungen nicht mehr vor einem einheitlichen Hintergrund, sondern in verschiedenen Räumen – ohne Kontiguität untereinander und nicht auf derselben Zeitebene – stattfinden. Ebenso verhält es sich mit dem Maler, der auch aus der allgemeinen Ausrichtung nach links herausfällt, aufgrund seiner exponierten Position aber ohnehin einen Sonderfall darstellt. Die Idee, den Text der Todesgestalten über den Bildern, die Strophen der Menschen darunter anzuordnen, stammt möglicherweise von Merian selbst, denn zu dem Zeitpunkt, als er das Gemälde abzeichnete, befanden sich die Verse oberhalb der Figuren.874 Merian weist in seiner Vorrede darauf hin, daß er bei der Übertragung der Totentanz-Texte Sorgfalt walten ließ; diese seien „von Wort zu Wort/ wie sie lauten nach dem Originali, hiebey getruckt worden“.875 869 870 871 872 873
874 875
Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 66f. (zum Branletypus) bzw. 75-81 (zum Bassedanse-Pavanentypus sowie u.a. dem Basler Totentanz). Ebd., S. 78. Ebd., S. 80. Die Tendenz zu abgeschlossenen Einzelbildern findet sich auch schon in der ursprünglicheren Form Klingentals, vgl. z.B. auch dort den Wucherer; dieses Charakteristikum war also auch schon dem alten Totentanz vor der Restaurierung eigen. Wunderlich spricht hier von narrativer Ausgestaltung (vgl. Wunderlich, Ubique Holbein, S. 36). Quasi in der Imagination das Bild fortschreibend, kann der Betrachter schließen, was gleich geschehen wird: Der Tod ist nämlich dabei, dem Blinden seinen Taststock wegzunehmen und die Leine seines Hündchens durchzuschneiden. Als Folge wird der Mann in das schon fertig für ihn ausgehobene Grab stürzen. Laut Merian waren die Verse „vber jedem Bilde zu sehen“ (Vorrede, S. 11). Ebd.
Der Basler Totentanz
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In der Form von Merians Radierungen erreichte der Basler Totentanz wohl seine größte Bekanntheit. Nach Merians Tod brachten seine Erben, wie erwähnt, das Werk nochmals 1696 heraus und veranlaßten eine französische Ausgabe, die 1698 erschien. Mit den Originalplatten wurden vor ihrem Verschwinden noch mindestens zwei weitere Auflagen veranstaltet. In den kommenden Jahrhunderten verbreiteten Merians Totentanz-Bilder sich dann durch Kopieradierungen von Jacques-Antony Chovin, die dieser 1744 angefertigt hatte. Auch in der Moderne kam es zu zahlreichen Neuauflagen und Faksimilia.876 So hat die Ubiquität von Merians Radierungen nicht nur die Diskussion um den Basler Totentanz in vielerlei Hinsicht entscheidend mitgeprägt, sondern auch in den wesentlichen Zügen das Bild bestimmt, das sich die interessierte Öffentlichkeit von diesem Werk in den vergangenen drei Jahrhunderten gemacht hat. Der Basler Totentanz
3.3.2.6. Der Basler Totentanz in Beziehung zum Klingentaler Wandgemälde Wie bereits mehrfach erwähnt, stellt der Klingentaler Totentanz nach der in der neueren Forschung vorherrschenden Ansicht eine frühe Nachbildung der Wandmalerei auf dem Predigerkirchhof dar; man schätzt die Entstehungszeit auf etwa 1480.877 In der älteren Forschung und auch in einzelnen neueren Publikationen sind (nach wie vor) abweichende Datierungen zu finden, die meist auf dem Glauben basieren, Klingental gebühre aufgrund seines altertümlicheren Aussehens die zeitliche Priorität.878 Daß das Gemälde in dem Frauenkloster ein älteres Deutsch und auch eine weniger moderne Figurengestaltung zeigt als der Basler Totentanz in der überlieferten Form, erklärt sich jedoch dadurch, daß der Klingentaler Totentanz im Gegensatz zu seinem Vorbild vermutlich nicht (komplett) restauriert 876 877 878
Vgl. die Übersicht der Ausgaben bei Wüthrich, S. 352f. und 357-362. Vgl. Riggenbach, S. 112. Maurer datiert den Klingentaler Totentanz auf die Zeit um 1450 (vgl. Maurer, S. 307). Auch nach der Entdeckung, daß die ursprünglich falsch gelesene Jahreszahl 1512 und nicht 1312 lautete (s.o. Anm. 826), war die Überzeugung des höheren Alters von Klingental noch verbreitet, vgl. z.B. Cosacchi, S. 759; Goette spricht vom „ältesten und ehrwürdigsten aller uns bekannten Totentanzgemälde“ (Goette, S. 67). – Eine ganz andere Version bietet Koller an. Die Datierung von Klingental und die daraus resultierende Überlieferungsfolge, die er rekonstruieren zu können glaubt, ist äußerst verwickelt. Er hält den Großbasler Totentanz für das ältere Wandbild, das 1512 die Entstehung der Klingentaler Malerei inspiriert habe. In dieser seien aufgrund verschiedener Gegebenheiten signifikante Änderungen gegenüber der Großbasler Vorlage eingeführt worden. Bei einer dann folgenden Restaurierung des Großbasler Bildes seien viele Züge aus Klingental in den Prediger-Totentanz übernommen worden – Klingental wäre somit Kopie und Vorlage zugleich (vgl. Koller, S. 528-533; siehe auch dort das Diagramm auf S. 537). Trotz Kollers sorgfältiger Detailanalyse scheinen mir seine Hypothesen sehr konstruiert, zumal er für seine Argumentationsführung eine nicht überlieferte Restaurierung um das Jahr 1520 postulieren muß. Hier geht er allerdings mit Maurer konform, der es ebenfalls für möglich hält, daß das Gemälde zu diesem Zeitpunkt überarbeitet wurde (vgl. Maurer, S. 310; siehe auch Anm. 816).
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Einzeluntersuchungen
worden ist879 (u.a. weil das Kloster für die Öffentlichkeit nicht zugänglich war und daher die dortigen Wandbilder nicht von allgemeinem Interesse waren880) und daher aller Wahrscheinlichkeit dem ursprünglichen Aussehen des Großbasler Totentanzes recht nahekommt: In seiner alten Form des 15. Jhs. wird der Basler Totentanz demjenigen in Klingental sehr viel ähnlicher gewesen sein, als das auf den bekannten Reproduktionen erkennbar ist.881 Aus diesem Grund wird der Klingentaler Totentanz auch vielfach zur Rekonstruktion des „originalen“ spätmittelalterlichen Aussehens des Prediger-Totentanzes herangezogen. Dennoch zeigt sich bei einem Vergleich von Klubers Version (mithilfe von Merian)882 mit Klingental an weitaus der Mehrzahl der Figuren eine immer noch relativ große Deckungsgleichheit. Zwar ergeben sich Abweichungen naturgemäß aus dem im Klingentaler Bild etwas anderen Figureninventar; und einige wenige Personen scheinen bei der Kluberschen Renovation z.B. von ihrem ganzen Habitus her vollkommen erneuert worden zu sein (z.B. der Koch), doch die großen Übereinstimmungen überwiegen dermaßen, daß man im allgemeinen durchaus von vergleichbaren Grund- und oftmals auch Detailstrukturen in beiden Fassungen sprechen kann. So ist als Schlußfolgerung Egger zuzustimmen, der urteilt, „die ursprüngliche Anlage des Bildganzen“ schimmere in den überlieferten Bildquellen noch hindurch, wenn diese auch das Gemälde in einem schon restaurierten Zustand zeigen.883 Trotz weitgehender Übereinstimmung sind die beiden Totentänze jedoch nicht in allen signifikanten Punkten gleich; verschiedene Differenzen lassen sich auch nicht durch die Modernisierung Klubers erklären, sondern werden schon vor dieser vorhanden gewesen sein. Einige von Kluber eingeführte Änderungen des Großbasler Totentanzes, die zu Abweichungen gegenüber dem Klingentaler Gemälde führten, wurden oben bereits behandelt, wie die Hinzufügung einiger Figuren am Ende des Reigens. Doch auch an anderen Stellen des Tanzes ist das Figureninventar in Klingental mit demjenigen seines Vorbilds nicht ganz identisch. Nur in Klingental finden sich z.B. Patriarch, Erzbischof und Begine;884 die ReiEinzeluntersuchungen
879 880 881
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Riggenbach vermutet: „ Es war wohl [...] eine umfassende Restaurierung des Totentanzes geplant, die aber in den Anfängen steckenblieb“ (Riggenbach, S. 100 mit Anm. 3). Aufgrund der Klausur war der Klingentaler Totentanz wohl weitgehend unbekannt. Der Jurist und Kunstfreund J. J. D’Annone machte Büchel erst darauf aufmerksam (vgl. ebd., S. 95f.). Sörries nennt den Klingentaler Totentanz „eine zwar künstlerisch weniger anspruchsvolle, aber doch eine recht getreue Nachahmung des Predigertotentanzes“ (Sörries, Katalog, S. 98). Auch Egger hält fest, die Gegenüberstellung beider Totentänze zeige „eine überraschende Treue in der Gesamtkomposition“ (Egger 1990, S. 27). Für einen solchen Vergleich ist besonders Maßmanns Atlas von großem Nutzen, in dem er die einzelnen Figuren des Klingentaler Totentanzes und der Merianschen Version jeweils untereinander abbildet. Egger 1990, S. 19. Patriarch und Erzbischof gibt es auch im oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text. Die Begine ist jedoch eine Basel-spezifische Neuschöpfung. Geht man auf den historischen Hintergrund etwas tiefer ein, fällt ein gewisser Anachronismus auf: Laut Egger wurden die Beginen in Basel schon 1411 verboten und vertrieben (vgl. ebd., S. 12). Dies wirft natürlich die Frage auf, warum die Begine im Totentanz, der ja auf jeden Fall nach diesem Zeitpunkt entstand, überhaupt noch verewigt wurde. Vielleicht war die Eliminierung der Begine in der
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henfolge der Gestalten ist zu Beginn bei den kirchlichen Würdenträgern etwas anders als diejenige Basels. Plausibel erscheint hier Wunderlichs Erklärung: Schaut man sich die Klingentaler Figuren genauer an, fällt auf, daß zwei davon „Doppelgänger“ haben. Der Kardinal sieht aus wie der Patriarch. Der Erzbischof kann leicht mit dem Bischof verwechselt werden. Weil die Hierarchie der katholischen Kirche in nachreformatorischer Zeit nicht mehr verständlich war, hat man den Kardinal durch die Königin, den Patriarch durch den Kardinal, den Erzbischof durch den Bischof, den Bischof durch die Herzogin und die Begine durch den Krämer ersetzt. Das [...] Fragment des Kardinals, an dessen Stelle vor der Freilegung 885 die Königin zu sehen war, bestätigt dieses Argument. Der Basler Totentanz
Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Wandbildern, der nicht auf die Klubersche Erneuerung zurückgeht, betrifft den Beginn der Totentänze. Wenn sich auch die Geister in der Forschung in einigen Punkten scheiden, welche Elemente des Basler Totentanzes Teil seiner ursprünglichen Form waren und welche nicht, wird zumeist davon ausgegangen, daß die Predigtszene zur ursprünglichen Konzeption des Basler Totentanzes dazugehörte, in Klingental jedoch nicht vorhanden war.886 Auf den Zeichnungen Büchels ist klar zu erkennen, daß am Anfang des Reigens, vor dem Beinhaus, kein Prediger gewesen sein kann, da sich an dieser Stelle ein gotischer Türbogen befand, der offensichtlich schon vor Anfertigung des Totentanzes dort war – im Gegensatz zu vier von den acht Fenstern, die nachträglich durch die Wand gebrochen wurden und dabei Teile des Totentanzes zerstörten. Dennoch glaubt Cosacchi, der Klingentaler Totentanz habe „trotz der links vom ‚Beinhaus’ einst vorhandenen spitzbögigen Tür sicherlich ebenfalls mit der Gestalt des ‚Predigers’“ begonnen.887 Wie dies möglich sein soll, wird allerdings nicht erklärt. Büchel war der Ansicht, das gesamte Bild sei von Kluber hinzugefügt worden.888 Ihm stach ins Auge, daß die Gestalten auf der Predigtszene im Maßstab etwas kleiner gemalt sind als der restliche Totentanz. Daneben fiel er über eine Textstelle bei Merian, wo die Restaurierung durch Kluber beschrieben wird: vnd weil an selbiger langen Maurn noch mehr Platz vbrig war/ hat man zur Gedchtnuß dero An. MDXXIX. kurtz vorhergangenen Reformation/ die Bildnuß deß Gottseligen vnd gelehrten Manns Johannis Oecolampadij/ sonsten Hauß Scheins/ dahin mahlen lassen/ anzudeuten/ wie er allen Stnden das H. Evangelium prediget [...].889
Diese Bemerkung ist in der Tat rätselhaft. Die Restaurierung durch Kluber fand allerdings vor Merians Zeit statt, und so kann man annehmen, daß hier ein Irrtum auf seiner Seite vorliegt. Der Prediger ist ein relevanter Bestandteil des Totentanzes und kommt in sehr vielen spätmittelalterlichen Überlieferungszeugen vor – auch z.B. im Heidelberger Blockbuch, das, wie früher ausgeführt, mit dem Basler
885 886 887 888 889
Neufassung von Großbasel eine verspätete Reaktion auf die veränderte historische Wirklichkeit. Wunderlich, Ubique Holbein, S. 36. Vgl. z.B. Sörries, Katalog, S. 99, Hammerstein, Tanz und Musik, S. 189. Cosacchi, S. 760. Vgl. Egger 1990, S. 38. Vorrede, S. 12.
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Einzeluntersuchungen
Totentanz in einem Überlieferungszusammenhang steht. Es gibt kaum einen Grund anzunehmen, der Prediger sei erst durch Kluber hinzugekommen. Außerdem erscheint es unwahrscheinlich, daß der Totentanz nicht am Beginn der Friedhofsmauer anfing und dort ein derart großer Freiraum war, daß noch eine vollständige Szene hinzugefügt werden konnte. Das Fehlen des Predigers in Klingental hat Konsequenzen für das Verständnis des gesamten Totentanzes, wie auch Egger herausstellt: Einzeluntersuchungen
Damit [...] fehlte der zur Busse und Umkehr mahnende Vertreter der Kirche. Das Klingentaler Bild hatte somit den Charakter einer gemalten Predigt verloren und war auf den eigentlichen 890 Tanzreigen reduziert.
In diesen Zusammenhang paßt die von Hammerstein angestellte Überlegung, bei einigen textlosen Totentänzen sei die Abwesenheit des Predigerbildes eben gerade dadurch zu erklären, daß aufgrund des alleinigen Vorhandenseins der Bildseite der Charakter einer monumentalen Bußpredigt in den Hintergrund trete. Die Darstellung des kirchlichen Redners weist auf den erbaulichen Gehalt des Totentanzes hin, der zu einem guten Teil auch durch den beigegebenen Text transportiert wird, und macht das Gemälde auf diese Weise zur „Bildpredigt“. Fehlt der Prediger, mangelt es als Konsequenz dem Totentanz an einem deutlichen Hinweis zum Verständnis seiner Zielsetzung: Der Rezipient wird nicht gleich zu Beginn explizit darauf gestoßen, daß er ein moralisch belehrendes Werk vor Augen hat – diese Entdeckung muß er im Laufe seiner Betrachtung erst selbst machen. Der Prediger fungiert quasi als Chiffre, als Etikett für ein Denkmal, dessen Zielsetzung vornehmlich religiöse Instruktion ist. Egger streicht zudem heraus, daß in Klingental Jüngstes Gericht und Sündenfall fehlen. Damit blieben dort „gerade jene Elemente ausgespart, die den Totentanz bei den Predigern zu einer Busspredigt der Kirche erhoben und dem Todesreigen [...] eine biblische Dimension verliehen“.891 Abgesehen von den Bildern weichen Großbasel und Klingental auch textlich teilweise stark voneinander ab. 892 Dabei handelt es sich sowohl um sprachliche als auch um inhaltliche Ungleichheiten. Diese Differenzen gehen zweifellos zum größten Teil auf die Renovierung durch Kluber zurück, bei der nicht nur das Bild erneuert, sondern auch der Text einer gründlichen Modernisierung unterworfen wurde. Zum einen paßte man offenkundig die Sprache der neuen Zeit an – die Sprachformen in Klingental scheinen in vielen Fällen einen altertümlicheren Zustand der Strophen zu bewahren, sowohl was die Schreibung als auch was die Verwendung bestimmter Begriffe betrifft. Zum anderen wurde im PredigerTotentanz bei einigen Ständevertretern der Text entweder zum Teil oder in vielen
890 891 892
Egger 1990, S. 28. Ebd. Für einen Textvergleich zwischen Großbasel und Klingental eignet sich am besten Maßmanns synoptische Tabelle der verschiedenen oberdeutschen Totentanz-Texte (Baseler Todtentänze, Anhang). Detailüberlegungen hierzu bringt u.a. Breede, S. 39-67; siehe auch die Tabelle 4 zum Textvergleich zwischen Großbasel, Klingental und dem oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text im Anhang.
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Fällen auch ganz neu gedichtet.893 Anhand einiger Beispiele sollen die verschiedenen Texterneuerungen beleuchtet werden. Kleinere Änderungen wurden in solchen Fällen vorgenommen, wo ein Wort anscheinend im letzten Drittel des 16. Jhs. als veraltet betrachtet (oder nicht mehr verstanden) wurde. Dies ist etwa der Fall bei der Strophe des Kindes (Nr. 38). In der ursprünglichen, von Klingental repräsentierten Form steht der Satz vn(d) hettestu die tutten an dem Mundt/ Es hulf (dich) neit zo disser Stundt. Im Text des Prediger-Totentanzes findet sich dagegen: Hettest schon die Brüst an deim Mundt/ So hilffts dich nicht z dieser Stundt. Hier wurde das in seiner Entwicklung vom Mittelalter zur Neuzeit in den mundartlichen und umgangssprachlichen Bereich abgedrängte Wort dutten894 durch das modernere, jedermann verständliche Brüst ersetzt. Ähnliches liegt vor bei der Strophe der Kaiserin (Nr. 3), zu der der Tod in Klingental sagt: Die sperbreches sint nv von vch gewiche(n). Das 1568 offenbar als unklar empfundene sperbrecher895 ist in Großbasel zu Euwr Hofleut geworden. Allgemein entsteht beim Vergleich der Texte von Basel und Klingental der Eindruck, man habe 1568 versucht, den Text insgesamt auszugleichen, Reime gefälliger zu machen und glatte, elegantere Formulierungen zu finden, vielleicht auch hier und dort Mundartliches zugunsten des Hochdeutschen anzupassen. Als Beispiel für stilistische und rhythmische Glättung mag die Strophe des Todes an den Edelmann (Nr. 13) dienen (der in Frölichs Text als „Kriegsmann“ apostrophiert wird). Zum Vergleich seien beide Strophen nebeneinander gestellt: Der Basler Totentanz
Der Basler Totentanz
Koment her ir edlen degen Ir moisen he manheit pflegen Mit dem todt der nyemannt schont Seligent vch wurth gelont Klingentaler Totentanz
Nun kommet her ihr edler Degen/ Ihr msset hie der Mannheit pflegen Mit dem Todt/ der niemandt verschont/ Gesegnet euch/ so wird euch g’lont. Großbasler Totentanz
Ein Großteil der Überarbeitungen ist jedoch nicht sprachlicher, sondern inhaltlicher Natur. Gelegentlich wird in der Forschung darauf hingewiesen, daß viele Änderungen des alten Textes auf den reformatorischen Zeitgeist zurückgehen.896 893
894 895
896
Unverständlich ist mir Eggers Vermutung, der gesamte deutsche Text stamme von der Kluber-Renovation; ursprünglich hätte sich vielleicht ein lateinischer Text auf der Mauer befunden (vgl. Egger 2000, S. 52 mit Anm. 15). Am Vergleich der beiden Texte von Großbasel und Klingental ist klar erkennbar, daß sie einen großen Teil des Strophenbestandes miteinander teilen. Es ist meines Erachtens kaum eine andere Erklärung denkbar, als daß Klingental den alten Basler Text konserviert oder ihm doch zumindest sehr ähnlich ist. Tutte oder dutte ‚Brustwarze, weibliche Brust’ hat im Hochdeutschen noch in der verwandten Form „Zitze“ sowie in vulgärsprachlichen Ausdrücken Spuren hinterlassen (vgl. J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. II, Sp. 1768-1771, sowie Bd. XI/I,2, Sp. 1946f.). Sperbrechen als höfischer Sport ist im Mittelhochdeutschen vielfach belegt; gemeint sind im vorliegenden Zusammenhang also offensichtlich Ritter, die sich vor den Damen im Turnier besonders hervorgetan haben. Bei Lexer und BMZ findet das Nomen Agentis sperbrecher sich nicht als eigenes Lemma, die Belege bei Grimm (wie Anm. 894, Bd. X/I, Sp. 2060) stammen dagegen aus der Neuzeit; es scheint sich um historisierenden Sprachgebrauch zu handeln. Vgl. hierzu z.B. Frey, S. 72-75 sowie S. 78-80.
Einzeluntersuchungen
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Als Beispiel bietet sich der Papst (Nr. 1) an, zu dem der Tod in Großbasel sagt: Der Ablaß euch nicht hilfft darvon (auf dem zugehörigen Bild ist übrigens deutlich eine nutzlose, in den Staub gefallene Ablaßbulle zu erkennen). Während die Strophe tatsächlich neu gedichtet wurde und das Wort „Ablaß“ in der ursprünglichen Version nicht vorkommt, ist allerdings auch schon in Klingental vom nutzlosen „Dispensieren“ die Rede - die Idee als solche ist folglich nicht neu. Im Großbasler Text findet jedoch eine deutliche Verschärfung statt, wenn auch der Papst noch einmal zugibt: Der Ablaß thet mir gar wol lohnen. Auch weitere Angehörige des Klerus werden vom Tod in der Tat schärfer und respektloser als in Klingental angegriffen, wie der Abt (Nr. 11), bei dem es heißt: Herr Apt ich zieh euch die Yflen ab (was auch auf dem Bild geschieht). In Klingental spricht der Tod: Her der abt kumpt mir noch/ An doten dantz Si vch goch. Gleichermaßen wird auch die Äbtissin (Nr. 20) recht vehement attackiert (s.o.), im Vergleich zu dem noch ziemlich respektvollen Auftreten des Todes in Klingental. Interessanterweise wurde in allen drei beschriebenen Fällen nicht nur der Text, sondern auch das Bild dahingehend verändert, daß die schneidende Kritik an den geistlichen Personen besonders greifbar wird, somit gegenüber Klingental eine noch deutlich verstärkte Text-Bild-Korrespondenz entsteht. Um einen anschaulichen Fall von Aktualisierung handelt es sich beim Text des Arztes (Nr. 16), wo die Rede von der „Anatomey“ ist. Dieses Fremdwort wurde erst im 16. Jahrhundert geprägt.897 Als Kluber das Bild modernisierte und anstelle einer verwesten Leiche nun ein Skelett abbildete, wurde folglich auch der Text verändert. Anlaß dafür war offenbar die im Klingentaler Totentanz-Text recht blasse Strophe des Todes an den Arzt: Her artzet thund vch selber rott versuchet uwer kunst getrat keyn kristierenyn vch helfen mach Ir mosen dantzen als ich vch sag Klingentaler Totentanz
Vermutlich war die ursprüngliche Strophe im Großbasler Totentanz ähnlich. Die Antwortverse des Arztes dagegen entsprechen sich inhaltlich in beiden Totentänzen noch weitgehend: Einzeluntersuchungen
Ich hab mit minen wasser schawen Geholfen bedt man vnd frawen Wer besich myr nun das wasser myn Ich moitz myt dem todt da hyn Klingentaler Totentanz
Ich hab mit meinem Wasser b’schawen Geholffen beyde Mann vnd Frauwen: Wer b’schawt mir nun das Wasser myn/ Ich muß jetzt mit dem Todt dahin. Großbasler Totentanz
Am Beispiel des Arztes läßt sich auch gut erkennen, daß der Klingentaler Text zwar dem oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text verpflichtet ist, aber trotzdem eine gewisse Eigenständigkeit aufweist. Zum Vergleich seien hier die entsprechenden Strophen aus dem oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text gegeben (Nr. XV): 897
Vgl. Kluge, Etymologisches WB, Artikel ‚Anatomie’, S. 37.
Der Basler Totentanz Her arzat, tut euch selber rat Mit euer meisterlichen tat. Ich für euch zu des todes gesellen, Die mit euch hie tanzen wellen.
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Ich han mit meinem harn schauen Gesund gemacht man und frauen. Wer wil mich nun machen gesund? Ich bin zu tode wund.
Der Einschub von 14 Figuren zwischen Krüppel und Koch, der den Klingentaler und Basler Totentanz vom oberdeutschen vierzeiligen Totentanz unterscheidet, fällt im Hinblick auf die Texte dadurch auf, daß die jeweiligen Strophen in Klingental und Basel vollkommen unterschiedlich sind – die 28 Strophen wurden 1568 so gut wie vollständig ersetzt. Der Grund dafür war vermutlich, daß der alte Text in diesen 28 Strophen, eine Neuschöpfung wohl ohne Vorbild (vielleicht speziell für Basel gedichtet), recht farblos war, ohne einprägsame Charakterisierung der Personen und unter mehrfacher Verwendung derselben Formeln (z.B. pfaffen vnd leigen). Es sticht ins Auge, daß der zweite Teil des Großbasler Totentanzes nicht nur textlich stärker von Klingental differiert als die erste Hälfte, sondern daß etwa ab der Mitte auch die Bildabweichungen vergleichsweise groß sind. Dies mag einerseits Zufall sein, andererseits könnte es damit zusammenhängen, daß es für die neu eingeschobenen Figuren – ebenso wie für ihre Strophen – kein tradiertes Vorbild gab: Der Maler, der den Totentanz für Basel entwarf, erfand sie wahrscheinlich selbst. Vielleicht betrachtete man diese Figuren, ebenso wie offenkundig ihren Text, bei der Kluberschen Renovation als besonders unprägnant und erneuerungsbedürftig.898 Interessant im Hinblick auf Text-Bild-Beziehungen ist die Figur des Fürsprechs (Nr. 14), die im Klingentaler Totentanz anstelle des Ratsherrn auftaucht. Der Fürsprech wird von einer eigenständigen, vorbildlosen Strophe begleitet: Der Basler Totentanz
O we almechtiger ewichr Got Het ich gelept in dinem gebot Das mir gelt vnd goit ye wart so leib Das clag ich got der am crutz verscheid
Die Formulierung got der am crutz verscheid mag ein Reflex auf die Kreuzigungsszene sein, die sich in Klingental zwischen Krüppel und Waldbruder befand. Zwar war diese wohl älter,899 wurde aber, wenn auch nur oberflächlich, in den Totentanz inkorporiert. Die Verhältnisse erinnern an den Berliner Totentanz, aber im Unterschied zu diesem befand sich das Christusbild in Klingental nicht in der Mitte der Komposition und wies keinerlei organische Verbindung damit auf; es stand sogar in einem eigenen, abgeschlossenen Rahmen und war dadurch deut898
899
Auch innerhalb des Klingentaler Gemäldes selbst herrschen Unterschiede zwischen der ersten und zweiten Hälfte, wie Riggenbach feststellt: „Der zweite Teil des Totentanzes vom Waldbruder bis zu Mutter und Kind ist […] mit wenigen Ausnahmen (Waldbruder und Jungfrau) auffallend anders“ (Riggenbach, S. 104). Abweichend von Goette, der glaubte, daß die beiden Hälften des Gemäldes „von verschiedener Hand und zu verschiedener Zeit“ angefertigt worden seien und man die ganze erste Hälfte 1512 mit Ölfarben übermalt habe (vgl. Goette, S. 75 bzw. S. 96), ist Riggenbach der Ansicht, der Maler habe vielleicht den zweiten Teil des Totentanzes seinem Gesellen überlassen (vgl. Riggenbach, S. 105). Vgl. ebd., S. 106.
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Einzeluntersuchungen
lich vom Reigen getrennt. Dennoch ist es denkbar, daß die Erwähnung des Gekreuzigten in der Strophe des Fürsprechs durch die bildliche Präsenz des Gottessohnes angeregt wurde. Es würde sich somit um eine eher indirekte Text-BildBezugnahme handeln, da der Fürsprech ja auch einige Figuren von der Kreuzigungsszene entfernt steht und folglich Bild und sich darauf beziehender Text nicht in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander stehen. Vor der Erneuerung des Textes war der Großbasler Totentanz vermutlich deutlich als Ausprägung des oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Textes erkennbar,900 was durch die modernisierte Form an vielen Stellen verschleiert wird. Wie am oben untersuchten Beispiel des Arztes erkennbar ist, wich der alte Text Basels – der ja vermutlich in der Form Klingentals zu einem großen Teil konserviert wurde – aber hier und dort auch vom oberdeutschen vierzeiligen Totentanz ab und wies eigenständige Formulierungen auf. Außerdem ist natürlich nicht auszuschließen, daß der Klingentaler Text mit demjenigen seines Vorbilds nicht völlig identisch war; die Bildkopie zeigt schließlich auch Abweichungen, wie das Aussparen von Prediger, Jüngstem Gericht und Sündenfall. Im vorliegenden Zusammenhang besonders erwähnenswert sind die Implikationen für den Überlieferungszusammenhang zwischen Großbasel, Klingental und dem oberdeutschen vierzeiligen Totentanz. Hierbei muß noch einmal ein Blick zurück auf das Heidelberger Blockbuch geworfen werden. Stellt man die Figur des Papstes (Nr. 1) in diesen drei Totentänzen (Großbasel, Klingental und Heidelberger Blockbuch) einander gegenüber, ergibt sich eine interessante Feststellung: Der Text des Heidelberger Blockbuches stimmt inhaltlich grob mit demjenigen Klingentals überein – die Strophe beginnt im Blockbuch mit den Worten Her bobist merkt off meyner pawken don, in Klingental heißt es Her der bopst Merct vff der pfiffen ton. Großbasel dagegen weist einen gänzlich anderen Text auf (Komm Heiliger Vatter werther Mann/ Ein Vortantz mußt ihr mit mir han [Nr. 1]), der wohl bei der Kluber-Restaurierung den alten Text ersetzte, der demjenigen in Klingental ähnlich gewesen sein mag. Was die Illustrationen betrifft, so stimmen nicht nur Groß- und Kleinbasel recht eng zusammen, sondern alle drei Bilder sind ähnlich, vor allem in Bezug auf die Todesfigur. Während diese im Blockbuch – ganz im Sinne des zugehörigen Textes – eine Trommel bzw. Pauke betätigt, ist eine solche Text-Bild-Korrespondenz in Basel und Klingental nicht vorhanden. Nicht nur findet sich bei beiden anstelle der Trommel ein Totenkopf; in Klingental ist auch nicht die Rede von einer Pauke, sondern von einer pfiffe, die in der Szene selbst gar nicht zu sehen ist – es könnte sich allenfalls um Bezugnahme auf die vorangegangene Beinhausmusik handeln. Im Prediger-Totentanz dagegen bezieht sich der Text in keiner Weise auf ein Musikinstrument. Hier entsteht hingegen, wie bereits oben erwähnt, durch Klubers Neugestaltung wiederum eine deutliche Text-Bild-Korrespondenz, und zwar durch Einzeluntersuchungen
900
Frey ist der Ansicht, der oberdeutsche vierzeilige Totentanz habe in einer nicht erhaltenen Fassung dem Basler Totentanz als Vorbild gedient (vgl. Frey, S. 78).
Der Basler Totentanz
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den abwertenden Hinweis auf den Ablaß, der mit der im Bild gezeigten, auf den Boden gefallenen Ablaßbulle korreliert wird.901 An diesem Beispiel wird ausschnitthaft erkennbar, wie sich im Zuge der Überlieferung Text- oder Bildelemente verändern bzw. wie solche Änderungen Auswirkungen auf die Übereinstimmung von Bild und Text zeigen. Als Schlußfolgerung aus der Betrachtung des Klingentaler Totentanzes ergibt sich dessen unbedingte Relevanz für jede detaillierte Untersuchung des Basler Gemäldes. In vielerlei Hinsicht vermag der Klingentaler Totentanz offene Fragen zu beantworten, die sich allein aufgrund des überlieferten Materials seines „großen Bruders“, des Prediger-Totentanzes, nicht lösen ließen. In anderen Fällen bleibt es jedoch bei Vermutungen – die Quellenlage erlaubt keine lückenlose Rekonstruktion des Verhältnisses beider Totentänze zueinander.
3.3.2.7. Die Bedeutung der restaurierten Originalfragmente In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde damit begonnen, bei einigen der neunzehn erhaltenen Fragmente die obersten Malschichten zu entfernen. Bis heute sind auf diese Weise sechs der Brustbilder behandelt worden: der Jüngling (dieser wurde bis auf die Übermalungen von Kluber freigelegt), die Äbtissin, die Königin, der Arzt und der Herold (die letzteren vier zeigen sich nun in ihrem ursprünglichen spätmittelalterlichen Aussehen).902 Boerlin, der nach der Restaurierung der ersten zwei Fragmente (Herold und Jüngling) durch Paolo Cadorin einen Bericht über die vorgenommenen Arbeiten veröffentlichte, bezeichnete das Ergebnis Der Basler Totentanz
geradezu als sensationell: Unter den vielfachen, entstellenden Übermalungen, die immer mehr von der ursprünglichen Komposition abgewichen waren, ist die Malerei des 15. Jhs. weitgehend 903 erhalten.
Nun sei erstens erkennbar geworden, daß das ursprüngliche Bild aus den 1440er Jahren erheblich anders aussah, bevor es mehrfach übermalt wurde; zweitens stehe jetzt die hohe künstlerische Qualität des alten Gemäldes fest.904 Interessanterweise meint Boerlin am Bild des Jünglings, das nur bis auf die Malschicht von 1568 freigelegt wurde, erkennen zu können, daß Kluber hier dem 901
902 903 904
Details wie heruntergefallene Attribute und am Boden liegende Knochen sind allgemein in Klingental nicht zu erkennen. Diese verleihen den Großbasler Bildern jedoch zusätzliche Bedeutung: Standesinsignien oder Statussymbole verlieren angesichts des Todes ihren Sinn und fallen nutzlos in den Staub, wie die oben erwähnte Ablaßbulle des Papstes, der Reichsapfel des Königs, der Helm des Ritters, das Uringlas des Arztes, das Schwert des Edelmannes, die Flöte des Kirbepfeifers oder der Stab des Herolds. Ausgezeichnete Farbreproduktionen zu allen Fragmenten bietet Egger. Boerlin, S. 136. Vgl. ebd., S. 127; ähnlich äußert sich auch Egger (1990), S. 40. Das zum Vorschein gekommene Aussehen der Figuren bestärkt Boerlin des weiteren in der Ansicht, der Totentanz könnte ursprünglich von Konrad Witz gemalt worden sein (vgl. Boerlin, S. 138f.).
