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German Pages 402 [404] Year 2005
Ritual und Inszenierung
Ritual und Inszenierung Geistliches und weltliches Drama des und der Frühen Neuzeit
Herausgegeben von Hans-Joachim Ziegeler
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
Mittelalters
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung
Für Hansjürgen Linke
Umschlagabbildung: Die Handschrift, 1482 von Konrad Bollstatter in Augsburg geschrieben, enthält das »Berliner Weltgerichtsspiel«, dazu 53 Federzeichnungen einer Augsburger Werkstatt, hier abgebildet das zwölfte Vorzeichen des Jüngsten Gerichts, der Sturz der Gestirne auf die Erde. Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, MS. germ. fol. 722, Bl. 10v.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-64026-X © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Vorwort
Der vorliegende Band dokumentiert die überarbeiteten Vorträge einer Tagung, die unter dem gleichen Titel vom 25. bis 27.3.1999 an der Universität zu Köln stattgefunden hat. Die Tagung selbst und nun auch die Drucklegung der Vorträge wurde ermöglicht durch die Unterstützung der Thyssen-Stiftung. Ihr vor allem ist für ihr Engagement zu danken, einen Großteil der Finanzierung zu übernehmen. Darüber hinaus haben das Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschimg des Landes Nordrhein-Westfalen, vertreten durch Herrn Dr. Bergmann, die Universität zu Köln, vertreten durch ihre Prorektorin, Frau Prof. Dr. Ursula Frost, der Verein der Freunde und Förderer der Universität zu Köln, vertreten durch seinen Präsidenten, Herrn Prof. Dr. Udo Koppelmann, und die Philosophische Fakultät der Universität zu Köln, vertreten durch ihren Dekan, Herrn Prof. Dr. Walter Pape, die Tagung gefordert. Den genannten Institutionen und Personen, nicht zuletzt dem zuständigen Sachbearbeiter, Herrn Dr. Suder, Thyssen-Stiftung, gilt mein herzlicher Dank. Während der Tagung hat sich eine Gruppe von Studentinnen und Studenten, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Assistentinnen der Universität Tübingen, genannt die „Komediävisten", bereit gefunden, ein letztes Mal ihre zusammen mit Christoph Huber einstudierte Produktion von Dietrich Schernbergs ,Ein schön spiel von Fraw Jutten' in der Fassung des Hieronymus Tilesius auf die Bühne zu bringen. Es waren dies Andreas Antonin, Barbara Fink, Andreas Hemminger, Timo Kröner, Henrike Lähnemann, Michael Rupp, Alwine Slenczka, Brigitte Straub und Simon Weinert. Auch ihnen danken die Zuschauer und Zuhörer, Tagungsteilnehmer und andere, sehr herzlich. Die organisatorischen Arbeiten vor, während und nach der Tagung haben mit viel Umsicht im großen wie im kleinen Stephanie Altrock, Katja Rost, Heike Sahm, Monika Schausten und, vor allem, Birgit Overmann übernommen. Die Einrichtung der Druckvorlagen, die Eingabe der Korrekturen und die Herstellung des Satzes haben Gerald Kapfhammer, Christiane Krusenbaum, Birgit Overmann und Christian Seebald besorgt. Von den Anfängen an konnten wir dabei auf die bereitwillige und freundliche Anleitung und Unterstützung von Dr. Thomas Ehlen vom Max Niemeyer Verlag rechnen. Dem Max Niemeyer Verlag, vertreten diesmal durch Birgitta Zeller-Ebert und Wolfgang Herbst, danke ich fur die Aufnahme des Bandes in das Programm des Verlags; allen andern danke ich sehr herzlich für die fröhliche Bereitschaft und Ausdauer ihrer Hilfe. Am Ende, nicht zuletzt, ist den Teilnehmern der Tagung zu danken. Außer denjenigen, deren Beiträge der Band enthält, waren dies Elke Brüggen, Carla Dauven-van Knippenberg, Christoph Huber, Johannes Janota, Eckart Conrad Lutz, Ulrich Mehler, Ursula Peters, Heike Sahm, Monika Schausten, Gisela Vollmann-Profe, Burghart Wachinger und Werner Williams, die in dem eng bemessenen Zeitrahmen die Diskussion geleitet oder sich daran
VI beteiligt haben. Alle anderen haben Vorträge gehalten und diese zum Abdruck zur Verfügung gestellt. Es würde zu weit führen, im einzelnen zu erläutern, warum sich deren Publikation derart lang hingezogen hat; zuletzt bin ich dafür verantwortlich. Ich danke allen für ihre Geduld, auch dafür, daß sie akzeptiert haben, daß Umarbeitungen oder Nachträge kaum oder nur noch in begrenztem Umfang möglich waren. Daß die Tagung in Köln stattgefunden hat, ist natürlich kein Zufall. Es war der Versuch, jene Positionen, die Hansjürgen Linke zum geistlichen und weltlichen Spiel des Mittelalters und der frühen Neuzeit erarbeitet und vertreten hat, kritisch zu würdigen und die Impulse, die von seinen eigenen Arbeiten oder solchen, die er angeregt hat, ausgegangen sind, weiterzudenken und zur Diskussion zu stellen. Es war zugleich der Versuch, auf diese Weise mit methodischen Ansätzen und Fragestellungen anderer ein Gespräch aufzunehmen und weiterzuführen. Der Band dokumentiert diesen Versuch. Er ist Hansjürgen Linke gewidmet. H.-J.Z.
Inhalt
HANS-JOACHIM ZIEGELER
Einleitung
XI
BENEDIKT KONRAD VOLLMANN
Lateinisches Schauspiel des Spätmittelalters?
1
BART RAMAKERS
Das niederländische Schauspiel des Mittelalters und der Rederijker-Zeit. Ein Überblick
9
BERND NEUMANN u n d DIETER TRAUDEN
Überlegungen zu einer Neubewertung des spätmittelalterlichen religiösen Schauspiels
31
HILDEGARD ELISABETH KELLER
losendt obenthvr. Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedien der Zeit. Am Beispiel des ,Berner Weltgerichtsspiels' und des ,Churer Weltgerichtsspiels'
49
RENATE AMSTUTZ
Die liturgisch-dramatische Feier der Consecratio virginum nach dem Pontifikale des Bischofs Durandus (Ende des 13. Jh.) Eine Studie zur Rezeption der Zehnjungfrauen-Parabel in Liturgie, Ritus und Drama der mittelalterlichen Kirche
71
JAN-DIRK MÜLLER
Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel
113
ANDREAS TRAUB
Zeitbestimmung durch Gesänge?
135
HANSJÜRGEN LINKE
Verantwortung. Ein zentrales Thema im mittelalterlichen deutschen Drama
139
VIII
Inhalt
URSULA HENNIG
Jesus am Kreuz in der hessischen Passionsspieltradition. Text und Dramaturgie
167
URSULA SCHULZE
Emotionalität im Geistlichen Spiel. Die Vermittlung von Schmerz und Trauer in der klage'und verwandten Szenen
,Bordesholmer
Marien177
KLAUS RIDDER
Erlösendes Lachen. Götterkomik - Teufelskomik - Endzeitkomik
195
CHRISTA ORTMANN u n d HEDDA RAGOTZKY
Itlicher zeit tut man ir recht. Zu Recht und Funktion der Fastnacht aus der Sicht Nürnberger Spiele des 15. Jahrhunderts
207
ECKEHARD SIMON
, Sieben Frauen und ein Mann' (Keller 122): Das älteste Fastnachtspiel (ca. 1375-1400)
219
UTE VON BLOH
Vor der Hölle. Fastnachtspiel (Keller 56) / Osterspiel / Emmausspiel
233
MAX SILLER
Die Lokalisierung der mittelalterlichen Spiele mit Hilfe der (historischen) Dialektologie
247
JOHN E . TAILBY
Ein vernachlässigter Luzemer Bühnenplan
255
ANTHONIUS H . TOUBER
Passionsspiel und Ikonographie
261
KLAUS WOLF
Für eine neue Form der Kommentierung geistlicher Spiele. Die Frankfurter Spiele als Beispiel der Rekonstruktion von Aufführungswirklichkeit
273
BRUNO QUAST
Endzeit des geistlichen Spiels. Das , Münchner Osterspiel' cgm 147
313
Inhalt
IX
ERICH KLEINSCHMIDT
Normative Selbstvergewisserung. Johann Rassers ,Spil von Kinderzucht' (1573) als Medium urbaner Repräsentation und Disziplinierung
325
RAINER WARNING
Auf der Suche nach dem Körper. Das Imaginäre des geistlichen Spiels
343
WALTER HAUG
Rainer Warning, Friedrich Ohly und die Wiederkehr des Bösen im geistlichen Schauspiel des Mittelalters
361
Hans-Joachim Ziegeler
Einleitung
Zweigliedrige Buchtitel mit der offenen Klammer durch „und" sind, zumal für Sammelbände, nicht eben selten. Sie signalisieren Zuordnung zu bestimmten thematischen Feldern, halten jedoch zugleich das Spektrum der angesprochenen Themen relativ offen. Das gilt, wenn auch nicht ohne Einschränkung, auch für „Ritual" und „Inszenierung". Das Begriffspaar ist vermutlich nicht mehr unabhängig von der Öffnung verschiedener historischer, philologischer, sozialwissenschaftlicher Disziplinen hin auf eine allgemeine Kulturwissenschaft zu denken. Es ist jedoch auch nicht zu übersehen, daß sowohl „Ritual" als auch „Inszenierung" durchaus auf Fragestellungen deuten können, die nicht zwingend mit solcherart allgemeineren kulturwissenschaftlichen Interessen in Verbindung gebracht werden können und daß, insbesondere in der Forschung der vergangenen Jahre zum mittelalterlichen Drama, sich unterschiedliche, mitunter diametral entgegengesetzte Vorstellungen mit dem Begriff „Ritual" verbunden haben. Beide Begriffe sind zudem weder untereinander noch gegenüber verwandten Phänomenen durch definite Oppositionen markiert. Dies könnte ihre Karriere im Wissenschaftsbetrieb der vergangenen Jahre nicht unbeträchtlich befördert und mittlerweile auch zu Abwehrhaltungen gegenüber einem Vokabular geführt haben, das zu oft und in zu unterschiedlichen Zusammenhängen wiederholt worden und damit zur inhaltsleeren Chiffre geworden zu sein scheint. Wenn beide Begriffe demnach mit derart disparaten Vorstellungen besetzt sind und wenn bestimmte Erwartungen oder Voreinstellungen bestätigt oder enttäuscht werden könnten, möchte es fragwürdig erscheinen, „Ritual" und „Inszenierung" in den Titel eines Bandes zu setzen, dessen Beiträge einem Beobachtungsfeld „geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der frühen Neuzeit" gelten. Dennoch: In der Abbreviatur des Titels ist nicht zuletzt der Versuch unternommen, eher das Offene, Unabgeschlossene einer Diskussion anzudeuten gegenüber einem möglicherweise vorhandenen Eindruck, im Bereich des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen geistlichen und weltlichen Spiels seien die grundlegenden Probleme geklärt, gehe es lediglich noch um das Ausfullen weniger verbliebener weißer Flecken in einem bereits gründlich vermessenen Feld, oder gebe es, statt offener Debatte, in unterschiedlichen Lagern verfestigte Diskussionsrunden. Demgegenüber mögen „Ritual" und „Inszenierung" Fluchtpunkte einer Debatte andeuten, in deren Zentrum Bemühungen um das Verständnis von Genese, Struktur und Funktion der Spiele stehen. Denn auch wenn eine explizite Definition des jeweiligen Verständnisses von „Ritual" schwerlich zu finden sein wird, dürfte doch allen Beiträgen eine Auffassung gemeinsam sein, die „Rituale" als „gleichbleibende und vorstrukturierte
XII
Hans-Joachim Ziegeler
Handlungsketten" (Soeffner) 1 begreift. Gemeinsam dürfte ferner sein, daß für die Spiele Einbindungen in oder Anlehnungen an bestimmte „gleichbleibende und vorstrukturierte Handlungsketten" vorausgesetzt werden oder von solcherart Ritualen der Zugang zum Verständnis wesentlicher Momente der Spiele gesucht wird, sei es in Konkurrenz oder Abgrenzung, sei es in Analogie zu bestimmten Ritualen. „Inszenierung" kann in diesem Zusammenhang einerseits geradezu als Synonym von „Ritual" verstanden werden und ist deswegen hier nicht weiter zu diskutieren. Andererseits kann „Inszenierung" nur mit bestimmten Modifikationen einer ersten Explikation als „Prozeß und Resultat der Realisierung eines Dramentextes auf dem Theater" 2 übernommen werden. Zunächst gilt auch für andere Traditionen des Theaters als die hier in Rede stehenden, daß „Dramentext" und „Prozeß und Resultat seiner Realisierung" nur relativ fest umrissene Größen sind. Um so mehr gilt dies für die Spiele in Mittelalter und früher Neuzeit. Abgesehen schon von der allgemein und generell auch für die Spiele zu beobachtenden Variabilität mittelalterlicher Überlieferung in ,unfesten Texten', ist der Anweisungsapparat der tradierten Spiele in Text und Rubriken oft wenig ausgeprägt, mitunter in bestimmten Typen der Aufzeichnung (,Lesehandschriften') nicht notwendig für eine Realisierung im Sinne einer Aufführung vorgesehen, arbeitet mit nicht weiter explizierten, von Fall zu Fall erst herzustellenden und damit für die gegenwärtige Forschung mühsam zu rekonstruierenden Voraussetzungen, die der jeweiligen Realisierung viel Spielraum lassen. Grundsätzlich beruht alles, was wir über ,Prozeß und Resultat der Realisierung eines Spieltextes' erfahren können, auf Rekonstruktionen. Dies gilt bereits für den Ort, der nur bedingt als ,Bühne', gewiß nicht als ,Theater' zu bezeichnen und von Fall zu Fall in der Kirche, vor der Kirche, auf dem Marktplatz, im ,öffentlichen' oder .privaten' Wirtshaus zu denken ist; dies gilt entsprechend auch für die Anzahl der Rollen, Spieler und Requisiten, - und auch für jeden dieser Begriffe gilt, daß er mit Erläuterungen zu versehen wäre, die die entsprechenden, in der Moderne dafür entwickelten Vorstellungen zu modifizieren hätten. Hinzu kommt die durchgängige Transparenz der Spiele auf einen Subt e x t ' hin, der im Wort, im Bild und - dies gilt vor allem für die geistlichen Spiele - in der Musik in anderen Zusammenhängen und in anderen Medien präsent ist. Die intertextuellen und intermedialen Relationen lassen, oft gerade durch die Rückbindung an bestimmte Rituale und deren „gleichbleibende Handlungsketten", Fixierungen und Wiederholungen und damit rituell gebundene Sequenzen erkennen, die ihrerseits durch die Teilhabe an symbolisch aufgeladenen Ritualen alles andere als schlichte Umsetzungen eines Spieltextes oder gar ,bloße' Inszenierungen sind. Die Notwendigkeit, für die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Spiele mit einem Begriff „Inszenierung" zu arbeiten und zugleich seinen alteritären Status gegenüber Vorstellungen der Moderne mitzudenken, ist unabweisbar. 3 Wird man so ein, wenn auch nicht ausdrücklich reklamiertes, gemeinsames Verständnis der formalen Bestimmtheit von Ritualen und einen sehr offenen Begriff von „Inszenierung" 1
Hans-Georg Soeffner, Auslegung des Alltags - Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1989, S. 178. 2 Joseph Kiermeier-Debre, Inszenierung, in: RLW, Bd. 2, 2000, S. 154-156, hier S. 154. 3 Zu den hier und im weiteren entwickelten Aspekten vgl. die Arbeiten von Hansjürgen Linke, insbesondere: Drama und Theater, in: Ingeborg Glier (Hg.), Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. 1250-1370. 2. Teil. Reimpaargedichte, Drama, Prosa, München 1987 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart III/2), S. 153-233, 471-485 und ders., Drama und Theater als Feld interdisziplinärer Forschung, Euphorion 79 (1985), S. 43-65.
Einleitung
XIII
voraussetzen dürfen, so unterliegen Substanz, Funktion und Leistung jener Phänomene, die hier unter dem Begriff „Ritual" zusammengefaßt sind, doch sehr unterschiedlichen Bewertungen; in hohem Maße abhängig ist dies davon, welcher Art Rituale dabei bedacht und in welchem Verhältnis zu den Spielen sie gedacht werden. Verschiedene Tendenzen zeichnen sich ab. Zentral für eine literar- und kulturhistorische Ortsbestimmung des geistlichen Spiels, bislang insbesondere des Oster- und Passionsspiels, sind seit jeher Überlegungen zu Nähe und/oder Distanz der Spiele zum christlichen, d. h. kirchlichen liturgischen Ritus in dessen verschiedenen Ausformungen, bis hin zur Möglichkeit, Gottesdienst und Liturgie selbst als „Drama" (Hardison) oder als „heiliges Spiel" (Lang) zu begreifen.4 Die Diskussion um die (lateinischen) Osterfeiern ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. Je mehr die Funktion der Spiele von ihrer Rückbindung an das Meßritual begriffen wird, desto mehr ordnen sich auch Beobachtungen zu konstitutiven Momenten und Bedingungen der Produktion und Realisierung der Spiele solcherart Funktionsbeschreibungen zu. Dies betrifft Ort (Positionierung im und gegenüber dem Kirchenraum), Zeit und Zeitstruktur (Bezug zum Kirchenjahr; Gegenwart und Vergangenheit des Geschehens), Dramaturgie (Stationen des Spiels im Raum; Herkunft der Darsteller und Position der Rollen und des Publikums im oder gegenüber dem .Vollzug' des Spiels) und Medialität der Aufführung (Sprache, Sprachen, Gesang und Musik, Requisiten). Ebenso betrifft es den Stand der Verfasser der Spiele und der Träger der Auffuhrung, es betrifft Überlieferung und Textkonstitution der Spiele und deren intendierte Wirkung (u. a. Identifikation mit oder Distanz zu bestimmten Rollen) oder faktisch stattgehabte resp. nach bestimmten Mustern stilisierte Reaktionen des Publikums, das, je nach Perspektive, eher als .Gemeinde' oder eher allgemeiner als ,Zuschauer' begriffen werden kann. Davon abzusetzen, wenn wohl auch nicht immer kategorial zu unterscheiden, ist der Bezug der Spiele zum Jahreszyklus, der in der kirchlichen Ordnung nach Herren- und Heiligenfesten als Ritual begriffen werden kann und in eigener Relation zu den jahreszeitlich bedingten Arbeiten und entsprechend ausgebildeten, tradierten und .ritualisierten' Gewohnheiten steht. Den damit verknüpften Fest- und Rechtsritualen kommt noch einmal eigene Bedeutung fur die Spiele zu, insofern sie dort thematisiert und d. h. auch ironisiert werden können. In sehr unterschiedlicher Intensität sind in dieser Hinsicht Diskussionen geführt worden. Zu erinnern ist an die Spiele aus Anlaß von oder in Zusammenhang mit Herren- und Heiligenfesten, Kirchweihfesten und entsprechend damit verbundenen Jahrmärkten mit möglichen Referenzen auch auf die Mercator-Szenen etwa der Osterspiele. Größere Aufmerksamkeit gefunden haben die Traditionsbedingtheit und der Status der Fastnachtspiele in den Ritualen und Gegenritualen der Fastnacht, vor der kirchlich und obrigkeitlich sanktionierten vorösterlichen Fastenzeit. Ganze Spiele oder auch Teile von Spielen wiederum sind konstituiert durch die, wiederum auch komische, Referenz auf Rituale der Rechtsfindung, Eheschließung oder der zu Mariä Lichtmeß gewöhnlich vorgenommenen Kündigung und Neueinstellung von Gesinde.
4
O.B. Hardison, Christian Rite and Christian Drama in the Middle Ages, Baltimore 1965, Essay II: The Mass as Sacred Drama, S. 35-79; Bernhard Lang, Sacred Games. A History of Christian Worship, Yale University Press 1997, dt.: Heiliges Spiel. Eine Geschichte des christlichen Gottesdienstes, München 1998.
XIV
Hans-Joachim Ziegeler
Aus dem letzten Zusammenhang noch einmal eigens hervorzuheben sind jene partial oder auch durchgängig in die Spiele integrierten rituell gebundenen Muster lebensweltlicher Provenienz; Aufmerksamkeit beanspruchen können insbesondere Rituale mit grundsätzlich auf verschiedene Formen von Öffentlichkeit' bezogener, rechtsverbindlicher Funktion. Zu denken ist, beispielsweise, an die Vielfalt eines, besonders in der frühen Neuzeit realisierten, .Theaters der Grausamkeit', vom Verhör, über Folter und Urteil bis zur Bestrafung. Zu denken ist auch an Eheschließungen, Kaufverträge und sonstige Vertragsformen. Für demonstrativ vorgeführte Herrschafitsrituale, -Zeremonien oder -Inszenierungen und deren karikierende Umkehrung war in nahezu allen Spieltypen reichlich Gelegenheit geboten, ebenso für den ambivalenten Umgang mit Außenseitern (Straftäter, Henker und deren Gefolge, Prostituierte, Spielleute, Aussätzige und Juden). Entscheidend ist offenbar die Durchsichtigkeit, wenn nicht Durchlässigkeit der gleichbleibenden, wenn auch variablen Handlungsketten fur beide Sphären, für die besondere Situation des ,Spiels', wie für die Situationen einer alltäglichen' Öffentlichkeit. Nicht immer grundsätzlich zu trennen von einigen der bislang aufgeführten Ritualformen, aber in ihrer Funktion für die Spiele kategorial anders gedacht sind jene Rituale, auf die Rainer Warning in der Diskussion um das geistliche Spiel hingewiesen hat.5 In der Aufnahme der Höllenfahrt Jesu in die Osterspiele und in der strukturbedingten Position des Descensus in den Spielen nach der Auferstehung und vor der - damit funktional anders als in den Feiern gefaßten - Visitatio, in dieser Darstellung von sonst Ausgegrenztem hat Warning eine Ausrichtung der Spiele hin auf einen dualistisch konzipierten Antagonismus von Gott und Teufel gesehen. In der Wiederholung des Sieges des Mensch gewordenen und wieder auferstandenen Gottes über den das Böse verkörpernden Teufel vollziehe sich eine Remythisierung der als Heilsgeschichte gedachten Erlösung, erfülle das Spiel die von der kerygmatischen Heilsvermittlung in der Messe nicht geleistete „Entlastungsfunktion eines archaischen Rituals" (S. 76), welcher sich das in der Mercatorszene provozierte „rituelle Lachen" und die Hortulanus-Szene zuordnen. Ähnlich dualistisch konzipiert versteht Warning das ,Adamsspiel' in der Rahmung durch den Höllensturz Luzifers und die darauf folgende Überlistung Evas und Adams durch Satan: Sie „entläßt die Überlisteten aus der moralischen Verantwortlichkeit" (S. 131). Die dreimalige Versuchung Adams und Evas erweise sich als ein abgeleiteter Anfang, abgeleitet aus der dreimaligen Versuchung Jesu durch Satan. Im „homologen Ritual" zum „mythologischen Gepräge der List" dieses abgeleiteten Anfangs werde die „magische Dreizahl" herausgespielt, und werde „der ganze Vorgang [...] ritualisiert", lasse „das Adamsspiel deutlich erkennen, daß seine Zeitlosigkeit nicht im sensus moralis aufgeht, sondern die Zeitlosigkeit eines rituellen Spiels ist" (S. 142, 144). Schließlich zeigt Warning für das Passionsspiel, wie sprachlich ritualisierte Sequenzen der Sphäre einer intendierten Compassio kontrastieren und damit das Spiel in die „archteypische Dimension eines Opferrituals hinüberspielen" können (S. 184). Insbesondere an Arnoul Grebans großem spätmittelalterlichen Passionsspiel ist zu beobachten, wie die in der szenisch realisierten Darstellung unvergleichliche Drastik der Jesus zugefügten Leiden in den Dialogen der Gegner Jesu sprachlich gespiegelt wird. Auffällig gegenüber anderen (französischen) Spielen ist die Dichte, mit der das gesamte Geschehen der Passion Grebans von Rondeaus „durchsetzt" ist; insbesondere „in den zentralen Szenen des Martyriums" binden die als Rondeaus gestalteten Dialoge „die 5
Rainer Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974.
Einleitung
XV
Folterknechte zu einem diesmal grausamen Spiel zusammen" und werden damit zum „Signal für eine vorliterarische Dimension": „das ,rondeau dramatique' strukturiert ein Ritual" (S. 193). Um so deutlicher werde damit, was generell für die Passionsspiele gelte: Der Preis für die „Anschaubarkeit" ist hoch; die Bilder werden „gespielt und in solchem Spiel ritualisiert" (S. 184). „Wie im Osterspiel" nehme so auch das Passionsspiel „wieder einmal herein, was die Liturgie ausgrenzt": „Wie jenes das Descensus-Ritual gegen die Ausgrenzungen der liturgischen Elevatio und der Bibel selbst ausspielt, so wird auch hier die ,Schlachtung' gegen die impliziten oder expliziten Ausgrenzungen von Bibel, Liturgie und Dogmatik in Szene gesetzt. Sie erscheint in einer Drastik, die das in der Messe so subtil verdrängte archaische Substrat des Opfers wieder hervorholt und damit die historia passionis hinüberspielt in die rituelle Tötung des göttlichen Sündenbocks" (S. 215f.). Deutlich wird, daß hier mit zwei einander ergänzenden Vorstellungen von „Ritual" gearbeitet wird. In der „Inszenierung" der Spiele sind Wiederholungen bestimmter Momente und Sequenzen, „vorstrukturierte Handlungsketten" bemerkbar. In Verbindung mit diesen eher formal gefaßten „Ritualen" werden für die verschiedenen Typen des geistlichen Spiels Analogien zu einer Vorstellung von „Ritual" behauptet, die eher die Funktion des Rituals in einem Zusammenhang betont, der mit dem Attribut ,archetypisch' näherhin qualifiziert wird. Eine Funktion der Spiele, die in Analogie zum Meßritual entwickelt wurde, wird damit nicht eigentlich dementiert. Vielmehr ist zu zeigen, wie den Spielen im Text, mehr noch in der Realisierung der Aufführung' eine Dimension zukommen kann, die quer steht zu ihrer etwa in Prologen oder anderen Wendungen an die Zuschauer behaupteten Intention. Deutlich aber mag auch werden, daß in der Diskussion um die Spiele des Mittelalters und der frühen Neuzeit Begriff und Vorstellung von ,Ritual" und „Inszenierung" und das Verhältnis beider zueinander für Genese, Struktur und Funktion der Spiele zentralen Status einnehmen. Dieser Diskussion ordnen sich auch die Beiträge dieses Bandes zu. In den beiden ersten Beiträgen werden bestimmte Phasen in der Geschichte des lateinischen bzw. des niederländischen Schauspiels des späteren Mittelalters oder der frühen Neuzeit unter der Perspektive diskutiert, ob der Vergleich mit bestimmten Tendenzen der deutschsprachigen Spiele gestattet, die Bedingungen der jeweiligen Produktion und Rezeption schärfer zu fassen. Benedikt Konrad Vollmann sieht den merkwürdigen Befund, daß seit Mitte des 13. Jahrhunderts genuin lateinische Spiele nicht mehr oder nur noch in Ausnahmefällen entstanden sind, in der „Respiritualisierung des Spätmittelalters" (5) begründet, die die Differenz von „Klerikerkultur" und „laikaler Volkskultur" noch einmal schärfer ausgeprägt habe (6). Zwar kommen nach wie vor Geistliche als Autoren und Spielleiter deutschsprachiger Aufführungen in Betracht; für sich selbst aber lehne der Klerus „das die Sinne, die Neugier, das Sentiment befriedigende spectaculum ab" (5). Die in christlicher Tradition latent vorhandene Ablehnung des Theaters finde ihre Begründung nunmehr in den säkularen Tendenzen des volkssprachigen Schauspiels, wie an der Polemik gegen dessen „verba turpia et obscena" (5) abzulesen sei. Einerseits gebe es also die, andere Formen der Verkündigung und Verehrung ausschließende, Konzentration auf die Feier im liturgischen oder paraliturgischen Ritus. In den wenigen lateinischen Spielen sei sie flankiert von der „Eliminierung säkular angehauchter Szenen" (6) oder generell von der Unterordnung des Worts unter die, durch den liturgischen Ritus verbürgte, Musik. Andererseits gebe es im volkssprachigen Spiel die zunehmende „Lust an der Farce" (6), wie sie besonders deutlich
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Hans-Joachim
Ziegeler
am Verlachen des Teufels, als des dummen, überlisteten Teufels beobachtet werden könne, wobei offen bleiben müsse, ob „mit dem Lachen eine mythische Urangst überwunden werden" solle, oder ob das Lachen nichts weiter sei „als die Reaktion auf einen derben Spaß" (8). Sehr deutlich ist zu beobachten, in welchen Zusammenhängen das liturgische Ritual gedacht wird, welche Rolle dabei dem Lateinischen gegenüber der Vulgärsprache, der Musik gegenüber der Sprache, der Wahrung des tradierten Zeremoniells im Sinne einer „Feier" gegenüber der Aufnahme vulgärsprachlicher Zusätze mit der Tendenz zu Komik und „Zote" eingeräumt wird. „Inszenierung" ist folglich eine Größe, die im wesentlichen für das vulgärsprachige Spiel in Anspruch genommen wird, was sowohl den Raum der Aufführung als auch die Konzessionen an ein Publikum angeht, das ebenso schaulustig wie mitleidlos und in diesem Sinne „primitiv" (7) sein kann. Deutlich ist auch die klare Position gegenüber einigen Grundannahmen von Rainer Warning; dies betrifft nicht zuletzt die Rolle des Bösen („Teufel ist nicht gleich Teufel", 8) und die Rolle, die dem Tridentinum für das Ende der Spiele zugeschrieben oder vielmehr nicht zugeschrieben wird (7). Bart Ramakers referiert neue Ansätze der Forschung zum niederländischen Drama des Mittelalters und der Rederijker-Zeit. Grundlegende Differenz gegenüber den Gegebenheiten des deutschen Spiels ist zunächst die sehr schmale, ζ. T. bruchstückhafte Überlieferung von ,mittelalterlichen' Spielen aus der Zeit ,vor 1500'; geistliche Spiele sind seit dem 14. Jahrhundert, ζ. T. aber nur in Spielnachrichten, bezeugt; daneben existieren auch weltliche Spiele und drei, sonst nicht bekannte, Spiele mit engen Verbindungen zur (höfischen) Romantradition. Davon und auch von den deutschen Gegebenheiten unterschieden sind die verhältnismäßig breit überlieferten Rederijker-Dramen; ca. 600 solcher Dramen sind erhalten, davon die meisten in Handschriften aus der zweiten Hälfte des 16. und aus dem Beginn des 17. Jahrhunderts. Bedingt durch die Überlieferung, insbesondere die des .mittelalterlichen' Spiels, zielen die Fragestellungen der niederländischen Forschung vor allem auf einen weit verstandenen .Kontext' der Spiele. Typus und Eigenart der Spiele, aber auch die Ursachen des nahezu vollständigen Verlusts der mittelalterlichen Überlieferung werden unter dem Aspekt thematischer Überschneidungen mit und inhaltlicher Differenzen zu den Rederijker-Spielen diskutiert und mit den Verfassern der Spiele und den Trägern ihrer Aufführung sowie mit Aufführungs- und Aufzeichnungspraxen in Zusammenhang gebracht. Offen bleiben angesichts differenzierterer Einsichten globale epochale Zuordnungen und die Bewertungen von Kontinuitäten oder Brüchen in der Geschichte der niederländischen Spiele. Gleichwohl scheint die gegenwärtige Forschung dahin zu tendieren, den Sonderstatus der niederländischen Spiele, sowohl der .mittelalterlichen' als auch derjenigen der Rederijker, gegenüber vergleichbaren Phänomenen im französischsprachigen oder deutschen Raum herauszustellen. Besonders bemerkenswert für die Diskussion um die Funktion der Spiele sind vier Aspekte: 1.) Laien als Verfasser der Spiele und Träger ihrer Aufführung; sie waren (für die .mittelalterlichen' Spiele) in Gilden und Bruderschaften, für die Rederijker-Spiele in „Kammern" zusammengeschlossen; 2.) das in beiden Spiel-Traditionen nachweisbare dramaturgische Element der Tableaux vivants; 3.) die Aufführungspraxis, die (komischen) Sotternien auf die abelen speie, ernsthafte weltliche Stücke, folgen zu lassen; 4.) der Zusammenhang von Reformation, Gegenreformation, laikalen Organisationsformen und Überlieferungstypus (Sammelhandschrift vs. Einzelhandschrift) für das Fortbestehen des einen, das allmähliche Ende des anderen Spieltypus. Im Vergleich mit anderen volkssprachlichen SpielTraditionen sind hier Umbesetzungen einzelner Momente zu beobachten, die in einem
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vergleichbaren Strukturzusammenhang andere Gewichtungen und Wertungen literarhistorischer Prozesse und jedenfalls keine monokausalen Erklärungen zulassen. Auch Bernd Neumann und Dieter Trauden befürworten eine differenziertere, zunächst am einzelnen Fall orientierte Beschreibung verschiedener außer- und innerliterarischer Faktoren und ihres jeweiligen Zusammenhangs für eine präzisere Funktionsbeschreibung geistlicher Spiele. In ihren ,Überlegungen zu einer Neubewertimg des spätmittelalterlichen religiösen Schauspiels' ist bereits der Ersatz des Attributs „geistlich" durch „religiös" (und, als Pendant, der Ersatz von „weltlich" durch „profan", 31 Anm. 1) programmatisch. Doch zielen sie mit ihrem Ansatz weniger darauf, eine begrifflich von jeher problematische Opposition durch eine „mittelalterlichem Denken" (31 Anm. 1) ihrer Ansicht nach angemessenere zu ersetzen, als vielmehr nach den Ursachen einer merkwürdigen Beobachtung zu fragen: Von den ca. 200 in Handschriften und (wenigen) Drucken erhaltenen deutschen „religiösen" Spielen lassen sich die wenigsten mit den rund 1000 im deutschen Sprachraum archivalisch bezeugten Aufführungen in Zusammenhang bringen. Dies provoziert Fragen sowohl nach den Trägern der Aufführungen und ihren Beweggründen als auch nach dem Status der aufgezeichneten Texte im Verhältnis zu möglichen Aufführungen und nach Typen, Gründen und Usancen ihrer Aufzeichnung. Nicht zufriedenstellend ist es nach Ansicht der Autoren, die ,Lücke' zwischen aufgezeichnetem Text und möglicher Aufführung allein mit dem Hinweis auf den denkbaren Verschleiß und Verlust von Auflführungsmanuskripten und die häufige Aufzeichnung von Spielen in Lesehandschriften als ,Lesedramen' zu erklären. An zahlreichen Beispielen, den Texten selbst sowie ihrer Einrichtung, Bearbeitung und den verschiedenen Modalitäten ihrer Aufzeichnung in den Handschriften, demonstrieren die Autoren, daß maßgeblich für die Aufzeichnung der Texte der Wert gewesen sei, den man ihnen zugeschrieben habe. Dieser „Wert" (40) habe sich in einer (von der Forschung oft nicht erkannten) eigenwilligen literarischen Qualität gezeigt, welche sich wiederum nicht zuletzt danach habe bemessen lassen müssen, ob die Spiele und damit ihre potentielle oder bereits stattgehabte Aufführung ,.richtig" oder „gottgefällig" (45) gewesen seien. In der „Bewertung" der Spiele ist danach der Beweggrund für Aufzeichnung und Auffuhrung der Spiele zu sehen, die Kategorie „Spiel" folglich nicht ohne die Kategorie „Aufführung" zu denken; dies gelte auch für Lesehandschriften im Sinne einer „intendierten Aufführungsfiktion" (35). Gemeinsames Fundament sei die städtische Oberschicht, die sowohl als Buchbesitzer und -auftraggeber wie als Träger der Aufführungen in Betracht komme. Eine unsicher zu bewertende Größe bleibe jedoch in diesem Zusammenhang das Publikum, - zumal angesichts einer, gemessen an der geforderten Qualität, manchmal auch eher ,,einfache[n] Sprachoberfläche" (45) der Spiele. Hildegard Elisabeth Keller versucht demgegenüber die - intendierte - Haltung des Publikums zunächst von Erwägungen zu „Wirkprozessen im Theater" (50) im allgemeinen abzuleiten und dann mit Überlegungen zum mittelalterlichen Spiel im besonderen zu bestimmen. Am Beispiel zweier eschatologischer Spiele, des ,Berner' und des ,Churer Weltgerichtsspiels', wird die Haltung des Publikums näher beleuchtet. Zentral sei die „Doppelperspektive" (51) des geistlichen Spiels, das die Partizipation des Publikums in spezifischer Weise formiere: Es nehme teil an und sei selbst Teil von einer Geschichte bei deren Re-Präsentation im Raum oder im Umfeld der Kirche. Dem Anspruch dieser seiner eigenen (Heils-)Geschichte, dieser „dramatisierten Predigt" (57), habe es sich zu stellen. Basis dessen sei die christliche Konzeption von Zeit, wie sie sich in der „Vermengung von linearem und zyklischem Denken" (53) zeige. Diese „Vermengung" habe Gestalt gewonnen
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in der Liturgie des Kirchenjahres mit dem zyklisch wiederholten, insofern ritualisierten Verweis auf Jesu Heilstaten, sein Leben und Sterben einerseits, mit dem Verweis auf sein Wiederkommen am Ende der Zeiten anderseits. In spezifischer Weise erscheine diese Konzeption im Weltgerichtsspiel mit der Position der Aufführung im Kirchenjahr und mit seiner „Überlagerung der Jetztzeit mit der Endzeit" (60): Im dargestellten - selbst von den Bitten der Maria oder des Johannes nicht zu beeinflussenden - endgültigen Urteil Jesu über die Guten und über die Verdammten findet im Jetzt, im nu, statt, was vom Precursor, von den Propheten, den Kirchenlehrern in Voraussagen und der Explikation der sibyllinischen 15 Vorzeichen angekündigt wird; in der Rückschau Jesu und insbesondere der Verurteilten auf ihr Leben wird die Gegenwart des Publikums mit dem Blick auf eine am Endgericht schon vergangene Zukunft aufgerufen und in den Appell an ein Leben gefaßt, das dem Leiden und den Heilstaten Jesu im Sinne seiner Gebote zu antworten habe. Präzise formuliert sei die Wirkungsabsicht in der Aufforderung des Prelocutors an den Zuschauer des ,Churer Weltgerichtsspiels', wer die ewig pin vermeiden und das ewig rieh erwerben wolle, der bild das iungste gricht in sich (v. 8). Um die Voraussetzungen für einen anderen Typus eschatologischer Spiele, die Zehnjungfrauenspiele, geht es im Beitrag von Renate Amstutz. Vorauszusetzen ist für Fassung A der, in zwei Fassungen erhaltenen, sog. thüringischen Zehnjungfrauenspiele', daß „die Gesamtheit der textlich und melodisch komplettierten lateinischen Gesänge zusammen mit den dazugehörigen Bühnenanweisungen (und ohne die volkssprachigen Teile!) ein vollständiges, in sich stimmiges liturgisches Zehnjungfrauenspiel" (71 f.) darstellen. Für dieses „lateinische Substrat" (71) vertritt Renate Amstutz die These, daß es sich dabei nicht allein um eine literarische Umsetzung der Parabel von den zehn klugen und törichten Jungfrauen aus Matthäus 25, 1-13 handelt, sondern daß es unmittelbare Beziehungen zum liturgischen Ritus der Nonnen- oder Jungfrauenweihe gibt, wie sie Gullielmus Durantis oder Durandus, 1285 bis 1296 Bischof von Mende, gestaltet hat. In minutiöser Analyse wird gezeigt, wie diese ,Benedictio et Consecratio virginum' in dem neu konzipierten Pontifikale des Durandus („PDur") „den Charakter einer dialogreichen, liturgisch-dramatischen Hochzeitsfeier von ,klugen Jungfrauen'" erhält, „die dem Bräutigam entgegenziehen und ihm vermählt werden". In diesem „inszenierten Ritual" (75) sind dramaturgisch zentral die Allusionen zu weltlichen Zeremonien der Eheschließung, wie sie seit alters insbesondere in der Verleihung des Schleiers (velatio), dann auch im Anstecken eines Ringes und im Aufsetzen einer Brautkrone bestehen, danach vor allem aber die Überblendungen mit dem Bräutigam Christus und den klugen Jungfrauen der Parabel, wie sie im liturgischen Dialog zwischen dem Bischof, der die Weihe im Rahmen einer Messe zelebriert, und den Nonnen entwickelt werden. Ausgegrenzt, wenn auch wiederholt in Fürbitte und Warnung formuliert, wird in diesem Ritual das Böse (108f.), der denkbare Abfall vom eingegangenen Gelübde, wie es in den Spielen in Rede und Aktion der törichten Jungfrauen und in der Figur Luzifers Gestalt gewinnt. Sehr genau wird hier für die Parabel von den zehn Jungfrauen gezeigt, wie sie für das liturgische Ritual, für das Zehnjungfrauenspiel und für das in ihm enthaltene lateinische Substrat genutzt, aber jeweils unterschiedlich funktionalisiert und inszeniert wird. Nicht zuletzt interessant ist, daß das Ritual der Eheschließung für die Jungfrauenweihe im Ritual der Messe präsent ist, während die Spiele eher den didaktischen Gehalt in Hinblick auf das Endgericht in Bild und Gegenbild herausstellen. Das Verhältnis von liturgischer ,Consecratio virginum' und .Zehnjungfrauenspiel' ist beispielhaft geeignet, die These zu bestätigen, die Jan-Dirk Müller an den Beginn seiner
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Untersuchung stellt: „Mittelalterliche Liturgie ist theatralisch, und mittelalterliches Theater ist liturgisch" (113). Doch auch wenn die „Grenzen zwischen Liturgie, paraliturgischen Riten, privaten Frömmigkeitspraktiken und Geistlichem Spiel" fließend seien (113), auch wenn „von den Besuchern der Messe, den Teilnehmern einer Feier, den über ein imaginäres Passionstheater Meditierenden oder den Zuschauern der Spiele" die Unterscheidungen zwischen diesen verschiedenen Akten „spätmittelalterlicher Devotion" vermutlich „nicht einmal wahrgenommen" worden seien (132), sei es zur „wissenschaftlichen Kategorienbildung" notwendig, zwischen „Kult und Theater" zu unterscheiden (114). Trotz „aller Verwandtschaft der Absichten, Abläufe und Funktionen" ergäben sich „Differenzen auf der Ebene der Textproduktion, der Textstruktur, der .Aufführung' des Textes und der Weise der Partizipation"; nur in deren Beobachtung sei es möglich, in ,,idealtypische[n] (Re)Konstruktionen" den „Ausdifferenzierungsprozeß zu erfassen, in dessen Verlauf seit der Frühen Neuzeit sich eine selbständige Institution Theater von den vielerlei Formen von Theatralität abgrenzt" (114). Es geht also nicht um die etablierte Unterscheidung von Liturgie, Feier und Spiel, die die „fließenden Übergänge" als Argument für funktionale Äquivalenzen einsetzt, sondern es geht anhand der Leitdifferenz „Theatralität" versus „Theater", um eine Beschreibung des Spektrums „theatraler" Phänomene auf verschiedenen Ebenen verschiedener Texttypen. Ziel ist, die „Übergänge" auf ihre kategorialen Differenzen fur jenen literarhistorischen Prozeß der Ausdifferenzierung ,des' (neuzeitlichen) Theaters zu befragen. Daß in einer solchen Fragestellung Stand, Bildung und Zusammensetzung des Publikums, Textstruktur, Formen der Komik, Ort und Zeit der „Aufführung" etc. einen anderen Stellenwert erhalten als gewöhnlich, ist offenkundig. Eines dieser, in all seinen Dimensionen wohl noch kaum erkannten Momente greift Andreas Traub in seinem Beitrag auf: Unter dem Titel „Zeitbestimmung durch Gesänge?" weist er auf drei verschiedene Typen der Integration liturgischer Gesänge in die Spiele hin und fragt insbesondere nach der Funktion der Gesänge für die Spiele. Allein die Frage zu stellen, scheint schon schwierig, sind die Gesänge doch nicht allein durch den Text, sondern unabhängig davon auch durch die Melodie und diese wiederum durch bestimmte Formen der Intonation fur einen bestimmten liturgischen Ort im Jahres- und Tageszyklus bestimmt, wobei dazu noch regionale Variationen und Traditionen zu beachten sind.6 Durch die Referenz auf den liturgischen Ritus werde, so die These, der „Spielzusammenhang an dieser Stelle suspendiert; das Ganze erhält durch die hineinklingende liturgische Zeitdimension eine neue Qualität" (136). Das gesamte mittelalterliche deutsche Drama nimmt hingegen Hansjürgen Linke in den Blick; „Verantwortung" und „Glaube" werden als dessen thematische Schwerpunkte bezeichnet. Linke widmet sich insbesondere dem Thema „Verantwortung" im Sinne von „Verantwortlichkeit" und „Rechenschaftslegung" vor „einer transzendenten Instanz" (139) und stellt damit zugleich die Frage nach einem (oder: dem) intentionalen Schwerpunkt der Spiele (zugleich kritisch gegenüber der üblichen Unterscheidung „geistliches" und „weltliches" Spiel, 150 Anm. 53). Die Antwort: Sie appellieren an die Einzelne und den Einzelnen, zielen also auf jedermann" (150), und zwar in dreifach aufgefächerter 6
Zum Zusammenhang vgl. noch: Gunilla Iversen, Tropen als liturgische Poesie und poetische Liturgie, in: Joerg O. Fichte [u. a.] (Hgg.), Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongressakten zum ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen 1984, Berlin [usw.] 1986, S. 383402.
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Verantwortlichkeit, (1.) für die in der verkündeten „Glaubenshaltung beschlossene Selbstverantwortung für das eigene Seelenheil" und die „ebenfalls religiös verwurzelte selbstverantwortliche Lebensführung", damit (2.) in der Verantwortlichkeit „auch für seine Mitmenschen" und schließlich (3.) in der „Verantwortlichkeit fur das Gemeinwesen" (150, 154). Voraussetzung dessen ist die dem Menschen zugestandene Willensfreiheit und die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Ins Spiel kommt Verantwortung einerseits im „Eigengericht" (iudicium particulare), das jeden Menschen unmittelbar nach dem Tode erwartet und anderseits durch das Jüngste Gericht (iudicium universale) über die gesamte Menschheit und Schöpfung am Ende aller Zeit. Ersteres wird eigens zum Thema im ,Münchner Spiel vom sterbenden Menschen', sei aber darüber hinaus - und das ist entscheidende Voraussetzung - „im geistlichen Schauspiel des deutschen Spätmittelalters allenthalben anzutreffen^" (147); das Jüngste Gericht erscheint in den Weltgerichts- und in den Fronleichnamspielen. Detailliert und minutiös dokumentiert zeigt Linke, daß in den Spielen „trotz vorhandener terminologischer Differenzierung zwischen Hölle, Vorhölle und Fegefeuer gedanklich nicht geschieden" werde (145 Anm. 35), daß die Hölle gleichwohl „nicht aus eigener Machtvollkommenheit" handele (146) und Luzifer „als bloßer Büttel Gottes das bereits von diesem festgesetzte Verdammungsurteil" an der Seele der in Sünde Gestorbenen verkünde und vollziehe (147) oder - in den Weltgerichtsspielen - als Ankläger auftrete. „Herr des Verfahrens und einziger Richter ist selbstverständlich Christus" (149). Damit ist jeder Gedanke an eine auch nur entfernt dualistisch begriffene Konzeption der Spiele abgewiesen. Vielmehr sähen sich die Spiele im Dienste von Kerygma und Katechese (152), seien „Instrumente[] der Laienkatechese" (153) und fungierten „mit ihrer anschaulichen Darstellung der am Ende das Seelenheil betreffenden Sanktionen der letzten Instanz aus Sicht der Stadt u. a. auch als flankierende Maßnahmen zur Verwirklichung einer gerechten Sozial- und Wirtschaftsordnung" (157f.) und damit als „gesellschaftsstabilisierender Faktor" (158). Ursula Hennig verfolgt am Beispiel der Kreuzigung Jesu, in welcher Weise die Spannung von einerseits Leid und Tod und anderseits Heilsgeschehen für die Dramaturgie der Passionsspiele, insbesondere für die Gestaltung der Jesus-Figur ausgetragen wird. Gegenüber der - die Liturgie prägenden - Schilderung der Passion in den Evangelien wird zunächst die Klage „konstitutives Element im Geschehen" (169). Anders als beim Nachvollzug des Opfers im liturgischen Ritus werde damit die Aufforderung zur Compassio gegenüber dem dargestellten Leid betont. Angesichts dieser Tendenz bleibe zu fragen, „ob und wie sich die Jesusrolle von den anderen unterscheidet" (170). Ursula Hennig zeigt, wie Klage, Anklage der Peiniger und Aufforderung zur Compassio vor allem mit der Figur der Maria verbunden sind; der heilsgeschichtliche Aspekt kommt hingegen eher über die Figuren der Jünger oder der Propheten und Kirchenlehrer, über Personifikationen und die Explikation typologischer Momente ins Spiel. Die Jesus-Figur bleibe demgegenüber im wesentlichen frei für die „heilsgeschichtliche Sphäre" (169) und frei von Klage und Anklage. Bezeichnend geändert werde allein in der Gruppe der hessischen Passionsspiele, in welchen der Jesus-Figur die Improperien der Karfreitagsliturgie in den Mund gelegt werden. Nach der frankfurter Dirigierrolle' singt diese Klagevorwürfe der gekreuzigte Jesus vom Kreuz herab; im frankfurter Passionsspiel' wende sich Jesus mit den Improperien vor der Kreuzigung in der Figur des Andachtsbildes, der ,Rast Christi', an das Kreuz selbst, ein Bild des „Urteils und der Verurteilung" und zugleich „realisiertes Heilsgeschehen" (170).
