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German Pages 229 Year 2006
Jeannette Rauschert Herrschaft und Schrift
Scrinium Friburgense Veroffentlichungen des Mediavistischen Instituts der Universitat Freiburg Schweiz
Herausgegeben von Hugo Oscar Bizzarri Christoph Fliieler Peter Kurmann Eckart Conrad Lutz Aldo Menichetti Hans-J oachim Schmidt Jean-Michel Spieser Tiziana Suarez-Nani
Band 19
Walter de Gruyter . Berlin· New York
Jeannette Rauschert
Herrschaft und Schrift Strategien der Inszenierung und Funktianalisierung van Texten in Luzern und Bern am Ende des Mittelalters
Waiter de Gruyter . Berlin' New York
Veri:iffentlicht mit U nterstlitzung des Hochschulrates Freiburg Schweiz
@ Gedruckt auf saurefreiem Papier, das die US-AN SI-Norm liber Haltbarkeit erflillt.
ISBN-13: 978-3-11-018271-2 ISBN-1O: 3-11-018271-8 ISSN 1422-4445 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet liber http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Copyright 2006 by WaIter de Gruyter GmbH & Co. KG,
10785 Berlin.
Dieses Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschlitzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere flir Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverftlmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Satz: Sabine Schulz, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Gi:ittingen
Vorbemerkung Alien, die meine Untersuchung zur spatmittelalterlichen Kommunikationskultur in Luzern und Bern unterstUtzten, sei hier ganz herzlich gedankt. Mein Dank gilt an erster Stelle Professor Hans-Joachim Schmidt, der das vorliegende Werk als Dissertation an der Universitat Freiburg/Schweiz betreut hat. Durch seine fachliche Anteilnahme, durch die kritische LektUre und mit vielen wertvollen Ideen und Hinweisen hat er maBgeblich zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Zudem ermoglichte er mir stets, neben der Arbeit als wissenschaftliche Assistentin und Lehrbeauftragte die notigen Freiraume fUr die aufwendige Vorbereitung der Untersuchung zu bewahren. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich auch Professor Volker Reinhardt, der das strenge, aber wohlwollende Auge des Neuzeithistorikers auf meine Arbeit gerichtet hat. Vor allem die kritische Auseinandersetzung mit einigen SchlUsselbegriffen der Untersuchung, die sich gleichsam an der Schnittstelle von Mittelalter und Fruher Neuzeit bewegen, ergab wichtige Impulse, die auch bei der Dberarbeitung fUr die Drucklegung berUcksichtigt wurden. DarUber hinaus mochte ich mich ganz herzlich bei Professor Roger Sablonier bedanken. Im Rahmen seines vom Schweizerischen Nationalfonds zur Forderung der wissenschaftlichen Forschung unterstUtzten Projektes "Schriftlichkeit, Kommunikationskultur und Herrschaftspraktiken im Spatmittelalter" an der Universitat ZUrich konnten zwischen 1997 und 1998 einige grundlegende Gedanken erarbeitet werden, wie sich Uberhaupt die Idee zu meinem Thema aus dieser Mitarbeit entwickelte. Hilfreiche UnterstUtzung durfte ich durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Staatsarchivs des Kantons Luzern erfahren. In der langen Zeit der Recherche haben sie mit unzahligen wertvollen Hinweisen den Zugang zu den Archivbestanden ermoglicht. GroBer Dank gebUhrt ebenfalls den Mitgliedern des Mediavistischen Instituts der Universitat Freiburg/Schweiz fUr die Aufnahme der Publikation in die Reihe "Scrinium Friburgense" sowie dem Verlag Waiter de Gruyter fUr die Betreuung der Drucklegung. Unerlassliche Hilfe leisteten in dieser Hinsicht auch Martin Rohde und Sabine Schulz, indem sie das Korrekturlesen und die Einrichtung des Manuskriptes zum Druck Ubernommen haben. Meinen Eltern Eberhard und Isolde Rauschert, die den langen ProzeB der Entstehung mit viel Verstandnis begleitet haben, gebUhrt der groBte Dank. Ohne ihre UnterstUtzung ware die vorliegende Arbeit nicht moglich gewesen. Ganz herzlich mochte ich mich schlidWch bei Marc Carel Schurr bedanken, der sich in personlicher und fachlicher Hinsicht mit viel Engagement an meinem Projekt beteiligt hat.
Bern, im Oktober 2005
Jeannette Rauschert
Inhalt 1. Einleitung ................................................... 9 1.1 Einfiihrung in das Thema und Forschungsgeschichte ............... 9 1.2 Ziele und Methode der Arbeit ............................... 17 2. Die ,Geschworenen Briefe' von Luzern ............................ 27 2.1 Die Oberlieferung ........................................ 27 2.1.1 Die lateinische und die volkssprachliche Version des 13. Jahrhunderts .................................. 28 2.1.2 Abschriften und Neubearbeitungen des 14. und 15. Jahrhunderts .............................. 29 2.1.3 Die verschiedenen Versionen und ihre materieUe Erscheinung ... 35 2.2 Die beiden altesten Versionen des ,Geschworenen Briefes' und ihre kommunikativen Konzepte .......................... 37 2.2.1 Bedeutungsverschiebungen: Omnia iudicanda und gesetzede .... 38 2.2.2 Rezeptions- und Gebrauchsformen ....................... 46 3. Orte und Institutionen politischen Handelns mit Schrift ............... 51 3.1 Die PeterskapeUe ......................................... 51 3.1.1 Politische Handlungen im sakralen Raum .................. 51 3.1.2 Inszenierung von Eid und Schrift ........................ 56 3.2 Rathaus und Ratsstube .................................... 58 3.2.1 Handlungs- und Kommunikationsraume des Rathauses ....... 59 3.2.2 Inszenierungen in der Ratsstube ......................... 66 3.3 bffendiche Platze und stadtische GeseUschaftsstuben ............. 71 3.4 Kanzlei und Schreiber ..................................... 78 3.5 Das Archiv .............................................. 88 4. Formen politischen Handelns mit Schrift: Inszenieren, Taktieren und Legitimieren .......................... 99 4.1 Vorlesen und Beschworen .................................. 99 4.1.1 Die RoUe der Gemeindeversammlung .................... 103 4.1.2 Lesen und Beschworen - ein Dialog von Ungleichen ......... 106