Einzeluntersuchungen
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Original weitgehend folgte.905 Dies paßt zu seiner Überzeugung, der Totentanz sei erst durch Bock maßgeblich verändert worden. Mit dieser Ansicht steht Boerlin jedoch weitgehend allein; er führt auch keine weiteren Argumente zu ihrer Untermauerung an, sondern beschränkt sich auf die Feststellung, 1614-1616 „wurde mit Ölfarbe offenbar eine eigentliche Neufassung vorgenommen [...]“.906 Die Behandlung des Fragments der Königin ergab einen besonders interessanten Befund: An dieser Stelle des Reigens stand ursprünglich der Kardinal. Somit sind die Vermutungen Wunderlichs zur Veränderung der Figurenreihenfolge zum Teil bewiesen.907 Vergleicht man die Gesichtsausdrücke der Menschen auf den restaurierten (freigelegten) Fragmenten mit denjenigen des übrigen Personals, fällt auf, daß sie einen ganz andersartigen Blick aufweisen. Die Äbtissin und der Kardinal haben die Augen niedergeschlagen – vielleicht in Demut vor dem herannahenden Tod. Der „neue“ Kardinal, den wir nur von Merian kennen, dagegen hat dort die Augen geöffnet; sein Gesicht ist in flehentlicher Bitte verzerrt. Zum eher resignativen Text (Noch mag ich michs Todts nicht erwehren, Nr. 4) würde allerdings eher das Gesicht des alten, ursprünglichen Kardinals passen. Auch der Arzt hat gegenüber der neueren Version auf der ursprünglichen Fassung ein von resignierender Demut gezeichnetes Gesicht. Sehr viel eindringlicher als auf dem Bild der frühen Neuzeit wirkt die ursprüngliche Mimik des Herolds. Dieser scheint uns direkt aus dem Bild heraus mit (im wahrsten Sinne des Wortes) zu Tode erschrockenen Augen anzublicken. Es entsteht der „Eindruck spontaner Menschlichkeit“, wie Boerlin herausstellt.908 Aus der Betrachtung der fünf restaurierten Bruchstücke allgemeine Erkenntnisse ableiten zu wollen, wäre aufgrund der schmalen Materialbasis etwas spekulativ. Vorteilhaft wäre daher natürlich eine Fortsetzung der Freilegungsarbeiten, um dem ursprünglichen Zustand des Basler Totentanzgemäldes noch ein paar Schritte näher zu kommen und bestehende Hypothesen beweisen zu können. Andererseits haben auch die Gemäldefragmente mit ihren Übermalungen einen gewissen autonomen Wert, erzählen sie doch die Geschichte der vielfältigen Modifikationen des Totentanzes durch die Zeitläufte aufgrund von veränderten Voraussetzungen und (Kunst-)Auffassungen. Einzeluntersuchungen
905
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Vgl. ebd., S. 137. Woher Boerlin allerdings zu wissen meint, daß Kluber den Jüngling nicht sehr stark veränderte, bleibt unklar, da die unterste Malschicht ja nicht freigelegt wurde. Vielleicht bezieht er sich hier auf einen Vergleich mit Klingental, wo der Jüngling zwar eine ähnliche Haltung aufzuweisen scheint (soviel kann man aus der Neigung des Kluberschen Jünglingskopfes vieleicht schließen), aber, soweit sich erkennen läßt, eine schlichtere Kopfbedekkung trägt. Boerlin, S. 135. Vgl. S. 257. Boerlin, S. 138: „Wenn im 15. Jh. eine Person in dieser Weise aus dem Bild schaut, dann handelt es sich in der Regel um eine Selbstporträt. Damit soll allerdings keineswegs behauptet werden, wir sähen im ‚Herold’ den Maler des Totentanzes vor uns“.
Der Basler Totentanz
265
3.3.2.8. Schlußfolgerungen: Text und Bild im Basler Totentanz Die zahlreichen Umgestaltungen in der Geschichte des Basler Totentanzes haben das Verhältnis zwischen Bild und Text teilweise entscheidend beeinflußt. Dennoch zeigt der genaue Vergleich zwischen den existierenden Versionen, daß nicht nur die Grobstruktur, sondern oftmals auch die Detailgestaltung erhalten geblieben ist.909 Durch sorgfältiges Abgleichen der Überlieferungszeugen kann durchaus eine annehmbare Untersuchungsbasis hergestellt werden, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine recht gute Vorstellung von dem ursprünglichen Gemälde geben kann. Hierzu ist es jedoch nötig, alle Dokumente und Quellen, die zur Verfügung stehen, in Betracht zu ziehen und neben- und miteinander zu verwenden, denn jede isolierte Untersuchung nur einer der verschiedenen Kopien muß unvollständig bleiben und läuft Gefahr, Fehlschlüssen zu erliegen. Die Restaurierungen haben nicht nur insgesamt das „Gesicht“ des Basler Totentanzes verwandelt, sondern in den überlieferten Druckfassungen liegen jeweils unterschiedliche Gegebenheiten vor, die auch zu verschiedenen Arten von TextBild-Korrespondenz (oder Divergenz) führen. Vermutlich waren in dem ursprünglichen Gemälde des Spätmittelalters Text und Bild relativ stark aufeinander abgestimmt. Die in den wenigen freigelegten Fragmenten erkennbare Mimik der Figuren paßte zum insgesamt eher resignativen Tonfall der Strophen, in denen die Menschen dem Tod antworten. Sie kapitulieren vor ihm und wehren sich nicht sehr stark, ganz anders als z.B. im Lübecker Totentanz von 1463. Es handelt sich vielmehr um klagende Feststellungen, die den Tod als unabänderliche Tatsache hinnehmen. Bei den späteren Übermalungen wurde diese Übereinstimmung zwischen Bild und Text teilweise verwischt, indem einige Personen eine andere, wohl für ausdrucksvoller gehaltene Mimik erhielten. Der Basler Totentanz
Durchweg erkennbar ist im Basler Totentanz das Prinzip der Spiegelung. Nicht nur der ganze Totentanz ist, wie es bei Merian heißt, ein „Spiegel menschlicher Beschaffenheit“, sondern auch in den einzelnen Szenen „reflektiert“ das Aussehen oder Verhalten der Todesfigur dasjenige des menschlichen Gegenübers. Das ist etwa der Fall bei den Figuren von Kaiserin und Königin, denen ein weiblicher Tod zugesellt ist. Diese Form der Darstellung erfüllt hier nicht nur eine Spiegelfunktion in Bezug auf das semantische Merkmal ‚weiblich’. Bettina Spoerri weist darauf hin, daß es sich bei der Todesfigur sozusagen um die menschliche Person selbst nach dem transformierenden Prozeß des Sterbens handelt: Die Menschen werden mit sich selbst in ihrem zukünftigem Zustand konfrontiert.910 In diesem 909 910
„Die Mehrzahl der Gestalten […] hatte sich bis 1805 in einem Zustand erhalten, der die ursprüngliche Form erkennen ließ“ (Maurer, S. 310). Spoerri, S. 165. In ihrer Untersuchung zum Spiegelmotiv in Totentänzen, in der vielfach auch auf den Basler Totentanz Bezug genommen wird, unterscheidet Spoerri drei verschiedene Spiegelungsebenen: 1) Der Totentanz bildet die Gesamtgesellschaft ab, 2) die Ständevertreter spiegeln einzelne soziale Gruppierungen, 3) bei den Menschen und den ihnen gegenübergestellten Todesfiguren handelt es sich um individuelle Spiegelungsvorgänge (s.o.).
266
Einzeluntersuchungen
Sinne liegt bei der Edelfrau (Nr. 18)911 quasi eine doppelte Spiegelung vor, denn das, was sie in ihrem Handspiegel erblickt, ist einerseits – ganz elementar – eine seitenverkehrte Abbildung der hinter ihr stehenden Todesgestalt, ein Bild des Todes als Personifikation (wie auch der Text lautet Den Todt hab ich im Spiegel g’sehen); andererseits sieht sie im Spiegel, wozu sie werden muß bzw. sieht sich selbst gespiegelt als verwesende Leiche. Die Edelfrau ist somit auf beiden Seiten eingerahmt von einem Zerrbild ihrer eigenen Person. Das Motiv als solches war wohl schon im alten Totentanz vorhanden, wie am Klingentaler Gemälde festzustellen ist, doch war dort anscheinend nur ein Totenschädel, keine ganze Figur im Spiegel zu sehen. Außerdem kommt die Text-Bild-Korrespondenz erst in der restaurierten Großbasler Fassung zum Tragen, denn der ursprüngliche Text nahm auf das Spiegelmotiv noch keinen Bezug. Eine Möglichkeit, Bild und Text zu verknüpfen, bildet in Totentänzen allgemein die Tanzmotivik. Von dieser wird auch im Basler Totentanz ausgiebig Gebrauch gemacht. Worte aus der Sphäre der Bewegung (wie Tanz/ tanzen, springen, Reigen, hüpfen) treten überaus häufig auf. Beim Vergleich der Texte von Klingental und Großbasel fällt dabei auf, daß in der alten Version aus dem 15. Jh. die Tanzmotivik gleichmäßiger verteilt ist als im neuen, überarbeiteten Text. In Klingental kommen nur sehr wenige Figuren vor, in deren Strophen von keinerlei Tanzmotivik die Rede ist; in Großbasel sind es dagegen deutlich mehr, vor allem in den hinteren zwei Dritteln, wo auch mehr Text ersetzt wurde als am Anfang. Dabei ist auf den Bildern gerade in der renovierten Fassung sehr viel mehr Dynamik zu erkennen als auf dem Klingentaler Gemälde, wie auch Boerlin herausstellt: Im Vergleich zum Basler Totentanz falle bei den Klingentaler Figuren „der wesentlich steifere und statuarische Charakter“ auf.912 Auf dem erneuerten Gemälde des Predigerkirchhofs dagegen sind durchweg ausgelassene Bewegungen der Todesfiguren erkennbar. Während also im Laufe der Restaurierungen die sprachliche Verwendung des Tanzmotivs etwas abnimmt, ist demgegenüber ein Anwachsen der bildlichen Dynamik festzustellen. Meistens gebraucht der Tod das entsprechende Vokabular, weil naturgemäß er es ist, der die Aufforderung zum Tanz ausspricht. Gleichzeitig sind es auch die Leichengestalten, die die Tanzbewegungen vollführen, während die widerstrebenden Menschen eher statisch wirken. Besonders gehäuft tritt das die Tanzmotivik exponierende Wortmaterial bei den weiblichen Figuren auf. Gute Beispiele sind hier Kaiserin, Königin, Edelfrau und Jungfrau. Dies spiegelt sich auch im Bild: Im Großbasler Totentanz sind die springenden und hüpfenden Bewegungen der den Frauen zugesellten Todesfiguren zu erkennen, so daß es an diesen Stellen zur deutlichen Korrespondenz von Versen und Illustration kommt. Einzeluntersuchungen
911 912
Erst bei Merian ist von der „Edelfrauwen“ die Rede, bei Frölich wird die Figur als „Hoffart“ bezeichnet: ein Hinweis darauf, daß es sich bei den Gestalten um personifizierte Typen handelt. Boerlin, S. 138.
Der Basler Totentanz
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Diese Ergebnisse lassen sich an die bei den niederdeutschen Totentänzen gewonnenen Erkenntnisse anknüpfen. Auch dort ist es vorwiegend der Tod, der in Bild und Text das Tanzmotiv für sich in Anspruch nimmt; ebenso wie in den Bild- und Textzeugnissen des norddeutschen Sprachraumes vielfach die weiblichen Figuren mit übermäßigem Tanzen als Manifestation irdischer Gelüste und übertriebener Weltfreude in Verbindung gebracht werden. Eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt im Basler Totentanz auch die Musik.913 Verschiedene Todesgestalten sind mit Musikinstrumenten ausgestattet: so der Tod bei Kaiser, König, Herzogin, Arzt, Kirbepfeifer, Schultheiß und Heidin. Zumeist nimmt der Text auch auf das Instrument Bezug. So sagt der Tod zum Kaiser (Nr. 2), dieser müsse tantz’n nach meiner Pfeiffen thon; die Herzogin (Nr. 9) ruft aus Ach Gott der Armen Lauten thon; und der Schultheiß (Nr. 28) wird aufgefordert: Das thu ich auff der Leyren singen/ Dem Liedlein mgen jhr nach springen, wie auch die Heidin (Nr. 35) dem Todtenlied auff der Sackpfeiffen folgen muß. Diese Text-Bild-Bezüge sind dabei allesamt Schöpfungen des 16. Jhs., denn in Klingental gibt es zwar teilweise schon die Instrumente (die Blasinstrumente, jedoch nicht die Leier und den Dudelsack), aber keine Bezüge darauf in den Versen.914 Der Restaurator des 16. Jahrhunderts muß das Potential des Instrumentenmotivs für die stärkere Korrelation von Bild und Text erkannt und konsequent ausgeweitet haben. Der Basler Totentanz
Daß Bild und Text eine Einheit sind, war dem Schöpfer und auch den späteren Umgestaltern bzw. Bearbeitern oder Kopisten des Basler Totentanzes wohl bewußt. In den verschiedenen Äußerungen zum Basler Totentanz, die uns in schriftlicher Form überliefert sind, wird dies immer wieder deutlich. Bei der Abfassung der Restaurationsinschrift von 1568 fand man einen prägnanten Ausdruck zur Beschreibung des bimedialen Gemäldes: Es ist dort die Rede von einer vocalis pictura,915 einem ‚redenden Bild’. So empfand offenbar auch Frölich seine Erstausgabe des Totentanzes, die kaum illustriert war, als verbesserungsfähig, woraufhin er den zweiten und dritten, dieses Mal sehr ausführlich bebilderten Druck besorgte. Die Illustrationen waren dabei als Zugabe wertvoll genug, schon im Titel angepriesen zu werden (1588: mit schönen und zu beyden Todtentäntzen dienstlichen Figuren, allerley Ständt und Völcker gebreuchliche Kleydung abbildende, gezieret). Wiederum ist hier die Rede davon, daß die Betrachter sich in den Bildern erspieglen sollen: Die Holzschnitte sind also nicht nur verschönernde Beigabe, sondern auch ein Hilfsmittel zur Erbauung, wodurch sie den Zweck des Textes unterstützen.
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Vgl. hierzu Hammerstein, Tanz und Musik, S. 115-119. Die nicht vorhandene Erwähnung von abgebildeten Musikinstrumenten erinnert an den mittelrheinischen Totentanz. Auch dort wird erst in einer späteren Bearbeitung (Zimmern) Bezug auf die Instrumente genommen. Die Restaurierungsinschriften überliefern Frölich und Merian. Die zweite Inschrift von 1616 reproduziert viele Formulierungen der älteren Gedächtnistafel, so auch die obengenannte Prägung.
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Einzeluntersuchungen
Merian nimmt den von Frölich begonnenen Faden auf und entwirft seinerseits eine Erbauungsschrift, in der er sich nicht allein auf die Botschaft des Totentanzes verläßt, sondern diese noch einmal expliziert. Zunehmend scheint man in den Buchausgaben das Gefühl zu haben, daß der Totentanz nicht mehr für sich selbst spricht, wie es das Gemälde tat. Seiner Monumentalität bar und abgelöst vom Ort seiner Anbringung, wird der Basler Totentanz in den Drucken von Frölich und Merian mit allerlei Beiwerk versehen, das vielleicht hier die „Ersatzaufgabe“ übernimmt, die früher der unmittelbare Funktionszusammenhang der Friedhofsmauer ausübte.916 Die mahnend-belehrende Funktion geht schließlich verloren, wenn sich die Bildseite vom Text ablöst und verselbständigt: In den Terrakottafiguren des sogenannten „Zinzenhausener Totentanzes“,917 die nach dem Vorbild des Basler Totentanzes hergestellt sind, wird das paränetische Denkmal zum bloßen Sammlerstück degradiert. Der Basler Totentanz ist hier nicht mehr, wie im Mittelalter, „Gebrauchsgegenstand“ – d.h. mit einer Existenzberechtigung versehen, die sich aus dem moralischen Nutzen herleitet –, sondern primär verharmlostes und zweckentfremdetes Kunstobjekt. Von seiner ursprünglichen Zielsetzung hat er sich daher sehr weit entfernt. Dennoch bleibt auch in diesem Fall eine gewisse virtuelle Bindung an den Text erhalten, denn die Tonminiaturen sind aus dem Hintergrund des Bild und Text vereinenden Wandgemäldes erwachsen und unabhängig von ihm nicht zu verstehen. Ein Betrachter ohne die Vorkenntnisse dessen, was Bild und Text des Spätmittelalters aussagen, wird den Zinzenhausener Totentanz nur unvollkommen, vielleicht als kuriosen Ziergegenstand würdigen können. Der Text des Basler Totentanzes verschwindet folglich nur äußerlich – auf einer virtuellen Ebene aber beweist er dauerhafte Präsenz.918 Darüber hinaus hat die Untersuchung der verschiedenen Stadien des Basler Totentanzes aufgezeigt, daß Bild und Text stets gleichermaßen das Objekt von Erneuerungsbestrebungen waren und damit offenbar eine gleich hohe Wertschätzung genossen. In vielen Fällen ging bei der Kluber-Renovation eine besonders starke Überarbeitung auch mit einer weitgehenden Substitution des Textes einher, wie besonders an der zweiten Hälfte des Großbasler Totentanzes zu sehen war. Einzeluntersuchungen
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Ähnlich bemerkt Frey, Merian gebe dem Leser „auch eine Interpretationshilfe, […] die den Auftraggebern und dem Maler des 15. Jahrhunderts den früheren Besuchern des Totentanzes zu geben nicht nötig schien“ (Frey, S. 62). Einschränkend muß man anmerken, daß die Inschrifttafeln mit den Bibelversen, die zumindest im 16. Jh. schon vorhanden waren – Hammerstein (S. 185) nennt sie „typische Zutaten aus protestantischer Zeit“ –, auch eine Art knappe Interpretationshilfe oder „Randglosse“ zum Monument darstellten. In den Buchausgaben wird diese Tendenz nur um ein Vielfaches ausgeweitet. Vgl. Sörries, Katalog, S. 95 mit Abb. 48. Die Verselbständigung von Bildmotiven aus dem Totentanz ist nicht erst ein Phänomen der Neuzeit. Schon im Spätmittelalter kommt es zu dieser Erscheinung; man denke nur an verschiedene Werke Dürers, wie z.B. „Der Tod und der Landsknecht“ von 1510. Niklaus Manuel löst das Motiv „Der Tod und das Mädchen“ aus dem Zusammenhang des Totentanzes heraus und verarbeitet es als Einzeldarstellung. Letzteres Motiv verselbständigt sich seinerseits auch als Text, wie in dem bekannten, gleichnamigen Gedicht von Matthias Claudius; man denke hier auch auch an die musikalische Bearbeitung durch Schubert.
Der Berner Totentanz
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Das Bild wurde der neuen Zeit angeglichen, indem man die Figuren mit aufwendigerer, modischer Kleidung versah und insgesamt eine lebendigere Gestaltung des Reigens vornahm, wobei nach der Reformation die Schärfe der Angriffe gegen geistliche Würdenträger deutlich zunimmt, dies nicht nur auf dem Bild, sondern gleichzeitig auch im Text. Dieser wurde insgesamt stilistisch überarbeitet und dem Zeitgeist angepaßt. Auch politische bzw. zeitgeschichtliche Hintergründe wie reformatorisches Gedankengut, die Türkenfurcht oder der Judenhaß finden ihren Niederschlag. Die dadurch stets wieder neu hergestellte Aktualität mag – zusammen mit dem nie seine Gültigkeit einbüßenden Thema der Todesdrohung – dazu beigetragen haben, daß der Totentanz ab dem 16. Jh. eine immer weitergehende „Popularisierung“919 in Form von zahlreichen Buchausgaben erfuhr. So ist der Basler Totentanz auch als Zeugnis sich verändernder Mentalität zu betrachten; er demonstriert, wie aus dem spätmittelalterlichen Belehrungs- und Mahnwerk in der Neuzeit schließlich ein den Sammlereifer herausfordernder Kunstgegenstand, dann ein abrißwürdiges Ärgernis, ästhetisierter Nippes und letztendlich im 19. Jh. ein literatur- und kunsthistorisches Forschungssujet wird. Einzeluntersuchungen
3.3.3. Der Berner Totentanz 3.3.3.1. Der Berner Totentanz und seine Stellung in der oberdeutschen Überlieferung Der Berner Totentanz wurde vermutlich zwischen 1515 und 1519 von dem Schweizer Maler und Dichter Niklaus Manuel an die Friedhofsmauer des Predigerklosters in Bern gemalt. Er stellt in vielerlei Hinsicht unter den deutschsprachigen Totentänzen ein Unikum dar, handelt es sich doch um das erste Denkmal dieser Art, dessen Schöpfer sich nicht hinter der in früheren Zeiten sonst üblichen Anonymität verbirgt, sondern sich selbstbewußt am Ende des Totenreigens in Schrift und Bild verewigt, ein Vorgehen, das für den Renovator des Basler Totentanzes, Hans Hug Kluber, nur wenige Jahrzehnte später vorbildgebend wirken sollte. Zudem kennzeichnet den Berner Totentanz eine besondere Schärfe und Ironie, die im Vergleich zu den früheren Werken dieses Genres heraussticht. Ein ebenfalls bedeutender Zug, der eigentlich dem ursprünglichen Sinngehalt des Totentanzes völlig zuwiderläuft, ist die Tatsache, daß Niklaus Manuel in den menschlichen Gestalten Personen der führenden Schichten der bernischen Gesellschaft porträtiert und zusätzlich Wappen und Initialen der Stifter des sehr aufwendigen und damit vermutlich recht teuren Gemäldes im Bild festhält. Besonders aber auch für das Thema der Text-Bild-Beziehungen haben diese Eigenheiten des Berner Totentanzes Auswirkungen, denn daß nach sicherer Kenntnis Bild und Text von derselben Person geschaffen wurden, ist eine AusDer Berner Totentanz
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Einzeluntersuchungen
nahme und mag zur der Vorannahme verleiten, in diesem Totentanz müßten besonders zahlreiche und enge Verknüpfungen zwischen den beiden Medien vorliegen. Ob dies zutrifft, wird noch zu prüfen sein. Zunächst soll jedoch eine Einordnung in den überlieferungsgeschichtlichen Kontext erfolgen. Setzt man die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts als „Blütezeit“ der Totentänze an, d.h. den Zeitraum, in dem erstens sehr viele sowohl monumentale als auch gedruckte Totentänze an zahlreichen Orten Europas und besonders auch im deutschen Sprachraum entstehen, und zwar vor allem solche Totentänze, die die ursprüngliche Form mit ihren verschiedenen Kennzeichen920 größtenteils recht eng bewahren, so stellt das Werk des Niklaus Manuel in dieser Hinsicht einen einigermaßen späten Ausläufer dar.921 Nichtsdestotrotz ist die äußere Gestaltung dieses Totentanzes in vielem konventionell, d.h. es ist ein durchgehender Reigen dargestellt, in dem sich die Personen zwar nicht die Hände reichen, sondern in Einzelpaaren hintereinanderweg tanzen. Diese Form ist aber in der oberdeutschen Gruppe schließlich ohnehin vorherrschend; außerdem wird der Reigen von Sündenfall, Beinhaus und Prediger als rahmenden Szenen umschlossen (wenngleich diese einige Besonderheiten aufweisen, die später noch in den Blick kommen sollen). Nicht zuletzt liegt eine Ausprägung in Bild und Text vor. Die Zuordnung zur oberdeutschen Linie ist allerdings in diesem Fall vor allem auch eine räumlich begründete. Die meisten Forschungsarbeiten zum Berner Totentanz weisen darauf hin, daß Manuel anscheinend sowohl aus der oberdeutschen Gruppe (v.a. wohl Basel) geschöpft als auch den mittelrheinischen Totentanz gekannt und als Vorbild verwendet hat;922 auch von den französischen Totentänzen wird er Anregungen empfangen haben. Trotzdem zeigt sich in seinem Totentanz eine im Rahmen der Konventionen sehr eigenständige und unabhängige Ausformung. Dadurch tritt zum wiederholten Male hervor, daß der Untersuchungsgegenstand der Erstellung von Stemmata Widerstände entgegenbringt, so daß jegliche Gruppeneinteilung sich zuweilen auf Annäherungen beschränken und grundsätzlich offengehalten werden muß. Ist folglich der Berner Totentanz in diesem Sinne in gewissem Maße als „Einzelgänger“ zu betrachten, so nimmt er in der Einschätzung der einschlägigen Forschung auch kunsthistorisch eine Sonderstellung ein. Sörries beispielsweise ist Einzeluntersuchungen
Einzeluntersuchungen
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Vgl. dazu den Kriterienkatalog in Abschnitt 2.3.1. Wagner hält den Berner Totentanz gar für „die letzte monumentale Fassung dieser nördlich der Alpen weit verbreiteten memento mori-Bilderfolge“ (Wagner, S. 31). Dies dürfte indes nur insoweit zutreffen, als viele der späteren monumentalen Totentänze – z.B. Füssen (ca. 1600), Luzern/ Jesuitenkolleg (textlos, ca. 1615), Luzern/ Spreuerbrücke (1626-1635), Wolhusen (ca. 1661), Emmeten (ca. 1710), Bleibach (1723) – entweder in hohem Maße von vorbildgebenden Totentänzen wie dem Basler Gemälde oder Holbein entlehnen und damit nicht so sehr als eigenständige Schöpfungen anzusehen sind oder die Form des alten Totentanzes aufbrechen. Die genrebestimmende Konvention erweist sich jedoch als so stark, daß es auch in der Frühen Neuzeit und darüber hinaus noch Totentanz-Gemälde gibt, die sich – mitunter trotz modernerer Elemente – noch sehr stark am alten Muster orientieren. Daß Manuel den mittelrheinischen Totentanz als Quelle verwendet haben soll, ist eventuell zu relativieren; vgl. die Ausführungen dazu später in diesem Abschnitt.
Der Berner Totentanz
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der Ansicht, daß „er kunstgeschichtlich als herausragend eingestuft werden muß.“923 Zinsli urteilt emphatisch: Man spürt [...], daß eine eigenwillige und starke Persönlichkeit am Werk gewesen ist, und dieser persönliche Ausdruck vor allem hebt unsern Totentanz so eindrücklich heraus aus der Konventi924 on und der Anonymität der alten gemalten und gedruckten Totentänze.
Bei aller Eigenständigkeit teilt der Berner Totentanz jedoch ein entscheidendes Merkmal mit nahezu allen überlieferten Monumental-Totentänzen des betreffenden Zeitraums: Er unterlief verschiedene Restaurierungen,925 die sein Angesicht möglicherweise entscheidend veränderten. Die Mauer mitsamt dem Wandbild wurde 1660 wegen einer Straßenverbreiterung zerstört; die Malerei war aber zuvor 1649 von dem Künstler Albert Kauw in Aquarell- bzw. Gouachekopien festgehalten worden. Diesen Kopien lag nun aber auch nicht mehr der Originalzustand zugrunde, so daß es fraglich ist, wieviel von der ursprünglichen Gestaltung Manuels in der überlieferten Form noch geblieben ist. Auch der Text wurde teilweise umgeschrieben und vermutlich im reformatorischen Sinne verschärft.926 Ein interessantes Detail ist hier, daß die Erneuerung von Text und Bild getrennt voneinander stattfand, anders als es z.B. vom Lübecker Totentanz von 1463 oder dem Basler Gemälde bekannt ist. Etwaige durch die Renovierung veränderte BildText-Beziehungen können folglich nicht in gemeinsamer Absprache der renovierenden Künstler bzw. Handwerker entstanden sein. Manche der hier auftretenden Divergenzen mögen sich so erklären (s.u.). Es bleibt somit festzuhalten, daß Urteile über den künstlerischen Stellenwert des Berner Totentanzes unter dem Vorbehalt zu sehen sind, daß Manuels Eigenanteil und eine mögliche spätere Überdeckung durch Restauratoren nicht klar getrennt werden können. Wenngleich Kauw folglich nur noch abmalen konnte, was zu seinen Lebzeiten an der Friedhofsmauer zu sehen war, nimmt man doch wenigstens an, daß er ein recht genauer und gründlicher Kopist war. Mojon meint, die Kopie scheine „das Gegenständliche peinlich genau festzuhalten“.927 Nur die Landschaften im Hintergrund werden gelegentlich verdächtigt, teilweise eine Zutat von ihm zu sein.928 Obwohl Zinsli kritisiert, die Aquarellkopien seien „von einem dem künstlerischen Ausdruck Niklaus Manuels und des frühen 16. Jahrhunderts fremden Formgefühl getränkt“,929 gesteht auch er insgesamt zu, man werde „die uns vorliegende Kopie Kauws denn doch als weithin zuverlässige Der Berner Totentanz
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Sörries, Katalog, S. 145. Zinsli, Berner Totentanz, S. 28. 1554 wurde das Bild von Jacob Kallenberg und Hans Dachselhofer erneuert; 1583 renovierte der Tischler Valerius Appel die „Taffelen am Todtentanz“, womit wohl die rahmenden Gemälde gemeint sind, die nicht wie der eigentliche Reigen direkt auf die Mauer, sondern auf Holztafeln gemalt waren (Angaben nach von Tavel, S. 253). 1553 erneuerte der Schul- und Schreibmeister, vormals Priester Urban Wyss den Text; und 1580 wurde die Schrift nochmals von Caspar Schlatter renoviert (vgl. Mojon, S. 72). Ebd., S. 82. Vgl. ebd., auch Zinsli, Berner Totentanz, S. 8f. Ebd., S. 7.
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Einzelunterschungen
Arbeit eines verdienstvollen Nachbildners zu schätzen wissen“.930 So soll sie – in Ermangelung einer Alternative – auch für die vorliegende Untersuchung als Grundlage dienen. Wie das ursprüngliche Aussehen, so ist auch der genaue Anbringungsort des Totentanzes nicht zweifelsfrei überliefert. Man weiß daher nicht genau, ob sich das Gemälde an der Außen- oder Innenseite der Friedhofsmauer befand. Wenn Kiening vermutet, die Malerei habe sich an der Außenseite befunden und sich somit an die Öffentlichkeit gerichtet,931 gilt letztere Feststellung jedoch auch für den entgegengesetzten Fall, denn wie Kiening später selbst anmerkt, war anders als heute der Friedhof im Mittelalter „kein ausgegrenzter Ort, sondern ein wichtiger Punkt des sozialen Lebens“.932 Ähnlich glaubt Hammerstein: Einzelunterschungen
Das die Gattung solcher Friedhofsdekorationen begründende Vorbild von Paris und Basel schließt aber eine nach außen, zur Stadt hin gewendete Schauseite eigentlich aus. Dies mindert nicht den Charakter des Totentanzes als eines für die Öffentlichkeit bestimmten Werkes von 933 monumentalen Ausmaßen; denn alle Besucher der Kirche mußten den Friedhof passieren.
Die Ausmaße des ursprünglichen Totentanzes können annäherungsweise aus überlieferten Angaben erschlossen werden. Die Mauer, auf der sich die Bilder befanden, war etwa 107,5 m lang;934 abgebildet waren 41 Tanzpaare. Hammerstein schätzt: „Da die gemalten Figuren nach alter Überlieferung [...] ungefähr Lebensgröße hatten, muß sich die Bilderfolge über ungefähr Dreiviertel der Mauerlänge hin erstreckt haben.“935 Dies steht durchaus im Einklang mit den von Sörries angegebenen etwa 80 Metern.936 Die bereits erwähnten Rahmenbilder umfassen einen Sündenfall, eine Darstellung von Moses beim Empfang der Gesetzestafeln, eine Kreuzigungsszene und eine Beinhausmusik am Anfang sowie eine Predigerdarstellung am Ende, in der neben dem reformatorisch gekleideten Geistlichen, der einen Totenschädel in den Händen hält, auch nochmals eine Todesfigur abgebildet ist, die mit Pfeilen auf eine Menschenmenge schießt, während im Stamm eines Baumes, in dessen Astwerk ebenfalls Menschen verschiedener Stände hängen, eine Axt steckt, die schon einen Teil des Holzes durchtrennt hat. Diese Bilder gibt Kauw in Rahmungen wieder, woraus man geschlossen hat, daß sie sich nicht wie der eigentliche Reigen auf der Mauer befanden, sondern als quasi abgelöste Tafelgemälde an Beginn und Ende des Totentanzes standen; sie verfügen auch nicht wie die Tanzpaare über einen Arkadenhintergrund. Die Authentizität dieser Rahmenbilder, vor allem des letzten, ist immer wieder angezweifelt worden (u.a. wegen der reformatorischen Kleidung des Predigers, dafür wäre das Entstehungsdatum zu früh). Dennoch entscheidet Zinsli sich letz930 931 932 933 934 935 936
Zinsli, Berner Totentanz, S. 9. Vgl. Kiening, Das andere Selbst, S. 48; vgl. zu dieser Fragestellung auch die näheren Angaben bei von Tavel, S. 252f. Kiening, Das andere Selbst, S. 89. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 216. Vgl. Mojon, S. 74. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 216. Vgl. Sörries, Katalog, S. 143.
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ten Endes dagegen, zumindest die Anfangsbilder aus dem Totentanz auszuscheiden, denn u.a. weisen zumindest die drei Eingangsgemälde auch Wappen auf, von denen man sich kaum vorstellen kann, daß ein späterer Maler sie für eine Neuschöpfung hätte hinzufügen sollen.937 Sündenfall-, Kreuzigungs-, Beinhaus- und Predigerszenen sind zudem in der Gattung als Rahmung des eigentlichen Reigentanzes keine Seltenheit. In diesem Sinne gibt auch Zinsli zu bedenken, daß dieses Bild durchaus zum ursprünglichen Bestand gehört haben kann, und bemerkt zur Beinhausmusik zutreffend: „Trotz der formalen Zäsur zwischen der Szene des Beinhauses und des Totenzugs ist doch das Bild mit den musizierenden Toten ein Teil der dargestellten Totentanzhandlung“;938 so wird ja auch später im Text darauf Bezug genommen, wenn der Tod zum König sagt: Zum Beyn Husz müessend ir thn ein Sprung (Str. 36).939 Reizvoll ist die Idee, die ersten beiden Rahmengemälde könnten den Eingang zum Friedhof flankiert haben. Mojon beruft sich auf die Kunsthistorikerin A. M. Cetto, nach der sich möglicherweise Der Berner Totentanz
die beiden einleitenden Bilder beiderseits des Eingangs beim Pförtnerhaus befunden und die den 940 Klosterhof von Osten her Betretenden gleichsam empfangen hätten [...].
