Fachtexte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit: Tradition und Perspektiven der Fachprosa- und Fachsprachenforschung 9783110353280, 9783110353136

This book offers insights into the methods of research on scientific language and scientific prose – the two basic resea

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German Pages 243 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa als Gegenstand historischer Pragmatik
Alte Fragen, neue Antworten? Digitale Perspektiven der Erforschung alter Fachprosa, mit besonderer Berücksichtigung sprachwissenschaftlicher Aspekte
Zum Korpus deutscher medizinischer Texten des 14.–16. Jahrhunderts aus böhmischen und mährischen Bibliotheken und Archiven
Einige Bemerkungen zum sog. Juden von Solms und den Handschriften seines Werkes
Ein Schlesisches Aderlassbüchlein des 15. Jahrhunderts. Untersuchungen zum funktionsbedingten Gestaltwandel des Vierundzwanzig-Paragraphen-Textes
Zu zwei medizinischen Texten aus dem Familienarchiv des Adelsgeschlechtes Thun und Hohenstein
Das ‚Leipziger Drogenkompendium‘ und der ‚Gart der Gesundheit‘ Ein Vergleich
«Mich dunkcht ez sein knöllell» Von den Mühen eines bayrischen Übersetzers mittelalterlicher Fachliteratur
Visiertraktate. Zwei Beispieltexte aus dem späten 14. und 15. Jahrhundert
Das Bergbüchlein des Ulrich Rülein von Calw – Vertextungsstrategien und Formulierungsmuster
Deutsche Rechtstexte als Quelle pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit 1.
«Nu horet unde vornemet»1 Deutsch-tschechischer Vergleich der Einleitungsformeln im ‚Sächsischen Weichbildrecht‘
Fachsprachliche Aspekte in der spätmittelalterlichen böhmischen Geschichtsschreibung
Namenregister
Autorenverzeichnis
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Fachtexte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit: Tradition und Perspektiven der Fachprosa- und Fachsprachenforschung
 9783110353280, 9783110353136

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Fachtexte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

Lingua Historica Germanica Studien und Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Band 7 Herausgegeben von Stephan Müller, Jörg Riecke, Claudia Wich-Reif und Arne Ziegler

Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte e.V.

Lenka Vaňková (Hg.)

Fachtexte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit Tradition und Perspektiven der Fachprosa- und Fachsprachenforschung

ISBN 978-3-11-035313-6 eISBN 978-3-11-035328-0 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Unternehmen von De Gruyter Druck und Bindung: CPI book GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

EINLEITUNG ..................................................................................................................... 7 MECHTHILD HABERMANN Mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa als Gegenstand der historischen Pragmatik ............................................................................................ 11 WOLF PETER KLEIN Alte Fragen, neue Antworten? Digitale Perspektiven der Erforschung alter Fachprosa, mit besonderer Berücksichtigung sprachwissenschaftlicher Aspekte ................................................................................. 31 LENKA VAŇKOVÁ Zum Korpus deutscher medizinischer Texte des 14.–16. Jahrhunderts aus böhmischen und mährischen Bibliotheken und Archiven ........................................................................................... 47 VÁCLAV BOK Einige Bemerkungen zum sog. Juden von Solms und den Handschriften seines Werkes .......................................................................... 65 GUNDOLF KEIL Ein Schlesisches Aderlassbüchlein des 15. Jahrhunderts. Untersuchungen zum funktionsbedingten Gestaltwandel des Vierundzwanzig-Paragraphen-Textes ............. 75 LENKA VODRÁŽKOVÁ Zu zwei medizinischen Texten aus dem Familienarchiv des Adelsgeschlechtes Thun und Hohenstein ............................................................. 119

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Inhalt

JOHANNES MAYER Das ‚Leipziger Drogenkompendium‘ und der‚Gart der Gesundheit‘. Ein Vergleich ............................................................. 133 MELITTA WEISS ADAMSON ‹mich dunkcht ez sein knöllell› Von den Mühen eines bayrischen Übersetzers mittelalterlicher Fachliteratur .................................................................. 143 KATHRIN CHLENCH Visiertraktate. Zwei Beispieltexte aus dem späten 14. und 15. Jahrhundert ............... 155 RAINER HÜNECKE Das Bergbüchlein des Ulrich Rülein von Calw. Vertextungsstrategien und Formulierungsmuster........................................................ 169 LIBUŠE SPÁČILOVÁ Deutsche Rechtstexte als Quelle pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit .................................................................... 187 INGE BILY ‹Nu horet unde vornemet alle› Deutsch-tschechischer Vergleich der Einleitungsformeln im ‚Sächsischen Weichbildrecht‘ .......................................... 207 VLASTIMIL BROM Fachsprachliche Aspekte in der spätmittelalterlichen böhmischen Geschichtsschreibung ............................................................................. 219 NAMENREGISTER ......................................................................................................... 239 AUTORENVERZEICHNIS ................................................................................................ 241

Einleitung

In der Vergangenheit haben sich bei der wissenschaftlichen Betrachtung historischer Fachtexte zwei Ansätze herauskristallisiert: Der eine – die Fachprosaforschung – datiert seit Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts und ist mit dem Namen von Gerhard Eis und denen seiner Nachfolger Gundolf Keil, Peter Assion, Bernhard Dietrich Haage u. a. verbunden. Der Schwerpunkt der Untersuchungen liegt vor allem auf der Erschließung der Handschriftenbestände (oft in Form einer Edition), auf der Erforschung der Überlieferungsgeschichte der einzelnen Texte und auf der Erläuterung des jeweiligen Fachwortschatzes.1 Die andere Betrachtungsweise historischer Fachtexte – die Fachsprachenforschung – entwickelt sich intensiv seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ihre Aufgabe besteht einerseits in der Erforschung der Systemmerkmale von Fachsprachen, wobei die Aufmerksamkeit zuerst auf die lexikalische Ebene, die Untersuchung von Fachwortschatz und Regeln der Terminologiebildung, später vor allem auf die grammatische Ebene gerichtet wurde. Andererseits wurde – im Einklang mit der pragmatischen Umorientierung in der Sprachwissenschaft – gleichzeitig die Aufgabe der Fachsprachenforschung darin gesehen, sowohl „den Stellenwert der Fachkommunikation unter den jeweiligen sozialen und kommunikativen Bedingungen einer bestimmten Zeit als auch vor allem den Einfluß der fachlichen Kommunikation auf die Entwicklung der deutschen Sprache insgesamt zu ermitteln“.2 Wie die Arbeiten der letzten Jahre zeigen, lässt sich zurzeit eine Annäherung beider Ansätze beobachten, d. h. die zunehmende Berücksichtigung von syntaktischen und 1 2

Zu traditionellen Fragen der Fachprosaforschung vgl. die Beiträge von Mechthild Habermann und Wolf Peter Klein in diesem Band. Vgl. Brigitte Döring (1989): Fachtexte als Gegenstand der Sprachgeschichte. In: Deutsche Sprache und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. Wissenschaftliche Beiträge der Friedrich-SchillerUniversität. Jena, 35–42.

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Lenka Vaňková

stilistischen Phänomenen von Fachprosawerken im Bereich der Fachprosaforschung auf der einen Seite, auf der anderen das wachsende Interesse der historischen Fachsprachenforschung, bei der Untersuchung der strukturellen Merkmale der Texte auch deren soziokulturellen Hintergrund zu berücksichtigen. Die intensive Beschäftigung mit Textzeugen kann seit den großen Erfolgen der überlieferungsgeschichtlichen Forschungen in zahlreichen Textbereichen heute gerade als integrativer Ansatz zur Vereinigung beider Richtungen angesehen werden. Deshalb ist es nahezu unmöglich, Fachsprachenund Fachprosaforschung immer genau voneinander zu trennen. Anfang Dezember 2011 trafen sich an der Universität Ostrava bedeutende Vertreter beider Forschungsrichtungen aus Deutschland, Kanada, Österreich, Tschechien, aus der Schweiz und aus der Slowakei, um im Rahmen der Konferenz ‚Fachtexte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit als Objekt der Fachsprachen- und Fachprosaforschung‘ über Möglichkeiten und weitere Perspektiven der Erforschung von spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen Fachtexten zu diskutieren. Die einzelnen Kapitel dieses Buches basieren auf den Vorträgen und Diskussionsbeiträgen dieses internationalen Treffens; sie präsentieren ein facettenreiches Spektrum, das die gegenwärtigen Forschungsaktivitäten widerspiegelt und sowohl die traditionellen Zugänge dokumentiert als auch neue Möglichkeiten skizziert, die sich dank der technischen Errungenschaften bei der Untersuchung von historischen Fachtexten anbieten. Schon die beiden ersten Kapitel zielen in diese Richtung. Mechthild Habermann plädiert für die Einbeziehung der historischen Pragmatik in die traditionell eher textphilologisch ausgerichtete Fachprosaforschung und demonstriert eindrucksvoll ihre Leistungsfähigkeit. Wolf Peter Klein stellt seine Ansätze zu einer „Datenbanklinguistik“ als Fortsetzung der Korpuslinguistik vor und zeigt am Beispiel der ‚Würzburger Datenbank zu deutschen Fachtexten vor 1700‘ ihre Anwendungsmöglichkeiten in der Forschung. Die folgenden Kapitel behandeln einzelne grundlegende Aspekte des weiten Feldes der Fachprosa- und Fachsprachenforschung. Sie beweisen, dass die Heuristik von Texten und Textzeugen immer noch ein zentrales Anliegen der Fachprosaforschung ist. Gerade die Überlieferungsgeschichte gibt uns auch wertvolle und datenbasierte Einblicke in die Gebrauchsfunktionen der Texte und der Textzeugen. Lenka Vaňková präsentiert die Ergebnisse des Projekts zur Zusammenstellung eines Katalogs von medizinischen Handschriften des 14.–16. Jahrhunderts, die in böhmischen und mährischen Archiven und Bibliotheken aufbewahrt werden. In den darauf folgenden Kapiteln werden konkrete Texte, die im Rahmen dieses Projekts untersucht wurden, behandelt: Václav Bok befasst sich mit dem Kompendium der medizinischen Schriften des sog. Juden von Solms; Gundolf Keil gibt einen umfassenden Überblick der mittelalterlichen Aderlasstexte und vor diesem Hintergrund schildert er das Zustandekommen der Schlesischen Version des ‚Vierundzwanzig-Paragraphen-Textes‘ aus der Nostitz-Bibliothek in Prag; Lenka Vodrážková behandelt zwei medizinische Texte aus dem Archiv der Adelsfamilie der Thun und Hohenstein in Leitmeritz. Den Bereich der

Einleitung

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medizinische Fachprosa schließt Johannes Gottfried Mayer ab, der sich mit den Quellen auseinandersetzt, die dem ‚Leipziger Drogenkompendium‘ und der ‚Gart der Gesundheit‘ zugrunde liegen. Melitta Adamson zeigt aufgrund der Analyse der Übersetzung eines spätmittelalterlichen mediterranen Kochbuches, wie der Übersetzer nach seinen Übersetzungsstrategien in verschiedenen Werken identifiziert werden kann. Kathrin Chlench führt uns mit ihrer Untersuchung von zwei Visiertraktaten aus dem späten 14. und 15. Jahrhundert in das Gebiet der praktischen Geometrie. Rainer Hünecke demonstriert, wie die syntaktische Struktur des sogenannten ‚Bergbüchleins‘ uns Hinweise auf dessen Adressaten geben kann. Dem Rechtsbereich sind zwei Kapitel gewidmet. Libuše Spáčilová beschäftigt sich im Rahmen der Untersuchunung von pragmatischen Aspekten mit der Wiedergabe von Mündlichkeit in zwei bedeutenden Rechtstexten – dem ‚Sachsenspiegel‘ und dem ‚Meißner Rechtsbuch‘. Inge Billy weist aufgrund eines deutsch-tschechischen Vergleichs auf strukturelle und inhaltliche Unterschiede in den Einleitungsformeln in Rechtstexten hin. Im letzten Kapitel führt Vlastimil Brom aus, dass auch in historiographischen Werken, die zwar nicht primär zu Fachprosa gerechnet werden, fachsprachliche Merkmale, besonders auf der lexikalisch-semantischen Ebene, zu beobachten sind. Auf der Ostrauer Tagung hielt auch Professor Hans Wellmann ein Referat über die Fuggerzeitungen des 16. Jahrhunderts. Wir ahnten damals nicht, dass wir das letzte Mal die Möglichkeit hatten, seinen höchst professionellen und informativen Vortrag zu hören, aus seinen zahlreichen Diskussionsbeiträgen Anregungen zu gewinnen sowie interessante Gespräche zu führen. Drei Monate danach hat uns Professor Wellmann verlassen. Er schaffte es leider nicht, seinen Beitrag zum Druck abzugeben. Dieser Band sei daher als Erinnerung diesem hervorragenden Germanisten und Kollegen gewidmet. Ich möchte mich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Lingua Historica Germanica bei deren Herausgebern herzlich bedanken. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Jörg Riecke für sein Entgegenkommen und die Hilfe bei der Vorbereitung der Druckvorlage. Der Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte danke ich für die Unterstützung, die den Druck dieses Bandes ermöglicht hat. Ich hoffe, dass sowohl das Treffen in Ostrava als auch das vorliegende Buch Anregungen für weitere Diskussionen auf dem Gebiet der Erforschung von historischen Fachtexten bieten. Ostrava, April 2013

Lenka Vaňková

MECHTHILD HABERMANN

Mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa als Gegenstand historischer Pragmatik

0. Einführung Die mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa spielt in der germanistischen Sprachgeschichtsforschung bislang eine eher marginale Rolle. Ihre Relevanz ist sowohl für die Erforschung historischer Fachsprachen als auch für Untersuchungen im Rahmen der historischen Pragmatik nicht annähernd erkannt. Mit dem vorliegenden Beitrag soll das Ziel verfolgt werden, die mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa für Fragestellungen der historischen Linguistik fruchtbar zu machen. Die historische Fachprosa wird im Folgenden weder aus einer primär mediävistisch-philologischen noch aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive beleuchtet, sondern aus Sicht einer relativ jungen Forschungsrichtung, der historischen Pragmatik. Aus der Vielzahl der überlieferten Textzeugen wird insbesondere die medizinisch-arzneikundliche Fachprosa in den Vordergrund gerückt.

1. Zum Gegenstandsbereich „mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa“ Die mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa bezieht sich auf die Vielfalt der in Handschrift oder Druck überlieferten Textzeugen, die sich seit dem Mittelalter bis in die Zeit um 1650 (oder später) mit den artes septem liberales und den artes mechanicae auseinandersetzen. Der Terminus schließt sowohl die lateinische Traktatliteratur als auch die volkssprachliche Überlieferung mit ein.1 Haage/Wegner sprechen von „Fachliteratur“; zu ihr gehöre „das geistliche, juristische, politische, allgemein historische Fachschrifttum und die Artesliteratur, die sich adäquat nach den mittelalterlichen Artes libe1

Mit dem Terminus „Fachprosa“ wird an eine Bezeichnungstradition angeschlossen, die sich in einem engen Sinn ausschließlich auf Prosatexte beschränkt. Obwohl es auch Fachtexte in metrischer Form gibt, spielen diese zahlenmäßig eine erkennbar untergeordnete Rolle.

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Mechthild Habermann

rales, mechanicae und magicae gliedern läßt.“ Kurz davor legen sie fest: „Die Inhalte der Fachliteratur können über viele Schattierungen hinweg als wissenschaftlich systematisch bis populär, dann für ein Laienpublikum, dargestellt sein: vom Fachbuch bis zum Sachbuch in heutiger Terminologie […].“ Sie dient „der Wissensvermittlung in den verschiedenen Fachbereichen der Wissenschaft oder handwerklich-beruflicher Tätigkeit“ (Haage/Wegner 2007: 15).

2. Die mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa aus textphilologischer Sicht In der Nachfolge von Gerhard Eis rückte die mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa durch ihre textkritisch-philologische Erschließung erstmals in den Fokus germanisti2 scher Forschung. Die textphilologische Einordnung der einzelnen Textzeugen, in deren Folge eine Reihe von Texteditionen entstanden ist, bietet bis heute den zentralen Zugang zur mittelalterlich-frühneuzeitlichen Fachprosa. Zu ihren Aufgaben zählen: – – – –

die Erschließung der Überlieferungstradition zu einem „Quellentext“ die Ermittlung der Streuüberlieferung die Feststellung der Abhängigkeiten innerhalb der Überlieferungsstränge die sprachhistorische Einordnung der einzelnen Textzeugen nach der dialektgeographischen Schreiblandschaft – die Edition und Übersetzung des Fachprosatextes – die sprachliche und fachwissenschaftliche Erläuterung der mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Fachtermini – die Ermittlung und Einordnung des fachwissenschaftlichen Wissens unter Rücksichtnahme auf die ermittelten Quellen und auf fachwissenschaftliche Traditionen. Der Wert der philologischen Erschließung der historischen Quellentexte kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, da hierdurch Zugang zur Sach- und Textwelt historischer Fachprosa gewährleistet ist (vgl. auch Crossgrove 1994). Sie bildet Ausgangspunkt und unentbehrliche Grundlage für alle weiteren wissenschaftlichen Beschäfti2

Im Vorwort seiner ersten Auflage zur ‚Mittelalterlichen Fachliteratur‘ schreibt Gerhard Eis 1962, dass die mittelalterliche Fachliteratur von der Germanistik lange vernachlässigt wurde. Um ihr einen „Platz im Vorlesungs- und Forschungsbetrieb zu verschaffen“, habe er Ende der 1930er Jahre erstmals „ein Kolleg darüber gehalten“ (zitiert nach der 2. Auflage 1967: V). Im Vorwort zur zweiten Auflage betont er, dass sich die Lage bereits verbessert habe: „Seit dem Erscheinen der ersten Auflage wurde auf den Gebieten der mittelalterlichen Fachprosa sehr fleißig gearbeitet, die Fachprosaforschung hat nun einen gesicherten Platz in der deutschen Philologie erlangt. Es gibt allerdings auch jetzt noch einzelne Anhänger des älteren, engen Begriffs von Literatur, die die Fachprosa nicht mit einbeziehen […]“ (Eis 1967: VI).

Mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa als Gegenstand historischer Pragmatik

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gungen. Ihre Berechtigung und ihr Wert sowohl für die Geschichte der Fachwissenschaft als auch für die Geschichte der Fachprosaforschung stehen außer Zweifel. Dennoch öffnen die Gegenstandsbereiche der historischen Pragmatik den Blick für weitere Fragestellungen.

3. Was ist historische Pragmatik? Über die traditionell philologische Methode der Texterschließung hinaus hat sich seit jüngerer Zeit die Fachrichtung der „Historischen Pragmatik“ etabliert, die zurzeit noch in der angelsächsischen Forschung besser verankert ist als in der germanistischen.3 Dass es sich hierbei um eine relativ junge Forschungsrichtung handelt, wird im 2010 erschienenen Handbuch ‚Historical Pragmatics‘ deutlich erkennbar: „Historical pragmatics deals with both larger and more elusive categories than traditional branches of historical linguistics, and its status on the map of historical linguistics is not as long-standing or established as that of historical phonology, for example. [...] Historical morphology and syntax have been studied extensively, as has semantics, which has also received attention within e.g. lexical studies, but changes at the pragmatic level are in many ways more difficult to trace. The reasons are manifold.“ (Taavitsainen/Jucker 2010: 15)

Innerhalb der Sprachgeschichtsforschung ist die historische Pragmatik eine relativ junge Disziplin. Der Grund liegt darin, dass sich die Erforschung des Wandels auf pragmatischer Ebene einem leichten Zugang entzieht, wofür es viele Ursachen gibt. Ein Blick auf die Homepage des ‚Journal of Historical Pragmatics‘ des John-Benjamins-Verlags gibt diesbezüglich Auskunft und nennt einige Schwerpunkte, die sich auch in der germanistischen Sprachgeschichtsforschung im Rahmen pragmatischer Arbeiten zunehmend durchgesetzt haben: „The Journal of Historical Pragmatics provides an interdisciplinary forum for theoretical, empirical and methodological work at the intersection of pragmatics and historical linguistics. The editorial focus is on socio-historical and pragmatic aspects of historical texts in their sociocultural context of communication (e.g. conversational principles, politeness strategies, or speech acts) and on diachronic pragmatics as seen in linguistic processes such as grammaticalization or discoursization. Contributions draw on data from literary or non-literary sources and from any language. In addition to contributions with a strictly pragmatic or discourse analytical perspective, it also

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Die „Historische Pragmatik“ bildete das Thema der vom 28. September bis 1. Oktober 2011 in Wien veranstalteten Jahrestagung der GGSG (Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte). In einzelnen Beiträgen wurde eine Zusammenführung der Fragestellungen der im anglophonen Raum diskutierten „Historischen Pragmatik“ mit den traditionellen Zugängen der historischen Sprachgeschichtsforschung diskutiert; vgl. hierzu den Beitrag von Habermann/Ziegler (2012) in dem von Peter Ernst (2012) herausgegebenen Jahrbuch zur Tagung.

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Mechthild Habermann includes contributions with a more sociolinguistic or semantic approach. However, the focus of the articles is always on the communicative use of language.“4

Die zentralen Fragestellungen pragmatischer, an der Gegenwartssprache orientierter Forschung werden grundsätzlich nun auch für die historisch-diachrone Perspektive geltend gemacht. Untersuchungen im Rahmen der historischen Pragmatik sind von großer Komplexität. Sie weisen insbesondere dann einen hohen Grad an Interdisziplinarität auf, wenn sie die soziokulturelle Kontextualisierung von Kommunikation, die – historisch bedingt – variablen soziologischen und situativen Parametern unterliegt, hinreichend einbeziehen. Literarische und nicht literarische Quellen werden gleichermaßen berücksichtigt. Um Wandelprozesse in der Pragmatikforschung beschreiben zu können, sind Langzeituntersuchungen erforderlich, die annähernd vergleichbare Textkorpora als empirische Grundlage haben. Als zentrale linguistische Prozesse, die Langzeituntersuchungen erfordern, gelten die Grammatikalisierung und die Diskursivierung. 5 Weitere Schwerpunkte, die bislang weder in Querschnitts- noch in Langzeitstudien erforscht sind, bilden aber auch Themen wie die Informationsstruktur, die Höflichkeitsstrategien, die Sprechakte oder die konversationellen Kommunikationsprinzipien. In einem weiteren Sinn gehören zum Arbeitsgebiet der historischen Pragmatik zudem die folgenden Bereiche: – – – – – – –

Konzeptionelle Mündlichkeit: Reflexe gesprochener Sprache in historischen Texten Textsortendiversifikation Wissensvermittlung ritualisierter Sprachgebrauch historische Dialoganalyse Prosastilforschung Schreibsprachenforschung usw.

Ergebnis ist ein facettenreiches Bild der Forschung zur historischen Pragmatik, das in vielerlei Hinsicht auf die historische Fachprosa übertragen werden kann. Den Ausgangspunkt jedweder Untersuchung bildet die Einbindung der Texte in den entsprechenden soziokulturellen Kontext ihrer Entstehung, Verbreitung und Rezeption. Bei dieser Einordnung überschneiden sich textphilologische mit pragmatischen Fragestellungen.

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Vgl. http://benjamins.com/#catalog/journals/jhp/main (Stand 15. 09. 2012). „Grammatikalisierung“ bezeichnet den Prozess, wie Elemente des Lexikons zu Elementen der Grammatik werden, also „grammatikalisiert“ werden. Bei der „Diskursivierung“ geht es darum zu klären, wie Elemente der Grammatik Elemente der Pragmatik werden, also „diskursiviert“ werden. Die Bedeutungsentwicklung der Modalpartikeln lässt sich z. B. als Diskursivierungsprozess beschreiben.

Mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa als Gegenstand historischer Pragmatik

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4. Historische Pragmatik als Chance für die Erforschung der historischen Fachprosa? Die Erforschung der historischen Fachprosa unter pragmatischen Fragestellungen setzt grundsätzlich voraus, dass die schriftlichen Zeugnisse einer Epoche, die Textzeugen, soweit wie möglich in ihrem soziopragmatischen Umfeld verortet werden. Der soziokulturelle Rahmen historischer Fachtexte bezieht sich auf die Entstehungs- bzw. Überlieferungsbedingungen eines Textes (Autograph, Abschrift, Editio princeps, Nachdruck etc.), den Inhalt des dort vermittelten Wissens, die Herkunft des Wissens (zitierte und erschlossene Quellen), die Transformation des aus der Tradition übernommenen Wissens (Übernahme vs. Weiterentwicklung), die (Neu-)Organisation des Wissens in der Textgestaltung, die Aussagen zum intendierten Adressatenkreis und, soweit erschließbar, die tatsächlich erfolgte Rezeption. Die soziokommunikative Verortung der Textzeugen bildet die Grundlage sowohl für fachgeschichtlich-philologische als auch für pragmatische Untersuchungen historischer Fachprosa. Die Lasswell-Formel von 1948 Who says what in which channel to whom with what effect? kann für eine traditionelle und für eine pragmatisch fundierte Texterschließung nutzbar gemacht werden (vgl. Lasswell 1948). Aus dem Selbstverständnis der Germanistik heraus liegt jedoch der Schwerpunkt sowohl in der literaturwissenschaftlich-mediävistischen als auch in der Sprachgeschichtsforschung auf der Berücksichtigung literarischer und religiöser Textgenres, sodass das Themenfeld der historischen Fachprosa seit jeher von einem relativ überschaubaren Kreis germanistischer Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler betreten wurde. Während Arbeiten zur historischen Kanzleisprachforschung, zur deutschen Urkundensprache sowie zu Stadt- und Rechtsbüchern noch einigermaßen zahlreich sind, erweist sich der Bereich der Artes mechanicae (im weiteren Sinn), und zwar insbesondere der botanischen, medizinisch-arzneikundlichen, mathematisch-geometrisch-architektonischen, alchimistischen etc. Fachprosa, für die Sprachgeschichtsforschung als ausgesprochen sperrig. Obwohl die historische Fachprosa für Untersuchungen auf den Gebieten der historischen Textlinguistik und einen geeigneten Ausgangspunkt bilden könnte, gilt sie innerhalb der historischen Linguistik noch immer als vernachlässigt. Die wichtigsten Fachtexte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sind zwar in das ‚Verfasserlexikon‘ der deutschen Literatur des Mittelalters ([1977] 1978–2008) aufgenommen, aber in den meisten Darstellungen zur Fachsprache des Deutschen wird die historische Perspektive erkennbar marginalisiert: Thorsten Roelcke räumt in seinem 2010 in 3. Auflage erschienenen Studienbuch ‚Fachsprachen‘ der Geschichte der Fachsprachen gerade einmal 30 Seiten ein, wovon sich 14 Seiten auf den Zeitraum bis zum Ende des 17. Jahrhunderts beziehen. In den vier Bänden ‚Sprachgeschichte‘ (Besch u. a. 1998–2004) der Reihe ‚Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissen-

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schaft‘ spielen Artikel, die die volkssprachliche Fachprosa und ihre Bedeutung für die Entwicklung von Fachsprachen bzw. Text- und Textsortengeschichte des Deutschen thematisieren, eine erkennbar untergeordnete Rolle. Nahezu unberücksichtigt bleibt sie des Weiteren in einschlägigen Sprachgeschichten des Deutschen. Eine Ausnahme bilden lediglich die von Hoffmann/Kalverkämper/Wiegand herausgegebenen zwei Bände ‚Fachsprachen‘ (1998/1999) der HSK-Reihe, in denen etliche Artikel zu einem breiten Spektrum unterschiedlicher historischer Fachsprachen Aufnahme fanden, sowie die von Hartwig Kalverkämper herausgegebene Reihe ‚Forum für Fachsprachenforschung‘ mit einigen Monographien, die historischen Aspekten gewidmet sind.6 Die Vernachlässigung der Fachprosaforschung von germanistischer Seite aus hat mehrere Gründe: – Die germanistische Forschung ist aufgrund ihres Selbstverständnisses primär den Lebenswelten fiktionaler Literatur zugewandt. Diese Konzentration auf dichterische Weltentwürfe führt dazu, dass traditionellerweise die auf die Darstellung von Realien beschränkten Fach- und Sachtexte aus dem Blickfeld germanistischer Forschung geraten. Im Zuge einer alle Sprachvarietäten umfassenden Linguistik, die für die Gegenwartssprache bereits seit Längerem auch Gebrauchstextsorten zum Untersuchungsgegenstand erhebt, muss die Erforschung historischer Gebrauchstexte im weiteren und wissenschaftlicher Fachtexte im engeren Sinn stärker fokussiert werden. – Der Zugang zu Texten historischer Fachprosa und ihre Verfügbarkeit waren bis vor einigen Jahren dadurch erschwert, dass sie beinahe ausnahmslos durch Archiv- und Quellenarbeit erschließbar waren: Da mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa allenfalls ansatzweise in Facsimiles oder Editionen zugänglich ist, konnten Textzeugen häufig nur über langwierige Bibliotheksrecherchen gefunden werden.7 Mittlerweile hat sich die Situation dank der elektronischen Medien fundamental geändert: Die Digitalisierungsprogramme der großen Bibliotheken, wie etwa der Bayerischen Staatsbibliothek München oder der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, gewährleisten eine schnelle Verfügbarkeit, indem sie Bilddateien

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Vgl. hierzu insbesondere Pörksen (1986, 1994) und Albrecht/Baum (1992), die Aspekte des Fachsprachengebrauchs unter historischer Perspektive thematisieren. Bei den Editionen mittelalterlich-frühneuzeitlicher Fachprosa handelt es sich darüber hinaus meist um normalisierte Textausgaben, die die inhaltliche Erschließung der Texte unter Einfügung besonderer Lesehilfen wie der modernen Interpunktion und unter Beseitigung sprachlicher Idiosynkrasien ermöglichen, wodurch sie für eine sprachwissenschaftliche Analyse nur eingeschränkt herangezogen werden können.

Mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa als Gegenstand historischer Pragmatik

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zentraler und weniger zentraler Handschriften und Drucke im Internet zur Verfügung stellen.8 – Bei der Erschließung des Inhalts fachwissenschaftlicher Prosatexte ist germanistische Forschung insbesondere dann auf fachwissenschaftliche Expertise angewiesen, wenn es um das „Was“, um den vermittelten Inhalt, geht.9 Diese Frage nach Tradition und Innovation des vermittelten Wissens ist für die jeweilige Fachwissenschaft von zentralem Interesse. Bei einer Fokussierung auf textlinguistischpragmatische Aspekte jedoch konzentriert sich die Untersuchung weitgehend auf das „Wie“, nämlich auf die Fragestellung, wie Wissen von wem und für wen auf welche Art und Weise vermittelt wird. – Generell kann ein Defizit an linguistischen Arbeiten unter Berücksichtigung textlinguistischer und pragmatischer Methoden im Hinblick auf historische Fachtexte festgestellt werden. Der defizitären Berücksichtigung historischer Fachprosa von Seiten der historischen Sprachwissenschaft steht ein großer Erkenntnisgewinn gegenüber, der sich aus einer Untersuchung der Fachtexte nach Fragestellungen der historischen Pragmatik ergibt. Es soll die These in den Raum gestellt werden, dass historische Fachprosatexte geradezu einzigartig für Erforschungen des kommunikativen Umfelds „Wer schreibt für wen zu welchem Zweck“ geeignet sind. Wie keine andere Sparte volkssprachlicher Überlieferung ist gerade die Fachprosa in einen interdisziplinären Rahmen eingebunden, der sich zum einen aus den Fragestellungen der Fachwissenschaft und zum anderen aus den Zugängen der Philologie und Sprachwissenschaft, der Bildwissenschaft (Untersuchung der Interdependenz von Text und Bild) oder der Buchwissenschaft (Untersuchung des Fachtexts als Buch) ergibt. Denn durch die Einbeziehung von Realien und Berücksichtigung des den Text überlieferten Mediums wird erst eine gesamthafte Erfassung des Fachprosatextes gewährleistet.

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Die Bilddateien haben bekanntermaßen den Nachteil, im Unterschied zu Textdateien keine Suchfunktion (z. B. für die Suche nach Einzelwörtern) zu bieten. Die Aufbereitung der Bilddateien nach OCR, die die Suchfunktion ermöglichen würde, ist zurzeit noch ein Desiderat; vgl. hierzu den Beitrag von Wolf Peter Klein in diesem Band. Stellvertretend für alle mittlerweile zahlreichen Digitalisierungsinitiativen soll an dieser Stelle lediglich auf das Digitalisierungsprogramm der Bayerischen Staatsbibliothek München, vgl. http://www.bsb-muenchen.de/Digitale_Bibliothek.329.0.html (Stand 15. 09. 2012), und der Wolfenbütteler Digitalen Bibliothek (WDB) vgl. http://www.hab.de/ bibliothek/wdb/ (Stand 15. 09. 2012) verwiesen werden. Dabei muss bei der inhaltlichen Klärung historischer Fachprosa durchaus nicht selten billigend in Kauf genommen werden, dass manche Textstelle auch für den Fachwissenschaftler aus heutiger Sicht „dunkel“ bleibt.

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5. Historische Fachprosa als Untersuchungsgegenstand Die historische Fachprosa bietet für Fragestellungen der historischen Sprachwissenschaft aus folgenden Gründen ideale Voraussetzungen: 1. Die Überlieferungssituation: Historische Fachprosa ist im Unterschied zu literarischen Werken insbesondere im Spätmittelalter durch eine breite Überlieferung geprägt. Während sich z. B. die Überlieferung Hartmann von Aues ‚Der arme Heinrich‘ auf drei Handschriften und drei Fragmente stützt (vgl. Cormeau 1981: Sp. 512), ist das ‚Arzneibuch‘ Ortolfs von Baierland, dessen Überlieferung um 1300 einsetzt, in mehr als 200 Handschriften und ebenso vielen (Teil-)Drucken nachweisbar (vgl. Keil 1999: 605). 2. Handschriften- und Buchgeschichte: Die Übergangszeit von der Handschrift zum Druck lässt sich an einigen Fachtexten gut nachvollziehen. Vergleicht man die handschriftliche Überlieferung zu Konrad von Megenbergs ‚Buch der Natur‘, dann können wir in den Druckwerken über die Offizin des Augsburger Druckers Johann Bämlers hinaus, der Konrads Buch 1475 als erster im Druck herausgab, eine kontinuierliche Tradierung bis weit in das 16. Jahrhundert verfolgen.10 Bei Fachtexten, die handschriftlich überliefert sind, kann die Frage danach gestellt werden, in welche Sammelhandschriften ein fachwissenschaftlicher Text an welcher Stelle eingefügt wurde. Die besondere Einbettung des Textes in eine spezifische Sammelhandschrift erlaubt Aussagen über seine intendierte Gebrauchsfunktion. Fachtexte, die in Handschrift und Druck erschienen sind, können in ihren inhaltlichen, sprachlichen und textuellen Modifikationen beschrieben werden. Es stellt sich stets die Frage danach, wie die Organisation des Textes als Handschrift oder gedrucktes Buch erfolgt ist und welche Begleittexte vorhanden sind: Wie ist die Gestaltung von Incipit bzw. Excipit? Ist ein Titelblatt vorhanden? Gibt es ein Vorwort, ein Inhaltsverzeichnis und/oder Register? Nach welchem Ordnungsschema sind die Register erstellt? Welche Form von Textverweisen wurde gewählt? Gibt es eine Binnengliederung des Textes z. B. nach Kapiteln und Unterkapiteln? Wie sind die Kapitel angeordnet? Die herausragende Bedeutung des Fachschrifttums für die Entwicklung des neuen Mediums „Buchdruck“ und der spezifischen, der Wissensvermittlung geschuldeten Darstellungstechniken, die sich sowohl für die stilistische Textgestaltung im Kleinen und Textorganisation im Großen als auch für die Abbildungen und deren Erläuterungen ergeben, ist in der Forschung bereits mehrfach hervor10

Gerold Hayer (1998) verweist auf 80 Handschriften und Fragmente und sechs Inkunabel-Drucke, dazu mindestens ebenso viele Teilabschriften, Exzerpte und Bearbeitungen. Die Verbreitung des Werks lässt erst an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert allmählich nach.

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gehoben worden, so etwa in der medienwissenschaftlichen Arbeit von Michael Giesecke (2006). Unter sprachwissenschaftlicher Perspektive beleuchtet der von Große/Wellmann (1996) herausgegebene Sammelband ‚Textarten im Sprachwandel ‒ nach der Erfindung des Buchdrucks‘ (1996) mit den Beiträgen ‚Textarten und Sprachwandel‘(Wellmann 1996) und ‚Die textuelle Struktur handschriftlicher und gedruckter Kochrezepte im Wandel‘ (Glaser 1996) die Interdependenz zwischen dem neuen Medium und Formen der Textproduktion. Historische Fachprosa und Mediengeschichte sind untrennbar miteinander verbunden. 3. Longue durée: Innerhalb der medizinisch-arzneikundlichen Fachprosa können Überlieferungsstränge von ca. 500 Jahren mit nur geringer Textmodifikation nachgezeichnet werden. Salernitanisches Wissen des 13. Jahrhunderts ging in die Gart der Gesundheit-Tradition ein, dessen Druckgeschichte 1485 bei Peter Schöffer in Mainz beginnt und dessen Überlieferung in zahlreichen Bearbeitungen und Modifikationen bis 1783 mit der letzten in Augsburg in den Druck gegangenen Ausgabe andauert (vgl. Keil 1980: 1081–1087). Vergleichbare Überlieferungsketten finden sich darüber hinaus nur im religiösen Bereich oder bei den sogenannten Prosaromanen der frühen Neuzeit. Die ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen liegt z. B. in einer nahezu ununterbrochenen Drucktradition von 1473/74 mit dem Druck bei Bernhard Richel in Basel bis in das frühe 19. Jahrhundert vor. Ab den 1830-Jahren entstehen erste Volksbuchbearbeitungen. Die bekanntesten stammen von Gustav Schwab und Karl Simrock, die die ‚Melusine‘ in stark bearbeiteter Version auf den Markt gebracht haben (vgl. Rautenberg u. a. 2013: 8 u. 13). Für die diachrone Sprachforschung sind Überlieferungsstränge mit kontinuierlicher Texttradition und moderater Modifikation als besonders glücklich zu bezeichnen. Sie ermöglichen Sprachwandelforschung, die über die üblichen Ebenen der Sprachbetrachtung mit einer Analyse des Wandels auf phonologisch-graphematischer, flexionsmorphologischer, lexikalischer und syntaktischer Ebene hinausgeht und auch Fragen der Textlinguistik, der textverknüpfenden Mittel und der Herausbildung bestimmter Textsortenspezifika mit umfasst. Die Fachtextkorpora eignen sich darüber hinaus in besonderer Weise für Untersuchungen sprachlandschaftlicher Einflüsse, die sich ungefähr bis Ende des 16. Jahrhunderts in phonologisch-graphematischer Hinsicht beobachten lassen, aber auch bis zur Ebene des Fachwortschatzes reichen. Die dialektgeographischen Spuren werden erst ab dem 17. Jahrhundert erkennbar geringer. 4. Kontinuität und Diskontinuität zur gegenwärtigen Fach- und Sachliteratur: Ein wichtiger Erkenntnisgewinn ergibt sich aus der Tatsache, dass die Fachprosa des Mittelalters und der frühen Neuzeit auf zweifache Weise als Vorläufer fungiert, nämlich zum einen für das fachwissenschaftliche Schrifttum und zum anderen für die Sachtextprosa in populärwissenschaftlichem Sinn. Hieraus ergeben sich weit-

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reichende Fragestellungen, welche Merkmale als Charakteristika eines wissenschaftlichen Textes gewertet werden können und welche für einen populären Sachtext sprechen. Der Prozess der Diversifikation zwischen Wissenschaftstexten und Sachtexten kann zwar ansatzweise bereits im 16. Jahrhundert erfasst werden, bildet sich aber vollständig erst im 19. Jahrhundert heraus. Die Ausdifferenzierungs- und Vertikalisierungsprozesse innerhalb der einzelnen Fachdisziplinen sind bislang auf diachroner Ebene jedoch kaum erforscht. 5. Historische Textgeschichte, Textsortengeschichte: Die historische Fachprosa ist in einer Vielzahl von Textsorten überliefert, die in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden nicht systematisch beschrieben sind. Die Eigenbezeichnungen der Werke, so wie sie auf den Titelblättern zu finden sind, suggerieren auf den ersten Blick, dass es sich im Bereich der Fachprosa um höchst unterschiedliche Textsorten handelt, deren spezifisches Profil erst noch im Einzelnen beschrieben werden muss. Was verbirgt sich in textlinguistischer Hinsicht hinter Bezeichnungen wie Büchlein der Gesundheit, Regel der Gesundheit, Ordnung der Gesundheit? Was unterscheidet eine „Regel“ von einer „Ordnung“? Allein die Zusammenstellung der Titel von Fachprosatexten bei Haage/Wegner (2007: passim) würde genügen, um eine systematische Beschreibung der Textsortenvielfalt spartenspezifisch bzw. -übergreifend anzugehen und um zu überprüfen, ob Unterschiede in der Betitelung des Werks auch tatsächlich auf Unterschiede in der Textsorte verweisen bzw. inwiefern und in welchem Ausmaß inhaltliche und textorganisatorische Schnittmengen innerhalb und außerhalb der einzelnen Sparten bestehen. Es ist zu erwarten, dass in einer Zeit der allmählichen Herausbildung unterschiedlicher Fachausrichtungen die Ausdifferenzierung zwischen den einzelnen Textsorten weniger deutlich erkennbar ist als in der Gegenwart, sodass das Ausmaß an Gemeinsamkeiten weitaus höher einzuschätzen ist. So ist ein „Kräuterbuch“ in der frühen Neuzeit z. B. immer auch ein „Arzneibuch“, und dennoch gibt es Unterschiede, die u. a. darin bestehen, dass in einem Kräuterbuch neben der Fokussierung auf Pflanzen auch botanische Informationen zum Phänotyp der Pflanze gegeben werden, die nicht unmittelbar in einem heilkundlichen Zusammenhang stehen.11 6. Vertextungsstrategie: Historische Fachtexte eignen sich als Materialkorpus besonders gut, um unterschiedliche Textfunktionen in ihrer historischen Dimension zu 11

Beiträge zur Textsortengeschichte bieten u. a. der Sammelband von Kalverkämper / Baumann (1996, FFF 25), die Untersuchung zur Textsortengeschichte im Wandel zwischen französischer Klassik und Aufklärung von Kalverkämper (2012 [i.Dr.], FFF 78) oder die Arbeit zum wissenschaftlichen Schreiben in Portugal des 18./19. Jahrhunderts von Sinner (2012, FFF 93); demnächst auch Eckkramer (in Vorber.). Arbeiten zur Textsortengeschichte der Romania liegen in größerer Zahl vor als zur deutschen Sprachgeschichte; zur jüngeren deutschen Textsortengeschichte (ab 1950) vgl. die Arbeit zu den Gebrauchsanleitungen von Nickl (2001, FFF 52).

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erfassen. Deskriptive Passagen wechseln mit narrativen, die an einem Exempel den Wahrheitswert einer Aussage unter Beweis stellen sollen, der noch lange Zeit auch durch den Verweis auf Autoritäten erbracht wird. Gleichzeitig bestimmt eine appellative Ausrichtung die Textorganisation der historischen Fachprosa, die grundsätzlich in der Regel bis in das 18. Jahrhundert hinein zwischen einer informierenden und appellativen Textfunktion oszilliert. Begründungen, die der explanativen Textstruktur zugewiesen werden können, treten in den volkssprachlichen Fachprosatexten in verkürzter Form nach dem Muster etwas verhält sich so, weil […] ebenfalls auf, allerdings fehlt häufig eine Diskussion unterschiedlicher „Forschermeinungen“, die im Gegensatz zur deutschen Überlieferung in den lateinischen Fachprosatexten der frühen Neuzeit ein konstitutives Merkmal darstellt. Argumentative Vertextungsmuster können in der volkssprachlichen Fachprosa bis in das 18. Jahrhundert hinein kaum festgestellt werden. Bereits die Erfassung der Vertextungsstrategien zeigt, dass sich die textuelle Gestaltungsfreiheit in mehr oder weniger fest gefügten Grenzen bewegt. In der Fachprosa des Mittelalters und der frühen Neuzeit gibt es zahlreiche vorgefertigte Textbausteine, die entweder strukturell oder inhaltlich immer gleiche Schablonen für eine erleichterte Textgestaltung bieten. Sie sind im sprachhistorischen Bereich erst in Ansätzen beschrieben (vgl. Habermann 2011). 7. Soziopragmatische Einbettung: Die historische Fachprosa weist aufgrund ihrer appellativen Grundstruktur einen hohen Grad an Adressatenbezogenheit auf, die darauf zurückgeführt wird, dass die schriftlichen Fachprosatexte letztlich ihre Wurzeln in der mündlichen Kommunikationssituation haben, wie sie etwa in einer Werkstätte zwischen Meister und Lehrling zu beobachten ist. Die Herkunft aus mündlicher Vermittlung bedingt die starke Konzentration auf das Gegenüber, den Adressaten. Auf der anderen Seite gibt es die Tradierung lateinischer Vorlagenwerke, deren Überlieferung ebenfalls der Wissensvermittlung dient, und zwar der Wissensvermittlung für den Gelehrten. Aus der hohen Adressatenbezogenheit kann eine Vielzahl von Faktoren ermittelt werden, die vermeintlichen Verständlichkeitsstrategien geschuldet sind. Der Einfluss der Adressatenbezogenheit macht sich aber vor allem in dem „Gefälle“ zwischen der lateinischen Fassung eines Werkes und seiner volkssprachlichen Umsetzung bemerkbar. Zunächst für den „gemeinen man“ konzipiert, bedeutet die Umsetzung in die Volkssprache keine Übersetzung, sondern eine Popularisierung, Paraphrasierung und Kommentierung. Werner Koller meint dazu: „Nichts wäre verfehlter, als mit modernen Auffassungen von Übersetzung, Übersetzungstreue, Autonomie des zu übersetzenden Objekts etc. an ahd., mhd. und frnhd. Übersetzungstexte heranzugehen […]“ (Koller 1998: 215). Und an anderer Stelle schreibt er zu den aus dieser Zeit stammenden Übersetzungen vom Lateinischen ins Deutsche:

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Mechthild Habermann „Popularisierung der Vorlagen in sprachlich-stilistischer und inhaltlicher Hinsicht. In diesem Zusammenhang sind nicht nur Texterweiterungen kommentierender und erklärender Art zu sehen, sondern grundsätzlich das Übersetzungsverfahren des Umschreibens (‚vmbrede‘ – Übersetzung).“ (Koller 1998: 222)

Die mittelalterlich-frühneuzeitliche Fachprosa bietet die Grundlage für eine Vielzahl unterschiedlicher textlinguistischer und pragmatischer Untersuchungen, anhand derer auch die Genese von (Fach-)Textsorten nachvollzogen werden kann. Da viele Fachtexte sowohl auf Latein als auch in der Volkssprache erschienen sind, gibt eine Untersuchung der sprachlich divergenten Versionen nicht nur Kenntnis der Abhängigkeiten und Wechselwirkungen der verschiedenen Fassungen zueinander, sondern auch Einblick in die allmähliche Emanzipation der Volkssprache als Sprache der Wissenschaften (vgl. Habermann 2001). Wegen ihres langen Überlieferungszeitraums eignen sich historische Fachprosatexte nicht selten auch zur Erforschung von Sprachwandelphänomenen in systemlinguistischer und von Text- bzw. Textsortenwandel in textpragmatischer Hinsicht.

6. Fallbeispiele: Frühneuzeitliche Fachprosa im soziokulturellen Kontext Im Folgenden soll anhand ausgewählter Beispiele aufgezeigt werden, welche Aussagen über die soziokommunikative Einbettung für die im Druck erschienene frühneuzeitliche Fachprosa getroffen werden können. Die Fachprosatexte werden zunächst in einem einfachen Kommunikationsmodell verortet, das einen Autor oder Sender, einen Adressaten oder Empfänger sowie einen zu verhandelnden Gegenstand, eine Botschaft, aufweist. Innerhalb dieser Trias kann von folgenden pragmatischen Annahmen ausgegangen werden: – Der Verfasser eines Fachprosatexts, der Autor, verfolgt in der frühen Neuzeit mit einem in der Volkssprache verfassten Text eine bestimmte Intention. Die Sprachwahl hat zur Folge, dass der zu verhandelnde Gegenstand aus einer bestimmten Perspektive dargestellt wird, die sich sowohl auf die Auswahl der Inhalte als auch auf die Textorganisation und Wahl der sprachlich-stilistischen Mittel auswirkt. – Der Adressat des Fachtextes, der Rezipient, bleibt weitgehend anonym; welche Rolle dem Leser zugesprochen wird, kann allenfalls aus der Intention des Autors erschlossen werden. Ihm werden bestimmte Interessen attestiert, auf die der Autor im Vorwort seines Werkes einzugehen verspricht. Die sowohl in Anzahl als auch Genauigkeit stets verbesserten Register zeugen in frühneuzeitlichen Fachtexten davon, dass dem Adressaten im Leseverhalten eine diskontinuierliche Lektüre unterstellt wird. Auch Marginalglossen oder die Einrichtung von Inhaltsverzeichnis-

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sen bzw. weitere textorganisierende Mittel tragen dazu bei, eine schnelle Orientierung innerhalb des Fachtextes zu gewährleisten. – Der Gegenstand wird sowohl sachgerecht als auch adressatenorientiert aufbereitet, sodass er dem Kriterium größtmöglicher Verständlichkeit entspricht: Unverständliches wird so weit wie möglich durch Definition, Sacherläuterung oder Paraphrasierung erklärt. Stellt man die Autorintention in den Vordergrund, dann sind die Vorworte der Fachprosatexte hervorragende Quellen, dem Selbstverständnis des Verfassers auf die Spur zu kommen. Im Vorwort benennt er die Intention seines Handelns, die sich im Werk manifestiert, grenzt den anvisierten Adressatenkreis ein und benennt die behandelten Gegenstände: Jn dem Teütchen aber hab ich mich in onderheyt beflien/ das die ding so dem gemeinen ma wien nit dientlich noch ntig eind/ würden außgelaen vnd überchritten. Hergegen hab ich die bechreibung der getalt aller kreüter vil vlliger gemacht/ vnd baß herauß getrichen/ da vormals im Latein gechehen/ … (Fuchs: New Kreütterbuch 1543: 2v)

Leonhart Fuchs nimmt in seiner Vorred eine Positionierung vor, die eine bewusste Ausrichtung an vermeintlichen Bedürfnissen des Adressaten zeigt. Gegenüber dem ein Jahr zuvor erschienenen lateinischen Kräuterbuch von 1542 kennzeichnet die deutsche Version einerseits eine Beschränkung, indem dem „gemeinen Mann“ nur das „nötige“ Wissen unter Auslassung von Unnötigem offeriert wird, andererseits aber auch eine Optimierung, indem dort der Wissensfortschritt dokumentiert wird, der seit Erscheinen des lateinischen Kräuterbuchs eingetreten ist. Das gegenüber dem lateinischen Kräuterbuch „Ausgelassene“ hat jedoch weitreichende Konsequenzen für die Textorganisation innerhalb der einzelnen Pflanzenbeschreibungen: Während in der lateinischen Version die Schilderung der Heilwirkung nach den einzelnen Autoritäten VIRES. EX DIOSCORIDE. […] EX GALENO. […] EX PLINIO […] (z. B. 1542: 4) kompilatorisch angeordnet wird, spielen die Gelehrtenmeinungen im deutschen Kräuterbuch so gut wie keine Rolle: Dort bietet Fuchs im Kapitel Die krafft vnd würckung. (vgl. 1543: a2r) die Heilwirkungen nicht als Zitate der einzelnen Autoritäten, sondern in einer Art Zusammenfassung als fortlaufenden Text, da das Wissen, bei welcher Autorität welche Heilkraft verzeichnet ist, für den Leser der deutschen Version für unwichtig gehalten wird. Aus der Organisationsform des deutschen Texts ergibt sich im Unterschied zur Autoritätenorientierung der lateinischen Version des Weiteren, dass auch Wiederholungen, die im lateinischen Text durch die Mehrfachnennung von Heilwirkungen bei den einzelnen Autoritäten verursacht sind, vermieden werden und der Verfasser darüber hinaus zur Entlastung des Rezipienten nur die Heilwirkungen aus den Quellen auswählt, die er für wichtig hält. Dieser Schritt ist ein entscheidender: Denn während dem Leser des lateinischen Kräuterbuchs die Unterscheidung von relevantem und weniger relevantem

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Wissen selbst überlassen wird, trifft in der deutschen Version der Verfasser die Auswahl für den Leser. Während also der Rezipient des lateinischen Werks mit Gelehrtenmeinungen konfrontiert wird, mit denen er sich auseinandersetzen muss, bleibt dem Leser volkssprachlicher Kräuterbücher ab dem 16. Jahrhundert immer öfter die Auseinandersetzung mit den Positionen unterschiedlicher Autoritäten erspart. Die Auswahl des relevanten Wissens hat der Autor für ihn übernommen. Hiermit ist der Weg zum modernen Sachbuch beschritten. Die Dominanz des Adressatenbezugs als Relikt der imaginierten Vorstellung der direkten Unterweisung eines Schülers oder Lehrlings ist für die Fachprosa weitaus stärker stilprägend als für andere Textgenres der Epoche. Überaus häufig wird ein direkter Adressatenbezug mithilfe des Personalpronomens in der 2. Pers. Sing. hergestellt. Bedauerlicherweise fehlen bislang Untersuchungen zu Herausbildung, Musterbildung und Varianz von Sprechakten aus historischer Perspektive. Betrachtet man aber allein die Aufforderungssätze in ihrer Spannweite zwischen direktem und indirektem Adressatenbezug, so kann z. B. für das erste Viertel des 16. Jahrhunderts eine große Auswahl an unterschiedlichen Graden der Verbindlichkeit von Handlungsaufforderungen beobachtet werden, die an Beispielen aus dem 1517 zum ersten Mal erschienenen Feldtbch der Wundtartney des Hans von Gersdorff aufgezeigt werden sollen: a) Aufforderungssätze mit direktem Adressatenbezug und Imperativ 2. Pers. Sing. Vnd merck d carbculus/ antrax/ vnd cancer.i.der krebs wyter mit einen aderen vßpreitet. (Gersdorff 1517: 64r) Nim epffen wurtel/ cabioen/ andorn/ weyen mel/ bynom/ honig/ bouml/ alt chmer/ pfaffenrrlin. diß koch mit wein/ vnd mach ein pflater doruß/ vnd leg es doruber. (Gersdorff 1517: 64v)

Die Imperativsätze sind die prototypischen Aufforderungssätze, die eine direkte Handlungsanweisung signalisieren und auf eine asymmetrische Gesprächssituation wie die zwischen Meister und Schüler bzw. Lehrling verweisen. Interessanterweise handelt es sich bei der Verwendung des Imperativs Nim nicht nur um eine aufmerksamkeitsheischende Adressatenanrede, sondern darüber hinaus auch um ein textorganisierendes Element: Denn mit Nim werden die Rezepte als (meist relativ eigenständige) Textteile innerhalb eines größeren Textes eingeleitet. b) Aussagesätze als Handlungsanweisung mit direktem Adressatenbezug und Modalverb Du olt auch wien/ d die carbculi gern kmen noch d‘ petilent/ vnd dehalb vergifftig eint. dorb man ye nit verachten oder verumen oll. (Gersdorff 1517: 63r) Du magt auch wol nemen fyncktußen die die bader bruchen/ oder kpflin genant/ vnd die dorumb eten/ oder in gelin loen ugen/ die die gifft heruß yehen. (Gersdorff 1517: 64r)

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Für den zweiten Typ der Handlungsanweisungen werden die Modalverben suln „sollen“ und mugen „können“ gebraucht. Durch sie wird die Einstellung des Autors zum Subjekt des Satzes (du) angezeigt, dem eine Verpflichtung zu einer Handlung (suln) auferlegt oder eine Handlungsoption (mugen) eröffnet wird. Die Verpflichtung zu einer Handlung kommt bei suln bereits weniger stark zum Ausdruck. Sie ist gegenüber der appellativen Direktheit der Imperativformen erkennbar abgeschwächt. Bei mügen handelt es sich sogar nur um eine Möglichkeit zur Ausführung einer Handlung, die der Autor dem du-Subjekt einräumt. Interessanterweise verwendet Hans von Gersdorff die suln und mugen-Aufforderungssätze in der Regel dann, wenn es sich um Alternativen zu einer bereits gebotenen Medikation handelt. Sie stehen z. B. mehrheitlich in Kapiteln mit der Überschrift wie Andere regimenten v artneyungen […] (64r). Die Modalverben suln und mugen werden zudem überproportional häufig zusammen mit der Modalpartikel auch verwendet, die die im Satz gebotenene Proposition als „zusätzliche“, „weiterführende“ Information markiert. c) Aussagesätze mit indirektem Adressatenbezug Der dritt aget wie man die matery behaltet d ye nit hinderich getriben wird/ v auch nit brech … (Gersdorff 1517: 63v)

Hier ist der Adressatenbezug bereits weitgehend entpragmatisiert, indem das Indefinitpronomen man lediglich einen unbestimmten und damit indirekten Bezug auf den Leser erlaubt und die Aussage aus einem fingierten Werkstättendialog hinaus zum Allgemeinen und Grundsätzlichen führt. Es ist besonders auffällig, dass diese indirekte, verallgemeinernde Adressierung niemals in den Rezeptpassagen vorkommt, zumal die moderne Rezepteinleitung Man nehme bei Gersdorff noch nicht nachweisbar ist. Aus dem Vergleich mit späteren Fachtexten kann festgestellt werden, dass im Laufe des 16. Jahrhunderts die indirekte Anrede mit man generell zunimmt, eine Entwicklung, die manchmal unter dem Einfluss einer lateinischen Vorlage steht und die zu einer Entpragmatisierung der in der frühen Fachliteratur fingierten Gesprächskonstellation führt. d) Aussagesätze als Handlungsanweisung ohne direkten Adressatenbezug V das melancholich blt wird am ert heruß getruckt/ v dornoch mitt eim glenden yßen cauteriiert. Z d anderen mol o würt er ußgeett mitt corroiu/ oder mitt tarcker atung die jn eins mols mit einder heruß tht. wa tarcker kranckheit oll gelegt werden tarcke artney. vnnd dor it gt … (Gersdorff 1517: 65r)

Bei den Passivierungen fehlt eine Nennung des Adressaten vollends. Neben dem fehlenden Adressatenbezug wird in den Konstruktionen mit Vorgangspassiv meist auch auf die Nennung der Handlungsträger verzichtet. Diese Konstruktionen werden überwiegend dann gebraucht, wenn es sich um die Schilderung chirurgisch schwerer Eingriffe handelt, die grundsätzlich von ausgebildeten und erfahrenen Wundärzten verrichtet werden müssen.

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In der Tendenz ist der Adressatenbezug in seiner Spannweite von direkt bis indirekt mit einer Abnahme an Verpflichtung und direkter Adressierung verbunden. Insbesondere bei unpersönlichem man und bei Verwendung der Passivkonstruktionen muss sich der Adressat nicht mehr zwingend zur Ausführung der Handlungen verpflichtet fühlen. Dort stehen vielmehr die Informationsfunktion, die Benachrichtigung über die Sachverhalte im Vordergrund und der Handlungsträger im Hintergrund. Ist bei der Durchführung von Handlungen das Agens nicht genannt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass aufgrund fehlender Adressierung „andere“ für die Ausführung der Handlung verantwortlich sind. Die bei Gersdorff nachweisbaren Textmuster für direkte und indirekte Handlungsaufforderungen können schematisiert werden, wie in Abbildung 1 dargestellt. Zunahme: Entpragmatisierung Abnahme: Grad an Verbindlichkeit →

 

 

 Aufforderungssätze direkter Adressatenbezug Sprachliches Mittel: Imperativ 2. Pers. Sing.  Handlungsanweisung mittels Aussagesätzen  direkter Adressatenbezug  Sprachliche Mittel: ‒ Personalpronomen du ‒ Modalverb: suln, mugen  Handlungsanweisung mittels Aussagesätzen  indirekter Adressatenbezug  Sprachliches Mittel: Indefinitpronomen man  Handlungsanweisung mittels Aussagesätzen direkter Adressatenbezug fehlt Sprachliche Mittel: ‒ Vorgangspassiv ‒ Verzicht auf Nennung des Handlungsträgers

Abb. 1: Textmuster der direkten und indirekten Handlungsaufforderungen (Gersdorff Feldtbch der Wundtartney 1517)

Wie sehr die Autorintention und Adressatenorientierung auf das „Wie“ des vermittelten Inhalts Einfluss nimmt, wird insbesondere auch dann deutlich, wenn die im volkssprachlichen Text gebotenen Fachtermini für den Adressaten erläutert werden. Bei der Einführung von Fachtermini können verschiedene Strategien des Definierens, Erklärens und Paraphrasierens beobachtet werden. Hier stellt sich auch die Frage, ob im Deutschen überhaupt ein Übersetzungsäquivalent für einen fremdsprachlichen Fachterminus existiert oder ob die Paraphrasierung die einzige Möglichkeit bleibt, den im Fachterminus benannten Gegenstand bzw. Sachverhalt verständnissichernd zu vermitteln. In Hans von Gersdorffs Feldtbch der Wundtartney (1517) schließt ein mehrteiliges Glossar die Abhandlung ab, in dem die zentrale Fachterminologie zusammengestellt ist.

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Dabei wechselt die Erläuterungsebene von der Angabe eines Übersetzungsäquivalents bis hin zur Einordnung der ‚Art‘ in eine ‚Gattung‘ mit weiterführenden erläuternden Eingrenzungen oder generell Paraphrasierungen: Epilenia/ die fallend ucht

(Gersdorff 1517: 87v)

Monoculus. ein einugiger.

(88r)

Ociput. der nack. Das hinder teyl des haubts

(35r)

Hydroforbia. ist ein melancholische kranckheit/ do sich einer frcht vor luterem waer. (87v) Opilatio plenis vel epatis. it do das miltz od’ die leber verhindert württ an jrer würckung (88r)

Neben den verschiedenen Verfahren zur Erläuterung von Fachtermini gibt es eine Reihe von weiteren Maßnahmen zur Sicherung der Verständlichkeit des dargebotenen Wissens, wie etwa Vergleiche oder Abbildungen, die das durch das geschriebene Wort vermittelte Wissen auch visuell anschaulich machen und die bereits früh mit ausgefeilten Beschriftungssystemen verbunden sind. In Paarformeln kann ein Fachterminus darüber hinaus durch zwei oder mehrere weitgehend äquivalente Interpretamente nach Art eines Hendiadyoins beschrieben werden. Eine auffällige Häufung an äquivalenten Bezeichnungen ist besonders oft im botanischen Bereich zu finden: Abrotanum. tabwurt/ oder chowurt/ oder gartenkrut Patinaca dometica. heymich mor/ oder betenoug

(Gersdorff 1517: 89r) (93v)

Grundsätzlich eignen sich Fachprosatexte auch für Untersuchungen, die im Zuge der Vertikalisierungshypothese Oskar Reichmanns (1988) die zunehmende Registervielfalt des Deutschen zum Thema haben. Die entscheidende Zeit der Nivellierung sprachlandschaftlicher Einflüsse und der zunehmenden Profilierung schicht- und bildungsspezifischer Varianten ist die frühe Neuzeit. Aufgrund reichen Materials, das insbesondere der große Popularisator von Fachwissen, Walther Hermann Ryff (1500–1548), hinterlassen hat, können aus Anzahl und Ausmaß der Erläuterungen von Fachtermini u. a. Rückschlüsse auf die Wirksamkeit bildungsspezifisch bedingter Unterschiede gezogen werden: In seiner kleyner Chirurgi (1542) wird z. B. der Fachtext für die jungen angonden wundrtt (Titelblatt) aufbereitet, in seiner großen Chirurgei (1545) hingegen für die bereits ausgebildeten Wundärzte. Das Gefälle zwischen Latein und Deutsch, zwischen dem Gelehrten und dem Laien, verlagert sich im 16. Jahrhundert in Ansätzen bereits in die deutsche Schriftlichkeit.

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7. Resümee Die historische Pragmatik kann als Bereicherung einer bislang primär textphilologisch ausgerichteten Fachprosaforschung verstanden werden. Sie erweitert den Gegenstandsbereich um textlinguistische und pragmatische Fragestellungen, die von einer Verortung der Texte in eine rekonstruierte Kommunikationssituation ausgehen. Unter der Fokussierung des „Wie“, der Art und Weise der sprachlich-stilistischen Darstellung und Textorganisation, sind Faktoren wie Mediengebundenheit, Autorenperspektive, Adressatenbezogenheit und Fachsprachlichkeit von zentraler Bedeutung für die Erforschung historischer Fachprosa.

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Nickl, Markus (2001): Gebrauchsanleitungen. Ein Beitrag zur Textsortengeschichte seit 1950. (Forum für Fachsprachenforschung 52). Tübingen. Pörksen, Uwe (1986): Deutsche Naturwissenschaftssprachen. Historische und kritische Studien. (Forum für Fachsprachenforschung 2). Tübingen. Pörksen, Uwe (1994): Wissenschaftssprache und Sprachkritik. Untersuchungen zu Geschichte und Gegenwart. (Forum für Fachsprachenforschung 22). Tübingen. Rautenberg, Ursula / Künast, Hans-Jörg / Habermann, Mechthild / Stein-Kecks, Heidrun (Hrsg.) (2013): Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit: Die ‚Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen. Berlin / Boston. Reichmann, Oskar (unter Mitwirkung von Christiane Burgi, Martin Kaufhold u. Claudia Schäfer) (1988): Zur Vertikalisierung des Varietätenspektrums in der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen. In: Horst Haider Munske, Peter von Polenz, Oskar Reichmann, Reiner Hildebrandt (Hrsg.): Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag von seinen Marburger Schülern. Berlin / New York, 151–180. Roelcke, Thorsten (2010): Fachsprachen. 3., neu bearb. Aufl. (Grundlagen der Germanistik 37). Berlin. Ruh, Kurt / Keil, Gundolf / Schröder, Werner / Wachinger, Burghart / Worstbrock, Franz Josef (Hrsg.) (1977/1978–2010): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. 14 Bde. Berlin / New York. Sinner, Carsten (2012): Wissenschaftliches Schreiben in Portugal zum Ende des Antigo Regime (1779– 1821). Die memórias económicas der Academia das Ciências de Lisboa. (Forum für Fachsprachenforschung 93). Berlin. Taavitsainen, Irma / Jucker, Andreas H. (2010): Trends and developments in historical pragmatics. In: Andreas H. Jucker & Irma Taavitsainen (Hrsg.): Historical Pragmatics. (Handbooks of Pragmatics 8). Berlin / New York, 3–30. Wellmann, Hans (1996): Textarten und Sprachwandel. Zur Vorgeschichte. In: Rudolf Große & Hans Wellmann (Hrsg.): Textarten im Sprachwandel – nach der Erfindung des Buchdrucks. Heidelberg, 305–307.

WOLF PETER KLEIN

Alte Fragen, neue Antworten? Digitale Perspektiven der Erforschung alter Fachprosa, mit besonderer Berücksichtigung sprachwissenschaftlicher Aspekte 0. Einführung Es ist sicher keine besonders steile These, wenn man die Behauptung aufstellt, dass der derzeitige technische Fortschritt zu einer erheblichen Vertiefung unserer Kenntnisse über die Geschichte des alten Fachschrifttums führen wird. Allerdings mag – zumindest an einigen Punkten – noch unscharf sein, in welcher Richtung dieser Fortschritt tatsächlich zu suchen sein wird. Vor diesem Hintergrund möchte ich in der vorliegenden Skizze einige Fakten und Überlegungen präsentieren, die sich mit der zukünftigen Rolle des technischen Fortschritts bei der Erforschung alter Fachtexte befassen (Kap. 1). Ich meine damit vor allem diejenigen Arbeitskontexte, die mit dem Schlagwort Digitalisierung umschrieben werden können. Sprachhistorisch werde ich mich dabei exemplarisch auf den einschlägigen deutsch-lateinischen Sprachkontakt vor dem 18. Jahrhundert konzentrieren und in diesem Zusammenhang auch über ein laufendendes Projekt am Lehrstuhl für deutsche Sprachwissenschaft der Universität Würzburg berichten (Kap. 2). Darauf aufbauend sollen auch einige weitere Projektperspektiven entwickelt werden (Kap. 3), die am Ende zu einem kleinen Ausblick führen (Kap. 4). In allen Fällen möchte ich mich besonders auf die sprachwissenschaftlich relevante Seite des Problemfelds konzentrieren, also wissenschaftsgeschichtliche Blickrichtungen eher in den Hintergrund stellen.

1. Digitale Horizonte Wenn man ermessen will, welche Entwicklungsmöglichkeiten der technische Fortschritt beinhaltet, sollte man sich vielleicht zunächst die Stoßrichtung der etablierten historischen Fachprosaforschung vor Augen halten. Ihr grundsätzlicher Erkenntnishorizont lässt sich im Ausgang von einschlägiger Übersichtsliteratur (z. B. Haage/Wegner 2007) in einigen Leitfragen zusammenfassen. Was waren also die grundsätzlichen Fragen, die im Hauptstrom der Fachprosaforschung eine wesentliche Rolle spielten und spielen?

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– Welche Texte, Textgruppen und Textüberlieferungen gehören zur alten Fachprosa? In welche Disziplinen und Sachkontexte lässt sich das alte Fachschrifttum gliedern? – Wo finden sich einzelne Textexemplare? Welche Texte sollten aus welchen Gründen und mit welchen Organisationsprinzipien neu ediert werden? – Welche Autoren und Gelehrten-Schulen spielen eine tragende Rolle? Welche sind eher marginal? Welche Texte haben sich sachlich und / oder sprachlich gegenseitig beeinflusst? – Wie lässt sich die spezifische Sprache und das spezifische Wissen eines alten Fachprosa-Texts beschreiben? – Woher kommt die Fachsprache und das Fachwissen, das sich in einem alten Fachtext verkörpert? Welche Rolle spielen Sprach- und Kulturkontakt? – Wie wirken sich in einem Text Übersetzungsprozesse zwischen Fachleuten und Laien aus? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das sprachliche Profil und die Textorganisation eines bestimmten Werks? Natürlich lassen sich mit den obigen Fragen nicht sämtliche Forschungsarbeiten charakterisieren. Ihr zentraler Charakter lässt sich aber dadurch erfassen. Laut diesen Fragen nimmt die etablierte Forschung meistens einzelne Texte und Textgruppen in den Blick; dabei spielen oft editorische Zugriffe eine besondere Rolle. Dieser Zug der etablierten Fachprosaforschung zeigt sich beispielsweise darin, dass viele Forschungsarbeiten einem speziellen Text (ggf. sogar nur einer einzigen Handschrift, also einem einzigen Textexemplar), einem speziellen Autor oder einem speziellen Überlieferungsstrang gewidmet sind. Demgegenüber kommen größere Zahlen – z. B. viele Texte, umfangreiche Terminologien, diverse Wissenselemente – oft nicht ins Blickfeld der Forschung, vor allen Dingen nicht systematisch und in ausgedehnteren sachlichen und/oder sprachlichen Zusammenhängen. Sprachgeschichtlich ist das alles nicht unproblematisch. Denn einzelne Werke bzw. einzelne Autoren können zwar wissenschafts- und bildungshistorisch von großer, ja größter Bedeutung sein. In sprachhistorischer Sicht sind fachsprachliche Befunde jedoch erst dann wirklich einschlägig zu berücksichtigen, wenn ihre Reichweite in einer Sprache an Umfang und Wirkung zunimmt und ihre Rezeption über Einzelereignisse hinausgeht. Einfach gesagt ergibt sich die sprachwissenschaftliche Relevanz der alten Fachsprachen erst dann, wenn sie von vielen Autoren und zudem relativ einheitlich benutzt werden. Besonders interessant wird die Situation darüber hinaus in dem Moment, wenn Fachsprachen sogar auf die Gemein- bzw. Alltagssprache ausstrahlen oder Austauschprozesse zwischen diesen beiden Varietäten ins Spiel kommen. Angesichts der gerade geschilderten Problemkonstellation lässt sich der potentielle Forschungsbeitrag der neuen Technologien genauer identifizieren. Mit den innovativen Techniken der Textdokumentation und -manipulation kann man nämlich die sprachhistorischen Angriffspunkte in der Erforschung der alten Fachprosa ausdrücklicher und

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flächendeckender als zuvor thematisieren. Das lässt sich in den folgenden drei Arbeitshorizonten mit digitalen Perspektiven etwas genauer ausformulieren: a) Durch die derzeit stattfindenden, umfangreichen Digitalisierungsprojekte wird die wissenschaftliche Präsenz der alten Fachtexte erheblich gesteigert. Musste man als Fachprosaforscher vordem oft das Problem bewältigen, dass bestimmte Werke nur in einzelnen Bibliotheken eingesehen werden konnten und daher verschiedene Textfiliationen und Überlieferungsgeschichten nur mühsam mit der Zeit aufgearbeitet werden konnten, so ist derzeit absehbar, dass die Erschließungsarbeit in Zukunft kaum noch wirkliche Probleme bereiten wird. Denn durch einen Computer mit Internet-Zugang können potentiell alle relevanten Texte in digitaler Form genau gemustert werden. Dieses Szenario mag momentan noch nicht für alle Disziplinen und Teilgebiete wirklich erreicht sein. Angesichts der weltweit zahlreichen und immer leistungsstärkeren Digitalisierungsprojekte ist aber zu erwarten, dass spätestens in zehn, zwanzig Jahren Verfügbarkeitsprobleme für die Fachprosa-Forschung keine Rolle mehr spielen werden. Wer will, wird sich bald jeden (sic!) Text der Vergangenheit auf den Bildschirm holen können – jedenfalls sofern er in einer gedruckten Fassung vorliegt. b) Stattdessen wird sich die wissenschaftsmethodologische Problematik vom prinzipiellen Zugang auf die Ermöglichung eines systematischen Zugangs verschieben. Mit anderen Worten, der Zugang zu einem Text wird nicht mehr an und für sich ein Problem darstellen. Vielmehr wird man Strategien entwickeln und realisieren müssen, die die nunmehr gesicherte Textverfügbarkeit durch spezifische Gliederungs- und Kategorisierungsmaßnahmen für unterschiedlichste Fragestellungen und Theoriezusammenhänge auch wirklich fruchtbar machen. Zugespitzt gesagt: Was hilft es, wenn jeder Text unmittelbar verfügbar ist, man in dieser Vielfalt aber vollends den Überblick verliert? Das hergebrachte, recht grobe und oft unsystematische „Schlagwort-System“ der Bibliotheken wird für die avancierte Orientierung in diesen Textmassen jedenfalls nicht mehr ausreichen. c) Die neuen technischen Möglichkeiten steigern aber nicht nur die systematische Verfügbarkeit der Texte, sondern auch ihre interne Analysierbarkeit. Vor allem, wenn die Werke in Textdateien, also mit Zugriff auf einzelne Wörter, Buchstaben und andere sprachliche Details, vorliegen, wird es möglich sein, ein größeres Textkorpus in vorher ungeahntem Ausmaß nach einheitlichen Kriterien aufzuarbeiten und zu durchsuchen, um so übergreifenden Entwicklungsprozessen auf die Spur zu kommen. Je nach Forschungskontext und Fragstellung können sich solche Perspektiven auf die Graphematik, Morphologie, Lexik, Semantik, Syntax, Pragmatik, Textualität oder Semiotik der Texte beziehen. Und je nach spezifischem Fragenhorizont wird man einzelne Textgruppen mit speziellen Mechanismen für detailliertere Analyseprozeduren eigens digital verfeinern müssen. Insgesamt werden durch die technische Entwicklung jedenfalls große Datenmengen auf allen Sprachbeschreibungsebenen greifbar. Dies kann methodologisch im Sinne der mittlerweile bereits etablierten und bewährten Korpus-Linguistik erfolgen,

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aber auch mit spezifischen Datenbankkomponenten vertieft und ausgebaut werden (Klein 2013). Gegenstandstheoretisch werden durch die neuen technischen Möglichkeiten also Forschungsfragen beantwortbar, die konstitutiv und nachdrücklich über einzelne Texte und Textgruppen hinausgehen. Mit einem intelligenten Untersuchungsdesign können zahlreiche Textkompilationen mit großen Inventaren terminologischer, morphologischer, syntaktischer, textueller oder semiotischer Einheiten bewältigt werden. Diese Pluspunkte lassen sich sowohl in synchroner als auch in diachroner Hinsicht ausnutzen. Die neuen digitalen Möglichkeiten führen demnach nicht einfach dazu, dass die hergebrachten Fragestellungen der Fachprosaforschung nun schneller und genauer angegangen werden können. Der digitale Fortschritt gestattet vielmehr auch die Beantwortung neuer Fragen, die sich im alten Wissenschaftsparadigma aus praktischen Gründen gar nicht wirklich stellen ließen, weil sie jenseits der technischen Möglichkeiten lagen. Zugespitzt formuliert: Wir können die alten Fragen nicht nur genauer und sachhaltiger thematisieren als in der Vergangenheit, sondern wir können auch neue Fragen stellen, die vorher faktisch nur von heillosen Phantasten in den Raum gestellt werden konnten.

2. Würzburger Datenbank zu deutschen Fachtexten vor 1700 Die gerade skizzierten Ausblicke auf die Zukunft sind keine reinen Spekulationen, auch wenn die Ziele noch längst nicht überall erreicht sind und ihnen daher noch ein gewisser utopischer Gehalt zukommt. Als einen kleinen Baustein in dem großen neuen Projekt der digitalen Untersuchung des alten Fachschrifttums sei hier ein Projekt vorgestellt, das derzeit in Würzburg vorangetrieben wird. 1 Unter dem Titel Digitale Volltexte zur Geschichte der deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen wird dort eine bibliographische Datenbank zur frühen Geschichte der deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen erstellt. Durch eine Internet-Präsentation kommt dieses Verzeichnis unmittelbar der scientific community und der interessierten Öffentlichkeit zugute. Wie lassen sich die Ziele, der Aufbau und die Nutzungsmöglichkeiten der Datenbank charakterisieren? Der Hauptzweck des Projekts liegt darin, die weltweit existierenden Text-Digitalisierungen, die für die frühe Geschichte der deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen relevant sind, in einer Datenbank zusammenzutragen und sie so über eine einheitliche Internet-Plattform systematisch zugänglich zu machen. Wer also die Sprachgeschichte des Deutschen im Blick auf Fach- und Wissenschaftssprachen erforschen möchte, wird 1

Vgl. dazu auch Stahl/Zimmermann (2013). Neben Dr. Peter Stahl und Dr. Ralf Zimmermann gehören die studentischen Hilfskräfte Jonathan Gaede und Patrick Geißler zum Würzburger Projektteam.

Alte Fragen, neue Antworten?

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hier reichhaltiges (Text-) Material finden und detailliert weiter bearbeiten können. Unter der „frühen“ Geschichte wird in diesem Zusammenhang der Zeitraum vor dem Jahr 1700 verstanden. Zur Zeit (Stand: Juni 2012) enthält die Datenbank Verweise auf weit über 1.500 Digitalisate. Bei den Digitalisaten handelt es sich in der Regel um Texte, die in deutscher Sprache abgefasst sind und die einen mehr oder weniger deutlichen Fachund/oder Wissenschaftsbezug aufweisen. Die systematische Verfügbarkeit der Digitali2 sate zeigt sich unmittelbar an der Eingabemaske für Suchen in der Datenbank (Abb.1):

Abb. 1: Eingabemaske: http://www.fachtexte.germanistik.uni-wuerzburg.de/

Demnach lassen sich die digitalisierten Texte durch eine Eingrenzung über ein Aufklappmenü anzeigen, das die fraglichen Sachbereiche bzw. Wissenschaftsdisziplinen sowie die Angabe des Jahrhunderts enthält. Die Jahrhunderte reichen bis in das 12. Jahrhundert zurück. Bei den Sachbereichen sind derzeit 31 Möglichkeiten vorgesehen. Anhand der Liste der (chronologisch geordneten) Suchergebnisse (Abb. 2) lässt sich direkt zu den betreffenden Texten springen. Anhand von blauen – und roten Symbolen hinter den Titeln der einzelnen Suchergebnisse können bei einigen Einträgen orientierende Textteile z. T. direkt angesteuert werden (Inhaltsverzeichnis / rot, Register / blau). So ist es z. B. möglich, sich rasch und im Zusammenhang deutschsprachige biologische Fachtexte aus dem 16. Jahrhundert (z. Zt.: 19) anzuschauen und die betreffenden Inhaltsverzeichnisse und Register ggf. direkt aufzurufen. Die derzeitige quantitative Verteilung der Links zu den Digitalisaten, geordnet nach Sachbereichen, kann man der Tabelle 1 entnehmen.

2

Alle Angaben und Illustrationen zur Datenbank und ihrer Internet-Präsentation beziehen sich auf den Arbeitsstand vom Juli 2012.

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Abb. 2: Suchergebnisse (16. Jh., Biologie (Ausschnitt))

Generell lässt sich wohl behaupten, dass durch die relativ große Menge der bereits erfassten Texte schon ein einigermaßen repräsentatives Bild zur frühen Situation der deutschsprachigen Fachtexte vor 1700 gezeichnet werden kann. Dominiert wird das Textkorpus vor allem durch zahlreiche astronomisch-astrologische, medizinische und (al-)chemische Texte. Dem folgen in quantitativer Hinsicht Fächer mit einem unmittelbar praktischen Gehalt, vor allem Bergbau/Metallurgie, Jurisprudenz, Militär/Kampfkunst, Bauwesen/Architektur und verwandte Technik-Schriften. Zur praktischen Komponente gehören auch noch die Disziplinen Mathematik und Biologie, da hier meistens konkrete Anwendungsituationen im Hintergrund stehen (z. B. Landvermessung, Wirtschaftsbuchführung, Heilkräuter).