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Mit der Frage, „welches Interesse an Affektdemonstration und Affektstimulierung in Spielen und Spielteilen besteht und mit welchen Mitteln sie erreicht werden", gilt auch die Studie von Ursula Schulze dem „symbiotischen Zusammenhang von Liturgie und Spiel" (178). Das betrifft zunächst die Entstehung und Entfaltung der Spiele. Wie auch an den Passionsbildern zu beobachten, hätten „die kultbezogenen Planctus und Spiele gleichfalls auf Bedürfnisse, die aus dem gottesdienstlichen Ritus hervorgehen", reagiert (177); der „Ausgangspunkt für die Entfaltung gesteigerter Anschauungsformen und Affekte" sei, mit Belting, „im kollektiven Erfahrungsraum", in der Teilnahme an der Meßliturgie zu sehen (177f.). Aus der Einbindung der „lateinunkundigen Laien" in den „rituellen Vollzug, der sicher seine eigene Faszination besaß", hätten sich „Impulse für szenische Darstellungskonzepte" verschiedener Art ergeben (178). Mit der Frage nach der Inszenierung der Affekte, in diesem Fall von Schmerz und Leid, läßt sich dann auch die Funktion der angestrebten Compassio, der, Anteilnahme der Zuschauer an dem dargestellten Leiden Jesu und Marias" (178) näher bestimmen. Am Beispiel der ,Bordesholmer Marienklage' wird gezeigt, daß die angestrebte „Wirkung der Aufführung" sei, das ,,Passionsgeschehen als die Gemeinde betreffenden Vorgang und als Erlösungswerk" darzustellen und zu begreifen. Dabei erscheint Maria „als Modell und als Objekt der Compassio", der „Heilsverheißung" (181f.) zugesprochen werde. Dazu dienen Gesänge, Gebärden, eine „auf verschiedenen Ebenen betriebene Emotionalisierung" (188) mit Analogien zu den Riten „kollektiver Trauer" (189). Im Unterschied zu den in anderen Marienklagen entwickelten Möglichkeiten werde im „Bordesholmer Planctus die Compassio selbst als Sacramentum/Heilsmittel begriffen" (190). Generell lasse sich für die Klageszenen in den (Passions)Spielen beobachten, daß sie eine vergleichbare Funktion besitzen „wie die lateinischen Textpartien und Gesänge. Diese binden die Aufführung an die liturgische Dimension zurück, die Trauerinszenierung bringt ein emotionales Reaktionsmodell erinnernd zur Geltung und schafft damit für die Rezeption der Spiele ein tragendes Gerüst" (193). Klaus Ridder untersucht Figurationen numinoser Mächte und Gegenmächte (Götter, Gott, Teufel) auf das Lachen hin, das von ihnen, zumal im Kontext von Weltuntergangsszenarien, evoziert wird. Diskutiert wird mit der Komik ein anderes wichtiges, auch nicht unumstrittenes Moment für die Bewertung von Struktur und Funktion insbesondere der geistlichen Spiele. Durch den Vergleich des Descensus Christi und der Rolle Luzifers im (Innsbrucker) Osterspiel mit der ,Lokasenna' der ,Älteren Edda' und dem ,Fastnachtspiel vom Entkrist', durch den Vergleich von Teufelskomik, Götterkomik und Endzeitkomik, ergeben sich Beobachtungen zur übergreifenden Präsenz des Komischen im Verhältnis zum Numinosen und einer entsprechend differenzierten Bewertung sowohl des Mythischen als auch des Verhältnisses der Mächte des Guten und des Bösen. Differenziert werden verschiedene Facetten des Lachens (Verlachen, distanzierendes und „erlösendes Lachen") und dessen Funktionen im Vollzug eines Rituals oder als ein Inszeniertes im Spiel; für das geistliche Spiel sei das Lachen ,über' den Teufel nicht anders zu bestimmen als mit dem ambivalenten Verhältnis des Teufels zu dem ihm schon immer überlegenen Schöpfergott einerseits oder dem Menschen anderseits. Ambivalent ist schließlich auch die Verkehrung der Werte im Spiel im Rahmen des Fastnachtrituals, in dem der Entkrist/Antichrist begrenzte Herrschaft erhält und das Anstößige christlicher Vorstellungen der Lächerlichkeit preisgeben darf. Um die „verkehrte Welt" als Grundprinzip der Fastnacht und ihres in den Fastnachtspielen artikulierten Selbstverständnisses geht es auch im Beitrag von Christa Ortmann und
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Hedda Ragotzky. Fastnachtspiele seien „integraler Bestandteil der fastnächtlichen Geselligkeit", und so „vermitteln die Spiele ein Selbstverständnis von Fastnacht als verkehrter Welt" (208). Dies wird grundsätzlich so gedacht und konsequent in die Struktur der Spiele umgesetzt, wie an zwei Gerichtsspielen der frühen Nürnberger Tradition (Keller 72, 73) gezeigt wird, die das „Recht" der Fastnacht in der ,,zyklische[n] Wiederholungsstruktur der immer wieder aufeinander folgenden Festkreise" und des „gleichfalls zyklischen jahreszeitlichen Kalender[s]" zum Thema haben (209). Fastnacht wird nicht als Funktion der Fastenzeit begriffen, sondern sie hat ihr „Recht" wie die Fastenzeit auch. Dies gilt gegenüber dem Osterfest, und es gilt für die Ordnung des Kirchenjahrs, wie übereinstimmend mit Ecclesiastes/Kohelet 3, Iff. ausgesagt wird (209; vgl. den Titel des Beitrags). Konsequenter noch ein späteres Spiel (Keller 51), das nach dem Prinzip der „verkehrten Welt" die „Spiegelfunktion" der Fastnacht (216) ausagiert mit der Behauptung, „nicht nur der verkehrte Vorabend, sondern das wahre Vorbild der Fastenzeit zu sein [...]: kein Heilsgewinn ohne die Fastnacht" (216). Die „Inszenierungsstrategie insbesondere des frühen Nürnberger Fastnachtsspiels" tendiere zu dieser Perspektive einer ,,totale[n] Verkehrung", von der aus „prinzipiell alle Ordnungen der Welt aus den Angeln gehoben werden können" (216). Als „ältestes Fastnachtspiel" entdeckt hat Eckehard Simon den bislang ins 15. Jahrhundert datierten und bereits zweimal im 19. Jahrhundert edierten Text .Sieben Frauen und ein Mann' (Keller 122). Die Neuedition einschließlich der bislang nicht als solche erkannten lateinischen Regieanweisungen des nur 66 Verse umfassenden Reihenspiels verändert das Wissen um das Genre Fastnachtspiel nicht unerheblich. Zu belegen ist, daß die „Gattung Fastnachtspiel älter ist als die Nürnberger Anfänge" (230), die für die ersten beiden Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts angenommen werden (I. Glier), wo man jedoch eine offenbar bereits bestehende Tradition hat aufgreifen können. Das Spiel, „eher zufällig" im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts in ein Pergamentdoppelblatt eingetragen (Berlin, SBPK, Mgq 671), das als „Umschlag eines lateinischen Antidotars" diente (220f.), ist wohl im gleichen Zeitraum entstanden. Verfasser war ein Niederdeutscher, dem seinerseits die „Reihenspielform" bereits verfügbar war (230). Der mit der Bibel vertraute Verfasser (227) nutzt die „komische Potenz" einer als Überschrift für das Spiel aus der Vulgata zitierten Jesaja-Stelle (Is 4, 1), nach der sieben Frauen einen Mann „ergriffen". In allegorischer Auslegung bekannt, wurden die komischen Möglichkeiten des Passus auch in anderen Spielen genutzt (228f.). Für die literarische Kompetenz des Verfassers spricht ferner, daß er in v. 43 vermutlich aus dem .Wartburgkrieg' zitiert (224). Rezeptions- und Intertextualitätsphänomene zwischen Fastnachtspiel und Osterspiel oder Emmausspiel diskutiert Ute von Bloh mit ihrer Studie zum Fastnachtspiel von dreien pösen weihen ... vor der helle (Keller 56). Im Modus der „verkehrten Welt", der den Fastnachtspielen eigen ist, bezieht sich dieses Spiel Tiroler Provenienz (236) mit der Figurenkonstellation (drei alte Frauen, Teufel), mit dem Ort des Geschehens (vor der helle) und mit Handlungs- und Dialogführung auf bestimmte Szenen und gattungstypische Momente des Oster- und Emmausspieles (235 m. Anm. 17) um die drei Marien und den Teufel, um Visitatio, Höllenfahrt und die Erscheinung des Auferstandenen im Wirtshaus zu Emmaus. Auffällig ist jedoch, daß für die „weitgehend unverbundenen Szenenabschnitte[]" (234) der Bezug auf den Prätext zwar „textmodellierend" ist, ,jedoch unter Ausblendung des zentralen Kerns" (239). Referenzrahmen sind also eher die Krämerszenen und der Seelenfang des Osterspiels und das Trinkgelage im Emmausspiel, die sich bereits ihrerseits „vom
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heiligen Geschehen weit entfernen" (241). Dabei erschöpft sich das intertextuelle Verfahren „nicht im Prinzip der Verkehrung", die Referenztexte werden zugleich „fortgeschrieben wie auch überboten" (244); fortgeschrieben wird - z . B . - die Machtlosigkeit des Teufels, überboten aber in der Machtlosigkeit gegenüber den drei alten Frauen, die die Teufel weder, wie im Seelenfang, einfangen noch ihnen eine vor der helle gestohlene Viehherde abnehmen können. Vielmehr kommen sie selbst geschlagen heim, wobei all die ironisierenden Möglichkeiten parodistisch-metaphorischer Rede (ζ. B. im Hirt-, Herde-Motiv) entfaltet werden. Somit bleibt das Osterspiel „Auferstehungsspiel, weil die Art der Selektion von Einzelelementen aus den Referenztexten die angestammte Funktion nicht tangiert" (246). In allen Beiträgen zum Fastnachtspiel war auffällig, daß die diskutierten Spiele die übliche, von Ute von Bloh formulierte Erwartung enttäuschen, wonach „Fastnachtspiele [...] gemeinhin nicht eben als besonders anspruchsvolle und raffinierte Dichtungen" gelten (233). Alle hier diskutierten Fastnachtspiele zeichnen sich demgegenüber durch eine im Rahmen der Gattungsvorgaben witzig-intelligente Antwort auf Fragen aus, die in anderen literarischen Genera formuliert worden sind. Daß die Annahme einiges für sich hat, dies sei auch im intellektuellen Milieu begründet, dem ihre Autoren zuzuordnen sind, zeigt der Beitrag von Max Silier. Er erörtert zunächst die grundsätzliche Notwendigkeit und die besonderen Schwierigkeiten einer präzisen dialektologischen Analyse der Spiele, zeigt dann aber, am .Tiroler' Fastnachtspiel ,Die zwen Stenndt', daß dessen seltsame Dialektmischung „schlußendlich den Schlüssel für Erkenntnisse bis hin zur Person des Verfassers" liefert (251). Als solcher kann am Ende mit hoher Wahrscheinlichkeit der aus der Nähe von Wien stammende, in Wien studierte und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Meran als Schulmeister tätige Christof Kefer namhaft gemacht werden (253), ein Ergebnis, das für eine bestimmte Gruppe von Fastnachtspielen nicht untypisch sein dürfte. Als „Zwischenbericht" (260) in einer Reihe weiterer Arbeiten stellt John E. Tailby einen bislang nicht weiter beachteten Bühnenplan Luzerner Provenienz vor (Abbildung S. 257). Ein solches Zeugnis ist um so wichtiger, als, wie bekannt, ,Bühnen'-Pläne nur äußerst selten erhalten sind, ein solcher Plan jedoch als zentrales Dokument fur die Konkretisierung jeder Dramaturgie und „Inszenierung" eines Spiels zu gelten hat. Auch für das Verständnis dieses Bühnenplans sind noch weitere Studien erforderlich. Das gilt zunächst für das Verhältnis zum Spieltext und zu entsprechenden Hinweisen zur Aufführung, wie ζ. B. Regiebemerkungen. In diesem Fall handelt es sich um ein .Wilhelmspiel', auf das sich der Plan bezieht und dessen Aufführung an zwei Tagen wohl im Herbst des Jahres 1596 stattgefunden hat. Vom Spiel selbst ist nur der Text des ersten Tages erhalten; es besitzt „auffallend viele Gemeinsamkeiten" mit einem französischen Spiel des 14. Jahrhunderts, das trotz eines entsprechenden Hinweises im Titel mit der Guillaume-AVillehalm-Tradition „nichts zu tun" hat (258). Interessant, aber gleichfalls noch nicht geklärt ist ferner der Zusammenhang mit den Aufführungen des Luzerner Passionsspiels am selben Ort, insbesondere für Fragen der technischen Organisation und damit der „Inszenierung" für die etwa 99 zu besetzenden Rollen und für den Ort der Zuschauer auf Tribünen. Es scheint, „daß man den Platz so ausstaffierte wie für das Passionsspiel" (260). Anthonius H. Touber widmet sich den .lebenden Bildern', jenen Möglichkeiten der Inszenierung, bestimmte Figuren und Figuren-Konstellationen der Spiele ikonographischen Mustern oder Vorlagen entsprechend zu arrangieren. Demonstrationsobjekt ist das ,Donaueschinger Passionsspiel', eine nach 1470 wohl in Villingen entstandene Abschrift und Überarbeitung einer alemannischen, vielleicht aus Luzerner Tradition stammenden
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Vorlage und wiederum eng verwandt mit dem späteren ,Luzerner Osterspiel' (1545). Touber arbeitet an mehreren Beispielen aus dem Donaueschinger Spiel (GebärdenRepertoire, Judas-Verrat, Jesu ,letzte Rast', Kreuztitulus) Abweichungen vom entsprechenden neutestamentlichen Passus heraus und zeigt demgegenüber einen engen, vor allem in den Regiebemerkungen greifbaren Zusammenhang mit ζ. T. weit verbreiteten Bildmustern, nimmt aber für das Donaueschinger Spiel vor allem Anregungen italienischer Provenienz an, wie sie den mutmaßlichen franziskanischen Überarbeitem zugänglich gewesen seien. Das ,Luzerner Osterspiel' vermeidet hingegen im entsprechenden Passus die ,bildkräftigen' Abweichungen von der biblischen Vorlage; Touber führt dies mehr auf die Kontrolle durch die Leutpriester als auf reformatorischen Einfluß zurück. Eine „neue Form der Kommentierung geistlicher Spiele" erprobt Klaus Wolf am. Beispiel der Frankfurter Spiele, d. h. der frankfurter Dirigierrolle' (FD), des frankfurter Osterspielfragments' (FOf) und des frankfurter Passionsspiels' (FP), wie sie in Johannes Janotas Edition vorliegen. Wolf zielt mit seinem Kommentar auf „konkrete Bühnen- und Inszenierungswirklichkeit" und auf „das mittelalterliche Publikum" (273), damit auf zwei Parameter im Argumentationsgefuge, auf die in Interpretationen kaum je verzichtet wird, die aber gleichwohl selten genauer definiert sind, vermutlich auch kaum anders als in Annäherungen bestimmt werden können. Um so wichtiger, an einem Beispiel die Materialien zu sichten und die Bedingungen für historisch differenzierte Aussagen zu prüfen. Gedacht ist der Kommentar als eine groß angelegte Kontextualisierung; es geht um einen weit verstandenen sozialen und literarischen Kontext der Spiele und ihrer Auffuhrungen und eine Annäherung unter den Stichworten Überlieferung, Spielträgerschaft, Publikum, Bühnenort und Bühnenplan, Reflexe der außerliterarischen Wirklichkeit in Text und Überlieferung. Ferner geht es um eine systematische Kommentierung jeder ,Szene' nach einem bestimmten Schema („sprachliche Erläuterungen, Quellen, Szenenparallelen, lokale Bezüge, Szenengestaltung", 275f.). Zentrales Ergebnis dieses Kommentierens ist, neben der Präsentation einer Fülle von Details und ihrer Verflechtungen, die Konkretisierung eines literar- und sozialhistorischen Prozesses: Die „Aufführungen, die FD und FOf dokumentieren, scheinen im 14. Jahrhundert fest in der Hand des Bartholomäusstiftes" (279). Wolf kann wahrscheinlich machen, daß die mit FD und FOf verbundenen Aufführungen auf dem Platz südlich vom Bartholomäusstift/Dom zwischen Kirche und der, dem anschließenden Juden-Ghetto vorgelagerten, Synagoge stattgefunden haben werden (284—291). Demgegenüber war das geistliche Spiel am Ende des 15. Jahrhunderts „fest in weltlicher Hand", was sich wiederum auch am Bühnenstandort ablesen läßt, nun „am Römerberg unter den Augen der im Rathaus und auf der Ratskirche (Nikolaikapelle) versammelten Ratsobrigkeit" (282). Man kann, so Wolf, von einem Wandel von „klerikalpastoralem" zu „laikal-pastoralem" Charakter sprechen (283). An zwei , Szenen' aus FD und FP verdeutlicht Wolf sein Konzept von Kommentar im Vergleich etwa zur Interpretation der Kreuzigungs-Szene der Frankfurter Spiele von Ursula Hennig (s. o.). „Endzeit" eines literarhistorischen Prozesses beschreibt Bruno Quast am Beispiel des .Münchner Osterspiels'. Am Vergleich mit der programmatischen Inszenierung des Innenraums der gleichfalls Ende des 16. Jahrhunderts errichteten Münchener Jesuitenkirche sei abzulesen, daß der „kirchliche Schau-Raum und das geistliche Schau-Spiel" sich den „Modus der Repräsentation heilsgeschichtlicher Daten" teilten (317). Mit dem in den Jahren vor 1582 entstandenen Spiel habe das geistliche Spiel, „wenn man so will, in den Kirchenraum zurückgefunden". Damit wird, vom Ende her, die (modifizierte) These Rainer
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Warnings von den fur die früheren Spiele zu beobachtenden „Divergenzen zwischen kirchlichem Kerygma und dem Geltungsanspruch des geistlichen Spiels" (316) bestätigt. Ablesen lasse sich dies an den Umbesetzungen des Spiels gegenüber einer Tradition, an die es sich sonst, wenn auch eigenwillig, anschließt. Gesteuert seien die Umbesetzungen „von einem dezidierten Interesse am ekklesialen Heilsmonopol" (317): Was sich zumindest in den „mittelalterlichen Osterspielen eines bestimmten Strukturtyps" (318) im kollektiven befreienden Lachen der „Teilnehmer" über das (an einer Figur demonstrierte) Scheitern des Seelenfangs im Anschluß an den Descensus des Auferstandenen „als Ritual im Spiel" vollziehe, werde im Münchner Spiel ersetzt durch die „Serie der Sündenvergebungen" an den „in mimetischer Distanz agierenden Figuren des Spiels", denen jeweils individuell in der sakramentalen Formel des Ego te absolvo a peccatis tuis „durch eine verbale Zeichenhandlung von außen, nämlich durch den Auferstandenen Erlösung zugesagt" werde (319). In der „Individualisierung der Erlösung, deren Symbolisierung im mimetisch vorgestellten Institut der Sündenvergebung und schließlich deren Theologisierung im Sinne einer redemptionstheoretischen Grundlegung" zeige sich der „Übergang vom Ritual im Spiel zum Schauspiel, von ritueller Präsenz zur Repräsentation" (321). Dem ,Spil von Kinderzucht' Johann Rassers, des Pfarrers und Gründers der städtischen Lateinschule zu Ensisheim im (vorderösterreichischen) Elsaß, gilt die Studie von Erich Kleinschmidt. Das ,Spil' (vollständiger Titel: 327 Anm. 12) ist 1573, wie die Luzerner Spiele (Tailby) und das ,Münchner Osterspiel' (Quast) im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts aufgeführt worden. So wie der Autor des Spiels einem Typus der Autoren der früheren Spiele entspricht (vgl. besonders Silier), so zeigen auch die Bedingungen der zweitägigen Aufführung in Ensisheim (Kirchenjahr als Zeitordnung, Bühne auf dem Platz zwischen Kirche und Rathaus; 326f.) Übereinstimmungen mit der Tradition, mit der es auch in thematischer, intentionaler Hinsicht und in politischen Zuordnungen Überschneidungen gibt (Erziehung, Verhältnis Eltern-Kinder, hier allerdings erweitert um die Einordnung in Instanzen weltlicher Obrigkeit; Rituale einer Gerichtsverhandlung und einer Hinrichtung, Auftritt des Teufels, gegenreformatorische Tendenzen, antijüdische Polemik in Zusammenhang mit einer Ausweisung der Juden aus Vorderösterreich). Deutlich unterschieden ist dieses Stück Rassers hingegen im stofflichen Vorwurf, dazu diente ein Roman Jörg Wickrams (331), in der Besetzung der Rollen, für die alle 97 namentlich genannten Schüler eingesetzt wurden (335), vor allem aber im Medium der Überlieferung und dessen Adressierung: Rasser ließ das Spiel unmittelbar nach der Auffuhrung drucken (erschienen 1574) und mit 44 Holzschnitten der Inszenierung in Ensisheim versehen; er widmete es dem Landesherm und der territorialen und städtischen Obrigkeit (333f.). Der Vergleich mit den früheren Spielen ergibt ein differenziertes Bild. Ähnlichkeiten der Rahmung auf beiden Seiten stehen neben Übereinstimmungen, aber auch gravierenden Unterschieden von Intention und Funktion des Spiels für die jeweilige städtische Gesellschaft. Strukturell anders als in den früheren Spielen geregelt sind die Zuordnungen im Verhältnis der Rollen zu den (ausschließlich männlichen) Darstellern und im Verhältnis von Schauspielern und Zuschauern. Deutlich wird in einem ersten Ansatz der ,,komplexe[] Prozeß" der „Transformation zwischen den großen, geistlich begründeten Spielen des späten Mittelalters, die eine Gemeinde in einem Akt der Selbstdarstellung Zusammenschloß, und den frühneuzeitlich entwickelten Spielkonzepten kommunaler Repräsentation" (325). In den beiden letzten Beiträgen von Rainer Warning und Walter Haug wird eine Debatte explizit, die manchmal ausdrücklich, manchmal auch implizit andere Beiträge zu Struktur,
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Funktion und den Ambivalenzen des geistlichen Spiels geleitet hat, die Auseinandersetzung mit den Thesen Warnings. In seinem Versuch, das ,Imaginäre des geistlichen Spiels' näherhin zu bestimmen, insistiert Rainer Warning auf den zentralen Thesen seines oben kurz referierten Buches (343f.), setzt jedoch mit der Formel von der „Suche nach dem Körper" einen etwas anderen Akzent beim primären Movens für die Entstehung und zeitlich begrenzte Existenz des geistlichen Spiels. Alle „Institutionen und Diskurse" des Christentums seien, so Warning im Anschluß an Michel de Certau, „substitutive Füllungen eines initialen Mangels", dem sich das Christentum recht eigentlich verdanke, „der Absenz des - toten - Körpers, dem offenen, dem leeren Grab" (345). Im Surrexit-lubeX der Liturgie werde jedoch das „Phantasma des offenen Grabes" kassiert; der Jubel substituiere „das Zittern und Entsetzen der Marien" angesichts der „Absenz des Körpers" (345). Gleichwohl ist in den Berichten der Evangelisten von Erscheinungen des Herrn vor den Marien und den Jüngern die Rede, damit diese die „Auferstehung kündeten" (345). Die in der Hortulanus-Episode und im Jüngerlauf potentiell enthaltene Spielform (Mimikry, resp. Agon) „ergreift" auch die liturgische Feier „ostentativ nicht"; „selbst an seiner Peripherie also gibt der liturgische Ritus dem Darstellerischen nur in höchst disziplinierter Form Raum" (346f.). Das volkssprachliche Osterspiel „ergreift" hingegen „genau all das und spielt all das aus, was sich die Feier versagt" (347). Zunächst dadurch, daß dem Marienspiel der Descensus vorgeschaltet wird, als ein „Agon zwischen Jesus und dem Teufel" mit den entsprechenden Implikationen. Der Descensus mit dem dreimaligen Tollite portas, principes, vestras und der jeweiligen Antwort des Teufels, sei danach „ein gespieltes Ritual, ein gespielter Exorzismus". Anders also als die Visitatio sepulchri der Feier „hat das Spiel den Körper", aber nicht als „corpus verum der Liturgie" oder „bloße Verbildlichung des Auferstandenen", sondern in ,,imaginäre[r] Präsenz", als „bildhafte Anwesenheit einer körperlosen Macht - wie beim satanischen Gegenpart" (347). Ferner werde das Marienspiel durch den vorgeschalteten Descensus seiner Zeugnisfunktion enthoben und für andere Besetzungen frei, für ein „theologisch ungedecktes Lachritual, in dem die dargestellte Drastik sich beim Publikum somatisch entlädt" (349). Die Folge: „Das Osterspiel ist keine organische Weiterentwicklung des liturgischen Ritus", sondern „Regreß hinter das christliche Kerygma". „Theologisch hat das Christentum jedweden Dualismus überwunden. Aber das theologisch nur zugelassene Böse beherrscht das mittelalterliche Imaginäre in einer Weise, die einem fortlebenden Dualismus gleichkommt. Das Spiel selbst kann man als Dokument dieses Fortlebens nehmen. Wo sich die Visitatio mit dem Surrexit-Jubel begnügt, da imaginiert das Spiel den Auferstandenen in der körperlichen Präsenz eines machtvollen Besiegers seines satanischen Widerparts" (348f.). - Warning verfolgt die Option für das Imaginäre des Spiels gegen das Symbolische der Liturgie im weiteren, nunmehr Gedanken von Castoriadis und Georges Bataille aufnehmend, an den Passionsspielen: In jedem Meßopfer werde „mit dem Anruf des agnus Dei dieser Sündenbock gleichsam zitiert und - im heilsgeschichtlichen Verständnis des Opfers als einer Perpetuierung der einmaligen Selbstopferung Gottes - zugleich negiert. Das Spiel hebt eben diese Negation auf, und hier verstellt jeder Hinweis auf eine symbolische Deckung der Folterungsdetails die Einsicht in das Entscheidende: daß sich nämlich in der exzessiven Auswertung der biblischen Vorgaben eine Option nicht für das Symbolische, sondern für das Imaginäre manifestiert" (352). Es geht um die Exzessivität, die Überschüssigkeit, die Maßlosigkeit der Grausamkeiten, in denen das Spiel „in seinem Bedürfnis nach imaginärer Elaboration" un-
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erschöpflich sei. Beim „theologisch unkundigen Massenpublikum" (352) könne eine „reflexive oder gar so etwas wie ästhetische Distanznahme gewiß nicht vorausgesetzt werden" (353), zumal die Kommentarebene eines heilsgeschichtlichen Verständnisses weitgehend ausgeschaltet werde oder - wie in den Fronleichnamspielen - die Drastik der Kreuzigung nicht nur unterbleibe, sondern auf die Konstatierung eines heilsgeschichtlichen Ereignisses reduziert werde. Die „mitinszenierte Gewalt" am geschundenen Körper sei hier der „Regreß, die imaginäre Reaktualisierung eines archaischen Opferrituals" (358). Walter Haug knüpft in seinem Beitrag im Anschluß an eine Skizze der Paradigmen, die die Forschungsgeschichte zum geistlichen Spiel bis hin zur Auseinandersetzung zwischen Friedrich Ohly und Rainer Warning geleitet haben, an den Gedanken an, den Warning jetzt erneut herausstellt, an die These vom „theologisch nur zugelassene[n] Böse[n], das das mittelalterliche Imaginäre in einer Weise [beherrsche], die einem fortlebenden Dualismus gleichkommt" (348). Zwar sei, wie Ohly demgegenüber herausgestellt habe, „der Teufel theologisch immer präsent" (367), aber in der „Virulenz, mit der er sich im geistlichen Drama in Szene setze", zeige sich „eine neue Qualität in der Erfahrung des Bösen" (367f.). Das Böse verlange „im Spiel seinen Spielraum, und in dem Maße, in dem man ihm das zugesteht, in dem Maße öffnet sich die Auffuhrung zu einem quasi-dualistischen Antagonismus" (369). Der Einzelne kann aber statt einer punktuellen Entscheidung für Himmel oder Hölle, wie sie narrative Genres oder das kommemorative Ritual der Messe einfordern, im Spiel in einen Prozeß eintreten, „der entlang einem Stationenweg verläuft" (369). Der „Durchgang durch das Spiel der Bösen und des Bösen" ist „der Heilsweg, den der einzelne Gläubige immer neu zu gehen hat". Dieses „emotionale Mitgehen mit dem leidenden und siegenden Heiland" gehöre „in den Rahmen jener großen religiösen Bewegung", die vom 12. Jahrhundert an die subjektive Seite der Gotteserfahrung in bisher ungewohntem Maße herausgestellt hat. In diesem Rahmen sei auch „die Entstehung des geistlichen Spiels und seine unvergleichliche Entfaltung im Spätmittelalter" zu sehen (371). „Das vom 12. Jahrhundert an sich verstärkende Differenzbewußtsein, das Gott abrückt, droht die Welt heillos zu machen. Anders der Mythos: er sichert die ewige Wiederkehr des Guten wie des Bösen; er bewältigt das Negative objektiv im immer neuen rituellen Spiel zwischen den antagonistischen Mächten. Das geistliche Spiel öffnet sich demgegenüber zusammen mit den parallelen Formen subjektiv-religiöser Erfahrung einer abgründigen, radikalen Bedrohung in der Möglichkeit ewiger Verdammnis. Sie durchbricht alles mythische Denken" (372). Damit gibt Haug auf die Frage nach der forschungsgeschichtlichen Relevanz von Warnings Fragestellung zwei Antworten: Zum einen könne die These, daß „im mittelalterlichen Drama ein an sich erledigter fundamentaler Konflikt neu als Prozeß ausgetragen wird und daß sich darin ein kulturgeschichtlicher Umbruch spiegelt", gegen Ohly „doch fruchtbar gemacht werden, indem man sie auf die Subjektivierung des religiösen Bewußtseins umdeutet" (372). Zum andern: die Frage nach Struktur und Funktion des geistlichen Spiels sei eine nach dem Problem, auf das das geistliche Spiel eine Antwort zu geben suche. Wenn man meine, diese sei in einer „bloßen Veranschaulichung und Didaktisierung der Heilswahrheiten zu sehen", so sei der These Warnings von einer „Gegenbewegung" zunächst einmal Recht zu geben. „Wenn er freilich meinte, sie in einer Wiederkehr mythisch-paganer Positionen zu fassen, die von der offiziellen Theologie ausgegrenzt, ja, verdrängt worden seien, so hat er sich durch das kulturhistorische Modell, dem er folgte, auf einen Abweg fuhren lassen" (372). Die Ursache sei wohl eher in einem in Opposition zu den dominierenden platonistischen Tendenzen stehenden Rückgriff auf
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das Evangelium im Sinne einer Kreuzestheologie zu sehen, in den Wegen der Erfahrung des Bösen und des leidenden Christus. „Das geistliche Schauspiel ist eine Ausformulierung dieser Opposition unter anderen." Insofern ist auch das Böse „zugelassen". Aber das „Zugeständnis das man ihm im Lachen" mache, impliziere „keinen Dualismus im paganen Sinn. Vielmehr spiegelt sich darin eine neue, polar gespannte, subjektive Gotteserfahrung, die sich einer Harmonisierung verweigert" (372). Haug ermuntert dazu, „Warnings Denkwende, die im Prinzip von Ohlys Invektive nicht betroffen ist, als Chance für einen Neuansatz zu nehmen, wobei zugleich jene Elemente aus seinen Thesen auszuscheiden wären, die der Kritik nicht standhalten." Es ist zu hoffen, daß die Diskussion, die sich in den Beiträgen dieses Bandes spiegelt, dieser Erwartung gerecht wird.
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Lateinisches Schauspiel des Spätmittelalters?
Angeregt zur Wahl dieses Themas wurde ich durch meine Vorarbeiten zu einem Abriß der lateinischen Literatur im späten Mittelalter. Das lateinische Schrifttum dieser Epoche ist, wie bekannt, vom Umfang her gewaltig. Es umfaßt Riesenwerke philosophischen und theologischen Inhalts, eine uferlose Predigtliteratur, eine kaum zu bewältigende Masse an juristischem und medizinischem Fachschrifttum u.s.w., aber man stößt höchst selten auf Dichtung und kaum je auf lateinische Schauspiele. Da stellt man sich denn die Frage: Gab es nichts oder wissen wir nur nichts? Die literaturwissenschaftlichen Handbücher geizen mit Auskünften: Einen Manitius IV gibt es bekanntlich nicht; Gustav Gröber widmet dem Drama - und zwar dem gesamten mittellateinischen Drama - gerade mal fünf Seiten, die letzten fünf seines 350seitigen Überblicks;1 der jüngste von Walter Lipphardt2 aufgeführte ,Ludus paschalis' ist der von Tours aus dem 13. Jahrhundert;3 Karl Young4 verzeichnet ein im 15. Jahrhundert in ein Ordinarium der Kathedrale von Rouen eingetragenes ,Festum asinorum',5 das jedoch mit Sicherheit älter ist.6 An eigentlichen Spielen, die in Handschriften des 14. Jahrhunderts überliefert sind, kennt Young außer dem eben genannten ,Festum asinorum' nur noch (aus derselben Handschrift Rouen 384) ein ,Officium pastorum' und ein ,Officium trium regum',7 die ins 13. Jahrhundert zurückreichen,8 ferner das gleichfalls auf ältere Vorstufen zurückweisende ,Moosburger Himmelfahrtsspiel'9 sowie die eigenartige ,Praesentatio Mariae' des Philippe de Maizieres.10 Wilhelm
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Gustav Gröber, Übersicht über die lateinische Litteratur von der Mitte des VI. Jahrhunderts bis zur Mitte des XIV. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Grundriß der romanischen Philologie, Bd. 2, Abtlg. 1, Straßburg 1902, erg. Nachdruck München 1963, S. 97-432, s. hier das Kapitel „Dramatische Dichtung", S. 4 2 3 ^ 2 7 . 2 Walter Lipphardt, Lateinische Osterfeiern und Osterspiele, 9 Bde, Berlin, New York 1975-1990 (Ausgaben deutscher Literatur des 15. - 1 8 . Jahrhunderts, Reihe Drama 5). 3 Lipphardt (Anm. 2), Nr. 824. Lipphardt nimmt jedoch (Bd. 8, S. 809) Textentstehung im 12. Jahrhundert an. - Das Osterspiel von Origny, (1315-17; Lipphardt Nr. 825) ist mischsprachig; die Spiele aus Egmont (um 1491; Lipphardt Nr. 827) und Delft (1496; Lipphardt Nr. 828) sind späte Abschriften eines hochmittelalterlichen Spieltexts. 4 Karl Young, The Drama of the Medieval Church, 2 Bde, London 1933, Nachdruck Oxford 1962. 5 Rouen, Bibl. de la ville, Ms. 382 fol. 31 v -33 r ; Young (Anm. 4), Bd. 2, S. 154-171. 6 Der Text ist nahezu identisch mit Rouen, Bibl. de la ville, Ms. 384 fol. 3 3 - 3 5 r , saec. XIV; Young (Anm. 4), Bd. 2, S. 154-171. 7 Fol. 2 2 - 2 3 r , 38 v -39 v ; Young (Anm. 4), Bd. 2, S. 14-16, 43-59. 8 Vgl. die Parallelüberlieferung in einem ebenfalls aus Rouen stammenden Graduale des 13. Jahrhunderts: Paris, BN, lat. 904 fol. 1 1 - 1 4 r , 28 v -30 r ; Young (Anm. 4), Bd. 2, S. 16-20, 435. 9 München, BSB, clm 9469 fol. 72 v -73 v ; Young (Anm. 4), Bd. 1, S. 4 8 3 - 4 8 9 . 10 Young (Anm. 4) Bd. 2, S. 225-245.
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Creizenach11 schließt seine Berichterstattung über das lateinische Spiel mit den Stücken des Codex Buranus; Heinz Kindermann12 ist insgesamt sehr knapp; Eduard Hartl13 und Rolf Bergmann14 konzentrieren sich auf das deutschsprachige Drama. Natürlich wird überall erwähnt, daß die lateinischen Osterfeiern der verschiedenen Stufen noch bis in die Neuzeit hinein Eingang in die liturgischen Bücher fanden und auch weiterhin einen Bestandteil der Liturgie bildeten15 - die Listen Lipphardts belegen dies eindrucksvoll - aber die aus Texten und Melodien der Liturgie zusammengestellten und in den Kult eingebundenen Officia/Ordines sind nicht Gegenstand unserer Fragestellung, die lautet: Wurden auch im späten Mittelalter noch lateinische Spiele sensu proprio, also Spiele von der Art der Benediktbeurer Spiele oder des ,Ludus de Antichristo', produziert und, wenn nicht, warum? Die erste Frage kann nicht abschließend, aber doch mit hohem Annäherungsgrad negativ beantwortet werden. Zwar müßten, um sicher zu gehen, nicht nur sämtliche gedruckten Handschriftenkataloge durchmustert, sondern (wegen der oft ungenauen Register) außerdem die Handschriften selbst in Augenschein genommen werden - ein unmögliches Unterfangen - , doch sprechen gute Gründe für die Annahme, daß das Schweigen der Handbücher nicht auf mangelnder Kenntnis beruht, sondern den Tatbestand der Nichtexistenz lateinischer dramatischer Dichtung widerspiegelt. Der gewichtigste Grund scheint mir in der Verflechtung des mittelalterlichen lateinischen Schauspiels mit dem volkssprachigen und in seiner Verbindung zur mittelalterlichen Musik zu liegen: In Anbetracht der guten Forschungslage bezüglich der volkssprachigen und der musikalischen Überlieferung des Mittelalters ist die Wahrscheinlichkeit gering, daß von den Mittellateinern übersehene, bedeutende lateinische Schauspiele des Spätmittelalters nicht von der volkssprachigen Mediävistik und der Musikwissenschaft entdeckt worden wären. Wenn wir aber, und sei es auch nur als Arbeitshypothese, akzeptieren, daß nach ca. 1250 keine großen Spiele mehr geschaffen wurden,16 stellt sich unausweichlich die Frage nach dem Warum. Warum bricht in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts etwas ab, was im 1 1 . - 1 2 . Jahrhundert so kühn begonnen hatte? Denn es war ein kühner Schritt gewesen, aus der sicheren Geborgenheit der kultischen Feier mit ihren festgelegten liturgischen Texten und Melodien herauszutreten, um zum Zweck dramaturgischer Einheit die biblische Vorlage zu modifizieren, ganze Szenen neu zu erfinden, eigene Verse und Melodien einzubringen, Figuren aus der apokryphen Legende auftreten zu lassen und statt liturgischer Gewandung Kostüme zu verwenden, d. h. die Repräsentanten der heiligen Personen in
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Wilhelm Creizenach, Geschichte des neueren Dramas, 2. verm. u. verb. Aufl., Bd. 1, Halle 1911, S. 83ff. Heinz Kindermann, Theatergeschichte Europas, Bd. 1, Salzburg 1957. Eduard Hartl, Das Drama des Mittelalters, bearb. v. F. Weber, in: Deutsche Philologie im Aufriß, 2., Überarb. Aufl., Bd. 2, Berlin 1960, Sp. 1949-1996. Rolf Bergmann, Spiele, Mittelalterliche geistliche, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 2. Aufl., Bd. 4, 1984, S. 64-100. Vgl. Hansjürgen Linke, Osterfeiern I—II, in: 2 VL Bd. 7, 1989, 92-101, hier Sp. 97: „Die Überlieferung der nicht ganz 700 Ofsterfeiern] reicht vom späten 10. bis zum 18. Jahrhundert (mit größter Dichte aller drei Typen im 13.-15. Jahrhundert)". Zu dem in Anm. 5 genannten ,Festum asinorum', das noch dem 14. Jahrhundert zugehören dürfte, s. u. Anm. 25.
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Schauspiel des
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Schauspieler zu verwandeln.17 Als besonders kühner Schritt muß hierbei der Übergang von der Osterfeier zum Osterspiel betrachtet worden sein, wie sich an seiner späten Entstehung (um 1150) und der Seltenheit seiner Vertreter ablesen läßt. Wir kennen nur die Bruchstücke zweier katalanischer Osterspiele, des Spiels von Gerona (saec. XIII/XIV; Lipphardt Nr. 822) und von Vieh (saec. XII2;18 Lipphardt Nr. 823), die wohl auf ein aquitanisches Spiel zurückgehen,19 das Spiel von Tours (Lipphardt Nr. 824),20 die Fragmente eines niederländischen und die beiden Vertreter eines deutschen Osterspiels.21 So bedeutend diese Texte auch sind, sie sind ausgesprochen begrenzt nach ihrer Anzahl, ihrer geographischen Verbreitung und ihrer zeitlichen Erstreckung. Was nachher kommt, kann nicht mehr als ,Ludus paschalis' im eigentlichen Sinn angesprochen werden. Zwar gibt es noch späte , Spiele', nämlich die normannische Gruppe der .Visitatio III'-Stufe (Lipphardt Nrr. 770-774, 776-778), die Vertreter derselben Stufe aus Deutschland und den angrenzenden Gebieten (Lipphardt Nrr. 780f., 785-789, 792-796) sowie die Prager Spiele (Lipphardt Nrr. 799-806), doch handelt es sich bei ihnen um liturgische Feiern mit nichtliturgischen Strophenversen und - ganz selten - mit nichtliturgischer ,Kostümierung'. 22 Die Prager Spiele des 14. Jahrhunderts stellen eine Reduktionsstufe des ausgebauten Spiels von Klosterneuburg/Benediktbeuern dar; andere, wie die beiden Spiele von Nottuln (um 1420 und um 1500; Lipphardt Nr. 784f.) sind am ehesten als Anpassung der alten Feier an den veränderten, schaulustigeren Publikumsgeschmack zu deuten. Das Bild ändert sich auch nicht mit den drei ,Officia peregrini' aus Rouen (saec. XIV; Lipphardt Nrr. 813-815) - auch sie sind nichts anderes als bescheidene liturgische Feiern. Bezogen auf unser Thema bedeutet dies: Es gibt kein neues lateinisches Osterspiel nach der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, ebenso wie es nach dieser Zeit kein rein lateinisches Passionsspiel gibt - es gibt überhaupt nur ein einziges rein lateinisches Passionsspiel, die ,Kleine Benediktbeurer Passion', CB 13*, die in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts in den Codex Buranus eingetragen wurde, aber wohl etwas früher entstanden ist. Ich lasse für den Augenblick die mischsprachigen Passionsspiele beiseite und wende mich den übrigen lateinischen Spielen zu. Vor allem bei den Weihnachtsspielen stoßen wir 17
Vgl. Hansjürgen Linke, Drama und Theater, in: Ingeborg Glier (Hg.), Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. 1250-1370. 2. Teil. Reimpaargedichte, Drama, Prosa, München 1987 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart III/2), S. 153-233, 471 bis 485, hier v. a. S. 153-165. 18 Gewöhnlich wird es saec. XII ,n datiert; es ist jedoch nach Lipphardt (Anm. 2), Bd. 6, S. 456 in den jüngeren Teil von Vieh, Museo Bibl. Episcopal, Ms. 105 (saec. XII 2 ), eingetragen. 19 Die Melodien des Osterspiels von Vieh sind aquitanisch notiert, während die übrigen Teile des Kodex katalanische Notation aufweisen. Lipphardt (Anm. 2), Bd. 6, S. 456. 20 Vgl. Anm. 3. 21 Lipphardt (Anm. 2), Bd. 8, S. 829: „So wie es nur e i η großes holländisches Osterpiel (in drei Versionen) gibt, so auch nur e i n e n deutschen Ludus, den der Augustiner-Chorherren in Österreich - in den beiden Versionen von Klostemeuburg und Seckau aus dem Anfang des 13. Jhds." - Die niederländische Gruppe besteht aus den Spielfragmenten von Maastricht (Lipphardt Nr. 826, um 1200; dazu Hansjürgen Linke, ,Maastrichter Osterspiel', in: 2 VL Bd. 5, 1985, Sp. 1105-1108), Egmont (Lipphardt Nr. 827, um 1491) und Delft (Lipphardt Nr. 828, 1496). Zum Klostemeuburger Spiel vgl. Hansjürgen Linke, .Klosterneuburger Osterspiel', in: 2 VL Bd. 4, 1983, Sp. 1259-1263. Unter ,Seckauer Spiel' ist die Nr. 15* der ,Carmina Burana' (Lipphardt Nr. 830; Young [Anm. 4], Bd. 1, S. 432-438, 686f.) zu verstehen. 22 Vgl. dazu Linke (Anm. 17), S. 160.
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auf eine große Anzahl von Stücken mit einer differenzierten Thematik. Sie stellen den Zuschauern die Verkündigung an Maria, die Weissagungen der Propheten, die Hirten von Bethlehem, die Reise und die Anbetung der Könige, Herodes und den Kindermord von Bethlehem sowie die Flucht nach Ägypten vor Augen. Unsere Frage: Wurden Spiele dieser Art noch im Spätmittelalter neu geschaffen? Ein Blick in Young Bd. 2 zeigt, daß die Mehrzahl der vollausgebauten personen-, gesten- und dialogreichen Dramen noch dem \ \.l\2. Jahrhundert angehören. Das 13. Jahrhundert bietet ein paar weitere Spiele, aber wir wissen nicht, ob diese wirklich erst im 13. Jahrhundert verfaßt wurden, und wir wissen nicht, wie viele noch gespielt wurden.23 Manches erweckt Zweifel. So ist ζ. B. die Reimtechnik der ,Conversio s. Pauli' aus Fleury (enthalten in der Hs. Orleans, Bibl. Municip. 201, 13. Jahrhundert) so altertümlich, daß man sie eher ins frühe 12. Jahrhundert datieren möchte. Um gleich bei dieser Handschrift zu bleiben, die - neben dem Buranus - den reichsten Bestand an Spielen des 13. Jahrhunderts aufweist: Man darf annehmen, daß es sich hier nicht um Spielvorlagen, sondern um eine literarisch orientierte Sammlung von Lesetexten handelt. Für das 14. bisl5. Jahrhundert bleibt nicht mehr übrig als die o. S. 1 genannten Stücke aus Rouen (,Festum asinorum', .Officium pastorum', ,Officium trium regum'), das ,Moosburger Himmelfahrtsspiel' und Philippe de Maizieres ,Darstellung Mariä im Tempel'. Wie ist dieser Befund zu deuten, der auch durch die Entdeckung eines versprengten, nachweislich erst nach 1300 geschaffenen lateinischen Spiels nicht in Frage gestellt würde? Gewiß falsch wäre die Erklärung, die Kenntnis der lateinischen Sprache habe im späten Mittelalter nachgelassen. Das Gegenteil ist der Fall. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts überzieht ein dichtes Netz von Schulen ganz Deutschland, Schulen, in denen Lesen und Schreiben anhand des Lateins erlernt wird, so daß ein beträchtlicher Teil der Laienbevölkerung wenigstens rudimentäre Lateinkenntnisse besaß, die wohl ebenso für den Genuß eines gesungenen Spiels ausgereicht hätten, wie die Italienischkenntnisse unserer Zeitgenossen für den Genuß einer Mozartoper in italienischer Sprache ausreichen. Ferner wäre es unrichtig zu vermuten, daß der Klerus die Herstellung von Spieltexten generell aus der Hand gegeben hätte. Wie die wenigen Nachrichten über Spielautoren wie Arnold Immessen, Dietrich Schernberg, Matthias Gundelfingen24 v. a. aber die lateinischen Regieanweisungen zeigen, waren bis zum Ende des Mittelalters Geistliche als Autoren und als Spielleiter deutschsprachiger Aufführungen tätig. Warum dann keine lateinischen Spiele? Ich versuche eine hypothetische und zu diskutierende Erklärung. Sie lautet ganz grob: Dem lateinischen Spiel fehlte das Publikum. Anders ausgedrückt: Der Klerus dichtet und spielt nicht für sich selbst, sondern nur für das Volk.25 Die Geistlichkeit feiert weiterhin das Ostergeheimnis in der Form der paraliturgischen Visitatio, feiert weiterhin ein schlichtes 23
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Vgl. Linke (Anm. 17), S. 204: „Aus dem 13. wie aus dem 14. Jahrhundert kennen wir [...] nur noch einige Spielnachrichten." Vgl. Brian Murdoch, Immessen, Arnold, in: 2 VL Bd. 4, 1983, Sp. 366-368; Hansjürgen Linke, Schernberg, Dietrich, in: 2 VL Bd. 8, 1992, Sp. 647-651; Adolf Reinle, Gundelfingen Mathias, in: 2 VLBd. 3, 1981, Sp. 310-312. Dem widerspricht auch nicht die bis zum Ende des Mittelalters andauernde Beliebtheit des lateinischen ,Festum asinorum', von der zahlreiche Spielberichte zeugen: Ε. K. Chambers, The Mediaeval Stage, 2 Bde, Oxford 1903, hier Bd. 1, S. 274-335. Als Schulspiele sind die Texte selbstverständlich in lateinischer Sprache abgefaßt, aber das Zielpublikum ist eben nicht der Klerus, sondern die Schülerschaft, f ü r die die geistlichen Magistri die Spiele verfassen und inszenieren.
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Schauspiel des
Spätmittelalters?
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Officium pastorum, ein Officium stelle oder ein Officium prophetarum als Akt der Devotio, aber er lehnt für sich das die Sinne, die Neugier, das Sentiment befriedigende spectaculum ab. Grund hierfür ist die in allen Bereichen zu beobachtende Respiritualisierung des Spätmittelalters nach dem Einbruch von Weltlichkeit, von ,Augenlust, Fleischeslust und Hoffart des Lebens" im 11./12. Jahrhundert. Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß die großen lateinischen Spiele und die (mischsprachige) ,Große Passion' CB 15* im Codex Buranus überliefert sind, in jener einzigartigen Retrospektive einer vergangenen Zeit mit ihrem ästhetischen Anspruch und ihrer Weltneugier, ja Weltlust. Homines spirituales wie Gerhoh von Reichersberg (,De investigatione Antichristi' I 3) und Herrad von Landsberg (,Hortus deliciarum', fol. 315") hatten sich auch im 12. Jahrhundert bereits gegen die Spiele ausgesprochen. Ihre Stimmen wurden übertönt von den Stimmen der wereltvröide, die sich am stärksten im 12. Jahrhundert vernehmen ließen, im 13. aber nach und nach schwächer wurden, um gegen Ende des Jahrhunderts fast ganz zu verstummen. Im Gegenzug ist eine Rückkehr des Mittelalters, vor allem der gebildeten Kleriker, zur strengeren Observanz zu beobachten. Wenn Papst Innozenz III. 1207 und 1210, dann wieder Papst Gregor IX. und verschiedene Synoden das Spiel in der Kirche verbieten, 26 dann wird hier nur kirchenamtlich sanktioniert, was um diese Zeit bereits als genereller Mentalitätsumschwung innerhalb der Geistlichkeit zu beobachten ist, auch wenn dieser Umschwung nicht überall gleichzeitig einsetzte und nicht überall in gleicher Intensität erfolgte. Im Grunde war dies freilich nichts Neues: Die Ablehnung des Theaters ist alte christliche Tradition, die von Tertullians und Novatians ,De spectaculis' angefangen über Augustins ,Confessiones' III 2 und andere Texte ins Mittelalter hineinwirkte. (Eine Liste einschlägiger Stellen ist in Mignes ,Patrologia Latina' Bd. 220, Sp. 933-938 unter der Überschrift „De illicitis voluptatibus" verzeichnet.) Diese Warnungen wurden in dem Augenblick wieder aktuell, als die fromme Feier den Schritt zum Theater vollzog. Der Kleriker als Publikum des Schauspiels war nun nicht mehr denkbar, sondern nur noch als Verfasser und Regisseur von Darstellungen, auf die der L a i e nicht mehr verzichten wollte und die - mit einiger Mühe - auch als Laienpredigten interpretierbar waren. Das Schauspiel war ein Zugeständnis an die Laien, aber gleichzeitig etwas, was sich für den Kleriker ebensowenig schickte wie Tanz und Jagd. Natürlich war im mittelalterlichen Schauspiel ein Grund weggefallen, der in patristischer Zeit zur Ablehnung des Theaters geführt hatte: die pagane Mythologie. Nicht weggefallen war dagegen der andere Grund: die verba turpia et obscena. Diese gewannen im volkssprachigen Schauspiel rasch an Boden, weil sie anscheinend ebenso unfehlbar das Gelächter des Publikums erzeugten wie Überlistungsund Übertölpelungsszenen. Genau diese Dinge sind es dann auch, die in den kirchlichen Monita aufgeführt werden: die Larven, die Teufelsmasken und Teufelsschwänze, die unanständigen Wörter und Gesten, die so sehr an die Gags der ioculatores erinnerten. Das lateinische Spiel war ein Stück weit in Richtung .Aufnahme von Welt' gegangen - ich erinnere an das Magdalenenspiel und an das Aufzugslied im sogenannten ,Ludus de rege Aegypti'; 27 auch die 26
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Vgl. Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, 2 Bde, München [usw.] 1987 (MTU 84, 85), hier Bd. 2, S. 869-876. Vgl. Hansjürgen Linke, ,Benediktbeurer Weihnachtsspiel', in: 2 VL Bd. 1, 198, Sp. 693-702.
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Fechteinlage im ,Ludus de Antichristo' könnte man dazu rechnen. Aber dann gebietet das lateinische Schauspiel sich selber Einhalt, während das volkssprachige hemmungslos in Richtung spectaculum voranstürmt. Man kann immer wieder lesen, das volkssprachige Schauspiel habe das lateinische abgelöst. Mir scheint das den Sachverhalt nicht ganz genau zu treffen; besser würde man sagen: Laienkultur und Klerikerkultur trennen sich, gehen je eigene Wege. Die Laienkultur fordert und erhält das Schau-Spiel im eigentlichen Sinn des Wortes; die Klerikerkultur gibt entweder die Presentatio sacra ganz auf oder schneidet sie zurück durch Eliminierung säkular angehauchter Szenen. 28 Aber auch dort wo - vielleicht noch im Spätmittelalter ein voll ausgebautes Spiel aufgeführt wurde, ist der Abstand zu den Neuentwicklungen im volkssprachigen Bereich unübersehbar: Lateinische Spiele wie die von Tours oder Benediktbeuern sind ganz wesentlich musikalische Ereignisse, im Grunde nichts anderes als Oratorien mit verdeutlichender Gestik. Ihre Fortsetzung ist nicht das Schauspiel, sondern die Oper, während das volkssprachige Spiel sich wirklich in Richtung Sprechtheater bewegt - mit allen Möglichkeiten und mit allen Gefährdungen, die dieses Genus in sich birgt. Der Weg, den das Volkstheater des späten Mittelalters einschlug, läßt sich möglicherweise am Aufkommen der Zote und des Teufelsulks ablesen. Ich kenne das Material zu wenig, als daß ich hier fundierte Aussagen machen könnte, und formuliere daher meine Überlegung als Frage: Gibt es eine Verbindung von Zote und burlesker Teufelsszene in dem Sinne, daß beide Elemente regelmäßig zusammen auftreten oder regelmäßig zusammen fehlen? Ist dem so, dann könnte man die These wagen, daß das Verlachen des dummen Teufels sich nicht aus mythischen Urängsten speist, sondern - ebenso wie im mittelalterlichen Schwank - aus primitiv-genüßlicher Schadenfreude am überlisteten Tölpel, daß also die kruden Teufelsszenen nicht aus theologischer, sondern aus fremder Wurzel erwachsen sind, nämlich aus derber Volksbelustigung, wie sie uns in den Fastnachtspielen entgegentritt. (Vielleicht ist es nicht von ungefähr, daß geistliche Spiele auch zur Fastnachtszeit aufgeführt wurden.) Denn wenn man nun einmal auf Biegen und Brechen von einem Schauspiel schwankhafte Einlagen erwartete (so wie Ludwig XIV. für jede Oper eine Balletteinlage forderte), dann standen im Osterspiel als Objekt des Verlachens eben nur der Teufel und der Salbenkrämer zur Verfügung. Und hatte man einmal diese Möglichkeit entdeckt, dann ließ sie sich auch auf andere Spiele übertragen, z.B. auf das Weihnachtsspiel. Ich erinnere an das bei Froning abgedruckte ,Hessische Weihnachtsspiel', das außer der Einlage Joseph und die Mägde' auch eine völlig deplazierte Teufelsszene enthält.29 Die erstgenannte Szene, in der sich Joseph und die Mägde wegen des Breileins für das Jesuskind in die Haare geraten, ist für mich einer der Gründe, weshalb ich nicht an Rainer Warnings These von der Opposition Theologie versus Spiel 30 glauben kann: Ich erkenne hier weder die Affirmation der Körperlichkeit noch die Rückkehr einer dualistischen Weltsicht, sondern schlicht die Lust an der Farce. Und was das
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Ein Musterbeispiel für diese Vorgehensweise ist die (unterschiedlich durchgeführte) Reduktion der mercator-Szene in den Prager Osterspielen. 29 Das Drama des Mittelalters. Die lateinischen Osterfeiern und ihre Entwicklung in Deutschland, hg. v. Richard Froning, Stuttgart 1891/92 (Deutsche Nationalliteratur 14), Nachdruck Darmstadt 1964, S. 902-939, hier vv. 614-701, 716-828. 30 S. u. S. 343-359 seinen Vortrag ,Auf der Suche nach dem Körper. Das Imaginäre des geistlichen Spiels'.