Der Aufbau der Hintergrundlandschaft, die sich – abgesehen vom Himmel – von Adam und Eva zu Moses fortzusetzen scheint, spricht jedoch eher dagegen und legt nahe, daß sich die beiden Gemälde nebeneinander befunden haben. Ein weiterer unklarer Punkt ist die ursprüngliche Anordnung der Texte und Bilder. Mojon spricht sich für eine sehr ungewöhnliche Variante aus, denn er glaubt, die Textstrophen hätten sich in Intervallen zwischen den Bildern befunden, so daß diese vollständig voneinander abgetrennt waren und keinen fortlaufenden Reigen bildeten.941 Hammerstein nennt diesen Rekonstruktionsversuch 937
938 939
940 941
Vgl. Zinsli, Berner Totentanz, S. 9. Das Schlußbild weist jedoch als einziges kein Wappen auf. Daneben macht Zinsli kritisch auf die „überladene Allegorie, die Manuels Einfachheit entgegensteht“ (Zinsli, Berner Totentanz, S. 15), aufmerksam. Zu bedenken ist außerdem, daß der Geistliche reformatorisch dargestellt ist (vgl. ebd.), aber dies kann natürlich durch Übermalung zustande gekommen sein. Vielleicht hatte schon Manuel ein abschließendes Predigerbild gemalt, das aber bei einer Renovierung stark verändert wurde. Zinsli führt allerdings noch ein gewichtiges Argument ins Feld, das dafür spricht, daß die Malerdarstellung die letzte Szene war: „[...] nicht so sehr die von einem naturalistischen Vorurteil diktierte Meinung, daß ja mit dem Ende des Malers notwendig auch die Malerei zu Ende sein müsse, wohl aber der offenkundige Bruch in der Sprache der Verse und die Tatsache, daß einer der Abschreiber, Anthoni Schmalz, unter den Malerversen noch Manuels Schlußsignet, den Dolch, abgezeichnet hat“ (Zinsli, Berner Totentanz, S. 15). Abschließend kann die Frage nicht geklärt werden. Ebd., S. 10. Der Berner Totentanz wird zitiert nach der bei von Tavel abgedruckten Textfassung, die nicht die Abschrift Kauws zugrundelegt, sondern eine als zuverlässiger geltende Textkopie des Schulmeisters Hans Kiener von 1576, die leider nicht ganz manuskriptgetreu ediert, sondern in Bezug auf Interpunktion sowie Groß- und Kleinschreibung modernisiert ist. Mojon, S. 75. Die Angabe beruht auf einer mündlichen Information von Cetto, wie Mojon mitteilt. „Daß sie [die Bilder] niemals dicht aneinandergeschoben waren, oder die Kauwschen Kopien gar Ausschnitte aus einem langen Bildfeld wären, geht aus den folgenden Tatsachen hervor. Bei bestimmten Bildpaaren käme es zu störenden Überschneidungen, die Landschaft setzt
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Einzeluntersuchungen
„ganz unmöglich“ und hält seinerseits eine Positionierung des Textes über und unter den Figuren oder auch nur am unteren Rand für „funktionell und ästhetisch überzeugend“. Zu Recht weist er darauf hin, eine Anordnung, wie Mojon sie vorschlägt, verstoße gegen die Gesetze der Gattung: Einzeluntersuchungen
Bei aller renaissancemäßgen Ausgewogenheit der Doppelszenen läßt sich doch ein durchgehender Bewegungszug feststellen, der durch Versblöcke zwischen den Paaren völlig zerrissen würde. 942
Angesichts des hohen Stellenwerts, der dem Berner Totentanz in der Forschung einvernehmlich zugebilligt wird, überrascht es ein wenig, daß dieses Denkmal keine nennenswerte Rezeptionsgeschichte aufzuweisen hat, wie auch Sörries anmerkt.943 Eine mögliche Erklärung dafür bietet Rosenfeld. Er meint, für eine Weiterüberlieferung war der Berner Totentanz „schon zu sehr individuelles Werk eines einzelnen, zu sehr vom Tagesgeschrei erfüllt, zu wenig mehr die Stimme einer Gemeinschaft.“944 Die Allgemeingültigkeit dieses Denkmals – die ja eigentlich einen „echten“ Totentanz ganz besonders auszeichnet – war folglich vielleicht zu gering, als daß ein gesteigertes Interesse daran bestanden haben könnte, den Berner Totentanz oder zumindest Elemente daraus zu übernehmen und auf andere Verhältnisse zu übertragen bzw. die Bildidee als Druck weiterzuverarbeiten. Wenngleich der Berner Totentanz kaum eine weitere Verbreitung erfahren hat, so heißt das doch keineswegs, daß er als völlig isoliertes Einzelwerk zu sehen ist. In der von Hans Hug Kluber veranstalteten Neufassung des Basler Totentanzes von 1568 findet sich sogar ein recht starker Widerhall, denn der Basler Renovator entnahm einige Ideen aus Manuels Werk. Nach neueren Forschungserkenntnissen muß aus Gründen der Chronologie angenommen werden, daß all diejenigen Anteile des Basler Totentanzes in seiner frühneuzeitlichen Gestalt, die nicht anhand von Klingental oder anderen oberdeutschen Überlieferungen als „originale“ spätmittelalterliche Elemente verifiziert werden können und die sich ferner in Bern
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sich in keiner Weise fort, das Ziermotiv der Säulenbasen wechselt in vielen Fällen von Halbsäule zu Halbsäule. Die von einer Doppelarkade beherrschten Bilder sind – und das ist wohl ausschlaggebend – auf Grund ihrer Perspektive (Schrägansicht der flankierenden Kapitelle und der äußeren Bogenhälften) selbständige Bildeinheiten. Endlich ist der Rhythmus der Figurenpaare zu beachten, der ebenfalls keinen Zusammenschluß erlaubt. Erwägt man des weiteren, daß die Bildfelder wegen ihres Horizonts 60 cm über dem Niveau ansetzten und der Text darunter kaum Platz gefunden hätte, daß ferner das Hauptstück der Südmauer allein etwa 107,5 m lang war, ein nahe seinem Ostende gelegenes Haus zum Totentanz bezeichnet wurde und laut zeitgenössischen Berichten MANUELS Werk bis zum Zeughaus gereicht hat, so zwingt dies zur Annahme, auf dem Bildfeld sei jeweils – wohl auf Augenhöhe – ein Schriftfeld gefolgt“ (ebd., S. 74f.). Hammerstein, Tanz und Musik, S. 217. Vgl. Sörries, Katalog, S. 145. Rosenfeld, Totentanz, S. 283.
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wiederfinden, als von Kluber kopierte Einfälle Manuels gewertet werden müssen.945 Natürlich kann in einigen Fällen auch umgekehrt die Überlieferung von (Alt-) Basel nach Bern gegangen sein. Verschiedentlich werden Anklänge an Klingental aufgeführt;946 m.E. ist es jedoch fraglich, wie Manuel dieses Gemälde kennengelernt haben kann, denn schließlich befand sich das Gemälde im Klingentaler Nonnenkloster in Klausur. Es ist deshalb anzuzweifeln, ob es überhaupt weithin bekannt war; vermutlich wird es kaum den Bekanntheitsgrad wie ein Gemälde im öffentlichen Raum erreicht haben. Grundsätzlich muß bei jeder entdeckten Konvergenz des Berner Totentanzes mit anderen oberdeutschen Denkmälern – sei es bildlich oder textlich, denn beides kommt verschiedentlich vor, allerdings kaum korreliert – jeweils im Einzelfall geprüft werden, ob sich eine Übereinstimmung mit der Neufassung Basels zeigt, ob der Anklang möglicherweise aus der alten, spätmittelalterlichen Basler Version stammte, die Manuel vermutlich noch gekannt hat, oder ob die Übernahmen aus einem anderen Überlieferungsträger der oberdeutschen Tradition gekommen sein können, so z.B. den Blockbüchern, von denen einige sicherlich zur Kenntnis des bernischen Malerdichters gelangt sein werden. Darüber hinaus hat die Forschung auch Anteile in Manuels Totentanz identifizieren können, die auf die mittelrheinische Gruppe zu weisen scheinen. Einige Beispiele sollen im folgenden zunächst demonstrieren, auf welche Weise Manuel textlich aus den verschiedenen Quellen schöpft bzw. auf Kluber einwirkt. Im Falle des Herzogs läßt sich recht plausibel zeigen, daß die Überlieferung vermutlich von Bern nach Basel führte. Manuel läßt den Herzog sagen: Der Berner Totentanz
Ach Gott, ms ich so gächling scheyden Von Land, Lüth, Wyb, Kind, Gelt und Kleyden (Str. 43)
Ähnlich heißt es in Basel (Nr. 8): O mordt muß ich so flux darvon Land/t Leut/ Weib/ Kindt dahinden lon
Im Klingentaler Text (ebenfalls Nr. 8) dagegen findet man folgende Verse: Ich han die edlen heren wertht Als ein herzug geregirth myt den svuert
In dem von Maßmann als „Urtext“ bezeichneten oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Text, der u.a. aus den Blockbüchern bekannt ist, steht ganz ähnlich zu lesen (Nr. VIII): Ich han die edeln herren wert Als ein herzog geregieret mit dem schwert.
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Es soll nicht verschwiegen werden, daß teilweise abweichende Meinungen vertreten wurden, so etwa von Rosenfeld, der bei einigen Details eine Überlieferungsreihenfolge von Basel nach Bern annimmt, die sich nicht im Rahmen der obengenannten Chronologie erklären läßt (vgl. ebd., S. 272f.). Vgl. z.B. ebd., S. 272-274.
Einzeluntersuchungen
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Da Klingental und der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text übereinstimmen, der Basler Text jedoch nicht, handelt es sich an dieser Stelle offenbar um die Basler Neufassung durch Kluber, die 1568 stattfand. Folglich muß Kluber diese Verse von Manuel entlehnt haben, dessen Werk aus den Jahren 1517-1519 stammt. Nun ließe sich freilich dagegenhalten, daß auch die Berner Verse möglicherweise eine Neufassung sind. Doch selbst wenn dem so wäre: Die belegte Überarbeitung durch Urban Wyss erfolgte 1553 und damit immer noch vor der Neufassung durch Kluber, so daß in keinem Fall diese Verse als eigene Schöpfung von Kluber anzusehen sind. Da Renovationen vor Kluber zwar vermutet werden, aber nicht beweisbar sind, muß diese Lösung vorerst als gegenwärtiger Stand der Forschung akzeptiert werden. Zudem wird vermutet, Wyss habe vor allem die Geistlichenstrophen überarbeitet, so daß die Texte der weltlichen Personen Manuels eigener Fassung noch recht nahestehen.947 Weniger klar ist die Sachlage z.B. im Falle der Kindsverse. Bei Manuel ist es nicht, wie in den anderen Totentänzen, das Kind selbst, welches die Verse spricht, sondern er legt die folgenden Zeilen dem Tod in den Mund, der die Ehefrau und Mutter anredet: Einzeluntersuchungen
Eefrouw, das Kind mst du mir lan, Es ms tantzen und kan nit gan! (Str. 84)
In Klingental (Nr. 23) lesen wir die folgenden, vom Kind selbst gesprochenen Worte: Ade wilt du mich also lon Ich motz danzen ich kan noch nit gon
Im Basler Totentanz (ebenfalls Nr. 23) liegt der Fall noch etwas komplizierter, da die Figur des Kindes in der Frühen Neuzeit übermalt wurde. Überliefert sind von Frölich u.a. die folgenden Verse: O Mtterlein wilt du mich lohn Muß tantzen/ vnd kan noch kaum stohn: Ach lehr mich vor im Krrlein gohn.
Der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text (Nr. XXIII) dagegen hat ebenso wie Klingental die prägnantere Version: Wie wiltu mich also verlan? Muss ich tanzen und kan nit gan?
Da nahezu alle Totentänze, die auf dem oberdeutschen vierzeiligen TotentanzText basieren, diese Verse in irgendeiner Form verwenden, ist kaum eindeutig zu ermitteln, aus welcher Quelle Manuels Version stammt. Denkbar ist sicherlich, daß ihm mehrere Texte vorlagen und er sich nicht an eine bestimmte Fassung
947
Vgl. Zinsli, Berner Totentanz, S. 16 mit Anm. 35: „Und was die Verse betrifft, so werden wir durch sie zweifellos – wenn wir von den nun einmal der Entstellung verdächtigten Geistlichenstrophen absehen – wohl auch mit den Worten angesprochen, die der Berner Maler einst unter seine Bilder gesetzt hat.“
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anlehnt. Das würde allgemein gut zu seiner Arbeitsweise passen, sich die älteren Vorlagen anzueignen und zu modifizieren, anstatt lediglich zu kopieren. Als nächstes soll ein Beispiel folgen, das Rosenfeld anführt, um seine These zu belegen, daß Manuel den Klingentaler Totentanz gekannt habe. In Klingental spricht der Tod zu den Juden (Nr. 33), die, natürlich abgesehen von Basel, in der restlichen oberdeutschen Tradition (in Maßmanns „Urtext“) nicht vorkommen: Din talmüt hat vil gelogen Do mit bistu bald betrogen
In Manuels Text klagen die Juden tatsächlich ganz ähnlich: O, wie sind wir so ganz betrogen! Die Rabinen hannd uns alls erlogen (Str. 87)
Hier berücksichtigt Rosenfeld allerdings nicht, daß Manuel diesen Text genausogut aus dem alten, originalen Basler Totentanz entlehnt haben kann. Die alte Version war Klingental ja vermutlich sehr ähnlich, da der Klingentaler Totentanz anerkanntermaßen eine Replik von Basel in seiner spätmittelalterlichen Form darstellt. Auch daß Rosenfeld die Figur der Begine als einen weiteren Beweis für Manuels Verwendung von Klingentaler Material verwendet, ist m.E. nicht stichhaltig. Ihre Verse stehen denen Manuels nicht wirklich nahe: Der Berner Totentanz
Hastu got gedienet nacht und tag, darumb got dir helfen mag […] (Klingentaler Totentanz, Nr. 31) Den Siechen wachet ich Tag und Nacht, [...] Und empfind, das nüt helfend die Wort. (Berner Totentanz, Str. 33)
Nicht genug, daß die – ubiquitäre – Doppelformel „Tag und Nacht“ in beiden Strophen in umgekehrter Reihenfolge auftaucht, daß das in beiden Totentänzen an dieser Stelle auftretende (und inhaltlich naheliegende) Wort „helfen“ bei Rosenfeld als Beleg für eine Abhängigkeit verwendet wird, erscheint mir sehr weit hergeholt. Schließlich sind auch nicht alle Totentanz-Strophen, die Doppelkreuz und Tiara des Papstes erwähnen, miteinander verwandt. Wie bereits oben erwähnt, ist eine direkte Kenntnis Manuels von Klingentaler Versen und Bildern auch aufgrund der Klausur schwer vorstellbar. Zuletzt sei noch eine Textstelle angeführt, die gelegentlich erwähnt wird, um Manuels Verwendung des mittelrheinischen Totentanzes nahezulegen.948 Es handelt sich um die Verse des Doktors, den der Tod in Bern folgendermaßen adressiert:
948
Vgl. z.B. Rosenfeld, Totentanz, S. 278; siehe auch Breede, S. 59-61, sowie Zinsli, der zutreffend bemerkt: „Seltsamerweise ist diese einzelne Stelle das einzige ÜberzeugendGemeinsame zwischen den Versen dieses ‚Todtendantzes mit figuren’ und des Berner Totentanzes, denn was sonst an textlichen Übereinstimmungen aufgezählt wird, kann ebensogut zufälliger Anklang sein“ (Zinsli, Berner Totentanz, S. 26).
Einzeluntersuchungen
278 Herr Doctor, ir sind gleert und wysz, Üch glychet keiner zu Parysz (Str. 20)
Als Parallele dient die Anrede des Todes an den Doktor im mittelrheinischen Text: O Groißer meister von pariß 949 Werent ir nu gewest so wijse […] (V. 449f.)
Die folgenden Worte, die im mittelrheinischen Totentanz-Text den Epilog einleiten, klingen nach Rosenfeld950 ebenfalls in Bern wieder an: Einzeluntersuchungen
Hie ligend also unsere Gebeyn, Z uns har tanzend gros und klein (Berner Totentanz, Verse bei der Beinhausmusik, Str. 7)
Der mittelrheinische Text lautet ähnlich: Merckent vnd gedenkent yr mentschen gemeyn Hye lygent gebeyne groiß vnd kleyn951
Einschränkend ist m.E. anzumerken, daß erstens zwar der Reim, nicht aber der genaue Wortlaut übereinstimmt, und daß zweitens Worte wie „Gebein“ „allgemein“ „groß und klein“ in Totentänzen überaus verbreitete Lemmata sind, die sich zudem noch als Reim anbieten. Da die Gattung verschiedene Themen und Motive vorgibt, wiederholen sich zwangsläufig zahlreiche Elemente und sind auch in den meisten Totentänzen anzutreffen. Somit kann es sich bei scheinbaren Übereinstimmungen im Einzelfall auch um gattungsbedingte, stereotype Ähnlichkeiten handeln. Daß Niklaus Manuel viele einschlägige Quellen gekannt haben muß, die zur contemptus mundi-Literatur zu rechnen sind, zeigt auch folgender Spruch, der an die Legende der drei Lebenden und drei Toten erinnert und der hier von den Beinhausmusikanten gesprochen wird: Die ir jetz sind, die warend wir, Die wir jetz sind, die werdent ir! (Str. 7)
Insgesamt entsteht bei der Untersuchung der Überlieferungsverhältnisse, wie schon früher angedeutet, auch hier wieder ein sehr verworrenes Gesamtbild.952 949 950 951 952
Hier ist möglicherweise zu bedenken, daß Paris als Herkunfts- oder Studienort eines Gelehrten zu diesen Zeiten auch schon beinahe ein Gemeinplatz ist, jedenfalls keine besonders originelle Wahl. Vgl. Rosenfeld, Totentanz, S. 277f. Diese ersten Verse der epilogartigen Schlußrede gehören übrigens zu demjenigen Textteil des mittelrheinischen Totentanzes, der in nahezu gleicher Form auch im ‚Spiegelbuch’ auftaucht (vgl. den Abschnitt 3.2.1. über den mittelrheinischen Totentanz). Auch Zinsli spricht das „im einzelnen fast unentwirrbare Hin und Her der Einfälle und Eingebungen“ an (Zinsli, Berner Totentanz, S. 20). – Um einen ungefähren Überblick über die Textüberlieferung mit ihren zahlreichen Übereinstimmungen zu bekommen, ist es auch hier wieder nützlich, die umfangreiche Tabelle von Maßmann heranzuziehen.
Der Berner Totentanz
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Darüber liegt es gelegentlich im Einzelfall im persönlichen Ermessen, ob es sich bei Textstellen oder Bildelementen um Zitate bzw. Entlehnungen handelt, oder ob bloße genrebedingte Ähnlichkeiten aufgrund sterotyper Formulierungen die Erklärung für Übereinstimmungen sind. Im Hinblick auf die Bildseite dürfte derjenige Anteil, der allein auf Manuels Einfälle zurückgeht und sich ikonographisch nicht an andere Totentänze anlehnt, weitaus größer sein als in Hinsicht auf den Text. Dies paßt zu der schon bei den anderen regionalen Totentanzgruppen gemachten Beobachtung, daß die bildliche Realisierung häufig etwas eigenständiger ausfällt als der Text und weniger der Tradition verhaftet ist bzw. daß ein relativ konsistent weitergetragener Text (wie z.B. der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text) im Verein mit zahlreichen unterschiedlichen Bildausprägungen auftritt. Natürlich gibt die ikonographische Konvention bestimmte Aspekte vor, wie den abwechselnden Reigentanz, meist in Linksrichtung, sowie Elemente wie Beinhausmusik und Predigerfigur. In diese Kategorien fügt sich auch Manuels Totentanz. Wie schon der Basler Totentanz bildet das Berner Gemälde keinen fortlaufenden Reigen, sondern eine Aufteilung in Einzelpaare. Die Separierung fällt jedoch bei Manuel noch stärker als in Basel und Klingental (und z.B. auch in Metnitz) aus. Dies rührt erstens von der Art der Perspektive her, die Manuel verwendete, wie Mojon (in der bereits in anderem Zusammenhang erwähnten Textstelle) anführt: Der Berner Totentanz
Die von einer Doppelarkade beherrschten Bilder sind – und das ist wohl ausschlaggebend – auf Grund ihrer Perspektive (Schrägansicht der flankierenden Kapitelle und der äußeren Bogenhälften) selbständige Bildeinheiten. Endlich ist der Rhythmus der Figurenpaare zu beachten, der 953 ebenfalls keinen Zusammenschluß erlaubt.
Zweitens bringt natürlich die Positionierung jedes einzelnen Paares innerhalb eines Arkadenbogens einen starken Zerfall des zusammenhängenden Tanzreigens mit sich. Die Anregung für diese Form der Aufteilung mag Manuel von der französischen Tradition empfangen haben.954 Auch in der Danse macabreDruckfassung des Guyot Marchant steht jedes Paar unter einem Bogen, zwischen jedem zweiten Paar befindet sich jedoch keine vollständige Säule, sondern nur eine Hängekonsole, so daß Einheiten von jeweils zwei Paaren entstehen (wohl dem Druckformat angepaßt).955 Es gibt jedoch auch Danse macabre-Versionen, in 953 954
955
Mojon, S. 74. Zinsli weist darauf hin, daß Manuel auch in anderen Bildern von der Technik Gebrauch macht, „Menschen in Bogenöffnungen hineinzukomponieren“, und folgert: „So darf denn auch der Einfluß der französischen Totentänze auf Manuel nicht überschätzt werden, ja er ist kaum gesichert“ (Zinsli, Berner Totentanz, S. 23). – Der vollkommen verlorene Totentanz in der ehemaligen Dominikanerkirche von Straßburg war ebenfalls in Arkaden gegliedert. Es handelte sich jedoch anscheinend um einen Gruppentotentanz und damit um einen Sonderfall, „zu dem von Manuels Werk aus offenbar keine Beziehungen führen“ (ebd., S. 70, Anm. 53); zum Straßburger Totentanz vgl. z.B. Sörries, Katalog, S. 100-102, sowie F.W. Edel: Die neue Kirche zu Strassburg. Straßburg 1825. In Marchants Danse macabre-Druck waren die Arkaden vermutlich kein bloßes Zierelement. Auf dem Pariser Friedhof Aux SS. Innocents, an dessen Mauer die erste Danse macabre gemalt war, auf der die späteren Druckausgaben und wohl auch die restliche französische Über-
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denen jedes Tanzpaar durch Säulen vollständig abgetrennt ist (z.B. in einem Pariser Bilderbogen von ca. 1490), und in Kermaria tanzt gar jede einzelne Figur innerhalb eines eigenen, durch Säulen abgetrennten Arkadenbogens. Nichtsdestotrotz halten sich gerade dort alle Figuren an den Händen! Das Vorhandensein von solchen architektonischen Elementen allein muß folglich nicht zu einer Durchtrennung des Kettenreigens führen. Letzten Endes tanzen auch bei Manuel die Figuren vor und nicht in den Arkaden (d.h. diese geben lediglich den Hintergrund ab, zudem enden die Säulen nicht auf dem Boden, sondern etwas erhöht auf einer ungefähr kniehohen Mauer), so daß zwar visuell eine Unterteilung stattfindet, räumlich gesehen die Paare jedoch genaugenommen nicht voneinander getrennt sind. Von Tavel spricht von einer „loggiaähnlichen Architektur“956 und vermutet zusätzlich: Einzeluntersuchungen
Zwischen den einzelnen Bildern könnten sich Holzleisten – geschnitzt oder bemalt – befunden haben, die Kauw nicht kopieren konnte, da sie zu stark verwittert waren oder deren symmetri957 scher Charakter sich nicht mit seinen Darstellungen von Einzelfeldern vertragen hätte.
Eine solche zusätzliche Segmentierung hält auch Mojon für wahrscheinlich, der anmerkt: „[...] die Landschaft setzt sich in keiner Weise fort, das Ziermotiv der Säulenbasen wechselt in vielen Fällen von Halbsäule zu Halbsäule.“958 Der Grund hierfür könnte allerdings auch darin liegen, daß Kauw seine Kopie nicht als fortlaufenden Bilderbogen, sondern in Form von Einzelblättern anlegte und daß – wie vermutet wird – die Landschaften teilweise von ihm stammen (s.o.). Daß sich folglich an den Rändern Unstimmigkeiten ergeben, wenn man seine Bilder aneinanderlegt (wie auf der Zinslis Publikation beigegebenen Klapptafel gut zu erkennen ist), muß vor diesem Hintergrund nicht unbedingt verwundern. Da die weitaus überwiegende Mehrzahl aller überlieferten monumentalen Totentänze aber eine fortlaufende Bildfläche darbietet, spricht die Wahrscheinlichkeit eher gegen eine solch drastische Teilung des Reigens an der Friedhofsmauer. Neben diesen eher übergreifenden Elementen gibt es aber auch einige Bilddetails, die sich in der restlichen deutschen Totentanz-Tradition wiederfinden, so daß ein Zusammenhang vermutet werden darf. Hervorstechend und zweifelsfrei von Manuel entlehnt ist zum Beispiel Klubers Malerdarstellung959 am Ende des Rei-
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lieferung beruhen, gab es eine offene Arkadengalerie, an deren Rückwand sich das Gemälde befand (vgl. z.B. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 167f.). Diese architektonische Komponente könnte so Eingang in die Druckfassungen gefunden haben. Auch auf anderen Danse macabre-Wiedergaben, z.B. im Vérard-Druck und einem danach gestalteten Bilderbogen, sind solche Arkaden zu sehen. Von Tavel, S. 252. Ebd., S. 254. Mojon, S. 74. Wie bereits erwähnt, gab es auch im Kienzheimer Totentanz eine Malerdarstellung. Auf dem textlosen Totentanz des Jesuitenkollegs in Luzern von ca. 1615 ist ebenfalls ein Maler abgebildet, auch hier ein Selbstporträt des Künstlers, Jakob von Wyl. Die Darstellung lehnt sich jedoch weder an Manuel noch an Kluber eng an; letzterem vergleichbar ist höchstens die Positionierung der Szene an einem Maltisch. Haltung und Ausdruck der menschlichen Figur sowie die Todesgestalten sind jedoch gänzlich verschieden. Auch der Füssener Totentanz vom
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gens.960 Ebenso wird verschiedentlich darauf hingewiesen, daß die Figuren des Kochs in Bern und Basel einige Ähnlichkeiten aufweist. Die Körperhaltung ist nahezu gleich, nur hält der Koch auf dem Berner Gemälde den Krug in der anderen Hand, und der Tod füllt mit einem großen Löffel daraus anscheinend etwas auf, anstatt wie in Basel mit einem Hähnchen am Spieß neben dem Koch herzulaufen. Der Berner Totentanz
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Anfang des 17. Jahrhunderts hat die Idee als solche übernommen, ohne Bild und Text geradlinig nur von einem Vorbild zu kopieren. Offensichtlich war diese Bildformel aufgrund ihrer Eindrücklichkeit und der Möglichkeit, darin Selbstdarstellung mit der dem Gegenstand angemessenen Demut zu verbinden, von großer Wirkungskraft. Die Malerdarstellung und die zugehörigen Verse betrifft ein interessantes Detail, das in die hier dargelegten Überlieferungsbeziehungen etwas Verwirrung bringt, nichtsdestotrotz aber nicht unterschlagen werden soll. Maßmann ging noch davon aus, daß die bei Kluber und Manuel übereinstimmenden Verse von Manuel aus Basel entlehnt wurden. Möglich wurde diese (auch in der späteren Forschung, z.B. bei Rosenfeld, gelegentlich wiederholte) Annahme durch Ansetzung einer nicht belegten Renovation des Basler Totentanzes um das Jahr 1517, auf die dann die meisten der Änderungen zurückgehen müßten, die heute gemeinhin Kluber zugeschrieben werden. Als Hinweis hierauf zieht Maßmann die Bern-Abschrift von Hans Kiener heran, die 1576 angefertigt wurde und als getreuer gilt als diejenige Kauws. Kiener fügte einige offensichtlich von ihm selbst neu gedichtete Verse hinzu (zitiert nach Maßmann, Baseler Todtentänze, S.86): Der tod spricht zum schreiber dises todtentanz Tantz auch har nach kum har H., Kiener Der du bist gsin der leerkinder Diener Dann dich hilfft wäder müj noch arbeyt So du vil Jar hast an die Khind gleyt
Hanns Kiener der schryber gibt Antwort Ich hab mich deß allwäg begäben Dis ich nit Eewig hie wärd läben So hoffen ich doch mein Dächtnus blyb alls lang das wärt was ich hie schryb.
Interessanterweise sind nun diese Verse ganz eindeutig eine Modifikation der Kluberschen Malerstrophen aus Basel. Nach Maßmann fand Kluber 1568 allerdings bereits eine Malergestalt vor. Manuel konnte sich nach 1517 folglich die Anregung hierfür schon aus Basel holen. Die Argumentation ist mir jedoch etwas unverständlich. Klubers Renovation (1568) liegt zeitlich vor der Bern-Abschrift Kieners (1576). In dem Sinne ist es unklar, wie diese Sachlage als Beleg dafür dienen soll, daß erstens Manuel von Kluber entlehnte und nicht umgekehrt sowie daß zweitens Kluber die Malerfigur bereits vorfand. Glaubhaft würde Maßmanns Argumentation nur, wenn sich zweifelsfrei belegen ließe, daß vor Kluber tatsächlich eine Renovation stattfand – wenn man also beweisen könnte, daß ca. 1517 schon eine Malergestalt samt Versen an der Basler Friedhofsmauer stand. In diesem Fall müßte man davon ausgehen, daß die Maler-Idee tatsächlich originär aus Basel stammt und von Manuel übernommen wurde. Dementsprechende Belege gibt es jedoch nicht, da vor 1568 niemand den Zustand des Basler Totentanzes vollständig dokumentiert hat. Alle Überlegungen bleiben demzufolge Spekulation (vgl. Abschnitt 3.3.2. zum Basler Totentanz). Es ist zwar etwas seltsam, daß Kiener in diesen Schlußversen seiner ansonsten Berngetreuen Abschrift auch noch Verse aus Basel einbringt, aber keinesfalls unerklärlich, war der Basler Totentanz doch wohl weithin bekannt. Vermutlich werden entweder verschiedene Abschriften kursiert haben, von denen eine Kiener in die Hände fiel, oder er hat in dem nicht allzu weit entfernten Basel selbst vor Ort diese Verse für sich abgeschrieben und sie später auf diese Weise quasi wiederverwendet. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß Maßmanns Hinweis auf die (übrigens sonst meist unterschlagenen) Verse Kieners die oben skizzierten Überlieferungszusammenhänge nicht widerlegt, sondern lediglich ein bedenkenswertes Detail liefert.
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Einzeluntersuchungen
Vielleicht hat Kluber sich auch hier eine Anregung von Manuel geholt. Ebenso ähnelt sich die Haltung des Figurenpaares von Tod und Jungfrau in Basel und Bern; bei Manuel ist die erotische Anspielung allerdings um einiges deutlicher. Umgekehrt ließ Manuel sich möglicherweise von der Basler BeinhausDarstellung inspirieren, die von sehr großer Strahlkraft gewesen sein muß, da sie sich in sehr vielen (auch jüngeren) oberdeutschen Bildprogrammen findet. Zinsli weist noch verschiedene andere Zusammenklänge u.a. mit Klingental nach,961 die aber teilweise etwas dünn sind und m.E. keinesfalls die Annahme einer Beziehung zwingend machen. Mit dem Knoblochtzer-Buchtotentanz teilt der Berner Reigen zumindest das Ordnungsprinzip der Ständevertreter, die in eine geistliche und eine weltliche Gruppe aufgeteilt werden und nicht alternieren wie in Basel. Andere klare Übernahmen lassen sich jedoch kaum eindeutig belegen. Rosenfeld hält allerdings die Beinhausmusik-Abbildung von Knoblochtzer für eine Quelle Manuels; dessen eigenes Beinhaus-Bild sei „unverkennbar nur Modulation dieser mittelrheinischen Eingangsszene“.962 Daß der Arzt wie im Knoblochtzer-Druck das Uringlas hochhält, muß auch nicht unbedingt etwas besagen, ist dies doch sicherlich die der Harnbeschau angemessenste und auch konventionalisierte Haltung.963 Nicht ganz von der Hand zu weisen ist demgegenüber Hammersteins Vermutung, das Instrumentenmotiv könne durch Anregung des mittelrheinischen Totentanzes in das Berner Gemälde eingeflossen sein;964 zu bedenken ist aber hier, daß auch der etwas näherliegende Basler Totentanz ein recht ausgeprägtes Instrumentenmotiv besitzt. Zusammenfassend ist zu sagen, daß ungeachtet der zahlreichen nachzuweisenden Übereinstimmungen mit der ober- und mitteldeutschen Tradition sowie in Teilen auch den verschiedenen Danse macabre-Ausprägungen der schöpferische Eigenanteil Manuels insgesamt sehr groß ist. Ausgedehnte Teile seines Totentanzes beruhen auf originalen Einfällen, die er im Rahmen der von der Gattung vorgegebenen Konventionen realisiert.965 Zudem bietet er einen überaus komplexen Detailreichtum mit zahlreichen schöpferischen Ideen und Anspielungen. Bemerkenswert ist dabei vor allem die Zuspitzung einiger Motive, wie z.B. bei der Abbildung der Jungfrau mit der nicht zu übersehenden erotischen Komponente oder den manchmal besonders grotesk ausfallenden Todesfiguren. Einzeluntersuchungen
Wie bereits oben erwähnt, war dem Berner Totentanz – im Gegensatz etwa zu seinem Basler Gegenstück – keine ausgedehnte Rezeptionsgeschichte beschieden. Zwar liegt mit der Restaurierung Klubers in Basel, die Anleihen bei Manuel 961 962 963 964 965
Vgl. Zinsli, Berner Totentanz, S. 18-20. Rosenfeld, Totentanz, S. 277. Ebd., S. 278. Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 216. In seiner großen Übersichtstabelle listet Maßmann diejenigen Strophen auf, die dem Berner Totentanz eigen sind und keine Verbindungen zur übrigen Überlieferung aufweisen. Er kommt hier auf 14 Strophen, also etwa ein Drittel des gesamten Totentanzes.
Der Berner Totentanz
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macht, durchaus eine Form von Rezeption vor, doch handelt es sich nur um gewissermaßen „fragmentarisches“ Weitertragen von Berner Motiven. Eine solche Nachwirkung in Details ist allerdings mehrfach bezeugt. Zinsli weist darauf hin, daß einzelne Figuren aus dem Berner Totentanz später in anderem Zusammenhang wiederzufinden sind, so z.B. der Jüngling mehrfach als Glasmalerei.966 Des weiteren wird bei einigen Gestalten aus Holbeins Totentanzbildern (so z.B. beim armen Mann, beim Narren und bei der Wittfrau) ein Zusammenhang mit Bern vermutet. Dies nennt Zinsli die „einzige, wirklich lebendige und weittragende Nachwirkung“.967 Ein interessanter Nachklang eines einzelnen Bildes findet sich zudem in der bereits besprochenen Kompilation Frölichs. Die meist mit HolbeinNachschnitten arbeitende Zusammenstellung weist nichtsdestotrotz einzelne Darstellungen auf, die monumentalen Totentänzen nachempfunden sind. Der Holzschnitt des Papstes geht eindeutig auf Manuel zurück. Der Reißer hat allerdings die Satire noch zugespitzt und aus den bei Manuel menschlichen Sänftenträgern Todesgestalten, noch dazu teilweise in geistlicher Kleidung (erkennbar sind z.B. Bischofsornat und Kardinalshut) gemacht. Überhaupt kann die Kompilation Frölichs als eines der wenigen frühen Rezeptionszeugnisse für den Berner Totentanz gesehen werden, das jedoch aufgrund der Tatsache, daß bis auf die eine Ausnahme des Papst-Bildes und vielleicht einen Anklang im Sündenfall nur die Berner Texte wiedergegeben werden, für die Untersuchung der Text-Bild-Beziehungen nur von wenig Nutzen ist. So ist der Berner Totentanz viel spurloser als das Basler Gemälde an der weiteren Totentanz-Tradition vorübergegangen. Während die oberdeutsche Texttradition, die Basler Malerei und die Holbeinschen Holzschnitte noch Jahrhunderte später Einfluß auf die Gestaltung vieler Totentänze genommen haben, scheint Manuels Gemälde während seiner kurzen Lebensdauer – die hierfür mit verantwortlich sein mag – im Schatten dieser anderen Werke gestanden zu haben. Da keine Druckausgaben erschienen, konnte dieser Totentanz auch nicht überregional eine solche Massenwirkung entfalten wie z.B. die Stiche Merians oder die Holzschnitt-Ausgaben Holbeins, deren Verbreitung so unübersichtliche Dimensionen annahm, daß es angemessen scheint, von einer „Ubiquität“ Holbeins zu sprechen. Der Berner Totentanz
3.3.3.2. Bild und Text im Berner Totentanz Der Zusammenhang von Bild und Text stellt sich im Berner Totentanz, wie im vorangegangenen Abschnitt bereits erwähnt, etwas anders dar als in den meisten anderen zur Gattung gehörigen Werken. Im Falle dieses Denkmals ist zweifelsfrei überliefert, daß Bild und Text vom selben Künstler stammen, er also in enger Abstimmung die Aussageebenen der beiden Zeichensysteme miteinander koordinieren konnte – wenngleich eventuelle spätere Überarbeitungen diesen Zusammenklang stellenweise verändert oder gar zerstört haben mögen. Soweit nach966 967
Vgl. Zinsli, Berner Totentanz, S. 44. Ebd., S. 46.