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Alte Fragen, neue Antworten? Sachbereich Astronomie und Astrologie Medizin Chemie und Alchemie Bergbau und Metallurgie Jurisprudenz Militär und Kampfkunst Bauwesen und Architektur Technik und Verwandtes Mathematik Biologie Kochkunst Theologie Wörter- und Handbücher Grammatik Philosophie Viehzucht und Haustiere Gartenbau Rhetorik und Formularbücher Geologie und Geographie Weinbau und Bierbrauerei Land- und Ackerbau Gynäkologie Wirtschaft und Handel Meteorologie Pädagogik Musik und Akustik Balneologie (Bäderkunde) Schiffsbau und Schifffahrt Postwesen Druckwesen Textilien und Kleidung

Anzahl Digitalisate 274 241 232 189 157 152 131 89 79 63 49 43 42 36 34 28 20 19 17 16 15 12 11 9 8 6 4 3 2 1 1

Tab. 1: Sachbereiche + Anzahl der Digitalisate

Neben der Eingrenzung durch Angabe des Zeitraums und / oder des Sachbereichs erlaubt die Datenbank auch Abfragen nach dem Textautor, dem Texttitel und dem Erscheinungsort. Die Verteilung der Schriften nach Druckorten lässt sich zudem über eine Kartenfunktion anzeigen. Dabei werden die Druckorte an und für sich durch ein blaues Ballon-Symbol markiert, zusätzlich aber auch nach der Anzahl der dort erschienenen

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Texte gekennzeichnet: an dunkelblau markierten Orten wurden mehr als 50 Werke gedruckt, an mittelblauen Orten 11 bis 50 Werke, an hellblauen 1 bis 11 Werke. Diese Kartendarstellung kann überdies nach Zeiträumen differenziert werden. Über die kartographischen Ortssymbole lässt sich durch Anklicken direkt zu den Suchergebnissen springen, von wo wiederum direkt die betreffenden Texte aufgerufen werden können. Die Karte der Druckorte für den Gesamtzeitraum sieht wie folgt aus (Abb. 3).

Abb. 3: Digitalisate nach Druckorten (Ausschnitt; 12.–17. Jahrhundert)

Vergegenwärtigt man sich mit diesem Hilfsmittel die grobe Entwicklung der bevorzugten Druckorte über die Jahrhunderte, so lässt sich eine Bewegung identifizieren, die auch aus anderen Zusammenhängen schon bekannt ist: Das Zentrum der Erstellung bzw. Publikation von deutschen Fachschriften verschiebt sich nämlich seit dem 15. Jahrhundert aus Süddeutschland in den ostmitteldeutschen Raum. Dabei ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass auch in anderen Regionen immer wieder (vereinzelte) Fachtexte erschienen. Zum Schluss dieser kurzen Projektdarstellung sei noch einmal der Gesamtcharakter der Datenbank vor Augen geführt. Es sollte klar geworden sein, dass es sich hierbei nicht um ein eigenständiges Digitalisierungsprojekt handelt. Eher könnte es als eine Art von Meta-Digitalisierung verstanden werden. Denn weltweit existierende Textdigitalisate werden mit Blick auf einen konkreten Untersuchungsaspekt (deutsche Fachtexte vor 1700) versammelt und spezifisch auswertbar präsentiert. Ohne die an anderen Stellen erfolgten Textdigitalisierungen, die im Internet frei verfügbar sind, wäre das Projekt nicht auf den Weg gekommen. Natürlich ist zu hoffen, dass die unterschiedlichen

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Alte Fragen, neue Antworten? Anbieter UB Dresden ULB Sachsen-Anhalt Wolfenbütteler Digitale Bibliothek Bayerische Staatbibliothek Staatsbibliothek Berlin VD17 Göttinger Digitalisierungszentrum UB Heidelberg Universität Gießen Universität Straßburg European Cultural Heritage Online Gallica (Paris) HUMI Projekt, Keio Univ. Links z. Zt. Defect Vedecká knihovna v Olomouci dilibri Rheinland-Pfalz Johannes a Lasco Bibliothek Schoenberg Centre for Electronic Text & Image Universität Mannheim Association for Renaissance Martial Arts (ARMA) Bibliotheka Augustana (FH Augsburg) BIUM Digitale Bibliothek Braunschweig Google Books Kräuterbuch – Projekt Medizinische Universität Wien Miami Münster Miskolci Museum Monumenta Germaniae Historica UB Tübingen Universität Marburg Universität Würzburg, Lehrstuhl f. dt. Sprachwissenschaft UB Augsburg UB Eichstätt-Ingolstadt UB Jena Warburg Insitute Wikimedia Commons Wikisource Zentrale für Unterrichtsmedien (ZUM)

Anzahl Digitalisate 589 213 184 147 105 84 72 57 15 12 8 6 5 5 5 3 2 2 2

je 1

Tab. 2: Anbieter + Anzahl der Digitalisate

technischen Umgebungen der Digitalisate in Zukunft stabil bleiben werden, vor allem die einschlägigen URL- bzw. URN-Adressen. Denn wenn sich hier Änderungen erge-

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ben, müssen sie auch mühsam per Hand in die Datenbank eingepflegt werden, damit die Links weiterhin zu ihrem Ziel führen. Auch angesichts dieser Problematik seien am Ende die verschiedenen Anbieter der Text-Digitalisate aufgezählt (Tabelle 2). Sie haben – häufig durch DFG-Unterstützung – für die elektronische Verfügbarkeit der Texte gesorgt. Die meisten Institutionen stammen – das ist nicht verwunderlich – aus dem deutschsprachigen Raum. Insbesondere die Digitalisierungsprojekte an der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) (Projekt Technikgeschichte), der Universitäts-und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, der HerzogAugust-Bibliothek und der Bayerischen sowie der Berliner Staatsbibliothek sind zu nennen (s. Tab. 2).

3. Die Geschichte der deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen: Von der Experimentierphase zum Stabilitätsstadium Die Würzburger Datenbank Digitale Volltexte zur Geschichte der deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen ist selbstverständlich nur ein erstes Hilfsmittel für die Erforschung der älteren Fachprosa – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Obwohl darin schon viel Energie investiert wurde, ist sie in bestimmter Hinsicht ein Ausgangspunkt für die sprachhistorische Arbeit, kein Endpunkt. Wie könnte vor diesem Hintergrund ein innovatives Projekt aussehen, in dem auf der Basis der neuen technischen Möglichkeiten unsere Kenntnis des älteren Fachschrifttums ausgeweitet wird? Zum Abschluss möchte ich – in lockerer Anbindung an die existierende Forschung – einige vorläufige Ideen in dieser Richtung formulieren. Wenn man die älteren Fachtexte aus sprachwissenschaftlicher Perspektive thematisiert, so sticht zunächst die Übersetzungsperspektive ins Auge: für viele frühe deutsche Termini gab es – in welcher Form auch immer – lateinische Vorgaben.3 Dem korrespondiert der Umstand, dass die lateinische Vorgabe oft als die offizielle, internationale, akademische Variante gelten kann, während die deutsche Vokabel demgegenüber für Regionalität und (laienhafte) Praxis steht. Vor diesem Horizont muss der allmähliche 3

Wissenschaftssprachgeschichtlich gibt es dafür eine einschlägige Vorgeschichte, nämlich die Entstehung der lateinischen aus der griechischen Wissenschaftssprache (grundsätzlich orientierend Baier 2011). Insgesamt kann der Einfluss antiker Vorgaben auf die europäische Wissenschaftssprachgeschichte kaum überschätzt werden. Sowohl objektsprachlich (v. a. lexikalisch, textstrukturell) als auch metasprachlich basiert die Entwicklung in Deutschland seit alter Zeit auf diesen Fundamenten, vgl. zu den Vorgaben etwa Fögen (2003, ders. 2009), Fuhrmann (1960), Meissner (1999). Auch ein systematischer, mehrdimensionaler Vergleich zwischen der lateinisch-griechischen und der lateinisch-deutschen Übersetzungskonstellation ist ein Desiderat der historischen Wissenschaftssprachforschung.

Alte Fragen, neue Antworten?

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und in Teilen überaus komplexe Übergang von der lateinischen zur deutschen Wissenschaftssprache gesehen werden (Klein 2011a, b). Bisher wurde kaum versucht, die Vielschichtigkeit dieses sprachhistorischen Prozesses durch eine genauere theoretische Modellierung greifbar und transparenter zu machen. Eine Ausnahme bildet hier Schiewes Arbeit zum Sprachwandel an der Universität Freiburg. Er betrachtet den Übertragungsprozess unter dem Leitbegriff des Wandels von „Denkstilen“ und identifiziert insofern auch einige zentrale „Beschreibungsprinzipien“, die auf verschiedene „universitäre Sphären“ bezogen werden (Schiewe 1996: 116ff, 186ff). Anknüpfend an derartige Versuche möchte ich die These in den Raum stellen, dass die Erforschung der frühen deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen durch eine grundsätzlich soziopragmatische Betrachtungsperspektive fundiert werden sollte. Die beobachtbaren sprachlichen Befunde gewinnen ein realistisches Profil, indem sie mit den sozialen Rahmenbedingungen des vormodernen Expertentums korreliert werden. In diesem Sinn nehme ich für die Entstehung der deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen und den Übergang vom Lateinischen zum Deutschen programmatisch eine Experimentierphase an, die allmählich in ein Stabilitätsstadium übergeht. Stichwortartig können diese beiden Phasen wie folgt näher charakterisiert werden (s. Tab. 3). Natürlich ist die Ansetzung eines solchen Szenarios in verschiedenen Hinsichten alles andere als unproblematisch. Was die Zeiträume angeht, so wird man die Experimentierphase im Kern vor das 18. Jahrhundert legen, während das Stabilitätsstadium in vielen Fällen im 19. Jahrhundert erreicht wird. Insgesamt sind die zeitlichen Verhältnisse jedoch stets von den einzelnen Disziplinen und Sachkontexten abhängig. In der Biologie hält sich im Zuge der terminologischen Revolution von Linné beispielsweise noch lange die lateinische Sprache, während man in der Philosophie im 18. Jahrhundert definitiv zum Deutschen übergeht. Mit Experimentierphase bezeichne ich den Umstand, dass der Beginn der deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen konstitutiv durch Instabilität und Uneinheitlichkeit geprägt ist. Dieser Zug zeigt sich lexikalisch dadurch, dass für denselben Referenten häufig unterschiedliche Termini kursierten und zunächst völlig unklar war, welcher Terminus sich aus welchen Gründen am Ende gegen die konkurrierenden Varianten durchsetzen sollte. Einschlägig ist hier die sprachhistorische Rede von der Existenz von Zwillingsformeln, Doppelformen oder Dubletten, z. B. v. Polenz (1994: 349ff), detailliert anhand von Wortbildungsdaten Brendel u. a. (1997). Eine solche Situation lässt sich als Resultat von Experimentierprozessen begreifen: Man probierte verschiedene deutsche Übertragungen aus dem Lateinischen aus, kreierte vielleicht native deutsche Komposita oder nutzte von Fall zu Fall andere lexikalische Möglichkeiten, um den fachlichen Wortbedarf mehr oder weniger ad hoc und zunächst nur regional, sachlich und sozial begrenzt zu stillen. Die Frage, welches Experiment am Ende erfolgreich sein, sich gegen andere durchsetzen und die jeweilige Fachsprache punktuell stabilisieren

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Soziopragmatik

Sprache

E x pe r i me nt i e r phas e Uneinheitliche und instabile Terminologie  Dubletten, Doppel- u. Zwillingsformen  Latein ↔ Deutsch  ad hoc-Übersetzungen ins Dt.  orthogr. Instabilität Unstabile bzw. nicht-vorhandene Textorganisationsmuster

S t abi l i t ä t s s t adi um Einheitliche und stabile Terminologie  keine Dubletten  Deutsch, integrierte Eurolatinismen, Internationalismen  orthogr. Stabilität Stabile Textorganisationsmuster  schriftl.: z. B. wiss. Ztschr., Fachwörterbücher, Lehrbücher  mdl.: Vortrag, Vorlesung

Medial mit starker mündlichen Komponente

Medial schriftlich und mündlich

Keine soziale Institutionalisierung von Wissenschaft u. Expertentum

Soziale Institutionalisierung von Wissenschaft u. Expertentum in  Fachgesellschaften,  Schule, Studium, Ausbildung  nationalen und internationalen Dimensionen Viele Fachleute und Wissenschaftler, zunehmende Populärwissenschaft

Wenige Fachleute und Wissenschaftler Tradierte Wissensbestände

Tradierte und innovative Wissensbestände

Tab. 3: Entwicklung der deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen, soziopragmatisch fundiert

würde, kann man nur im nachhinein mit einer größer angelegten Untersuchung beantworten. Solche Erprobungsprozesse lassen sich in der Medizin, also einer ganz zentralen Disziplin, bis in die Zeit des Althochdeutschen zurückverfolgen (Riecke 2004). Einschlägig sind darüber hinaus biologisch-botanische Arbeitszusammenhänge (Seidensticker 1997, ders. 1999). Die Instabilitäten, die aus vielfältigen Sprachexperimenten folgten, manifestieren sich vermutlich auch in textlinguistischen Befunden. Allerdings könnte hier möglicherweise eine etwas stärkere Stabilität und Einheitlichkeit geherrscht haben, da durch die offen zutage liegende Funktionalität der Texte sowie die starke Adressatenorientiertheit der (frühneuzeitlichen) Autoren schon früh eine gewisse Homogenisierung gegriffen haben dürfte.4

4

Vgl. z. B. Habermann (2001), Gloning (2010), für Wirtschaftstexte Tophinke (1999), für fachlexikographische Kontexte Müller (2001: Kap. VII), für die didaktische Seite der Problematik Baldzuhn (2007).

Alte Fragen, neue Antworten?

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Unter einer soziopragmatischen Fundierung der Wissenschaftssprachforschung verstehe ich nun, wie oben bereits angedeutet, eine analytische Perspektive, in der die gerade skizzierten Eigentümlichkeiten der frühen Fachsprachentwicklung mit den damaligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Sprachproduktion kurz geschlossen werden. Dazu ist zunächst zu bemerken, dass in der Experimentierphase nur sehr kleine Zirkel von Fachleuten existierten. Sie sind – anders als die etablierte lateinische Gelehrsamkeit und die spätere moderne Wissenschaft – noch nicht durch eine spezifische, fachlich orientierte Gruppen bildung miteinander verbunden. Dieser ungefestigte Charakter verkörpert sich beispielsweise darin, dass keine bzw. kaum fachspezifische Expertengemeinschaften („Verbände“, „Gesellschaften“ o. ä.) existierten. Auch andere Instanzen sozial institutionalisierter Fachsprachlichkeit gab es noch nicht, so etwa keine Redaktionen von Fachzeitschriften, Gutachter-Komitees oder staatlich (oder auch nur regional) vereinheitlichte Ausbildungswege für bestimmte Expertengruppen. Die uns überlieferten Dokumente früher deutscher Fachsprachlichkeit repräsentieren insofern oft sehr persönlich gehaltene, nur gebietsweise eine gewisse Traditionskraft entfaltende Sprachformen, die überdies sachlich oft an Einzelproblemen orientiert waren. Akzeptiert man die oben geschilderte Lageschilderung als Ausgangsbasis für eine größere Analyse, so ergeben sich einige zentralen Untersuchungsfragen: Insgesamt muss es darum gehen zu ermitteln, wie sich aus der Experimentierphase allmählich das Stabilitätsstadium entwickelt. Dazu ist es erstens nötig, genauer zu klären, wie das Ausmaß und das Profil der Instabilität in der Experimentierphase beschaffen waren. Zweitens muss im Detail und aufgrund größerer Datenmengen geklärt werden, welche Entwicklungsprozesse aus der instabilen Experimentierphase zum Stabilitätsstadium geführt haben. Von besonderem Interesse ist dabei die Analyse des Problems, welche der konkurrierenden Experimentierstrategien am Ende (mehrheitlich) zum Erfolg führen und eine überwiegend stabile Fachsprache konstituieren. In beiden Fällen sind sowohl sprachliche Daten (v. a. Lexik, Semantik, Textstrukturen) als auch der soziopragmatische Kontext in Rechenschaft zu ziehen, gleichermaßen in synchroner und in diachroner Perspektive. Ferner dürfte es sinnvoll sein, diese Strukturen und Prozesse jeweils abhängig von bestimmten Sachbereichen bzw. Disziplinen zu thematisieren. Vor diesem Hintergrund sei kurz angedeutet, dass die oben vorgestellte Datenbank Digitale Volltexte zur Geschichte der deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen um eine fachlexikologische Detailkomponente ergänzt werden soll. Sie wird ebenfalls auf digitaler Basis erstellt und zur Zeit für die Internet-Präsentation vorbereitet. Ziel ist es hierbei, die terminologische Seite der Experimentierphase an ausgewählten Disziplinen durch eine elektronische, quasi-fachlexikographische Arbeitsumgebung zugänglich zu machen. Dahinter steckt ein ambitioniertes Projekt, insofern auch hier große, heterogene Datenmengen aus einer Vielzahl von Texten extrahiert und präsentiert werden müssen. Dabei sind verschiedenartige Schwierigkeiten zu überwinden: Da ist zunächst der bedauernswerte Umstand, dass die meisten digitalen Texte der Datenbank nur als BildDateien, also nicht in digitaler Textform, vorliegen. Inhaltlich ist die ältere Fachtermino-

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logie außerdem durch verschiedene Variationsdimensionen gekennzeichnet: orthographisch, semantisch, in Bezug auf eventuelle lateinische Vorgaben, regional. Diese Variationen verhindern oft eine einfache Beantwortung der Frage, ob bei zwei Textwörtern derselbe Terminus, nur eben (ausdrucksseitig) variiert, oder zwei unterschiedliche Termini vorliegen. Mit dieser Variationsproblematik wiederum sind erhebliche Probleme beim Aufbau einer konsistenten, praktisch gut handhab- und abfragbaren Datenbankstruktur verbunden. Wahrscheinlich können die Probleme durch eine typische digitale Strategie – zumindest ansatzweise – gelöst werden. Es sollen nämlich schnelle Abfragen in großen Datenmengen und nach unterschiedlichen Kriterien sowie ggf. nur teil-lexikalisch (Stichwort: Trunkierung) möglich gemacht werden. Als Bezugseinheit dienen weiterhin die vorhandenen Textdigitalisate, die nicht nur als Ganze, sondern auch seitenweise angesteuert werden können und so einen breiten, systematischen Zugang zu einzelnen fachlexikologischen Befunden ermöglichen. Nach einer solchen Detail-Aufarbeitung der Texte mit Datenbankunterstützung hätte man – jedenfalls prinzipiell – die Möglichkeit, die angesprochenen Variationsdimensionen empirisch genauer zu erheben und in einer großen Menge von Einzelfällen zu untersuchen. In jedem Fall ist auch diese Arbeitsumgebung letztlich wieder nur ein Hilfsmittel für methodisch reflektierte fachlexikologische Analysen. Durch dieses Werkzeug wird es aber möglich sein, rasch zu den neuralgischen Punkten Zugang zu finden, die die lexikalische Instabilität der frühen deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen ausmachen. In einem zweiten Schritt wären auf dieser Basis die Verlaufsmuster der weiteren Entwicklung zu analysieren. Insbesondere die sprachlichen, sachlichen und sozialen Strategien und Prozesse, durch die die Stabilität der Fach- und Wissenschaftssprachen vorbereitet und gesichert wird, müssen in den Blick kommen. Dadurch wird man die deutsche Sprachgeschichte als eine Fortschrittsgeschichte beschreiben können. Strukturell ergeben sich auch interessante Vergleichspunkte mit der Entstehung und Durchsetzung der deutschen Standardsprache seit dem 18. Jahrhundert: Unsichere, variationsreiche Instanzen werden allmählich durch stärkere Einheitlichkeit und Homogenität geprägt, wodurch das Varietätengefüge des Deutschen neu ausbalanciert wird. Es entstehen Fach- und Wissenschaftssprachen im modernen Sinn.

4. Fazit Mit den obigen Ausführungen hoffe ich gezeigt zu haben, dass und wie die Fachprosaforschung von den modernen digitalen Möglichkeiten der Textdokumentation und Textanalyse profitieren kann. Hauptsächlich die dokumentarische und die quantitative Seite der Forschung werden von den neuen Technologien unterstützt. Dokumentarisch wird mithilfe der weltweit existierenden Textdigitalisate die problemlose Verfügbarkeit

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der alten Texte unter systematischen Aspekten ermöglicht. Quantitativ geraten neue Fragen in den Blick, die als Ergänzung und Erweiterung der alten Forschungshorizonte verstanden werden können. Als erkenntnisleitend habe ich im Zusammenhang der frühen Geschichte der deutschen Fach- und Wissenschaftssprachen die Unterscheidung der Experimentierphase vom Stabilitätsstadium angesetzt. Mit einer fachlexikologischen Detailkomponente ist auf breiter Datenbasis und mit soziopragmatischer Fundierung zu ermitteln, welche unterschiedlichen Experimentierstrategien und sprachlichen Einheiten in welcher Verteilung in den unterschiedlichen Disziplinen und Sachbereichen zum Tragen kamen und wie sie allmählich in ein Stabilitätsstadium überführt wurden.

Literatur Baier, Thomas (2011): Die Entstehung der lateinischen Wissenschaftssprache aus der hellenistischen griechischen Literatur. In: Wieland Eins, Helmut Glück, Sabine Pretscher (Hrsg.): Wissen schaffen – Wissen kommunizieren. Wissenschaftssprache in Geschichte und Gegenwart. (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart, 8). Wiesbaden, 19–33. Baldzuhn, Michael (2007): Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der „Fabulae“ Avians und der deutschen „Disticha Catonis“. Berlin. Brendel, Bettina / Frisch, Regina / Moser, Stephan / Wolf, Norbert Richard (1997): Wort- und Begriffsbildung in frühneuhochdeutscher Wissensliteratur. Substantivische Affixbildung. (Wissensliteratur im Mittelalter 26). Wiesbaden. Fögen, Thorsten (2003): Metasprachliche Reflexionen antiker Autoren zu den Charakteristika von Fachtexten und Fachsprachen. In: Marietta Horster & Christiane Reiz (Hrsg.): Antike Fachschriftsteller. Literarischer Diskurs und sozialer Kontext. Stuttgart, 32–65. Fögen, Thorsten (2009): Wissen, Kommunikation und Selbstdarstellung. Zur Struktur und Charakteristik römischer Fachtexte der frühen Kaiserzeit. Teilw. zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Habil.-Schr., 2008. München. Fuhrmann, Manfred (1960): Das systematische Lerhrbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften in der Antike. Göttingen. Gloning, Thomas (2010): Funktionale Textbausteine in der historischen Textlinguistik. Eine Schnittstelle zwischen der Handlungsstruktur und der syntaktischen Organisation von Texten. In: Arne Ziegler (Hrsg.) unter Mitarbeit von Christian Braun: Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen. Traditionen, Innovationen, Perspektiven. Berlin / New York, 173–193. Haage, Bernhard Dietrich / Wegner, Wolfgang (2007): Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit. (Grundlagen der Germanistik 43). Berlin. Habermann, Mechthild (2001): Deutsche Fachtexte der frühen Neuzeit. Naturkundlich-medizinische Wissensvermittlung im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache. (Studia Linguistica Germanica 61). Berlin / New York. Klein, Wolf Peter (2011a): Deutsch statt Latein! Zur Entwicklung der Wissenschaftssprachen in der frühen Neuzeit. In: Wieland Eins, Helmut Glück, Sabine Pretscher (Hrsg.): Wissen schaffen – Wissen kommunizieren. Wissenschaftssprache in Geschichte und Gegenwart. (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart 8). Wiesbaden, 35–47.

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Wolf Peter Klein

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LENKA VAŇKOVÁ

Zum Korpus deutscher medizinischer Texte des 14.–16. Jahrhunderts aus böhmischen und mährischen Bibliotheken und Archiven

1. Einleitung Die Erforschung von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Handschriften weist in Tschechien eine lange Tradition auf. Im Fokus des Interesses von tschechischen Germanisten standen jahrelang literarische und kanzleisprachige Texte, während Überlieferungen deutscher Fachprosa fast unbeachtet blieben. Dabei sind Quellen solcher Disziplinen wie Bergbau, Hüttenwesen, Forstwirtschaft, Medizin, Musik, Jura u. a. in böhmischen und mährischen Archiven in beträchtlichem Umfang vorhanden.1 Es waren zuerst deutsche Forscher, die ihre Aufmerksamkeit auf diese Quellen gerichtet haben, wobei vorrangig Texte aus dem naturwissenschaftlich-medizinischen Bereich untersucht wurden. Die vorliegenden Forschungsergebnisse sind vor allem mit den Namen von Gerhard Eis und Gundolf Keil verbunden. Davon, dass die in Deutschland betriebene Forschung von den in böhmischen und mährischen Bibliotheken und Archiven aufbewahrten Handschriften Notiz genommen hat, zeugen auch Informationen über Quellen aus Böhmen und Mähren im ‚Verfasserlexikon‘ ebenso wie Verweise auf tschechische Archivbefunde in anderen Publikationen.2 Schon vor mehr als hundert Jahren begann das Handschriftenarchiv (HSA) der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit einem riesigen Projekt der umfassenden Erschließung sämtlicher mittelalterlicher Handschriften, in dessen Rahmen bis heute mehr als 20 000 Beschreibungen deutschsprachiger Handschriften aus Bibliotheken des In- und Auslands, darunter auch aus Tschechien,3 vorgenommen wurden. Wie J. Wolf anführt (2007: 111), entfallen etwa 10 % aller Beschreibungen auf Handschriften mit medizinischen und/oder naturkundlichen Inhalten, was insgesamt 1 2

3

Vgl. den Artikel von Skála (2000), in dem er auf archivalische in Böhmen aufbewahrte Quellen deutscher Fachprosa aufmerksam macht. So findet man z. B. in der ‚Macer‘-Ausgabe von Schnell (2003) Verweise auf Macer-Texte in der Handschrift Ib 25 der ehemaligen Fürstenbergischen Bibliothek auf der Burg Křivoklát sowie in den Handschriften der Prager Nationalbibliothek (Cod. XV E 17, Cod. XVI G 23, Cod. XXIII F 129). Vgl. J. Wolf (2007). Nach Angaben von Wolf (2007: 111) sind aus Tschechien 819 Handschriftenbeschreibungen vorhanden.

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ungefähr 1500–2000 Manuskripte darstellt. Die vor einigen Jahren in Angriff genommene Digitalisierung der vorliegenden Archivbeschreibungen ermöglicht nun allen Interessierten einen schnellen Zugriff und Recherchen auch im Hinblick auf das medizinisch-naturkundliche Schrifttum. Dank all dieser Tatsachen könnte das Handschriftenarchiv nach Wolf (2007: 107) „künftig als Schatzkammer der medizin- und naturhistorischen Forschung eine wichtige Rolle spielen“, wobei er annimmt, dass „in den Stadt- und Klosterbibliotheken in Osteuropa, in den alten böhmischen und schlesischen Siedlungsgebieten noch viele Handschriften liegen, die vorzugsweise kleinere medizinische Einträge, Notizen und einzelne Rezepte, aber auch umfangreichere Rezeptsammlungen enthalten“ (Wolf 2007: 107). In diesem Sinne kann die in Tschechien seit Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Germanistik betriebene Untersuchung von deutschen medizinischen Handschriften als Ergänzung der in den deutschsprachigen Ländern seit Jahrzehnten verlaufenden Bestrebungen aufgefasst werden.

2. Zur Erforschung der medizinischen Handschriften in Tschechien Das Augenmerk wurde zuerst auf Mähren gelenkt. Im Rahmen des Projekts ‚Medizinische Fachprosa aus Mähren‘ (Vaňková 2002–2004) wurden einige wichtige in Mähren aufbewahrte Quellen einer Analyse unterzogen. Ergebnisse dieses Projekts liegen in zahlreichen Artikeln und zwei Monographien vor: Die eine – ‚Medizinische Fachprosa aus Mähren. Sprache – Struktur – Edition‘ (Vaňková 2004) – analysiert medizinische Handschriften des 15. Jahrhunderts aus Olmütz, die andere – ‚Mësue und sein Grabadin. Ein Standardwerk der mittelalterlichen Pharmazie. Edition – Übersetzung – Kommentar‘ (Vaňková/Keil 2005) – bietet die einzige bisher bekannte deutsche Übersetzung des aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts stammenden lateinischen pharmazeutischen Kompendiums.4 An die sich auf Mähren beschränkende Forschung wurde mit dem Projekt der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik (Vaňková 2009–2012) ‚Verzeichnis und grundsätzliche philologische Auswertung der deutschen medizinischen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften, die in den böhmischen Ländern aufbewahrt werden‘5 angeknüpft. 4 5

Vgl. dazu auch Keil/Groß (2008), die bei ihrem Überblick über die medizinischen FachprosaDenkmäler aus dem mittelalterlichen Schlesien den mährisch-schlesischen Raum mit einbeziehen. Dieser Beitrag entstand im Rahmen dieses Projekts IAA901860901. Zum Forschungsteam gehören auch Prof. PhDr. Václav Bok, CSc. von der Universität in České Budějovice/Budweis und PhDr. Lenka Vodrážková, Ph.D. von der Karlsuniversität in Prag. Zum großen Dank für die fachliche Beratung sind wir Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr.h.c. Gundolf Keil (Würzburg) verpflichtet.

Zum Korpus deutscher medizinischer Texte des 14.–16. Jahrhunderts

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Dieses Projekt setzt sich mehrere Ziele: Sein erstes Ziel ist es, einen Katalog der aus dem 14.–16. Jahrhundert stammenden Handschriften zusammenzustellen, die medizinische/pharmazeutische Texte beinhalten. Um alle Handschriften aus dieser Periode, die sich in unseren Bibliotheken und Archiven befinden, zu erfassen, wurden einerseits Stadt-, Kreis- und Gebietsarchive mittels einer Umfrage angesprochen, andererseits wurde mit verfügbaren Handschriftenkatalogen gearbeitet. Aus der Archiv-Umfrage hat sich ergeben, dass in den Stadt-, Kreis- und Gebietsarchiven medizinische Texte der gegebenen Periode nur ausnahmsweise belegt sind. So befinden sich in der Zweigstelle des Staatlichen Gebietsarchivs Litoměřice/Leitmeritz [Státní oblastní archiv Litoměřice] in Děčín/Tetschen 2 Blätter mit medizinischen Texten, die zum Familienarchiv der Tetschener, ursprünglich aus Südtirol stammenden Grafen von Thun-Hohenstein, gehörten (die Analyse dieser Schriftstücke legt L. Vodrážková in diesem Band vor). Einige Rezepte sind auch im Gebietsarchiv Jihlava/Iglau, in den Fonds der Stadt Jihlava, in der Handschrift Nr. 13 zu finden. In den Stadt-, Kreis- und Gebietsarchiven kann man eher Texte antreffen, die städtische medizinische Angelegenheiten dokumentieren, wertvolle Informationen über die medizinischen Zustände bieten und die Organisation der Krankenpflege in der Vergangenheit beleuchten. Sie stammen jedoch meist erst aus jüngerer Zeit.6 In den untersuchten Zeitraum fallen lediglich Aktenmaterialien, die sich in den Fonds des Stadtarchivs von Cheb/Eger Nr. 261 befinden. Es geht um Dokumente, die sich auf die Tätigkeit von Badern, Barbieren und Wundärzten in der Periode zwischen 1483–1547 beziehen,7 und Schriftstücke, die Streitigkeiten über die Kompetenzverteilung zwischen Badern, Bar8 bieren und Scharfrichtern bezeugen. Viel ergiebigere Ergebnisse als die Archiv-Umfrage haben die Recherchen von Kata9 logen größerer Archive (Landesarchive) und Bibliotheken erbracht, wobei wir uns meist nicht nur auf diese verlassen, sondern viele Handschriften vor Ort gesichtet haben. Es hat sich nämlich gezeigt, dass die Beschreibung der Handschriften in den Katalogen manchmal ganz allgemein formuliert wurde und dass zahlreiche Texte darin überhaupt nicht angeführt sind. Zum Beispiel wurde bei der Sichtung der Handschrift MS c 18 der Majoratsbibliothek der Grafen Nostitz in Prag auf dem Bl. 98r–v die Traumdeutung Heinrichs von 6

7

8 9

Zum Beispiel gibt es im Archiv der Stadt Olmütz mehrere handschriftliche Dokumente aus dem 17. Jahrhundert wie Eidesformeln von Ärzten und Hebammen, Bewerbungen von Hebammen um eine Stelle, Anordnungen in der Pestepidemiezeit sowie verschiedene Schriftstücke über Spitalangelegenheiten. Zu schriftlichen Dokumenten, die mit der Anklage einer Hebamme wegen ihrer fehlerhaften Vorgehensweise bei der Behandlung eines Kindes im Zusammenhang stehen, vgl. Vaňková (2009; 2012b). Im Archiv von Cheb/Eger liegen z. B. Bader- und Wundarztordnungen des 16. Jhs. vor, die auf Ersuchen des Egerer Stadtrates aus Nürnburg geschickt wurden. Vgl. Vaňková (im Druck). Es ging u.a. um Schloss-, Kloster- oder Universitätsbibliotheken.

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Mügeln gefunden, die in der Fachliteratur unter dem Titel ‚Von den naturlichen troymen‘ bekannt ist. Die Prager Überlieferung stellt den siebenten Textzeugen dar, und zwar in der Fassung, die sonst in Wien, München und Heidelberg überliefert ist und bisher nicht ediert vorlag.10 Es ist bemerkenswert, dass – auch wenn in Šimáks (1910) ziemlich ausführlichem Katalog der Nostitz-Bibliothek dieser Text nicht ausgewiesen ist – der Prager Textzeuge im ‚Verfasserlexikon‘ verzeichnet ist. Ähnlich konnten die Informationen im Katalog der Handschriften der ehemaligen Fürstenbergischen Bibliothek auf Burg Křivoklát von Pražák (1969) ergänzt werden. Man findet hier z. B. bei der Beschreibung der Handschrift I b 25 in Bezug auf den Inhalt nur die Angabe, dass den Kern dieser Handschrift das ‚Arzneibuch Ortolfs von Baierland‘ (1ra–48va, einzelne Teile im ganzen Buch verstreut) darstellt. Von den anderen Texten nennt Pražák noch ‚des Jacob Juden Ertzney 1539 von Prag‘ (97v–101r) und Rezepte von Albich (174v–178v). Eine detaillierte Untersuchung der Handschrift I b 25 zeigte, dass man darin u. a. zwei Kräuterbücher (49ra–55rb), die ineinander gefügt sind, den Macer-Text (60va–89vb), Pesttraktate (56vb–57rb, 57rb–57va, 59va–60rb), Aderlassregeln (55va–56rb, 58rb, 109ra–113ra) und zahlreiche Rezepte entdecken kann. Die Analyse brachte auch zum Vorschein, dass in der Handschrift mehrere astromedizinische Texte überliefert sind. So finden sich hier zwei Versionen der Monatsregeln; die auf den Bl. 59ra–59va sind in Versform verfasst, auf den Bl. 113ra–117ra ist eine Prosafassung vorhanden. Von den astromedizinischen Textgattungen sind in der Handschrift I b 25 noch zwei Varianten der Zeichenlehre (Bl. 117ra–119ra und Bl. 90va– 97ra) zu finden.11

3. Katalog deutscher medizinischer Texte aus böhmischen und mährischen Archiven und Bibliotheken 3.1 Zur Struktur des Katalogs Aufgrund unserer Recherchen und Sichtungen vor Ort wurde ein Online-Katalog von deutschen handschriftlichen medizinischen/pharmazeutischen Texten des 14.–16. Jahr10 11

Die Transkription des Textes sowie einen Kommentar zum Prager Textzeugen siehe bei Vaňková (2011a). Monatsregeln, „welche eine Mittelstellung zwischen astronomischem und medizinischem Schrifttum einnehmen“ (Keil 1960: 123), gehören zu den meist verbreiteten und zugleich am besten untersuchten Textsorten der Fachprosa. Diese Textsorte zeichnet sich durch eine große Variabilität und Textkombinatorik aus (vgl. Riha 1992: 140ff.; Riha 1993). Keil (2013: 225) bemerkt dazu: „Das Verfasserlexikon verzeichnet unter dem Stichwort „Monatsregeln“ 15 derartige Texte, ohne auch nur im geringsten der überlieferten Vielfalt gerecht zu werden.“ Eine sprachliche Analyse der in den Fonds der ehemaligen Fürstenbergischen Bibliothek gefundenen Monatsregeln unter pragmatischen Gesichtspunkten wurde von Vaňková (2012a) vorgelegt.

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hunderts erarbeitet, die in tschechischen Bibliotheken und Archiven gelagert werden. Im Katalog kann man nicht nur Angaben zum Aufbewahrungsort, zum Format, zum Material, zum Einband oder zur Blattzahl finden, sondern auch eine detaillierte Auflistung medizinischer Texte, die in der jeweiligen Handschrift vorkommen. Wie oben an zwei Beispielen demonstriert wurde, haben manchmal einige dieser Angaben in der Katalogbeschreibung gefehlt und konnten erst nach der Untersuchung der Handschrift ergänzt werden. Bis jetzt können wir 72 Handschriften belegen,12 die deutsche medizinische Texte überliefern. Die digitalisierten Angaben sind so annotiert, dass die Suche nach Ort und Textsorte möglich ist; innerhalb von Textsorten13 wurden manchmal noch thematische Differenzierungen vorgenommen. So kann man z. B. rasch Informationen aufrufen, in welchen Archiven und in welchen Handschriften Monatsregeln gelagert werden. Nach dem Anklicken der betreffenden Handschrift erscheinen gleich weitere Informationen über das Manuskript sowie die Auflistung aller Texte medizinischen Inhalts, die in der betreffenden Handschrift eingetragen sind. Man sieht also, in welchen Kontext das Exemplar der gegebenen Textsorte eingebettet ist, was eine wichtige Information darstellt, besonders wenn man den Text unter pragmatischen Gesichtspunkten betrachten will. Der Katalog ist unter der Adresse http:/www.osu.cz/medizinische-handschriften zugänglich, wobei die Daten sowohl in Deutsch als auch in Tschechisch angeboten werden.14

3.2 Auswertung der Befunde Was das Alter der untersuchten Quellen betrifft, stammen 19,4 % der belegten Handschriften aus dem 14. Jahrhundert. In diesem Falle handelt es sich ausschließlich um Manuskripte, in denen die lateinische Sprache dominiert und die deutschen Texte nur vereinzelte Einträge darstellen, die oft am Anfang oder am Ende der Handschrift erscheinen. Die Mehrheit der gefundenen Handschriften (58,3 %) stammt aus dem 15. Jahrhundert. Es lässt sich nicht nur eine deutliche Zunahme der Produktion von medizinischen Texten in dieser Zeit beobachten, sondern auch eine viel stärkere Differenzierung des Inhalts. Während in den Handschriften aus dem 14. Jahrhundert einzelne Rezepte und Glossare von Kräuternamen dominierten, ist aus dem 15. Jahrhundert ein breites Repertoir an verschiedenen medizinischen Textsorten belegt. 12 13 14

Nicht berücksichtigt wurden tierärztliche, alchemistische oder naturwissenschaftliche Texte. Diese sind jedoch oft zusammen mit medizinischen Texten anzutreffen. Zur Textsortenproblematik in historischen Zusammenhängen siehe unten. Die Online-Version hat den Vorteil, dass die Angaben jederzeit ergänzt werden können. Man kann erwarten, dass die weitere Forschung, die auch für die Zeit nach dem Ablauf des Projekts geplant ist, neue Informationen bringt.

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Wider Erwarten sind aus dem 16. Jahrhundert weniger Handschriften mit medizinischen Texten (22,2 %) in unseren Archiven und Bibliotheken überliefert als aus dem vorangehenden. Diese Tatsache ist wahrscheinlich zum Teil auf die wachsende Bedeutung des Buchdrucks zurückzuführen, der es ermöglicht hat, bedeutende Texte in viel höherem Ausmaß als bisher zu verbreiten. Andererseits hat sich der Charakter der Handschriften geändert: Es entstehen umfangreiche Arzneibücher, die vorwiegend auf Deutsch geschrieben wurden.15 Das beweist, dass die Bedeutung des Lateinischen langsam gesunken ist und besonders im Bereich der alltäglichen Krankenpflege die deutsche Sprache mehr und mehr an Bedeutung gewann. Außer Acht wurden im Rahmen unseres Projekts Handschriften aus den darauffolgenden Jahrhunderten gelassen. Es ist interessant, dass im 17. und sogar noch im 18. Jahrhundert eine Reihe von handschriftlichen Rezeptaren entstanden ist. Diese wurden meist auf Initiative von Adeligen oder reichen Bürgern angelegt und wurden wahrscheinlich in den Familien als Nachschlagewerke gebraucht.16

Abb. 1: Verteilung der Handschriften nach Jahrhunderten 15 16

Latein wurde jedoch nicht völlig verdrängt; lateinische Rezepte kommen in Arzneibüchern nicht nur des 16., sondern auch des 17. Jhs. vor. Unter Autoren solcher Werke erscheinen auch Frauen. Im Brünner Landesarchiv befindet sich ‚Allerlay Arzthnei aus der wohlgebohrnen Frawen, Frawen Anna, Frauen von Polhaim u. Wordenberg. Arzthney-buch mit fleiss ab u. zusambengeschriben u. mit allerhandt Recepten gemehrt durch […] die Fraw Susanna Leonora, Gräfin von Kuefstein, geborene Herrin von Stubenberg‘ (1694). Die bekannteste Arzneibuchautorin aus Mähren war unbestritten Eleonora Maria Rosalia, Herzogin von Troppau und Jägerndorff, geborene Fürstin von Lichtenstein, deren ‚Freywillig Auffgesprungener GranatApffel Des Christlichen Samaritans oder: Aus Christlicher Lieb des Nächsten eröffnete Gehaimbnusß vieler vortrefflichen sonders-bewährten Mitteln und Wunder-heylsamen Artzneyen‘ zwischen den Jahren 1685–1863 mehr als zwanzig Mal gedruckt wurde (vgl. Keil 2001).

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In Bezug auf den Anteil der deutschen Texte mit medizinischer Problematik lassen sich nach unseren bisherigen Befunden folgende Handschriftentypen unterscheiden: I. Mischsprachige Handschriften heterogenen Inhalts17 mit medizinisch ausgerichteten deutschen Texten Diesem Typ sind 29,1 % der gefundenen Handschriften zuzuordnen. Meist dominiert in der Handschrift das Lateinische, der Anteil des Deutschen variiert stark. Während sich in den Handschriften des 14. Jahrhunderts deutsche Texte medizinischen Inhalts oft nur auf einzelne Einträge beschränken, haben sie in den Handschriften des 15. Jahrhunderts manchmal schon das Übergewicht. Als Beispiel kann man den Kodex 188 der Olmützer Zweigstelle des Troppauer Landesarchivs anführen, in dem neben den deutschen Verslegenden18 mehrere medizinische Textsorten auftreten und lateinische Textstellen nur sporadisch vorkommen. Handschriften dieses Typs, in denen drei Sprachen – Latein, Deutsch und Tschechisch – vorkommen, sind lediglich im Archiv des Prager Metropolitenkapitels zu finden. Es handelt sich um Glossare von Pflanzen bzw. Einzelrezepte, die in den vorwiegend lateinischen Text der Handschriften F. LXb und K. XXXV eingeschaltet wurden. II. Mischsprachige medizinische bzw. medizinisch-naturkundliche Vollhandschriften Dieser Typ ist in unserer Handschriftensammlung am häufigsten – mit 43 % – vertreten. Oft geht es um medizinische Sammelbände, an denen sich verschiedene Autoren/Kompilatoren bzw. Übersetzer beteiligt haben, wobei bestimmte Teile auf Deutsch, bestimmte in Latein geschrieben sind. Oft wurden beide Sprachen von demselben Schreiber verwendet: So geht z. B. der Autor des ‚Öl-, Salben-, Pulver- und Pflasterbuches‘ im Kodex CO 352 (Bl. 131r–133r) inmitten des Textes aus dem Deutschen ins Lateinische über, als ob er keine Lust mehr hätte, die lateinische Vorlage ins Deutsche zu übertragen. Der Autor des ‚Medizinischen Kompendiums‘ in der Handschrift M I 204 aus der Olmützer Staatlichen Wissenschaftsbibliothek bedient sich einer Mischsprache: Er wechselt zwischen lateinischen und deutschen Sätzen inmitten eines Textes und mischt Latein und Deutsch sogar in einem Satz: Wer stäcz trunckhen wirt Recipe ain gall von aim igel da sibi bibere so trinckt er chain mer (M I 204: 68v). Äußerst selten taucht neben Deutsch und Latein auch Tschechisch auf; man kann dieser Kombination meist in den Glossaren begegnen, in denen neben der deutschen Entsprechung des lateinischen Pflanzennamens auch die tschechische angeboten wird. Eine Besonderheit stellt der Olmützer Kodex CO 352 dar. Das Tschechische erscheint hier an mehreren Stellen: Am Anfang beruft sich der Autor bzw. Kompilator 17 18

Meistens geht es um Sammelhandschriften religiösen oder philosophischen Inhalts. Auf den Bl. 1a–56b sind die St. Margaretenlegende in Versen, die St. Veronicaabsetzung in Strophen, die St. Oswaltlegende in Versen und die St. Alexiuslegende in Versen zu finden, vgl. Lebedová (2005).

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(wahrscheinlich Filip Zelinski, dessen Name unter dem das Buch einleitenden alchemistischen Traktat erscheint) auf Gott: wssemohuczy weczny spasyteli smiluj se nad nami.19 Vereinzelt werden im Kodex tschechische Namen lateinischer Pflanzenbenennungen ergänzt: millfolium id est rzebryczek. Im Text der Wundarznei20 (Bl. 143r–191v) tauchen zwei tschechische Sätze inmitten von mit roter Tinte ausgeführten Überschriften zweier Kapitel auf. Beide Sätze wirken ironisierend bis beleidigend und zeugen von der negativen Einstellung des Schreibers gegenüber den Deutschen (oder wenigstens gegenüber seinem deutschen Auftraggeber).21 Auf jeden Fall kann man aufgrund der tschechischen Einträge annehmen, dass das Buch im tschechischen Milieu angelegt wurde. III. Rein deutsche (Sammel-)Handschriften medizinischen bzw. medizinisch-naturkundlichen Inhalts Dieser Typ ist weniger belegt als die vorher angeführten. Aus dem 14. Jahrhundert sind Handschriften, die medizinische Problematik ausschließlich auf Deutsch behandeln, überhaupt nicht vorhanden. Aus dem 15. Jahrhundert sind schon mehrere solche Werke überliefert. Zu diesen gehört z. B. der Křivokláter Textzeuge des ‚Iatromathematischen Hausbuches‘ (Hs. I e 7), der eine Sammlung von astromedizinischen Texten darstellt,22 oder zwei umfangreiche Arzneibücher der Prager Nationalbibliothek (XVI F 3 und XVI F2). Im 16 Jahrhundert hat dieser Typ schon den dominierenden Anteil an belegten Handschriften, die medizinische Texte enthalten.

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[Du allmächtiger, ewiger Erlöser, erbarme dich unser] L.V. Dieser wundärztliche Traktat ist neben Olmütz auch in Prag belegt und in der Fachliteratur unter dem Titel ‚Prager Wundarznei‘ bekannt. Die Einleitung zum zweiten Kapitel (Bl. 148v) wird mit folgendem Satz abgeschlossen: Gez (lies Jez) howna nyemcze [Iss Kot, du Deutscher, L.V]. Der Rubrikator muss damit gerechnet haben, dass sein Auftraggeber des Tschechischen nicht mächtig ist, sonst hätte er es wahrscheinlich nicht gewagt, diese beleidigende Äußerung sowie den an ein Kindersprüchlein erinnernden Satz Nyemecz lys honyl myss okolo chyss [Ein glatzköpfiger Deutscher jagte eine Maus um die Hütte herum: eine wortwörtliche Übersetzung von L.V.], der in der Einleitung des fünften Kapitels (Bl. 188v) erscheint, in den deutschen Text einzuschalten. Zu den einzelnen Texten astromedizinischen Inhalts in der Křivokláter Bibliothek vgl. Vaňková (2011b).

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Abb. 2: Repräsentation der einzelnen Handschriftentypen im gesammelten Korpus

Abschließend lässt sich zu dieser Übersicht über die Überlieferungssituation von deutschen medizinischen Texten in böhmischen und mährischen Bibliotheken feststellen, dass die Befunde unsere Erwartungen nicht in vollem Maße erfüllt haben. Es wurden zwar zahlreiche Texte identifiziert, die in den bisherigen Archivbeschreibungen nicht aufgelistet wurden, es handelt sich jedoch meist um bekannte Texte, die im heutigen deutschsprachigen Gebiet bzw. auch in anderen Ländern mehrmals oder sogar oft belegt sind. Einzigartige Überlieferungen, zu denen keine parallelen Textzeugen nachzuweisen sind, kann man in böhmischen und mährischen Archiven und Bibliotheken ziemlich selten antreffen. Trotzdem scheint es uns wichtig, alle medizinischen Texte zu erfassen: Nur so kann ein vollständiges Bild über die Überlieferungssituation der einzelnen medizinischen Texte geschaffen werden. Darüber hinaus weisen Textzeugen aus Böhmen und Mähren manchmal eigenständige Züge auf, so dass es wichtig ist, auf ihre Besonderheiten aufmerksam zu machen. Und nicht zuletzt erweitern diese Texte die Basis für weitere Untersuchungen unter linguistischen Aspekten.

4. Zum Korpus medizinischer handschriftlicher Texte Den nächsten Schritt im Rahmen unseres Projekts stellte die Auswahl der Texte für eine kommentierte Edition dar, die in Buchform erscheint und deren Ziel es ist, medizinische Fachprosa aus böhmischen und mährischen Archiven einem breiten Publikum – seien es Historiker, Medizinhistoriker oder Germanisten – vorzustellen.

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An dieser Stelle ist zu bemerken, dass nur ein Teil der Handschriften, die in Böhmen und Mähren gelagert werden, auf diesem Gebiet entstanden ist. Man kann das mit Sicherheit z. B. von Albichs Texten sagen oder von der sog. ‚Prager Wundarznei‘, die in zwei Überlieferungen – der Prager23 und der Olmützer – erhalten geblieben ist. Viele der überlieferten Texte lassen sich als „Importe“ bezeichnen, die auf unterschiedliche Art und Weise in verschiedene Orte Böhmens oder Mährens gelangt sind. Es geht oft um Handschriften, die im Besitz von Adeligen waren, die ihre Güter in verschiedenen Regionen Europas hatten. So befindet sich in der Schlossbibliothek von Kunín in Nordmähren eine wertvolle Handschrift, die mehrere einzigartige medizinische Texte enthält, unter anderem ‚Grabadin‘, ein pharmazeutisches Kompendium, das auch unter dem Titel ‚Antidotarium von Mësue‘ bekannt ist. Es handelt sich um die einzige bisher belegte, fast vollständige deutsche Übersetzung des aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts stammenden lateinischen Textes. Die deutsche Version ist wahrscheinlich – wie sowohl die phonographematische Analyse als auch die Wasserzeichen andeuten – im südwestdeutschen, alemannisch-schwäbischen Grenzgebiet Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden. Die Handschrift kam mit großer Wahrscheinlichkeit erst in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Kunín/Kunewalde als Bestandteil der Hohenemser Bibliothek, die aus dem Besitz der Hohenemser am Bodensee im Zusammenhang mit der Bedrohung durch die napoleonischen Heere überführt wurde (vgl. Vaňková/Keil 2005: 28ff.). Die Auswertung der dialektalen Merkmale der Texte ist manchmal die einzige Möglichkeit, die Provenienz des Textes zu bestimmen, weil bei vielen Handschriften die Angaben über Herkunft oder Besitzer nicht zur Verfügung stehen. Bei der Auswahl der Texte werden zwei Kriterien herangezogen: 1) Die Bedeutung des Textes im Umfeld der deutschen medizinischen bzw. pharmazeutischen Literatur, d. h. es werden vor allem diejenigen Texte berücksichtigt, die einzigartige oder bedeutende Überlieferungen darstellen. Wie schon angeführt, handelt es sich bei solchen Texten in unserem Korpus eher um Ausnahmen. 2) Die Textsortenzugehörigkeit. In das Buch sollen Vertreter einzelner relevanter medizinischer Textsorten eingegliedert werden. So erstreckt sich das Spektrum der angebotenen Texte von Segen über Rezepte, Traktate, Pflanzenmonographien bis zu jenen Textsorten, die zum Typ „regimen sanitatis“ oder „medizinische Prognostik“ zählen. Innerhalb der einzelnen Textsorten werden manchmal noch thematische Differenzierungen vorgenommen. Bei der Textausgabe gehen wir davon aus, dass wir dem intendierten Interessentenkreis die Inhaltsrezeption möglichst erleichtern wollen, und deshalb haben wir – trotz all der 23

Der Prager Text befindet sich in der Handschrift XVI F2 der Nationalbibliothek in Prag auf Bl. 1r–68v.

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angestrebten Treue bei der Buchstabenwiedergabe – bestimmte Normalisierungen, vor allem die moderne Interpunktion, eingefügt. Der letzte geplante Schritt, der jedoch schon den Rahmen des Projekts sprengt, ist die Zusammenstellung eines maschinenlesbaren Korpus medizinischer Texte. Wie die Recherchen in den uns heute zur Verfügung stehenden elektronischen historischen Korpora, d. h. Korpora, in denen handschriftliche Texte transkribiert bzw. auch annotiert vorliegen und so für die weitere linguistische Bearbeitung aufbereitet sind, beweisen, ist der Bereich der Fachprosa darin ganz sporadisch vertreten. Zum Beispiel ist im Digitalen Mittelhochdeutschen Textarchiv (vgl. URL 1), das 148 mittelhochdeutsche Texte enthalten soll,24 nur ‚Das buoch von guoter spise‘ zu finden. Ähnlich sieht die Lage auch in der Bibliotheca Augustana aus (vgl. URL 2), die im Rahmen der Gebrauchsliteratur in der Sparte „Anleitende Texte“ noch Meister Albrants ‚Von den rossen ertzney‘ und ‚Geometria deutsch‘ von Matthäus Roriczer anbietet. Eine vergleichbare Situation herrscht im Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus (vgl. URL 3): unter 40 computerlesbaren Texten habe ich nur 4 verzeichnet, bei denen als Textgattung: Realientext („Fachprosa“) angegeben ist. Lediglich das Textkorpus von Thomas Gloning (vgl. URL 4) enthält mehrere Fachtexte. Neben einer umfangreichen Sammlung von Kochbüchern begegnen hier auch diätetische Texte, alte Kräuterbücher, ein frühes Zahnmedizin-Handbuch u. a.25 Das beabsichtigte medizinische Korpus sollte als textsortengebundenes Materialkorpus aufgebaut werden, d. h. es sollten die Texte, die ein und dieselbe Textsorte repräsentieren, aufgenommen werden. Für textsortengebundene Materialkorpora, die eine wichtige Ergänzung zu Textkorpora, die textsortenübergreifend zusammengestellt sind, plädierte mehrfach z. B. F. Simmler (vgl. Simmler 2005: 197). Nach seiner Meinung bildet diese Vorgehensweise die Basis für Untersuchungen zur Textsortentradition und zur Tradition von Makrostrukturen, anschließend für die Analyse syntaktischer, morphologischer oder lexikalischer Merkmale. Bei der Abgrenzung des Begriffs „Textsorte“ im Zusammenhang mit Texten zurückliegender Epochen stößt man jedoch oft auf Probleme. Der heutigen Auffassung nach (vgl. z. B. Adamczik 1995: 16) versteht man unter Textsorte eine Klasse von Texten, die bestimmte gemeinsame Merkmale aufweisen. Bei den eine Textsorte konstituierenden Merkmalen ist wichtig, dass es sich aber speziell um solche handelt, die die Funktion, den Kommunikationsbereich sowie stereotype Merkmale der sprachlichen Gestaltung betreffen. J. Erben (2000: 147) weist darauf hin, dass man bei der Erarbeitung eines „historischen Textsortenspektrums oder Texttypenrepertoires“ (Steger 1984, zitiert nach Erben 2000) „über die Anzahl und Eigenschafen (Merkmale) von Textsorten und Texttypen sowie über die Frage, wie weit sie in den überlieferten Texten eindeutig ausgeprägt sind, streiten kann.“ Abschließend zu seiner Analyse der literarischen Kurz24 25

Im Internet ist eine eingeschränkte Version zugänglich. Eine vergleichende Analyse von historischen und diachronen digitalen Korpora siehe unter URL 5.

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form der Fabel stellt er fest: „Es gibt Bewegung und Austausch, Übernahme neuer sprachlicher Mittel aus dem Stil anderer Gattungen und Textsorten, ja sogar Textsorteninterferenzen“ (Erben 2000: 153). In Bezug auf die Fachprosa konstatiert ebenso M. Habermann in diesem Band: „Es ist zu erwarten, dass in einer Zeit der allmählichen Herausbildung unterschiedlicher Fachausrichtungen die Ausdifferenzierung zwischen den einzelnen Textsorten weniger deutlich erkennbar ist als in der Gegenwart, sodass das Ausmaß an Gemeinsamkeiten weitaus höher einzuschätzen ist. So ist ein „Kräuterbuch“ in der frühen Neuzeit z. B. immer auch ein „Arzneibuch“, und dennoch gibt es Unterschiede, die u. a. darin bestehen, dass in einem Kräuterbuch neben der Fokussierung auf Pflanzen auch botanische Informationen zum Phänotyp der Pflanze gegeben werden, die nicht unmittelbar in einem heilkundlichen Zusammenhang stehen.“

Habermann weist darauf hin, dass die unterschiedlichen Eigenbezeichnungen der Werke nicht unbedingt auf Unterschiede in der Textsorte hindeuten müssen. Man kann jedoch auch auf das Gegenteil stoßen, d. h. dieselbe Bezeichnung wird für unterschiedliche Textsorten (bzw. Begleittexte) verwendet. Als Beispiel kann die Bezeichnung „Register“ angeführt werden. Register zusammen mit Inhaltsverzeichnis sind wichtige Begleittexte wissensvermittelnder Werke, die einer besseren Orientierung im Text dienen. Während das Inhaltsverzeichnis nicht nur Informationen über den Inhalt, sondern vor allem über den sequenziellen Aufbau des Werkes bietet, werden im Register Namen, Stichwörter, Begriffe u. ä. nach dem alphabetischen Prinzip angeführt, was dem Leser bei Bedarf einen schnellen Zugriff auf die gewünschten Daten ermöglicht. Dass in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten oft zwischen beiden Begriffen kein Unterschied gemacht wurde,26 belegt die aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stammende Handschrift XVI F3 aus der Prager Nationalbibliothek, in der dem Arzneibuch auf den Bl. 20r–193v ein Inhaltsverzeichnis vorausgeht, an dessen Anfang steht: Hye hebt sich an daz Register von den edlen wurczen vnd kretter dy hernach geschryben sten n dem puch von ersten von der edelen wurczen mit nomen bethonica. (XVI F3: 3r)

Anschließend werden nacheinander die Überschriften der einzelnen Rezepte angeführt, zu deren Ingredienzen die betreffenden Kräuter gehören. Es werden alle Rezepte, die im Arzneibuch vorkommen, aufgelistet, so dass sich das Inhaltsverzeichnis durch einen beträchtlichen Umfang (Bl. 3r–17v) auszeichnet. Als Überschrift wurde immer der erste Satz des Rezepts übernommen (die Überschriften wurden im Arzneibuch mit roter Tinte ausgeführt) und derselbe Satz wiederholt sich dann im Inhaltsverzeichnis, wobei noch die Seitenangabe beigefügt wird. Der Inhaltseintrag enthält vorwiegend die Information über die Indikation des Rezepts: 26

Es ist interessant, dass in der Liste der Textsortenbenennungen, die von V. Hertl (2000) auf der Grundlage vom ‚Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts (VD 16)‘ zusammengestellt wurde und die insgesamt 680 Benennungen enthält, die Bezeichnung „Inhalt“ fehlt, während „Register“ allerdings angeführt wird.

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Zum Korpus deutscher medizinischer Texte des 14.–16. Jahrhunderts wil tu dir har machen xxxj; Ob sich ein mensch vast geschnitten hat xvj; So du wundt wirst lxxiiij; Wann dy nas zw vast plut x; Wer wurem jm pauch hat xij; wem daz haupt wee thuet vij; Der nit stul gehaben mag iiij; Den dy orren we thund oder nit gehort ij; Dem dy huesten we thuet ij; Welicher mensch nit slaffen mag cij; welichen menschen ser durst xij; Das der mensch frolich peleyb j. (XVI F3: 3r–17v)

Seltener wird die Form des betreffenden Medikaments angegeben, bzw. seine Bezeichnung: Eyn guete salben lxxix; Eyn edel wasser lxxx; Eyn gut tranck ccxxxxvj

(XVI F3: 3r–17v)

Wie man sehen kann, dominiert in den Überschriften der konditionale Rezepteingang: er wird jedoch auf mannigfaltige Weise realisiert.27 Im Inhaltsverzeichnis wirkt er informativ. Da aber Rezepte bzw. Segen für dieselbe Indikation an unterschiedlichen Stellen angeführt sind, müsste man das ganze Verzeichnis durchgehen, um festzustellen, welche Medikamente einem im Falle der gegebenen Erkrankung zur Verfügung stehen. Eine andere Form des Inhaltsverzeichnisses ist in der Handschrift Nr. 461 aus der Abteilung Český Krumlov/Krumau des Staatlichen Gebietsarchivs in Třebon zu entdecken.28 Das Inhaltsverzeichnis (Bl. 332v–338r), von seinem Autor als verzeichnüß benannt, ist diesmal einem umfangreichen Arzneibuch (Bl. 1r–332r) aus dem 16. Jahrhundert nachgestellt und wie folgt eingeleitet: Verzeichnüß was in diesem buche vor Capiteln begriffen, vnd was in jedem Capitel vor Arzneyen beschrieben seyn.

Der Inhalt des Arzneibuches ist in 36 Kapitel eingeteilt.29 Am Anfang ist die Gliederung nach dem Prinzip „a capite ad calcem“ zu erkennen, anschließend werden Rezepte aus ausgewählten Kräutern angeführt und die letzten Kapitel nehmen Rezepte aus dem Bereich der Gynäkologie und Pädiatrie ein. Rezepte für dieselbe Indikation sind – teilweise nach dem Rezeptstaffel-Prinzip – immer in einem Kapitel gruppiert, wobei alle Fälle, auf die sich die darunter angeführten Rezepte beziehen, in der Einleitung, welche die Funktion einer Überschrift erfüllt, ziemlich ausführlich beschrieben werden. Diese Einleitung wurde im Inhaltsverzeichnis übernommen: Der Wortlaut ist fast identisch, es lassen sich jedoch in den Inhaltseinträgen kleinere Veränderungen – Auslassungen bzw. Zusätze oder graphematische Varianten – feststellen, was davon zeugt, dass das Inhaltverzeichnis von einer anderen Person angefertigt wurde. Wir finden darin 27 28 29

Zu den einzelnen syntaktischen Realisierungstypen der Einträge im Inhaltsverzeichnis der Handschrift XVI F 3 vgl. Vaňková (2013). Die Beschreibung der Handschrift sowie die Transkription des Textes verdanke ich V. Bok. Die Nummerierung der Kapitel wurde nicht konsequent eingehalten. Zum Beispiel nach dem 15. Kapitel ist gleich das Kapitel 25 angegeben. (Im Inhaltsverzeichnis wird jedoch dasselbe Kapitel als 16. bezeichnet). Infolge der fehlerhaften Kapitelzählung sind im Arzneibuch nur 36 Kapitel vorhanden, auch wenn der Autor das letzte Kapitel mit der Nummer XLVI versehen hat.

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immer auch noch die Angabe über die Seite, auf der das betreffende Kapitel beginnt. Für den Vergleich siehe die Kapiteleinleitung und den Eintrag im Inhaltsverzeichnis zum ersten Kapitel: Das 1 Capitel begreiffet in sich etliche bewerte undt nutzliche recepten ein guttes gedechtniß zu machen, daß hierne zu stercken, die wansünigkeit zu curiren, vnd sonsten was dem haupte dienlich ist. Das 1 Capitel am 1. Blatt. begreiffet in sich gute gedechtnüße zu machen, das hierne zu stercken, die wansünigkeit zu curiren, vnd sonsten was dem haupte dienlich ist.

In Kapitelüberschriften (d. h. auch im Inhaltsverzeichnis) wurde schon eine bestimmte Verallgemeinerung und Zusammenfassung des betreffenden Kapitelinhalts vorgenommen. Dies wurde auch dadurch ermöglicht, dass das Arzneibuch nach einem anderen Prinzip (d. h. nach der Indikation) konzipiert wurde als die Handschrift XVI F 3 (in der zuerst die Gliederung nach Zutaten, d.h. den einzelnen Kräutern erfolgt, wobei dieser Gesichtspunkt nicht durchgehalten wird). Die lange Form der Überschriften ist zum großen Teil der Bemühung zuzuschreiben, all die möglichen Indikationen aufzulisten: Das 4. Capitel, am 13. Blatt. Darinnen findestu viele guter vnd heilsamer Recept zu den ohren Kranckheit, weme das gehöer verfältt, die ohren saußen, oder aber so jemand etwas in die ohren gekrochen ist, oder andere gebrechen darinnen hette.

Außerdem zeichnen sich die im Buch gebotenen Überschriften (sowie die Inhaltseinträge, die diese widerspiegeln) durch eine deutliche Tendenz zum sprachlichen „Schmuck“ aus. Typisch sind positiv wertende Adjektive wie gut, bewährt, heilsam (z. B. viele köstliche, vnd an vielen leüten bewerte Recept; viele guter vnd heilsamer Recept), die die Glaubwürdigkeit des angebotenen Rezepts erhöhen sollen, sowie zahlreiche Zwillingsformeln, die dazu beitragen, dass die Inhaltseinträge unökonomisch wirken: Wie man mancherlei schaden, was einem weybe einzugebenn vndt aufzulegenn sey zu helffen vnd zu rathen sey wie man […] rahtt schaffen vnd helffen kan. Das XXV. Capittell saget vndt lehret … Das XXVIII capitell redet vnd lehrett … Das XXXVII capittell bericht vndt vormeldet …

Abschließend ist noch zu bemerken, dass man in unserem Korpus jedoch auch Register im heutigen Sinne des Wortes finden kann. Solch ein Register befindet sich z. B. in der aus dem 15. Jahrhundert stammenden Handschrift MS c 18 der Majoratsbibliothek der Grafen von Nostitz in Prag auf den Bl. 164r–167r. Dieses Register bezieht sich auf die

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deutsche Übersetzung des Buches ‚Thesaurus pauperum‘ von Petrus Hispanus,30 die Bl. 98r –123v einnimmt. Das nach den Krankheiten (bzw. Indikationen) geordnete Register ist nach dem alphabetischen Prinzip aufgebaut. Dabei muss man jedoch in Betracht ziehen, dass die Sprache stark bairisch31 geprägt ist, so dass man „Wassersucht“ nicht unter dem W, sondern unter dem B suchen muss, ähnlich „Wunden“ (Bunten ob die ze viel blutend; Bunten auf tun) oder „Würme“ (Burm sterben valet ad auditum; Burm ze uertreiben). Unter C/Ch ist dann anzutreffen: Chind ob es in der Muter stirbt oder Chel Siechtum. Man kann hier beobachten, dass der nominale Kurzbegriff syntaktisch anteponiert wurde, um den alphabetischen Zugriff zu erleichtern. Im Register ist bei jedem Eintrag ein expliziter Verweis auf die Platzierung der betreffenden Abhandlung im Text von Petrus Hispanus beigefügt. Neben der Seitennummer steht bei der Krankheitsbezeichnung im Register jeweils noch der betreffende Kennbuchstabe, der sich im Text am Rande befindet und auf die genaue Stelle verweist (vgl. Vaňková 2013).

5. Fazit Die neuen technischen Errungenschaften, dank denen zahlreiche Digitalisierungsprojekte realisiert werden, verbessern wesentlich die Informiertheit über handschriftliche Quellen. Die Menge des Materials kann jedoch schnell unüberschaubar werden. Deshalb sind Projekte zu begrüßen, die das verfügbare Material nach bestimmten Kriterien sortieren und dadurch den Benutzern das zeitaufwendige Durchsuchen der Webseiten ersparen. Im Rahmen unseres Projekts haben wir uns bemüht, die in Tschechien verfügbaren Quellen medizinischen Inhalts nicht nur zu erfassen, sondern auch systematisch zu beschreiben. Die gesammelten Informationen werden dem breiten Interessentenkreis in Form eines Online-Katalogs und einer kommentierten Edition ausgewählter Texte zugänglich gemacht. Wie die Recherchen zeigten, wurde bei den Digitalisierungsprojekten der Bereich der Fachprosa bisher ziemlich vernachlässigt. Desto wünschenswerter wäre der Aufbau eines Korpus, das eine solide Basis für linguistische Untersuchungen bietet. Dass bei dem Aufbau des Korpus die Textsortenzugehörigkeit als ausschlaggebendes Prinzip ange30

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Petrus Hispanus, der spätere Papst Johannes XXI., ist Autor eines lateinischen humanmedizinischen Rezeptars, „das unter den europäischen Fachschriften zur pharmakotherapeutischen Praxis eine führende Rolle spielte“ (Telle, in VL 1989: 506). Zu den Merkmalen des Bairischen vgl. z. B. Henzen (1954: 234ff.), Paul (2007: 35ff.), Schmid (2009: 76ff.). Als typisch bairisch gelten: die Wiedergabe des mhd. k im Anlaut durch , die Schreibung statt mhd. w sowie

statt mhd. b.

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wendet werden könnte, ist – trotz aller Probleme bei der Abgrenzung der einzelnen Textsorten – unbestritten.

Quellen / Editionen Prag, Nationalbibliothek, Hs. XVI F 3. Prag, Nationalmuseum, Majoratsbibliothek der Grafen von Nostitz, Hs. MS c 18. Staatliches Gebietsarchiv Třebon, Abteilung Český Krumlov/ Krumau, Hs. Nr. 461.

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Lenka Vaňková

Internetbelege URL 1: http://mhgta.uni-trier.de (Stand 12. 06. 2013). URL 2: http://www.hs-augsburg.de/~harsch/augustana.html (Stand 12. 06. 2013). URL 3: http://www.korpora.org/Fnhd/ (Stand 12. 06. 2013). URL 4: http://www.uni-giessen.de/gloning/etexte.htm (Stand 12. 06. 2013). URL 5: Kroymann, Emil / Thiebes, Sebastian / Lüdeling, Anke / Leser, Ulf (2004): Eine vergleichende Analyse von historischen und diachronen digitalen Korpora. Projekt ‘DeutschDiachronDigital’. (= Technical Report 174 des Instituts für Informatik der Humboldt-Universität zu Berlin). Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Informatik. http://edoc.hu-berlin.de/series/informatikberichte/174/PDF/174.pdf (Stand: 01. 07. 2013).

VÁCLAV BOK

Einige Bemerkungen zum sog. Juden von Solms und den Handschriften seines Werkes

1. Einleitung Das Kompendium der medizinischen Schriften des sog. Juden von Solms liegt in drei Handschriften vor, die in Erlangen,1 Zürich2 und Krumau3 aufbewahrt werden. Die Erlanger Handschrift ist in der Forschung längst bekannt und wurde bisher als die einzige zur Charakterisierung der medizinischen Werke des sog. Juden von Solms und ihres Autors verwendet. Damit soll nicht gesagt werden, dass die übrigen Handschriften das daraus Bekannte grundlegend korrigieren; sie ergänzen es jedoch stellenweise. Dem Korpus der Texte des sog. Juden von Solms wurde in der Fachliteratur bis jetzt relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt, was durch seinen großen Umfang, die nicht vorhandene Edition sowie durch anderweitige Interessen der Forscher, die sich bis jetzt mit der Erlanger Handschrift beschäftigten, bedingt ist. Gundolf Keil hat in seinem Buch ‚Die ‚Cirurgia‘ Peters von Ulm‘ sowie im Artikel im ‚Verfasserlexikon‘ die Hauptcharakteristika des Kompendiums und seiner Einteilung herausgearbeitet.4 Des Weiteren liegen ein Aufsatz über das Problem der örtlichen Herkunft des Autors (Matuschka 1990: 207– 219) sowie eine Edition einer kurzen Textprobe aus der Krumauer Handschrift5 vor.

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Beschreibung der Handschrift bei Pültz (1973: 45). Die Hs. wird im Weiteren als E bezeichnet. Beschreibung der Handschrift bei Mohlberg (1932: 13, Nr. 29). Die Hs. wird im Weiteren als Z bezeichnet. Beschreibung der Handschrift bei Navrátil (1972: 258). Die Hs. wird im Weiteren als K bezeichnet. Im vorliegenden Aufsatz wird vor allem nach dieser Handschrift, die zeitlich und textlich dem Archetypus sehr nahe steht, zitiert; die Hss. E und Z werden besonders für die in K nicht mehr erhaltenen Passagen herangezogen. Vgl. Keil (1961: bes. S. 136, Anm. 38, sowie S. 139–141, Anm. 98); Ders. (1983, Bd. 4, Sp. 889–891, und 2004, Bd. 11, Sp. 812). Auf dieser Darstellung fußt der Artikel von Zimmermann (2005: 706). Bok (1999: 87–97). Die dort abgedruckte Textprobe betrifft den Besuch beim Kranken (K 41ra–42rb).

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Václav Bok

2. Zur Person des sog. Juden von Solms Der Autor, der in der Fachliteratur als Hesse Jude von Solms bezeichnet wird, hat sich selbst an mehreren Stellen des Kompendiums so oder ähnlich genannt6 und einige Informationen über sein Leben mitgeteilt. Die örtliche Abstammung des Verfassers bereitet Schwierigkeiten. Weil er sich als Hesse bezeichnet, wurde angenommen, er stamme aus der hessischen Grafschaft Solms. Viel wahrscheinlicher ist es jedoch, dass Hesse sein eigentlicher Name ist, der mit Hessen nichts zu tun hat. Zuweilen nennt er sich auch nach seinem Geburtsort, der entweder das etwa 65km westlich von Straßburg liegende Salm in den Vogesen oder das im deutschsprachigen Teil Walloniens gelegene Vielsalm (etwa 60 km südwestlich von Liège) sein kann.7 Wie aus einer Bemerkung hervorgeht, war Hesse vielleicht französischer Abstammung oder stammte zumindest aus einem französisch-deutsch gemischten Sprachgebiet, denn er entschuldigt sich für sein mangelhaftes Deutsch;8 in seinen Texten lassen sich jedoch keine Verstöße gegen den grammatischen Bau des Deutschen beobachten. Die Lebenszeit von Hesse kann anhand einiger weniger konkreter Jahreszahlen sowie relativer Zeitangaben in seinem Text ungefähr bestimmt werden, auch wenn wohl nicht alle seiner Angaben zuverlässig sind. An einer Stelle, die nicht weit von der in der Handschrift genannten Jahreszahl 1430 steht, schreibt Hesse, er hätte sechsundsechzig Jahre lang verschiedenen Herren gedient – von Königen bis zum gemeinen Mann.9 Demzufolge wäre der Anfang seiner Tätigkeit in das Jahr 1364 zu setzen und er muss demnach in den vierziger Jahren des 14. Jh. geboren worden sein. Man kann sich jedoch nicht ganz sicher sein, ob die angegebene Zahl der Wirkungsjahre – sechsundsechzig – nicht etwa nur allgemein gemeint ist und lediglich eine sehr lange Zeit ausdrücken soll. Bei der Aufzählung, wem Hesse 6

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Die Schreibungen in den einzelnen Handschriften unterscheiden sich nur unwesentlich. Deshalb reichen hier nur einige Beispiele. Am häufigsten nennt sich der Verfasser einfach nur Hesse (z. B. K 153rb, K 167va, K 168va), außerdem kommen Bezeichnungen Hesse der Iode (K 1ra bzw. Hesse der Jüdde Z 1ra, Hesse der Jüde K 147va) und Hesse von Salniß (K 42ra bzw. Hesse von Salynß Z 38ra) sowie Heße der Judde von Salmß (E 271rb) vor. Diese Möglichkeiten erwägt bereits Matuschka (1990: 213). Er entspricht der Bitte Johanns von Sponheim, eine „practika“ ins Deutsche zu übersetzen, bemerkt jedoch dabei: ... wie wol daz mir doch dasselbe etwe witder vnd swere was, deshalben, daz ich die dutsche sprache nit wöl vnd nach myme willen kann … (K 42vb). Vor dem Beginn der Übersetzung erwähnt Hesse nochmals seine mangelhaften Deutschkenntnisse: [N]v bitden ich alle die yene, die diß buch lesen werdent, fyndent sie etwas dar inn, daz in der sprache oder synne verkart ist, daz wollen sie mir nit wysen oder achten der künst halber, sunder der sprachen halb ich [am Anfang des Wortes ist ein Fleck oder etwas Getilgtes, möglicherweise stand dort dich = ‚die ich‘] nit wol gereden kann … (K 43ra). woil seß vnd segtzig iare gedinet land herren, konigen, herczogen, grouen, rittern, knechten vnd gemein folcke (E 271rb–271va).

Einige Bemerkungen zum sog. Juden von Solms und den Handschriften seines Werkes

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während seines langen Lebens diente, nennt er leider keine konkreten Namen, sondern zählt eigentlich alle sozialen Schichten auf, was wahrscheinlich eine literarische Floskel ist, aber nicht unbedingt sein muss, weil jüdische Ärzte in jener Zeit ja hohes Ansehen in der Gesellschaft genossen. Die von Hesse als Philipp von Safosin bezeichnete Person, die er in Paris getroffen haben will, wird in der Fachliteratur mit Philipp von Savoyen gleichgesetzt (z. B. bei Keil 1983: Sp. 889). Trotz Ähnlichkeit der beiden Namen wird es sich jedoch um jemanden anderen handeln, denn im Haus Savoyen ist im 14. Jahrhundert kein Philipp nachgewiesen. Hesse bewegte sich in Frankreich und Deutschland. Er erwähnt seinen Aufenthalt in Paris, der wohl im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts erfolgte. Ob dies im Jahre 1380 war, ist fraglich. Seinen Worten zufolge scheint es der Fall gewesen zu sein, denn 1427 sagt er zu seinem Mäzen Johann V. von Sponheim: Gnediger herre, es ist itzyt seß vnd funffczig jare, daz künig Karle, künig zü Franckerich, der synloß wart, czü Paryß gekronet wart. Do was ich by eyme großen prelaten vnd fursprechen in parlament, der selbe genant was herre Philipps von Safosin, da fant ich eyn buch in cristen schrifft vnd frantzoser sprach geschrieben … in demselben buche die beste practike ist, da von ych ye gehort han, vnd ist genant die heymelich practika. Die selben practika eyn wyser hoche meyster gedicht vnd in eyne soliche forme gesatzt hat, der genant was meyster Johans Gamye. (K 42va–42vb)

Die Krönung Karls VI. fand am 4. November 1380 statt, allerdings nicht in Paris, sondern in Reims. Auch Hesses Angabe von verflossenen Jahren stimmt nicht, bei 56 Jahren käme man nämlich auf das Jahr 1371. Es wäre zwar möglich, dass sich Hesse in Paris 1380 aufhielt, aber es ist ausgeschlossen, dass er im gleichen Jahr die heymelich practika gesehen hat, denn seine Übersetzung dieses Werkes, die ja das Original wiedergeben muss, beginnt mit der Mitteilung des französischen Autors, dass König Karl ihn 1380 mit der Abfassung des Werkes beauftragte.10 Es ist unmöglich, dass diese Schrift, deren Übersetzung in den Handschriften von Hesses Kompendium jeweils etwa 100 Folios einnimmt, bereits im gleichen Jahr 1380 fertiggestellt worden wäre und Hesse eine Abschrift davon gesehen hätte. Es zeigt sich, dass solche Angaben Hesses nicht zuverlässig sind, deshalb könnte auch die Richtigkeit der von ihm angegebenen Dauer seiner Tätigkeit – sechsundsechzig Jahre – angezweifelt werden. Im fortgeschrittenen Alter fand Hesse einen großen Mäzen, den Grafen Johann V. von Sponheim (um 1359–1437), der sich u. a. auch für okkulte Wissenschaften interessierte. Bei ihm hat Hesse das gesamte Kompendium abgefasst, was Nennungen des

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Die Übersetzung des Werkes durch Hesse beginnt: Ich meyster Johans Gamye bin geheißen von deme kunig von Franckerich – vnser herre gott merre syne ere – des name ist künig Karle, zü Paryß syne wanunge, vnd by yme stunde vür viel fursten vnd herren in den jaren, als mann zalt nach Cristi geburt drühondert /!/ vnd achtzig jare, sprache der kunig vorgenant: „Ich bitden, daz dü mir maches eyn buche vnd eyne practike der artzedyen …“ (K 43rb).

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Grafen im einleitenden Satz, im Verlauf des Textes und gegen sein Ende zeigen.11 Zum Jahre 1427 berichtet Hesse über seine Unterredung mit Johann von Sponheim auf dessen im Moselgebiet gelegener Burg Grevenburg, die oberhalb der heutigen Doppelstadt Traben-Trarbach stand.12 Das Gespräch betraf Arzneien und medizinische Schriften (Praktiken). Als Hesse die französische Praktik eines Meisters, den er als Johan Gamye bezeichnet, besonders lobte, äußerte der Graf die Bitte, Hesse möge das Werk für ihn ins Deutsche übersetzen. Hesse will diese Bitte erfüllen, u. a. auch deshalb, weil er beim Grafen den Rest seines Lebens verbringen möchte.13 Er wird schon damals hoch betagt gewesen sein, was auch eine andere Stelle in seinem Kompendium bestätigt.14 Nach dem Text von Circa instans, vor dem letzten Teil des Buches, kommt das Datum 20. Februar 1430 vor.15 In der Zeit danach verfasste Hesse für Johann V. von Sponheim noch eine Ergänzung zum Gesundheitsregimen, die in der vollständigen Fassung der Hs. Z fast zwölf Folio lang ist (266va–278rb). Kurz nach der Beendigung dieses Textes wird Hesse, wohl mehr als achtzigjährig, wohl bald nach 1430, wahrscheinlich auf der Grevenburg, gestorben sein.