1. Einleitung 1.1 Einfuhrung in das Thema und Forschungsgeschichte Der Wandel der modernen Kommunikationstechnologien in den letzten Jahrzehnten und seine noch nicht absehbaren Folgen fUr Politik und Wirtschaft wie auch fUr die sozialen und staatlichen BeziehungsgefUge 1 haben den wissenschaftlichen Blick fUr die Kommunikationsformen historischer Gesellschaften gescharft. Viele Jahrzehnte intensiver Forschung unterschiedlicher Disziplinen haben den Prozess der Verschriftlichung unserer Gesellschaften als sozialwissenschaftlichen Gegenstand erster Ordnung problematisiert und etabliert. Schriftlichkeit, d.h. die Verwendung von Schrift innerhalb sozialer Kommunikation, und vor allem ihr Verhaltnis zu MUndlichkeit respektive Vokalitat, wurde zunehmend als Phanomen von grogter gesellschafdicher und kultureller Bedeutung begriffen. 2 lm Zuge dieser Erkenntnis galt es, auch die modernen historischen Quellen neu zu Uberdenken und zu problematisieren, indem die T exte selbst als Erzeugnisse einer vergangenen Kommunikationspraxis wahrgenommen wurden. So interessiert heute nicht mehr ausschlieRlich der lnformationsgehalt schrifdicher AufZeichnungen, sondern vielmehr ihre theoretische Fundierung im zeitgenossischen Kontext der Entstehung. Texte sind dabei weit mehr als nur Trager von lnformationen. Sie sind auch materielle Objekte, die als historisch entstandene, veranderliche und zum T eil kUnsderisch gestaltete Konstrukte selbstreferentiell auf ihren Gebrauch verweisen. Damit werden die Texte selbst als Objekte wissenschafdicher Untersuchung ins Blickfeld gerUckt. Eine Umsetzung dies er neuen Ansatzpunkte in historischer Hinsicht fand indes bis jetzt nur vereinzelt statt. Grund genug fUr die vorliegende Untersuchung, sich mit der Geschichte beziehungsweise mit den Geschichten von Texten in der spatmittelalterlichen Stadt am Beispiel von Luzern und Bern zu beschaftigen. Demgemag werden im nachfolgenden Forschungs-
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Ulbrich, Stefan. Ins rechte Bild geriickt. Kommunikationstechnologie beeinflussen das auf Schrift fixierte Recht. In: NZZ 19.120. Mai (2001), S. 98. McLuhan, The Gutenberg Galaxy; Flusser, Schrift; PetfUcci, La scrittura; Keller, Entwicklung, S. 171-204; Keller, Vom "heiligen Buch", S. 1-31.
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Einleitung
liberblick nur U ntersuchungen berlicksichtigt, welche die stadtische Schriftlichkeit betreffen und dazu beitragen, das weitere Vorgehen einsichtig zu machen. Generell orientierte sich die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit stadtischer Schriftlichkeit lange an einem linearen Entwicklungsmodell. 3 Dieses beruhte vorwiegend auf den Vorstellungen, mit denen vor allem die Begrlinder der klassischen Soziologie operierten, wonach sich die europaischen Gesellschaften auf ihrem Weg zur Moderne entlang eines linearen Rationalisierungsprozesses bewegt haben. 4 Nachhaltige Wirkung entfaltete hierbei besonders Max Webers Gegenliberstellung von idealtypischen Handlungen und den Legitimationsformen staatlicher Autoritat. Aus Webers Sicht war der europaische Rationalisierungsprozess dadurch gekennzeichnet, dass sich in immer mehr Handlungsbereichen in Wirtschaft, Recht und Verwaltung der so genannte zweckrationale Handlungstyp durchsetzte. 5 lm Zuge dessen, so Webers Auffassung, kam es zu Fortschritt, verstanden als eine Zunahme von Vernunft und zielgeleitetem Verhalten. Zugleich wies Weber auf die Persistenz dies er Entwicklungsmomente in der modernen westlichen Gesellschaft hin. Eine zentrale Funktion billigte er dabei der Wissenschaft zu, da diese auf besondere Weise eine immer effektivere Planung und kalkulierbare Sicherheiten geradezu voraussetzte. Mit der Verwissenschaftlichung und der Rationalisierung wiederum gehe, so Weber, schliemich die Blirokratisierung der Gesellschaft einher. Sie begrlinde, indem sie Verhalten rational, gerecht und transparent steuere, letztlich die Legitimitat des modernen Staates. Der okzidentalen Stadt des Mittelalters als Ursprungsort, Wegbereiterin und kontinuitatsstiftenden Tragerin der Entwicklung sei in diesem Prozess die zwar nicht allein ausschlaggebende, wohl ab er entscheidende Rolle zugekommen. 6 Weber selbst hat an keiner Stelle seiner Schriften eine nennenswerte theoretische Verbindung zwischen abendlandischer Rationalisierung und Veranderungen im Bereich der Kommunikation hergestellt. Diesen Umstand hat relativ spat Brian Stock in seinem 1988 erschienenen Beitrag "Schriftgebrauch und Rationalitat" aufgegriffen. Dabei kam er zu dem Schluss, dass - entgegen der Meinung von Weber und anderen - nicht die Reformationszeit die entscheidende Phase der europaischen Transformation gewesen sei, sondern das Mittelalter. Seine Einschatzung begrlindete er damit, dass in den bisherigen Erklarungsversuchen der zunehmende Schriftgebrauch seit dem 11. und 12. Jahrhundert als ein wichtiger Schritt in Richtung Rationalisierung vernachlassigt worden sei. 7
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Eine Ausnahme hiervon bildet: Clanchy, Memory. Weber, Max. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tilbingen 1985 (1. Aufl. 1922). Mayntz, Idealtypus, S. 493-502; Schreiner, Legitimitat, S. 161-211; Breuer, Legitimitatsprinzip, S.1-18. Schreiner, Stadt, S. 119-150.