Lateinisches
Schauspiel des
Spätmittelalters?
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Ende von Spielen der genannten Art betrifft, so braucht man nicht das Tridentinum zu bemühen: Es genügt hierfür die Rückkehr religiöser gravitas mit der Reformation und die Rückkehr des guten Geschmacks mit dem Humanismus. Kirchliche Verbote werden von der Laienwelt nur dann akzeptiert, wenn sie mit dem eigenen Lebensgefühl und der eigenen Ethik übereinstimmen. Das Publikum des 15. Jahrhunderts war noch primitiv genug, auch die derbsten Szenen zu goutieren, und die Spiele primitiv genug, um dieses Verlangen zu befriedigen. Der verlachte Teufel bot sich als bevorzugtes Objekt an, aber es mußte nicht unbedingt der geprellte Teufel sein. Von daher bin ich auch ein wenig skeptisch, ob Hansjürgen Linke nicht den ethischen Standard des Publikums zu hoch ansetzt, wenn er sagt, die Lacher wären über ihr Lachen erschrocken. 31 Ich erkenne in den Lachern das gleiche schaulustige und mitleidlose Publikum, das sich zu den Nürnberger Fastnachtspielen - und zu den öffentlichen Hinrichtungen drängte. Eine Bestätigung dieser Sichtweise scheinen mir die mischsprachigen Osterspiele zu liefern. Linke erklärt sie völlig überzeugend als „das Produkt des Reformstrebens kirchlicher Kreise einer strengeren Observanz, die das geistliche Spiel, nachdem es hinaus auf den Markt gezogen war und sich dort (zumindest in ihren Augen) als Theater zu verselbständigen drohte, wieder in die Kirche zurückholen und wieder kirchlich machen wollten". 32 Das Latein wurde in diesen Spielen des 14. und vor allem des 15. Jahrhunderts nicht gerade als Zuchtrute hervorgeholt, aber doch als Mittel der Domestizierung von volkssprachiger Ungebärdigkeit eingesetzt, als signum gravitatis in Opposition zu Jux und Firlefanz. So stellten diese Spiele einen Kompromiß dar: Sie waren zum einen eine Konzession an die Sehgewohnheiten des laikalen Publikums und zum andern ein Versuch, dieses zur Ernsthaftigkeit des sakralen Geschehens zurückzufuhren. In den mischsprachigen Passionsspielen ist die Stellung des Lateins etwas anders. Diese Spiele gehen zeitlich und entwicklungsmäßig den rein volkssprachigen voraus. In ihnen ist der Einschluß des volkssprachigen Elements die Konzession - eines Elements, das im Laufe der Zeit ausgeweitet werden konnte. Aber auch hier scheint die Seriosität des Lateins das Burleske gehemmt zu haben. Wenn wir etwa die Teufelsszenen im ,Wiener Passionsspiel' betrachten, so fällt in allen drei Szenen (Engelsturz - Paradiesspiel - Ständegericht) die theologische Ernsthaftigkeit auf: kein Gelächter über den dummen, geprellten Teufel, vielmehr bildhafte Vergegenwärtigung des Kampfes zwischen Gut und Böse und das VorAugen-Stellen der Entscheidung, die jeder Mensch auch nach der Erlösungstat Christi zu fällen hat. Ich fasse meine Überlegungen zu Thesen zusammen. 1. Wie Visitatio I, II oder III einander nicht in der Art biologischer Evolutionsstufen notwendig folgen und ablösen, 33 ist auch das Einstellen lateinischer Spielproduktion im 31
Linke (Anm. 17), S. 179. Linke (Anm. 17), S. 183. 33 Ο. B. Hardison, Christian Rite and Christian Drama in the Middle Ages, Baltimore 1965; Helmut de Boor, Die Textgeschichte der lateinischen Osterfeiern, Tübingen 1967 (Hermaea N. F. 22). - In diesem Sinne halte auch ich die bis hin zu Young vertretene .Evolutionstheorie' für falsch, glaube jedoch, daß gegenwärtig das Pendel zu heftig in die andere Richtung ausschlägt. Meines Erachtens sieht die Evolutionstheorie richtig, daß einfache und komplexe Formen nicht gleichzeitig da waren, sondern daß die komplexen Formen nacheinander durch Anlagerung von Elementen entstanden sind. Daß Visitatio II handschriftlich früher bezeugt ist als Visitatio I, ist wohl 32
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Benedikt Konrad
Vollmann
späten Mittelalter nicht ein notwendiger Vorgang im Sinne eines biologischen Absterbens, sondern die Folge eines bewußten Verzichts, der in einer veränderten Einstellung des Klerus zum Spiel seinen Grund hat. Das volkssprachige geistliche Schauspiel fuhrt zum einen in der Thematik (Kirchenjahr) und in der Verwendung von (übersetzten) lateinischen Versatzstücken das lateinische Drama fort, bringt jedoch zum andern Elemente aus der Volkskultur hinzu, wobei die Mischungsverhältnisse stark variieren können. Das volkssprachige Schauspiel dokumentiert das Auseinandertreten von laikaler und klerikaler Kultur im Spätmittelalter, ein Auseinandertreten, das wir auch anderweitig beobachten können, etwa in der Entwicklung der Legende: hier Festhalten an der geistlich geprägten Tradition - dort phantasievoll-phantastische Umformungen. Teufel ist nicht gleich Teufel. Der theologische Teufel ist der gestürzte Engel, der dem Menschen das Heil mißgönnt; er ist ein gefährlicher, böser Feind, der aber mit Gottes Gnade besiegt werden kann. Der Teufel des volkssprachigen Spiels entspricht zwar im Prinzip ebendieser Konzeption, doch präsentiert er sich hier durch Kostüm und Gestik, durch Sprache und innerhöllische Konfrontationen so, daß das Publikum zum Lachen gereizt wird. Ob mit dem Lachen eine mythische Urangst überwunden werden soll oder ob das Lachen nichts weiter ist als die Reaktion auf einen derben Spaß, kann nicht a priori entschieden werden, sondern ist von Fall zu Fall aufgrund eingehender Textanalyse abzuklären.
Ich habe viele Worte über etwas verloren, von dem ich sagte, daß es überhaupt nicht existierte. Aber auch das Nichtexistierende zu bedenken, hilft bisweilen, das Existierende zu begreifen.
Überlieferungszufall, beweist jedoch, daß die Ausbildung von Stufe II sich zeitlich ganz eng an Stufe I angeschlossen haben muß.
Bart Ramakers
Das niederländische Schauspiel des Mittelalters und der Rederijker-Zeit Ein Überblick
Vorbemerkung Dieser Beitrag war der Vorentwurf einer Diskussionsgrundlage für eine Arbeitsgruppe niederländischer und flämischer Fachleute, die sich im Herbst 1999 an der Universität Leiden intensiv mit dem niederländischen Schauspiel des Mittelalters und der RederijkerZeit auseinandergesetzt hat. Der Autor wurde gebeten, die Arbeitsgruppe mit vorzubereiten und zu leiten.1 Sie war die siebte in einer Reihe sogenannter Themengruppen, die im Rahmen des NLCM-Projekts in Leiden veranstaltet wurden.2 Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe werden in einem thematischen Sammelband publiziert.3
Ausgangspunkte Der Themenbereich Schauspiel wurde in siebzehn Einzelthemen gegliedert. Die Einzelthemen wurden so formuliert, daß sie den beiden Ausgangspunkten entgegenkamen, die den Leitern der Arbeitsgruppe für die Behandlung des Themas vor Augen standen: zum einen die Erforschung des Schauspiels in seinem historischen Kontext und zum anderen die Erforschung des Schauspiels als dreidimensionales Medium, d. h. als Theater. Ich werde diese Ausgangspunkte unter anderem anhand der Einzelthemen im Laufe meines Beitrags näher
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Koorganisator war Professor Hans van Dijk (Universität Groningen). Das NLCM-Projekt (NLCM: Nederlandse Literatuur en Cultuur in de Middeleeuwen, deutsch: Niederländische Literatur und Kultur im Mittelalter) wurde von Professor Frits van Oostrom (Universität Leiden) geleitet. Ziel des Projekts war es, mittelniederländische Texte vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Kultur zu erforschen, und sie in den Kontext von Faktoren wie Zeit, Ort und Funktion zu stellen. Bei einem Großteil der Forschungsarbeiten, die im Rahmen dieses Projekts durchgeführt wurden, handelte es sich um individuelle Dissertationen oder Graduiertenvorhaben mit einem eng abgegrenzten Themenbereich. Die Arbeitsgruppen richteten sich hingegen eher auf breit-gefächerte Genres und Themenkomplexe. Zwei frühere Arbeitsgruppen befaßten sich mit den Gattungen Lyrik und Epik. Zudem gab es Arbeitsgruppen zu den Themenbereichen städtische Literatur, geistliche Prosa, Literatur und Laienethik sowie volkssprachige Literatur und Latinitas. Für diesen Sammelband schrieb jeder Teilnehmer einen Beitrag und die Arbeitsgruppenleitung die Einfuhrung: Hans van Dijk, Bart Ramakers u. a., Spei en spektakel. Middeleeuws toneel in de Lage Landen, Amsterdam 2001 (Nederlandse literatuur en cultuur in de Middeleeuwen 23).
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Bart
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erläutern. Auf diese Weise erhalten Sie einen Überblick über Forschungsstand und Perspektive des niederländischen Schauspiels des Mittelalters und der Rederijker-Zeit.4 Der erste Ausgangspunkt, das Schauspiel in seinem Kontext, steht mit der kontextuellen Herangehensweise im Zusammenhang, die innerhalb des NLCM-Projekts gehandhabt wird. Der Begriff Kontext ist im Falle des Schauspiels weit gesteckt. Er umfaßt zum einen den literarischen Kontext, d. h. die Manuskripte, in denen die Schauspiele überliefert worden sind, die Typen, zu denen sie gehören, und das Oeuvre eines Verfassers. Zum anderen meinen wir damit den Aufführungskontext, d. h. den Anlaß für die Aufführung, die Gesellschaft, die das Stück spielt, die lokalen Festbräuche sowie das, was man den thematischen Rahmen nennen könnte: also zeitgenössische Theologie, Frömmigkeit und Ethik sowie soziale und politische Auffassungen. Der weit gefaßte kontextuelle Ansatz liegt zum Teil auch in der spärlichen Überlieferung mittelniederländischer Schauspieltexte begründet. Die Erforschung des deutschen Schauspiels des Mittelalters fußt meiner Wahrnehmung nach in erster Linie auf einem textuellen und philologischen Ansatz, ein Umstand, der sich aus der reichen handschriftlichen Überlieferung erklärt. Wem viele Texte zur Verfügung stehen, der kann vorwiegend textbezogen forschen. Er kann Handschriften beschreiben und Repertorien anlegen, die Filiation untersuchen, Themen und Motive analysieren und deren Verarbeitung in den diversen Texten miteinander vergleichen. Dies alles ist fur das mittelniederländische Schauspiel kaum möglich. Aus der Zeit bis 1500, das Jahr, das gemeinhin als das Ende des Mittelalters gehandhabt wird, ist lediglich eine Handvoll Schauspieltexte und -fragmente überliefert. Ein Teil gehört in die Tradition der Rederijker. Diese von Laien ins Leben gerufenen Literaturgesellschaften schlossen sich in einigen südniederländischen Städten bereits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in den meisten anderen Städten jedoch erst nach 1450 zu sogenannten ,Rederijker-Kammern' zusammen.5 Der größte Teil der Rederijker-Dramen - knapp 600 an der Zahl - ist in Handschriften und Drucken aus der zweiten Hälfte des 16. und dem Anfang des 17. Jahrhunderts
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Die aktuellste Übersicht stammt von Elsa Strietman, The Low Countries, in: Eckehard Simon (Hg.), The theatre of Medieval Europe. N e w Research in Early Drama, Cambridge 1991, S. 2 2 5 252, 2 8 4 - 2 8 8 . Im folgenden wird weitestgehend auf später publizierte Literatur verwiesen. Dabei wurde keine Vollständigkeit, sondern Repräsentativität angestrebt. D i e herangezogenen Studien bieten einen guten Zugang zu den Texten, Genres und Themenbereichen, auf die sie sich beziehen. Weiterreichende bibliographische Informationen finden sich in der BNTL, der ,Bibliografie van de Nederlandse taal- en literatuurwetenschap'. Diese kann im Internet eingesehen werden unter www.pica.nl, bei PicaOBN. Die BNTL ist über die Rubriken ,Bestanden naar onderwerp/Subject oriented databases' oder , Alfabetische lijst van alle bestanden/Alfabetic list o f all databases' zugänglich. Jacob J. Mak, D e Rederijkers, Amsterdam 1944 (Patria 34), S. 9ff.; Dirk Coigneau, 9 december 1448: Het Gentse stadsbestuur keurt de Statuten van de rederijkerskamer D e Fonteine goed. Literaire bedrijvigheid in stads- en gildeverband, in: Maria A. Schenkeveld-van der Dussen (Hg.), Nederlandse literatuur, een geschiedenis, Groningen 1993, S. 1 0 3 - 1 0 8 ; ders., 9 december 1448. De Statuten van de rederijkerskamer D e Fonteine worden officieel erkend door de stad Gent. Rechten en plichten van speiende gezellen, in: Rob L. Erenstein (Hg.), Een theatergeschiedenis der Nederlanden. Tien eeuwen drama en theater in Nederland en Viaanderen, Amsterdam 1996, S. 5 0 - 5 5 ; Bart Α. M. Ramakers, Speien en figuren. Toneelkunst en processiecultuur in Oudenaarde tussen Middeleeuwen en Moderne Tijd, Amsterdam 1996, S. 93ff.
Das niederländische
Schauspiel des
Mittelalters
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überliefert. Diese Periode wird von Mediävisten in der Regel nicht zu ihrem Forschungsgebiet gerechnet. Uns steht seit 1968 ein Repertorium des Rederijker-Dramas zur Verfügung, das global den Zeitraum zwischen 1500 und 1620 umfaßt. 6 1984 wurde dieses Repertorium noch um das Material aus der Zeit vor 1500 und jüngste Fundstücke ergänzt. 7 Das Repertorium enthält jedoch weder eine Typologie der Handschriften noch einen Überblick über deren Provenienz oder Nutzungsart. Der Großteil des Materials Rederijker-Spiele - besteht aus Sammelhandschriften und Einzelhandschriften aus dem Besitz der Rederijker-Kammern. Die meisten dienten als ,reiner' Muttertext, dessen einzelne Rollen kopiert wurden. Es gibt jedoch auch Handschriften (und natürlich Drucke), die nicht für Auffuhrungen bestimmt waren, sondern auf andere Weise eingesetzt wurden, ζ. B. als Lesetext. Aus diesem Grund wurde im Rahmen der Arbeitsgruppe eine Typologie der Spielhandschriften und -drucke angelegt. Eine solche Typologie ist vor allem für die frühen Spieltexte des 15. Jahrhunderts wichtig, die nicht aus den Rederijker-Kammern stammen.
Das Textkorpus: sprachliche und geographische Begrenzung Auf die Möglichkeiten der textuellen und kontextuellen Erforschung der späten RederijkerSpiele komme ich noch zu sprechen. Zunächst möchte ich auf das dieser Periode vorangehende Drama eingehen, das Schauspiel, dem in der Leidener Arbeitsgruppe die meiste Aufmerksamkeit gewidmet wird. In erster Linie handelt es sich um die vier Abele Speien und sechs Sotternien aus der Van-Hulthem-Handschrift, die um 1410 zusammengestellt wurde und Texte enthält, die wesentlich älter sein können, möglicherweise aus dem 14. Jahrhundert stammen. 8 Zudem sind zwei der ursprünglich sieben Bliscappen (,Freuden') von Maria erhalten geblieben. 9 Die erste wurde 1448 in Brüssel aufgeführt. Ein dritter bekannter Text ist der ,Elckerlijc' oder .Jedermann', das früheste Beispiel einer Moralität, die wir aus drei Drucken kennen. 10 Der älteste Druck stammt aus dem Jahr 1496, das Spiel ist jedoch vermutlich zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt im 15. Jahrhundert entstanden. Die Bliscappen und der ,Elckerlijc' weisen bereits Merkmale der Rederijker-Poesie und des Rederijker-Schauspiels auf. Einige andere Texte aus dem 15. Jahrhundert wurden mit Ge-
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Wim Μ. H. Hummelen, Repertorium van het rederijkersdrama 1500 - ca. 1620, Assen 1968. Hans van Dijk u. a., A survey of dutch drama before the Renaissance, Dutch crossing Nr. 22 (1984), S. 97-131. Wim van Anrooij u. Fons Μ. J. van Buuren, 's Levens felheid in een band: het handschrift-Van Hulthem, in: Herman Pleij u. a., Op belofte van profijt. Stadsliteratuur en burgermoraal in de Nederlandse letterkunde van de middeleeuwen, Amsterdam 1991 (Nederlandse Literatuur en Cultuur in de Middeleeuwen 4), S. 184-199, 388-391; Hans van Dijk u. a., Klein kapitaal uit het handschrift-Van Hulthem, Hilversum 1992 (Middeleeuwse studies en bronnen 33); Ria JansenSieben (Hg.), 's Levens felheid in een band: handschrift-Van Hulthem, Katalog Ausstellung Brüssel (Königliche Bibliothek Albert I), Brüssel 1999. Van Dijk (Anm. 7), Nr. 0 C l a - b u. 0D1; Bart Α. M. Ramakers, 5 mei 1448. Begin van de traditie van de jaarlijkse opvoering van een van de zeven Bliscappen in Brüssel. Toneel en processies in de late middeleeuwen, in: Erenstein (Anm. 5), S. 42-49. Hummelen (Anm. 6), Nr. 4.04.
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Bart Ramakers
wißheit von Rederijkern verfaßt. Es handelt sich um allegorische Spiele verschiedenster Art: ein Spiel des Brügger Rederijker Anthonis de Roovere, vier Spiele des Brüsseler Rederijker Colijn Caillieu und drei Spiele des ebenfalls in Brüssel wirkenden Jan Smeken.11 Alle Spiele stammen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Eine umfassende Spielsammlung, die hinsichtlich ihrer Gestalt und Thematik an die Tradition des 15. Jahrhunderts anknüpft, ist die mit den Spielen von Cornells Everaert aus Brügge. Es handelt sich dabei um die älteste Sammlung mit Rederijker-Spielen aus dem 16. Jahrhundert, mit Texten, die zwischen 1509 und 1534 entstanden sind.12 Des weiteren sind vom geistlichen Schauspiel vor 1500 Fragmente eines Abraham- und Sarahspiels, eines Antichristspiels aus dem 15. Jahrhundert13 sowie das im Grenzbereich des niederländischen Sprachraums geschriebene ,Maastrichter Passionsspiel' bekannt.14 Die Tradition des lateinischen liturgischen Dramas ist durch Texte und Melodien von Osterspielen vertreten, zu denen das ,Maastrichter' und das ,Egmonder Osterspiel' zählen.15 Für die Auffuhrung von liturgischen Spielen des Weihnachtsfestkreises liegen lediglich archivalische Hinweise vor.16 Mit dem ,Maastrichter Passionsspiel' und dem liturgischen Drama erreichen wir die Grenze des niederländischen Sprachraums und des volkssprachigen Schauspiels überhaupt. Das liturgische Drama will ich hier außer Betracht lassen. Aufgrund der spärlichen Überlieferung ist es zwar wenig erforscht, stellte jedoch ein eigenes Thema innerhalb der Arbeitsgruppe dar. Was wir darüber hinaus an Textmaterial besitzen, deutet auf einen Einfluß der anglo-normannischen Tradition liturgischer Spiele hin.17 Bei einer internationalen Gattung wie dieser ist ein Einfluß aus umliegenden Ländern und Gebieten fast nicht auszuschließen. Aber auch für das volkssprachige Drama, insbesondere im recht kleinen niederländischen Sprachraum, ist es naheliegend, nach Verbindungen mit dem Schauspiel in angrenzenden Regionen zu suchen. Zum Ende des Mittelalters kann man im Süden und Osten von einem kulturellen bzw. sprachlichen Kontinuum sprechen, das über die heutigen Landesgrenzen
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Hummelen (Anm. 6), Nr. 1B1 (De Roovere), 1C1, 1C2, 1D14, 4.07 (Caillieu), 1C3, 1D11, 2.28 (Smeken); Annelies van Gijsen, Liefde Kosmos en Verbeelding. Mens- en wereldbeeld in Colijn van Rijsseles Spiegel der Minnen, Groningen 1989 (Neerlandia Traiectina 30); Hue Mars en Venus tsaemen bueleerden, hg. u. übersetzt v. Hans van Dijk u. Femke Kramer, in: Martin Gosman (Hg.), Europees toneel van Middeleeuwen naar Renaissance, Groningen 1991, S. 2 2 9 303; Robert Stein, Cultuur in context. Het spei van Menych Sympel (1466) als spiegel van de Brusselse politieke verhoudingen, Bijdragen en mededelingen betreffende de geschiedenis der Nederlanden 113 (1998), S. 289-321. 12 Hummelen (Anm. 6), Nr. 1B; Wim Hüsken, ,Van Incommen en begheert men Scat noch Goet'. Comelis Everaert and the Rosary, in: Martin Gosman, Rina Walthaus (Hgg.), European Theatre 1470-1600. Traditions and transformations, Groningen 1996 (Mediaevalia Groningana 18), S. 119-130; ders., Aspects of Staging Comelis Everaert, in: Sydney Higgins (Hg.), European Medieval Drama 1997. Papers from the Second International Conference on „Aspects of European Medieval Drama", Camerino, 4 - 6 July 1997, Bd. I, Camerino 1997, S. 235-252. 13 Van Dijk (Anm. 7), Nr. 0E1 u. 0F1. 14 Rolf Bergmann, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986 (Veröffentlichungen der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften), S. 144—146 (Nr. 60). 15 Kees Vellekoop, Het Paasspel van Egmond, in Frederik W. Hugenholtz (Hg.), Floris V. - Leven, wonen en werken in Holland van het einde van de dertiende eeuw, Den Haag 1979, S. 51-70. 16 Vellekoop (Anm. 15), S. 52. 17 Vellekoop (Anm. 15), S. 59-60.
Das niederländische
Schauspiel des
Mittelalters
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hinausgeht. Mit einem Teil des französischen Sprachraums waren die niederländischen Gebiete politisch verknüpft. Überdies gab es im französischsprachigen Teil der burgundischen Erbländer sowie im Norden Frankreichs Rederijker-Kammern und ähnliche Organisationen. Die französischsprachigen Schauspielgesellschaften nahmen sogar an Wettbewerben und Festivals in niederländischen Städten teil.18 Ein Vergleich der beiden Schauspielkulturen lag daher nahe. Dabei stellten sich, was die Art der aufgeführten Spiele betrifft, eher Unterschiede als Übereinstimmungen heraus. Dasselbe gilt für die Beziehung zum Schauspiel in deutschsprachigen Gebieten, die in der Arbeitsgruppe anhand des ,Maastrichter Passionsspiels' erforscht wurde. Auch wenn eine enge sprachliche Verwandtschaft zwischen dem niederländischen und dem deutschen Sprachraum besteht, in politischer wie kultureller Hinsicht waren die Unterschiede evident. Wir verfügen über den einzigartigen, wenn auch einer unbekannten Quelle entnommenen Hinweis auf die Aufführung eines Ritterspiels in Aachen durch Diester Gesellen,19 aber für institutionalisierte Kontakte zwischen deutschen und niederländischen Gesellschaften läßt sich kein Nachweis finden. Darüber hinaus erscheint es mir aufgrund der Art und des Inhalts des Dramas unwahrscheinlich, daß der östliche Teil des niederländischen Sprachraums zusammen mit den angrenzenden deutschen Gebieten im 14. und 15. Jahrhundert eine eigenständige niederrheinische Schauspiellandschaft gebildet hat.20 Natürlich darf man Wechselwirkungen und Übereinstimmungen benachbarter Regionen voraussetzen. Diese sind jedoch ebenso zwischen dem Osten und dem Westen des niederländischen Sprachraums zu erwarten. Daher bevorzuge ich den Begriff des Kontinuums. Außerdem lassen sich im 15. Jahrhundert über die landschaftliche Einbettung hinaus mitunter plötzlich unmittelbare Verbindungen zweier weit auseinander liegender Orte feststellen, wie zum Beispiel im Falle von Brügge und Lübeck.21 Eine scharfe Trennung zwischen Ost und West vollzog sich in den Niederlanden ab dem Ende des 15. Jahrhunderts erst durch Entstehen der Rederijker-Kammern, die sich im Westen konzentrierten - in den Städten von Flandern, Brabant, Holland und Seeland. Der Osten und der Norden der Niederlande hatten an der Rederijker-Kultur kaum einen Anteil.
Kontextuelle Ansätze: Spielbelege und literarisches Leben Wie schon erwähnt, ist die textliche Überlieferung des niederländischen Schauspiels vor 1500 nicht nur zahlenmäßig gering und zeitlich stark verstreut, sie weist zudem qualitative Mängel auf, da die einzelnen Genres nicht oder nur in einigen, mitunter unvollständigen 18 19
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Eugene de Bock, Opstellen over Colijn van Rijssele en andere rederijkers, Antwerpen 1958, S. 5ff. Joris Reynaert, 14 augustus 1412. Gezellen van Diest houden een intocht te Aken en vertonen Lanseloet. Vroegst bewaarde voorbeelden van wereldlijk drama, in: Erenstein (Anm. 5), S. 36-41. Bernd Neumann, Mittelalterliches Schauspiel am Niederrhein, ZfdPh 94 (1975), Sonderheft (Mittelalterliches deutsches Drama), S. 147-194; dazu auch: Jeanette M. Hollaar u. E. W. F. van den Elzen, Het vroegste toneelleven in enkele Noord-nederlandse plaatsen, De nieuwe taalgids 73 (1980), S. 302-324; dies., Toneelleven in Deventer in de vijftiende en zestiende eeuw, De nieuwe taalgids 73 (1980), S. 412-425. Eckehard Simon, Organizing and Staging Carnival Plays in Late Medieval Lübeck. Α New Look at the Archival Record, JEGPh 92 (1993), S. 57-72.
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Bart Ramakers
Texten vertreten sind und Undeutlichkeit in bezug auf die Datierung, die geographische Einordnung und die Aufftihrungspraxis der Spiele besteht. Kurz gesagt: Die Texte selbst bieten nicht genug Anhaltspunkte, um eine Übersicht über die mittelalterliche Schauspielgeschichte in den Niederlanden zu verschaffen. Wo es an Texten mangelt, kann der Kontext Aufschluß geben. Es gibt Gründe genug, aus der Not eine Tugend zu machen und für das 15. Jahrhundert und die Zeit davor nach einer anderen Herangehensweise an die Schauspielgeschichte zu suchen. Ein erster Ansatz wäre die Sammlung und Erforschung urkundlicher und anderer Belege von Aufführungen, so wie Bernd Neumann es für das deutsche geistliche Schauspiel des Mittelalters getan hat22 oder das REED-Projekt (REED: Records of Early English Drama) in Toronto dies für alle Schauspielauffuhrungen und öffentliche Unterhaltung in England bis 1642 noch immer tut.23 Für die Niederlande haben Literaturhistoriker im vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts die vorhandenen Angaben über Schauspielauffuhrungen aus Stadtrechnungen zusammengetragen. Von einer Systematik bei der Erfassung und der anschließenden Verarbeitung dieser Daten zu einem kohärenten Überblick konnte allerdings nie gesprochen werden. Erst in jüngster Zeit ist das Wissen um die frühe Schauspielgeschichte der Niederlande aufgrund neuer Archivstudien in einzelnen Städten24 und sogar in einer ganzen Region 25 angereichert worden, und zur Zeit wird diese Arbeit für andere Städte in ähnlicher Weise fortgesetzt. 26 So entsteht Aussicht auf eine vergleichbare Quellensammlung wie die Neumanns und des REED-Projekts. Der sich größtenteils auf Archivuntersuchungen stützende Komplex einzelner Stadtstudien, die das dramatische oder literarische Leben im allgemeinen zum Gegenstand haben, kam in der Arbeitsgruppe in drei Einzelthemen zum Ausdruck. Dabei wurden die Städte mit den Werken eines bestimmten Verfassers, eines Textes oder einer Handschrift in Beziehung gebracht. Daß die Wahl auf die drei Städte Brüssel, Brügge und Gent fiel, ist kein Zufall. Die Rederijker-Kultur nahm ihren Anfang in den großen Städten der südlichen Niederlande. Die älteste Kammer Den Boeck (,Das Buch') wurde vermutlich bereits im Jahr 1400 in Brüssel gegründet. Kurze Zeit darauf entstand in Brügge die Kammer De Heilige Geest (,Der Heilige Geist')· Die erste Kammer in Gent, De Fonteine (,Der Brunnen'), wurde recht spät, erst 1448, ins Leben gerufen. Frühe Gründungen weisen auf ein frühes literarisches Leben hin, das sich, wie für Brüssel und Brügge belegt ist,27 nach 22
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Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, 2 Bde, München [usw.] 1987 (MTU 84, 85). Records of Early English Drama, Toronto [usw.] 1979. Ramakers (Anm. 5); Herman Brinkman, Dichten uit Liefde. Literatuur in Leiden aan het einde van de Middeleeuwen, Hilversum 1997; Johan Koppenol, Leids heelal. Het loterijspel van Jan van Hout (1596), Hilversum 1998. Fabian C. van Boheemen u. Theo C. J. van der Heijden, Met Minnen Versaemt. De Hollandse rederijkers vanaf de Middeleeuwen tot het begin van de achttiende eeuw. Bronnen en bronnenstudies, 2 Bde, Delft 1999. Von Herman Brinkman und Johan Oosterman für die Städte Gent und Brügge, im Rahmen des NLCM-Projekts an der Universität Leiden; vom Autor für die Stadt Haarlem, im Rahmen des Projekts: Rederijkers: conformisten en rebellen. Literatuur, cultuur en stedelijke netwerken (14001650) (zu deutsch: Rederijker: Konformisten und Rebellen. Literatur, Kultur und städtische Netzwerke [1400-1650]) an der Freien Universität Amsterdam. Herman Pleij, De sneeuwpoppen van 1511. Literatuur en stadscultuur tussen middeleeuwen en moderne tijd, Amsterdam 1988; Johan B. Oosterman, De gratie van het gebed. Middelnederlandse
Das niederländische
Schauspiel des
Mittelalters
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dem kulturellen Geschmack und den Vorlieben der Fürsten- und Adelshöfe richtete. Hier wurden Bücher geschrieben, gesammelt und gelesen. Genres und Themen aus der höfischen Welt wurden durch Annexion und Adaption in die bürgerliche Welt hineingetragen. Das Schauspiel in den obengenannten Städten - und dazu zähle ich auch die theatralischen Ausschmückungen in Prozessionen und Einzügen - spiegelt die kulturellen, religiösen und politischen Gedanken und Interessen der Oberschicht wider. Die wenigen Spieltexte, die erhalten sind, bildeten zusammen mit urkundlichen Angaben die Grundlage für kleine Chroniken der Schauspieltätigkeit in diesen drei Städten.
Kontextuelle Ansätze: semi- und nichtdramatische Texte Die Erforschung von Urkunden ist ein möglicher kontextueller Ansatz. Ein zweiter ist das Studium nicht zur Gattung des Dramas gehörender Texte, d. h. von Texten, die auf den ersten Blick keine oder zumindest keine deutliche Beziehung zu Drama und Theater haben. Zu dieser Gruppe zählen in erster Linie einige Prosaromane, eine literarische Form, die auch im deutschsprachigen Bereich umfassend vertreten ist. Es handelt sich dabei hauptsächlich um weltliche Fiktion, die teilweise dem ritterlichen Gedankengut entspringt und teilweise konkret in Prosa umgesetzte traditionelle Ritterliteratur ist.28 Auffallig ist, daß manche Prosaromane auch wieder gereimte Teile enthalten, Rederijker-Verse, sogar Dialoge in Reimform, die durch Sprecherangaben untergliedert sind, genauso wie in originalen Schauspieltexten. 29 Das bekannteste Beispiel dafür ist ,Mariken van Nieumeghen'. 30 Die Literaturgeschichte ist lange Zeit davon ausgegangen, daß es sich bei diesen Prosaromanen um Bearbeitungen richtiger Spiele handelte, die aus dem 15. Jahrhundert stammen müßten, da die meisten Prosaromane in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erschienen sind. Angesichts der vermuteten Beziehung zum Schauspiel standen die Prosaromane als eigenständiges Thema auf dem Programm der Arbeitsgruppe. Bei einigen Prosaromanen kann ein dramatischer Ursprung tatsächlich vorausgesetzt werden. Bei anderen allerdings, wie auch bei ,Mariken van Nieumeghen', lassen die Anzeichen vermuten, daß die Passagen in Reimform und auch die dramatischen Dialoge nicht Ausgangspunkt, sondern Ergebnis der Bearbeitung sind.31 Die Bearbeitungstechnik sah wie folgt aus: Ein ursprünglich in Prosa- oder in Reimform vorliegender Text, der nicht für Aufführungszwecke bestimmt war, wurde dramatisch bearbeitet, jedoch nicht mit Blick auf eine Auffuhrung, sondern zur För-
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berijmde gebeden: overlevering en functie, met bijzondere aandacht voor produktie en receptie in Brugge (1380-1450), Amsterdam 1995. Lucien A. Debaene, De Nederlandse volksboeken. Ontstaan en geschiedenis van de Nederlandse prozaromans, gedrukt tussen 1475 en 1540, Antwerpen 1951; Rob J. Resoort, Een schoone historie vander borchgravinne van Vergi. Onderzoek naar de intentie en gebruikssfeer van een zestiendeeeuwse prozaroman, Hilversum 1988 (Middeleeuwse Studies en Bronnen 9). Wim M.H. Hummelen, Versdialogen in prozaromans, Antrittsrede, Nijmegen 1971. Hummelen (Anm. 6), Nr. 4.03. Mariken van Nieumeghen, hg. v. Dirk Coigneau, Hilversum 1996 (Middelnederlandse tekstedities 3), S. 31 ff.; Mariken van Nieumeghen en Elckerlijc. Zonde, hoop en verlossing in de late Middeleeuwen, hg. v. Bart Ramakers u. übersetzt v. Willem Wilmink, Amsterdam 1998 (Klassieken van de Nederlandse Letterkunde 13), S. 29ff.
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derung einer dramatischen Lesart, bei der der Text sozusagen auf ein imaginäres Podium projiziert wurde.32 Das spätmittelalterliche Publikum war mit Schauspiel und dramatisierten Vorträgen so vertraut, daß es die Texte, die zum Vorlesen gedacht waren, am liebsten in dialogisierter Form dargestellt sah. Diese Interpretation eröffnet der Forschung neue Perspektiven. Zunächst erhebt sich die Frage nach der Rezeption des Schauspiels in Form handschriftlicher oder gedruckter Lesetexte: Geschah das durch stille Lektüre oder durch lautes Vorlesen, einzeln oder in Gruppen? Zudem stellt sich die Frage nach anderen Textarten außerhalb der Prosaromane, deren Inhalt in theatralischer Gestalt, also in einer Art, die mit dem Schauspiel verwandt ist, überliefert worden sein könnten. Zu denken wäre an das Repertoire der Geschichtenerzähler und Minnesänger oder der vielen anderen Vortragskünstler - der mimi, joculatores und histriones oder wie auch immer sie mit lateinischem oder volkssprachigen Namen bezeichnet sein mögen die für ihren Lebensunterhalt die Fürsten- und Adelshäuser bereisten.33 Sowohl Überlieferungsart als auch Inhalt ihres Repertoires bieten Anhaltspunkte für die früheste urkundlich bezeugte volkssprachige Schauspielgeschichte der Niederlande, nämlich die des 14. Jahrhunderts. Die Rederijker betonten, sie betrieben die Literatur einzig aus Liebe zur Kunst. Sie haben sich während ihres gesamten Bestehens abschätzig über die Aktivitäten der reisenden Berufsdichter und -schauspieler geäußert. Trotzdem hat es den Anschein, daß sich die Schauspielerei von Laien und Bürgertum in ihren Anfangen, d. h. vor Entstehen der Rederijker-Kammern, stark auf das Repertoire eben dieser Vortragskünstler stützte.
Die Abele speien Zum professionellen Repertoire zählten ohne Zweifel die Abele Speien und die Sotternien aus der Van-Hulthem-Handschrift. Dieser Schluß ist infolge diverser Hinweise naheliegend und nicht zuletzt aufgrund der Thematik der Spiele, die auf einen Ursprung in höfischen Texten weist: von Ritterromanen34 und der Literatur der Berufsvorträger in Form von Sproken und Boerden (.Spruchgedichte' und ,Schwänke').35 Das Schauspielkorpus in der Van-Hulthem-Handschrift enthält nicht nur das älteste mittelniederländische Schauspiel 32
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Bart Α. M. Ramakers, (a) Hören en zien, lezen en beleven. Over toogspelen in opvoering en druk, in: ders. (Hg.), (b) Spei in de verte. Tekst, structuur en opvoeringspraktijk van het rederijkerstoneel, Gent 1994 (Jaarboek De Fonteine 4 1 ^ 2 [1991-1992]), S. 129-165; Herman Pleij, Onvoltooide literatuur. Over dramatisch lezen, spiritueel herkauwen en de emotionele verwerking van gedrukte teksten in het algemeen, in: Ramakers (s.o.), S. 167-175; Ramakers (Anm. 5), S. 351ff. Alardice Nicoll, Masks Mimes and Miracles. Studies in the Popular Theatre, London [usw.] 1931; Theo Meder, Sprookspreker in Holland, Amsterdam 1991 (Nederlandse Literatuur en Cultuur in de Middeleeuwen 2); ders., Omstreeks 1266. In ,Der naturen Bloeme' worden sprooksprekers en acteurs vergeleken met een Vlaamse gaai. De vroegste bronnen van wereldlijk theater, in: Erenstein (Anm. 5), S. 16-23. Jozef D. Janssens u. a., Op avontuur. Middeleeuwse epiek in de Lage Landen, Amsterdam 1998 (Nederlandse literatuur en cultuur in de Middeleeuwen 18). Dini Hogenelst, Sproken en sprekers. Inleiding op en repertorium van de Middelnederlandse sproke, 2 Bde, Amsterdam 1997 (Nederlandse literatuur en cultuur in de Middeleeuwen 16); Fred J. Lodder, Lachen om list en lust. Studies over Middelnederlandse komische versvertellingen, Ridderkerk 1996.
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(das auch zu den frühesten Zeugnissen des weltlichen Dramas in Europa zählt), es stellt zudem das einzige erhaltene, professionelle Repertoire des niederländischen Mittelalters dar. Aus Urkunden und den obengenannten Auffassungen der Rederijker ist bekannt, daß die Berufsschauspieler auch in der Blütezeit der Rederijker aktiv waren.36 Man nannte sie Camerspelers (,Kammerspieler'), weil ihre Aufführungen in geschlossenen Räumen, oft in Häusern stattfanden, wo Eintrittsgeld verlangt werden konnte. Die Camerspelers dominierten schon seit langem verschiedene Kunstformen oder sie zogen mit Kunsttreibenden anderer Sparten umher. In Archivalien und anderen Dokumenten ebenso wie auf Bildmaterial tauchen sie immer wieder zusammen mit Gauklern, Akrobaten und Puppenspielern auf. Vor allem die Assoziation mit Puppenspielern ist interessant. Im Hinblick auf einige Prosaromane wird davon ausgegangen, sie enthielten den Text von Puppenspielen.37 Für einen dieser Texte, ,Jan van Beverley',38 scheint diese Annahme nicht unwahrscheinlich. Auf jeden Fall war das Puppenspiel Teil der bezahlten Unterhaltung an mittelalterlichen Höfen.39 Zudem hatten diese Spiele oftmals, wie auch die Abele Speien sowie eine Vielzahl von Prosaromanen, die Ritterwelt zum Gegenstand. ,Jan van Beverley' erzählt das Leben eines Heiligen. Damit ist es stellvertretend für einen Typus, der sich an den Höfen auch als Lese- oder Vortragstext großer Beliebtheit erfreute. Titel, in denen sich viele Namen von Rittern und Heiligen finden, geben in einem Spielinventar des Jahres 1532 aus dem Archiv einer Genter Pilgerbruderschaft den Ton an.40 Die Spiele selbst sind verlorengegangen, und wir wissen nicht, ob sie von der Bruderschaft aufgeführt wurden. Die Formulierungen der Titel geben jedenfalls keinerlei Hinweis darauf, daß es sich um Rederijker-Spiele handeln könnte. Möglicherweise geht es um älteres Material aus dem 15. Jahrhundert, das angesichts der Themenwahl einen professionellen Ursprung gehabt haben könnte. In der Arbeitsgruppe wurden drei Themen formuliert, die sich mit den Abele Speien an sich befassen bzw. diese Spiele zum Ausgangspunkt oder als Referenz nehmen. Aufgrund ihrer frühen Überlieferung in einer außergewöhnlichen Handschrift sind die Abele Speien Marksteine der frühen Schauspiel- und Literaturgeschichte der Niederlande. In der Vergangenheit wurde vielfältig nach dem Ursprungsfeld der Abele Speien geforscht.41 Für drei der vier Spiele ist das vor allem die Ritterepik.42 Durch eine Analyse der Eigennamen und den Vergleich mit den überlieferten Ritterromanen (französisch oder mittelniederländisch, voll-
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Wim Μ. H. Hummelen, Kamerspelers: professionele tegenspelers van de rederijkers, Oud-Holland 110(1996), S. 117-134. Wim Meilink, Doopceel van Jan Claeszen. Kroniek van het tTaditionele poppenspei in Nederland, 2. Aufl., Amsterdam 1980, S. 16ff. Hummelen (Anm. 6), Nr. 7.18; Debaene (Anm. 28), S. 2 5 0 - 2 5 1 . Meilink (Anm. 37), S. lOff. Siehe auch Nicoll (Anm. 33). Reynaert (Anm. 19), S. 37-38. Siehe auch: Frank G. van der Riet, Le theatre profane serieux en langue flamande au Moyen Age, Den Haag 1936; Andrzej Dabröwka, Frühestes weltliches Theater-repertoire in den Niederlanden, Acta Philologica 20 (1992), S. 65-98; Gerard Nijsten, Feasts and Public Spectacle. Late Medieval Drama and Performance in the Low Countries, in: Alan E. Knight (Hg.), The Stage as Mirror. Civic Theatre in Late Medieval Europe, Cambridge 1997, S. 107-144. Nico C.H. Wijngaards, De oorsprong der abele spelen en sotternieen, Handelingen van de Zuidnederlandse Maatschappij voor Taal- en Letterkunde en Geschiedenis 12 (1968), S. 411-423. ,Esmoreit', ,Gloriant' u. ,Lanseloet van Denemerken' (Van Dijk [Anm. 7], Nr. 0A1, 0A3, 0A5).
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ständig oder fragmentarisch, im Original oder in Form eines Prosaromans) könnte nicht nur die Provenienz des Schauspielstoffs deutlicher werden, sondern auch das zugrunde liegende Gedankengut, die Ideologie der Spiele (Thema 1). Die Abele Speien teilen ihr Ursprungsfeld mit all jenen Ritterspielen, deren Titel wir jetzt nur noch in den Stadtrechnungen und Verzeichnissen wie denen der obengenannten Bruderschaft aus Gent finden können (Thema 2). Die früheste Erwähnung im Jahre 1373 stammt aus Oudenaarde und bezieht sich auf das Spiel von ,Stragengys', das vermutlich eine Verschreibung oder Verballhornung von ,Trasengijs' ist.43 Ein Spiel mit diesem Titel ist ebenfalls im Genter Verzeichnis aufgeführt. Dahinter verbirgt sich wahrscheinlich eine Rittergeschichte, deren Inhalt uns nur aus einem französischen Prosaroman des 15. Jahrhunderts bekannt ist. Erneut stoßen wir hier somit auf den Zusammenhang zwischen Schauspiel, Prosaroman und Epik. Jüngste Untersuchungen belegen, daß die Abele Speien (wie übrigens auch die Prosaromane) zum Urbanen Interessenkreis gehören und die Auffassungen eines stadtbürgerlichen Laienpublikums widerspiegeln. 44 Darauf deutet bereits die Überlieferung in der VanHulthem-Handschrift hin, deren variationsreiche Zusammenstellung - geistliche wie weltliche, ernste und komische Texte, gereimt und in Prosa - auf eine urbane Provenienz schließen lassen. Es gibt die verschiedensten Hypothesen über Art und Nutzung dieser Sammelhandschrift: als Musterbuch eines städtischen Skriptoriums, als Lesehandschrift eines privaten Eigentümers oder als Repertoirebuch einer Berufsgruppe oder frühen städtischen Amateurgesellschaft. 45 Für alle drei Möglichkeiten lassen sich überzeugende Argumente anfuhren. Auch eine Kombination der drei Verwendungsmöglichkeiten wäre denkbar. Die letzte Hypothese, d. h. die des Repertoirebuchs, eröffnet Perspektiven fur einen Vergleich zwischen dem dramatischen Register der eindeutig als Schauspiel identifizierten Texte - also der Abele Speien und Sotternien - und anderen, an diese Spiele grenzenden Texten der Handschrift. Die Tatsache, daß für die Auffuhrung des ,Lanseloet van Denemerken' durch die Duplizierung der Rollen nur zwei Darsteller erforderlich waren, macht es nicht nur wahrscheinlich, daß dieses Spiel vorgetragen wurde, sondern auch daß die in der Handschrift aufgenommenen Dialoge und Disputationen gespielt worden sein könnten. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, daß noch wesentlich mehr Vortragsliteratur Möglichkeiten zur dramatischen Auffuhrung in sich birgt (Thema 3). Ein überaus interessanter Fall ist in diesem Zusammenhang ,Dat Ewangelium van Paeschen' (,Das Osterevangelium') von Willem van Hildegaersberch, in dem der Dialog zwischen dem Engel und den drei Frauen verbalisiert oder sollte man lieber sagen, dramatisiert wird. 46
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Reynaert (Anm. 19), S. 37. Van Anrooij u. Van Buuren (Anm. 8); Orlanda S. H. Lie, Het abel spei van Lanseloet van Denemerken in het handschrift-Van Hulthem: hoofse tekst of stadsliteratuur?, in: Pleij u. a. (Anm. 8), S. 2 0 0 - 2 1 6 , 3 9 1 - 3 9 3 . Saskia Hutten, De verzamelde teksten, in: Jansen-Sieben (Anm. 8), S. 61-69, insbesondere S. 62. Meder (Anm. 33).
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Das Schauspiel als dreidimensionales Medium Die einzelnen Themenbereiche, die ich bisher angeschnitten habe, stehen mit dem anfänglichen Ausgangspunkt in enger Beziehung, d. h. der Erforschung des Schauspiels in seinem historischen Kontext. Aber nebenbei wurde auch schon auf den zweiten Ausgangspunkt verwiesen, nämlich die Erforschung des Schauspiels als dreidimensionales Medium, als Theater. Das Schauspiel verdankt seine Identität als eigenständige und vielfach betriebene Gattung im Mittelalter dem Umstand, daß es anders als Epik oder Lyrik auch visuelle Darstellungen bot. Eine Tatsache allerdings, der wir als Literaturwissenschaftler und Philologen zwar sofort zustimmen, aber bei der Interpretation des Dramas in der uns überlieferten Form, nämlich als zweidimensionale Texte, nicht immer Rechnung tragen. Die Notwendigkeit, den theatralischen Charakter zu berücksichtigen, wird bei der Erforschung der Texte deutlich, die auf den ersten Blick keine oder nur eine zweifelhafte Beziehung zu Drama und Theater haben. Wir wissen nicht, ob es sich um Schauspieltexte handelt oder nicht. Das läßt sich aus der mise en page in der Regel nur schwerlich ableiten. Ein Beispiel dafür sind die eben genannten Vortragstexte. Wir sind also gezwungen, uns eine Aufführung oder theatralische Darstellung zu vergegenwärtigen. Noch schwieriger, aber um so notwendiger ist diese Vergegenwärtigung bei jener Form des mittelalterlichen Dramas, die fast ohne Text auskam, dem Tableau vivant. Auf mittelniederländisch nannte man diese Darstellungsform Toog oder wie auch im Deutschen Figuur (also ,Figur'). Das Tableau vivant wurde im Mittelalter und in der Rederijker-Zeit als eigenes dramatisches Genre angesehen. Ich möchte darauf so nachdrücklich hinweisen, weil in jener Zeit dem Bild - d. h. lebenden Bildern, Skulpturen, Tafeln und Graphiken im allgemeinen ein größerer Stellenwert als dem Wort beigemessen wurde, als das heutzutage der Fall ist. Als Ausdrucksmittel von Gefühlen und Gedanken in vielerlei Bereichen hatte das Bild wesentlich mehr Bedeutung als in unserer Zeit, in der das geschriebene Wort - nicht zuletzt aufgrund der weitreichenden Alphabetisierung - mehr Einfluß hat. Die Position des Tableau vivant war so stark, daß es vielfach im wichtigsten dramatischen Genre eingesetzt wurde, dem allegorischen Zinnespel, das man vielleicht am einfachsten mit Sinnspiel übersetzen kann. 47 Auf die Funktion, die das Tableau vivant innerhalb dieser Spiele erfüllt hat, komme ich später zurück. Zumeist wurde es als dramatische Ausschmückung bei fürstlichen Einzügen und religiösen Prozessionen eingesetzt. Von den Einzügen sind in den Niederlanden diverse, teils illustrierte Beschreibungen erhalten geblieben. Daher liegt über Inhalt und Bedeutung der Tableaux vivants bereits umfassende Literatur vor.48 Die lebenden Bilder in religiösen Prozessionen hingegen sind bislang kaum Gegenstand der Forschung gewesen, was sich in erster Linie aus dem fast völligen Fehlen von
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Wim M.H. Hummelen, The dramatic structure of the Dutch morality, Dutch Crossing Nr. 22 (1984), S. 17-26; ders., The Drama of the Dutch Rhetoricians, in: Donald Gilman (Hg.), Everyman & Company. Essays on the Theme and Structure of the European Moral Play, New York 1989, S. 169-192. Ramakers (Anm. 5), S. 167ff.; Mark A. Meadow, Ritual and Civic Identity in Philip II's 1549 Antwerp ,Blijde Incompst', in: Reindert Falkenburg u. a. (Hgg.), Hof-, staats- en stadsceremonies, Zwolle 1999 (Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 49 [1998]), S. 37-68; Wim Μ. Η. Hummelen, ,Veele huyskens daer De Retoryck op was'. Stellages van rederijkerskamers bij Blijde Inkomsten, in: Falkenburg u. a. (ebd.), S. 95-128.