3. Zum Inhalt des Kompendiums des sog. Juden von Solms und seinen Handschriften Hesses Gesamtwerk ist in den drei erwähnten Handschriften immer geschlossen überliefert. Das Kompendium besteht aus insgesamt sechs Büchern, die in den Handschrif11

[I]ch Hesse der Iode billich loben got, der mir gracia vnd gnade hat geben vor dem hogeboren herren graffe Johan, graffe zü Spanheim, der myn konst zu dinst mich erkoren hat … (K 1ra); die letzte Nennung: Vnd ich Hesse der Judde, als ich an gesehen habe lüste des edel vnd woil geborn herren grauen Johans, graüen czu Spanheym, dye er zu dyssem buche hait (E 271va, Z 266rb). 12 zü Traurbach off der bürg der genant Greuenberg … (K 42va). Von der Burg, die 1734 gesprengt wurde, sind nur kleine, aber markante Ruinen erhalten. 13 Nach der Wiedergabe der Unterredung folgt dann tatsächlich die Übersetzug des Secretariums des Johannes Jacobi (E 30va–132vb, K 43rb–140ra, Z 40ra–137v). Hesse behauptet, er habe es zuerst ins Hebräische und dann ins Deutsche übertragen: Vnd daz buche steet hienach von worte zü wort, als es der vorgenant meyster Johans von Gamye gemacht hait, als ich es in frantzoser sprache vant vnd ichs darnach zü ebreyscher vnd nü als hie zü dutscher sprache bracht han (K 43ra–43rb). 14 Zwischen dem Gesundheitsregimen und dem Circa instans steht ein Absatz, wo der Autor wiederum sein Alter erwähnt: Got wulle geben vns sine hulde zu erwerben vnd dem wolgeborn grauen Johan von Spanh[ei]m sin ewig leben vnd den armen Heßen den jueden zu begnaden vnd zu bedencken vnd sinen alten dag wulle plegen (K 223ra). 15 Wie auch anderswo im Kompendium, wird auch hier das Jahr sowohl nach der christlichen als auch nach der jüdischen Ära angegeben: … das vollenbracht ist vff mandag vur sant Peters dag ad (nicht in Z) kathedra, da manzalt nae der geburt Cristi (Criste – Z) dusent vir hondert vnd XXX (dryszig – Z) jare vnd in der iuden zale, als got schoff hiemel vnd erden, vumfft dusent vnd hondert vnd nunczig jare … (E 271va, Z 266rb).

Einige Bemerkungen zum sog. Juden von Solms und den Handschriften seines Werkes

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ten in gleicher Reihenfolge vorkommen. Die Sprache aller drei Textzeugen hat eindeutige westmitteldeutsche Züge. Alle drei Handschriften haben das Großfolio-Format, sind zweispaltig geschrieben und haben einen sehr ähnlichen Umfang – die Züricher Hs. hat 278 Folios, die Erlanger 274, die Handschrift von Krumau, deren Ende fehlt, 255 Folios. Zum Inhalt der Handschriften: Nach einer Übersetzung von noch nicht konkret ermittelten Passagen aus den Schriften von Avicenna zu Beginn des Kompendiums folgt eine Übersetzung von Secretarium practicae medicinae des angesehenen französischen Arztes Johannes Jacobi von Montpellier († 1384).16 Das dritte Buch ist eine Chirurgie; sie wird in der Handschrift E als Chirurgia Bartholomei de Montfort bezeichnet. Hesse hat, wie bereits G. Keil gezeigt hat, mehrere Quellen kompiliert; bei manchen Rezepten gibt er deren Erfinder an, von denen einige jedoch nirgendwo sonst erwähnt werden. Hesse hat aber auch eigene Erfahrungen eingearbeitet. So beschreibt er beispielsweise, wie er eine bösartige Geschwulst erfolgreich behandelt hat. Dies soll in der Stadt geschehen sein, die Hesse als Herbisheim in Westerreich bezeichnet17 – in Frage kommen entweder Herbsheim bei Straßburg oder Herbitzheim, heute ein Ortsteil von Gersheim im Saarland. An zwei Stellen des dritten Buches bestätigt Hesse die Wirksamkeit von Rezepten anderer Autoren durch eigene praktische Erfahrung.18 Das vierte Buch des Kompendiums ist ein Gesundheitsregimen, das Hesse für seinen Herrn Johann von Sponheim zusammengestellt hat.19 Das umfangreiche Regimen (fast 60 Blätter des Folio-Formats) behandelt die sog. Sex res non naturales (Beschaffenheit der Luft in den vier Jahreszeiten, Essen und Trinken, Entleerung, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen sowie Gemütsregungen) und dabei auch noch z. B. das Baden und den Geschlechtsverkehr. Nach dem Gesundheitsregimen folgt Hesses Übersetzung des beliebten lateinischen alphabetischen Drogenverzeichnisses Circa instans, dessen Titel in den 16

17

18 19

Bei Hesse wird der Autor als Johann Gamye bezeichnet. Wahrscheinlich ist die Übersetzung um weitere Texte ergänzt, wie z. B. die folgende Formulierung andeutet: Der dritte tractät von dem fünfften deyle diß buchs, vnd dar an sint drü capitell, vnd sint auch zwey capitel dar an gesatzt, die von diesem buche nit sint. (K 118ra). An den entsprechenden Stellen heißt es dann: Daz erste [über dem gestrichenen ander] capitel, daz nit von der zale diß buchs ist … (K 121vb) und Daz ander capitel, daz nit von diesen buche ist … (K 122rb). Kurz vor dem Schluss dieses Teiles von Hesses Kompendium kommt wieder eine ähnliche Formulierung vor: Eyn ander capitel, daz nit von diesem buche en ist … (K 139vb). zu Herbißheym in dem Westerich (K 153rb), zu Herbyßheym in dem Westerich (Z 147rb), zu Herbißheym inne dem Westerich (E 145va). Westerreich ist eine geographische Bezeichnung für erhebliche Teile des Herzogtums Lothringen: vgl. Köbler (1999: 716). Es handelt sich um ein Pflaster gegen Frakturen (K 147va) sowie um ein Heilmittel für Menschen, die ins Feuer oder Wasser gefallen sind (K 167va). Ich Hesse, az ich an gesehen habe gnade vnd willen dem woil geborn herren Johan graue zu Spanheym, daz ym woil ist zu allem ding, daz licht zu beweren ist, als wir vorgeschrieben haben, habe ich gedacht vmb syner gnaden willen ym zu verschriben, wie man eynen halden sal by gesuntheit vnd daz er nit siche wirt … (K 168va); …Vnd habe ich diß büch genant die regel von der gesuntheyt… (K 169va).

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Handschriften als Cirkenstein verstümmelt vorkommt. Die künftige Forschung muss feststellen, ob dieser Text vollständig übersetzt wurde und vollständig überliefert ist – die Krumauer Handschrift bricht nämlich beim Buchstaben D ab, die Erlanger (215vb– 271rb) hat zwar das ganze Alphabet, springt jedoch vom Buchstaben L gleich zum S. Die Züricher Handschrift wurde in dieser Hinsicht noch nicht untersucht, jedoch lassen die 26 Folios (200rb–226ra), auf denen dort das Circa instans aufgezeichnet ist, ahnen, dass auch hier der Text nicht in vollem Umfang enthalten ist, weil ja die nicht alle Buchstaben umfassende Niederschrift in der Hs. E um etwa 30 Folios länger ist. In den Handschriften E und Z folgt nach dem Circa instans noch eine weitere Unterweisung (271va–274rb bzw. 266va–278rb), die Hesse für seinen Herrn verfasste. Sie kann als eine Ergänzung zum Gesundheitsregimen aufgefasst werden, unter dem Aspekt der Humoralpathologie werden darin Eigenschaften, Qualität und Nützlichkeit verschiedener das Leben des Menschen begleitender Materien und Nahrungsmittel charakterisiert – verschiedene Arten von Wasser, Wein, Bier und Öl usw.20 Während in der Erlanger Handschrift nach der Behandlung der Öle der Text mit einem deo gracias beendet wird, setzt die Züricher Handschrift die Unterweisung fort, behandelt Getreidesorten, sehr ausführlich die verschiedensten Fleischsorten (wobei sich Hesse u. a. auf Albertus Magnus und auf Maimonides beruft) und enthält nach einer kurzen Passage über Pelzsorten abschließend noch einige Rezepte. Zu den einzelnen Handschriften: Über das Schicksal der Krumauer Handschrift ist man relativ gut informiert. Sie gehörte den Grafen zu Sulz im südwestdeutschen Klettgau, deren Besitz 1687 durch Erbschaft an die Familie der Fürsten von Schwarzenberg überging. Die Handschrift wurde zuerst in der Bibliothek des Schlosses Schwarzenberg bei Scheinfeld in Mittelfranken aufbewahrt. Von dort aus wurde sie im Juli 1903 in die Handschriftensammlung des Zentralarchivs der Fürsten von Schwarzenberg in Krumau überstellt. Wie schon erwähnt, ist die Krumauer Handschrift nicht vollständig. Sie hatte im Laufe der Zeit ihren Einband verloren, was den Verlust der letzten Blätter sowie einiger weniger Blätter an zwei Stellen inmitten der Handschrift zu Folge hatte. Der jetzige schlichte Einband mag aus dem 18. oder 19. Jh. stammen. Dabei kam es wohl auch zur Neubindung der Handschrift, wobei an den Stellen, wo Blätter fehlten, leere, nicht nummerierte Blätter eingebunden wurden.21 Die Krumauer Handschrift ist der 20

21

Der Abschnitt wird folgendermaßen eingeleitet: Vnd ich Hesse der Judde, als ich an gesehen habe lüste des edel vnd woil geborn herren grauen Johans, graüen czu Spanheym, dye er zu dyssem buche hait, vnd off daz dyß selbe büche dysser gancze vollenbracht werde, so wil ich hernach beschryben, welche waßer gut zü brüchen sy vnd welches nyt, welcher win gut czü drincken sy, weliche oley man brüchen sal, weliches kornes, welches fleysches man bruchen sal, weliche fu etter güt czu dragen syn, weliche farbe dye cleyder sin sollen vnd darnach von allen lattwergen in der apotecken etc. (Z 266rb–266va; mit geringfügigen Abweichungen E 271va–271vb). Die Folios sind nur modern, mit dem Bleistift nummeriert, es gibt keine alte Bezeichnung der Folios. So fehlt zwischen f. 72 und 73 ein Blatt der Übersetzung des Secretariums (auf f. 72vb beginnt das erste Kapitel über die Magenkrankheiten, der Text auf f. 73ra beginnt inmitten des dritten

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älteste der drei Textzeugen. Neben dem Charakter der Schrift (mehrere Hände) beweisen dies eindeutig die fünf unterschiedlichen Filigrane, die alle aus der Zeit zwischen dem Ende der zwanziger und der Mitte der vierziger Jahre des 15. Jh. stammen.22 Die Handschrift wurde demnach spätestens Ende der vierziger Jahre des 15. Jh. geschrieben, also etwa fünzehn bis zwanzig Jahre nach der Abfassung des Werkes. Dass es sich um eine Abschrift handelt, zeigen mehrere zu früh geschriebene Wörter, die der Schreiber durchstrich und dann erst später an der richtigen Stelle wieder niederschrieb. Besonders auf den ersten etwa 20 Folios gibt es außerordentlich viele Verschreibungen und Korrekturen, wobei einige Korrekturen vom Schreiber selbst, weitaus mehr jedoch von einer anderen zeitgenössischen Hand vorgenommen wurden, von der auch viele Umformulierungen stammen. Hier wird eine gründliche Kollationierung mit den übrigen Handschriften nötig sein. In einem Teil der Hs. (f. 143ra–164vb) war ein Rubrikator tätig, der neben seiner eigentlichen Arbeit auch manche Wörter korrigierte. Die Handschrift wurde lange benutzt, was zusätzliche Überschriften, Korrekturen, Ergänzungen und Marginalien (manche in Latein) zeigen, die dem Schriftcharakter nach im 15., 16. und vielleicht auch noch im 17. Jh. vorgenommen wurden. Die westmitteldeutsche Schreibsprache der Handschrift muss noch näher untersucht werden. Der Vergleich mit anderen Handschriften zeigt, dass die Handschrift K einen guten Text bietet und dass sie bei der eventuellen Edition berücksichtigt werden muss. Über die Herkunft der Handschrift der Zentralbibliothek Zürich ist nichts bekannt, denn sie hat einen neueren Einbanddeckel und eventuelle ältere Besitzervermerke sind deshalb nicht vorhanden. Im Kolophon nennt sich als Schreiber der Handschrift ein nicht näher bekannter Johannes de Sauwelnheym, Ort und Zeit der Niederschrift werden nicht angegeben. Auf dem letzten Blatt des Kodex befindet sich u. a. eine Tabelle der beweglichen Kirchenfeste für die Jahre 1431–1519, am unteren Rand dieses Blattes die Jahreszahl 1462, die sich möglicherweise auf die Zeit der Abfassung dieser Handschrift beziehen könnte. Die Filigrane konnten nicht untersucht werden. Auch eine gründlichere Untersuchung der westmitteldeutschen Schreibsprache der Handschrift steht noch aus. Der punktuelle Vergleich mit den übrigen beiden Textzeugen zeigt, dass

22

Kapitels). Ein Blatt fehlt vor dem f. 142 – der Anfang der Chirurgia Bartholomei de Montfort. Wahrscheinlich fehlt auch ein Stück Text nach dem f. 12r. Es wurden folgende Filigrane festgestellt: f. 17–82: Hand mit Manschette, sehr ähnlich, wenn nicht identisch mit Piccard Nr. 154362 – Braunschweig 1439; f. 89–94 Weintraube, sehr ähnlich wie Piccard Nr. 128916 – Köln 1428; f. 120–141 Krone, am ähnlichsten mit Piccard Nr. 40575 – Solothurn 1426, f. 145–188 und f. 200 Ochse – am ähnlichsten mit AT 5000–637B–149 – Basel 1435; f. 193–198 zwei gekreuzte Schlüssel – Piccard Nr. 120819 – 1428 ohne Ort, f. 203 und einige weitere: Ochsenkopf mit Stange und Kreuz, wegen Undeutlichkeit nicht näher identifizierbar, von f. 213 bis zum Ende der Handschrift eine andere Weintraube, ähnlich wie Piccard Nr. 129341 – Gelnhausen 1447. Bei der Identifizierung der Filigrane wurde mit der österreichischen Datenbank WZMA – Wasserzeichen des Mittelalters (siehe Literaturverzeichnis) gearbeitet.

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die Züricher Handschrift einen sehr zuverlässigen Text bietet23 und bei der Edition als Leithandschrift genommen werden sollte, u. a. deshalb, weil sie als die einzige den letzten Text des Kompendiums vollständig überliefert. Für die Edition des Circa instans müsste allerdings auch die Erlanger Hs. verwendet werden. Die Erlanger Handschrift hat kein Kolophon mit Ort und Jahr der Ausfertigung. Die Handschrift ist von einer Hand vom Ende des 15. Jh. geschrieben, die ihren Filigranen nahe stehenden Wasserzeichen erscheinen in den fünfziger bis siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts.24 Nach Erlangen gelangte diese Handschrift aus dem aufgelösten Zisterzienserkloster Heilsbronn bei Ansbach. Die Qualität des Textes steht stellenweise derjenigen der beiden anderen Handschriften etwas nach. Durch die mangelhafte Sorgfalt des Schreibers oder auch durch schwere Lesbarkeit seiner Vorlage sind manche Namen verstümmelt, manchmal falsche Wörter gesetzt. Die Schreibsprache der Handschrift ist westmitteldeutsch, es erscheinen jedoch auch einige wenige oberdeutsche Sprachmerkmale. Eine erste Untersuchung der Handschriftenverhältnisse lässt vorläufig einen vorsichtigen Schluss zu – die Züricher und die Krumauer Handschrift scheinen auf eine gemeinsame Vorlage zurückzugehen und dem Archetypus nahezustehen. Der sog. Hesse Jude von Solms wird in manchen Handbüchern zur Geschichte der Medizin kurz erwähnt, allerdings bleibt der Text des besprochenen Kompendiums unediert und deshalb nicht näher bekannt. Obwohl keine besonderen Überraschungen unter dem Aspekt der Medizingeschichte zu erwarten sind, ist die Edition des Kompendiums – oder zumindest des darin enthaltenen Circa instans sowie des Gesundheitsregimens und seiner Ergänzung, die als Werke Hesses gelten können – wünschenswert, um die Stellung dieses Kompendiums und seines Autors innerhalb der zeitgenössischen medizinischen Fachliteratur zu ermitteln. Durch die Edition wäre auch eine sichere Basis für die Beantwortung der Frage nach der Nachwirkung der Werke des sog. Juden von Solms gewonnen – bis jetzt wurde dank Gundolf Keil ein solcher Einfluss in der fast zeitgleichen Cirurgia Peters von Ulm sowie im Arzneibuch Johanns von Siegen aus den späten achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts festgestellt (Keil 1983: Sp. 890). An der anspruchsvollen Edition des Gesamtwerkes des sog. Juden von Solms oder wenigstens von Teilen seines Kompendiums sollten Germanisten und Kenner der mittelalterlichen Medizin zusammenarbeiten.

23 24

Der Verlust eines Blattes im Inneren der Handschrift [f. 84] schmälert die Qualität der Hs. Z nur unwesentlich. Folio 9 – Piccard 1966: Abt. VII, Nr. 233 – 1455–1458 Basel, Friedberg (Hessen), Kirkel (Saar) oder Nr. 259 – 1453–1454 Saarbrücken; f. 133 – Piccard 1980: Abt. I., Nr. 124–131, alles um 1475 Straßburg, Süddeutschland, die Schweiz.

Einige Bemerkungen zum sog. Juden von Solms und den Handschriften seines Werkes

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Quellen / Editionen Universitätsbibliothek Erlangen, Sign. B 34. Beschreibung der Handschrift bei Pültz, Otto (1973): Die deutschen Handschriften der Universitätsbibliothek Erlangen. Wiesbaden. [E] Státní oblastní archiv Třeboň, oddělení Český Krumlov [Staatliches Gebietsarchiv Třeboň, Abteilung Český Krumlov], Bestand Sbírka rukopisů Český Krumlov [Handschriftensammlung Krumau] Nr. 448. Beschreibung der Handschrift bei Navrátil, František (1972): Sbírka rukopisů Český Krumlov 1327–1968. České Budějovice. [K] Zürich, Zentralbibliothek, Sign. C 4a. Beschreibung der Handschrift bei Mohlberg, Leo Cunibert (1932): Katalog der Handschriften der Zentralbibliothek Zürich I. Mittelalterliche Handschriften, Zürich, S. 13, Nr. 29. [Z]

Literatur Bok, Václav (1999): Einige Beobachtungen zum sog. Juden von Solms anhand der Krumauer Sammelhandschrift seiner medizinischen Werke. In: Rostocker Beiträge zur Sprachwissenschaft 7, 87–97. Keil, Gundolf (1961): Die ‘Cirurgia’ Peters von Ulm. Ulm. Keil, Gundolf. (1983/2004): Jude von Salms (Solms). In: Kurt Ruh, Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger, Franz Josef Worstbrock (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. 14 Bde. Bd. 4, Sp. 889–891, Bd. 11, Sp. 812. Berlin / New York. Köbler, Gerhard (1999): Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 6. Aufl. München. Matuschka, Michael E. Graf von (1990): Hesse, der Jude von Salms (Solmes), Arzt und Schriftgelehrter. Ein vorwiegend namenkundlicher Exkurs. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 8, 207–219. Piccard, Gerhard (1966): Die Ochsenkopf-Wasserzeichen. Stuttgart. Piccard, Gerhard (1980): Wasserzeichen Werkzeug und Waffen. Stuttgart. Zimmermann, Volker (2005): Jude von Salms (Solms). In: Werner Erich Gerabek, Bernhard Dietrich Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. Berlin.

Internetbelege WZMA – Wasserzeichen des Mittelalters und die damit verlinkten Online-Datenbanken (Piccard etc.). http://www.ksbm.oeaw.ac.at/wz/wzma.php (Stand 09. 12. 2011).

Der Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojekts Soupis a základní filologické vyhodnocení německých středověkých a raně novověkých medicínských rukopisů dochovaných v českých zemích [Verzeichnis und grundsätzliche philologische Auswertung der deutschen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften, die in den böhmischen Ländern aufbewahrt werden] IAA901860901 gefördert durch die Grantagentur der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik.

GUNDOLF KEIL

Ein Schlesisches Aderlassbüchlein des 15. Jahrhunderts. Untersuchungen zum funktionsbedingten Gestaltwandel des Vierundzwanzig-Paragraphen-Textes 1. Pragmatische Textsorten heilkundlichen Schrifttums Heilkundliches Schrifttum1 des Mittelalters ist von den Benutzerintentionen her unterschiedlichen Kategorien zuzuordnen, wobei textpragmatische Gattungen wie das Rezept2 mit seinen – zu einer Vielzahl von Textmustern3 führenden – Aggregationsformen4 im Vordergrund stehen. Zu den anleitenden Textsorten5 gehörend, vermittelt das Rezept Handlungswissen, das von der Krankheitsfindung (Diagnose) über die Zusammensetzung (Komposition) und Herstellung (Galenik; Pharmazeutische Technologie) bis zur Anwendung (Applikation), Lagerhaltung (Lagerungsvorschriften), Preisgestaltung (Doppelte Rezeptur) und Patiententreue (Compliance)6 auffächert. Für Rezeptformeln des Veterinärwessens, der Kochbücher, Maler- und Färberbücher, der Fleckenreinigung, des Leimsiedens, der Metallurgie, der Jagd und des Fischfangs gelten vergleichbare Voraussetzung und lassen sich entsprechende Textmuster sowie Aggregationsformen beobachten.7 1

2 3 4 5 6 7

Um den Anmerkungsapparat nicht überborden zu lassen, wird bei einschlägigen Termini auf die entsprechenden Stichwörter von Nachschlagewerken verwiesen, die international verfügbar sind und weiterführende Informationen bereithalten: [*] Ein anteponierter Asterisk-Exponent bezieht sich auf Artikel des Verfasserlexikons: ‚Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon‘, im Folgenden abgekürzt als VL. [+] Ein vorangestellter Kreuz- Exponent ist die Kennung für Stichwörter im ‚Lexikon des Mittelalters‘, I–X, im Folgenden abgekürzt als LexMA. [°] Ein anteponierter Ring-Exponent markiert einschlägige Stichwörter in der ‚Enzyklopädie Medizingeschichte‘, im Folgenden abgekürzt als EnzMedGesch. Vgl. zu seiner Struktur Keil (1991); Keil/Halbleib (2009: 333–352). Bentele/Keil (2000: 358–382); vgl. auch Keil (1987); Keil (2007); Keil/Wolf (2009); Keil/Wolf (2011). Vgl. auch die gattungsübergreifende Darstellung von Riha (1992). Vgl. Vodrážková (2009: 115); Pörksen (1998). Die Patiententreue (Compliance) des Behandelten wurde dabei nicht nur durch Geschmackskorrigentien, sondern auch durch die Färbung von Arzneimitteln gestärkt; vgl. Keil (2008/09: 39). Vgl. die Übersicht bei Haage/Wegner (2007) und sieh zu den Kochbüchern auch Honold (2005).

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Zu den anleitenden Textsorten gehören auch die meisten Gattungen chirurgischer Fachprosa, vor allem die wundärztlichen Lehrbücher, die teils aus dem Lateinischen übersetzt8, teils bearbeitet9 und ab dem 14. Jahrhundert auch in eigenständig landessprachlichen Entwürfen10 vorgelegt wurden. Auf sie bezogen sich wundärztliche Prüfungsfragenkataloge,11 und den zünftischen Chirurgen waren die Standard-Lehrbücher so geläufig, dass mnemotechnische Schriften auf sie Bezug nehmen konnten.12 Prüfungsfragenkataloge und mnemotechnische Aphorismen zeigen wesentlich geringere Ausmaße als wundärztliche Lehrbücher und werden entsprechend dem chirurgischen Kleinschrifttum zugerechnet, das eine Vielzahl von Textmustern aufweist und mit dem Fächer seiner Themen vom Spezialtraktat für Schädelverletzungen13 bis zur feldärztlichen Notversorgung von Wunden ausgreift (Gross/Keil 2006/07). Zu seinen Gattungen gehören im Spätmittelalter zunehmend auch katalogartige Textsorten, die mit oder ohne Bildbegleitung Diagnoseschemata14 bereitstellen, therapeutische Eingriffe leiten,15 prognostische Aussagen wagen16 bzw. die Zeitgestalt von Therapie und Konstellation anhand laienastrologischer Verfahren abstimmten.17

2. Bildbegleitende Texte zu Demonstrationszeichnungen Besonderes Interesse seitens der Wissenschaftsgeschichte haben dabei diejenigen Kurztexte gefunden, die als Bildbeischriften wundärztliche Demonstrationszeichnungen (vgl. 8

9 10 11 12 13

14 15 16 17

Vgl. die Stichwörter *+° Bruno von Longoburgo, *Thiederik (°Tederico) von Cervia (di Borgognoni), *°Wilhelm von Saliceto, *Dino del Garbo, *+Heinrich (°Henri) von Mondeville und sieh Huizenga (1997). Vgl. die Stichwörter *+°Roger Frugardi (Rüdiger Frutgard), +°Roland von Parma, +°*Lanfrank von Mailand, +°*Guy de Chauliac. Vgl. die Stichwörter Jan *Yperman, Thomaes +°Schelling, *‚Kopenhagener chirurgisches Fragment‘, *+°Heinrich von Pfalzpaint, *,Prager/Olmützer Wundarznei‘. Vgl. das Stichwort *Lanfrank von Mailand und sieh Gröber (1998) sowie auch Mayer (1993a). Keil/Gross (2005/2007); vgl. auch Keil (2005/2007: 132–149). Hierher gehört das sogenannte „Schädelchirurgische Fragment“ des +°*‚Breslauer Arzneibuchs‘; vgl. die Ausgabe von Külz/Külz-Trosse (2008) und sieh Keil (2006: 404–406); Keil (2006/08: 36 und 45). Vgl. das Stichwort *Hämatoskopie-Traktate III: Blutschau-Kataloge, und sieh Mayer (1993b); Fehringer/Keil (1993). Beispielsweise das Setzen von Verbrennungen (Kauterisationen) mit dem Brenneisen (Kauter); vgl. zur Ikonographie und den Brennstellen-Schemata Sudhoff (1914–1918). Beispielsweise im Zusammenhang mit den *Verworfenen Tagen; vgl. Keil (1957: 50ff.); Vaňková (2004). Vgl. die Stichwörter *Planetenbuch, *Planetentraktate (und Planetenkinder-Texte), *Tierkreiszeichenlehre, *Lunare, sowie *Wochentagsprognosen (Hebdomadare) und sieh auch Mueller (2006: I, 7–39, 201–221 u. ö.; II, 49–74, 81f. u. ö.).

Ein Schlesisches Aderlassbüchlein des 15. Jahrhunderts

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Keil 1990: 137–149, 216–221, 237f., Abb. 41–52) begleiten und auf einer Tradition aufbauen, die über die anatomische +Fünf-Bilder-Serie bis in alexandrische Zeit zurückreicht.18 Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand dabei die Prager +Drei-Bilder-Serie, die aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammt und im Gegensatz zur antiken FünfBilder-Folge nicht auf die Gestalt, sondern auf die Erkrankungen des menschlichen Leibes zielt, deren Symptomatik graphisch erfasst und die Brücke vom abgebildeten Befund zur schriftlich fixierten Therapie schlägt. Die ganzfigurigen Abbildungen zeigen den Krankheitsmann, die (schwangere) Krankheitsfrau und den vielfältig blessierten *Wundenmann; landessprachliches Wortgut in den lateinischen Beischrift-Texten lässt erkennen, dass der anscheinend böhmische Verfasser deutsche19 und tschechische Vorlagen ausschrieb. Mit dem *Wundenmann nur scheinbar verwandt ist der Pfeilschussmann, der etwa ein bis fünf Dutzend Schussverletzungen samt Projektil aufzeigt und sie prognostisch in seinen Beischriften wertet.20 Dabei ist seine Zielsetzung nicht etwa kurativ, sondern ausschließlich thanatognostisch gerichtet. Mit seinem Urteil, das nur zwischen tela curabilis und incurabilis differenziert, versucht er, dem Feldarzt Sicherheit zu geben und zu verhindern, dass der Chirurg in hoffnungslosen Fällen Heilung verspricht. Heilung bzw. Prävention verspricht dagegen das *Schröpf(stellen)-Männlein, das dem Betrachter seine Rückseite zuwendet, weil die Schröpfköpfe in der Regel dorsal gesetzt wurden.21 Lediglich das Schröpfweiblein macht da eine Ausnahme, indem es sich wegen der °+Schröpfstellen auf den Brüsten22 von seiner Vorderseite zeigt. Das Nass-+Schröpfen über skarifizierter Haut galt (neben dem +Blutegel-Setzen) als eine der schonendsten Methoden diadermalen Blutentzugs; Es wurde Greisen zugemutet, bei Kleinkindern ab dem dritten Lebensjahr zugelassen und war selbst an *Verworfenen Tagen erlaubt, da die geringe Verletzung und die kleine Menge entzogenen Bluts keine Gefahr zu bedeuten schienen. Vor allem aber verordnet wurde das Nass-Schröpfen bei zarten Personen und bei überempfindlichen Patienten, die beim Anblick fließenden Blutes Schwächeanfälle erlitten oder gar ohnmächtig wurden.23 18

19

20 21 22 23

Vorausgegangen waren figürliche Demonstrationsdarstellungen wie etwa die einer Lehr-Leber für die Leberschau (Hepatoskopie); vgl. Tonlebermodelle mit Keilschrift-Begleittext bei Sigerist (1963: 422–424). Als deutschsprachige Vorlage für die *‚Wundenmann‘-Beischriften benutzte der +DreibilderserieVerfasser den sechsten, chirurgischen Traktat (wundarzenîe) aus *Ortolfs ‚Arzneibuch‘; vgl. Keil (1990); Auer/Schnell (1993); zur ikonographischen Tradition sieh auch Groß (1993: 187f., 331 u. ö.). Vgl. Sudhoff (1914/18: 73f. und Taf. XIV rechts). Vgl. Sudhoff (1914/18: 126f., 132, 137f. sowie Taf. XLII [XLVII]). Geschröpft wurde an dem prüstl, aber auch unter den Brüsten und auf dem Bauch des üppigen nackten Weibes: Sudhoff (1914/18 [Anm. 16], I., 127, 128, 139f.). Man vindet auch lewt, die zu lassen als vorchtsam sein oder die amächtig werden von lassen: vnd den selben mues man mit köpflein [Schröpfköpfen] zu hilff komen; Sudhoff (1914/18 [Anm. 16], I, 127).

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3. Lassstellentexte Beim +°Schröpfen wurde die Haut nur so schwach skarifiziert, dass es nicht zu spontanen Blutungen kam und es der Saugkraft eines Schröpfkopfs bedurfte, um in geringer Menge Blut austreten zu lassen. Ganz anders beim + Aderlass: Hier wurde an der vorgeschriebenen Lass-Stelle die – möglichst aufgestaute24 – Vene mit der Fliete25 geschlitzt oder durch bicken26 mit dem lâz-îsen punktiert. Avicenna hatte im Phlebotomie-Kapitel seines ‚Kanon‘27 die Venenbezeichnungen vorgegeben (vgl. Rath 1948), und der Verfasser des *‚Vierundzwanzig-Paragraphen-Textes‘ hat den gefäßbezogenen Lassstellen die gängigen Indikationen zugeordnet, wobei er von 30–32 Lassstellen ausging, die Sudhoff – gestützt auf sechs Überlieferungen des ausgehenden 14. bis späten 15. Jahrhunderts – in seiner kritischen Ausgabe (vgl. Sudhoff 1914/18: 175–183) zu 24 Paragraphen ordnete, was zum Namen 24-§§-Text geführt hat –: Sudhoff selbst begnügte sich mit der Bezeichnung „unillustrierter Text“, wenn er nicht (im Hinblick auf die Verbreitung) vom allgemein bekannten Lassstellentext (vgl. Sudhoff 1914/18: 175 und 178) gesprochen hat. Tabellarische Übersichten des Typs vena […] valet bzw. Phlebotomia venae… confert waren ab dem 13. Jahrhundert vorausgegangen und wurden von Sudhoff kontrastiv zum ‚Vierundzwanzig-Paragraphen-Text‘ ediert (vgl. Sudhoff 1914/18: 171–175). Die Übereinstimmungen sind punktuell so ausgeprägt,28 dass eine gegenseitige Abhängigkeit angenommen werden kann: Wahrscheinlich waren dem 24-Paragraphen-Verfasser die hoch- oder spätmittelalterlichen Indikationstabellen zu den Aderlassvenen geläufig. Nach Sudhoffs Edition sind weitere Abdrucke lateinischer Überlieferungen des ‚24-Paragraphen-Textes‘ erschienen: 1967 gaben Gerhard Eis und Wolfram Schmitt eine frühneuzeitliche Textabschrift aus dem *‚Asanger Aderlaßbüchlein‘ heraus (Eis/ Schmitt 1967), die 28 Lassstellen bietet, und 1999 stellten Konrad Goehl und Johannes 24

25 26 27 28

Zum Aufstauen benutzt wurde die lâz-binde, ein Stauband, das auch ikonographisch bei den Aderlass-Darstellungen seine Berücksichtigung fand; vgl. Sudhoff (1914/18 [Anm. 16], I, 145 Abb: Stauband an beiden Oberarmen); sieh auch Bl. 40r des *‚Iatromathematischen Hausbuchs‘, wo auf dem Aderlass-Genrebildchen der lâzaere während des Blutentzugs das weiße lâz-bendel über dem Knie liegen hat; vgl. Keil/Lenhardt/Weißer (1983); zum lâz-bendel sieh auch Heyne (1903: 110f.). Mhd. vliete aus griechisch phlebótomos: Venenaufschneidendes Lanzettmesserchen. Der Aderlasser (lâzaere) des ‚Iatromathematischen Hausbuchs‘ hält seinen bickel wie einen kleinen Hammer in der rechten Hand; vgl. Keil/Lenhardt/Weißer (1983). Ibn Sīnā, ‚Canon medicinae‘, I, IV, 20, letzter Abschnitt des Kapitels. Wir beschränken unseren Vergleich auf den ersten Paragraphen: flebotomia venae in fronte valet (emicranie, dolori capitis, tenebrositati oculorum, apostemati oculorum, dolori puppi‹s› capitis) (1) Vena in medio frontis percussa valet contra apostemata oculorum, contra emigraniam et contra dolores capitis gravissimos, contra mentis alienationem et frenesim** et contra lepram nou‹ell›am et contra vertiginem*** capitis. *puppis] konkurrierende Lesart partis posterioris; **frenesim] lictoriam (‹lethargiam) frenesim konkurrierende Lesart GM; ***vertiginem capitis] corruptum cerebrum GM; vgl. swindel … des hewptis im untersuchten Text.

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Mayer einen spätmittelalterlichen Textzeugen mit der gleichen Zahl identischer Textteile vor (Goehl/Mayer 1999), bei dem sie als 28. Paragraphen allerdings einen angehängten Fremdtext29 mitzählten – die Anzahl der Lassstellen beträgt nur 27. Obwohl der Wortlaut nicht unerhebliche Verwerfungen aufweist, veranlasste die Herausgeber der Eindruck äußerer Vollständigkeit und der Anschein ungestörter Paragraphen-Folge hier von einer Art Archetypus zu sprechen: Sie setzten die von ihnen edierte Hamburger Version30 (Hh lat.) als Grundtext an und wiesen sie als Vorlage des ‚VierundzwanzigParagraphen-Textes‘ aus. Als neuen Titel wählten sie den Initiator der Hamburger Version – Venarum minutio –; die eigentliche Überschrift Cognitio venarum minutionum contra omnes infirmitates blieb ungenutzt, konkurrierende Titelphrasen31 wie Tractatus utilis et compendiosus de minutione et percussione venarum oder Venae in quibus consvetum est phlebotomari in corpore humano sunt XXX wurden nicht berücksichtigt. Da es sich um eine minutio sanguinis percussione venarum (um Blutentzug durch Aderlass) und nicht um eine Verminderung der Venen32 handelt, haben wir auf die InitiatorBenennung verzichtet. Als Referenztext hat sich die Hamburger Serie mit ihren 27 Lassstellen freilich schon bewährt, und zwar bei der Untersuchung zweier deutscher 24-Paragraphen-Versionen, die unterschiedliche Übersetzungen repräsentieren, wobei der ältere Textzeuge aus Niederbayern, der jüngere aus Oberschwaben kommt. Das leitet über zur landessprachigen Rezeption des ‚Vierundzwanzig-ParagraphenTextes‘, die Sudhoff entdeckt, ab dem späten 14. Jahrhundert nachgewiesen und vom Deutschen übers Tschechische und Italienische, Französische bis zum Mittelenglischen sowie Irischen vorgestellt hat (vgl. Sudhoff 1914/18: 185–197); Wiederholt konnte er Mehrfachübersetzung nachweisen und hat Rezeptionszeugen unterschiedlicher Sprachen ediert. Was die altdeutsche Repräsentanz des ‚Vierundzwanzig-Paragraphen-Textes‘ betrifft, so konnte Sudhoff allein für den hochdeutschen Sprachraum sechs eigenständige Übersetzungs-Fassungen (teils gestützt auf Mehrfach-Überlieferung) belegen. Anhand zusätzlicher Textfunde auch aus dem niederländisch-niederdeutschen Bereich ließ sich diese Anzahl bis 1999 auf das dreifache vermehren,33 wobei auch Schrumpfformen von weniger als zehn und Schwellformen von über 50 Paragraphen sichtbar wurden. Paral-

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Es handelt sich um das *‚Lob des Aderlasses‘, einen überaus verbreiteten Kurztraktat des Hochmittelalters, dessen weitgefächerte lateinische und landessprachliche Überlieferung bis ins pharmakographische Schrifttum übergreift und dort den Kern des *‚Kranewittbeer-Traktats‘ ausmacht; vgl. die Edition von Lenhardt (1986) und sieh unten Anm. 114. So genannt nach dem Katalog-Angebot des Hamburger Antiquariats Günther; vgl. Günther (1997). Sudhoff (1914/18 [Anm. 16], I, 180 und 186). Bei Genitiv des Sachbetreffs: Verminderung in Bezug auf die Venen. VL X (1999: Sp. 334–339).

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lel dazu gelang es, eine entsprechende Schwankungsbreite34 für den mittellateinischen Überlieferungsflügel sichtbar zu machen, wobei hier ein mährisch-schlesisches Kompilat des ausgehenden Mittelalters35 es auf 45 Lassstellen bringt und dank seinen + °*Maurus-Anhängen36 sogar 76 Paragraphen zählt. Kontrastierend mit diesen Schwellformen37 zeigen die Schrumpfformen Praxisbezug und die Tendenz, den Aderlass auf wenige, leicht zugängliche Lassstellen zu beschränken. Unter Einbezug eines Neufundes, der nach Abschluss des VerfasserlexikonArtikels (vgl. Keil 1999) glückte,38 lässt sich sagen, dass vor allem zu den Armvenen Cephalica, Mediana, Basilica in der Ellenbeuge (bzw. auf dem Handrücken) gelassen wurde und dass am Fuß der Innenknöchel mit der Vena saphena magna entsprechende Aufmerksamkeit fand. Eine Analogie zu den Pest-Lasstexten ist unverkennbar: Die Pest-Lassschriften setzen 1349 in Prag mit dem *‚Sendbrief-Aderlassanhang‘ ein, werden im ‚Pest-*Brief an die Frau von Plauen‘ weiterentwickelt und 1371 durch *Gallus von Prag auf die drei Prädilektionsstellen der Bubonen ausgerichtet. Gallus kommt in seinem Sendbrief mit drei Venen und – wegen Rücksicht auf die Seitigkeit bei derivativem Aderlass – mit lediglich sechs Lassstellen aus.39 Der als zwingend verordnete Sofort-Aderlass machte es erforderlich, dass außer den erfahrenen lâzaeren auch unkundige Laien zu Fliete oder lâz-îsen griffen, die Vene zu finden und zu öffnen versuchten, auf Anleitung hofften und für jede Findehilfe dankbar waren.

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Diese hatte schon Sudhoff ab dem 14. Jahrhundert nachweisen können (1914/18, I, 171ff.). *‚Das Ölmutzer medizinische Kompendium‘, vgl. Vaňková (2004); Šupíková (2004); Teiledition des Anhang-Textes De venis in humano corpore existentibus, dessen zweiter Teil – gekennzeichnet durch Paragraphen-Eingänge wie Laborans ex sinocha, Laborans ex frenesi – sich als Auszug aus der Aderlasslehre von +*Maurus erweist; vgl. Buerschaper (1919: 11–23). Die Anhänge sind vom vorausgehenden ‚24-Paragraphen-Text‘ durch zwei kurze Lassregeln getrennt, die an der Kompositionsfuge eingeschoben wurden: vgl. Šupíková (2004: 115). Die Lassstellen-Kompilation in der ‚Medizinischen Sammlung‘ (III. 31r–36v) Ludwigs V., Pfalzgrafen bei Rhein, bleibt hier unberücksichtigt; vgl. VL V. (1985: Sp. 1023f.). Es handelt sich um einen mährisch-schlesischen Textzeugen, der als Versatzstück die aderlassbezogene Textschleppe in der Ölmutzer Version ‚Oberschlesischer Roger-Aphorismen‘ abschließt; vgl. den Textabdruck bei Vaňková (2004: 85–86) und sieh auch Keil (2005: 141). – Zur gestauchten Version des ‚24-Paragraphen-Textes’, der in der Textschleppe des *‚Promptuarium medicinae‘ (97vb f.) begegnet, sieh Goehl/Mayer (1999: 47), mit Bezug auf Keil (1993: 512). Vgl. zu den Prager Pest-Lassschriften Bergmann/Keil (1982) und sieh die Übersicht bei Keil/Wolf (2006); vgl. ferner den Versuch, die Würzburger Arbeiten über die Prager Pestliteratur zur Darstellung zu bringen, bei Schnell (2006); des weiteren zu Sigmund *Albichs Pesttraktat: Schnell (2004).

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4. Bild und Text – Text und Bild 4.1 Das Bild geht voraus: das ‚Pestlaßmännlein‘ Und eine solche Findehilfe stellte das *‚Pestlaßmännlein‘ dar (Bergmann/Keil 1982), eine phlebotomie-bezogene Demonstrationszeichnung, die einen ganzfigurigen Lassmann in Vorderansicht zeigt und an ihm die sechs Lassstellen gemäß dem Sendbrief ausweist. An beiden Seiten der Figur stehen die Beischriften, die je Seite den Zugang zu den drei Aderlass-Venen erläutern.40 Für den Fall, dass die Vene an der vorgeschriebenen Stelle nicht gefunden wird, bietet der Text dem unerfahrenen Aderlasser jeweils noch eine Ersatzstelle an, zu der er ihn mit der stereotypen Wendung kanstu ir aber nicht vinden hinführt. Wir erläutern das am zweiten Paragraphen, wo zur Basilica in der Ellenbeuge gelassen werden soll und als Ersatz bei Nicht-Finden die Basilica-Wurzel angeboten wird – sie zeigt sich zwischen Ring- und Kleinem Finger: Item bestund dich die truss41 vnder dem gerechten arem So haiss dir lassen die leber ader auff dem arem do du den prechen hast Kanstw ir aber nicht vinden So haiss dir42 sy lassen auf der selben hant43 czwischen dem minsten vinger vnd nachsten oberthalb44

Beim *‚Pestlaßmännlein‘ war die Demonstrationszeichnung das Primäre, und der oberdeutsch(-bairisch)e Verfasser hat den Text erst sekundär auf die Aderlassgrafik hin entworfen und dann lateralsymmetrisch um die schon vorhandene Figur gruppiert. Das Sprechblasen-Prinzip der +Drei-Bilder-Serie war ihm geläufig. Seine Bildvorlage hat er indessen nicht der +Fünf- oder Drei-Bilder-Serie entnommen, sondern den BrennstellenSchemata entlehnt (Werthmann-Haas/Keil 1988). Wenn das als ein Vertrautsein mit dem Kauterisieren45 gedeutet werden sollte, könnte man den Verfasser unter den Wundärzten suchen. Datiert wird seine Arbeit auf etwa 1400. Der Text kann aber auch schon früher entstanden sein: als Terminus post quem ist 1371 anzusetzen.46 Dass

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Da es sich rechts wie links um jeweils das gleiche Blutgefäß handelt, bieten die Beischriften auf den beiden Seiten – wie schon Sudhoff feststellte (1914/18: I, 197) – nahezu denselben Wortlaut. Rechts ist der Text ausführlicher; gelegentlich wird von links auf rechts verwiesen: §4: …So solt du auf dem lincken arem lassen als vor geschriben stet von dem gerechten arem. druos ist gängige Bezeichnung für Pestbeule, Bubone. dir] dirs Hs.; vgl. Bergmann/Keil (1982: 326). Die selbe hant ist die Hand derselben – hier der rechten – Körperseite. Bei gefalteten Händen bzw. in Gebetshaltung liegt der Ringfinger oberhalb, das heißt über dem kleinen Finger. Zur Ikonographie der Brennstellen(texte) sieh Sudhoff (1914/18: I, 75–124, Taf. XV–XLI). In diesem Jahr ist der ‚Sendbrief‘ des *Gallus von Prag erschienen, auf dessen sechs LassstellenParagraphen der Pestlaßmännlein-Text Bezug nimmt.

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der Verfasser in Böhmen wirkte, ist nicht unwahrscheinlich oder lässt sich zumindest nicht ausschließen.47

4.2 Das Bild folgt dem Text: Vierundzwanzig-Paragraphen-Text Beim ‚Vierundzwanzig-Paragraphen-Text‘ war die Abfolge umgekehrt. Hier ist die unillustrierte Textfassung – entstanden nach 1350 – den ikonographisch ergänzten Versionen vorausgegangen, und die Bildausstattung trat erst sekundär hinzu. Ob zuerst die lateinische Überlieferung oder eine von den deutschen Übersetzungen mit der Figur des Lassmannes ausgestattet wurde, ist noch nicht sicher auszumachen; die Wahrscheinlichkeit spricht für die Landessprache. Denn die Beilngrieser Lasstafel – von Karin Schneider in das ausgehende 14. Jahrhundert datiert48 – bietet den nach jetzigem Kenntnisstand frühesten Aderlassmann und dazu den Wortlaut der schlesischen Übersetzungsfassung 1, die schon im ‚Verfasserlexikon‘49 als älteste hochdeutsche Version des ‚24-Paragraphen-Textes‘ ausgewiesen ist: Der westmittelbairische Schreibdialekt der Beilngrieser Tafel lässt Spuren eines ostmitteldeutsch-schlesischen Subtrats noch hin und wieder durchscheinen.

4.3 Text und Bild: Das Zusammentreffen Beim Zusammentreffen von Text und Bild können zwei Stufen der Zuordnung unterschieden werden. Auf der ersten Stufe bleibt der Wortlaut des ‚24-Paragraphen-Textes“ unversehrt erhalten. Die Verbindung zu den im Bild markierten Lassstellen erfolgt durch ein Verweissystem korrespondierender Zahlen oder Buchstaben, die als topographische Kennung den Lassmann umgeben und dann marginal oder zeilenständig bei den zugehörigen Paragraphen des Textes wiederkehren. Überliefert ist dieses System im *‚Oberdeutschen Aderlaßbüchlein‘ des ‚Iatromathematischen Hausbuchs‘50 – hier unter Verwendung von Ziffern – sowie im ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentext‘, den Sudhoff aus einer westmittelbairischen Handschrift von 1471 herausgab51 und den Markus Mueller inzwischen auch aus dem ‚Passauer Hausbuch‘ von

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Auf den jüngeren, oberdeutsch(-schwäbisch)en *‚Pestlaßmännlein‘-Text des 15. Jahrhunderts gehen wir hier nicht ein; vgl. zu ihm Werthmann-Haas/Keil (1988: Anm. 59). Vgl. Künzel (2000: 153); vgl. auch das doppelseitige Faksimile S. 172–173 und sieh dazu Schneider (1999). VL X (1999: Sp. 335). Keil/Lenhardt/Weißer (1983: I, Bl. 48v–51r, II, 106–111); sieh auch Parent (1988). Sudhoff (1914/18: 186–188), aus dem Codex latinus Monacensis (Clm.) 18294 der Bayerischen Staatsbibliothek, Bl. 283r –284r; vgl. das Faksimile in: Sudhoff (1912).

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1445 bekanntmachte.52 Das System scheint für die Benutzer nicht ohne weiteres verständlich gewesen zu sein; das Nürnberger Exemplar53 des *‚Iatromathematischen Hausbuchs‘ bietet entsprechend eine rudimentäre Anleitung: Nun merck, das dise her nach geschribne figur weiset vnd leret, wi man igliche aderen lassen sol. Vnd warczu es nucz vnd gut ist, das vindestu an ider aderen sunderlichen. Vnd wo du wilt lassen, das such nach der czal, als dise nach 54 gemalt figur aus weist

Der Redaktor des ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentextes‘ hat auf eine derartige Gebrauchsanweisung verzichtet. Die ältere Überlieferung im ‚Passauer Kalender‘55 schickt dem ‚24-Paragraphen-Text‘ lediglich als Einleitung bzw. Überschrift voraus: Von den adern die man gmaynlich slecht ALs nu gesagt ist uon der zeit gutter vnd pesser aderlassung furpas will ich sagen uon den adern der menschen von dem haubt pis auff die füezz die man gmaynklich slecht yn dem aderlassen zu we yglige gut nütz pozz oder schad ist vnd von ersten von den adern des haubts.

Dabei ist der letzte Satz bereits Bestandteil des ‚24-Paragraphen-Textes‘, der in der Passauer Kopie von 1445 durch Zwischenüberschriften die Lassstellen-Folge in fünf regional differenzierte Segmente unterteilt: von den adern des haubts von den adern der arm von den adern der hend von den adern des leibs von den adern der füezz

Damit wird deutlich, dass der Redaktor des ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentextes‘ seiner Bearbeitung des ‚24-Paragraphen-Textes‘ die Gefäßtabelle Vene in quibus consuetum est flebotomari in humano corpore56 zugrunde gelegt hat, und zwar in deren 32-Lassstellen-Fassung triginta due vene sunt, die den Venenbestand bei kraniokaudaler Reihung in fünf regional differenzierte Abteilungen gegliedert hat: ‹in capite›, in iunctura vtriusque brachij, in manibus, in cossis, in utroque pede – : et sic sunt XXXij triginta due: Entsprechend dieser Orientierung an der ZweiunddreißigerVenentabelle nimmt es nicht wunder, dass der ‚zusammenhängende, etwas ausführliche Laßstellentext‘ 32 Paragraphen aufweist, was allerdings nur für den Archetypus gilt; 52 53

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Mueller (2006: I, 41f.; II, 83–89) mit farbigem Faksimile des Lassmanns; in der Handschrift Bl. 47r–50v. Der von Keil/Lenhardt/Weißer (1983) als Faksimile herausgegebene Kodex Schürstab; hier I, Bl. 48v; II, 106. Der Wortlaut der Buchauer Redaktion von 1443 weicht geringfügig ab: Parent (1988: I, 149, Bl. 62v). nach ] hier in der Bedeutung im folgenden, vgl. die her nach geschribne figur in der ersten Zeile des Zitats. Mueller (2006: II, 83). Sudhoff (1914/18: I, 181).

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bereits beim ältesten Textzeugen von 1445 ist eine Lassstelle durch Paragraphenschwund verloren gegangen. Vom untergegangenen Paragraphen zeugen nur noch die im Folgenden fett gedruckten Text-Trümmer: Münchner Kopie57 von 1471

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B Dy adern zw payden seyten der styrn sind guth zu slahen fur all wetagn, gepresten vn fluss der augn vnd dar vmb sind si genant dy liechtn adrn, wan sy pessernt das gesicht gröslich. Man spricht auch sy sind gut zu slahn fur den presten der oren.59

A Die adern zu payden seytten an der stirn gegen dem slaff sint gut zu slahen furall gepresten wetagen smerczen. Vnd fluzz der augen Vnd da uon sint sy genant die liecht adern / Wann sy pessern gröslich das gesicht / Man maynt auch das sy gut synt zeslahen für all gepresten der orn vnd fur die wetagen des slaffs.

C Dy adern zu paydn seyttn auf dem slaff sind gut zu slahn fur die wetagn mittn auf dem haubt, fur dy wetagen der orn, fur dy flüss der augen.

Das Beispiel der viertletzten Lassstelle, die auf die Große Rosenvene Saphena magna am Innenknöchel zielt, zeigt beim Passauer Textzeugen einen Wortlaut, der umfangreicher, aber keineswegs besser60 ist als jener der jüngeren Kopie von 1471. Der am Schluss mit der Wendung Vnd maynent etlich eingeführte Satz könnte auf einen kompilativen Zusatz deuten: Münchner Kopie61 von 1471

Passauer Textzeuge62 von 1445

W Dy ader inwendig vnder dem enkchel, dy man haist dy rosenader, ist gut slahen den fraun, dy nach irer gepurd nit wol gerainigt sind, vnd ist auch gut zu slahen den fraun, dy nit perhaft sind, wan sy rainigt dy muter vnd schikcht sy zu empfahen, vnd den fraun, dy ire recht nicht wol gehaben mugen. Auch ist sy gut zu slahen fur den harmstein vnd den gries vnd harmwinden63 vnd ist auch gut fur den podegra.

U* DJe ader jn wendig vntter dem enckl die man nennt zu latein zaphena vnd gmaynklich nennt die rozz ader auff yglichem fůezz ist gut zu slahen den frawen nach irr půrt die in dem kindelpet nit wol gerainigt sint / Vnd auch den frawen die nit perhafft sein Wann sy rainigen die můtter das sy geschicht wirt zu emphahen / Auch sint sy gut zu slahen den frawen die ire recht ader plúmen nicht wol gehaben

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Sudhoff (1914/18: I, 187, Z. 7–12; Bl. 283r). Mueller (2006: II, 85; Bl. 48v, Z. 6–10). Die aus dem untergegangenen Folge-Paragraphen C stammenden Textreste haben wir fett geschrieben. Absatzgliederung von uns. Vgl. die Fehldeutungen rosen ader zu rozz ader (Pferde- bzw. Schleim-Ader) und von geschickt zu geschicht. Sudhoff (1914/18: I, 188, Z. 26–31; Bl. 284r). Mueller (2006: II., 89; Bl. 50r, Z. 27–36). Mhd. harnwinde swf. Harnzwang, Strangurie, auch Harnverhalt; vgl. das *Trutmann-Wörterbuch, dessen Verfügbarkeit wir im Folgenden voraussetzen: Mildenberger (1997: 781).

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můgen / Wann sy pringent wider den selbigen flůzz / Vnd sint auch gut fur den harmstein griess vnd fur die harmwinden / Vnd fur die podogra. Vnd maynent etlich si sint gut zu slahen zu den augen. Vnd zu der geswulst geswár vnd gepresten der nyren…

Um das Ausmaß der Textmutation erahnen zu lassen und den Weg der Textentwicklung anzudeuten, sei hier noch der Folge-Paragraph wiedergegeben, der den Aderlass an der Kleinen Rosenvene Saphena parva unter dem Außenknöchel des Fußes regelt: Münchner Kopie64 von 1471

Passauer Textzeuge65 von 1445

A Dy ader auswendig vnder dem enkchel auf yedem fuss ist gut zu slahen fur dy gelsucht vnd fur dy geswulst der gemächt vnd der scham vnd ist auch gut fur dy platern vnd fur dy harmwinden, dem der do nicht wol geharmen mag, vnd fur das vergicht der slos, des rugks vnd aller gelider vnd fur dy wetagen vnd presten der lend vnd der huff vnd der niern vnd auch fur dy aiss vnd geswer des gantzen leibs.

Z Dje adern auswendig vntter den knorren ader dem enckl sint gut zu slahen auff yedem fůezz fur die geswůlst vnd geswár der gemacht ader der scham der nyren der lend vnd der diech vnd wider ir seuchen vnd gepresten / Auch sint sÿ gůt vnd nůcz wider die harmwinden vnd den die da nicht můgen geharnen vnd zu der plattern. Vnd den die da nicht můgen gehören. Vnd als etlich maÿnent das sy auch gut sint fur die gelsůcht.

Ergebnis der Textentwicklung und Folge mehrerer Mutationsschritte ist dann ein zusammengestauchter, synkretistischer Paragraph, der die beiden Lassregeln zur Saphena magna bzw. parva in wenigen Worten zusammenfasst. Unter In-Kauf-Nahme erheblichen Inhaltsverlustes ist aus zwei wortreichen Lass-Paragraphen (W–U*, A–Z) ein Winzling geworden, der zwei Lassregeln verschmilzt und den einzigen Vorteil hat, dass er dank kargen Umfangs in einer Sprechblase Platz findet und für die Bildbeischriften zu einem Aderlassmann verwendet werden kann. Entsprechend sind ganze LehrbuchKapitel aus *Ortolfs wunt-arzenîe66 für die Sprechblasen der *Wundenmann-Beischriften komprimiert worden. Dy odirn an beyden fussen uff den enkiln synt gut vor dy geswolst vnde apostemen vor dy gicht vor dy troppin vnd vor den rauden der fuße vnd gebresten der lenden vnd der nyren. [§28]

Es handelt sich um den Paragraphen 28 des schlesischen Lassstellentextes, der mit seinen synkretistischen Verschmelzungen, seinen Komprimierungen und den Verwerfungen in der Textteil-Folge das Ergebnis zweier redaktioneller Arbeitsschritte ist. Was sich abzeichnet, ist zunächst die zweite Stufe einer Zuordnung von Text und Bild. Das zeitraubende Verweissystem korrespondierender Buchstaben, das ein mehrfa-

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Sudhoff (1914/18: I, 188, Z. 31–37; Bl. 284r). Mueller (2006: II, 88f.; Bl. 50r, Z. 21–26). + °*Ortolf von Baierland, ‚Arzneibuch‘, Traktat 6: wunt-arzenîe.

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ches Hin- und Herblättern67 erforderlich machte, wurde aufgegeben zugunsten der Übersichtlichkeit einer Lasstafel, die Bild und Text auf einer Seite vereinigt. Für den ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentext‘ bedeutete dies, dass er seine beiden charakteristischen Merkmale aufgeben musste: Er verlor seinen Zusammenhang und ging seiner Ausführlichkeit verlustig. Zunächst wurde die Ausführlichkeit beseitigt. Der mehrere Blätter beanspruchende Umfang war dadurch bedingt, dass der ‚zusammenhängende, etwas ausführliche Text‘ als Lehrschrift angelegt war und anatomisches Grundwissen anbot, über das der im therapeutischen Alltag stehende Aderlasser in der Regel verfügte. Derartige Informationen konnten unter anwendungsbezogenen Gesichtspunkten als verzichtbar eingestuft und beim Redigieren weggelassen werden. Der textpragmatisch orientierte Bearbeiter hat denn auch die Heilanzeigen auf die wichtigsten Leitindikationen beschränkt und sich im Übrigen mit dem Kennzeichnen von Lassstellen und Nennen von Lasszeiten begnügt. Im sechsten Paragraphen, wo er über seine Vorlage hinausgeht, befasst er sich mit dem Aderlass in der Ellenbeuge, beschreibt exakt die Lage der Arteria brachialis (bzw. deren Aufzweigung) und warnt vor ihrer Verletzung. Unter geswolst versteht er das gefürchtete Aneurysma, das erhebliche Ausmaße annehmen konnte68 und dessen Beseitigung hohes chirurgisches Können voraussetzte. Wahrscheinlich war er Chirurg; zumindest kann er als Spezialist des Aderlassens gelten.69 Mit der Ausführlichkeit ging dann auch die Kontinuität verloren. Nachdem die Paragraphen des ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentextes‘ redigiert und gekürzt worden waren, erfolgte beim Übertragen auf die Lasstafel der zweite gravierende Eingriff, der das Textteil-Arrangement aufgab, die Paragraphen aus der tradierten Reihenfolge herauslöste und sie beidseits der Lassfigur unter topographischen Aspekten neu anordnete. Möglichst nah bei der zu öffnenden Vene plaziert, wurden sie nach dem Sprechblasen-Prinzip eingekreist und durch eine (in der Regel rubrizierte) Linie mit der am Leib des Lassmännleins markierten Aderlassstelle verbunden. Die Lasstafel war vollendet!

4.4 Bild und Text: Die Trennung Damit indessen nicht genug. Bei der Zuordnung von Text und Bild lässt sich noch eine dritte Stufe der Textentwicklung beobachten, die jedoch nicht weiter zusammenführt, sondern das sinnvoll Vereinte wieder trennt. Mit dem nackt zurückbleibenden, seiner

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ker vmb heißt die Aufforderung zum erforderlichen Umblättern beim Aderlassmann im *‚Iatromathematischen Hausbuch‘ (älteste Fassung): Parent (1988: 149, Fußnote 134). Vgl. die Abbildung 4 bei Sachs (1994: 50). Die Warnung jedenfalls hat er nicht selbst formuliert, sondern dem Fachschrifttum entnommen; vgl. Czarnecki (1919).

Ein Schlesisches Aderlassbüchlein des 15. Jahrhunderts

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Ziffern oder Beischriften entkleideten Aderlassmann70 brauchen wir uns hier nicht eigens zu befassen – er blieb in seiner (von fähigen Illuminatoren gestalteten) Schönheit auch ohne Bezugssystem erhalten –: für den abgelösten Lassstellentext bedeutete das Getrenntsein vom Demonstrationsbild indessen zusätzliche Verwerfungen, wenn nicht im Hinblick auf den Zusammenhang sogar das Chaos. Eine derartige Textentwicklung haben Konrad Goehl und Johannes Mayer schon vorausgesehen. 1999 veröffentlichten sie ihre Ergebnisse zu einem oberschwäbischen ‚24Paragraphen-Texť, den wir (Goehl/Mayer 1999: 46) 1995 gefunden, identifiziert und ihnen zur Untersuchung übergeben hatten. Dabei entdeckten sie, dass es zur Verschmelzung unterschiedlicher Paragraphen gekommen war (Goehl/Mayer 1999: 45–47). Und beim Vergleich einer weiteren deutschen Handschrift des 15. Jahrhunderts, die im Antiquariatshandel angeboten wurde (Günter 1997), stellten sie Dubletten bei den Paragraphen, Verwerfungen in der Textteil-Folge, Vertauschungen von Indikation und Lokalisation fest und beobachteten darüber hinaus die topographische Verschiebung einer Lassstelle. Das veranlasste sie, in Bezug auf den Gestaltwandel des *‚Vierundzwanzig-Paragraphen-Textes‘ von extremer Varianz in der Überlieferung zu sprechen und als Ursache der gravierenden Textmutationen auch die Auflösung der Text-BildBeziehung zu erwägen, wie sie aus dem Verlust der Demonstrationszeichnung für bildbegleitende Beischriften-Texte resultiert.71 Was 1999 noch als Vermutung ausgesprochen wurde, lässt sich inzwischen belegen. Unsere schlesische Variante des ‚24-Paragraphen-Textes‘72 beweist, dass eine bildbegleitende Version des ursprünglich einmal ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentextes‘ von der Lasstafel abgeschrieben wurde, ohne dass die von den Beischriften umrahmte Lassmännlein-Figur mitkopiert worden wäre. Dabei ist der Kopist des 15. Jahrhunderts nicht anders vorgegangen als ein moderner Herausgeber unserer Tage:73 Er hat beim Abschreiben des Textes zunächst die Bildbeischriften auf der einen Seite des Lassmännleins der Reihe nach von oben bis unten kopiert und ist dann zur

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Keil/Lenhardt/Weißer (1983: I, Bl. 48v): Ein (wahrscheinlich von der Nonne Elsbeth Schürstabin) liebevoll gezeichneter Lassmann ohne Bezugssystem und leer auslaufenden Verbindungslinien; vgl. ebd. auch (II, 106 und 186b–187b). „Die extreme Varianz innerhalb der Überlieferung der Aderlaßtexte dürfte ganz allgemein auf diesen Umstand zurückzuführen sein, dass es sich eben meist um Kommentare zu Demonstrationszeichnungen handelt, wobei diese Texte dann auch ohne Abbildungen tradiert wurden, so dass der bildliche Bezug verlorenging.“ Goehl/Mayer (1999: 48). Es handelt sich um den Text aus der Handschrift MS b 56 der Majoratsbibliothek der Grafen von Nostitz in Prag. Die Untersuchung dieser Handschrift sowie dieser Beitrag entstanden im Rahmen des Forschungsprojekts GAAV ČR, Nr. IAA90186901 Soupis a základní filologické vyhodnocení německých středověkých a raně novověkých medicínských rukopisů dochovaných v českých zemích [Verzeichnis und grundsätzliche philologische Auswertung der deutschen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften, die in den böhmischen Ländern aufbewahrt werden]. Vgl. als Beispiel Künzel (2000: 165–171).

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Gundolf Keil

Gegenseite der Lassfigur gewechselt, wo er wiederum – oben beginnend und unten endend – eine Beischrift nach der anderen in der vorgegebenen Folge transkribierte: Nu hebin sich an dy odern an der rechten seyten (4r 14)

sagt er zu Beginn der Lassstellen-Reihe und deutet durch diesen Initiator an, dass er auf der rechten Seite der Demonstrationszeichnung mit dem Kopieren angefangen hat. Und nachdem er die Beischriften der rechten Seite – nach unserer Zählung die Paragraphen 1–10 – übernommen hat, wendet er sich der lincken seytten zu und hebet nochmals an: Nu hebin sich an dy odirn off der lincken seytten (5r 16–17)

Im Gegensatz zur rechts platzierten Lassstellen-Kolumne hatte es der Schreiber dann auf der lincken seytten nicht mit zehn Paragraphen zu tun, sondern musste die doppelte Anzahl an Beischriften – nach unserer Zählung die Paragraphen 11–30 – transliterieren, wozu er indessen nicht wesentlich mehr Raum74 benötigte, da die Beischriften lincks weniger Informationen75 boten und entsprechend wortkarger formuliert waren als die auf der rechten seyten. Am Ende resultierte ein zweigeteilter Text, der zweimal oben am Kopf beginnend die Lassstellen in absteigender Reihenfolge abhandelte und der den Eindruck erweckte, als sei er aus zwei ursprünglich voneinander unabhängigen Fassungen des ‚24-Paragraphen-Textes‘ zusammengesetzt. Dabei erschien der zweite Textteil wie die komprimierte Version einer scheinbar vorausgehenden, etwas ausführlicheren Fassung. Goehl und Mayer haben den entsprechenden Befund beim *‚Haager Aderbüchlein‘76 im Sinne solch einer Zwei-Versionen-Theorie interpretiert.77 Es ist bemerkenswert, dass ein derartiger Bruch in der Reihung, der das oberste zuunterst kehrt, indem er zwei anatomische Textteil-Folgen hintereinander schaltet, nicht schon vom Schreiber während des Kopierens ausgeglichen wurde; zeigt doch ein Blick auf die Hebdomadare,78 *Monatsregeln und *Lunare,79 dass selbst vielgliedrige TeiltextSerien ohne Verwerfungen des seriellen Gliederungsmusters zusammengeführt und ineinander verschränkt werden konnten. Aber während bei den Kleintexten beherrschter 74 75

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Rechts: 52 Zeilen; links 63 Zeilen – das macht einen Unterschied nicht von 100, sondern nur von knapp 20 %. Im Gegensatz zur rechtsseitigen Beischriften-Kolumne fehlen bei den links platzierten LassstellenParagraphen Angaben zur Venen-Nomenklatur, Hinweise auf die günstigen Lasszeiten und Warnungen vor dem Verletzen benachbarter Arterien. Auch die Anzahl der je Paragraph genannten Indikationen liegt mit durchschnittlich 3,25 links niedriger als mit 4,8 rechts. Bl. 9r 30–10v 3; vgl. Bauer (1978: 66–69). Goehl/Mayer (1999: 47) führen an: „Der Traktat umfaßt hier [im ‚Haager Aderlaßbüchlein‘] 25 Paragraphen und zerfällt in zwei Teile: die §§ 1–16 bieten in ungeordneter Reihenfolge und mit Vertauschung von Laßstellen und Indikationen […] eine Kurzfassung unseres Laßtextes, während die §§ 17–25 im Wesentlichen eine auf Stichpunkte gekürzte zweite Fassung darstellen.“ Vgl. den Artikel *Wochentagsprognosen von Christoph Weißer im VL X (1999: Sp. 1298–1300). Vgl. die von Christoph Weißer durchgeführten bzw. geleiteten Studien: Weißer (1982); und sieh auch Keil (2005/07: 139f.) mit Bezug auf Vaňková (2004).

Ein Schlesisches Aderlassbüchlein des 15. Jahrhunderts

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Zeit80 ein klares Gliederungsschema aufgrund der Siebener-, Zwölfer- oder DreißigerFolge vorgegeben war und dem Schreiber anhand des Wistrandschen Kompilationsschemas81 klare Richtlinien zum Wahren des Textmusters zur Verfügung standen, fehlten bei den Lassstellen-Texten vergleichbare Aggregationsmuster, da weder die 4 × 6 = Vierundzwanziger-Folge noch die 4 × 7 = Achtundzwanziger-Reihe und auch nicht die 4 × 8 = Zweiunddreißiger-Serie kanonisiert war und keine von ihnen die ausreichende Stringenz besaß, um beim Ordnen von Lassstellen-Paragraphen als verbindliche Richtschnur zu dienen und als Kompilations-Leitschema im Wistrandschen Sinne eine verlorene Textstruktur wiederherzustellen.

5. ‚Der zusammenhängende, etwas ausführliche Laßstellentext‘ kollabiert Nach Überschreiten der dritten Stufe bildbezogener Textentwicklung hatte der ‚zusammenhängende, etwas ausführliche Laßstellentext‘ nicht nur seine Ausführlichkeit und seinen Zusammenhang verloren, sondern nach dem Verlust seiner ikonographischen Stütze auch noch das durchgehende anatomische Ordnungsprinzip eingebüßt. Zwar hatte nach dem Sich-Lösen von der Demonstrationszeichnung er seine ursprüngliche Selbständigkeit zurückerhalten, aber eine Rück-Annäherung an den Archetypus war damit nicht gewonnen – im Gegenteil: Die Störungen in der Textteil-Reihung und der Bruch in der kraniokaudalen Stoffanordnung bedeuten nichts anderes als dass der Lassstellentext nach dem Bild-Verlust in seiner Makrostruktur geradezu kollabiert ist. Was nach der Trennung vom Bild dann vom Text noch übrigblieb, wirkt gestört und erweckt beim ersten Blick den Eindruck von etwas Chaotischem. Wiederholt begegnen Dubletten.82 Und mehrere Paragraphen sind durch Ausdünnung, Kompression oder synkretistische Verschmelzung so stark verändert, dass es schwerfällt, eine Beziehung zum Ausgangstext herzustellen. Die Kontamination durch andere Lasstexte kommt hinzu.83 Einen Fall, wo ohne Mikroanalyse die Herkunft aus dem Ursprungstext kaum nachweisbar ist, haben wir anhand zweier Fuß-Lassstellen schon dargestellt. In anderen Fällen sind die Beziehungen zum Archetypus dagegen noch erkennbar: 80 81 82 83

Vgl. zu den Gattungen Keil/Lenhardt/Weißer (1983); Mueller (2006); Haage/Wegner (2007). Vgl. zum Wistrandschen Kompilationsschema Weißer (1982: 21–24). Es geht um die Dubletten-Paare 6/17, 7/18, 9/10 (und 10/20). Die Paragraphen 21–23 unserer schlesischen Version fehlen im ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentext‘, sind aber in den „Venenstellen des Rumpfes“ von Sudhoffs kritischer Ausgabe als §§ 15a–15b des ‚Vierundzwanzig-Paragraphen-Textes‘ berücksichtigt; wir zitieren den Doppel-Paragraphen 15b (Sudhoff [1914/18: 178] entspricht unseren §§ 22–23): Due vene laterum, quarum una est in dextra parte, que valet contra ydropisin, et alia in sinistra latere, que valet contra dolores et tumores siue ingrossationes splenis.

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Gundolf Keil ‚Der zusammenhängende, etwas ausführliche Laßstellentext‘ 84

Münchner Kopie von 1471

Passauer Textzeuge85 von 1445

Schlesische Version86

Dy adern hinden auf den ellpogen sind gut zu slahen fur all gepreßten, siechtumb vnd smerczen des herczen, der lungel vnd der prust vnd sind gut zu slahen den, dy do nicht wol geatmen můgent vnd erstikchen wellen, wann sy machent im rinkchfertigen atem vnd ein guth gesprach vnd sind auch gut fur dy swintsucht vnd fur das darmgicht vnd fur den kram vnd fur den roten siechtumb vnd all smerczen der arm, der seytten vnd der ripp, inwendig vnd auswendig.

Czwu adern hintten auff den elnpogen sint gut zu slahen für all smerzen gepresten vnd seuchen des herczen der lungen vnd der průst. Vnd sint auch nücz vnd gůt zeslahen den die da nicht wol vnd leichtiklich mugen gehaben den attem Vnd wollent als ersticken / Wann sy machent einen geringen atem. Vnd ein gůt gesprech / Auch sint sy gut zu slahen fur den swindel/ vnd fur den vallenden siechtůmb für die swintsucht fur das darmgicht / Vnd fur den Crampf Vnd maynent etlich das sy sint auch gůt zu slahen fur den rotten siechtumb ader für die rotten růr / Vnd fur all smerczen der arm der seytten der ripp auswendig vnd ynwendig / Vnd maynent etlich man sull sy slahen in dem ersten winttermon den man nennet87 november zu latein.

Dy odirn off dem elbogen an beyden armen wer dy odirn lossin will / der sal dy lossin an deme sebindin tage novembris das ist der herbis monde vor allen smertczen vnd wetagen des hertczen, der brost / den lenden [!] /der seytten / der rebin / ynwenigk wnde aus wenigk vnd dy nicht wol geademen mogin vnd irsticken wollen, Vnd dy do hertczslechtig seyn zcu den allen dingen ist dy odir gut zcw lossin vnd gesunth vnd vor den krampf vnd vor dy hefen mǔter.88

Und die Verbindungen mit dem Archetypus lassen sich auch dann noch beobachten, wenn es zum synkretistischen Verschmelzen von Teilen einzelner Paragraphen gekommen ist:

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Sudhoff (1914/18: I, 187–188): Kennbuchstabe P, Bl. 283v. Mueller (2006: II, 86), Kennbuchstabe K, Bl. 49r 7–17. Hs. MS b 56. nent] Hs., nennt Mueller. hefen mter] Hs. zu mhd. hebe-muoter, Hebamme. Der Bearbeiter hat anscheinend den rôten siechtuom nicht mit der rôten ruor (Bakterienruhr), sondern mit den (Katamenien oder) roten Lochien gleichgesetzt; vgl. Mildenberger (1997: IV, 1766, siechtuom auch Menstruation).

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Ein Schlesisches Aderlassbüchlein des 15. Jahrhunderts ‚Der zusammenhängende, etwas ausführliche Laßstellentext‘ 89

Münchner Kopie von 1471 Dy ader ze obrist auf der nasen ist gut zu slahen fur dy fluss des haubt vnd der augen. Dy aderen vor auf der spicz der nasen ist gut zu slahen fur all fluss der augen vnd auch des haubts, fur geswulst der prüst der fraun, fur den rauden91 in den naslochern vnd fur dy engring vnder dem antlicz. Dy ader vnder dem chinpain ist gut zu slahn fur dy engring vnd rotmail des antlicz, fur dy geswer vnd gestankch der naslocher, fur manigerlay wetagn der augen vnd des haubts vnd fur dy geswulst der frauen prusst vnd raumet wol dy prust.

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Passauer Textzeuge90 von 1445

Schlesische Version

EJn ader auf dem spicz der nasen ist gůt zu slahen wenn dem menschen das haubt swär vnd flussig ist/ Vnd fur all fluzz der augen/ Fur die geswulst der prüst der frawen vnd fur die rauden92 in in den naslöchern vnd fur die engering vnd plätterlein an dem antlücz. DJe adern vntter dem kyn ader kynpain ist gut zu slahen fur die engring93 vnd fur die posen rotten fleck Vnd mail des antlütz Vnd fur das gestanck vnd geswär der nasen naslocher Vnd fur mangerlay wetagen des haubtz der augen vnd des mundes Vnd fur die geswulst der prüst der frawen wann sy raument [!] wol der průsst…

Dy odir vorne an der spitcze der nasen ist gut czu losin vor allin floß der awgen. [3]

Dy odir vnder dem kynne ist gut czu lossin vor dy geswolst der frawen broste vnd smertczen vnd vor den rauden der nazen lachir vor dy cleynnen blottern vnd vor dy grinde an dem antlicze vber al Vnde vor den sichtum yn der brost des hertczen vnd vor alle apostema druße des engerensch.94

Sudhoff (1914/18: I, 187, Z. 17–18), Kennbuchstabe F; Z. 18–21, Kennbuchstabe G, und Z. 24– 28, Kennbuchstabe I. Mueller (2006: II, 85f.), Kennbuchstabe C, Bl. 48v 26–30, und Kennbuchstabe H, Bl. 48v 30 bis 49r 1. den rauden; gemeint ist die epitheliale Umwandlung der Nasenschleimhaut bei Ozaena (Stinknase); vgl. die fratikait vnd posen smakch der naslocher bei Sudhoff (1914/18: I, 191b). prusst] prüsst Mueller – rauden] randen Mueller – engering] engernig Mueller; vgl. die folgende Anm. engring] engung Mueller. Die Paragraphen 3 und 4 aus unserer geplanten Edition der schlesischen Fassung des ‚24-Paragraphen-Textes‘ (Bl. 4r 23 bis 4v 5). Wir haben das letzte Wort – nämlich engerenscht – als Hybrid von engerin(g) und antlitz gedeutet und durch die Konjektur angesichtes aufgelöst. Ausgegangen werden kann aber auch von einer hybriden Suffigierung aus -ing und -ëht, was dann einen Ansatz wie engerin(g)ëht erlauben würde; Hinsichtlich der Weiterentwicklung zu engerin(g)escht wäre im Auge zu behalten, dass mitteldeutsch -ing und -ig auswechselbar sind, dass letzteres mit -ëht pleonastische Zusammensetzungen wie schwarzechtig, holzechtig, grasochtig bildet und dass /sch/ und /ch/ im Frühneuhochdeutschen einen „verbreiteten mundartlichen Zu-

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Gundolf Keil

Auf die laienbezogene Überarbeitung des Passauer Textzeugen von 1445, die sich in geminierender Synonymie und paraphrastischen Umschreibungen zeigt, wollen wir nicht eigens eingehen. Sie stört nicht den Vergleich mit der Schlesischen Version, die eine partielle Verschmelzung zweier Paragraphen erkennen lässt, insofern als von der Lassstelle vorne auf der Spitze der Nase die meisten Indikationen abgezogen und auf den Aderlass an der submental verlaufenden Vena facialis (anterior) übertragen wurden.95 Dort unter dem kinbein war ergiebiger Blutentzug möglich im Kontrast zu dem weniger ergiebigen Aderlass im zarten Arterien- und Venengefleckt der Nasenspitze. Die Indikationsübertragung lässt auf die Erfahrung eines versierten Aderlassers schließen. Im Wortlaut steht die Münchner Kopie von 1471 der Schlesischen Version näher als der Passauer Textzeuge von 1445. In der Struktur zeigt dieser allerdings auffällige Übereinstimmungen: hat er doch im Gegensatz zur Münchner Kopie den ersten NasenParagraphen ausgelassen, wie er auch in der Schlesischen Version fehlt. Der daraus resultierende Verdacht, dass die beiden Textzeugen – der Passauer wie der Schlesische – demselben Überlieferungsflügel angehören könnten, erhärtet sich beim Blick auf den synkretistischen Paragraphen A* des Passauer Textzeugen, der aus den Paragraphen B und C des ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentextes‘ entstanden ist, und zwar dadurch, dass die zweite Aderlassstelle aufgegeben wurde, vom untergegangenen Paragraphen C aber zwei Texttrümmer im Paragraphen B erhalten blieben. Wir haben den Vorgang oben in einer Synopse als Beispiel für Paragraphenschwund dokumentiert, zugleich aber auch gezeigt, dass vom untergegangenen Paragraphen C zwei Texttrümmer gerettet wurden, weil der Bearbeiter sie in den vorausgehenden Paragraphen B integrierte. Diese Einschiebsel – ein Lokalisationshinweis und eine Heilanzeige – machen den Archetypus-Paragraphen B zum synkretistischen Paragraphen A* des Passauer Textzeugen. In der synoptischen Gegenüberstellung haben wir die zwei integrierten Texttrümmer des Passauer A*-Paragraphen durch Fettdruck hervorgehoben. Und wir behalten diesen Fettdruck in der nun folgenden Synopse bei, die den synkretistischen A*-Paragraphen seiner Schlesischen Entsprechung gegenüberstellt und durch Kursiv-Kennung sichtbar macht, dass §12 unserer Schlesischen Fassung trotz aller Kürzung und Straffung von den beiden integrierten Trümmern immerhin noch einen bewahrt hat, was ihn als Abkömmling des synkretistischen A*-Paragraphen aus-

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sammenfall“ zeigen; vgl. Reichmann/Wegera (1993). Als Bedeutung von engeringëht würde sich dann die Symptomatik der Akne vulgaris ergeben, wobei der engering auf Acne comedonica abhebt, während in den apostemen und druosen des engeringëhts die Knoten, Abszesse, Fisteln, tiefen Narben bzw. Narbenkeloide der Acne conglobata sive nodulocystica – der schwersten Form von Akne vulgaris – aufscheinen; sieh Pschyrembel, S. 16ab und 36a, und vgl. auch Höfler (1899: 113ab), s. v. Engerling, Engering, Engerich, wo zusätzlich parasitäre (Dasselbeule) und bakterielle (Lepra) Erscheinungen mit einbezogen werden. Lippert/Herbold/Lippert-Burmester (2002: 179–182). Zur Unergiebigkeit des Venengeflechts auf der Nasenspitze hat sich Ricardus Anglicus geäußert und die teneritas … venarum dafür angeschuldigt; vgl. Seyfert (1924: VIII, Z. 29–31).

Ein Schlesisches Aderlassbüchlein des 15. Jahrhunderts

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weist und die Schlesische Version jenem durch den Passauer Textzeugen vertretenen Überlieferungsflügel anschließt: Passauer Textzeuge von 1445

Schlesische Version

A* Die adern zu payden seytten an der stirn gegen dem slaff sint gut zu slahen furall gepresten wetagen smerczen. Vnd fluzz der augen Vnd da uon sint sy genant die liecht adern / Wann sy pessern gröslich das gesicht / Man maynt auch das sy gut synt zeslahen für all gepresten der orn vnd fur die wetagen des slaffs.