Einfuhrung in das Thema und Forschungsgeschichte
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Trotz dieser augenfalligen theoretischen Liicke im Werk Webers wurden und werden seine Vorstellungen in historischen Beitragen, welche sich mit der Entwicklung stadtischer Schriftlichkeit im Mittelalter befassen, immer wieder rezipiert. Auch Ernst Pitz hat, ungeachtet seines unbestrittenen Verdienstes, die bislang einzige Dberblicksdarstellung zum Thema verfasst zu haben, in seiner vergleichenden Studie zu Koln, Niirnberg und Liibeck den vermehrten Schriftgebrauch der Stadte vor allem in Verbindung mit der Entstehung eines Verwaltungsapparates thematisiert. 8 Die einzige Funktion, welche Pitz seinen Verwaltungstexten, gleich welchen Typs, zubilligte, ist bis ins 15. J ahrhundert die Zweckerfiillung. Dariiber hinaus gestand er den einzelnen Schriftstiicken kaum eine eigenstandige Bedeutung und kein immanentes Entwicklungspotential zu. Die stadtische Schriftlichkeit entwickelte sich nach Pitz gleichsam mechanisch und ,,[ ... J folgte den durch das System der Amter und Behorden gewiesenen Bahnen. Dabei galt der Grundsatz: Eine Behorde - ein Buch. "9 Dass Schriftstiicke jedoch auch auBerhalb institutionell vorgegebener Entwicklungslinien jederzeit, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, mehrere Funktionen erfiillen konnen, selbst wenn ihre erstmalige Anlage einem Ratsbeschluss nach auf nur einen Zweck gemiinzt war, wurde nicht erwogen. Es war in der Pitz'schen Betrachtungsweise dann nur folgerichtig, wenn auch die auBere Form, ob Rolle, Heft, Buch oder Aktenreihe, fiir die Beurteilung der einzelnen Schriftstiicke als gleichgiiltig angesehen wurde. Diese Veranderungen seien als Voraussetzung einer gesteigerten Leistungsfahigkeit rur die allgemeine Entwicklung der Schriftlichkeit zwar unabdingbar, tangierten aber den inneren Zusammenhang der Entwicklungen innerhalb der Verwaltungsgeschichte nicht. IO Fiir Pitz war das 15. Jahrhundert in verschiedener Hinsicht eine Zeit des qualitativen Wandels. Eine grundlegende Anderung sah er darin, dass die Zunahme von Schriftlichkeit nicht mehr notwendigerweise mit der Ausweitung der Amterorganisation oder dem Erwerb neuer Herrschaftsrechte einherging, sondern sich zunehmend allein aus der Verselbstandigung des Schriftgebrauchs heraus erklaren lieK In dies er Phase wurde beispielsweise die vormals miindliche Rechenschaftspflicht der Amtstrager immer haufiger durch schriftliche Verfahren ersetzt. 7
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Stock bezweifelt allerdings, ob sich mit Webers eigenen Begriffen das komplexe Verhaltnis von Schriftkulrur und Rationalitat hinreichend erfassen lasst. Rationalisierung findet, laut Stock, innerhalb der sich entwickelnden Beziehungen zwischen dem Gesprochenen, dem Geschriebenen und dem Gedachten statt. Nicht die Rationalitat bringt den Schriftgebrauch hervor, denn man kann rational sein, ohne schreibkundig zu sein, sondern der Schriftgebrauch erzeugt vielmehr das Potential flir bestimmte Typen formaler Vernunft. Vg!. hierzu Stock, Schriftgebrauch, bes. S. 176. Pitz, Schrift- und Aktenwesen, bes. S. 452-483. Ebd., S. 463. Ebd., S. 463.
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Einleitung
Diese Neuerung befreite schlid~lich die mittelalterliche Verwaltung aus ihren personalisierten Bindungen und gewahrleistete zunehmende Objektivierung und Versachlichung. Pitz sah darin letztendlich die Genese einer protostaatlichen Verwaltung. II Er thematisierte in seiner Analyse allerdings nicht, warum der Schriftgebrauch fUr die Herrschaftsorganisation im Vergleich zur vorangegangenen, schrifdosen Zeit plotzlich derart wichtig wurde. Die Ausbreitung der Schrift wurde von ihm als ein fortschreitender Prozess des mittelalterlichen Verwaltungsapparates auf seinem Weg zum modernen Anstaltsstaat beschrieben, wobei neben der behordlichen Zellteilung auch der sich ausbreitende Kapitalismus - hauptsachlich von einer kaufmannischen Oberschicht betrieben - als Antriebskraft wirkte. In der Folge hat auch Patze in seine m Beitrag "Neue Typen des Geschaftsschriftgutes im 14. Jahrhundert" auf das stadtische BUrgertum als wichtigen Kristallisationspunkt fUr den Ausbau einer modernen Verwaltung im 14. Jahrhundert aufmerksam gemacht. 12 Anders als bei Pitz kamen fur Patze die entscheidenden Impulse jedoch von auGen. Hierzu zahlten insbesondere die Obernahme des arabischen Zahlensystems und die Erfindung des Papiers, ohne welche die Entstehung einer Laienschriftlichkeit in groGem Umfang nicht moglich gewesen ware. Besonders die EinfUhrung des Zahlensystems der "Unglaubigen", die Patze als Ausdruck eines bewussten Bruchs mit der Tradition wertete, habe die Rationalisierung des Denkens wesentlich gefordert und Uberhaupt erst ermoglicht. Dieser Zusammenhang ist zu Recht in Frage gestellt worden. So wurde angemerkt, dass die Beibehaltung der romischen Ziffern durchaus ein Ausdruck alter Rechtstraditionen sein konnte, welche nicht zwangslaufig ein Hindernis fUr den Aufbau eines effizienten kommunalen Rechnungswesens war. I3 Unter den Standardwerken der spatmittelalterlichen Stadteforschung attestierte besonders Isenmann in seinem Kapitel zum Schriftwesen - in Anlehnung an Weber und Pitz - der stadtischen Verwaltung seit dem 14. Jahrhundert "Betriebscharakter". Auch hier wurde die stadtische Schriftlichkeit ausschlieGlich als T eil der Verwaltungstechnik der Stadt im Sinne eines fortschritdichen Verwaltungsstils dargestellt. 14 Auf gangige Lehrmeinung berief sich dergestalt auch WoIter in seine m Abschnitt "Verwaltung, Amt, Beamte" in der Reihe "Geschichdiche Grundbegriffe" mit seiner Feststellung, der moderne bUrokratische Verwaltungsund Beamtenstaat habe sich in Deutschland wahrend des Spatmittelalters ausgebildet, und zwar seit der zweiten Halfte des 13. Jahrhunderts. ls An die rational 11 12 13 14 15
Ebd., S. 461. Patze, Typen, S. 54,64. Vg!. hierzu: Thames, Wirtschaft, S. 73. Isenmann, Stadt, S. 166-170 bes. 169. Waiter, Vetwaltung, S. 1-96.