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diesbezüglichen Berichten in Handschriften oder Drucken erklären läßt.49 Mit umfassenden Archivuntersuchungen wäre es vielleicht möglich, Verzeichnisse mit betreffenden Themen zu erstellen. Die Erforschung des Tableau vivant ist naturgemäß kontextueller und interdisziplinärer Art. In bezug auf die niederländische Situation um so mehr, da keine begleitenden Dramentexte in Form sogenannter Spraken (,Sprüche') vorliegen. Diese Sprüche sind kurze Monologe oder Dialoge, die von den Darstellern im Tableau vivant gesprochen wurden. Wir wissen jedoch, daß es sie gegeben haben muß. Um den Inhalt der lebenden Bilder in den Prozessionen rekonstruieren zu können, stehen uns fast ausschließlich die mitunter deskriptiven Titel solcher Bilder zur Verfugung.50 Wollen wir mehr wissen, müssen wir uns an die bildende Kunst wenden: für ihre Ausgestaltung an die Ikonographie, für ihre Interpretation an die Ikonologie. Nirgendwo sind die Berührungspunkte zwischen Bildkunst und Schauspiel so vielfältig wie im Tableau vivant. Und so liegt es nahe, in diesem Genre ein wichtiges Bindeglied zwischen den beiden Kunstformen zu sehen. Dabei läßt sich auf eine Wiederbelebung der Diskussion, welche der beiden Formen zuerst da war, leicht verzichten. Man kann davon ausgehen, daß die Beeinflussung wechselseitig war, vor allem aber schöpften Schauspiel und bildende Kunst aus denselben Quellen und hatten dieselben Ziele.51 Ihre Thematik, Auswirkung und Perzeption weisen daher starke Übereinstimmungen auf. Aus diesem Grund bildete die Beziehung zwischen Schauspiel und bildender Kunst ein eigenes Thema innerhalb der Arbeitsgruppe. Angesichts des gemeinsamen kulturellen Fundaments beider Kunstformen ist die Wissenschaft gezwungen, sich einen umfassenden Überblick über die religiöse Ideenwelt und die Texte außerhalb des Dramas zu verschaffen, um zu einer Erklärung der spezifischen Thematik, Auswirkung und Perzeption zu gelangen. Dabei kann man auf Texte stoßen, etwa Passionstraktate oder die Vita Jesu, in denen heilsgeschichtliche Motive, wie im Schauspiel und der Bildkunst (zu denken wäre zum Beispiel an Andachtsbilder), äußerst plastisch und emphatisch dargestellt wurden. Es gilt, eine inhaltliche Beziehung zwischen der Themenwahl der Tableaux vivants herzustellen und der vor allem unter den Laien herrschenden Frömmigkeit im allgemeinen sowie dem Anlaß einer Prozession, d. h. dem Feiertag, an dem diese Prozession stattfand, im besonderen. Für Prozessionen zu Ehren des Heiligen Sakraments, des Heiligen Kreuzes oder Unser-Lieben-Frau gab es naheliegende Tableau-Themen. Wenn Themenverzeichnisse aufeinanderfolgender Jahre und Zeiträume vorliegen, lassen sich Verschiebungen in der Thematik mit religiösen Veränderungen in einen Zusammenhang bringen. Für den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, in der der Humanismus und die Reformation an Boden gewannen, bietet die Erforschung solcher thematischer Entwicklungen interessante Möglichkeiten für kulturhistorische Studien.52 Vergleichbare Fragestellungen bieten sich für das insbesondere aus dem 16. Jahrhundert so reichhaltig überlieferte Spielmaterial der Sinnspiele und der Kluchten (,Farcen') an.
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Ramakers Ramakers Ramakers Ramakers
(Anm. (Anm. (Anm. (Anm.
5), 5), 5), 5),
S. S. S. S.
187ff. 43ff., 248ff. 27ff. 249ff.
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Handschriftliche Überlieferung Lebende Bilder in Prozessionen sind der Schlüssel fur den Diskurs jenes Genres, dem innerhalb des deutschsprachigen geistlichen Schauspiels im Mittelalter, und vielleicht sogar des mittelalterlichen Schauspiels in Deutschland insgesamt, die größte Bedeutung beigemessen wird, nämlich des Passionsspiels. Passionsspiele sind für den niederländischen Sprachraum nicht erhalten geblieben. Auch von den anderen Formen, die in der Germanistik unter dem Begriff ,Geistliche Spiele' zusammengefaßt werden - d. h. Oster- und Fronleichnamspiele, Himmelfahrts- und Marienspiele, Spiele des Weihnachtsfestkreises, Heiligen- und Legendenspiele sowie eschatologische Spiele, etwa Antichrist- und Weltgerichtsspiele - , stehen uns nahezu keine mittelniederländischen Textbeispiele zur Verfugung. Dieser Mangel läßt sich zum einen aus der Auffuhrungspraxis geistlicher Dramen in den Niederlanden im allgemeinen und aus der Organisation der städtischen Schauspielaktivitäten sowie den sich daraus ergebenden Unterschieden im Umgang mit Spieltexten und deren Archivierung durch die aufführenden Gesellschaften im besonderen erklären. Zum anderen scheint der Mangel, vor allem in bezug auf das Passionsspiel, mit dem dramatischen Inhalt dieser Spiele im Zusammenhang zu stehen, d. h. mit dem Verhältnis zwischen Wort und Bild, mit dem Umfang, mehr noch aber mit dem Stellenwert des Textes innerhalb des Gesamtkomplexes der Auffuhrung. Unter den so zahlreich überlieferten Rederijker-Spielen aus dem 16. Jahrhundert befinden sich weder Passions- oder Auferstehungsspiele noch Spiele des Weihnachtsfestkreises. Insgesamt haben sich nur ein Heiligenspiel und ein Zehnjungfrauenspiel in zwei Einzelhandschriften erhalten.53 Beide lassen sich aus unterschiedlichen Gründen nicht dem Rederijker-Schauspiel zurechnen. Das erste Spiel wurde von einem Dominikaner verfaßt, der kein Rederijker war, und das zweite stammt aus einem Nonnenkloster. Der Großteil der Rederijker-Schauspiele wurde von Laien geschrieben. Ordinierte Geistliche sind unter den Rederijkern nicht zu finden, vereinzelt höchstens Mitglieder des niederen Klerus oder Weltgeistliche. Mit anderen Worten: Kirchen und ihre Präbendare nahmen nicht kraft ihrer Funktion bzw. ihres Amtes an den städtischen Schauspielauffuhrungen teil. Vor der Rederijker-Zeit war offensichtlich keine Tradition entstanden, in der Geistliche die Leitung jener Aufführungen außerhalb der Kirche übernahmen, die sich an die Auffuhrungen im Kircheninnern anschlossen. Bei den Gesellen vander Kerke (,Gesellen der Kirche') und den Gesellen vander Stede (.Gesellen der Stadt'), die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gelegentlich in den Stadtrechnungen auftauchen, handelte es sich um an eine Gemeinde gebundene Laiengruppen, die sich in späterer Zeit den Rederijker-Kammern angliederten oder ihre Schauspielaktivitäten als religiöse Bruderschaften fortsetzten. Man muß insbesondere in den Nordniederlanden davon ausgehen, daß viele Texte geistlicher Schauspiele, ob nun innerhalb oder außerhalb der Kirche aufgeführt, mit der Reformation verlorengegangen sind. Dieses Argument reicht jedoch nicht aus, um das fast vollständige Fehlen des geistlichen Dramas in den Niederlanden zu erklären. Wir wollen die Überlieferung des frühen Schauspiels noch einmal näher betrachten. Die meisten Rederijker-Spiele sind in Sammelhandschriften überliefert, die aus dem Inventar der RederijkerKammern stammen. Die Handschriften enthalten oft die Spiele verschiedener Autoren aus 53
,Sint Trudo' (Hummelen [Anm. 6], Nr. 2.03, 2.18); ,Spel van de V vroede ende van de V dwaeze maegden' (Van Dijk u. a. [Anm. 7], Nr. 2.35).
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derselben Kammer oder Stadt oder die Spiele eines einzelnen Verfassers (als Autograph oder Abschrift). Die Tatsache, daß in den Handschriften keine Beispiele des geistlichen Dramas zu finden sind, wie das im deutschen Sprachraum der Fall ist, läßt darauf schließen, daß Rederijker diese Form des geistlichen Schauspiels nicht oder nur selten aufführten. Nur in einer geringen Zahl vornehmlich biblischer Sinnspiele ist es möglich, gelegentlich in einem Dialog, einem Motiv oder einer Person das Substrat einer älteren Schicht des geistlichen Schauspiels zu erkennen. Eindeutigere Beispiele findet man nur in Einzelhandschriften, die entweder mit Sicherheit nicht von einem Rederijker geschrieben wurden oder, wenn sie denn von einem Rederijker stammen, mit Sicherheit nicht von Rederijkern aufgeführt wurden. Häufig ist die Provenienz dieser Spiele auf eine Gilde oder Bruderschaft zurückzuführen, die für die Aufführung verantwortlich war, wie ζ. B. der Bliscappen von Maria aus Brüssel oder das Mirakelspiel ,De Sacramente vander Nyeuwervaert' aus Breda.54 Einzelhandschriften gingen schneller verloren. Sie waren kleiner und empfindlicher als Sammelhandschriften, deren Erhaltungswürdigkeit vermutlich allein schon aufgrund ihres Umfangs höher eingestuft wurde. Rederijker-Kammern, die solche Handschriften besaßen, haben sie wesentlich länger aufbewahrt als Gilden und Bruderschaften, die infolge der Reformation und der Gegenreformation ihren Anteil an der Schauspieltätigkeit bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einbüßen mußten. Die Rederijker hingegen haben ihre Aktivitäten im Süden wie im Norden der Niederlande nach einer gewissen Zeit der Unterbrechung wieder aufgenommen. Die Haarlemer Rederijker-Kammer mit dem Namen Trou Moet Blijcken besteht bis zum heutigen Tag. Die in ihrem Besitz befindliche Spielsammlung ist die bei weitem größte, die überhaupt erhalten geblieben ist.55 Das Renommee einer Rederijker-Kammer beruhte zum Großteil auf ihrer Spielsammlung. Die Kammern schöpften daraus für Wiederaufführungen, und sie bewachten das Kopierrecht. Nur relativ wenige Spiele sind darum im Druck erschienen. Und darum auch wurden die Spiele einzelner Verfasser von den Kammern selbst oder von befugten Kopisten in einer Sammelhandschrift zusammengefaßt und sorgfaltig bewahrt. Man kann sich vorstellen, daß Einzelhandschriften aus dem Besitz der Gilden und Bruderschaften, deren eigentliche Aktivitäten in anderen Bereichen lagen, nach ihrem Rückzug aus den Schauspielaufführungen schnell in Vergessenheit geraten sind und schließlich gänzlich verlorengingen.
Die Auffuhrungspraxis Aus meinen Ausführungen geht hervor, daß mittelniederländische Einzelhandschriften mit dramatischen Texten nicht in großer Zahl vorliegen. Was für die Rederijker-Spiele gilt, gilt ebenso für das geistliche Schauspiel, das ich gerade besprochen habe. Es ist - sicher im internationalen Vergleich - eine kurze Form des Schauspiels. Ein durchschnittliches Sinn54 55
Hummelen (Anm. 6), Nr. 2.28. Hummelen (Anm. 6), Nr. 10A-R; Wim N.M. Hüsken, Bart Α. M. Ramakers, Frans Α. M. Schaars, Trou Moet Blijcken. Bronnenuitgave van de boeken der Haarlemse rederijkerskamer de Pellicanisten, 8 Bde, Assen [usw.] 1992-1998.
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spiel umfaßt zwischen 1000 und 1500 Verse. Die beiden einzigen erhaltenen Bliscappen von Maria, die erste und die siebte, haben einen Umfang von fast 2100 bzw. gut 1700 Versen. Vor allem die erste ,Bliscap' ist recht kurz, gerade, wenn man bedenkt, daß dieses Spiel einige alttestamentliche Vorspielszenen enthält. Die Brüsseler Armbrustergilde spielte nicht alle sieben Bliscappen nacheinander, sondern führte jedes Jahr nur eine einzige .Freude' auf.56 Bei den Bliscappen handelt es sich also nicht um ein umfangreiches, mehrtägiges Mysterienspiel in französischer Tradition, auch wenn die frühe Literaturgeschichte darin durchaus einen niederländischen Exponenten dieses Genres zu erkennen meinte. Der geringe Umfang der Bliscappen und anderer Gilde- und Bruderschaftsspiele hängt mit der Auffiihrungspraxis in den Niederlanden und dem dramatischen Inhalt dieser Spiele zusammen. Wie bereits angekündigt, gehe ich auf diesen Punkt jetzt näher ein. Die einzelnen Bliscappen wurden nach einem Umgang in Brüssel aufgeführt, der Prozession Unser-Lieben-Frau vom Sadebaum. In dieser Prozession wurden die sieben .Freuden' von Maria - das Thema dieser Spiele - auch in Form lebender Bilder auf Zügen oder Wagen dargestellt. Es ist gut möglich, daß die Spiele anschließend durch Hinzufugen von Handlung und Dialog als Erweiterungen der Tableaux vivants konzipiert waren. Die Beziehung zu den Tableaux vivants ist noch stärker bei jenen Spielen, die innerhalb der Prozessionen selbst aufgeführt wurden. Die Umstände erforderten dabei noch stringente kurzgefaßte Dialoge. Die Gestaltung jener Spiele ist zudem statisch und bildhaft. Mehr noch als das Leben oder die Freuden Marias eigneten sich Leben und Leiden Jesu zu einer Aufeinanderfolge lebender Bilder oder Spielszenen in Prozessionen sowie zu umfangreichen, mehrtägigen Darstellungen an einem Ort. In den Niederlanden erhielt die Passion in erster Linie bei Prozessionen in Form von Tableaux vivants Gestalt. Urkundliche Hinweise auf Passionsspiele beziehen sich, soweit bekannt, nicht auf große Aufführungen französischer oder deutscher Machart. Je mehr die Rederijker-Kammern die Dramenkultur dominierten, um so geringer wurde die Wahrscheinlichkeit derartiger Aufführungen. Dadurch, daß die Rederijker-Kammern allenthalben die Vorrangstellung im Schauspiel einnahmen, wurde die Organisation groß angelegter Aufführungen mit vielen Darstellern erschwert. Die Rederijker-Kammern selbst hatten für die Aufführung eines mehrtägigen Passionsspiels zu wenige Darsteller. Allerdings zeichnete sich eine Art Kompromiß ab. Einige Belege von Passionsspielen lassen auf mimische Darstellungen schließen. Wir wissen, daß die Minoriten Tableaux vivants in ihren Predigten einsetzten, und auch in den Niederlanden spielten sie auf diese Art und Weise heilsgeschichtliche Szenen, wie das Leiden Christi, nach.57 In Oudenaarde, unweit von Gent, trat die wichtigste Rederijker-Kammer seit Anfang des 16. Jahrhunderts als Spielleitung einer mehrtägigen, vermutlich mimisch ausgestalteten Passionsaufführung in der Osterwoche auf.58 Diese Entwicklung setzte zu einem Zeitpunkt ein, als die Sequenz der Passionsfiguren in der Fronleichnamsprozession thematisch ausgereift war und den gesamten Leidensweg vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung umfaßte. Es ist gut vorstellbar, daß die lebenden Bilder aus der Prozession zu 56
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Bart Α. M. Ramakers, 5 mei 1448. Begin van de traditie van de jaarlijkse opvoering van een van de zeven Bliscappen in Brüssel. Toneel en processies in de late middeleeuwen, in: Erenstein (Anm. 5), S. 42-49. Ramakers (Anm. 5), S. 161. Ramakers (Anm. 5), S. 158ff.
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Ostern erneut gezeigt wurden, und zwar an einem festen Standort und mit kurzen Dialogen oder Erläuterungen, die ein proclamator sprach. Es handelte sich dabei um eine pantomimische Darstellung. Möglicherweise übernahmen die Rederijker Organisation und Regie, während die Straßen, die die Tableaux vivants in der Prozession ausgestalteten, die Darsteller beisteuerten. In der mimetischen Repräsentation der Passion während der Prozessionen und nach deren Ende zeigt sich eine deutliche Übereinstimmung mit der Kategorie im deutschen geistlichen Schauspiel, nämlich mit den Fronleichnamspielen. 59
Rederijker-Spiele Ich habe so lange beim geistlichen Schauspiel im deutschen Sinn verweilt, weil es innerhalb der Germanistik eine so wichtige Rolle spielt. Das Gros des überlieferten dramatischen Textmaterials aus den Niederlanden betrifft jedoch die knapp 600 Rederijker-Spiele, die zum überwiegenden Teil aus dem 16. und dem Anfang des 17. Jahrhunderts stammen. Diese Periode fällt nicht unbedingt in den Deckungsbereich der Mediävistik. Wer allerdings das mittelniederländische Schauspiel erforschen will, kommt nicht umhin, sich mit dieser Zeit zu befassen, da aus den Jahrhunderten davor wenig erhalten ist. Nur so ist es möglich, Einblicke insbesondere in das allegorische Schauspiel zu bekommen, das in großer Zahl in den Rederijker-Spielen vertreten ist. Abgesehen von diesen praktischen Überlegungen gibt es auch prinzipielle Gründe, das 16. Jahrhundert zum Arbeitsgebiet der Mediävistik zu rechnen. Zugegebenermaßen weist die Rederijker-Literatur, sogar ein Teil des Materials aus dem 15. Jahrhundert, Merkmale der Renaissance auf.60 Die Renaissance im Norden vollzog sich aber in einer Zeit, die in vielerlei Hinsicht mittelalterliche Charakterzüge trug. Das gilt für das 16. Jahrhundert, die Blütezeit der Rederijker, ebenso wie für das 15. Jahrhundert. Die Rederijker-Zeit wird von der Literaturgeschichte bis zum heutigen Tag stiefmütterlich behandelt. Sie wird gemeinhin als Übergangsphase zwischen dem Mittelalter und der sogenannten echten Renaissance des 17. Jahrhunderts, d. h. dem goldenen Zeitalter der nördlichen Niederlande, betrachtet. 61 Es gibt stichhaltige Argumente, die Rederijker-Literatur als Renaissanceliteratur zu bewerten, ohne dabei ihre mittelalterlichen Eigenarten aus dem Auge zu verlieren.62 Was wir als Hybridform bezeichnen könnten, ist für die Renaissance ein gängiges Phänomen. Dasselbe gilt auch für die bildende Kunst und die Musik jener Epoche. Das Rederijker-Schauspiel läßt sich mit Hilfe der traditionellen Typologie für das mittelalterliche Schauspiel nur schwerlich erfassen. Frühe Literaturhistoriker versuchten nach französischem Vorbild, einen Unterschied zwischen den Mysterienspielen, Mirakel- und Heiligenspielen sowie den Moralitäten herzustellen. Diese Dreiteilung ist in jedem Fall für 59 60 61
62
Ramakers (Anm. 5), S. 367ff. Herman Pleij, Nederlandse literatuur van de late middeleeuwen, Utrecht 1990, S. 158ff. Hubert Meeus, Verschillen in structuur en dramaturgic tussen het rederijkerstoneel en het vroege renaissancedrama. Poging tot het schetsen van een ontwikkeling, in: Ramakers (Anm. 32), (b), S. 97-118. Bart Α. M. Ramakers, Bruegel en de rederijkers. Literatuur en schilderkunst in de zestiende eeuw, in: Jan de Jong u. a. (Hgg.), Pieter Bruegel, Zwolle 1997 (Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 4 7 [1996]), S. 81-105.
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das Material aus dem 16. Jahrhundert nicht angemessen. Anders als für den deutschen, französischen und englischen Sprachraum sind fur die Niederlande, wie bereits erwähnt, keine Mysterienspiele, Mirakel- oder Heiligenspiele überliefert. Aber auch Moralitäten im Umfang der französischen Stücke oder wie kürzlich mit der , Erfurter Moralität' auch für das deutsche Sprachgebiet belegt, sind nicht bekannt. Das niederländische Äquivalent zur Moralität, das Sinnspiel, zählt selten mehr als 1500 Verse, das älteste Beispiel, der ,Elckerlijc', sogar nur 880.
Das Sinnspiel Das Sinnspiel als Variante der Moralität war natürlich ein Thema innerhalb der Leidener Arbeitsgruppe. Dieser Spieltypus trägt insofern Merkmale der Moralität, als darin allegorische Personen auftreten, in vielen Fällen auch ein Repräsentant des Menschen. Oftmals läßt sich eine, wie Werner Helmich sie nennt, „allegorische Handlung" in allen von ihm beschriebenen Formen erkennen.63 Mitunter wird das Sinnspiel jedoch nur als Rahmen für die Dramatisierung eines epischen oder historischen, in der Regel biblischen Stoffs verwendet. Lediglich in den Anfangs-, Schluß- oder Zwischenszenen, d. h. in den gespielten Prologen, Epilogen und den Szenen mit sogenannten Sinnekens,64 dem traditionellen Paar teuflischer Verführer, treten allegorische Darsteller auf. Mit ihren Auftritten erläutern sie die Haupthandlung. Neben religiösen Fragen wurden im Sinnspiel auch soziale und politische Themen behandelt. Dieser Spieltypus sollte aus dem Grund zum ernsten Schauspiel gerechnet werden. Die Möglichkeiten, die das Sinnspiel für umfassende didaktische Zielsetzungen bot, lassen es zum deutlichsten Repräsentanten des bürgerlichen Laienschauspiels in den Niederlanden werden. Die Haupthandlung selbst hat einen stark argumentativen Charakter, wenn sie auch episch oder historisch angelegt ist. Dieser Spieltypus wird bisweilen als personifizierte Argumentation definiert.65 Die Ursache für den argumentativen Stil liegt in den zahlreichen Wettbewerben, in denen die beteiligten Rederijker-Kammern in dramatisierter Form auf vorab vorgelegte Fragestellungen reagieren mußten. Einige gedruckte Sammlungen dieser Wettbewerbsstücke sind überliefert.66 Solche Spiele, in denen wenig passiert, aber um so
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Wemer Helmich: D i e Allegorie im französischen Theater des 15. und 16. Jahrhunderts. 1. Das religiöse Theater, Tübingen 1976 (Beihefte zur Zs fur romanische Philologie 156); ders., Allegorie und Geschichte. Literaturästhetische Implikationen von Sozialkritik, Propaganda und Panegyrik in der Moralite, in: Walter Haug (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978, Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 3), S. 2 7 7 - 2 9 2 . 64 Wim Μ. H. Hummelen, De sinnekens in het rederijkersdrama, Groningen 1958. 65 Marijke Spies, ,Ορ de questye...': Over de structuur van 16e-eeuwse zinnespeien, De nieuwe taalgids 83 (1990), S. 139-150. 66 Hummelen (Anm. 6), Nr. 3B (Gent 1539), 3C (Antwerpen 1561), 3 D (Rotterdam 1561), 3L (Haarlem 1606), 3Q (Viaardingen 1616). Über diese Wettbewerbe: Wim M.H. Hummelen, 12-23 juni 1539: Negentien rederijkerskamers nemen deel aan een wedstrijd te Gent - Rederijkersdrama en reformatie, in: Schenkeveld-van der Dussen (Anm. 5), S. 142-146; Dirk Coigneau ,Maer die Steden apaert'. Over het rederijkerslandjuweel en het haagspei van 1561, in: Jozef VanHaver, Ferdinand Van-hemelryck (Hgg.), Volkscultuur in Brabant, Brüssel 1994, S. 1 1 5 - 1 3 7 ; ders.,
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mehr debattiert wird, werden von so manchem Literaturhistoriker als blutleer abgetan. Die Rederijker haben diesem Umstand zum Teil ihren recht schlechten Ruf zu verdanken. Aber gerade dieser vernachlässigte Aspekt der Rederijker-Kultur ist in den letzten Jahren von der Forschung wiederentdeckt worden. Die Art der angewandten Beweisführung wird analysiert und mit dem zeitgenössischen Unterrichtswesen sowie der allmählichen Entwicklung der Scholastik zum Humanismus in Zusammenhang gebracht.67 Obwohl das Wort im Sinnspiel einen hohen Stellenwert hat, spielt auch das Bild eine wichtige Rolle. Schließlich ist das Schauspiel ein dreidimensionales Medium, in dem der von den Darstellern gesprochene und von den Zuschauern gehörte Text durch die gespielte und vom Publikum wahrgenommene Handlung ergänzt wird. Zudem tragen Kostüme, Körperhaltung, Mimik, Gestik sowie die Einrichtung und Nutzung der Bühne zum Verständnis der Schauspielhandlung bei. Die Analyse der Aufführungspraxis der Rederijker-Spiele kennt in der Niederlandistik eine lange Tradition.68 Sie bietet wesentliche Anhaltspunkte für die Interpretation der Spiele, über ihre Thematik und ideologischen Hintergründe. Darüber hinaus zeigt sie, wie mittelalterliche und neuzeitliche Inszenierungsprinzipien in den Rederijker-Spielen kombiniert wurden: Simultaneität und Sukzessivität wurden miteinander verwoben. Das für Sinnspiele typische Stilmittel der Allegorie wurde verbal wie visuell in Form symbolhafter Kostüme, Attribute und Handlungsmuster eingesetzt. Die Allegorie ist ein zweites in Diskredit geratenes Merkmal des Rederijker-Schauspiels. Die scheinbar ad absurdum getriebene Personifikation menschlicher Beweggründe, abstrakter Begriffe und unpersönlicher Gegenstände hat bei vielen Wissenschaftlern eine ablehnende Haltung hervorgerufen. Diese negative Wahrnehmung beruht wie auch der argumentative Charakter der Sinnspiele zu einem nicht unwesentlichen Teil auf der Rezeption der Spiele als Lesetexte. Eine befriedigende Visualisierung der Personifikationen erweist sich als schwierig, denn wir können sie uns, auch wenn wir wissen, wie die Kostüme und Attribute ausgesehen haben, kaum vorstellen. Die allegorische Darstellungsweise ist zu weit von unserer heutigen Denkwelt entfernt. In diesem Zusammenhang lohnt sich der Blick auf die zeitgenössische Bildkunst, insbesondere die Heranziehung von graphischem Bildmaterial, in dem Allegorien vielfach dargestellt wurden. Dort sind Parallelen zu einer Vielzahl allegorischer Personen in den Rederijker-Spielen zu finden. Im Sinnspiel wird noch auf andere Weise nachdrücklich von der Verbildlichung Gebrauch gemacht, nämlich durch den Einsatz von lebenden Bildern oder Tableaux vivants,
67 68
Inleiding, in: Uyt Ionsten Versaemt. Het Landjuweel van 1561 te Antwerpen, Katalog Ausstellung Brüssel (Königliche Bibliothek Albert I), Brüssel 1994, S. 9-44; Bart Α. M. Ramakers, De Const getoond. De beeldtaal van de Haarlemse rederijkerswedstrijd van 1606, in: Reindert Falkenburg u. a. (Hgg.), Hof-, staats- en stadsceremonies, Zwolle 1998 (Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 49 [1998]), S. 129-183. Spies (Anm. 65). Bart Α. M. Ramakers, De gespeelde stad. De opvoeringspraktijk van het rederijkerstoneel getoetst aan zeven belegeringsspelen, Verslagen en mededelingen van de Koninklijke Academie voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 1993, S. 180-233; Wim Μ. H. Hummelen, Toneel op de kermis, van Bruegel tot Bredero, Oud Holland 103 (1989), S. 81-102; ders., The Stage Fa?ade reflected in Narcissus ende Echo of Colijn Caillieu (ca. 1503), in: Gosman, Walthaus (Anm. 12), S. 131-140; Hüsken (Anm. 12 [1997]).
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die zumeist am Ende des Spiels enthüllt werden.69 Dabei kann es sich um eine einzige oder um mehrere Togen (also .Figuren') handeln. Manchmal besteht auch die gesamte Handlung aus einer Aufeinanderfolge derartiger Einzelbilder oder wird dadurch zumindest stark beeinflußt. Hiermit schneiden wir ein allgemeines dramaturgisches Merkmal des mittelalterlichen Schauspiels und des Rederijker-Spiels an: seinen nichtlinearen, unaristotelischen Charakter.70 Moderne Begriffe wie Handlungsablauf und Intrige treffen auf diesen dramatischen Typus kaum zu. Auch dieser Aspekt wurde in der Arbeitsgruppe berücksichtigt. Die Dramaturgie des frühen Schauspiels kann auf bisweilen recht explizit formulierte Literaturauffassungen zurückgeführt werden. Vor allem die Rederijker haben die Art und die Motivation ihrer Arbeit ständig reflektiert.71 Innerhalb der Arbeitsgruppe wurde analysiert, welche Auswirkung ihre Literaturauffassungen auf Form und Inhalt ihrer Stücke hatten und, andersherum, inwiefern Form und Inhalt etwas über die Literaturauffassung der Rederijker aussagen. (Zu diesem Zweck soll die Spielsammlung von Cornells Everaert herangezogen werden, die, wie bereits erwähnt, in der Tradition des 15. Jahrhunderts steht.) Die literarische Reflexion der Rederijker, das Entwickeln einer Poetik, hängt stark mit der Entstehung eines modernen Literaturbegriffs zusammen. In diesem Literaturbegriff wird Literatur als eine Kunstform betrachtet, die sich klar in Lyrik und Drama gliedert und eindeutige Regeln für Gestalt und Inhalt der Texte vorgibt. Die Entwicklung ist eng mit der Rückbesinnung auf die Formensprache, die Stoffe und Ideen der Antike verbunden, die in der Rederijker-Literatur zum ersten Mal in die volkssprachige Dichtung hineingetragen wurde.72 Aus dem Grund lautete ein weiterer Themenbereich der Arbeitsgruppe: Die Beziehung zwischen Schauspiel und Antike. Das so zahlreich überlieferte Sinnspiel aus dem 16. Jahrhundert gilt es in allem Umfang und grundlegend zu erforschen. Viele Spiele stehen uns nicht oder nur in veralteten Editionen zur Verfügung. Handschriften einzelner Autoren, Sammelhandschriften, gedruckte Sammlungen mit Wettbewerbsspielen und viele Einzelhandschriften warten darauf, monographisch untersucht und ediert zu werden. Über die Schauspieltätigkeit in bestimmten Städten und Regionen kann man anhand von Texten und Dokumenten einen noch besseren Einblick erhalten. Auch als Schlüssel zum Verständnis des religiösen, sozialen und politischen Lebens im 16. Jahrhundert ist das Sinnspiel bislang kaum herangezogen worden.
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Wim Μ. H. Hummelen, Het tableau vivant, de ,toog', in de toneelspelen van de rederijkers, Tijdschrift voor Nederlandse taal- en letterkunde 108 (1992), S. 192-222. 70 Hummelen 1989 (Anm. 47), S. 178; Hans van Dijk, Structure as a Means to Audience Identification in the Dutch Rederijker Drama, in: Gosman, Walthaus (Anm. 12), S. 113-118. 71 Marijke Spies, Developments in Sixteenth-Century Dutch Poetics. From ,Rhetoric' to .Renaissance', in: Heinrich F. Plett (Hg.), Renaissance-Rhetorik / Renaissance Rhetoric, Berlin [usw.] 1993, S. 72-91; dies., Between Ornament and Argumentation: developments in sixteenth-century Dutch Poetics, in: Jelle Koopmans u. a. (Hgg.), Rhetoric - Rhetoriqueurs - Rederijkers, Amsterdam [usw.] 1995 (Verhandelingen Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Afd. Letterkunde, Nieuwe Reeks 162), S. 117-122; Dirk Coigneau, De Const van Rhetoriken, Drama and Delivery, in: Koopmans (ebd.), S. 123-140. 72 Annelies van Gijsen, Poetica, stad, publiek en moraal in Jupiter en Yo, in: Pleij u. a. (Anm. 8), S. 318-332, 431-437. Siehe auch Anm. 70.
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Die Farce Dem ernsten Schauspiel und seinem deutlichsten Exponenten, dem Sinnspiel, steht die Klucht (,Farce') als Variante des komischen Schauspiels gegenüber.73 Auch dieses Genre wurde in der Arbeitsgruppe als eigenständiger Themenbereich behandelt. Farcen sind in erster Linie in Handschriften und Drucken aus dem 16. und dem Beginn des 17. Jahrhunderts überliefert. Sie wurden zu den verschiedensten Gelegenheiten aufgeführt, nicht selten im Anschluß an ein Sinnspiel. Die Wurzeln liegen in den Fastnachtsfeiern der Städte, die bis in die Zeit vor 1400 zurückreichen. Farcen konnten wie die Sinnspiele ein Instrument der sozialen, politischen und religiösen Satire sein.74 Vor allem in der Zeit der Reformation spielten sie eine wichtige Rolle, wodurch sie sich hinsichtlich Kontext und Funktion gut mit den deutschen Fastnachtspielen vergleichen lassen. Ein zweiter Typus innerhalb der Kategorie weltlicher Spiele ist das Tafelspei (,Tischspiel l ), ein ziemlich kurzes, meist komisches, seltener allegorisches und ernstes Stück.75 So ein Tafelspel wird grundsätzlich im häuslichen Rahmen anläßlich von Festmahlzeiten aufgeführt (daher der Name), und es treten nur wenige Personen auf. Wir kennen lediglich ein einziges Beispiel aus dem 15. Jahrhundert, aber die Wurzeln dürften tiefer in die Vergangenheit reichen und möglicherweise bis zur höfischen Literatur zurückgehen. Mit den Sotternien der Van-Hulthem-Handschrifit sind uns recht frühe Beispiele von Farcen überliefert. Sie waren ausdrücklich nicht bei Hofe angesiedelt, sondern wie bereits erwähnt im städtischen Leben. Ihre Geschichte reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück. Auch innerhalb der komischen Literatur, insbesondere der Fastnachtsliteratur, lassen sich Texttypen nachweisen, die in dramatisierter Form vorgetragen wurden. Für das Mittelniederländische sind sie uns nur in späterer, gedruckter und daher bearbeiteter Gestalt überliefert, wie die Spotsermoenen und -mandementen (,Spottpredigten und -mandements').76 Auch sie dürften auf das 14. Jahrhundert zurückgehen. Mit der Farce sind wir wieder beim Thema Fastnachtsfeier angelangt. Das gibt mir die Möglichkeit, zum Abschluß auf das Lübecker Verzeichnis der Fastnachtspiele zurückzukommen und den möglichen Einfluß auf diese Spiele seitens der mittelniederländischen Spieltradition. Sollte man tatsächlich eine Beeinflussung voraussetzen können - immerhin gab es zwischen Lübeck und Brügge vitale wirtschaftliche Beziehungen dann ist dieses Verzeichnis für die Geschichte des niederländischen Schauspiels ebenso relevant wie für das deutsche. Für die Schauspielaktivitäten des 15. Jahrhunderts in niederländischen Städten wie Brügge sind wir auf archivarische Titelverzeichnisse angewiesen. Das Lübekker Verzeichnis gilt es mit den Auffuhrungsbelegen aus den Niederlanden zu vergleichen. Was sofort auffällt, ist die ausgesprochene Vorliebe fur epische Stoffe bis ins dritte Viertel des 15. Jahrhunderts. Ab den achtziger Jahren jenes Jahrhunderts läßt sich eine Tendenz zur Allegorisierung wahrnehmen. (Ich will hier nur kurz die Entwicklung skizzieren. Die Spiel73
74
75 76
Wim Ν. M. Hüsken, Noyt meerder vreucht. Compositie en structuur van het komische toneel in de Nederlanden voor de Renaissance, Deventer 1987 (Deventer Studien 3). Herman Pleij, De sociale functie van humor en trivialiteit op het rederijkerstoneel, Spektator 5 (1975-1976), S. 108-127; ders., Volksfeest en toneel in de middeleeuwen, De revisor 3 (1976), S. 52-63; 4 (1977), S. 34-41. Patricia Pikhaus, Het tafelspel bij de rederijkers, 2 Bde, Gent 1988. Herman Pleij, Het gilde van de Blauwe Schuit. Volksfeest en burgermoraal in de late middeleeuwen, 2. Aufl., Amsterdam 1983, S. 63ff. Vgl. Pleij (Anm. 74).
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themen verdienen eine tiefgreifendere Erforschung und vor allem Identifizierung über noch erhaltene Texte anderer Genres, in die sie Eingang fanden.) Die Präferenz für Themen aus der Ritterwelt haben wir bereits beim frühen Schauspiel in den Niederlanden feststellen können, vor allem bei professionellen Spielgruppen, an denen sich die städtischen Amateurgesellschaften anfanglich orientierten. Wesentlich interessanter jedoch erscheint die Verschiebung zu allegorischen und explizit didaktischen Spielen. Beim Fastnachtspiel erwarten wir das nicht. Trotzdem kennen wir einige Farcen mit allegorischen Rollen, und wir wissen, daß bei den Umkehrungsfeiern Sinnspiele aufgeführt wurden. Humor und Allegorie haben einander also nicht ausgeschlossen, Didaktik und Fröhlichkeit konnten nebeneinander bestehen. Das Gros des städtischen Schauspiels war bürgerlicher Art und spiegelte die Auffassungen von stadtbürgerlicher Laienbevölkerung und Geistlichkeit wider. Im Fastnachtspiel geschah dies am deutlichsten. Man kann diesen Typus als gesellschaftliche Selbstreflexion bezeichnen, in der der Humor womöglich unabdingbar war, um sie erträglich zu machen. Das Lübecker Verzeichnis macht deutlich, daß die Fastnachtsfeierlichkeiten in den Städten schon früh zu einer Domäne der Laienbevölkerung geworden waren, in der sie sich in aller Freiheit in Selbstreflexion üben konnten.
Zum Abschluß Vergleichende Studien des niederländischen und des deutschen Schauspiels im Mittelalter haben meines Erachtens gute Erfolgschancen innerhalb des Themenbereichs, insbesondere des weltlichen Schauspiels. Gezwungenermaßen müssen wir uns dabei zum Teil auf den Vergleich urkundlicher Belege stützen. Auf dem Wege der Auseinandersetzung mit dem Themenbereich des mittelalterlichen Schauspiels können wir uns zum Kontext des literarischen Lebens im allgemeinen emporarbeiten (oder, anders gesehen, vielleicht in seine Tiefen hinabsteigen), zur Gedankenwelt der Verfasser, Darsteller und Zuschauer jener Spiele sowie zu den das mittelalterliche Theaterschaffen prägenden Faktoren im besonderen. Ich wünsche mir, daß eine solche Komparatistik niederländischer und deutscher Schauspielforschung ins Rollen kommt.
Bernd Neumann und Dieter Trauden
Überlegungen zu einer Neubewertung des spätmittelalterlichen religiösen Schauspiels
Obwohl die Erforschung des spätmittelalterlichen religiösen Schauspiels 1 bereits auf eine mehr als einhundertfunfzigjährige Geschichte zurückblicken kann, ist immer noch zu wenig ins Bewußtsein gedrungen, daß gerade diese Spiele wichtige Vertreter der städtischen Literatur sind und folglich als Paradigma stadtbürgerlicher Kultur des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit betrachtet werden können. 2 Eine umfassende Auswertung der im gesamten deutschen Sprachraum nachgewiesenen Zeugnisse von Auffuhrungen und Texten derartiger Schauspiele 3 hinsichtlich ihrer Bedeutung für das geistig-kulturelle, soziale und
1
Anstelle der üblicherweise gebrauchten Unterscheidung zwischen geistlichem und weltlichem Schauspiel schlagen wir vor, künftig die Unterscheidung .religiöses' vs. ,profanes' Schauspiel zu verwenden. Die Begriffe .geistlich' und .weltlich' sind zu leicht dahingehend mißzuverstehen, als liege hier eine Unterscheidung zweier prinzipiell voneinander getrennter .Lebensbereiche' vor, was dem mittelalterlichen Denken nicht angemessen ist. Das Begriffspaar .religiös' vs. .profan' bezieht sich hingegen lediglich auf die behandelten Stoffe der Spiele. Der Begriff .profan' entspricht zudem auch dem zeitgenössischen Sprachgebrauch; siehe ζ. B. die Ablehnung profaner Inhalte in Osterspielen, die an heiligen Orten aufgeführt wurden, durch den Dominikaner und Professor an der Wiener Universität Franz von Retz in seiner bald nach 1400 entstandenen .Lectura super Salve regina': Ex quo patet, quod illi ludi scenici, qui solent in paschate ab ecclesiasticis aliquibus practicari de Pusterpallc et vicinis lascivis, sunt ρ r ο ρ h α η i [Sperrung durch d. Verf.] et excludendi a locis sacris; vgl. Bernd Neumann: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, 2 Bde, München [usw.] 1987 (MTU 84, 85), hier Bd. 2, S. 886, Nr. 3723. - Das im vorliegenden Beitrag über das religiöse Spiel Ausgeführte wird sich vielfach in ähnlicher Form auch auf das profane Spiel (Jahreszeiten-, Neidhart- u. Fastnachtspiele) übertragen lassen, jedoch bleibt dies jeweils im Einzelnen noch näher zu überprüfen. (Dazu jetzt auch Hansjürgen Linke, Unstimmige Opposition, in: Leuvense Bijdragen 90 [2001], S. 75-126.)
2
Vgl. dazu bereits Bernd Neumann: Geistliches Schauspiel als Paradigma stadtbürgerlicher Literatur im ausgehenden Mittelalter, in: Georg Stötzel (Hg.), Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur; Neuere Deutsche Literatur, Berlin [usw.] 1985, S. 123-135. - Insbesondere die Aufführungen von Spielen und die nachweisbar mit Aufführungen verbundenen Spieltexte sind definitiv ins stadtbürgerliche Umfeld eingebettet. Für lediglich als Lesetexte überlieferte Spiele ohne erkennbaren Aufführungszusammenhang ist dies jeweils am Einzeltext und seiner Überlieferung differenzierter zu untersuchen. Die hier vorgetragenen Überlegungen beschränken sich zudem auf das volkssprachige bzw. überwiegend volkssprachige Schauspiel. Bei Spielen, die ausschließlich oder in hohem Maße in lateinischer Sprache verfaßt sind, ist von anderen Träger- und Rezipientenkreisen sowie möglicherweise auch von einer anderen Rezeptionssituation auszugehen. Eine großangelegte, aber keineswegs vollständige Sammlung solcher Zeugnisse bietet Neumann (Anm. 1); vgl. dazu dort S. V.
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Trauden
politische Leben der Städte fehlt vorläufig.4 Auch der Zusammenhang der bekannten Spieltexte mit der übrigen in den Städten rezipierten Literatur, der städtischen Geisteskultur (ζ. B. den stadtbürgerlichen Bildungsbestrebungen) und aktuellen Problemstellungen der Zeit ist - wenn überhaupt - nur an Einzelbeispielen aufgewiesen worden.5 Ebenso wurde der Versuch eines Überblicks über die in der Vergangenheit an einzelnen Spieltexten ermittelten diesbezüglichen Ergebnisse nicht unternommen. Die Erforschung des mittelalterlichen Schauspiels steht daher in vielem noch an ihren Anfängen. Sie wird dadurch weiter erschwert, daß sie ohne über germanistisches Fachwissen hinausgehende, interdisziplinäre Kenntnisse kaum zu leisten ist. Bislang ist aber selbst eine allgemein anerkannte Verständigung darüber, was wir im Mittelalter unter dem Begriff ,Spiel' oder ,Schauspiel' verstehen wollen, ein Desiderat. Da neben den als ,Spiele' bezeichneten Texten auch andere (ζ. B. philosophisch-theologische oder religiös-moralische) Literatur mit dialogischem Aufbau überliefert ist6, bereitete die Unterscheidung zwischen dieser ,Dialogliteratur' und den , Spieltexten' immer wieder Schwierigkeiten,7 insbesondere dann, wenn es sich nicht um Texte aus dem Bereich der im kirchlichen Jahresfestkreis verankerten Spiele (also ζ. B. Weihnachts-, Oster- und Passionsspiele) handelt, sondern um solche mit eigenständigerer Thematik (zu denen ζ. B. die Moralitäten zu rechnen sind). Einen Weg aus diesem Dilemma scheint die Verknüpfung des Begriffs ,Spiel' mit dem der ,Aufführung' zu weisen, wobei unter ,Aufführung' die öffentliche Zurschaustellung eines Textes mit Darstellern auf einer ,Bühne' (d. h. einem für eine solche Auffuhrung geeigneten Ort) zu verstehen ist. Bei den mittelalterlichen Schauspielen würde es sich demnach um eine Gattung handeln, bei der Literatur und das Ereignis ihrer Auffuhrung eine unlösbare Verbindung eingegangen sind.
4
Daß eine solche Auswertung in Zusammenhang mit anderen stadtgeschichtlichen Quellen zu interessanten Ergebnissen fuhren kann, wurde beispielsweise kürzlich anhand der Frankfurter Passionsspiele aufgezeigt von Winfried Frey: Der vergiftete Gottesdienst. Zur Funktion von Passionsspielen in der spätmittelalterlichen Stadt am Beispiel Frankfurts am Main, in: Silvia Bovenschen u.a. (Hgg.), Der fremdgewordene Text, Berlin [usw.] 1997, S. 2 0 2 - 2 1 7 .
5
So ζ. B. in Hinblick auf das städtische Judentum bei Edith Wenzel: Do worden die Judden alle gescharrt. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen, München 1992 und bei Frey (Anm. 4), S. 210-217. So ζ. B. die .Dialogi' Gregors des Großen, die „zu den Lieblingsbüchern des Mittelalters zählten"; in Deutschland und den Niederlanden wurden sie ab dem 15. Jh. häufig auch in der Volkssprache rezipiert; vgl. Kurt Ruh, .Gregor der Große', in: 2 VL Bd. 3 (1981), Sp. 2 3 3 - 2 4 4 (hier Sp. 2 3 8 240). Beispiele hierfür sind die Dichtung ,De contemptu mundi' (deutsch) und der Dialog ,Vom Sterben, Gericht, den Pforten des Todes und den Stätten des Jenseits', die des öfteren als Spiele bezeichnet wurden (vgl. dazu Dieter Trauden: Auch ander ler exempel gut - Der Mondseer Benediktiner Johann Hauser als Sammler volkssprachiger Dramen?, ABäG 43/44 [1995], S. 4 8 5 - 5 1 9 ) oder die älteren Fassungen der Weltgerichtsspiele, deren Zugehörigkeit zur Gattung ,Spiel' bezweifelt wurde (vgl. Werner Williams-Krapp: Überlieferung und Gattung. Zur Gattung .Spiel' im Mittelalter, Tübingen 1980, hier S. 7ff. und Werner Williams-Krapp: Zur Gattung ,Spiel' aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht, in: Stötzel [Anm. 2], S. 136-143, hier S. 140). S. a. das im Druck überlieferte Fragment ,Der Jesusknabe in der Schule'; vgl. Rolf Bergmann: Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986, S. 58f., Nr. 15 und Neumann (Anm. 1), Bd. 2, S. 842, Nr. 3633.
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Neubewertung
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Allerdings fuhrt eine solche Definition keineswegs wirklich aus dem beschriebenen Dilemma hinaus, sondern stellt uns vor eine Reihe neuer Schwierigkeiten. Daß im Mittelalter überall im deutschen Sprachraum Schauspiele in Städten aufgeführt wurden, ist angesichts der Vielzahl der in archivalischen Quellen belegten Spielzeugnisse unbestreitbar. Zu diesen Aufführungszeugnissen gesellt sich die Überlieferung von Texten und Regiematerialien, deren Verwendung bei der Vorbereitung oder Durchführung von Aufführungen evident ist. Hierzu gehören ζ. B. Rollenauszüge, Dirigierrollen und -bücher, die ausfuhrliche Bühnenanweisungen und Hinweise auf den Ablauf der Inszenierung enthalten, aber von den Sprechtexten nur die Schlagverse verzeichnen, sowie Volltexte von Spielen, bei denen eine Benutzung in Zusammenhang mit einer Aufführung durch die in ihnen eingetragenen Spielernamen, für den Regisseur bestimmte .Inspizientenanweisungen' an den Manuskripträndem, Ordnungen für die Ein- oder Auszugsprozession der Spieler, Bühnenpläne etc. sichergestellt ist.8 Leider weisen aber bei weitem nicht alle Zeugnisse mittelalterlicher Spieltexte derart eindeutige Indizien fur einen Aufführungszusammenhang auf. Gerade einige der erhaltenen Volltexte sind, wie aus den in ihnen überlieferten Spielnachrichten hervorgeht, erst nach einer Aufführung niedergeschrieben worden,9 wobei die unterschiedlichen möglichen Gründe für diese Aufzeichnungen in der Forschung noch nicht ausreichend diskutiert wurden. Ob diese Manuskripte oder Drucke10 tatsächlich den Text einer vorhergehenden Aufführung mehr oder weniger getreu überliefern oder aber in größerem Maße für einen Leser bearbeitet wurden, ist kaum mehr mit Sicherheit zu bestimmen. Viele andere Texte sind ganz offensichtlich nur zum Zweck der Lektüre festgehalten worden, ohne daß sich aus der Überlieferung irgendein Hinweis auf geplante oder durchgeführte Aufführungen entnehmen ließe.11 Solche Lesetexte können sowohl als Einzelmanuskripte überliefert sein12 als auch in Sammelhandschriften, welche in der Regel von Beginn an als solche angelegt waren und
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inwieweit ζ. B. Anweisungen zu Textumstellungen und Textvarianten zu einzelnen Reden (so ζ. B. im .Luzerner Weltgerichtsspiel I'; vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 190-192, Nr. 80) oder auch andere Einträge späterer Bearbeiter, eingelegte Zettel etc., die in den Manuskripten manchmal begegnen, wirklich immer als Indiz fur den Gebrauch in Zusammenhang mit einer Aufführung herangezogen werden dürfen, müßte noch genauer überlegt werden. 9 Siehe ζ. B. die Eingangsbemerkungen des ,Churer' und des .Münchner Weltgerichtsspiels' (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 86f., Nr. 31 u. S. 262-264, Nr. 117). Ebenfalls erst nach einer Auffuhrung angefertigt wurden ζ. B. die sog. ,Vigil Raber Passion' und die beiden Passionsspieltexte aus Kaufbeuren (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 299-301, Nr. 136; S. 54f., Nr. 12; S. 342f., Nr. 156). 10 Der Text des Münchner .Spiels vom sterbenden Menschen' (auch sog. .Münchner Eigengerichtsspiel') aus dem Jahre 1510 liegt ζ. B. im Druck vor (vgl. Neumann [Anm. 1], Bd. 1, S. 598, Nr. 2314). Auch etliche Fastnachtspiele sind in Drucken überliefert. Siehe auch Dietrich Schernbergs .Spiel von Frau Jutten', das von dem protestantischen Mühlhäuser Prediger Hieronimus Tilesius in polemischer Absicht im Jahre 1565, d. h. erst ca. 80 Jahre nach seinem Entstehen, im Druck vorgelegt wurde (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 147f., Nr. 61 und Neumann [Anm. 1], Bd. 1. S. 595f., Nr. 2304). 11 Zu verschiedenen Kriterien, die für die Aufzeichnung eines Textes zu Lesezwecken sprechen können, wie ζ. B. Überlieferungszusammenhang, Ausschmückung mit Illustrationen, gereimte Sprecherzuweisungen etc., vgl. die unten in Anm. 16 angegebene Literatur. 12 So ζ. B. das .Kopenhagener Weltgerichtsspiel', dessen durchgehende Illumination die beabsichtigte Bestimmung für einen Leser/Betrachter beweist (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 177f., Nr. 73).
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nicht nur Spieltexte enthalten. 13 Auch bei den sog. ,Arbeitsmanuskripten', d. h. Exzerpten, Variantensammlungen etc., die zum Zweck der Erstellung eines neuen Textes entstanden, 14 ist nicht immer von vornherein klar, ob dieser für eine Aufführung benutzt werden sollte. Schließlich sind nicht wenige Textzeugen nur fragmentarisch und in einer W e i s e auf uns gekommen, die gesicherte Rückschlüsse auf ihren Aufzeichnungszweck kaum oder überhaupt nicht mehr zuläßt. 15 Angesichts dieser Überlieferungslage hat man in der Vergangenheit versucht, zusätzliche Kriterien zu benennen, die es unabhängig von der Gebrauchsfunktion des jeweiligen Überlieferungsträgers erlauben, die ursprüngliche Bestimmung eines Textes zur Auffuhrung zu sichern. 16 Als Indizien hierfür wurden ζ. B. die Selbstbezeichnung eines Textes als spil oder ludusl7, im Imperativ gehaltene Bühnenanweisungen, Aufzeichnungen v o n Gesängen im Volltext oder als Incipits mit und ohne Noten, die direkte Anrede eines Publikums (ζ. B. Aufforderungen, zu schweigen, sich zu setzen, aufmerksam zuzuschauen, einen Schlußge-
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Ζ. B. der Kodex, in dem das .Wiener SusannaspieP und das Fastnachtspiel ,Rumpold und Mareth Γ überliefert sind (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 356f., Nr. 164 u. Trauden [Anm. 7], S. 4 8 7 489), die Handschrift, die das .Stockholmer Theophilusspiel' enthält (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 339f., Nr. 154 u. Loek Geeraedts, Die Stockholmer Handschrift Cod. Holm. Vu 73, Köln [usw.] 1984, S. 27-60) sowie der Sammelband, in dem sich das ,Mühlhäuser KatharinenspieP und das .Thüringische Zehnjungfrauenspiel (A)' finden (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 255-257, Nr. 114). 14 Ζ. B. die Erlauer Spiele, vor allem das ,Erlauer Osterspiel' (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 105-108, Nr. 40) und Bernd Neumann, ,Erlauer Spiele', in: 2 VL Bd. 2 (1980), Sp. 592-599. Evtl. auch die ,Donaueschinger Passionsspielfragmente' und die Rollenverzeichnisse und Textpartien aus dem Weihnachtsteil des ,Freiburger Fronleichnamspiels' (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 100f., Nr. 37 u. S. 127f., Nr. 50). 13 Ζ. B. das .Kremsmünsterer Passionsspielfragment' (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 180f., Nr. 75). Siehe auch das .Amorbacher Spiel von Mariae Himmelfahrt', die .Berliner Moralität', das .Berliner Thüringische Osterspielfragment', das .Brandenburger Osterspielfragment', das ,Braunschweiger Samsonspielfragment', das ,Breslauer Osterspielfragment', das .Fritzlarer Passionsspielfiragment', das .Göttinger Spiel von Jakob und Esau', die .Kasseler mnd. ParadiesspielFragmente', die .Kreuzensteiner Passionsspielfragmente', das .Himmelgartner Passionsspielfragment', die .Osnabrücker Passionsspielfragmente' und das .Wienhäuser Osterspielfragment' (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 47f., Nr. 9; S. 58. Nr. 14a; S. 63f., Nr. 19; S. 74f., Nr. 24; S. 75f., Nr. 25; S. 79-81, Nr. 27; S. 131f., Nr. 53; S. 140f., Nr. 57; S. 606, Nr. 71a, dazu auch Hartmut Broszinski u. Hansjürgen Linke, .Kasseler [mnd.] Paradiesspiel-Fragmente', ZfdA 98 [1987], S. 36-52; S. 181-183, Nr. 76; S. 270f., Nr. 121; S. 278f., Nr. 125; S. 366f., Nr. 170). 16 Eingehende Untersuchungen zu den verschiedenen Überlieferungsformen, der Funktion der Überlieferungsträger und dem Charakter der in ihnen aufgezeichneten Texte finden sich ζ. B. bei Rolf Bergmann, Auffuhrungstext und Lesetext. Zur Funktion der Überlieferung des mittelalterlichen geistlichen deutschen Dramas, in: Herman Braet u.a. (Hgg.), The Theatre in the Middle Ages, Leuven 1985, S. 314-351; Hansjürgen Linke, Versuch über deutsche Handschriften mittelalterlicher Spiele, in: Volker Honemann u. Nigel F. Palmer (Hgg.), Deutsche Handschriften 1100-1400, Tübingen 1988, S. 527-589 und Dieter Trauden, Archetyp oder Aufführung? Überlegungen zur Edition mittelalterlicher Dramen, ABäG 37 (1993), S. 131-145. 17 Vgl. hierzu aber zuletzt Matthias Schulz, Die Eigenbezeichnungen des mittelalterlichen deutschsprachigen geistlichen Spiels, Heidelberg 1998.