Czwe odirn an der stirne dy seyn gut zcu lossin vor allen smertzcen vnd fristet96 das gesichte der owgen vnd vor den obrigen ausflos der orn vnd97 des hewptis des sloffys. [12]

Das Verhältnis der beiden bairisch-oberdeutschen Abschriften zur Schlesischen Version ist damit geklärt: Obwohl der Passauer Textzeuge im Wortlaut der Schlesischen Fassung ferner steht als die Münchner Kopie, bietet sein synkretistischer Paragraph A* einen Bindefehler, der die (aufgrund äußerer Vollständigkeit) schon vermutete textgeschichtliche Verwandtschaft sichtbar macht und augenfällig die Zugehörigkeit zum selben Überlieferungsflügel beweist. Damit ist freilich nicht gesagt, dass die Schlesische Version sich auf eine bairische Vorstufe zurückführen ließe. Der Passauer Textzeuge ist in Passau geschrieben worden und zeigt entsprechend mittelbairischen Schreibdialekt; die mundartlichen Merkmale der Münchner Kopie sind gleichfalls bairisch, weisen zusätzlich aber auch einige Eigenheiten98 auf, die eher auf den (süd)böhmischen Raum deuten, und unsere Schlesische Version steht unter den schlesischen Repräsentanten des ‚VierundzwanzigParagraphen-Textes‘ keineswegs allein: In einem Fall, den wir hier im Anschluss dokumentieren, ergeben sich punktuell sogar so enge Übereinstimmungen, dass von einer iterativen Präsenz der zweiten Stufe der Textentwicklung – der Lasstafel-Stufe unseres Textes – gesprochen werden kann. Nach jetzigem Kenntnisstand würden damit zwei schlesische und eine böhmische Überlieferung einem mittelbairischen Textzeugen gegenüberstehen. Solange zusätzliche Handschriftenfunde nicht dagegen sprechen, lässt sich eine böhmische Entstehung unseres ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentextes‘ also nicht ausschließen:

96 97 98

fristet] pessert bei Sudhoff (1917/1918: 190b, Z. 12). vnd] lies vnd sein gut vor allen smertzen. Auffällig sind die Monophthongierungen mittelhochdeutscher Zwielaute (gut, fuss, ausnahmslos dy statt die), die Schreibung harmstein neben harmstain (188) und die Verdumpfung von /o/ zu /u/ in fur, vor (187, Z. 37); vgl. Rudolf (1973: § 5, 42; § 17, 54f., und § 16, S. 53f. (dy in Goldenkron).

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Gundolf Keil

Codex latinus Monacensis 2777 (mährisch-schlesisch)100

Schlesische Version99

Dy ader mitten an der stiern ist gut zelassen fur alles geswulst vnd apostem der augen vnd fur den swindel vnd stüb, Hawpt webib vnd fur anderm siechtumb vnd smertzen dez haupcz vber all.

Dy odir mitten off der styrne ist güt czu lossin vor den geswer der owgen vnd apostemen vnde vor den nebil Vnd vor den swindel vnd allen wetagen des hewptis obir al vnd vor dy new aussetczikeit.101 [12] Dy odir vndir dem kynne ist gut czu lossin vor dy geswolst der frawen broste vnd smertczen vnd vor den rauden der nazen lachir vor dy cleynnen blottern vnd vor dy grinde an dem antlicze vber al Vnde vor den sichtum yn der brust des hertczen vnd vor alle apostema druße des engerenscht.103 [4] Dy odir vorne an der spitcze der nasen ist gut czu lossin vor allin floß der awgen. [3] Czwe odirn yn wenigk vnd awswenigk der oren seyn gut czu lossin vor dy hewpt gicht vnd vor das czittern vnd vor das swindeln vnd vor das twben des heuptis Vnd ist auch gut vor das vnhorn104 vnd vor ander smertczen des hewptis. [1]

Dye ader auf dem chinpain sindt gütt gelaczzen nüchtern fur der frawen prüst geswulst vnd smercz vnd fur der nazlöcher rawden vnd für dy claine platern rösel vnd engerin auff dem antlicz vnd für sinchtumb102 des herczen der prust vberall. Dye ader auff der spicze der nasen ist gütt czelassen für allen fluß der augen Dye ader inderthalben vnd ausserthalben der oren sind gutt cze lassen fur dez hawpt gicht vnd daz zittern, swindeln wetumb vnd toben dez hawbtz vnd ist gutt so der mensch ist vngehorent worden vnd für die neven malaschait.105

Das Oberste zuunterst! Ein Blick auf die Paragraphenfolge der rechten Spalte lässt erahnen, welchen Verwerfungen der ‚zusammenhängende, etwas ausführliche Laßstellentext‘ auf der (zweiten und insbesondere) dritten Stufe ikonographisch bedingter Textentwick99 100 101 102 103 104

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Die Paragraphen 12, 4, 3, 1 unserer Ausgabe der Schlesischen Version des ‚24-Paragraphen-Textes‘, hier in der Reihenfolge des Arrangements von Sudhoffs Abdruck. Bl. 17r, aus dem Zisterzienserkloster Aldersbach, 15. Jh.; Abdruck der ersten acht Lassstellen-Beischriften: Sudhoff (1914/18: I, 190b). Die mundartlichen Merkmale weisen auf Mähr(isch Schlesi)en. Beim Clm 2777 begegnet dieselbe Heilanzeige im Paragraphen vom Aderlass an den Ohren als die neve malascheit. Zum n-Einschub (Epenthese) in Stammsilben (Stammorphemen) nach dem Tonvokal und dem folgenden Konsonanten sieh Reichmann/Wegera (1993) mit Bezug auf Jungandreas (1937). Zu engerenscht sieh oben Anm. 94: angesichtes. vor das twben des hewptis Vnd ist auch gut vor das vnhorn] Hs., contra tinnitum aurium et contra surditatem nou(ell)am. Der Tinnitus wird hier nicht mit Geklingel (Georges 1879: II, Sp. 2812b), sondern mit dem Geräusch von Pfeifen bzw. Holz- und Blech-Blasinstrumenten verglichen; vgl. Lexer, II, Sp. 1479, s.v. töuben stn. die neve malaschait] S, dy new aussetczikeit unserer Schlesischen Version, § 12; noua lepra bzw. lepra nouella S I, 175. – In seinem Anfangsstadium galt der +Aussatz als heilbar (Guy de Chauliac [1585]: IV, I, 2, 254f.: dum est introducta ‹lepra› sed non est confirmata, cura eius completur phlebotomiâ, id est humorum adustorum euacuatio‹ne›); – Zum Terminus Malâzheit sieh Keil (1986: 94).

Ein Schlesisches Aderlassbüchlein des 15. Jahrhunderts

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lung ausgesetzt war. Das auf der Stufe 1 vorgegebene, auf der zweiten Stufe ikonographisch gestützte Arrangement in kraniokaudaler Folge ist bei der Lösung des Text-BildZusammenhangs verlorengegangen. Und es drängt sich die Frage auf, ob solch eine Lassstellenreihe ohne Bildunterstützung und ohne anatomische Anordnung ihrer Paragraphen überhaupt noch in textpragmatischer Hinsicht etwas taugt, will sagen: ob sie für einen Aderlasser sich noch verwenden lässt, wenn der für seine Praxis im Sinne einer berêdicheit der arstedige106 schnell verfügbare Hinweise abzurufen versucht. Und die Antwort darauf lautet: Die Tauglichkeit ist geblieben. Und mehr als das: Durch den Bruch in der topographischen Makrostruktur ist der Gebrauchswert des Textes hinsichtlich Schnellverfügbarkeit sogar noch gestiegen. Dank seiner makrostrukturellen Verwerfung bietet der Lassstellentext unserer Schlesischen Version zwei anatomisch geordnete Lassstellenreihen, deren 30 Paragraphen das Grundwissen der minutio sanguinis107 umfassen, wobei die erste sich auf die drei prinzipalen108 Venen der Ellenbeuge konzentriert und auch theoretisches Wissen bereithält, während die zweite Reihe a capite ad calcem die wichtigsten Lassstellen aufruft und von den Heilanzeigen her benennt. Eine solche Zweiteilung der Paragraphenfolge gab dem erfahrenen Aderlasser die Möglichkeit, hinsichtlich Schnellverfügbarkeit der Indikationen die Liste 2 von der lincken seytten zu überfliegen und bei Bedarf an zusätzlichem, auch theoretischem Wissen die Liste 1 zu konsultieren, die von den Lassstellen an der rechten seyten handelt.

6. Die schlesische Version als Kondensationskern einer Textallianz: Das ‚Schlesische Aderlassbüchlein‘ Ein erfahrener Aderlasser! Dass die Schlesische Version des ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentextes‘ von einem versierten lâzaere benutzt wurde, zeigt die vierte Stufe der Textentwicklung, die mit der Text-Bild-Relation nichts mehr zu tun hat und auch nicht zwingend als letzte Stufe anzusetzen ist, sondern zeitlich auch ohne weiteres zwischen der zweiten und dritten Entwicklungsstufe eingeordnet werden könnte – es ist denkbar, dass die Schlesische Version schon vor dem Bildverlust einem Allianzvorgang unterworfen wurde, der sie mit Aderlass-Schriftgut ummantelte und

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So lautet der deutsche Titel von Bartholomäus Ghotans *‚Promptuarium medicinae‘, das auf die Schnellverfügbarkeit medizinischen Wissens mit Blick auf die ärztliche Praxis zielt; vgl. Keil (1993: 500–504). des Aderlasses. prinzipal insofern, als sie nach humoralphysiologischer Auffassung mit den membra principalia Herz, Hirn, Leber, Milz korrespondieren; vgl. Hippéli/Keil (1982: 66–68.

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Gundolf Keil

zum Textteil eines Aderlassbüchleins werden ließ. Gattungsvertreter, die ihre Lassfigur behalten haben, sind bekannt.109 Die Gattung des Aderlassbüchleins verdankt ihr Zustandekommen weitgreifenden Textallianzen.110 Kristallisationspunkt für die aggregativen Vorgänge ist ein ‚Vierundzwanzig-Paragraphen- oder ein *‚Schröpfstellentext‘,111 dem in einmaligem Vorgang oder auch sukzessiv zusätzliches Textgut angelagert bzw. eingefügt112 wird. Derartige Zusätze entstammen unterschiedlichen Textsorten, wobei die Aderlassdiätetik überwiegt, aber auch Lassstellentexte begegnen, laienastrologisches Schriftgut vorkommt und vereinzelt sogar pharmakographische Textsplitter sich nachweisen lassen. Strukturell wurden die – meist zur Kleinliteratur gehörenden – Zusatztexte entweder als ganzes übernommen, und dann blieben sie aufgrund externer Merkmale wie Initiatoren und Terminatoren113 zuweilen gut abgrenzbar; Oder sie wurden – was weit häufiger vorkam – auszugsweise exzerpiert und in kleinfeldriger Versatzstückfügung wie ein Flickenteppich dem lassstellen-bezogenen Textkern vorgeschaltet oder als Textschleppe nachgesetzt. Das so entstandene Kompilat besitzt Werkcharakter, zeigt einheitliche textuelle Funktion und ist von seinem Textsinn her darauf ausgerichtet, den Aderlasser als ärztliches Vademecum (vgl. Bauer 1978: 5) zu begleiten und ihm schnellverfügbares Fachwissen zu Diagnose, Diätetik, Indikation und Durchführung des Blutentzugs an die Hand zu geben. Die Schlesische Version des ursprünglich ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentextes‘ weist in ihrer Lassbüchlein-Fassung die meisten der genannten textinternen und -externen Merkmale auf. Sie zeigt die Kennzeichen einer Textallianz, insofern als ihr das *‚Lob des Aderlasses‘114 – häufiger Trabant des ‚24-ParagraphenTextes‘115 – vorangestellt und durch einen Terminator deutlich abgehoben ist. Sie wird von Rüschelzonen kleinfeldriger Versatzstückfügung ummantelt, bei der die einzelnen Exzerpte und Textsplitter nur mühsam gegeneinander abgegrenzt werden können, und sie ist sukzessiv durch Zusatztexte erweitert worden –: die topographisch differenzierende ‚Nüchternheitsregel‘ wurde dem Archetypus schon vor 1445 zugesellt.116 Unsere 109 110 111 112 113 114

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Beispielsweise das *‚Genter Aderlaßbüchlein‘ oder das *‚Oberdeutsche Aderlaßbüchel‘ (welch letzteres auch einen *Schröpfstellentext bietet). Vgl. zum Phänomen der Textallianzen Simmler (2004: 381 u. ö.): Intertextualität, Textallianz. ‚Oberrheinisches Aderlassbüchlein‘, *‚Bairisches Aderlaßbüchlein‘; vgl. VL VIII (1992: Sp. 858). Zumindest einen solchen Zusatz bietet die von uns herausgegebene Schlesische Version. Simmler (2004: 344). Die Laus phlebotomiae bzw. Utilitas phlebotomiae lässt sich seit dem 12. Jahrhundert zunächst in Deutschland nachweisen; sie war als Teiltext weit verbreitet und hat über den *‚KranewittbeerTraktat‘ selbst ins pharmakographische Schrifttum Eingang gefunden. Vgl. die Textausgabe von Lenhardt (1986: 90f.) und sieh auch Goehl/Mayer (1999: 59). Voraus geht ein Exzerpt aus der ‚Pseudorogerischen Phlebotomie‘, vgl. Czarnecki (1919: 9). VL V (1985: Sp. 863f.); zusätzlich Goehl/Mayer (1999: 47) (unter Einbezug der S. 59, Z. 24ff. vorangestellten Ps.-Roger-Exzerptes; vgl. die vorausgehende Anmerkung). 1445 wurde der Passauer Textzeuge zu Papier gebracht, der die ‚Nüchternheitsregel‘ bereits in einer laienbezogenen, leicht paraphrastischen Redaktion bringt, die innerhalb der gemeinsamen

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Ein Schlesisches Aderlassbüchlein des 15. Jahrhunderts

Synopse lässt auch hier die textgeschichtliche Zusammengehörigkeit der schlesischen Redaktion mit dem Passauer Textzeugen sichtbar werden: ‚Der zusammenhängende, etwas ausführliche Laßstellentext‘ Münchner Kopie

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von120 dem aderlassen ist zw merkchen,121 das all adern dy allenthalben von dem hawpt geen, sol man lassen, wann man angepissen122 hat vnd nit nuchtern, aus genomen dy ader vnder dem kinnpain; aber dy adern auf dem armen sol man vastund slahen vnd sunderlich dy median. dy adern oben auf den hendn sol man slahen, so man angepissen hat, vnd dy adern auf den füssen sol man slahen noch essen.124

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Passauer Textzeuge118 von 1445

Schlesisches Aderlassbüchlein119

Czu welcher zeit des tags aderlassen sol geschehen alle DJe adern allenthalb die da won dem haubt gent sol man lassen so man entpissen hat vnd nicht nuchtern lassen ausgenomen die adern vntter dem kyn die sol man nuchtern lassen / Aber die adern aus [!] den armen sol manlassen vastund ader nuchtern / So sol man die andern adern auff den henden vnd auf den fuessen lassen so man empissen hat ader nach essen / Die sol man päen123 in einem warmen wasser.

Ouch wysße man das odirn von dem hewpte sal ‹man› lossin noch dem essin Vnde alle odirn voren yn den henden / vnd nedene an den fussen sal man lossin noch dem essen vnd [ ] yn warmen waser Dy odern vnder dem kynne vnde dy off den armen sal man lossen nuchtern etcetera

Überlieferung mit dem ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentext‘ erfolgte. Als sie durchgeführt wurde, war die Textallianz zwischen ‚Nüchternheitsregel‘ und ‚Laßstellentext‘ schon zustande gekommen. Der Vorgang des Zusammenführens beider Texte könnte sich also schon um 1425 ereignet haben. – Die Münchner Kopie bietet die Regel in einem ursprünglicheren, noch nicht laienbezogenen Wortlaut. In der Münchner Kopie von 1471 geht die ‚Nüchternheitsregel‘ dem ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentext‘ voraus; ihr vorgeschaltet ist der gemeinsame, beide Teiltexte einbegreifende Initiator: Welche ader man slahen sol für den oder für den gerlay [dererlei]; Sudhoff (1914/18: I, 186, viertletzte Z. bis 187, Z. 3). Im Passauer Textzeugen von 1447 ist die ‚Nüchternheitsregel‘ als Textschleppe dem „Laßstellentext“ angehängt: Mueller (2006: II, 89, Bl. 50v 12–16). Die Regel ist durch einen eigenen Initiator (50v 11) von den vorausgehenden Lassstellen-Paragraphen abgegrenzt, und zwar durch die (hier mit abgedruckte) rubrizierte Überschrift, die das Nüchternheitsproblem zur Frage der beherrschten Zeit macht. Bl. 3v 20–26.– Die ‚Nüchternheitsregel‘ geht hier, im ‚Schlesischen Aderlassbüchlein‘, dem Lassstellentext voraus, aber nicht direkt, sondern nur mittelbar und von ihm getrennt durch drei Teiltexte, die bei der Redaktion des Lassbüchleins zwischengeschaltet wurden. Von ihren textlichen Anrainern ist die Regel deutlich abgegrenzt, und zwar durch den anakoluthischen Initiator Ouch wysße man das, den wir mit abdrucken, und dann am Schluss durch das Tironisch abgekürzte etcetera. Den vorausgehenden, etwas interpretationsbedürftigen Initiator haben wir nicht mit in die Synopse übernommen, sondern in die Fußnote verbannt. merkch bei Sudhoff (1914/18: I, 186). Zu ambeißen: ‚frühstücken, einen Imbiss nehmen‘; FrnhdWb I, Sp. 991. bähen, im Sinne von „feuchtwarm behandeln“, etwa durch eine feuchte Bähung (embrocatio, fomentum) oder – wie hier – durch ein lauwarmes Teilbad; vgl. LexMa I, Sp. 1095, Z. 26f. und 36f.; FrnhdWb, II, Sp. 1701f.

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7. Umstellung und Verdichtung Was schon beim ersten Blick auffällt, ist die redaktionelle Umstellung: Die anatomische Makrostruktur der ‚Nüchternheitsregel‘ wurde in der Lassbüchlein-Bearbeitung aufgegeben und ist einer funktionellen Anordnung der Lassstellen gewichen, insofern als der (schlesische) Bearbeiter die nüchtern zu slahenden Venen aus der anatomischen Reihung herausgezogen und in einem eigenen, endständigen Paragraphen zusammengefasst hat. Der auf diese Weise neu gruppierte Text zerfällt entsprechend in zwei Teile, die beide – jeder für sich – die anatomische Reihung beibehalten haben, in ihrer gegenseitigen Abgrenzung aber ein neu dominierendes Ordnungsprinzip sichtbar machen, das funktionell gerichtet ist und – im Interesse einer berêdicheit der arstedige – auf Schnellverfügbarkeit des Wissens für den Aderlasser zielt. Dieser textpragmatischen Zielsetzung entspricht auch ein zweites Merkmal redaktioneller Umgestaltung. Im Vergleich zu den beiden älteren Textfassungen ist der Wortlaut der (schlesischen) Bearbeitung deutlich gestrafft worden, was bei dem vorbereitenden Bähen der Hand- und Fußvenen yn warmen wasser zu kryptischer, nur für den Fachmann auflösbarer Kürze geführt hat. Derartiges Komprimieren unter textpragmatischer Zielsetzung lässt sich beispielhaft veranschaulichen am *‚Pestlaßmännlein‘-Text, den der Kompilator des ‚Schlesischen Aderlassbüchleins‘ unmittelbar auf den ‚24-Paragraphen-Text‘ folgen ließ (Bl. 6v 7–12). Als Gliederungsmerkmal setzte er initial eine Lombarde. Wahrscheinlich war er es auch, der den loimologischen Lassstellentext auf einen Bruchteil von dessen Umfang – etwa 20 Prozent – kürzte. Wir demonstrieren das anhand der *Pestlaßmännlein-Paragraphen 1 und 2: ‚Pestlaßmännlein‘ Autornaher Wortlaut125

‚Pestlaßmännlein‘ Schlesische Kompress-Fassung

Item bestund dich die trüss an dem halls der gerechten seyten So solt dw lassen die haubtader des rechten arems auf dem daumen Kanstu aber ir auff dem daumen nicht vinden So haiss dir sy lassen auf dem arem.

Abir hostu eynne ‹druße› an dem hals adir anders wo zo loß dy hewpt odir czwisschen dem dawmen vnd dem czeyger. (Bl. 6v)

Item bestund er126 dich an der lincken seyten an dem halss So solt du auff dem lincken arem lassen als vor geschriben stet von dem gerechten Arem. 124 125 126

noch essen im Sinne von nâch ezzens zît: ‚nach der Hauptmahlzeit, nach dem Mittagessen‘; vgl. Lexer, I, 718; DWB, III = 3, Sp. 1169. Text nach Bergmann/Keil (1982: 326). er] nämlich der preche, die Erkrankung; Mildenberger (1997: I, 256): brëchen-haftec, schwer erkrankt.

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Was auffällt, ist nicht nur die Kürzung. Auch die Reihenfolge wurde umgestoßen: Schon das einleitende Abir lässt erkennen, dass der initiale Doppel-Paragraph 1/2 seine Spitzenstellung verloren hat. Er wurde durch das Paragraphenpaar 3/4 aus seiner InitialPosition verdrängt und auf den zweiten Platz verwiesen. Der Kompilator, der diese Umstellung vornahm (und damit die kraniokaudale Reihung nach den Prädilektionsstellen der Bubonen aufgab), sah sich zum Positionswechsel wahrscheinlich aus textpragmatischen Erwägungen veranlasst, und zwar im Hinblick auf die Frequenz: Die Vena mediana127 war mit Abstand das am häufigsten für den Aderlass empfohlene Gefäß. Sie wurde in Pestzeiten geschlagen beim Auftreten von Bubonen im subaxillären Bereich;128 solche geschwollenen Lymphknoten repräsentierten den Primärkomplex129 des Armes und traten dort unter der Achsel öfter auf als die submentalen drußen an dem hals, da infizierte Flohbisse130 am Arm häufiger waren als die entsprechenden Primäraffekte am Kopf. Motivationsverstärkend wirkte darüber hinaus der humoralphysiologische Bezug zum Herzen. Für den Subaxillar-Bereich nämlich postulierte die Humoralpathologie ein organspezifisches Schneuz-Organ (emunctorium)131 eigens für das Herz, welch letzteres als membrum principale132 und damit als Hegemonikón des Leibs Lebensgeist und belebende Wärme beherbergte; welch letzteres aber auch durch das Gift des Pesthauchs bedroht wurde und dann in seiner höchsten Not133 die Krankheitsmaterie beim axillaren Emunktorium auszuschneiden suchte. Und bei diesem Versuch exzernierender Abwehr griff der Aderlasser ein, denn er hatte gelernt (und am Venenmann der +Fünfbilderserie ablesen können), dass die Medianvene direkt mit dem Herzen in Verbindung stehe134 und in der Lage sei, wenn sie geschlagen würde, das vom Pesthauch verunreinigte Blut auszuleiten und das Herz von der lebensbedrohenden Krankheitsmaterie zu befreien.135 Ein gerettetes Hegemonikón! Die Rangfolge der membra 127

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menye odir 6v 8; im ursprünglichen Wortlaut des Pestlaßmännlein-Doppelparagraphen 3/4 bezeichnet als leber ader (vena hepatica rechte Ellenbeuge); bzw. als milcz ader (vena splenetica; linke Ellenbeuge); vgl. Bergmann (1972: 90); Mildenberger (1997: 1052). Die truss vnder dem gerechten (bzw. dem lincken) arem; sieh in unserem Aderlaßbüchlein auch Vnder welchem arme du eynne druße host, 6v 7. der allen, die sich mit der Beulenpest des Schwarzen Todes befassen, bestens geläufig ist, so dass wir es hier mit einem Hinweis bewenden lassen können auf Pschyrembel (2007: 1551): Primäraffekt; -komplex. Von Xenopsylla cheopis Roth (dem Pestfloh) bzw. von Pulex irritans L. (dem Menschenfloh); vgl. Keil (1986/89: 113–118). Die vürbunge under den üehsen; Bergmann (1972: 53). Hippéli/Keil (1982: 66f.): Primat des Herzens unter den drei Hauptorganen Herz, Leber, Hirn. so… wisse, das das hercz kranck ist in den todt; Bergmann (1972: 54). Mildenberger (1997: 1052); Sudhoff (1914/18: I, 177f., 187 Z. 40f., Kennbuchstabe N); Mueller (2006: II, 86, 49r 27–29, Kennbuchstabe K*). dy hat iren vrsprungk... von dem herczen, dy ist gut zu slahen fur all gepresten des herczen, der prust vnd der lungel ...; Sudhoff [wie Anm. 134]; vgl. den homologen Paragraphen 7 der Schlesischen Version (unten Bl. 3r 1–4), wo die Vena mediana unter der deutschen Bezeichnung mittel-

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principalia durchbrach die anatomische Lassstellen-Reihung und rückte das Herz an erste Stelle.136 Und mit dem Prinzipat des Herzens wurde zugleich die Vena mediana, die auch cordiaca hieß, in ihrer initialen Position bestätigt. Die beiden Beispiele mögen genügen: ‚Nüchternheitsregel‘ und ‚Pestlaßmännlein‘ stehen exemplarisch für die übrigen Kleintexte und Textsplitter, die sukzessiv mit dem ‚24-Paragraphen-Text‘ verbunden wurden und als Aggregat das ‚Schlesische Arzneibüchlein‘ bilden. Sie alle zeugen von einschneidender Redaktion, die – auf praktische Verwendbarkeit gerichtet – den Inhalt anwendungsbezogen ausdünnte, den Wortlaut auf einen Bruchteil des überlieferten Umfangs kürzte, die Terminologie revidierte und Verwerfungen in der Makrostruktur bis zum Verlust des Textmusters in Kauf nahm. Eine Ausnahme macht lediglich das *‚Lob des Aderlasses‘, das in seinem hämmernden Telegrammstil137 früh Aufmerksamkeit weckte,138 in seiner Bündigkeit indessen kaum Kürzungen zuließ, sollte es weiterhin als Werbetext139 für die Phlebotomie Verwendung

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âder läuft (Lexer, I, Sp. 2187; Dfg 353 ; die mittelniederdeutschen Belege fehlen bei Lasch/ Borchling). Bergmann/Keil (1982: 327) mit Hinweis auf den Prager ‚Sendbrief‘ des *Gallus von Prag 1371 und den ‚Pesttraktat‘ des Jakob *Engelin von Ulm 1395, die beide in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts das anatomische Gliederungsschema durchbrechen und im Hinblick auf den Primat des Herzens die Vena mediana bzw. mittel-âder an den Anfang stellen. Kurzsätze aus Akkusativ und Verb reihen sich wie eine Kette aneinander: Flebotomia, si competens fiat, mentem sincerat, memoriam praebet, vesicam purgat, cerebrum temperat, medullam calefacit, auditum aperit, lacrimas stringit, fastidium tollit, digestionem procreat, stomachum purgat, clariorem vocem producit, sensum acuit, ventrem coercet, somnum minuit, anxietatem tollit, tristitiam aufert, libidinem cohercet, sanguinem proprium nutrit, sanguinem extraneum eiicit, vitamque longiorem ministrat; Lenhardt (1986: 90) adaptiert an Goehl/Mayer (1999: 59). Zunächst bezogen auf den *‚Kranewittbeertraktat‘, das heißt: auf jenen Überlieferungsflügel, der für die Wacholderbeeren umgewidmet und als Drogenmonographie für die Pharmakognostik umfunktioniert wurde; vgl. Keil/Reineke (1973: 369, 401): „asyndetisch gereihte, parataktisch gefügte Kurzsätze, die einen hämmernd-eindringlichen Rhythmus erzielen“: Grana Juniperi… Cerebrum confortant, Sensum temperant, visum custodiunt, pectus mundificant, Vocem clarificant, Ventositates repellunt, Stomachum confortant, Cibum indigestum digerunt, lapidem frangunt… Sieh ebd. auch S. 398 (partipatum tenent) und vgl. VL V (1985), Sp. 864: inhaltlich wie stilistisch vom *‚Lob des Aderlassens‘ geprägt. Zu den Werbetexten mittelalterlicher Pharmazie sieh Holste (1976: 107); *‚Theriak-Tugendkatalog‘ der ‚Medizinischen Sammlung‘ (XIII, 9v) Pfalzgraf *Ludwigs V. bei Rhein: thiriacka ist ein mutter aller arzenei, dan sie vertreibt all schwer seucht des leibs, die ein mensch gehaben mage. Sie ist gut vor den gehen dodt (seucht); sie ist auch gut den an dem haupt schwindellt vnd die nit schloffen mögen vnd die es in dem haupt sticht; auch zu der haisern stim, vnd dem vmb die brust enge ist, dempffig vnd hartschlechtig, vnd den wassersüchtigen vnd den an der lebern vnd lungen wehe ist, dem magen vnd milcz, auch nieren, vnd fegt die derm; ist auch gut den, die daz grine hart haben, das sie kaum künden geharnen; sie ist auch gut den frawen, die ir zeit nit recht haben; verdreibt auch die alten seuchten, die von vergifft den menschen ankumen sein; auch vor alles stechen des, ‹das› aiter treit; vnd den die zu weilen nit guter sinne pflegen…von kranckhait der natur…; Sie macht das hirn frisch Vnd fest daz hercz, vnd magen, vnd die leber macht sie stercker.

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finden. Vielleicht war das der Grund, dass der Text redaktionellen Eingriffen entging und nicht komprimierend bearbeitet wurde; vielleicht ist der Grund für sein Verschontgeblieben-Sein aber auch darin zu suchen, dass der kleine Traktat erst nach der Redaktion eine Allianz mit dem Aderlassbüchlein einging. Der ungewöhnliche Terminator140 deutet in diese Richtung.

8. Textteile und Textallianzen Et sic est finis ist als Terminator dem ‚Schlesischen Aderlassbüchlein‘ nachgestellt; Der Terminator Amen etcetera nach dem *‚Lob des Aderlasses‘ wurde gemittet und beansprucht eine ganze Zeile; die übrigen beiden Terminatoren bieten das etcetera zeilenständig und in Tironischer Kürze. – Ähnlich sparsam ist der Redaktor mit textexternen Initiatoren umgegangen; er benutzt sie augenfällig beim Textkern, dem ‚24-Paragraphen‘Traktat, und zwar zur Seiten-Differenzierung der rechten bzw. linken Lassstellenreihe.141 Drei weitere externe Initiatoren142 sind nicht abgesetzt und im Schriftbild weniger gut hervorgehoben; lediglich dem ersten von ihnen wurden Virgel und Lunula als Gliederungssignale zugesellt. – Im Übrigen haben Kompilator und Schreiber reichlich von der abgesetzten Schreibweise (vgl. Schneider 1999: 131–136) Gebrauch gemacht und der makro- sowie mikrostrukturellen Gliederung des Textes im Schriftbild klaren Ausdruck gegeben. Nahezu ausnahmslos143 wurden die lassstellenbezogenen Paragraphen des Kerntextes abgesetzt, und auch die übrigen Teiltexte und Textsplitter des Beiwerks sind größtenteils durch Absatzgliederung hervorgehoben. Großbuchstaben tun ein Übriges, und noch augenfälligere Signalwirkung ging von den häufig gesetzten Lombarden aus, die nicht nur in der obersten Zeile der Blattseiten mit Litterae elevatae konkurrieren. Von Satzzeichen hat der Schreiber – elf Beistriche144 ausgenommen – keinen Gebrauch gemacht. Durch Majuskeln, Lombarden, Paragraphenzeichen,145 Schmuckbuchstaben und abgesetzte Schreibweise deutlich untergliedert, lassen sich im ‚Schlesischen Aderlassbüchlein‘ folgende zwölf Teiltexte bzw. Textsplitter gegeneinander abgrenzen, wobei 140 141 142 143 144

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Bl. 3r 18, sieh unten Amen etcetera. Bl. 4r 14 und 5r 16f. Bl. 3v 16f., 3v 20f. Vgl. zur Sache Simmler (2004: 371, 376, 381 u. ö). Eine Ausnahme macht lediglich der Doppelparagraph 22/23 (6r 4–6), der schon in der Quelle als ungeteilte Einheit begegnet. 3v 17, 3v 23, 4r 10, 4r 19, 4v 7, 4v 10, 6v 17, 6v 23, 7r 2. Durch eine Virgel wird beispielsweise der erste textexterne Initiator gegenüber dem folgenden Teiltext abgegrenzt (1v 17) – Zu Entwicklung des Beistrichs (Schrägstrichs, der Virgel) sieh Schneider (1999: 90); zur Littera elevata mit ihren verlängerten Oberschäften ebd. S. 153. Lunulae; Schneider, a.a. O, S. 90.

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textexterne Initiatoren, Terminatoren und vor allem textintern-inhaltliche Kriterien die von den optischen Gliederungssignalen angezeigte Stückelung bestätigen: 1. [3r 5–18] Das *‚Lob des Aderlasses‘146 in leicht kürzender deutscher Übersetzung 2. [3v 1–20] ‚Pseudorogerische Phlebotomie‘,147 die auch unter dem Namen des +Archimatthäus148 läuft, in Auszügen bzw. in Bearbeitungen: [3v 1–3] Czarnecki Z. 1f.; Erchenbrecher (S. 18, Z. 20f). [3v 3–5] Zusatz des deutschen Bearbeiters, der die Lasszeiten-Regulative des pseudorogerischen Textes aufhebt. Vgl. KLW 43v, II, 95, Z. 15–23 (‚Julianusregel‘), sowie 40r, II, 89, Z 4–7 = Parent, 51v, 123, Z. 1–2; KLW 37r, II, 83, Z. 29f. = Parent, 17v, S. 115, Z. 12 [3v 6] = Czarnecki (Z. 104); Erchenbrecher (S. 23, Z. 3f.); S, 186, Z. 8 [3v 7] = Czarnecki, Z. 106f.; Erchenbrecher, S. 23, Z. 6f.; = S, 169, Z 18f.149 [3v 7f.] = S, 169, Z. 19 [3v 8f.] = S, 169, Z. 19f. [3v 9f.] = KLW 37r, II, 83, Z. 27–29 = Parent, 17v , S. 115, Z. 10–12 (Lebensalter-Regel, vgl. Teil-Text 12); sieh auch S, 169, Z. 20; Czarnecki, Z. 75–77; Erchenbrecher, 21, Z. 25 bis S. 22, Z. 5. [3v 10–15] = S, 169, Z. 20–22, 186, Z. 9–11 [3v16–20] = KLW 19r, II, 107, Z. 10–12. 3. [3v 20–26] ‚Nüchternheitsregel‘ 4. [4r 1–4] ‚Fünferregel‘ für das Benutzen von Laß*-Lunaren; vgl. KLW 43v, II, 96, Z. 18–24; S, 168, Z. 16, Habernickel, 50, 28v, Z. 35–42 (lateinisch und deutsch) 5. [4r 5–9] Referenzwerbung mit Avicenna150 (hier in der Funktion eines textinternen Initiators, der die Teiltexte 6 bis 12 als Lehrbrief ausweist und durch Verweis auf die Diätetik und die Lassstellen inhaltlich ankündigt)

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Laus phlebotomiae. Hrsg. von Czarnecki (1919: 9–15), zitiert nach der Zeilenzählung. Hrsg. von Erchenbrecher (1919: 18–25), zitiert nach Seite und Zeile. Ähnlich Schloss Křivoklat/Pürglitz, Hs. I b 25, Bl. 109ra, Z. 1–13, vgl. ebenda Bl. 145v (mittelbairisch, 15. Jh.). Sieh zum entsprechenden Werbe-Verfahren Holste (1976: 15).

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6. [4r 10–13] Die ‚Vier Lässe in dem Jahre‘ = KLW 42r, II, 93, Z. 22–26 (–28); Parent (1988), 130, § 6.5.1.11 7. [4r 14–4v 6] Der *‚Vierundzwanzig-Paragraphen-Text‘ (die Schlesische Version des ursprünglich ‚zusammenhängenden, etwas ausführlichen Laßstellentextes‘) 8. [6v 7–12] Der *‚Pestlaßmännlein‘-Text 9. [6v 13–15] Aderlass-Nahrungsmittelverbot151 10. [6v 16–5r 3] Allgemeine Aderlass-Diätetik in Anlehnung an das ‚Aderlaßgedicht‘ des Johannes von Aquila, V. 333f., 450–480 u. ö. 11. [7r 3f.] Alant-Exzerpt (mit Bezug auf die Pesthauch-Warnung von 6v 16)152 151

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Vgl. Pseudo-Roger, Czarnecki (1919: 12): Caseum et lac non comedant, olera (oleum Erchenbrecher [1919: 24]) fugiant, ex quibus phlegma in stomacho colligitur et vomitum facit et cerebrum occupat; M, 47v, II, S. 83, Z. 8–10: Man sol sich dann ‹nach dem aderlassen› huetten wor groben vnd gereuchtem fleisch Chraut vnd milch vnd kazz [lies kâs] vnd pirn. Wann die sachen grobs plůtt Vnd machen den magen sleymig vnd betruben das hirn. Das +Alant-Exzerpt könnte aus dem °+*‚Circa instans‘ stammen (+Rufinus, Bl. 49vb, Thorndike/Benjamin (1945: 118); Wölfel (1939: 48), wo ein weiniger Absud, das vinum decoctionis radicis vel pulveris radicis, gegen schmerzhafte Affektionen der Atemorgane verordnet wird: Contra dolorem spiritualium ex frigida causa. Diese Diagnose greift katarrhalische Erscheinungen ebenso ein wie – von Auswurf begleitete – chronisch-obstruktive Erkrankungen und subsumiert auch solche Symptomatiken wie die von Bronchiektasien, Lungenemphysem und ähnlichem. + Rufinus (49vb, S. 117, Z. 5 v. u.) spricht von tussientes; +Konstantin von Afrika beschreibt die Wirkung des in medio tertii gradus heißen Korbblütlers als: Pectus et pulmonem de grossis et uiscosis humoribus purgat, so dass deren diuturnae tusses et anhelitus geheilt würden (50ra, S. 118, Z. 29f.; Liber graduum, III, 7, Basel (1536: 376 [zit.]). +Odo von Meung beschreibt das Krankheitsbild als orthopnoia und verordnet gegen den Husten das Einnehmen von Alant(wurzel)pulver mit Honig (Macer, V. 1499f.); die Heilige +*Hildegard schließlich bringt das ganze auf den Punkt und sagt vom alant…win: do von trincke…, das vetribt das böse von der lungen (Fehringer 1994: 106f.). Und dieses böse, krankheitsverursachende Agens wird im ‚Circa instans‘ kausal ausgewiesen und einmal von seiner (humoralpathologischen) Kälte – ex frigida causa –, zum andern aber auch von klimatischen Voraussetzungen her – vel ‹ex› ventositate – erklärt, wobei die ventositas hier nicht physiologisch, sondern witterungsmäßig als windiges Wetter gedeutet werden sollte (Georges 1879: II, Sp. 3060f.: ventosus, voller Wind, windig), so wie es der Catarrhus-Text des Anonymus Luneburgensis tut, der den aer pluviosus, ventosus et turbulentus eigens als Krankheitsursache nennt. Krause (1997: 26f.): Regenluft, Wind- und Wirbelluft, S. 22: jahreszeitliche thermische Divergenz). Als feucht, kalt und windgetragen galt auch der in sui substantia corruptus...aer, der als böse Luft bzw. Pesthauch den Schwarzen Tod von 1348/53 verursachte und zahlreiche weitere Pestepidemien auslöste, wenn in den Folgejahren die böse Luft in den sublunaren Bereich erneut eindrang und vom winde verweht wurde (Keil 1986/89: 116). Eine derartige vom Wind getragene materia venenosa musste zerstört werden, noch ehe sie in den Leib eindringen konnte, und nichts schien besser dafür geeignet als die Alantwurzel, die nicht nur bei windigen Witterungsunbillen half, sondern neben der ventositas laut Konstantin von Afrika auch Gift zerstörte und Schlangenbisse heilte: morsus reptilium curat. Wer also die Warnung von 4v 16

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12. [7r 5–12] (Referenz zur Lebensalter-Regel von 3v 9f.): Lassregel für die Vier Lebensalter in Bezug auf die Tagzeiten153 und die vier Mondphasen; vgl. M II: 79f., 46r 12–33; Buerschaper (1919: 8, Z. 22–34 und 10, Z. 21–31). Zwölf Teiltexte auf acht Seiten zu je 25 Zeilen154 macht 200 Zeilen: Von den 200 Zeilen des Lassbüchleins entfallen 117 (= 58,5vH) auf die 30 Lassstellen des ‚Vierundzwanzig-Paragraphen-Textes‘155; mit den 3 Lassstellen des unmittelbar folgenden ‚Pestlaßmännleins‘156 kommen noch einmal 6 Zeilen (= 3vH) hinzu, so dass der zentrale Lassstellenblock mit seinen 33 Paragraphen 61,5 % des Gesamttextes beansprucht, was die dominierende Stellung der Lasstafel-Thematik sinnfällig unterstreicht. Für die restlichen zehn Teiltexte bleiben 77 Zeilen oder 38,5 % des Gesamtumfangs, was für den einzelnen Teiltext 3,85vH bzw. durchschnittlich etwas mehr als siebeneinhalb Zeilen ausmacht. Die Stellung der den zentralen Kern ummantelnden Teiltexte ist entsprechend schwach, was für den Einzeltext genauso gilt wie für das ganze Ensemble. Zwölf Teiltexte auf acht Seiten zu je 25 Zeilen –: Das füllt zwei Doppelblätter im Quart-Format und vermittelt eine Vorstellung, wie das ‚Schlesische Aderlassbüchlein‘ als selbständige Bindeeinheit ausgesehen haben könnte. Vorstellbar wäre ein Heft im Quart-Format, bestehend aus drei ineinander liegenden Doppelblättern, von denen die beiden inneren aus Papier auf ihrem acht Seiten den Text geboten hätten, während das äußere Doppelblatt als Kopert die Aufgabe eines versteifenden Schutzumschlags wahrgenommen hätte und darüber hinaus mit seiner nach vorn übergreifenden Klappe das Heft hätte verschließen können. Beim kleineren Oktav-, Duodez- oder Sedez-Format standen entsprechend mehr Blätter und Seiten (16, 24, 32) zur Verfügung, und – als Vademecum angelegt – ließ sich solch ein kleineres, dickeres Aderlassbüchlein leichter als Hüllen-, Beutel- oder Faltbuch157 vom oderlosser158 mitführen.

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nicht befolgen und das trube wetter nicht flyen konnte, der tat gut daran, in der nit claren, bosen luft Alant yn dem munde ‹czu› tragin. Die Berechnung der für Aderlass geeigneten Tageszeiten gestaltete sich ausgesprochen komplex; vgl. als Beispiel die Olmützer Fassung der ‚Oberschlesischen Rogerglossen‘, die über eine umfangreiche astromedizinische Textschleppe verfügt; alle ihre zehn Teiltexte zeigen Phlebotomie-Bezug, der beim Festlegen (un)günstiger Tageszeiten mit konkurrierenden Systemen interferierte und entsprechend verwickelt erscheint; vgl. Vaňková (2004: 75–77) und sieh auch Keil (2005/07: 139f)., ferner zum ‚Rogerglossen‘-Textkern Keil/Gross (2005/07: 169). Bei den Lebensaltern begnügte sich die Venaesectio in der Regel mit drei Altersstufen: kind (vnter zehen jaren), man, alter man. 1r ist wegen intertextuellen Freiraums (interlinearen Durchschusses) mit nur 17 Zeilen beschrieben; bei den übrigen 8 Seiten, bei denen der verfügbare Schriftspiegel voll ausgenutzt wurde (bei 5r hälftig von jüngerer Hand), ergibt sich die Verteilung 4 × 25, 3 × 26, 1 × 23 = 201: 8 = 25,025. 4r 14–4v 6 = Teiltext 7. 6v 7–12 = Teiltext 8. Von den als selbständige Bindeeinheit überlieferten Aderlassbüchlein ist das *‚Genter Aderlaßbüchlein‘ als Kopert, das ‚Oxforder Faltheft‘ als Faltbüchlein erhalten; vgl. zur entsprechenden Bindetechnik Schneider (1999: 174). 3v 3, 3v 6, 3v 7: odir lossin, oderlosser.

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9. Sammelhandschrift und funktionale Textallianz Odirlossin, oderlosser: Das ‚Schlesische Aderlassbüchlein‘ ist nicht als selbständige Bindeeinheit überliefert, sondern wurde in eine medizinische Sammelhandschrift übernommen, die im Wechsel von Händen und Sprachen sich als Mischhandschrift159 ausweist. Hier, bei dieser fünften und letzten Stufe der Textentwicklung ist spätestens (wahrscheinlich aber schon früher) die Lassfigur verlorengegangen, während der Text (von einer etwaigen Verwerfung abgesehen) keinen weiteren Eingriffen ausgesetzt war und lediglich abgeschrieben wurde. Dass dieser Vorgang des Kopiertwerdens indessen gleichfalls zu Textveränderungen führte, liegt hinsichtlich des medizinischen Kenntnisstands von Lohnschreibern auf der Hand, die vielfach bei anspruchsvollen Inhalten heilkundlicher Fachprosa überfordert waren und oft schon an so schlichten Textsorten wie Rezepten160 und +Konsilien scheiterten. Einem medizinischen Laien oder heilkundlichen Tiro ist denn auch das ‚Schlesische Aderlassbüchlein‘ in die Hände gefallen, wobei dessen Ahnungslosigkeit so weit ging, dass er sich nicht einmal in der Bezeichnung der drei zentralen Lassvenen der Ellenbeuge auskannte und beim Benennen der cephalica den Raum für houbet-âder161 aussparen musste. Inwieweit er die übrigen Spuren von Zerschreibung und Zersetzung selber zu verantworten hat oder ob er sie schon in seiner Vorlage vorfand, sei dahingestellt. Dass er durch das engeringeht/engerenscht bei der Akne vulgaris überfordert war, wird man ihm nicht zum Vorwurf machen; dass er aber in den Ohrenwinkeln statt an den Augenwinkeln die Ader zu schlagen empfiehlt, und dass er dann auch noch diese seine Ohrenwinkel bei der Nase suchen lässt162 (obwohl ihn der unmittelbar vorausgehende Paragraph163 eines besseren belehrte), macht deutlich, dass unser Kopist eben nur ein Schreiber – und zwar ein Lohnschreiber – war, dem es weniger auf den Inhalt als auf das Schriftbild164 ankam und der den Aussagen des Aderlasstextes nicht nur mit beeindruckender Unkenntnis, sondern auch mit einem gerüttelt Maß an Gleichgültigkeit gegenüberstand. Ergebnis solcher Nonchalance war, dass es ihn nicht störte, wenn neben dem Gaumen (5r 9) statt 159 160 161 162 163 164

Vgl. zur Sache Keil (1997: 105f.): Typ 5. Sieh zur Sache Keil (1991) und Keil/Wolf (2011: 200–222 und 247) und vgl. auch Keil/Halbleib (2008/09: 333–350). Bergmann (1972: 91 und 97): hopt ader = zephalica, Vena cephalica (Armvene); Bauer (1978: 141 und 65): Nv mercket oeck: wat die sekerste ader is, dat [=datet] die hoeft ader ist. 5v 7, § 14: Dy odirn yn dem winckeln der orn bey der nassen. 5v 4–5, § 13: Czwe odirn yn dem [!] winckel‹n› der awgen bey der naßen. Ein Beispiel bietet bereits die Blattseite 3r (unten), die statt der zu erwartenden 25 nur 17 Zeilen bietet: Der Schreiber hat das untere Drittel der Seite freigelassen, weil er mit dem Terminator Amen etcetera zeilengleich und auf gleicher Höhe abschließt wie der vorausgehende Pesttraktat mit dessen Terminator Explicit tractatus de pestilencia breuis. Es sieht so aus, als hätten die deutschen Schreib- bzw. Schulmeister mehr Wert auf Vermittlung der Schreibtechniken gelegt als auf die Vorlagentreue beim Kopieren von Texten (Freyer 1998: 226).

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beidseits am Gaumen gelassen werden sollte; wenn die Vena-cephalica-Lassstelle von der Ellenbeuge in den oberen Bereich des Halses (6v 15) verlegt wurde; wenn der Wegfall von vndir (6v 5) die Gesichtsdermatosen auf die Bindehaut des Auges übertrug oder wenn das Weglassen von gebresten (6v 25–26) die Nieren an Krätze (dem rauden)165 erkranken ließ. Das Auslassen von nicht (7r 2) hat das Verbot, am Tage zu schlafen, in dessen Gegenteil verkehrt. Das Verlesen von gelsucht (5r 14) zu geswulst ersetzte den Ikterus durch eine Schwellung, die den ganzen Leib erfasste, und bei obisse166 reichte das Austauschen zweier Buchstaben, um aus dem Generalverbot für apfelartige Obstsorten die Empfehlung zu machen, gelegentlich einmal auf das Abendessen zu verzichten.167 Nein, auf die Frage nach den Textallianzen gibt der Lohnschreiber der schlesischen Mischhandschrift keine Antwort. Um zu erfahren, weswegen das ‚Aderlassbüchlein‘ in die Sammelhandschrift übernommen wurde, und um zu erkennen, welche Aufgabe dem Lassbüchlein in seiner neuen Umgebung zugedacht war, ist es hilfsreicher, die anrainenden Texte zu befragen und die Mitüberlieferung in die Problemstellung mit einzubeziehen. Und die gibt aus dem Nahbereich gleich eine überzeugende Auskunft: In der Mischhandschrift ist dem Lassbüchlein vorgeschaltet ein Tractatus de pestilencia breuis, den der Lohnschreiber in fehlerreicher168 Unbekümmertheit abgeschrieben hat und der durch das Verordnen dreier allmorgendlich einzunehmender Wacholderbeeren169 die Nähe des *‚Kranewittbeertraktats‘170 zu erkennen gibt:171 wahrscheinlich wurde er in Deutschland (vielleicht in Schlesien) verfasst.172 Was die Therapie anbelangt, so verordnet er den derivativen Aderlass ipselateral am Arm, um das (vom Pesthauch) infizierte Blut (vom Herzen abzuziehen bzw.) auszuleiten173, und für die Prophylaxe empfiehlt er den Alant, dessen Rhizom konfiziert und oral appliziert werden 165

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raude, Reude/Räude, Krätze, Skabies: so bezeichnet wegen des Juckreizes bzw. des Kratzens bis aufs Blut: Mildenberger (1997: 1592–1594): und als er sich jücket, so plůtet er [nämlich der riudege mensche]“, nach *Ortolf, ‚Arzneibuch‘, Kap. 136. Entspricht dem mittelhochdeutschen Plural obeze; elliu obeze wären dann sämtliche Apfelarten und damit vergleichbare Baumfrüchte: 6v 20: alle obinde aus alle obisse. Niht sol man alle abende ëzzen. Die Wiedergabe des Alant-Paragraphen mag als Beispiel für den Fehlerreichtum genügen – andere Paragraphen sind gelegentlich noch ärger verballhornt: [3v 4–9]: Jtem commedatur enula cum mella* confecta sic quod enula scindatur in parua frustra et ponatur ad fauum mellis Postquam fuerit** in bibita melli sint per septimanam vel per tres*** dies tunc comedatur frustrum vnum de mane et conseruet a putrefaccione sicut**** que iam prenarrata sunt. – *cum mella] lies campanula (und vgl. unten Anm. 236) –**fuerit] lies frustra – ***tres] 3 Hs., aus 9 – ****sicut] lies secundum. Jtem omni mane ieiuno stomacho summantur tria grana Jŭniperi..., (3v 9f). Es handelt sich um eine Version vom *‚Lob des Aderlasses‘. Mit der entsprechenden Verordnung setzt der *‚Kranewittbeertrakt‘ ein: Grana Juniperi septem vel nouem commesta ‹demane› jejuno stomacho, Keil/Reinecke (1973: 369); vgl. Kurschat-Fellinger (1983: 36). Darauf deuten auch deutschsprachige Termini (sadinborem +Sadebaum); sanguinem ante vel oua (3v 15 und 16) sowie die Verordnung von Bier: decoquatur… in bono vino vel cereuisia (3v 12f.) (3v 14f.): in brachio eiusdem lateris ‹vena› incidatur pro exstraccione sangwinis infecti.

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soll. Darüber hinaus hält der Traktat noch einen Blut- bzw. Eierkuchen174 bereit, der oral als Purgativum, lokal als Reperkussivum175 angewandt werden konnte, gegen den der Traktat-Verfasser aber nur begrenztes Vertrauen hegte, weswegen er den Heilerfolg vom Mitwirken göttlicher Gnade abhängig machte: Item recipe sammam176 uel sadinborem177 sinciber album lauribacca sanguinem ante uel oua equali pondere in simul calescit in patella uel olla et ad nucis auellane quantitatem commede et partem super apostema 178 callide pone et adiutorio dei curaberis…

adiutorio dei curaberis: Dass für den Zusammensteller der Sammelhandschrift es zweckmäßig erscheinen musste, das therapeutische Aufgebot des „Tractatus brevis“ angesichts der unsicheren Wirkung gängiger Pest-Mittel zu ergänzen und in Richtung der angedeuteten Möglichkeiten zu erweitern, liegt auf der Hand, wie es auch ohne weiteres nachvollziehbar ist, dass dem Zusammensteller für eine derartige Ergänzung das ‚Aderlassbüchlein‘ in besonderem Maße geeignet schien: Das schlesische Lassbüchlein empfiehlt sich selber als Pestschrift, indem es ausdrücklich auf die Bubonen – die druosen179 verweist; es bietet den auf Bubonen spezialisierten ‚Pestlaßmännlein‘-Text und schickt den loimologisch einschlägigen Pestlassstellen dann noch die Phlebotomie des ‚24-Paragraphen-Textes‘ voraus, so dass zusätzlich zum therapeutischen auch der präventive Blutentzug möglich wird und der Leser – vom „Tractatus-brevis“-Verfasser nur pauschal auf die extractio sanguinis […] in brachio eiusdem lateris hingewiesen – nun genauere Auskunft erhält, wo und unter welchen Voraussetzungen der Aderlass durchzuführen ist. Hinzu kommen gesundheitsregulative Vorschläge, wy der mensch leben sal (4r 7f.), die sich nicht nur bei den Nahrungsmitteln180 immer wieder mit den Ge- und 174 175 176 177

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3v 15–19. Zu den pharmakodynamischen Sekundärqualitäten wundärztlicher Arzneimittel sieh Röhl/Keil (1976: 1385) sammam] Hs., lies scammoniam, Purgierwindensaft; Mildenberger (1997: 1684–1686). sadinborem] Hs., lies sadinbovm, +Säbenbaum, Sadebaum, Stinkwacholder; Mildenberger, a. a. O., 1758f.: sevenboum, samboum; Marzell, II, Sp. 1094ff.: samboum mitteldeutsch seit dem 15. Jh.: sadim baum u. ö.; Jungandreas (1937:218): Dativ sadenbome, frühes 15. Jh., als Nominativ zu erschließen ist sadenboym mit y als Dehnungszeichen. apostema bezeichnet seit dem Spätmittelalter auch Bubone(n); vgl. Vaňková/Keil (2010) mit Bezug auf Guys de Chauliac ‚Chirurgia magna‘, (1585: II, Kap. 5, 103–107) und sieh auch Werthmann-Haas (1983: 30). 6v 7, 6v 11 – druos bzw. druose ist seit dem 14. Jh. die deutsche Bezeichnung für Bubone; vgl. Franke (1977: 167) § 1 des ‚Pest-Briefs an die Frau von Plauen‘ (vor 1366); die älteren deutschen Pestschriften (ab 1349) verwenden teilweise noch abweichende Bezeichnungen wie suht, blaeje, blâtere, biule, butze/bootse (Franke, 1977: 155f.); Gräter (1974: 65, 69, 83ff., 127, 130, 133f., 125). Ausgeprägte Inzidenz ergibt sich beim Verbot aller obisse (6v 19f.), das bereits im *‚Pariser Pestgutachten‘ von 1348 angelegt ist (Les fruis sont de tous a eschiuer, vgl. Sies (1977: 41) und das in § 4 des *‚Sinns der höchsten Meister von Paris‘ wiederkehrt, hier teilweise in ganz ähnlichem Wortlaut (allerley fruchte von obiste, vgl. Gräter (1974: 103). Im Pariser Pestgutachten begegnet

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Verboten der Pestregimina181 decken. Und am auffälligsten ist der Alant-Paragraph, mit dem das ‚Aderlassbüchlein‘ sich ostentativ unter die Pestschriften einreiht: Inula campan[ul]a182 galt grenzübergreifend als eines der wirksamsten Präservative gegen den Schwarzen Tod.183 All das mag den Zusammensteller der Sammelhandschrift veranlasst haben, das ‚Aderlassbüchlein‘ in sein Kompendium aufzunehmen und eine funktionelle Textallianz zwischen dem tractatus de pestilentia brevis und dem ‚Lassbüchlein‘ herzustellen. Er rückt die beiden Texte jedoch nicht unmittelbar nebeneinander, sondern hat an der Kompositionsfuge zwischen Pesttraktat und Lassschrift eine zweigliedrige Rezeptstaffel eingeschoben, die er mit der Überschrift „Ein ausgezeichnetes Mittel für die Brust“ versieht und deren beide Zubereitungen er jeweils als Brechmittel ausweist: [1r] Pro pectore remedium optimum uel ad faciendum vomitum Recipe aquam callidam / sale mixtam et cum oleo lini et bibe Vel sal Recipe in quantitate mella= ne184 et circumvolue in panniculo et combure illud et fac ut scis…

Was zunächst überraschen mag, ist die Indikation: Die üblicherweise auf Verdauung und Verdauungsorgane zielenden Brechmittel sind hier nicht als Emetika zur Entlastung des Magens185 oder als Laxativa zur Förderung des Stuhlgangs eingesetzt, sondern

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auch der Ratschlag (6v 20), keine Fische zu essen (Bon seroit aussi deschiuer tous poissons, vgl. Sies 1977: 40), wie auch verordnet wird, allenfalls saure Milch (6v 20) zu trinken (Lait acceteus est profitable, Sies, 41ff., Z. 646, 862, 928, 935). Und hier wird wie in unserem Text (6v 27) ausdrücklich davor gewarnt, am Tage zu schlafen (Le dormir de iour nest pas bon, Sies 1977: 43). Der psychohygienische Ratschlag, Traurigkeit zu meiden (6v 27f.), kehrt mit expressiver Dringlichkeit – verteilt auf zwei Paragraphen – im ‚Prager Sendbrief‘ wieder (Missum imperatori, §§ 11–12: ist dir swer, so soltu frolich seyn vnde solt keyn swer gedanken haben, WerthmannHaas 1983: 31, 269). Erwartungsgemäß häufig sind die Übereinstimmungen mit dem verbreiteten ‚Pestgedicht‘ des Hans *Andree, wo sich beispielsweise die Warnung vor zu langem Nüchtern-Bleiben findet (Du solt hunger und durst nit lyden, V. A 25 = B 23; Haage (1977: 70, 73, 76), entsprechend unserem Text 6v 19. campanula (cum mella) ist anscheinend kontaminiert aus campana und humula/ hinnula/ cunnela/ cumnele; vgl. Daems (1993) mit Hinweis auf Einkreuzung von (h)enula und cuminum / kümmel(e) (ostmitteldeutsch). radix enulae campanae ist Ingrediens von Guys lebensrettender Pestlatwerge electuarium theriacale, das auf die Erfahrungen der Kollegen von Montpellier und Paris (insbesondere Arnalds von Villanova (und Mondinos/Raimunds de Liucci von Bologna) zurückgreift: Accipiebam … et fui seruatus iussu Dei (Chirurgia magna, II, II, 5, 1585: 106). melane] schlesisch für melone Apfelpfebe, ‘Cucumis melo’ L. ssp. agrestis [Naud.] Greb., ssp. melo, ssp. dudaim [L.] Greb. oder ssp. conomon [Thunb.] Greb., apfelförmige Zuckermelone, bekanntes Brech- und Abführmittel, Mildenberger (1997: III, 1197f). Apfelpfebe: Rufinus, Bl. 46vb f., 1945: 107; Salz: Bl. 97vba, 1945: 280f.

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zum mundificare superfluitatem putridorum humorum verordnet,186 und das in Bezug auf die mit Krankheitsmaterie angeschoppte Lunge. Das Konzept entspricht einem pathogenetischen Deutungsmodell, wie es nachdrücklich °+*Guy de Chauliac vertrat und 1363 über seine wirkungsmächtige ‚Große Chirurgie‘187 verbreitete. Unter dem Eindruck der Lungenpest und angesichts der Atemnot, des Blau-Anlaufens, der Hustenanfälle188 und des blutigen Auswurfs189 seiner todgeweihten Patienten ging der päpstliche Leibarzt von einem pathogenetischen Modell aus, das über den astral erzeugten Pesthauch190 primär die Lunge tangiert, dort dann die humores crassi, adusti & venenosi zusammenzwingt und aus ihnen die gefürchteten apostemata interiora hervorgehen lässt, die – in den membra spiritualia lokalisiert – sich in bedrohlicher Nähe zu den Hauptorganen des Leibes befinden und dadurch ihre deletäre Gefährlichkeit erhalten: Apostemata autem interna [scilicet interiorum], maximè quae sunt prope membra principalia, sunt periculosa […] omnes enim qui aegrotabant, moriebantur: exceptis paucis …191 Aus diesem pathogenetischen Modell heraus ergab sich für Guy de Chauliac die nosologische Zuordnung: Trotz der stets bei dem Krankheitsverläufen auftretenden febris continua192 hat der päpstliche Leibarzt die ingens […] mortalitas siue pestis nicht bei den pestilenzischen Fiebern eingeordnet, sondern als Chirurg lieber den Abszessen zugewiesen und hier folgerichtig unter den apostemata pectoris subsumiert, denen er dann mit Blick auf Prädilektion und Primärkomplex193 auch noch die bubones sub axillis, […] auribus ‹&› in inguibus zuschlägt. Sein daraus abgeleitetes therapeutisches Konzept ist zwangsläufig brustzentriert und versucht im Vorfeld der Erkrankung, die pestverursachenden humores crassi, adusti & venenosi, die sich circa regionem pectoris angeschoppt194 haben, zu purgare, wobei er in Bezug auf die Verfahren der Purgaz phlebotomiae & euacuationes empfiehlt. Und mit den phlebotomiae konnte das ‚Schlesische Aderlassbüchlein‘ aufwarten; für die euacuatio musste der Zusammensteller der Sammelhandschrift indessen noch Sorge tragen, und er tat dies, indem er zwischen Pesttraktat und Lassbüchlein die Rezeptstaffel für eine evacuatio pectoris einschob. Dabei wählte er zwei medicinae vomitoriae, die zu den superiores purgationes gehörten und eine purgatio per os195 bzw. eine evacuatio ad superiora bewirken sollten. Die 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195

Rufinus, Bl. 97vb, Thorndike/Benjamin (1945: 281). Guy de Chauliac ‚Chirurgia magna‘ (1363), II, II, 5, 1585: 103, 107(–109). Pschyrembel (2007: 1477a). cum febre continua & sputo sanguinis, sputum sanguinis in principio, dum forma [kosmische Prägekraft] fuit valida –: es handelt sich um Hämoptoe (oder zumindest Hamoptyse). den aër, dem die causa vniversalis als vniversalis agens die verheerende Prägung eingepresst hat: Impressit verò talem formam aëri. Die Lungenpest hat bis heute eine extrem hohe Letalität. Vgl. zur mittelalterlichen Fieber-Systematik Goehl (1984, I: 112–114, 176–178; II: 658–661. Pschyrembel (2007: 1546b und 1552a). a. a. O., S. 95a, hier bezogen auf das Primärstadium einer Lobärpneumonie. – Guy spricht von moueri und coagi/cogi. Vgl. zur Sache Guy de Chauliac, ‚Chirurgia magna‘ (VII, I, 2, 1585: 369–378).

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Überschrift Remedium optimum pro pectore besagt, dass man in die beiden Vomitiva – hinsichtlich Purgierens der Brust – große Hoffnungen setzte und die Erwartung mit ihnen verband, dass sie durch Erbrechen die humores venenosi ausleiten und die Entstehung von Pest-Apostemen in der Brust verhindern könnten. Die Vorlagen für die Rezepturen lieferte das pharmakognostische Fachschrifttum.196 Das ‚Schlesische Aderlassbüchlein‘ bot keine expektorierenden Emetika und hielt keine Vomitiva197 zum Ausleiten der pulmonal angeschoppten Krankheitsmaterie bereit; es schien in den Augen des spätmittelalterlichen Lesers gleichwohl aber auf die Gefahren des Pesthauchs einzugehen, wenn auch nicht in therapeutischer, so doch in präventiv-prophylaktischer Hinsicht. Der Alant-Paragraph198 mit seiner Maßgabe, wie man sich außer Haus bei krankmachenden winden wider dy bose luft schützen solle, setzte auf eine Abwehr schon in den oberen Atemwegen und konnte nach dem Schwarzen Tod von 1348 nur dahingehend verstanden werden, dass die Maßnahme nach dem Riechapfel-Prinzip199 den in die membra spiritualia eindringenden Pesthauch schon 196

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Zum Salz-Wasser-Öl-Emulgat sieh Rufinus, Bl. 97va Thorndike/Benjamin (1945: 280) = Wölfel (1939: 11) (‚Circa instans‘): Brechmittel aus Salz, Baumöl und Essig; vgl. auch ebd. Bl. 97vb, S. 281, Z. 11ff. (*Isaak Judäus, ‚De diaetis particularibus‘): utrumque enim sal [scilicet metallinum et marinum] dissobvunt et mundifficant superfluitatem putridorum humorum; deinde quod ex eis remanet deciccant et dissobvunt; Voraussetzung freilich ist, dass das Stein- oder Meersalz zu Beginn (in initio) des Krankheitsprozesses eingesetzt wird. – Was die Apfelpfebe (melone) betrifft, so sind die feucht-kalten cucurbite entsprechend eingeschätzt worden: in apostematibus pectorum valent […] in pasta cocte donec tote disolvantur in aqua;… fit syrupus optimus ad […] empycos [lies empyicos, Dfg. 201b, Pschyrembel 2007: 512b: Thoraxempyem]…, et potest dari a principio, Rufinus, Bl. 46vb, Thorndike/Benjamin (1945: 107), ähnlich Wölfel (1939: 41); vgl. ebd. 50va, S. 120: Dyadragantum valet ad omne vitium pectoris et pulmonis…, maxime ptisicis, empicis, pleureticis, et ad omnem tussim – das pharmazeutische Fachschrifttum schreibt maxime ptisicis ethicis, pleureticis, peripleumonicis (‚Antidotarium Nicolai‘, Berg [1917: 48f.]), übersetzt auf Deutsch (brabantisch): …ende iegen apostemen in die longene, und bewegt sich damit auf das Lungenpest-Konzept Guys de Chauliac zu; sieh auch das homologe: und die do geswer an der lungen hant bei Lebede (1939: 14) – Zur emetischen Wirkung der Melone: vomitum et abhominationem facit, Bl. 47va, S. 108, Z. 23 (*Isaak Judäus), sowie Aggregator, Kap. CCXXXIII Mel cucumer citrullus, Straberger (2009: 269): Melonen-Wurzel mit Honigmet (Hydromel) bewirkt Erbrechen, heilt Geschwüre (Grind); homolog Hans *Minner, ‚Kräuterbuch‘, Kap. CXXIV, § 39– 41: melon, cucumer, citrun vnd cucurbite… jn der appentegg bruch man si zum dya dragantum. Zu Begrifflichkeit und Terminologie sieh Pschyrembel (2007: 511b): Emetika, Vomitiva; 551b: Erbrechen, Emesis, Vomitus; 576a: Expektorantien, Expektoration; entsprechend Hunnius, S. 509a, 525a und 550b f.: Expektoranzien. Vgl. Teiltext 11, 7r 3f. *‚Pariser Pestgutachten‘, II, 2, Kap. 3, Z. 1131–1220, Sies (1977: 54–56), vgl. insbesondere das in Blattgold eingewickelte electuaire cordial qui preserue de lair venimeus, de fieure et dapostume qui vienent par pestilence, qui font mourir soudainement – hier mit deutlichem Bezug zur Lungenpest, deren Patienten laut Guy de Chauliac (1585: 104) moriebantur intra tres dies; sieh bei Guy auch die Riechapfel-Verordnung S. 105, Z. 28: confirmare cor[…]pomis, & rebus odoriferis, und vgl. auch den *‚Sinn der höchsten Meister von Paris‘, § 7, Gräter (1974: 19): doran rewch vnd halt is vor die nasze, wo du geest ader bist.

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(vor Mund und Nase bzw. hier) in der Mundhöhle neutralisierte. Eine konnotative Uminterpretation auf den Pesthauch und dessen tödliche Bedrohung musste in ähnlicher Weise der erste Paragraph des Johannes-von-Aquila-Exzerpts200 erfahren, dessen hexametrische Quelle201 gesagt hatte: Interdictus erit minuendis nubilus aer, Fulget eis celebris sola serena dies,

und dessen deutsche Version im Lassbüchlein lautet Dornoch das trube wetter vnd dy ‹nit clare› luft saltu flyen

Dass eine solche Formulierung im Spätmittelalter, das von immer neuen Wellen der Epidemie heimgesucht wurde, zwangsläufig an den lantsterbe, die Pest erinnern musste, lag auf der Hand, insbesondere da zahlreiche Pestschriften der Frühzeit vergleichbare Vorschriften machten, am augenfälligsten vielleicht das Pestgedicht des Hans *Andree, dessen schwer greifbarer Verfasser gleich zu Beginn seines vielgelesenen Pestregimens202 gefordert hatte: Darnoch hab och dinß selbes acht Es sy fru, spăt oder zů nacht Myd den luft vom mittag und occident203 Empfach in von mitternacht und orient. Mit wecholder, wyroch spreng din glůt, Vor bosem, nebligem luft dich och hut.

Die Koinzidenz war unübersehbar: Wenn das ‚Schlesische Aderlassbüchlein‘ vor boser luft, vor winden, vor trubem wetter warnte und Schutzmaßnahmen dagegen empfahl, dann war für einen Leser nach 1348 unter solcher nit-clarer luft kaum etwas anderes zu verstehen als der Pesthauch und dessen bedrohliche Einwirkung auf die membra spiritualia. Und entsprechend solcher Konnotation scheint ein Benutzer der Handschrift das Anliegen des kurzen Pesttraktats und des ‚Aderlassbüchleins‘ gedeutet zu haben, was ihn bewog, seinerseits etwas pro pectore zu tun und einige remedia optima zu Schutz und Behandlung der Atemorgane bereitzustellen, wobei ihm klar war, dass die membra spiritualia außer der Lunge in der Brust auch das Herz einbegriffen und eventuell noch die Leber einbezogen, was dazu geführt hat, dass unter seinen Heilanzeigen nicht nur pectus und tussis, sondern auch cor und zusätzlich hepar begegnen.204 200 201 202 203 204

Vgl. Teiltext 10, 6v 16f. V. 333f., Morgenstern (1917: 28). Vgl. Haage (1977: 70 und 79); Haage (1982: 333). Hier weist Haage nach, dass das oberdeutsche Pestgedicht vor 1400 – auf jeden Fall vor 1424 – entstanden ist (S. 324, Anm. 3; 326). Vom Süden oder vom Westen kommen die heiß-feuchten bzw. kalt-feuchten +Winde. 7r 13–20 – Zu den membra spiritualia zählt Guy de Chauliac in der Anatomia pectoris et partium eius (‚Chirurgia magna‘, I, II, 5, [1585: 37]) das Herz, die Lunge mit der Luftröhre und den Bronchien (arteriae), die Speiseröhre, nicht aber die Leber, die er unter der Anatomia ventris [der partes nutritioni dicatae] führt (I, II, 6, [1585: 42f.]), wobei er freilich zum Ausdruck bringt, dass die

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Das ‚Schlesische Aderlassbüchlein‘ ist für die Pestbekämpfung also von zwei Seiten vereinnahmt worden, einmal vom Zusammensteller der Misch- und Sammelhandschrift, der das Lassbüchlein als Leitschnur für den präventiven und kurativen Blutentzug vorsah, und anderseits von jenem späteren Benutzer aus, der (wie der Zusammensteller auch) Ansätze zur Prophylaxe gegen Lungenpest im ‚Aderlassbüchlein‘ zu erkennen glaubte und (nicht anders als der Zusammensteller) es für sinnvoll erachtete, durch einige geeignete remedia den pesthauch-bedrohten Brustorganen zu Hilfe zu kommen.

Abkürzungsverzeichnis Dfg.: Diefenbach, Lorenz (1857): Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis, Frankfurt am Main., Neudrucke Darmstadt 1968 u. 1997. EnzMedGesch: Gerabek, Werner Erich / Haage, Bernhard Dietrich / Keil, Gundolf / Wegner, Wolfgang (Hrsg.) (2005): Enzyklopädie Medizingeschichte. 2. Aufl. I–III, Berlin / New York. LexMA: Lexikon des Mittelalters. I–X, München und Zürich (1977–)1980–1999 (VIII und IX [1997– 1998]: nur München; X: nur Lachen am Zürichsee), Neudruck verkürzt in 9 Bd.n Stuttgart und Weimar 1999. VL: Ruh, Kurt / Keil, Gundolf / Schröder, Werner / Wachinger, Burghart/ Wortsbrock, Franz Josef (Hrsg.) ([1977–]1978–2008): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. 14 Bde. Berlin / New York. Stammler, Wolfgang / Langosch, Karl (Hrsg., 1930–55): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, I–V, Berlin (bis Bd. II [1936] auch: Leipzig). I: Eis, Gerhard / Keil, Gundolf (1958–9): Nachträge zum Verfasserlexikon, Studia neophilologica 30, 232–250, u. 31, 219–242. II: Dies., Dass. (1961): (Paul und Braune’s) Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 83. Tübingen, 167–226. III: Eis, Gerhard (1965): Nachträge zum Verfasserlexikon. Mittellateinisches Jahrbuch 2, 205–214. IV: Arnold, Udo (1965): Beiträge zum Verfasserlexikon. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 88, 143–158. V: Keil, Gundolf / Schmitt, Wolfram (1967): Nachträge zum Verfasserlexikon. In: Studia neophilologica 39, 80–107. VI: Eis, Gerhard / Keil, Gundolf (1971): Nachträge zum Verfasserlexikon. In: Studia neophilologica 43, 377–426.

Leber mittels fortia ligamenta nicht nur ans Zwerchfell, sondern auch ans Herz angeheftet sei: habet colligationem cum[…]corde ‹et› partibus superioribus. Insofern führt er sie als instrumentum animae und gleich nach dem Herzen als zweitwichtigstes der vier membra principalia (I, I, 2. [1585]); als Sitz des spiritus naturalis hat er die Leber nicht eigens akzentuiert; vgl. EnzMedGesch (2005a: 917a.

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LENKA VODRÁŽKOVÁ

Zu zwei medizinischen Texten aus dem Familienarchiv des Adelsgeschlechtes Thun und Hohenstein

1. Einleitung Als Motto der in dem vorliegenden Beitrag präsentierten medizinischen Texte, die im Rahmen des Forschungsprojektes zu deutschen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen medizinischen Handschriften in den böhmischen Ländern1 in die Quellenbasis mit einbezogen und philologisch bearbeitet werden, kann das Zitat von Aules Persius Flaccus (34–62 n. Chr.) „Venienti occurite morbo“, also „Wehret den Anfängen der Krankheit“ (Saturae [Satiren] III, 64) angeführt werden. Die Entstehung der betreffenden Manuskripte, die die Zubereitung eines Wundgetränks und Vorschriften für die Prävention vor auftretenden Krankheiten zum Inhalt haben, fällt in die Zeit der allmählichen geistigen und gesellschaftlichen Veränderungen, die im Zusammenhang mit dem Bedarf nach einer breiteren Bildungsgrundlage einen Widerhall auch im Bereich der Medizin gefunden haben.

2. Zur Medizin im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit Innerhalb jeder historischen Epoche änderten sich die medizinische Praxis und Wissenschaft je nach den Veränderungen, die im wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Bereich innerhalb der jeweiligen Periode stattfanden. Im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, die mit dem Aufschwung der praktischen Medizin und mit dem Phänomen der praktischen medizinischen und pharmazeutischen Handbücher verbunden (vgl. Říhová 2005: 63 u. 71) sowie zunehmend von den Naturwissenschaften bestimmt sind, wurde das Wissen systematisiert und reifte schrittweise zur Wissenschaft. 1

Es handelt sich um das Forschungsprojekt GA AV ČR, Nr. IAA90186901 unter dem Namen Soupis a základní filologické vyhodnocení německých středověkých a raně novověkých medicínských rukopisů dochovaných v českých zemích [Verzeichnis und grundsätzliche philologische Auswertung der deutschen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften, die in den böhmischen Ländern aufbewahrt werden]. Dieser Beitrag entstand im Rahmen dieses Projeckts.

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Lenka Vodrážková

Die alltägliche medizinische Praxis, die die Kontinuität zwischen der Heilkunde des Mittelalters und der Medizin der Neuzeit anhand der überlieferten Texte belegt, stützte sich auf die langjährigen gesammelten Erfahrungen, die die Kenntnisse, die zur Wiederherstellung der Gesundheit nötig waren, vermittelten und u. a. in der Form der Rezepte gesammelt und weiter verbreitet wurden. Die Entstehung der Rezepte und ihrer Struktur deutet dann auf die Gewohnheiten in den einzelnen Sozialschichten, auf Unmittelbarkeit, Vertrautheit und Ritualisierung hin und geht gleichzeitig von den Bedürfnissen der Lebenspraxis und vom Interesse an praktischer Nutzung aus, die auf die Heilung oder auf die Vorbeugung von existierenden Krankheiten abgezielt wurde; damit hängt die Erkenntnis der Wirkung der Heilpflanzen, Heilmittelgrundstoffe und ihre Anwendung zusammen. Die Entwicklung der Naturwissenschaften ist schließlich dann in der Neuzeit mit einem wesentlichen Kennzeichen der sachbereichsbezogenen Texte – mit der Herausbildung der naturwissenschaftlichen Fachsprache mit ihrem Fachvokabular und -stil – eng verbunden.

3. Medizinische Texte als Forschungsquellen Die zwei vorliegenden medizinischen Texte beruhen als Proben der Heilkunde des 15. und 16. Jahrhunderts auf schlichter Empirie der Volksmedizin und befinden sich zurzeit in der Zweigstelle des Staatlichen Gebietsarchivs Litoměřice/Leitmeritz (Státní oblastní archiv Litoměřice) in Děčín/Tetschen. Sie gehören zum Familienarchiv der Tetschener, ursprünglich aus Südtirol stammenden Grafen von Thun-Hohenstein; an diese kaisertreue Adelsfamilie fiel im Jahr 1628 die nordböhmische Herrschaft der protestantischen Ritter von Bühnau,2 die nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 die böhmischen Länder verlassen mussten. Die vorliegenden Handschriften stellen einen Bestandteil des Tiroler Nachlasses dar,3 den der Tetschener Familienzweig Thuns in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zum großen Teil von den Tiroler Verwandten abkauften; ursprünglich wurde das schriftliche Familienerbe im Archiv des Adelsgeschlechtes Thun auf der Burg Castel Thun unweit von Trento/Trient in Südtirol aufbewahrt.

2 3

Zur Herrschaft der Grafen von Thun-Hohenstein in Böhmen vgl. Halada (1999: 80–81 und 579– 581) und Županič/Fiala/Stellner (2001: 258). Text 1: Státní oblastní archiv Litoměřice [Staatliches Gebietsarchiv Litoměřice; weiter SOA Litoměřice], pobočka Děčín [Zweigstelle Děčín], fond Rodinný archiv Thun-Hohensteinů Děčín [Fonds: Familienarchiv Thun-Hohenstein Děčín; weiter RA Thun-Hohenstein Děčín], Tyrolské oddělení [Tiroler Abteilung], ohne Sign., Karton 116. Text 2: SOA Litoměřice, Zweigstelle Děčín, Fonds: RA Thun-Hohenstein Děčín, Tiroler Abteilung, Sign. V/287, Karton 68.

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Zu zwei medizinischen Texten […] Text 1

Text 2

Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds

Vorschriften für vorkommende Krankheiten und Hinweise auf den Schutz vor ihnen

nicht datiert

nicht datiert

eine Papierlage

eine Papierlage; beidseitig beschrieben

schwarze Tinte

schwarze Tinte

ca. 21,6 × 20 cm

ca. 23,3 × 32,2 cm

Tab. 1: Beschreibung der Manuskripte

Die Schrift der Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds (Text 1) hat Züge der stabilisierten Kursive des Kanzleistils. Der Text der Vorschriften für vorkommende Krankheiten und Hinweise auf den Schutz vor ihnen (Text 2) ist ein Zeugnis für die Verwendung einer persönlichen und schnell geschriebenen Schriftart und weist Merkmale einer Kursivschrift des 15. und 16. Jahrhunderts auf.

3.1 Zur Datierung und Entstehungsgeschichte Die beiden präsentierten Handschriften sind nicht datiert. Da das Einzelrezept Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds ausdrücklich Herzog Sigmund nennt, handelt es sich – mit Berücksichtigung der zeitlichen und geographischen Umstände – um Siegmund von Tirol (den Münzreichen) (* 26. 10. 1427 Innsbruck – † 4. 3. 1496 5 Innsbruck)4 von der Leopoldinischen Linie der Habsburger . Er war der Sohn des Herzogs Friedrich IV. „mit der leeren Tasche“ (1382–1439) und dessen zweiter Ehefrau, der Prinzessin Anna von Braunschweig-Göttingen (1390–1432). Im Jahr 1446 nahm Siegmund seine Regentschaft über Tirol und Vorarlberg und 1463 (nach dem Tode Albrechts VI.) über Vorderösterreich6 auf; sein Regierungssitz wurde Innsbruck. Im Jahr 1477 wurde Siegmund vom Kaiser Friedrich III. (1440–1493) (gemeinsam mit ihm selbst und den anderen Habsburger Herzögen) offiziell zum Erzherzog (archidux) erhoben; als Erzherzog von Österreich und Regent von Tirol und Vorderösterreich regierte er bis zum Jahr 1490. Mit seinem Tode im Jahr 1496 erlosch die Tiroler Nebenlinie der Habsburgischen Leopoldiner.