Einfuhrung in das Thema und Forschungsgeschichte
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ordnende Kraft von Schriftlichkeit woUte zuletzt noch Klaus Schreiner glauben. Schriftlich fixierte Regeln machten Handlungen normativ steuerbar und gewahrten in planender Voraussicht ein rational geordnetes Zusammenleben. Eine VorsteUung, wie Schreiner meint, die sich im Mittelalter Kleriker, Monche und Stadter gleichermaGen zu Eigen machten. 16 Dass die Verwaltung der spatmittelalterlichen Stadt seitens der Geschichtsforschung bisher viel zu wenig Beachtung fand, wurde zwar immer wieder beklagt, hangt aber wohl damit zusammen, dass verwaltungsgeschichtliche Untersuchungen in erster Linie als Zugang zur Erforschung der mittelalterlichen Protostaadichkeit verstanden wurden. Dieser Pramisse folgend, lag dann das Interesse fast ausschlieGlich auf dem deutschen Konigtum und dem Reich sowie in besonderem MaGe auf den Landesherrschaften als Vorlaufer des neuzeitlichen Flachenstaates. 17 Die RoUe der mittelalterlichen Stadt hingegen blieb weiterhin ein Forschungsdesiderat. 18 Nichtsdestoweniger hat die Stadt und ihr Verwaltungshandeln als Forschungsobjekt seit Mitte der achtziger Jahre ein zunehmendes Interesse erfahren. Entscheidende Impulse dazu gingen von den interdisziplinar, auf theoretischer und sprachwissenschaftlicher Ebene gefUhrten Diskussionen urn Schriftlichkeit, MUndlichkeit und Vokalitat aus. FUr die Entstehung neuer Fragen und Losungen besonders wichtig waren die Arbeiten aus einem Sonderforschungsbereich der Universitat MUnster, welche die Entwicklung "pragmatischer Schriftlichkeit" seit dem 13.114. Jahrhundert als ein fast aUe Bereiche menschlicher Existenz durchdringendes, europaisches Kulturphanomen ohnegleichen erkannt und beschrieben haben. Die Stadt als ein Zentrum des Wandels rUckte hierbei erne ut ins Blickfeld des Interesses. 19 Verschiedene lokale Studien zur Entwicklung der "pragmatischen Schrifdichkeit" in den norditalienischen Kommunen haben die offentliche Funktion von Schrift als spezifisches und bedeutendes Merkmal des Wandels stadtischer Herrschaftsordnung in Italien herausgesteUt. 20 Schriftgesteuerte
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Schreiner, Legitimitat, S. 198ff. Kritisch diskutiert wird die Rezeption dieser Verlaufsmodelle besonders bei: Moraw, Organisation, S. 30f.; Willoweit, Entwickiung, S. 130. Hier sei besonders auf die zahlreichen Forschungen von Peter Moraw verwiesen: Moraw, Wesensziige, S. 149-167; Ders., Organisation, S. 21-65; Ders., Verfassung. Patze, Typen, S. 9-64; Willoweit, Entwicklung, S. 66-143; Ebel, Leistung, S. 241-258. Der fast tausend Seiten umfassende erste Band der Deutschen Verwaltungsgeschichte widmet gerade einmal elf Seiten ausschlielmch der Verwaltung der Stadte: Droege, Stellung, S. 177-188. Vgl. a. Skrzypczak, Stadt; Weigl, Schriftlichkeit, S. 254-267; Kannowski, Biirgerkampfe. Aus der groGen Fiille von Beitragen sollen erwahnt sein : Keller, Dbergang; S. 55-72; Ders., Statuten, S. 286-314; Ders., Entwickiung, S. 171-204; Ders., Veranderung, S. 21-36; Ders., Vom "heiligen Buch", S. 1-31; Behrmann, Einleitung, S. 1-18. An dieser Stelle konnen nur einzelne Arbeiten erwmnt werden. Vgl. u.a.: Behrmann, Verschriftlichung, S. 385-402; Busch, Einleitung, S. 1-14, Becker, Kommune Chiavenna; Dies., Statuten-
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Einleitung
Administration wurde flir eine groBe Zahl an der politischen Organisation beteiligte Blirger berechenbar und kontrollierbar, objektivierte die Herrschaftsbeziehungen und machte planvolles Handeln moglich. Die Effizienz rationaler Herrschaftsorganisation beruhte auf der Systematisierung von Wissen, wie es nur die Schrift ermoglichte, was mit dazu beitrug, dass patrimoniale Herrschaftsstrukturen zunehmend durch blirokratische ersetzt wurden. Die aus den zahlreichen Untersuchungen gewonnenen Erkenntnisse eignen sich allerdings nur unter Vorbehalt flir eine unbesehene Obertragung auf geographisch und zeitlich auseinander liegende Forschungsfelder. Die Klassifizierung der administrativen Schriftlichkeit als "pragmatisch" verengt zudem den Blickwinkel auf die Untersuchung unmittelbar zweckhaftem Handeln dienender - oder zu diesem anleitender - Funktionen von Schrift. Von den "Tragern" nicht intendierte, aus der sozialen Interaktion handelnder Akteure abgeleitete oder legitimatorische Funktionen von Schriftstlicken bleiben hierbei ausgeblendet. Abgesehen vom erwahnten Mlinsteraner Sonderforschungsbereich hat eine Reihe weiterer Arbeiten und Projekte teils theoretisch, teils methodisch zur Weiterenrwicklung der Schriftlichkeitsdiskussion beigetragen. So wurde in letzter Zeit vermehrt die materielle Seite von Schriftstlicken wahrgenommen und thematisiert. 21 Neuere sprach- und literaturwissenschaftliche Untersuchungen haben darliber hinaus die dichotome Gegeniiberstellung von Miindlichkeit und Schriftlichkeit, die den soziokulturellen Umgang mit Schrift nur verkiirzend zu fassen vermag, in verschiedener Hinsicht problematisiert, erweitert und flexibilisiert. An dieser Stelle sind aus dieser Diskussion besonders zwei Erkenntnisse hervorzuheben: Erstens sind die Bedeutungen von T exten in hohem MaBe kontextabhangig und unterliegen soziokulturellen Prozessen der zeitgebundenen Bedeutungsermittlung und Bedeutungsvermittlung. 22 Und zweitens mlissen Mlindlichkeit und Schriftlichkeit in vielen Fallen als zwei aufeinander bezogene Phanomene betrachtet werden, bei deren Interaktion allmahliche Obergange und zahlreiche Mischformen entstehen. 23 AuBerdem rlickten die verschiedenen Perzeptionsmoglichkeiten vornehmlich literarischer Texte wie Sprechen, Schweigen, Lesen, Schreiben, Horen und Sehen vermehrt in den Mittelpunkt des Interesses. 24 In historischen Beitragen sind diese Ansatze bislang nur zogerlich berlicksichtigt worden. 25
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kodifizierung, S. 99-127; Koch, Statutengesetzgebung. Vg!. u.a. RUck, Urkunde, S. 311-333; Blattmann, Materialitat, S. 333-354; Brunner/Jaritz, Text als Realie. Eine breit angelegte ForschungsUbersicht zu diesem Themenbereich bietet: Hildbrand, Quellenkritik, S. 349-389. Vg!' auch Hildbrands systematische Gedanken zum schriftpragmatischen Ansatz in AnknUpfung an die traditionelle Quellenkritik. Vg!. u. a. Goetsch, Obergang, S. 113-129; Oesterreicher, Verschriftung, S. 267-292.