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sang anzustimmen oder gemeinsam Amen zu sprechen18 etc.), die Einteilung des Textes in Spieltage und anderes angeführt. Zwar ist immer wieder betont worden, daß keines dieser Indizien für sich allein genommen beweiskräftig sei, und nur ein Zusammentreffen mehrerer die Zuordnung eines Textes zur Gattung ,Spiel' erlaube; wieso sie aber überhaupt in eindeutig für Lesezwecke gedachten Überlieferungsträgem erscheinen, wurde nicht näher hinterfragt. Der Annahme, es handele sich bei den erwähnten Indizien nur um Elemente ursprünglicher Aufführungsmanuskripte, die die Schreiber von Lesehandschriften mechanisch mitkopierten, steht entgegen, daß so überlieferte Spieltexte ansonsten häufig für die Lektüre bearbeitet wurden.19 In einigen Fällen ist durchaus davon auszugehen, daß an den Spielen interessierte oder an Auffuhrungen beteiligte Personen (ζ. B. Regisseure wie Vigil Raber) solche Texte für einen möglichen späteren Aufführungsgebrauch konservierten und sammelten oder daß eine durchgeführte Auffuhrung im Nachhinein dokumentiert werden sollte. Weitaus häufiger aber dürften sie aufgezeichnet worden sein, weil sie aufgrund ihres Inhaltes, ihres Aufbaus oder ihrer Argumentation auch für einen Leser von Interesse sein konnten. Wenn diese Texte dennoch diverse Elemente enthalten, die es uns heute nahelegen, sie der Gattung ,Spiel' zuzurechnen, dann darum, weil sie auch vom mittelalterlichen Leser noch als Spieltexte erkannt werden sollten. Das würde aber bedeuten, daß es nicht nur ein Aufführungs-, sondern auch ein Lesepublikum für mittelalterliche Schauspiele gab. Trifft dies zu, so ist darüber hinaus die Existenz von , Spieltexten' nicht auszuschließen, die von vornherein für Leser geschrieben wurden, ohne daß ihre Verfasser dabei an die Planung oder Durchführung einer Aufführung dachten. Die Frage, welche dialogischen Lesetexte der Gattung ,mittelalterliches Schauspiel' zuzurechnen sind, stellt sich jetzt also von einem anderen Blickwinkel aus. Ungeachtet dessen, ob hinter der überlieferten Textgestalt einmal eine reale Aufführung stand oder nicht, können alle jene Texte, die vor dem geistigen Auge eines Lesers das Bild einer solchen Aufführung entstehen lassen sollten, als ,Spiele' bezeichnet werden. Andererseits entwertet diese Überlegung viele der Kriterien, die bisher für die ursprüngliche Auffiihrungsbestimmung eines zu Lesezwecken aufgezeichneten Textes zu sprechen schienen. Ge- und Verbote an ein Publikum, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, Gesänge20, Hinweise auf ein ,Bühnen'-Geschehen (ζ. B. über Gänge der Personen), Pro- und Epiloge von Precursoren etc. können sehr wohl auch nur im Dienste einer intendierten Aufführungsfiktion gestanden haben. 18
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So ζ. B. in dem zweifelsfrei für Lesezwecke bearbeiteten .Berliner Weltgerichtsspiel' (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 6 1 - 6 3 , Nr. 18); siehe: Berliner Weltgerichtsspiel. Augsburger Buch vom Jüngsten Gericht. Ms. germ. fol. 722 der Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz [...], hg. v. Ursula Schulze, Göppingen 1991 (Litterae 114), w . 1507-1510. - Solche Aufforderungen begegnen aber auch in nicht-dramatischen Texten häufig; vgl. Arnold Immessen. Der Sündenfall, hg. v. Friedrich Krage, Heidelberg 1913, S. 69. Vgl. z . B . das schon erwähnte ,Wiener Susannaspiel' (Anm. 13), das ,Bemer' (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 6 9 - 7 1 , Nr. 22) und das .Berliner Weltgerichtsspiel' (Anm. 18) oder auch das .Wolfenbütteler Theophilusspiel' (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 3 7 2 - 3 7 4 , Nr. 173). Initien von lateinischen Gesängen in Lesehandschriften haben möglicherweise auch nur die Funktion von Lemmata zur deutschen Paraphrasierung des lateinischen Textes, sei es als Verweis oder als Berufung auf die lateinische Autorität. Denkbar wäre auch, daß durch die Erinnerung an den lateinischen Gesang beim Leser eine besondere Stimmung evoziert werden sollte.
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Die hier vorgelegte Problemstellung ist keineswegs rein akademisch, wie sich an Arnold Immessens auf das Ende des 15. Jahrhunderts zu datierendem sog. ,Spiel vom Sündenfall' zeigen läßt.21 Der Prelocutor-Rede dieses Textes geht eine keinem Sprecher zugewiesene Einleitung voran, welche den Namen des Verfassers als Akrostichon enthält (,Arnoldus Immessen'), was selbstverständlich nur ein Leser erkennen konnte. In der vorliegenden Form war der Text also für Lesezwecke konzipiert oder wurde für solche bearbeitet. Zumindest die Einleitung ist dabei von vornherein in Hinblick auf einen Leser verfaßt worden. Dennoch wird gerade in ihr die Vorstellung einer Auffuhrung evoziert 22 : Es wird angekündigt, man wolle ein Spiel zu Ehren des Publikums aufführen, weshalb dieses schweigen und Raum schaffen solle, damit man das Folgende hören und sehen könne. Dann heißt es, der Prelocutor solle nun seine Rede nach aller spei loffliker sede sprechen. Und obwohl es sich um einen Lesetext handelt, wird am Ende ein Publikum aufgefordert, gemeinsam den Gesang Sancta maria virgo anzustimmen.23
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Der moderne Titel .Spiel vom Sündenfall' ist ebenso wie die bei Neumann gebrauchte Bezeichnung , Spiel von der Geburt Mariae' hinsichtlich des Inhalts, der „den heilsgeschichtlichen Zusammenhang von Schöpfung, Sündenfall und Vorbereitung der Erlösung durch die Geburt Marias" darlegt, irreführend; vgl. Bergmann (Anm. 7), S. 368-370 (Zitat auf S. 369), Nr. 171 und Neumann (Anm. 1), Bd. 2, S. 867, Nr. 3690. Vgl. Krage (Anm. 18), vv. 49-71: Vnhorsam is de erste schunt. Dar mede sint wy all vorwunt Vnde mohten des alle naturliken staruen. Sus schundet de duuel noch alle tydt tho, Auent Spaden, morgen vro, Vppe dat de mynsche möge vordaruen. Vnhorsam hefft my hir tho gedreuen, Dat ick dut spei sus hebbe gescreuen, Dar gy vth marken mögen vnde leren Goddes vreuel vnde sine barmherticheyt, Dar hir beyde van gescreuen steyt. Dat wyl wy hir speien tho iüen eren. Eyn ander nu spreken seal an, Dar gi vorder inne vorstan Mögen vnse meninge, Wur vmme wy in dusser eyninge Sint gesammet vp dussen plane. Hir vmme swigent stille vnde geuet bane, So möge gi hören vnde seyn, Wat iuk hir tho willen seal sceyn. Prelocutor, spreck vp dyne rede, Nach aller spei loffliker sede, Vnde nüm van gode dar vor dat Ion. Das schon in dem Teil der Einleitung, der das Akrostichon enthält (vv. 1 ^ 8 ) , verwendete ungewöhnliche Reimschema (Paarreim - umschlingender Reim), setzt sich bis v. 60 fort; vgl. Krage (Anm. 18), S. 78. Vgl. Krage (Anm. 18), v. 3961 f. :
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Wir müssen also der Gattung ,Spiel' neben nachweisbar bei Aufführungen verwendeten oder für solche geschaffenen Texten auch ,Lesedramen' zurechnen. Zur Kategorie , Lesedrama' gehören aber nur jene Texte, die mit verschiedenen Mitteln, welche auch bei gesicherten Aufführungstexten Verwendung finden (also konstitutiv für die Gattung ,Spiel' sind), beim Leser eine imaginäre Aufführungssituation evozieren, womit sie sich grundlegend von anderer Literatur mit dialogischem Aufbau unterscheiden. Ob sie dabei Aufführungstexte zur Vorlage hatten oder direkt für Leser geschrieben wurden, wird sich nur für jedes Spiel gesondert und in vielen Fällen wohl gar nicht beantworten lassen, bleibt aber in dem hier vorgelegten Argumentationszusammenhang auch zweitrangig. Interessanter ist zunächst, welche Folgerungen und Fragen sich aus den verschiedenen Zweckbestimmungen der überlieferten Spieltexte ergeben: 1. Es muß untersucht werden, ob und inwieweit die unterschiedlich intendierte Rezeptionssituation bei für Zuschauer oder Leser gestalteten Stücken einen Einfluß auf Inhalte, deren Darbietung, die Komplexität der Argumentation und den Aufbau der Texte nimmt. Bei zur Aufführung bestimmten Texten können zudem verschiedene Auffuhrungssituationen oder auch Spielinhalte jeweils andere Gestaltungsprinzipien erforderlich gemacht haben.24 2. Die Verfasser bzw. Bearbeiter mußten darüber hinaus, je nachdem, ob sie eine Textfassung für eine Aufführung oder zum Lesen erstellten, von unterschiedlichen Rezipientenkreisen ausgehen. Bei einer Aufführung auf dem städtischen Marktplatz bestand das Publikum ζ. B. aus Angehörigen aller sozialen Schichten. Zu den Rezipienten von Lesetexten zählten hingegen nur diejenigen, die lesekundig waren (also über eine gewisse Bildung verfügten25) und Zugang zu den Büchern hatten. Andererseits ist hier eine Beschränkung auf ein städtisches Publikum nicht mehr notwendigerweise vorauszusetzen.26 Hatte dies alles
Dauid
[...]
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Nu singet myt my, wat juwer is: Sancta maria virgo, succurre miseris. Es folgt nur noch die Schlußbemerkung des Schreibers. - Vgl. zu diesem Spiel auch die Ausführungen zum ,Gesamteindruck' bei Bergmann (Anm. 7), S. 370. Lassen sich ζ. B. unterschiedliche Gestaltungsprinzipien für Prozessionsspiele, die an verschiedenen Plätzen aufgeführt wurden, und für nur an einem Ort aufgeführte Spiele finden? Wie wirken sich die Bedingungen des Auffiihrungsortes (Marktplatz, Kirche, Stube etc.) auf die Gestaltung der Stücke aus? Wenn bei einer Aufführung vornehme (fürslmessige) Personen anwesend waren, so konnte das, wie im Falle des ,Freiburger Fronleichnamspiels' Β (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 1 2 0 122, Nr. 45), ζ. B. Einfluß auf die Publikumsanreden des Precursors haben. Dabei gibt es Texte, die lediglich Lesekundigkeit verlangten, und andere, für deren Rezeption u. a. auch gute Lateinkenntnisse erforderlich waren und die sich also an höher gebildete Leser, vermutlich vor allem Geistliche, wandten. Zu unterschiedlichen Rezipientenschichten geistlicher Literatur vgl. ζ. B. Werner Williams-Krapp, Laienbildung und volkssprachliche Hagiographie im späten Mittelalter, in: Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann (Hgg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Symposion Wolfenbüttel 1981, Stuttgart 1984, S. 6 9 7 - 7 0 9 und Klaus Schreiner, Grenzen literarischer Kommunikation. Bemerkungen zur religiösen und sozialen Dialektik der Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformation, in: ebd., S. 1-23. So ζ. B. bei Lesehandschriften, die aus Klöstern stammen, die nicht in der Stadt lagen. Es gilt aber auch für einige Auftragshandschriften wie ζ. B. das .Münchner Osterspiel', das vermutlich von
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Auswirkungen auf Inhalte, Gestaltung und Schwierigkeitsgrad der Texte? Und wenn ja, welche? Lassen sich aus den überlieferten Lesetexten weitere Rückschlüsse auf das Bildungsniveau sowie die Interessen (und damit auf die gesellschaftliche Stellung) der Leser ziehen, die jeweils angesprochen werden sollten? 3. Zieht man alle überlieferten Formen von Spieltexten in Betracht und stellt sie in den Kontext der übrigen Literatur der Zeit, so wird deutlich, daß allenthalben Übergänge und Beeinflussungen möglich sind und auch stattgefunden haben. Das Jüngste Gericht wird ζ. B. im theologischen und juristischen Schrifttum behandelt, in Predigten, in der lateinischen und volkssprachigen Erbauungsliteratur, in Lesedramen und in Auffiihrungstexten bzw. Textfassungen, die in engerem Zusammenhang mit erfolgten oder vorbereiteten Auffuhrungen standen. Im Falle der Weltgerichtsspiele basieren die mit Auffuhrungen verbundenen Fassungen offenbar auf Lesedramen, die dem Typ der sog. Vulgatfassung entsprachen, während das von Konrad Bollstatter zu Lesezwecken bearbeitete Berliner .Spiel' in dem an sich zur Vulgatfassung gehörenden Text auch erzählende Partien aufweist.27 Man muß sich anhand dieses Beispiels fragen, warum der Verfasser bzw. Bearbeiter eines Lesedramas über das Jüngste Gericht sich gerade für diese Form der Textgestaltung entschied. War seine Vorlage ein Auffiihrungstext, so muß es Gründe gegeben haben, daß er gerade diesen und nicht eine andere Vorlage heranzog, etwa, weil er seine Vorlage als inhaltlich oder kompositorisch besonders interessant und qualitativ hochstehend bewertete. Aber auch wenn er (gleich, unter Verwendung welcher Vorlagen) ein Lesedrama neu schuf, wird seine Wahl der Textgestalt nicht zufällig gewesen sein, ζ. B. könnte der mit einer Aufführungsfiktion einhergehende ,dramatische' Effekt ihn hierzu bewogen haben. Für die Definition eines Gattungsbegriffs ,mittelalterliches Schauspiel', der (1.) alle beschriebenen Formen der Textüberlieferung umfaßt, es (2.) erlaubt, mit einiger Sicherheit Texte der Gattung zuzuordnen, von ihr zu unterscheiden oder als Mischformen einzustufen, und der (3.) darüber hinaus dem ,mittelalterlichen' Verständnis gerecht werden soll, muß man jedenfalls davon ausgehen, daß es auch für einen zeitgenössischen Leser bestimmte Signale gab, die einen Text als ,Spiel' auswiesen. Diese Signale können natürlich im Verlauf der etwa zweihundertfunfzigjährigen Überlieferungsgeschichte Veränderungen unterworfen gewesen sein. Sie zu erkennen und zu beschreiben ist die Voraussetzung für die Bildung eines Gattungsbegriffs.28 Es geht dabei nicht mehr hauptsächlich darum, ob ein be-
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Anfang an für die Hofbibliothek der bayerischen Herzöge bestimmt war (vgl. Bergmann, [Anm. 7], S. 258f., Nr. 115). In den zu Lesezwecken aufgezeichneten Spielen wird das Jüngste Gericht vor allem in der sog. Vulgatfassung der Weltgerichtsspiele behandelt, aber auch ζ. B. (in allegorisierender Form) in der ,Erfurter Moralität' (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 87-89, Nr. 32). In Aufführungshandschriften oder in Zusammenhang mit Aufführungen stehenden Textzeugen erscheint es im ,Münchner' und .Churer Weltgerichtsspiel' (nach einer Aufführung aufgezeichnet) sowie im ,Luzerner Weltgerichtsspiel Γ, aber auch in Fronleichnam- und anderen Spielen (als ein Handlungsteil neben weiteren). Einen umfassenden Überblick über die mittelalterlichen Weltgerichtsspiele und ihre Überlieferung bietet Dieter Trauden, Gnade vor Recht? Untersuchungen zu den deutschsprachigen Weltgerichtsspielen des Mittelalters, Amsterdam 2000. Interessant wäre unter diesem Gesichtspunkt ζ. B. ein Vergleich des ,Mühlhäuser Katharinenspiels' (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 255-257, Nr. 114) mit dem von Sibylle Anna BierhalsJefferis, Ein spätmittelalterliches Katharinenspiel aus dem Cod. Ger. 4 der University of
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stimmter Text einmal aufgeführt wurde oder auf einen Aufführungstext zurückgeht, sondern darum, woran er von einem mittelalterlichen Rezipienten als , Spieltext' erkannt werden konnte. Viele der bisher als Kriterien für einen hinter einem Lesetext stehenden Aufführungstext herangezogenen Indizien werden sich dabei (vor allem wenn sie in einem Text gehäuft auftreten) als allgemeine Kennzeichen der Gattung ,Spiel' herausstellen, die dieser so zugehören, wie es für andere Gattungen, ζ. B. Mären, Stadtchroniken etc., ebenfalls typische Merkmale gibt.29 Ein weiteres, auf den ersten Blick eher irritierendes Faktum blieb bei der Erforschung des mittelalterlichen Schauspiels fast völlig unbeachtet: Es sind bislang rund 1000 Auffuhrungen religiöser Spiele im gesamten deutschen Sprachraum archivalisch belegt. Diesen Aufführungszeugnissen stellen sich etwa 200 überlieferte Texte zur Seite, die wir heute der Gattung , Spiel' zurechnen. Allzu häufig lassen sich aber Nachrichten von Aufführungen nicht mit bekannten Spieltexten und Spieltexte nicht mit belegten Aufführungen verbinden. Warum gingen so viele Spieltexte nachgewiesener Auffuhrungen verloren, wurden also nicht in einer Weise bzw. an einer Stelle (d. h. in einem Überlieferungszusammenhang) aufgezeichnet, die ihren Erhalt wahrscheinlich machte? Warum gibt es daneben so viele Texte (vor allem in Lesehandschriften aufgezeichnete), die sich mit keiner dokumentierten Aufführung in Verbindung bringen lassen? Allerdings verdanken wir die Überlieferung von Spieltexten mitunter nur eher .zufälligen' historischen Gegebenheiten. Hätte ζ. B. der Sterzinger Rat die Spielmanuskripte im Besitz Vigil Räbers nach dessen Tod nicht angekauft30, wären sie vermutlich verloren gegangen. Unser heutiges Bild der Tiroler Spiellandschaft würde dann völlig anders aussehen.31 Das Beispiel zeigt aber zugleich auch, daß der Rat der Stadt Sterzing den Wert dieser Spieltexte offenbar nicht gering einschätzte und ein Interesse daran hatte, sie zu bewah-
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Pennsylvania: Text und Studien zu seiner legendengeschichtlichen Einordnung, Univ. of Pennsylvania 1982 [Diss.] edierten und als Spiel bezeichneten Text. Derartige Kennzeichen für , Spieltexte' finden sich vor allem in den Precursor-Reden am Anfang, Schluß sowie in den textgliedernden Zwischenreden. Bei nur zur Lektüre bestimmten Spielüberlieferungen und solchen, die - soweit wir sagen können - der Textkonservierung dienten, fehlen die Precursor-Reden allerdings öfter. Eine Diskussion der höchst unterschiedlichen Funktionen, welche die Precursor-Reden übernehmen, sowie der möglichen Gründe dafür, warum sie in manchen Texten fehlen, würde hier zu weit fuhren und muß einer detaillierteren Untersuchung vorbehalten bleiben. Bisherige Arbeiten hierzu haben das Thema noch keineswegs vollständig ausgelotet; vgl. ζ. B. Eva Mason, Prolog, Epilog und Zwischenrede im deutschen Schauspiel des Mittelalters, Diss. Basel 1949 und Christoph Flügel, Prolog und Epilog in den deutschen Dramen und Legenden des Mittelalters, Zürich 1969. Vgl. Neumann (Anm. 1), Bd. 1, S. 670f., Nr. 2641. Vgl. dazu bereits Bernd Neumann, Zeugnisse mittelalterlicher Auffuhrungen im deutschen Sprachraum. Eine Dokumentation zum volkssprachigen geistlichen Schauspiel. Teil 1 [mehr nicht erschienen]: Die Erforschung der Spielbelege, Diss. Köln 1979, S. 88. Die Summe, welche der Rat für Rabers Nachlaß zahlte, war zwar nicht besonders hoch (6 Gulden), die Beteiligung von Bürgermeistern, Stadtschreibern, Schulmeistern, der städtischen Geistlichkeit und anderen angesehenen Bürgern an PassionsspielaufFührungen in Sterzing wie auch in Bozen und die finanzielle Unterstützung der Auffuhrungen durch den Rat dieser Städte zeigt aber, welche Bedeutung den Spielen in Tirol zukam; vgl. die Untersuchung der Quellen bei Joseph Eduard
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Die Frage nach der zeitgenössischen Wertschätzung der ,Spiele' stellt sich insbesondere bei den zu Lektürezwecken aufgezeichneten Stücken. Man kann davon ausgehen, daß Spiele mit ungewöhnlicher Thematik oder ausgefallener bzw. eigenständiger Behandlung eines Stoffes eher in Lesehandschriften oder Drucke aufgenommen wurden, als solche, die eingefahrenen, allgemein bekannten Mustern folgten. Da sie nicht ohne weiteres aus vorhandenen Vorlagen (ζ. B. der Bibel, der Legendendichtung etc.) oder aus dem Gedächtnis rekonstruierbar waren, wird es ein größeres Interesse daran gegeben haben, sie aufzubewahren und in bestimmte Kontexte (ζ. B. in Sammelhandschriften) aufzunehmen, die nicht in direkter Verbindung mit Aufführungsbestrebungen standen. In derartigen Überlieferungsträgern hatten sie aber auch eine bessere Chance, der Nachwelt erhalten zu bleiben. Aufführungsmanuskripte unterlagen hingegen allein schon wegen ihrer spezifischen Gebrauchssituation einem höheren Verschleiß. Darüber hinaus ist besonders bei Texten einfacheren Zuschnitts damit zu rechnen, daß sie, wenn man sie nicht mehr brauchte (ζ. B. weil sie ,unmodern' geworden waren oder die Spieltradition an einem Ort abbrach), nicht besonders aufbewahrt wurden und verloren gingen. Gab es schließlich Lesedramen, die von vornherein nur zur Lektüre gedacht waren und die auch später nicht für Aufführungszwecke verwendet oder bearbeitet wurden, so kann es zu diesen ohnehin keine Aufführungszeugnisse geben.33 Der Erhalt eines Spieltextes bis in die heutige Zeit ist demzufolge in vielen Fällen davon abhängig, welchen Wert man ihm schon im Mittelalter beimaß. Es muß Auswahlkriterien dafür gegeben haben, welche Spieltexte man sorgfältig aufbewahrte bzw. zur Konservierung abschrieb, welche in Lesehandschriften Aufnahme fanden und welche man zu irgendeinem (vielleicht auch späteren) Zeitpunkt einfach nicht weiter aufhob. Sieht man einmal davon ab, daß viele Textzeugnisse (und auch Spielmaterialien) aus unterschiedlichen Gründen erst in nachmittelalterlicher Zeit verloren gingen,34 so bleibt bereits für das Mittelalter selbst den Fragen nachzugehen, wer diesen Texten welche Wertschätzung entgegenbrachte und wer sie wo aufbewahrte bzw. aufzeichnete (ζ. B. welche Rolle etwa die städtische Oberschicht oder Geistlichkeit im Zusammenhang mit der Überlieferung spielte). Unsere Vorstellungen über Inhalte, Kompositionsprinzipien und Qualität des mittelalterlichen Schauspiels müssen leider notwendigerweise zum großen Teil verzerrt bleiben, da wir nicht wissen können, welches Bild sich ergäbe, wenn uns die Texte aller Auffuhrungen bekannt wären. Andererseits steht aber fest, daß gerade vielen der erhaltenen Spieltexte von
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Wackernell, Altdeutsche Passionsspiele aus Tirol, Graz 1897 (zum Ankauf von Rabers Nachlaß siehe dort S. Xllf.). Bei Überlieferungslagen, die so beschaffen sind, daß sich zu einem bestimmten Thema einerseits Texte erhalten haben, die in keinem erkennbaren Zusammenhang mit nachgewiesenen Auffuhrungen stehen, und andererseits Auffuhrungsnachrichten, denen sich keine Spieltexte zuordnen lassen, darf man keinesfalls ohne weiteres annehmen, daß bei den verbürgten Auffuhrungen Spiele auf die Bühne kamen, die den erhaltenen Textzeugen mehr oder weniger genau entsprachen. Dies gilt ζ. B. für die Mehrzahl der überlieferten Weltgerichtsspiel-Fassungen und die Nachrichten über Auffuhrungen von Spielen, die das Jüngste Gericht behandelten; vgl. dazu Trauden (Anm. 27). Etwa aufgrund des Einflusses der Reformation oder der Geringschätzung dieser Literatur in , vorgermanistischer' aber auch jüngerer Zeit durch an ihr nicht interessierte Personen (vgl. ζ. B. das ,Altenmarkter Weltgerichtsspiel'), der Vernichtung von Bibliotheksbeständen durch Kriege, Feuer, Wasserschäden, Archivbereinigungen oder auch Buchbinder etc.
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den mittelalterlichen Zeitgenossen ein höherer Wert beigelegt wurde, als dies häufig durch die moderne Literaturwissenschaft geschah und geschieht.35 Die Geringschätzung, welche die moderne Forschung den mittelalterlichen Spielen nicht selten entgegenbrachte, beruht zum großen Teil darauf, daß die komplexen Kompositionsprinzipien vieler Texte nicht erkannt und die dem Genre eigenen Gestaltungsmittel nicht verstanden wurden.36 Eine der Gattung gerechtwerdende Beurteilung ihrer literarischen Qualität hat von mehreren Prämissen auszugehen: 1. Die in den Texten dargebotenen Inhalte müssen ermittelt und im Gesamtgefüge des geistig-kulturellen Umfeldes ihrer Zeit verortet werden. 2. Die gattungsspezifische Art und Weise der Darbietung dieser Inhalte und die Gründe für das Vorgehen der Verfasser und Bearbeiter sind zu erhellen. 3. Dafür ist ebenfalls notwendig zu untersuchen, aus welchen sozialen Schichten die Verfasser, Auftraggeber etc. der Aufführungs- bzw. Lesetexte, oder auch die Initiatoren und Träger der aufgeführten Spiele stammten, an welches Publikum sie sich richteten, welche Absichten sie verfolgten und mit welchen Kontrollmechanismen (ζ. B. durch den Rat einer Stadt oder klerikale Instanzen) sie sich konfrontiert sahen.37 Wenden wir uns zunächst den Verfassern und Bearbeitern der Spieltexte bzw. den Initiatoren der Aufführungen zu. Dort, wo wir diese aus archivalischen Quellen kennen oder ihren Bildungsstand aus den Inhalten der Texte erschließen können, handelte es sich ζ. B. um Stadtschreiber, Schulmeister, Rechtskundige (ζ. B. Klerikernotare und -juristen38), Geistliche oder theologisch Gebildete - jedenfalls ganz überwiegend um Leute mit überdurchschnittlich hoher Ausbildung. Häufig besaßen sie Lateinkenntnisse, mitunter stellten sie
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Siehe ζ. B. die Bewertung der Emmausspiele des Debs-Kodex bei Adolph Pichler, Ueber das Drama des Mittelalters in Tirol, Innsbruck 1850, S. 49f. (.Zoten und Rohheiten') und bei Wilhelm Creizenach, Geschichte des neueren Dramas. Bd. 1, Halle 2 1911, S. 245 (,roh und abgeschmackt'). 36 Zur Frage der Literarizität mittelalterlicher Schauspiele vgl. bereits Neumann (Anm. 2). S. 133f. Als Beispiel für solche Fehleinschätzungen können die Weltgerichtsspiele herangezogen werden, als deren Strukturprinzipien in der früheren Forschung z.T. .Wiederholung und Reihung' genannt wurden, was die komplizierte Verflechtung und Verzahnung dieser Texte völlig verkennt; vgl. u. a. Schulze (Anm. 18), S. 36 (Zitat; s. a. S. 49); siehe dazu Trauden (Anm. 27). - Die Fastnachtspiele von .Rumpold und Mareth' sind ζ. B. am Ablauf kanonischer Gerichtsprozesse orientiert, was nur erkennbar wird, wenn man mit mittelalterlichen Rechtsformen vertraut ist; vgl. Dieter Trauden, ,...daz man dier die recht nit prech..' - Die Bearbeitungen des Fastnachtspiels von Rumpold und Mareth, ABäG 38/39 (1994), S. 349-375. 37 Zur Frage nach den Initiatoren und Trägern der Spiele vgl. bereits Neumann (Anm. 2), S. 129131. - Hinsichtlich der Zensur und Genehmigungspflicht durch den Rat bleibt noch zu untersuchen, nach welchen Kriterien die Spiele geprüft und wer mit der Prüfung beauftragt wurde. Siehe dazu ζ. B. die Textüberprüfung vor der Auffuhrung eines Passionsspiels in Mainz im Jahre 1498; vgl. Neumann (Anm. 1), Bd. 1, S. 574f. , Nr. 2257. Siehe dazu auch das Zensurmandat des Mainzer Erzbischofs Berthold von Henneberg vom 22. März 1485; vgl. Schreiner (Anm. 25), S. 7. Siehe auch den Beschluß des Ulmer Rates aus dem Jahre 1514, ein Passions- oder Osterspiel in Geislingen zu verbieten, das die Geislinger ohne Wissen der herschafftpfleger auffuhren wollten; vgl. Neumann (Anm. 1), Bd. 1, S. 379, Nr. 1829. Vgl. ebenfalls das Stichwort .Spielgenehmigungen' im Register .Sachen und Begriffe' bei Neumann (Anm. 1), Bd. 2, S. 1077. 38 Zu ihnen könnte ζ. B. der Verfasser des Fastnachtspiels von ,Rumpold und Mareth' gehört haben; vgl. Trauden (Anm. 36).
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auch ihre Weitläufigkeit zur Schau39. Fast immer sind sie, ebenso wie die Angehörigen des Rates, dem die Oberaufsicht über die Durchführung der Spiele oblag, der städtischen Oberschicht oder oberen Mittelschicht zuzurechnen. 40 Unter den übrigen an einer Aufführung Beteiligten finden sich dann in der Regel auch Angehörige anderer städtischer Schichten. In einigen Fällen oblag die Veranstaltung von Aufführungen eigens dafür gegründeten Spielbruderschaften, deren soziale Zusammensetzung jeweils noch näher zu erforschen wäre. Das Bildungs- und Sozialniveau der bekannten Verfasser, Bearbeiter und Initiatoren schlägt sich überall in den Inhalten und dem dargebotenen , Wissen' der Spieltexte nieder. Hier verknüpfen sich breite Kenntnisse vor allem der theologischen Literatur mit als wichtig empfundenen Fragen der Zeit. In den Texten finden sich beispielsweise: verschiedene theologische Ansätze, Umgewichtungen und Streitpunkte; hochaktuelle seelsorgerische Themen, wie ζ. B. das der ,Ars moriendi', der Allgegenwart des Todes (der in einigen Spielen als Personifikation auftritt) oder auch der Marienverehrung; lateinische Zitate und Übersetzungen von Bibelstellen, aus den Schriften Augustins und anderer Kirchenlehrer;41 eine Vielzahl liturgischer Gesänge, häufig mit volkssprachigen Paraphrasen; bestimmte literarische Kompositionsmuster (ζ. B. das der Prä- und Postfigurationen); Elemente juristischer Verfahrensweisen und vieles andere mehr. Die Darstellung der städtischen Lebenswelt und ihrer Probleme (soziale und politische Probleme, besondere Vorkommnisse, die Heterogenität des städtischen sozialen Umfeldes) wird ebenso in die Texte einbezogen wie auch politische Ereignisse, die über die Körperschaft Stadt hinausgingen, aber offenbar von Interesse waren (wie ζ. B. die Türkengefahr oder später der Bauernkrieg). All dies harrt zumeist noch einer genaueren Untersuchung.
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Viele Vertreter des städtischen Bürgertums mußten von Berufs wegen reisen (ζ. B. Kaufleute und Handwerker), begaben sich auf Wallfahrten oder waren ganz allgemein am Geschehen der Welt außerhalb ihrer Stadt interessiert. In den Spielhandschriften des Tiroler Spielleiters und Malers Vigil Raber etwa, der auf Reisen weit herumkam, finden sich immer wieder Anspielungen auf Orte und Ereignisse außerhalb Tirols, die fur das Publikum verständlich und von Interesse gewesen sein müssen; vgl. ζ. B. das .Brixener EmmausspieP, dessen Text bislang leider nur in einer philologisch unzureichenden und mit vielen Fehlern behafteten Edition vorliegt (Karl Wolfsgruber und Norbert Hölzl, Das Emmausspiel aus dem spätmittelalterlichen Brixen, Der Sehlem 42 [1968], S. 151-162). Zu den Personenkreisen, die aufgrund ihrer Ausbildung überhaupt als Verfasser, Bearbeiter etc. in Frage kommen, vgl. ζ. B. Ursula Peters, Literatur in der Stadt, Tübingen 1983, S. 198-206 u. S. 225-279; Ulrich Andermann, Bildung, Wissenschaft und Gelehrte in der Stadt um 1500. Ansätze zu einem Vergleich Nord- und Südwestdeutschlands, in: Bernhard Kirchgässer u. Hans-Peter Becht (Hgg.), Stadt und Bildung, 34. Arbeitstagung in Mainz 1995, Sigmaringen 1997, S. 9-49 (bes. S. 38—46); Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250-1500, Stuttgart 1988, S. 249-254 und Erich Maschke, Soziale Gruppen in der deutschen Stadt des späten Mittelalters, in: Josef Fleckenstein u. Karl Stackmann (Hgg.), Über Bürger, Stadt und städtische Literatur im Spätmittelalter, Göttingen 1980, S. 127-145. Den Verfassern und Bearbeitern mußten diese Texte also zugänglich und (bei lateinischen Texten) verständlich sein. Besonders bei Zitaten aus theologischen Werken muß überprüft werden, ob es zu diesen deutsche Übersetzungen gab oder ob sie in der volkssprachigen Predigtliteratur greifbar waren. Viele der Werke Augustins ζ. B. waren bis gegen Ende des Mittelalters offenbar noch nicht ins Deutsche übersetzt; vgl. Kurt Ruh, .Augustinus', in: 2 VL Bd. 1 (1978), Sp. 531-543.
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Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Spiele durchweg den Bildungsanspruch ihrer Verfasser, d. h. aber auch den des Stadtbürgertums überhaupt dokumentieren. Dabei ist zu vermuten, daß die Verfasser oder Bearbeiter ihre Kenntnisse für jedermann offen oder auch (für die gebildeteren Rezipienten) versteckt zeigen wollten. Dieser Bildungsanspruch des Stadtbürgertums kommt ebenfalls in den im Spätmittelalter entstehenden (durch die Entwicklung des Buchdrucks weiter geförderten) Kirchen-, Rats- und Ratsschulbibliotheken sowie Privatsammlungen zum Ausdruck, die zwar ebenso wie die städtischen Klosterbibliotheken nur selten dem breiten Publikum offenstanden, aber jedenfalls doch der gebildeten städtischen Oberschicht bzw. dem Klerus zugänglich waren.42 Noch andere Aspekte, die in diesen Zusammenhang gehören, sind bei der Untersuchung der Spieltexte zu berücksichtigen. Sofern die Spiele in Sammelhandschriften aufgezeichnet wurden, gemeinsam mit Werken anderer Gattungen, müßte man danach fragen, ob sich daraus nicht Erkenntnisse über ihr geistesgeschichtliches Umfeld gewinnen lassen. So ist ζ. B. das ,Kremsmünsterer Dorotheenspielfragment' in einem Kodex überliefert, der überwiegend lateinische Texte aus dem Bereich des elementaren oder höheren Schulwissens und der universitären Artistenfakultät enthält und dem Kloster Kremsmünster im Jahre 1440 durch den Kremser Stadtpfarrer Johannes Seid geschenkt wurde.43 Eine detaillierte Untersuchung der intendierten Benutzerkonzepte derartiger Sammelhandschriften, seien sie bereits ursprünglich als solche konzipiert oder erst später durch Zusammenbinden einzelner Hefte entstanden, ist für die Spieleforschung bislang so gut wie gar nicht durchgeführt worden.44 An dem hohen Bildungsniveau, das in Komposition und Inhalt vieler Spiele zutage tritt, läßt sich auf der Grundlage der heute bekannten Forschungsergebnisse jedenfalls nicht mehr zweifeln.45 Man muß sich allerdings fragen, wer unter den Rezipienten überhaupt in
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Zu den Bibliotheken und ihren Benutzern vgl. Andermann (Anm. 40), S. 2 0 - 2 4 und Frederic Heltweg, Das ,Bildungsangebot' in Schlettstadt in der zweiten Hälfte des XV. und im ersten Viertel des XVI. Jahrhunderts, in: Literatur und Laienbildung (Anm. 25), S. 24—40 (bes. S. 31-35). Die verschiedenen im 13., 14. und 15. Jh. entstandenen Teile des Kodex wurden im 15. Jh. zusammengebunden; vgl. dazu Bergmann (Anm. 7), S. 179f., Nr. 74; Neumann (Anm. 1), Bd. 2, S. 844, Nr. 3636 und Elke Ukena, Die deutschen Mirakelspiele des Spätmittelalters. Studien und Texte, Bern [usw.] 1975, S. 4 2 - 9 6 u. S. 322-349. - Interessant wäre auch eine Untersuchung der ,Theophilus-Spiele' W und S, die beide in Sammelhandschriften überliefert sind und denen jeweils die Dichtung ,Flos und Blankeflos' vorangeht, während die Handschriften in allen anderen Stücken vollständig voneinander abweichen; zu Aufführungen von ,Theophilus-Spielen' und möglichen Verbindungen zum ,Flos und Blankeflos'-Stoff vgl. Bernd Neumann, Mittelalterliches Schauspiel am Niederrhein, ZfdPh 94 (1975), S. 147-194 (hier S. 170f. u. S. 188f.). Aber nicht allein der Überlieferungszusammenhang innerhalb einer Sammelhandschrift kann Aufschluß über das geistige Umfeld der Spieltexte geben, sondern auch, in welchen Bibliotheken sie mit welchen anderen Büchern zusammenstanden. Es wäre also zu untersuchen, ob sich nicht zumindest in einzelnen Fällen ermitteln läßt, welche Literatur in den Rats-, Ratsschul-, städtischen Kloster- und Privatbibliotheken etc. gemeinsam mit den Spieltexten gesammelt wurde. Daß diese Sammlungen durchweg zufallig zustandekamen, ist kaum zu erwarten. Siehe ζ. B. die literarischen und theologischen Kenntnisse, die der Verfasser und die Bearbeiter der Weltgerichtsspiele besessen haben müssen; vgl. Trauden (Anm. 27). Aber nicht nur die Verfasser und Bearbeiter religiöser, sondern auch die profaner Schauspiele stellen ihre Bildung immer
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der Lage war, kompliziertere Aufbauschemata und Argumentationen in den Texten zu erkennen, zu begreifen und zu würdigen. Den Angehörigen der gebildeten Schichten dürfte dies selbstverständlich leichter gefallen sein als denen, die nur über ein geringes Bildungsniveau verfugten oder gar, wie es für die Masse der nicht zum Bürgertum gehörenden einfachen Bewohner einer Stadt zutraf, gänzlich ungebildet waren.46 Es liegt ebenfalls auf der Hand, daß sich komplexere Zusammenhänge dem Leser eines Textes eher erschließen konnten als dem Zuschauer einer rasch vorüberziehenden Auffuhrung. Hierin ist vielleicht ein weiterer Grund dafür zu suchen, weshalb mittelalterliche Schauspiele so oft in Lesehandschriften aufgezeichnet wurden. Alle textlichen Verzahnungen und kompositorischen wie argumentativen Feinheiten werden aber wohl keinem Zuschauer oder Leser vollständig bewußt geworden sein. Diejenigen Untersuchungen mittelalterlicher Spiele, die neben den Texten auch ihren historischen, theologischen und geistesgeschichtlichen Kontext berücksichtigten, förderten stets Verständnisebenen und Verknüpfungen zutage, die einem oberflächlichen Leser damals wie heute zwangsläufig verborgen blieben und bleiben. Warum gestalteten die Verfasser ihre Schauspiele aber in dieser Weise, wenn sie davon ausgehen mußten, daß vieles von dem, was die Texte enthalten, große Teile des Publikums nicht erreichen würde? Forschungsarbeiten zum religiösen Spiel des Mittelalters weisen wiederholt darauf hin, daß Aufführungen solcher Dramen von den Zeitgenossen als Gottesdienst verstanden wurden,47 bei dem eine andächtige, fromme Haltung Akteuren wie auch Zuschauern die Gnade Gottes und, wie mitunter versprochen wird, sogar Vergebung ihrer Sünden oder partialen Ablaß erwirkte.48 Die direkte Ausrichtung der Spiele auf die letzte Instanz bedeutete für den Verfasser eines solchen Textes (wie für Verfasser religiöser Texte überhaupt) eine hohe Verantwortung gegenüber dem göttlichen Richter. Er wußte, Gott würde seine Bemühungen (sowie die aller bei einer Aufführung Anwesenden bzw. die der Leser) sehen, weshalb in den Spielen in letzter Konsequenz nichts dem Wort Gottes zuwiderlaufen durfte.49 Auch
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wieder unter Beweis: vgl. ζ. B. die Fastnachtspiele von ,Rumpold und Mareth' (Anm. 36), die Fastnachtspiele um Aristoteles etc. Vgl. dazu Georg Steer, Zum Begriff ,Laie' in deutscher Dichtung und Prosa des Mittelalters, in: Literatur und Laienbildung (Anm. 25), S. 764—768 wie auch verschiedene andere Beiträge des gleichen Sammelbandes. So zuletzt bei Frey (Anm. 4). Vgl. vor allem die Prologe und Epiloge verschiedener Spiele, ζ. B. das ,Alsfelder Passionsspiel' (in: Das Drama des Mittelalters. Die lateinischen Osterfeiern und ihre Entwicklung in Deutschland, hg. v. Richard Froning, Stuttgart 1891/92 [Deutsche Nationalliteratur 14], Nachdruck Darmstadt 1964, S. 547-864), v. 101f., vv. 3009-3013 u. w . 8091-8093, das ,Hessische Weihnachtsspiel' (Froning, ebd., S. 902-939), vv. 13-18, das ,Redentiner Osterspiel' (Das Redentiner Osterspiel, hg. v. Brigitta Schottmann, Stuttgart 1975), vv. 9-18, das ,Innsbrucker Spiel von Mariae Himmelfahrt' (Altteütsche Schauspiele, hg. v. Franz Joseph Mone, Quedlinburg [usw.] 1841), vv. 2042-2044 (viel vorsichtiger im gleichen Spiel: vv. 51-56 u. w . 864-878) und das .Berliner (rhein.) Osterspiel' (Das Rheinische Osterspiel der Berliner Handschrift Ms. Germ. Fol. 1219 [...], hg. v. Hans Rueff, Berlin 1925), nach v. 2277 (Ablaß von dissem spyl subiungit idem immediate - es folgt der Text des Ablasses). Dies gilt auch für diejenigen Abschnitte religiöser Spiele, welche auf der untersten Verständnisebene profane Thematiken behandeln, ζ. B. das sog. Krämerspiel in den Oster- und Passionsspielen, die Kräutermonologe des Gärtners beim Grabbesuch der Marien in den Tiroler Spielen
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unbeabsichtigte Verfälschungen der göttlichen Lehre waren Gotteslästerung oder Häresie, die hinsichtlich der beabsichtigten Lehrfunktion zudem die Verführung einfacher Leute zu falschem Glauben zur Folge haben konnte.50 Die Spiele mußten also sowohl .gottgefällig' als auch .richtig' sein, weshalb Perfektion und theologische Korrektheit anzustreben waren.51 Hieraus erklärt sich, warum die Spieltexte fast durchgängig in der jeweiligen Zeit virulente theologische und seelsorgerische Probleme aufgreifen,52 diese aber - soweit sich im Augenblick sagen läßt - stets in konservativ-dogmatischer bzw. unanfechtbarer Weise behandeln.53 Dem steht gegenüber, daß sich die meisten der bekannten Spieltexte zumindest auf den ersten Blick einer relativ einfachen Sprache bedienen, was ihre Beurteilung als minderwertig erheblich befördert hat. Es müßte aber noch viel genauer ermittelt werden, ob es nicht auch auf der Ebene der Sprache in den Spieltexten verschiedene Stilebenen gibt, ζ. B. bei den heiligen und profanen Handlungsteilen der Osterspiele, oder ob nicht sogar die einfache Sprachoberfläche an besonderen Punkten aufgebrochen wird.54 Die relativ einfache Sprache und der meist einfache metrische Bau (paarreimige Vierheber) sind aber wohl auch von den Intentionen und Erwartungen der Verfasser abhängig. Wenn bei den , Spielen' eine öffentliche Aufführung zumindest immer mitgedacht werden sollte, dann richten sich diese Texte gattungsimmanent nicht allein an die Angehörigen einer städtischen Oberschicht, sondern an ein breiteres Publikum. Besonders die Verfasser solcher Spieltexte, die aufgeführt werden sollten, mußten immer im Auge behalten, was sie von ihren Rezipienten erwarten durften. Die einfache Sprachoberfläche kann also in Wahrheit nicht als Indiz für das Bildungsniveau der Verfasser herangezogen werden. oder die Wirtshaushandlung in den Emmausspielen. Es gilt - recht verstanden - ebenso für die Fastnachtspiele: Ihr sexueller und skatologischer Grobianismus ist zwar nicht gerade als Verkündung des Wortes Gottes anzusehen, durfte aber keineswegs die engen Freiräume verlassen, die bei diesen Anlässen zugestanden waren, und ist immer auch als Warnung vor sündhaftem Fehlverhalten zu verstehen. 50 In den Weltgerichtsspielen wird genau dies den verdammten Seelen zum Vorwurf gemacht; vgl. z . B . Berner Weltgerichtsspiel [...], hg. v. Wolfgang Stammler, Berlin 1962 (Texte des späten Mittelalters 15), v. 545: Einualt lüt hant jr vberfuert. - Dies könnte sich u. U. auch gegen Laienbrüder richten, die sich zu predigen anmaßten; vgl. Schreiner (Anm. 25), S. 10-12. 51 Daß in den Gesuchen an den Rat, ein Spiel auffuhren zu dürfen, immer wieder besonders darauf hingewiesen wird, der Text befinde sich in völliger Übereinstimmung mit der biblischen Überlieferung und der Glaubenslehre (vgl. ζ. B. Neumann [Anm. 1], Bd. 1, S. 324f., Nr. 1545; S. 592f., Nr. 2288), ist auch unter diesem Gesichtspunkt zu sehen. Ebenso können lateinische Zitate (ζ. B. aus der Bibel) die Funktion von , Wahrheitsnachweisen' des im folgenden in der Volkssprache Erläuterten haben. - Nicht alle Details, die ein zum Lobe Gottes ausgeführtes Werk ausmachten, mußten im übrigen von den Menschen wahrgenommen werden, wie das Beispiel des mittelalterlichen Kirchenbaus sehr schön zeigt. 52 So wird ζ. B. das Verhältnis von göttlicher Barmherzigkeit und Gerechtigkeit und die ,richtige' Weise der Marienverehrung in den Weltgerichtsspielen (vgl. Anm. 27) behandelt, oder das Problem des freien Willens in Immessens ,Spiel vom SündenfalF (vgl. Anm. 18). 53 Dabei wird zudem unbestritten Wichtiges oft endlos wiederholt, wie ζ. B. die Erlösung des Menschen oder das Gebot, Messe und Predigt in andächtiger Weise zu hören. 54 Wie werden etwa verschiedene Stilebenen, Dialekte, Soziolekte, Latein vs. Volkssprache etc. bei bestimmten Stoffen eingesetzt? - Zum sprachlichen und metrischen Repertoire der Autoren bzw. Bearbeiter geistlicher Spiele vgl. ζ. B. Neumann (Anm. 2), S. 134.
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Ebenfalls typisch ist, daß sich unter der einfachen Sprachoberfläche verschiedene Verständnisebenen verbergen, daß also die Texte der mittelalterlichen Spiele je nach Bildungsund Kenntnisstand des Rezipienten auf unterschiedlich hohem Niveau verstanden werden können. 55 Hierbei ist überlegenswert, ob diese Verständnisebenen von den Verfassern der Texte aus bloßer Notwendigkeit erzeugt wurden, um Zuschauern/Lesem verschiedener Schichten gerecht zu werden, oder ob hinter diesem Verfahren von vornherein auch ein theoretisches Konzept stand, das sich etwa an Augustins Modell des mehrfachen Schriftsinnes orientierte. Außerdem verfolgen die Spiele in der Regel mehr als nur eine Wirkungsabsicht. Die mit ihnen verbundenen Intentionen sind natürlich z.T. heilspädagogischer und didaktischer Natur, erschöpfen sich aber keineswegs hierin. Je nachdem, ob ein Spiel von vornherein als Lesedrama konzipiert war, ein Aufführungstext zum Lesen aufgezeichnet wurde oder tatsächlich auf die Bühne kam, ist mit variierenden Zweckbestimmungen zu rechnen. Hierzu gehören ζ. Β.: 1. die Übernahme seelsorgerischer Aufgaben (katechetische Unterweisung); 2. das Anprangern gesellschaftlichen sowie religiös-moralischen Fehlverhaltens; 56 3. die Vermittlung von sowohl theologischem als auch allgemeinem kulturellen Grundwissen, das nach dem ΒildungsVerständnis der Zeit jedem zur Verfügung stehen sollte; 4. ihre Aufgabe als Gotteslob oder (bei Auffuhrungen) als Gottesdienst ; 5. die Förderung des Zusammengehörigkeitsgefühls des Stadtkörpers sowie die Selbstdarstellung der Stadt, d. h. repräsentatio (bei aufgeführten Spielen, die vom Rat initiiert oder gefordert wurden); 57 6. die Be55
Dies ist am Beispiel der Weltgerichtsspiele deutlich zu sehen; vgl. dazu Trauden (Anm. 27). Siehe aber auch ζ. B. die Rede des Rector processionis im ,Künzelsauer Fronleichnamspiel' (Das Künzelsauer Fronleichnamspiel, hg. v. Peter K. Liebenow, Berlin 1969; s. a. Flügel, [Anm. 29], S. 69), wo es in vv. 4 5 - 5 2 heißt: Nu han ich wol vernumen Das ewer ein tail nit versten Was sie sehen vor jn gen Nu wil ich euch mit reymen bedewten Euch ein feltigen lewten Das ir merckent dester basz Was bedewt dises vnd das Jn der alten ee vnd jn der newen und das ,Amorbacher Spiel von Mariae Himmelfahrt' (Rudolf Heym, Bruchstück eines geistlichen Schauspiels von Marien Himmelfahrt, ZfdA 52 [1910], S. 1-56), wo es v. IV,13f. heißt: waz disv rede betüte Des wissen nit tumbe Ivete.