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6

Zum weiteren weltlichen Fachschrifttum, das mit dem Herzog Siegmund von Tirol verbunden ist, siehe Eis (1962: 64). Die Habsbuger herrschten in Tirol seit 1363. Im Jahr 1406 bzw. 1411 kam es zur Trennung der Leopoldinischen Linie (ihr Begründer war Leopold II [1379–1386]) in eine in Steiermark und eine in Tirol. Nach der Abdikation des letzten Nachfolgers der Tirolischen Linie Siegmund von Tirol (1490) übernahm die hiesige Herrschaft Maximilian I., der Sohn des Kaisers Friedrich III. Vgl. dazu Hamann (1996: 15). Dieses Gebiet umfasste damals das Elsass, Schwaben, Württemberg und die Schweiz.

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Da die Verbindung Siegmunds mit dem Titel Herzog bis zum Jahre 1477 zurückreicht, ist das vorliegende Rezept gegen die Wunden zeitlich wohl zwischen 1446–1477 anzusetzen. In Bezug auf den Inhalt des Rezeptes erscheint sowohl in der Beschreibung des Manuskriptes als auch im Katalog der Tetschener Zweigstelle des Leitmeritzer Gebietsarchivs eine Information über eine Zubereitung des Herzog Sigmunds Wundtrankes, was von der Überschrift der angelegten Transliteration Zubereitung des Herzog Sigmunds Wunder Tranck gegen Wunden aus der Feder des Thunschen Archivars Dr. Rudolf Rich (1877–1957) ausgeht. Wenn man von der eigenen Überschrift des Rezeptes (Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds) und von dem Inhalt des Textes ausgeht, beschreibt das vorliegende Einzelrezept Mittel gegen Wunden, ohne das Heilmittel als „Wundertrank“ zu bezeichnen. Ungefähr ein halbes Jahrhundert später nach der Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds ist der andere medizinische Text unter der Bezeichnung Vorschriften für vorkommende Krankheiten und wie man sich davor schützen soll entstanden. Leider nennt auch diese Handschrift keine Namen des Urhebers und Empfängers, doch ist anhand der hinzugefügten Angaben zu vermuten, dass das Manuskript dem Tiroler Adelsgeschlecht Thun, dessen Wurzeln im italienischen Trentino bis ins 12. Jahrhundert zurückgehen, von Anfang an gehörte: Diesen Text schrieb – wie es im Katalog des Archivs steht – eine von Thun an ihren Bruder. Mit Rücksicht auf die Genealogie der Adelsfamilie Thun und Hohenstein und der im Text angegebenen Hinweise (z. B. Beziehung des Adressaten zu Fennedig [2/12]7) könnte Siegmund (oder: Sigismund) von Thun (*1487 – †1569), der Sohn des Rates des Erzherzogs Siegmund von Tirol Anton (oder: Antonio) Maria von Thun (genannt der „Mächtige“ oder „Potens“; †1522), als 8 Empfänger bezeichnet werden. Er studierte an deutschen und italienischen Universitäten und wurde vom Kaiser Maximilian I. zum Kaiserlichen Geheimen Rat und Kämmerer ernannt. Später wirkte er als Rat der oberösterreichischen Regierung in Innsbruck und als österreichischer Gesandter in Venedig. 1563 unterzeichnete er als Orator des Kaisers Ferdinand I. die Akten des Konzils in Trento/Trient. In Bezug auf eine genauere Datierung ist die im Text enthaltene Information zum Alter des Empfängers (du pist gecz fordzig [2/2]) zu beachten, auf deren Grund sich erschließen lässt, dass die vorliegende Handschrift um 1527 entstanden ist. Der Text betrifft dann Vorschriften und Heilmittel zum Schutz vor damals auftretenden Krankheiten.

7 8

Den einzelnen Beispielen werden Angaben hinsichtlich der Nummer des Textes und der Zeile, z. B. Text 2/Zeile 12, angeschlossen. Das Archiv Siegmunds von Thun wird in der Zweigstelle des Staatlichen Gebietsarchivs Litoměřice in Děčín deponiert. Weiter dazu Macek (1960: 121).

Zu zwei medizinischen Texten […]

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3.2 Zu Urhebern Die Texte als Kommunikationsdokumente und Zeugnisse für Formen sozialer Interaktion in einem weiten Sinne sind in einen Kontext eingebettet; der Autor verfasst einen Text nicht, ohne z. B. auf andere Texte, andere Personen oder Umstände zu reagieren. Das Einzelrezept Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds kann hinsichtlich des Ausstellers wahrscheinlich einem (Wund)Arzt zugeschrieben werden; die Quellen dieser Art stammen auch von Sammlern des Herzogs, die Texte von ganz unterschiedlicher Art und Herkunft aufnahmen. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache zu beachten, dass die Wundtränke, die „zu den bemerkenswerten Zubereitungen gehören, […] als neue Arzneiform Mitte des 13. Jahrhunderts greifbar werden und den Wundärzten unerwartete Kompetenz im Grenzbereich zur Inneren Medizin sicherten“ (Keil 2011: 57); im 15. Jahrhundert erreichte dann die Wundtrank-Anwendung den Höhepunkt (Keil 2011: 59). Die medizinische Texte derjenigen Art wie die Vorschriften für vorkommende Krankheiten und Hinweise auf den Schutz vor ihnen verfassten Ärzte oder Personen anderen Standes, die medizinisch interessiert waren und offenbar Sammlungen von heilkundlichen Ratschlägen, Erfahrungen und Rezepten besaßen. Die Autorin der vorliegenden Vorschriften (vermutlich eine der fünf Schwestern Siegmunds von Thun) zeigt Verständnis für medizinische Fragen, sammelte wahrscheinlich Rezepte und empfahl diese wohl auch weiter; das belegt auch der vorliegende Text, der wegen einer engen Beziehung zwischen den beiden Geschwistern einen persönlichen Charakter hat.

3.3 Zur Struktur und zum Inhalt Das Rezept Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds weist als historische medizinische, durch den Anweisungsstil gekennzeichnete Grundform mit stereotypen sprachlichen Formeln (vgl. Pörksen 1998: 196) die allgemein fast obligatorischen Elemente der Struktur dieser Texte auf wie den Präparatennamen, Ingredienzien, die Rezeptur, Indikation, Vorschrift für die Dosierung und Heilwirkung: Dem Präparatennamen in der Überschrift (Wundtrannckh [1/2]) folgen die grundsätzlichen Ingredienzien; es ist hier gleichzeitig auffallend, dass im Rezept nur pflanzliche Substanzen (Vegetabilia) als materia medica, aber noch keine mineralischen und chemischen Ingredienzien verwendet werden (Haydnisch Wundkraut das mit den Roten Stingln [1/3], It[em] Rot piessen, vnd Weiss piessen, von den Zwayen kreutern [1/4] […] die Herczbletl [1/5]). Ferner enthält der Text die Zusammensetzung und Vorschrift zur Herstellung des Heilmittels ([…] Zerreibts Zu puluer doch nit Zu klain vnd [1/6] behalts. Darnach Wa[nn] Irs brauchn Weldt, So nempt [1/7] ain Mass gar guten Weins in ain glasurts Heafele vnd [1/8] thut des obgemelten Puluers darein sovil Ir Zu Dreyen [1/9] maln vnnd[er] den Dreyen Vingern erhebn mugt. Lasts ainwenig [1/10] Syeden doch das nit vberget, vncz

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das ain pleb gewindt [1/11]). Zusätzlich wird das Rezept noch mit einer Vorschrift zur Heilung abgeschlossen (Nym auch ain tiechl [1/17] nez in dem Wasser vnd legs vber den schaden, ist vber [1/18] all Salben, Darnach gib Im ye lenng[er] ye mer doch [1/19] dennoch beschaidenlich [1/20]). Als weitere Gliederungselemente sind die Indikation (Item Wann ainer durchstochen […], Wund oder sunst im [1/13] Leib derfallen ware [1/14]) und die Einnahme (Neme dicz tranckhs ain loffl [1/14] […]vollen Zu Erst [1/15]) zu nennen, denen die Beschreibung der Heilwirkung des Präparats (bleibts bey Im so ist das ain Zaichen das [1/15] Er genesen Wird, vnd Swiczt Im heraus Zu der Wunden, [1/16] Vndeut Er aber, so ist im nit Zu helfen [1/17]) angeschlossen ist.9 Der Text unter der Bezeichnung Vorschriften für vorkommende Krankheiten und wie man sich davor schützen soll unterscheidet sich in Bezug auf die Struktur durch die einleitende Anredeform (Herczen lieber prueder [2/1]). In diesem Lehrbrief, zu dessen Entstehung die Autorin durch das Alter (du pist gecz fordzig [2/2]) und dementsprechenden Gesundheitszustand des Empfängers angeregt wurde, lassen sich als Schwerpunkt des Textes die Vorschriften (vnd sag nicht [2/5] von deiner czerung oder erczeney vnd [2/6] huedt dich vor der sunen vnd trinck nit [2/7] du esst dan etbaz vor und las kain lueft [2/8] an plosen leib leg oft saubere pfaiden an [2/9] vnd truecken dich nit am lueft vor aus [2/10], hab acht das du [2/15] altag ain stul habt [2/16], Sey far an dein [2/19] leib nicht vnd in der nacht las [2/20] kain lueft auch an dich vnd siecz [2/21] auf kain marmel stain oder ertrich vnd er [2/22] hiecz dich nit vnd las dir der guedten [2/23] ladt werg auch machen von meins hern [2/24] reczebt [2/25]) sowie Rezepturen mit Ingredienzien (niem ain, kristin czweg mit auch Feilel [2/11] gelept kauf zu Fennedig vnd wos dir [2/12] der arcz radt vnd ob dich die ruer an [2/13] kam so las ain iiii oder iii tag. Gein dar [2/14] nach so v[er]stest [2/15], Item ain pebordt stueck vur die ruer [2/34] niem hiemal prandt kroudt vnd [2/35] pluemen iiii guedt handt vol vnd [2/36] gues ain essich dar an vnd las iii stund[2/37]ten vnd snedes vnd leg es auf den [2/38] pauch warm [2/39]) beobachten. Der Text bezieht schließlich die Beschreibung der Heilwirkung (so magst du pas schlafen [2/17–18]) mit ein. Das Manuskript enthält so kleine Aufzeichnungen über Heilmittel oder Volksheilmittel, die in der eigenen Familie benützt oder von Mittelspersonen erhalten wurden.

9

Zur Struktur der spätmittelalterlichen Rezepte siehe Vaňková/Keil (2005: 36–37).

Zu zwei medizinischen Texten […]

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4. Zur sprachlichen Charakteristik 4.1 Zur Textsorte10 Seit dem 13. Jahrhundert gibt es eine sich immer mehr verstärkende Fachliteratur in Textsorten wie Rezept und Arzneibücher, die nah zu mittelalterlichen Vertextungsweisen stehen (vgl. Steger 1998: 293). Das Rezept stellt im privaten und öffentlichen Alltagsleben der frühneuhochdeutschen Zeit einen der Bestandteile der damaligen Textsortenproduktion und neben den Arznei- und Kräuterbüchern für Mensch und Tier einen der Repräsentanten der medizinischen Fachliteratur dar, die allmählich im privaten Lebensbereich zu finden sind. In Bezug auf die Intention von Textproduzenten zählen die Rezepte zu anleitenden Textsorten, deren „Auftraggeber / Autoren / Schreiber / Drucker einem einschlägig interessierten, oft einer bestimmten Berufsgruppe zugehörigen oder sonst fachlich orientierten Rezipientenkreis auf bestimmten Kenntnisvoraussetzungen beruhende genaue Verfahrensregeln zur Erreichung eines meist instrumentalen, seltener sozialen Handlungszieles geben“ (Reichmann/Wegera 1988: 191)

Die Entwicklung anleitender Texte, die dem Mittelhochdeutschen noch nahezu fremd sind, steht in engem Zusammenhang mit dem Aufschwung der Wissenschaft seit dem 14. Jahrhundert.

4.2 Zu außer- und innertextlichen Aspekten Die vorliegenden Einzelrezepte gehören in Bezug auf die außertextlichen (kontextuellen) Indikatoren11 zu den alltagspraktischen Texten, die im Zusammenhang mit alltäglichen Problemen entstehen, auf den Alltag einwirken und unmittelbar zur Bewältigung praktischer Alltagssituationen dienen (vgl. Wegera 1998: 140). Auf die alltägliche Medizinpraxis deutet hier auch u. a. das einheimische Wortgut hin: Von den Ingredienzien werden Pflanzen, z. B. Haydnisch Wundkraut [1/4], also Heidnisches Wundkraut (Solidago virgaurea; Goldrute; Bezeichnung für mehrere Pflanzen wie Baldgreis [z. B. Senecio nemorensis], Habichtskraut [z. B. Hieracium murorum], Wasserdost [Eupatorium cannabinum] u. a.), Rot Piessen vnd Weiss Piessen [1/4; sie gehören zu Mangoldsorten mit unterschiedlicher Blattfarbe von Bleich bis Dunkelgrün und Stilfarbe von Weiß bis Dunkelviolet als ein sehr altes Blattgemüse, mit der Zuckerrübe und der 10

11

Die Textsorte wird im vorliegenden Beitrag als „ein Komplex von Textexemplaren verstanden, die bestimmten kommunikativen Bedingungen entsprechen und bestimmte grammatische und lexikalische Einheiten aufweisen“. Siehe dazu Spáčilová (2003: 77–95, hier 77). Kontextuelle Indikatoren betreffen den situativen, insbesondere den institutionellen Rahmen des Textes bzw. den gesellschaftlichen Handlungsbereich, dem der Text zugeordnet ist. Hierzu Brinker (2005: 106).

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Roten Rübe (Rote Beete) verwandt; im Italienischen gibt es unter dem Namen bietola], ferner pflanzliche Substanzen, z. B. Feilel [2/11], also Veilchenöl, und Lebensmittel, z. B. ain Mass gar guten Weins [1/8] und ain essich [2/37] benutzt. Im Rahmen der Kommunikationsbereiche innerhalb der alltäglichen Lebenswelt tritt die Familie in den Vordergrund. Als ein Sonderfall ist die adlige Familie zu nennen, die Texte in der Regel nicht selbst produzierte (siehe Text 1: Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds); erst seit dem Spätmittelalter, als zahlreiche Alltagsbereiche einer zunehmenden Verschriftung zu unterliegen begannen, sind auch Privatbriefe zwischen adligen Familienmitgliedern belegt (siehe Text 2: Vorschriften für vorkommende Krankheiten und wie man sich davor schützen soll). Hinsichtlich der Textfunktion, d. h. des Sinnes, den ein Text in einem Kommunikationsprozess erhält bzw. des Zwecks, den ein Text im Rahmen einer Kommunikationssituation erfüllt (vgl. Brinker 2005: 100–101 u. 117–118), gibt der Textproduzent dem Rezipienten zu verstehen, dass er ihn dazu bewegen will, eine bestimmte Einstellung einer Sache gegenüber einzunehmen (Meinungsbeeinflussung) und/oder eine bestimmte Handlung zu vollziehen (Verhaltensbeeinflussung). So weisen Rezepte eine informative und eine appellative Funktion auf, wobei die Appellfunktion dominierend ist, d. h. Rezepte dienen als Anleitung zu genau formulierten Handlungen, also zur Herstellung von Heilmitteln (vgl. Brinker 2005: 117–118). Deshalb zeichnen sie sich auch durch Klarheit, Eindeutigkeit und Genauigkeit der Aussage aus. Die appellative (oder instruktive) Funktion wird dann häufig direkt durch folgende innertextliche Mittel bzw. sprachliche Strukturen angezeigt, mit denen der Textproduzent die Art des intendierten kommunikativen Kontakts dem Rezipienten gegenüber explizit zum Ausdruck bringt und mit denen der Textproduzent seine Einstellung zum Textinhalt, insbesondere zum Textthema ausdrückt (vgl. Brinker 2005: 104–107): a) durch Imperativsätze mit imperativen Verbformen in der 2. P. Sg. und Pl.: Text 1 Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds

Text 2 Vorschriften für vorkommende Krankheiten und wie man sich davor schützen soll

2. P. Pl. Imp.  Nempt Haydnisch Wundkraut [...]  nempt die Herczbletl [...]  Zerreibts Zu puluer [...]  So nempt ain Mass gar guten Weins [...]  thut des obgemelten Puluers darein [...]  Lasts ainwenig Syeden [...]

2. P. Sg. Imp.  huedt dich vor der sunen [...]  trinck nit [...]  las kain lueft an plosen leib [...]  leg oft saubere pfaiden an [...]  niem ain kristin czweg mit auch Feilel  kauf zu Fennedig [...]  las ain iiii oder iii tag [...]  hab acht [...]  Sey far an dein leib nicht [...]  las kain lueft auch an dich [...]  siecz auf kain marmel stain [...]

2. P. Sg. Imp. (in der angeschlossenen Vorschrift zur Heilung)  Nym auch ain tiechl nez in dem Wasser [...]

127

Zu zwei medizinischen Texten […]  legs vber den schaden [...]  gib Im ye lenger ye mer [...]

      

ertrich vnd erhiecz dich nit [...] las dir der guedten ladt werg auch machen [...] mach die vur mich zum hercz [...] niem hiemal prandt kroudt [...] gues ain essich dar an [...] las iii stundten vnd snedes [...] leg es auf den pauch warm [...]

Tab. 2

b) durch die explizit performativen Formeln mit den Verben auffordern, anordnen, befehlen, bitten, raten, empfehlen usw.: Text 1 Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds

Text 2 Vorschriften für vorkommende Krankheiten und wie man sich davor schützen soll  Ich pit dich auf al trwe [...]  wos dir der arcz radt [...]

Tab. 3

c) durch die Infinitivkonstruktionen, z. B. haben + zu + Infinitiv, sein + zu + Infinitiv: Text 1 Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds

Text 2 Vorschriften für vorkommende Krankheiten und wie man sich davor schützen soll

 so ist im nit Zu helfen [...] Tab. 4

d) durch die Satzmuster mit sollen oder müssen + Infinitiv u. a.: Text 1 Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds

Text 2 Vorschriften für vorkommende Krankheiten und wie man sich davor schützen soll  Ich sol ims schon peczalen [...]

Tab. 5

e) durch das temporale Adverb darnach als einleitendes Gliederungssignal, das dieselbe Funktion hat wie das in Arzneibüchern häufig belegte item: Text 1 Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds

Text 2 Vorschriften für vorkommende Krankheiten und wie man sich davor schützen soll

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Einleitung zur Indikation  It[em] Rot piessen vnd Weiss piessen  Item wann ainer durchstochen [...]

Gliederungssignal (ferner)  It[em] Ich wil got vnd die mueter gots truelich um dich piten [...]  It[em] ain pebordt stueck vur die ruer [...]

Gliederungsmerkmal  Darnach Wa[nn] Irs brauchn Weldt Einleitung zur Dosierung am Schluss des Rezeptes  Darnach gib Im […]

Gliederungsmerkmal  darnach so v[er]stest [...]

Tab. 6

Die in den beiden Rezepten verwendeten sprachlichen Strukturen und Formen dienen dann der grundsätzlichen Informationsfunktion der Texte, nämlich der Textproduzent gibt dem Empfänger zu verstehen, dass er ihm ein Wissen vermitteln bzw. ihn über etwas informieren will. Während die Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds einen sachlichen Stil der Eintragungen heilkundlichen Inhalts belegt, bietet der Autor bzw. die Autorin demgegenüber im Text unter der Bezeichnung Vorschriften für vorkommende Krankheiten und wie man sich davor schützen soll wegen der persönlichen Beziehung zum anderen Familienmitglied die Darstellung aus der ich-Perspektive.

4.3 Zu sonstigen sprachlichen Merkmalen Obwohl die Frage nach den Autoren nicht eindeutig zu beantworten ist, lässt sich die Herkunftslandschaft in Bezug auf die Entstehungsgeschichte der vorliegenden Texte, die mit Tirol verbunden sind, im oberdeutschen Sprachgebiet finden. Neben sprachlichen Erscheinungen mit überregionalem Charakter kommen häufig in den vorliegenden Texten u. a. auch folgende sprachliche Merkmale im phono-graphematischen Bereich vor, die auf die Provenienz hinweisen können: a) Wiedergabe des mhd. /ɛe/ mit und Text 1: Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigismunds – klain [1/6], ain Mass [1/8], ain glasurts [1/8], ainwenig [1/10], ain pleb [1/11], ainer [1/13], ain loffl [1/14], ain Zaichen [1/15], ain tiechl [1/17], beschaidenlich [1/20] – Haydnisch [1/3], Zwayen [1/4], berayt [1/12]

Zu zwei medizinischen Texten […]

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Text 2: Vorschriften für vorkommende Krankheiten und wie man sich davor schützen soll – ain peÿ grab [2/3], kain lueft [2/8, 21], ain iiii oder iii tag [2/14], ain stul [2/16], ain esel [2/18], kain marmel stain [2/22], ain pebordt stueck [2/34], ain essich [2/37]. Der mhd. Diphthong /ɛe/ wird auf diese Weise von dem neuen Diphthong /ae/, der durch die fnhd. Diphthongierung vom mhd. /î/ entstanden ist, unterschieden. Bei der Wiedergabe des mhd. /î/ bedienen sich die Verfasser insgesamt zweier Schreibweisen, und zwar im In- und Auslaut (z. B. Dreyen [1/9, 10], bey [1/15], peÿ [2/3], erczeney [2/6]) und im Inlaut (z. B. Zerreibts [1/6], Weins [1/8], Leib [1/14], Bleibts [1/15], dein [2/3], kreicz [2/3], leid[en] [2/5], leib [2/9], Feilel [2/11], czeiten [2/25], czeldtlein [2/26], sein [2/32]). Die graphische Unterscheidung zwischen (mhd. /î/) und (mhd. /ɛe/) ist schon seit dem 12. und 13. Jahrhundert im bairischen und schwäbischen Sprachgebiet belegt und im 14. und 15. Jahrhundert durchgeführt (ca. bis ins 16. Jh.; vgl. Reichmann/Wegera 1993: § L 27, S. 57–59, hier 58); am deutlichsten wird sie im Süd- und Mittelbairischen differenziert. Erst seit der Wende des 15. und 16. Jahrhunderts verbreitete sie sich in weitere Gebiete; vgl. Moser (1929: § 19 und § 79, 31 und 168–186, hier 169–170). b) Veränderung b ˃ p Text 1: Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigismunds – piessen [1/4], pleb [1/11] Text 2: Vorschriften für vorkommende Krankheiten und wie man sich davor schützen soll – prueder [2/1], pit [2/1], pist [2/2], pedt [2/2], peÿ grab [2/3], an plosen leib [2/9], pas [2/17], prauch [2/25], peczalen [2/28], piten [2/29], praschen [2/31], pebordt [2/34], prandt [2/35], pluemen [2/36], pauch [2/39]. Die Wiedergabe des mhd. /b/ durch

, besonders in der Initialstellung ist zwar als bairischer Einfluss zu bewerten (belegt im 14. und 15. Jahrhundert; durchgehend oder doch regelmäßig bis ca. zur Mitte des 16. Jahrhunderts; vgl. Moser (1951: § 137, 103– 122, hier 104), diese Erscheinung hat jedoch die bairische Dialektsphäre überschritten und tritt vor allem auch in den Nachbarregionen auf; vgl. Reichmann/Wegera (1993: § L 44, S. 84–86). Im Unterschied zum Text Vorschriften für vorkommende Krankheiten und wie man sich davor schützen soll, wo diese Erscheinung ausnahmslos belegt ist, wird der Text Zubereitung eines Wundtrankes des Herzog Sigmunds durch Schwankungen in der Realisierung des initialen , z. B. brauchn [1/7], berayt [1/12], bleibts [1/15], bey [1/15], beschaidenlich [1/20] gekennzeichnet. Die Änderung von

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/b/ zu

in der medialen Stellung ist nur vereinzelt zu belegen, z. B. Nempt [1/3, 5, 7], gelept [2/12].12

5. Fazit Die vorliegenden Handschriften sind in der Zeit des Wachstums der empirischen Kenntnisse entstanden: Eine neue Betrachtungsweise und das neue Selbstbewusstsein des Menschen, gestützt auf die anderen geistigen und kulturellen Lebensbereiche, gaben neue Anregungen zu neuen Anfängen auch in der Medizin. In den Mittelpunkt verschoben sich der Mensch und der Gebrauch von Kenntnissen für die alltägliche medizinische Praxis. Im Jahr 1976 hat der Prager Germanist Emil Skála (1928–2005) zu schriftlichen Denkmälern der deutschen Fachprosa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit bemerkt: „Nichtliterarische Denkmäler, die die Masse der Quellen liefern, sollten […] nicht durch hermetische Grenzen von literarischen Quellen getrennt werden. Die Gesellschaftsgeschichte lässt solche Abgrenzungen kaum zu“ (Skála 1976: 21).

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Der Wechsel /p/ zu ist im Einzelfall zu finden, und zwar bei reczebt [2/25].

Zu zwei medizinischen Texten […]

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JOHANNES GOTTFRIED MAYER

Das ‚Leipziger Drogenkompendium‘ und der ‚Gart der Gesundheit‘ Ein Vergleich

1. Einleitung Das ‚Leipziger Drogenkompendium‘ (LDk) aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und der ‚Gart der Gesundheit‘ von 1485 sind – nach bisherigem Kenntnisstand – die größten „Kräuterbücher“1 oder Arzneimittellehren aus der Zeit vor 1500 in deutscher Sprache. Wegen ihres enormen Umfangs und der thematischen Übereinstimmung, ähnlicher Hauptstruktur bei ganz unterschiedlicher Benutzung gleicher Quellen, erheblicher sprachlicher Unterschiede, besonders hinsichtlich der Satzstruktur und des Wortschatzes, bieten sich die beiden Texte für eine größere, vergleichende Untersuchung an. Dies umso mehr, da mit der Habilitationsschrift von Mechthild Habermann (Habermann 2001: bes. 245–273) bereits eine große Studie vorliegt, die den ‚Gart der Gesundheit‘ mit einbezieht, und auch das ‚Leipziger Drogenkompendium‘ schon eingehender untersucht wurde (Damm 1939, Mayer 2000, Mayer/Goehl 2003). Mit den beiden Texten sind wohl wichtige Stationen auf dem Weg von der mittelalterlichen zur frühneuzeitlichen Erfassung von ursprünglich vorwiegend in lateinischer Sprache tradiertem Wissen fassbar. Nicht ganz unberechtigt bezeichnete die Schule von Julius Schuster (Berlin) das ‚Leipziger Drogenkompendium‘ als einen Vorläufer der deutschen Kräuterbuchinkunabeln, wobei hier wiederum insbesondere der ‚Gart der Gesundheit‘ angesprochen ist. Das ‚Leipziger Drogenkompendium‘ (LDk) wird in sächsischer Schreibsprache in der Handschrift Ms. 1224 der Leipziger Universitätsbibliothek überliefert und zwar auf den Blättern 1r–194v. Es umfasst also nahezu 400 Seiten in Folio (vgl. Pensel 1998: 163–166). Es werden 328 teils sehr umfangreiche Dogenmonographien von bis zu sieben Seiten geboten. Die Handschrift ist nicht datiert, nach Schrift und den Wasserzeichen stammt sie aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, vermutlich aus der Zeit um 1435. Obwohl ab dem ausgehenden 14. Jahrhundert bereits große illustrierte Kräuterbücher vorliegen, besitzt die Leipziger Handschrift keine Pflanzenbilder. 1

Von Kräuterbüchern kann man bei beiden Werken nur mit Einschränkung sprechen, da auch Drogen mineralischen und tierischen Ursprungs behandelt werden, das gilt besonders für die ‚Leipziger Drogenkunde‘.

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Durchgehend illustriert ist dagegen der ‚Gart der Gesundheit‘, der in 435 Kapiteln 382 Pflanzenarten sowie 25 tierische und 28 mineralische Drogen behandelt. Es stellt das bis dahin größte Unternehmen der Buchdruckerkunst auf dem Gebiet der Arzneimittellehre dar. Der von dem Mainzer Domherren Bernhard von Breydenbach (1440–1497) initiierte Druck wurde im Jahr 1485 durch den Mainzer Drucker Peter Schöffer, einen Schüler Gutenbergs, auf den Markt gebracht. Nach Isphording kann er als der „bedeutendste Druck der Inkunabelzeit“ (Isphording 2008: 44) gelten, während Gundolf Keil den ‚Gart‘ als eines „der wirkungsmächtigsten Werke des deutschen Mittelalters“ bezeichnet (Keil 1980: 1071). Für den Text war der Mainzer Stadtarzt Johann Wonnecke von Kaub (um 1430–1503/04) verantwortlich, der auch als Hofarzt in Mainz und Heidelberg und zuletzt als Stadtarzt in Frankfurt am Main wirkte.

2. Werkstruktur In der Hauptstruktur sind beide Texte gleich angelegt. Beide Werke gliedern die Kapitel in einer halb-alphabetischen Reihenfolge. Das heißt: Den ersten Hauptabschnitt bilden die Drogen, deren Name mit A beginnt. Der zweite Buchstabe spielt bei der Gliederung keine Rolle mehr. So steht in LDk das Aloe-Kapitel an erster Stelle, während bei einer vollalphabetischen Gliederung das Werk mit „Abrotanum“ beginnen müsste. Die Eberraute wird aber erst im 31. Kapitel des Buchstabenbereichs A behandelt. Zur besseren Übersicht erfolgt zu Beginn eines jeden neuen Buchstabens eine Liste der Drogen in der Reihenfolge des Textes. Der ‚Gart‘ startet mit „Arthemisia“, auch hier wäre wiederum nach vollalphabetischer Reihung Abrotanum zu erwarten. Da der ‚Gart‘ aber die Artemisia-Arten an den Anfang stellt, folgt die Eberraute gleich an zweiter Position, gefolgt vom Absinth. Beide Werke orientieren sich in der Gliederung ausschließlich an den lateinischen Pflanzennamen, wobei der ‚Gart‘ sowohl im voranstehenden Register, das sich im LDk am Schluss befindet, als auch in den Kapitelüberschriften immer das deutsche Synonym mitliefert. In LDk fehlt in vielen Fällen die deutsche Bezeichnung der Drogen völlig. In der Binnenstruktur zeigen beide Texte zunächst eine gewisse Ähnlichkeit, was wohl der Gattung Drogenkunde geschuldet ist. Dem lateinischen Namen der Droge folgen im ‚Gart‘ in der Regel die griechischen und arabischen Synonyma, im LDk steht bisweilen die deutsche Entsprechung. In LDk werden dann sogleich immer die für die mittelalterliche Arzneikunde so wichtigen Primärqualitäten der Droge angegeben, also ob die Wirkung heiß und trocken, heiß und feucht oder kalt und trocken bzw. kalt und feucht ist. Daran schließt sich eine Beschreibung der Droge und die Angabe der Herkunftsländer an. Der ‚Gart‘ geht hier umgekehrt vor: Es folgt zuerst eine Beschreibung der Droge, wobei hier in der Regel Autoren wie Dioskurides, Avicenna, (Pseudo-)Serapion oder

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Platearius als Gewährsleute angeführt werden. Erst dann erfolgt die Angabe der Primärqualitäten, wiederum meist mit Angabe zumindest einer Autorität oder Textquelle. Die LDk bietet dann in der Regel noch Angaben zur Haltbarkeit, zu den Sekundärqualitäten (auflösend, öffnend, zusammenziehend etc.) sowie zu speziellen Zubereitungsformen und zu Fälschungen und wie man diese erkennen kann. Erst danach kommen konkrete Anwendungen. Der ‚Gart‘ kommt wesentlich schneller auf die Anwendungen zu sprechen und bietet hier wesentlich mehr. Die Unterschiede in der Struktur der Kapitel sind insofern bemerkenswert, weil beide Texte dieselbe Hauptquelle benutzen, das ‚Circa instans‘, das um die Mitte des 12. Jahrhunderts wahrscheinlich von einem Mitglied der salernitanischen Ärztefamilie der Platearii geschaffen wurde, möglicherweise von Matthaeus Platearius (gest. 1161). Die Edition der vermutlich ursprünglichen Fassung (Wölfel 1939) ist sehr fehlerhaft. Der ‚Circa instans‘-Text ist seit kurzem auch durch die Edition des ‚Tractatus de herbis‘ von Iolanda Ventura greifbar, allerdings durchsetzt mit vielen anderen Quellen (Ventura 2009).

3. Die Quellen Beide Werke greifen also auf das ‚Circa instans‘ bzw. den „Platerarius“ zurück. Die Drogenkunde aus Salerno hatte sich als das erste gesamteuropäische Arzneibuch etablieren können. Die klare und informative Struktur der einzelnen Drogenmonographien setzte einen neuen Maßstab in Medizin und Pharmazie, die sich konsequent in Drogenname, Primärqualität, Herkunft, Drogenbeschreibung, Fälschungen (nur bei teuren Drogen), Haltbarkeitsangabe, Sekundärqualitäten, und den Anwendungen, die auch komplexere Rezepturen enthalten können, gliedert. Diese Kapitelstruktur besitzt – wie oben schon angedeutet – in der Regel auch das LDk, während der ‚Gart‘ eine andere Reihenfolge der Punkte aufweist, wobei Angaben zu Fälschungen und Haltbarkeit fehlen. Das ‚Circa instans‘, dessen Urform wohl mit der Handschrift Ms. 674 der Erlanger Universitätsbibliothek fassbar ist, wurde sehr bald erweitert. Bereits aus dem 12. Jh. ist mit der verlorenen Breslauer salernitanischen Handschrift (Breslau, Stadtbibliothek, Nr. 1302) eine Fassung greifbar, die mit zahlreichen Kapiteln aus dem ‚Liber de gradibus‘ oder ‚Liber graduum‘ des Constantinus Africanus (gest. 1087) und dem ‚Liber iste‘ aus Salerno (auch ‚Platearius-Glossen‘ genannt) und dem ‚Dioskurides alphabeticus‘ erheblich vergrößert wurde (Holler 1941). Eine ähnlich erweiterte Fassung liegt mit dem erwähnten ‚Tractatus de herbis‘ (London, British Library, Egerton 747) vor (Ventura 2009). Eine zweite gemeinsame Quelle ist der sogenannte ‚Aggregator‘, der fälschlicherweise dem syrischen Arzt Johannes Serapion zugeschrieben wurde und deshalb in der

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Forschung unter ‚Pseudo-Serapion‘ bekannt ist (vgl. Straberger-Schneider 2009). Diese sehr große Arzneimittellehre, sie behandelt 462 Drogen, kommt ursprünglich aus der arabischen Medizin. Eine späte Redaktion, die gegen 1250 entstanden ist, wurde um 1290 von Simon von Genua und Abraham von Tortosa ins Lateinische übertragen. Das Werk ordnet die Drogenmonographien nicht nach den Namen sondern nach den Wirkungsgraden. Das heißt, im ersten Hauptkapitel werden die Pflanzen behandelt, deren Wirkung als warm und trocken, warm und feucht, kalt und trocken sowie kalt und feucht im ersten Grad beschrieben werden. Dies wird dann bis zum höchsten Grad, nämlich dem vierten durchgeführt, wobei es im letzten Grad nur warm und trocken sowie kalt und trocken gibt. Zwei Abhandlungen über Mineralien und tierische Drogen beschließen das Werk. Der ‚Aggregator‘ gibt sich schon im Vorwort als eine Kompilation aus der ‚Materia medica‘ des Dioskurides, entstanden zwischen 60 und 70 n. Chr., und der Arzneimittellehre des Galen von Pergamon, ‚De simplicium medicamentorum temperamentis ac facultatibus‘ aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts zu erkennen. Dabei wird in der Regel bei jedem Kapitel zuerst die Drogenbeschreibung nach Dioskurides gegeben, der das ganze Drogenkapitel aus Galen folgt, dem sich dann die Anwendungen nach Dioskurides anschließen. Die jeweiligen Abschnitte sind immer durch ein D oder G gekennzeichnet. Sehr häufig finden sich am Kapitelschluss noch kurze Zitate weiterer Autoren, meist aus der arabischen Medizin. Einige Pflanzen, die nicht bei Dioskurides und Galen behandelt werden, sind ausschließlich aus Zitaten arabischer Autoritäten gebildet. Der ‚Aggregator‘ erlangte im 15. Jahrhundert eine ähnlich große Bedeutung wie das ‚Circa instans‘. Wonnecke von Kaub hat für seinen ‚Gart‘ aus dem ‚Aggregator‘ die arabischen Pflanzennamen für die seine Synonymenliste am Kapiteleingang übernommen und zitiert „Serapion“ häufig. Möglicherweise stammen aber auch die Diokurides- und GalenZitate aus dem ‚Aggregator‘. LDk übernimmt dagegen ganze Kapitel vollständig. Eine dritte gemeinsame Quelle ist der ‚Macer floridus‘, ein großes Gedicht in Hexametern, das eigentlich den Titel ‚De viribus herbarum‘ trägt, aber dem römischen Dichter Aemilius Macer zugeschrieben wurde. Es stammt aus dem ausgehenden 11. Jahrhundert, und gehört zu den meistverbreiteten Werken der mittelalterlichen Kräuterheilkunde (Mayer/Goehl 2001, Schnell 2003). Es war auch in lateinischen und landessprachigen Prosafassungen im Umlauf (Schnell 2003). Sowohl LDk als auch der ‚Gart‘ dürften auf die deutschsprachige Prosafassung zurückgegriffen haben, die in der älteren Forschung unter dem Titel ‚Älterer deutscher Macer‘ bekannt wurde. LDk hat 28 Kapitel aus dem ‚Macer‘ übernommen (Mayer 2000: 213f.), allerdings ausschließlich in den Buchstaben A, B, C und E, inhaltliche Parallelen zeigt noch ein Kapitel in Z (Zizania). Auf die Benutzung des ‚Macer‘ durch Wonnecke von Kaub hat bereits Gundolf Keil hingewiesen (Keil 1982).

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4. Die Quellen von LDk Neben den drei genannten Werken ‚Circa instans‘, ‚Aggregator‘ und ‚Macer floridus‘ bzw. ‚Älterer deutscher Macer‘ finden sich in LDk auch Auszüge aus dem ‚Liber de gradibus‘ oder ‚Liber graduum‘ des Constantinus Africanus (gest. 1087) und dem ‚Liber iste‘, der wohl kurz vor dem ‚Circa instans‘ in Salerno verfasst wurde. Diese Auszüge dürften allerdings nicht durch die direkte Benutzung der beiden Werke in das LDk eingegangen sein, sondern aus einer erweiterten Fassung des ‚Circa instans‘, die diese Zusätze bereits überlieferte, stammen. Während die ersten drei Buchstabenbereiche die Hälfte des ganzen Textes ausmachen, der Buchstabe C endet auf Bl. 98r, sind die Drogenmonographien im letzten Drittel deutlich kürzer gehalten. Hier wird von – ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – nur noch der Text des ‚Circa instans‘ geboten.

5. Die Quellen des ‚Gart‘ Für den ‚Gart‘ lassen sich wesentlich mehr Quellen nachweisen (Mayer 2011), wobei eine Gesamtsichtung der Quellen noch nicht vorliegt. Schon das Vorwort des Auftraggebers Bernhard von Breydenbach nennt als Autoritäten Galen, Avicenna, Serapion (‚Aggregator‘), die ‚Pantechne‘ und Platearius. In Wirklichkeit hat Wonnecke von Kaub noch wesentlich mehr Texte herangezogen, etwa die ‚Naturalis historia‘ des Plinius des Älteren, die ‚Etymologien‘ des Isiodor von Sevillia, aber auch einige Kapitel aus der ‚Physica‘ der Hildegard von Bingen (Riethe 2005), aus dem ‚Buch der Natur‘ des Konrad von Megenberg und – wie schon gesagt – aus dem ‚Macer floridus‘. Mehrfach wird zudem der Chirurg „Meister Wilhelm“ zitiert. Was das ‚Circa instans‘ betrifft, so scheint Wonnecke zwei Versionen zur Hand gehabt zu haben, denn er zitiert in mehreren Kapiteln sowohl das ‚Circa instans‘ als auch „Platearius“. Daneben werden am häufigsten Plinius, Serapion, Avicenna und Dioskurides und des Öfteren Galen und die ‚Pantechne‘ (Übersetzung des ‚al-Kitab al-Malaki‘ des Ali ibn al-’Abbas al Magusi durch Constantinus Africanus) erwähnt. Auch Isaac Judaeus (Isaac ben Salomon Israeli, 10. Jh.) und Bartholomäus Anglicus werden mit Angabe des entsprechenden Werktitels ganz vereinzelt zitiert. Weitere Autoritäten könnten wiederum aus dem ‚Aggregator‘ übernommen sein.

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5.1 Übersicht zu den Quellen des ‚Gart‘ 5.1.1 Lateinische Quellen: ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒

‚Circa instans‘, vermutlich 2 Fassungen (,Circa instans‘ und „Platearius“) Plinius d. Ä.: ‚Naturalis Historia‘ ‚Aggregator‘ (Pseudo-Serapion) Avicenna (Ibn Sina): ‚Canon medicinae‘ Liber II und ‘De viribus cordis’ Dioskurides: ‚Materia medica‘ Galen: ‚De simplicibus medicamentorum‘ (im ‚Gart‘: „simplicium farmacorum“) ‚Pantechne‘ (Constantinus Africanus) Isaac Judaeus: ‚De dietis particularibus‘ (z. B. Kap. 86) Bartholomäus Anglicus: ‚De proprietatibus rerum‘ (z. B. Kap. 70) Isidor von Sevilla: ‚Etymologien‘ (z. B. Kap. 1) Hildegard von Bingen: ‚Physica‘

5.1.2 Deutsche Quellen: ‒ ‚Macer‘ (deutsch: ‚Älterer deutscher Macer‘) ‒ Konrad von Megenberg: ‚Buch der Natur‘ ‒ Texte deutscher Chirurgen („Meister Wilhelm“)

6. Quellenbenutzung Völlig unterschiedlich gehen die beiden Texte bei der Verwendung ihrer Quellen vor. LDk übernimmt fast immer den gesamten Text der Quelle aus der entsprechenden Drogenmonographie. So bietet das erste, riesige Kapitel zur Aloe zuerst den gesamten Text des ‚Circa instans‘, dem folgen die Aloe-Kapitel aus dem ‚Macer‘ (Kap. 88) und dem ‚Aggregator‘. Die drei Quellen werden also einfach aneinander gereiht. Bisweilen werden die Kapitel allerdings neu zusammengefügt. So beginnt das Kapitel zu Anisum (A 16) mit den ersten drei Sätzen aus dem ‚Circa instans‘, danach wird das entsprechende Kapitel aus dem ‚Aggregator‘ (Kap. 242) vollständig eingetragen, dem sich der Rest des ‚Circa-instans‘-Textes anschließt, den Schluss bildet der deutsche ‚Macer‘ (Kap. 80). Ebenso ist das Kapitel zu „Costus“ (C 29) aufgebaut. Noch komplexer ist das Allium-Kapitel (A 29) gestaltet: An der Spitze steht die Pflanzenbeschreibung aus dem ‚Circa instans‘, dem sich ein längerer Abschnitt aus dem ‚Aggregator‘ anschließt, dann folgt der restliche Text aus dem ‚Circa instans‘ und dann das Allium-Kapitel aus dem deutschen ‚Macer‘. Am Schluss wird der zweite Teil des Textes aus dem ‚Aggregator‘ geliefert. Das Kapitel zu Azarum (A 32) ist aus dem ‚Liber iste‘, dem ‚Liber de gradi-

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bus‘ des Constantinus und dem ‚Aggregator‘ in eben dieser Reihenfolge gebaut (Nachweise: Mayer 2000: 217–262). LDk gibt an keiner Stelle seine wirklichen Quellen an, weder das ‚Circa instans‘ oder Platearius noch Serapion werden genannt. Auch die Hinweise auf Dioskurides und Galen, die der pseudo-serapionische ‚Aggregator‘ immer liefert, wurden weitgehend gestrichen. Lediglich die vorwiegend arabischen Autoren wie Rasis (Al-Razi), Alcanzi (Al-Juz), Abemesuai (Ibn Masaway/ Ibn Masa), Hymayn (Hunain ibn Ishag) oder Habix (Hubays/Hunayn) usw., die der Aggregator am Ende seiner Kapitel anführt, werden getreulich abgeschrieben. Der Übergang zum ‚Aggregator‘ ist allerdings meist ersichtlich, denn er wird in der Regel mit der Bemerkung Merk aber oder Vort so wizze eingeleitet. Der ‚Gart‘ übernimmt dagegen kein Kapitel vollständig aus den Vorlagen. Seine Monographien sind in der Regel aus kurzen Zitaten der Quellen zusammengesetzt. Dabei protzt Wonnecke geradezu mit den Autoritäten. Avicenna und Serapion (‚Aggregator‘) werden fast immer, Plinius zumeist mit der Angabe des Kapitels zitiert, und diese Angaben sind auch korrekt! Wenn allerdings die genaue Angabe von Werk und Kapitel fehlt, und nur angegeben wird „Plinius spricht“, so ist Vorsicht geboten. Hildegard von Bingen, der ‚Macer‘ und Konrad von Megenberg, alle deutsche Autoren, werden allerdings nicht erwähnt.

7. Übersetzungsstil und Terminologie Eine eingehende sprachliche Untersuchung des Leipziger Drogenkompendiums steht noch aus, deshalb können hier nur einige allgemeine Hinweise gegeben werden. LDk bietet meist nicht nur den gesamten Text des Drogenkapitels aus der Quelle, das Kompendium bleibt auch bei der Übersetzung sehr nahe an der Vorlage. Von einer Wort-für-Wort-Übersetzung kann man aber nicht sprechen. Doch man erkennt schon am Sprachduktus den Wechsel von einer Quelle zur anderen. Bei einzelnen Wörtern ist jedoch eine direkte Übernahme des Lateinischen festzustellen: Beispielsweise wird „subrubus“ mit underrot übersetzt. Bei den Fachtermini wird – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – gänzlich auf eine Übersetzung verzichtet. Es heißt: in den febribus, „weder den cancrum“ (Krebs) oder wetagen der iunctuaricis (Gelenke). Ganz grundsätzlich gilt das für die Namen der Drogennamen: Quecksilber heißt nicht nur in der Überschrift, sondern auch im Fließtext immer „argentum vivum“. Auch die Pflanzennamen werden – von wenigen Ausnahmen abgesehen – lateinisch wiedergegeben. Ein Beispiel aus dem Apium-Kapitel (A 8): Nym dy cochunge der worczeln apii, feniculi, petroselini vnd ist ouch gut wedir dy yctericiam. Die Nähe zur lateinische Vorlage zeigt ein Satz kurz darauf, in dem die Stelle aus dem ‚Circa instans‘: Fiat [siru-

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pus] etiam iste leucoflegmaticis et hyposarca laborantibus: übersetzt wird mit: Disser syrupus ist gut den dy da erbeitende sint in der suche leucofleumancia vnd yposarca. So entsteht ein deutsch-lateinischer Mischtext, wie er – mit genau umgekehrten Vorzeichen – in den natur- und heilkundlichen Schriften der Hildegard von Bingen zu finden ist, wobei die ‚Physica‘ und ‚Causae et curae‘ ein ausgeprägtes lateinisches Idiom mit deutschen Termini zeigen. Nahezu alle Pflanzen- und Krankheitsnamen sind hier deutsch. Ganz anders geht Wonnecke von Kaub im ‚Gart‘ vor. Bei der Beschreibung der Anwendung der einzelnen Drogen benutzt er meist eigene Formulierungen. Der Inhalt der Quelle wird in geraffter Form angegeben, wobei er auch auswählt. Viele Anwendungen der Quellen fehlen demnach im ‚Gart‘, wie auch längere Rezepturen für spezielle Arzneimittelformen, die z. B. im ‚Circa instans‘ häufiger mitgegeben werden. Das erschwert den genauen Quellennachweis. Oft lässt sich nur feststellen, dass die angegebene Quelle am angegebenen Ort tatsächlich die entsprechenden Indikationen bietet. Wonnecke bemüht sich um eine weitgehend deutsche Terminologie. Im Text wird in der Regel der deutsche Drogenname benutzt, ebenso verwendet er die deutschen Krankheitsnamen. Um dabei eindeutig zu bleiben, wird des Öfteren das lateinische Synonym mitgeben, beispielsweise: wynde genannt ventositates (Blähungen). LDk übersetzt „ventositas“ übrigens mit windechtikeit.

8. Zusammenfassung Obwohl sie nach ihrer Entstehung nur etwa 50 Jahre auseinander liegen, repräsentieren das ‚Leipziger Drogenkompendium‘ und der ‚Gart der Gesundheit‘ verschiedene Stationen bei der Übernahme lateinisch tradierten Wissens in die Volkssprache auf dem Gebiet der Medizin und Pharmazie. Nicht zuletzt auf Grund des umfangreichen Materials, das beide Texte bieten, ist deshalb eine große, vergleichende Studie sicher lohnend. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dem ‚Gart‘ eine gewaltige Rezeption beschieden war. Über zahlreiche Redaktionen durch Eucharius Rößlin dem Älteren (ab 1533), Adam Lonitzer (ab 1557) und Petrus Uffenbach (1566–1635) erreichte die ‚Gart‘-Rezeption die Goethezeit. Die letzte Auflage erschien 1783 in Augsburg (Keil 1982, Mayer 2011). So war das Kräuterbuch auch eine Quelle für das ‚Große Universal-Lexicon‘ des Johann Heinrich Zedler (Halle/Leipzig ab 1732). Der ‚Gart‘ stellt den Versuch dar, eine Gesamtschau der mittelalterlichen Arzneikunde zu bieten, was er, wenn auch in kürzender Weise – und leider mit zahlreichen Fehlern behaftet – auch leistete. Dem ‚Leipziger Drogenkompendium‘ war keine Wirkung beschieden, vielleicht war es für seine Zeit bereits zu konservativ. Aber es stellt schon deshalb einen einzigartigen Wert dar, weil es einzige vollständige Übertragung des ‚Circa instans‘ ins Deutsche liefert, das für die Arzneimittellehre in Europa neue Maßstäbe setzte und europaweite Geltung besaß. Mit dem pseudo-serapionischen ‚Aggregator‘, dem ‚Liber de gradibus‘

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und dem ‚Macer‘ wurden zudem zwei weitere zentrale Werke der mittelalterlichen Arzneikunde zumindest teilweise übernommen. Es fehlt im Grunde lediglich das zweite Buch des ‚Canon medizinae‘ Ibn Sinas. Wäre auch Avicenna in das LDk eingegangen, hätte man die wichtigsten Werke über die Simplizien, die einfachen, nicht-zusammengesetzten Arzneimittel des Mittelalters zusammen.

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MELITTA WEISS ADAMSON

«Mich dunkcht ez sein knöllell» Von den Mühen eines bayrischen Übersetzers mittelalterlicher Fachliteratur

1. Einleitung In der deutschen Fachliteratur des Mittelalters kommt es nur selten vor, dass ein anonymer Übersetzer mitten im Text plötzlich zur Ich-Form greift und den Rezipienten zum Zeugen seines Denkprozesses macht, wie das beim Zitat mich dunkcht ez sein knöllell der Fall ist. Die Passage entstammt einem Rezept für ein Gericht mit dem italienischen Namen boconcini, und das befindet sich wiederum in einem umfangreichen deutschsprachigen Kochbuch des frühen 15. Jahrhunderts, von dem die Forschung bisher wenig Notiz genommen hat.1 Hinter dem schlichten Titel ‚Koch- und arztney Buch. Misc. Med.‘ am Einbandrücken des Papierkodex mit der Signatur Cgm. 415, der heute in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt wird, verbirgt sich eine Sammelhandschrift, deren Inhalt einen kulturellen Transfer darstellt, der sich zeitlich von der Spätantike bis ins Spätmittelalter und räumlich von der arabischen Welt über das Mittelmeer bis nach Süddeutschland erstreckt. Dass es sich bei den im Kodex ins Deutsche übersetzten lateinischen „Quellen“ ihrerseits vielfach um Übersetzungen aus dem Griechischen, Arabischen oder Italienischen handelt, sollte daher nicht allzu sehr verwundern. Bereits bei flüchtiger Durchsicht von Cgm. 415 fällt auf, dass der Kodex aus zwei unterschiedlichen Teilen besteht. Das hier zu untersuchende Kochbuch befindet sich im ersten Teil des Kodex und ist umgeben von Fachliteratur, die vornehmlich aus dem medizinisch-diätetischen Bereich stammt und von einer Hand in mittelbairischer Mundart geschrieben wurde (Schneider 1973: 205). In ihrer Beschreibung von Cgm. 415 unterscheidet Karin Schneider im ersten Teil des Kodex vier Traktate: 1. 1r–20v Jamboninus von Cremona: Liber de ferculis et condimentis, dt.; 2. 20v–37r Burgundio von Pisa: De vindemiis, dt.; 3. 37v–98r Kochbuch; 4. 98r–278v Arzneibuch (Schneider 1973: 205f.). Vom Schreiber der Handschrift dürften aber Traktate 2 und 3 als eine Einheit aufgefasst worden sein, da er das Weinbuch direkt in das Kochbuch übergehen lässt, und folgerichtig das auf Bl. 98r beginnende Arzneibuch als daz dritt püch bezeichnet. Entgangen ist Karin Schneider bei ihrer Analyse allerdings, dass dem Wein1

München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm. 415, Bl. 88r.

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buch des Burgundio von Pisa Exzerpte aus dem ‚Opus Agriculturae‘ von Palladius und einige Abschnitte unbekannter Provenienz hinzugefügt wurden.2 Das umfangreiche Arzneibuch auf Bl. 98r–278v ist ein Fragment, das lediglich Arzneimittel von A bis L behandelt. Wie im Fall des vorangehenden Kochbuchs kennen wir die lateinische Vorlage der Pharmakopöe nicht. Allerdings sind wir in der glücklichen Lage, die Arbeit des bayrischen Übersetzers von Jamboninus von Cremona, Burgundio von Pisa und Palladius durch Vergleich mit den lateinischen Quellen genau verfolgen zu können und es lassen sich dadurch, wie zu zeigen sein wird, wertvolle Rückschlüsse auf die Übersetzung des Kochbuchs auf Bl. 37v–98r ziehen.

2. Arabisches diätetisches Kochbuch (Bl. 1r–20v) In den letzten zehn Jahren war es besonders der erste Traktat in Cgm. 415, der das Interesse der Fachwelt erweckte. 2001 erschienen Anna Martellottis Studie und Edition der deutschen Version von Jamboninus’ ‚Liber de ferculis et condimentis‘ mit moderner italienischer Übersetzung (Martellotti 2001) und Enrico Carnevale Schiancas italienische Übersetzung des uns im Pariser Cod. 9328 fragmentarisch erhaltenen lateinischen Textes von Jamboninus (Carnevale Schianca 2001). Im Jahr danach folgte seine Edition des Pariser Fragments (Carnevale Schianca 2002). Der arabische Urtext der Rezeptsammlung ist eine Pharmakopöe, die im 11. Jahrhundert vom Bagdader Arzt Ibn Ğazla unter dem Titel ‚Minhāğ al-bayān‘ kompiliert wurde.3 Im 13. Jahrhundert exzerpierte ein gewisser Jamboninus von Cremona in Venedig die „Kochrezepte“, übersetzte sie ins Lateinische, wobei er die arabischen Gerichtsnamen beibehielt, und nannte das Werk ‚Liber de ferculis et condimentis‘.4 Es würde den Rahmen dieser Studie sprengen, auf die Arbeit des lateinischen Übersetzers von Ibn Ğazlas Werk einzugehen und so sollen 2

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Für die zum Vergleich herangezogene lateinische Palladiusversion, siehe Rodgers 1975. Insgesamt 15 Abschnitte in Cgm. 415, Bl. 32r–35r, entstammen Palladius: 1–2 November: Lib. 12, XII (Rodgers 1975: 228); 3 November: Lib. 12, VIIII (Rodgers 1975: 227); 13, 4–10, 15, 11, 12, 14 Oktober: Lib. 11, XIIII (Rodgers 1975: 206–211). 7 Abschnitte unbekannter Herkunft befinden sich in der Burgundioübersetzung auf Bl. 30v–31v, und 6 Weinrezepte unbekannter Herkunft auf Bl. 35r– 37r, direkt an die Palladiusexzerpte anschließend. Pieter de Koning übersetzte Ibn Ğazlas arabische Pharmakopöe ins Französische. Sein unveröffentlichtes Manuskript mit dem Titel ‚Minhādj al-bayān traitant de ce qui est pris par l’homme‘ wird heute als Ms. n. 2594c in der Rijksuniversiteit Bibliotheek in Leiden aufbewahrt, siehe Martellotti (2001: 28). Bei dem lateinischen Übersetzer handelt es sich möglicherweise um Magister Zambonino da Gaza de Cremona, der an der Universität Paris studierte, 1262 in Padua urkundlich belegt ist und auch Verfasser eines Gesundheitsregimens sein soll, siehe Adamson (2006: 357ff). Das diätetische Kochbuch umfasste Jamboninus’ Angaben zufolge 83 Rezepte, von denen 50 in der Pariser Pergamenthandschrift erhalten sind und 82 in Cgm. 415.

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hier nur kurz die Hauptstrategien des bayrischen Übersetzers des ‚Liber de ferculis‘ aufgezeigt werden, wie sie von Anna Martellotti erarbeitet wurden.5 Zunächst ist zu bemerken, dass der deutsche Übersetzer die latinisierten arabischen Gerichtsnamen übernimmt. Was die Titel der Kochrezepte allgemein betrifft, so ist eine Reihe von Variationen zu beobachten: Jamboninus’ Titel wird völlig beibehalten; ganz oder teilweise ins Deutsche übersetzt; dem Titel wird eine deutsche Übersetzung beigefügt; die ersten Worte nach dem Titel erscheinen auf Latein und danach auf Deutsch; oder zwei deutsche Versionen folgen Jamboninus’ Lemma. Wenn ein Terminus der lateinischen Version zum ersten Mal im Text erscheint, wird ihm entweder ein deutsches Synonym oder eine längere Erklärung beigegeben. Auf Grund der diversen Lücken im deutschen Text, die wohl erst später mit den entsprechenden deutschen Termini aufgefüllt werden sollten, vermutet Martellotti, dass es sich um die Originalübersetzung handelt und nicht um eine Abschrift. In dieselbe Richtung deuten das Ausstreichen, Korrigieren und nachfolgende Präzisieren von Ausdrücken. Auch scheint sich ihrer Ansicht nach die Qualität der Übersetzung bei wiederholtem Vorkommen einer schwierigen Textstelle zu verbessern. Martellotti identifiziert weiters einige Stellen, an denen der Übersetzer offensichtlich zerstreut war und das falsche Wort benutzte, was bei Ausdrücken wie „warm“ oder „kalt“ wohl nicht an der Schwierigkeit des Vokabulars lag. Da es sich beim ‚Liber de ferculis et condimentis‘ um ein diätetisches Kochbuch handelt, das einer Pharmakopöe entstammt, ist der Anteil medizinischer Indikationen ziemlich hoch. Der bayrische Übersetzer erweise sich, so Martellotti, äußerst versiert in Medizin und Botanik und dürfte ein gutes zweisprachiges Wörterverzeichnis zur Verfügung gehabt haben. Unsicherheiten seien bei Mengenangaben und Ausdrücken aus der Küchenpraxis festzustellen. Nichtsdestoweniger versuche er, für exotische und in Bayern nicht erhältliche Ingredienzien Alternativen aufzulisten, so etwa als Ersatz für Pistazien Pinienkerne, die, so fügt er hinzu, in der Apotheke erhältlich seien (Rezept 62). Ab Rezept 67 vermeint Martellotti eine etwas primitivere Übersetzungstechnik und eine Reihe von Übersetzungsfehlern zu beobachten und sieht darin die mögliche Intervention eines anderen Übersetzers.

3. Weinbuch (Bl. 20v–37v) Da es sich beim nachfolgenden Weinbuch nicht wie beim ersten Traktat um ein diätetisches Kochbuch mit latinisierten arabischen Lemmata handelt, sondern zum Großteil um praktische Hinweise zu Herstellung, Lagerung, Kauf und Verwendung von Wein, sind die Anforderungen an den bayrischen Übersetzer anderer Art.6 In der lateinischen 5 6

Das Folgende ist eine kurze Zusammenfassung von Martellotti (2001: 59–63). Zu den lateinischen Handschriften von Burgundios ‚De vindemiis‘ siehe Giese (2003: 196–234, bes. S. 195–205). Nach Giese handelt es sich bei der Version in Cgm. 415 um die einzige deutsche

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Weinbauterminologie erweist er sich als relativ firm und dürfte auch mit der Winzerei vertraut gewesen sein. Anstatt Lemmata finden sich bei Burgundio Kapitelüberschriften.7 Wie im ersten Traktat von Cgm. 415 zeigt der Übersetzer von Burgundios Weinbuch eine Vorliebe, dem Leser zwei Alternativen anzubieten, und zwar nicht nur bei Substantiven, sondern auch vermehrt bei Adjektiven und Verben.8 Und ebenso finden sich in der deutschen Version von Burgundios Text unzählige erklärende Zusätze, die von der Wiederholung des Bezugwortes anstatt eines Personalpronomens bis zu längeren Satzteilen reichen können.9 Vereinzelt kommt ein lateinisches Wort im deutschen Text vor, wie etwa melliloti (Bl. 29r) und in einem Fall wird der deutschen Übersetzung das komplette lateinische Zitat nachgereicht: Frewtt ewch vnd sêecht wie suezz christ der herr ist Gaudete et videte quantum Christus suauis est dominus (Bl. 29v). Die bayrische Übersetzung von De vindemiis enthält auch Lücken für Wörter, die wohl erst später eingefügt werden sollten (Bl. 29r). Was Ausstreichungen und Korrekturen betrifft, so ist das erste Beispiel dafür gleich im Titel enthalten, in dem die lateinische Fassung Liber de vindemiis a Domino Burgundino Pisano de graeco in latinum fideliter translatus als Hie hebt sich an daz puech von dem weinlesen daz do [Maister Burgundio von peys wurde ausgestrichen] von Hern brugundo peyser von kriechissch zu latein

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Übersetzung, ibid., S. 202. Die zum Vergleich herangezogene lateinische Version ist die Edition von Florenz, Biblioteca Laurenziana, Cod. Ashburnham 1011 in Buonamici (1908: 1–29). Benutzt wurde die Digitalversion: Thomas Gloning, XI/2002, http://www.uni-giessen.de/gloning/tx/lvashb.htm (Stand 06.01.12). Bei Kapitel 12 ist Burgundios Titel in den deutschen Text integriert; zwischen Kapitel 19 und 20 wurde der Titel von Kapitel 20 später nachgetragen; und bei Kapitel 22 und 23 ist die Schnittstelle nicht identisch mit der Burgundios und sein Titel von Kapitel 23 ist später in den Text integriert. Burgundios Kapitel 28 erscheint im deutschen Text als drei separate Kapitel, wobei das zweite mit den Worten Aber ain anders von demselben (Bl. 29r) beginnt und dem dritten Ain ander erczney tzu Weyn (Bl. 29v) als Titel beigefügt wurde. Bei Kapitel 31 wird im deutschen Text Burgundios Titel wiederholt, worauf Burgundio dann als Quelle abbricht und erst wieder auf Bl. 31v–32r mit Exzerpten aus Kapitel 31 und 33 erscheint. Beispiele für Substantive: spuma (S. 7b) – gest oder schuem (Bl. 22v), coronam (S. 8b) – ain chrenczeli oder ain raiff (Bl. 23v), doliorum (S. 10b) – der potigen oder vazz (Bl. 24v), stellarum (S. 11b) – planeten oder stern (Bl. 25r); Adjektive: acerbus (S. 4b) – sawrling oder herling (Bl. 21r), bzw. acerbas (S. 6b) – sawrr vnd herb (Bl. 22r), austerum (S. 15b) – herben vnd scharffen (Bl. 27r), austerum (S. 16b) – sawr vnd herb (Bl. 28r), clarum (S. 18b) – schon vnd clar (Bl. 28v), optime (S. 18b) – rechts vnd allerpezst (Bl. 28v); Verben: appareat (S. 4b) – dunkch oder scheint (Bl. 20v), consumatur (S. 6b) – verzert vnd ingesotten (Bl. 22r), stilat (S. 8b) [eigentlich stillat] – rinnt vnd trewft (Bl. 23v), aperitur dolium (S. 11b) – ancepft oder auftüt (Bl. 25r), circumvenire (S. 12b) – laychen oder hintterchomen (Bl. 25v), provideri (S. 14b) – furschawen oder fürtrachten (Bl. 26v), serva (S. 19b) – merchen und behaltten (Bl. 29v). Beispiele für längere Erklärungen: syer flozzig daz ist daz der müst dester eer darawz geet (Bl. 21v), daz liech des monats daz ist wie alt der mond sey (Bl. 24v), an den tag daz chain dach darüber sey (Bl. 26r), spoyen daz ist ein mërswam (Bl. 26v), kriechisch häy [d.h. fenum grecum] ist ain sam (Bl. 27r), folij daz sint pleter (Bl. 29r), mit dem dawm oder mit aynem vinger ainem andern (Bl. 30r).

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trewleich gemacht ist (Bl. 20v) erscheint. Auch das von Martellotti im ersten Traktat beobachtete Präzisieren von Ausdrücken bei wiederholtem Auftreten findet sich in der deutschen Burgundio-Version wieder.10 Fehler sind einige in der deutschen Übersetzung enthalten, die wohl zum größten Teil auf Unachtsamkeit des Übersetzers, bisweilen vielleicht auch auf die des Schreibers zurückzuführen sind. So wird das a gustu (Buonamici 1908:3b) bei Burgundio im deutschen Text zu des augusts (Bl. 20v) und falsificetur (Buonamici 1908:12b) zu versalczen (Bl. 25v).11 Beträchtliche Schwierigkeiten hat der bayrische Übersetzer mit den Winden.12 Und wie im ersten Traktat hat der Übersetzer einige Mühe mit Maßen und Gewichten. Während das Flüssigkeitsmaß metreta als bütschen oder buttschen im deutschen Text erscheint (Bl. 22v, 23v), wird die Maßeinheit cotilla als cotill (Bl. 22v, 23v) angeführt und sogleich in vnczen umgerechnet. Dies ist umso bemerkenswerter als für das lateinische uncia in der deutschen Fassung durchgehend dragma (Bl. 29r–v, et passim) benutzt wird. Da es sich bei Burgundios Traktat um einen Winzereitext und nicht um medizinisch-diätetische Kochrezepte handelt, lässt sich nur schwer eruieren, welche Kompetenz der Übersetzer auf dem Gebiet der Kochkunst besaß. Zur Illustration der Übersetzungstechnik soll hier folgendes Kapitel der lateinischen Fassung der bayrischen Version gegenübergestellt werden: De confectione quae facit vinum durabile. Confectio que facit mirabilis vina permanentia que vocatur panaria. Recipe aloes, incensi, amomi, ana uncias ij, melliloti uncias iiij, spice nardi uncias ii, folii uncias iiij, mirre uncias ij, cassie uncias j. Haec omnia in panno ligata mitte in unoquoque dolio coclear unum. Et postquam ibi vinum fuerit immissum et iam expurgatum, postea a panno dissolve et in vino pulverem dimitte. Et postea per iij dies radicem cammi move. (Buonamici 1908: 19b) Ain erczney czu beleibleichen weynn vnd wërhaftigen Ain wunderleich erczney die den wein beleiblich macht Ist gehaizzen panaria Nym aloe dragmas ij vnd wezz weyroch dragmas ij vnd amomi auch ij dragmas vnd melliloti daz haïzt man peynsang oder [Lücke] iiij dragmas vnd Spicanardi daz ist wolgesmachkcher speyg ij dragmas und folij daz sint pleter iiij dragmas vnd mirren ij dragmas daz allez in ain tuech gepuntten laz ez in ain yegleich vazz vnd wenn sich der wein darin gelazzt vnd yecz auzgeraynigt 10

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Beispiele: labia (S. 7b) – lebsen (Bl. 22v), labia (S. 8b) – sponnt oder lebsen (Bl. 23v), labia (S. 11b) – lebsen (Bl. 25r) [siehe auch: os teste (S. 14b) – spontt oben an dem vazz (Bl. 26v)]; conopes (S. 8b) – mukchen (Bl. 23r); conopes (S. 20b) – fleugen oder die wein mükchen (Bl. 30r). Ob eine übersprungene Zeile, die die Zutaten spice nardi, mellioti [sic], xilobalis, squinanti, costi spice celtice (S. 19b) zu spice und celtice (Bl. 29v) verkürzte, auf die Kosten des Übersetzers oder einer verderbten Vorlage geht, muss dahingestellt bleiben. Burgundios Satz Oportet autum [sic] vina transvasare in borealibus ventis et nequaquam in australibus (S. 10b) erscheint in der deutschen Version als Man muez den wein überczihen in den burischen wintten daz ist wenn der bür oder der pör gëtt oder wächt vnd nymmer nicht in dem östen daz ist in dem wind der do von mitten tag geet oder In aynem krenchen (Bl. 24v). Im Kapitel 13 übersetzt er allderdings den Nordwind aquilo mit mittentag (Bl. 24r).

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aber du scholst in ain yegleich vazz des benannten puluers ainen leefell uoll tun vnd darnach awz dem tüch tün vnd in den wein schutten vnd darnach vber dreytag (Cgm. 415, Bl. 29r)

Zu den sieben eingeschobenen Kapiteln über die richtige Behandlung von Weinfässern und von verdorbenem Wein ist zu bemerken, dass der deutsche Text sich flüssiger liest, und dass Ausdrücke wie snër (Bl. 30v) und taig scherr (Bl. 31r) nur hier gebraucht werden, was darauf hindeuten könnte, dass er bereits auf Deutsch vorlag und möglicherweise der bayrischen Weinbautechnik entstammte. Bei den Auszügen aus Palladius’ ‚Opus Agriculturae‘ fehlen bis auf eine Ausnahme Kapitelüberschriften.13 Stattdessen findet sich bei circa der Hälfte der Kapitel, normalerweise am Ende, ein Quellenverweis, bisweilen sogar mit der deutschen Übersetzung des entsprechenden Palladiuskapitels.14 Bei P 4 in Cgm 415 erscheint der Quellenverweis am Anfang als Paladius in dem Capittel von dem akkcherwerkch Spricht von dem gemächt do die kriechen oder ander lewtt irr weine mit machen (Bl. 33r). Dies entspricht dem Titel von Lib. 11, XIIII. Quae Graeci uel alii super uina condienda curandaque dixerunt, dem die folgenden 12 Abschnitte des deutschen Texts entstammen. 15 Analog zu den Jamboninus- und Burgundioübersetzungen werden für lateinische Substantive, Adjektive und Verben wiederholt zwei deutsche Alternativen geboten.16 Wie in der Burgundioübersetzung wird fenum grecum als kryechichs hay (Bl. 27r, P 8 Bl. 33v) verdeutscht und faex, im Burgundiotext in der Kurzform hepfen (Bl. 25r) erscheint hier als weinhepfen (P 5 Bl. 33r). Glycyridiae bei Palladius (Rodgers 1975:207) wird in Cgm. 415 als lakchericz (P 5 Bl. 33r) übersetzt. Wenig später findet sich die verderbte Form tygliaridie (P 9 Bl. 34r) für glycyridiae im deutschen Text und danach, wie zu erwarten, eine Lücke. Für amfora (Rodgers 1975:208) bietet der bayrische Übersetzer die zwei Alternativen bokal oder krueg (P 8 Bl. 33v). Es ist nicht ganz klar, was bei Palladius mit anniculum (Rodgers 1975:208) gemeint ist, vielleicht einjähriger 13 14

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Cgm. 415, Von demselben (Bl. 33v). Die Palladiusexzerpte werden im Folgenden mit P und Kapitelnummer in Cgm. 415 gekennzeichnet. P 2 (Bl. 32v) endet mit Spricht paladius von der akcherung in seinem capittel daz man die weinper beheltt vncz in den lencz an dem weinstokch, was Palladius, Lib. 12, XII. Vt uua ad uer reseruetur in uite entspricht (Rodgers 1975: 228). P 3 (Bl. 32v–33r) endet mit Spricht Paladius in dem Capittel von den weinreben die do an frucht plüen, was Palladius, Lib 12, VIIII. Remedium uitibus quae sine fruge luxuriant entspricht (Rodgers 1975: 227). Rodgers (1975: 206–211). Auf denselben Palladiustitel bezieht sich P 13 (Bl. 34v) Spricht paladius in dem capittel Que greci daz ist daz die kryechen auf daz wein gemächd gesprochen habent. Weitere Quellenangaben finden sich in P 8 (Bl. 33v–34r) Vnd daz wil auch paladius in dem ërsten capittel von des ackers übung oder von dem ackerwerkch; P 12 (Bl. 34v) Paladius von dem akcherwerg Spricht in dem capittel daz die kriechen oder ander ratt; und P 15 (Bl. 35r) paladius Spricht als uor. calamos (Rodgers 1975: 228) – stäbel oder rör (P 1 Bl. 32r); uini (Rodgers 1975: 207) – den wein oder den most (P 4 Bl. 33r); effici (Rodgers 1975: 208) – an dem smag vnd der gestalt (P. 8 Bl. 33v); tenerum (Rodgers 1975: 209) – dünn und waich (P 15 Bl. 35r); usibus ministrare (Rodgers 1975: 207) – tzehalten und nutczen (P 4 Bl. 33r).

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Wein. Jedenfalls macht der bayrische Übersetzer daraus einen Anichel wein (P 9 Bl. 34r). Ebenfalls unübersetzt bleibt aloes epatites (Rodgers 1975:208) in der Form aloe epatice in Cgm. 415 (P 9 Bl. 34r). Wie bei den vorangehenden Übersetzungen enthält auch die deutsche Palladiusversion diverse Zusätze und Erklärungen. Als Beispiele seien hier genannt lacedemonij daz sint lewt desselben lands (P 4 Bl. 33r); und pistacia xx chorner wazz pistacia sey vindst du in seinem capittel (P 11 Bl. 34r). Dass Pistazien im Bayern des 15. Jahrhunderts zur Rarität gehörten, wurde schon bei der Jamboninusübersetzung klar, in der Pinienkerne aus der Apotheke als Ersatz genannt werden. Der Querverweis in der Palladiusübersetzung, vermutlich auf das Arzneibuch in Cgm. 415, stellt eine direkte Verbindung zum Kochbuch auf Bl. 37v–98r her, in dem sich mehrere solcher Hinweise finden. Was die Maße und Gewichte betrifft, so sind Übereinstimmungen mit den deutschen Termini im Burgundiotext festzustellen: eine Gleichsetzung von uncia mit dragma (P 9 Bl. 34r), die Übersetzung von metreta als bütschen (P 14 Bl. 34v) und die Umrechnung von cotilla, zwar nicht in vnczen sondern dragma, als cotulas ij daz ist xviij dragma (P 15 Bl. 35r). Bei zwei Maßen, die Burgundio nicht erwähnt, hat der bayrische Übersetzer einige Schwierigkeiten: für ain mazz ist gehaizzen Syrcanica (P 7 Bl. 33v) steht bei Palladius unam floris mensuram, quam Syri choenicam uocant (Rodgers 1975: 207). Das Hohlmaß in sex uini sextarios (Rodgers 1975: 209) wird im deutschen Text in ain pfunt und iij uncz weins (P 11 Bl. 34r) konvertiert. Im folgenden Kapitel (Bl. 34v) vermeidet der Übersetzer allerdings dann gänzlich eine Mengenangabe für sextarius. Die Übersetzungstechnik in den Palladiusexzerpten stimmt im Wesentlichen mit der in der Jamboninus- und Burgundioübersetzung überein und deutet auf ein und denselben Übersetzer. Bei den sechs Rezepten, die dem Titel Von den weinn und iren Künsten oder gëmachten folgen, dürfte es sich ebenfalls um eine Übersetzung einer lateinischen Quelle handeln, die allerdings vermutlich jüngeren Datums war als Palladius, da zu den Ingredienzien auch Mandelmilch zählt (Bl. 35r).

4. Kochbuch (Bl. 37v–98r) Das an das Weinbuch nahtlos anschließende Kochbuch ist eine Kompilation von italienischen, lateinischen, griechischen und arabischen Diätetik- und Kochrezepten für Speisen verschiedenster Art, aber auch für Soßen und Würzen sowie Gewürzweine und Rosenwasser, wobei auch praktische Tipps zur Rettung von versalzenen oder verrauchten Speisen nicht fehlen. Nach Carol Lambert (Lambert 1992: 343) enthält das Kochbuch 191 Rezepte und zählt daher zu den umfangreichsten spätmittelalterlichen Kochrezeptsammlungen im süddeutschen Raum.17 Wie beim ‚Liber de ferculis‘ dürfte 17

Die Zahl der Rezepte liegt jedoch noch höher, da die einzelnen Abschnitte in der Handschrift oft mehr als ein Rezept enthalten.

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der Übersetzer dem Schreiber die deutsche Fassung angesagt haben, die dieser dann in deutscher Orthographie zu Papier brachte. So erscheint vertjus, das französische Wort für agrest, den Saft von unreifen Früchten, als uertzu (Bl. 60r). Die vom bayrischen Übersetzer benutzte Quelle war allem Anschein nach auf Latein, das heißt, dass nicht nur die arabischen und griechischen, sondern auch die italienischen Rezepte ins Lateinische übersetzt waren, was aus Rezeptnamen wie Gamina fredam (Bl. 42r), paparoti veronenses (Bl. 79r–v), und ryfioli quadragesimales (Bl. 82r–v) deutlich wird. Neben einem Armenischen Braten (Bl. 47r) und besagtem uertzu der Franzosen werden im Kochbuch in ingesamt neun Rezepten italienische Städte genannt: Venedig in 5 Rezepten (Bl. 46r, 49r, 72r, 87r, 89r), Verona in 2 Rezepten (Bl. 40r, 79r), Padua einmal (Bl. 45r) und Parma einmal (Bl. 82v). Mit Ausnahme des international berühmten Parma Kuchens entstammen somit alle genannten Speisen dem Veneto. Es ist daher anzunehmen, dass das Kochbuch im Veneto kompiliert wurde, zumal auch Jamboninus seinen ‚Liber de ferculis et condimentis‘ dort anfertigte. Wiederholt wird bei Gerichten auch auf den sozialen Status der Konsumenten eingegangen, bei denen es sich zum Großteil um die „Mächtigen, Reichen und Edlen“ handelt.18 Einmal werden auch Geistliche erwähnt (Bl. 45v). Für die Reichen wird mit Zucker gesüßt, für die Armen mit Honig. Ein Rezept (Bl. 50r) listet sogar ein regelrechtes quid pro quo für eine Reihe von Kräutern und Gewürzen entsprechend dem gesellschaftlichen Status. Im Gegensatz zum Liber de ferculis und dem Weinbuch tritt im vorliegenden Kochbuch die Persönlichkeit des Übersetzers wiederholt in den Vordergrund. Fünfmal benutzt er das Personalpronomen wir, zweimal um sein medizinisches Wissen zu zeigen (Bl. 55r, 77v), zweimal um den deutschen Namen eines Gerichtes anzugeben (fol. 81v, 92v) und einmal um auf ein vorangehendes Rezept zu verweisen (Bl. 57r). Die IchForm findet sich im Zitat mich dunkcht ez sein knöllell (Bl. 87v) und in einem Ratschlag, die medizinische Wirkung von Weißwein betreffend (Bl. 56v). Diese Stellen bestätigen einerseits, was Martellotti bereits für den Liber de ferculis beobachtete, nämlich dass wir es mit einem medizinisch versierten Übersetzer zu tun haben, und andererseits, dass er seinem Publikum südländische Gerichte mit deutschen Entsprechungen näherbringen will. Für italienische Gerichtsnamen verwendet er gerne die Bezeichnungen vngelert (Bl. 42r, 74r, 79r) oder wälisch (Bl. 71v et passim). Im Allgemeinen ist er bemüht, wenn irgend möglich deutsche Lemmata für Gerichte zu benutzen, was ihm bei nahezu drei Viertel der Rezepte gelingt. Bei arabischen, lateinischen, griechischen oder italienischen Lemmata fügt er entweder eine Erklärung des Wortes oder eine Kurzbeschreibung des Gerichtes auf Grund des Rezepts hinzu. Beispiele für die Variationen bei der Präsentation der Rezepttitel, wie Martellotti sie für den Liber de ferculis beschreibt, lassen sich auch für das zweite Kochbuch finden, allein die lateinische Phrase fit sicut scheint in letzterem nicht mehr auf (Vgl. Martellotti 2001: 180 [Rezept 1], 184 [Rezept 7]). 18

Siehe Rezepte auf Bl. 49r, 49r–v, 50r, 59r, 63r, 66r, 89r.