Einfiihrung in das Thema und Forschungsgeschichte
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In gewisser Weise erfuhr die Diskussion urn Miindlichkeit und Schriftlichkeit innerhalb der Geschichtswissenschaft mit der so genannten "Kommunikationsforschung" eine erweiternde Betrachtung. 26 Diese noch relativ am Anfang stehende, ganz unterschiedliche Ansatze in sich vereinigende Forschungsrichtung ermoglichte eine umfassendere Betrachtungsweise insbesondere der kulturellen Aspekte mittelalterlicher Formen von Kommunikation. 27 Dabei wurde in verschiedenen Studien gerade den non-verbalen Kommunikationsformen, den symbolhaften Handlungen und Zeichen in der mittelalterlichen Gesellschaft eine hohe Bedeutung zuerkannt. 28 Liturgische Rituale, Herrschaftszeichen sowie deren offendiche Inszenierungen haben sich als grundlegende Elemente friih- und hochmittelalterlicher Herrschaftsausiibung29 und als Charakteristika vor allem oraler Gesellschaften herausgestellt. 30 Spatmittelalterliche Formen kommunikativen Handelns wurden bislang vorwiegend im hofischen Herrschaftszusammenhang thematisiert. Dabei ist neben der Residenzbildung auch die hofische Reprasentation mit ihrem Zeremoniell in ihrer medialen und kulturellen Diversifikation dargestellt worden. 31
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Besonders zu elWiihnen sind hier: Roloff, Reden; Ruberg, Schweigen; Scholz, Horen; Green, Horen, S. 23-44; Wenzel, Horen. Clanchy, Memory; Schreiner, Lautes Lesen, S. 1-36; Mihm, Dingprotokoll, S. 43-67; Hajdu, Lesen; Wendehorst, Mittelalter, S. 9-33; Schreiner, Lesen, S. 1-36; Meier, Sicht- und Horbarkeit, S. 229-271. Zum Stellenwert der mittelalterlichen Kommunikation in der aktuellen Forschungsdiskussion: Goetz, Moderne Mediavistik, S. 360; Althoff, Rituale, S. 140-154. Neuerdings zu den Chancen und Grenzen der Kommunikationsforschung: Roeckelein, Kommunikation, S. 5-13. Dieses weite Forschungsfeld ist kaum zu uberblicken. Eine umfassende Bibliographie aller Arbeiten, die sich unter das Stichwort "mittelalterliche Kommunikation" subsumieren lassen, enthalt: Mostert (Hg.), Approaches, S. 193-296. Eine Gesamtdarstellung mittelalterlicher Kommunikationsformen steht noch aus. Der bislang einzige Versuch eines Medienwissenschaftlers bleibt unbefriedigend, da die Arbeit zu wenig auf der Auswertung von Quellen basiert: Faulstich, Medien. Vg!' a.: Heimann/Hlavacek (Hg.), Kommunikationspraxis. Als wesentliche Beitrage sind zu nennen: Schmidt-Wiegand, Gebardensprache; Dies., Hand, S. 282-299; Schmitt, Logik; Kocher, Zeichen; Bak, Symbolik, S. 39-45; Blaschitz/Hundsbichler (Hg.), Alltag; Durchhardt/Melville (Hg.), Spannungsfeld; Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, S. 389-405. V. a. Althoff hat verschiedentlich auf die grofle Bedeutung der symbolischen Kommunikation fur das Mittelalter hingewiesen. Vehement wehrte er sich gegen jegliche Etikettierung kommunikativen Handelns im Mittelalter als "traditional" im Gegensatz zu zweckrationalem bzw. modernem Handeln, wie es u.a. von Weber und spater auch von Habermas in seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" vertreten wurde: Althoff, Ritual, S. 140f. Ebenso: Ders., Bedeutung, S. 370-389. Als Beispiele seien genannt: Schramm, Herrschaftszeichen; Bak (Hg.), Coronations; Blanchard (Hg.), Representation; Althoff, Spielregeln. Leyser, Ritual, S. 1-26; Keller, Investitur, S. 51-86. Ebenso die zahlreichen Beitrage von Althoff vg!. u.a.: Althoff, Spielregeln.