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Hierhin gehört u. a. die nicht nur in den Spielen, sondern auch sonst im spätmittelalterlichen Schrifttum immer wieder geäußerte Kritik an Fürsten, Adel und Geistlichkeit, die sich nicht allein in religiösen Schauspielen, sondern auch in den profanen findet. Zu fragen wäre auch, ob es, trotz ihrer offenbar konservativ-dogmatischen Grundhaltung, vor allem für die religiösen Spiele ab dem Ende des 14. Jahrhunderts einen Zusammenhang mit Reformbewegungen innerhalb der katholischen Kirche gibt. So konnte ζ. B. zu Ehren der Stadt ein bestimmtes religiöses Thema neu evoziert werden, wie etwa bei Spielen von Stadtheiligen; vgl. ζ. B. das ,Solothumer St. Mauritzen- und St. Ursenspiel' (vgl. Bergmann [Anm. 7], S. 291-294, Nr. 132 u. Nr. 133). Hierbei könnte u. U. auch die Werbung für eine Stadt oder die Förderung des Wallfahrtswesens als wichtiger Wirtschaftsfaktor eine Rolle gespielt haben. - Siehe auch das ,Augsburger Passionsspiel', vv. 2 1 6 3 - 2 1 6 5 (nach der Edition in:
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deutung der Auffuhrungen als Wirtschaftsfaktor innerhalb der Stadt;58 7. die Funktion der Aufführungen als kulturelle Ereignisse, die auch ästhetischen Genuß vermitteln bzw. schlicht erfreuen sollten.59 Jedenfalls wäre es völlig verfehlt, davon auszugehen, daß es sich bei den Vertretern dieser Literaturgattung um Produkte geistig relativ einfacher Menschen handele, die eine gebildete Oberschicht - ähnlich wie es in Andreas Gryphius' ,Peter Squenz' vorgeführt wird - bestenfalls hätten belustigen können.60 Die Spiele nahmen vielmehr im geistigen und sozialen Leben spätmittelalterlicher Städte einen hervorragenden und wichtigen Platz ein. Um ihre Bedeutung richtig einschätzen zu können, ist es nötig, das in den Spielen enthaltene Gedankengut und Wissen auf dem Hintergrund der übrigen Literatur der Zeit zu analysieren und die so gewonnenen Ergebnisse mit den sich aus der Auswertung der archivalischen Zeugnisse zu mittelalterlichen Spielaufführungen ergebenden Fakten zu verbinden. Das wird es in Zukunft ermöglichen, für die Spiele insgesamt den Kreis derer immer weiter einzugrenzen, die innerhalb einer mittelalterlichen Stadt überhaupt in der Lage waren, solche Texte selbständig zu verfassen oder zu bearbeiten. Es wird ebenfalls manchmal, wenn auch nicht immer, Rückschlüsse darauf zulassen, wer innerhalb der jeweiligen Stadt ein Interesse an Entstehung, Verbreitung und ggf. Aufführung eines bestimmten Textes haben konnte,61 und wer - gerade auch im Falle der zu Lesezwecken aufgezeichneten Stücke - die Rezipienten waren.62 Bereits jetzt ist aber klar, daß die Spiele dem gleichen geistig-kulturellen Umfeld angehörten, dem auch die spätmittelalterliche Erbauungsliteratur, die Kleinepik und andere Werke, wie etwa Wittenwilers ,Ring' zuzurechnen sind. Bei der weiteren Erforschung
Das Oberammergauer Passionsspiel in seiner ältesten Gestalt zum ersten Male hg. v. August Hartmann, Leipzig 1880, S. 1-100): Proclamator zuo dem volck [··•]
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Die figur sich erhoebet hat zuo lob vnd er, wer hie da stat, Auch loblicher stat, raut vnd gmain. Vgl. dazu ζ. B. Neumann (Anm. 2), S. 132. Letzteres stand vor allem bei den Fastnachtspielen im Vordergrund, spielte aber wohl auch bei den profanen Handlungsteilen der Osterspiele, in den Emmausspielen etc. eine Rolle. Neben dem in Aufbau und Inhalten der Texte zutage tretenden Bildungsniveau zeigt sich dies vor allem auch an der gesellschaftlichen Stellung der bekannten Verfasser, Bearbeiter und Regisseure (s. o.) sowie an der Beteiligung von Angehörigen der (gebildeten) städtischen Oberschicht, Geistlichen und Adeligen an Auffuhrungen, sei es als Akteure oder lediglich als Zuschauer; dazu bietet Neumann (Anm. 1) eine Fülle von Belegen. - Mitunter liehen kleinere Städte von größeren Städten Texte aus. Es wäre interessant zu wissen, ob und wie diese Texte fur den anderen Auffiihrungsort bearbeitet wurden. Wurden sie ζ. B. einem unterschiedlichen Bildungsniveau angepaßt? Wurden sie ausgeliehen, weil in der kleineren Stadt niemand in der Lage war, einen solchen Text zu verfassen? Vgl. dazu ζ. B. die Ergebnisse, zu denen Frey (Anm. 4) bezüglich der Frankfurter Passionsspiele gelangt. Bei den Verfassern, Bearbeitern und Schreibern sowie bei den Auftraggebern von Texten, die zu Lesezwecken aufgezeichnet bzw. bearbeitet oder von vornherein als Lesedramen konzipiert wurden, könnten auch Personenkreise außerhalb des städtischen Bereiches in Betracht kommen.
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dieser Literaturgattung sollte man sich jedoch davor hüten, gewonnene Ergebnisse vorschnell zu verallgemeinern. Soweit es möglich ist, müssen die besonderen lokalen und historischen Bedingungen, unter denen ein bestimmtes Spiel an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit verfaßt, bearbeitet, aufgezeichnet oder aufgeführt wurde, jeweils gesondert berücksichtigt werden. Erst wenn dies geschehen ist, kann man daran denken, ein Gesamtbild des mittelalterlichen religiösen Schauspiels zusammenzufügen, das sich der historischen Realität wenigstens annähert.
Hildegard Elisabeth
Keller
losendt obenthvr Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedien der Zeit. Am Beispiel des ,Berner Weltgerichtsspiels' und des ,Churer Weltgerichtsspiels'
Ein ludogener Todesfall zur Einführung Am 4. Mai 1321 hat der nicht mehr ganz robuste Thüringer Landgraf Friedrich der Freidige mit der gebissenen Wange einem Zehn-Jungfrauen-Spiel beigewohnt. Die Weltgerichtsszene mit der gnadenlosen Aburteilung in die ewige Verdammung muß ihn vital erschüttert haben. Er soll ein derart beengtes Herz bekommen haben, daß es - allerdings erst virdehalb jar später - ganz stillgestanden sei. Die Spätfolgen dieses Theaterbesuchs interessieren weniger wegen der (unangezweifelten) Faktenlage als wegen der postulierten Kausalität zwischen Theaterbesuch und Tod. Durch das chronikalische Zeugnis wird die Wirkung einer szenischen Repräsentation des eschatologischen Gerichts dokumentiert, authentisiert und offenbar auch von nachkommenden Generationen für glaubhaft gehalten. Konkret belegt dieser (Todes-)Fall, daß „Spiel und Wirklichkeit [...] fraglos miteinander identifiziert^" 1 wurden oder, anders gesagt, daß die inszenierte Endzeitjustiz als im eigentlichen Wortsinn repräsentativ rezipiert wurde. Ebenso unbestritten wie die theatralische Wirkung auf den Grafen sind die Genese der geistlichen Spiele im kirchlichen Kontext und ihre Wirkziele Andacht, Erbauung und Didaxe. Dies erfordert eine zwar nicht bis zum Letzten gehende, gleichwohl aber vitale Partizipation. Gerade dieses Postulat macht einen Blick auf die theaterwissenschaftliche Theoriediskussion des ausgehenden 20. Jahrhunderts lohnenswert. Er erhellt aus einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive auf die europäische Dramatik den Zwischenbereich von Liturgie und Theater, in dem das mittelalterliche geistliche Spiel sich ansiedelt. Um die Differenzen zur modernen Wirkkonzeption zu verdeutlichen, werde ich anschließend frömmigkeitsgeschichtliche Grundlagen fur die Rezeption spätmittelalterlicher Kunst 1
Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet. 2 Bde, München [usw.] 1987 (MTU 84,85), Bd. 1, Nr. 1482. Denselben, in der ,Cronica S.Petri Erfordensis Moderna' berichteten Vorfall erwähnen Karin Schneider, in: Das Eisenacher Zehnjungfrauenspiel, hg. v. Karin Schneider, Berlin 1964 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 17), S. 8; Hansjürgen Linke, Drama und Theater, in: Ingeborg Glier (Hg.), Die deutsche Literatur im späten Mittelalter 1250-1370. 2. Teil: Reimpaargedichte, Drama, Prosa, München 1987 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart III/2), S. 153-233, danach das Zitat S. 227; Hans Rupprich, in: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. 1. Teil: Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance 1370-1520. 2. Aufl. neubearb. v. Hedwig Heger, München 1994 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart IV/1), S. 264 (ohne kritische Distanz).
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Keller
skizzieren. Schließlich gehe ich dann zur Untersuchung der beiden von mir gewählten Schweizer Weltgerichtsspiele über, in der ich meine These von der im medialen wie zeitlichen Sinne aktualisierten Endzeit zu belegen suche.
Wirkprozesse im Theater Partizipation Die Theoriediskussion rückt den rezipientenbezogenen Wirkprozeß im Theater in den Blick. Eine theaterwissenschaftliche Bilanz von Anfang der Neunzigeqahre moniert, daß die angestammte objektorientierte Betrachtungsweise zugunsten einer produktions- und rezeptionsästhetischen Optik aufzugeben sei: „Die Väter der Theaterwissenschaft hatten nicht genügend berücksichtigt, daß die szenischen Prozesse nicht um ihrer selbst willen vollzogen werden, sondern daß sie an Zuschauer adressiert sind, die an einer Aufführung produktiv beteiligt sein wollen."2 Dieser blinde Fleck sei offenbar in der Kunsttheorie allgemein verbreitet gewesen: „Es ist das Verdienst der philosophischen Ästhetik und der Rezeptions-Ästhetik, der Kunstwissenschaft und der Soziologie der Kunst, den Anteil von Lesern, Bildbetrachtern, Musikhörern und Zuschauern an der Produktion und Tradierung von Kunstwerken entdeckt zu haben."3 Die neue, aktorientierte Theatertheorie interessiere sich für „schauspielerische und spektatorische Leistungen". Ihr neuer Gegenstand sei „intratheatrale Kommunikation". Ihre Erforschung finde am Ort, in Proberäumen und anläßlich von Aufführungen, allenfalls in Labors, statt. Mit reicher Technologie sei theatralische Produktion und Rezeption aufzuzeichnen. Wer diese Perspektiven bedenkt und sich gleichzeitig in die Lektüre eines spätmittelalterlichen Weltgerichtsspieles vertieft, wäre versucht, die Vertreter der modernen Theaterwissenschaft zu bedauern. Der Entwicklungsgang hat sie schließlich um eines ihrer verheißungsvollsten Beobachtungsfelder gebracht: kirchliche Räume und Zeiten,4 die für ein auf Wirkung - und das besagt hier: Partizipation - angelegtes Spiel genutzt wurden. Damit meine ich nicht die dort autochthone Liturgie, die traditionell als Spiel aufgefaßt und untersucht worden ist.5 Das in (später auch außerhalb) der Kirche aufgeführte geistliche
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Klaus Lazarowicz, in: Texte zur Theorie des Theaters, hg. und kommentiert v. Klaus Lazarowicz und Christopher Balme, Stuttgart 1991(Universal-Bibliothek 8736), S. 26. Ebd., S. 26. Der zeitliche Ort geistlicher Spiele ist nicht bei allen Typen absolut sicher zu bestimmen. Mit Gewißheit sind die Oster- und Weihnachtsspiele im Kirchenjahr zu verorten; bei den Weltgerichtsspielen scheint man sich einig zu sein, daß eine Aufführung im vorösterlichen Kontext, konkret der Bußvorbereitung, realistisch ist. Das ,Churer Weltgerichtsspiel' verweist explizit darauf. Vgl. Bernhard Lang, Heiliges Spiel. Eine Geschichte des christlichen Gottesdienstes, München 1998; früher schon Karl Young, The Drama of the Medieval Church, 2 Bde, London 1933, Nachdruck Oxford 1962, vor allem Vol. 1, Chapter III: The Dramatic Element in the Liturgy; Ο. B. Hardison, Christian Rite and Christian Drama in the Middle Ages, Baltimore 1965, v. a. S. 35-79. - Im Blick auf den unscharfen Sprachgebrauch von der Messe als Spiel unternimmt Jan-
Weltgerichtsspiele
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Spiel stellt den Prototyp eines theatralen Raumes mit allseitiger Wirkdynamik dar. Selbstverständlich verleugnet es seine Herkunft aus der Liturgie und seine Bindung an das andere, liturgische Spiel nicht.6 Diese Bindung wird beispielsweise in dem strukturgebenden Einsatz der Musik greifbar - konkret unterstützen im ,Churer WeltgerichtsspieP die lateinischen Gesänge (Responsorien, Antiphonen und Psalmen) eine Art von archaischer Akteinteilung.7 Im Blick auf die postmoderne Diskussion zeigt sich indes bald: Jedes Bedauern ist völlig unangebracht, denn Lazarowicz selbst zieht eine Trennlinie zwischen Bühne, Bühnengeschehen, Publikum und dessen Lebenswirklichkeit, die alle Sparten der mittelalterlichen Sakralkunst aus der Diskussion ausgrenzt. Lazarowicz schlüge sie wohl der extratheatralen Interaktion zu, und gerade dies verengt das theaterwissenschaftliche Blickfeld entscheidend. Dies gilt für alle Erscheinungsformen der ,mystischen Partizipation' (nach einem Begriff des Ethnologen Lucien Levy-Bruhl), mithin für religiöse Kulthandlungen und liturgische Rituale sowie die daraus erwachsene Dramatik. Dort stünden sich nicht Schauspieler und Zuschauer, sondern gläubige Adoranten und Zelebranten gegenüber.8 Eine solche Segregation zerstört die konstitutive Doppelperspektive des mittelalterlichen geistlichen Spieles, ob es sich nun um Osterspiele oder um eschatologische Spiele handelt. Das Publikum n i m m t t e i l und i s t e i n T e i l der (im Kirchengebäude oder zumindest davor) inszenierten Geschichte des christlichen Heiles und dessen Vermittlungsinstanz Kirche. Im mächtigen, christozentrischen Körpermodell gedacht: Die Zuschauer sind somit Glieder jenes Leibes, der gleichzeitig spielt und gespielt wird. Zuhanden moderner Theoretiker müßten demnach die komplexen wirkungsästhetischen Grundlagen erörtert werden, auf denen das spätmittelalterliche Drama aufruht. Ich möchte einige Akzente hierin setzen, um die Weite des Horizontes anzudeuten, in und mit dem geistliche Dramatik spielt.9 In frömmigkeitsgeschichtlichen und kulturanthropologischen Entwicklungen zeigt sich, daß das lesende oder Bilder betrachtende Individuum auf verschiedenen medialen Wegen zu einer verinnerlichenden Partizipation hingeführt werden soll. Passio verpflichtet zur Compassio und damit auch zur Participatio. Die religiöse Kirnst fordert und baut auf diese
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Dirk Müller (vgl. seinen Beitrag in diesem Band, S. 113-133) wichtige Differenzierungen zwischen liturgischen, paraliturgischen und theatralen Kategorien der Dramatizität. Zur These von Hardison, das Osterspiel sei aus der Messeallegorese entstanden, siehe Friedrich Ohly, Rez. Warning [s. Anm. 9], in: F. O., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, hg. v. Uwe Ruberg und Dietmar Peil, Stuttgart [usw.] 1995, S. 113-144, hier S. 117ff. und S. 127 sowie den Beitrag von Walter Haug in diesem Band (S. 361-374). Nach Vers 199 ist eingetragen Incipit actus secundus (und Responsorium Hoc signum crucis): Churer Weltgerichtsspiel. Nach der Handschrift des Staatsarchivs Graubünden, Chur Ms. Β 1521, hg. v. Ursula Schulze, Berlin 1993 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 35). Lazarowicz (Anm. 2), S. 28-29; als weitere Formen der extratheatralen Kommunikation nennt er agonale Ereignisse wie Stier- oder Boxkämpfe, femer alle rituellen Handlungen wie die Massenschlachtungen der Azteken, schamanistische Praktiken, Hexenprozesse, Hinrichtungsrituale der französischen Revolution oder die Moskauer Schauprozesse. Wichtig ist hierfür die Dualismus-Kontroverse, die von Friedrich Ohlys Rezension von Rainer Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 35), wieder abgedruckt in: Ohly (Anm. 6), S. 113-144, ausging (vgl. Walter Haugs Vermittlungsversuch in diesem Band, S. 361-374).
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anteilnehmende Potenz, welche die Rezipienten im Spätmittelalter zugesprochen bekommen.10 Diese Forderung kann sich auf ein einzelnes Sensorium konzentrieren. Aus einer auf die Visualität abgestützten Erkenntnistheorie heraus stellt die spätmittelalterliche Spiritualität zusehends auf den partizipativen Wert des Sehsinnes ab. Formelhaft läßt sich sagen, daß Sehen zum spirituellen Akt wird: „Die Volksfrömmigkeit des Spätmittelalters war in mehrfacher Hinsicht eine ,Schaufrömmigkeit'. Sie ging davon aus, daß die Menschen durch das Sehen (visio) zur Wahrnehmung des Heiligen gelangen könnten."11 Im Verweis auf mittelalterliche Konzeptionen eines aktiven Sehorgans zeigt Scribner das „sakramentale Schauen", wie er es nennt, an liturgischen Praktiken. Deren Wirkabsicht ist Partizipation: „Wahrnehmung bedeutet hier eine Art Hindurchschauen - durch ein körperliches Sehen wurde die sakrale Aktion im Herzen aufgefaßt und empfunden."12 Für den monastischen Kontext konnte die teilhabende, ja teilseiende Rezeption und Anverwandlung (Einverleibung) bildlicher und textlicher Dokumente auf eindrückliche Weise dokumentiert werden.13 Diese im sinnlichen Sinn ,einbildende' Wirkdimension prägt nicht allein die als Erbauungstexte genutzten und illustrierten Weltgerichtsspiele. Auch die theatralische Repräsentation auf der Bühne soll Heil (und Unheil) wirksam und gegen das Spätmittelalter hin immer realistischer und eindringlicher vor Augen fuhren. Dies gilt nicht allein für jene Spiele, die per definitionem unter die Haut gehende Inhalte darstellen, wie beispielsweise die Passionsspiele. Mir scheint, mit größtem Recht ließe sich Ohlys Diktum vom endlichen Ernstnehmen der Bezeichnung ,Passionsspiele' („Die Forschung sollte Ernst machen damit, daß diese Spiele .Leiden' heißen. [...] Die Passionen sind Schulen des Leidens, sei es des zuge-
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Zu berücksichtigen sind hier sowohl die Veriruierlichungsappelle der geistlichen, insbesondere mystischen Literatur ebenso wie ein stärker auf die individuelle Partizipation ausgerichtetes Kunstverständnis, dann auch die mehrschichtig verstandenen passio- und compassio-Forderungen, die allesamt auf eine innere Aktivierung der Rezipienten abzielten. Vgl. hierzu Walter Haugs wichtigen Versuch, die Triebkräfte bei der Entstehung der geistlichen Spiele neu in den Blick zu nehmen, indem er sie innerhalb religionsgeschichtlicher Neubewertungen des Spätmittelalters (namentlich eine stark beanspruchte Subjektivität, welche im dramatischen Prozeß auch in dunkle Seiten der Transzendenz eintritt) situiert. 11 Robert W. Scribner, Vom Sakralbild zur sinnlichen Schau. Sinnliche Wahrnehmung und das Visuelle bei der Objektivierung des Frauenkörpers in Deutschland im 16. Jahrhundert, in: Klaus Schreiner und Norbert Schnitzler (Hgg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1992, S. 309336, hier S. 310. 12 Ebd., S. 311. 13 Jeffrey F. Hamburger, Nuns as Artists: The Visual Culture of a Medieval Convent, Berkeley [usw.] 1997; ders., The visiual and the visionary. Art and female spirituality in late medieval Germany, New York 1998; Nikiaus Largier, Der Körper der Schrift, in: Jan-Dirk Müller und Horst Wenzel (Hgg.), Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, Stuttgart [usw.] 1999, S. 241-271. - Gleichzeitig zu meiner Studie ist Cora Dietls Auseinandersetzung mit der Visualität im Zusammenhang mit dem mittelalterlichen Spiel entstanden; sie relationiert die Höherwertung des Sehsinnes mit dem Entstehen volkssprachlicher Spiele, vgl. Cora Dietl, Der Griff zum Optischen. Zur Entwicklung des deutschen geistlichen Spiels im 13. Jahrhundert, in: Jan A. Aertsen (Hg.), Geistesleben im 13. Jahrhundert, Berlin [usw.] 2000 (Miscellanea Medievalia 27), S. 467-482.
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fugten, sei es des angesehenen, des gelittenen wie des mitgelittenen" 14 ) auch für die Weltgerichtsspiele geltend machen. Die ,Schulung' nähme sich dann des individuellen Gewissens und der Fähigkeit zur Schulderkenntnis an. Diese konnte sich im Zuschauen selbst unter Beweis stellen, denn wer einem geistlichen Spiel, konkret einer gespielten Bußszene beiwohnt, konnte auch tatsächliche Buße geltend machen. Jedenfalls gewährte die Kirche für solches spirituelles, ja sakramentales Zusehen einen Ablaß von üblicherweise einer Quadragene.15 Bemerkenswert scheint mir auch der soziale Aspekt dieser Erziehung zur Schulderkenntnis und Buße. Diese bezog sich nämlich, wie ich im nächsten Abschnitt zu verdeutlichen suche, nicht allein auf ein fernes Jenseits, sondern die konkrete städtische Gemeinschaft von Spielenden und Zuschauenden. Das geistliche Spiel, das am Ende des 15. Jahrhunderts fest in weltlicher Hand war, fungierte im Sinne religiöser Reformen als seelsorgliches Medium für die führende städtische Schicht. So weist Klaus Wolf auch im Blick auf die personelle Struktur der Spielträgerschaft nach, daß „die Spielaufführungen nach FD [,Frankfurter Dirigierrolle'] den exklusiven Charakter eines christlichen Gottesdienstes" hatten.16
Repräsentation Repräsentation meint Vergegenwärtigung des Dargestellten im zeitlichen Sinn. In der spezifischen christlichen Zeitkonzeption scheint deshalb eine weitere wirkungsästhetische Grundlage für die dramatische Repräsentation der christlichen Heilsstationen auf. Angenendt benennt als Charakteristikum christlicher Zeitkonzeption eine Vermengung von linearem und zyklischem Denken. Sie wird insbesondere in der Liturgie faßbar, welche die Lebensdaten und Heilstaten Jesu in den kirchenjährlichen Lauf, in dem die Zeit sich sozusagen um sich selbst dreht, einordnet. Aus dieser Zyklizität hebt sich die (darin integrierte!) historische Gerade heraus - die Heilsgeschichte vom Anfang bis zum Ende der Welt.17 Es ist nicht allein eine mentalitätsgeschichtlich sinnvolle Frage, ob sich der Horizont des Zeiterlebens im Übergang vom Früh- zum Spätmittelalter verschoben hat. Ihre spiritualitätsgeschichtliche Relevanz zeigt sich darin, daß die aus einer religiösen Praxis erwachsene Vitenliteratur eine vermehrt im Hier und Jetzt erlebbare Ebene des Ewig-
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Ohly (Anm. 6), S. 141. Walter Haugs Neubewertung der Entstehung geistlicher Spiele berücksichtigt diesen Aspekt (vgl. seinen Beitrag in diesem Band, S. 361-374). Dasselbe Übertragungsprinzip ist übrigens auch gültig für repräsentierte Heilung: Eine gespielte Wunderheilung (wie etwa in der .Frankfurter Dirigierrolle') hatte den Rang einer geistlichen Medizin. Vgl. hierzu den Beitrag von Klaus Wolf in diesem Band, S. 273-312. Vgl. Klaus Wolf, S. 283ff. Vgl. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 422-432. - Eine andere Unterscheidung von Zeitebenen scheint im Mittelalter ebenso bewußt gewesen zu sein, nämlich eine sakrale und eine säkulare Zeit, zwischen denen wiederum die aeternitas als Zeit der Engel und Heiligen eingespannt ist (nach Hans-Werner Goetz, Zeit/Geschichte [Mittelalter], in: Peter Dinzelbacher [Hg.], Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. 640-649).
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keitlichen bezeugt.18 Die Texte zeigen das im Frühmittelalter erst im Jenseits Schaubare bereits in einem zumindest partiell aufgebrochenen Diesseits. Die visio eröffnet eine spirituelle Perspektive, eine Art Guckloch in eine andere Zeitdimension. Dies scheint nicht allein für die Textgattung Visionsliteratur, sondern auch für die erwähnte Aufwertung des menschlichen Sensoriums Auge überhaupt zu gelten. Die mittelalterliche Kultur gestaltet diese doppelte Zeitstruktur gerade bei christologischen Motiven in ihrer vollen Komplexität aus. Der Christ lebt in einer Spannung zwischen einem .Schon' und einem ,Noch-Nicht', was eine Art „Zeitstreß"19 impliziert. Das gilt für die Gottesgeburt, die nach mystischem Verständnis vom historischen Ereignis in Bethlehem zu einem „evenement sans fin"20 wird. Es gilt aber auch für die Erlösung. Einerseits ist diese im Leben und Sterben von Jesus Christus schon geschehen, was jener vertikalen Achse entspricht, in welche der Erlöser gewissermaßen sprunghaft eingebrochen ist, als er in den Schoß der Jungfrau, in die Welt, ans Kreuz und in den Himmel „gesprungen" ist. Andererseits ist die Erlösung erst endgültig, wenn sie am Ende der Zeit ratifiziert wird.21 So lebt der Christ in einer Dimension der linear ablaufenden Zeit, auf deren Ende und auf die Wiederkunft des (bereits dagewesenen) Christus hin.22 Dieser christologische Zusammenwurf der Zeitebenen wird im 15. Jahrhundert durch Nikolaus von Kues auf den Punkt gebracht. Cusanus, der zyklische Zeitmodelle ebenfalls mit einer bei ihm linear konzipierten Ewigkeitsdimension durchbricht, sieht in Jesus Christus die verkörperte Vermittlung von Zeit (von der Mutter her) und Ewigkeit (vom Vater her). In Christus seien Zeit und Ewigkeit indes nicht bloß zusammengespannt, vielmehr sei in Christus die für die Ewigkeit gerettete Zeit zu sehen.23 Wenn Guije witsch seine These von einem genuin mittelalterlichen „Personalismus" erörtert, so belegt er sie gerade mit einem Zeiterfahrungsmuster, das er in Predigtexempeln nachweist, das sich aber auch in einer dramatisierten ars moriendi wie dem .Münchner 18
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In diesem Sinne arbeitet Trude Ehlert die Zeiterfahrungsmuster aus Sündenkatalogen altdeutscher Beichten einerseits, aus spätmittelalterlichen Visionsberichten in Nonnenviten andererseits heraus (Trude Ehlert, Lebenszeit und Heil: Zwei Beispiele fur Zeiterfahrung in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, in: dies. [Hg.], Zeitkonzeptionen, Zeiterfahrung, Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, Paderborn 1997, S. 256-273). Alois M. Haas meint damit die nach Eph 5,16 heilszeitlich geforderte Ökonomie der Zeit. Er hat hierzu eine perspektivenreiche Studie verfaßt, die sich auf eschatologische Motive ebenso wie auf dasjenige der Gottesgeburt bezieht (Alois M. Haas, Fülle der Zeit, in: Urban Fink und Alfred Schindler [Hgg.], Zeitstruktur und Apokalyptik, Zürich 1999, S. 105-121). Dort wird auch die einschlägige Literatur zum Thema zitiert. Die Benennung der unaufhörlich im inneren Menschen inszenierten Menschwerdung als „evenement sans fin" stammt von Alain Boureau (zit. nach Haas [Anm. 19], S. 6, Anm. 26). In einer eigenwilligen Version zeigt Lamprecht von Regensburg in .Tochter Syon', wie zunächst Frau Minne in den Himmel „springt", um von dort aus Gott auf die Erde zu treiben und ihn in den Schoß, in die Krippe, ans Kreuz, ins Grab und in den „Himmelshafen" zu „werfen" (Lamprecht von Regensburg, Sanct Francisken Leben und Tochter Syon, hg. v. Karl Weinhold, Paderborn 1880, vv. 3076-3118). Der Begriff der „vertikalen Zeit" stammt von Hans Urs von Balthasar; sie sei nach der Himmelfahrt das eigentliche Ziel der horizontalen Offenbarungszeit, vgl. Haas (Anm. 19), S. 108. De docta ignorantia, Buch III; zit. nach Wendelin Knoch, Nikolaus von Kues, Zeit und Ewigkeit, in: Trude Ehlert (Anm. 18), S. 106-116.
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Spiel vom sterbenden Menschen' nachweisen ließe. In der gewissermaßen irdischen Eschatologie des Sterbens sind zwei Zeitebenen übereinandergelegt, denn im eigenen Tod individualisiert sich das Weltende. Somit verdoppelt jeder einzelne Sterbeakt das Ende der je eigenen Zeit und der Weltzeit überhaupt. Solches legen die in die Predigten eingebauten exempla nahe, wenn sie das individuelle Gericht ausmalen: [...] er liegt auf dem Sterbebett und die, die bei ihm weilen, lauschen, was er auf die Anklage des Höchsten Gerichts zu antworten weiß. Der Sterbende hält sich also unter seinesgleichen auf und steht gleichzeitig bereits vor dem Jüngsten Gericht. Es wird eine eigenartige Vergegenwärtigung erzielt, die das Vorstellungsvermögen der Menschen frappiert haben muß und - so möchte ich ergänzen - nach meiner Meinung auch die Vorstellungskraft des heutigen Mentalitätsforschers in Erstaunen versetzt. 24
Auf dieser Doppelung der Zeitebenen ruht nun das (Welt-)Gerichtsmotiv überhaupt auf. Weltgerichte waren piktoral präsent im spätmittelalterlichen Alltag. Von zahlreichen Stätten weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit des 13. bis 15. Jahrhunderts ist bezeugt, daß sie mit Weltgerichtsdarstellungen versehen waren, daß unter dem skulptierten Weltenrichter getagt wurde. In Köln ist Stephan Lochners monumentale Gerechtigkeitstafel (um 1435) zu erwähnen, die für das Kölner Rathaus bestimmt war. 25 In Ulrich Tennglers ,Neu Layenspiegel' (Augsburg 1511 u. öfter) war ursprünglich ein Weltgerichtsspiel in Lesetextgestalt in ein juristisches Handbuch integriert, und zwar als literarischer Anhang im Strafprozeßteil des laut Rupprich am weitesten verbreiteten kriminalistischen Kompendiums.26 Über eine solch multiple Repräsentation der Gerichtsbarkeit verfugt auch ein Spielort, der bei Auffuhrungen der .Frankfurter Dirigierrolle' benutzt wurde. Von der Südseite des Frankfurter Domes (konkret für die aufs Portal des südlichen Querschiffs übergegangene Bezeichnung porta rubea bzw. rode dure) ist nämlich nachgewiesen, daß sie eine weit über das 14. Jahrhundert zurückreichende Stätte königlicher Gerichtsbarkeit verkörperte. Klaus Wolf scheint es deshalb plausibel, daß hier am ehesten der Pilatuskomplex aufgeführt wurde: „Städtische und Bühnenwirklichkeit verschmelzen also, und Frankfurt wird Jerusalem." 27
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Aaron J. Gurjewitsch, Über die Bedeutung der Kultur des Mittelalters für unsere Zeit und für das zeitgenössische Denken, in: ders., Stimmen des Mittelalters. Fragen von heute. Mentalitäten im Dialog, Frankfurt a. M. 1993, S. 79-99, hier S. 97. Vgl. Jfosef] Engemann [u.a.], Weltgerichtsdarstellung, in: LMA Bd. 8 (1997), Sp. 2172-2181. Zum Konnex zwischen bildender Kunst und Gerichtspraxis siehe die schon ältere Arbeit von Mary D. Anderson, Drama and Imagery in English Medieval Churches, Cambridge 1963, und die Studie von Antonius H. Touber, Passionsspiel und Ikonographie, in diesem Band S. 261-272. Vgl. Ursula Schulze in ihrer Edition des .Berliner Weltgerichtsspiels' (Berliner Weltgerichtsspiel. Augsburger Buch vom Jüngsten Gericht. Ms. germ. fol. 722 der Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Abbildung der Handschrift mit einer Einleitung und Texttranskription, hg. v. Ursula Schulze, Göppingen 1991 [Litterae 114]), S. 33; Rupprich (Anm. 1), Bd. IV/1, S. 371; genauer: Erich Kleinschmidt, Tenngier, Ulrich, in: 2 VL Bd. 9, 1995, Sp. 690-696, hier Sp. 694f. Vgl. Klaus Wolf, S. 286.
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Auch das geistliche Drama spielt mit dieser Verdoppelung der Zeit.28 Es feiert (sprich: rememoriert) einerseits den dagewesenen Messias im Weihnachts-, Oster- und Passionsspiel. Andererseits holen insbesondere die eschatologischen Spiele die noch ausstehende Parusie in die Gegenwart. Im Blick auf dieses simultane , Schon' und ,Noch-Nicht' sind die Weltgerichtsspiele ebensosehr Repräsentation wie Präsentation christlicher Erlösung. Sie holen ein Gewesenes, das erst noch kommen wird, in die Gegenwart. Eschatologische Spiele bewegen sich - mehr als andere geistliche Spiele - auf diesen beiden Zeitachsen. Antichrist- und Weltgerichtsspiele vergegenwärtigen die angsteinflößende Endzeit (und mit ihr das Gericht und die drohende Verdammung oder die Erlösung), um zur Buße in der Jetztzeit hinzuführen. Daraus erwächst der heilspädagogische Wert solcher Spiele, ob sie nun zur Inszenierung oder zur persönlichen Lektüre bestimmt sind. Beide Repräsentationsmedien, die erbauliche Privatlektüre wie auch die theatralische Repräsentation des Jüngsten Gerichts, lassen die Zuschauer ein inneres ,Aufgebrochenwerden' für die Buße erfahren. Die für die Vorosterzeit geforderte Beichte und der österliche Kommunionempfang29 vollziehen sich im Blick auf die doppelte Präsenz Christi: Einerseits steht der kommende Richter und Erlöser vor Augen, andererseits kann der sakramental gegenwärtige Christus in der Eucharistie aufgenommen werden. Dem entspricht nicht allein die Wirkstruktur, sondern auch die Auffuhrungszeit des ,Churer Weltgerichtsspiels' vor Ostern. Als Aufruf zur Sakramentsvorbereitung visualisiert es endgültig geglückte oder verfehlte Metanoia, wenn es erst die Verdammten, dann die Erlösten vorüberparadieren läßt. Die Endzeit wird damit nicht allein in Akten inszeniert. Sie wird auch im zeitlichen Sinne aktualisiert.
Dramatisch predigen
Die erörterte Wirkintention mitsamt ihren Grundlagen konkretisieren sich in herausragender Weise in den beiden hier untersuchten Schweizer Weltgerichtsspielen, insbesondere in ihrer Kennzeichnung als (Buß-)Predigten. Vor allem am ,Churer Weltgerichtsspiel', nur in Seitenblicken auch am ,Berner Weltgerichtsspiel', versuche ich zu belegen, daß die beiden Texte - über alle medien- und gebrauchsbezogene Differenz hinweg30 - Buße propa-
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Andreas Traub (vgl. seinen Beitrag in diesem Band, S. 135-138) erörtert aus musikwissenschaftlicher Sicht die These, daß verschiedene Zeitdimensionen sich im geistlichen Spiel verbinden bzw. überlagern, wenn die liturgischen Gesänge heilsgeschichtliche oder kirchenjahresbezogene Daten evozieren. Die Osterkommunion ist ein Usus, zu dem die Gläubigen kirchenrechtlich verpflichtet sind. Nach Klaus Wolf (in diesem Band, S. 288) ist diese Kommunionverpflichtung lokal gebunden gewesen. Der jährliche Kommunionempfang sollte in der Pfarrkirche eingenommen werden. Selbstverständlich ist zu berücksichtigen, daß die Dramatizität in einem fur die Aufführung bestimmten Drama eine andere sein wird als in einem fur die private oder gemeinschaftliche Lektüre bestimmten, daß also die Kommunikationssituation den Text wie auch den spezifischen Endzeit- und Bußdiskurs mitbestimmt. In anderem Kontext hat dies Rüdiger Schnell nachgewiesen (Rüdiger Schnell, Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs. Textsorten und Geschlechterkonzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M. [usw.] 1998 [Geschichte und Geschlechter Bd. 23]).
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gieren, indem sie diese auf einer realen oder inneren Bühne visuell und auditiv erfahrbar machen. In diesem Beitrag möchte ich einige predigtartige Mittel w i e direkt ans Publikum gerichtete, auf die Gegenwärtigkeit des Dargestellten hinweisende Appelle, 3 1 Aufrufe z u m Hören und Gehorsam und die Schriftauslegung auf der Bühne herausarbeiten. Wie Predigten, die auch in Kombination mit der Auffuhrung eines Dramas gehalten wurden, 3 2 sollen solche dramatisierten bzw. dialogisierten Bußappelle die Rezipienten aufrütteln und für das Bußritual, das sie gemäß eigenen Angaben auch sind, empfänglich stimmen. Weltgerichtsspiele können von dieser Funktionalität her auch als dramatisierte bzw. dialogisierte Bußpredigt bezeichnet werden. 3 3 Die christliche Predigt erließ i m Blick auf die Endzeit einen Zeitappell, der im Mittelalter auch geschichtstheologisch untermauert wurde, da das Erdenleben Jesu das letzte Weltzeitalter initiiert. 34 D i e Letzten Dinge (und zu ihnen gehören auch die sogenannten Fünfzehn Vorzeichen des Endgerichts) sind also gewissermaßen der Ernstfall allen kerygmatischen Visualisierens, sei es in dem für die Lektüre bestimmten oder im inszenierten Drama. Ein funktionaler Zusammenhang zwischen der Predigt und dem geistlichen Spiel zeigt sich in ihrem massenmedialen Charakter. N a c h Linke sei das geistliche Spiel neben der Predigt eines der beiden „Massenmedien der Zeit" gewesen, vorrangiger noch vor der Predigt. Dabei verweist er auf die Precursorrede im , Sterzinger Passionsspiel' ( 1 4 9 6 und 1503), welche - als dramatisierte Ansprache des Publikums mehr zur Andacht b e w e g e als bloße Worte. 35 31
Weltgerichtsspiele appellieren wohl nicht allein an die vorösterliche Buße, sondern generell auch an die durchs Jahr hindurch zu übenden guten Werke. Ursula Schulze skizziert am Beispiel der Stadt Augsburg, welche sozialpraktischen Konsequenzen diese „Handlungsorientierung" (etwa hinsichtlich der vollbrachten bzw. versäumten Werke der Barmherzigkeit) der Spiele haben konnte (Schulze [Anm. 26], S. 52-54). 32 Dies gilt zumindest für katholische Teile der Kantone St. Gallen und Thurgau in nachreformatorischen, jesuitisch beeinflußten Zeiten; Zeugnisse für Kombination von Predigt und Drama in: Thomas Brunnschweiler, Johann Jakob Breitingers „Bedencken von Comoedien oder Spilen". Die Theaterfeindlichkeit im Alten Zürich. Edition - Kommentar - Monographie, Bern [usw.] 1989 (Zürcher Germanistische Studien Bd. 17), S. 226-228. 33 Zur Inszenierung eines Texts auf der inneren Bühne siehe Carla Dauven-van Knippenberg, Ein Schauspiel für das innere Auge? Notiz zur Benutzerfunktion des , Wienhäuser Osterspielfragments', in: Christa Tuczay u. a. (Hgg.), Ir suit sprechen willekomen: Grenzenlose Mediävistik. FS für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag, Bern [usw.] 1998, S. 778-787. 34 Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hatte Samuel Reimarus moniert, daß eigentlich apokalyptische Elemente zum Markenzeichen der Predigten Jesu Christi zu zählen seien. Als Ernst Käsemann dies 1960 wiederholte, leitete er eine theologiegeschichtliche Neubewertung ebendieses (end-)dramatischen Charakters prototypisch christlicher Predigt ein. Vgl. hierzu Bernard McGinns aufschlußreiche Aufsätze (Apocalypticism in the Western tradition, Aldershot, Hampshire [usw.] 1994), insbesondere S. 2-39 und S. 252-286. 35 Hansjürgen Linke, Vom Sakrament zum Exkrement. Ein Überblick über Drama und Theater des deutschen Mittelalters, in: Günter Holtus (Hg.), Theaterwesen und dramatische Literatur. Beiträge zur Geschichte des Theaters, Bern 1987, S. 127-164, hier S. 131. Zur Predigt als Massenmedium siehe Georg Steer, Bettelorden-Predigt als ,Massenmedium', in: Joachim Heinzle (Hg.), Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposium 1991, Stuttgart [usw.] 1993 (Germanistische Symposien, Berichtsbände, 14), S. 314-336; zur Verbindung zwischen Passionsspiel und Predigt siehe Carla Dauven-van Knippenberg, Passionsspiel und Predigt in deutscher
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Auch im Blick auf die bereits thematisierte Bedeutung des Visuellen läßt sich demnach bei beiden Texten davon ausgehen, daß sie Elemente enthalten, die auf Anrührung und Partizipation abzielen. Diese Art von Dramatizität bezieht sich also nicht allein auf ihre Genese im Theaterkontext, sondern auf die Wirkintention, mithin auf die emotionale Eindringlichkeit der visuellen und auditiven Appelle. Der erste Aspekt kann allein für Dramen geltend gemacht werden, der zweite hingegen prägt auch die Predigttexte. Hierin scheint also ein funktional begründbarer gemeinsamer Nenner zwischen Predigt (hier konkret der Bußpredigt) und geistlichem Spiel (hier Weltgerichtsspiel) auf.
Das ,Churer' und das ,Berner Weltgerichtsspiel' Das ,Berner Weltgerichtsspiel'36 ist durch sein Entstehungsjahr 1462 als das älteste sicher datierbare Weltgerichtsspiel ausgewiesen. Der in Luzern verfaßte Text gehört in die im Luzernischen vermuteten Anfänge der Weltgerichtsspieltradition der Schweiz.37 Der erhaltene Text ist weder eine Dirigierrolle noch scheint er sonstwie an eine Aufführung gebunden gewesen zu sein. Er verkörpert ein für die wohl stille Privatlektüre bestimmtes Lesedrama oder, wie man im Blick auf süddeutsche Texttraditionen und den darin stattfindenden Medienwechsel präzisieren kann, ein je nach Handschrift illustriertes, dialogisiertes Erbauungsbuch.38 Bezeichnenderweise ist der Text in eine Handschrift mit
Sprache, in: Martin Gosmann und Rina Walthaus (Hgg.), European Theatre 1470-1600. Traditions and transformations, Groningen 1996, S. 19-29. 36 Berner Weltgerichtsspiel. Aus der Handschrift des 15. Jahrhunderts, hg. v. Wolfgang Stammler, Berlin 1962 (Texte des späten Mittelalters 15). Zum Text und zur Überlieferungsgeschichte in der Sammelhs. Mss. Hist. Helv. X 50 der Burgerbibliothek siehe Hellmut Rosenfeld in: 2 VL Bd. 1, 1978, Sp. 748-749; Ursula Schulze (Anm. 26), S. 24 und Hansjürgen Linke, Aus zwei mach eins. Das .Luzerner Weltgerichtsspiel' und das sogenannte ,Berner Weltgerichtsspiel', PBB 119 (1997), S. 268-275, der die Lesart der letzten Ziffer in der Jahreszahl korrigiert und vermutet, das dem Luzerner Schulmeister Jakob am Grund zugeschriebene ,Luzerner Weltgerichtsspiel' könne identisch sein mit dem .Berner Weltgerichtsspiel'.- Alle Zitate aus dem ,Churer Weltgerichtsspiel' mit Wiedergabe des geschäfteten s als s. 37 Schulze (Anm. 26), S. 22-23. 38 Schulze (Anm. 26), S. 30 verwendet den Begriff .Erbauungsbuch' in ihren Bemerkungen zur Gebrauchssituation der Texte, wenn sie „den Medienwechsel vom Aufftihrungstext zum Erbauungsbuch" aufzeigt (zu dem von ihr untersuchten .Berliner Weltgerichtsspiel' bzw. ,Augsburger Buch vom Jüngsten Gericht' siehe S. 40ff); vgl. auch Carla Dauven-van Knippenberg (Anm. 33). - Die mehrfache mediale Nutzung eines Stoffes kennzeichnet das weltliche Spiel (etwa die Umnutzung eines Märe von Hans Folz [,Der witzige Landstreicher', in: Hans Folz. Die Reimpaarsprüche, hg. v. Hanns Fischer, München 1961, MTU 1, S. 119-123] für desselben Autors .Der scheissent', in: Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hg. v. Adelbert von Keller, 4 Bde, Stuttgart 1853/58 [StLV 28-30, 46], Nachdruck Darmstadt 1965/66, hier Bd. 4, S. 1-13) wie auch das geistliche (vgl. zum Medienwechsel zwischen Kanzel und Bretterbühne den Beitrag von Erich Kleinschmidt in diesem Band, S. 325-342). Generell stellt der Medienwechsel eine interessante Parallele zwischen eschatologischen Spielen und anderen auf Erbauung und Didaxe abzielenden Texttraditionen im Spätmittelalter dar. Die aus textlichen und bildlichen Quellen bestehende Stofftradition .Christus und die minnende Seele', die in verschiedenen
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anderen geistlichen Schriften eingebunden, zusammen mit Gebeten, theologischen Traktaten und einer mit Holzschnitten illustrierten Marienlegende. 39 Das Weltgericht als erbaulichen Lesestoff bieten auch vergleichbare Texte wie etwa das , Berliner Weltgerichtsspiel', in dem kolorierte Federzeichnungen - durchaus im Sinne der zuvor skizzierten spirituellen Perspektive der Bildbetrachtung - als visuelle Ergänzung dienen. 40 Strukturell gehört das ,Berner Weltgerichtsspiel' zu dem am häufigsten erhaltenen Typus 2 41 : Der zentrale Gerichtsakt ist umrahmt v o m Prophetenspiel (Ankündigung des Jüngsten Tages, der Fünfzehn Vorzeichen des Endgerichtes durch alttestamentliche Propheten und Kirchenlehrer) und von einem Nachspiel, in dem die zwölf Apostel Gott loben und danken. Auch die Deesis-Szene gehört dazu. 42 Das ,Churer Weltgerichtsspiel' 43 präsentiert sich in einem hochformatigen Manuskript, das es mit großer Wahrscheinlichkeit als Regieexemplar ausweist. Damit gehört es, im Gegensatz zum ,Berner Weltgerichtsspier, zu den funktional als Aufführungstexte definierten Spielen. Entsprechende Gebrauchsspuren sind erhalten: Sprechereinträge in roter Tinte, Regiehinweise, Angabe lateinischer Begleitgesänge und eine Gliederung der Akte. Die erhaltene Fassung scheint im Kontext einer konkreten Auffuhrung entstanden zu sein, nämlich der im Anfangsrubrum genannten Auffuhrung von 1517. Man nimmt heute an, daß das Spiel zu Ostern im Innenraum der dafür geeigneten Churer Kathedrale,
Handschriften rund um den Bodensee und bis nach Einsiedeln überliefert ist, fuhrt einen brautschaftlichen Stationenweg für eine Christus liebende Seele vor Augen, die ebenfalls in dialogisierter Figurenrede dargeboten wird. Die Werke, die sich an ein monastisches sowie an ein weltliches, vorrangig weibliches Publikum richten, liegen in unterschiedlichen Gebrauchsmedien vor (piktoral in Blockbüchern oder in Kirchengebäuden, als mit knappem Text versehener Einblattdruck, als Kurzgedicht, als selbständiges Erbauungsbuch, wie das ,Berner Weltgerichtsspiel' mit andern geistlichen Handschriften als private Lesehandschrift zusammengebunden). Vgl. hierzu Werner Williams-Krapp, Bilderbogen-Mystik. Zu .Christus und die minnende Seele'. Mit Edition der Mainzer Überlieferung, in: Konrad Kunze, Johannes G. Mayer und Bernhard Schnell (Hgg.), Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag, Tübingen 1989, S. 350-364; Hildegard Elisabeth Keller, Von ehelicher Privation zu erotischer Privatheit? Allegorese der Geschlechterbeziehung. Ein Beitrag zu ,Christus und die minnende Seele', in: Gert Melville und Peter von Moos (Hgg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, Köln [usw.] 1998 (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 10), S. 461—498. 39 Zur Handschrift (Hist. Helv. X. 50, Burgerbibliothek Bern) gibt Wolfgang Stammler in der Einleitung zu seiner Edition (Anm.36) knappe Hinweise (S. 7-8); siehe auch Linke (Anm. 35). 40 Vgl. die 53 Illustrationen im Anhang zu Ursula Schulzes Edition (Anm. 26); zum Kommentar s. S.3ff. 41 Hierzu Ursula Schulze (Anm. 26) in ihrer Übersicht über die überlieferten Weltgerichtsspiele und deren Typologisierung, S. 14—17. 42 Zur barmherzigen Intervention Marias und Johannes' siehe Ursula Schulzes Einführung in: Churer Weltgerichtsspiel. Nach der Handschrift des Staatsarchivs Graubünden Chur Ms. Β 1521, hg. v. Ursula Schulze, Berlin 1993 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 35), S. 16. 43 Schulze (Anm. 42). Siehe dazu auch Hellmut Rosenfeld, ,Churer Weltgerichtsspiel', in: 2 VL Bd. 1, 1978, Sp. 1271-1274. - Fürs Folgende stütze ich mich auf Ursula Schulzes sorgfältige Einführung in ihrer Edition des ,Churer Weltgerichtsspiels' (Anm. 42), S. 9-17.
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allenfalls auch auf dem Vorplatz der Kirche, aufgeführt wurde.44 Weniger historische Belege (es sind keine erhalten) als inhaltliche Kriterien und die im Stück erkennbaren Wirkabsichten berechtigen dazu, die Inszenierung in der heylig zit (v. 9) anzusiedeln: die Notwendigkeit der vorösterlichen Buße und die darin geschehende Vorbereitung auf die Pflicht zum österlichen Kommunionempfang. Stichhaltige Hinweise finden sich auch für die Lokalisierung der Textentstehung sowie der Aufführung in Chur. Es sind zwei lokal verehrte bzw. berüchtigte Männer, konkret der Diözesanpatron Florinus, der im Spiel Gott für die Seligkeit dankt, und - gewissermaßen am anderen Ende der Skala der Gerichteten der 1504 verhaftete Kriminelle Ulrich Thomali, der in einer vermutlich pantomimischen Szene dem rätoromanisch benannten Teufel Baab zu entwischen sucht. Das ,Churer Weltgerichtsspiel', vom Umfang und der inhaltlichen Struktur her dem erweiterten Typus der Weltgerichtsspiele zugeordnet,45 enthält zahlreiche Szenen und Personen, welche die eigentliche Gerichtsszene erweitern; die für den hier diskutierten Kontext wesentlichen Erweiterungen sehe ich in der Precursorfigur wie auch im finalen Antichristauftritt. - Deutlich tritt der Charakter der Bußpredigt in den Appellstrukturen zutage, welche die Rede verschiedener Figuren prägt. Sie tragen dazu bei, daß die theatrale Repräsentation im Sinne eines zeitlichen Ver-Gegenwärtigens zielgerichtet wirken soll. Die anschließend untersuchte Figurenrede, namentlich die Aufforderungen des Prelocutors, der Propheten und Kirchenväter am Eingang und der Propheten Henoch und Elias am Ende, dient einer solchen Überlagerung der Jetztzeit mit der Endzeit, damit Buße sub specie aeternitatis geschehen kann. So besagt im Grunde genommen bereits der interessanterweise im Perfekt gehaltene Auffiihrungsbericht (Anno millesimo quingentesimo decimo septimo hat man gehept das jungst gricht), daß das Spiel vom Jüngsten Gericht stattgefunden hat, mit ihm aber auch das Jüngste Gericht, das spielenderweise in dieselbe zeitliche Aktualität geholt wird, in der auch die Bußerfahrung des Einzelnen stattfinden soll: in via. Entsprechend tritt in beiden Spielen das Wörtlein nu zuhauf auf.