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Erklärungen beschränken sich nicht nur auf Gerichtsnamen, sondern werden auch Ingredienzien, Kochvorgängen, Kochgeschirr, Maßen und Gewichten und medizinischen Ausdrücken beigegeben. Oximell wird nur einmal erklärt (Bl. 40v) und danach als bekannt vorausgesetzt, während muri immer mit einer Erklärung versehen wird (Bl. 46r, 57v, 61v, 90v).19 Bei den Zutaten sind es vor allem Pflanzen, die der Übersetzer zu erklären sucht: frawenmyntz als kriechichs myntz (Bl. 43v), Spice nardi als wolgesmakch speig (Bl. 48v), costum als hunds myntz (Bl. 50r) oder serpillum als quendel (Bl. 53r).20 Einige Verwirrung ist bei der Pflanze sisimbrium zu beobachten, die mit myntzen (Bl. 57v, 67r, 69r) oder mit gartpoley (Bl. 71r) erklärt wird, dann aber auch neben Minze und/oder Polei als separate Zutat gelistet wird (Bl. 74r, 95r, 96v). Bei den Küchenausdrücken sind als erklärungsbedürftig rosenhütt beziehungsweise lembukch zum Brennen von Rosenwasser zu nennen (Bl. 48v), das Verb destillieren, das in der Form distillirst (Bl. 49r) erscheint, und magdaleones (Bl. 59v), die als küegell bezeichnet werden. Bei den Maßen und Gewichten wird scroffel in der Entsprechung czwainczig gerst chorner (Bl. 53v) gebraucht, und auf dem Gebiet der Medizin laxatiuum als daz do waicht den pauch (Bl. 49r) erklärt.21 Vom Liber de ferculis über das Weinbuch zum danach folgenden Kochbuch ist ein verstärkter Gebrauch von Alternativübersetzungen diverser Substantive, Verben und Adjektive festzustellen, von denen uns heute die meisten als redundant erscheinen, so etwa die unzähligen Variationen von Küchengefäßen wie tygel oder lauetsch (Bl. 38v), schuezzel oder geuäezzs (Bl. 45v), pfann oder reyndel (Bl. 46v), hefen oder lauetsch (Bl. 47v), lauetsch oder kezzel (Bl. 49r), hafen oder vazz (Bl. 49r), pfannen oder hefen (Bl. 65r), geväzz oder pfannen (Bl. 66r), pfann oder reyndel oder geuaezz (Bl. 67v), pfann oder lauetschs (Bl. 72r), tigell oder pfannen (Bl. 89v), lauetsch oder pfann (Bl. 89v), lauetschen oder geväezz (Bl. 89v), tygell oder geväezz (Bl. 91r).22 Dies deutet auf einen undisziplinierten Übersetzer oder einen, der zunehmend unter Zeitdruck stand und dem Schreiber wahllos verschiedene Varianten diktierte, ohne sich auf die beste festzulegen und damit wertvolles Papier zu sparen. Auf hastiges Arbeiten deuten auch die Stellen, an denen der Übersetzer alle Adjektive nach dem Substantiv oder zwei 19

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21 22

Weitere Beispiele: farnellen werden mit vritti gleichgesetzt und beide auch mit thry (Bl. 68r); dyacitoniton (Bl. 55v), dyacyminum (Bl. 58r) und dyapenidion (Bl. 59r) werden als Konfektarten beschrieben; batuten als turten (Bl. 63v); salcicium als slaufpratt oder lunaga (Bl. 69r); soffrid als prot (Bl. 74r); Sope deaurate als übergultes prod (Bl. 79r); iunctatum als gerenntt milch (Bl. 93r); und arthonuciata als turtt von nüssen oder nuciata (Bl. 93v). Sapor wird entweder als gemächt (Bl. 55r) oder beigüzz (Bl. 91v) bezeichnet. Weitere Beispiele: carpobalsam als sam von dem balsam pawm (Bl. 58v), laktuchen als latech (Bl. 61r), mirtel als samen mirtella (Bl. 65v–66r), nygella als cardamomi sam (Bl. 67r), spinacz als haidnisch chol (Bl. 86v) und tabartzet als güets weizzen tzukcherpuluers (Bl. 65v). Nicht erklärungswürdig erscheinen dem Übersetzer die Begriffe semperigola und pelosettam (Bl. 43r), sumac (Bl. 44r et passim), stupp von trayee (Bl. 46v) und parichern (Bl. 48v). Variationen finden sich auch für Deckel, Löffel, Kreis, Suppe, Soße, Gewürzpulver, frisch, bereiten, waschen und dergleichen mehr.

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Adjektive vor ein Substantiv setzt und ein oder zwei danach, wie zum Beispiel von schonem rainem prot chlainem (Bl. 82r), in klaine stukchell rohe (Bl. 82v), bei ainem sanften fewr oder gemachsamen (Bl. 93r) oder rote vasoln vngerunpfenew oder vndurchlöchrecht (Bl. 97v). Bisweilen kann so eine Übersetzungstechnik, bei der ein Satz oder Rezept nicht zuvor zu Ende gelesen wird, fatale Folgen haben, wie das bei den paparoti veronenses (Bl. 79r–80r) der Fall ist, die zuerst als Nudeln bezeichnet und erst später als Knödel erkannt werden, was ein Ausstreichen des Titels und die Korrektur von als nudeln zu knöllen erforderlich macht. Beim Gericht boconcini (Bl. 87v–88r) sind dem Übersetzer offensichtlich die paparoti veronenses noch im Gedächtnis und er nähert sich dem boconcini-Rezept weitaus vorsichtiger. Anstatt sich im Titel bereits auf Nudeln oder Knödel festzulegen, bemerkt er gegen Ende mich dunkcht ez sein knöllell und ein wenig später: Etleich machen daz selbew eßen noch peßer wann sï machen daz eßen als man dï paporotten macht (Bl. 88r). Lücken sind im umfangreichen Kochbuch neben dem boconcini-Rezept noch in sechs weiteren Rezepten zu finden (Bl. 43r, 51r, 88r, 88v, 89r, 91v, 92v). Dass sich der Übersetzer stets aller vorangehenden Traktate und auch des nachfolgenden Arzneibuchs bewußt ist, wird aus den diversen Querverweisen in den Rezepten deutlich. In einem Hirserezept (Bl. 63r) verweist er auf die Zubereitung von mehelebia und rochamia, die als Rezept 39 und 49 im Liber de ferculis erscheinen (Martellotti 2001: 206, 212). Der Verweis daz vintt man gantz in der slächten erczney in dem capittel von dem A rosen wasser (Bl. 48v) bezieht sich in der Tat auf den Abschnitt aqua daz rosenwasser (Bl. 100r) in der nachfolgenden Pharmakopöe mit dem Titel Hie hebt sich an daz püch von den slechten tugenden der ding oder von der slechten ercnei (Bl. 98r), auf die im Kochbuch noch ein zweites Mal, im Zusammenhang mit einem iuniperorum condimentum (Bl. 82v), Bezug genommen wird. Medizinisch-diätetische Information ist in circa einem Drittel der Rezepte enthalten, in denen sich auch wiederholt Verweise auf medizinische Autoren und Werke finden. Acht Rezepte nennen Serapion als Quelle (Bl. 84r–v, 85v–86v), vermutlich den Liber aggregatus in medicinis simplicibus von Pseudo-Serapion, der im Spätmittelalter gern von Apothekern benutzt wurde (Ineichen 1962, Dilg 1999). Fünf Rezepte verweisen auf Almansor (Bl. 43v, 44r, 50v, 64v, 94r), womit Rhazes’ Regimen Liber de medicina ad Almansorem gemeint ist, drei auf Avicennas Canon medicinae (Bl. 52r, 83v, 92v), im speziellen die Bücher II und IV, drei auf Ysaac (Bl. 81r–v, 92v), das heißt Isaac Judaeus, den Autor des Liber dietarum universalium et particularium, und drei weitere auf ein nicht näher identifiziertes puch anthidotario (Bl. 64v, 92v), das Einträge über cibus, potus und tratea enthalten soll. Jeweils einmal wird auf Ypocras (Bl. 92v), Constantinus (Bl. 48r) und einen Meister Tacui (Bl. 92v) Bezug genommen, womit möglicherweise Ibn Butlans ‚Tacuinum sanitatis‘ gemeint ist. Wie zuvor im Weinbuch wird ein längeres lateinisches Zitat mit deutscher Übersetzung in den Text integriert. In diesem Fall ist es ein Vers aus dem ‚Regimen sanitatis Salernitanum‘ im Rezept für ain

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grün Sals pictamensium (Bl. 53r–v).23 Im Großen und Ganzen ist der bayrische Übersetzer vertraut mit den Grundsätzen der Humorallehre und Diätetik samt einschlägiger Literatur und dem entsprechenden medizinischen und pharmazeutischen Vokabular. Bei der Küchensprache zeigt der Übersetzer weiterhin Unsicherheiten, wie der Titel meines Beitrages und die unzähligen Alternativtermini für Kochgeschirr und Küchenutensilien beweisen. Copum, einen Standardausdruck in lateinischen Kochbüchern, übersetzt er zunächst als schober oder hauf und erst danach, vielleicht auf Grund der Lektüre des Rezepts, fügt er hinzu vnd spricht alsuil als ain turtt (Bl. 67r). Auch ein Terminus wie Bauchfleisch ist ihm zunächst nicht geläufig und er erklärt etwas umständlich des pawchs vntten an dem waichen von ainem frischen swein, bevor er zum Ausdruck pauchflaisch übergeht (Bl. 38r–v). Was die Maße und Gewichte betrifft, so werden pfunt, vntz und dragma im Kochbuch am meisten gebraucht. Neben scroffel (Bl. 53v) wird mina mit der Entsprechung tzway pfunt (Bl. 86v) erwähnt.24 Da uns das lateinische Original des Kochbuchs nicht bekannt ist, können die meisten der Termini nicht auf ihre Richtigkeit überprüft werden, lediglich für mina gibt Diefenbach (1857: 361c) als Bedeutung pfundt und nicht zwei Pfund. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Strategien des bayrischen Übersetzers im ‚Liber de ferculis et condimentis‘, Burgundios ‚De vindemiis‘, Palladius’ ‚Opus Agruculturae‘ und dem Kochbuch auf Bl. 37r–98r soweit übereinstimmen, dass wir es aller Wahrscheinlichkeit nach mit ein und demselben Übersetzer zu tun haben, der die deutsche Version einem Schreiber diktierte.25 Bei den von dessen Hand geschriebenen Traktaten in Cgm. 415 handelt es sich allem Anschein nach um die Originalübersetzung eines in oder um Venedig kompilierten umfangreichen medizinisch-diätetischen Textkorpus. In der Medizin und Winzerei erweist sich der bayrische Übersetzer als wesentlich kompetenter als in der Kochkunst. Zwar durchläuft er im Zuge seiner Tätigkeit einen Lernprozess, allerdings scheint er auch immer mehr unter Zeitdruck zu stehen, was zu Schlampigkeitsfehlern in Syntax und Lexik und einem Überhandnehmen von Alternativausdrücken führt, wodurch die deutsche Übersetzung weit länger als notwendig ausfällt. Kein Wunder, dass dem Übersetzer die Zeit knapp wurde, hatte er doch nach dem Kochbuch noch eine riesige Pharmakopöe zu bewältigen, deren Einträge von A bis L allein schon 180 Blätter beziehungsweise 360 Seiten füllten. 23

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versus Saluia serpillum piper alea sal petrosillum Ex hiis fit salsa si non est sentencia falsa Saluay vnd quendell. pfeffer knoblauch salcz petertzymel darawz ain gütew sals wirt ob der spruch nicht falsch ist (Bl. 53v). In der Regola (1961) bilden die Verse Kapitel 22 und erscheinen in der Fassung Salvia, sal, vinum, piper, allia, petroselinum: Ex his fit salsa, nisi sit commixtio falsa. Daneben finden sich noch die Ausdrücke ain ür (Bl. 48r), wie im Weinbuch in der Bedeutung „eine Stunde“, ains pfennigis prait (Bl. 84v), ain hantuoll (Bl. 53r) und die relative Mengenangabe tail (tzu acht tailn weins schal man ain tail hönigs nemen, Bl. 50r). Auffallend ist im vorliegenden Kochbuch etwa die Häufung von Lücken zwischen Bl. 88r und 92v, was entweder auf einen verderbten Text, einen zerstreuten Übersetzer oder die Intervention eines zweiten, weniger versierten Übersetzers deuten könnte, wie Martellotti das etwa für das Ende des Liber de ferculis vermutet, siehe Martellotti (2001: 63).

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Quellen / Editionen München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm. 415. Friedl, Verena (2013): Daz pch von den chsten. Dynamische Edition des deutschen Jamboninus von Cremona nach Cgm. 415. Mit einem Glossar und Zutatenregister. Masterarbeit. Graz. Karl-Franzens-Universität. Martellotti, Anna (2001): Il Liber de ferculis di Giambonino da Cremona: La gastronomia araba in Occidente nella trattatistica dietetica. Fasano.

Literatur Adamson, Melitta Weiss (2006): Ibn Ğazla auf dem Weg nach Bayern. In: Andreas Speer & Lydia Wegener (Hrsg.): Wissen über Grenzen: Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter. (Miscellanea Mediaevalia 33). Berlin / New York, 357–376. Buonamici, Francesco (1908): Liber de vindemiis a Domino Burgundino Pisano de Graeco in Latinum fideliter translatus. In: Annali delle Università Toscane 28, memoria 3.1–29 + Tafel I–VI. Carnevale Schianca, Enrico (2001): Il Liber de ferculis et condimentis, un ricettario di cucina araba nella traduzione di Jambobino da Cremona. In: Appunti di gastronomia 35, 5–60. Carnevala Schianca, Enrico (2002): Ancora a proposito di Jambobino e del Liber de ferculis. In: Appunti de gastronomia 38, 11–38. Diefenbach, Lorenz (1857): Glossarium Latino-Germanicum mediae et infimae aetatis e codicibus manuscriptis et libris impressis. Frankfurt am Main. Dilg, Peter (1999): The „Liber aggregatus in medicinis simplicibus“ of Pseudo-Serapion: an influential work of medical Arabism in Islam and the Italian Renaissance. In: Charles Burnett & Anna Contadini (Hrsg.): Islam and the Italian Renaissance. (Warburg Institute Colloquia 5). London, 221–231. Giese, Martina (2003): Zur lateinischen Überlieferung von Burgundios Wein- und Gottfrieds Pelzbuch. In: Sudhoffs Archiv 87, 196–234. Ineichen, Gustav (1962): EL LIBRO AGREGÁ DE SERAPIOM. Teil I. Venedig / Rom. Lambert, Carol (1992): Du manuscrit à la table: Essais sur la Cuisine au Moyen Âge et Répertoire des Manuscrits Médiévaux Contenant des Recettes Culinaires. Paris / Montréal. Regola Sanitaria Salernitana: Regimen sanitatis Salernitanum (1961). Salerno. Rodgers, Robert H. (Hrsg.) (1975): PALLADII RVTILII TAVRI AEMILIANI VIRI INLVSTRIS: OPVS AGRICVLTVRAE, DE VETERINARIA MEDICINA, DE INSITIONE. Leipzig. Schneider, Karin (1973): Die deutschen Handschriften der Staatsbibliothek München: Cgm 351–500. Wiesbaden.

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Visiertraktate. Zwei Beispieltexte aus dem späten 14. und 15. Jahrhundert

1. Mathematische Vorüberlegungen Die Visierkunst beschäftigt sich mit der Volumenberechnung, insbesondere der von Fässern, und ist somit in den Bereich der praktischen Geometrie einzuordnen. Ab dem 15. und auch noch im 16. und 17. Jahrhundert gibt es in deutscher Sprache eine relativ große Anzahl von Visierbüchlein oder kürzeren Visiertraktaten, die Probleme der Fassausmessung behandeln.1 Ein Grund für das vermehrte Auftreten solcher Fachschriften ist der Bedarf des erstarkten Handels im Spätmittelalter; es wurden genaue Volumenbestimmungen notwendig, um Inhalte besteuern zu können. Deswegen beschäftigten größere Städte spätestens seit dem 14. Jahrhundert eigens Visierer, die mit einem Spezialmeßgerät, der Visierrute, Fässer eichen bzw. deren Inhalt kontrollieren konnten (vgl. Schneider 1986: 126). Neben Traktaten, die aus dem praktischen Gebrauch heraus entstanden, wurden in dieser Zeit zudem Visiertexte des universitären Unterrichts in die Volkssprache übertragen.2 Man unterscheidet zwei Typen von Visierruten, die seltener in Texten behandelte Kubikrute und die in allen Visiertraktaten vertretene Quadratrute, um die es auch in den im Folgenden zu besprechenden exemplarisch ausgewählten Texten gehen wird.3 Es handelt sich dabei um einen einfachen Stab, der zumeist aus Holz bestand, auf dem Skalen angebracht sind.4 1

2 3

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Eine ausführliche Zusammenstellung von etwa 60 bisher bekannten Handschriften oder Frühdrucken, die von der Visierkunst handeln, stellt Menso Folkerts erstmals 1974 zusammen. Diese Liste wurde von Folkerts 2008 überarbeitet und stark erweitert; sie enthält mindestens 50 handschriftliche und 44 gedruckte deutsche Zeugen. Menso Folkerts konnte belegen, dass die Visierkunst an Universitäten behandelt wurde und gleichzeitig ein Korpus von Visiertexten nachweisen (vgl. Folkerts 2008: 14–16). Da die Kubikrute in Veröffentlichungen erscheint, die in Österreich entstanden sind, nimmt Menso Folkerts an, dass dieser Rutentyp mutmaßlich auch dort entstanden sei. Näheres zu Kubikruten und deren Gebrauch vgl. Folkerts (2008: 30–31). Aufgrund der Vergänglichkeit des Materials sind nur wenige Ruten erhalten. Ivo Schneider weist insbesondere darauf hin, dass durch die Visiertexte selber angedeutet sei, „daß die Visierruten im-

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Mathematisch gesehen liegt einem Großteil der Traktate beim Messen mit der Quadratvisierrute folgendes Prinzip zu Grunde:5

Abb. 1

Ein Fass der Höhe hx mit der Bodentiefe tb und der Spundtiefe ts wird durch einen Zylinder derselben Höhe angenähert, dessen Durchmesser tx das arithmetische Mittel 1 2 (tb + ts) aus Boden- und Spundtiefe ist. Der durch diese Näherung gemachte Fehler, der in der Regel relativ gering ausfällt, wird stillschweigend ignoriert. Für das Fassvolumen vx mit dem angenäherten Radius rx ergibt sich: vx = π rx2hx.

Abb. 2

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mer wieder vielleicht gebrauchsabhängig neu hergestellt und geeicht wurden, also schon zu ihrer Verwendungszeit eine verhältnismäßig geringe Lebensdauer aufwiesen“ (Schneider 1986: 127). Ein seltenes Beispiel sind die Visierruten aus dem Mathematisch-Physikalischen Salon der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden; ihre Inventarnummer lautet B I 4. Eine differenzierte Untersuchung zu den verschiedenen in den Visiertraktaten verwendeten Verfahren steht noch aus (vgl. Folkerts 2008: 21).

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Das Volumen vx eines Zylinders kann man zu einem zylindrischen Einheitsmaß v ins Verhältnis setzen. vx : v = π rx2hx : π r2h. Wenn der Radius rx des Näherungszylinders das a-fache des Einheitsradius r und die Höhe hx das b-fache der Einheitshöhe h ist, dann ergibt sich für das zu bestimmende Volumen vx = a2bv; damit beträgt vx das a2bfache des Einheitsmaßes. Das heißt also, dass man zur Volumenbestimmung eines beliebigen Fasses nur a und b kennen muss. Mit anderen Worten: Man muss wissen, das Wievielfache Radius und Höhe des zu berechnenden Fasses verglichen mit dem zylindrischen Einheitsmaß sind, und dies kann man einfach ausmessen. Zu diesem Zweck sind auf einer Visierrute mindestens zwei Skalen aufgetragen. Auf der einen Skala finden sich Vielfache der Höhe des Einheitsmaßzylinders, auf der anderen Skala wären die Vielfachen des Radius der Fasstiefe zu berücksichtigen. Damit die Volumenberechnung nun möglichst einfach ist, sind auf der zweiten Skala jedoch nicht die Vielfachen des Radius des Einheitsvolumens, sondern dessen Quadratwurzeln 1 , 2 , 3 , … abgetragen und durch 1, 2, 3, … bezeichnet. Dadurch lässt sich das zu bestimmende Fassvolumen durch einfache Multiplikation der beiden abgelesenen Zahlen ermitteln. Noch einfacher im Gebrauch, aber dementsprechend komplizierter bei der Herstellung, sind die „Wechselruten“. Mit ihrer Hilfe kann auch noch die Multiplikation der Messwerte eingespart werden: Man misst die Fasstiefe und erhält eine Zahl, die angibt, zu welcher Skala man wechseln muss (daher der Name „Wechselrute“). Diese gewechselte Skala, die auch als Cambi bezeichnet wird, verwendet man zum Ausmessen der Fasshöhe; statt der Höhe selbst listet sie auf ihrer Skala direkt das Volumen.6 In den mittelalterlichen Visiertraktaten fehlen erwartungsgemäß die hier ausgeführten mathematischen Vorüberlegungen und Erläuterungen gänzlich, stattdessen erklären die Texte, wie man in der Praxis vorzugehen hat, um eine Rute zu bauen oder sie zu benutzen.

2. Untersuchungsmethode Die im Folgenden vorgestellten kurzen Visiertraktate werden als kommunikative Handlung in Schriftform eines ausgesuchten thematisch bestimmten Segments der Fachsprache verstanden. Der Text wird dabei als Produkt eines Produzenten gesehen, dessen Intentionen und Vermittlungsstrategien sichtbar werden. Ebenso ist ein Rezipient mit seinen Erwartungen und möglichen Reaktionen mitzudenken. Mit diesem Analysemodell, das vor allem auch textexternen Faktoren Rechnung trägt, folge ich Barbara

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Eine solche Rute wird auch als virga scripta bezeichnet, während man eine Quadratrute mit einfachen Skalen virga plana nennt. Die lateinischen Bezeichnungen werden in universitären Schriften verwendet und stammen aus der in mindestens 10 Handschriften tradierten „Collectione ad virgam planam et scriptam pro capacitate vasorum inquirenda construendas et usu earum“ (vgl. Folkerts 2008: 16).

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Schmidt-Thieme (ehemals Gärtner), die mit diesem methodischen Ansatz Rechenbücher der Frühen Neuzeit als Textsorte untersucht hat (vgl. Gärtner 2000: 71f.).7

2.1 Beispieltext 1: Anleitung zum Bau einer Visierrute von Ulman Stromer Der älteste bisher bekannte deutschsprachige Text über die Konstruktion einer Visierrute stammt von dem Nürnberger Patrizier Ulman Stromer. Er findet sich in seinem Püchel von mein geslecht und von abentewr, in dem er Ereignisse der Jahre 1349–1407 wie auch Familiennachrichten und schließlich städtische Bestimmungen festhält. Die schon zu Stromers Lebzeiten angefertigten Abschriften des Püchels belegen, dass es sich nicht um ein „Geheimbuch Stromers Handelsfirma“ handelt, sondern vielmehr um einen Text, der auch anderen zugänglich war (vgl. Kurras 1990: 13). So ist Stromers Buch „in die späteren Chroniken […] übergegangen“ (Hegel 1862: 12). Es wurde erstmals von der historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften als erster Band der Stadtchronik Nürnbergs von Karl Hegel 1862 ediert; 1990 hat dann Lotte Kurras eine Faksimile-Teiledition mit Transkription und Übersetzung ins Neuhochdeutsche vorgelegt, die den hier behandelten Visiertraktat in Gänze enthält. Diese Edition ist insofern erhellend, als Hegel stark ordnend in den Text eingriff, so dass der Reihenfolge seiner Darstellung nur mühsam die der Handschrift zu entnehmen ist.8 Anders als es Hegels Edition auf den ersten Blick nahelegt, findet sich der Visiertext nicht neben Einträgen, die man mit dem Stichwort Zoll- und Handelsnormen zusammenfassen kann; vielmehr ist er inmitten von persönlichen Nachrichten auf einer eigenen Seite eingetragen. 2.1.1 Inhalt Der mit den Worten Wer ein ruten zu fiseren machen wil (Kurras 1990: 44) eingeleitete Text wurde zwischen 1385 und 1388 aufgezeichnet (Vock 1928: 99) und besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil beschreibt die Herstellung der Wurzelskala für die Radien, im zweiten Teil wird die Skala für die Ausmessung der Fasshöhe behandelt. Da die Konstruktion der Wurzelskala den größten Teil des Textes einnimmt und zudem komplizierter ist, soll das Verfahren kurz veranschaulicht werden: Zunächst wird der Radius des Innenbodens eines zylindrischen Gefäßes herangezogen, das mindestens zwei Eichmaße fasst,9 mit einem model, einem Maß, bestimmt, um 7 8 9

Barbara Gärtner hat ihr Analysemodell in Anlehnung an das Kommunikationsmodell von Lothar Hoffmann (1985: 232f) entwickelt. Dieser Problematik widmete sich bereits Walther Emil Vock, indem er umfassende Nachträge zu Hegels Ausgabe verfasste (Vock 1928). Dass das Volumen des Eichzylinders mindestens zwei Viertel-Einheitsmaße fassen soll, wird hier zwar explizit genannt, ist jedoch für die Konstruktion belanglos.

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einen Kreis mit gleichem Radius aufzuschlagen. An diesem Kreis werden dann mit Hilfe des Satzes von Pythagoras alle weiteren Wurzeln konstruiert. Selbstverständlich werden im Text selber keinerlei mathematische Erklärungen gegeben, auch der Satz des Pythagoras wird nicht erwähnt. Die moderne Terminologie ist jedoch überaus hilfreich, um das Verfahren zu veranschaulichen:

Abb. 3

Der Radius des Kreises hat die Länge 1, die Hypotenuse des rechtwinkligen Dreiecks mit den beiden Katheten der Länge 1 misst Wurzel 2, da 12  12  2 . Das rechtwinklige Dreieck mit den Katheten der Länge Wurzel 2 und 1 hat eine Hypotenuse der Länge Wurzel 3 usw. Die äquidistante Skala der Vielfachen der Höhe wird im Anschluss abgehandelt. 2.1.2 Produzent und Rezipient Obwohl die Konstruktionsanleitung den Leser heute wie damals lexikalisch und syntaktisch vor keinerlei Schwierigkeiten stellt, ist der Text nahezu völlig unverständlich. Menso Folkerts kommentiert die Rutenkonstruktion schlicht mit: „Nur wer das Verfahren kennt, wird seinen [Stromers] Ausführungen folgen können.“ (Folkerts 1974: 14) Ulman Stromer, der namentlich bekannte Schreiber des Textes, war selbst kein Visierer. Aufgrund seiner Tätigkeit als „Weinhändler großen Stils“ (von Stromer 1970: 41) dürfte er jedoch die praktische Anwendung des Verfahrens aus eigener Anschauung gekannt haben. Er wird beim Aufschreiben des Traktates entweder selbst versucht haben, das in Worte zu fassen, was er sah, oder sich auf einen Fachmann als Gewährsmann verlassen haben müssen. Was aber macht den Text nun genau so schwer zu verstehen? Ein Grund dafür ist sicherlich das Fehlen einer Konstruktionsskizze mit Beschriftung. Solche Hilfen können sich durchaus in zeitgenössischen mathematischen (deutschen) Fachprosatexten finden (vgl. Mendthal 1886; Geldner 1999), sind diesem Traktat jedoch nicht beigegeben. Um die „fehlende“ Skizze zu kompensieren, sollten also alle Anweisungen sprachlich präzise formuliert sein; insbesondere müssten für einen Benutzer ohne Vorkenntnisse, der

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einzig den Text zur Verfügung hat, die Raumreferenzen10 eindeutig dargestellt sein und alle Teile der Konstruktion expliziert werden. Nur so kann er erfahren, wie er vorzugehen hat. Doch genau in diesem Bereich ist der Traktat äußerst ungenau: Zwar werden noch der Konstruktionskreis mit Radius und Mittelpunkt verständlich benannt, jedoch wird verschwiegen, dass der Kreis durch eine Senkrechte und eine Waagerechte zu vierteln ist. Diese Hilfslinien werden aber benötigt, um ihre Schnittpunkte mit der Kreislinie zu benennen. Insofern verwundert es nicht, dass die Referenzen der Bezeichnungen vber halb tail im kraiss bzw. obern pnt und neben an den kraisß für den Rezipienten unklar bleiben müssen, sofern er nicht ohnehin weiß, dass die Schnittpunkte von Senkrechte und Waagerechte mit der Kreislinie gemeint sind. Alle weiteren Anweisungen, die diese Punkte einbeziehen, werden unverständlich. Da es sich um ein iteratives Verfahren handelt, werden die Konstruktionsschritte zwar immer wieder wiederholt, doch nützt dies dem Rezipienten wenig, wenn der erste Schritt nicht nachvollziehbar ist. Insofern kann der Traktat nur jemandem genützt haben, der weiteres Wissen oder Vorkenntnisse zur Verfügung hatte, die im schriftlichen Text nicht transportiert sind. Dies passt insofern zum Gegenstand des Textes, als die Visierkunst ein praktisches Handwerk war, das anders als die an Universitäten gelehrten artes liberales, in der Regel nicht durch Schrift, sondern durch eine praktische Lehre vermittelt und von einem Meister an einen Lehrling weitergegeben wurde. Diese Weitergabe beruht nur zu einem kleinen Teil auf versprachlichten, bewussten Informationen, zu einem größeren Teil auf vorbewussten Erfahrungen oder bildhaften Vorstellungen, die im Gedächtnis gespeichert werden (vgl. Giesecke 1997: 294). „Für dieses multimediale Lernen gab es früher überhaupt keine und heute nur in begrenztem Umfang Alternativen. Dies liegt einfach daran, daß sich die handlungsleitenden und orientierungsrelevanten Informationen nur unter großen Verlusten aus ihren Zusammenhängen lösen und in andere Medien transformieren lassen.“ (Giesecke 1997: 295)

Im vorliegenden Traktat scheint eine Einbettung in eine mitgedachte Mündlich- und auch Körperlichkeit noch durch. Aufschlussreich hierfür ist zunächst die Analyse der verwendeten Verbformen im Text. Der einleitende Satz Wer ein rten […] machen wil der nem bedient sich einer Modalkonstruktion, um in die fiktive Situation einzuführen, und dann eines Konjunktiv Präsens, um den Rezipienten anzuleiten. Doch schon bei den nächsten Anweisungen wird der Leser nicht mehr indirekt, sondern direkt durch den Gebrauch des Imperativs der 2. Person Singular (nym, mach, zewch, halt) wie in einem Dialog aufgefordert, die weiteren Schritte auszuführen. Es finden sich danach wieder indirekte Formulierungen daz tu man alz lang man die rten haben wil oder wann man ein fas fisiren wil und auch deskriptive Passagen so trift der zirkel fur daz erst firtail aber ain firtail oder daz ist di tiff am fass, so dass weder die direkte noch die 10

Es geht dabei um die Positionierung, also die statische Position, der bezeichneten Konstruktionselemente. Zu weiteren Typen der Raumreferenz vgl. Vater (1991: 39–40 und 2005: 115).

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indirekte oder deskriptive Perspektive durchgängig eingehalten werden. Eine Interpretation dieser Perspektivwechsel wäre, dass die angesprochene Lehrsituation zwischen Meister und Schüler in den dialogischen Phasen noch greifbar wird, und die anderen Teile einen Versuch darstellen, die Anweisungen und Inhalte allgemeiner bzw. allgemeinverständlich zu formulieren. Dass dieser Versuch letztlich als gescheitert betrachtet werden muss, hängt mit den von Giesecke angesprochenen Schwierigkeiten zusammen, die handlungsleitenden und orientierungsrelevanten Informationen (Raumreferenzen) zu versprachlichen bzw. in das Medium der Schriftlichkeit zu überführen.

2.2 Beispieltext 2: Ein Visiertraktat aus dem Wiener Codex 3083 Der zweite Beispielvisiertraktat aus dem Wiener Codex 3083 ist einzig in dieser Handschrift überliefert und wurde zwischen 1460 und 1470 aufgeschrieben. Der Kontext ist ein ähnlicher wie schon beim ersten Traktat: Die Überlieferungsgemeinschaft mit einem Stadtrecht von Wiener Neustadt und einem Zementrezept deutet auf ein städtisches Umfeld hin. 1964 edierte Josef Werlin den Text unter der nicht ganz treffenden Überschrift Eine Regel zur Volumenbestimmung von Fässern (Werlin 1964: 161). Zwar lässt dieser Titel erahnen, dass es sich um einen Visiertext handelt,11 doch wird im gesamten Traktat nirgends erklärt, wie man ein Fassvolumen messen soll, stattdessen wird auch hier, wie auch schon im ersten Beispieltext, eine Anweisung gegeben, wie man die Skalen einer Quadratvisierrute herstellen kann. 2.2.1 Inhalt Der Text beginnt mit der Einleitung: Item cummestu jrgent da dw wild viszeren vnd kay vizsire rueden enhast. Es wird also die Situation beschrieben, dass ein umherziehender Visierer – mutmaßlich ein Wandervisierer – in die Lage kommt, sich selbst eine Rute herstellen zu müssen. Diese Rute soll er gemäß des Eichmaßes des Landes, nach des landes ichgen, fertigen, indem er sich ein Viertelmaß in einen zylindrischen Zuber gießen lässt und die Höhe des Wasserstandes und den Radius des Bottichs ausmisst. Nach dieser Messung fertigt er einen Stab mit der Höhe und einen nach der Länge des Radius des Normvolumens, wobei üblicherweise der Radius, der die dueffenunge angibt, größer als die gemessene Höhe ist. Der Folgepassus und Hauptteil des Traktates Wilt du aber eyn andir viszerer vß dem lande sein virteil von siner12 rüde messen beschreibt, was man vorzubereiten hat, um ein fremdes Eichmaß mit einem Normmaß vergleichen zu können – wie man tatsächlich 11 12

Bei Hermann Menhardt (1961: 870) wird der Text fälschlich als „Anleitung, wie man Fischbehälter macht“ betitelt, weil er das Wort viszeren wohl mit dem Wort fischen assoziierte. Werlin transkribiert irrtümlich smer, zwei weitere Transkriptionsfehler sind wüt und für für wiit und fiir (Werlin 1964:163).

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den Vergleich durchführt, wird jedoch nicht expliziert. Es geht vielmehr auch hier darum, eine Wurzelskala zu konstruieren, wobei das oben beschriebene Verfahren verwendet wird. Die äquidistante Skala der Vielfachen der Höhe, die sehr einfach herzustellen ist, handelt der Text abschließend sehr knapp ab. 2.2.2 Rezipient und Produzent Zum Verständnis des Traktates sind für den Rezipienten auch hier keinerlei Fachtermini notwendig, die über den Alltagswortschatz hinausgehen. Mit Ausnahme des einleitenden Satzes werden die Anweisungen konsequent in der 2. Person Singular Imperativ formuliert, so dass der Leser ebenso wie im ersten Text in eine Art dialogische Lehrsituation versetzt wird. Will er die recht detailliert gegebenen Anleitungen nachvollziehen, dürfte es jedoch schwierig sein, sie sinnvoll umzusetzen, sofern er noch nicht mit dem Verfahren vertraut ist. Ein Grund dafür ist auch hier das Fehlen einer Konstruktionsskizze mit Beschriftung. Zwar sind keine wesentlichen Schritte oder Elemente ausgelassen, aber genau an den beiden oben beschriebenen problematischen Stellen finden sich auch in diesem Text Ungenauigkeiten. So wird nicht im Detail erklärt, wie der Ausgangskreis zu vierteln ist, und auch die Benennung des Schnittpunktes von Senkrechte und Kreislinie ist noch umständlich. Dennoch ist die Qualität dieses Visiertraktates in vielerlei Hinsicht höher zu veranschlagen: Sprachlich sind die aufeinander folgenden Anweisungen durch das Temporaladverb dan bzw. dan so eingeleitet, wodurch eine klare Gliederung des Textes erreicht wird. Die lineare Abfolge der Arbeitsschritte ermöglicht es auch, die bereits konstruierten Punkte, Linien und Kreise klarer zu benennen. Neben Angaben wie mitte in dem boden, die unabhängig vom jeweiligen Konstruktionsschritt sind, finden sich auch solche, die sich direkt auf den vorausgehenden Arbeitsschritt beziehen, sprachlich realisiert durch das deiktische do oder komplexere Umschreibungen mit dem Identitätspronomen selb, wie z. B. von deme selben loch oder in der selben locher eines. Macht der Benutzer auch nur einen kleinen Fehler oder irrt in der Reihenfolge der Schritte, wird seine Konstruktion falsch – eine Kontrollskizze steht ihm ja nicht zur Verfügung. Dieses Fehlen macht den Text bei allen im Thema angelegten Schwierigkeiten jedoch nicht zu einem unverständlichen Traktat. Unverständlich wird er vielmehr dadurch, dass er einen wirklichen Fehler enthält: Die Nummerierung der Wurzelviertel beginnt nicht bei 1, sondern bei 2. Hält man sich also strikt an die Anweisung, so wird man zwangsläufig eine falsche Skala konstruieren. Eine besondere Auffälligkeit zeigt die Schreibsprachenanalyse, die zugleich einen Hinweis auf den Autor als auch den Benutzerkreis des Textes liefern kann: Der Lautverschiebungsstand – sofern im Text repräsentiert13 – zeigt, dass die Tenuesverschiebung vollständig durchgeführt ist; lediglich germ. /k/ ist nicht zur Affrikate 13

Germ. /p/ im Anlaut und nach Konsonant ist nicht belegt.

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verschoben. Die Medienverschiebung ist komplett unterblieben (Ausnahme: viertail), was in den westmitteldeutschen Dialektraum ohne das Mittelfränkische weist, da in mittelfränkischen Texten des 15. Jahrhunderts die Kennwörter dat, wat, et und allet erwartbar wären (vgl. Moser 1951: §145b). Auffallend ist die vorherrschende czGraphie für die mhd. Affrikate /z/, jedoch ist diese Schreibung seit dem 14. Jahrhundert nicht mehr allein auf den omd. Raum konzentriert, so dass so keine Zuordnung zu einem speziellen Dialektraum möglich ist (Reichmann/Wegera 1993: §L59.2). Im Bereich des Vokalismus und der Morphologie ergibt sich ein disparates Bild, das dahingehend zu interpretieren ist, dass eine Dialektmischung vorliegt. So finden sich nebeneinander die Diminutivsuffixe -chen und -lîn. Während -lîn typisch für das Oberdeutsche ist, hat es im mitteldeutschen Raum mutmaßlich beide Suffixe nebeneinander gegeben (vgl. Mausser 1932: 18 Fußnote 1 und 2). Dabei fällt auf, dass -chen im Text, z. B. in hulczcegen, durch verschriftlicht ist; dies ist ein Phänomen, das besonders häufig im Mittelfränkischen auftritt (vgl. Reichmann/Wegera 1993: §L56,3), sich aber auch im Hessischen findet (Mausser 1932: 158). Das Diminutivsuffix -lîn kommt in lochelin vor und wird nicht durch einen Diphthong wiedergegeben, was für das Ripuarische, Ost- und Niederhessische und Teile des Thüringischen und südlichen Alemannischen typisch ist (vgl. Reichmann/Wegera 1993:§L31,1). Die fehlende neuhochdeutsche Diphthongierung wird auch noch an zahlreichen anderen Fällen deutlich, wie in vff, vß, siden usw.; daneben finden sich jedoch auch neue Diphthonge, wie z. B. in gleich oder kreytcz (daneben cruzze), wobei das die Entrundung von durch Diphthongierung entstandenem /eu/ wiedergibt, was ins Bairische deutet (Mausser 1932: 26, 42f.). Die neuhochdeutsche Monophthongierung ist ebenfalls nicht konsequent durchgeführt: mhd. /uo/ wird durch repräsentiert, z. B. in rueden, aber auch durch , wie ruden, gedust. Erwartbar wäre die Monophthongierung im Mitteldeutschen, nicht aber im Oberdeutschen. Eine weitere Auffälligkeit ist die öfters durchgeführte Senkung von /u/ zu /o/ und die selten durchgeführte von /i/ zu /e/, wie z. B. in rode, ront, korcze und konczste neben kurtczer sowie hen, die typischerweise im Mitteldeutschen, später auch in den angrenzenden Gebieten des Ostfränkischen, Böhmischen und Schlesischen auftritt, dort aber im ausgehenden 15. Jahrhundert wohl aufgrund oberdeutscher Einflüsse zurückgedrängt wird (vgl. Reichmann/Wegera 1993: §L33). Es findet sich auch omd. nach für noch (vgl. Paul 2007: §E42,4). Daneben weisen die zahlreichen, wenn auch nicht konsequent verwendeten i-Graphien für Schwa in den mitteldeutschen Dialektraum (vgl. Paul 2007: §E42,3). Hinweise, die darauf deuten, dass auch ein bairischer Dialekt in den Text mit eingeflossen ist, gibt die Schreibung für , die aber nicht durchgängig zu finden ist; so stehen viertail und dail neben ein. Die ai-Schreibung beschränkte sich zunächst auf ein bairisches Kerngebiet (vgl. Reichmann/Wegera 1993: §L27), ist aber im 15. Jahrhundert in Handschriften nördlich bis in die Gebiete um Nürnberg und Bamberg belegt (vgl. Besch 1967: 76–79).

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Morphologisch interessant sind die Imperative für die 2. Person Singular: nem, neme (mit unorganischem -e), wo die Verengung e zu i unterblieben bzw. wieder rückgängig gemacht worden ist; daneben stehen aber auch Formen wie czugh, die einen Vokalwechsel im Vergleich zum Infinitiv anzeigen (vgl. Besch 1967: 306–309). Wmd. ist die Form nit gegenüber omd. niht (vgl. Paul 2007: §E35, 4); und auch die Dehnungsgraphie in snoir spricht für einen wmd. Dialekt, nämlich das Ripuarische sowie auch das Rheinfränkische. Ebenfalls ins Mittelfränkische weisen die Schreibungen von Doppel-i in fiir und wiit (vgl. Reichmann/Wegera 1993: §L27). Eine weitere Besonderheit zeigt die Schreibung ichgen (nhd. eichen), in der , wie am häufigsten in Ndal., aber auch im Md. belegt, als Zeichen für den ursprünglich halbvokalischen Übergangslaut j gebraucht wird (vgl. Moser 1929: §36.3). Aus der Summe der mitteldeutschen Merkmale lässt sich insgesamt schließen, dass es sich nicht um einen typischen mittelfränkischen oder ostmitteldeutschen Dialekt handelt (vgl. Paul 2007:§E42). Vielmehr deutet vieles darauf hin, dass es sich wegen der mittelfränkischen Besonderheiten um einen an diesen Sprachraum angrenzenden Dialekt handeln könnte, dessen Eigenheiten schreibsprachlich nicht besonders ausgeprägt sind. Es kämen das nördliche Rheinfränkische oder Hessische in Betracht; daneben sind aber auch eindeutig oberdeutsche Einsprengsel belegt. Eine derartige Dialektmischung dokumentiert, dass bei der Textüberlieferung in jedem Fall Sprecher wie Schreiber aus verschiedenen Dialekträumen beteiligt waren. Der Aufschreiber scheint nicht darin geübt oder darum bemüht gewesen zu sein, den Traktat nach einer von seiner eigenen Mundart abweichenden Vorlage festzuhalten und dabei zu vereinheitlichen. Vielmehr muss es generell um die Fixierung des Wissens gegangen sein, das einen besonderen Wert hatte. Hatte das Visiererwissen einen besonderen Wert? Aus den Quellen zur Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln ist bekannt, dass das Wissen um die Herstellung von Visierruten geheim war. Es war verboten, die Visierkunst Unbefugten zu lehren und auch das Messen mit eigenen Ruten war strafbar (vgl. Stein 1895: Nr.148, §9 und §56). Dies sollte verhindern, dass die städtischen kostenpflichtigen Visierer umgangen, aber auch, wie wir aus anderen städtischen Quellen wissen, dass Messungen falsch durchgeführt wurden (vgl. Baader 1861: 209). Das Visierwissen ist demnach zunächst exklusiv zu denken. Es war einer kleinen Schicht von Berufsvisierern vorbehalten, innerhalb der es weitergegeben wurde.14 Das schreibsprachliche Dialektgemisch ließe sich also als 14

Wie schon oben erwähnt, war die Visierkunst seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts auch Gegenstand an den Universitäten (vgl. Folkerts 2008:14–19); Inwiefern oder ob die im universitären Rahmen entstandenen Schriften überhaupt die Praxis der Visierer beeinflusst haben, ist noch nicht näher untersucht worden. Ein aufschlussreiches Zeugnis, das die Exklusivität des Visierwissens selbst thematisiert, ist das älteste bisher bekannte, 12 Blätter umfassende Visierbüchlein in deutscher Sprache (vgl. Geldner 1963:65): Auch hort eier was das fysiern ist Da es ist ein boche kunst dy vor iaren vil gelts hat golten vnd wer noch schad das man dise kunst wolfeil geb vnd an den tag legen Doch durch etlicher fysier meister pet wegen hab ich dz gedruckt Das sy dadurch gebreist vnnd gelobt werden von

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Austausch von Visierern und Weitergabe ihres Wissens in schriftlicher Form interpretieren. Der sehr saubere Eintrag des Traktates auf ein Einzelblatt, das inmitten von leeren Blättern in die Handschrift eingeheftet ist, ließe sogar die Vermutung zu, dass es sich um eine Abschrift eines losen Blattes handeln könnte, das tatsächlich dem Gebrauch diente. Jedoch ist der Text aus dem Codex wohl selbst nie benutzt worden, da sich keinerlei Abnutzungsspuren finden. Ob nun der Fehler durch die Überlieferung in den Text kam, was bei Zahlen leicht passieren kann, oder er aber mit Absicht eingebaut wurde, um das Visierwissen zu entstellen und sich vor sachunkundigen Laienvisierern zu schützen, muss Vermutung bleiben.

3. Ausblick Möchte man nun die beiden Traktate in einen größeren Kontext von Visiertexten als eine Sparte frühneuhochdeutscher fachsprachlicher Prosa stellen, dann ist zunächst über allgemeinere Kategorisierungsprinzipien nachzudenken. Thorsten Roelcke (2010) wählt in seiner Monographie Fachsprachen ein rein chronologisches Modell zur Einteilung fachsprachlicher Zeugen in drei Großabschnitte. Dies führt dazu, dass er unterschiedlichste Texte aus einem Zeitraum betrachten und anschließend thematisch gegliedert zu Untergruppen zusammenfassen muss. Obwohl beide hier vorgestellten Traktate Ende des 14. und im 15. Jahrhundert aufgeschrieben wurden und somit in Roelckes vom 14. bis 17. Jahrhundert reichende zweite Epoche, die der frühneuzeitlichen Fachsprachen fallen, könnte man sie auch noch zur ersten Periode deutscher Fachsprachentexte rechnen, die vom 8. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts reicht. Texte der ersten Epoche charakterisiert er nämlich als von mundartlichen Handwerkersprachen geprägt, die sich zugleich weitestgehend durch das Fehlen von nationalsprachlicher Wissenschafts- und Institutionensprachen auszeichnen (vgl. Roelcke 2010: 180). Zwar passen beide hier behandelten Traktate auch zu Roelckes zweiter Periode, aus der sie auch tatsächlich stammen, und ließen sich unter Applikationen aus dem praxisorientierten Fachschrifttum subsummieren; aber bei den hier verhandelten Texten von Zeugen einer „theoretische[n] und empirische[n] Fundierung im handwerklichen […] Bereich“ (Roelcke 2010: 189) zu sprechen, wäre verfehlt. Insofern ist Roelckes Periodisierung, so pragmatisch sie auch für eine erste Einordnung von Fachprosatexten sein mag, für die genauere Klassifizierung der hier behandelten Traktate nicht geeignet. Für eine generelle Kategorisierung der nicht so schmalen Untergruppe von Visiertexten als Vertretern spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Fachprosa erscheint es mir weiter zu führen, die Traktate selbst genauer zu analysieren. Durch die Vorarbeiten von diser kunst wegen (Anonymus 1485: 2r). Weitere Überlegungen zur Exklusivität von Handwerkerwissen und der Visierkunst im Besonderen vgl. Giesecke (1997: 297–299).

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Menso Folkerts ist bereits bekannt, dass sich als Verfasser und Rezipienten unterschiedlichste Gruppen ausmachen lassen. So gibt es Texte, die im praktisch-handwerklichen Umfeld entstanden sind, zu denen auch die hier verhandelten zu zählen sind, deren Produzenten oftmals nicht besonders mit dem Festhalten von Konstruktionsbeschreibungen vertraut waren und mutmaßlich für Praktiker mit Vorkenntnissen schrieben – Laien dürften ihre Ausführungen jedenfalls unverständlich geblieben sein. Daneben gibt es eine Gruppe von Texten, die im akademischen Umfeld entstand, durch Gelehrte weitergegeben und schließlich in die Volkssprache übersetzt wurde. Beim Freilegen der Intentionen und Strategien der Versprachlichung wären hier sicherlich didaktische Anliegen zu berücksichtigen wie auch das Verhältnis von Volkssprache und Latein mit seinem bereits vorhandenen, den lateinunkundigen Handwerkern nicht zur Verfügung stehenden Fachvokabular. Auch für die Abschnitte über Visierkunst aus den Büchern der Rechenmeister (vgl. z. B. Adam Ries 1550: 182v–196r) ließe sich die Untersuchung von Textproduzent und Adressat fruchtbar machen. Insbesondere wäre zu prüfen, inwiefern der Anspruch, mathematisch fundiertes Fachwissen für den praktischen handwerklichen Gebrauch verständlich darzubieten, eingelöst wird. Weitere Einzeluntersuchungen werden zeigen, ob sich letztendlich eine Kategorisierung der Visierliteratur geordnet nach Produzenten- oder Adressatengruppen entwickeln lässt oder ob man die Texte besser hinsichtlich ihrer Vermittlungsstrategien gruppiert oder auch nach ganz anderen Kriterien. In jedem Fall sehe ich in der funktionalkommunikativen Textanalyse, die Produzent und Rezipient in den Fokus rückt, einen Ansatz, die Fachprosagattung Visierliteratur mit ihren Besonderheiten genauer zu erschließen.

Quellen / Editionen Anonymus (1485): Ein fysier büchlein auff allerley eych. Bamberg. Helm, Erhart (1574): Visier vnd Wechselruthe kuenstlich und gerecht zumachen. Christian Egenolffs Erben. Frankfurt am Main. Ries, Adam (1550): Rechenung nach der lenge / auff der Linihen und Feder… mit gruentlichem unterricht des visierens. Leipzig, f. 182v–196r. Roriczer, Matthäus (1999): Die Geometria Deutsch. Faksimile der Originalausgabe Regensburg um 1487/88. Mit einem Nachwort und Textübertragung von Ferdinand Geldner. Hürtgenwald. Stomer, Ulman (1990): Püchel von mein geslecht und von abentewr. Teilfaksimile der HS 6146 des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Kommentarband bearbeitet von Lotte Kurras. Bonn.

Literatur Baader, Joseph (1861): Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII bis XV Jahrhundert. (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart LXIII). Stuttgart.

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RAINER HÜNECKE

Das Bergbüchlein des Ulrich Rülein von Calw – Vertextungsstrategien und Formulierungsmuster

1. Das Bergbüchlein – Überlieferung und Verfasser Um 1500 erschien unter dem Titel ‚Ein nutzlich bergbuchleyn‘ ein Text ohne Angabe von Druckort, Druckjahr, Drucker und Verfasser. Dieser Text hat einen Umfang von 24 Blatt und ist heute nur noch in zwei Exemplaren überliefert. Ein Exemplar befindet sich in der Bibliothèque Nationale in Paris, das andere – allerdings unvollständige – Exemplar befindet sich in der Staats- und Stadtbibliothek in Augsburg. Das Pariser Exemplar wurde als Faksimile von Wilhelm Pieper 1955 in den Freiberger Forschungsheften veröffentlicht. Die Datierung um 1500 resultiert aus der Wirkungszeit des ermittelten wahrscheinlichen Druckers und der Wirkungszeit des ermittelten Verfassers. Als wahrscheinlicher Drucker wird Martin Landsberg in Leipzig angenommen, der dort in der Zeit zwischen 1492 bis 1522 tätig war (vgl. Pieper 1955: 140). Der Verfasser dieses Textes ist seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Es handelt sich dabei um Ulrich Rülein von Calw. Als Verfasser des nämlichen Buches wurde er von Georgius Agricola 1550 in seiner Widmungsschrift zu ‚De re metallica‘ genannt: Nostra quidem lingua duo libri scipti sunt; alter De materiae metallicae et metallorum experimento, admodum confusus, cuius operis parens ignoratur; alter De venis, de quibus etiam Pandollus Anglus scripsisse fertur, sed librum Germanicum confecit Calbus Fribergius, non ignobilis medicus, verum venter eam quam sumpsit partem absolvit. [In unserer deutschen Sprache sind zwei Bücher geschrieben worden: das eine über das Probieren des Erzstollens und der Metalle; es ist sehr verworren abgefasst, seinen Verfasser kennt man nicht. Das andere handelt über die Erzgänge, von denen auch Pandollus Anglus lateinisch geschrieben haben soll. Dies deutsche Buch hat der Freiberger Calbus, ein angesehener Arzt, verfasst. Indes hat keiner von beiden sein Thema erschöpfend behandelt (dt. Übersetzung nach Pieper 1955: 181)].

Der Text der ersten Fassung des Bergbüchleins muss spätestens im Frühjahr 1505 gedruckt worden sein, da 1505 eine neue Ausgabe des Buches erschien. Diese Ausgabe enthält neben einem erweiterten Titel: ‚Ain wolgeordnetz: vnnd nuczlichs buochlin wie

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man bergwerck suochen vnd erfinden sol von allerlay mettal‘ im Kolophon die Nennung von Drucker, Druckort und Druckjahr: Item des buochlin hat getruckt Erhart Ratdolt zu Augspurg do man zalt nach christus geburt M.CCCCC.V am sechsten tag des Mayen. Das Bergbüchlein des Ulrich Rülein von Calw ist nach bisherigen Erkenntnissen (vgl. Pieper 1955) bis 1539 als eigenständiger Druck oder zusammen mit einem Probierbüchlein insgesamt 8mal erschienen. Aus dem 17. Jahrhundert sind zwei Nachdrucke bekannt – beide allerdings nicht als selbstständiges Werk. Das Bergbüchlein befindet sich darin auf den Seiten 37 bis 68 der Textsammlung ‚Ursprung und Ordnungen der Bergwerke‘ Leipzig 1616 und auf den Seiten 14 bis 28 der Textsammlung ‚Corpus Juris et Systema rerum Metallicaum Oder Neu=verfaßtes Berg=Buch‘ Frankfurt 1698. Im 18. Jahrhundert erfolgte ein Wiederabdruck unter dem Titel ‚Ein altes Bergbüchlein von 1534‘ im ‚Magazin für die Bergbaukunde‘ Dresden 1792. Die erste kritische Ausgabe des Bergbüchleins erfolgte 1885 in der ‚Zeitschrift für Bergrecht‘. Im Jahre 1890 erschien in Paris eine Teilübersetzung ins Französische durch Gabriel Auguste Daubrée auf der Grundlage der Textausgabe Augsburg 1539. Eine Übersetzung ins Englische durch Anneliese Grünhaldt Sisco auf der Grundlage des Textes Worms 1518 erschien 1949 in New York. Eine weitere Textedition erfolgte in der unveröffentlichten Dissertation von Judica Mendels im Jahre 1953. Wilhelm Pieper besorgte den Abdruck der Erstausgabe 1955 (vgl. Abb. 1). Der Verfasser des Bergbüchleins ist seit Georgius Agricola (1550) bekannt (vgl. oben). Durch Pieper (1955) konnten die Lebensdaten Ulrich Rüleins zusammengetragen werden. Das daraus entstandene Bild zeigt einen typischen Gelehrten der Renaissance-Zeit: Ulrich Rülein wurde um 1465/69 im schwäbischen Calw geboren. Sein Vater war wahrscheinlich Müller. Der Eintrag in den Leipziger Universitätsmatrikeln aus dem Jahre 1485 „Molitoris Udalricus de Calb“ lässt zumindest diesen Schluss zu. In Leipzig erlangte Ulrich Rülein die akademischen Grade eines Baccalaurius und Magisters der freien Künste und promovierte zum Mediziner. 1496 wurde er als Stadtplaner nach Annaberg und 1521 nach Marienberg berufen. 1497 war Ulrich Rülein als Physicus in Freiberg tätig. In Freiberg heiratet er wahrscheinlich um 1500. Im Stadtbuch von Freiberg aus der Zeit um 1514 wird er geführt als burgermeister her vdalricus rulin doctor (Blatt 172r) und im Jahre 1517 vdalrichen rulin in der erzney doctorem und diesjar burgermeister (Blatt 205v). Aus dem Jahre 1521 existiert ein Widmungsschreiben von Hieronymus Emser an artium at medicinae professori Doctori Vdalricco Rulein de Calw. Wahrscheinlich Ende des Jahres 1523 verstarb Ulrich Rülein in Freiberg. In den Zehntrechnungen des Folgejahres wird nur seine Frau erwähnt.

Das Bergbüchlein des Ulrich Rülein von Calw

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Abb. 1

Von Ulrich Rülein sind überliefert: das Bergbüchlein (um 1500), ein Empfehlungsschreiben zu Wenzel Bayers ‚Traktat über die Karlsbader Quellen‘ (1521), ein Traktat über ein Pest-Prophylakticum (um 1521), zwei Pestschriften (1521) sowie das ihm zugeschriebene Probierbüchlein (1518) und die Pestordnung aus dem Jahre 1521 (vgl. Keil 1995, 2012; Verfasserlexikon 2008, XI: 1345–1348).

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2. Das Bergbüchlein – Quellen und Vertextung Für diese Studie wird nicht die erste Ausgabe verwendet, sondern die Ausgabe von 1518 aus Worms. Dieser Text befindet sich im Original in der Sächsischen Staats-, Landes- und Universitätsbibliothek und ist dort auch als Digitalisat verfügbar. Der Text des Bergbüchleins von 1518 besteht aus einer Einführung, 10 Kapiteln und einem Anhang. Diese beinhalten vier inhaltlich abgrenzbare Teile: – – – –

einen Dialog zwischen Daniel und einem Bergknappen, eine Abhandlung über die Entstehung der Erze, eine Abhandlung über die Lagerstätten, ein Glossar zeitgenössischer Bergbauterminologie.

Der Dialog zwischen Daniel und dem Bergknappen bildet den Rahmen des Bergbüchleins. Er eröffnet den Text und umschließt dann die Abhandlung über die Entstehung der Erze und die Abhandlung über die Lagerstätten, wobei die Abhandlung über die Enstehung der Erze ebenfalls einen Rahmen um die Abhandlung zu den Lagerstätten bildet. Das Glossar bergmännischer Terminologie ist diesen drei Teilen mehr oder weniger unverbunden nachgestellt. Der Schrifttext wird durch 13 figürliche Abbildungen ergänzt. Mit Ausnahme der Abbildung auf dem Titelblatt haben alle anderen Abbildungen einen inhaltlichen Bezug zum Text. Metakommunikativ wird von der jeweiligen Textpassage auf die Abbildung verwiesen. Von den 12 Abbildungen im Text befinden sich 11 in der Abhandlung über die Lagerstätten und nur eine in der Abhandlung über die Entstehung der Erze. Mit dem Rahmendialog im Bergbüchlein verfolgt der Verfasser mehrere kommunikative Absichten: – Zunächst wird mit der Redekonstellation eine fiktive dyadische Gesprächsituation simuliert. Diese fiktive Gesprächssituation, deren Grundeigenschaft die Einheit von Ort, Zeit und Handlung ist, steht stellvertretend für die dezentrale, zeitverschobene, zum Teil entpersonalisierte und entfremdete Textproduktion und -rezeption. – Der fiktive Dialog simuliert gleichzeitig eine face-to-face Situation, in der ein (weitgehend anonymer) Präzeptor einem (weitgehend unbekannten) Scholaren über einen speziellen Wissensgegenstand unterweist. – Der vermeintliche Präzeptor dieses Dialoges hat darüber hinaus die Funktion, an Stelle des Autors die Verfasserintention zum Ausdruck zu bringen. In diesem Sinne nimmt der Präzeptor eine Art Stellvertreterfunktion für den anonymen Autor des Textes ein. In dieser Funktion muss der Präzeptor die Intention des Verfassers vertreten und für dessen Wissen einstehen, indem er die Quellen seines Wissens offenlegt.

Das Bergbüchlein des Ulrich Rülein von Calw

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– Der Scholar nimmt die Funktion des unbekannten Rezipienten ein, der spezielles Wissen erwerben möchte. In dieser Funktion des Rezipienten initiiert der Scholar Sprachhandlungen. Gleichzeitig dienen seine Hörer-Kommentare der Fortführung und Steuerung des Gesprächsverlaufens und sind Indikatoren der Verständnissicherung. In der fiktiven Redesituation wird zunächst in einer für einen Dialog scheinbar paradoxen Weise eine von Raum und Zeit losgelöste auf Lektüre basierende Wissensvermittlung verkündet: [...] hab ich eyn kurtzs büchlein gedacht von metallischem ertz zuo bereyten ... darinne du eyn anweisung vnnd erkantnuß haben magst [...] (Bergbüchlein: 2)

Die fiktive Redekonstellation im Bergbüchlein besteht aus zwei handelnden Personen – Daniel und dem jungen Knappius. Mit dieser Benennung werden beide Personen und damit der Dialog unmittelbar in die Situation des Bergbaus verortet. Der eigentlich weitgehend anonyme Präzeptor wird konkretisiert. Er gewinnt an Gestalt. Bei der Figur des Präzeptors Daniel handelt es sich um eine Heiligengestalt. Daniel ist einer der großen alttestamentarischen Propheten (vgl. AT, Buch Daniel). Seit dem 15. Jahrhundert wurde er u. a. neben Barbara und Anna durch seine Sehergabe zum Patron des Bergbaus. Seine vermeintliche „Metallkundigkeit“ gründet sich auf der Deutung eines Traums Nebukadnezars (vgl. AT Buch Daniel, Kap. 2) und einer Vision Daniels (vgl. AT Buch Daniel, Kap. 10). Er wurde von den Bergleuten und den Kuxbesitzern in der Hoffnung auf baldigen Bergsegen verehrt und galt als einer von ihnen. In einer Legende aus dem Erzgebirge wird einem Daniel verheißen, im Geäst eines Baumes ein Nest mit goldenen und silbernen Eiern zu finden. Er sucht danach, findet aber nichts. Da verweist ihn ein Engel auf das „Geäst in der Erde“ – die Wurzeln. Daniel gräbt und findet einen Erzgang. Bei der Figur des Knappius handelt es sich um einen sprechenden Namen. Der Knappe ist in der Fachsprache des Bergbaus ein gelernter Bergmann. Die Gesamtheit der anfahrenden Bergleute sind die Knappschaft. In einer jüngeren Legendenüberlieferung aus dem Erzgebirge ist es der Bergmann Daniel Knappe, der den oben genannten Traum hat und dann schließlich den Erzgang findet. Die Benennung der interagierenden Personen im Dialog verortet die Redesituation in den Bergbau des 15. und 16. Jahrhunderts. Die Berufung Ulrich Rüleins zum Stadtplaner 1496 nach Marienberg lässt aus heutiger Sicht eine intendierte Rezeption im Bereich des kursächsischen Bergbaus vermuten. Für eine Verortung des Bergbüchleins in den kursächsischen Bergbau spricht auch der Verweis im 4. Kapitel auf das land zuo Meissen in welchem diß büchlin von den ertzen kurtzlich begriffen (Bergbüchlein: 22). Als Stadtplaner von Marienberg waren Ulrich Rülein die geographischen und geologischen Gegebenheiten im Erzgebirge des ausgehenden 15. Jahrhunderts hinlänglich bekannt: 1458 wird man bei Altenberg fündig, 1471 bei Schneeberg und 1492 bei Annaberg. In der dargestellten face-to-face-Gesprächssituation handelt Daniel in der Funktion des Präzeptors und Knappius in der des Scholaren. Eine plastische Darstellung dieser Situa-

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Rainer Hünecke

tion findet sich im Dom in Freiberg. In der von Meister Hans Witten um 1510 aus Pophyrtuff gefertigten Tulpenkanzel wurde eine solche Figurenkonstellation dargestellt: der bergverständige Daniel am Fuße der Kanzel sinnierend sitzend und darüber Knappius der tragende Bergmann. In dieser face-to-face-Gesprächssituation ist es jedoch nicht der Präzeptor Daniel, der die Initiative zu diesem Dialog inne hatte. Daniel eröffnet zwar den Dialog, die Initiative dazu lag jedoch außerhalb dieser Gesprächssituation. Er folgt einer Bitte des jungen Knappius: Daniel der berguerstendig / zum iungen Knappio. Deiner fleissigen bitt vnd langem angehaltnen begeren nach […] (Bergbüchlein: 2). In dieser das Gespräch eröffnenden Situation wird denn auch gleich der Gesprächsgegenstand ausgehandelt: welch gebirg / welche geng klüfft oder berggeschick / durch anweisung geschicklicher art / bequem seind / zuo geberung metalisches ertz / oder hofflich vnd nutzlich zuo bauwen / vnd also von eynem iegklichen / alß da seind geschicklichkeyt der gebirg / streichen / fällen / vnd außgehend der geng in der gemeyne / vnd auch von ietzlichem metall in sunderheyt / auß vermügen verklerung geben (Bergbüchlein: 2)

mit anderen Worten: Lagerstättenkunde. Der Dialog zwischen Daniel und Knappius ist damit eröffnet und wird nun wechselseitig fortgeführt. Es sind zunächst 6 Sprecherwechsel zwischen Daniel und Knappius, bis sich die dialogische Situation zu einer monologischen verändert. In der dialogischen Situation sind es sowohl Daniel als auch Knappius, die das Buch thematisieren. Dabei handelt es sich nicht um irgendein Buch, sondern um das vorliegende ‚Bergbüchlein‘. Daniel nimmt dabei die Position des anonymen Autors ein, der uneigennützig und in einem höheren Interesse aufgefordert war, dieses Buch zu verfassen: Deiner fleissigen bitt vnd langem anghaltnen begeren nach / hab ich eyn kutzs büchlein gedacht (Bergbüchlein: 2) Dein vnwissenheyt der Bergwerck / hat mich zuo diser arbeyt gedrungen

(Bergbüchlein: 4)

Sein (Bildungs)ziel bestand darin: Durch erkantnuß der stück / inn disem büchlein [...] kannst du in grosse erfarung kommen (Bergbüchlein: 3)

Mit deutlichen Worten wird denn auch der Wert der Bildung gegenüber dem materiellen Wert hervorgehoben: Wirdst du aber mehr achten den gewinn dann die kunst / so muost du der kunst mit dem gewinn entbehren. (Bergbüchlein: 3)

und schließlich etwas versöhnlicher: Aber eyns sol dich nit bekümmern / das diß büchlein alß gar vngehofelten worten vnd sprüchen volendet wirt. Es wirt doch ettwas nutzlichs darunder begriffen sein / welches du mehr dann die süsse der wort lieben solt (Bergbüchlein: 4)

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Das Bergbüchlein des Ulrich Rülein von Calw

Von Knappius wird der Topos des Bildungswertes durch das Buch denn auch gleich aufgegriffen: Also möcht ich auß disem büchlin / auß vrsachen erfaren vnd mit vernunft erkennen / welche berkwerck nützlich zuo bawen sein würden. (Bergbüchlein: 2)

Daneben wird von ihm aber auch betont, dass nicht das Buchwissen allein ausreichend ist: Das muoß ich durch die übung / zuo besser verstendtnuß bringen.

(Bergbüchlein: 3)

Im Rahmen dieses Dialoges hat Daniel als Präzeptor den dominierenden Part inne. Seine Redebeiträge sind umfangreicher und durch den zu vermittelnden Inhalt motiviert. Die Redebeiträge des Knappius hingegen sind kürzer und haben gesprächsteuernde Funktion, indem, wie oben bereits beschrieben wurde, das Gespräch durch seine Initiative überhaupt zustande kam. Die weitere Gesprächssteuerung erfolgt durch seine Hörerrückmeldung, mit der Daniels Gesprächspart bestätigt und kommentiert wird: Also möcht ich auß disem büchlin / auß vrsachen erfaren vnd mit vernunft erkennen / welche berkwerck nützlich zuo bawen sein würden. (Bergbüchlein: 2)

Eine andere Form der Gesprächssteuerung besteht darin, dass von Knappius eine konkrete Frage formuliert wird: Die weil du vonn den örteren der welt / vnd abteylung deß bergkwercks reden wilt / ist meine frag: Gegen welchem teyl der wellt [...] (Bergbüchlein: 3)

Knappius knüpft dabei an die letzten Ausführungen Daniels an und eröffnet mit dieser Frage ein neues Thema. Eine andere Form der thematischen Steuerung wird von Daniel genutzt, indem dozierend der Zeit-Topos ins Spiel gebracht wird: auff das wir vnser schicht nit verlengern / merck kurtzlich dise nachgeschribene ding. (Bergbüchlein: 4)

Mit diesem Kunstgriff wird nicht nur das Thema gewechselt, sondern auch die Vertexttungsstrategie. Der Dialog wechselt unter der Hand zum Monolog – konkret zum Schriftmonolog – zum Schrifttext: Zuo eyner erkantnuß der ankunfft oder entspringung der metallischen ertz / ist zuo wissen / das diß büchlin von ettlichen oder minerischer geburt genant / wirt geteylt in zehen capitel. (Bergbüchlein: 4)

Während der hinter Daniel verborgene Autor die Quellen seines Wissens im Unterweisungsdialog nur sehr allgemein als Buch- und Erfahrungswissen benennt: auß der alten weisen bücher vnd auch geübter bergleutten erfarung

(Bergbüchlein: 2),

wird die Quelle des nachfolgend ausgebreiteten Wissens genau benannt:

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Rainer Hünecke

Darumb die Metall gar offt von Hermete vnd von andern weisen mit disen namen genennet werden. (Bergbüchlein: 5)

Der bergverständige Daniel tritt hier völlig in den Hintergrund und der vermeintlich anonyme Autor eröffnet einen anderen Diskurs. Es handelt sich dabei um den Diskurs über den Urspung der Welt, der hier im konkreten Fall auf den Ursprung der Erze reduziert wurde. Bei dem genannten Quellenbezug handelt es sich um das sog. Corpus Hermeticum. Dieses aus dem Griechischen stammende Text-Korpus besteht aus unterschiedlichen Kommunikationsformen: Brief, Dialog, Predigt, die einem Hermes Trismegistos zugeschrieben wurden. Es handelt sich hierbei um ein im 15. Jahrhundert wiederentdecktes Textkorpus, das 1462 in den Besitz der Medici kam, ins Lateinische übersetzt wurde und lange Zeit als Wissen aus ägyptischer Zeit galt. Als Verfasser dieser Texte wurde ein Hermes Trismegistos angenommen, dessen Lebenszeit in die Zeit des alttestamentarischen Moses datiert wurde. Doch weder gab es diesen Verfasser, noch stammen diese Texte aus jener Zeit. Bei Hermes Trismegistos handelt es sich um eine Verschmelzung des griechischen Gottes Hermes mit dem ägypischen Gott Thot. Bis in die Neuzeit hinein war man überzeugt, Hermes Trismegistos sei eine historisch existente Person gewesen. Seit dem 17. Jahrhundert gilt das als nicht richtig. Man geht seit dieser Zeit von einer Entstehung in hellenistischer Zeit aus. Neben dem Verweis auf Hermes Trismegistos wird von Rülein auf Albertus Magnus (1200–1280) und sein Werk ‚De mineralibus‘ Bezug genommen. In der Zeit der Renaissance galten Hermes Trismegistos und Albertus Magnus als Autoritäten im zeitgenössischen (alchimistischen) Diskurs um die Entstehung der Elemente und konnten so von Ulrich Rülein als Autoritätsbelege für seine Ausführungen zur Entstehung der Metalle angeführt werden, ohne dabei diese vermeintlichen Autoritäten mit konkreten Texten zu belegen. Die Nennung der Autoritäten war ausreichend. Mit seinen mineralogischen Ausführungen ordnet sich Ulrich Rülein in den zeitgenössischen alchimistischen Diskurs um die Entstehung der Metalle ein. Es geht dabei um die Entstehung der sieben Metalle. Rülein führt die beiden gängigen Theorien des ausgehenden Mittelalters vor: die Mercurius-Sulphur-Theorie und die Mercurius-Theorie. Nach der ersten entstanden die sieben Metalle Gold, Silber, Kupfer, Zinn, Blei, Eisen und Quecksilber aus einer Vermischung von Schwefel mit Quecksilber unter dem Einfluss der sichtbaren Planeten: Gold – Sonne, Silber – Mond, Zinn – Jupiter, Kupfer – Venus, Eisen – Mars, Blei – Saturn, Quecksilber – Merkur. Darumb die Metall gar offt von Hermete vnd von andern weisen mit diesen namen genennet werden / alß das Gold Sonn / lateinisch Sol / das Silber / Mon / lateinisch Luna genennt wirt. (Bergbüchlein: 5)

Dass es eine weitere Theorie gibt wird von Rülein nur kurz erwähnt, nicht jedoch ausgeführt. Er vertritt die Mercurius-Sulphur-Theorie: Item / in der vermischung oder vereyningung / deß quecksilbers vnd schwefels imm ertz / helt sich der Schwefel / alß der manlich som / vnd das Quecksilber alß der weiplich sam / in der

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geberung oder empfahung eyns kinds. Also ist der schwefel / alß eyn sunderlicher geeygneter wircker der ertz oder Metallen. (Bergbüchlein: 6–7)

In diesen alchimististischen Diskurs um die Entstehung der Erze bettet Rülein den Diskurs um die Lagerstättenkunde ein. Dazu nutzt er in der Gefäß-Metaphorik: WIewol die einflüß deß Himmels / vnnd die geschickligkeyt der materien / gehören zu der wirkung eyns ieden ertzs oder Matall / dennoch sind diese nut genuog darzu / sondern darzuo gehört eyn ärtig geschicklichkeyt der natürlichen gefeß / darinne das ertz gewircket wirt / alß da sind die geng. (Bergbüchlein: 7)

Von hier aus ist es ihm dann problemlos möglich, das zeitgenössische Wissen über die Lagerstätten vorzuführen. Es ist auch nicht notwendig, dass er sich hierbei auf irgendwelche Quellen berufen muss. Das hat er ja bereits getan. Es ist das bereits exemplifizierte alchimistische Buchwissen, das er an dieser Stelle mit dem zeitgenössischen Erfahrungswissen verknüpft, ohne dass ein Bruch in der Darstellungsweise geschieht. Für die Exemplifizierung des Erfahrungswissens nutzt Rülein eine bildgestützte Darstellungsweise. Die verbale Ausführung wird durch eine figürliche Darstellung unterstützt, auf die metakommunikativ verwiesen wird: Deß zu eyner anweisung volget dise Figur.

(Bergbüchlein: 8)

Insgesamt werden dazu 11 figürliche Darstellungen genutzt. Von der Lagerstättenkunde aus ist es für Rülein denn auch kein Problem zurück zur alchimistischen Mineralogie zu kommen: Zu eyner bekantnuß der Gultigen vnd bestendigen geng / die zuo bawen sind für andren ist zuo mercken / das das allerbequemest leger deß gangs / ist an dem geheng deß bergs gegen Mittag [...] Dann inn solicher geschicklichkeyt deß gepirgs vnnd Gangs / wirt der einfluß deß himmels seer beqwemlich empfangen zu bereytten die materi / daraus das Silberertz gmacht oder gewirckt sol werden. (Bergbüchlein: 23)

So wird denn hier das alchimistische Buchwissen als Argument für die Abbauwürdigkeit eines solchen Ganges genutzt. Es ist das zeitgenössische bergmännische Erfahrungswissen, das besagt, dass Erzanbrüche einer bestimmten Art und Weise für den weiteren Abbau erfolgversprechend sind. Dieses Erfahrungswissen wird durch einen Verweis auf das Buchwissen (nach meynung der weisen – Bergbüchlein: 22) autorisiert. Auf diese Weise wird für jedes metallische Erz über seine Entstehung auch die Lagerstätte beschrieben. Die Entstehung der Metalle wird aus alchimistischer Perspektive und die Lagerstätten aus bergmännischer Sichtweise dargestellt. Nachdem alle 7 Erze beschrieben wurden, ist es Knappius, der erneut als Stichwortgeber auftritt und die Frage nach der Verhüttung dieser Erze stellt. Die Beantwortung dieser Frage wird von Daniel auf eine andere Zeit und an einen anderen Ort verlegt: morgen wöllen wir auß der Kaw / inn die hütten gehen / so wil ich dir sagen / mit welchem zuosatz das schwefelich ertz / mit welchem das leichtflüssig / mit welchen das wild / mit welchem das grobe oder kleynspissig ertz geschmelzt sol werden / etc. (Bergbüchlein: 39)

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Rainer Hünecke

Ulrich Rülein verweist mit dieser Redeäußerung Daniels auf ein Probierbüchlein, das möglichwerweise auch von ihm verfasst wurde oder auch nur konzipiert wurde. Denn erst nach seinem Tode wurde bei Christian Egenolph in Frankfurt das Bergbüchlein zusammen mit einem Probierbüchlein gedruckt. Den Abschluss des Bergbüchleins von 1518 bildet ein Glossar berg- und hüttenmännischer Termini. Es ist das erste Glossar dieser Art in deutscher Sprache. Über die Verfasserschaft dieses Glossars gibt es verschiedene Ansichten. Pieper (1955) verwies in diesem Zusammenhang auf den Drucker Peter Schöffer, der 1518 den Text druckte und erstmals mit dem Glossar versah. Die unmittelbare Autorschaft ist Peter Schöffer aber eher weniger zuzuschreiben, wohl aber die Kompilation (vgl. auch Keil 1995). Daraus würde denn auch zu erklären sein, warum in das Glossar scheinbar willkürlich bergund hüttenmännische Termini aufgenommen wurden, die vielfach keinen Bezug zum Text des Bergbüchleins haben. Das Glossar ist nicht alphabetisch geordnet, sondern folgt einer nicht weiter spezifizierten Abfolge. Jeweils am Außenrand der Seite befindet sich das Stichwort, das dann in einem Artikel auf der Innenseite erläutert wird. Insgesamt wurden 93 berg- und hüttenmännische Termini in das Glossar aufgenommen. Die Erläuterung der Termini erfolgt dabei in Form einer Äquivalenzdefinition. Der zu definierende Terminus (Definiendum) ist dabei durch eine Kopula mit der definierenden Aussage (Definiens) verbunden. Auf diese Weise wird zum Ausdruck gebracht, dass zwischen beiden Teilen (Definiendum und Definiens) ein Äquivalenzverhältnis besteht. Der zu definierende Terminus kann als Definiendum genannt werden und in der Definition nochmals als Bestandteil der Definition genannt werden: Eyn Lehen. Eyn lehen ist 7. Lachter.

(Bergbüchlein: 40)

Häufiger jedoch erfolgt nur eine einmalige Nennung des zu definierenden Terminus: Fletz Ist / das eben hinweg leit / vnd weder vndersich noch vbersich felt.

(Bergbüchlein: 40)

Die Kopula „sein“ kann auch elliptisch ausgespart werden: Sitzpfal Darauff der hawr vor dem ort sitzt.

(Bergbüchlein: 43)

In wenigen Fällen wird die Kopula ersetzt durch „heyßen“ (5×): Fürst Eyn iegklicher ort oder stoln oben / heyßt in der Fürst.

(Bergbüchlein: 43)

3. Das Bergbüchlein – Syntax Die oben beschriebenen drei deutlich voneinander abgrenzbaren Teile des Bergbüchleins (Dialog, Mineralien- und Lagerstättenkunde sowie Glossar) enthielten insgesamt 360 satzwertige Einheiten. Diese setzten sich zusammen aus 119 Einfachsätzen (33,0 %) und 241 Satzgefügen (67,0 %). Einfachsätze und Satzgefüge stehen sich in diesen Texten in einem Größenverhältnis von 1:2 gegenüber.

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Das Bergbüchlein des Ulrich Rülein von Calw

Kapitel

Sätze

ES

SG

SGab

SGzentr

SGgestr

SGgeschl

Obwohl die Teile des Bergbüchleins sowohl funktional als auch inhaltlich deutlich unterschieden sind, ist der Gebrauch syntaktischer Gestaltungsmittel in allen drei Kapiteln fast gleich hoch und schwankt um den Durchschnittswert nur um wenige Prozentpunkte: im Dialog 68,0 %, in der Abhandlung 65,5 % und im Glossar 69,0 %. In allen drei Teiltexten dominiert das Satzgefüge. Die Handhabung der Satzgefüge erfolgt jedoch moderat. davon

Dialog

25

8 = 32,0 %

17 = 68,0 %

8

3

0

6

Abhandlung

206

71= 34,5 %

135 = 65,5 %

93

11

16

15

Glossar

129

40 = 31,0 %

89 = 69,0 %

76

0

5

8

insges.

360

119 = 33,0 %

241 = 67,0 %

177

14

21

29

Tab. 1: Durchschnittlicher Gebrauch der Einfachsätze und Satzgefüge im Bergbüchlein

Die Aussagen der einschlägigen Fachliteratur zum Satzgefüge um 1500 sind ernüchternd: So heißt es bei Ebert (1993: 483), dass man „über das frnhd. Satzgefüge (…) nicht gut unterrichtet“ ist und bei Ebert (1999: 172), dass „über die Häufigkeit der parataktischen und hypotaktischen Verbindungen von Sätzen in den verschiedenen Epochen (…) zum Teil widersprüchliche Information(en)“ vorliegen. Variationen in der Häufigkeit der Hypotaxe seien durch die Textsorte und den Schreiber begründet. Es wird allgemein jedoch angenommen, dass mit dem 16. Jahrhundert eine Zunahme der Hypotaxe zu beobachten sei (Ebert 1993: 483). Diese Zunahme führe jedoch erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einem Überwiegen der Hypotaxe (vgl. Gumbel 1930: 98; Langholf 1971: 209). Bei Admoni (1967: 1990) wird das etwas differenzierter betrachtet. So heißt es diesbezüglich: „Trotz der großen Rolle, die die Parataxe in manchen Textgattungen (z. B. in den Reisebeschreibungen und Chroniken) spielt, ist doch die erste Etappe des Frühneuhochdeutschen (1350 bis 1500 – Zeitraum nach Admoni – R. H.) durch einen außerordentlichen Aufschwung des Satzgefüges“ gekennzeichnet. Es setzt sich der massenhafte Gebrauch der Satzgefüge in den Urkunden fort, und sie werden zuweilen zu „überaus mehrgliedrigen und langen Gebilden“ (Admoni 1990: 150). Für das 16. Jahrhundert hingegen „kann keine Rede von einer frontalen Erstarkung und Ausdehnung der Hypotaxe sein im Vergleich mit dem vorhergehenden Zeitabschnitt, sondern es findet hier eher eine Abnahme statt“ (Admoni 1967: 167). Erst im 17. Jahrhundert nehme die hypotaktische Bauweise stark zu. Besonders die „Etappe 1500–1550 (sei) zum Teil durch krasse Gegensätze“ im Umfang und in der Gestaltung des Satzgefüges gekennzeichnet (Admoni 1990: 169). Diese Aussage trifft nun jedoch

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Rainer Hünecke

auf den vorliegenden Untersuchungsbefund nicht zu. Das Satzgefüge spielt im Bergbüchlein schon eine dominierende Rolle. Vergleicht man nun den Befund der Analyse des Bergbüchleins mit dem Befund einer Untersuchung zum ersten Stadtbuch von Dresden (1403–1436), ist der ersten Aussage von Admoni (1990) zuzustimmen. Im ersten Stadtbuch von Dresden betrug der Anteil der Satzgefüge 59,41 %. Im Bergbüchlein liegt der Anteil der Satzgefüge mit durchschnittlich 67 % um ca. 7 Prozentpunkte höher. Im Verlauf des 15. Jahrhunderts kann an diesem Beispiel ein leichter Zuwachs im Sprachhandeln mit dieser Formulierungsweise beobachtet werden. Kapitel

1 NS

2 NS

9

3

3 NS

4 NS

5 NS

6 NS

Dialog Daniel Knappius

1

1

1

1

9

4

1

1

Kapitel I

3

3

1

Kapitel II

3

2

2

1

Kapitel III

17

9

2

1

Kapitel IV

12

14

4

3

Kapitel V

17

10

4

2

Kapitel VI

5

1

Kapitel VII

7

Kapitel VIII

2

Kapitel IX

2

Kapitel X

2

Traktate (ges.)