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Einleitung
Spatestens seit den 1990er Jahren haben Untersuchungen zu Gesten, Ritualen und Inszenierungen regelrecht Hochkonjunktur. Dass derartigen Handlungen in den mittelalterlichen Gesellschaften ein hoher Stellenwert zukam, gehort heutzutage zu den unbestrittenen Erkenntnissen einer modernen Mediavistik. 32 Schon wird vom performative turn gesprochen, der heute fast alle Gebiete der Geistesund Sozialwissenschaften durchdringt und zu einem wichtigen heuristischen Instrument der kulturwissenschaftlichen Forschung avancierte. Damit riickten auch die menschlichen Handlungsweisen vermehrt in den Mittelpunkt der Betrachtung, welche in kollektiven Deutungsmuster griindeten und diese Muster zugleich auch ihrerseits wieder begriindeten. Die Debatte iiber das Verhaltnis von Schriftlichkeit und Miindlichkeit hat sozusagen erst den Weg dafiir geebnet, dass den performativen Handlungen in der Mediavistik so viel Beachtung geschenkt wurde und in groBem MaBe immer noch wird. Dabei bildeten vor allem ethnologische Untersuchungen zu oralen Gesellschaften die Grundlage fiir ein breites Interesse an Ritualen, Inszenierungen und Performanz und weniger performanztheoretischen Oberlegungen zur Sprechakttheorie. Trotzdem lassen sich bei den Herangehensweisen grob drei Ansatze unterscheiden, die wahlweise von einem bestimmten Ritual, einem Kommunikationsziel oder von einem mittelalterlichen Text ausgehen, wobei in letzterem Fall nach der Art und Weise gefragt wird, wie der Autor Rituale und Inszenierungen darstellte. In letzter Zeit wurde die Aufmerksamkeit vermehrt auch auf T exte, Bilder und Signale als Medien politischer, rechtlicher und sozialer Kommunikation gelenkt. 33 Eine wichtige Anregung fiir die vorliegende Arbeit haben dariiber hinaus neuere Beitrage geliefert, die sich mit der symbolischen Kommunikation und der Visualisierung und Reprasentation stadtischer Herrschaftsordnung beschaftigt haben. 34 Die Fragen nach der Inszenierung und Visualisierung von Texten in der spatmittelalterlichen Offentlichkeit, mit denen sich die vorliegende Untersuchung befasst, sind dabei freilich noch nicht zur Sprache gekommen.
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Hierzu besonders: Ragotzky/Wenzel (Hg.), Reprasentation; Patze/Paravicini (Hg.), Residenzen. Vg!. besonders die umfassende Untersuchung von Schenk zur mittelalterlichen Kulturpraxis des Adventuszeremoniells im Deutschen Reich: Schenk, Zeremoniell. Ausfuhrlich zur Historiographie des "performative turn" und zur wissenschaftsgeschichtlichen Herleitung seiner Schliisselbegriffe: Martschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft, S. 1-31; Fischer-Lichte, Performance, S. 33-54. Zur Bedeutung von Ritual und Ritualismus in der historischen Mittelalterforschung: Rexroth, Rituale, S. 391-406. Vg!. u.a. SchreinerlSignori (Hg.), Bilder, S. If.; Haverkamp (Hg.), Information. Vg!. v. a. Maue (Hg.), Visualisierung; Haverkamp, Glocke, S. 21-29; Ders. (Hg.), Information; LotherlMeier (Hg.), Mundus imagine; Poeck, Rituale und Ratswahl; Lother, Prozessionen; Groebner, Geschenke; Graf, Erinnerungsfeste, S. 263-273.
Ziele und Methode der Arbeit
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1.2 Ziele und Methode der Arbeit Praktiken des Umgangs mit Schrift zu erforschen, entspricht durchaus den aktuellen Bestrebungen der historischen Forschung, gesellschafdiche Prozesse vermehrt auf der Ebene handelnder Akteure zu beleuchten. 35 Damit wird ein Aspekt berlihrt, der, wie eingangs gezeigt wurde, gerade bei der Beschaftigung mit der Schrifdichkeit in der mittelalterlichen Stadt bisher wenig Berlicksichtigung fand, da die U ntersuchungen meist bei der Interpretation der Schriftstlicke selbst ansetzten und deren Funktionen endang einer linearen Entwicklung der Blirokratisierung und Rationalisierung beschrieben. AuBerhalb dieser Funktionserflillung liegende Bedeutungen von Schriftstlicken, welche von den Tragern der Schriftlichkeit nicht intendiert waren, blieben so weitgehend ausgeblendet. Erstaunlicherweise hat in der bisherigen Forschung das reichhaltig liberlieferte mittelalterliche Schriftgut der Stadt Luzern in diesem Zusammenhang keine oder nur unzureichende Beachtung gefunden. Dabei erlaubt der auBergewohnlich reiche und gut erhaltene Quellenbestand zahlreiche Rlickschllisse auf den Umgang mit Schriftlichkeit im offendichen Leben der spatmittelalterlichen Stadt. Zweifellos haben die besonderen Verhaltnisse der Schweiz, in der die Kontinuitaten weitaus weniger als im librigen Mitteleuropa durch Kriege und Revolutionen unterbrochen wurden, zu dieser einmaligen Quellensituation mit beigetragen. Viele der bisher im Zuge des performative turn entstandenen Untersuchungen rekurrierten auf die Begriffe Performance, Inszenierung, Ritual und Zeremonien als heuristische Instrumente. In begriffstheoretischen Beitragen wird dann auch nicht selten auf die enge Beziehung zwischen diesen Begriffen hingewiesen. "Wahrend der Begriff der Performance jede Art von Aufflihrung meint, intendiert der Begriff der Inszenierung den besonderen Modus der Herstellung von Aufflihrungen und der Begriff des Rituals bezeichnet eine besondere Gattung von Aufflihrungen. "36 Das Ritual wird namlich nicht nur aufgeflihrt, sondern besitzt auch die Fahigkeit, Obergange zu markieren und Bedeutungen zu generieren. 37 Rituale wirken legitimitatsstiftend. Urn als Perforrnanzen aber zu gelingen, bedlirfen sie haufig eines relativ streng institutionalisierten Rahmens. Im Allgemeinen werden Rituale als kulturspezifische, kollektive, formalisierte und repetitive Handlungsweisen definiert. 38 Diese "dienen entweder dem Zweck, ihren Gegenstand - sei es
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Die Diskussion urn die ,Historische Anthropologie' kann hier nicht wiedergegeben werden. Zu den Perspektiven dieser Forschungsrichtung vg!.: Dlilmen, Richard van. Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben. Kiiln/WeimarlWien 2000. Vg!. ausfuhrlich zur Klarung der kulturwissenschaftlichen Schllisselbegriffe: Fischer-Lichte, Performance, S. 33-54, hier S. 36. Vgl. Marschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft, S. 8ff. Vg!. Rexroth, Rituale, S. 393.