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Einzeluntersuchungen
weisbar bzw. plausibel zu machen ist, daß es sich in der Tat um renovatorische Eingriffe in Text oder Bild handelt, soll dies berücksichtigt werden, an allen anderen Stellen bleibt beim momentanen Forschungsstand kaum eine andere Lösung, als – wenngleich stets unter Vorbehalt – anzunehmen, daß die ursprüngliche Konzeption besteht. Da also in der Tat der seltene Fall vorliegt, daß Gemälde und Verse aufeinanderzu komponiert wurden, überrascht es nicht, daß recht viele Text-BildKorrespondenzen zu beobachten sind. Im folgenden soll ein Überblick über die verschiedenen Techniken gegeben werden, mittels derer Manuel die beiden Ebenen miteinander verknüpft. Von der einfachsten und vielleicht wirkungsvollsten diesbezüglichen Methode, nämlich bestimmte Gegenstände sowohl im Bild als auch im Text abzubilden bzw. zu benennen, macht auch Manuel häufig Gebrauch. So wird z.B. im Text auf die dargestellte Sänfte des Papstes Bezug genommen, auf der er einhergetragen wird: Die dryfach Kron müeszent Jr mir lan,/ Und üweren Säszel rüewig lan stan (Str. 8), sagt der Tod zu ihm. Die Gestaltung der Sänfte ist übrigens ein Beispiel für den besonderen Detailreichtum der Malerei. Die Forschung hat das Relief auf dem Tragsessel als zwei biblische Szenen identifiziert: ‚Christus und die Ehebrecherin’ sowie ‚Vertreibung der Wechsler’.968 Der Inhalt dieser biblischen Geschichten, der, verallgemeinernd gesagt, in beiden Fällen auf ein Fehlverhalten von Personen rekurriert, mag durchaus als Anspielung auf den fehlerhaften Lebenswandel der dargestellten geistlichen Personen gedacht sein, ja bezieht sich möglicherweise sogar auf die zeitgenössischen vorreformatorischen Kontroversen um den Ablaßhandel. Das Bild macht hier also eine zweite Aussageebene auf, die zwar vom Text nicht ausdrücklich bestätigt wird, aber doch in den allgemeinen inhaltlichen Rahmen sehr gut paßt. Des weiteren gehört in diese Kategorie die Erwähnung des Bartes beim Waldbruder (Str. 30) oder das graue Kleid der Begine (Str. 32). Den Handwerker fordert der Tod auf: [...] lasz all dinen Werchzüg stan (Str. 70) – die verschiedenen Werkzeugteile (die übrigens unterschiedlichen Gewerben angehören – vielleicht ist dies ein Schritt in die Richtung der Typisierung, der dieser Totentanz ansonsten zuwiderläuft) liegen deutlich erkennbar auf dem Boden ausgebreitet. Das aus anderen Totentänzen bekannte Instrumentenmotiv nutzt Manuel, wie seine Vorgänger, auch nur stellenweise zur Verknüpfung von Text und Bild. Von elf musizierenden Toten erwähnen nur vier ihr Instrument. Der lautespielende Tod des Bischofs sagt (bzw. könnte man sich vorstellen, daß er die Worte singend vorträgt, was besonders grotesk wirken würde): Die Lutten schlach ich süesz und fyn (Str. 14). Ähnlich ist beim Chorherrn (im Text: Priester969) die Rede von eiEinzeluntersuchungen
968 969
Vgl. von Tavel, S. 265. Eine Erklärung dieser Diskrepanz ist wohl in einer späteren, bei einer Renovation geschehenen textlichen Umdeutung des Chorherrn in einen Priester zu suchen, vielleicht weil aus reformatorischer Sicht ein katholischer Priester ein besseres Angriffsziel für Kirchenkritik ausmachte, die ja hier auch recht scharf ausfällt. Dies paßt zu der mehrfach in der Forschung geäußerten Vermutung, daß Urban Wyss vor allem bei den geistlichen Würdenträgern den Text
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nem Todten Horen (Str. 18), was auf das verformt und damit unspielbar abgebildete Platerspiel rekurriert, das die weibliche Todesfigur in einer vermutlich obszön gemeinten Pose zwischen den Beinen hält. Gleichermaßen spricht der mit einem von Hammerstein als Lira da bracchio identifizierten Instrument970 ausgestattete Tod der Königin von seinem Fydel Bogen (Str. 40). Die Metze fordert der Tod auf: [...] losz uf min Sackpfyffen äben (Str. 76). Die Frage, warum nur gelegentlich auf die Instrumente Bezug genommen wird und viele von ihnen unerwähnt bleiben, ist nur spekulativ zu beantworten. Vielleicht waren die Instrumente für Manuel von gleichem Stellenwert wie die anderen Attribute der Figuren, die schließlich auch nicht alle explizit angesprochen werden. Daneben ist Manuels Text so reich an Anspielungen auf das Bild, daß er es möglicherweise auch nicht für nötig hielt, durch Nennung aller Instrumente für noch engeren Zusammenhang zu sorgen. Eine weitere Möglichkeit, Bild und Text näher zusammenzubringen, liegt in der Hereinnahme der auf dem Gemälde dargestellten Handlungen in die Verse. Dies geschieht recht häufig. So verhöhnt der Tod den Chorherrn: Ich rysz üch ab disen Kutzht [Pelzhut] (Str. 18). Beim Arzt beläßt Manuel es nicht einfach bei der sterotypen Erwähnung der Urinbeschau, die in kaum einem Totentanz fehlt, sondern es wird ausdrücklich der auf dem Gemälde gezeigte Vorgang benannt: Der Tod den Harn mir brächen tht (Str. 53), beklagt sich der Arzt über die Todesfigur, die mit einem Knochen gegen das Uringlas schlägt, so daß die Flüssigkeit auf den Boden ausläuft. Gegenüber dem Kriegsmann wird angekündigt: Der Tod mit dir jetzt strytten wyl (Str. 74) – dies paßt zu der ebenfalls mit einer Rüstung ausstaffierten Leichengestalt. Eine besonders eindrückliche und gern zitierte Stelle ist die Strophe der Jungfrau, die sich beschwert: O Tod, wie grüwlich griffst mich an (Str. 69), eine eindeutige Referenz auf die ihr in den Ausschnitt fassenden Knochenfinger. Nicht zuletzt kann auch die Tanzmotivik herangezogen werden, um die Beziehung zwischen Bild und Text zu verdichten. Das Motiv als solches ist auf den Bildern sehr präsent, denn die Hautskelette sind äußerst dynamisch dargestellt. Auch im Text kommt es zum Tragen, wenngleich weniger präsent, da sich nur bei einer Minderzahl (nicht ganz einem Viertel) aller Figuren Lemmata aus dem Bereich ‚Tanz’ oder ‚Bewegung’ finden. Beim Papst zum Beispiel heißt es: Jr tantzend ouch an disen Ring (Str. 8), zugleich ein Hinweis, daß auch diesem Aufzug zumindest gedanklich noch die Vorstellung eines geschlossenen Kreisreigens zugrundeliegt. Ebenso ist dies beim Abt deutlich, der aufgefordert wird: Springend mit mir an disen Kreysz (Str. 16). Gleichzeitig spottet der Tod dabei respektlos und sehr wirklichkeitsnah, daß der geistliche Würdenträger, ob aufgrund seiner Leibesfülle oder aus Angst – vermutlich beides – stark transpiriert: Wie schwytzend Jr so kalten Schweysz!/ Pfuch, pfuch, Ir lond ein groszen Scheysz! (ebd.). Des weiteren tritt auch in Manuels Totentanz ein Phänomen auf, das schon Der Berner Totentanz
970
überarbeitet hat. Der charakteristische Umhang weist die Person in jedem Fall eindeutig als Chorherrn aus, was hier folglich zu einer starken Divergenz zwischen Text und Bild führt. Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 133.
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aus zahlreichen anderen Werken der Gattung bekannt ist: die gehäufte Erwähnung von Begriffen aus der Tanzmotivik bei weiblichen Figuren. So wird bei der Äbtissin, bei der Begine und bei der Kaiserin der Tanz erwähnt, bei letzterer sogar zweifach. Stereotyp bzw. ebenfalls aus der Tradition entnommen ist auch die Wendung Es ms tantzen und kan nit gan (Str. 84) in Bezug auf das Kind. Besonders interessant ist daneben eine Stelle in der an den Bürger gerichteten Strophe, wo der Tod zu einem Marischgentänzli auffordert (Str. 62). Gemeint ist zweifellos der Moriskentanz,971 dessen Bezeichnung sich von „Mohr“ bzw. ‚maurisch’ ableitet (span. morisco ‚kleiner Maure’). Morisken hießen die unter Zwang zum Christentum bekehrten Muslime, die nach der Reconquista in Spanien lebten. Beim Moriskentanz, dessen genaue Ausführung mangels genauer Überlieferung nicht bekannt ist, handelt es sich um eine Unterform des Schwerttanzes, bei der die Akteure offensichtlich als Christen und Mauren kostümiert waren und u.a. besonders groteske Verrenkungen ausführten. Solche wilden Verdrehungen und Sprünge würden gut zum pervertierten, wilden Charakter einiger TotentanzDarstellungen passen, weshalb in der Forschung der Totentanz gelegentlich auch mit dem Moriskentanz in Verbindung gebracht wurde. In diesem Sinne ist sicherlich auch die besonders artifizielle Haltung der Todesfigur in der betreffenden Stelle bei Manuel zu verstehen, was hier eine besonders enge Verbindung zwischen der bildlichen Tanzmotivik und den im Text verwendeten Begriffen aus der Tanz-Sphäre schafft. Manchmal werden in Totentänzen auch Zeigegesten verwendet, die oftmals mit dem Text verbunden werden, indem – z.B. unter Verwendung von deiktischen Begriffen wie ‚hier’ oder ‚da’ oder auch Formeln wie ‚schaut her’ bzw. ‚seht dies an’ – auf einen bestimmten Gegenstand, eine Person oder eine abstrakte Tatsache hingewiesen wird.972 Dies ist auch im vorliegenden Totentanz mehrfach der Fall. So weist die Todesfigur im Kreuzigungsbild mit dem rechten, hochgestreckten Arm auf Christus. Dieser fordert die Zuschauer auf: Jr Menschen all, sächendt mich an! (Str. 5), während der Tod darüber spricht, daß der Herr über all Herren (Str. 6) ihn überwunden habe. Diese Stelle des Totentanzes beinhaltet allerdings auch eine deutliche Diskrepanz in Bezug auf Bild und Text, denn der Inhalt der Einzeluntersuchungen
971 972
Vgl. Monika Woitas, Artikel ‚Schwerttanz’, in: MGG Bd. 8, Sp. 1207-1216, bes. Abschnitt 4 b. „Moresca – Ursprünge und Spielart einer Sonderform“, Sp. 1212-1214. In Bezug auf Deixis schreibt Wenzel, das geschriebene Wort tendiere zur Visualisierungsstrategien, „zu Techniken der Beobachtung unter Verwendung ikonischer und sprachlicher Zeichen“ (Wenzel, Medien- und Kommunikationstheorie, S. 135); vgl. auch Velten, der von „situativen Aktualisierungen“ in Texten spricht (Velten, Performativität, S. 228). Velten weist des weiteren darauf hin, daß deiktische Angaben ebenso wie „verbalisierte Gesten“ und „Publikumsadressen“ zu den performativen Elementen mittelalterlicher Dichtung gehörten (ebd., S. 225). Grundsätzlich könnte das Konzept der Performativität einen vielversprechenden neuen Blickwinkel auf den Gegenstand der Totentänze eröffnen, der vielleicht noch einige wertvolle Erkenntnisse zu erbringen vermag. Untersuchungen zu Performativität bzw. Performanz fragen nach dem „Handlungscharakter von Sprache“ (ebd., S. 221) und analysieren in diesem Sinne u.a., „in welcher Weise Texte mit kulturellen Aufführungen umgehen, sie medial (schriftlich und bildlich) reinszenieren“ (ebd., S. 226). Dies sind Fragen, die auch im Hinblick auf Totentänze in ihrer Eigenschaft als gleichsam „geronnene“ Predigt gestellt werden könnten.
Der Berner Totentanz
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Todes-Strophe paßt nicht zu dem triumphierend wirkenden „Gesichtsausdruck“ der Todesfigur. Letztere wurde in der Forschung gelegentlich auch als Parodie auf den für gewöhnlich an dieser Stelle von Kreuzigungsbildern befindlichen Johannes oder sogar als spätere Übermalung desselben interpretiert.973 An einer zweiten Stelle, und zwar gegenüber dem Vogt, zeigt der Tod auf ein offenes Grab und erwähnt explizit seine eigene Zeigegebärde, indem er sagt: Herr Vogt, ich msz üch recht wysen (Str. 277). Der Vogt nimmt seinerseits auf das Grab Bezug: Hätt ich schon aller Wällt Gt allein,/ So deckt mich doch z letst ein kleiner Stein (Str. 61); ein Grabstein ist allerdings nicht zu erkennen. Ein ganz ausdrücklicher Texthinweis auf die Bilder, wie ähnlich er auch in anderen Totentänzen vorkommt, findet sich dann abschließend in der dem Prediger zugeordneten Strophe bei der allegorisch sehr vielschichtig gestalteten Schlußszene. Hier heißt es: Der Berner Totentanz
Wär dise Figuren schouwett an, Sy syend jung, alt, Wyb oder Mann, Sollent betrachten, das wie der Wind Alle Ding unbestendig sind. (Str. 90)
Seine Ermahnung stützt der Prediger nachdrücklich mit dem in den Händen zur Schau gestellten Totenschädel.974 Eine weitere Engführung von Text und Bildern in ganz ähnlicher Form wie das vorgenannte Beispiel bietet die Strophe, die der Tod zum Maler spricht: Manuel, aller Wält Figur/ Hast gemalet an dise Mur (Str. 88).975 Diese Stelle speist sich nicht nur aus der Spannung von renaissancehaftem Selbstbewußtsein und demutsvoller Einbindung der eigenen Existenz in die Darstellung der Vergänglichkeit, sondern ist auch in anderer Hinsicht hochinteressant, weswegen sich Kiening in aller Ausführlichkeit mit ihr auseinandersetzt. Kiening rekurriert auf die grundsätzlichen Ambivalenzen, die den Berner Totentanz – wie viele andere Gemälde seiner Art – durchziehen und merkt zur Malerdarstellung an:
973 974
975
Vgl. Zinsli, Berner Totentanz, S. 9: „Es sieht übrigens fast so aus, als ob diese Todesgestalt erst nachträglich an die Stelle eines Johannes unter dem Kreuz hingemalt worden wäre, dem jene hinweisende Gebärde eben zukommt [...]“; vgl. auch von Tavel, S. 264. Diese Geste erinnert übrigens ein wenig an Holbeins Sterndeuter bzw. Astrologen, dem der Tod ganz ähnlich einen Schädel hinhält. Ob dies ein Zufall ist – schließlich handelt es sich nicht um eine besonders originelle Bildschöpfung – oder ob eine Beziehung vorliegt, muß dahingestellt bleiben. Wenn man diese Verse sehr wörtlich nimmt, wären sie eventuell als Beleg zu werten, daß es sich in der Tat um ein Wandgemälde handelte und nicht um Tafelmalereien (s.o.). Es ist allerdings fraglich, ob eine solche Interpretation wirklich zulässig ist, denn auch Tafelbilder wären ja an der Mauer befestigt gewesen. Vielleicht hatte auch nicht zuletzt der Reimzwang ohnehin Vorrang vor der Genauigkeit der Angaben. Insgesamt überwiegen jedoch auf jeden Fall die Argumente für eine Wandmalerei direkt auf der Mauer. Dies war bei den meisten anderen Monumentaltotentänzen der Fall und ist auch für ein fortlaufendes, wenig unterteiltes Gemälde die sinnvollere Form. Zudem wäre, wenn es sich um Tafelbilder gehandelt hätte, der Abbruch der Mauer nicht notwendigerweise mit der Vernichtung der Malereien einhergegangen, wie es aber später geschah.
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Einzeluntersuchungen
Auf die Spitze getrieben ist nun das Spiel mit hier der Unwirklichkeit der Toten, dort der Wirklichkeit des Todes. War durch die Figur des Malers die vorangehende Reihe von Toten als artifizielle entlarvt, so wird durch jene des Todes die Illusion von Figürlichkeit weiter aufrechter976 halten.
Das wichtige Element der Sanduhr in dieser Szene gelte dabei „dem Betrachter, der im Nebeneinander des Figürlichen und des Unfigürlichen die Paradoxie in der Repräsentation des Todes zu begreifen hat.“977 Das allegorische Moment hebt die ganze Darstellung auf eine übertragene Ebene und weist den Betrachter an, aus dem Gemälde Schlußfolgerungen zu ziehen, die über den abgebildeten Zusammenhang hinausgehen und auf das eigene Dasein anzuwenden sind. Gelingt diese Interpretation des Bildes, ist die im Text ausgedrückte Forderung des Predigers erfüllt. Wie man sieht, verwendet Manuel eine Vielzahl von Techniken, um Bild und Text eng miteinander zu verbinden. Die dichte Verknüpfung der Aussageebenen beider Medien scheint dabei ein bewußtes Anliegen gewesen zu sein, das sich aus der Erkenntnis des Nutzens solcher Korrelation speist: Die „Botschaft“ wird intensiviert und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln des Dichters und Malers zum Ausdruck gebracht. In diesem Sinne bestätigt sich durchaus die eingangs aufgestellte Vorannahme, daß Bild und Text aufgrund ihrer gemeinsamen Urheberschaft besonders eng beieinander stehen. Einzeluntersuchungen
Dennoch darf nicht darüber hinweggesehen werden, daß den Berner Totentanz auch einige Unstimmigkeiten zwischen Bild und Text durchziehen. So wurde in der Forschung mehrfach angemerkt, daß das Gemälde und die Verse gelegentlich in Bezug auf Tonfall und Ausdruck auseinandergehen. Ein Beispiel dafür gibt Zinsli: Schon früh hat man bemerkt, daß Text und Bild im Ton der Aussage nicht immer ganz zusammenstimmen wollen. Wenn wir uns etwa nochmals in das zart empfundene, ein Mitleid mit dem demütig-gebückt dahinschreitenden Opfer verratende Gemälde des „Chorherrn“ [...] versenken, sind wir überrascht, darunter ganz anders klingende, sogar angriffig-verletzende Verse zu fin978 den.
Zwar stimme ich mit Zinsli überein, daß vor allem auch die Antwortverse des Priesters bzw. Chorherrn (Jch frasz der armen Wittwen Hus, Str. 19) nicht besonders gut mit seiner demütigen Haltung übereinstimmen,979 doch kann ich auf dem Gemälde kein „zart empfundenes Mitleid“ entdecken. Vielmehr ist gerade die Darstellung des weiblichen Hautskeletts eine der widerwärtigsten im ganzen Reigen. In dieser Hinsicht ist folglich die angebliche Text-Bild-Diskrepanz nicht gar so groß oder doch zumindest anzuzweifeln bzw. Gegenstand möglicher abweichender Interpretation. Läßt sich nun bei den Geistlichen hier und dort in der Tat ein „Gegensatz zwischen den nicht allzu polemischen Totentanzbildern und den 976 977 978 979
Kiening, Das andere Selbst, S. 64. Ebd. Zinsli, Berner Totentanz, S. 10. Vgl. ebd., S. 11.
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haßerfüllten Totentanzversen“980 feststellen, so kann doch dieses Mißverhältnis auf die spätere, reformatorisch gesinnte Überarbeitung durch Urban Wyss zurückgehen und muß nicht das Resultat mangelnder Text-Bild-Abstimmung auf seiten Manuels sein. Doch anstelle dieser – leider unbewiesenen – Annahme bietet Zinsli eine alternative Erklärung an: Gerade in Manuels Werk aber mag die gelegentlich faßbare Verschiedenheit zwischen Bild und Wort tiefer begründet sein, sie mag vielleicht zusammenhangen [sic] mit einem wesenhaften, auch sonst allenthalben zutage tretenden Unterschied seines besonderen malerischen und dichte981 rischen Ausdrucks. Der Berner Totentanz
Ob dieser Ansatz die Diskrepanzen zu erklären vermag, bleibe dahingestellt. In jedem Fall finden sich jedoch noch andere Ständevertreter, bei denen Text und Bild divergieren, die mit diesem Erklärungsmodell nicht erfaßt sind. Dies wird zum Beispiel bei der Figur des Ritters offenbar, der sich beklagt: Jetz wyl mich der Tod ouch erwürgen (Str. 47). Der Tod macht indes keine Anstalten, den Ritter zu erwürgen, sondern langt lediglich nach dessen Kopfbedeckung bzw. dem darangesteckten Abzeichen. Des weiteren spricht der Waldbruder von seinem harin Gwand (Str. 31), obwohl das auf der Malerei zu sehende Kleidungsstück eher wie eine Art Kapuzenmantel aus Tuch oder einem anderen glatten Stoff aussieht und geradezu an eine Mönchskutte mit darunter getragener, gegürteter Tunika erinnert. Auch der vom Tod als gar grosz und feysz (Str. 16) bezeichnete Abt zeigt eher durchschnittlichen Leibesumfang, wenngleich er einen Ansatz zum Doppelkinn zu haben scheint, in das der Tod ihn kneift. Durch entsprechende Modifikation des Bildinhalts wäre es jedenfalls an solchen Stellen leicht möglich gewesen, Bild und Text noch enger zu verknüpfen. Warum dies hier nicht geschehen ist, bleibt unklar; da man nicht ausschließen kann, daß Manuel bei einem so umfangreichen Werk mit Gehilfen gearbeitet hat (vielleicht ist die vom Maler gesprochene Formel So bhüet üch Gott, mine lieben Gsellen! [Str. 89] in diesem Sinne gemeint und nicht nur eine allgemein gehaltene Anrede an Kollegen seiner Malerzunft), könnten solche Stellen beispielsweise auch auf einfache Ungenauigkeiten zurückgehen. Schließlich ist erkennbar, daß insgesamt sehr auf den Zusammenhalt von Text und Bild geachtet wurde, ja daß dies regelrecht ein Leitprinzip gewesen zu sein scheint, das nur an relativ wenigen Stellen wie den oben aufgeführten durchbrochen wird. Der Berner Totentanz ist ein explizit für den monumentalen Raum konzipiertes und nur auf ihn abzielendes Werk. Er kann sich, da er sich nicht der Technik des oftmals vergröbernden Holzschnitts982 bedient, einer überaus reichen Detailge980
981 982
Vgl. Zinsli, Berner Totentanz, S. 13. – Laut Zinsli war es vor allem Fluri, der bei den Geistlichen ein „Mißverhältnis von bildkünstlerischer und sprachlicher Aussage“ (Zinsli, Berner Totentanz, S. 11) feststellte, weshalb er Manuels Verfasserschaft ausschloß; leider war mir Fluris Publikation (A. Fluri: Niklaus Manuels Totentanz in Bild und Wort [=Neues Berner Taschenbuch auf das Jahr 1901], Bern 1900) nicht zugänglich. Zinsli, Berner Totentanz, S. 14. Die Feststellung, daß Holzschnitte das Dargestellte oftmals vergröbernd und einfach abbilden, trifft natürlich nur auf künstlerisch wenig anspruchsvolle Formen zu, nicht auf Künstler wie
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staltung und auch besonders betonten Groteske bedienen. Die für MonumentalTotentänze typische Standortfestigkeit und Standortbezogenheit bekommt hier aber noch eine weitere Dimension, denn die Darstellung von Berner Persönlichkeiten bzw. die Verewigung der leitenden Familien in Form ihrer Wappen bedingt eine spezielle Bindung an die „Heimat“ dieses Totentanzes – was durchaus ein Grund dafür gewesen sein kann, daß dieses Denkmal keine überregionale Verbreitung erfuhr (s.o.). Das damit besonders ausgeprägte Lokalkolorit – untermauert durch zahlreiche Anspielungen auf regionale Ereignisse, die für Ortsfremde und Nicht-Zeitgenossen ohne Erläuterung unverständlich bleiben983 – verhindert schließlich zu einem gewissen Grade die Identifikation des Betrachters mit den abgebildeten Figuren, auf der allein im Grunde die Umsetzung der TotentanzIntention beruht. Auch dies gehört sicherlich zu den genretypischen Ambivalenzen, das Schweben zwischen Typisierung und Individualisierung, Allgemeingültigkeit und spezifischer Bezogenheit. Zugleich ist diese (Auftrags-) Malerei ein Akt der Repräsentation des frühneuzeitlichen Bern, vielleicht entfernt vergleichbar dem Lübecker Totentanz von 1463 mit seinem Stadtporträt im Hintergrund, wenngleich diese beiden Werke etwa ein halbes Jahrhundert und damit auch ein Unterschied in der zugrundeliegenden Mentalität trennt. Nicht zuletzt der „historische Moment“, der Vorabend der Reformation, hat besonderen Einfluß auf den Berner Totentanz ausgeübt. In jedem Fall enthält Manuels Werk anders als andere Totentänze zusätzliche Bedeutungsebenen, die es einerseits über die Gattung hinausheben und ihm eine Sonderstellung verschaffen sowie es andererseits besonders stark in seinen räumlichen und zeitlichen Hintergrund einbinden. Ohne Berücksichtigung dieses Hintergrundes ist folglich keine angemessene und erschöpfende Interpretation des Berner Totentanzes möglich. Einzeluntersuchungen
983
Holbein, die in ihren Holzschnitten trotz der mechanisch aufwendigen Technik feinste Details darzustellen vermögen (wobei natürlich die eigentlich technische Kleinarbeit hier vom Reißer bzw. Holzschneider besorgt wird). Ein Beispiel für solche Anspielungen ist z.B. die Geste des Todes auf dem Bild des Juristen, dem die Leichengestalt eine Münze entgegenhält. Von Tavel erläutert, daß hiermit wohl Bezug auf das Amt des Seckelmeisters Lienhard Hübschi genommen wird, dessen Wappen vermutlich die betreffende Darstellung ziert (vgl. von Tavel, S. 275). Bemerkenswert ist weiterhin, daß in mehreren Fällen ehrenrührige oder auf sonstige Weise negativ getönte Geschichten bzw. Anekdoten im biographischen Hintergrund der porträtierten oder durch das Wappen festgehaltenen Berner Persönlichkeiten zu finden sind (vgl. von Tavel, passim). Hier läßt sich durchaus eine Verbindung zum Sinngehalt des Totentanzes mit seiner Androhung der Strafe für fehlerhaftes Verhalten im Leben knüpfen. Auch dies ist jedoch eine Sinnschicht, die nicht dem Bild als solchen entnommen werden kann, sondern nur durch Hintergrundwissen erschließbar ist.
Holbeins Todesbilder
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3.3.4. Die Todesbilder von Hans Holbein dem Jüngeren – Ausblick in die Frühe Neuzeit Eine gründliche Beschäftigung mit dem Thema der Totentänze kann Holbeins Todesbilder nicht unberücksichtigt lassen. Auch wenn der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Spätmittelalter, gewissermaßen der „Blütezeit“ dieses Genres liegt, so kann mit einem kurzen Blick auf Holbein doch gewissermaßen ein Endpunkt gesetzt und ein Ausblick in die Frühe Neuzeit unternommen werden. Die beiden am weitesten verbreiteten und immer wieder in der einen oder anderen Form wiederholten Ansichten über Holbeins Todesbilder sind einerseits die Behauptung, Holbeins Bilder stellten den Höhepunkt der Gattung ‚Totentanz’ dar, auf der anderen Seite das eher abschätzige Urteil, der Künstler habe den echten, spätmittelalterlichen Totentanz „verfälscht“ und damit seine Entwicklung in andere, in der Neuzeit fortgesetzte Bahnen gelenkt. Im vorliegenden Kapitel soll eine kurze, vorrangig an der Problemstellung der Bild- und Textzusammenhänge orientierte Betrachtung der Holbeinschen Holzschnitte unternommen werden, wobei die beiden genannten Einschätzungen als Hintergrundfolie für die Endergebnisse dienen können und bei Bedarf wieder aufgegriffen werden sollen. Da das Schrifttum zu Holbeins Todesbildern bereits unübersichtliche Ausmaße angenommen hat und allein das Unternehmen, sich einen Überblick über die verschiedenen Ausgaben dieser Holzschnitte verschaffen zu wollen,984 Schwierigkeiten mit sich bringt, soll der folgende Abschnitt keinesfalls eine vollständige Untersuchung sein, sondern das Thema wird allenfalls schlaglichtartig behandelt. Erschöpfende Behandlungen von Holbeins Werk existieren vor allem in der Kunstgeschichte zur Genüge. Dort werden jedoch die Bilder meist in ihrem eigenen Recht als selbständige Kunstwerke behandelt. Dieser Status soll ihnen hier nicht abgesprochen werden, da sie ursprünglich tatsächlich ohne jede Textzugabe (bzw. allenfalls mit kennzeichnenden Überschriften) entstanden sind. Der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung ist jedoch gerade die spätere Zusammenstellung dieser Bilder mit Texten der verschiedensten Art. Die hier unternommene Betrachtungsweise findet folglich ihre Berechtigung in der vom Großteil der übrigen Forschungen abweichenden Zielsetzung. Holbeins Todesbilder
Die Vorzeichnungen zu seinen Holzschnitten fertigte Holbein vermutlich zwischen 1522 und 1526 in Basel an, wobei die Nähe zum berühmten Basler Wandbild in jedem Fall von Bedeutung gewesen sein dürfte. Erst 1538 erschien die erste Ausgabe, und zwar veranstaltet durch die Brüder Melchior und Gaspard Trechsel in Lyon.985 Der Titel dieser ersten Ausgabe war Simulachres & histori-
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Einen kleinen Überblick zumindest über die frühen Holbein-Ausgaben bietet Wunderlich, Zwischen Kontinuität und Innovation. Hier ist auch auf Wunderlichs rezente Untersuchung einer besonders interessanten Holbein-Ausgabe hinzuweisen. Für Einzelheiten der Publikationsgeschichte siehe ebenfalls Wunderlich, Zwischen Kontinuität und Innovation, S. 137-144, sowie Petersmann, S. 96-107.
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ées faces de la mort.986 Es folgte bis in die Neuzeit hinein eine Vielzahl von Auflagen987 mit den verschiedensten Textbeigaben in mehreren Sprachen, unter anderem auch eine Ausgabe mit lateinischen Versen, die den Titel Imagines mortis trug. Die Holzschnitte wurden in den folgenden Jahrhunderten oft kopiert, und der Großteil der nach Holbein entstandenen Totentänze zeigt sich zumindest bei einem Teil der verwendeten Motive von seinen Bildern abhängig oder doch zumindest inspiriert.988 Die Anzahl der Holzschnitte, die zu den Todesbildern gerechnet werden, differiert. Auf den Formschneider Holbeins, Hans Lützelburger, gehen wohl 41 Bilder zurück. Weitere, schon vorgezeichnete Stöcke wurden später ebenfalls noch geschnitten und veröffentlicht.989 Übrigens darf nicht verschwiegen werden, daß noch zwei weitere Werke Holbeins dasselbe Thema bearbeiten. Es existiert zum einen eine TotentanzDarstellung auf einer Dolchscheide, überliefert auf zwei Reproduktionen. Zum anderen schuf Holbein kurz vor seinen Todesbildern das ähnlich bekannte Totentanz-Alphabet, in dem einige später nochmals verwendete Motive bereits anklinEinzeluntersuchungen
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Der vollständige Titel lautet: Les simulachres & historiées faces de la mort, autant elegammt pourtraictes, que artificiellement imaginées. A Lyon, Soubz l’escu de Coloigne, M. D. XXXVIII. Petersmann übersetzt den (Haupt-) Titel mit „Trugbilder und szenisch gefaßte Gesichter des Todes“ (Petersmann, S. 96); Clark findet die m.E. recht treffende englische Übersetzung „Images and storied aspects of Death“. Folglich handelt es sich um ‚Sinnbilder und in Szene gesetzte Ansichten des Todes’. Es ist also zu beachten, daß weder Holbein selbst noch die ersten Herausgeber die Bilder explizit als ‚Totentanz’ bezeichneten. Der später oft gemachte Vorwurf, es handele sich ja eigentlich gar nicht mehr um einen richtigen Totentanz, geht somit in gewisser Hinsicht ins Leere. Zwar gliedern sich die Holzschnitte der TotentanzKunst und -literatur ein und sind auch nur vor deren Hintergrund verständlich, aber in der Selbstbezeichnung erhebt das Kunstwerk nicht den Anspruch, ein Totentanz zu sein. So weist auch Clark noch einmal ausdrücklich darauf hin, daß die später oft verwendete Bezeichnung „Großer Totentanz“ nicht auf den Urheber und die Herausgeber zurückgeht: „The artist and the publisher were not responsible for the title which posterity gave to the work“ (Clark, Dance of Death, S. 71). Das später oft verwendete Imagines mortis ist so vielleicht tatsächlich der weitaus treffendste Titel für dieses Werk. Explizit als Totentanz wurden die Holbein-Schnitte erst in späteren Ausgaben bezeichnet (vg. Petersmann, S. 101: „Die […] Bezeichnung von Holbeins Todesbildern als ‚Totentanz’ geht sicher auf den Titel der ersten deutschsprachigen Ausgabe zurück, die 1557 bei Arnold Birckmanns Erben in Köln erschienen ist“). Maßmann fügte seiner Untersuchung „Literatur der Totentänze“ eine Aufstellung der Holbein-Ausgaben an. Es ist mir jedoch nicht möglich, ein Urteil über die Vollständigkeit dieser Liste zu fällen. Der überaus großen, sowohl zeitlichen als auch räumlichen Verbreitung der Holbeinschen Todesbilder trägt Wunderlich mit dem Titel ihrer Untersuchung „Ubique Holbein“ wohl Rechnung. Buck spricht von insgesamt 53 Bildern (Buck, S. 117); diese Angabe findet sich auch bei Wunderlich (Zwischen Kontinuität und Innovation, S. 137). Goette gliedert die – allerdings zweifelhaften – vier Kindergruppen aus und kommt somit auf 49 Holzschnitte (Goette, S. 192). Eine eindeutige Zuschreibung an Holbein kann ohnehin in vielen Fällen nur aufgrund von Stilvergleichen und verschiedenen äußeren Umständen vorgenommen werden. Die frühneuzeitlichen Ausgaben erwähnen den Schöpfer Holbein mit keinem Wort; es gibt sogar ein mit dem Monogramm von Hans Lützelburger, dem Formschneider, versehenes Bild; hingegen tauchen keine Holbeinschen Signaturen auf (vgl. auch Petersmann, S. 98-101).