68

41

14

Glossar

65

20

4

Bergbüchlein (ges.)

142

65

19

Dialog (ges.)

1

Traktate 1

1

1 1

2 8

2

8

3

2

Tab. 2: Anzahl der Nebensätze

Admoni (1990) betont für den Zeitraum des Spätmittelalters ein Anwachsen im Umfang des Satzgefüges, was er einerseits durch das „Anwachsen des Satzgefüges in den Urkunden verursacht“ (Admoni 1990: 155) sieht, andererseits durch „die Anhäufung von vielen gleichartigen synonymen Wortformen, Wortgruppen, Nebensätzen und beigeordneten Sätzen“ (Admoni 1990: 155) in wortkünstlerischen Texten. Zunächst sei hier der Frage nachgegangen, inwieweit der von Admoni (1990) für die Urkunde postulierte Ausbau der Hypotaxe auch im Bergbüchlein beobachtbar ist. Dazu wurde der Umfang des Satzgefüges hinsichtlich der von einem Hauptsatz abhängigen Nebensätze unter-

Das Bergbüchlein des Ulrich Rülein von Calw

181

sucht. Bezugnehmend auf die Ergebnisse des vorigen Untersuchungsabschnittes wurde das Bergbüchlein in den drei Kapiteln (Dialog, Abhandlung, Glossar) ausgewertet. Im Bergbüchlein werden allgemein ein bis zwei, maximal drei Nebensätze gebraucht. Seltener werden 4 oder 5 Nebensätze gebraucht. Die Verwendung von 6 Nebensätzen ist sehr selten. Mehr als 6 Nebensätze wurden in den Kapiteln des Bergbüchleins nicht verwendet. Der größte Satzumfang mit 6 Nebensätzen wurde im Dialog beobachtet. Je ein Satzgefüge dieser Art wurde in den Redeparts von Daniel und Knappius beobachtet. In den Abhandlungen über die Lagerstätten und die Entstehung der Erze sind es insbesondere die Kapitel 4 und 5, in denen umfangreiche Satzgefüge mit 4 und 5 Nebensätzen zu finden sind. Beispiele: Satzgefüge mit 4 Nebensätzen Vnd in der vermischung diser beyden / werden vndermengt vnärtige grobe schwefelige bradem / [HS] die sich miteynander incorporiren vnd vereynigen / zuo eynem metall / zin genandt / [NS1] von welchem vnärtigen bradem / eyn ietlichs zin / starck % riechend /knirschig vnd brüchig ist / [NS2] also / das es auch alle metall [NS3] darunder es gemengt wirt / [NS4] vnärtig vnd bruchig macht. [NS3]

(Bergbüchlein: 34)

Satzgefüge mit 5 Nebensätzen Item / die Geng [HS] so mit vestem gepirg verschlossen vnd verfasset sein / vnd inn sich selbs milde oder schiferige geschick füren / [NS1] die mit glaßertz oder ander stachel frisch ertzt vermengt sein / [NS2] die selbigen geng sind gar hofflich zu bawen/ [HS] dann solche geschick in der tieffe eynen mercklichen schatz bringen / [NS3] so sie mit andern geschicken oder beqwemen streichen fallen vnd außgehend veradelt werden / [NS4] alß oben berürt ist. [NS5] (Bergbüchlein: 28)

Die Satzgefüge im Glossar haben den geringsten Satzumfang hinsichtlich der Anzahl der Nebensätze. Das ist nicht verwunderlich, handelt es sich doch hierbei um die bereits erwähnten Äquivalenzdefinitionen, in denen das Definiendum im Hauptsatz vor der Kopula steht und das Definiens der Kopula als Nebensatz folgt. Beispiel: Fest Ist / wenn der Gang hert zuo gewinnen ist.

(Bergbüchlein: 42)

Das Definiens bringt in diesen Fällen etwas Prozessuales zum Ausdruck. In den Stadtbuchartikeln des ersten Stadtbuches von Dresden vom Anfang des 15. Jahrhunderts wurden allgemein ein bis zwei, maximal drei Nebensätze gebraucht. Seltener werden 4 oder 5 Nebensätze gebraucht. Die Verwendung von 6 oder 7 Nebensätzen ist

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Rainer Hünecke

selten. Mehr als 7 Nebensätze wurden in den Artikeln des ersten Stadtbuches nicht verwendet. Das ist vergleichbar mit den Werten, die im Bergbüchlein ermittelt wurden. Betrachtet man nun die in das Stadtbuch aufgenommenen Urkunden, so zeigt sich auch hier, dass Satzgefüge mit einem Umfang von einem bis drei Nebensätzen üblich und fünf und sechs Nebensätze selten sind. Allerdings konnten aber auch Satzgefüge mit einem Umfang von 8 oder 9 Nebensätzen beobachtet werden. Damit kann die Aussage von Admoni (1990) zunächst bestätigt werden. Satzgefüge größeren Umfangs sind im Zeitraum des späten Mittelalters besonders in Urkunden zu beobachten, wenngleich auch hier einschränkend angemerkt werden muss, dass deren Umfang im vorliegenden Untersuchungskorpus nicht so umfangreich war, wie es beispielsweise von Admoni (1980) beschrieben wurde. Satzgefüge mit 39 Nebensätzen (vgl. Admoni 1990: 44–49) wurden im ersten Dresdner Stadtbuch nicht ansatzweise produziert. Das Bergbüchlein zeigt einen eher gemäßigten Gebrauch des Satzgefüges mit durchschnittlich 1 bis 4 Nebensätzen pro Satzgefüge. Es kann also an dieser Stelle die oben gemachte Aussage bestätigt werden, dass es Textsortentraditionen bzw. -konventionen gibt, die die Wahl der Formulierungsmuster bestimmen. Bei der Formulierung eines Urkundentextes war der spätmittelalterliche Schreiber an andere Konventionen gebunden als bei der Formulierung des Bergbüchleins. Zu solchen Konventionen gehörte wohl auch die der „leichten“ Rezipierbarkeit. Satzgefüge mit einer geringen Tiefenstaffelung sind rezipientenfreundlicher. Der Umfang des Ganzsatzes in den einzelnen Teilen des Bergbüchleins ist doch unterschiedlicher, als das nach den bisherigen Erörterungen zu erwarten war. Das Glossar zeigt hier eine deutlich andere Formulierungsweise. Hinsichtlich der Wortformen pro Satz hat der Abhandlungsteil den größten Umfang mit 26,4 syntaktischenWortformen pro Satz. Der Dialogteil hat mit 23,4 Wortformen pro Satz einen nur unwesentlich geringeren Umfang. Dahingegen sind die Sätze im Glossar mit 11,7 Wortformen deutlich geringer. Ursächlich ist das in der Vertextungsstrategie dieses Abschnittes begründet. Sowohl hinsichtlich der Anzahl der Satzglieder als auch hinsichtlich der Anzahl der Nebensätze ist der Dialogteil mit langen Syntagmen ausgestattet. Wortformen pro Satz

Satzglieder pro Satz

Nebensätze pro Satzgefüge

Dialog

23,4

9,3

2,1

Abhandlung

26,4

8,5

1,7

Glossar

11,7

6,4

1,3

Tab. 3: Umfang des Ganzsatzes

Ein Vergleich mit den Daten von Admoni (1990), der in den Chroniken von 21,92 bis 82,0 Wortformen, in Reisebeschreibungen von 23,84 bis 55,54, in Fachbüchern von 27,7 bis 35,4 Wortformen sowie in den Schöffensprüchen zwischen 55,31 und 60,75

Das Bergbüchlein des Ulrich Rülein von Calw

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Wortformen ermittelt hat, zeigt deutlich, dass die Teile des Bergbüchleins an der unteren Grenze der o. g. Werte lagen, mit dem Glossar sogar noch deutlich darunter.

4. Fazit Von einer ausgeprägten hochkomplexen kanzelarischen Syntax im Bergbüchlein kann nach dem oben dargestellten Untersuchungsbefund keine Rede sein. Deutlich erkennbar sind im Bergbüchlein verschiedene (didaktische) Diskurse, die neben eigenen Vertextungsstrategien auch spezifische Formulierungshandlungen erkennen lassen, die wiederum auf entsprechende Traditionen der Verschriftlichung zurückzuführen sind. Während im Fall des umschließenden Dialoges eine aus mündlichen Diskurszusammenhängen tradierte Textsorte vorliegt (Unterweisungsgespräch), folgt die Abhandlung mit ihren 10 Teilabhandlungen einem primär schriftlich tradiertem Muster (Traktat). Das Glossar hingegen folgt wiederum anderen Mustern, wie sie aus der Rhetorik und der Mathematik bekannt sind (Äquivalenzdefinition). Die Wahl der Formulierungsmöglichkeiten war/ist durch diese Musterhaftigkeit eingeschränkt. Auf der Ebene des Satzumfanges zeigt sich das jedoch nur beim Glossar. Zwischen Dialog und Abhandlung wird das nicht so deutlich. So ist die Unterweisungssituation (Dialog) durch kompaktere Syntagmen gekennzeichnet, die man dort eher weniger erwarten würde. Gleichzeitig aber darf das auch nicht überschätzt werden. Denn im Dialog werden keine unübersichtlichen (papierenen) Satzgefüge verwendet. Vielmehr dominiert hier das abperlende Satzgefüge. Satzgefüge haben maximal 6 Nebensätze. Im Vergleich mit der syntaktischen Ausgestaltung von Texten im Verwaltungsdiskurs (Kanzleisprache) ist die Syntax im Bergbüchlein rezipientenfreundlich. Wer waren denn nun aber die Rezipienten dieses Textes? Betrachtet man die Überlieferung des Textes mit insgesamt 9 Drucken im 16. Jahrhundert, dann handelt es sich um einen recht häufig rezipierten Text. Als potentielle Rezipienten des Bergbüchleins kann man zunächst all die annehmen, die irgendein Interesse am Bergbau hatten. Das waren auf der einen Seite diejenigen, die im Bergbau tätig waren – die Knappen, Steiger und Schichtmeister, das Bergvolk, und andererseits diejenigen, die am Bergbau interessiert waren und interessiert werden sollten – die kapitalgebenden Gewerken, die Bergfreunde. Allerdings ist dies gleichzeitig auch wiederum einzuschränken. Denn die im Bergbau tätigen Personen werden hinsichtlich einer Kenntnisvermittlung eher weniger auf diesen Text angewiesen gewesen sein. Eine solche Kenntnisvermittlung war produktionsbegleitend. Die Wissensvermittlung erfolgte direkt vor Ort. Eine vorpraktische bergmännische Lehr-Lern-Tradition ist für den Freiberger Bergbau erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts nachweisbar. Somit scheidet diese Rezipientengruppe eher mehr als weniger aus, wenngleich eine solche Rezipientengruppe durchaus möglich wäre.

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Rainer Hünecke

Die Drucklegungen des Bergbüchleins verorten die potentielle Rezeption des Textes überwiegend in den oberdeutschen Sprachraum. Wenngleich auch dort Bergbau betrieben wurde, so ist auch hier von einer produktionsbegleitenden Kenntnisvermittlung auszugehen. Es ist auch wenig wahrscheinlich, dass ein Text mit der oben beschriebenen Vertextungsstrategie als ein Lehrtext im oberdeutschen Sprachraum rezipiert worden ist. Das bedeutet aber nicht, dass ein solcher Text, in dem allgemeines Wissen über den Bergbau und spezielles Wissen über Erzvorkommen und Lagerstätten im sächsischen Raum nicht der Wissensvermittlung im oberdeutschen Sprachraum diente. Man kann vielmehr davon ausgehen, dass dieser Text (zumindest ab der zweiten Drucklegung im 16. Jahrhundert) genau dort im oberdeutschen Sprachraum rezipiert werden sollte, jedoch nicht im Bergbau. Dieser Text sollte vielmehr von potentiellen kapitalgebenden Gewerken zur Kenntnis genommen werden (vgl. auch diesbezüglich die Ausführungen von Keil 1995). Die oberdeutschen Kapitalgeber sollten mit dem Bergbüchlein davon überzeugt werden, in den erzgebirgischen Bergbau zu investieren. Denn nach Aussage des Bergbüchleins verspricht das Erzgebirge reichen Bergsegen. Nach Aussage des alchimistischen Diskurses muss es dort abbauwürdige Erzvorkommen (insbesondere Silbervorkommen) geben, die auch so beschaffen sind (Aussage des bergmännischen Diskurses), dass fast jeder Laie die Abbaumöglichkeiten erkennen konnte. So ist dem Text des Bergbüchleins die Intention einer Werbeschrift durchaus zu unterstellen. Das bedeutet nicht, dass mit dem Text nicht auch die Intention der Aufklärung verfolgt wurde, stützt sie doch die Werbebotschaft. In diesem Sinne bekommt auch das angefügte Glossar eine Funktion. Es hat verständnissichernde Funktion für den im Bergbau unkundigen Kapitalgeber und gibt ihm die Möglichkeit, ein „Wort mit zu reden“.

Quellen / Editionen Eyn wolgeordent vnd nützlich büchlein / wie man Bergwerck suchen vnd finden sol / von allerley Metall / mit seinen figuren / nach gelegenheyt deß gebirgs artlich angezeygt / Mit anhangenden Bercknamen den anfahenden bergleuten vast dinstlich. Sächsische Staats-, Landes- und Universitätsbibliothek Dresden; http://www.slub-dresden.de/sam mlungen/digitale-sammlungen (Stand 20. 10. 2011).

Literatur Admoni, Wladimir (1967): Der Umfang und die Gestaltungsmittel des Satzes in der deutschen Literatursprache bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 89. Halle, 144–199. Admoni, Wladimir (1990): Historische Syntax des Deutschen. Tübingen. Ebert, Robert Peter (1993): Syntax. In: Robert Peter Ebert, Oskar Reichmann, Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Wegera (Hrsg.): Frühneuhochdeutsche Grammatik. Tübingen, 313–384. Ebert, Robert Peter (1999): Historische Syntax des Deutschen II. 1300–1750. Berlin.

Das Bergbüchlein des Ulrich Rülein von Calw

185

Gumbel, Hermann (1930): Deutsche Sonderrenaissance in deutscher Prosa. Strukturanalyse deutscher Prosa im sechzehnten Jahrhundert. Frankfurt. Keil, Gundolf (1995): „ein kleiner Leonardo“. Ulrich Rülein von Kalbe als Humanist, Mathematiker, Montanwissenschaftler und Arzt. In: Gundolf Keil (Hrsg.): Würzburger Fachprosa-Studien. Beiträge zur mittelalterlichen Medizin-, Pharmazie- und Standesgeschichte aus dem Würzburger Institut. Michael Holler zum 60. Geburtstag. Würzburg, 228–247. Keil, Gundolf (2008): Rülein, Ulrich von Kalbe. In: Kurt Ruh, Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger, Franz Josef Worstbrock (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. Bd. XI. Berlin / New York, Sp. 1345–1348. Keil, Gundolf (2012): Balneotherapie im ‚Buch von alten Schäden‘, der ältesten balneotherapeutischen Spezialschrift des Abendlands. In: Fritz Hlawitschka & Barbara Gießmann (Hrsg.): Forschungsbeiträge der Geisteswissenschaftlichen Klasse. (=Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste). München, 55–61. Langholf, Barbara (1971): Die Syntax des deutschen Amadisromans. Hamburg. Pieper, Wilhelm (1955): Ulrich Rülein von Calw und sein Bergbüchlein. Mit Urtext-Faksimile und Übertragung des Bergbüchleins von etwa 1500 und Faksimile der Festschrift von 1521. Berlin.

LIBUŠE SPÁČILOVÁ

Deutsche Rechtstexte als Quelle pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit

1. Einführung Der Schriftgebrauch war im Hoch- und Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit ein wichtiges Werkzeug in der zweckorientierten Lebenspraxis, das zur Entstehung der Normen einen bedeutenden Beitrag leistete. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche schriftliche Produkte stellen heute eine wichtige Quelle für Untersuchungen pragmatischer Schriftlichkeit dar. Untersucht wird die damalige Verwendung der Schrift im alltäglichen Kontext, analysiert werden verschiedene Formen des Gebrauchs von Texten, die unmittelbar zweckhaftem Handeln dienten oder menschliches Tun durch die Bereitstellung von Wissen anleiten wollten. Pragmatische Schriftlichkeit war in diesem Sinne dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit nie ganz fremd (Keller 1992: 7). Neue Repräsentanten der Schriftkultur, die an der Entwicklung pragmatischer Schriftlichkeit einen bedeutenden Anteil hatten, waren Bürger, und einen der Bereiche, deren Entfaltung direkt mit pragmatischer Schriftlichkeit zusammenhing, präsentierte das Gebiet des deutschen Rechts. Die erste schriftliche Kodifizierung des älteren, ursprünglich mündlich überlieferten germanischen Gewohnheitsrechts stellen die leges barbarorum dar, die mit den Kapitularien Karls des Großen die ältesten Aufzeichnungen des deutschen Rechts bilden (Schmidt-Wiegand 1999: 2310 f.). Im ausgehenden Hochmittelalter verloren die Stammesrechte ihre Geltung, manche wurden aber beim Verfassen neuer Rechtsgesetze benutzt. In den europäischen Ländern setzte sich seit der Mitte des 12. Jahrhunderts eine zunehmende Tendenz zur Rechtsaufzeichnung durch, ein „Drang zur Kodifikation“ (Michael 2003: 294). Die ersten Rechtsquellen wurden ausschließlich in lateinischer Sprache niedergeschrieben, erst seit der Mitte des 13. Jahrhunderts geschah dies auf Deutsch. Das erste Rechtsbuch1 in deutscher Sprache war die Übersetzung des zwischen 1220

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Mittelalterliche Rechtsbücher sind Sammlungen des angewandten Rechts aus dem Zeitraum 1200– 1500, die die Rechtsmaterie in abstrakter oder allgemeingültiger Form in Latein oder in der Volkssprache behandeln. Die Regeln in Rechtsbüchern sind durch Gewohnheit, Sitte und Brauch des

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Libuše Spáčilová

und 1235 ursprünglich lateinisch verfassten ‚Sachsenspiegels‘ durch den ostfälischen Edelmann Eike von Repgow.2 Der ‚Sachsenspiegel‘ bedeutete im deutschen Recht den Übergang vom Mündlichen zum Schriftlichen und kam besonders bei der Entstehung des Stadtrechts zur Nutzung. Ein erstes Ergebnis der Rezeption des ‚Sachsenspiegels‘ im städtischen Rechtsbereich war das 1270 verfasste ‚Hamburger Ordeelbook‘ (Urteilsbuch) Jordans von Boizenburg, der in den Jahren 1236–1269 das Amt des ersten Ratsund Stadtnotars bekleidete. Starke Beeinflussung durch den ‚Sachsenspiegel‘ weisen z. B. das Zwickauer (vor 1348–1358), das Silleiner (1378), das Eisenacher (zw. 1384– 1397) und das Glogauer Rechtsbuch (1386) auf. Eines der ältesten und bedeutendsten Rechtsbücher, die nach dem Vorbild des ‚Sachsenspiegels‘ verfasst und ursprünglich in deutscher Sprache formuliert wurden, war das nach 1357 und vor 1387 niedergeschriebene ‚Meißner Rechtsbuch‘, das zu den meistverbreiteten städtischen Rechtsbüchern des 14. Jahrhunderts gehörte. Ein wichtiger Anlass zur Entstehung städtischer Rechtsbücher waren komplizierte Rechtsverhältnisse in Städten, in denen neben Statuten des Stadtrates und Privilegien des Landesherrn auch das Gewohnheitsrecht benutzt wurde. Der Bedarf an der Verschriftlichung des Rechts mit festgelegten Rechtsnormen wurde immer größer; ein Prozess der Pragmatisierung im Hinblick auf bestimmte Benutzergruppen und Anwendungsräume erreichte im 15. Jahrhundert im Rechtsbereich seinen Höhepunkt (Schmidt-Wiegand 2003: 472). Im Folgenden konzentrieren wir uns auf nur einen Aspekt dieser Pragmatisierung – wir werden eine Antwort auf die Frage suchen, wie sich in dem verschriften deutschen Recht die Tatsache widerspiegelte, dass Rechtsverhandlungen vor Gericht mündlich gehalten wurden. Kommen Anweisungen in deutschen mittelalterlichen Rechtsbüchern vor, wie man Gerichtsreden führen sollte? Zu diesem Zweck wurden zwei bekannte deutsche Rechtsbücher – der ‚Sachsenspiegel‘ und das ‚Meißner Rechtsbuch‘ – ausgewählt. Die große Verbreitung beider Rechtsbücher zeigt sich an der Zahl deren erhaltener Handschriften; nach derzeitiger Kenntnis lassen sich 341 handschriftliche Landrechtstexte und 94 Lehenrechtshandschriften feststellen und erhalten sind vier Bilderhandschriften des ‚Sachsenspiegels‘. 3 Das ‚Meißner Rechtsbuch‘ wird in 55 vollständigen, 33 unvollständigen oder in Fragmenten erhaltenen Manuskripten aufbewahrt, 11 Handschriften sind verschollen (Spáčil/Spáčilová 2010: 166ff.).

2

3

Rechtslebens begründet und durch die Rechtspraxis mündlich überprüft (vgl. Schmidt-Wiegand 2003: 435). Wie selbst Eike von Repgow anführte, wurde die erste Version des ‚Sachsenspiegels‘, die heute nicht mehr erhalten ist, in lateinischer Sprache verfasst. Auf Anregung seines Lehnsherrn, Grafen Hoyer von Falkenstein, übersetzte Eike das Werk ins Deutsche. Die Angaben über die vollständig erhaltenen Manuskripte des ‚Sachsenspiegels‘ bewegen sich von 230 bis 460 Handschriften (vgl. Nowak 1965: 151; Lieberwirth 1993: 4). Schelling führt beispielsweise 450 Manuskripte und Fragmente an (Schelling 1996: 120).

Deutsche Rechtstexte als Quelle pragmatischer Schriftlichkeit

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2. Kurze Charakteristik beider Rechtsbücher 2.1 Der ‚Sachsenspiegel‘ In diesem ursprünglich in lateinischer Sprache verfassten Rechtsdokument4 wollte Eike von Repgow das Recht seines Stammes, der Sachsen, vorstellen. Niedergeschrieben wurde das Land- und Lehenrecht, das im 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts im östlichen Sachsen galt. Da Eike als Schöffe tätig war, schöpfte er aus seiner Rechtspraxis. Zu den wichtigsten Quellen beim Verfassen dieses Rechtsbuchs gehörten das alte niederdeutsche Gewohnheitsrecht, das ostfälische Landesrecht, Verordnungen und Sprüche des Kaisergerichts, Reichsgesetze und Landfrieden (Spáčil/Spáčilová 2010: 349). Wahrscheinlich wurden auch Grundsätze des in Magdeburg benutzten Rechts verwendet. Eike übersetzte das Rechtsbuch in die elbostfälische-niederdeutsche Mundart; diese Urfassung blieb nicht erhalten, die älteste Handschrift in deutscher Sprache stammt aber noch aus dem 13. Jahrhundert (Schott 2006: 374). Der ‚Sachsenspiegel‘ besteht aus zwei Teilen, dem Landrecht und dem Lehenrecht, das Landrecht wurde zunächst in fünf, später in drei Bücher gegliedert, die aus Kapiteln bestehen. Kapitel sind weiter in Artikel unterteilt.

2.2 Das ‚Meißner Rechtsbuch‘ Der ‚Sachsenspiegel‘ diente als Grundlage für die Entstehung einer ganzen Reihe von weiteren Rechtsbüchern dieser Art. Eine der vordersten Stellen nimmt unter ihnen das ‚Meißner Rechtsbuch‘ ein, das auf dem relativ großen Territorium Nord- und Mitteldeutschlands gebraucht wurde, neben der Magdeburger Markgrafschaft auch im Osterland, Pleissnerland, Vogtland, in Sachsen, Thüringen, Westfalen, Preußen, Brandenburg, Schlesien, Nordböhmen und Nordmähren. Als Quellen dienten dem anonymen Autor5 des ‚Meißner Rechtsbuchs‘ vor allem das Görlitzer Recht, manche Sammlungen des Magdeburger Rechts, das Zwickauer Rechtsbuch, das Goslarer Stadtrecht und andere. Der Autor veröffentlichte im Vorwort seine Absicht, das Stadtrecht, Landrecht und Kaiserrecht in ihrem Einklag und in ihrer Verschiedenheit zu zeigen. Die Manuskripte des ‚Meißner Rechtsbuchs‘ bestehen in der Regel aus 4–8 Büchern, die sich weiter in Kapitel gliedern. Die Kapitel werden in kleinere Abteilungen, sog. Distinktionen, unterteilt.

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Die lateinische Version ist nicht erhalten geblieben. Es ist möglich, dass sie verloren gegangen ist oder von Eike vernichtet wurde (vgl. Spáčil/Spáčilová 2010: 20). Ullrich zufolge sind der Autor des ‚Meißner Rechtsbuchs‘ und der Autor des ‚Zwickauer Rechtsbuchs‘ Heinrich, der Stadtschreiber in Zwickau, identisch. Diese Hypothese wurde bisher nicht bestätigt (vgl. Spáčil/Spáčilová 2010: 353).

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3. Gerichtsrhetorik in beiden Rechtsbüchern Beide Rechtsdokumente bringen auf verständliche Weise wichtige und nützliche sachliche Informationen aus dem Rechtsgebiet für die Rechtspraxis. Das ist ein wichtiger Aspekt der pragmatischen Schriftlichkeit. Ein anderer Aspekt besteht in der Veröffentlichung von Anweisungen, die mit dem Verlauf der Gerichtsprozesse zusammenhängen. Es lässt sich voraussetzen, dass auch die Gerichtsrhetorik entwickelt und präzisiert wurde. Unter dem Begriff „Gerichtsrhetorik“ verstehen wir allgemein gehaltene Ratschläge zur Rede und zur Körperhaltung vor Gericht sowie einige Sentenzen über das Recht im Sinne von ersten volkssprachlichen Rhetorikschriften Europas.6 Der Leser bekommt leicht fassliche konkrete Anweisungen und Verhaltensmaßregeln für die kommunikativ strategischen Aspekte des Gerichtsverfahrens (Knape/Roll 2002: 289) in Form von Verweisen auf unmittelbare Kommunikationssituationen vor Gericht, auf die Form von Eiden, Anklagen und Verteidigungen oder auf den Wechsel der Rede und Gegenrede. Aus verschiedenen Reflexen gesprochener Sprache in den Rechtstexten können mit Vorsicht Rückschlüsse auf die mündliche Kommunikation vor Gericht gezogen werden (Schmidt-Wiegand 1998: 281). Bereits im ‚Sachsenspiegel‘ wurde darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Beschuldigte zu antworten weigern konnte, wenn er nicht in seiner Muttersprache beschuldigt wurde und Deutsch nicht verstand. In diesem Fall musste der Vorsprecher den Verlauf der Kommunikation garantieren:7 [In welcher Sprache man vor Gericht den anderen beschuldigen soll.] Ieclich man, den man schuldiget, der mac wol weigeren zu antwurtene, – man in schuldige in ander sprache, die in angeborn ist, – ab her dusch nicht en kan und sin recht dar zu tut. Schuldiget man in denne an siner sprache, so muz her antwurten oder sin vorspreche, als ez der cleger und der richter verneme. (Sachsenspiegel, im Weiteren S, III.71.1)

Diese Information wurde auch im ‚Meißner Rechtsbuch‘ (im Weiteren M) veröffentlicht. Sowohl im ‚Sachsenspiegel‘ (I.63.1) als auch im ‚Meißner Rechtsbuch‘ (IV.18.1) finden wir daneben Anweisungen für die vor Gericht realisierte Kommunikation:

6

7

Die erste volkssprachliche Rhetorikschrift Europas wurde von Notker Teutonicus vor 1022 als kurze althochdeutsche Ergänzung seiner lateinischen Rhetorik verfasst, aus mittelhochdeutscher Zeit stammt keine deutschsprachige Rhetorik, es wird von der „hochmittelalterlichen Rhetorikpause“ gesprochen. Erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts wurden deutsche Formularsammlungen als Sammlungen mit deutschen Mustertexten niedergeschrieben, die in Kanzleien für sozialoffene kommunikative Zwecke im Schriftbereich bestimmt waren (vgl. Knape/Roll 2002: 11). Als Vorsprecher wurde der Wortführer der Partei im Rechtsstreit bezeichnet. Es war wichtig, eine verfahrenskundige Person für die Prozessrede zu bestellen.

Deutsche Rechtstexte als Quelle pragmatischer Schriftlichkeit S

M

… Swenne im daz mit urteilen gevunden wirt, daz erz tun muze, so vrage her, wie he sich sin underwinde sulle, daz ez ime helfende si zu sime rechte, si vindet man ime zu rechte, gezogentliche bi sime houbt gate. Swenne her sich sin underwunden hat, und mit urloube gelazen hat, so sal her ime kundigen, wor umbe her sich sin underwunden habe, das mag her tun zuhant, ab her will, oder gespreche dar umbe haben; so muz her in schuldigen, daz her den vride an ime gebrochen habe, antweder uffe des richteres straze, oder in deme dorfe; zu wilcher wis her in gebrochen habe, zu der wis clage her uf in. So schuldige her in aber, daz her in gewundet hab, und die not an ime getan habe, die her wol bewisen muge (S I.63.1).

… Wenn her sich des mit orteylen underwunden hat, so vrage her yn mit orteylen, ab her yn mge ad msse lassen, das is ym zu seynem rechten und zu seyme kamphe icht schade. So vynde man ym, her sal yn geczochticlichen lassen ane rucken und ane stossen. Wenn das gescheen ist, so sal se der richter beyde vorbrgen, yren kamph zu volbrengen ane ungerichte adir ane wyderrede. Wenn das geschen ist, so sal her vorkundigen, worumbe her yn angesprochen habe, das mag her tun zuhant, ab her wyl adir gespreches dorumbe byten. So sal her yn zu dem ersten beschuldigen, das her den vrede an ym adir an seym moge gebrochen habe, in welcher weyse das gescheen ist, als sal man das beschuldigen und belewten in der clage, in wychpilde adir in dorfern, in lantrecht adir of des reyches strasse. Dornach clage her zu dem andern mole, das her yn gewundet habe adir seyne mag und dy not getan habe, das her beweysen mge (M IV.18.1).

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Diese Anweisungen wurden als indirekte Fragen oder als Nominalkonstruktionen den Benutzern sowohl im ‚Sachsenspiegel‘ als auch im ‚Meißner Rechtsbuch‘ vorgelegt (Der richter sal iemer den man vragen, ab her an sines vorsprechen wort iehe, und sal urteiles vragen zwischen zweier manne rede, S, I.62.7; so sal der richter vrogen den, der is of lest, ob is seyn wille sey, M, I.23.1). Diese berichtete Rede zeigte eine bestimmte Freiheit in der Formulierung der Fragen in der Kommunikation direkt vor Gericht. Außerdem finden wir aber in beiden Rechtsbüchern interessante Beispiele in der direkten Rede, die einen bedeutenden Beitrag zur Pragmatisierung der Rechtstexte darstellen.

3.1 Die direkte Rede 3.1.1 Die direkte Rede im ‚Sachsenspiegel‘ Anweisungen, wie man die Sprache vor Gericht verwenden soll, bieten Passagen, die in Form der direkten Rede vorgelegt werden. Im ‚Sachsenspiegel‘ wurden drei Texte gefunden, in denen Vorbilder für die direkte Rede vor Gericht vorkommen. Zwei von diesen Texten wurden auch im ‚Meißner Rechtsbuch‘ eingetragen – der erste Text umfasst die Worte des Klägers, der zweite gibt eine Anweisung, wie man das Urteil schelten soll; die sprachliche Realisierung ist in beiden Dokumenten vergleichbar:

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Libuše Spáčilová

S

M

So spreche her [der Kläger] vort: „Da sach ich selbe in selben und beschriete in mit deme geruchte. Wil erz bekennen, daz ist mir lib, und en bekennet erz nicht, ich wil ez en bereden mit alle deme rechte, daz mir daz lantvolk zuteilet, oder die schepphenen, ab ez under kunges banne ist“ (S I.63.2).

So spreche her [der Kläger] vort: „Do sach ich yn selber und beschrey yn mit dem gerufte. Wyl her myr des bekennen, das ist myr lyb, wyl her myr des nicht bekennen, so wyl ich yn des obirreden mit alle dem rechten, als myr des das lantvolk adir dy scheppfen orteyln“ (M IV.18.1).

Swer so ein urteil beschuldet, der spricht alsus: „Daz urteil, daz der man vunden hat, daz ist unrecht, daz scheld ich und zeiche des, dar ich ez durch recht zeihen sal, und bete dar umbe eines urteiles, war ich ez durch recht zeihen sal“ (S II.12.11).

Wer orteyl beschelden wyl, der spreche alsus: „Das ortel, das der man N. ervunden hat, das ist unrecht, das beschelde ich und zye mich des, wo ich das durch recht mich hynczyhen sal.“ Und ist lantrecht und wychpylde (M IV.20.17).

Der dritte Text mit der direkten Rede, dessen Äquivalent aber im ‚Meißner Rechtsbuch‘ fehlt, stellt eine kurze Aussage des Beklagten im ‚Sachsenspiegel‘ dar, die als Bedingung für einen weiteren Verlauf des Rechtsprozesses diente: Beclaget man einen man in sin geinwerte umbe eigen oder umme len, daz her in rechten geweren hat, man sal ime teidingen zu deme nehsten dinge, ab her spricht: „Me en ist hie umbe her (S II.3.1) nicht geteidinget.“8

Die angeführten Beispiele für die direkte Rede in den Texten im ‚Sachsenspiegel‘ und in den entsprechenden Passagen im ‚Meißner Rechtsbuch‘ wurden in der Ich-Form verfasst – der Kläger und der Beklagte sprechen niemanden an, sie wenden sich nur indirekt an weitere Personen im Gerichtsprozess (Wil erz bekennen, daz ist mir lib, und en bekennet erz nicht, ich will ez en bereden …, S I.63.2). Der ‚Sachsenspiegel‘, in dem außerdem keine weiteren Partien in der direkten Rede gefunden wurden, stellt einen günstigen Beleg dafür dar, dass für das Rechtsgebiet eine neue Phase, die Phase der Schriftlichkeit, einsetzte (Schott 2006: 372).9 Dieses Rechtsbuch basierte auf dem mündlich überlieferten Gewohnheitsrecht – was sich bewährt hat, war richtig; ausführlichere Anweisungen für die vor Gericht realisierte Kommunikation in der Zeit des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit im deutschen Recht waren wahrscheinlich noch nicht nötig. Man kann voraussetzen, dass das jüngere ‚Meißner Rechtsbuch‘ nicht nur die Stadtrechte kodifizierte, sondern auch die Kommunikation vor einem Stadtgericht durch Anweisungen präzisierte, denn die Urteilsfinder – der Richter und die Schöffen – bekleideten ihre Posten immer nur kurze Zeit und verfügten nur selten über entsprechende Fachkenntnisse im rechtlichen Bereich.

8 9

Wenn der Beklagte diesen Satz vor Gericht ausspricht, erhält er Frist für seine Antwort vor Gericht. Siehe das Nachwort in der Edition des ‚Sachsenspiegels‘ aus dem Jahre 2006.

Deutsche Rechtstexte als Quelle pragmatischer Schriftlichkeit

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3.1.2 Die direkte Rede im ‚Meißner Rechtsbuch‘ Die Kommunikation vor einem Stadtgericht war etwas Neues, was erst mit der Entwicklung der Städte entstand; um Konflikte vor Gericht zu vermeiden, sollten die Urteilsfinder ein Hilfsmittel in Form von Rechtsbüchern bekommen, das auch über die Kommunikation vor Gericht informiert. ‚Das Meißner Rechtsbuch‘ umfasst neben den zwei genannten Texten mit der direkten Rede in der Ich-Form weitere 20 Texte, in denen insgesamt 28 Passagen mit der direkten Rede eingetragen wurden, die zum mündlichen Vortragen vor Gericht bestimmt waren, und außerdem 12 Eide, die zur mündlichen Eidesleistung vor Gericht dienten. Die Passagen mit der direkten Rede einschließlich der Eide fehlen im ‚Sachsenspiegel‘ – entweder kommen sie im ‚Sachsenspiegel‘ gar nicht vor (26mal) oder die entsprechenden Eintragungen sind zwar vorhanden, aber ohne direkte Rede (zweimal). Die Texte mit der direkten Rede bringen Informationen nicht nur darüber, wer und was sagen soll, sondern auch darüber, wie man Personen vor Gericht ansprechen soll, ob man sie duzen oder ihrzen soll, welche Gesten man machen soll oder was man sich anziehen soll. An folgenden Beispielen wird gezeigt, wie der anonyme Verfasser des ‚Meißner Rechtsbuchs‘ die direkte Rede in den Artikeln, die aus dem ‚Sachsenspiegel‘ übernommen wurden, eingliederte: S

M

Alle verguldete Schult muz der man bringen Wyert eyn man beclayt umb schult vor gerichselbe dirte, die ez sahen und horten (S II.6.2). te und yener spricht „Ich was se schuldig, ich byn ir abir nu nicht schuldig“, das mus her selbdritte vorrichten. Spricht her auch „Ich habe se vorgolden“, das stet auch selbdritte (M III.13.1). Swen de [echte] vrone bode van deme richtere unde van den scepen gekoren wirt, so scal he deme koninge hulde dun na vries mannes rechte; so scal ene de richtere nehmen bi der hant unde setten ene op en kussen unde op enen stul jegen sek, unde scal eme de hilgen in den scot dun unde vrede werken [eme] to rechte (S III.56.1).

Wenne der vronebote gekoren wirt von dem richter und von den scheppfen, so sal her dem konyge holden adir holde tn noch vreyes mannes recht. Dornoch sal yn der richter nemen bey der hant. Und sal yn seczen kegen sich of eyn stl und of eyn kussen und sal ym dy heyligen seczen of dy schos, do sal her sweren offe, das ym der richter vorspreche: „Ich tu hy hulfe adir holde meynem herren, dem konyge, wo her in dem lande ist, und swere ym zu den heyligen in vreyes mannes recht, das ich alle recht meynem herren, dem konyge, den seynen armen und reychen beysten und wyl und vrdern und sterken alle reychen zeyt zu seynem rechten und wyl des nichten lassen durch lyeb noch durch leyt noch durch vorchte noch durch gabe noch drch keyner hande sachen

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So hevet de vrone bode de gewalt, dat he panden unde vronen iewelken man unde sin gut mit rechte, dar he mit ordelen to gegeven wert. Dut aver he unrecht, he mach sinen lif unde sin gut verwerken alse en ander man. Swert ne scal he nicht vuren noch nene were. Wederstreit men eme rechtes, mit deme geruchte scal he dat lant dar to laden, unde bekome rechtes, of he moge; ne mach he is nicht bekomen, he klage deme richtere (S III.56.2).

Libuše Spáčilová wylle, als mir got helfe und alle heyligen.“ Wenn her den eyd getan hat, so sal ym der richter vrede wirken mit desen worten: „Nu du meynem herren konyge rechte holde hast getan in vreyes mannes recht, so wyrke ich dyer hy gotis vrede und meynes herren des konyges vrede zu allen deynen gescheften, dye du zu handeln hast, dy du auch nicht vorwyrkest mit deynes selbes mutwyllen.“ Wenn nu das geschehen ist, so hat der vronebote gancze macht und gewalt, das her vrone phenden mus adir mag und bestetigen mus adir mag mit rechte do her mit orteylen zu gegeben wirt. Tut her abir unrecht, her mag seynen leyp adir gesnt also wol vorwirken recht als eyn ander man (M VI.20.4).

Die direkte Rede ist im ‚Meißner Rechtsbuch‘ immer durch einen redeeinleitenden Satz eingeführt, in dem ein Sprecher genannt wird, z. B. So spreche der richter oder fronebote dyse wort (M I.23.1) oder spricht der jude (M III.17.24) oder der cleger sal sprechen (M IV.4.7). Unter den Sprechern finden wir Richter, Froneboten (Gerichtsboten10), Vorsprecher, Boten, Stadtrat, Schreiber, alle Urteilsfinder, aber auch Kläger, Juden, den man, der schuldig war, oder jemanden, der orteyl beschelden wyl (M IV.20.17). Angeführt wird auch, vor wem man die Rede vortragen soll, z. B. der sal is vor gerichte ofbyten, vor richter und vor scheppfen und vor dyngleuten (M I.38.4). Da es sich um Anweisungen, wie man vor Gericht reden soll, oder um Eide handelt, sind die eigentlichen Reden und Eide durch Sätze eingeleitet, in denen entweder das Präteritopräsens sollen im Indikativ Präsens (und sal em vryde an dem lassen wyrken mit dysen worten, M I.38.4; sal sweren den eyd, M III.1.1; der Richter adir der vronebote sal sprechen also, M I.38.4) oder das Verb sprechen im Konjunktiv Präsens stehen (So spreche der richter oder fronebote dyse wort, M I.23.1). Diese Verbformen können verschiedene Bedeutungsschattierungen bezeichnen – von Anordnung über Verpflichtung bis zur Empfehlung. In einleitenden Sätzen zur direkten Rede, die zwei Passagen verbinden, finden wir Konditionalsätze für die Fälle, in denen eine von zwei Möglichkeiten realisiert wird, z. B. Wyrt denne nicht widersproche, so spreche her foyt (M I.23.1) oder Spricht denne ymant zu der zeyt doweder, so spreche her vort (M I.38.4). In Artikeln mit mehreren Partien mit der direkten Rede erinnert die Reihenfolge an ein Szenario: Nu sal man wissen, das man eynen also sal vorbrgen mit dysen worten. … 1. Der cleger sal sprechen …; 2. So spreche der cleger furt …; 3. Wenn her an gehegter banck stee, so spreche der richter …; 4. So spreche der vorspreche vort …; 5. Dornach spreche her vort, der dy klage frt …; 6./7. So spreche her […] vort …; 8. Geschrey sal also gescheen …; 9. 10

Der Fronebote war eine gerichtliche Hilfsperson, vom Richter und den Schöffen aus den Abgabenpflichtigen gewählt. Er lud die Parteien vor Gericht ein, verhaftete, beschlagnahmte Grundstücke und vollzog Körperstrafen (Schott 2006: 395).

Deutsche Rechtstexte als Quelle pragmatischer Schriftlichkeit

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So spreche der vorspreche …; 10. Er denne keyn orteyl inkumpt, so spreche der richter zu dem gevangen man … (M IV.4.7). Angeführt sind nicht nur Personen, die sprechen, sondern auch diejenigen, zu denen gesprochen werden sollte, z. B. so spreche der richter zu dem gevangen man (M IV.4.7). Die direkte Rede begleiten Kommentare, die empfehlen, was der Sprecher je nach der konkreten Lage ergänzen sollte, z. B. „hy hat N. dem B. vorkauft das eygen“ adir haus adir hof, was das ist (M I.23.1); „… eygen adir gut,“ welcherley das ist, das sal man benennen (M II.38.4); „Ich swere gote und meynem herren dem Konige,“ ab her is von ym enphangen hat adir wer der ist, adir eyner stat (M III.1.1); „Herre her richter, so begere ich eynes, der heysset N.,“ adir wy seyn cristen name ist (M IV.4.7). Neben Ratschlägen sprachlichen Charakters werden Informationen über die Gestik oder Bewegung der Beteiligten geboten, z. B. So neme her [der Richter] den man bey der slyppen adir geren11 und spreche (M IV.17.7) oder So ste der cleger of und vroge mit orteylen und spreche (M IV.18.15). Die Passagen mit der direkten Rede sind in der Ich-Form formuliert, gefunden wurden nur zwei Ausnahmen – in einer Partie benutzt der Kläger die 1. Person Plural („Her richter, wir haben zu clagen an ewerm gerichte zu eyme vredebrecher …,“ M IV.4.7), was aber nicht den pluralis majestatis bedeutet. Den Verbrecher, der an der Bahre angeschmiedet wurde, haben sicher mehrere Personen und nicht nur der Kläger begleitet, deshalb benutzte er die Pluralform. Diese Erläuterung bestätigt übrigens die nachfolgende Passage, in der der Kläger die 1. Person Singular verwendet, wenn er in seinem Namen den Richter anspricht („Herre der richter, so begere ich eynes, der heysset N., …,“ M IV.4.7). Die zweite Ausnahme stellt eine Aufforderung an den Richter dar: „Herre her richter, lat N. eyn orteyl werden …“ (M IV.4.7). In den Passagen mit der direkten Rede kommen Deiktika vor – Ausdrücke, die auf die Person-, Raum- und Zeitstruktur von Äußerungen Bezug nehmen und die vom Handlungskontext abhängig sind: Die Personalpronomen (ich, wir, dyr) verweisen auf Beteiligte an Prozessverhandlungen und die Adverbialausdrücke (hye, hy, hyczu, n) betreffen die Zeit und den Ort der Prozessverhandlungen (Wer hy zu kegenwrtig ist und n sweyget, der sal auch ymmer sweygen, M I.38.4). Alle Partien mit der direkten Rede, die im ‚Meißner Rechtsbuch‘ formuliert wurden, erleichterten ohne Zweifel die Kommunikation vor Gericht und stellten den Urteilsfindern ein nützliches Hilfsmittel zur Verfügung. Heute ermöglichen sie uns, die Kommunikation vor Gericht in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im städtischen Rechtsgebiet zu rekonstruieren.

11

Der mnd. Ausdruck slippe (nhd. Schlippe), im Rechtsbuch im Sinne von ‚Rockzipfel, Kleiderzipfel‘ benutzt, ist ein synonymes Wort zum Ausdruck gere.

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3.2 Titulaturen Die Anredeformen sind aus soziolinguistischer Sicht interessante Bestandteile der direkten Rede. In der Anrede kann man die Hierarchie der damaligen Gesellschaft erkennen. Der Richter galt als eine bedeutende und hochgeschätzte Person und diese Tatsache spiegelte sich auch in der Kommunikation vor Gericht wider. Der Voraussetzung zufolge duzte er den Vorsprecher, dessen Name im Szenario mit der üblichen Initiale N. oder A., B., C. eventuell D.) angedeutet ist („N., ich gebytte dyr von gerichtes wegen, das du seyn wort sprechist, wenn du an gehegter banck steest,“ M IV.4.7), er duzte auch den Froneboten („Nu du meynem herren konyge rechte holde hast getan in vreyes mannes recht, so wyrke ich dyer hy gotis vrede und meynes herren des konyges vrede zu allen deynen gescheften, dye du zu handeln hast, dy du auch nicht vorwyrkest mit deynes selbes mutwyllen,“ M VI.20.4) und den Gefangenen („Teydyngt dyr an den leyp, magstu eynen vorsprechen gehaben, ich gnde dyr is wol, der dyr mit rechte gehelfen mge,“ M IV.4.7). Wenn der Richter zu allen Urteilsfindern sprach, benutzte er die Anrede alle dingphlychten („Horet gemeyneclych, alle dingphlychten, dy zu dem gerichte hyczu gehoren …,“ M I.23.1). Der Fronebote, der Vorsprecher und der Kläger sprachen den Richter Her richter oder Herre12 her richter an (M III.2.1; M IV.4.7) und benutzten dabei die Höflichkeitsform der 2. Person Plural, den sog. pluralis reverentiae,13 z. B. „Her richter, vrogt, worumbe ich ym das gelt schuldig sey“ (M III.10.1). Der Fronebote duzte den gefangenen Mann: „Des mordes, des dr N. schult gbet, das du des schuldig byst“ (M IV.4.7). In der Kommunikation der Juden sprach der Jude die Urteilsfinder „Herr richter und ir, herren scheppfen“ an (M III.17.15). Das Personalpronomen ir vor dem Titel der Schöffen diente wahrscheinlich zur Herstellung eines engeren Kontakts. Die Anredeformen im ‚Meißner Rechtsbuch‘ entsprechen der du-ihr-Konvention in sozialer Verteilung – ihr wurde im Hochmittelalter und in der Frühen Neuzeit für Adel, Geistlichkeit oder Regierende, d. h. auch für Repräsentanten der Stadtverwaltung und des Gerichts, und für alles Herausgehobene benutzt und du diente als Form in der Kommunikation mit dem Volk (Besch/Wolf 2009: 119) oder mit jemandem, der in der gesellschaftlichen Hierarchie niedriger stand.

3.3 Eide In den Partien, die zum direkten Vortragen vor Gericht bestimmt waren, kommen auch zwölf Texte vor, die im einleitenden Kommentar als Eide bezeichnet sind. Eide, lateinisch juramenta, sind mündlich gegebene Versicherungen, Zeugen einer breiteren 12 13

Der Ausdruck Herre wird nach Jacob Grimm im Sinne von Herrschaft gebraucht (vgl. URL 2). Die Entwicklung eines dualen Modells du – ir findet sich als akzeptierte Konvention erst in hochhöfischer Literatur um 1200 (Besch/Wolf 2009: 119).

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mündlichen Tradition (Schmidt-Wiegand 1977: 55; Schmidt-Wiegand 1990: 346). Das Versprechen unter Anrufung Gottes war eine mündliche Angelegenheit der Moral und der Religion und die Verletzung des Eides war eine nach sittlich-religiösen Grundsätzen zu beurteilende Sünde (Meyers 1905: 431). Die Eidesformel wurde bei der Eidesleistung vorgesagt und vom Schwurpflichtigen nachgesprochen, wie wir übrigens im ‚Meißner Rechtsbuch‘ lesen können: do sal her sweren offe, das ym der richter vorspreche (M VI.20.4). Die Eidesleistung wurde durch die Schwurzeremonie begleitet und nahm im Rechtsleben einen festen Platz ein (Schmidt-Wiegand 1977: 55). Aus linguistischer Sicht waren Eide monologisch strukturierte Sprechhandlungsmuster, die als Sprechakttyp-Korrelate bezeichnet werden (Franke 1987: 264). Der Schwurpflichtige realisierte mit dem Eid den Akt des Schwurs, die explizit performative Äußerung: Ich schwöre jemandem (performativer Vorspann), dass (+ eingebetteter Satz). Der Sprechakt Eid besteht aus vier Teilakten: aus dem Äußerungsakt (der Schwörende spricht den Eid aus), dem propositionalen Akt (der Schwörende spricht etwas über die Welt), dem illokutionären Akt (der Schwörende äußert sich mit einer Intention – er möchte etwas versprechen). Die Wirkung, die der Schwörende durch diesen Sprechakt erreicht, nennt man einen perlokutionären Akt (Spáčilová 2003: 539). Diese Sprechakte werden in der Sprechakttheorie als Kommissiva bezeichnet, die kommissive Textfunktion ist die Obligationsfunktion; ein wichtiges Merkmal der Eide ist die (Selbst)Verpflichtung (Rolf 1993: 79). Die Textsorte Eid gehört zur Kommunikationsform face-toface-Kommunikation, in der ein unmittelbarer Kontakt wichtig ist. Der Handlungsbereich ist offiziell. Sechs Eide im ‚Meißner Rechtsbuch‘ sind Diensteide, die von Amtspersonen – von Richtern, Schöffen, Gerichtsboten, Schreibern und Dienern – geleistet wurden. Die Textstruktur des eigentlichen Eides besteht aus fünf Elementen: Textstruktur der Textsorte Eid

Sprachliche Realisierung

1. Schwurpflichtiger

Ich

2. Verb des Schwörens

swere

3. Instanzen, auf die geschworen wird

gote und meynen herren und dem gerichte, arm und reych,

4. Pflichten

das ich yn gerichtes schyckunge meyner schrift und meynen schreyben umb alle sachen aller leuten getrewlich und erlich besorgen wil an alle argelist,

5. Schlussformel

als mir got helfe und alle heyligen (M III.1.1).

Diese Elemente und ähnliche Sprachmittel weisen alle sechs Diensteide auf. Der Schwurpflichtige ist immer mit dem Personalpronomen ich genannt, das performative Verb, d. h. das Verb des Schwörens, steht in diesen sechs Diensteiden dem Personalpronomen entsprechend in der 1. Person Singular. Der Schwurpflichtige und das Verb

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des Schwörens bilden aus syntaktischer Sicht den sog. performativen Vorspann, das dritte Satzglied dieses übergeordneten Satzes stellt das Dativobjekt dar, das anführt, auf wen geschworen wird (Ich swere gote und meynen herren und dem gerichte, arm und reych, das ich …, M III.1.1). In sechs weiteren im ‚Meißner Rechtsbuch‘ als Eide bezeichneten Passagen fehlt das performative Verb sweren, das durch eine Schwurzeremonie ersetzt wird. Im einleitenden Satz wird die Zeremonie beschrieben, z. B. der lege dy vynger of dy heyligen odir of den stab und der eyd sal ym also geteilt werden (M I.35.3) oder ein anderes Beispiel lautet wenn das geteylt ist, so lege her ym zwene vynger of seyn haupt und so spreche dem der vronebote vor dysen eyd (M IV.4.7). Diese sechs Mikrotexte unterscheiden sich sowohl inhaltlich als auch strukturell von den untersuchten Diensteiden. Sie bilden eine Subklasse der Textsorte Eid, die als eidesstattliche Erklärung zu bezeichnen ist; im Mittelpunkt steht eine gerichtliche Angelegenheit (z. B. „Des mordes, des dr N. schult gbet, das du des schuldig byst, als mir got helfe und alle heyligen,“ M IV.4.7). Zu dieser Subklasse gehören auch zwei eidesstattliche Erklärungen der Juden. Eine kürzere Erklärung wird geleistet, wenn die Streitwerte weniger als 50 Mark sind. Das performative Verb sweren wird nur in der einleitenden Partie angeführt: „Der jude sal sweren of alle sachen of Moyses buch und schult, dy do undir fmfczig lotigen marken ist desen slechten eyd: „Das myr N. schult gebit, des byn ich unschuldig, als mir got helfe und dy ee, dy got gab Moysy of dem berge zu Synay.“ (M III.17.44)

Falls die Streitwerte über 50 Mark waren, galt ein Ritual. Der Jude musste ohne Hemd, mit grauen Hosen und einem grauen Rock auf einer Tierhaut stehen, die mit dem Lammesblut befeuchtet worden war, auf dem Kopf einen spitzen Hut. Die zweite eidesstattliche Erklärung für Juden fängt mit den gleichen Worten wie die erste an (Das myr N. schult gebit, des byn ich unschuldig als mir got helfe, M III.17.44), ist aber länger, auffallend ist die Selbstverfluchung für den Fall des Meineids (vgl. Lämmerhirt 2007: 200). Aus syntaktischer Sicht ist das eine zehngliedrige Kette von irrealen Konditionalsätzen (Und ab ich unrecht swere, das mich der got schende, … Und ab ich unrecht swere, dy erde vorslynden msse, … Und ab ich unrecht swere, das mich dy myselsucht bestee …, M III.17.44) – es handelte sich um erfüllbare Bedingungen in der Zukunft. Diese zweite eidesstattliche Erklärung der Juden ist diskriminierend, ähnliche Teile kommen in keinem der anderen untersuchten Erklärungen oder Eide vor. Charakteristisch für alle untersuchten Eide und eidesstattlichen Erklärungen im ‚Meißner Rechtsbuchs‘ ist der Satzphraseologismus als Schlussformel, die Anrufung Gottes, die in Wunschsätzen mit dem imperativischen Konjunktiv Präsens formuliert ist – sieben Mal als mir got helfe und alle heyligen, drei Mal in längerer Form – im Eid des Richters (als mir got helfe und seyn gerichte also obir mich sende, das her am jungsten tage obir mich und alle werlde wyl syczczen, M III.1.1) und der Schöffen (als mir got helfe und das orteyl, das got am jungsten tage wyl siczczen obir mich und obir alle werlt, und will recht geben, also verre als ich derkenne und weys, M III.1.1),

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einmal als mir got helfe und dy ee, dy got gab Moysy of dem berge zu Synay (M III.17.44) in der kürzeren eidesstattlichen Erklärung der Juden und einmal als mir got helfe (M III.17.44) in der längeren eidesstattlichen Erklärung der Juden. In den einleitenden oder nachfolgenden Partien zu den Eiden und eidesstattlichen Erklärungen treten verschiedene Symbole auf, die in der Schwurzeremonie eine bedeutende Rolle spielten. Die Beteiligten bekamen Anweisungen, was sie tun sollten, z. B. Wenn das geteylt ist, so lege her ym zwene vynger of seyn haupt und so spreche dem der vronebote vor dysen eyd (M IV.4.7). Kurze Sätze dieser Anweisungen werden mit der kopulativen Konjunktion und verknüpft (Und sal yn seczen kegen sich of eyn stl und of eyn kussen und sal ym dy heyligen seczen of dy schos, do sal her sweren offe, das ym der richter vorspreche, M VI.20.4). Am häufigsten tritt die Gestik, die aufgereckten Finger, auf (achtmal) – bei der Lösung des Bannes wurden alle Finger des Richters und aller Dingwarten aufgereckt (M IV.16.6). Meistens wurden aber nur zwei Finger gebraucht, wobei zweimal die rechte Hand betont wurde (zwene seyner vodern vynger ofrecken, M IV.16.2) und dreimal im Text nur dy vynger ofrecken steht (M I.23.1). Man legte die Finger auf die Heiligen, d. h. es wurde auf die Heiligen geschworen, oder auf den Stab (M I.35.3), das Symbol der Macht und Würde. In zwei Fällen legten der Kläger und die sachwalden (Advokaten, Verteidiger) in der Schwurzeremonie zwei Finger auf den Kopf des Angeklagten/Gefangenen (so lege her ym zwene vynger of seyn haupt, M IV.4.7). Eine ganz pragmatische Information betrifft Fälle, in denen man vergisst, die Finger aufzurecken. Es wird mitgeteilt, dass die mündliche Äußerung reicht: Worde auch vorgessen, das man dy vynger darczu nicht ofrekte, das enschadet doch nicht. Wen her is mit worten oflest und wen dy gehrt werden, so ist is doch geng (M I.23.1). Mit dem Zeichen des Hutes oder des Handschuhes konnte man das Eigentum nicht nur aufgeben, sondern auch aufnehmen. Beide Symbole zeigen Gewalt und Schutz (Lurker 1991: 606). In den einleitenden oder nachfolgenden Passagen zur direkten Rede wird das Schwert als Symbol der Gerichtsbarkeit, zumal der peinlichen Gewalt über Leben und Tod, angeführt (So teyl man ym das swert zu seyme halse, so richtet her obir den mort, M IV.4.7). Eine interessante Angelegenheit stellen die jüdischen Symbole in der Eidesleistung der Juden dar (M III.17.44). Der Jude schwor of Moyses buch oder auf den rodal, er musste einen spyczczen hwt of dem haupte haben. Mose galt als Gesetzgeber des jüdischen Volkes und mit dem Moyses buch ist das erste Buch der Bibel gemeint. Rotulus oder rodal ist die Bezeichnung für die Thora, die Fünf Bücher Mose. Ein weiteres Symbol war der spitze Hut, der bis ins 16. Jahrhundert zur Judentracht gehörte (Schreckenberg 1991: 24 ff.). Die Tatsache, dass dem Benutzer des ‚Meißner Rechtsbuchs‘ nicht nur Texte zum mündlichen Vortragen, sondern auch Symbole und Gestik der Schwurzeremonie vermittelt wurden, zeigt, wie eng die Eide oder die eidesstattlichen Erklärungen an die Situation vor Gericht gebunden waren. Das performative Verb sweren wurde sogar in den eidesstattlichen Erklärungen ausgelassen und durch die Schwurzeremonie ersetzt.

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3.4 Phraseologismen in der direkten Rede 3.4.1 Paarformeln Bereits in althochdeutscher Zeit waren in der deutschen Rechtssprache zweigliedrige Formeln beliebt, sog. Figuren des Hendiadyoin (Habermann 2001: 198), deren Merkmale die Wortwiederholung, Worthäufung, Alliteration und damit zusammenhängende Rhythmisierung der Rede sind (Matzinger-Pfister 1972: 25). Diese Paarformeln kommen auch in den untersuchten, zum Vortragen vor Gericht bestimmten Passagen vor. Sie sind entweder teilidiomatisiert (jar und tag;14 mit munt und mit vyngere15) oder nichtidiomatisiert (eygen odir gut16); aus formaler Sicht gehören deren einzelne Komponenten ein und derselben Wortart an – entweder Substantiven (dies eygen oder erbe17), Adjektiven, Adverbien (getrewlich und geredlich) oder relativ oft Verben (vorkauft adir vorsaczt; ich derkenne und weys). In einigen Beispielen verstärkte die Alliteration (gerecht und geweren; getrewe und gewer) den Zusammenhang beider Komponenten (vgl. Schmidt-Wiegand 1984: 1387). Inhaltlich wurden synonyme oder bedeutungsähnliche Wortpaare zu einer semantischen Intensivierung (dis eygen oder erbe; wandel und holung; zu beschtczen und zu beschyrmen; gestollen adir abegeraubit) und polare Wortpaare (arm und reych; mit leybe und mit selen) zu einer möglichst vollständigen Nennung aller wichtigen Elemente gebraucht; zu finden waren auch Paarformeln, deren Komponenten in der paradigmatischen Relation Hyponym und Hyperonym stehen (den mort und den vredebruch; vredebrecher und morder) oder verschiedene Seiten eines Sachverhalts oder Objekts nennen (in seyn lantrecht adir in syn wychpylderecht; sahen und hrten). Die häufigste Verbindung zweier Glieder vermitteln die kopulative Konjunktion und (den mort und den vredebruch) und die alternative Konjunktion oder (dis eygen odir erbe); benutzt wurden auch mehrgliedrige Konjunktionen (weder mit worten noch mit werken). Bestandteile der Paarformeln bilden oft Präpositionen, die vor jeder Komponente stehen (mit vynger und mit zungen;18 in seyn lantrecht adir in seyn wychpildenrecht; mit leybe und mit selen). Die meisten Paarformeln, die in den zum Vortragen vor Gericht bestimmten Passagen vorkommen, gehören der Rechtssprache an. Nur in einer eidesstattlichen Erklärung 14

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Lat. annus et dies, eine bekannte Zeitbestimmung unklaren Ursprungs, die zum ersten Mal in den Jahren 769–775 benutzt wurde. Im 14. Jahrhundert bedeutete das Phrasem jar und tag die belegte Frist von einem Jahr, sechs Wochen und drei Tagen. Das Phrasem kommt oft im ‚Sachsenspiegel‘ vor, vgl. Jesko (2006: 164); Köbler (2005: 351). Diese Paarformel kommt in Eiden vor und bezeichnet den konstitutiven Teil des Rechtsaktes (vgl. URL 1). Die Paarformel besteht aus zwei synonymen Komponenten und bezeichnet das Eigengut. Die aufzählende Paarformel „Eigenes und Ererbtes“ ist ein rechtssprachlicher Terminus zur umfassenden Bezeichnung von Eigentum (Jesko 2006: 143). Die Paarformel stellt den Gegensatz von Kaufgrund und Erbgrund, schließlich eine synonyme Paarformel, dar. Förmlicher Rechtsakt, der im Erheben der Finger und im Sprechen bestimmter Worte besteht.

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der Juden treten paarformelähnliche Streckformen aus dem Alltagsleben auf, z. B. hymel und erde, laub und gras; diese Formeln betreffen die Erschaffung der Welt und die Formel milch und hnyg bezeichnet das fruchtbare Land in Palästina (Jesko 2006: 294). Nicht selten wurde die Anzahl von Komponenten in Paarformeln erweitert; dabei entstanden längere Aufzählungen – dreigliedrige Stilfiguren, in der Terminologie der antiken Rhetorik sog. Hendiatris (durch lybe noch durch leyt noch durch keyne sache willen; dem gerichte adir der stat und dem rathe; sehen und lernen und hren), und viergliedrige Stilfiguren, sog. Hendiatetris (durch lybe noch durch leyt noch durch meynes selbis mtwillen noch durch keyner hande sachen). Die Paarformeln, die in der direkten Rede vor Gericht benutzt wurden, waren mit der Konnotation des Höherwertigen versehen (Habermann 2001: 198), deshalb stellten sie ein ganz wesentliches Element der Rechtssprache dar und deshalb fanden sie auch in der direkten Rede vor Gericht ihre Verwendung. Diese Tatsache spiegelt sich im ‚Meißner Rechtsbuch‘ bedeutend wider. 3.4.2 Phraseologische Termini Unter Nominalphrasen verstehen wir terminologische Benennungen, die in der Fachsprache eine wichtige Rolle spielen (Burger 1998: 47). In den untersuchten Passagen mit der direkten Rede sind das die Rechtstermini, z. B. handhafte tat (Straftat, deren Täter in flagranti erfasst wurden), gehegte banck (Banngericht), rechte clage (Gerichtsklage), an rechter dyngstat (am Ort, wo das Gericht abgehalten wird), dye getrewe hant (verlässliche Person) oder das Moyses buch. Das Vorkommen dieser Rechtstermini konnte man in der direkten Rede nicht vermeiden, denn sie hängen eng mit den städtischen Rechtsinstitutionen zusammen.

4. Fazit und Ausblick Beide untersuchten Rechtsbücher stellen bedeutende und auf einem großen Territorium verwendete Rechtsquellen dar, die ohne Zweifel für den unmittelbaren Gebrauch in der Rechtspraxis bestimmt waren. Dieses Vorhaben bestätigen auch konkrete Schritte der Verfasser – zu einer besseren Orientierung des Benutzers sollte eine übersichtliche Gliederung des Textes in Bücher, Kapitel und Artikel bzw. Distinktionen dienen. Beide Rechtsbücher bringen neben sachlichen Erkenntnissen aus dem Rechtsgebiet auch Informationen über den Verlauf der Rechtsverhandlungen vor Gericht. Während die Anweisungen zu Gerichtsreden im ‚Sachsenspiegel‘ vereinzelt waren, konzentrierte sich das ‚Meißner Rechtsbuch‘ viel intensiver auf die Vermittlung nicht nur sachlicher Informationen aus dem Bereich des deutschen Rechts, sondern auch prozeduraler Informationen über Verhandlungen vor Gericht. Dieses Stadtbuch spiegelte die Interessen der Stadt wider und präsentierte deshalb das Stadtrecht mit seinen verschiedenen Seiten.

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Das städtische Recht verlangte mehr präzisere Informationen auch auf dem Gebiet der Gerichtsrhetorik. In manchen Distinktionen wurden Passagen eingegliedert, die als Vorbilder für Gerichtsverhandlungen dienen sollten. Bestandteile solcher Anweisungen waren auch Eide und eidesstattliche Erklärungen. Der Benutzer des Rechtsbuchs wurde nicht nur über die Form der Texte zum mündlichen Vortragen, sondern auch über die Schwurzeremonie informiert. Durch die Beschreibung der Symbole und Gestik blieb eine enge Bindung an die Rechtshandlung erhalten. Die zum mündlichen Vortragen vor Gericht bestimmten Texte wurden mit geläufigen Rechtswörtern ausgestattet, benutzt wurden auch Wortpaare mit Alliteration, Endreim und Wortwiederholungen, was die Situationsgebundenheit noch betonte. Eine weitere Etappe in der Entwicklung pragmatischer Schriftlichkeit im Rechtsbereich zeigen neben den Rechtsbüchern seit dem 15. Jahrhundert die Gerichtsordnungen,19 die ausschließlich das Gerichtsverfahren behandelten und regelten. Ein bedeutendes Dokument entstand auch in der Stadt Olmütz. Das Titelblatt trägt neben dem langen Titel Zusammengetragene artickel in form eines rechtlichen proces, wie dieselben von alters her bei dieser koniglichen stadt Olomuntz bei gerichte und auch in und vor gehegter bank in ubung gehalten, sambt andern nodturftigen underweisungen und zutreglichen vellen die Jahreszahl 1550 (Archiv der Stadt Olmütz, Bücher, Sign. 116). Verfasser der Ordnung war der Olmützer Gerichtsschreiber Heinrich Polan. Neben den Eiden kommen in der Ordnung Gerichtsreden und Sentenzen über das Recht vor. In manchen Artikeln der Olmützer Gerichtsordnung sind Anleitungen zur Gerichtsrede zu finden, in denen zwei Typen der Fragen und Antworten benutzt wurden. Den ersten Typ bilden Fragen, die der Richter dem Gerichtsschreiber stellt, und der zweite Typ wird mit den Fragen des Prokurators an den Richter präsentiert. Die Olmützer Gerichtsordnung wurde bisher transkribiert, untersucht wurde das Rechtsvokabular und die Phraseologismen (vgl. Spáčilová 2004; 2007), geplant wird eine Untersuchung dieser bedeutenden Quelle unter pragmatischem Aspekt.

Quellen / Editionen Zusammengetragene artickel in form eines rechtlichen proces, wie dieselben von alters her bei dieser koniglichen stadt Olomuntz bei gerichte und auch in und vor gehegter bank in ubung gehalten, sambt andern nodturftigen underweisungen und zutreglichen vellen, Staatliches Bezirksarchiv Olomouc, Bestand Archiv der Stadt Olmütz, Bücher, Sign. 116. Das Meißner Rechtsbuch. Historischer Kontext, linguistische Analyse, Edition. Herausgegeben von Vladimír Spáčil und Libuše Spáčilová. Olomouc 2010.

19

Um das Jahr 1472 wurde zum ersten Mal bei Johann Bämler in Augsburg die Ordnung des Gerichts gedruckt, die in den folgenden Jahrzehnten unter den Titeln Processus iuris oder Ordnung und Unterweisung überliefert wurde (vgl. Knape/Roll 2002: 289).

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INGE BILY

«Nu horet unde vornemet»1 Deutsch-tschechischer Vergleich der Einleitungsformeln im ‚Sächsischen Weichbildrecht‘

Abb. 1: Nu horet unde vornemet

1. Vorbemerkungen Die Rechtssprache bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für sprachwissenschaftliche Untersuchungen, besonders unter sprachhistorischem Aspekt (Große 1986; Große/Uhlig 2007; Köbler 1984; Sonderegger 1965; Sonderegger 1997; Schmidt-Wiegand 1998a; Schmidt-Wiegand 1998b; Spiewok 1957; Spiewok 1959; Uhlig 1983). So verwundert es nicht, dass sich die Sprachwissenschaftler zunehmend der Analyse auch historischer Rechtstexte im Sprachvergleich zuwenden. Zu nennen sind hier Untersuchungen, wie die von Mária Papsonová (Papsonová 2003), die u. a. das ‚Silleiner Rechtsbuch‘, eine mittelalterliche deutsche Rechtsquelle, mit ihrer Übertragung ins Alttschechische vergleicht. Oder auch Ergebnisse, die der Archivar und Historiker Vladimír Spáčil und die Germanistin und Historikerin Libuše Spáčilová mit ihrer Edition und der historischen sowie sprachlichen Auswertung des ‚Meißner Rechtsbuches‘ vorgelegt haben (Spáčil/ Spáčilová 2010). Jedoch sind weitere Bearbeitungen historischer Quellentexte dringend nötig, um mehr verlässliche Aussagen für Vergleiche zu gewinnen. Nach Abschluss eines frühneuhochdeutsch-altpolnischen Wortvergleichs (vgl. Bily 2011a) beschäftigen wir uns gegenwärtig im Rahmen unserer Projektarbeit zur Untersuchung der Rezeption des sächsisch-magdeburgischen Rechts in Mittel- und Osteuropa2 1 2

Weichbildrecht mit Glosse in 135 Artikeln: Art. 9 § 1, fol. 36r. Vgl. zum Projekt u. a. Heiner Lück (2008).

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mit einem frühneuhochdeutsch-alttschechischen Vergleich von Rechtstermini. Dabei wird die Übernahme deutscher Rechtstermini aus der Gebersprache (Deutsch) in die Nehmersprache (Tschechisch) betrachtet. Im Rahmen dieses Wortvergleichs wird – ähnlich wie in der frühneuhochdeutsch-altpolnischen Untersuchung – nach Entlehnungen, Übersetzungen, Umschreibungen sowie der Verwendung anderer Termini als fremdsprachige Entsprechungen für einen deutschen Rechtsterminus gesucht. Materialgrundlage sind eine frühneuhochdeutsche und eine alttschechische Handschrift des ‚Sächsischen Weichbildrechts‘.

2. Die Textgrundlagen des deutsch-tschechischen Wortvergleichs des ‚Sächsischen Weichbildrechts‘ 2.1 Der deutsche Text Als deutschen Text benutzen wir die deutsche Weichbildvulgata mit der ursprünglichen Glossenfassung der deutschen Handschrift des Weichbildrechts mit Glosse in 135 (gezählt 136) Artikeln. Als Aufbewahrungsort der Handschrift, die u.a. auch bei UlrichDieter Oppitz (Oppitz II. 1990: S. 368, Nr. 118) verzeichnet ist, wird die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin angegeben (Signatur SBPK Ms. germ. fol. [bzw. mgf] 389), als Provenienz das Domstift Havelberg. Diese Handschrift bildete die Grundlage der bei Alexander von Daniels und Franz von Gruben (Daniels/Gruben 1858) abgedruckten edierten Fassung. Die Handschrift wird ins 15. Jh. datiert. Sprachlich handelt es sich um einen ostmitteldeutschen Text aus frühneuhochdeutscher Zeit3, der bisher keiner sprachlichen Auswertung unterzogen wurde. An dieser Stelle sei ebenfalls auf die Ausführungen Dietlinde Munzels in ihrem Artikel zur Weichbildglosse verwiesen: „In den einzelnen Artikeln der W[eichbildglosse]. finden sich zahlreiche Bezüge auf das römische Recht und den Sachsenspiegel. Einige Artikel sind auch in Form von Schöffensprüchen verfaßt, so daß zunächst eine mögliche Überlieferung verlorengegangener Magdeburger Schöffensprüche vermutet wurde. Nach den Feststellungen von Buchda [Buchda 1973] sind nach dem derzeitigen Stand der Kenntnisse aber keine echten Sprüche der Magdeburger Schöffen enthalten, sondern nur eine formale Angleichung an das Magdeburger Spruchgut des 14. Jh. zu bemerken. Die W[eichbildglosse]. blieb nicht ohne Einfluß auf andere Rechtswerke …“ (Munzel 1998: 1212)

3

Bei der sprachlichen Einordnung des frühneuhochdeutschen Textes stützen wir uns auf die detaillierten Ausführungen Libuše Spáčilovás in Spáčilová/Spáčil (2004:186–190). Wir danken Frau Prof. Dr. Libuše Spáčilová (Univ. Olomouc) für ihre Beratung und Hilfe bei der sprachlichen Einordnung des frühneuhochdeutschen Textes.

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Und weiter heißt es: „Die Edition der W[eichbildglosse]. von Daniels/Gruben von 1858 basiert auf der ursprünglichen, kürzeren Form nach einer HS [Handschrift] aus Havelberg (Oppitz Nr. 118). Eine umfassende Untersuchung ihrer Entwicklungsgeschichte liegt bislang nicht vor.“ (Munzel 1998: 1213).

2.2 Der tschechische Text Als tschechischen Vergleichstext4 benutzen wir aus der digitalen Fassung der Handschrift Práwa saszká, einer Sammelhandschrift, (früher Litoměřice/Leitmeritz: Arch. m. Litoměřice; jetzt Praha/Prag: Parlamentní knihovna, Signatur: Práva saská; online: http://www.psp.cz/kps/knih/prawa/prawa.htm.) die unter 2. Donat – magdeburgské městské právo s glosou [Donat – Das Magdeburger Stadtrecht mit Glosse] enthaltenen Teile.5 Der tschechischen digitalen Version ist eine ausführliche Beschreibung der Handschrift beigegeben. Diese Beschreibung enthält u. a. auch eine Konkordanz, die einen Teil der deutschen und tschechischen Artikel einander zuordnet, weiterhin eine Übersicht zum Inhalt der einzelnen Kapitel sowie abschließende Literaturhinweise. Als Entstehungsort der Handschrift nennt diese Beschreibung Litoměřice/Leitmeritz, als Schreiber Jakub Kožený z Krbova. Die Handschrift wird in das Jahr 1469–1470 datiert und ist damit alttschechisch. Ebenso wie der frühneuhochdeutsche, wurde auch der alttschechische Text des ‚Sächsischen Weichbildrechts‘ bisher keiner sprachlichen Auswertung unterzogen. Ilpo Tapani Piirainen (2011: 48) weist zu Recht darauf hin, dass „es sich bei jeder einzelnen Quelle […] um eine Handschrift [handelt], die linguistisch und sprachgeschichtlich auf ihre Eigencharakteristik, auf die Graphemik („Schreibung“), Morphologie, Syntax und ihren Wortschatz hin analysiert werden kann.“.

3. Zum historischen Rechtswortschatz Diachrone Untersuchungen des Rechtswortschatzes einer bestimmten Sprache (Kořenský/Cvrček/Novák 1999), aber auch der Vergleich mittelalterlicher Rechtstexte und ihrer Übertragung in eine andere Sprache (Papsonová 2003; Pommer 2006; Spáčilová/ Spáčil 2004; Spáčil/Spáčilová 2010) zeigen, dass der mittelalterliche Rechtswortschatz 4

5

Bei unserem Textvergleich stützen wie uns auf die Transliteration des Textes der Handschrift, die Frau Dr. Milada Homolková, Mitarbeiterin am alttschechischen Wörterbuch im Institut für tschechische Sprache der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag zusammen mit Kolleginnen für uns anfertigte. Eine Transkription des Textes wäre für unsere sprachliche Auswertung im Rahmen des historischen Wortvergleichs nicht geeignet. Vgl. fol. 87r–187v; s. auch Oppitz (1990: 644, Nr. 922).

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noch nicht durchgängig so fest ist wie der heutige (neuzeitliche) Fachwortschatz des Rechts. Dies gilt für den Fachwortschatz allgemein (Felber/Budin 1989) und kann u.a. auch nach dem Vergleich des Materials aus unseren eigenen Quellenstudien zum Deutschen, Polnischen und Tschechischen mit den Ergebnissen der Untersuchung durch Jan Kořenský, František Cvrček und František Novák (Kořenský/Cvrček/Novák 1999) bestätigt werden. Neben den Schwierigkeiten und Problemen, die eine in der historischen Überlieferung belegte Vielfalt der Übersetzungen mit sich bringt, nennt Mária Papsonová (2003: 70) allerdings auch Beispiele für wortwörtliche Übertragungen, die im Text immer wiederkehren, so z. B. für selbdritt, selbsiebt oder für das Wortpaar Jahr und Tag. Dies können wir auf der Grundlage unseres frühneuhochdeutsch-altpolnischen Vergleichs der ‚Magdeburger Urteile‘ bestätigen: ‒ So steht für dt. Jahr und Tag im polnischen Text rok i dzień, (vgl.: frnhd. ior und tag /// apoln. rok y dzyen: Spruch 15 /// 15) auch in präpositionalen Wendungen, vgl.: dt. binnen Jahr und Tag /// poln. w rok i dzień (vgl. frnhd. bynnen iar und tag /// apoln. w rok y dzen: Spruch 183 /// 192) und dt. nach Jahr und Tag /// poln. po roce i po dniu (vgl. frnhd. nach iare und noch tage /// apoln. po rocze y podnyv: Spruch 183 /// 192). ‒ Für dt. selbdritt nennt der polnische Text samotrzeć ‚selbdritt‘. Eine deutsche weibliche Form von selbdritt wird im Polnischen mit einer weiblichen Entsprechung wiedergegeben. Es handelt sich hier um eine Frau, vgl.: frnhd. (sy), die selbdritt myt czwen mannen czu sich vorguldin schult beweysin sal /// apoln. tho ona {fem. Pronomen} ma vczynycz szamotrzecza {fem. Endung -a} zedwyemą maszomą ‚mit zwei Männern‘ kszobye. (Spruch 188 /// 195). ‒ Für dt. selbsiebt steht im polnischen Text ebenfalls die wörtliche Entsprechung samosiodm(o) ‚selbsiebt‘. Wie bei selbdritt (s. o.) wird eine deutsche weibliche Form von selbsiebt im Polnischen mit einer weiblichen Entsprechung wiedergegeben. Es handelt sich hier um eine Frau, vgl.: frnhd. (ze), die zalp zebende mit fromen lewten … /// apoln. ona {fem. Pronomen} moze szamosyodmą {fem. Endung -a} szdobrymy ludzmy ‚mit guten Leuten‘ (Spruch 128 /// 137). Im Gegensatz zu selbdritt ist bei selbsiebt im Polnischen zweimal ein Kollektivum auf -o belegt, und zwar samosiodmo, vgl.: frnhd. salb sebende /// apoln. szamoszyodmo {Kollektivum} (Spruch 22 /// 22) und: frnhd. salp sebinde /// apoln. szamoszyodmo {Kollektivum} (Spruch 197 /// 204). Erste Untersuchungen im Rahmen unseres deutsch-tschechischen Vergleichs anhand des ,Sächsischen Weichbildrechts‘ bestätigen die vorliegenden Ergebnisse der Entsprechung dt. selbsiebt /// tsch. sám sedmý, vgl.: frnhd. ſelb ſobinde ſiner nehiſten magin ‚seiner nächsten Magen‘ /// atsch. sam sedm ‚selbsiebt‘ swych blyzssich rodiczow ‚seiner nächsten Verwandten‘ (Art. 4 § 1, fol. 15v /// C4, , ). M. Papsonová (2003: 582) hat unter ihrem reichen Material auch Beispiele für die weibl. grammatische Form, so:

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frnhd. vnd hot dy frauwe dez gezevg an irm schre mannen selb sibende /// atsch. a zena by to swiedo[do]mi miela wedle sweho wolani sama sedma {fem. Endung -a}.