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Einleitung
eine Person, eine Sache oder die Gruppe selbst - zu verandern, oder aber, sie sollen bei den Beteiligten Wissen iiber die Sinnhaftigkeit der erfahrenen Welt und ihre Einbettung in grogere, kosmische Zusammenhange erzeugen, reorganisieren und externalisieren. "39 Rituale besitzen also keine anthropologische AlIgemeingiiltigkeit, sondern sie sind von ihrem jeweiligen kulturellen Kontext gepragt. Des weiteren wird davon ausgegangen, dass "ganze soziale Gruppen" an ihrer VolIfiihrung beteiligt sind. Diese folgt strengen Regeln und ist daher fiir die Beteiligten prinzipielI vorhersehbar. Oftmals werden ,Rituale' terminologisch von ,Zeremonien' unterschieden. 40 Dies ist besonders haufig dann der Fall, wenn der Begriff ,Ritual' nur auf solche Handlungsweisen seine Anwendung findet, die auf Veranderung abzielen. Im Gegensatz dazu werden Zeremonien bisweilen als konservative Akte definiert, die lediglich die Bekraftigung bereits bestehender Bindungen zum Ziel haben. 41 Obwohl die Erforschung von Ritualen in der Mittelalterforschung bisher nicht wenig Anklang findet und sich diesbeziiglich besonders die Stadtgeschichte des spaten Mittelalters als ein Anwendungsbereiche herausgestellt hat, solI trotz der relativen Nahe der Begriffe im Folgenden vor alIem mit dem Begriff der ,Inszenierung' operiert werden. Der auf formalisierte Wiederholung angelegte Ritualbegriff eignet sich nur begrenzt, die spezifischen Handlungsweisen im U mgang mit Texten seit dem 13. Jahrhundert zu beschreiben. Die sparliche Oberlieferung erlaubt es oft nicht, die vorgefundenen Handlungsweisen als Rituale oder als einmalige Vorgange zu taxieren. Zudem beruhen die Deutungen der Handlungen haufig einzig auf den iiberlieferten Texten. Inwiefern die Handlungen in einem institutionelIen Rahmen stattfanden und ob diese von den Zeitgenossen selbst als Rituale gedeutet wurden, dariiber kann oft nur spekuliert werden. Die Gefahr, jegliche Handlung im Kontext als Ritual zu begreifen, ist nicht von der Hand zu weisen. Eine Konzentration auf gleichzeitige Oberlieferungen von Handlung und Deutung konnte in dieser Hinsicht Abhilfe versprechen. SchlieBlich sollte der Ritualbegriff auch die verschiedenen, sich teilweise widersprechenden Deutungen der am Ritual beteiligten Gruppen umfassen. In Anlehnung an das allgemein gebrauchliche Begriffsverstandnis sollen unter ,Inszenierung' sinnlich wahrnehmbare Vorgange verstanden werden, bei denen unter Riickgriff auf Texte, Raume, Korper, Objekte, Zeichen und Tone etwas Nicht-Sinnliches sinnlich erfahrbar gemacht wird und die in Auffiihrungssituationen vor einem Publikum vorgefiihrt werden, das sie wahrnehmen, erleben und ihnen Bedeutung beimessen kann. 42 Der aus der Fachterminologie der Theater39 40 41 42
Ebd. Stollberg-Rilinger,Zeremoniell, S. 389-405. Vg!' a.: Stollberg-Rilinger, Kulturgeschichte, S. 9-24. Rexroth, Rituale, S. 394. Vg!. Fischer-Lichte, Performance, S. 36-47.
Ziele und Methode der Arbeit
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wissenschaft stammende Begriff muss im Hinblick auf die Untersuchung von politischen Handlungen aber in verschiedener Hinsicht flexibilisiert und erweitert werden. So ist vor allem in der Politikwissenschaft auf die enge Verbindung von politischer Inszenierung und Offentlichkeit hingewiesen worden. 43 Die politische Inszenierung entfalte dort Wirkung, wo irgendeine Form von Offentlichkeit vorherrsche. Dariiber hinaus wird die politische Inszenierung mit - teilweise auch manipulativen - Strategien sowie Tauschungsmanovern in Zusammenhang gebracht, die eine Zuspitzung von politischen Ideen, Ordnungsvorstellungen und Konzepten in der Selbstinszenierung der politischen Fiihrungsgruppe ermoglichen. 44 Mehr no ch als an andere Formen ist an die politische Inszenierung daher der Anspruch der Authentizitat gesteUt. Zudem kann die Inszenierung nur dann erfolgreich sein, wenn zwischen den Auffiihrenden beziehungsweise den Mitgliedern der politischen Gruppe und dem Publikum beziehungsweise der am politischen Prozess in irgendeiner Form Beteiligten eine gemeinschaftsstiftende Koharenz entsteht, welche immer wieder von neuem hergestellt werden muss. Inszenierungen sind auf Wiederholung angelegt. Im Gegensatz zur Theaterauffiihrung zeichnet sich die politische Inszenierung durch eine besondere Konstellation zwischen Akteuren und Zuschauern aus, da auch das Publikum politische Ideen erfahrbar zum Ausdruck zu bringen vermag. U nter Publikum soU im stadtischen Kontext vor allem die Biirgerversammlung der politischen Gemeinde und die Einwohnerschaft der Stadt verstanden werden, welche in verschiedenen Handlungskontexten und in unterschiedlichem Ausmag an politischen Inszenierungen in der spatmittelalterlichen Stadt beteiligt waren. Inszenierungen mit umgekehrten Vorzeichen, aber auch ihrem Scheitern und Verfalschen soU besondere Aufmerksamkeit zuteil werden, da hier eine breite Palette an moglichen Handlungsweisen und politischen Strategien erkennbar wird, oh ne dass dabei ausschlieglich die Sichtweise der politischen Akteure ins Visier gerat. Es gehort denn auch zu den Eigenheiten dieser Form der Auffiihrung, dass die Grenzen zwischen inszenierten und nicht-inszenierten Handlungen nicht immer in gleicher Weise zu fassen sind. Diese miissen von den Akteuren vielmehr immer wieder neu gezogen werden. Aufgrund dies er Schwierigkeit, einzelne Handlungen abzugrenzen, soU im Folgenden nicht von einzelnen Inszenierungen oder Ritualen ausgegangen werden, sondern von weit gefassten kommunikativen Handlungsfeldern, in denen sich Strategien zur Inszenierung von T exten erkennen lassen. Ein derartiges Vorgehen ermoglicht es, die Bedeutungen von Texten abgesehen von ihrem Informationsgehalt als komplexe Zeichen zu erfassen. Vorlesen und Beschworen werden hierbei als primare Rezeptions-
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Vg!. Martschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft, S. 2. Vg!. hierzu Martschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft, S. 2ff.