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gen.990 Auch das Totentanz-Alphabet wurde zuweilen mit einer Textbeigabe gedruckt.991 Für die vorliegende Untersuchung sollen jedoch nur die Todesbilder im engeren Sinne näher gewürdigt werden. Schlaglichtartig wird nun anhand einiger Beispiele herausgearbeitet, in was für verschiedenartigen Rahmen die Holbein-Holzschnitte auftauchen bzw. welchen unterschiedlichen Text- und Bildzusammenstellungen man in der Publikationsgeschichte dieser Bilder begegnet. Dabei werden vor allem fünf Ausgaben herangezogen: Als Grundlage soll zunächst einmal die oben erwähnte Erstausgabe, die Simulachres et historiées faces de la mort von 1538 dienen, wobei aber auch die in späteren Ausgaben hinzugekommenen Holzschnitte hier und dort berücksichtigt werden. Als zweites Beispiel werden die ausschließlich mit lateinischen Texten gedruckten Imagines mortis von 1581 herangezogen.992 Ferner sollen die Icones mortis von Johann Vogel, erschienen 1648,993 Beachtung finden, in denen Holbeins Todesbilder
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Während in der heutigen Literatur meist vorwiegend die Todesbilder zur Sprache kommen, widmete Goette auch den anderen beiden Totentanz-Darstellungen eine ausführliche Untersuchung (vgl. Goette, S. 174-191); zum Totentanz-Alphabet ebenso Petersmann, S. 133-149. – Bei den Buchstaben des Totentanz-Alphabets nach einem Zusammenhang von Bild und Text suchen zu wollen, wäre wohl etwas spitzfindig; gleichwohl weist Petersmann darauf hin, daß die Buchstaben oft keinesfalls willkürlich mit bestimmten Illustrationen versehen wurden. So handelt es sich manchmal bei den Lettern um die Anfangsbuchstaben der dargestellten Ständevertreter (vgl. ebd., S. 137). „Auch mit diesem Totentanz verfolgte HOLBEIN einen dekorativen Zweck: es sind für den Bücherdruck bestimmte und von 1524 an auch verwendete Initialen, mit denen je eine Totentanzscene verbunden ist. […] Dieser Zweck des Alphabets schloss natürlich von vornherein einen begleitenden Text aus; trotzdem wurden die Sonderabdrucke (sogen. Probedrucke) des ganzen Alphabets gelegentlich mit einem solchen Text versehen, und zwar teilweise mit denselben Bibelstellen, die auch für den grossen Totentanz gewählt wurden. Nichts zeigt deutlicher als diese Thatsache, wie wenig die den HOLBEINschen Totentanzbildern angehängten Texte mit ihnen in organischem Zusammenhang standen“ (Goette, S. 182). IMAGINES MORTIS, ILLUSTRATAE Epigrammatis GEORGII AEMYLII, Theol. Doctoris. FRAXINEUS AEMYLIO SUO [ohne Ort und Jahr]. – Eine Ausgabe des Titels Imagines mortis war bereits 1555 erschienen (vgl. Wunderlich, Zwischen Kontinuität und Innovation, S. 155158). Nach Wunderlich handelt es sich bei den Bildern um „freie, leicht vergrößerte und mit Ausnahme des Edelmanns seitenverkehrte Kopien der Holzschnitte von Hans Lützelburger“ (ebd., S. 157). Der vollständige Titel lautet: Icones mortis sexaginta imaginibus, totidemque inscriptionibus insignitae, versibus quoque Latinis & novis Germanicis illustratae. Vorbildungen deß Todtes/ In Sechtzig Figuren durch alle Stnde und Geschlechte/ derselben nichtige Sterblichkeit frzuweisen/ außgedruckt/ und mit so viel berschrifften/ auch Lateinischen und neen Teutschen Verßlein erklret. Durch Johann Vogel. Bey Paulus Frsten Kunsthndlern zu finden. Ein Vorblatt enthält noch einen Kupferstich mit den Worten „Toden Tantz“. Darauf ist ein Kreisreigen von Männern, Frauen und Skeletten abgebildet. Oben am Bildrand schwebt ein mit Fledermausflügeln, Sanduhr, Spaten und Sense ausgestatteter Totenschädel; im Vordergrund sieht man drei musizierende Skelette. Die Text- und Bildstruktur ist folgendermaßen aufgebaut: Auf den Recto-Seiten befindet sich in der Mitte der Kupferstich, darüber sind deutsche Bibelverse angeordnet. Darunter stehen die Verse eines deutschen Gedichts von Caspar Scheidt mit dem Titel „Der Todten Tantz“, das ebenfalls schon in früheren Drucken seit 1557 in Umlauf war. Auf der gegenüberliegenden Verso-Seite befinden sich jeweils die lateinischen Versionen der Bibelstellen sowie die schon aus früheren Ausgaben bekannten lateinischen Epigramme von Georg Oemler samt deutscher (manchmal etwas abweichender) Version. Zwischen der deutschen und lateinischen Fassung wird nochmals der deutsche Bi-
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sowohl lateinische, zum großen Teil aber auch deutsche Texte beigegeben wurden. Als weiteres Beispiel figuriert in der vorliegenden Untersuchung das Theatrum mortis humanae tripartitum von Johann Weichard zu Valvasor, gedruckt 1682. Diese Publikation fällt gegenüber den anderen etwas aus dem Rahmen, kann aber gerade deshalb als anschauliches Vergleichsobjekt dienen. Hierbei handelt es sich nämlich um ein dreiteiliges Werk, das neben der Darstellung verschiedener Todesarten historischer Personen und der anschaulichen Illustration diverser Höllenqualen nur in einem seiner drei Teile einen Totentanz bietet, und zwar in Form von nach Holbein gestalteten Kupferstichen, zusammengestellt mit verschiedenen, z. T. dialogischen Texten.994 Als letztes Beispiel dient ein Zürcher HolbeinDruck in Bilderbogenform aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, der aufgrund seiner recht eigenständigen Gestaltung gesondert am Ende behandelt wird. Einzeluntersuchungen
Zunächst bietet sich eine Betrachtung der Bibelverse an, die in den verschiedensten Ausgaben den Bildern beigesellt wurden und schon von der Erstauflage, den Simulachres, her bekannt sind. Diese Verse sind übrigens meistens, aber nicht immer gleich. Noch über hundert Jahre nach der Erstausgabe hält sich z.B. Johann Vogel in seinen Icones mortis an die Vorgaben der Simulachres und Imagines mortis. Dagegen stellt Valvasor in seinem Theatrum mortis humanae tripartitum die Kupferstiche nach Holbein nicht überall mit denselben Bibelversen zusammen wie die älteren Ausgaben. Die in den ersten Ausgaben gewählte und auch in späteren vielfach beibehaltene Struktur von Bild- und Textzuordnung scheint in der Nähe der Emblembücher angesiedelt.995 Deren Aufteilung in inscriptio, pictura und subscriptio996 finEinzeluntersuchungen
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belvers wiederholt. Die Texte sind somit etwas redundant. Neben diesen den Bildern zugeordneten Texten enthält das Werk wie andere Ausgaben vor ihm noch verschiedene andere Traktate bzw. Dichtungen, u.a. von Georg Philipp Harsdörffer. Johann Vogel scheint demzufolge hier vor allem als Herausgeber und Bearbeiter schon älterer Werke firmiert zu haben. THEATRUM MORTIS HUMANAE TRIPARTITUM. I. Pars. Saltus Mortis. II. Pars. Varia genera Mortis. III. Pars. Poenas Damnatorum continens. FIGURIS AENEIS ILLUSTRATUM. Das ist: Schau=Bühne Deß Menschlichen Todts in drey Theil 1. Theil Der Todten=Tantz. 2. Theil Underschiedliche Todts=Gattungen. 3. Theil Der Verdambten Höllen=Peyn/ vorstellend. Mit schoenen Kupffer=Stichen geziehrt und an Tag gegeben. Durch JOHANNEM WEICHARDUM VALVASOR. & c. & c. Cum Facultate Superiorum, & Speciali Privilegio Sac. Caes. Majest. Gedruckt zu Laybach/ vnd zu finden bey Johann Baptista Mayer/ in Saltzburg/ Anno 1682. – Nähere Informationen zu diesem Werk und besonders zu dem in ihm befindlichen Totentanz bei Freytag, Über das Theatrum mortis humanae tripartitum, und im Nachwort zur Faksimileausgabe. Wenn von Wilpert definiert, daß der epigrammatische Text „in wechselseitiger Erhellung von Sinnspruch und Sinnbild das bildlich Dargestellte erklärt, seine Bedeutung auslegt, es auf die Überschrift bezieht und vielfach daraus eine Lebensweisheit oder eine [...] Verhaltensregel abstrahiert“ (Sachwörterbuch der Literatur, Artikel ‚Emblem’, S. 230f., hier S. 230), so trifft das in gewissem Sinne sicherlich auch auf die Todesbilder von Holbein mit ihren Bildüberund Unterschriften zu. Dennoch gibt es, zumindest in Hinblick auf einige der Holzschnitte, Schwierigkeiten, diese Form einfach als emblematisch zu klassifizieren. Embleme speisen sich zumeist aus gewachsenen, vielfältiger Überlieferung entstammenden Sinnbezügen, die einem allgemeinen Bildungsgut zuzurechnen sind und sich (in vielfach variierter Form) al-
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det ihre Entsprechung in Bibelvers, Holzschnitt bzw. Kupferstich und Epigramm. Diese unter den Bildern angebrachten Verse sind manchmal im Gegensatz zum Bibelvers in der Volkssprache abgefaßt997 – so z.B. in den Simulachres und bei Valvasor, bei Vogel finden Latein und Deutsch nebeneinander Verwendung – und paraphrasieren oft den Bibelvers oder erweitern ihn bzw. seine Aussage. Was nun die Sinnhaftigkeit der Zuordnung zu den Illustrationen betrifft, so bietet sich ein sehr gemischtes Bild.998 Zuweilen passen die Bibelzitate recht gut, wie beispielsweise beim König, wo in den Simulachres eine Stelle aus Sirach 10,12 angebracht wird: Sicut & rex hodie est, & cras morietur, nemo ex regibus aliud habuit. Auf dem Bild ist ein Bankett zu sehen, bei dem der Tod dem König einschenkt. Ein anderes recht passendes Beispiel ist der reiche Mann, der händeringend dem Tod gegenübersteht, welcher sich an seinen angehäuften Reichtümern vergreift. Hier heißt es: Stulte hac nocte repetunt animam tuam, & quae parasti cuius erunt? (Lk 12,20). Weitere ähnliche Stellen mit einigermaßen geglückter Text-Bild-Zuordnung lassen sich finden. Holbeins Todesbilder
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lenthalben in Literatur und Kunst der Zeit auffinden lassen; sie besitzen damit eine gewisse Allgemeingültigkeit bzw. allgemeine Geläufigkeit, die zur Entschlüsselung durch ein großes Publikum unbedingt vonnöten ist. Ob sich dies auch von den Holbeinschen Todesmotiven uneingeschränkt sagen läßt, mag angezweifelt werden. Daß das geistreiche Wechselspiel zwischen Bild und Text, wie es für Embleme kennzeichnend ist, bei den Holbein-Todesbildern manchmal nur sehr eingeschränkt zustande kommt, wird weiter unten noch ausführlich gezeigt. Weitere Bedenken ließen sich anführen. Das Emblem „schließt an das allegorische Weltbild des Mittelalters an, wenn es den zur Darstellung gebrachten Dingen einen geistigen Sinn zuschreibt“ (Freytag/ Harms/ Schilling, Gesprächskultur des Barock, S. 8). Elemente wie die überall bei Holbein anzutreffende Sanduhr mögen in diese Richtung weisen, doch dürfte es schwerfallen, einigen seiner Todesszenen einen solchen geistigen Sinn unterzuschieben. Dies meint vermutlich auch Goette, wenn er die Todesbilder als nicht allegorisch bezeichnet (Goette, S. 251), wohingegen Rosenfeld genau entgegengesetzt meint, bei Holbein werde „die lebendige Todessymbolik des Mittelalters zu einer bloßen Allegorie“, einer „‚Hieroglyphe’ für Sterben“ (Rosenfeld, Totentanz, S. 284). Bei näherer Betrachtung läßt sich eine solche Behauptung jedoch kaum halten. Abbildungen wie die des Spielers oder Trunkenbolds lassen sich vielleicht auf allgemein moralische Handlungsanweisungen herunterbrechen, geben aber in Hinblick auf allegorischen Sinngehalt kaum etwas her. Es handelt sich einfach um realistische Darstellungen von Lastern, die durch den Bibelvers Ne inebriemini vino, in quo est luxuria (Eph 5,18) allenfalls lapidar kommentiert werden. Ein „spannungsvolles Verhältnis von Darstellung und Deutung, von Verschlüsselung und Auslegung“, wie Freytag/ Harms/ Schilling es für Embleme postulieren (S. 8), ist dies jedoch kaum. Insofern sollte man sich vielleicht auf die Feststellung beschränken, daß die Gestaltung der Simulachres – dieser Titel allein stellt das Werk allerdings schon in eine gewisse Nähe zur Emblematik – bzw. auch der späteren Ausgaben an die beliebten Emblembücher lediglich angelehnt ist. Die Bezeichnungen werden in der Literatur nicht einheitlich verwendet; siehe Bernhard F. Scholz, Artikel ‚Emblem’ in: RLW Bd. 1, S. 435-38. Es existieren hier verschiedenste Zusammenstellungen und Fassungen. In Johann Vogels Totentanz z.B. gibt es sowohl die Bibelstellen als auch die längeren Verse einmal auf Latein und einmal in der Volkssprache; die mit Imagines mortis betitelte Ausgabe gibt es demgegenüber in einer ausschließlich lateinischen Fassung. Sofern nicht anders angegeben, ist in den folgenden Absätzen die Text-Bild-Zuordnung gemeint, wie sie in der ersten und vielen späteren Ausgaben, den Simulachres und den Imagines mortis, vorgenommen wurde. Ist von abweichenden Zuordnungen, wie z.B. bei Valvasor, die Rede, wird dies gesondert aufgeführt.
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Eher mißlungen scheinen dagegen andere Fälle, wie etwa der (später hinzugekommene) Fuhrmann, bei dem es seltsam lakonisch heißt: Corruit in curro suo (2. Kön 9,24). Diese Bibelstelle wirkt in keiner Weise erhellend und gibt auch keinerlei moralischen Kommentar ab wie die zuvor genannten zwei Beispiele. Bei Valvasor ist dieses Bild mit dem Spruch Et ascensor equi non salvabit animam suam (Amos 2,15) versehen, was noch sinnentleerter erscheint. Text und Bild beziehen sich hier nur sehr oberflächlich auf der Wortbedeutungsebene aufeinander; ein innerer Zusammenhang läßt sich nicht finden. Andere Texte, wie in den Simulachres Ecce appropinquat hora (Mt 26,45) beim Domherrn wirken recht blaß. Man mag diese Wendung hier auf die Sanduhr beziehen, die der Tod dem Domherrn vorhält, aber es hätte sich womöglich auch etwas Lebendigeres und mehr auf das spezielle Bild Zugeschnittenes finden lassen. Ebenso fragt man sich, welchen Zweck der Spruch Sedentes in tenebris, & in vmbra mortis, vinctos in mendicitate (Ps 107,10) beim vor dem Tod fliehenden Mönch erfüllt. Daß die Verwendung des Wortes mendicitas (Armut) in Relation zu dem auf dem Bild gezeigten Bettelmönch mit Sammeldose gesehen werden könnte, reicht m.E. für eine sinnvolle Text-Bild-Verknüpfung kaum aus. An einigen Stellen hat man gar das Gefühl, der Sinnzusammenhang von Bild und Text sei ganz und gar pervertiert, so beim Krämer. Dieser wird mit einem schweren Tragekorb auf dem Rükken gezeigt, in dem sich seine Waren befinden; der Tod zieht ihn von hinten am Ärmel. Der Bibelspruch lautet: Venite ad me qui onerati estis (Mt 11, 28). Hier wurde offenbar beabsichtigt, das Beladensein mit dem Lastenkorb zu korrelieren. Daß nun allerdings die Aussage des Bibelzitats ganz und gar nicht mit dem Bildinhalt in Zusammenhang zu bringen ist und es nur zu einem rein oberflächlichen, wiederum lediglich auf der Wortebene angesiedelten Zusammenklang kommt, wurde nicht berücksichtigt. Das ganz wörtliche Verständnis der „schweren Lasten“ im Bild und die übertragene Bedeutung derselben im Bibelvers erzeugen hier einen deutlichen Mißklang. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß bei den Bibelzitaten auf die sinnvolle Zusammenstellung von Bild und Text weniger Mühe verwandt wurde, als wohl wünschenswert gewesen wäre. Eine in jeder Hinsicht passende und Bedeutung erzeugende Zuordnung scheint keine Priorität der Herausgeber gewesen zu sein. Fast hat man den Eindruck, es kam nur darauf an, den Bildern irgendeine Textbeigabe zuzugesellen, ganz gleich welche.999 Natürlich müssen neben den Bibelversen aber auch die Epigramme berücksichtigt werden. Diejenigen der französischen Erstausgabe stammen vermutlich von Gilles Corrozet, für spätere Ausgaben wurden sie von Georg Oemler ins Lateinische (für die Imagines mortis) gesetzt; in anderen Ausgaben finden sich dieselben Epigramme auf deutsch, bei Johann Vogel noch neben weiteren, ebenfalls deutschen Versen von Caspar Scheidt. Zuweilen gelingt den Herausgebern ein Enzeluntersuchungen
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Dies erinnert entfernt an das Vorgehen Frölichs in seiner Kompilation des Basler und Berner Totentanzes, wo man umgekehrt zuweilen den Eindruck hatte, er wolle seinen Texten irgendeine Illustration an die Seite stellen, ganz gleich, ob diese paßt oder nicht (vgl. Abschnitt 3.3.2.3.).
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Ensemble, in dem sich Bibelzitat, Illustration und Epigramm zu einem sinnvollen Ganzen ergänzen. Dies ist etwa der Fall bei der Herzogin, die abgebildet ist, wie sie, sich aus dem Bett erhebend, mit zwei Todesgestalten konfrontiert wird. Sowohl der Bibelvers in den Imagines mortis (De lectulo, super quem ascendisti, non descendes, sed morte morieris, 2. Kön 1,4) als auch das lateinische Epigramm sprechen davon, daß die betreffende Person aus dem Bett nicht mehr aufstehen wird, weil der Tod sie zuvor ereilt: Quem premis, ô virgo, iuvenili corpore lectum. Non hinc dura tibi surgere fata dabunt. Nam prius exanimem te mors violenta domabit, Pallidaque in tumulum corpora falce trahet.
Die deutsche Version bei Vogel lautet folgendermaßen: Du Grfin wirst nicht von dem Betthe kommen/ Darauff du dir die ruhe hast genoen/ Der Todt nimmt dich mit seiner Sensen hin!/ Daß du dich nicht dem Grabe kanst entziehn.
Das im Text erwähnte Todesattribut, die Sense, ist allerdings auf dem Bild nicht zu sehen. Die Sense ist anscheinend schon so stereotypisiert, daß sie als selbstverständliche Beigabe des Todes gilt; und dem Verfasser der Verse war es anscheinend nicht wichtig, hier eine genaue Korrespondenz zwischen Text und Holzschnitt herzustellen. Eine Betrachtung wert ist diese Stelle auch bei Valvasor, der etwas anders vorgeht, um Text und Bild dicht zu verknüpfen. Die Imagines mortis und die Simulachres bieten zumeist Verse mit deskriptivem Inhalt oder zuweilen auch solche, die gewissermaßen die Person auf dem Bild ansprechen – wie auch im oben angeführten Beispiel: ô virgo1000 – allerdings anscheinend meist nicht aus dem Munde des Todes, denn dieser tritt vorwiegend in der dritten Person auf (das tut er allerdings auch in einigen ‚echten’ Totentänzen). Hingegen bietet Valvasor in seinem saltus mortis Dialogtexte zwischen Mensch und Tod (bzw. PseudoDialoge). Bei ihm ruft die Dame, die als Fürstin bezeichnet wird, aus: Was fr zwey betrbte Leichen/ Bey so still/ vnd eytler Nacht/ Thuen in vnsren Hoff einschleichen. Damit wird ganz zutreffend auf den Kupferstich rekurriert, auf dem zwei Todesgestalten zu sehen sind, deren eine die Bettdecke wegzieht, während die andere auf einem Streichinstrument musiziert. Hier war also deutlich eine enge Verbindung zwischen Bild und Text angestrebt, eine Intention, die sich noch an mehreren anderen Stellen in Valvasors Totentanz ausmachen läßt. Holbeins Todesbilder
1000 Bei Vogel wird virgo durch comitissa ersetzt, ein Titel, der vermutlich durch den deutschen Bildtitel „Die Hertzoginn“ in früheren (Probe-) Abdrucken zustandegekommen ist. Vogels Zuschreibung „Die Gräuin“ ist somit zwar die Entsprechung zu comitissa, aber im Grunde nicht ganz korrekt. Die lateinische Ausgabe verfügt nicht über Bildtitel, die die Personen identifizieren. Bei Valvasor wiederum wird diese Figur als Fürstin bezeichnet. Die uneinheitliche Verwendung der Adelstitel stiftet hier etwas Verwirrung. Richtig wäre Herzogin – ‚Ducissa’, Gräfin – ‚Comitissa’; für Fürstin gibt es keine eigene weibliche Form von ‚princeps’.
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So spricht der Tod beim alten Mann das Hackbrett an, auf dem er spielt: Meiner Harpffen trbes klingen/ Tunckelt allen Freuden Glantz. Es wird hier also wieder die alte, schon vielfach aus den spätmittelalterlichen Totentänzen bekannte Strategie verwendet, die Musikinstrumente dazu zu benutzen, Text-BildKorrelationen zu generieren. Diese Vorgehensweise ist auch noch an anderen Stellen anzutreffen, zum Beispiel beim trommelschlagenden Tod des jungvermählten Ehepaars (in anderen Ausgaben auch „Edelfrau“): Heut nun euch mein Trumbl g’falle. Uneinheitliche Tendenzen lassen sich in der Vogelschen Ausgabe bei den deutschen Texten finden, die dort unmittelbar unter den Bildern stehen; es sind dies die schon fast hundert Jahre zuvor gedichteten Verse von Caspar Scheidt. Zuweilen scheint der Tod der Sprecher zu sein, dann wieder der Mensch, ab und zu sprechen auch beide, z.B. bei der Nonne. Sie kniet vor einem Hausaltar und wendet sich nach rückwärts zu einem Galan um; der Tod kommt, bekleidet wie eine Magd, von hinten und macht sich an der Kerze zu schaffen, die auf dem Altar steht. Die Nonne fordert den Tod auf: Der alten Weiber finstu viel,/ Laß mir Jungen mein Freudenspiel, woraufhin der Tod sagt: Dein Eltern dich ins Closter stiessen,/ Vnd dein Gebeth verrichten liessen/ Dein andacht war darinn gering,/ Ahn Todtendantz ich dich auch bring. Diese Verse nehmen eine sehr weitgehende Interpretation des Bildinhalts vor, indem sie eine Art biographischen Hintergrund entwerfen, der erklären soll, warum die Nonne sich nicht auf ihre Andacht konzentriert, sondern sich nach ihrem Geliebten umschaut. Leider wurden Holbeins Bilder später oft aufgrund solcher Verse interpretiert und verstanden. Daß diese sekundären Sinnzuweisungen dabei gar nichts mit dem eigentlichen Holzschnitt zu tun haben, wurde dabei übersehen. Eine weitere Anmerkung zum Sinngehalt des Gedichts ist hier am Platze. Der Vers von Scheidt spricht von einem Totentanz, ebenso wie einige der bei Valvasor abgedruckten Texte. Dies ist insofern unpassend, als die Todesbilder Holbeins ja gar keinen richtigen Totentanz mehr zeigen. Es sind einzeln stehende, abgesonderte Szenen, die zwar einen Verbund bilden, aber in keiner Weise einen Tanz darstellen. Es liegt keine Sukzession vor, auch keine räumliche und zeitliche Kontinuität zwischen den Bildern – beides wäre aber für einen „echten“ Totentanz vonnöten. So bewahrt hier der Text ein Motiv, das den Bildern bereits abhanden gekommen ist. Hier zeigt sich noch einmal, daß Texte vielfach traditionsverhafteter sind als Bilder. Die Illustrationen lösen sich von der alten Überlieferung ab, die Texte dagegen verharren teilweise noch darin. Wunderlich weist darauf hin, daß im Gegensatz zu den älteren Totentänzen das Geschehen bei Holbein nicht mehr losgelöst von Zeit und Raum stattfinde, sondern in „unterschiedlichste[n] Situationen an realistischen Schauplätzen“.1001 Es kann als strittig betrachtet werden, ob das Todesgeschehen in den alten spätmittelalterlichen Gemälden tatsächlich auf einer fortlaufenden Realitätsebene stattfindet – im Sinne der tatsächlichen Existenz eines in zeitlicher Simultaneität geschehenden Reigentanzes –, und so bietet die Postulierung einer temporalen Einzeluntersuchungen
1001 Wunderlich, Zwischen Kontinuität und Innovation, S. 131.
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und lokalen Losgelöstheit oder vielmehr Undefiniertheit eine gewisse Lösung dieses Problems. Grundsätzlich aber finden die meisten älteren Totentänze auf einer durchgehenden Bildfläche statt, selbst in Fällen wie der Lübecker Inkunabel, die auch Einzelbilder gebraucht, aber stets denselben Hintergrund zeigt. Mit dieser Konvention bricht Holbein nun tatsächlich radikal. Das von ihm Gezeigte spielt sich an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten ab. Es läßt sich sogar mit einigem Recht behaupten, daß in vielen Bildern überhaupt kein Todesgeschehen vorliegt, sondern lediglich moralische Kritik angebracht wird, ohne daß die Todesgestalten als „übernatürliche Todbringer“ verstanden werden müßten, wie in den alten Totentänzen.1002 Um zum Abschluß auch aus der französischen Ausgabe, den Simulachres, ein Beispiel zu bringen, sei noch einmal auf den Unterschied zwischen den Bibelversen und den Epigrammen hingewiesen. Während die Epigramme oft nur eine mit einigen Ausschmückungen angereicherte Paraphrase des Bibelverses darstellen, wird hin und wieder jedoch auch der Versuch gemacht, eine etwas engere Verknüpfung mit dem Bild zu erreichen, als dies der Bibelvers allein vermag. Dermaßen wird etwa beim Pfarrer vorgegangen, dem das recht kurze Bibelzitat Sum quidem & ego mortalis homo (Weish 7,1) zugeordnet ist. Das französische Epigramm lautet, dem Sinn nach nahezu identisch, nur etwas verbreitert: Ie porte le sainct sacrement Cuidant le mourant secourir, Qui mortel suis pareillement. Et comme luy me fault mourir.
Hier wird versucht, durch den Beginn der Verse – Ie porte le sainct sacrement – auf das Bild hinzudeuten, in dem der Priester den letzten Versehgang ausführt. Eine solche Referenz ist hingegen dem Bibelzitat nicht zu entnehmen. Die Bindung an das Bild ist somit bei dem französischen Epigramm erheblich deutlicher. In diesem Sinne kommt es in den Epigrammen öfter zur direkten Ansprache der gezeigten Personen mit Pronomina (Ie, tu, uous), damit erkennbar ist, daß von den Personen in der Illustration gesprochen wird. Kaum überraschend kann daher festgestellt werden, daß die Techniken zur Text-Bild-Verknüpfung in den verschiedensprachigen Ausgaben der HolbeinTodesbilder in vielen Fällen durchaus ähnlich oder gleich sind. Die Bibelzitate sind – wenn nicht überall, so doch vielfach – identisch. Sie können mitunter durch Hintergrundinformationen für den Leser, z.B. das Wissen, aus welchen Zusammenhängen sie stammen, in einen sinnvollen Zusammenhang mit dem auf dem Bild Gezeigten gebracht werden, weisen jedoch oft auch nur eine sehr dünne Verbindung mit den Illustrationen auf und passen manchmal mehr schlecht als recht. Die Epigramme dagegen – und dies gilt für die lateinischen, deutschen und französischen gleichermaßen, die zum Teil allerdings auch voneinander abhängen – stehen vielfach in einer engeren Relation zu den Holzschnitten. Es sind keine vorgefertigten, aus anderen Zusammenhängen herausgerissenen Versatzstücke Holbeins Todesbilder
1002 Vgl. Goette, S. 252; vgl. zur Thematik auch allgemein Abschnitt 2.2.3.
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wie die Bibelzitate, sondern eigens für diese Todesbilder-Ausgaben angefertigten Texte, die somit enger auf den Verwendungszweck abgestimmt werden konnten. Wenngleich niemals eine so dichte Text-Bild-Korrespondenz zustande kommt wie in den alten spätmittelalterlichen Totentänzen – dort u.a. durch die Zwiesprache zwischen Tod und Mensch, die sich in Text und Bild widerspiegelt, ermöglicht –, wird doch oftmals der Versuch erkennbar, Referenzen auf die Holzschnitte anzubringen. In jedem Fall ist die Zusammenstellung von Versen und Holzschnitten aber vor dem Hintergrund zu sehen, daß Holbein die Bilder höchstwahrscheinlich ohne jede Textbeigabe konzipiert hat (vielleicht unter Ausnahme von Bildüberschriften, wie sie in den in Basel erschienenen Probeabdrucken auf deutsch erscheinen), so daß sämtliche Texte, wie oben gezeigt, eine nachträglich den Bildern aufoktroyierte Interpretation darstellen. Zuweilen ist der Bildinhalt offensichtlich und kaum strittig, andere Holzschnitte sind jedoch in ihrer Aussage weniger eindeutig. In solchen Fällen liefern die Verse eine Auslegung, die vielleicht nicht im Sinne des Künstlers lag. Dies läßt sich wiederum bei der Nonne gut beobachten. Die Ansichten über dieses Bild differieren. So wurde in der Tätigkeit des hinter der Nonne stehenden Todes einerseits das Dochtputzen gesehen, während eine andere Meinung lautet, der Tod lösche die Kerze und damit symbolisch das Lebenslicht aus.1003 Valvasor entscheidet sich im Theatrum mortis humanae tripartitum für letztere Variante – vielleicht u.a. wegen der dem Zeitgeist entgegenkommenden Symbolträchtigkeit – und macht das durch folgenden Vers deutlich: Schau der Kerze Flamb vergehet. Hier wird dem an sich ambivalenten, weil nicht ganz deutlich erkennbaren Holzschnitt bzw. Kupferstich1004 die Zweideutigkeit genommen, indem ihm unmißverständlich eine der möglichen Auslegungen zugewiesen wird. Vermittels der Texte können so eindeutige, im Bild selbst nicht angelegte Interpretationen etabliert und dem Leser bzw. Betrachter quasi aufgezwungen werden. Einzeluntersuchungen
Zum Schluß soll noch ein kurzer Blick auf eine etwas andersartige HolbeinAusgabe mit Texten geworfen werden, die erst kürzlich von Wunderlich der Forschung bekannt gemacht worden ist.1005 Es handelt sich um einen Zürcher Druck mit Holbein-Nachschnitten von Heinrich Vogtherr dem Älteren und Texten von Hans Gysslinger von ca. 1546. Das Besondere an diesem Erzeugnis ist seine äußere Form. Es handelt sich nämlich um eine Art Bilderbogen; unter den kolorier1003 Vgl. Goette, S. 257. 1004 Auf Valvasors Kupferstich fehlt übrigens der Galan. So wird die Kopfwendung der Klosterfrau allerdings obsolet und geht ins Leere. Auch das Bild wird folglich hier manipuliert, was die Interpretation der Aussage stark beeinflußt. Die auf dem alten Holzschnitt implizite Kritik an der Nonne, die sich anscheinend von ihrer geistlichen Beschäftigung durch den Kavalier ablenken läßt, wird getilgt. 1005 Uli Wunderlich: Der Todtentanz/ Getruckt zu Zürych by Augustin Frieß [ca. 1546]. Jahresgabe für 2001 der Gesellschaft der Freunde der Herzog August Bibliothek e.V. Hier weist Wunderlich noch auf zwei andere, mit ähnlicher Textbeigabe versehene Holbein-Ausgaben hin. Der Zürcher Druck weicht allerdings mit seiner Bilderbogen-Form deutlich ab.
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ten Holzschnitten, die zweireihig untereinander angeordnet sind, befinden sich jeweils die paargereimten Strophen: Der Tod spricht den Ständevertrer mit jeweils vier Versen an, die Antwortstrophen umfassen zehn Verse. Dabei kommt auch ein tatsächlicher Dialog zwischen Tod und Mensch zustande, denn die Menschen nehmen zuweilen auf das vom Tod Gesagte Rückbezug. Interessanterweise bemüht der Autor sich auch deutlich, Text-Bild-Referenzen zu schaffen. So tadelt der Tod z. B. beim König, der bei einem Gelage abgebildet ist, dessen schleen und kündigt an: Ein trunck han ich für üch gemacht/ Der wirt üch nmmen allen pracht, womit darauf angespielt wird, daß das Hautskelett dem König auf der Illustration aus einem Krug etwas einschenkt. Zum Abt, dessen Standesinsignien der Tod sich angeeignet hat, sagt er schadenfroh: Herr Apt die Infel vnd den stab/ Ich yetz in minen hnden hab. Den Bauern fordert er auf: Woluf laß yetz den pflg still stan. Den Narren1006 seinerseits ruft der Tod an: Ku har mit dinen esel orn und meint damit offensichtlich die Narrenkappe, an der er sein Opfer mit sich zerrt. Auch finden sich, ähnlich wie bei den weiter oben behandelten Beispielen, trotz der auf den Holzschnitten nicht mehr vorhandenen Tanzmotivik durchaus textliche Erwähnungen des Tanzes, zu dem der Tod seine Opfer auffordert (z.B. beim Herzog: Mit mir mst an den tantze gan, ebenso beim Abt: Dru volgend nach v tantzend schon; bei der Gräfin heißt es u.a.: Den tantz den mnd jr gar wol zieren). Es scheint sogar noch die alte Vorstellung vom Kreisreigen im Hintergrund zu bestehen, denn an einer Stelle ist von einem ringen tantz die Rede (beim Bauern). Insgesamt ist der Zürcher Druck ein interessantes Zeugnis dafür, wie versucht wurde, Holbeins Bilder, die vom alten Totentanz-Muster schon sehr weit entfernt sind, mit einem konventionellen Dialogtext zusammenzustellen und auf diese Weise wieder einen Vertreter des Genres zu schaffen, der sich recht klar an die Tradition anbindet. Wunderlich subsumiert, es handele sich „in jeder Beziehung um ein außergewöhnliches Werk“.1007 Holbeins Todesbilder
Diese wenigen Proben sollen genügen, um einige wichtige Tendenzen der mit Holbein-Bildern gezierten Totentanz-Ausgaben anzureißen. Es wurde deutlich, daß der Text-Bild-Verbund zwar teilweise noch angestrebt wird, aber weniger zu seinem Recht kommt als bei den spätmittelalterlichen Totentänzen, die dem alten „Idealtyp“ noch näher stehen. Der in die Frühe Neuzeit strebende Totentanz in der Holbein-Nachfolge zeigt somit teilweise – und diese Einschränkung sei angesichts der Existenz anderer, weitaus traditionellerer Totentänze der gleichen Zeit besonders betont – Auflösungserscheinungen. Ehrmann-Herfort sieht die Zäsur vor allem in der „Verselbständigung des [Totentanz-]Motivs im Sinne der ästhetischen Autonomie, wie sie kennzeichnend ist für die Neuzeit“.1008 1006 Diese Figur wurde gegenüber Holbein verändert; Vorbild war Holbeins Mönch mit Spendensammeldose. Es wurden auch noch einige andere kleinere Änderungen vorgenommen (vgl. Wunderlich, Der Todtentantz/ Getruckt zu Zürych [ohne Seitenzählung]). 1007 Ebd. 1008 Ehrmann-Herfort, Sp. 688.
302
Einzeluntersuchungen
Was die Rezeption Holbeins durch die Nachwelt betrifft, gehen die Ansichten, wie bereits eingangs erwähnt, auseinander. Wenngleich Goette eingesteht, daß Holbein die alten Totentanz-Motive stark modifiziert, ist der Künstler für ihn der große, unübertroffene Meister: „So beschloss in Oberdeutschland, in Basel,1009 der Totentanz seine eigentliche Entwikkelung – alles Spätere ist minderwertiger Nachhall – mit einem vollkommenen Kunstwerk […].“1010 Ähnlich emphatisch urteilt auch noch Clark, für den die Holbeinschen Todesbilder den Höhepunkt der Totentanz-Kunst darstellen. Er lobt sie als „by far the greatest achievement in the history of our subject“; der Totentanz erreiche in Holbeins Werk seinen „culminating point“.1011 Ganz anders äußert sich dagegen Rosenfeld, der die Imagines mortis vorwiegend abschätzig kommentiert: […] der Totentanzgedanke, das innerliche Anliegen fast zweier Jahrhunderte Totentanzdichtung, wird hier endgültig zu Grabe getragen und umgefälscht, so daß keine der späteren Totentanzdarstellungen sich dem lähmenden, ja tötenden Einfluß der Holbeinschen Bilder entziehen 1012 konnte.
Meist besteht in der Forschung Einigkeit darüber, daß ‚der Totentanz nach Holbein’ – sofern man derart pauschal davon sprechen kann – epigonenhaft nur in dessen Nachfolge existiert und sich nicht davon ablösen läßt.1013 Hier versucht jedoch Hammerstein, eine differenziertere Position herauszuarbeiten. Es gelingt ihm so zu zeigen, daß durchaus auch nach Holbein Bildformulierungen existieren, die nicht von ihm abhängig sind und eher traditionsverhaftet an die alten spätmittelalterlichen Vorbilder denken lassen: Einzeluntersuchungen
[…] obwohl seine Wirkung auf die Nachwelt außerordentlich war und viele spätere Totentänze von ihm beeinflußt sind, leben doch auch in der Zeit nach Holbein die alten Motive, wenn auch 1014 abgeschwächt oder abgewandelt, vielfach weiter.