Predigende Figuren Prelocutor, Propheten und Kirchenväter Da im ,Berner Weltgerichtsspiel' eine Vorrednerfigur fehlt, hebt die direkte Ansprache an die Rezipienten im einleitenden Prophetenspiel an. Die alttestamentlichen Propheten und die Kirchenlehrer appellieren in regelmäßig eingestreuten (und hier nur exemplarisch angeführten) Imperativen und rhetorischen Fragen ans Gehör und den Gehorsam, dann rufen sie zur Umkehr auf: Nu bereittent lieh, fröwen vnd man! (v. 32) Nu losent wol vnd sint bereitt! (v. 35)
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Ursula Schulze präzisiert die innenarchitektonischen Besonderheiten der Churer Kathedrale (s. Schulze [Anm. 42], S.13). Ursula Schulze weist dieses Spiel dem Typus 4 zu, vgl. ihre Übersicht über die überlieferten Weltgerichtsspiele und deren Typologisierung (Anm. 42), S. 14-17.
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horre, wie sol es dir ergan? (v. 42) müst nach werken Ion enphan. (v. 43) volgent mir, daz ist min ratt! (v. 80) horent har, man vnd wib! (v. 137)
Solche sozusagen in letzter Minute erlassenen Appelle bereiten dem Hauptdarsteller und seiner gnadenlosen Kernbotschaft den Weg. Christus äußert sie im Dialog mit dem barmherzig für die Verlorenen bittenden Johannes einerseits, den rechtenden Teufeln andererseits. Christus gibt sich nun taub gegenüber jenen, die zu Lebzeiten ungehorsam waren. Alle Milde läßt er hinter sich, wenn er als Richter predigt und als Prediger richtet. Zum Fürbitter Johannes sagt er: Ich wil hüt nit erhören dich, Wan din bett ist iecz vnmüglich. Werent das alle heiigen vnd du Weineten blutigen trene nu, Daz mochte sy doch nit vervan, Sy müssen in die helle gan! Siczent wider an üwer stat! Min hercz kein erbermde hatt. (vv. 788-795)
Den teuflischen Vollziehern des Urteils zugewandt begründet er den Richtspruch. Wer den Predigern im Hier und Jetzt (im Spiel selbst entsprechen sie den zuvor aufgetretenen Propheten und Kirchenvätern!) weder Gehör noch Glauben schenkte, kann nicht damit rechnen, im Jenseits (im Spiel steht es jetzt vor Augen) vom Endzeitrichter erhört und angesehen zu werden. IR tüfel, tünd bald min gebot! Wan ich bin der gewaltig got. Fürent sy ab minen ogen, Wann sy woltent nie geloben Miner bredier sag vnd lere! An lib vnd an sei ich sy sere. Fürent sy bald in der helle len, Min ogen mogent sy nit ansen!
( w . 796-803)
In dieser auditiv-visuellen Variante des ius talionis gipfelt diese auf Bußbereitschaft abzielende, predigtartige Vergegenwärtigung der Verdammten (anschließend paradieren sie unter Selbstverfluchungen am Publikum vorüber) und der Seligen (ihr Triumphzug leitet über zum gemeinschaftlichen Einzug in den Himmel, mit dem das ,Berner Weltgerichtsspiel' endet). Zahlreicher und mit erkennbar dramaturgischer Funktion treten predigende Figuren im ,Churer WeltgerichtsspieP auf. Dies gilt in erster Linie für den Prelocutor. Die Begriffe Prelocutor und Prediger bzw. praedicator sind semantisch,46 performativ (beide treten in
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Lat. praedicare, von dem der deutsche Ausdruck sich herleitet, heißt ,ankünden', .bekannt machen', was dem lat. praeloqui bzw. der Tätigkeit des Prelocutors gleichzustellen ist, vgl. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. 33 Bde, Leipzig 1885-1984 [Reprint München 1991], Bd. 13, Sp. 2079ff.
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bzw. vor der Kirche auf) und funktional verbunden, denn beide sagen einem direkt angesprochenen Gegenüber an, was die Zeit (und damit auch der Ort im Kirchenjahr) einem Christen gebietet. Der Prediger im geistlichen Spiel kann sich für seine Botschaft zusätzlich auf die szenische Visualisierung stützen. - Der Prelocutor im »Churer Weltgerichtsspiel' verbürgt den direkten Kontakt mit dem Publikum, indem er es begrüßt und auf den Inhalt des jeweils folgenden Aktes vorbereitet. Er erläßt auch als erster den Bußappell ans Publikum. Als einerseits externe, andererseits natürlich ins Bühnengeschehen involvierte Figur spielt er auf der Schwelle: als geistlicher Begleiter des Publikums und als rector ludi. Eingangs des Stücks folgen diese komplementären Funktionen unmittelbar aufeinander. Kaum hat der Prelocutor das versammelte Publikum begrüßt, hebt seine Bußpredigt an, bald auch schon in der Du-Form (vgl. v. 28). Kerngegenstand sind zum einen das Jüngste Gericht in seiner eschatologischen Unvermeidbarkeit wie auch seiner jetztzeitlichen Notwendigkeit als Beichte und Neuanfang, zum andern der Sinn des Spiels. Wer wil vermiden ewig pin Vnnd bringennz sei jns ewig rieh, Der bild das iungste gricht in sich, Sid vnnß die heylig zit nun ist, Das bichten hüt sol ein yeder crist Sin sind vnnd sy mit ruwen biessen, Das er das sacramend mig niessen Vnnd das im nem die sind dahin. Vnnd sacrament empfangen hat, Sol er meyden mi ssetat. Dar vmm hand wir dise spil gedieht, Got zu lob das jüngst gricht. ( w . 6-17)
Das in sich bilden, in dem die Kernintention des Spiels begrifflich gefaßt ist, reflektiert die eingangs dargelegte Wirkungsästhetik im Spätmittelalter. Das Spiel will eine Heilsbedingung so vor das äußere Auge führen, daß das Bildprogramm innerlich wirksam werden kann. Das Zentralorgan hierfür ist das Herz. 47 Das Drama dient damit der spirituellen .Einbildung'. In diesem Sinne nennt der Prelocutor eingangs die exemplarischen Zuschauer, welche die Absolutheit der Endabrechnung ernstgenommen haben. Das hand all heiigen wol mit schmertzenn Gsetzt vnd truckt in yere hertzen, Denn wennd wir volgen nach dem füß.
(vv. 32-34)
Der nächste Vers verdeutlicht, daß diese imitatio sanctorum die eigentliche Rezeptionsanweisung fürs Publikum darstellt. Sie gibt Antwort auf die Frage nach dem richtigen,
47
Vgl. hierzu Barbara Duden, Anmerkungen zur Kulturgeschichte des Herzens, in: Farideh AkasheBöhme (Hg.), Von der Auffälligkeit des Leibes, Frankfurt a. M. 1995, S. 130-144; Jan Assmann, Zur Geschichte des Herzens im Alten Ägypten, in: Jan Assmann (Hg.), Die Erfindung des inneren Menschen. Studien zur religiösen Anthropologie, Gütersloh 1993, S. 81-113.
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intentionsgemäß eben dem bußwirksamen Zuschauen. Der Prelocutor analogisiert die Bußwerke, den Theaterbesuch und die andächtige Schriftlektüre:48 Darumb wer welle wüerken büß, Der sich das spil mit fliß vnnd tracht, Es ist vsß heiliger gschrifft gemacht, (w. 35-37) Die Prelocutor- oder eben Predigeraufgabe wird im ,Churer Weltgerichtsspiel' auch von anderen Figuren, insbesondere im Prophetenspiel und in der Antichristszene, wahrgenommen. Ihre unterschiedlichen Redeperspektiven ergänzen einander zur im Doppelsinn des Wortes dramatischen Bußpredigt. Die Propheten und Kirchenväter, die in sehr unmittelbar wirkenden Ich-Aussagen ebenfalls das Weltgericht verkünden (vv. 42-97), übernehmen den Verlautbarungsgestus des Prelocutors. Alle Figuren des ersten actus49 sprechen somit predigerartig das Hören an, damit auch den Gehorsam und - bei Sophonias - erneut das Herz als innerlichstes Zielorgan der Botschaft. Ich liste die einzelnen Appelle in chronologischer Reihenfolge der auftretenden Figuren auf: Nun merckend recht, was ich üch sag (Johel, v. 45) - Nun her, wie sol es dir ergan, / Du must nach werchen nemen Ion. / Wie migend liden des sinders oren / Den scharpffen grimmen gottes zorn? (Sophonias, w . 6669) - Darum so merckendt, wib vnnd man, 1 Lond üch den tag zu hertzen gan (Job, vv. 8283) - Darum sorgendt wib vnnd man / Vnnd sondt das gricht fur äugen han. / Nun volgend mir, das ist min rat, / So weyß ich, das es wol ergat (Solomon, w . 94—97). Der anschließend sprechende Kirchenvater Gregorius verheißt als lerer dem Publikum bare Münze: Der warheit gib ich üch ein bscheidt (v. 101). In seinen letzten Versen leitet er zu seinem Nachredner Hieronymus über. Da dieser die Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts verkündet, führt Gregor mit einem geschickten Tempusgebrauch in die Endzeit hinein. Das suggestive Perfekt zeigt die Weissagung als praktisch erfüllt, so daß nicht allein Hieronymus' Botschaft, sondern das sich daran anschließende Weltende als in die Jetztzeit geholtes verstanden werden kann. Vil seltzner zaychen werdt furgan, Ir migent sy wol gsechen hon. Darum nacht vnnß der jünngste tag, Daruff ein yeder sorgen mag. (w. 114-117)
Die Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts Hieronymus ist eine Endzeitsemiotik in den Mund gelegt, die ein einzigartig dramatisches Präludium der Gottesbegegnung vor dem Richterstuhl verkörpert. Hieronymus ruft deshalb den Zuschauern zu: losendt obenthvr (v. 126), bevor er die sogenannten Fünfzehn
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Der Prelocutor aktiviert dann die ersten Spieler, als wollte er die behauptete Quelle belegen (Propheten, ir her für sonndgon, / Sag, Johell, was waist du dar uon, w . 40—41).
49
Nachdem Hieronymus die Fünfzehn Zeichen verkündet hat (nach v. 199), ist eingetragen: Incipit actus secundus (und Responsorium Hoc signum crucis).
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Vorzeichen des Jüngsten Gerichts50 aufzählt. Diese bis tief in die Neuzeit hinein beliebte Liste der Endzeitzeichen hat eine dunkle Entstehungsgeschichte, in der sich ein Text von Pseudo-Beda mit andern kanonischen und apokryphen Quellen, darunter die sibyllinischen Weissagungen, vermengt.51 Hieronymus leiht damit seine Stimme einer prophetischen Endzeitpredigerin besonderer Art: der Sibylle, deren eigentliches Thema die Abfolge von Imperien ist, bis hin zu den Vorzeichen, die das Wiederkommen des Weltenrichters quasi einläuten. Wie in beinahe allen Weltgerichtsspielen konserviert demnach die Passage über die Fünfzehn Vorzeichen die anonymisierte sibyllinische Stimme, zu der ich exkursartig einige Anmerkungen anfügen möchte. Der Einfluß der sibyllinischen Schriften machte sich im Mittelalter über Laktanz, nachhaltig indes über Augustinus und lateinische Teilübersetzungen der ,Oracula Sibyllina' geltend.52 Die augustinische Adaptation der Sibylle von Cumaea in ,De Civitate Dei' 50
Zur außerordentlich gut und vielsprachig belegten Überlieferung dieser unabhängigen, aber auch in andere Werke (beispielsweise eschatologische Spiele) integrierten Texte siehe Hans Eggers Artikel .Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts', in: 2 VL Bd. 2, 1980, Sp. 1013-1020. Hans Blosen (Die Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts im Kopenhagener und im Berliner Weltgerichtsspiel, in: Wolfgang Dinkelacker, Ludger Grenzmann und Werner Höver [Hgg.], Ja muz ich sunder riuwe sin. FS für Karl Stackmann zum 15. Februar 1990, Göttingen 1990, S. 206 bis 231) befaßt sich mit einem auf die Fünfzehn Vorzeichen bezogenen Textvergleich zwischen dem .Kopenhagener' und dem .Berliner Weltgerichtsspiel' und den verschiedenen Überlieferungstypen der fünfzehn Zeichen (die meisten folgen dem Voragine-Typ, einer in der .Legenda aurea' des Jacobus a Voragine tradierten Version). Ein vollständiges, kommentiertes Verzeichnis aller bekannten deutschen und niederländischen Fünfzehn-Vorzeichen-Texte in: Das Münchner Gedicht von den fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Nach der Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek Cgm 717. Edition u. Kommentar, hg. v. Christoph Gerhardt u. Nigel F. Palmer, Berlin 2002 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 41), S. 159-165 (herzlich danke ich Nigel Palmer für seine prompte Zusendung des aktualisierten Preprints des Katalogteils).
51
An kanonischen Quellen sind Mt 24,29ff., Mc 13,24ff. und Lc 21,25-27 zu nennen, zu den apokryphen Quellen siehe Hans Eggers (Anm. 46), Sp. 1014ff. - Zur Tradition gehört auch die Quellenfiktion des Hieronymus. Die ,Oracula Sibyllina', eine Sammlung von über 4200 Hexameterverse umfassenden Pseudoorakeln ursprünglich kleinasiatischen Ursprungs, sind nach 150 n. Chr. christlich rezipiert und redigiert worden, wobei der Einbau christologischer Elemente besonders auffallt. Die Endfassung, die griechische, jüdische und christliche Elemente amalgamiert, wurde wohl im 6. Jh. n.Chr. abgeschlossen. Dank dem Titel knüpft sie an alte griechische und jüdische Sibyllenlegenden an und gewinnt daraus ein autoritätsstiftendes Alter. Auch etabliert sich ein Bezug zu den römischen libri Sibyllini, einer Sammlung nicht von weissagenden Texten, sondern von Ritualvorschriften zur Abwehr unheilvoller Vorzeichen und zur Götterbesänftigung (vgl. Sibyllinische Weissagungen. Griechisch-deutsch. Auf der Grundlage der Ausgabe von Alfons Kurfess neu übersetzt und hg. v. Jörg-Dieter Gauger, Düsseldorf [usw.] 1998, S. 380-391). - Siehe Bernard McGinns erhellenden Beitrag zur mittelalterlichen Sibyllentradition (Teste David cum Sibylla·, the Significance of the Sibylline Tradition in the Middle Ages, in: McGinn [Anm. 34], S. 7-35); Jörg Dieter Gaugers Einleitung in: Sibyllinische Weissagungen, bes. S. 465ff. und 473f. und Pia Holenstein Weidmann, Die Königin von Saba, die dreizehnte Sibylle, in: Claudia Brinker-von der Heyde und Nikiaus Largier (Hgg.), Homo Medietas. FS für Alois M. Haas, Bern [usw.] 1999, S. 395-417. - Zu den augustinischen und pseudoaugustinischen Schriften siehe den Hinweis bei
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(XVIII, cap. 23), in Briefen wie auch in einer pseudoaugustinischen Predigt verliehen ihr eine mächtige Autorität.53 Gerade letztere stellt die Sibyllen in eine Reihe mit den alttestamentlichen Propheten, die ja in den Weltgerichtsspielen auftreten: So wie die Juden die Geburt des Erlösers vorausgesagt hatten, verkündeten die Sibyllen paganen Völkern die Christus-Geburt sowie dessen Wiederkunft als Weltenrichter am Ende der Zeiten. Gerade diese Parallele hat nicht nur die mittelalterliche Liturgie geprägt, sondern auch den Ordo prophetarum in den Weihnachtsspielen. So tritt die Sibylle im Prophetenspiel auf, das als Vorspiel zu den beiden St.Galler Weihnachtsspielen inszeniert wurde.54 Im Blick auf die spätmittelalterlichen Weltgerichtsspiele bekommen zwei antike Größen recht. Plutarch meint einerseits, „die Sibylle, mit rasendem Munde Ungelachtes und Ungeschminktes und Ungesalbtes hinwerfend, dringt mit ihrer Stimme durch Jahrtausende, angetrieben von Gott." 55 Und was andererseits Ovid die Sibylle sagen läßt, antizipiert die anonyme Weise ihres Auftritts im Weltgerichtsspiel, denn die Zeit scheint gekommen, in der die Endzeitseherin zu einem schieren Nichts zusammengeschrumpft ist. Allein noch ihre Stimme ist hörbar, und auch diese namenlos, wie ihre Worte voraussagen: „Einst wird kommen die Zeit, da macht mich die Länge der Dauer klein nach stattlichem Wuchs, und die Glieder, geschrumpft von dem Alter, schwinden zum mindesten Maß, und es scheint nicht, daß ich geliebt war, daß ich gefallen dem Gott [...] Also werd' ich gewandelt dereinst und für keinen zu schauen doch an der Stimme erkannt: die läßt mir übrig das Schicksal." 56
Bernard McGinn, Teste David cum Sibylla, S. 14f., Herbert W. Parke, Sibyls and sibylline prophecy in classical antiquity, hg. v. Β. C. McGinn, London [usw.] 1988 und Jörg Dieter Gauger, in: Sibyllinische Weissagungen, S. 462ff. 53 Das sibyllinische Akrostichon auf Christus (27 bzw. 34 Verse anlautend auf „Jesus Christus Gottes Sohn Heiland Kreuz", vv. 217-250) listet zwar weder eine numerisch noch chronologisch definierte Zahl von Zeichen auf, doch ist sein Kontext vom selben endzeitlichen Predigtton geprägt, wie ihn Hieronymus anschlägt. So beginnt die Sibylle das Achte Buch: „Von dem gewaltigen Zorn, der hereinbricht am Ende der Zeiten über die trotzige Welt als Strafgericht, künd ich allen Menschen zumal, von Stadt zu Stadt prophezeiend." (Sibyllinische Weissagungen [Anm. 52], S. 171,1-3). 54 Zum Einfluß der Sibyllentradition auf Liturgie und Drama siehe Karl Young (Anm. 5), Vol. 2, S. 125-171. Auch in der bildenden Kunst (zu erinnern ist etwa an Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle) gesellen sich die Sibyllen zu den alttestamentlichen Propheten, zu den Aposteln und Kirchenvätern. - Die Sibylle ist in der ,Legenda aurea' auch im 6. Kap. präsent. Sie habe Augustus die Geburt Christi geweissagt; eine ausgeschmückte Version wirkt von der .Legenda aurea' aus auch in mittelhochdeutschen Texten und insbesondere in Weltgerichtsspielen weiter. Zum Weiterwirken in der mhd. Literatur, zum Auftreten von Sibyllen in den Prophetenspielen und zum Einfluß der Sibyllinentradition auf die mittelalterlichen Mysterien- und Weihnachtsspiele überhaupt siehe die kurzen Hinweise bei Jörg-Dieter Gauger (Anm. 52), S. 464 und 468, sowie bei Rupprich (Anm. 1), S. 261 und in: Das Güssinger Weltgerichtspiel, hg. v. Hansjürgen Linke, Heidelberg 1995 (Germanische Bibliothek N.F., 4. Reihe, Texte 9), S. 7 Anm. 21, ausfuhrlich aber Ingeborg Neske, Die spätmittelalterliche deutsche Sibyllenweissagung. Untersuchung und Edition, Göppingen 1985 (GAG 438). 55 Plutarch, mor. 397 A, 398ff., zit. nach: Sibyllinische Weissagungen, vgl. Gauger (Anm. 52), S. 373. 56 Ovid, Metamorphosen, 14,147-154; zit. nach: Sibyllinische Weissagungen (Anm. 52), S. 373.
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Die Sibylle wirkt kraft Prophetie als Predigerin.57 Als sie durch die verschiedenen Teile der Welt reiste, „predigte sie (predicavit) in Asien [...]. Sie predigte in allen diesen Gegenden, und da sie mit prophetischem Geist erfüllt war, prophezeite sie den Guten Gutes und den Bösen Böses."58 Den mittelalterlichen Sibyllen wie dem geistlichen Drama ist gemeinsam, daß sie ihre Bedeutung im direkten Rückbezug auf Christus entfalten, konkret auf Geburt, Tod, Auferstehung und Wiederkehr als Weltenrichter. Nach McGinn nährt sich die Bedeutung der christlichen Sibyllinen in der Kunst und Literatur des Mittelalters und der Renaissance ganz primär aus der ererbten christozentrischen Prophetie (die Geburt bzw. die Rückkehr Christi) - aus derselben Wurzel also, aus der das mittelalterliche Drama entsteht: aus der Suche nach dem auferstandenen Christus in der österlichen Quem-quaeritisSequenz. Daß die Natur, wie es die endzeitlichen Vorzeichen schildern, aus den Angeln gehoben wird, ist nicht allein bei der christianisierten Sibylle christozentrisch verstanden worden. Die Außerkraftsetzung aller Naturgesetze weist auf die Erscheinungen Christi auf Erden hin, die übrigens allesamt im geistlichen Spiel inszeniert werden. Sie verweist also aufs erste Erscheinen in der Inkarnation (,Tierfriede') 59 zurück, sie erinnert an das Erdbeben und die Sonnenfinsternis bei Christi Kreuzestod und signalisiert seine Parusie am Ende der Welt. Nicht umsonst steht dieses kosmische Drama am Beginn des Weltgerichtsspiels. Das , Berner Weltgerichtsspiel' entfaltet in fünfzehn Vierzeilern ein eindrückliches Untergangsszenario, die Handschrift des ,Berliner Weltgerichtsspiels' fügt eine Vielzahl von farbigen Federzeichnungen hinzu: schreiende und überflutende Wasser, laute Klagen ehemals stummer Kreaturen wie Meerwunder und Fische, eine blutschwitzende Flora, tobende Meere, Orkane, die völlige Einebnung der Erde, auferstehende Gerippe, das Einrollen des Firmaments, das als Weltenkulisse nun ausgedient hat, ferner ein kathartischer Weltenbrand, und schließlich, am fünfzehnten Tag, die leuchtende Transparenz all dessen, was dann noch ist. Der Mund des Hieronymus verkündet „des Gerichtes Zeichen" im ,Churer Weltgerichtsspiel' im Zeichen seiner Endzeitpredigt. Wo immer möglich oder nötig, was auch Reimzwang miteinschließt, spricht er sein Publikum direkt an (siehe Kursivdruck), auffällig oft,
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Dies gilt beispielsweise auch für die lateinische Fassung der Legende der tiburtinischen Sibylle einen „medieval bestseller", der ab dem Jahre 1047 schriftlich vorliegt und von dem man nach Bernard McGinn (Anm. 52), S. 24 über 130 Handschriften kennt. - Mit großer Emphase empfiehlt Abaelard die Sibylle seiner Briefpartnerin Heloise als prototypische christliche Theologin (Abaelard an Heloise, Brief 7, in: Abaelard. Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, hg. v. Eberhard Brost, mit einem Nachwort von Walter Berschin, München 4 1979, S. 221). Überhaupt ist die Sibylle ein im Mittelalter präsentes Rollenmodell einer prophetischen Predigerin. Vgl. Peter Dronke, Sibylla - Hildegardis. Hildegard und die Rolle der Sibylla, in: Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag, hg. v. Äbtissin Edeltraud Forster und dem Konvent der Benediktinerinnenabtei St. Hildegard, Eibingen, Freiburg [usw.] 1997, S. 109-118 und Bernard McGinn (Anm. 52), S. 18-19.
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Sibyllinische Texte und Forschungen, hg. v. Ernst Sackur, Halle 1898, S. 177. Ich beziehe mich auf den im Alten Testament prophezeiten Tierfrieden, den beispielsweise Heinrich Seuse in seinem Brief Habitabit lupus cum agno erwähnt (Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, S. 420-423). Die Herabkunft des Kindes verkehrt den natürlichen lovffe der natur und stiftet Frieden zwischen den Tieren.
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indem er an den Hörsinn und das intellektive Vermögen appelliert, zweimal auch mit 60 suggestiven Selbstbefragungen.' Der erst tag, losendt obenthvr, All wasser schryendt vngehvr Vnnd louffent zemmen alle sandt, Ertrencken alle berg vnd landt. [...] Der dritte tag, mich wol verstondt, All merwunder vnnd visch her kond, All vogel vnnd thier clagendt in, Das sy der todt will nemmen hin. Am Vierden tag, nun merckendt schon, Die wasser werdend wider kon, Da wirt den grosse not dar by, Si brinnendt, alß es schwel sy. [...] Der achtend, merckend lieben kindt, der bringed vngehure windt, [···] Am nünden, merckendt vber all, All berg, die vallendt in thai, Vnnd wirt die weit den eben glich. O, was wirt den enthalten mich? [...] Der aielfft tag, merckendt all gemeyn, Die todtten nemen yere bein Vnnd stondt den zitterend wie ein loub, Von forchten sind sy blind vnnd thoub. [...] Der zwolfft tag, wan ir lossen wendt, Das firmamendt nympt alß ein endt. ( w . 126-171)
Die tatsächlich elementare Bewegung vor dem Endgericht, die im Spiel vor die Augen der Zuschauer gebracht wird, kann im Horizont der doppelten Zeitstruktur auf das vorausweisen, was in den Zuschauern selbst während der theatralischen Repräsentation geschehen soll. Die Dramatik in der Natur entspricht dem im Spiel angestrebten innermenschlichen Auf- und Umgebrochen-Werden, kirchlich gesprochen der Buße. Wer die angsteinflößenden Umwälzungen im Kosmos im eigenen Innern als Buße miterlebt, nimmt das Bühnengeschehen als Ort zur Gewissensprüfung an. Die laute Verzweiflung der Verdammten wie dann auch der Triumph der Seligen lassen sich auf die zuschauenden Menschen übertragen. So ist in der Beichte zu Ostern, einer um Tod und Auferstehung kreisenden Zeit, die Endzeit präsent. Alljährlich, so spielt es etwa das ,Osterspiel von Muri' vor, 60
Der Hieronymustext im ,Churer Weltgerichtsspiel' ist stärker appellativ als in andern Weltgerichtsspielen (vgl. etwa den Textvergleich von Hans Blosen [Anm. 50]). Nigel Palmer und Christoph Gerhardt erwähnen (Anm. 50, S. 33ff ), daß die in den Weltgerichtsspielen ansonsten recht einheitliche Hieronymusrede im .Churer Weltgerichtsspiel' stärker abweicht.
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steigt Christus in den Höllenrachen, um die Sünder zu befreien und sie zu sich zu holen. Weltgerichtsspiele fuhren auch die Opfer des umgekehrten Aktes vor Augen. Wer das Beichtritual versäumt, wird im Höllenrachen versorgt und unwiderruflich eingeschlossen, sobald Christus als Weltenrichter wiederkehrt. Also immer in dem von den Predigerfiguren so unermüdlich wiederholten nu.
Finale mit und ohne Antichrist Die scheinbar anachronistische Antichristszene des ,Churer Weltgerichtsspieles' ist eines der besonders wirkmächtigen Predigtelemente am Spielende. 61 Das zeitlich zunächst verwirrliche Geschehen (der Antichrist tritt erst nach dem Weltgericht auf) wird auf dem Hintergrund der doppelten Zeitstruktur sinnhaft. 62 Schließlich fuhrt das Spiel gegen den Schluß hin das Publikum aus der auf der Bühne repräsentierten Endzeit wieder in die Jetztzeit und erinnert es an die in ihr lauernden Irrwege. Ein letztes Mal soll es also die Bußbotschaft „ins Herz gedrückt" bekommen. Der dramatische Antichristauftritt steigert die Spannung nach dem Defilee der Verdammten und Seligen und er visualisiert sozusagen die volle christliche Fallhöhe. Obwohl das am Ende auftretende Trio (der Antichrist, Elias und Henoch) einen präzisen Ort in der Heilschronologie einnimmt, sprechen die Figuren aus einer absoluten Gegenwart heraus. Ihr Auftritt ist ein finaler Paukenschlag der Bußpräparation. Um die unterschiedliche Gestaltung der beiden Weltgerichtsspiele vorwegzunehmen, skizziere ich kurz die diesbezügliche Differenz. Nach den drastischen Martyrienberichten, welche die Seligen im ,Berner Weltgerichtsspiel' in Vierzeilern abgeben, hält Christus der auserwählten Schar eine Schlußrede. Sie schließt nicht allein alle Nichterwählten aus, sondern sie schließt auch den Text ab, indem sie die Exklusivität des im Himmel Gebotenen in einem Superlativ des Ungehörten und Ungesehenen heraufbeschwört. Alle Augen und alle Ohren der Zurückbleibenden, seien sie in der Hölle oder säßen sie noch in einem irdischen Leib vor dem Manuskript, werden ausgeschlossen. Der Dialog vollzieht sich unter Eingeweihten. Die Wirkung auf die Leser ergibt sich hier ex negativo, nämlich dem Sog der Exklusion. Rhetorisch wird man sich am Ende fragen: Wer möchte nicht dazugehören, wenn die Seligen hinanziehen? 63 Von solchem Dazugehören sollte beim ,Churer Weltgerichtsspiel' indes keine Rede sein, wenn es zum bösen Ende hin den Antichrist auf die Bühne holt. Mit verlockender Milde und Barmherzigkeit erheischt er Aufmerksamkeit (Nun losend all, wer lebt vff erden, v. 1366) und verführt nach Kräften und mit Erfolg. Ein Resistenter bringt ihn dann zu Fall. Post ruinam jpsius klagt das irregegangene Volk auf erschütternde Weise. In seiner Verzweiflung (vv. 1494-1507) spiegelt sich alle auf Erden zu gewärtigende Täuschung. 61
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Ab v. 1111 beginnt der actus quintus mit einem Alleluia und einem Lobgesang, dann treten die Seligen, unter ihnen auch der Churer Lokalheilige Florinus, mit ihren individuellen Lobpreisungen auf. Daß diese Umstellung pädagogisch motiviert ist, hat die Forschung bereits früh gesehen (zu Jenschke und Kind Ursula Schulze [Anm. 42], S. 20ff.). Vgl. vv. 991-998.
Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedien
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Sinnigerweise scheint das Jüngste Gericht noch bevorzustehen, was vom Standpunkt des Bühnengeschehens aus gesehen ja falsch ist. Da es aber noch immer nicht zu spät ist, tritt Elias als Bekehrer (Vnnd so es yetz ist grosse zyt, / Das dwelt yetz ger in sunden lit, ν. 1512f.) und Bußprediger auf den Plan. Er tadelt die „Taubheit" der Leute: Hond ir nitt kert vsß haiiger gschrifft, Die all yetz disen Enderist trifft? Ouch Cristus sprach in siner 1er, Vill kont vnnd sprechent, jeh bin her, Da mit dann wirt min gloüb zestort. Owe, wie hond irs ubel ghortt [...] ( w . 1520-1525).
Dann doppelt Henoch, der mit Elias eigens für diesen Bekehrungsauftrag aus dem Paradies abgesandt worden ist, erst mit Appellen ans Hören nach, und dann mit Imperativen, denen zu gehorchen ist. Auch zum Abschluß des Spiels ist der Aufruf zur imitatio sanctorum das letzte Wort. Nun bkert üch, es ist min rat, Dann von vnns vill geschriben stat, Das hant ir frilich offt gehört [...] So sond wir uch dann wider bkeren. Darumb sond ir gott flissig eren, Nend wider hin die zehen bott, Kennend vnnd ouch erend gott, Das uch gott nitt straff mit räch, Darumb sonnd ir vnns volgen nach.
( w . 1534-1545)
Zusammenfassung Gestützt auf die spätmittelalterliche Rezeptionsästhetik geistlicher Kunst, habe ich anhand struktureller Eigenheiten und rhetorischer Mittel zu belegen versucht, daß die beiden hier untersuchten Weltgerichtsspiele die Endzeit eindringlich repräsentieren, also im theatralischen wie im zeitlichen Sinne Endzeit aktualisieren. Für meine Analyse sind die präludierenden und postludierenden Sequenzen besonders wichtig gewesen. Unübersehbar und unüberhörbar sind die Appellstrukturen der zum Auffuhrungspublikum sprechenden Figuren, die sich ans Hören und ans Gehorchen richten. Genauso wie der Prelocutor vom Anfang her, so treten Henoch und Elias vom Ende her als predigerartige Hermeneuten auf, die deuten, was und weshalb auf der Bühne visualisiert wird. Im Verweis auf die Schrift kommentieren sie das omnipräsente Verführungspotential des Antichrist und leiten dazu die Zuschauer ein letztes Mal an, das in Akten vergegenwärtigte Endzeitgeschehen als memento mori wahrzunehmen. Als eigentliche Postlocutoren arbeiten sie damit dem Prelocutor in die Hand. Die eindrücklich dramatischen Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts werden als bilderbogenartiges Binnendrama in 15 Akten vor- bzw. aufgeführt. Sie stellen, ebenso wie die eigenwillige Variation der
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Keller
Heilsgeschichte im Antichristfinale des ,Churer Weltgerichtsspiels', einen wirkungsvollen Beitrag zur Repräsentation der Endzeit dar. Die in die Prelocutorrede eingebaute Analogie zwischen den Werken der Buße einerseits, dem Zuschauen eines geistlichen Spiels und der andächtigen Lektüre der heiligen Schrift andererseits weisen das spätmittelalterliche ,Churer Weltgerichtsspiel' als eine Ergänzung zur Schriftauslegung in der Predigt und zu deren Bußappellen aus. Die multimedial wirksame Ausstattung will zum Gehorsam nicht allein mit Hilfe des Wortes bzw. des Ohres hinführen. Sie baut auch aufs Auge und dessen Einsichtsvermögen, auf die bewegte Szene und deren bewegende Wirkung. So gesehen erscheint das Weltgerichtsspiel, in der (vielleicht sogar illuminierten) Lesefassung, aber auch als Bühneninszenierung, als Prototyp eines zu erbaulichen Zwecken inszenierten ,Hör- und Sehbuches'. Beide Weltgerichtsdramen spielen über präteritale und futuristische Zeitdimensionen der Heilsgeschichte hinweg, um eindringlich aufzuzeigen, daß die Endzeit immer schon in die Gegenwart hineinreicht. Daß dies nicht allein durch theatrale Repräsentation im Spätmittelalter geleistet werden mußte, belegt die auch Objekte und Orte des Alltagslebens umfassende Präsenz des Weltgerichtsmotivs. Es sind allesamt Versuche, die Grenze zwischen jetztzeitlicher und eschatologischer Justiz ebenso durchlässig zu machen wie jene zwischen dem Bühnengeschehen und dem Publikum. Das Weltgericht als die Stunde der Stunde war immer im Kommen, sei dies im vorösterlichen Spiel, in dem für Privatlektüre ausgearbeiteten Drama oder - für jene, die es drauf ankommen ließen - im Richterspruch noch mitten unter den Lebenden. Eine solche Überlagerung von weltlicher und göttlicher Gerechtigkeit, von diesseitiger und eschatologischer Gerichtsbarkeit, aber auch von sakramentaler und dramatisierter Buße liegt der spezifischen Zeitkonstruktion der beiden Weltgerichtsspiele zugrunde. Hör- und sichtbar vergegenwärtigen sie das Noch-Nicht als ein Immer-Schon.
Renate
Amstutz
Die liturgisch-dramatische Feier der Consecratio virginum nach dem Pontifikale des Bischofs Durandus (Ende des 13. Jh.) Eine Studie zur Rezeption der Zehnjungfrauen-Parabel in Liturgie, Ritus und Drama der mittelalterlichen Kirche.
Ausgangspunkt für diese Studie sind die Zehnjungfrauenspiele des Mittelalters, die nach herrschendem Urteil der Forschung ausnahmslos als Dramatisierungen der ZehnjungfrauenParabel (Mt 25,1-13) angesehen1 und den eschatologischen Spielen zugeordnet werden.2 Wenngleich die eschatologische Parabel von den klugen und törichten Jungfrauen zweifellos die letztgültige Quelle der Zehnjungfrauenspiele bleibt, und wenngleich die erhaltenen Zehnjungfrauenspiele fraglos eschatologisch ausgerichtet sind, so ist doch die These einer ausschließlich literarischen' Herleitung der Spiele aus der Parabel ungeprüft. Zumindest für das lateinische Substrat des unvollständig überlieferten ,Thüringischen Zehnjungfrauenspiels' der Mühlhäuser Handschrift Α ergeben sich, nach der Rückgewinnung seiner liturgisch-musikalischen Dimensionen aus Primärquellen, völlig neue Perspektiven der Kategorisierung, die jedenfalls zur Kenntnis genommen und berücksichtigt werden müssen.3 Der vorliegende Beitrag soll dazu dienen, solche neuen Perspektiven zu eröffnen und den Blick freizulegen auf ein mittelalterliches Ritual, das einen geeigneten Nährboden bot für die Rezeption von Sprache und Bildlichkeit der Zehnjungfrauen-Parabel in Wort und Aktion: die Benedictio et Consecratio virginum. Wie in den Untersuchungen von 1991 (s. Anm. 3) erwiesen werden konnte, stellt nämlich die Gesamtheit der textlich und melodisch komplettierten lateinischen Gesänge zu1
Am eingehendsten und kompetentesten hat wohl Lucien-Paul Thomas im Jahre 1951 in seinen Untersuchungen zum altfranzösischen ,Sponsus' nach möglichen Wurzeln der Zehnjungfrauenspiele in der Liturgie der römischen Kirche gesucht, indem er auf die liturgische Lesung der Zehnjungfrauen-Parabel an gewissen Festen heiliger Jungfrauen hinwies wie auch auf vielerlei aus dieser Parabel entwickelte liturgische Gesänge für solche Festtage. Er kommt jedoch zu dem Ergebnis, daß sowohl der ,Sponsus* des späten 11. Jahrhunderts als auch das .Thüringische Zehnjungfrauenspiel' des 14. Jahrhunderts nicht in der Liturgie gründen, sondern als je eigene Dramatisierungen der Zehnjungfrauen-Parabel zu verstehen seien. Siehe Lucien-Paul Thomas, Le Sponsus: mystere des vierges sages et des vierges folles, suivi des trois poemes limousins et farcis, Paris 1951, bes. S. 37f. 2 Siehe u. a. Hansjürgen Linke, Drama und Theater, in: Ingeborg Glier (Hg.), Die deutsche Literatur im späten Mittelalter 1250-1370. Zweiter Teil: Reimpaargedichte, Drama, Prosa, München 1987 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1II/2), S. 153-233, hier 223-227. 3 Zur textlichen und melodischen Wiederherstellung der liturgischen Gesänge des thüringischen Spieles siehe meine Dissertation, Renate Amstutz, The Latin Substratum of the Thuringian ,Ludus de decern virginibus', Diss. Toronto 1991 (Masch.; Mikrofilm 1993), revidiert erschienen unter dem Titel: R. Α., ,Ludus de decern virginibus': Recovery of the Sung Liturgical Core of the Thuringian ,Zehnjungfrauenspiel', Toronto 2002.
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sammen mit den dazugehörigen Bühnenanweisungen (und ohne die volkssprachigen Teile!) ein vollständiges, in sich stimmiges liturgisches Zehnjungfrauenspielpiel dar, das „möglicherweise der lateinisch/deutschen Redaktion Α voraufging."4 Mehr noch, es lassen sich von dem zurückgewonnenen lateinischen Substratum des thüringischen Spiels wie auch von dem flämischen Zehnjungfrauenspiel5 wesentliche Beziehungen aufzeigen zu dem Ritus der Nonnenweihe (Benedictio et Consecratio virginum) in der Form, wie sie Bischof Durandus von Mende am Ende des 13. Jahrhunderts gestaltet hat. Da das vervollständigte lateinische Substratum des , Thüringischen Zehnjungfrauenspiels' (wie auch die Untersuchungen, die diese Vervollständigung dokumentieren) noch nicht gedruckt vorliegt, ist ein vergleichendes Studium solcher Parallelen schwierig. Ich beschränke mich darum hier darauf, den Ritus der Consecratio virginum nach dem Pontifikale des Bischofs Durandus (im folgenden PDur) einmal ausfuhrlich darzustellen. Dann wird es in einer späteren Untersuchung möglich sein, d. h. sobald die lateinische Grundlage des Zehnjungfrauenspiels in ihrer zurückgewonnenen liturgisch-musikalischen Form im Druck zugänglich ist,6 die Einwirkung des liturgischen Ritus auf den lateinischen Ludus genauer zu überprüfen. Durandus schuf das Ritual der Jungfrauenweihe nicht aus dem Nichts; er ist mit seiner Neugestaltung des Rituals einer fast tausendjährigen Tradition verpflichtet, wie auch der liturgischen Praxis seiner Zeit. Von den ersten nachweisbaren liturgischen Riten des vierten Jahrhunderts bis in das hohe Mittelalter und die Zeit des Durandus hat die Feier, unter Beibehaltung des alten römischen Kerns, vor allem auf fränkischem Boden ständig neue Elemente absorbiert und in das überlieferte Gut integriert. Nur die wichtigsten Schritte in dieser Entwicklung können hier kurz nachvollzogen werden.7
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Hansjürgen Linke, Thüringische Zehnjungfrauenspiele, in: 2 VL Bd. 9, 1995, Sp. 915-918, hier Sp. 916. Het Spei van de V vroede ende van de V dwaeze Maegden, hg. v. Marcel Hoebeke, Zwolle 1959 (Zwolse Drukken en Herdrukken voor de Maatschappij der nederlandse Letterkunde te Leiden). Siehe jetzt Amstutz 2002 (Anm.3), S. 325-340. Grundlage der Darstellung sind die liturgischen Quellentexte (vor allem die römischen und gallikanischen Sakramentare und Ordines und die späteren Pontifikale seit dem 10. Jahrhundert), wie auch die verschiedenen Studien zur Consecratio virginum, besonders die umfassende Untersuchung von Rene Metz, La consecration des vierges dans l'Eglise Romaine (Bibliotheque de l'Institut de Droit Canonique de l'Universite de Strasbourg 4), Paris 1954; von den übrigen Studien seien hier genannt: O. G. Harrison, The Formulas ,Ad virginas sacras' - Α Study of the Sources, in: Ephemerides Liturgicae 66 (1952), S. 252-366; Philipp Oppenheim O.S.B., Die Consecratio virginum als geistesgeschichtliches Problem: eine Studie zu ihrem Aufbau, ihrem Wert und ihrer Geschichte, Rom 1943; Abbe Victor Leroquais, Les Pontificaux manuscrits des bibliotheques publiques de France, Vol. I, II und Tafelband (Planches), Paris 1937. In den Abbildungen unten ist der Tafelband dieses Werkes von Leroquais zitiert als Leroquais, planche [no.].
Die liturgisch-dramatische
Feier der Consecratio
virginum
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A. Das Ideal der Virginitas und die Liturgie der Jungfrauenweihe bis zu dem Pontifikale des Durandus Frauen, die ein Gelübde ewiger Jungfräulichkeit ablegten und ihr Leben als „Gottesbräute" dem Dienste Christi weihten, wurden schon in frühchristlicher Zeit in hohen Ehren gehalten, ihr Leben denen der Engel verglichen.8 Die Volksfrömmigkeit dieser Frühzeit hat offenbar keinerlei Mühe gehabt, die Gottesbräute, jedenfalls nach ihrem Tode, als ,kluge Jungfrauen' zu verstehen. Wie aus einigen Katakomben-Malereien und aus frühen römischen wie gallikanischen Grabinschriften ersichtlich ist, wurden gottgeweihte Jungfrauen nach ihrem Tod vielfach angerufen als ,kluge Jungfrauen', von deren Fürbitte man sich Seelenheil erhoffte. Hildegard Heyne, die, wie vor ihr schon Wilpert, den ikonographischen Befunden nachgegangen ist, hat vergebens nach einer liturgischen Basis für diese Vorstellung geforscht. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß solche frühchristliche Frömmigkeit gespeist wurde durch vulgarisierte Virginitätsliteratur.9 Das hohe Ideal der Virginitas und der Gottesbrautschaft der Seele, gepriesen von Kirchenvätern, Hymnendichtern und bis zur bernhardinischen und viktorinischen Mystik, erstreckte sich auf beide Geschlechter und gehört zu den Fundamenten monastischen Lebens überhaupt, im Osten wie im Westen.10 Ohne dieses Ideal wäre eine Jungfrauenweihe schlechthin undenkbar, und folglich klingt es in den wesentlichen Texten der Feier immer wieder an. Spätestens vom 4. Jahrhundert an hat die Kirche für die Frauen, die ein gottgeweihtes Leben wählten, liturgische Riten entwickelt, in denen die Jungfrau zur Stärkung ihres Propositum virginitatis die Segnung durch den Bischof erhielt und in einer schlichten Feier zur Gottesbraut geweiht wurde. Als äußerlich sichtbares Zeichen ihrer Christuszugehörigkeit wurde ihr dabei der Schleier verliehen, in Analogie zum hochzeitlichen Schleier einer Ehefrau." Gelübdeablegung, Weihe der Jungfrau und Verleihung des Schleiers sind von Anfang an „die drei Wesensstücke" der Consecratio virginum.12 Weiterhin ist die Jungfrauenweihe stets ein Vorrecht des Bischofs gewesen und fand im Rahmen einer Messe statt. Das reiche Rankenwerk zusätzlicher Riten, Rubriken, Gebets- und Gesangsstücke, das sich in der weiteren Entwicklung um die drei Grundelemente der Feier gewunden hat, besonders im Frankenreich, führte im 10. Jahrhundert zu der umfangreichen, 8
Siehe ζ. B. Ambrosius, De institutione virginis, CIV, Migne PL 16, 345 („In heiligen Jungfrauen sehen wir auf Erden das Leben von Engeln, das wir im Paradies verloren haben"). Vgl. John Bugge, Virginitas. An Essay in the History of a Medieval Ideal, Den Haag 1975 (Archives Internationales d'Histoire des Idees, Series Minor 17), bes. S. 3 0 - 3 5 , mit vielerlei weiteren Zitaten aus patristischen Schriften. 9 Hildegard Heyne, Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen. Eine literarisch-ikonographische Studie zur altchristlichen Zeit, Diss. Leipzig 1922, S. 60f. und 86-99. 10 Siehe dazu ausführlicher u. a. die Studie von Bugge (Anm. 8), passim, bes. Kap. 2 - 4 . " Zur Analogie der Schleier-Verleihung im Hochzeitsritus und bei der Consecratio virginum s. R. Schilling, Le voile de consecration dans l'ancien rite Romain, in: Melanges en l'honneur de Msgr Michel Andrieu, Strasbourg 1956 (Revue des sciences religieuses, vol. hors serie), S. 403-414, bes. S. 408ff. Vgl. Bugge, der flir die Analogie von Consecratio virginum und Hochzeitsriten seit dem 4. Jh. u. a. Ambrosius zitiert: Bugge (Anm. 8), S. 66f.; ebenso Rene Metz (Anm. 7), S. 121123, 135f. u. ö. 12 Vgl. Pierre de Puniet, Das römische Pontifikale, Geschichte und Kommentar. Aus dem Französischen, 2 Bde, Klosterneuburg 1935, Bd. 2, S. 147f.
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handlungs- und dialogreichen spirituellen Hochzeitsfeier', als die sich die Consecratio virginum in dem Pontifikale Romano-Germanicum (PRG) darstellt, das von einem Mönch des Klosters St. Alban in Mainz geschrieben wurde, vermutlich in den Jahren 960-962. 13 Bemerkenswert in diesem Mainzer Ritual ist u. a. die Vielfalt der liturgischen Handlungen (,Brautübergabe' durch die Eltern bzw. andere Angehörige, Gelübde-Ablegung, Segnungen der Kleider und des Schleiers, Kerzenprozession der Jungfrauen zum Altar, feierliche Verleihung von Schleier, Ring und Kranz/Krone u. a. m.) und die große Zahl der die Handlungen begleitenden Segnungen und Orationen. Als ganz außerordentlich jedoch erscheint die Auswahl der liturgischen Gesänge, mit denen die Nonnen auf die zentralen liturgischen Akte des Ritus antworten. Im alten römischen Ritus empfing die zu weihende Jungfrau passiv die Segnung des Bischofs und den ihre Christuszugehörigkeit bezeugenden Schleier. Hier, im Mainzer Ritual, dem gallikanischen Bedürfnis nach lebhafter Aktion und ausdrucksstarker Rede entsprechend, nimmt die Jungfrau selber aktiv teil an der Feier, indem sie zunächst, im Dialog mit dem Bischof, vor der gesamten versammelten Gemeinde mit lauter Stimme wiederholt Zeugnis ablegt (bei der der Mönchsprofeß entlehnten Bitte um Aufnahme, beim Empfang der vom Bischof geweihten Gewänder und bei dem der Schleiernahme vorausgehenden Gelübde). Sodann aber, nachdem ihr mit feierlichen Worten der Schleier verliehen wurde, antwortet sie auf diese Auszeichnung, indem sie selber die in der Ich-Form gehaltene Antiphon anstimmt: Induit me dominus ciclade auro texta...
deren Fortsetzung von den sie begleitenden Nonnen gesungen wird. Und auf jede der zwei sich anschließenden Gebete wird mit einer weiteren, gleichfalls in der ersten Person gefaßten Antiphon geantwortet, gesungen vermutlich von allen anwesenden Nonnen: Ipsi sum desponsata... und Posuit signum in faciem meam.... 14
Diese Consecratio virginum des 10. Jahrhunderts aus Mainz zeigt, neben reichen rituellen Handlungen, bereits einen recht entwickelten, in den Ritus integrierten Dialog zwischen dem zelebrierenden Bischof und der zu weihenden Jungfrau, einen Dialog in Wort und Gesang, in Solo- und Ensemble-Vortrag, der auch die anderen anwesenden Nonnen mit einbezieht. Liturgiehistoriker sehen mit einigem Recht in diesem Ritual den Charakter eines liturgischen Dramas.15 Zumindest können große Teile dieser Consecratio virginum als 13
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Vgl. Cyrille Vogel, Introduction aux sources de l'histoire du culte chretien au Moyen Age, Spoleto 1975 (Biblioteca degli Studi Medievali 1), S. 193. Textausgabe des PRG durch Cyrille Vogel, Reinhard Elze, Le Pontifical Romano-Germanique du dixieme siecle, 2 Bde, Cittä del Vaticano 1963 (Studi e Testi 226 und 227). Formular fur die Consecratio virginum hier Bd. 1, Ordo XX (S. 38-46); Beschreibung der Feier des PRG bei Metz (Anm. 7), S. 182-222. PRG (Anm. 13), Bd. 1, S. 44 (Ordo XX, 17-21). Vgl. auch unten, S. 110. Siehe ζ. B. Metz (Anm. 7), S. 221; Oppenheim (Anm. 7), S. 97. Metz bedauert es an anderer Stelle, daß die mittelalterliche Dramenforschung beim Studium der Anfänge des geistlichen Schauspiels bisher noch nicht Notiz genommen hat von diesem und anderen hochdramatischen Riten des PRG; s. Metz (Anm. 7), S. 361.
Die liturgisch-dramatische
Feier der Consecratio
virginum
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,inszeniertes Ritual' betrachtet werden, in dem nicht-klerikale Teilnehmer (und sogar Frauen!) ihre ,Rollen' übernehmen in der Liturgie von Aktion, Wort und Gesang. Das PRG war der erste große Meilenstein in der Entwicklung der Consecratio virginum wie auch der Pontifikalbücher allgemein;16 es gewann außerordentliche Bedeutung in der westlichen Kirche, selbst in Rom, das im 10. Jahrhundert liturgisch führungslos war.17 Nachdem in den römischen Pontiflkalen des 12. und besonders des 13. Jahrhunderts (PR.XII und PR.XIII)18 der Ritus der Jungfrauenweihe von den Zutaten fränkischer Zeremonienfreudigkeit leicht ,gereinigt' war, entstand um 1295/96 in Südfrankreich ein neu konzipiertes, groß angelegtes Pontifikale unter der Feder des Bischofs Durandus von Mende. Dieses ,Pontificale Durandi' (PDur) wurde der zweite große Meilenstein in der Entwicklung der Pontifikalbücher und der direkte Vorläufer des neuzeitlichen römischen Pontifikale.19 Das sehr viel nüchternere, knappere Pontifikale der Römischen Kurie (PR.XIII) vermochte nicht, besonders während der Residenz in Avignon, sich gegen die Konkurrenz des PDur durchzusetzen. Wie der Verfasser des PRG hat auch Durandus in erfolgreicher Weise die sanktionierten, tradierten Riten samt ihren Revisionen weitgehend respektiert und darüber hinaus die vielerlei neuen gallikanischen Lokalbräuche gesammelt, gesichtet und zusammen mit dem Überkommenen zu einem jeweils neuen Ganzen gestaltet. Der althergebrachte Brauch der Velatio war bereits im PRG aus der Mitte des 10. Jahrhunderts erweitert worden durch die Verleihung zweier zusätzlicher, den geistlichen Ehestand der Jungfrauen anzeigender Symbole, die ebenfalls dem Hochzeitsritus bei der Eheschließung entnommen war: das Anstecken eines Ringes und das Aufsetzen einer Brautkrone bzw. eines Kranzes. Dieser Charakter einer geistlichen Hochzeit wurde in der Jungfrauenweihe des Durandus noch verstärkt durch verschiedene neue Zeremonien, Texte und liturgische Gesänge. Die Anspielungen auf die Zehnjungfrauen-Parabel, die im PRG zögernd, im PDur gehäuft greifbar werden, gehen ζ. T. auf gallikanische Quellen zurück, sind neu im PRG oder wurden im 10. bis 13. Jahrhundert durch die Initiative einzelner Bischöfe in fränkischen Landen neu eingeführt. Die größte Initiative hat ohne Zweifel gegen Ende des 13. Jahrhunderts der wegen seiner hervorragenden Kenntnis der Liturgie und des kanonischen Rechts weithin, auch vom Vatikan, geschätzte Bischof Wilhelm Durandus von Mende ergriffen. In dem von ihm neu konzipierten Pontifikale erhält die Consecratio virginum den Charakter einer dialogreichen, liturgisch-dramatischen Hochzeitsfeier von ,klugen Jungfrauen', die dem Bräutigam entgegenziehen und ihm 16
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Pontifikale, die alle für ein Pontifikalamt wesentlichen Texte und Rubriken vereinigten, gibt es erst seit dem 9. Jahrhundert. Vorher waren die Texte in den Sakramentaren, die Rubriken in Ritualbüchem, den Ordines, enthalten. Zu Inhalt, Bedeutung und Überlieferung des PRG s. Vogel (Anm. 13), S. 187-203; zur Verbreitung des PRG, ebda. S. 199-203. Vgl. Vogel (Anm. 13), S. 291 f.; Metz (Anm. 7), S. 225f. PR. XIII: Das Pontifikale der Römischen Kurie im 13. Jh. Editionen von PR. XII und PR. XIII durch Michel Andrieu, Le Pontifical Roman au Moyen-Äge, Bd. I: Le Pontifical Romain du XII e siecle, Cittä del Vaticano 1938 (Studi e Testi 86); Bd. II: Le Pontifical de la Curie Romaine au XIIIe siecle, Cittä del Vaticano 1940 (Studi e Testi 87). Formular der Jungfrauenweihe im PR. XII: S. 154-164 (Ordo XII); im PR. XIII: S. 414^118 (Ordo XVIII). Edition des PDur durch Michel Andrieu, Le Pontifical Roman au Moyen-Age, Bd. III: Le Pontifical Romain de Guillaume Durand, Cittä del Vaticano 1940 (Studi e Testi 88). Nähere Beschreibung des PDur: Andrieu, loc. cit., S. 3-22, vgl. auch S. V - X V ; ebenso Vogel (Anm. 13), S. 208-210; Metz (Anm.7), S. 273-276.