4. Zu den Einleitungsformeln in den ‚Magdeburger Urteilen‘ Zunächst sei auf die Struktur der ‚Magdeburger Urteile‘, die von uns in einem frühneuhochdeutsch-altpolnischen Vergleich untersucht wurden, eingegangen. Im Unterschied zu den Artikeln des ‚Sächsischen Weichbildrechts‘ besteht der Text der ‚Magdeburger Urteile‘ (vgl. Bily (2011b) aus weitestgehend gleich strukturierten Anfragen und Antworten (Schöffensprüchen) mit jeweils Einleitungsformel, Inhalt und Schlussformel. Die Einleitungs- und Schlussformeln begegnen als Lang- oder Kurzformen, mitunter fehlen sie allerdings auch ganz oder sind nur entweder im frühneuhochdeutschen oder altpolnischen Text vorhanden. Jedoch können die Unterschiede bei den Einleitungsformeln der Anfragen und Antworten der ‚Magdeburger Urteile‘ nicht darüber hinwegtäuschen, dass überwiegend eine Übereinstimmung zwischen frühneuhochdeutscher und altpolnischer Einleitungsformel zu verzeichnen ist, vgl. z. B.: frnhd. Fruntlichen grus vorn, liben frunt, ir habit uns gefrogit rechtis in desen worten /// apoln. PRyyaczelszky poklon naprzod. myly przyyaczyele! pytalysczye nasz o prawo takymy szlowy (Spruch 1 /// 1: Einleitungsformel der Anfrage)

und frnhd. Hyruf spreche wir scheppin der stat czu Medeburg eyn recht /// apoln. NA tho movyemy przyszyasznyczy zmaydburkv (Spruch 1 /// 1: Einleitungsformel der Antwort).

Das nachfolgende Beispiel lässt einen Unterschied in der Länge zwischen frühneuhochdeutscher und altpolnischer Einleitungsformel der ,Magdeburger Urteile‘ erkennen: frnhd. Vort mer /// apoln. DAley pytalyszye nasz (Spruch 9 /// 9: Einleitungsformel der Anfrage)

und frnhd. Vort mer /// apoln. DAley pytalyscze nasz oprawo (Spruch 18 /// 18: Einleitungsformel der Anfrage).

4.1. Langformen von Einleitungsformeln frnhd. Hyruf sprechin wir scheppin czu Medeburg eyn recht /// apoln. NA tho my przyszasznyczy Smaydburku mowymy prawo (Spruch 18 /// 18: Einleitungsformel der Antwort)

und

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frnhd. Hyruf spreche wir scheppin der stat czu Medeburg eyn recht /// apoln. NA to my 7 przysząsznyczy _____ Mowymy prawo (Spruch 9 /// 9: Einleitungsformel der Antwort).

4.2 Kurzform einer Einleitungsformel frnhd. Vort mer /// apoln. Daley

(Spruch 19 /// 19: Einleitungsformel der Anfrage).

4.3 Auslassungen im polnischen Text im Vergleich zum deutschen 8

frnhd. Hyruf sprechen wir scheppin czu Medeburg eyn recht /// apoln. NA to my przy9 sząsznyczy ______ Mowymy prawo (Spruch 9 /// 9: Einleitungsformel der Antwort)

und frnhd. Hyruf spreche wir scheppin czu Medeburg eyn recht /// apoln. ∅, (Spruch 3 /// 3: Einleitungsformel der Antwort).

5. Zu den Einleitungsformeln10 im ‚Sächsischen Weichbildrecht‘ Neue Artikel bzw. Abschnitte des ‚Sächsischen Weichbildrechts‘ – in der Glosse Textabschnitte – beginnen sehr oft mit einer sich wiederholenden Einleitungsformel, die auf die sich anschließenden Informationen hinführt, wie z. B.: frnhd. Nv vornemet /// atsch. GYz rozomieyte (Art. 8 § 1, fol. 30v /// C8, , bis , )

und frnhd. Nv horet vnde vornemet /// atsch. POſluchayte a rozomieyte (Art. 9 § 1, fol. 36r /// C9, , ).

Belegt sind Langformen von Einleitungsformeln (5.1), ganz besonders häufig jedoch Kurzformen (5.2), außerdem auch Einleitungsformeln mit Auslassungen und/oder Ergänzungen (5.3).

6 7 8 9 10

Markierung einer Stelle im deutschen Text, die im tschechischen Text fehlt. Markierung einer Fehlstelle im tschechischen Text. Markierung einer Stelle im deutschen Text, die im tschechischen Text fehlt. Markierung einer Fehlstelle im tschechischen Text. Die Angaben zu den Textstellen stehen jeweils in eckigen Klammern.

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5.1 Langform einer Einleitungsformel frnhd. Nv horet vnde vornemet /// atsch. POſluchayte a rozomieyte (Art. 9 § 1, fol. 36r /// C9, , ).

5.2 Kurzformen von Einleitungsformeln frnhd. Nv vornemet /// atsch. GYz rozomieyte (Art. 8 § 1, fol. 30v /// C8, , bis , )

und frnhd. Nv vornemet /// atsch. GYz rozomiey (Art. 11 § 1, fol. 46r /// C11, , ).

5.3 Auslassungen und Ergänzungen in Einleitungsformeln 5.3.1 Auslassungen im tschechischen Text im Vergleich zum deutschen Hier wurden Teile des deutschen Einleitungsteils nicht in den tschechischen Text übernommen, vgl.: frnhd. Horet vnde vornemet , )

11

/// atsch. POſluchayte

12

(Art. 12 § 1, fol. 50r /// C12,

und 13

14

frnhd. Alſo moget ir horen vnde vornemen /// atsch. TAk gyz mozte fol. 53r /// C14, , ).

ſrozomieti (Art. 14 § 1,

5.3.2 Ergänzungen im tschechischen Text im Vergleich zum deutschen Im tschechischen Text wurden Teile ergänzt, die im deutschen Text nicht vorhanden sind, vgl.: frnhd. Nv vornemet _____ , )

15

/// atsch. ROzomieyte a ſſlyſſte

16

(Art. 10 § 1, fol. 40v /// C10,

und 17

frnhd. Nv ______ vornemet /// atsch. GYz wiezte a , ) 11 12 13 14 15 16

18

rozomieyte (Art. 13 § 1, fol. 51r /// C13,

Markierung einer Stelle im deutschen Text, die im tschechischen Text fehlt. Markierung einer Fehlstelle im tschechischen Text. Markierung einer Stelle im deutschen Text, die im tschechischen Text fehlt. Markierung einer Fehlstelle im tschechischen Text. Markierung einer Stelle im deutschen Text, die im tschechischen Text ergänzt wurde. Markierung einer Ergänzung im tschechischen Text, die im deutschen Text fehlt.

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Es sei darauf hingewiesen, dass Ergänzungen oder Auslassungen im alttschechischen Text des ‚Sächsischen Weichbildrechts‘ nicht nur in den Einleitungsformeln vorkommen, sondern auch sonst immer wieder belegt sind, vgl. z. B. die Ergänzungen im alttschechischen Text in den nachfolgenden beiden Satzpaaren: frnhd. wen wichbilde recht ______ von alder cӡit er geſtanden hat

19

atsch. Neb wykpildſke prawo to geſt 20 mieſtczke prawo od dawnych czaſſow ſtalo geſt (Art. 9 § 3, fol. 36v /// C9, , )

und frnhd. Diſӡe briue ſal nemen der burcgreue 21 von meideborg, vnde ſal dy ſenden _____ dem hercӡugen von ſachӡin

atsch. A ty liſty ma wzieti ten purkabie 22 z Meydeburka A ma ge poſſlati nayprwe kniezeti Saſkemv

(Art. 14 § 2, fol. 53v /// C14, , bis , )

5.3.3 Auslassungen und Ergänzungen sowohl im deutschen wie auch im tschechischen Text einer Einleitungsformel 23

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frnhd. Nw ____ horet /// atsch. __ , ).

25

ROzomieyte a

26

ſſliſſte (Art. 15 § 1, fol. 57r /// C15,

5.3.4 Übersetzung und zusätzliche Übernahme des bereits ins Tschechische übersetzten deutschen Textes ins Tschechische frnhd. Wollet ir horen vnde vornemen /// atsch. CHczete li rozomiety a ſlyſſety Z volt ir horen vnd fornemen, (der durch die Unterstreichung markierte Text wurde zusätzlich zur Übersetzung ins Alttschechische aus dem frühneuhochdeutschen Text übernommen) (Art. 6 § 1, fol. 21r /// C6 , ).

17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

Markierung einer Stelle im deutschen Text, die im tschechischen Text ergänzt wurde. Markierung einer Ergänzung im tschechischen Text, die im deutschen Text fehlt. Markierung einer Stelle im deutschen Text, die im tschechischen Text ergänzt wurde. Markierung einer Ergänzung im tschechischen Text, die im deutschen Text fehlt. Markierung einer Stelle im deutschen Text, die im tschechischen Text ergänzt wurde. Markierung einer Ergänzung im tschechischen Text, die im deutschen Text fehlt. Markierung einer Stelle im deutschen Text, die im tschechischen Text fehlt. Markierung einer Stelle im deutschen Text, die im tschechischen Text ergänzt wurde. Markierung einer Fehlstelle im tschechischen Text. Markierung einer Ergänzung im tschechischen Text, die im deutschen Text fehlt.

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5.4 Beispiele für Einleitungsformeln in der Glosse zum ‚Sächsischen Weichbildrecht‘ Nachfolgend stellen wir einige Beispiele für Einleitungsformeln in der Glosse zum ‚Sächsischen Weichbildrecht‘ vor. Einleitungsformeln begegnen sowohl zu Beginn eines Glossentextes wie auch oft zu Beginn eines neuen Textabschnitts bzw. -absatzes. Die Funktion der Einleitungsformeln ist auch hier die Einleitung eines neuen Gedankens. Im frühneuhochdeutschen Text ist die Einleitungsformel Ir ſollet wiſſin am häufigsten belegt, auch in der graphischen Variante ir ſollit wiſſin. Weiterhin sind als Einleitungsformeln in der Glosse zum ‚Sächsischen Weichbildrecht‘ belegt: vnde wiſſit; ir ſollit doch wiſſin; ir ſollit auch wiſſin; Ir ſollʒ ouch wiſſin; auch ſollit ir wiſſin; Ouch sollet ir wissin; ir ſollit abir wiſſin; Darumme ſollit ir wiſſin; ir ſollit vornemen; wiſſit; daʒ wissit; doch ſollʒ ir wiſſin; sunderlichen mer ſollit ir wiſſin; ir ſollʒ wiſſin; Ir sollet wissin unde merken; nu vornemet; Ir ſollet vornemen und Nu mogt ir wol vornemen. Der alttschechische Glossentext nennt als Entsprechungen für deutsche Einleitungsformeln sehr häufig: Mame wiedieti bzw. die graphische Variante Mame wiediety oder in Umkehrung der Wortstellung Wiedieti mame bzw. Ale mame wiedieti, jeweils in der Bedeutung ‚wir müssen wissen‘. Deutsches ihr {2. Pers. Pl.} wird dabei im Tschechischen mit wir {1. Pers. Pl.} wiedergegeben. Weiterhin sind u.a. belegt: Znamenay, ze mame wiedieti ‚das heisst wir müssen wissen‘, mame wiediety a rozomiety ‚wir müssen wissen und verstehen‘, Znamenati mame‚wir müssen bemerken‘ oder in Umkehrung der Wortstellung Mame Znamenaty mit der graphischen Variante Mame znamenati , außerdem Dale znamenay ‚das heisst weiterhin‘ und mame rozomiety‚wir müssen verstehen‘.

6. Zusammenfassung Der Vergleich der untersuchten ‚Magdeburger Urteile‘ und des ‚Sächsischen Weichbildrechts‘ macht schnell deutlich, dass es sich hierbei um Texte mit unterschiedlichen Strukturen handelt. Die ‚Magdeburger Urteile‘ bestehen aus Anfragen zu Rechtsangelegenheiten und aus entsprechenden Antworten (Rechtssprüchen) auf diese Anfragen. Bei den Einleitungsformeln im ‚Sächsischen Weichbildrecht‘ zeigen sich die Unterschiede nicht nur in der Struktur, sondern ebenfalls im Inhalt, sofern hier überhaupt Einleitungsformeln vorhanden sind. Die Einleitungsformeln der ‚Magdeburger Urteile‘ leiten jeweils eine Anfrage bzw. eine Antwort zu einer Anfrage ein, vgl. z. B.:

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– Spruch 1 /// 1: Einleitungsformel der Anfrage: frnhd. Fruntlichen grus vorn, liben frunt, ir habit uns gefrogit rechtis in desen worten /// apoln. PRyyaczelszky poklon naprzod. myly przyyaczyele! pytalysczye nasz o prawo takymy szlowy

und ‒ Spruch 1 /// 1: Einleitungsformel der Antwort: frnhd. Hyruf spreche wir scheppin der stat czu Medeburg eyn recht /// apoln. NA tho movyemy przyszyasznyczy zmaydburkv.

Die Einleitungsformeln von Artikeln bzw. Absätzen des ‚Sächsischen Weichbildrechts‘ weisen auf einen neuen Gedanken hin, vgl. z. B.: frnhd. Nv vornemet /// atsch. GYz rozomieyte (Art. 8 § 1, fol. 30v /// C8, , bis , )

oder nachfolgend im Charakter von Paarformeln27: frnhd. Nv horet vnde vornemet /// atsch. POſluchayte a rozomieyte (Art. 9 § 1, fol. 36r /// C9, , )

und frnhd. Wollet ir horen vnde vornemen /// atsch. CHczete li rozomiety a ſlyſſety (Art. 6 § 1, fol. 21r /// C6 , ).

Diese Funktion des Hinweisens auf einen neuen Gedanken haben auch die Einleitungsformeln in der Glosse zum ‚Sächsischen Weichbildrecht‘. Zu vergleichen sind hierzu vor allem die Ausführungen Bernd Kannowskis, der in seiner Untersuchung zur Buch’schen Glosse den Kapitelanfängen einen eigenen Abschnitt (2.1) widmet (Kannowski 2007: 497–513) und betont: „immer wieder findet sich die Einleitungsformel nu vernemet, vor allen Dingen als Kapitelbeginn“ (Kannowski 2007: 513).

Quellen / Editionen Berlin, Staatsbibliothek Preußsischer Kulturbesitz, Sg. SBPK Ms. mgf 389. Prag, Parlamentní knihovna, Sg. Práva saská; [online]: http://www.psp.cz/kps/knih/prawa/prawa.htm.

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„Paarformel ist die zweigliedrige, zu einer Einheit verknüpfte Sprachformel, die durch Stabreim, Endreim, Rhythmus und andere sprachliche Mittel verstärkt sein kann. […] In den meisten Fällen sind […] [die] Komponenten [einer Paarformel] Substantive […], seltener kommen Verben […], Adjektive […] oder Adverbien […] vor.“ (Spáčil/Spáčilová 2010: 476); vgl. auch SchmidtWiegand (1984).

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Literatur Bily, Inge / Carls, Wieland / Gönczi, Katalin (2011): Sächsisch-magdeburgisches Recht in Polen. Untersuchungen zur Geschichte des Rechts und seiner Sprache. (Ivs Saxonico-maidebvrgense in oriente. Das sächsisch-magdeburgische Recht als kulturelles Bindeglied zwischen den Rechtsordnungen Ost- und Mitteleuropas 2). Berlin / Boston. Bily, Inge (2011a): Kapitel E. Deutsch-polnische kontrastive Wortanalyse anhand einer deutschen und einer polnischen Handschriften der ‚Magdeburger Urteuile‘. In: Inge Bily, Carls Wieland, Katalin Gönczi (Hrsg.): Sächsich-magdeburgisches Recht in Polen. Untersuchungen zur geschichte des Rechts und seiner Sprache. (Ivs Saxonico-maidebvrgense in oriente. Das sächsisch-magdeburgische Recht als kulturelles Bindeglied zwischen den Rechtsordnungen Ost- und Mitteleuropas 2). Berlin / Boston, 117–328. Bily, Inge (2011b): E. II. Zur Struktur der Schöffensprüche. In: Inge Bily, Carls Wieland, Katalin Gönczi (Hrsg.): Sächsisch-magdeburgisches Recht in Polen. Untersuchungen zur Geschichte des Rechts und seiner Sprache, 127–135. Boková, Hildegard / Spáčilová, Libuše (2003), unter Mitarbeit von Bok, Václav / Spáčil, Vladimír / Kusová, Jana: Stručný raněnovohornoněmecký glosář k pramenům z českých zemí. [Kurzes frühneuhochdeutsches Glossar zu Quellen aus den böhmischen Ländern]. Olomouc. Buchda, Gerhard (1973): Enthält die Glosse zum Sächsischen Weichbild echte Schöffensprüche? In: Festschrift H. Demelius zum 80. Geburtstag. Wien, 25–50. Daniels, Alexander von / Gruben, Franz von (Hrsg.) (1858): Das Sächsische Weichbildrecht. Ius municipale saxonicum. (Rechtsdenkmäler des deutschen Mittelalters 1). Berlin. Felber, Helmut / Budin, Gerhard (1989): Terminologie in Theorie und Praxis. (Forum für Fachsprachenforschung 9). Tübingen. Große, Rudolf (1986): Die Sprache des Rechts in der Geschichte der deutschen Sprache. In: Arwed Spreu (Hrsg.): Humboldt-Grimm-Konferenz Berlin, 22.–25. Oktober 1995. Teil I. Berlin, 76–90. Große, Rudolf / Uhlig, Brigitte (2007): Zur Bedeutung der Sprache der spätmittelalterlichen Rechtsbücher im Ostmitteldeutschen. In: Luise Czajkowski, Corinna Hoffmann, Hans Ulrich Schmid (Hrsg.): Ostmitteldeutsche Schreibsprachen im Spätmittelalter. (Studia Linguistica Germanica 89). Berlin / New York, 73–92. Kannowski, Bernd (2007): Die Umgestaltung des Sachsenspiegelrechts durch die Buch’sche Glosse. (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 56). Hannover. Köbler, Gerhard (1984): Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte. In: Werner Besch, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 1. Halbbd. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1). Berlin / New York, 56–70. Kořenský, Jan / Cvrček, František / Novák, František (1999): Juristická a lingvistická analýza právních textů. (právněinformatický přístup). Praha. Lück, Heiner (2008): Einführung: Das sächsisch-magdeburgische Recht als kulturelles Bindeglied zwischen den Rechtsordnungen Ost- und Mitteleuropas. In: Ernst Eichler & Heiner Lück (Hrsg.): Rechts und Sprachtransfer in Mittel- und Osteuropa. Sachsenspiegel und Magdeburger Recht. Internationale und interdisziplinäre Konferenz in Leipzig vom 31. Oktober bis 2. November 2003. (Ivs Saxonico-maideburgense in oriente 1). Berlin / New York, 1–28. Munzel, Dietlinde (1998): Artikel Weichbildglosse. In: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann, Dieter Werkmüller (Hrsg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 5. Berlin, Sp. 1212–1213. Oppitz, Ulrich-Dieter (1990): Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters. Bd. II: Beschreibung der Handschriften. Köln / Wien.

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VLASTIMIL BROM

Fachsprachliche Aspekte in der spätmittelalterlichen böhmischen Geschichtsschreibung1

1. Allgemeines Zu den unübersehbaren textsorten- und kommunikationsgeschichtlichen Charakteristika des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit gehört bekanntlich auch die zunehmende Bedeutung der Fachsprachen. Man muss bei diesem Phänomen nicht ausschließlich an fachliche Kontexte und Fachtexte im engeren Sinne denken, die an sich immer mehr an Bedeutung gewinnen, es lassen sich jedoch Belege für diese Tendenz auch außerhalb dieses enger gefassten Rahmens finden.2 Im Folgenden soll versucht werden, die genannten Aspekte anhand von ausgewählten spätmittelalterlichen Texten böhmischer Provenienz zu verfolgen, nämlich von historiographischen Werken des 14. Jahrhunderts, die in parallelen Fassungen in mehreren Sprachen vorliegen (i. d. R. lateinisch, tschechisch, deutsch). Namentlich wird die ‚Dalimil-Chronik‘ (alttschechisch, deutsche Reimübersetzung, fragmentarische lateinische Übersetzung) (Brom 2009) herangezogen, ferner jeweils die lateinischen Originaltexte und tschechische und deutsche Übersetzungen der Autobiographie Karls IV. ‚Vita Caroli‘ (Emler 1882; Brom 2012, online) und der ‚Pulkava-Chronik‘ (Emler/Gebauer 1893; Brom 2012, online). Obwohl die Geschichtsschreibung ebenfalls zum Trivium gerechnet wurde (Eis 1967: 8), wurden diese Gattungen in den traditionellen engeren Rahmen der Fachprosaforschung – v. a. aus pragmatischen Gründen (im Falle der gereimten Texte auch formbedingt) – meist nicht aufgenommen (vgl. Keil/Mayer 1998: 348; Drozd/Seibicke 1973: 6; Assion 1973: 6); nach der definitorischen Einschränkung von W. Crossgrove umfasst der Gegenstandsbereich der Fachliteratur ausschließlich nicht einmalige Bege1

2

Dieser Text entstand im Rahmen des Forschungsprojektes Spätmittelalterliche deutsche historiographische Texte böhmischer Provenienz – philologische Analyse, elektronische Edition (2009– 2011) gefördert durch die Grantagentur der Tschechischen Republik, Nr. GA405/09/0637. Projektseite: http://www.phil.muni.cz/german/projekty/hmb/ (Stand 4. 2. 2012). Zur Reichweite des Fachschrifttums im Mittelalter und der Frühen Neuzeit vgl. z. B. Kalverkämper (1998b: 68); Eis (1967: 55).

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Vlastimil Brom

benheiten und im Prinzip wiederholbare und verifizierbare Handlungen, wodurch die Geschichtsschreibung mit ihrem inhärenten Zeitbezug und der Ausrichtung auf individuelle historische Tatsachen ausgeschlossen wird (Crossgrove 1994: 14).

2. Prologtexte Diese Quellen erscheinen für die vorliegende Fragestellung jedoch u.a. dadurch relevant, dass sie als nichtfiktionale Texte deutlich durch ihren Informationsgehalt charakterisiert sind, was bereits bei ihrem Entwurf wahrgenommen wurde. Diese Akzentuierung geht wohl über die übliche Losung prodesse et delectare hinaus, die faktisch für einen großen Teil der literarischen Produktion des Mittelalters und der Frühen Neuzeit relevant ist (so auch bei der Dichtung und der „schönen“ Literatur; vgl. Bumke 2002: 709). Neben den bei „National“- bzw. Landeschroniken naheliegenden patriotischen Schwerpunkten tritt eine Art Objektivität- und Wahrheitsanspruch bereits in einigen Prolog-Passagen hervor. Am deutlichsten zeigt sich dies in einer Handschrift der tschechischen Pulkava-Übersetzung (im lateinischen und deutschen Text ist diese Formulierung nicht enthalten): Tato kronika jest od počátku české země i o všech kniežetech i králích, ješto jsú zpravovali svými časy. A takž pak k přikázání slavného Karla čtvrtého Římského ciesaře ze všech kronik všech klášteróv, ježto shledány mohly býti, skrze Přibíka, syna Dluhojova z Tradenína, mistra školnieho od svatého Jiljie řečeného Pulkava v Český hlahol z latinského, jakž najlépe mohlo býti, jest přeložena. I jest znamenati, že všecky věci básnivé a nepravé jsú opuštěny, a což pravého a jistého jest, položeno; neb ty všecky věci dřéve řečený ciesař s velikú plností v latinskú, velmi krásnú řeč shromazditi jest kázal. Své země činy máš zvěděti, neptaje se na noviny jiných zemí všelikterých, neb divóv některých. Potom pak to učiníš, jězdiž sem i tamo po novině. (Pulkava-Chronik, Tsch. Kap. 0 (Prolog): 211) [Diese Chronik behandelt [die Geschichte] seit den Anfängen des böhmischen Landes und alle Fürsten und Könige, die [da] jeweils in ihren Zeiten regierten. So wurde sie auf Geheiß des ruhmreichen römischen Kaisers Karl IV., anhand von allen Chroniken aus allen Klöstern, die gefunden werden konnten, durch Přibík, Sohn von Dluhoj von Tradenín, den Schulmeister des Hl. Ägidius, genannt Pulkava, aus der tschechischen in die lateinische Sprache, auf die beste Weise, die nur möglich war, übersetzt. Es ist anzumerken, dass alle erdichteten und unwahren Sachen weggelassen wurden, und was wahr und gesichert ist, wurde dargelegt; denn der vorher erwähnte Kaiser hatte diese Sachen in großer Fülle in eine sehr schöne lateinische Darstellung zusammenfassen lassen. Du sollst [zuerst] „die Taten“ deines Landes kennenlernen und nicht nach Neuigkeiten anderer Länder oder irgendwelchen Wundern trachten. Nachdem du jenes getan hast, dann mögest du hierher und dorthin reisen um der Neuigkeiten willen.]

Es ist anzunehmen, dass hier teilweise die rhetorischen Maßstäbe im Rahmen der Exordialtopik eine Rolle spielen, immerhin kommen in der angeführten Probe jedoch explizit mehrere Aspekte zum Ausdruck, die die Objektivität, sachliche Angemessenheit und

Fachsprachliche Aspekte in der […] Geschichtsschreibung

221

Zuverlässigkeit des chronikalischen Werkes betonen: es wird die umfassende Heuristik nahe gebracht, weiter eine Art kritische Überprüfung des Aussagewertes und der Wahrhaftigkeit, auch sprachlich-stilistische Qualitäten des lateinischen Originalwerkes werden angesprochen und ferner, als Betonung der Autorität, die wichtige Rolle des Kaisers bei der Gestaltung der Chronik. Anzumerken wäre, dass das Werk wahrscheinlich trotz des tatsächlichen Engagements und der Unterstützung des Herrschers wohl einiges zu wünschen übrig ließ (Bláhová 1987: 558). Auch in der ‚Dalimil-Chronik‘ ist der Prolog primär im tschechischen Text belegt, hier ist die nationale Akzentuierung im ganzen Werk stärker, allerdings findet man auch hier die Betonung der Sachlichkeit und des nützlichen informativen Wertes mit Verzicht auf rhetorischen Schmuck: Nebo by sě do nich které čsti nadieli, své by země kníhy jměli, z nichž by svój rod veš vzvěděli, a odkud sú přišli, věděli. Jáz těch knih dávno hledaju a veždy toho žádaju, aby sě v to někto múdrý uvázal a všě české skutky v jedno svázal. Řěči prázdné, jelikož mohu, myšľu ukrátiti, a však smysl cělý myšľu položiti, aby sě tiem mohl každý radějí učiti a k svému sě jazyku viece snažiti. Neb uslyšě múdrý řěč múdrú, múdřějí bude a túžebný tiemto túhy zbude. Jáz ti tuto sprostně položu …

(Dalimil-Chronik tsch.: 0/5–0/12)

(Dalimil-Chronik tsch.: 0/44–0/50)

[Man würde von ihnen vielmehr das Verdienst erwarten, // dass man die Bücher über das eigene Land zur Verfügung hätte. // Davon könnte man von dem ganzen Geschlecht erfahren, // und lernen, woher sie gekommen sind. // Ich suche solche Bücher seit langer Zeit // und wünsche mir immer, // dass es jemand Weiser unternehmen würde, // alle tschechische Taten in ein Ganzes zu bringen. Leeres Gerede will ich straffen, sofern ich kann, // dennoch beabsichtige ich den vollständigen Sinn darzulegen, // damit hier jeder mit umso größerer Freude lernen könnte, // sich um seine ›Zunge‹ eifriger zu bemühen. // Denn ein Weiser wird noch weiser, wenn er eine weise Rede hört, // und ein Besorgter wird dadurch seine Sorgen los. // Ich lege dir dieses in rauher Form vor …]

Auch bei den nationalen Schwerpunkten des Prologs und des Großteils des eigentlichen Werkes finden sich bei Dalimil explizite Äußerungen, die den Informationswert und den didaktischen Nutzen des Werkes, die einfache, knappe Ausdrucksweise sowie einen Verzicht auf „Rhetorik“ nahe bringen. Außerhalb der Textprobe ist im Prolog auch ein Heuristik-Nachweis zu finden, eine Auflistung von mehreren verfügbaren Chroni-

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Vlastimil Brom

ken, zu denen mit Ausnahme der Hauptquelle (Bunzlauer Chronik, d. h. die CosmasChronik) Einwände geäußert werden (Dalimil-Chronik tsch., V. 0/26–37). Karl IV. wählt in seiner Autobiographie eine andere Inszenierung der dargestellten Lebensgeschichte, wobei die theologisch-religiösen Aspekte in den Vordergrund treten. Diese Perspektive ist auch in manchen weiteren relativ umfangreichen Passagen des Werkes deutlich. Eine Art konkretere Bezugnahme zum geschilderten Inhalt ist dann nach den homiletisch geprägten Kapiteln 1–2 erst am Beginn des dritten Kapitels zu finden: Successioni vestre diligenter scripsi verba preassumpta sapiencie et timoris dei, quantum mea parvitas divini auxilii capax fuit. Nunc de vana et stulta vita mea vobis scribere cupio, ac de exordio transitus mei mundani, ut cedere vobis valeant in exemplum. Graciam autem michi a deo infusam et amorem studii, quod mei pectoris habuit tenacitas non tacebo; ut tanto magis speretis in divino auxilio in laboribus vobis succurrere, quanto patres et predecessores vestri vobis magis annunciant. Nam et scriptum est: „Patres nostri annunciaverunt nobis.“ Cupio ergo vos non latere, quod … [es folgt die Genealogie der Luxemburger] (Vita Caroli lat., Kap. 3: 339) Budúcím našim snažně popsal jsem slova dříve řečená múdrosti a strachu božieho tak, jakžto má malost božie pomoci účastna byla. Již o prázdném a nemúdrém životu mém vám psáti žádám a také o počátku běhu mého světského, aby to mohlo vám přijíti na příklad. Milosti pak mně od boha vlité a smilovánie učenie, to což mých prsí měla snažnost, nezamlčím, aby tiem viece ufali v boží pomoc, že v úsilí vašem vám spomóže, jímžto viece otcové a předci vaši vám zvěstují; nebo psáno jest: otcové naši zvěstovali jsú nám. Žádám proto, aby to vám nebylo tajno, že … [es folgt die Genealogie der Luxemburger] (Vita Caroli tsch., Kap. 3: 371–372)

In der deutschen Fassung wurden die homiletisch-moralisierenden und reflexiven Abschnitte weitgehend weggelassen, einschließlich der beiden ersten Kapitel, so dass die Genealogie des späteren Kaisers als Beginn des biographischen Teiles anders eingeführt wird: … so wirt hie noch yn deßem andern buche gesaget, wie die fursten abegestegen synd vnde synd komen von dem geslechte der von Lutzenburg, dye yn der czeit haben vorstanden vnde geregieret dye reich notczlich vnde fromelich, als das hernoch clerlich wirt gesaget hye vnde gescreben. (Vita Caroli dt., Kap. 3: 96)

Es werden in der obigen Passage zumindest ansatzweise zwei charakteristische Merkmale der Darstellungsweise und der Perspektive der Schilderung vorausgeschickt – die Nützlichkeit und Tüchtigkeit – wohl eher als „Frömmigkeit“ im gegebenen Kontext – der luxemburgischen Herrschaft (notczlich, fromelich) und die Prägnanz der Darstellung (clerlich). Nicht ganz klar ist, ob die Angabe zur mündlichen und schriftlichen Realisierung (wirt gesaget hye vnde gescreben) wörtlich zu verstehen ist, und nicht z. B. als eine Art feste Verbindung. Es könnte sich ggf. um einen Hinweis auf das faktische Zustandekommen des Werkes handeln. Es wird angenommen, dass der Herrscher den Text einem Schreiber diktierte (Bláhová 1987: 561; vgl. auch: 50, Anm. 1).

Fachsprachliche Aspekte in der […] Geschichtsschreibung

223

Es liegt bereits bei der obigen vorläufigen Betrachtung anhand von Prologtexten u. a. nahe, dass die analysierten spätmittelalterlichen historiographischen Werke eine Vielzahl von Funktionen haben konnten, was sich natürlich auch in ihrer formalen Gestaltung, der inhaltlichen Ausrichtung, der Themenwahl, Akzentuierung u.a. niederschlägt. Hervorzuheben sind jeweils die primären ideologisch-politischen Anliegen, da die Chroniken auch als Mittel der Meinungsbildung und -beeinflussung dienten, wobei die geeignete Interpretation der Geschichte als ein effektives Mittel in diesen Bereichen angesehen werden kann. Bei der in mancher Hinsicht außerordentlichen Autobiographie Karls IV. ist die Frage nach ihrer primären Funktion – neben der Selbstpräsentation des Herrschers – teilweise offen, wobei deutlich unterschiedliche Deutungsansätze einschließlich der zusammenhängenden Datierung u. a. vorgeschlagen wurden (Bláhová 1987: 560–561; Hillenbrand 1983: Sp. 996; Hillenbrand 1979: 18–21). Nicht zu vergessen ist letztlich auch die – unterschiedlich stark ausgeprägte – literarisch-ästhetische Dimension und überhaupt die unterhaltende Funktion. Ohne Zweifel enthalten die Werke eine Menge von neutral präsentierten Informationen, bei denen etwa die „ideologischen“ Akzente anscheinend wenig relevant sind; hier kann es sich sowohl um gemeinsprachliche Domänen handeln, oder aber auch um inhaltlich spezifischere, enger gefasste Rahmen, ggf. mit fachlichen Bezügen, die im Weiteren näher verfolgt werden sollten. Zu betonen ist, dass es sich bei den erwähnten Aspekten keineswegs um isolierte, voneinander getrennte Sphären handelt. Vielmehr sind die Überschneidungen von einzelnen Textfunktionen häufig, wie auch eine potentielle komplexe Instrumentalisierung von unterschiedlichen Bereichen, abhängig von den dominanten Intentionen der Textproduzenten. Im Falle der untersuchten Quellen haben wir es offenbar nicht mit Fachtexten im eigentlichen Sinne zu tun. Der intendierte kommunikative Geltungsbereich beschränkt sich nicht auf Fachkreise und ihre Funktion ist keineswegs nur die der Wissensvermittlung, oder gar die primäre Darstellung der Forschungsergebnisse. Da aber in diesen inhaltlich breit gefächerten Werken unter anderem auch spezifische konkrete Informationen Erwähnung finden, lassen sich auch fachsprachliche Phänomene beobachten.

3. Lexik Weil das Fachliche sich hierbei nicht primär aus der dominanten Funktion des Textes oder dem kommunikativ-pragmatischen Rahmen ergibt (zusammenfassend zur Definition vgl. Kalverkämper 1998a: 48), sondern vielmehr vorwiegend aus den besprochenen Inhalten, sind die fachsprachlichen Merkmale am ehesten im lexikalisch-semantischen Bereich zu suchen. Letztlich ist Fachwortschatz (bzw. Fachwortschätze) die oberflächlich sichtbarste Ebene der Fachsprachen, die für lange Zeit auch für die Forschung dominant war (vgl. Hoffmann 1998: 157; Seibicke 2003: 2378). Das lexikalische Material

224

Vlastimil Brom

ist ebenfalls am einfachsten zwischen einzelnen kommunikativen Sphären bzw. Anwendungsbereichen übertragbar. Anhand von vorläufigen Stichproben bestätigt sich die Annahme, dass die relevanten, u. U. fachlich ausgerichteten Passagen mit entsprechendem charakteristischem Wortschatz in den Texten deutlich unregelmäßig vertreten sind. Dies ist auch erklärbar, da die vorhandenen fachlich(er)en Darlegungen nach keinem systematischen Konzept aufgenommen wurden, sondern einfach in den einschlägigen Zusammenhängen, wobei die primäre Anordnung die chronologische Abfolge respektiert.

3.1 Distribution Um die Verteilung der potentiell relevanten semantischen Bereiche des Wortschatzes in den Texten zu verfolgen, wird ein mehrstufiges Verfahren angewandt: Es werden Wortformenlisten (mit Frequenzangaben) erstellt; die Autosemantika (i. w. S.) werden eher grob in „Sinnbezirke“ eingeteilt, entweder direkt anhand der Einträge in der Frequenzliste, oder bei Bedarf mit Berücksichtigung der Textbelege in einer KWIC-Konkordanz oder im zusammenhängenden Text. Da diese Bearbeitungsphase v. A. auf eine vorläufige Identifizierung von potentiell aussagekräftigen Textstellen ausgerichtet ist, können ggf. einige Arbeitsschritte gespart bzw. vereinfacht werden, bei denen der Aufwand erwartungsgemäß nicht durch adäquaten Nutzen gerechtfertigt wäre. So wurde insbesondere auf die Lemmatisierung der Wortformen sowie die umfassende Disambiguierung verzichtet; Homonyme und polyseme Ausdrücke wurden ad hoc entweder den deutlich überwiegenden inhaltlichen Kategorien zugeordnet, oder u.U. mehreren zugleich. Eine spezifisch ausgerichtete, statistisch fundierte lexikalische Analyse des Werkes einschließlich Lemmatisierung bietet F. Pichiorri (2003, online). Bei umfangreicheren Texten finden außerdem in diesem Schritt zunächst nur Wortformen ab einer bestimmten Vorkommenshäufigkeit Berücksichtigung. Die Aussagekraft dieser Teilerhebung wurde durch einen Vergleich der Ergebnisse anhand der gesamten Wortformen der ‚Vita Caroli‘ (s. u.) mit anschließender Einschränkung auf die Mindestfrequenz 2 und 3 überprüft, wobei sich die gewonnen Ergebnisse bei der weiteren Verarbeitung als weitestgehend äquivalent erwiesen. Ferner soll die Distribution der aufbereiteten Ausdrücke einzelner semantischer Kategorien im Verlauf des jeweiligen Textes ermittelt und visualisiert werden, um die wechselnden inhaltlichen Dominanten sichtbar zu machen. Für jede laufende Wortform wird ihre Textumgebung (eine bestimmte Anzahl der Wörter vor und nach der gegebenen Wortposition) berücksichtigt und der Anteil der Ausdrücke der gegebenen Kategorie an der Wörterzahl des Segments ermittelt.3 Die so gewonnenen relativen Werte lassen 3

Für eine Diskussion und kritische Bemerkungen zum angewandten Verfahren zur Ermittlung und Darstellung der relativen Verteilung der Belege im Text möchte ich mich bei Mgr. Tereza Kolářová (Schlesische Universität Opava) herzlich bedanken.

Fachsprachliche Aspekte in der […] Geschichtsschreibung

225

sich direkt mit anderen verfolgten Kategorien vergleichen und auf etwaige Korrelationen überprüfen – sei es ein paralleles oder aber ein komplementäres Auftreten der einzelnen Gruppen oder andere signifikante Relationen. Die für jede Wortposition differenzierten Werte sind von Vorteil bei der gleichzeitigen graphischen Darstellung von mehreren Kategorien; z. B. im Unterschied zur üblicheren Berechnung der relativen Häufigkeit in festen Textsegmenten und einer Histogramm-Visualisierung.

3.2 Semantische Klassifizierung Das vorgestellte Verfahren wird im Folgenden am Beispiel von ‚Vita Caroli‘ (lateinischer Originaltext) veranschaulicht, wo die dominanten Themenbereiche im Text eine dynamische Varianz aufweisen; außerdem kann der relativ kürzere Text als ein Ganzes in einer feiner differenzierten Visualisierung dargestellt und abgedruckt werden. Kategorie (Tag)

Frequenz (types)

Frequenz (tokens)

Erläuterung

191

652

Herrschaft, Herrscherbezeichnungen, Adelstitel u. a.

85

157

Kultur, Hofleben, Bildung u. ä.

27

152

Städtewesen allg.

39

114

Gesellschaft, Soziales, Personen- und Gruppenbezeichnungen (außerhalb der konkreten Kategorien)

229

364

Recht – allgemein (außerhalb der sonstigen Kategorien)

305

653

Kirchliches – institutionell; Religion, Theologie, Morallehre, Homiletik, Exegese ...

123

432

Verwandtschaft i. w. S. (einschließlich rechtliche, institutionelle Dimension u. ä.)

243

467

Militärwesen

30

151

Ausdrücke der Orts- bzw. Richtungsangaben

63

278

Ausdrücke der Zeitangaben

256

350

Abstrakta (außerhalb der vorherigen Bereiche), oft wertende Bezeichnungen u. ä.

417

798

Geographische Namen

164

377

Personennamen

2049

3110

Weniger spezifische Ausdrücke des Allgemeinwortschatzes (nicht dargestellt in der unten stehenden Graphik)

Tab. 1: Angesetzte semantische Bereiche mit Frequenzangaben (Vita Caroli, lateinisch)

226

Vlastimil Brom

Die angewandte Ad-hoc-Klassifizierung erhebt keineswegs Anspruch auf allgemeinere Gültigkeit, denn sie lehnt sich eng an das zu Grunde liegende Textmaterial an. Eine feinere Gliederung z. B. nach den konzeptuellen Einheiten der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (MHDBDB 2012, online) würde bei den relativ eng begrenzten Textquellen zu einer Zersplitterung beitragen, die die Übersichtlichkeit der graphischen Darstellung beeinträchtigen würde. Die angesetzten „Sinnbezirke“ lassen sich der folgenden Tabelle entnehmen. Die als Synsemantika eingestuften Wortformen wurden in die Übersicht nicht aufgenommen; die Frequenzangaben reflektieren auch gelegentliche Mehrfachzählungen von mehrdeutigen Ausdrücken oder Grenzfälle. In dem relativ kürzeren Text der Autobiographie Karls IV. (ca. 15150 laufende Wörter – tokens, 4954 verschiedene Wortformen – types) wurden die gesamten Wortformen erfasst, die berücksichtigte Wortnachbarschaft beträgt 500 Wörter vor und nach der jeweiligen Wortposition. Die resultierende graphische Darstellung zeigt die wechselnde relative Häufigkeit der Ausdrücke der jeweiligen Kategorien innerhalb der eingestellten Textumgebung. Der Abfall der Linien am Textanfang und -schluss ergibt sich aus der eingeschränkten realen Textumgebung; im Hintergrund sind neben dem Raster die – deutlich ungleichmäßigen – Kapitelgrenzen angezeigt.

Abb.1: Relative Verteilung von Autosemantika einzelner semantischer Bereiche im Verlauf des Textes: Vita Caroli – lateinisch (generiert mit matplotlib (2012, online))

Relative Verteilung von Autosemantika einzelner semantischer Bereiche im Verlauf des Textes: Vita Caroli – lateinisch (generiert mit matplotlib (2012, online))

Fachsprachliche Aspekte in der […] Geschichtsschreibung

227

Anhand der Konzentration von inhaltlich spezifischeren Ausdrücken der einzelnen Kategorien wird sichtbar, das viele thematische Schwerpunkte des Textes jeweils in relativ deutlich abgegrenzten Passagen auftreten, manchmal den Kapitelgrenzen entsprechend, manchmal ohne diese Korrelation. Während einige Themenbereiche eher dem allgemeinen Sprachgebrauch zuzuordnen sind, liegt bei manchen dagegen ein engerer, spezieller Geltungsbereich vor. Man könnte also wohl mit gewisser Berechtigung eine bestimmte Nähe zu fachlichen und entsprechenden fachsprachlichen Kontexten ansetzen. Da beim behandelten Material insgesamt von keinen Fachtexten im eigentlichen Sinne zu sprechen ist, bietet sich als ein möglicher Ansatz eine Stichproben-Untersuchung von Textpassagen, in denen eine deutliche thematische Ausprägung zu beobachten ist. In solchen (weitgehend inhaltlich abgeschlossenen) Textabschnitten lassen sich auch der Stellenwert und die Funktion einzelner Sprachelemente und Merkmale besser verfolgen. Auch können auf diese Weise die inhärente Allgemeinheit und potentielle Ungenauigkeiten der vorläufigen Erfassung teilweise kompensiert werden – insbesondere die vorerst fehlende Lemmatisierung und Disambiguierung; bei umfangreicheren Texten als die ‚Vita Caroli‘ auch die Einschränkung der primären inhaltlichen Klassifizierung auf Wortformen ab einer gewissen Vorkommenshäufigkeit (s. o.). Auszuklammern sind zunächst Kategorien, die zwar im Text eine unersetzliche Rolle spielen, deren Erforschung sich jedoch weitgehend außerhalb des vorliegenden Rahmens befindet. Zu denken ist hier primär an relativ zahlreiche und vielfältige onymische Belege (Tags: und ), deren adäquate Untersuchung ferner einen Zugriff auf handschriftliche Fassungen benötigen würden anstelle der hier vorwiegend zu Grunde liegenden älteren Editionen (vgl. Debus 2004: 115–117). Die Eigennamen wurden jedoch in die Übersicht neben dem appellativen Wortschatz aufgenommen, da ihr Vorhandensein durchaus signifikant sein kann, insbesondere in Korrelation mit Ausdrücken anderer Kategorien. Die Passagen mit erhöhter Frequenz geographischer Namen entsprechen der Beschreibung der Reisen bzw. Heerzüge des Thronfolgers u. a.; die Personennamen sind insgesamt weniger frequentiert und auch etwas gleichmäßiger im Text verteilt – mit Ausnahme von abstrakteren religiösen, reflektierenden Abschnitten (s. u.); eine naheliegende positive Korrelation liegt bei den Personennamen und Herrschertiteln u. a. vor.

3.3 Abstrakter Wortschatz – Moral, Theologie Ein unübersehbares Phänomen in der Distribution des inhaltlich spezifischen Wortschatzes zeigt sich bei den Bezeichnungen aus der kirchlich-religiösen und theologischen Sphäre (). In den betreffenden Textstellen zeigt sich außerdem ein Anstieg der in den Kategorien der abstrakten, wertenden Ausdrücke und im rechtlichjuristischen Bereich (, ). Mit mehreren Kategorien, die eher konkretere, sachliche Bereiche repräsentieren, zeigt sich dagegen eine negative Korrela-

228

Vlastimil Brom

tion. Es muss hier jedoch auf eine Besonderheit der Übersetzungsweise (oder der Überlieferungslage) hingewiesen werden, die den Aussagewert dieses interessanten Gebiets für germanistische Fragestellungen leider deutlich beeinträchtigt: Die bedeutendsten Passagen mit diesem Charakter (Kapitel 1–2, 11–13) sind nämlich in der vorhandenen deutschen Übersetzung nicht enthalten (was an und für sich die biographischen und historischen Informationen in den Vordergrund treten lässt). Die Akzentuierung der religiösen Perspektive wird ebenfalls in dem zitierten Prolog des Originaltextes deutlich sichtbar (s. o.). Aus den dreisprachig überlieferten Textstellen dieser Ausprägung verdient insbesondere eine besonders ausdrucksvolle, als autobiographisch dargelegte Schilderung eines jugendlichen Liebesabenteuers des Wir-Erzählers Beachtung (1333 in Lucca), wo die theologisch bzw. homiletisch basierte Ausdrucksweise im anschließenden moralisierenden Rückblick besonders konzentriert zur Anwendung kommt:4 In tempore illo cum essemus in Lucca diabolus, qui semper querit, quem devoret, et offert hominibus dulcia, in quibus fel latet, cum ante diu fuissemus temptati per eum nec tamen divina gracia adiuvante victi, instigavit homines pravos et perversos, cum per se non valuisset, qui patri nostro cottidie adherebant, ut nos de tramite recto in laqueum miserie et libidinis seducerent; sicque seducti a perversis eramus perversi una cum perversis. (Vita Caroli lat., Kap. 7: 346– 347)

Toho času když běchme v Luce, ďábel jenž vždy hledá, koho by pozřel, a ofěruje lidem sladkosti, v nichžto sě žluč tají, když před tiem dávno běchme pokúšeni skrze něho ani však přemoženi skrze pomoc božie milosti, a vzbudil lidi křivé a převrácené, když skrze sě nemohl, ti ježto otce našeho na každý den sě přidržievachu, aby nás s stezky pravé v uosidlo hubenstvie a smilstvie svedli; a tak svedeni od převrácených, běchme převráceni s převrácenými. (Vita Caroli tsch., Kap. 7: 377)

Do wer noch worn yn Luca, der tewffil, der alle wege suchet den, den her fresßen mag, vnde gibt den Lewten susßes vor, yn den do galle luschet, do wir nw vil vorsucht worn durch en vnde die gotliche gnode vns halff obersegen, dornoch hild der tewffel ander lewte an, das sie das tothen, das her selber nicht gethuen kunde; die hyngen vns an, das sie vns anbrechten yn dy wollust vnde fleischliche begerunge. (Vita Caroli dt., Kap. 7: 402–403)

In der knappen Textprobe und deutlicher noch in den erwähnten ausgeprägten Kapiteln (1–2, 11–13) der lateinischen und tschechischen Fassung zeigt sich eine nahezu professionelle Fach- und Sprachkompetenz des Autors im Bereich der Homiletik, Morallehre u. a., wie es z. B. in der Predigtliteratur (zur Einordnung vgl. Pumprová 2007), oder in „Sittenbüchern“ zu erwarten wäre. Zum Nachweis der zitierten und angespielten Bibelstellen vgl. die Anmerkungen von M. Bláhová zur neutschechischen Ausgabe (Bláhová 1987: bes. 14–17, 32–38, passim; bzw. Hillenbrand 1979: 209–227, bes. 209–210, 220– 221); in der zitierten Stelle liegt eingangs der 1. Brief Petrus 5, 8 zugrunde: diabolus [...] quaerens quem devoret (Vulgata). Zum ausdrucksvollen Schlussteil der Probe las4

Besonders relevante Textabschnitte werden durch Inversion markiert, d.h. durch normale Schriftart innerhalb der kursiv gesetzten Belege.

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sen sich gewisse formulatorische Ähnlichkeiten finden – wohl ohne direkte Beeinflussung, vgl. z. B. 2. Buch Samuel 22,27: cum electo electus eris et cum perverso perverteris; Psalm 17,27: cum electo electus eris et cum perverso pervertes (vgl. auch die frühere Textstelle – Vita Caroli lat. Kap. 2: 338),5 bzw., in anderem Zusammenhang, den Augustinusbrief 93, 3.10: … errant seducti a perversis … (Augustinus 2012, online)). Die Ausdrucksweise zeichnet sich durch starke Expressivität aus, in der Lexik dominieren einheimische Bezeichnungen ursprünglich allgemeinsprachlicher Herkunft, was der Bedarf an Anschaulichkeit und möglichst unmittelbarer Verständlichkeit beim Laienpublikum mit sich bringt; zu demselben Bereich gehören auch abstrahierende übertragene Verwendungen (vgl. dulcia […] fel – sladkosti […] žluč – susßes [...] galle). Insgesamt ist die theoretische und terminologische Verankerung mancher Ausdrücke oder Mehrwortverbindungen kaum zu übersehen (vgl. temptati – pokúšeni – vorsucht; divina gracia – božie milosti – gotliche gnode; in laqueum miserie et libidinis seducerent – v uosidlo hubenstvie a smilstvie svedli – anbrechten yn dy wollust vnde fleischliche begerunge). Die deutsche Übersetzung zeigt eine geringfügige „zurückhaltende“ Vereinfachung, insbesondere wurde die rhetorisch ausgefeilte dreifache Wiederholung eines der Schlüsselwörter, perversus, ausgelassen. Die Beschäftigung mit der Exegese und ggf. mit der Theologie wird auch explizit erwähnt – nach einem Lob des zuständigen Lehrers, Pierre Roger de Rosièrs, des künftigen Papstes Clemens VI., heißt es: Cepique demum sui noticiam, qui me multum caritative ac paterne confovebat, de sacra scriptura me sepius informando. (Vita Caroli lat., Kap. 3: 340)

I vzach potom jeho známost, jenž mě velmě milostivě a jakžto otec kocháše, z svatého písma často mě uče. (Vita Caroli tsch., Kap. 3: 373)

Dornoch bekante ich mich mit em, vnde her wart mir heymlich vnde mitesam vnde retthe vil mit mir vnde sagete mir vil vnde lorte mich manche lere yn der heiligen scrifft, (Vita Caroli dt., Kap. 3: 397)

Bemerkenswert ist im Zusammenhang mit der kirchlichen Problematik eine kurze Stelle, die eine Schilderung der Firmung des jungen Königssohnes in Frankreich enthält: fecitque me dictus rex Francorum per pontificem confirmari et imposuit michi nomen suum equivocum videlicet Karolus (Vita Caroli lat., Kap. 3: 339)

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i káza mě dřieve řečený král franský biskupu biřmovati, i přezděl mi jméno svému jménu podobné, to věz Karel, (Vita Caroli tsch., Kap. 3: 372)

Aldo machte mich der konig von Francreich, das ich bestetiget wurde zcu eynem zcukunftigen konige von bischofe doselbest vnde wandelte mir den namen vnde nante mich Karolus, (Vita Caroli dt., Kap. 3: 396)

Für wertvolle Hinweise in diesem Zusammenhang bin ich Frau Prof. Jana Nechutová (MasarykUniversität, Brno) sehr dankbar.

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Während der lateinische Text mit confirmari sprachlich durchaus problemlos erscheint, und auch die alttschechische Übersetzung hier kaum Verständnisschwierigkeiten erkennen lässt, steht in der deutschen Fassung eine eher unklare Umwandlung im Sinne einer „Bestätigung zum künftigen König“. Es scheint, dass dem Übersetzer (ggf. dem Auftraggeber) die religiöse und kirchliche Sphäre nicht so nahe stand wie dem Autor des Originals selbst (vgl. die weggelassenen Kapitel dieser Ausrichtung, s. o.). Immerhin ist eher verwunderlich, dass einem Übersetzer mit der lateinischen Ausbildung dieses allgemeine Sakrament derart unbekannt gewesen wäre, dass er selbst mit weiteren Kontextangaben die Stelle anders verstanden hätte. In diesem Fall handelt sich wohl eher um ein sachliches Missverständnis als um sprachliche Unbeholfenheit (vgl. Emler 1882: 335; Hillenbrand 1979: 18). Grundsätzlich denkbar, jedoch kaum nachweisbar sind in vergleichbaren Fällen mögliche Textverderbnisse in der lateinischen Vorlage der deutschen Übersetzung.

3.4 Genealogie, Verwandtschaftsbezeichnungen Ein Themenbereich von großer Bedeutung für historiographische Darstellungen und stärker noch für die Biographie stellen die Verwandtschaftsbeziehungen und weitere zusammenhängende Angaben dar (); als nächstliegende korrelierende Kategorien sind die Herrschertitel u. a. () und die Personennamen () zu nennen. Stellvertretend sei für diese relativ häufigen und weitgehend typisierten Passagen die Übersicht der Vorfahren Karls selbst angeführt: … Heinricus septimus, Romanorum imperator, genuit patrem meum nomine Johannem ex Margareta, ducis Bravancie filia. Qui duxit uxorem nomine Elyzabeth, filiam Wenceslai secundi, Boemie regis, et obtinuit regnum Boemie cum ea, quia masculinus sexus in progenie regali Boemorum defecerat. (Vita Caroli lat., Kap. 3: 339)

… Jindřich Sedmý, římský ciesař, urodil otce mého jménem Jana z Margarety, kniežete brabanského dcery, jenž pojal ženu jménem Elšku, dceru Václava Druhého, českého krále, a obdržel královstvie České s ní; nebo mužský plod z pokolenie králóv českých bieše sšel. (Vita Caroli tsch., Kap. 3: 342)

… Heynricus der sebende Romische konig vnde keyßer der gebur [m]eynen vater, der genant was Johannes, auß Margretham, des herczogen tochter von Brauancia, der zcu eynem weibe ader hawßfrawen nam Elizabet, dye tachter Wenczeßlai des andern koniges zcu Behemen, vnde behild das reich zcu Behemen mit er, wen dy menliche komne yn dem koniglichen geslechte der Behemen gebrach itczunde. (Vita Caroli dt., Kap. 3: 396)

Weitere Belege für Verwandtschaftsbezeichnungen lassen sich z. B. der Darstellung der Streitigkeiten zwischen Frankreich und England vor dem Hundertjährigen Krieg entnehmen:

Fachsprachliche Aspekte in der […] Geschichtsschreibung Rex autem Anglie habebat in uxorem sororem predicti regis, quam idem rex expulit de Anglia una cum filio suo primogenito nomine Eduardo. Que veniens ad fratrem suum permansit in Francia in exilio una cum suo primogenito. Rex vero Francie indignatus propter expulsionem sororis sue et sororini rogavit socerum meum Karolum, patruum suum, ut vindicaret tantam verecundiam progeniei ipsorum factam. (Vita Caroli lat., Kap. 3: 340)

Nebo král englický mějieše za ženu sestru dřieveřečeného krále, jižto ten král vyhnal z Anglie i s synem jejím prvorozeným jménem Edvardem. Ona přišedši k bratru svému osta v Francii v sirobě i s svým synem prvorozeným. Tehdy král franský rozhněvav sě pro vyhnánie sestry své a sestřence, prosil ctě [=tstě] mého Karla, strýce svého, aby té veliké hanby, ježto se jich pokolení stala, pomstil. (Vita Caroli tsch., Kap. 3: 372)

231 … wen der konig von Engeland der hatte zcu eyner Hawßfrawen dy swester des genannten koniges vnde hatte sie weggetreben von Engilland mit eren ersten geboren sone. Dorvmme der konig von Franckreich czornig wart, das her seyne swester vortreben hatte, vnde bat meynen swogher Karolum, seynen vetter, das her rechte eyne sulche beschemunghe, die seynem geslechte geschehen wer. (Vita Caroli dt., Kap. 3: 396–397)

Insgesamt sind die einschlägigen Ausdrücke dem Allgemeinwortschatz zuzuordnen. Es ist davon auszugehen, dass das zeitgenössische Interesse an Verwandtschaftsbeziehungen, die auch rechtlich und sozial eine deutlich wichtigere Rolle spielten, keineswegs für das historische Schrifttum oder Biographien spezifisch war. Der heutige fachliche Gegenstandsbereich der Genealogie gehörte also für die mittelalterliche Gesellschaft (zumal in dynastisch relevanten Kontexten) zur alltäglichen Erfahrung. Ein Bestreben nach Monosemierung lässt sich z. B. in der verdeutlichenden Angabe weibe ader hawßfrawen in der deutschen Übersetzung erkennen (obwohl der unmittelbare Kontext der Wendung durchaus eindeutig ist). Belege eines komplexeren bzw. differenzierteren älteren Systems der Verwandtschaftsbezeichnungen zeigen sich in der Unterscheidung nach dem Geschlecht der Bezugspersonen: sororinus – sestřěnec – [fehlt dt.] „Schwestersohn“; patruus – strýc – vetter „Vaterbruder“. In den äquivalenten Bezeichnungen socer – test – swogher „Schwiegervater“ zeigt sich die übliche alttschechische Form (neutschechisch tchán), beim deutschen Wort liegt ein breiterer Bedeutungsumfang „Schwiegervater“/„Schwager“ vor. Im gegebenen semantischen Rahmen lässt sich auch die allgemeinere Bedeutung des zentralen verbalen Ausdrucks erwähnen: genuit (gigno, genui, genitus) – urodil – gebur (gebërn) „zeugen/gebären; Vater/Mutter werden“; anders als die modernen deutschen und tschechischen Etyma beschränkt sich der Bezug nicht nur auf die Mutter, sondern er gilt für beide Eltern.

3.5 Machtausübung, Militärwesen Den eigentlichen Tätigkeitsbereich Karls stellen natürlich machtpolitische Angelegenheiten dar (hierzu vgl. die lexikalische Analyse von F. Pichiorri (2003, online)); zumindest in der von der Autobiographie erfassten Jugendzeit war dies zum relativ großen Teil

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auch mit Kriegsaktivitäten verbunden. (Von den angesetzten Kategorien sind hierfür insbesondere , , von Bedeutung.) Größere Aufmerksamkeit wird z. B. der Schilderung eines Erfolgs in der Schlacht bei San Felice (25. 11. 1332; Tag der Hl. Katharina) gewidmet (s. u.). In der Darstellung kommen die terminologischen Unterscheidungen des mittelalterlichen Kriegswesens zum Ausdruck, insbesondere die Kategorien der Streiter: galeatis – helmy (auch: helmovníkóv) – wepener (bzw. an anderen Stellen: helme ader wepener; wepener, die do helme hatten, s. u.) „schwer gewappneter Ritter“, peditum – pěších – fußgengher „Fußsoldat“; eine vergleichbare Differenzierung gilt auch für Pferde im Kampfeinsatz, bei denen zwischen schwer gewappneten Tieren und leichter gerüsteten Pferden, mit den einschlägigen Bezeichnungen: dextrarii – oři – pherde für die Ersteren, bzw. equi – koni – hengeste für die Letzteren unterschieden wird. Tunc accepto consilio exivimus ad campos castraque metati sumus, et de civitate Parmensi in die beate Katherine pervenimus ibidem, quo die castrum dedebat tradi ad manus inimicorum. Et circa horam nonam cum mille et ducentis galeatis et cum sex milibus peditum contra inimicos, qui bene totidem vel plures fuerant, pugnam arripuimus. Et duravit bellum ab hora nona usque post occasum solis. Et ex utraque parte fuerunt interfecti quasi omnes dextrarii et aliqui equi, et eramus quasi devicti, et dextrarius, in quo residebamus, eciam interfectus est. (Vita Caroli lat., Kap. 5: 343)

Tehda vzemše radu vyjidechom na pole a stany rozbichom a z města Parmenského den svaté Kateřiny přijidechme tam, jehožto dne hrad měli vzdáti v ruce nepřátelště. A tak o poledni s tisíce a dvěma stoma helmy a šesti tisíci pěších proti našim nepřátelóm, jichžto dobře tak mnoho aneb viece bieše, boj zdvižechme. A trval ten boj od poledne až do západu slunce. A s obú stranú běchu sbiti jakžto všichni oři a někteří koni a běchme již téměř přemoženi, a oř, na němžto seděchme, také byl pod námi zabit. (Vita Caroli tsch., Kap. 5: 375)

Do nome wir roth vnde hulffe vnde machten herre vnde czogen zcu felde vnde slugen off vnser geczelth vnde czogen von der stat Parmanß vnde qwomen an sante Katherinamtage off das sloß sancti Felicis. Noch deßen tage, so es nicht gereth wer worden, sulde eß den vinden eyngegeben seyn worden. Vnde mit vnßerem volke, das wir brochten, worn M vnde CC wepener vnde VI M fußgeer, vnde vnser vinde worn auch alzo vil. Do hatte wir eynen harten streith mit einander IX stunden, bis das dy sonne vnderging, vnde off beyden teilen der herren worden zcu tode geslaghen alle pherde vnde hengeste. Unde wir worn itczunt zam oberwunden, vnde das phert, do offe wir soßen, das wart auch getotit. (Vita Caroli dt., Kap. 5: 399)

Ferner wären einige charakteristische Bezeichnungen zu erwähnen, ggf. auch Mehrwortverbindungen, die neben dem Kriegswesen auch allgemeine mittelalterliche Umgangsformen widerspiegeln. Die Wendung: accepto consilio – vzemše radu – nome wir roth vnde hulffe bezieht sich z. B. wohl auf eine Beratung vor der Schlacht, die erweiterte deutsche Übersetzung expliziert zusätzlich noch eine gegenseitige Verpflichtung in der Beziehung des Lehnsherrn und Lehnsmannes zu consilium et auxilium – Rat und

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Hilfe (vielleicht eher als eine assoziierte Verbindung; mit auxilium waren insbesondere die militärischen Leistungen gemeint; im gegebenen Zusammenhang des Italien-Engagements der Luxemburger handelte es sich eher um ein Söldnerheer als um Vasallen). Die Aufgabe der Burg zugunsten der Feinde wird als eine Art rechtlicher Akt durch eine komplexere Wendung bezeichnet: tradi ad manus inimicorum – vzdáti v ruce nepřátelště – den vinden eyngegeben seyn worden; die deutsche Übersetzung enthält noch eine erklärende Angabe der Bedingung: so es nicht gereth wer worden. Auch für die Eröffnung der Schlacht gibt es Mehrwortbezeichnungen: pugnam arripuimus – boj zdvižechme – hatte wir eynen harten streith. (Inhaltlich problematisch ist die Wiedergabe der Zeitangabe: ab hora nona – od poledne – IX stunden; während die tschechische Übersetzung wohl adäquat ist (in einer bestimmten Art der Stundenrechnung), verrät die deutsche Stelle ein Missverständnis.) Auch in der unmittelbar nachfolgenden Beschreibung des weiteren Verlaufs der Schlacht tritt die taktische sowie strategische Auswertung der Lage in den Hintergrund; der spätere glückliche Ausgang wird als Gottes Fügung dargelegt (s. u.). An festen Verbindungen wären z. B. weiter zu erwähnen: victoriam obtinuimus – vítězstvie jsme obdrželi – gesegete wir, neben Funktionsgefügen in den anderen Sprachfassungen steht im deutschen Text das Vollverb „siegen“. Auch die Gefangennahme der Flüchtenden nach der Schlacht wird thematisiert: in fuga captivando – na běhu zjímachme – finghen yn der flucht. Et relevati a nostris sic stando et respiciendo, quod eramus quasi superati, iamque pene in desperacione positi aspeximus. Et ecce eadem hora inimici fugere inceperunt cum vexillis eorum, et primo Mantuani, demum plures eos sunt secuti. Et sic per dei graciam victoriam obtinuimus de inimicis nostris, octingentos galeatos in fuga captivando et quinque milia peditum interficiendo. Et sic per hanc victoriam liberatum fuit castrum Sancti Felicis. In hoc bello accepimus cum ducentis viris strenuis militarem dignitatem. (Vita Caroli lat., Kap. 5: 343)

A zdviženi našimi tak stojiece a hlediece, že jsme již byli jakžto přemoženi, a již také jsme byli téměř se rozpačili, vzezřechme, ani v túž hodinu nepřietelé naši jechu sě utiekati s svými korúhvemi, a najprvé Mantavští, potom mnozí po nich sú táhli. A tak skrze milost boží vítězstvie jsme obdrželi nad našimi nepřátely, osm set helmóv na běhu zjímachme a pět tisícóv pěších zahubichme. A tak skrze to vítězstvie vysvobozen byl hrad svatého Zčastného. V tom boji přijeli jsme se dvěma stoma mužóv hrdinných rytieřské duostojenstvie. (Vita Caroli tsch., Kap. 5: 375)

Unde wir qwomen neder off dy erde vnde worden von den vnßern offgehalden vnde offgehaben, vnde stunden alzo vnde sogen vmme vnde bothen gote vmbe hulffe. Alczuhand wanthen sich vnßer vinde von vns ynde goben dy Flucht mit eren bannern. Den volgete wir noch. Alzo mit gotes hulfe gesegete wir en an vnde finghen yn der flucht VIII C wepener, die do helme hatten, vnde wir slugen zcu tode V M fußgengher. Alzo wart erlost das slos Sancti Filicis. In deßem gestrengen streite worde wir zcu ritter geslagen vnde nomen dy ritterliche wirdikeit mit II C vnser manne. (Vita Caroli dt., Kap. 5: 399–400)

Ein besonders wichtiger zeremonieller Anlass war der Ritterschlag: accepimus […] militarem dignitatem – přijeli jsme […] rytieřské duostojenstvie – worde wir zcu ritter

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geslagen vnde nomen dy ritterliche wirdikeit. Der deutsche Übersetzer beweist auch an dieser Stelle seine Vorliebe für explizierende Erweiterungen bzw. Synonympaare – neben der wörtlichen Übersetzung wird noch die idiomatische deutsche Wendung hinzugefügt. Die Darstellung der militärischen Aspekte ist insgesamt relativ nüchtern und knapp, es werden neben der notwendigen Gnade Gottes eher die jeweiligen politischen Verhandlungen und die Rolle der stets sich verändernden Bündnisse betont; auch bei geschlossenen Übereinkommen ist jedoch Vertragsbruch zu befürchten: Quod presencientes inimici miserunt consiliarios suos et fraudulenter cum patre nostro tractaverunt et cum eo treugas inierunt tali modo, quod de campis cederet et castrum Papiense victualibus treugarum tempore fultum quod per inimicos non impediretur assecurantes, per pulchra et blanda verba multa eidem promittentes. Sicque de campis recessimus gentes nostras per civitates et loca sua distribuentes. Post hec inimici treugas seu pacta minime tenuerunt, et sic perditum fuit castrum Papiense, quia non permiserunt ipsum inimici fulcire victualibus, prout promiserant. (Vita Caroli lat., Kap. 6: 346)

To převěděvše nepřietelé naši, poslachu rádce své a lstivě s otcem naším jednali a s ním příměřie uložili tiem činem, aby s pole táhl a hrad Papienský za tiem příměřím spižovali, ubezpečujíce, že jim skrze nepřátely nebude překáženo, lstivě krásnými slovy a pochlebnými mnoho jemu slibujíce. A tak tažechme s pole, lid náš po městech a po přiebytciech jich rozdělichom. Potom nepřietelé příměřie nebo slibuov nezdržechu, a tak ztracen by hrad Papienský; neb sú nedopustili nepřietelé jeho spižovati, jakž jsú byli slíbili. (Vita Caroli tsch., Kap. 6: 377)

Do dis vornomen vnser vinde, do santhen sie zcu vns ere rotgeber betreglichen vnde liesßen mit vnserm vater handeln vnde werben vmme fredistage yn sulcher weyße, das her von dem felde czoge vnde sie nicht hynderte. Vnde alzo mit guten worten vnde globden globeten sie vil zcu halden, vnde dornoch hilden sie das nicht vnde betrogen vnsern vater, das her seyn volk von em ließ, das her gesammelt hatte. Alzo wart das feld ledig des volkis vnde das sloß Papia wart nicht gespeyßeth vnde vorlorn. (Vita Caroli dt., Kap. 6: 402)

Bei den Ausdrücken für „Verhandeln“: tractaverunt – jednali – handeln vnde werben ist in der deutschen Übersetzung (vergleichbar mit manchen anderen Stellen) eine Paarformel zu verzeichnen; als Gegenstand der Verhandlungen gilt der „Waffenstillstand“: treugas – příměřie – fredistage, währenddessen die Versorgung der belagerten Burg mit Lebensmitteln u. a. ermöglicht werden sollte: fulcire – spižovati – wart […] gespeyßeth. Die Beschlüsse wurden von dem Feind jedoch nicht eingehalten: inimici treugas seu pacta minime tenuerunt – nepřietelé příměřie nebo slibuov nezdržechu – mit guten worten vnde globden globeten sie vil zcu halden, vnde dornoch hilden sie das nicht (der deutsche Text bietet keine genaue Parallele, enthält jedoch vergleichbare Angaben in einer anderen Anordnung). Aus dem Rahmen des Allgemeinwortschatzes könnte auf wiederholte, oft rhetorisch zugespitzte Beschuldigung der leeren Versprechen und der Wortbrüchigkeit der Feinde hingewiesen werden: […] assecurantes, per pulchra et blanda verba multa eidem promittentes – ubezpečujíce, […], lstivě krásnými slovy a pochlebnými mnoho jemu

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slibujíce – mit guten worten vnde globden globeten sie vil zcu halden, vnde dornoch hilden sie das nicht vnde betrogen […].

3.6 Sprachkompetenz Zum Abschluss der illustrativen Textproben mit Belegen von potentiell fachlicher Relevanz sei noch der „linguistische“ Bereich angesprochen, und zwar anhand der bekannten Darlegung der Sprachkenntnisse Karls IV.: Idioma quoque Boemicum ex toto oblivioni tradideramus, quod post redidicimus, ita ut loqueremur et intelligeremus ut alter Boemus. Ex divina autem gracia non solum Boemicum, sed Gallicum, Lombardicum, Teutunicum et Latinum ita loqui, scribere et legere scivimus, ut una lingua istarum sicut altera ad scribendum, legendum loquendum et intelligendum nobis erat apta. (Vita Caroli lat., Kap. 8: 348)

Řeči také české ovšem jsme byli zapomenuli, jiežto potom opět zasě jsme sě naučili, tak že jsme mluvili a rozuměli jakžto jiný Čech. Z božie pak milosti netoliko česky, ale vlasky, lombardsky, německy a latině tak mluviti, psáti a čísti jsme uměli, že jeden jazyk z těch jakžto druhý ku psaní, mluvení, ke čtení a k rozumění byl nám hotov. (Vita Caroli tsch., Kap. 8: 379)

vnde dy behemische sproche hatte wir vorgesßen, do wir die weder off newes musten lernen, das wir dy retthen vnde vornomen als eyn ander Beheme. Vnde von gotlicher gnode kunde wir nicht alleyne reden behemisch, sunder auch welsch, lombardisch, dewtsch vnde latinisch, alzo das wir alle deße czungen kunden reden, leßen vnde screiben, vnde eyne was vns alzo gereit als dy ander. (Vita Caroli dt., Kap. 8: 404)

Zu bemerken ist hier zunächst der Ausdruck für „Wiedererlernen“, der in den beiden Volkssprachen durch eine Umschreibung wiedergegeben wird: redidicimus (re-disco, -discere, -didici) – zasě jsme sě naučili – weder off newes musten lernen. Nach der Auflistung von den betreffenden fünf Sprachen (Tschechisch, Französisch, Italienisch, Deutsch, Latein) folgt eine bemerkenswerte, überraschend modern klingende Ausführung über vier Sprachfertigkeiten: ad scribendum, legendum loquendum et intelligendum – ku psaní, mluvení, ke čtení a k rozumění – reden, leßen vnde screiben; formale Unterschiede zwischen den Sprachfassungen lassen sich in der Reihenfolge der Begriffe und in der Weglassung von „Verstehen“ im deutschen Beleg beobachten. Interessanter ist jedoch bereits das Vorhandensein der Differenzierung, die vielleicht nicht unbedingt gewisse formal-grammatische bzw. allg. scholastisch-dialektische Kenntnisse widerspiegeln muss, immerhin zeugt sie aber von einer Reflexion über die Sprache und die eigene Sprachkompetenz.

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4. Schluss Abschließend lässt sich festhalten, dass man im Bezug auf Fachsprache auch in Texten außerhalb der traditionell in den Vordergrund gerückten Quellen wertvolle Belege finden kann. In den der vorliegenden Auswahluntersuchung zugrunde liegenden spätmittelalterlichen böhmischen historiographischen Werken mit besonderer Berücksichtigung der autobiographischen ‚Vita Caroli‘ betrifft dies einerseits herkömmliche Fachbereiche, in denen primär zunächst die mündliche Tradierung galt (z. B. Militärwesen), andererseits kann man hier die Zeugnisse der Popularisierung von zunächst exklusivem Fachwissen, d.h. seine Verbreitung aus der wissenschaftlichen Literatur in die einem breiterem Publikum bestimmten Werke (z. B. Theologie, Morallehre u. a.) beobachten. Es muss in Betracht gezogen werden, dass die behandelten Texte im Hinblick auf ihre Funktionen, ihr Zielpublikum und die allgemeinen kommunikativen Bedingungen sowie Thematik und Form nicht als Fachtexte im eigentlichen Sinne zu betrachten sind; sie bieten jedoch gewisse Zugangsmöglichkeiten zu erweiterten Geltungsbereichen der Fachsprachen außerhalb des engeren fachlichen Rahmens. Die Aufnahme von fachlich spezialisierten Inhalten lässt sich am ehesten auf der lexikalisch-semantischen Ebene verfolgen, wobei man bei der Auswertung (z. B. einer feineren Differenzierung oder Verifizierung u. a.) auch auf Parallelbelege in anderen Sprachen zugreifen kann. Auf diese Weise können potentiell relevante, ergänzende Informationen über die Verwendungssphären bestimmter Fachgebiete und entsprechender Sprachmittel gewonnen werden, was zu einer komplexeren Erfassung des Stellenwerts der Fachsprachen und ihrer gesellschaftlichen Verankerung in den jeweiligen Zeitperioden beitragen kann.

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Internetbelege matplotlib (2012, online), http://matplotlib.sourceforge.net/index.html (Stand 05. 02. 2012); vgl.: Hunter, John D. (2007): Matplotlib: A 2D Graphics Environment. In: Computing in Science & Engineering 9, 3, 90–95.

Namenregister

Abraham von Tortosa, 136 Albertus Magnus, 70,176 Albich, Siegmund, 50, 56 Ali ibn al-’Abbas al Magusi Almansor, 152 Andree, Hans, 108, 111 Arnald von Villanova, 108 Avicenna, 69, 78, 102, 134, 137, 138, 139, 140, 152 Bämler, Johann, 18, 202 Bartholomäus Anglicus, 137,138 Bernhard von Breidenbach, 134, 137 Burgundio von Pisa, 143, 144, 145, 146, 147, 149, 153 Calbus Fribergius, 169 Clemens VI., 229 Constantinus Africanus, 135, 137, 138, 152 Cosmas von Prag, 222 Dalimil, 219, 221, 228 Dino del Garbo, 76 Dioskurides, 135, 136, 137, 138, 139 Eike von Repgow, 188, 189 Engelin, Jakob, 100 Friedrich IV., 121 Fuchs, Leonhart, 23 Galen, 136, 137, 138, 139 Gallus von Prag, 80, 81, 100 Georgius Agricola, 169, 170 Gutenberg, Johannes, 134

Guy de Chauliac, 76, 94, 107, 109, 110, 111 Heinrich von Mondeville, 76 Heinrich von Mügeln, 50 Heinrich von Pfalzpaint, 76 Hermes Trismegistos, 176 Hildegard von Bingen, 137, 138, 139, 140 Hoyer von Falkenstein, 188 Hubays, 139 Hunain ibn Ishag al-Ibadi, 139 Ibn Butlan, 152 Ibn Ğazla, 144 Ibn Masaway, 139 Isaac Judaeus, 110, 137, 138, 152 Isidor von Sevilla, 138 Jamboninus von Cremona, 143, 144, 145, 148, 149, 150 Johann V. von Sponheim, 66, 67, 68, 69 Johannes (Hans) von Gersdorff, 24, 25, 26 Johannes Jacobi, 68, 69 Johannes von Aquila, 103, 111 Jordan von Boizenburg, 188 Jude von Salms (Solms), 65, 66, 72 Karl der Große, 187 Karl IV., 219, 220, 222, 223, 226, 235 Konrad von Megenberg, 18, 137, 138, 139 Lanfrank von Mailand, 76

240 Linné, Carl von, 41 Lonitzer, Adam, 140 Macer, Aemilius, 136 Meister Albrant, 57 Meister Tacui, 152 Meister Wilhelm, 137, 138 Mësue, 48, 56 Mondino de’Liuzzi, 108 Ortolf von Baierland, 18, 50, 85 Palladius, 144, 148 Petrus Hispanus, 61 Philipp von Savoyen, 67 Platearius, 135, 137, 138, 139 Plinius, Gaius Secundus d. Ä., 137, 138, 139 Pseudo-Serapion, 134, 136, 138, 152 Pulkava, 219, 220 Pseudo-Mësue, 48, 56 Pythagoras, 159 Raimund de Liucci von Bologna, 108 Rhazes, 152 Richel, Bernhard, 19 Ries, Adam, 166 Ritter von Bühnau, 120

Roger Frugardi, 76 Roland von Parma, 76 Roriczer, Matthäus, 57 Rößlin, Eucharius, d. Ä., 140 Rülein, Ulrich von Kalbe, 169, 170, 171, 173, 176, 178 Ryff, Walther Hermann, 27 Serapion, 135, 137, 139, 152 Schelling, Thomas, 76 Schöffer, Peter, 19, 134, 178 Siegmund von Tirol, 121, 122 Simon von Genua, 136 Stromer, Ulman, 158, 159 Thiederik von Cervia, 76 Thun-Hohenstein, 49, 119, 120, 122 Thüring von Ringoltingen, 19 Uffenbach, Petrus, 140 Wilhelm von Saliceto, 76 Wonnecke, Johann, von Caub, 134, 136, 137, 139, 140 Yperman, Jan, 76 Ypocras, 152 Zambonino da Gaza de Cremona, 144 Zedler, Johann Heinrich, 140

Autorenverzeichnis

PROF. DR. MELITTA WEISS ADAMSON Department of Modern Languages and Literatures The University of Western Ontario London, Ontario N6A 3K7 Canada E-mail: [email protected] DR. INGE BILY Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig Postfach 100 440 D-04004 Leipzig E-Mail: [email protected] PROF. PHDR. VÁCLAV BOK, CSC. Jihočeská univerzita v Českých Budějovicích Pedagogická fakulta Katedra germanistiky Dukelská 9 CZ-370 01 České Budějovice E-Mail: [email protected] MGR. VLASTIMIL BROM, PH.D. Masarykova univerzita Filozofická fakulta Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky Jaselská 18 CZ-602 00 Brno E-Mail: [email protected]

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DR. KATHRIN CHLENCH Universität Bern Philosophisch-historische Fakultät Germanistisches Institut Länggassstrasse 49 CH-3012 Bern E-Mail: [email protected] PROF. DR. MECHTHILD HABERMANN Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Philosophische Fakultät Department Germanistik und Komparatistik Bismarckstraße 1 D-91054 Erlangen E-Mail: [email protected] PROF. DR. RAINER HÜNECKE Technische Universität Dresden Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften Institut für Germanistik Zeunerstraße 1e D-01062 Dresden E-Mail: [email protected] PROF. DR.MED. DR.PHIL. DR.H.C. GUNDOLF KEIL Wullstein-Forschungsstelle Walther von der Vogelweide-Str. 44 D-97074 Würzburg PROF. DR. WOLF PETER KLEIN Julius-Maximilians-Universität Würzburg Philosophische Fakultät I Institut für deutsche Philologie Am Hubland D-97074 Würzburg E-Mail: [email protected]

Autorenverzeichnis

DR. PHIL. JOHANNES MAYER Julius-Maximilians-Universität Würzburg Institut für Geschichte der Medizin Oberer Neubergweg 10a D-97074 Würzburg E-Mail: [email protected] PROF. PHDR. LIBUŠE SPÁČILOVÁ, DR. Univerzita Palackého v Olomouci Filozofická fakulta Katedra germanistiky Křížkovského 10 CZ-779 00 Olomouc E-Mail: [email protected] PROF. PHDR. LENKA VAŇKOVÁ, DR. Ostravská univerzita v Ostravě Filozofická fakulta Katedra germanistiky Reální 5 CZ-701 03 Ostrava E-Mail: [email protected] PHDR. LENKA VODRÁŽKOVÁ, PH.D. Univerzita Karlova v Praze Filozofická fakulta Ústav germánských studií Nám. Jana Palacha 2 CZ-116 38 Praha E-Mail: [email protected]

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