Es kann in der vorliegenden Arbeit nicht mehr auf die Fülle der im gesamten deutschen Sprachraum (und darüber hinaus) im 16. und 17. Jahrhundert und auch später noch angefertigten Totentanzmalereien eingegangen werden. Hier sei auf den von Reiner Sörries erarbeiteten „Katalog der monumentalen Totentänze im
1009 Goette meint mit dieser mißverständlichen Formulierung nicht den Basler Totentanz, sondern spricht mit der Stadt Basel den Ort an, an dem auch Holbein seine Todesbilder entwarf. 1010 Goette, S. 279. 1011 Clark, Dance of Death, S. 71. 1012 Rosenfeld, Totentanz, S. 283. 1013 Vgl. z.B. Artikel ‚Dance of Death’, in: The Oxford Companion of Art, ed. by Harold Osborne, Oxford 1970, S. 299 [Artikel ohne Verfasserangabe]: „All subsequent artistic representations of the Dance of Death were influenced directly or indirectly by that of Holbein.“ 1014 Hammerstein, Tanz und Musik, S. 95. Hammerstein zeigt, „daß die Holbeinsche Konzeption des Totentanzes bei aller in der Tat fundamentalen Neuheit und Besonderheit doch zugleich und immer noch in die Gattung und ihre Gegebenheiten eingebunden bleibt und daß sich auch bei ihm eine ganze Reihe traditioneller Topoi im Rahmen des Tanz- und Instrumentenmotivs erhalten haben, mögen sie auch im einzelnen noch so sehr verändert sein“ (Hammerstein, Tanz und Musik, S. 219).
Holbeins Todesilder
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deutschsprachigen Raum“ verwiesen.1015 Die Fülle der sich mit Totentanzthematik beschäftigenden Kunstwerke kann wohl – vorbehaltlich mehrjähriger, intensivster Forschungsarbeit an Detailuntersuchungen aller Totentänze – ab der Frühen Neuzeit tatsächlich nur mehr katalogisierend erfaßt werden.1016 Daher bleibt das Urteil Clarks zu diesen Totentänzen – „Their story has not yet been told“1017 – in gewissem Maße auch heute, mehr als 50 Jahre später, noch gültig. So kann hier nur kursorisch auf den einen oder anderen Totentanz hingedeutet werden, der in der Nachfolge Holbeins steht. Dies ist zum Beispiel der Fall in Luzern, wo sich zwei Totentänze befinden: im Jesuitenkolleg (textlos, ca. 1619) sowie auf der Spreuerbrücke (1626-35); beide verwenden in unterschiedlichem Maße Holbeinsche Motive. Des weiteren läßt sich eine Inspiration durch Holbein in den Totentänzen von Wolgast (1700), Emmetten (ca. 1710) und Bleibach (1723) nachweisen. Dagegen sind anscheinend keine Spuren Holbeins in den Malereien von Füssen (um 1600) und Wolhusen (ca. 1661) zu finden.1018 Bemerkenswert ist hier allgemein die Richtung des Überlieferungsweges – nämlich eine Inspiration monumentaler Totentänze durch gedruckte Vorlagen und nicht umgekehrt, wie vielfach in der früheren Geschichte des Genres zu beobachten war, sieht man einmal von der Rosenfeldschen Hypothese der Bilderbögen als Muster für Wandgemälde ab. Die Anregung durch die Todesbilder Holbeins bewegt sich bei den genannten Beispielen in einem variablen Rahmen – zuweilen werden nur einzelne Motive Holbeins Todesilder
1015 Vgl. zu Holbein bei Sörries vor allem die Abschnitte „Die sogenannten Totentänze im Gefolge von Hans Holbein“ (S. 131-138) sowie „Spätbarocke und noch spätere Rückgriffe auf die Totentänze von Basel und Holbein“ (S. 221-260). 1016 So spricht auch Freytag von der „kaum übersehbaren, bis in die jüngste Gegenwart ungebrochen produktiven Adaptation von Totentänzen“ und formuliert u.a. Erfassung, Beschreibung, historische Einordnung und Interpretation dieser Bestände als Desiderat künftiger Forschung (vgl. Freytag, Über das Theatrum mortis humanae tripartitum, S. 51). Wunderlich macht besonders in Bezug auf die gedruckten Totentänze der Neuzeit eine Feststellung, die in eine ähnliche Richtung zielt: „Im Gegensatz zu den ältesten Werken sind die der Neuzeit – also der Renaissance, des Barock und der Aufklärung – kaum erforscht. Bislang existiert lediglich eine bi-bliographische Zusammenstellung der Drucke“, womit auf Maßmanns „Literatur der Totentänze“ rekurriert wird (Wunderlich, Zwischen Kontinuität und Innovation, S. 137). 1017 Clark, Dance of Death, S. 88. Clark beurteilt diese zum Teil in etwas abgelegenen Alpendörfern entstandenen Kompositionen als recht minderwertig: „These are rustic productions and of slight artistic merit, but they are interesting enough to the local historian“ (ebd.). Dies Urteil ist m.E. zu relativieren. Diese Schöpfungen lassen sich vielleicht nicht mit dem Basler oder Berner Totentanz auf eine Stufe stellen, schon was ihren Bekanntheitsgrad und damit ihre Rezeptionsgeschichte betrifft. Aber eine genauere Erforschung bleibt doch ein Desiderat der Totentanzforschung, ließen sich doch aus einer komparatistisch angelegten Untersuchung möglichst vieler Totentänze interessante Erkenntnisse über die Verbreitung bestimmter Motive und Strukturen gewinnen und damit hier und dort vielleicht auch Lücken in der Überlieferungsgeschichte schließen. Nicht zuletzt zeigen diese zumeist oberdeutschen (bzw. schweizerischen) Totentänze den hohen Verbreitungs- und Beliebtheitsgrad des Genres an sich und demonstrieren überdies dessen Variationsspielraum. 1018 Vgl. im einzelnen die Beschreibungen und Abbildungen bei Hammerstein, Tanz und Musik (Beschreibendes Verzeichnis, S. 148-226, sowie der Abbildungsanhang) und Sörries, Katalog, ebenfalls mit zahlreichen Abbildungen.
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Einzeluntersuchungen
übernommen, gelegentlich sind ganze Zyklen dem Vorbild des frühneuzeitlichen Künstlers geschuldet. Im Rückblick auf die Totentanz-Literatur und -Kunst bis hin zu Holbein stellt Sörries fest: „Den echten und eigentlichen Totentanz gibt es nicht mehr.“1019 Mag diese Behauptung auch etwas zu pauschal angelegt sein, sie weist doch die Richtung aus, in die sich von nun an die frühneuzeitlichen und modernen Totentänze bewegen werden. Der Sinngehalt der spätmittelalterlichen Kunstwerke, das an jeden gerichtete aufrüttelnde memento mori, weicht erstens zum Teil einer gewissen ästhetischen Faszination an dem Objekt und wird zweitens mit neuen Interpretationen und Intentionen aufgeladen. Petersmann formuliert treffend: Die Totentanzdarstellung hat ihre ursprüngliche Funktion als Medium kirchlicher und innerkirchlicher Propaganda verloren. Der mittelalterliche Totentanz ist zu einem ikonographischen Schema geworden, das mehr oder weniger unter Abstraktion von seiner ursprünglichen Funktion im kirchlichen Rahmen mit einer Vielzahl von inhaltlichen Bezügen zeitkritischer und mora1020 lischer Art ausgestattet wird. Einzeluntersuchungen
Wohl ist das Genre des Totentanzes keinesfalls aus der Literatur- und Kunstlandschaft verschwunden, aber es entfaltet seine weitere Wirkung unter gänzlich anderen Prämissen. Dennoch bleibt festzuhalten, daß eines der hervorstechendsten Kriterien, das Zusammenspiel von Bild und Text, auch in den neuzeitlichen Ausprägungen der Gattung ein entscheidendes Kennzeichen bleibt. Der Totentanz entfernt sich sowohl formal als auch inhaltlich von seinen Ursprüngen, doch die bimediale Struktur bleibt eine die Zeiten überdauernde Konstante.
3.4. Exkurs: Totentänze außerhalb des deutschen Sprachraums Trotz der Unterschiedlichkeit der einzelnen Bild- und Textzeugen von Totentänzen innerhalb des deutschen Sprachraumes und der Tatsache, daß jedes Denkmal eigenständig betrachtet werden muß, um ihm gerecht zu werden, sind die Ergebnisse zu den Bild-Text-Beziehungen insgesamt einheitlich genug, um allgemeine Schlußfolgerungen ziehen und für die meisten Beispiele gültige Aussagen machen zu können. Es bleibt jedoch ein Desiderat der Totentanzforschung, die Analysen auch auf die im übrigen europäischen Raum beheimateten Totentänze anzuwenden, um festzustellen, ob gleiche oder zumindest ähnliche Ergebnisse erzielt werden können. Erste kursorische Betrachtungen und Stichproben weisen jedoch eindeutig in diese Richtung, obwohl sicherlich zugestanden werden muß, daß in jedem Fall aufgrund kultureller Differenzen landesspezifische Besonderheiten auftreten können, wenngleich – hauptsächlich vor der Reformation – der von der katholischen
1019 Sörries, Katalog, S. 132. 1020 Petersmann, S. 148.
Totentänze außerhalb des deutschen Sprachraums
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Kirche geschaffene Sinnhorizont eine gemeinsame Folie für alle Totentänze bereitstellt. Allein schon die vielfältigen Beziehungen auch zwischen den Gruppen von Totentänzen aus unterschiedlichen europäischen Gebieten bürgen für einen gewissen Zusammenhalt. So wurde gezeigt, daß sowohl der Lübecker Totentanz von 1463 als auch vor allem der mittelrheinische Totentanz relativ eng mit der Danse macabre verbunden sind; ebenso gehen von hier aus Linien in die Niederlande. Aussagen, die zu dem Knoblochtzer-Druck getroffen worden sind, mögen in einigen Fällen durchaus auch für den Marchant-Druck der Danse macabre gelten, der letztendlich hier mit Sicherheit vorbildgebend war. Von den englischen Totentänzen ist leider nicht allzuviel überliefert. Auch diese sind jedoch fest mit den kontinentalen Erzeugnissen verknüpft, entstand doch der Totentanz in der alten St. Paul’s-Kirche nach dem Vorbild der Danse macabre, wie der Dichter John Lydgate, auf den die englische Textfassung zurückgeht, äußert.1021 Auch bei denjenigen Totentänzen, die zu den behandelten Exemplaren augenscheinlich überhaupt keine Verbindung aufweisen, lassen sich interessante Beobachtungen machen, die die bisherigen Ergebnisse durchaus unterstützen. So fällt es beispielsweise bei den Gemälden aus Beram und Hrastovlje auf, daß sie textlos sind. Abgesehen von der Möglichkeit, daß es vielleicht einfach keinen passenden Text in der Landesprache gab, ließe sich diese Besonderheit auch anders erklären. Ohne daß man es eindeutig belegen kann, wäre es durchaus möglich, daß ein Zusammenhang mit dem Richtungsaufbau besteht. Die Reigen auf diesen beiden Wandbildern führen nämlich – anders als der Großteil aller Totentänze – nach rechts. In einem solchen Fall ist es relativ schwierig, auf stimmige Weise einen Text anzubringen, da dieser aufgrund der normalen Leserichtung sinnwidrig mit demjenigen Tänzer anfangen müßte, der den Tanz beschließt. Das soll nicht heißen, daß es keine rechtsgerichteten Totentänze mit Text geben kann, nur führt ein solcher Aufbau unweigerlich zu logischen Schwierigkeiten bei Tanz- und Lesereihenfolge.1022 Auch der umgekehrte Fall, nämlich Bildlosigkeit, kommt bei den außerdeutschen Totentänzen vor, zum Beispiel bei der spanischen Danza general. Wie zu erwarten, fehlen hier solche Formeln, wie sie in vielen Text und Bild umfassenden Totentänzen auftreten, nämlich Hinweise auf die beiden Medien bzw. Aufforderungen zum Betrachten etc. Ein weiteres Charakteristikum bildloser bzw. die Bilder vernachlässigender Totentänze, die besondere Aufschwellung des Textes, liegt ebenfalls vor: Die Danza general gehört mit ihren 632 Versen deutlich zu den längeren Totentänzen.1023 Totentänze außerhalb des deutschen Sprachraums
1021 Nähere Angaben finden sich z.B. bei Hammerstein, S. 170f.; siehe auch Clark sowie Kurtz. 1022 Vgl. auch Anm. 386 und 387. 1023 So ist die Danza general fast doppelt so lang wie z.B. der Basler Totentanz; die Inkunabel Des dodes dantz steht mit 1686 Versen jedoch bei weitem an der Spitze.
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Einzeluntersuchungen
In jedem Fall sind die Verflechtungen innerhalb der europäischen Totentänze so dicht, daß eine vergleichende Untersuchung unter Einbeziehung sämtlicher Sprach- und Kulturgebiete wünschenswert wäre, um nicht nur die Überlieferungsgeschichte, soweit das möglich ist, weiter aufzuarbeiten, sondern auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Totentanzlinien in diesen verschiedenen Regionen differenziert aufzeigen zu können. Die Text- und Bildbeziehungen wären bei derartigen Analysen einer von vielen möglichen Schwerpunkten. Solche breit angelegten Forschungen könnten sich beispielsweise in einen größeren Kontext kulturhistorischen und mentalitätsgeschichtlichen Interesses einreihen, das sich den durch die historischen Gegebenheiten inspirierten Bewältigungsmechanismen zuwendet, die sich in den Totentänzen niederschlagen. Einzeluntersuchungen
4. BILD UND TEXT IN TOTENTÄNZEN – ERGEBNISSE In den vorangegangenen Kapiteln wurden die Totentänze jeweils einzeln auf ihre Besonderheiten in Bezug auf Bild und Text untersucht. Im folgenden Abschnitt soll nun noch einmal in der Zusammenschau die Problematik betrachtet werden, indem die gewonnenen Ergebnisse verglichen und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die den Untersuchungen vorangestellten Leitfragen waren, auf welche Weise und mit welcher Wirkung Korrespondenzen zwischen Text und Bild etabliert werden sowie welche Aufgaben jeweils Text und Bild in der Umsetzung des Inhalts erfüllen; auf diese Fragestellungen werde ich im folgenden wieder Rückbezug nehmen. Texttraditionen - Bildtraditionen
4.1. Texttraditionen – Bildtraditionen 4.1.1. Die niederdeutschen Totentänze Wie ein Überblick über die behandelten mittelniederdeutschen Totentänze demonstriert, zeigen diese ausnahmslos eine mehr oder weniger starke, aber stets erkennbare Traditionsverhaftung, was die Textseite betrifft. Bis auf das Westfälische Totentanzfragment, das sich klar an die Danse macabre anbindet (und damit auch der Tradition verpflichtet ist, nur eben zu einem anderen Strang gehörig als die übrigen Zeugen), gibt es unter den betrachteten Werken kein einziges, das nicht mit zumindest einem der anderen Texte (meist jedoch mehreren) in einem mehr oder weniger engen Verwandtschaftsverhältnis steht, bis hin zu dem schon neuzeitlichen Wismarer Totentanz und dem barocken Text Schlotts aus Lübeck, der auch nicht ganz frei von Anklängen an seinen spätmittelalterlichen „Ahnen“ ist. Diese Texttraditionen überdauern sogar die Reformation, die etwa im Wismarer Text deutlich an der Behandlung der Geistlichen zutage tritt. Die Verwandtschaft reicht von entfernten Anklängen oder einzelnen Wendungen – wie beim Wismarer Totentanz, der von den Lübecker Totentänzen entlehnt – bis hin zur Übernahme ganzer Passagen, wie sie Hermann Bote ausgehend von der Inkunabel Des dodes dantz praktiziert. Sogar über die Grenzen der Landessprache hinweg reichen diese Traditionen, verwendet doch der Dichter des dänischen Totentanzes wiederum Verse aus der Inkunabel von 1489, die sogar teilweise unübersetzt gelassen werden (ein Hinweis auf die im Spätmittelalter noch weitaus größere sprachliche Nähe zwischen den Dänen und Norddeutschen, vor allem auch aufgrund der Verwendung des Niederdeutschen als Verkehrssprache im Ostseeraum). In vielen Fällen gehen die Anklänge und Textzitate auf den Lübecker To-
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Ergebnisse
tentanz in der Marienkirche von 1463 zurück, ein Werk, das in seiner Ausstrahlung auf die spätere Totentanz-Tradition und sogar noch die neuzeitlichen Totentänze allenfalls mit dem Basler Totentanz vergleichbar ist (ausgenommen Holbein, der allerdings aus den alten Mustern herausfällt und daher gesondert zu sehen ist). Der Lübecker Totentanz von 1463 befindet sich aber seinerseits auch nicht am Anfang der Reihe, denn er geht – wohl über ein mittelniederländisches Zwischenglied – auf die französische Tradition zurück und zeigt deutliche Anklänge an den Text der Pariser Danse macabre. Ergebnisse
Betrachtet man gegenüber dem Beharrungsvermögen der Texte die Bildseite der Totentänze, sieht das Ergebnis etwas anders aus. Ein pauschales und generalisierendes Urteil ist nicht möglich, da sich insgesamt ein changierender Gesamteindruck bietet. Zwar hängen die zwei Lübecker Drucke und der dänische Totentanz nicht nur textlich zusammen, sondern verwenden auch dieselben Holzschnitte, eine Praxis, die für den frühen Buchdruck nicht ungewöhnlich ist, doch kann keinesfalls gesagt werden, daß die Entlehnung aus Texten auch stets mit der gleichzeitigen Übernahme des Bildmaterials einhergeht; denn die übrigen Totentänze zeigen in diesem Punkt ein sehr unterschiedliches Bild. Abgesehen von dem Lübecker (1463) und Revaler Gemälde, die im Grunde den gleichen Totentanz repräsentieren, zeigen sich zwischen den bildlichen Realisierungen der mittelniederdeutschen Totentänze außer eben den genannten Drukken große Unterschiede; das Gesamtbild scheint diffus. Es lassen sich nicht einmal Gemeinsamkeiten innerhalb der Gruppen ‚Buchtotentanz’ oder ‚Monumentalgemälde’ feststellen. Die drei oben erwähnten Buchtotentänze sind äußerlich aufgrund der Holzschnitte sehr ähnlich; Hermann Botes Totentanz jedoch divergiert, obwohl von der Inkunabel von 1489 abhängig, beträchtlich – es handelt sich ja auch nicht um einen Druck, sondern eine Handschrift, die eine weitgehend bildlose Aktualisierung des Genres ‚Totentanz’ bietet. Was die monumentalen Malereien angeht, so ist etwa Berlin ein gutes Beispiel für einen Totentanz, der sich textlich klar in den mittelniederdeutschen Strang einordnen läßt, bildlich aber kaum Anklänge an einen der anderen Totentänze zeigt. Nur der Beginn des Berliner Totentanzes erinnert an die ähnliche Komposition im Anfang des Bildes von Reval, die sich wiederum in der französischen Tradition (z.B. Meslay-Le-Grenet)1024 findet, von der ja auch der Lübecker Totentanz von 1463 ausgeht. Wiederum eine weitgehend von den anderen Gemälden unabhängige – wenn auch in ihrer Struktur durchaus überlieferten Formen verpflichtete – Gestaltung zeigte wohl der auch wesentlich jüngere Wismarer Totentanz in der St. Marien-Pfarrei, zumindest soweit man aus der von Crull veröffentlichten Abzeichnung schließen kann.
1024 Zum bisher wenig beachteten Zusammenhang des Lübecker Gemäldes mit dem Totentanz von Meslay-Le-Grenet siehe Vogeler, S. 105f.; nähere Informationen zu diesem Totentanz gibt auch Hammerstein, Tanz und Musik, S. 175f.
Texttraditionen - Bildtraditionen
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Insgesamt bietet die niederdeutsche Gruppe trotz ihres starken inneren Zusammenhaltes doch sehr viele verschiedene Beispiele der Gattung ‚Totentanz’ in ihren unterschiedlichen medialen Realisierungen. Texttraditionen - Bildtraditionen
4.1.2. Die mitteldeutschen Totentänze In der mitteldeutschen Gruppe liegen die Verhältnisse etwas anders. Für den mittelrheinischen Totentanz konnte kein im Zentrum der Gruppe stehendes und als unmittelbares Vorbild dienendes Monumentalgemälde gefunden werden, im Unterschied zu den nieder- und oberdeutschen Linien, deren Denkmäler sich jeweils um ein herausragendes Monumentalwerk gruppieren, von dem entscheidende Anregungen in viele Richtungen ausgehen und das auch verschiedene Buchtotentänze inspiriert hat. Außer Kienzheim liegen in der mitteldeutschen Gruppe hauptsächlich handschriftliche (z.B. Zimmernscher Totentanz, Kasseler Handschrift) oder gedruckte (Knoblochtzer) Totentänze vor. Nicht nur mit seiner Form als monumentales Kunstwerk, sondern auch in anderer Hinsicht stellt Kienzheim des weiteren eine Ausnahme dar, denn wie bereits erläutert, liegt hier einer der wenigen Fälle vor, in denen es Überschneidungen zwischen der ober- und der mitteldeutschen Gruppe gibt, die ansonsten relativ wenig Berührungspunkte haben. Während Kienzheim – nach den erhaltenen Bildbeschreibungen zu schließen – ikonographisch sehr originell gestaltet war, weist der Text sowohl Reminiszenzen an den mittelrheinischen als auch an den oberdeutschen Text auf. Wieder einmal ist es die Textseite, die sich traditionsverhaftet zeigt, während die Bildseite einen eigenständigeren Eindruck macht. Obwohl somit in gewissem Sinne ein Konglomerat von ober- und mitteldeutscher Tradition, ist der Kienzheimer Totentanz insgesamt doch sehr originell und damit in vielen Teilen ohne Vorbild. Auch der mittelrheinische Text ist mit so verschiedenen Formen kombiniert wie dem Knoblochtzer-Druck einerseits und der Kasseler Prachthandschrift andererseits. Aber auch hier liegt wieder ein anderer, etwas abweichender Fall vor, sind doch die Bilder in der Zimmernschen Handschrift im Großen und Ganzen vom Knoblochtzer-Druck abgemalt und damit (bis auf Details) keine eigenständigen Erfindungen. Der Text wurde zwar mehr oder weniger unverändert übernommen, aber ebenfalls um eigene Anteile ergänzt. Die Zimmernsche Handschrift ist somit eine Bearbeitung des Knoblochtzer-Drucks mit eigenen Erweiterungen. Wie die niederdeutschen Totentänze bzw. ihr „Kern“, der Lübecker Totentanz von 1463, ist auch die mittelrheinische Gruppe deutlich von der Danse macabre inspiriert, allerdings scheinen beide Gruppen unabhängig voneinander aus der französischen Tradition zu schöpfen. Die Knoblochtzer-Inkunabel will möglicherweise an den Erfolg des Guyot-Marchant-Drucks anküpfen und weist daher schon rein äußerlich Ähnlichkeiten zu diesem auf. Auch das Personeninventar
Ergebnisse
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weist Übereinstimmungen auf, wie Hammerstein an der Kasseler Handschrift gezeigt hatte.1025 Eine weitere Parallele zum Lübecker Totentanz von 1463 sind die Verbindungen zwischen dem mittelrheinischen Text und der mittelniederländischen Überlieferung. Während man beim Lübecker Totentanz eine mittelniederländische Zwischenstufe vermutet, hängt der mittelrheinische Text in Teilen mit einer mittelniederländischen Totentanz-Dichtung zusammen (‚Klever Totentanz’); dieser ist gleichzeitig möglicherweise auch mit dem Lübecker Totentanz entfernt verwandt und bildet daher beinah eine Art „Bindeglied“ zwischen den sonst nicht korrelierten Gruppen der nieder- und mitteldeutschen Texte. So weist die mitteldeutsche Überlieferungslinie Beziehungen – wenngleich sehr dünne – sowohl zum niederdeutschen als auch zum oberdeutschen Kreis auf und steht damit in dieser Arbeit an passender Stelle zwischen den beiden großen, die Überlieferung dominierenden Traditionen. Ergebnisse
4.1.3. Die oberdeutschen Totentänze Bei den oberdeutschen Totentänzen bietet sich im Ganzen ein Bild, das vor allem mit den niederdeutschen Verhältnissen vergleichbar ist. Auch hier steht ein großes Werk mit einzigartiger Strahlkraft im Mittelpunkt, der Basler Totentanz; und auch hier existiert eine Replik, ebenso wie eine neuzeitliche Bearbeitung das Gesicht des Totentanzes textlich und bildlich stark verändert hat. All diese Beobachtungen zeigen Parallelen zur niederdeutschen Gruppe mit Lübeck in der Mitte. Ähnlich wie in Lübeck nahmen auch in Basel spätere Druckwerke ihren Ausgangspunkt (Heidelberger Blockbuch, Holbein); diese beiden Städte sind damit so etwas wie die „Zentren“ der dominanten Totentanzlinien. In beiden Fällen zeigt ein monumentales Werk seine Ausläufer bis in die Neuzeit hinein, in allen möglichen medialen Realisierungen und Inszenierungen.1026 Der oberdeutsche Totentanz-Text, bei weitaus den meisten Fällen im wesentlichen gleich überliefert (abgesehen von neuzeitlichen Überarbeitungen), begegnet jedoch mit ganz verschiedenen Bildern, wie etwa den Holzschnitten im Heidelberger Blockbuch, den Illustrationen des Münchner Blockbuches oder den Basler Wandmalereien. Auch hier liegen also mehr ikonographische Varianten vor als Textversionen. Einschränkend ist an dieser Stelle allerdings anzumerken, daß die große Wirkungskraft des Basler Bildes dazu geführt hat, daß in der oberdeutschen Gruppe die Bildformulierungen, so verschieden sie insgesamt sein mögen, auch in vielen Fällen Ähnlichkeiten aufweisen. Noch stärkeren Einfluß übte Holbein aus, dessen 1025 Vgl. Abschnitt 3.2.1.2. 1026 Dabei gehen die Parallelen bis in die Details hinein: man denke nur an die „Verniedlichung“ des Totentanzes bzw. Degradierung zu einem Zier- und Sammlergegenstand in Form von Zinnfiguren wie im Falle von Lübeck (vgl. Freytag/ Schulte/ Vogeler, S. 134f.) und Terrakotta-Püppchen („Zinzenhausener Totentanz“, Basel; vgl. Sörries, Katalog, S. 94f., Abb. 48).
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Totentanz-Motive ca. ab der Mitte des 16. Jahrhunderts eine überaus große Präsenz zeigen. Ein großer Teil der Totentanz-Geschichte der Frühen Neuzeit läßt sich als Holbein-Rezeption lesen, wobei aber auch immer wieder Linien zu finden sind, die (weitgehend) unabhängig von Holbein sind. Summarisch läßt sich vielleicht formulieren, daß die oberdeutsche Überlieferung insgesamt unter dem Zeichen textlich relativ starker Konsistenz steht; gleichzeitig trifft man auf eine ziemlich große bildliche Variationsbreite, die doch immer wieder Einsprengsel der großen Vorbilder Basel und Holbein zeigt. Das zweite große Monumentalwerk neben dem Basler Gemälde, der Berner Totentanz, ist ohne größere Wirkung geblieben. Er steht dem Basler Totentanz sowohl textlich als auch bildlich in einigen Zügen nahe, stellt jedoch insgesamt gesehen eine eigene, originelle Schöpfung des – ausnahmsweise bekannten – Künstlers Manuel dar. Dessen Gemälde hebt sich unter anderem durch die Abbildung individueller Personen aus dem Berner Stadtbürgertum (die zugleich im Sinne des Genres aber auch Typen darstellen müssen) von anderen Totentänzen ab. Eine Fülle von Anspielungen, die nur für Zeitgenossen zu entschlüsseln gewesen sein dürften, ergänzt die porträthafte Darstellung der Figuren. Die oberdeutsche Tradition bietet neben den beiden großen MonumentalTotentänzen aber auch, wie gezeigt wurde, verschiedene in Buchform geschaffene Totentänze. Das Heidelberger Blockbuch ist bildlich nicht ganz unabhängig vom Basler Totentanz, funktioniert aber ansonsten unter ganz andersartigen Prämissen und mit arbeitet mit von der Wandmalerei sehr unterschiedenen Stilmitteln. Die groben Holzschnitte zeigen den Tod zuweilen gerade durch ihre „Ungeschliffenheit“ auf angemessen derbe Weise, was den knappen Versen auf eine gewisse Art durchaus entgegenkommt. Der gleiche Text wird im Münchner Blockbuch mit ganz andersartigen Illustrationen kombiniert, die Tod und Mensch nicht dynamisch, sondern zuweilen sehr statisch, sitzend in einer Art Disput, wiedergeben. Das Münchner Blockbuch fällt des weiteren dadurch auf, daß sich der Reißer der Holzschnitte teilweise sklavisch an den Text hielt (z.B. Her ritter, ir seid angeschriben – Tod weist dem Ritter eine Liste vor). Dies demonstriert, daß auch in der künstlerisch relativ einfachen, detailarmen Form, wie sie dieses Blockbuch z.B. im Vergleich zu Holbeins Todesbildern zeigt, durchaus präzise Text-BildKorrespondenzen möglich sind. Die oberdeutsche Gruppe ist des weiteren dadurch interessant, daß sie mit dem deutsch-lateinischen Mischtext eine vermutlich sehr frühe Form des oberdeutschen Totentanz-Textes enthält, die gewisse Rückschlüsse auf die Entstehung des Genres zuläßt. Texttraditionen - Bildtraditionen
Für alle drei Gruppen gilt: Bei einer Vielzahl von unterschiedlichen ikonographischen Umsetzungen liegt doch zugleich eine begrenzte Menge an TextVariationen vor. Der Text zeigt sich, wie an vielen Beispielen demonstriert wurde, stärker den hergebrachten Formen verpflichtet, während die Bildrealisierungen vielfach sehr stark differieren. Insgesamt wird deutlich, daß die Texttraditionen in allen drei Gruppen mehr Zusammenhalt aufweisen als die Bildtraditionen, wenngleich auch diese sich wei-
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Ergebnisse
ter verbreiten und zur Übernahme einzelner Motive (Basel, Holbein) oder ganzer Zyklen (Knoblochtzer – Zimmern) führen können. Zu großen Teilen noch nicht aufgearbeitet bleibt die Geschichte des frühneuzeitlichen und modernen Totentanzes, die sich als sehr vielfältig und verzweigt erweist, und für die die hier vorgebrachten Erkenntnisse sicherlich, wenn überhaupt, nur mit Einschränkungen gelten. Zwar liegen Untersuchungen vor, doch wurden die Totentänze seit etwa 1600 keiner vergleichbar genauen Untersuchung unterzogen wie ihre spätmittelalterlichen Vorbilder. Dies bleibt folglich ein Desiderat weiterer Totentanz-Forschung. Zusammenfassend ist weiterhin festzuhalten, daß innerhalb des von der Tradition vorgegebenen Rahmens1027 – der bestimmte unabdingbare Komponenten und gewisse bindende sowohl ikonographische als auch textliche Momente enthält1028 – die weitgehend offene Form des Genres ‚Totentanz’ zu immer wieder neuen Konkretisationen und Realisierungen des Typs anregt,1029 was zu dem bereits erwähnten „Wurzelwerk“1030 von Entwicklungslinien und Überlieferungssträngen führt, das sich im Nachhinein kaum vollständig entwirren und auf die Ursprünge zurückführen läßt. Der Versuch, Stammbäume für die Entwicklung von Totentänzen zu bilden, kann so nur von zweifelhaftem Erfolg gekrönt sein,1031 und dies umso mehr, als – wie oben demonstriert wurde – Texttraditionen und Bildtraditionen voneinander in vielen Fällen unabhängig sind.1032 So könnte man allenfalls noch in Bezug auf Ergebnisse
1027 Kaiser spricht insgesamt von dem „verpflichtende[n] Charakter der Gattung“ Totentanz. So könne die Ausprägung eigener Formen stets nur innerhalb vorgegebener Bildformeln stattfinden, und auch die textliche Seite sei durch den Kontext der Bußpredigt festgelegt. Kaiser begrenzt das Vorhandensein dieses „normierten Rahmens“ jedoch auf den monumentalen Totentanz: „Der Bruch mit den Normen der Gattung wird erst möglich sein, wenn das Thema Totentanz die Bußpredigt-Aura des Wandgemäldes im Kirchhof verlassen wird“ (Kaiser, S. 330). Daß natürlich ein Buchtotentanz andere Möglichkeiten der bildlichen Aktualisierung des Genres bietet, ist unbestreitbar. Die vorliegende Arbeit hat jedoch gezeigt, daß es – trotz von der Tradition vorgegebener Formen – einerseits bei den monumentalen Totentänzen zu starken bildlichen Variationen kommt, andererseits die behandelten Buchtotentänze, obwohl bildlich sehr unterschiedlich geartet, auf der Textebene in beträchtlichem Maße der Tradition verpflichtet sind. Kaisers etwas pauschalem Urteil der Traditionsbindung von Monumentalgemälden auf der einen und der Lösung von Traditionen bei Buchtotentänzen auf der anderen Seite ist daher zu widersprechen. 1028 Als diese verpflichtenden Momente betrachte ich die in Abschnitt 2.3.1. vorgestellten gattungskonstituierenden Kriterien. 1029 So vermag das Genre ‚Totentanz’ trotz aller Traditionsgebundenheit immer wieder durch neue Ausprägungen und Kombinationen zu überraschen: Man denke etwa an den so ganz anders gearteten Gossembrot-Totentanz, der in seiner Verquickung verschiedener Motive ein Unikum darstellt. Vgl. den (mir leider zu spät bekannt gewordenen) Fund von Roth (2006)! 1030 Freytag, Totentanz 1463, S. 14. 1031 Auch Kiening bemerkt, der Totentanz verweigere sich „der vorschnellen Einordnung in stringent evolutionistische Abläufe (Gesamt-Stammbäume und ‚Gesamtlegenden’)“, wobei letzteres wohl als Seitenhieb auf Cosacchi gedacht ist (Kiening, Ambivalenzen, S. 39). 1032 Vgl. Hammerstein, Tanz und Musik, S. 21: „Vielfach haben Text- und Bildredaktion verschiedene Traditionen und Stammbäume.“
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die Texte versuchen, Stemmata herzustellen,1033 wobei dann die Bilder ausgeklammert werden müßten; letztere würden dadurch jedoch auf ein bloßes Anhängsel zu den in diesem Fall als wichtiger eingestuften Texten degradiert – eine unzulässige Vorgehensweise, die der Bimedialität des Genres ‘Totentanz’ nicht ausreichend Rechnung trüge. Für Texte und Bilder verschiedene Stammbäume aufzustellen und zu versuchen, die einzelnen Komponenten separat auf ihre Wurzeln zurückzuführen, würde ein vollends diffuses Bild schaffen und wohl zu einem großen Teil auf nicht verifizierbaren Vermutungen gründen. Um jedem Totentanz in seiner Besonderheit gerecht werden zu können und ihn sowohl in seiner Traditionsbindung als auch in seiner Selbständigkeit1034 angemessen zu erfassen, ist es daher vonnöten, genaue Einzelanalysen vorzunehmen und die jeweils eigene und neue Form des Zusammenstellens von Traditionselementen aus der Bild- und Textüberlieferung unter Hinzunahme innovativer Komponenten – wie etwa dem Stadtportrait in Lübeck oder der an der Artes-Literatur orientierten Form des Gossembrot-Totentanzes – vor dem Hintergrund der Gesamtüberlieferung gesondert zu betrachten. Bezugnahme und Zusammenwirken von Text und Bild
4.2. Gegenseitige Bezugnahme und Zusammenwirken von Text und Bild Aus der Betrachtung der verschiedenen Totentänze mit ihren Konstituenten Text und Bild wird deutlich, daß die beiden Medien in den meisten Fällen1035 merklich aufeinander bezogen sind. Dies manifestiert sich beispielsweise in Text-Bild-Korrespondenzen von der Art, wie sie in den meisten untersuchten Totentänzen zu beobachten sind, nämlich der Verwendung von Attributen zu den Personen, die nicht nur im Text erwähnt, sondern auch auf dem Gemälde wiedergegeben werden. Hierbei ist allerdings zu beachten, daß Bild und Text zuweilen auch divergieren können, wenn z.B. im Text von Elementen die Rede ist, die auf dem Bild nicht zu sehen sind. Insgesamt ist die Technik, Gegenstände sowohl abzubilden als auch gleichzeitig zu benennen, eine einfache, wirkungsvolle und überaus häufig verwendete Methode der Verknüpfung von Text und Bild. In eine ähnliche Richtung geht der Einsatz von 1033 Solche Stemmata finden sich z.B. bei Rosenfeld, Totentanz, S. 307, und Schulte, Totentänze, S. 245, auch Saugnieux, S. 51. 1034 Kiening spricht vom „Spannungsfeld zwischen der Konstanz des Typus und der subtilen Variation der individuellen Ausprägung“ (Kiening, Ambivalenzen, S. 39). „Der Typus besaß und entwickelte seine eigene Präsenz in Überlieferungsformen, die alle Nuancen zwischen konkreter Abhängigkeit und freier Neugestaltung, zugleich alle Medienkombinationen (Wandgemälde, Handschrift, Blockbuch, Bilderbogen, Druck, Mischformen wie aufgeklebte Holzschnitte mit handschriftlichem Text) umfassen“ (Kiening, Ambivalenzen, S. 42). 1035 Natürlich kann hier nur die Rede von denjenigen Totentänzen sein, die komplett mit Text und Bild überliefert oder erhalten sind.