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vermählt werden. Alles bleibt jedoch liturgisch stark gebunden, und darum kann hier nicht die Rede sein von „liturgischem Drama", als welches die Feier von verschiedenen Liturgiewissenschaftlern bezeichnet worden ist.20 Wenn im folgenden diese Jungfrauenweihe nach Durandus in sieben ,Akten' dargestellt wird, so sind diese ,Akte' eben nicht als Dramen-Akte zu verstehen, sondern als Abschnitte im Verlauf der rituellen Handlung, die sich an bestimmten Feiertagen innerhalb der Messe vollzieht.
B. Die Jungfrauenweihe des Durandus - eine liturgisch-dramatische Feier in sieben , Akten' Das liturgische Formular für die Jungfrauenweihe hat im Pontifikale des Durandus seinen Platz unter den Personen-Weihen, also im ersten Teil des Pontifikale, als Ordo XXIII. Der Text des Pontifikale liegt vor in der ausgezeichneten kritischen Ausgabe durch Andrieu (s. Anm. 19).21 Aus der Vielzahl der guten Textzeugen hat Andrieu einundzwanzig Handschriften näher beschrieben; sein kritischer Text ist auf der Basis der vierzehn besten Handschriften etabliert.22 Zehn dieser Handschriften stammen aus Frankreich, acht überliefern auch die Melodien zu den liturgischen Gesängen. Drei der erhaltenen Handschriften stehen dem Original des Durandus sehr nahe - ein handschriftlicher Befund, von dem germanistische Mediävisten nur träumen können. Die beste Handschrift ist nach Andrieu der in leider schlechtem Zustand befindliche ,Codex Additional 39677' der British Library in London.23 Einige der ausdruckskräftigen Initial-Illuminationen dieser Londoner Handschrift werden unten, im Kommentarteil, zur Veranschaulichimg des Rituals herangezogen werden.24 Über die äußeren Bedingungen für die Jungfrauenweihe spricht Durandus in den ersten zwei Paragraphen des Weiheformulars: Die Feier soll stattfinden an bestimmten festgesetzten Feiertagen;25 am Vorabend oder auch unmittelbar vor Beginn der Messe sollen dem Bischof die zu weihenden Jungfrauen vorgestellt werden, damit er sich eingehend
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Siehe ζ. B. Metz (Anm. 7), S. 315 und 356; zur Consecratio virginum im PRG S. 354, 361; Oppenheim (Anm. 7), S. 97. Formular für die Consecratio virginum im PDur (Anm. 19): S. 411^125 (Ordo XXIII). Die TextParagraphen in Andrieus Editionen sind fortlaufend gezählt. Zitate und Text-Verweise werden belegt mit der Nummer des Weih-Ordos und der Ziffer des entsprechenden Text-Paragraphen (ζ. B. PDur XXIII, 1), oder auch nur mit der in spezielle Klammern gesetzten Paragraphen-Ziffer (ζ. Β. {1}), wie durchweg in den Übersichtstafeln. Diese Zitierweise gilt auch ftir die anderen Pontifikale (Anm. 13 und 18). Beschreibung der Handschriften in Andrieu (Anm. 19), S. 23-83. Vgl. Vogel (Anm. 13), S. 208f. Zur Qualität dieser Handschrift s. Andrieu (Anm. 19), S. 285f. und 1 lOf. Mit freundlicher Erlaubnis der British Library. Epiphanias, Apostelfeste, die Woche nach Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten, Marienfeste. Ausnahmsweise ist die Feier auch an gewöhnlichen Sonntagen möglich (außer im Advent oder in der Fastenzeit), im Notfall auch zu jeder Zeit („damit die Jungfrau nicht ohne Weihe aus dem Leben scheide."); s. PDur XXIII, 1. Zur Zitierweise aus dem PDur vgl. Anm. 21.
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informieren kann über ihre Einstellung, die Ernsthaftigkeit ihres Entschlusses, über ihren Lebenswandel und ihr Alter. 26 Andere Rahmenbedingungen sind als selbstverständlich vorausgesetzt oder können aus dem vorliegenden Weiheformular entnommen werden: Ort der ,Handlung' ist die Kirche, und zwar gewöhnlich die Kirche des Klosters, dem die Novizinnen angehören. Wie später zu zeigen ist, wird bei Durandus der gesamte Kirchenraum vom Westen bis zum Osten zum rituellen Schauplatz. Die ,Dramatis Personae' sind natürlich ζ. T. gegeben durch den an einem Pontifikalamt teilnehmenden Klerus (Bischof, Erzpriester, die Meß-Assistenten, der Cantor und der Chor). Dazu kommen aus der Klostergemeinde die zu weihenden Jungfrauen, die anderen Nonnen mit der Äbtissin bzw. dem Abt oder Prior und außerdem die bei Durandus erstmals so genannten und in das Ritual stärker einbezogenen Weih-Paten oder ,Brautfuhrerinnen' (Paranymphae).27 Abb. 1 (S. 95) gibt einen kleinen Eindruck von dem Personalaufwand einer ganz gewöhnlichen Messe, also ohne einen Bischof, in einem Nonnenkloster. Da die Consecratio virginum in einer öffentlichen Messe stattfand, war auch immer eine größere Gemeinde als ,Zuschauer' anwesend. Die Sprache war selbstverständlich Latein, und das Text- und ,Regiebuch' für die dramatische Zeremonie war gegeben mit dem im Pontifikale des Durandus enthaltenen, neu gefaßten Weiheformular.
I. Übersichtstafeln zur Consecratio virginum (nach dem PDur) Die Consecratio virginum kann prinzipiell nur im Rahmen einer Messe verstanden werden, da sie liturgisch fest in sie eingebunden ist (zwischen Alleluia und Evangelium) und auch die Proprium-Texte vor und nach der Konsekration auf diesen Weiheakt abgestimmt sind. Der Kirchenplan auf S. 78 veranschaulicht skizzenhaft, in welcher Weise das Ritual der Consecratio virginum auch raummäßig eingefügt ist in das größere Ganze des Kirchenraumes; auf die darin angedeuteten verschiedenen Stationen der Jungfrauen wird im folgenden durch die Siglen [V1]-[V9] verwiesen. Der Verlauf des Rituals wird hier, zum Zweck der Darstellung, aufgegliedert in sieben ,Akte'. Das reichhaltige liturgisch-dramatische Geschehen in diesen sieben ,Akten' soll zunächst summarisch vorgeführt werden in den Übersichtstafeln I-VII (S. 79-88). Zu der Anlage der Übersichtstafeln sind einige Vorbemerkungen erforderlich: Die Rubriken aus dem Ordo sind nur gelegentlich im lateinischen Wortlaut zitiert, meistens in deutschen Worten summarisch gefaßt. Die rezitierten und gesungenen Texte (in der letzten Spalte) sind oft nur mit dem incipit angegeben, mit weiterem lateinischen Wortlaut (ggf. in deutscher Übersetzung), wenn dieser für die vorliegende Studie bedeutsam ist. Gesangstücke in: 1,4 {Prudentes virgines), 9, 10, 12 (Venite ... docebo vos.), 11, 13 (Et nunc sequimur ... videre ...); IV,28 (Alleluia [Meßgesang] und Regnum mundi); V (1), 33 (Veni electa mea), 34 (Ancilla Christi sum), 37 (Posuit signum); V (2), 40 (Desponsari, dilecta), 42 (Ipsi sum desponsata), 44 (Anulo suo)\ V (3), 46 (Veni sponsa Christi), 48 (Indult me dominus), 51 (Ecce quod concupivi). Vgl. auch S. 109f. 26
27
PDur XXIII, 2. Im kanonischen Recht war seit langem das Alter von 25 Jahren als Mindestalter für die Jungfrauenweihe postuliert. Im PRG hießen sie ,Astipulatores' (,Vertragszeugen'); vgl. PRG (Anm. 13), Ordo XX, 4.
78
-
Renate Amstutz
Gesprochene Dialoge, ζ. B. zwischen dem Bischof (Ep) und den zu weihenden Jungfrauen (Vgg) finden sich in I, 7-9; II, 16-18; V (1), 35-36. Die Teile des Rituals in den Tafeln II, 17; V (1), 34-38; V (2), 41-43; V (3), 4 7 ^ 8 werden so oft wiederholt, wie es bei der Gesamtzahl der zu weihenden Novizinnen nötig ist, da hier jeweils nur eine oder zwei von ihnen hervortreten und agieren. Die in den Tafeln gebrauchten Abkürzungen und Ziffern sind im Anschluß an Tafel VII erläutert (S. 88).
Kirchenplan·. Die Stationen der Virgines während der zwei Prozessionen zum Bischof am Altar ([A] = Altar; Ρ = Pavillon; [l]-[9] = [V1]-[V9] = Stationen der Jungfrauen [Vgg] im Verlauf des Rituals)
Die liturgisch-dramatische Übersichts-Tafeln
Einladung durch APr
zur Consecratio
{3} Ep {4} APr
Prozession
{5} Vgg
{6} APr Vorstellung durch APr und , Elect io' durch Ep
• cantans alta voce ...ant.
,Prudentes virgines'
• treten aus Pavillon mit brennenden Kerzen
[V2-V3] • geleitet Vgg zu [V3] [A] [V3]
Vgg {8} Ep APr {9} Ep
[V3]
Ep
{10} Vgg
{11} Vgg
{12} Ep
{13} Vgg
Gebet um Annahme
• sitzt auf faldistorium [A-V2] • in sacris vestibus, venit ante papilionem [V1-V2] • in Kloster-Kleidung, ohne Kopfbedeckung [A]
Ep {7} APr
Ep
Prosternatio
virginum
[Dialog APr—Ep:]
Einladung durch Ep
Prozession
79
Feier der Consecratio virginum
{14}
1 Vg (einzeln)
[A]
• zum Altar gewandt • (knien nieder)
• ruft die Vgg
[V3-V4] • gehen bis vor den Chor, knien nieder • ruft zum 2. Mal
[V4-V5]
• gehen bis zur Mitte des Chores, knien • ruft zum 3. Mal
[V5-V6] • surgentes respondent • gehen bis zum Ep, prosternieren vor ihm
• dicit alta voce, in tono lectionis
, Reverende pater. postulat scta eccl. ...'
• interrogat • respondet • dicit (zur Assistenz) [Dial. Ep-Vgg:] • inchoans antiphonam (nur das 1. Wort)
,Scis illas dignas esse?' ,Quantum humana...' ,A uxiliante domino...'
, Venne'
• cantans... tantum ,..., Venite' (nur d. 2. Wort der Ant.) • respondent ,Et nunc sequimur' (Ant. incipit) • cantans totum residuum ipsius antiphone • cantantes totam antiph.
• dicit hunc versum
Tafel I: Die Kerzen-Prozession der Virgines ( V g g ) zum Episcopus (Ep)
,(Venite v.) venite. filie,... docebo vos.' ,Et nunc sequimur... et querimus tuam faciam videre...'
,Suscipe me, dne,... ut non dominetur mei... iniustitia.'
80 Ansprache
Renate {15} IPar
Vgg Ep und ,Examinatio' Ablegen des Gelübdes, wiederholt für jede der Vgg
• ordnen die Vgg im Halbkreis vor dem Ep [V6-V7] [A]
{16 }Ep Vgg {17} 1 Vg [V7-V6] • kniet nieder vor (einzeln) Ep, legt Hände in die des Ep Ep 1 Vg Ep 1 Vg {18} Vgg
[V7]
Vgg {19} Ep
• hortatur illas publice • fragt alle gemeinsam • respondent
,ad... honorandum... virginitatis propositum.'
• fragt jede einzeln • respondet • dicit
,Promittis... servaturam?' ,Promitto' ,Deo gratias' Wdh. von 17
• fragt alle gemeinsam [A]
Ass + Vgg
Chor {20} Ep Cant + Chor Alle Vgg [V7-V8]
, Vultis... Christo desponsari?' , Volumus.'
• wirft sich über Faltstuhl • werfen sich zu Boden (auf die Teppiche)
Cant + Chor
Ep
, Vultis... perseverare?' , Volumus.'
• küßt Hand des Ep • zurück in Halbkreis
Ep
AllerheiligenLitanei (Prostratio)
Amstutz
• beginnen die Li- ,Kyrie el,... Pater de tanei, Chor recelis.' ,Miserere nobis...' spondiert) [geg. Ende d. Lit] • steht auf, Blick auf Vgg
• spricht spezielle Bitten • respondiert
, Ut presentes
Vgg...'
, J e rogamus audi nos.'
• beenden die Litanei
,... dona nobis p. ... Kyrie...'
• wirft sich wieder nieder
• erheben sich • kehren an den früheren oder an e. anderen Ort
Tafel II: Die .Examinatio ' (inkl. feierliches Gelübde) und die Allerheiligen-Litanei
Die liturgisch-dramatische
Brautgewand: • die Kleider (vestes)
• die Schleier (vela)
Insignien: • die Ringe (ianuli) • die Kronen (torques sive corone)
{20} Ep
Feier der Consecratio
virginum
• (segnet die Kleider der Vgg) dicens • Oratio
81
,Dominus vobiscum. Or emus' ,Deus eternorum bonorum... promissor,... ut haec indumenta... contemptum mundi signißcantia... benedicas...' {22} • Oratio ,Domine Deus, bonorum dator...1 {23} •Alia... virginis... vestis benedictio. ,Exaudi, qs., omnip. Deus...' [Λμ] • (Kleider werden mit Weihwasser besprengt) {24} Ep • vela virginum benedicuntur. ,Oremus. Suppliciter te, dne, rogaBenedictio. mus...' {25} • Oratio ,Caput omnium ßdelium Deus, totius corporis salvator... ut,... cum prudentibus et ipse virginibus preparate ad perpetue felicitatis nuptias introire mereantur. Qui...' • (die Schleier mit Weihwasser besprengt) {26} Ep • anulorum benedictio. ,Oremus. Creator et conservator humani generis, dator gratie spiritualis, ...' /iss • resp. ,Amen.' {27} Ep • ad torques sive coronas. ,Benedic, dne, ornamenta ista, Benedictio. ut..., si tibi fideliter servierint, coronam, quam hec ornamenta designant, in celo percipere mereantur. Per te,...' Ass • resp. ,Amen {21}
Tafel III: Die Segnung der Gewänder und Insignien der Vgg
Renate Amstutz
82 {28} Chor Vgg
{29} Vgg [+ Par] {30} Ep Ass {31} Ep {32} Ep + omnes Ep
Ass
• singt wiederum ,Alleluia' (od. Traktus) der Messe • legen die alltägl. Kleider ab, ziehen die geweihten an (außer den Schleier) -[V9] • kehren in den geweihten Kleidern, in Reihen, zurück zum Ep • singen dabei das Responsorium ,Regnum mundi... Require in natali unius virg.' [V9] • (werden im Halbkreis aufgestellt, knien vor dem Ep, den bloßen Kopf gesenkt) et benedicuntur • Benedictio ,Benedicat vos Deus pater et filius et spir. s. omni...' ,Amen.' ' respondent ' Oratio ,Respice, dne, propitius super has famulas tuas, ut...' • dicit mediocri voce, iunctis manibus ante pectus: [Präf.-Dialog.] ,Per omnia secula seculorum. Dominus vobiscum etc.' 1 , Vere dignum, etc. Castorum corpoPrephatio rum benignus inhabitator,... Resp ice super has famulas tuas NN... ne hostis antiquus... rapiat de proposito virginum... ...Transea(n)t in numero sapientium puellarum, ut celestem sponsum accensis lampadibus cum oleo preparationis... iocundanter occurrant, et ne excludantur cum stultis, sed regalem ianuam cum sapientibus virginibus licenter introeant...'
[V8]-
• dicitur plane sprächston) • resp.
legendo (im Ge-
Tafel IV: Die Weihe (consecratio) der Jungfrauen
,Per dominum etc.' ,^4/wen.'
Die liturgisch-dramatische Feier der Consecratio virginum {33} Ep Chor Solo Chor {34} Par + Vgg 2 Vgg {35} Ep 2 Vgg {36} Ep
Ass {37} 1 Vg
{38} Par + Vgg
{39} Ep
1
83
vocat illam vel illas inchoando respon,Veni electa mea et... tronum meumi sorium ,Quia concupivit rex speciem tuam.' et scola prosequente ,Audifilia et vide et inclina aurem [versus] tuam' ,Quta concupivit rex speciem tuam.' [repetenda] • präsentieren dem Ep jeweils zwei Vgg, je eine von jedem Ende des Halbkreises • (knien... vor dem Ep) cantantes simul ,Ancilla Christi sum, ideo...i antiphonam , Vultis persistere in scta virginitate • interrogat illas palam dicens quam... ?' , Volumus.' • simul respondent • imponat velum super caput cuiuslibet (Schleier soll bis auf Schulterblätter herabhängen, bis auf Brust und bis zu den Augen) ,Accipe, virgo. velamen sacrum,... quo dicens cuilibet cognoscaris mundum contempsisse et te Christo Iesu... sponsam... subdidisse...i ,Amen.' resp. \yel 2 Vgg simul\ cantant hanc antipho,Posuit signum in faciem meam ut nullum preter eum amatorem admittam.' • geleiten die 2 Vgg an ihren Ort im Halbkreis zurück. • Et tunc alie due... presentantur episcopo et simili modo genua ßectunt et cantant et velantur... Wdh. von {34}-{38} • Omnibus sie velatis et ad loca sua reduct is die it episcopus ,Dominus vobiscum. Oremus.' ,Famulas tuas, dne, custodia..., ut virgini• Oratio tatis propositum... illesum custodiant. Qui viv/'s...'
Tafel V (1): Die , Vermählungsfeier': Verleihung des Schleiers
Renate Amstutz
84 {40] Ep
{41} 1 Vg + Par Ep
Ep
Ass {42} 1 Vg
{43} 2 Vgg + Par aliel Vgg {44} Omnes Vgg
{45} Ep
Ass
· iterum vocat virgines, dicens hanc anti- ,Desponsari, dilecta mea, veni; yems transiit, turtur canit, vinee... redophonam lent.' • [vel 2 Vgg] presentantur episcopo a paranimphis, eodem modo et ordine sicut prius. • desponsat illas Christo hoc modo: • accipit... anulum cum dextra manu et dextram manum virginis cum sinistra, dicens ,Desponso te Iesu Christo, filio... Accipe ergo anulum fidei, signaculum spiritus sancti, ut sponsa dei vocaris, si... servieris...i • immittit anulum parum in pollice dextre manus dicens ,In nomine patris, ' immittit eum parum in indice dicens et filii, • immittit eum parum in medio digito dicens et spiritus sancti.' • et mox immittit et dimittit ilium in quarto. • resp. ,Amen.' ' [vel 2 Vgg simul\ decanta(n)t hanc antiphonam Jpsi sum desponsata cui angeli serviunt, cuius pulcritudinem sol et luna mirantur.1· • reducuntur a paranimphis ad loca sua. 1
alie due... presentantur..., desponsantur et cantant... Wdh. von {41}-{43} Omnibus... sie... desponsatis et ad loca sua reduetis ' omnes simul levant in altum et ostendunt dextras manus suas cantantes hanc antiphonam ,Anulo suo subarravit me dom. meus Iesu Christus et tanquam sponsam decoravit me corona.' • dicit ,Benedicat vos conditor cell..., qui vos eligere dignatus est ad beate Marie... consortium, ut... immaculatam virginitatem... custodiatis et coronam virginitatis aeeipere mereamini. Per...' resp.
,Amen.'
Tafel V(2): Die ,Vermählungsfeier': Verleihung des Ringes
Die liturgisch-dramatische Feier der Consecratio virginum {46} Ep
85
' iterum vocet illam (illas) dicens... anti- , Veni, sponsa Christi, accipe coronam quam tibi dominus preparavit in eterphonam M1/JM
4
{47} (2) Vgg ' simili modo iterum presentantur episcopo (a paranimphis) + Par > torquem seu coronam imponit capite Ep cuiuslibet virginis seriatim, dicens cuilibet ,Accipe signum Christi in capite tuo, ut uxor eius efficiaris et, si..., immortalitatis gloria coroneris. Per...' Ass • resp. ,Amen.' {48} 1 Vg • [seu 2 Vgg simul] decantant hanc antiphonam ,Induit me dominus cyclade auro texta et immensis monilibus suis ornavit me.' (2) Vgg • reducuntur ad loca sua + Par • alie (due)... simili modo coronantur et alie 2 Vgg cantant. Wdh. von {47}-{48} Omnibus ergo coronatis et ad loca sua reductis {49} Ep • dicit episcopus ,Dns vobiscum. Oremus.' • Oratio ,Da, quesumus, omnip. Ds, ut hec famule tue,... in sancto proposito permaneant. ... et ad meritum eterne possint glorie pervenire. Per Christum...'' Ass • resp. ,Amen.' {50} Omnes • genua flectentes Ep • dicit hanc orationem ,Te invocamus, domine sancte, pater omnp.,... immaculatas usque in finem. Per immaculatum...' Ass ,Amen.' {51} Vgg • surgentes, simul dicant antiphonam ,Ecce quod concupivi iam video, quod speravi iam teneo; illi sum iuncta in celis quem in terra posita tota devotione dilexi.' Tafel V(3): Die .Vermählungsfeier': Verleihung der Krone
Renate Amstutz
86 {52} Vgg Ep
Ass {53} Ep
Ass {54} Ep
• humiliter inclinate ante Ep • iunctis ante pectus manibus dicit super illas... hanc orationem Math, apostoli ,Deus plasmator corporum, afflator animarum,... tu has famulas tuas, quas... eligere ad conservandam coronam perpetue virginitatis... dignatus es, Decke Du sie ringsum mit dem Schilde Deines Schutzes... Schenke ihnen Weisheit, auf daß sie die Lockungen des Fleisches besiegen... Nicht möge Nachlässigkeit Unvorsichtigen Gelegenheit zum Falle geben... Mögen sie... gewaffnet sein... mit solcher Kraft, die alles Trugtun des Teufels überwinde... Mögen sie das Fasten fleischlichen Schmausereien vorziehen; mögen sie heiligen Lesungen und Gebeten den Vorzug geben vor Gastmählern und Trinkgelagen; mögen sie durch Gebete genährt, durch Belehrung erfüllt, durch Nachtwachen erleuchtet... den Lauf der Jungfräulichkeit, ohne anzustoßen, vollenden. Per Christum...' ,Amen.i • resp. ' Alia benedictio quam quidam dicunt ,Benedicat vos Deus pater et filius et spiritus sets omni benedictione spirituali, ut... requiescat super vos spiritus septiformis gratie,... Macht euch bereit, daß ihr eine hell leuchtende Lampe in der Hand tragt, wenn ihr in des Bräutigams Gemach eintreten sollt, daß ihr ihm mit Freude entgegengeht; nichts Häßliches finde er in euch, nichts Schmutziges,... nichts Verderbtes, nichts Ungeziemendes, sondern schneeige und weiße Seelen, lichte und leuchtende Körper, auf daß... die göttliche Liebe nur finde, was sie kröne... Qui... per omnia secula seculorum.' ,Amen' • resp. ·publica voce bannum, [ne quis eas a divino servitio, cui sub vexillo castitatis subiecte sunt, abducat, nullus earum bona subripiat, sed ea i. e. anathema, ponat cum quietatepossideant.]
Tafel VI: Benediktionen und Androhung des Anathems
Die liturgisch-dramatische Feier der Consecratio virginum
87
„Missa ordine suo peragitur" [·· Proprium, · Ordinarium] {55} Vgg {62} Ass (Diakon?)
in ordine suo manentibus legitur evangelium [Mt 15,1-13]
[velJoh. 16,20fF.]
[Chor {63} + Cant]
{55} Vgg
[Ep + Λίί]
' velatis capitibus ad manus Ep.i offerunt candelas accensas et alia si velint. ' tot hostie consecrande parentur quot ipse sunt in numero • Et missa ordine suoperacta... Offertoriumsgebete) Sekret ,Oblatis hostiis,... ut, apertis ianuis, summi celestis regis thalamum cum letitia mereantur intrare. Per...' ,Amen' Sanctus) Kanon mit Wandlung, Pater noster etc.) Agnus dei) Bened. sollemnis ,Domine Ds. eterne, qui utrumque sexum... Ut in numero sanctarum virginum... celesti sponso cum lampadibus bonorum operum... occurrere... mereantur.' ,Amen.'
[ E p ]
[Chor] [Ep] [Chor] {65} Ep
{55} Vgg {66} [Chor] {67} [Ep]
Evangelium ,Simile est regnum celorum decern virginibus.' Require in communi de virginibus Evangelium ,Amen, Amen dico vobis quia plorabitis...' Requ. in medio illius evangelii Modicum et iam... dnca IIIp. pasch. Credo) Offertorium Sperent in te (omnes qui noverunt...) [Vers] Sedes super thronum
• communicent, et hoc per tres dies Communio ,Nota mihi fecisti.' Requ. fer. V p. tertiam dnca in XL Postcommunio ,Deus,... respice super has famulas tuas... Per.'
Tafel VII α (Fortsetzung der Messe): Das Mahl des Herrn
Renate Amstutz
{56} Vgg Abba Ep
• Et si adest qui de eis rationem reddere debeat, abbas vel abbatissa, prior vel priorissa, mittat eas Ep in manus illius, commendans eas sibi et dicens ,Vide, quomodo istas consecratas Deo serves et representes immaculatas, redditurus pro eis rationem ante tribunal sponsi earum venturi iudicis.'
Tafel VII b (Fortsetzung der Messe): Die Entlassung der Vgg
In den Tafeln gebrauchte Abkürzungen und Ziffern: Die ,dramatis personae':
Die Ziffern {l}-{67}:
Die Ortsangaben [A], [V1]-[V9]:
Ep Episcopus (Bischof) APr Archipresbyter (Erzpriester) Ass Mess-Assistenten (im Pontifikalamt assistierende Kleriker) Cant Cantor (und Chorleiter) Chor Chorus Vg, Vgg Virgines (Novizinnen) Par Paranymphae (.Brautfuhrerinnen') Abba Abbatissa (Äbtissin od. Priorin, bzw. Abt od. Prior) resp. responde(n)t verweisen auf den Text-Paragraphen der Consecratio virginum in der Edition des PDur durch Andrieu (s. Anm. 19 und 21)
verweisen auf die Stationen im Kirchenplan (s. S. 78)
Die liturgisch-dramatische Feier der Consecratio virginum
89
II Kommentar zur Consecratio virginum und zu den Ubersichtstafeln Die Eröffnung·. Messe bis zum Alleluia (an bestimmten Festtagen, s. Anm. 25) Da die Jungfrauenweihe integraler Bestandteil der vom Bischof zelebrierten KonsekrationsMesse ist, erweist sich der Anfangsteil der Messe bis zum Alleluia (oder Tractus, in der Fastenzeit) als eine Art ,Ouverture' zu der zentralen Weihe-Feier. Während dieses Teiles halten sich die zu weihenden Jungfrauen in einem Pavillon [VI] auf, der zu diesem Zweck an einem geeigneten Platz in der Kirche aufgebaut ist {4}.28 In den Proprium-Texten dieser .Ouverture' finden verschiedene Aspekte der gottgeweihten Jungfrauschaft direkten oder indirekten Ausdruck: die Sehnsucht, das Angesicht des Herrn zu sehen ({57} Introitus), die Bitte um göttlichen Beistand für das Einhalten des Gelübdes ({58} Kollekte), der Preis des ledigen Standes ({59} Epistel [I Cor 7,25ff. oder II Cor 3,17ff.]), Demut ({60} Graduale), Gotteslob ({61} Alleluia-Vers). 29 Mit dem Gesang des Alleluia wird dieser Eröffnungsteil der Messe zu einem gewissen Abschluß gebracht und eine Überleitung geschaffen zu der eigentlichen Consecratio virginum.
Zu ,Akt' I (Tafel I)\ Die Kerzen-Prozession der Jungfrauen Schon vor dem Gesang des Alleluia hat der Bischof (Ep) sich auf einem Faltstuhl vor dem Altar [A] niedergesetzt {3}. Der Bischof agiert hier, darüber läßt Durandus in seiner mystischen Deutung des Rituals keinen Zweifel, in Stellvertretung Christi, des Bräutigams der Jungfrauen: Sponsus namque earum (virginum) est Christus quem pontifex, eius vicarius, repraesentat.30 Wenn also nach dem Gesang des Alleluia der Erzpriester (APr) als der Herold des Bischofs bis vor den Ort schreitet (Pavillon [VI] oder Kapitelraum), wo die Jungfrauen eingeschlossen sind, und wenn er dabei die Jungfrauen ruft mit dem Singen der Antiphon Prudentes virgines, aptate lampades vestras, ecce, sponsus venit, exite obviam ei. („Ihr klugen Jungfrauen, nehmt eure Lampen! Siehe, der Bräutigam kommt, gehet aus ihm entgegen.") und wenn daraufhin die Jungfrauen ihre Kerzen anzünden und mit den brennenden Kerzen heraustreten aus ihrem Pavillon {4-5}, so erweist sich bereits dieser Beginn des ersten ,Aktes' als eine Teil-Inszenierung der Matthäus-Parabel. 31 Die Rubriken prä28
29
30
31
Der Pavillon ist angedeutet auf dem Kirchenplan (s. S. 78). Die verschiedenen Stationen [VI]— [V9], welche die Jungfrauen im Verlauf des Rituals einnehmen, sind auf diesem Plan durch die Ziffern [ l ] - [ 9 ] bezeichnet. Die Ziffern in den speziellen Klammern { } verweisen auf die durchlaufend gezählten Paragraphen { l } - { 6 7 } in der kritischen Edition des Textes durch Andrieu (Anm. 19 und 21). Die Proprium-Texte sind am Schluß des Konsekrations-Formulars aufgeführt (PDur XXIII, 5 7 67), großenteils nur mit den Incipits; die Paragraphen 57-61 sind, als dem eigentlichen WeiheRitus voraufgehend, in den Übersichtstafeln nicht berücksichtigt. Durandus, Rationale divinorum officiorum, Bd. 1, Lyon 1612, liber II, cap. I, 40; Neu-Edition durch A. Davril und T.M. Thibodeau in Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 140, Tumhout 1995. Dies ist eine bemerkenswerte Neuerung gegenüber dem Ritual des PRG, nach dem die Jungfrauen zu Beginn der Konsekrationsmesse von ihren Eltem dem Bischof übergeben werden (in Analogie zum Hochzeits-Ritual).
90
Renate Amstutz
zisieren, welche der gewöhnlichen, alltäglichen Klosterkleidung die Jungfrauen tragen sollen und daß sie bloßen Hauptes gehen {5}. Unter der Führung des Erzpriesters beginnt sodann die Kerzen-Prozession der Jungfrauen. Zunächst stellt er sie am Standort V3 im Westteil der Kirche auf, „und zwar so, daß sie den Bischof vorm Altar sitzend sehen können, und er sie" {6}. Von diesem Platz aus entwickelt sich ein im Lektionston gehaltener, möglicherweise den gesamten Kirchenraum vom Westen bis zum Altar im Osten überspannender Dialog zwischen dem APr und dem Ep über die bevorstehende Weihe der Jungfrauen und deren Würdigkeit zu dieser Auszeichnung {6-9}. Der Bischof wendet sich dann mit Gesang direkt an die knienden Jungfrauen und lädt sie ein, näherzukommen {9}. Die sich anschließende Prozession vollzieht sich in einer kunstvollen Verflechtung von Aktion und dialogisierendem Vortrag zweier Antiphonen, die eine vom Bischof in drei Segmenten vorgetragen (Venite, venite, venite, filie, audite me), die andere von den Jungfrauen in zwei Segmenten gesungen (Et nunc seguimur).22 Jeder der drei Venite-Rufe des Bischofs wird von den Jungfrauen beantwortet, indem sie sich erheben, während ihres Gesanges voranschreiten, an der nächsten Station wiederum niederknien und dort den erneuten Ruf des Bischof erwarten. Unter diesem gesungenen Dialog zwischen Bischof und Jungfrauen sind diese in ihrer Prozession von Station V3 im Westen bis zu V6 gelangt, wo sie alle vor dem Bischof prosternieren und sodann, jede einzeln, die der Mönchsprofeß entlehnte und leicht abgewandelte Bitte um Annahme aussprechen: Suscipe me, Domine {9-14}. Sollte es in dieser Kerzen-Prozession noch nicht genügend augenfällig werden, daß die zu weihenden Jungfrauen hier gleichsam als die klugen Jungfrauen der Matthäus-Parabel auftreten, dann läßt sich dazu bei Durandus in seinem ,Rationale' nachlesen: Wenn [die Jungfrauen] brennende Kerzen in den Händen tragen gemäß dem Vers aus Lukas [12,35] Sint lumbi vestri praecincti et lucernae ardentes in manibus vestris, so sollen sie dadurch zeigen, daß sie die klugen Jungfrauen nachahmen (se imitari prudentes virgines), die ihre Lampen bereitet haben und hinausgezogen sind dem Bräutigam entgegen. Denn ihr Bräutigam ist Christus, den der Bischof als sein Stellvertreter repraesentiert.33
Die , klugen Jungfrauen' sind hier also nicht die Brautfuhrerinnen der eschatologischen Matthäus-Parabel, die sich auf die endzeitliche Hochzeit Christi mit der Ecclesia als Braut bereiten sollen; sie sind, in einer Umdeutung des Rollenverständnisses der Parabel, selber die Christusbräute, sponsae Christi, die im Hier und Jetzt der Jungfrauenweihe ihrem Bräutigam Christus vermählt werden sollen und durch diese Vermählung „aus der [...] Finsternis und den Täuschungen dieses Lebens hinübergefuhrt werden in die Freiheit des himmlischen Königreiches [...] und in das Brautgemach des höchsten Königs."34 Auf ein solches Hereinragen des Eschaton in das Ritual der Jungfrauenweihe und in die Lebensrealität der Nonnen überhaupt wird noch zurückzukommen sein. Eine Miniatur aus einem in Lyon befindlichen römischen Pontifikale des 15. Jahrhunderts veranschaulicht das dramatische Geschehen des ersten ,Aktes' der Consecratio 32
33 34
Die vollständigen Texte der Gesänge der Consecratio virginum sind unten, in Teil C, S. 109f., zitiert. Meine Übersetzung aus Durandus (Anm. 30), lib. II, cap. I, 40. Meine Übersetzung aus Durandus (Anm. 30), lib. II, cap. I, 40 (ad coelestis regni libertatem [...] transducuntur).
Die liturgisch-dramatische Feier der Consecratio virginum
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virginum in starker räumlicher und zeitlicher Raffung: In der Gegenwart einer größeren Gemeinde stellt der Erzpriester die bloßen Hauptes knienden Jungfrauen dem Bischof vor; und der Heroldruf, mit dem der APr die Vgg zu Beginn aus dem Pavillon herausgerufen hatte (d. h., die Antiphon Prudentes virgines), steht thematisch unter dieser Darstellung, für den Schlußteil (Ecce sponsus venit) sogar mit Notenschrift (s. Abb. 2, S. 96). Die Illustration aus dem Pontifikale von Arles aus dem 14. Jahrhundert (s. Abb. 3, S. 97) zeigt von diesem ersten ,Akt' eine Raffung anderer Art: Der Erzpriester stellt die Kerzen tragenden Jungfrauen dem Bischof vor, doch diese sind durch den Schleier bereits als Nonnen gekennzeichnet, obwohl sie den Schleier erst später erhalten werden.
Zu , Akt' II und III: Ablegen des Gelübdes, Allerheiligen-Litanei und Sach-Benediktionen Die zwei auf die Kerzen-Prozession folgenden ,Akte' der Consecratio virginum sind für den Zweck dieser Studie von geringerer Bedeutung. In ,Akt' II (s. Tafel II) werden die Jungfrauen zunächst dem Bischof gegenüber im Halbkreis aufgestellt [V7], Das ,Examen' entfaltet sich, nach einer an die Jungfrauen gerichteten Ansprache des Bischofs, unter vielfachem Dialog zwischen dem Bischof und den Jungfrauen. Dabei erkundigt sich der Pontifex in der Gegenwart einer größeren Gemeinde erneut und wiederholt, ob sie im Vorsatz der Jungfräulichkeit verharren und Christus vermählt werden wollen; und jede Jungfrau legt einzeln und kniend ihr Gelübde in die Hände des Bischofs ab {15-18}. Selbst die anschließend von Chor und Cantor gesungene Allerheiligen-Litanei, während derer die Jungfrauen und der Klerus prosternieren, erhält dramatisches Gepräge, indem der Bischof gegen Schluß sich erhebt und, den Bischofstab in der Linken, mit Blick zu den Jungfrauen, vier spezielle, inständige Bitten einfugt: um Heiligung dieser Jungfrauen, um Stärkung in ihrem Vorsatz, um himmlische Unterweisung und um Bewahrung vor Fall {19}. Nachdem die Litanei in gewohnter Weise abgeschlossen ist und alle sich erhoben haben, sollen die Jungfrauen fortgehen, an den früheren [V1]=[V8] oder einen geeigneten anderen Ort, wo sie später, zu Beginn des vierten ,Aktes', die Kleider wechseln werden {20}. ,Akt' III (s. Tafel III), die Segnung der Gewänder und Insignien der Vgg, vollzieht sich folglich in Abwesenheit der Jungfrauen. Unter feierlichen Gebeten und durch Besprengen mit Weihwasser segnet der Bischof zunächst die Kleider der Jungfrauen {20-23}, dann die Schleier {24-25}; anschließend werden mit kürzeren Gebeten auch die Ringe und die Kränze bzw. Kronen der Jungfrauen gesegnet {26-27}. Zwei der längeren Orationen zeigen einen Wortlaut, der von einigem Interesse ist für diese Studie (s. Tafel III{21}, ut haec ... significantia und {25}, ut... mereantur): Im Gebet {21} Deus eternorum bonorum [...] promissor,
das bereits im Gelasianum des 8. Jahrhun-
derts und im PRG enthalten war, werden die Gewänder bezeichnet als „diese Kleider, welche Demut des Herzens und Verachtung der Welt anzeigen" (haec indumenta humilitatem cordis et contemptum mundi significantia). Darauf wäre bei der Besprechung des Responsoriums Regnum mundi (Tafel IV{28}, s.u.) zurückzukommen. Das zweite der zwei Gebete für die Schleiersegnung, Caput omnium fidelium, dessen Herkunft unbekannt ist und das erstmals in der Consecratio virginum des PRG dokumentiert ist,35 setzt gegen Schluß die zu 35
PRG (Anm. 13), XX, 9. Vgl. Metz (Anm. 7), S. 197.
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weihenden Jungfrauen wiederum in Bezug zu den ,klugen Jungfrauen' der Parabel: „[...], daß sie selber mit den klugen Jungfrauen bereit sind und verdienen, einzugehen zur Hochzeit ewiger Glückseligkeit" {25}. Mit den auf diese Sach-Segnungen folgenden ,Akten' IV und V ist der rituelle Kern der Consecratio virginum erreicht.
Zu ,Akt' IV (s. Tafel IV): Die Weihe der Jungfrauen Während das Alleluia (oder der Tractus) der Messe ein zweites Mal gesungen wird, legen die Jungfrauen in dem Pavillon [V8]=[V1], zu dem sie am Ende des zweiten ,Aktes' zurückgekehrt waren, ihre gewöhnlichen Kleider ab und die vom Bischof geweihten an {28}. In diesen geweihten Gewändern, die humilitatem cordis et contemptum mundi bedeuten {21}, also sichtbarer Ausdruck ihres Gelübdes sind, schreiten sie sodann in einer zweiten Prozession zurück zum Bischof, um von ihm die eigentliche Weihe zu empfangen. Dabei singen sie das hoch bedeutsame Responsorium Regnum mundi {28} - einen Gesang, der in der Ich-Form spricht und das monastische Ideal von Weltverachtung und Christusliebe in Worte faßt, also ihrem Gelübde liturgisch-musikalischen Ausdruck verleiht. Die Übereinstimmung von Kleidersymbolik und persönlichem Bekenntnis im Gesang ist beachtenswert.36 (Wenngleich dieses Responsorium keinerlei Beziehung zeigt zu der Zehnjungfrauen-Parabel, so hat es doch wesentliche Bedeutung im Rahmen dieser Studie; denn es wird auch in dem ,Thüringischen ZehnjungfrauenspieP gesungen, sogar zweimal, und mit vielsagendem Stellenwert; s. dazu unten S. 110.) Vor dem Altar angelangt, ordnen sich die Jungfrauen mit Hilfe der ,Brautführerinnen' (Paranymphae) wiederum in einem Halbkreis [V9]=[V7] und knien nieder vor dem Bischof, der sie segnet {29-30}. Darauf vollzieht der Bischof die Weihe der Jungfrauen, indem er die zwei zentralen Gebete spricht, die seit altrömischer Zeit über die Gottesbräute bei ihrer Weihe gesprochen 'wurden, die Oratio Respice, domine und das große eucharistische Weihegebet Castorum corporum {31-32}. Das letztere, bei Durandus ,Prephatio' genannt {32, Zeile 3}, im PRG ,Consecratio in modo praefationis' (PRG XX, 15, Zeile 2f.), ist in vieler Hinsicht bedeutsam. Die Haupt36
Das Responsorium Regnum mundi ist einer der jüngeren liturgischen Gesänge, im Codex Hartker z.B. nur als ein Nachtrag des 13. Jahrhunderts zu finden. In meinen Studien liturgischer Handschriften konnte ich es nur in zwei Quellen des 12. Jahrhunderts nachweisen; eine davon ist das Pontifikale des Erzbischofs Christian I. von Mainz (1167-1183), wo es ebenfalls in dem Ritual der Consecratio virginum seinen Platz hat. Dieser Beleg ist offenbar Rene Metz entgangen, wenn er versichert, daß „wir diesen Gesang (bei Durandus) zum ersten Mal in der Consecratio virginum antreffen" (Metz [Anm. 7], S. 297, in meiner Übersetzung). Vgl. meine näheren Studien in Amstutz 2002 (Anm. 3), S. 93-103. Es ist nicht auszuschließen, daß das Responsorium Regnum mundi im 12. Jahrhundert, wenn nicht speziell für die Consecratio virginum, so doch eventuell für deren Jahresfeier geschaffen wurde. Gertrud die Große (1256 - ca. 1302) z . B . zitiert dieses Responsorium in ihren Exercitia wiederholt in entsprechendem Zusammenhang (Exercitium II, III, IV). Gewiß hat Durandus die Verwendung des Regnum mundi in einem der von ihm studierten Rituale der Consecratio virginum vorgefunden (ζ. B. in dem soeben erwähnten Pontifikale des Erzbischofs von Mainz) und für sein Pontifikale aufgegriffen. Zum vollständigen Text dieses Responsoriums s. unten, in Teil C, S. 109, dt. Übersetzung S. 111.
Die liturgisch-dramatische
Feier der Consecratio
virginum
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gedanken der Virginitätslehre finden hier Ausdruck, und es wird der göttliche Beistand für die Jungfrauen erfleht und die notwendigen Tugenden, die ihnen Beständigkeit in ihrem Gelübde ermöglichen. Interessant ist, daß bereits in dem alten römischen Text die immanente Gefahr eines möglichen Falles der Jungfrauen gesehen wird, der eben durch das Erbitten des göttlichen Schutzes verhütet werden soll („damit nicht der alte Feind [...] bei irgendwelcher Unachtsamkeit sich in ihre Seele einschleiche und von dem Vorsatze der Jungfräulichkeit [...] raube [...]" {32}).37 Diese Besorgnis findet bei Durandus wenig später wiederholten Ausdruck in einer zusätzlichen Bitte, die der Bischof von Mende einigen nicht rein-römischen Quellen entnehmen konnte:38 ut et hostem antiquum devincant et viciorum scalores expurgent („daß sie auch den alten Feind besiegen und die Leidenschaften der Laster reinigen"). Offenbar war dem Liturgiker und Kirchenrechtler Durandus diese zusätzliche Bitte sehr wichtig, denn er nimmt sie aus dem im supplementierten ,Hadrianum' gefundenen Kontext heraus und fugt sie ein in den Beginn einer älteren fränkischen Interpolation zum Präfationsgebet. Da diese Interpolation des 8. Jahrhunderts am Schluß des zentralen altrömischen Weihegebetes, die erstmals im ,Missale Francorum' und auch im ,Gelasianum' saec. VIII greifbar wird,39 für die vorliegende Studie von besonderer Bedeutung ist, soll sie hier vollständig zitiert werden; dabei sind die zwei aus dem supplementierten ,Hadrianum' stammenden Sätze in () Klammern gesetzt:40 {32} Castorum corporum [...]. In te habeant omnia que diligere apetunt super omnia. (Gallikanische Interpolation): Per te quod professe sunt custodiant: scrutatori pectorum non corpore placiture, sed mente, (ut et hostem antiquum devincant et viciorum scalores expurgent.) Transeant in numero sapientium puellarum, ut celestem sponsum accensis lampadibus cum oleo preparationis expectent, nec turbate inproviso regis adventu, sed secure cum lumine precedentium virginum choro iuncte, iocundanter occurrant. Et ne excludantur cum stultis, sed regalem ianuam cum sapientibus virginibus licenter introeant et in agni tui perpetuo comitatu probalis mansura castitate permaneant, (quatenus centesimi fructus ubertate dono virginitatis, te donante, decorari mereantur.) Per dominum [...]
Der Text, auf den es hier ankommt, ist kursiv gesetzt und im folgenden übersetzt. Der Bildbezug zur Zehnjungfrauen-Parabel bei Matthäus (25,1-13) kann deutlicher nicht sein:
37 38
39
40
Übersetzung Oppenheim (Anm. 7), S. 30. Die Bitte steht ζ. B. in .Alcuins Anhang' zum ,Hadrianum' und in einigen englischen Ritualen (Pontifikale des Erzbischofs Egbert von York; Benediktionale von Erzbischof Robert; Leofric Missale). Missale Francorum (Cod. Vat. Reg. lat. 257), hg. v. Leo Cunibert Mohlberg, Rom 1957 (Rerum Ecclesiasticarum Documenta, Series Maior: Fontes 2), cap. 10, 47 (S. 15, 24-32); Gelasianum: Liber Sacramentorum Romanae Aeclesiae Ordinis Anni Circuli (Cod. Vat. Reg. lat. 316), hg. v. Leo Cunibert Mohlberg, Rom 1960 (Rerum Ecclesiasticarum Documenta, Series Maior: Fontes 4), lib. I, cap. CIII, 790. Vgl. zu den Variationen in den verschiedenen Fassungen dieses Weihegebetes die synoptische Übersicht bei Harrison (Anm. 7), S. 270f., und bei Mohlberg, Missale Francorum (Anm. 39), S. 45.
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Renate Amstutz Mögen sie eingereiht werden in die Zahl der klugen Jungfrauen, damit sie den himmlischen Bräutigam mit Lampen, die mit dem Öl der Vorbereitung brennen, erwarten und nicht durch die unerwartete Ankunft des Königs verwirrt werden, sondern in Gewißheit, mit ihrem Licht dem Chor der voraufgehenden Jungfrauen vereint, ihm freudig entgegeneilen. Und mögen sie nicht ausgeschlossen werden mit den Törichten, sondern mit den weisen Jungfrauen frei durch die königliche Pforte einziehen [...].
Der Lebenswandel der gottgeweihten Jungfrauen ist also der von ,klugen Jungfrauen', die allezeit bereit sein und mit ihren brennenden Lampen den himmlischen Bräutigam erwarten sollen. Dafür wird göttlicher Segen und Beistand erbeten. Und zum dritten Mal klingt die Sorge an um einen möglichen Lapsus dieser gottgeweihten Jungfrauen, dieses Mal im Bild der törichten Jungfrauen der Parabel, deren Schicksal diesen hier erspart bleiben möge. Der bedeutsame gallikanische Zusatz zu dem Weihegebet war lange vor Durandus bereits von dem PRG übernommen worden und durch dieses auch von den römischen Pontifikalen des 12. und 13. Jahrhunderts (PR. XII und PR. XIII). Ob dieser Zusatz als eine Keimzelle gelten kann für die spätere Entfaltung der Zehnjungfrauen-Bildlichkeit im Rahmen der Consecratio virginum, bleibe dahingestellt. Wahrscheinlicher scheint es mir, daß in fränkischer Volksfrömmigkeit die gottgeweihten Jungfrauen seit frühester Zeit als die ,klugen Jungfrauen' der Matthäus-Parabel galten und daß deswegen dieser Bildbereich in so vielfacher Weise Ausdruck und Form gefunden hat in gallikanischen Quellen und Lokalbräuchen für die Consecratio virginum. Wichtig für die vorliegende Studie ist jedenfalls, daß Durandus solche liturgischen und rituellen Zeugnisse gesammelt und es verstanden hat, in Harmonie mit den römischen Traditionen, die Zehnjungfrauensymbolik mit der Idee der Gottesbrautschaft und der mystischen Hochzeit zu vereinen in einer liturgisch-dramatisch anspruchsvollen Weihefeier für ,kluge Jungfrauen'. Daß diese Konsekration stattfindet nicht nur für die Weihe von mehreren Jungfrauen, sondern auch von einer einzigen, ist deutlich ausgesprochen in dem Weihe-Formular, und es ist auch ersichtlich aus den zwei Miniaturen aus französischen Pontifikalen des 14. Jahrhunderts in Abb. 4 und 5 (S. 97f.).
Zu .Akt' V(s. Tafel V[l]-V
[3])\ Die , V e r m ä h l u n g s f e i e r '
Die Verleihung der hochzeitlichen Symbole bzw. der kennzeichnenden Insignien an die Gottesbräute (Schleier, Ring und Krone) vollzieht sich, in ,Akt' V, in drei ,Szenen', die in Ritus, Wort und Gesang ganz und gar von der Idee der geistigen Vermählung mit Christus geprägt sind; folglich tritt der Bildbereich der ,klugen Jungfrauen' hier in den Hintergrund. Gleichwohl ist auch dieser Abschnitt des Weihe-Rituals von Interesse für die Zehnjungfrauenspiele, denn zumindest zu dem .Thüringischen' und auch zu dem .Flämischen Zehnjungfrauenspiel' (Anm. 5) ergeben sich einige auffallende Parallelen, die in der Matthäus-Parabel fehlen (Verwendung des einleitenden Responsoriums Veni electa, Krönung der Klugen in beiden Spielen und Anstecken des Ringes im flämischen Spiel). Ein sichtbares Symbol in Form des Schleiers wurde der Gottesbraut bei ihrer Konsekration schon im Frühchristentum verliehen, und zwar in bewußter Analogie zum Hochzeitsritual von Eheleuten (s. o. und Anm. 11). Da seit dem 9. Jahrhundert das Hochzeits-Zeremoniell schon erweitert war durch Anstecken eines Ringes und Aufsetzen von Kranz bzw. Krone, hatte der Verfasser des PRG diese beiden zusätzlichen Riten in die
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Abb. 1: Nonnen folgen dem Klerus in Prozession, bei Beginn der Messe. Französisches Manuskript: La sainte abbaye, ca. 1300; London, British Library, ms. Add. 39843, fol. 6V (Ausschnitt, reduziert). Mit Druckgenehmigung der British Library.
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