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Gesten oder Handlungen, die auf dem Bild ausgeführt und auch in die Verse aufgenommen werden. Ergebnisse
Eine grundlegende Diskrepanz zwischen Bild und Text findet sich in mehreren Totentänzen in Bezug auf die Tanzmotivik. So ist z.B. in der Inkunabel Des dodes dantz, wie im entsprechenden Abschnitt belegt wurde, die Tanzmotivik im Text noch relativ dominant, während (u.a. bedingt durch den buchtypischen Zerfall des Reigens in Einzelpaare, hier noch forciert durch die zusätzliche Trennung von Tod und Mensch) auf den Holzschnitten davon kaum etwas übrig geblieben ist. Ebenso zeigt überraschenderweise gerade ein von vornherein ohne Bild konzipierter Totentanz, der Prosatext Botes, eine sehr starke Betonung des Tanzes – man mag spekulieren, ob diese deutliche Tanzmotivik durch die Ansprache des Vorstellungsvermögens des Rezipienten das Fehlen des Bildes kompensieren soll. Für den Vergleich in Bezug auf die Tanzmotivik sind die Monumentalgemälde von Berlin und Lübeck gut geeignet. In beiden ist das Tanzmotiv auf der Textebene relativ dominant, während jedoch eine entsprechende Dynamik auf der Bildseite nur in Lübeck zum Ausdruck kommt, wo die Todesgestalten in grotesk verrenkten Posen einherspringen; auf dem Berliner Bild dagegen ist – trotz der nachträglichen Anwinkelung der Beine der Todesfiguren – nur ein steifes Schreiten erkennbar. Eine überaus häufige Verwendung der Tanzmotivik ist auch im Basler Totentanz zu beobachten. Dabei fällt allerdings auf, daß in der neuen Version die Tanzmotivik im Bild durchaus noch verstärkt wurde, während das im alten Text sehr dominante Tanzmotiv bei den Textüberarbeitungen etwas zurückgenommen ist. Der Knoblochtzer-Totentanz vermag hingegen zu zeigen, daß die Buchform keinesfalls, wie in Lübeck geschehen, einen Verzicht auf Dynamik erzwingt. Anders als bei Des dodes dantz werden hier Mensch und Tod zusammen auf einem Holzschnitt abgebildet. In vielen Bildern ist starke Bewegung erkennbar, in die mitunter auch die Menschen einbezogen werden, wenn z.B. der Schreiber ein Bein gegen den Tod stemmt, um sich seiner zu erwehren. Der Knoblochtzer-Druck teilt mit der Kasseler Handschrift und dem ZimmernManuskript einen weiteren auffälligen Charakterzug, indem nämlich den Todesfiguren fast durchgängig Musikinstrumente beigegeben sind. Seltsamerweise wird weder in der Prachthandschrift noch in der Inkunabel von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Text und Bild mithilfe der Instrumente enger zu verknüpfen (was in der Forschung zu der Hypothese verschiedener Text- und Bildredaktionen führte). Erst der Graf von Zimmern bringt die Musikinstrumente punktuell in den Text mit ein und schafft so eine stärkere Korrelation. Textliche Erwähnung von auf dem Bild zu sehenden Instrumenten gibt es auch im Basler Totentanz; hier handelt es sich jedoch nicht um ein konsequent durchgeführtes Motiv. Der klare Zusammenhang von Text und Bild äußert sich des weiteren in verschiedenen, die Bimedialität explizit thematisierenden Formulierungen bzw. Hinweisen, die sich in mehreren der untersuchten Totentänze finden, seien es die Worte Uppe dat wi mogen rechte merken den dôt der naturen,/ Hîr navolgende mit
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schriften unde mit figuren (V. 109f.) oder die Aufforderung Hîrumme latet ju desse figuren vor ogen stân (V. 1655) aus der Lübecker Inkunabel von 1489. Ganz explizit weist der Prediger am Beginnn des Kienzheimer Totentanzes auch auf das Bild hin, wenn er sagt: O ir lieben kind diser welt,/ Ir sollen anshen diss gemeld! Auch der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text enthält eine Formulierung, die in die gleiche Richtung geht, denn in dessen Prolog werden einerseits die gemeldes figuren (V. 25) herausgestellt, andererseits aber auch von den worten (V. 10) gesprochen. Auch der Prediger im Berner Totentanz (dort allerdings ans Ende gestellt) spricht von der Bildbetrachtung und der daraus zu ziehenden Lehre: Wär dise Figuren schouwett an (Str. 90), soll zur Reflexion über die Vergänglichkeit des Lebens angeregt werden; dies unterstreicht der Prediger durch das Zurschaustellen eines Totentschädels. Ähnlich fordert die als Zeigegestus auf die Bild-Predigt verstehbare erhobene Hand des Franziskaners zu Beginn des Berliner Totentanzes zum Betrachten der Malerei auf. Überhaupt sind Zeigegesten verschiedentlich von Bedeutung im Bild-TextGefüge von Totentänzen. In der Zimmernschen Handschrift werden sie beispielsweise verwendet, um auf besondere Bildelemente hinzuweisen, etwa das bereitstehende Grab. In Kienzheim findet man mehrfach Zeigegesten, die direkt auf den Text deuten. In einer Untersuchung zum Gestus des Zeigens im Codex Manesse erarbeitet Franziska Wenzel verschiedene Ergebnisse, die sich durchaus auch auf die Zeigegesten in Totentänzen übertragen lassen. So visualisiere diese Geste im Bild mitunter die sprachliche Kommunikation;1036 sie könne das Bild aber „auch verlassen und den Betrachter adressieren“. Zudem ist das, wie Wenzel sich ausdrückt, „Referenzsystem des Index-Fingers“ imstande, ein „Wechselspiel zwischen Text und Bild“ aufzubauen.1037 Dies ist etwa der Fall im oben zitierten Beispiel der Predigerfigur, deren Zeigegestus zugleich auch ein Rede- und Lehrgestus ist. Der erhobene Zeigefinger weist so auf den folgenden lehrhaften Text voraus. Deiktische Ausdrücke wie wie „hier“, „da“ oder Formulierungen wie „schaut her“ unterstützen dabei die hinweisende Wirkung solcher Gesten, die sich in der Tat nicht nur an die bildimmanenten Personen, sondern vor allem auch an den Betrachter richten. In einem solchen Fall „präsentieren sie das Gezeigte als ein kommunikatives Angebot“;1038 der Betrachter soll über das, worauf gezeigt wird, reflektieren und es auf sich beziehen. Bezugnahme und Zusammenwirken von Text und Bild
Daß Text und Bild als zusammengehörige Einheit betrachtet wurden, zeigt z.B. auch die Kompilation des Basler und Berner Totentanzes durch Frölich, in der sehr großer Wert darauf gelegt wurde, dem Text jeder Figur auch ein Bild beizugeben. Hier tritt auch wieder die schon bekannte Spiegelmetapher in den Vordergrund: Die bereits im Titel angepriesenen Illustrationen (mit schönen und zu 1036 F. Wenzel, S. 45; vgl. zur Thematik auch Camille, S. 27f.: Camille sagt über die Geste des erhobenen Zeigefingers: „This [... ] has its roots in the classical tradition of picturing the rhetorical declamatio [...]. The pointing index finger was a universal sign of acoustical performance [...].“ 1037 Vgl. F. Wenzel, S. 46. 1038 Ebd.
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beyden Todtentäntzen dienstlichen Figuren) sollen den Leser dazu anregen, sich in ihnen zu erspieglen und daraus lehrreiche Erkenntnisse zu gewinnen. In der Handschrift, die den deutsch-lateinischen Mischtext enthält, finden sich Hinweise auf eine Vorlage mit Bildern – auch hier wird anscheinend Wert darauf gelegt, herauszustellen, daß zu dem Totentanztext eigentlich Illustrationen gehören. So ersetzt auch die Abschrift des Kienzheimer Totentanzes die fehlenden Malereien durch penibelste Bildbeschreibungen: Keines der Medien wird vernachlässigt. Ergebnisse
Wenig überraschend ist das Ergebnis, daß im einzigen Werk, dessen Bild und Text durch denselben, eindeutig bestimmbaren Autor- bzw. Künstlerwillen zusammengestellt wurden, nämlich dem Berner Totentanz, eine sehr enge Abstimmung von Versen und Malereien beobachtet werden kann. Neben der mehrfach beschriebenen Methode, Attribute sowohl textlich zu erwähnen als auch bildlich darzustellen, verwendet Manuel auch häufig die oben angesprochene Technik, Handlungen, die das Bild zeigt, auch in der zugehörigen Strophe zu beschreiben (z.B. Der Tod den Harn mir brächen tht – Zerschlagen des Uringlases mit einem Knochen). Tanzmotivik und Musikinstrumente, im Bild zum Teil stark vertreten, bringt Manuel allerdings auch nur hier und dort in die Verse ein. Eine grundlegende Form der Bild-Text-Kommunikation besteht des weiteren in dem korrespondierenden Aufbau von einerseits regelmäßiger Abfolge von Tod und Mensch im Bild und den ihnen entsprechend zugeordneten Dialogstrophen. Allein durch dieses einfache Mittel wird in einem gewissen Ausmaß ein Zusammenhalt zwischen den Medien gestiftet; dies gilt gleichermaßen für die Monumental- und die Buchtotentänze. Ein Totentanz, der keinen Dialog, sondern lediglich monologischen Aufbau besitzt, der Prosa-Totentanz Botes, ist bezeichnenderweise ohne Bild überliefert. In der Tat ist ein bebilderter Totentanz, der nur aus einem Monolog des Todes besteht, schwer denkbar; man würde zwangsläufig die Strophen der Menschen vermissen, die ja schließlich im Bild zu sehen wären.1039 Dies ist jedoch gewiß nicht der vordringliche Grund, warum Botes Totentanz keine Bilder besitzt. Nicht zu unterschätzen ist weiterhin der memoria-Aspekt, der gerade auch durch die gleichzeitige Verwendung von Text und Bild zustande kommt. Dies dürfte besonders in Buchtotentänzen für die Verwendung von Bildmaterial ge1039 Wenn man, wie in Abschnitt 3.3.1.1. beschrieben wurde, davon ausgeht, daß die ersten Totentänze monologisch waren, muß man allerdings tatsächlich annehmen, daß es durchaus Illustrationen monologischer Totentänze gegeben hat. Das hierdurch entstehende „Manko“ – die Hälfte der Figuren müßte ja ohne Text geblieben sein – wurde aber offensichtlich auch als solches empfunden, denn die Entwicklung der Totentänze lief schließlich auf den Dialog hinaus. Die stimmigste Version ist demzufolge ein dialogischer Text, in dessen Aufbau die Alternation von Mensch und Tod ebenso stattfindet wie im Bild. – Hier ist allerdings noch einmal auf einen signifikanten Unterschied zwischen den monologischen Strukturen von Botes Totentanz und der frühen oberdeutschen Fassung hinzuweisen. In letzterer sprechen nur die Menschen, bei Bote sind es jedoch die Todesfiguren.
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sprochen haben, denn ansonsten ist das Buch allgemein etwas weniger visuell orientiert als die Wandmalerei, die natürlich mit dem optischen Eindruck überhaupt erst auf sich aufmerksam machen kann, quasi ganz auf ihn angewiesen ist. Die Verwendung von Holzschnitten in Buchtotentänzen mag auch für einen Gebrauch etwa im seelsorgerischen Kontext sprechen, in dessen Zusammenhang das Bildmaterial auch zum Zeigen und Veranschaulichen verwendet werden konnte. Nicht zuletzt hat die Verwendung von Bildern auch einen kommerziellen Aspekt, konnten doch Illustrationen den Absatz eines Buches unter Umständen durchaus erleichtern. Bezugnahme und Zusammenwirken von Text und Bild
Die Niederlegung von Glaubensinhalten in Text und Bild fixiert das Dargestellte über die beiden prominentesten „Kanäle“ der Wahrnehmung und damit auch der memoria – Auge (Bild) und Ohr (Schrift, bzw. Wort oder Sprache)1040 nicht nur im kulturellen Gedächtnis,1041 sondern verankert das Ideengut so besonders eindrucksvoll auch im individuellen Erinnerungsvermögen jedes Einzelnen. Dabei ist gerade für den Totentanz die memoria ein zentraler Begriff, denn er ist selbst ein Akt der Erinnerung, des Im-Gedächtnis-Behaltens, indem er mahnt: memento mori – gedenke des Todes, jetzt und zu allen Zeiten. Aus diesem Grund verliert das Genre auch niemals seine Aktualität, sondern adressiert alle Menschen in ihrer stets gültigen conditio humana des Sterbenmüssens. Dieser memoria-Aspekt wird in der Prologstrophe des Lübecker Totentanzes von 1463 angesprochen, wenn es heißt: Seet hyr dat spegel junck vñ olden/ Vnde dencket hyr aen ok elkerlike [...] (V. 2f.). Das Verb seet spielt, ebenso wie die Verwendung der Metapher spegel, auf das Visuelle, nämlich das Gemälde, an; während auf der anderen Seite die Aufforderung dencket hyr aen unterstützend
1040 Wehrli weist darauf hin, daß daß das mittelalterliche Wort in hohem Maße als „gehörtes“ Wort vorzustellen sei, vgl. Max Wehrli: Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung. Stuttgart 1984, S. 48; ähnlich Burdach: „Die deutsche Sprache des Mittelalters war eine Sprache des gesprochenen Wortes: der Predigt, der Recitation oder des Vorlesens. Die mittelhochdeutsche Sprache ist eine Sprache, die dem Ohr verständlich sein will, ihre Syntax ist eine Syntax, deren Gliederung nur gehört klar erscheint“ (Konrad Burdach: Bericht über Forschungen zum Ursprung der neuhochdeutschen Schriftsprache und des deutschen Humanismus. Berlin 1903, S. 61); auch Gumbrecht beschreibt ähnlich: „Wo Volkssprache denn im Mittelalter einmal schriftlich fixiert wurde, erscheint ihre Form meist von der Funktion geprägt, mündlichen Vortrag und auditive Rezeption zu ermöglichen, und nicht etwa Sprechen und Hören durch Schreiben und Lesen zu ersetzen“ (Hans-Ulrich Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur. Band 1. Frankfurt a.M. 1990, S. 44). – Im übrigen war das Lesen von Texten im Mittelalter ursprünglich kein stilles Lesen, wie es heute praktiziert wird; vgl. hierzu Paul Saenger: Space Between Words. The Origins of Silent Reading. Stanford 1997 (bes. Kap. 15 „Written Culture at the End of the Middle Ages“, S. 256-276), vgl. auch Mc Luhan, S. 82f.; ebenso Camille: „Reading was a matter of hearing and speaking, not of seeing“ (S. 28); „speech and writing were closer together, almost equivalents“ (S. 31). 1041 Zum Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ siehe Aleida Assmann/ Jan Assmann: Schrift, Tradition und Kultur. In: Wolfgang Raible (Hg.): Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema ‚Mündlichkeit und Schriftlichkeit’. Tübingen 1988, S. 25-49, besonders S. 29-33; ebenso Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992.
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beschreibt, daß das Gesehene und durch den beigegebenen Text Vertiefte in Erinnerung behalten und stets bedacht werden soll. Ergebnisse
Bild und Text stehen also in den untersuchten Totentänzen niemals beziehungslos nebeneinander; das Bild ist nicht bloß Beigabe oder Illustration des Textes, ebensowenig wie der Text redundante Beschreibung des Bildes ist – beide Medien werden als zusammengehörig verstanden und so auch in ihrem Ineinandergreifen dargestellt. Damit ist der bereits früher erwähnten These Dirscherls zu widersprechen, der pauschal für das gesamte Mittelalter feststellt: Die thesenhafte Rede vom „Dialog“ von Bild und Text ist gerade für das Mittelalter nur mit starken Einschränkungen zu verwenden. Denn von einem bewußten Dialog, der geschickt die unterschiedlichen Ausdruckspotentiale der beiden Medien in einem wohlkonzertierten Mit- und Gegeneinander nutzt, kann [...] nur selten die Rede sein. Vielmehr handelt es sich in der Regel um ein kulminierendes Miteinander von Bild und Text, in dem beide Diskursformen gleichzeitig und in der für sie spezifischen Weise den jeweiligen Gegenstand darstellen.1042
Wie unter anderem an den oben behandelten Versen aus den Totentänzen gezeigt wurde, scheint es – zumindest in dem für die vorliegende Untersuchung relevanten Zeitraum, also vorrangig dem 15. und frühen 16. Jahrhundert – sehr wohl ein Bewußtsein für die Verschiedenheit der Medien und damit die Möglichkeit ihrer gegenseitigen unterstützenden Kombination zu einer besonders eindrücklichen Kommunikationsform gegeben zu haben.1043 Erhärten läßt sich diese Behauptung des weiteren durch den Nachweis, daß Text und Bild nicht nur aufeinander bezogen werden, sondern auch in der Verwirklichung der Intention der Totentänze stets zusammenarbeiten, wie im folgenden demonstriert werden soll.
4.3. Text und Bild und ihre spezifischen Aufgaben in den Totentänzen Wie bereits im theoretischen Teil zu Beginn der Arbeit ausführlich behandelt wurde, haben Text und Bild jeweils ihr eigenes, medienspezifisches Ausdruckspotential, das vom Rezipienten auch entsprechend aufgenommen werden kann. Soll die These von der integralen Zusammengehörigkeit von Text und Bild aufrechterhalten werden, muß nachgewiesen werden, daß beide Medien mit diesem Potential jeweils die ihnen gerecht werdenden Aufgaben innerhalb des „Gesamtkunstwerks“1044 Totentanz erfüllen und sich damit ergänzen. Das Konzept der 1042 Dirscherl, Elemente, S. 17. 1043 Für die Existenz eines solchen Bewußtseins der Spezifika der verschiedenen Medien sprechen allein schon die – erheblich früheren – Bemerkungen Gregors des Großen zu diesem Thema; vgl. Abschnitt 2.2.2. „Bildlektüre – Lesen von Bildern“. 1044 Hammerstein bemerkt kritisch, daß aufgrund unterschiedlicher Text- und Bildtraditionen der Begriff „Gesamtkunstwerk“ nicht angemessen sei: „Aber auch bei der Simultaneität von Bild
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„Aufgabenteilung“ schließt dabei auch nicht aus, daß einige Aspekte sowohl vom Text als auch vom Bild realisiert werden können; was die beiden Medien ausdrücken, ist sowohl komplementär als auch in einigen Fällen deckungsgleich – keinesfalls gleichbedeutend mit Redundanz –, ebenso wie es in anderen Fällen zu Widersprüchlichkeiten kommen kann, wie anhand der Tanzmotivik demonstriert wurde. Spezifische Aufgaben von Text und Bild
Die Texte der Totentänze sind zumeist sehr am Muster der aus der Predigt bekannten Didaxe orientiert, sie werden damit selbst zur Predigt und offenbaren sich auch deutlich als solche, wie etwa aus Formulierungen wie Vñ lieven kynder ik wil ju raden des Lübecker Totentanzes von 1463 (V. 9)1045 ersehen werden kann, oder aus den mahnenden Worten Hirumme latet jw dyt vor ogen staen,/ Wente in korter tyd möthe gy dar an im Druck Dodendantz (V. 13f.). In die gleiche Kategorie gehört die Aufforderung Merckent vnd gedenkent yr mentschen gemeyn aus dem Knoblochtzer-Druck (Epilog) oder die Eröffnung des oberdeutschen vierzeiligen Totentanz-Textes: O diser welt weisheit kind,/ Alle die noch in lebene sint,/ Setzt in euer herz zwei wort,/ Die von Cristo sind gehort (Der erst prediger). Diese predigthaften Stellen beinhalten, wie an den genannten Beispielen gut zu erkennen ist, oft die Kombination eines kollektiven Imperativs (mit der Anrede „Ihr“ o.ä.) mit einem sprechenden Individuum, das zuweilen als „ich“ gekennzeichnet sein kann und oft auf einen Prediger zu beziehen ist. Manchmal sind diese Worte aber auch dem Tod zugeordnet, der dann die Stelle des Predigers quasi übernimmt. Des weiteren findet man eine überaus häufige Verwendung des liturgischen „wir“, wie etwa an folgender Stelle aus dem Beschluß des Druckes Dodendantz abzulesen ist: O Criste, dorch dynen doth sy wy vorlost,/ Weß du jo unse ewyghe trost! Amen (V. 423f.). Auch z.B. der Kienzheimer Totentanz enthält eine längere Prologstrophe, in der ausgiebig von dem Pronomen „wir“ Gebrauch gemacht wird, schließend mit einer Anrufung an Maria: O Maria, jn dem hchsten thron/ An vnserem end wllest vns by stohn [...]. Ebenso macht der Knoblochtzer-Text in der abschließenden Passage ausführlich vom Pronomen der ersten Person Plural Gebrauch (z.B. Wyr mßent allesampt in dye erde gar), während der Epilog des oberdeutschen Textes stärker appellativ arbeitet und die Anrede „ihr“ verwendet (Dar umb solt ir von sünden lan [Der prediger hier herund Text handelt es sich keineswegs immer um ein bruchloses Ineinander oder gar um ein durchintegriertes ‚Gesamtkunstwerk’“ (Hammer- stein, Tanz und Musik, S. 21). Da aber Bild und Text, wie vielfach gezeigt wurde, keineswegs zufällig und unverbunden nebeneinander stehen, sondern in jedem Falle ein Miteinander bilden – ganz gleich, ob sie von ihren Ursprüngen her aufeinanderzu komponiert wurden oder nicht, sie sind ja zu irgendeinem Zeitpunkt mit einer bestimmten künstlerischen und didaktischen Zielsetzung einander zugeordnet worden – halte ich die Verwendung dieser Begrifflichkeit hier für gerechtfertigt. 1045 Freytag meint zur Stelle: „Außer an die Gemeinde scheint sich die Strophe in ihrem zweiten Teil (9-12) auch an Geistliche zu richten, wie die biblische Metaphorik der scapeken ‚Schäfchen’ nahelegt [...]. lieuen kynder (9) als die Anrede an diese Gruppe entspricht zwar durchaus der des Predigers an die Gemeinde und u.a. auch der an geistliche Frauen, der nähere Kontext aber legt es gerade aufgrund seiner topischen Metaphorik nahe, hier an Seelsorger als die Angesprochenen zu denken“ (Freytag, Totentanz 1463, S. 134f.).
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nach]). Die Verwendung der Pronomina „wir“ und „ihr“ gemeindet den Rezipienten des Totentanzes in die Teilnehmenden desselben ein, sie konstituiert eine aktive praktische Teilhabe, die mit dem betrachtenden Abschreiten des gemalten Reigens im wahrsten Sinne des Wortes „einhergeht“.1046 Die Predigt konkretisiert sich also im Wort und wird unter anderem durch Formulierungen wie die genannten als solche erkennbar – dies leistet folglich die Textseite. Diese wird aber hierin durch das Bild unterstützt, denn in nicht wenigen Totentänzen findet sich am Beginn, manchmal auch am Abschluß, eine Predigerfigur,1047 wie in Berlin und Reval. Vielleicht hat auch das Lübecker Gemälde einmal eine solche Figur enthalten, die der ersten Strophe zugeordnet war; ein Prediger stand auch am Beginn des Basler und des Kienzheimer Totentanzes; ebenso gibt es in den beiden oberdeutschen Blockbüchern Predigerfiguren, genauso wie auch im Berner Totentanz (allerdings am Ende, möglicherweise später hinzugefügt). Ergebnisse
Diese Totentanz-Predigt hat gegenüber einer tatsächlich im Kirchenraum stattfindenden, von einem Geistlichen vollzogenen Paränese zudem den Vorteil, daß sie nicht nur das Ohr, sondern auch das Auge anspricht; muß der Prediger auf möglichst anschauliche Sprache, vielleicht auf Metaphern, Allegorien und Vergleiche, zurückgreifen, um seinem Publikum die Inhalte möglichst lebendig vor das innere Auge zu stellen, so hat der Totentanz dies nicht nötig, denn er ist selbst bildgewordene Metapher1048 des Sterbens. Im Dienste der Eindrücklichkeit arbeiten die Bilder dabei zuweilen mit ausgeprägter Drastik, wie etwa das Lübecker Gemälde von 1463 oder der Berner Totentanz, die die Todesfiguren in den abnormsten, verrenkten Posen zeigen und zuweilen den Eindruck erwecken, die skelettierten Köpfe der Todesfiguren würden die Menschen auf groteske Weise „auslachen“; dies kommt natürlich durch die Form der Kiefer zustande, die eine – eigentlich 1046 Nusser spricht im Zusammenhang mit mündlicher Literatur über die Bedeutung des Pronomens ‚wir’. Seine Ausführungen lassen sich jedoch auf den vorliegenden Zusammenhang übertragen, denn auch hier handelt es sich gewissermaßen um einen „Appell des Erzählers an das Publikum, das ‚wir’, das beide in der Kommunikationssituation zusammenschließt“ (Peter Nusser: Deutsche Literatur im Mittelalter: Lebensformen, Wertvorstellungen und literarische Entwicklungen [Kröners Ta- schenausgabe 480]. Stuttgart 1992, S. 293). 1047 In der Danse macabre steht stattdessen an Beginn und Anfang die Figur l’acteur (hier wohl mit ‚Autor’ zu übersetzen). 1048 Den Totentanz insgesamt als eine Metapher zu beschreiben, mag strittig erscheinen; hier wurde diese Bezeichnung vorrangig gewählt, um deutlich zu machen, daß das Bild des Totentanzes in seinem Verwendungskontext leistet, was rhetorische Bildlichkeit in einer Predigt hervorzurufen vermag, nämlich die Veranschaulichung des abstrakten Inhalts. So könnte man sagen, der Tanz sei eine Metapher, die den abstrakten Sterbevorgang bezeichnen soll; „mit dem Tod tanzen“ wäre also gleich- bedeutend mit „sterben“. Unter genauer Beachtung der schon seit der Antike über aus umfangreichen Metaphern-Theorie wäre dieses Konzept möglicherweise nicht zu halten; es soll hier auch lediglich zur Illustration dienen und erhebt keinen Anspruch auf terminologische Exaktheit. In der Forschungsliteratur finden sich vereinzelt Beispiele für die Bezeichnung des Totentanzes als Metapher (vgl. z.B. Ehrmann-Herfort, Sp. 689: „Im Rahmen der Rezeption wird der Totentanz im 19. und 20. Jh. [...] zu einer nach allen Seiten offenen poetischen Metapher [...]“).
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nicht mögliche – Mimik suggerieren. Das Berliner Gemälde dagegen z.B. ist eher statisch, schablonenartig; auch ist hier die tänzerische Dynamik stark zurückgenommen. Der Schwerpunkt liegt nicht auf drastischer Darstellung, sondern auf der Zeichenhaftigkeit; die visuelle Aussage verläßt sich allein auf das Auftreten des Todes und seine „Abholung“ der Menschen, ohne dies durch groteske Details optisch zu verschärfen. In den Buchtotentänzen (z.B. Des dodes dantz, Dodendantz, Botes ProsaTotentanz, Knoblochtzer, Kasseler Handschrift, Zimmern, Blockbücher) wird ebenso auf einen Großteil der abschreckenden Wirkung notwendigerweise verzichtet, da die Figuren – wenngleich im Detail mitunter durchaus furchterregend gestaltet – nicht mehr lebensgroß-monumental auf den Betrachter herabschauen können, sondern auf das Kleinformat des Buchs zugeschnitten sein müssen. Was dem Bildmaterial fehlt, wird daher manchmal von den um so ausgeweiteteren Texten ausgeglichen; die Gelegenheit, das predigthafte Moment erheblich auszudehnen, wird zuweilen derart ausgenutzt, daß die Totentänze zu regelrechten Erbauungstraktaten avancieren. Demgemäß ist dort die heilsgeschichtliche Fundierung (z.B. in den Prologen und Schlußabschnitten von Des dodes dantz und Dodendantz) stärker ausgeprägt; am stärksten ist dies bei Bote der Fall, wo der Totentanz in die Zeitschiene der Weltchronik integriert wird. Nicht immer muß in einem Buchtotentanz jedoch die Textseite gegenüber dem Bild in der Vordergrund rücken; Gegenbeispiele sind etwa das Heidelberger und das Münchner Blockbuch, in denen Bild und Text etwa gleich prominent vertreten sind. Eine Ausnahme unter den nicht-monumentalen Totentänzen bildet der dänische Totentanz. Er liegt zwar als gedruckter Buchtotentanz vor, doch ursprünglich als Schauspiel konzipiert, bietet er natürlich ganz andere, um ein Vielfaches eindrucksvollere Möglichkeiten des direkten Vor-Augen-Stellens, zumal unter unmittelbarer Einbeziehung des Publikums, das umso stärker das schreckenerregende Agieren des Todes direkt und „von Angesicht zu Angesicht“, eventuell auch am eigenen Leibe, zu erleben vermag. Spezifische Aufgaben von Text und Bild
Gründet sich das in den monumentalen Totentänzen ausgedrückte Grauen zu einem guten Teil auf die Form des Tanzes, die in sich Pervertierung, Zwanghaftigkeit und zugleich auf seltsame Weise ästhetisch-morbide Faszination vereint, so kann die Tanzmotivik in denjenigen Buchtotentänzen, in denen sie zurückgenommen ist, nur noch das Moment des Widerwillens der Sterbenden ausdrücken und wird vielleicht auch vor allem deshalb trotz der verminderten Text-BildKorrespondenz in diesem Punkt beibehalten. An den verschiedenen Beispielen ist jedoch deutlich geworden, daß der Ausdrucksreichtum der Bilder durchaus auch in der Buchform erhalten bleiben kann; man betrachte die Kasseler Handschrift mit den überaus grotesken Todesgestalten. Die Haltung der Menschen zu ihrem imminenten Sterbenmüssen kann jedoch nicht nur durch ihre Gestik und Körperhaltung ausgedrückt werden, mittels derer sie sich dem Tanz zu entziehen versuchen oder sich auch resignativ einfügen und dem fordernden Tod ergeben die Hand reichen (wie dies z.B. in Berlin zu beob-
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achten ist, z.T. ebenso im Klingentaler Totentanz), sondern Widerwillen, Angst oder auch Gelassenheit können vor allem auch im Text konkretisiert werden, der dadurch das Bild zu stützen vermag. Dies gilt für beinahe alle untersuchten Totentänze, denn die innere Einstellung der Menschen wird zumeist in deren Strophen beschrieben; der einzige Totentanz, für den dies nicht zutrifft, ist Botes Prosafassung: Dort sind nur die Anreden des Todes vorhanden, die Menschen aber kommen nicht zu Wort. Zumeist wird der Text zusätzlich auch dazu verwendet, den vormaligen Lebenswandel der Ständevertreter zu beschreiben; entweder sie berichten selbst darüber, was sie für ein Leben geführt haben, oder der Tod übernimmt dies, indem er entweder gute Taten lobt oder, was häufiger der Fall ist, Vergehen geißelt. In der Inkunabel von 1489 mit ihrem langen Text werden diese Berichte zu regelrechten kleinen „Biographien“ ausgeweitet. Während es also dem Text obliegt, den Menschen entweder als unbußfertigen Sünder oder als auf das Sterben Vorbereiteten zu beschreiben, kann das Bild diese Charakterisierung punktuell unterstützen, wie es beispielsweise im Berliner Totentanz und in der Lübecker Kirchenmalerei geschieht, wo etwa der Jüngling durch seine modische Kleidung als Lebemann gekennzeichnet ist; auch der Berner Totentanz verfügt durch seinen malerischen Detailreichtum über zusätzliche Aussageebenen. Illustrationen wie die Darstellung der Edelfrau im Basler Totentanz, die in einen Spiegel schaut, können auch implizite Negativ-Urteile nahelegen. Ergebnisse
Dabei ist stets zu beachten, daß die Personen-Schilderungen, so ausführlich sie sein mögen, in keinem Fall als individuell zu verstehen sind. Es handelt sich ausnahmslos um exemplarische Züge, was das Identifikationsangebot an den Rezipienten aufrechterhalten soll, der sich im Dargestellten wiederfinden muß, und zwar im Sinne des programmatischen „Spiegels“, der etwa im Lübecker Totentanz von 1463 (Seet hyr dat spegel, V. 2) oder in der Inkunabel von 1489 (So merke he ut sines herten grunde/ Den speigel des dodes, de hir navolgende is; V. 88f.)1049 erwähnt wird, und der auch in Totentänzen ausländischer Überlieferungsgruppen eine markante Rolle spielt.1050 Die Spiegel-Metapher1051 wurde
1049 Speigel des dodes wurde sogar als Titel der Inkunabel angesehen, so von Rosenfeld: „Der richtigere Titel ist ‚Spiegel des Todes’, denn es handelt sich gar nicht um einen Totentanz, sondern um ein Andachtsbuch“ (Rosenfeld, Totentanz, S. 216). Der Titel sei „natürlich ein Spekulieren auf die Beliebtheit der Totentänze beim Lesepublikum“ (ebd., S. 217). Irmgard Jaeger betitelt ihre Untersuchung programmatisch nach dieser Metapher. 1050 So heißt es am Beginn der Danse macabre: En ce miroer chascun peut lire/ Qui le conuient ainsi danser./ Saige est celuy qui bien si mire (V. 9-11); nach der Übersetzung Kaisers: „In diesem Spiegel kann ein jeder lesen, daß er auf diese Weise tanzen muß. Weise ist, wer sich darin gut anschaut“ (Kaiser, S. 75). In der Tat scheint diese Anfangsstrophe der Danse macabre das Vorbild für den Beginn des Lübecker Totentanzes abgegeben zu haben, denn die jeweils ersten Verse ähneln sich auffallend: O creature roysonnable [...] vs. Och redelike creatuer; vgl. hierzu Freytag, Totentanz 1463, S. 134-136.
Spezifische Aufgaben von Text und Bild
323
offenbar als so eindrücklich empfunden, daß sie auch von Schlott wieder verwendet wurde, der der Druckausgabe seines neuen Totentanz-Textes den Untertitel „Sterbens=Spiegel“ gab; und auch schon in der Basel-Ausgabe von Merian war die Rede von einem „Spiegel Menschlicher Beschaffenheit“ gewesen. Daß alles im Totentanz Gesagte in seiner Exemplarizität ausnahmslos für alle gilt, betont besonders die Inkunabel von 1489, die z.B. den Mönch keinem bestimmten Orden zuweist, sondern eine Reihe verschiedener Mönchsorden aufzählt, ebenso wie eine lange Reihe von Berufen und Mädchennamen bei Handwerker und Jungfrau genannt werden. Ähnliche Fälle sind der Handwerker im Berner Totentanz, der für eine ganze Reihe von Gewerben steht und deshalb mit verschiedenen Werkzeugen abgebildet ist, oder auch der böse Mönch im mittelrheinischen Totentanz, den der Tod nit zu nennen weiß, weil er in Bezug auf die unterschiedlichen Ordenstrachten eynen vor dem ander nyt erkennen kann. In dieselbe Richtung gehen die am Ende von manchen Totentanz-Strophen auftauchenden Beteuerungen, das Gesagte gelte nur für diejenigen, die sich eines Vergehens schuldig gemacht hätten. Solche Formulierungen gehören zu denjenigen Techniken, die gewährleisten sollen, daß der Totentanz sowohl die Mahnung vor ewiger Verdammung als auch den Trost der Erlösungsverheißung umfaßt. Auf verschiedenen Wegen versuchen Text und Bild der Totentänze, diese beiden Richtungen offenzuhalten und zu gewährleisten, daß nicht nur mahnende Paränese die Höllenstrafe vor Augen hält, sondern auch die positive Aussicht, nach einem gottgefälligen Leben die Gnade zu erlangen, dem Totentanz entnommen werden kann. Spezifische Aufgaben von Text und Bild
Bis auf wenige Ausnahmen (wie der Berliner Totentanz) führen die bildlichen Reigentänze der untersuchten Totentänze nach links; dies assoziiert das Geschehen aufgrund der schon biblischen Stigmatisierung der linken Seite mit teuflischen oder höllischen Aspekten und weist damit auf die mögliche Verdammung hin; ergänzt wird dies durch weitere der Teufelssphäre angehörende Momente, wie etwa teuflische Instrumente – hier ist der mehrfach vorkommende Dudelsack zu nennen –, monsterhafte Kreaturen, wie etwa die Berliner Mißgestalten unter der Kanzel, sowie überhaupt die allgemeine Pervertiertheit und groteske Gestaltung des Totentanzes an sich.1052 Die entgegengesetzte Vorstellung, nämlich die Erlösungshoffnung, wird durch entsprechende textliche Hinweise präsent gehalten, wenn etwa zu Beginn des Lübecker Totentanzes von 1463 gesagt wird: Hebbe wi den vele gudes ghedaen/ So moghe wi wesen myt gode een (V. 6f.). Solche Aussagen finden sich in der Tat in den meisten der untersuchten Totentänze, vgl. den Druck Dodendantz, in dessen Schlußstrophe erklärt wird Wol sterven is so groten kunst,/ Dar mede men 1051 In eine ähnliche Richtung zielt die Theater-Metapher, die z.B. Valvasor mit seinem Titel Theatrum mortis humanae tripartitum verwendet. 1052 Der einzige Totentanz innerhalb des untersuchten Korpus, in dem tatsächlich explizit ein Teufel vorkommt, ist der Kienzheimer Totentanz; die Bildbeschreibung spricht von einem Teufel, der zwei Nonnen die Fliegen mit einem Wedel verscheucht. Teufelsähnliche Figuren bzw. Dämonen irgendeiner Art sind auch auf den Holzschnitten von Holbein zu sehen.
Ergebnisse
324
kumpt in Godes gunst (V. 421f.); oder auch bei Hermann Bote, der den einzelnen Ständevertretern die Perspektive vor Augen hält, wenn sie ihr Leben richtig und gut verbracht hätten, bräuchten sie keine Furcht vor dem Gericht Gottes zu haben: hestu de nicht vvnnuttliken vortert myt quaserie, vvnkuscheyt, O so magstu den richter so froliken anseyn vvnd(e) myt fraude(n) to om(m) gan (Tod zum Kanoniker, Z. 255-258). Der oberdeutsche vierzeilige Totentanz-Text weist im Epilog darauf hin, daß der himel wird den frumen,/ In das feur die bösen kumen (Der prediger hie hernach). Auch der Knoblochtzer-Druck spricht im letzten Vers die Hoffnung aus, das yß komme vnßeren selen tzu frommen, ähnlich wie der Prediger zum Abschluß des Berner Totentanzes spricht: Gott helff uns in des Himmels thron (Str. 92). Besonders präsent ist die Erlösungshoffnung sowohl im Bild als auch im Text allerdings im Berliner Totentanz, und zwar durch das Vorhandensein des Kreuzigungsbildes in der Mitte. Es gibt auf diese Weise einerseits bildtechnisch das kompositorische Zentrum ab und ist gleichzeitig die Sinnmitte des Totentanzes, indem dadurch auf das stellvertretende Sterben Jesu verwiesen wird, wodurch er den Tod überwunden und den Menschen die Erlangung der Gnade erst ermöglicht hat.1053 Abschließend läßt sich festhalten, daß keine Entscheidung über die relative Wichtigkeit im Verhältnis der beiden Medien zueinander getroffen werden kann, wie anfangs bereits angedeutet wurde; es läßt sich von keiner der Komponenten Bild und Text behaupten, daß sie wichtiger als die andere wäre oder mehr zur Verwirklichung des Ausdruckspotentials des Genres ‚Totentanz’ beitrüge. Text und Bild sind im Totentanz untrennbar verflochten und gehören zusammen; durch ihre Kombination wird überhaupt erst das Genre in seiner typischen Form konstituiert.1054 Ergebnisse
1053 Man könnte im Berliner Totentanz von dem Paradoxon der gleichzeitigen Präsenz einerseits des Todes und andererseits der Todesüberwindung (durch Christus) sprechen. Eine vergleichbare Darstellung findet sich im Totentanz von Pinzolo (Italien); dort verschießt der Tod mit einem Bogen seine Pfeile und trifft damit auch den gekreuzigten Christus, der ebenfalls abgebildet ist. Obwohl also Christus den Tod überwunden hat, wird er auf diesem Bild zur Zielscheibe der Todespfeile – ein ähnliches Paradoxon. 1054 So gilt auch für Totentänze uneingeschränkt, was Ott allgemein zur Verbindung von Bild und Text im Mittelalter bemerkt: „Im Zusammenwirken beider Medien wurde im Mittelalter Welt erkannt, beschrieben und interpretiert; erst als im Verschriftlichungsprozeß das Textmedium die alleinige Deutungshoheit übernahm, ist dieses bi-, ja multimediale Denk-, Darstellungsund Wissensvermittlungs-Modell verschüttet worden, das mit seiner Möglichkeit zur mehrdimensionalen Verknüpfung und in seiner nicht-linearen Struktur vieles vorweggenommen hat, was als alleinige Errungenschaft der elektronischen Medienkultur der Gegenwart gilt“ (Ott, Text und Bild, S. 76).
5. SCHLUSSBEMERKUNG Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wurden mehr als zwanzig spätmittelalterliche Totentänze untersucht, die sich in die Überlieferungsstränge ‚niederdeutsch’, ‚mitteldeutsch’ und ‚oberdeutsch’ einteilen lassen. Leitend war dabei die Fragestellung nach dem Zusammenhang zwischen Text und Bild, den spezifischen Beziehungen zwischen den beiden Medien und ihren jeweiligen Aufgaben bei der Umsetzung der Intention der Totentänze: ihrem memento mori der mahnenden predigthaften Belehrung, aber auch ihres Trostspendens und ihrer Vermittlung der Erlösungshoffnung. Hierfür wurde die Einzeluntersuchung der Totentänze vor einem theoretischen Hintergrund durchgeführt, der semiotische Grundlagen der Text-BildKommunikation beinhaltet und diese in Bezug auf den spezifischen Gegenstand nochmals präzisiert. Die Ausgangsüberlegung – nämlich daß Text und Bild in den spätmittelalterlichen deutschsprachigen Totentänzen untrennbar zusammengehören und auch so behandelt werden müssen, anstatt sie separat zu untersuchen, wie es oftmals praktiziert wurde – konnte durch die vorgenommenen Untersuchungen eindeutig erhärtet werden. In der Aufgliederung der einzelnen Aufgaben, die Text und Bild im Gefüge des Totentanzes erfüllen, sowie in der Art, wie sie sich aufeinander beziehen und zusammenwirken, wird deutlich, daß Totentänze in der Tat ein Text-Bild-Kunstwerk sind, das seine Wirkung zu einem großen Teil dieser Bimedialität verdankt. Es ist zu vermuten, daß dieses Untersuchungsergebnis nicht nur eine auf den Bereich der deutschen Totentänze eingeschränkte Gültigkeit besitzt, sondern daß vielmehr für einen Großteil aller spätmittelalterlichen Totentänze zumindest ähnliche Ergebnisse gefunden werden könnten; durch entsprechende Nachforschungen in der gesamteuropäischen Überlieferung, die hier nur marginal herangezogen wurde, wäre dies zu verifizieren. Des weiteren bleibt es auch ein Desiderat der Forschung, die reichhaltige frühneuzeitliche und moderne Totentanz-Überlieferung in solche Untersuchungen mit einzubeziehen, da bisher in der einschlägigen Fachliteratur vorwiegend die „Kernzeit“ der Totentänze, das Spätmittelalter, ausführlichen Betrachtungen unterzogen wurde. Trotz der sehr ausgedehnten und verzweigten Materialbasis, die eine solch breit angelegte Forschung zugrundelegen müßte, bleibt aber zu vermuten, daß deren Ergebnisse mit den hier aufgezeigten Tendenzen durchaus in Einklang stehen würden. Die einzelnen, in der vorliegenden Arbeit gelegentlich aus Gründen des Vergleichs unternommenen Seitenblicke auf neuzeitliche Totentänze sowie Text-und Bildzeugen des außerdeutschen Sprachraums erbrachten stets ähnliche Eindrücke wie die UntersuSchlußbemerkung
326
Schlußbemerkung
chung des eigenen Materials. Der inhaltliche und strukturelle Zusammenhalt des Genres ‚Totentanz’ scheint demzufolge auch über Sprach- und Ländergrenzen hinweg eine gewisse Konformität zu garantieren, die zu den jeweils eigenen, kulturspezifischen Variationen in einem aufschlußreichen Spannungsverhältnis steht. Schlußbemerkung
ANHANG
TABELLEN UND ÜBERSICHTEN ZU DEN UNTERSUCHTEN TOTENTÄNZEN
1. Der Kienzheimer Totentanz im Vergleich zur ober- und mitteldeutschen Überlieferung
Zeichenerklärung: diese Figur ist auch in Klingental oder Basel vorhanden ∇ diese Figur ist auch im Knoblochtzer-Druck vorhanden
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
Kienzheim Prediger Beinhausmusik ∇ Papst ∇ Kaiser ∇ Kardinal ∇ Kaiserin König ∇ Bischof ∇ Herzog ∇ Graf ∇ Abt ∇ Ritter (?)1055 ∇ Pfarrer ∇ Arzt ∇ Barfüßer-Mönch (∇) Schultheiß Ratsherr1056 Stadtschreiber ∇ Bürgerin ∇ Walbruder Wucherer ∇ Handwerker ∇ Bauer Landsknecht Jüngling ∇ Jungfrau ∇ Kind ∇
Klingental/ Basel (B) Prediger (nur Basel) Beinhausmusik Papst Kaiser Kaiserin König Kardinal (B: Königin) Patriarch (B: Kardinal) Erzbischof (B: Bischof) Herzog Bischof (B: Herzogin) Graf Abt Ritter Jurist Fürsprech (B: Ratsherr) Chorherr Arzt Edelmann Edelfrau Kaufmann Äbtissin Krüppel/ Bettler Waldbruder Jüngling Wucherer Jungfrau
1055 ‚Ein Strybar oder gantz kyrysserer mann’, ein Kürassier. 1056 ‚Shtetmeyster vnd rohtzher’.
Tabellenanhang
Oberdt. vierz. TT Prediger Papst Kaiser Kaiserin König Kardinal Patriarch Erzbischof Herzog Bischof Graf Abt Ritter Jurist Chorherr Arzt Edelmann Edelfrau Kaufmann Klosterfrau Bettler Koch Bauer Kind Mutter (Prediger)
330
26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Tabellenanhang
Kienzheim Drei Tote Narr Bote mit vielen Ständen ∇
Klingental/ Basel (B) Kirbepfeifer Herold Schultheiß Blutvogt Narr Begine (B: Krämer) Blinder Jude Türke (B: Heide) Heidin Koch Bauer Kind Mutter B: Maler Sündenfall
Oberdt. vierz. TT
Tabellenanhang
331
2. Synoptische Tabelle der Figurenreihenfolge in den Text- und Bildzeugen des mittelrheinischen Totentanzes
Knoblochtzer
Kassel
Totenkapelle Friedhof 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Papst Kardinal Bischof Offizial Domherr Pfarrer Kaplan Abt Arzt
Papst Kardinal Bischof Offizial Domherr Fehlt Pfarrer Abt Fehlt
Z -1057 ZZ3 Z4 Z-
10
Kaiser
Kaiser
Z 10
11 12 13
König Herzog Graf
König Fehlt Graf
Z 11
14 15 16
Ritter Junker Wappenträger
17 18 19 20
Räuber Wucherer Bürger Handwerker
21
Jüngling
Herzog Z 121061 Junker Z 15 Wappenträger Z 16 Räuber Z 17 Wucherer Z 18 Bürger Z 19 Handwerker Z 20 Jüngling Z 21
22
Kind
Kind
Z -1058 Z8
Z 13
Z 22
Zimmern
Kienzheim
Totenkapelle Friedhof
Prediger
Nordböhm. Totentanz Prolog (Gott)
Beinhausmusik Papst Kaiser Kardinal Kaiserin König Bischof Herzog Graf Abt
Prolog (Menschen) Papst Kardinal Bischof Domherr Pfarrer Abt Mönch1059 Arzt Kaiser
Ritter (?)1060
König
Pfarrer Arzt BarfüßerMöch Schultheiß Ratsherr1063 Stadtschreiber Bürgerin Walbruder Wucherer Handwerker
Herzog Graf Ritter
Bürger1065 Handwerker Wucherer Spieler
Bauer
Wirt
Landsknecht
Bauer
Papst Kardinal Bischof Domherr Offizial Pfarrer Kaplan Abt Guter Mönch Böser Mönch Bruder Nonne Doctor Arzt Kaiser König Herzog Graf Ritter Junker Wappenträger Bürgermeister
Edelmann1062 Richter1064 Schreiber
1057 Bei der Kasseler Handschrift werden (nach dem Muster Strucks) zusätzlich mit Z die Ziffern angegeben, die auf der Rückseite der Blätter eingetragen wurden. Z – bedeutet, daß die Ziffer fehlt. 1058 ‚Kaplan’ in ‚Pfarrer’ geändert. 1059 Entspricht dem „bösen Mönch“ des mittelrheinischen Totentanzes. 1060 ‚Ein Strybar oder gantz kyrysserer mann’, ein Kürassier. 1061 ‚Ritter’ in ‚Herzog’ geändert. 1062 Entspricht dem Junkher im mittelrheinischen Totentanz. 1063 ‚Shtetmeyster vnd rohtzher’. 1064 Entspricht dem Fürsprech im mittelrheinischen Totentanz. 1065 Entspricht dem Bürgermeister des mittelrheinischen Totentanzes.
Tabellenanhang
332
Knoblochtzer
Kassel
Zimmern
Kienzheim
23 24 25 26
Wirt Spieler Dieb Böser Mönch
Rather Fürsprech Schreiber Bürger
Jüngling Jungfrau Kind Drei Tote
27
Guter Mönch
Bürgerin
Narr
Ritterin (?)
28
Bruder
Wirt Z 23 Spieler Z 24 Dieb ZBöser Mönch Z 26 Guter Mönch Z 271066 Bruder Z 28
Nordböhm. Totentanz Kaiserin Königin Edelmann Gräfin
Kaufmann
Bote1067 mit vielen Ständen
Edelfrau
29 30 31 32
Doctor Bürgermeister Rather Fürsprech
Doctor Bürgerm. Rather Fürsprech
Jüngling Jungfrau Wirt Handwerker
33 34 35 36 37 38
Schreiber Nonne Bürgerin Jungfrau Kaufmann Alle Stände Beinhaus
Schreiber Z 33 Nonne Z 34 Jungfrau Z 36 Bürgerin Z 35 Kaufmann Z 371069 Alle Stände Z 38
1066 1067 1068 1069
Z 29 Z 30 Z 31 Z 32
Wucherer Räuber Spieler Dieb Kind Alle Stände Beinhaus
Zu den Figuren von „gutem Mönch“ und Bruder vgl. Anm. 555. ‚Bot vnd weybel’. Entspricht der Nonne des mittelrheinischen Totentanzes. 36 und 35 durchstrichen.
Bürgerin Handwerksfrau Bäuerin Klosterjungfrau1068 Epilog
Tabellenanhang
333
3. Modell des letzten Teils des Basler Totentanzes auf der Friedhofsmauer des Predigerklosters
1. um 1440
Bauer
Kind
( S ü n d e n f a l l ?)
(P r e d i g e r ?)
2. nach Kluber (1568)
Bauer
Kind
Frau des Malers
Maler
Türke oder Sündenfall?
3. nach Bock (1616) (Æ vgl. MAURER)
Bauer
?
Frau des Malers
Maler
Sündenfall ?
4. 18. Jh. (Æ vgl. BÜCHEL)
Bauer
Reihenfolge bei Merian
Bauer Sündenfall
Sündenfall oder Türke?
S ü n d e n f a l l ?
(Kindsverse)
Frau des Malers Å Æ Maler (1621 umgekehrt)
Feyerabend (vermutlich falsch rekonstruiert!)
Bauer
Sündenfall (breit)
Maler
Malerin
Bild der Predigerkirche (frei hinzugefügt)
- in den ersten vier Zeilen stehen untereinander befindliche Felder für den jeweils selben Ort an der Mauer Hypothesen der Forschung: MAURER: BOCK ersetzte möglicherweise den Türken durch den Sündenfall – d.h. 1.) bei KLUBER gab es noch keinen Sündenfall, oder 2.) er wurde vorgezogen, oder 3.) der Türke befand sich noch hinter dem Sündenfall (siehe unten Nr. 2 und 3). Wenn der Sündenfall eine Schöpfung Bocks ist (also frühes 17. Jh.), wie erklären sich dann die Übereinstimmungen zwischen Bocks Sündenfall (Æ Merians Kupferstich) und einem Sündenfall-Holzschnitt bei Frölich (Ende 16. Jh.)? WUNDERLICH: Kind muß dort gestanden haben, wo sich auf den späteren Reproduktionen der breite Sündenfall befindet. Problem: Wunderlich geht von BÜCHELS Kopie aus, auf der der Maler und die Malerin nicht mehr zu sehen sind. Da aber MERIAN Maler und Malerin noch zeigt, gab es sie nach der Bockschen Renovation aber noch. Der Sündenfall wird aber kaum zwischen Bauer und den Malerfiguren gewesen sein, wie dies FEYERABEND zeigt. Die Verwicklungen kommen dadurch zustande, daß Wunderlich das Gemälde des 16. Jhs. mithilfe einer Kopie aus dem 18. Jh. rekonstruiert.
Tabellenanhang
334
4. Synoptische Tabelle zum Basler Totentanz, Klingentaler Totentanz und Oberdeutschen vierzeiligen Totentanz
Großbasel (GrB) Papst Kaiser Kaiserin König Kardinal Patriarch Erzbischof
Herzog Bischof Graf Abt Ritter Jurist
Chorpfaff Fürsprech Arzt Edelmann (Frölich: Kriegsmann) Edelfrau Kaufmann Äbtissin
Klingental (Kl)
Obd. vierz. Totentanz-Text fast gleich, Antwortstrophen ähnlich fast gleich letzte zwei Verse abweichend
neu Tod-Anrede neu fast wie in Kl, ein Wort neu ähnlich bis auf zwei Verse wie Kl gleich und Obd. vierz. n.v. gleich n.v. (auffällig: Erwähnung ähnlich von „Affen“ wie beim Bischof) Antwortstrophen neu gleich gleich Anredestrophe neu gleich Neu ähnlich, leichte Änderungen in den Reimen am Ende gleich Anredestrophe ist die urspr. leichte sprachliche Abweichungen Antwort des Juristen, neue Antwort relativ gleich zu Kl und Obd. gleich vierz. TT n.v. ohne Vorbild n.v. Anrede neu, Antwort wie in leichte Abweichungen Kl leichte Wortabweichungen neu auf das Spiegelmotiv zugeschnitten wie Kl Anrede neu, Antwort wie in Kl
Krüppel
ähnlich wie Kl, aber Reim Erd - wert
Waldbruder
neu
Jüngling
neu
leicht anderer Reim in den letzten beiden Versen tw. am Anfang anderer Reim Antwort wie in Nonne anstatt GrB, leichte AnÄbtissin klänge an die Nonne aus Obd. vierz. TT in den letzten zwei Versen Reim erden - eben ähnlich wie GrB und Kl, aber Abweichungen in der Wortwahl, Reim leben - eben abweichend von n.v. GrB abweichend von GrB
n.v.
Tabellenanhang
Wucherer Jungfrau Kirchweihpfeifer Herold Schultheiß Vogt Narr Begine Blinder Jude Heide Heidin Koch
Bauer Kind
Mutter
335
neu
abweichend von n.v. GrB neu abweichend von n.v. GrB neu, Änderung in Kaufabweichend von n.v. mann GrB neu abweichend von n.v. GrB neu abweichend von n.v. GrB neu abweichend von n.v. GrB leichte Abweichungen n.v. Änderung in Krämer abweichend von n.v. GrB Neu abweichend von n.v. GrB Neu abweichend von n.v. GrB Neu abweichend von n.v. GrB Neu abweichend von n.v. GrB neu, mit ganz leichten gleich Anklängen an den alten Text neu gleich bis auf die letzten zwei Verse Anrede gleich außer neuem Wort „Brust“ anstatt gegenüber GrB „tutten“, Antwort etwas verlängert und Kl leichte Abweichungen in einigen Wörtern verändert, aber Anklänge leichte Wortabweichungen, erster Vers an den alten Text anders ENDE weitere Figuren bzw. Szenen 1568 (und 1614/16?) hinzugefügt
Die Reihenfolge der Figuren folgt Klingental, somit fehlen die Figuren von Königin und Herzogin, bei denen es sich um Neuschöpfungen des 16. Jhs. handelt, durch die Patriarch und Erzbischof ersetzt wurden. n.v. = nicht vorhanden Diese Tabelle kann natürlich nur annäherungsweise und sehr grob die Übereinstimmungen und Divergenzen der drei Totentanz-Texte aufführen. Urteile wie „ähnlich“ sind notwendigerweise eine Frage der Auslegung und weisen daher einen gewissen Spielraum auf. Im Einzelfall können die Übereinstimmungen etwa an Maßmanns synoptischer Textausgabe der wichtigsten oberdeutschen Totentänze überprüft werden. Folgende Textquellen wurden für den Vergleich zugrundegelegt: Großbasel: nach Frölich Klingental: nach Maßmann Oberdeutscher vierzeiliger Totentanz-Text: nach Fehse
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Abkürzungen
347
DIE MUSIK IN GESCHICHTE UND GEGENWART. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begr. von Friedrich Blume. 2., neubearb. Aufl. hg. von Ludwig Finscher. Kassel u.a. 1994-2008. PAULYS REALENCYCLOPÄDIE DER CLASSISCHEN ALTERTUMSWISSENSCHAFT. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter neu hg. von Georg Wissowa, fortgef. von Wilhelm Kroll und Karl Mittelhaus. Stuttgart 1890-1997. REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Klaus Weimar, Harald Fricke und Jan-Dirk Müller. 3. Aufl. Berlin u.a. 1997-2003. Abkürzungen
ABKÜRZUNGEN AfdA
Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur
GAG
Göppinger Arbeiten zur Germanistik
GRM
Germanisch-Romanische Monatsschrift
LThK
Lexikon für Theologie und Kirche
LCI
Lexikon der christlichen Ikonographie
MGG
Die Musik in Geschichte und Gegenwart
NdJb
Jahrbuch des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung
NdKbl
Korrespondenzblatt des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung
PBB
Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur
RLW
Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft
VL
Verfasserlexikon
ZfdA
Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur
ZfdPh
Zeitschrift für deutsche Philologie
Abkürzungen
347
DIE MUSIK IN GESCHICHTE UND GEGENWART. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begr. von Friedrich Blume. 2., neubearb. Aufl. hg. von Ludwig Finscher. Kassel u.a. 1994-2008. PAULYS REALENCYCLOPÄDIE DER CLASSISCHEN ALTERTUMSWISSENSCHAFT. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter neu hg. von Georg Wissowa, fortgef. von Wilhelm Kroll und Karl Mittelhaus. Stuttgart 1890-1997. REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Klaus Weimar, Harald Fricke und Jan-Dirk Müller. 3. Aufl. Berlin u.a. 1997-2003. Abkürzungen
ABKÜRZUNGEN AfdA
Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur
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Die Musik in Geschichte und Gegenwart
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BIBELSTELLEN-REGISTER (in der Reihenfolge der biblischen Bücher) Altes Testament 2. Kön 1,4 296 2. Kön 9,24 295 Hiob 5,26 94 Ps 21,22 235 Ps 107,10 296 Sprüche 4,27 58 Sir 10,12 295 Sir 41,1 123 Weish 7,1 299 Jer 1,14 59 Jer 6,1 59 Amos 2,15 295
Neues Testament Mt 8,12 136 Mt 11,28 296 Mt 24,42-43 122 Mt 25,33 58 Mt 26,45 295 Lk 12,20 295 Lk 13,30 110 1. Thess 5,2 122 Eph 5,18 295 1. Pt 5,8 95 Apk 5,5 95 Apk 14,14-15 94
STICHWORTVERZEICHNIS
Adam und Eva siehe Sündenfall Allegorie 36, 95, 104, 108, 158, 223, 234, 272, 286, 287, 294 Analphabeten siehe litterati vs. illitterati Arme-Seelen-Glaube 52 Ars moriendi 50
272 Bettelorden 50, 87, 113 Bilderbogen 99, 113, 131, 150, 158, 166, 204, 212, 300 Bimedialität 12, 19, 76, 178, 312, 313, 324 Christus 95, 111, 115, 286
Beinhausmusik 50, 147, 181, 262,
Stichwortverzeichnis
Danse macabre 35, 47, 125, 130, 131, 132, 139, 142, 143, 145, 163, 169, 196, 200, 208, 213, 279, 282, 304, 306, 308 Danza general 70, 202, 305 Dialog 36, 38, 55, 89, 125, 165, 200, 216, 301, 315 Diesseits vs. Jenseits 39 Drama 36, 53, 136, 165, 198 Dürer 234, 235, 268 Engel 50 Erlösung 34, 115, 126, 250, 322, 324 STICHWORTVERZEICHNIS
Fegefeuer siehe Arme-SeelenGlaube Flugblatt 57 Gattungskriterien 11, 38, 120 Gregor der Große 29 Hamburger Totentanz 68, 113 Himmelsrichtungen 59 Hölle 34, 55, 58, 136, 138, 293, 322
349
Linksrichtung 24, 34, 55, 58, 89, 109, 127, 131, 143, 163, 212, 221, 222, 249, 254, 322 litterati vs. illitterati 29, 60 Maria 115, 318 Medien (Begriffsdefinition) 19 Memento mori 12, 13, 38, 51, 57, 111, 124, 303, 316, 324 Metapher 319 memoria 62, 315 Monolog 46, 123, 124, 199, 201, 210, 211, 212 Musikinstrumente 151, 155, 174, 180, 267, 297, 313, 315, 322 Paränese 37, 38, 39, 88, 91 Pest 95, 111, 227 Predigerfigur 40, 48, 59, 257, 314, 318 Performativität, Performanz 286 Reformation 66, 106, 128, 129, 228, 231, 233, 257, 268, 290, 304, 306
Kreuzigung 106, 109, 110, 111, 114, 115, 261
Sanduhr 79, 83, 181, 183, 287, 295 Schauspiel siehe Drama Skelett 114, 125 Ständevertreter 34 Stundenglas siehe Sanduhr Sünde 49, 87, 88, 93, 186 Sündenfall 226, 229, 234, 236, 250
Latein vs. Volkssprache 209 Legende der drei Lebenden und der drei Toten 47, 169, 278 Leserichtung 31, 34, 58, 101, 112, 305
Tanzmotiv 38, 39, 52, 75, 90, 91, 119, 121, 130, 138, 155, 163, 193, 212, 221, 266, 285, 301, 313, 315, 320 Teufel 50, 54, 55, 58, 94, 95, 138,
Intermedialität 16, 19 Jesus siehe auch Christus 55, 88
350
166, 181, 322 Tiersymbolik 234 Todesikonographie 94 Tod vs. Toter 49 Vado mori 45 Vanitas 79, 81, 250
Stichwortverzeichnis
Weltgerichtsdarstellungen 66 Zeigegesten 174, 187, 188, 286, 314 Zeitstruktur 33 'Zwiegespräch des Lebens mit dem Tode' 54, 99, 122
BENUTZUNGSHINWEIS ZU DER BEIGELEGTEN CD-ROM Einige wenige beispielhafte Abbildungen befinden sich im Tafelteil. Viele weitere Abbildungen zu den meisten der im Text erwähnten Totentänze sind auf der beigelegten CD-ROM versammelt. Benutzungshinweis zur CD-ROM
Die CD-ROM enthält Abbildungen zu den folgenden Totentänzen: Ordner 01, Lübecker Totentanz von 1463 Lübecker und Revaler Totentanz Ordner 02, Inkunabel Des dodes dantz, 1489 Ordner 03, Frühdruck Dodendantz, 1520 Ordner 04, Berliner Totentanz Ordner 05, Verschiedene mittelniederdeutsche Totentänze Hermann Botes Totentanz, Chytraeus-Totentanz, Dänischer Totentanz, Wismarer Totentanz, Westfälisches Fragment Ordner 06, Knoblochtzer-Druck Ordner 07, Kasseler Handschrift Ordner 08, Zimmernsche Handschrift Ordner 09, Blockbücher Heidelberger und Münchner Blockbuch Ordner 10, Basler Totentanz Unterordner Basler – Merians Kupferstiche Unterordner Basel Diverses (verschiedene Kopien des Basler Totentanzes) Unterordner Basel Originalfragmente (erhaltene Bruchstücke) Ordner 11, Berner Totentanz Ordner 12, Handschrift Gossembrot Ordner 13, Holbein Ordner 14, Diverse Totentanz-Abbildungen Unterordner Danse macabre Totentanz in der Schedelschen Weltchronik, Metnitzer Totentanz, Totentanzgemälde von Simon Marmion, Totentanz von Pinzolo Die Abbildungen in den einzelnen Ordnern sind numeriert und beschriftet. Die wichtigeren Totentänze werden vollständig mit allen Einzelbildern wiedergegeben; die einzelnen Bilddateien sind in diesen Fällen mit den jeweiligen Personenbezeichnungen versehen. Die CD-ROM enthält als Übersichtshilfe ein Textdokument im PDF-Format, das eine detaillierte Liste aller auf der CD versammelten Abbildungen bietet.
BILDNACHWEIS Die Abbildungen wurden entnommen aus (vgl. die vollständigen Titelangaben im Literaturverzeichnis; die Abbildungsbezeichnungen entsprechen den Dateinamen auf der CD-ROM bzw. den Bezeichungen des Tafelteils): Bildnachweis
Egger 1990: 04 Fragment Kaiser - 08 Fragment Bauer (Ordner 10, Unterordner Basel Originalfragmente), Feyerabend-Reproduktion]; 03_Basel Panorama nach Feyerabend (Ordner 10, Unterordner Basel Diverses) Egger 2000: 01_Basel - 02_Basel (Ordner 10, Unterordner Basel Diverses); Tafelteil: Abb. 9 Freytag, Totentanz 1463: Lübecker Totentanz 01 - 07 (Ordner 01), Revaler Totentanz (Ordner 01), 04_Chytraeus-Totentanz - Titelblatt (Ordner 05); Tafelteil: Abb. 1 + 2 Hammerstein, Tanz und Musik: Heidelberger Blockbuch 25 (Ordner 09), Münchner Blockbuch 01 - 04 (Ordner 09), Kassel 01 - 26 (Ordner 07), 13_Klingentaler Totentanz (Ordner 10, Unterordner Basel Diverses), Münchner Blockbuch 01 + 02 (Ordner 09), Kassel 01 - 26 (Ordner 07), 08_Westfälisches Fragment (Ordner 05), 07_Wismarer Totentanz (Ordner 05), 01_Totentanz in Hartmann Schedels Weltchronik (Ordner 14), 04_Basel, Bocks Federzeichnung (Ordner 10, Unterordner Basel Diverses), 05_Frz. Hs. Danse macabre des femmes [nach 1491] + 06_Frz. Hs. Danse macabre des femmes [nach 1491] + 07_Danse macabre Bilderbogen [um 1490] (Ordner 14, Unterordner Danse macabre), 04_Marmion, Kreuzgang mit Totentanz + 05_Totentanz von Pinzolo, Anfang (Ordner 14) Kaiser: Heidelberger Blockbuch 00 - 24 (Ordner 09), Basel 03 - 41 (Ordner 10, Unterordner Basel – Merians Kupferstiche), 01_Danse macabre - 03_Danse macabre (Ordner 14, Unterordner Danse macabre); Tafelteil: Abb. 7 + 8 Kiening, Totentanz Zimmern: Zimmern 01 - 41 (Ordner 08); Tafelteil: Abb. 6 Lemmer: Knoblochtzer 01 - 41 (Ordner 06); Tafelteil: Abb. 5 Maurer: 05_Basel - 08_Basel (Ordner 10, Unterordner Basel Diverses)
Bildnachweis
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Meyer: 05_Dänischer Totentanz + 06_Dänischer Totentanz (Ordner 5) Rosenfeld, Totentanz: 09_Westfälisches Fragment – Nachzeichnung von Rosenfeld (Ordner 05) Schramm: Münchner Blockbuch 03 + 04 (Ordner 9) Schulte, Totentänze: Des dodes dantz 01 - 09 (Ordner 02) Sodmann, Dodendantz: Dodendantz 01 - 16 (Ordner 03); Tafelteil: Abb. 3 Sörries, Katalog 02_Metnitz - 03_Metnitz (Ordner 14) Stolz: Gossembrot 01 - 10 (Ordner 12) Walther: Berlin 01 - 04 (Ordner 04) Worm: 01_Hermann Botes Totentanz, 02_Hermann Botes Totentanz, 03_Totenkopf – Detail aus Botes Weltchronik (Ordner 5); Tafelteil: Abb. 4 Wüthrich: Merian Titelkupfer 1649 (Ordner 10, Unterordner Basel – Merians Kupferstiche), Merian Titelkupfer Nachdruck 1695 (Ordner 10, Unterordner Basel – Merians Kupferstiche) Wunderlich, Ubique Holbein: 09_Basel - 12_Basel (Ordner 10, Unterordner Basel Diverses) Zinsli, Berner Totentanz: Bern 01 - 24 (Ordner 11); Tafelteil: Abb. 10 [ohne Autor]: Albrecht Dürer 1471-1528. Das gesamte graphische Werk. Druckgraphik: 14_Dürer, Adam und Eva (Ordner 10, Unterordner Basel Diverses) [ohne Autor]: Hans Holbein d. J. Totentanz Holbein 01 - 49 (Ordner 13)
1 Lübecker Totentanz von 1463 (Replik von 1701 von Anton Wortmann), Mittelteil: Domherr, Edelmann, Arzt und Wucherer vor dem Stadtportrait Lübecks.
2 Revaler Totentanz (Ende 15. Jh.), Anfang: Papst, Kaiser, Kaiserin.
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3 Frühdruck Dodendantz (1520): Kaiser und Kaiserin.
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4 Totentanz in der „Hannoverschen Reimchronik“ des Hermann Bote (Wende 15./ 16. Jh.): einzige illustrierte Seite mit einer Todesfigur.
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5 Knoblochtzer-Totentanz (um 1485): Tod und Domherr.
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6 Totentanz in der Handschrift des Grafen Wilhelm Werner von Zimmern (vermutlich vierziger Jahre des 16. Jhs.): Tod und Arzt.
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7 Heidelberger Blockbuch (zweite Hälfte 15. Jh.): Tod und Kardinal.
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8 Basler Totentanz nach den Kupferstichen von Matthäus Merian d. Ä. (1649): Tod und Edelfrau.
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9 Basler Totentanz nach der Kopie von Emanuel Büchel (1773), Anfang: Prediger und Beinhaus.
10 Berner Totentanz des Niklaus Manuel (zwischen 1515 und 1519): Patriarch und Bischof.
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