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Einleitung
moglichkeiten von Texten in der Offentlichkeit angesehen. In keiner Weise ist eine llickenlose Darstellung aller mittelalterlichen Praktiken im Umgang mit Texten beabsichtigt. Die Auswahl der dargestellten Formen richtet sich hauptsachlich nach der Vorgabe der ausgewerteten Quellen. Wegen ihrer engen Beziehung zur Offentlichkeit konnen politische Inszenierungen in der spatmittelalterlichen Stadt an verschiedenen Orten stattfinden, prinzipiell liberall dort, wo die Handlungen Offentlichkeit oder Teil-Offentlichkeit erlangen. Politische Inszenierungen sind daher nicht zwangslaufig an feste Aufflihrungsorte gebunden, auch finden sie nicht ausschliemich zu den immer gleichen T erminen statt. Sie konnen spontan entstehen oder sich aus einer bestimmten Auffiihrung heraus gleichsam als eine Inszenierung der Inszenierung entwickeln. Orte, an denen inszenierte Handlungen im spatmittelalterlichen Luzern einen bestimmten Grad an Offentlichkeit erlangen konnten, waren neben der Peterskapelle als dem altesten Gotteshaus innerhalb der Stadtmauern das Rathaus, die grogen Platze und die Wirtshauser. Die Annahme einer raumlich wie sozial abgestuften, situativ stattfindenden Offentlichkeit am Ende des Mittelalters entspricht durchaus neueren Auffassungen, welche offentliche Orte vermehrt als Interaktions- und Kommunikationsraum begreifen. 45 Dabei ist, neben der prinzipiellen Zuganglichkeit und Multifunktionalitat, auch der Mediencharakter der Raume als ein konstituierendes Merkmal von Offentlichkeit herausgestellt worden. Auger der baulichen Gestalt konnen demnach auch Ausstattung und Bebilderung der Raume sowie andere Zeichen sinnstiftende Funktionen innerhalb der Inszenierung libernehmen. In der Hauptsache solI danach gefragt werden, wie Texte in der spatmittelalterlichen Offentlichkeit inszeniert wurden und welche Funktionen ihnen dabei zukamen. Es geht nicht primae darum, etwas, das bereits im Text niedergelegt ist, noch einmal mit anderen Mitteln auszudrlicken, sondern darum, das Unsichtbare, das sich nicht unmittelbar aus dem Wortlaut erschliegt, im Prozess der Inszenierung gegenwartig werden zu lassen. Der Text kann weit mehr als eine bloge Vorlage flir die Inszenierung sein. Der Text selbst ist T eil der politischen Inszenierung, und zwar als Trager von Informationen ebenso wie als materielles Zeichen.
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Vg!. hierzu die ausfiihrlichen Oberlegungen von Rau/Schwerhoff: Rau/Schwerhoff, Offentliche Raurne, S. 11-52. Eine urnfassende, systernatisch angelegte Darstellung iiber ,Offentlichkeit irn Mittelalter' steht noch aus. Vor allern Haberrnas' Typus der vorrnodernen ,reprasentativen Offentlichkeit', welche nichts anderes als offentliche Reprasentation von Herrschaft bedeutet, hat die Diskussion urn die Art und Weise der Offentlichkeit irn Mittelalter rnaBgeblich gepragt. Einen Forschungsiiberblick und eine kritische Auseinandersetzung rnit Haberrnas bei: Haverkarnp, Offentlichkeit, S. 82-93. Vg!. hierzu auch Thurn, Offentlichkeit, S. 65-87; Thurn, Offentlich-Machen, S. 12-69; Holscher, Offentlichkeit; Wenzel, Herrschaftshandeln, S. 247260.
Ziele und Methode der Arbeit
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Im Vordergrund steht die Inszenierung von ,Rechtstexten', wie sie seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in Luzern in immer grofSerer Zahl und in unterschiedlichen Formen entstanden. Obwohl entgegen alteren Auffassungen das 12. und 13. Jahrhundert allgemein als Epoche einer ,Renaissance' der Rechtssetzung herausgestellt wurde, ist es bisher nicht gelungen, die Fragen nach Genese und Klassifikation von mittelalterlichem ,Recht' und ,Gesetz' hinreichend zu klaren. 46 Auf die bis zur ,,Aussichtslosigkeit gesteigerten" Schwierigkeiten einer inhaltlichen und formalen Definition von ,Recht' und ,Gesetz' im Mittelalter ist schon mehrfach hingewiesen worden. 47 Wenig hilfreich ist auch die Verwendung des Begriffes ,Gesetzgebung'. AlIgemein wird darunter "die Schaffung abstrakter Rechtsnormen mit dem Willen zur generellen Geltung" verstanden. 48 Da diese Definition aber stark auf eine moderne Rechtsstaatlichkeit zugeschnitten ist, kann ihr hier keine grofSe Bedeutung eingeraumt werden. Als Begriffsinstrumentarium zu wenig scharf ist auch die Benennung als ,Aufzeichnung des Rechts', worunter hauptsachlich die nachtragliche Fixierung von Normen fallt, welche in der Rechtspraxis schon langer in Gebrauch waren. 49 Neue Impulse, sich verstarkt mit der Beschaffenheit vor allem des stadtischen Rechts auseinander zu setzen, gingen auch von der Schriftlichkeitsdiskussion aus. Hierbei verschob si ch allerdings das Interesse an Rechtstexten vom Vorgang ihrer Aufzeichnung hin zur Herausbildung einer neuen Rechtsqualitat, welche mit dem Obergang von einer oralen Rechtskultur zum geschriebenen Recht seit dem 12. und 13. Jahrhundert in Zusammenhang gebracht wurde. 50 Die neue Qualitat
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Vg!. hierzu u.a. Kern, Recht; Wolf, Gesetzgebung, S. 143ff. Wolf versteht unter Gesetz eine allgemeine Rechtsnorm in urkundlicher oder zumindest urkundenartiger Form. Das Aufkommen schriftlicher Rechtsnormen im 12. und 13. ]h. kiinne wegen der Schwierigkeit der Begriffsbestimmung nicht mit einem Begriff umschrieben werden. Wolf, Gesetzgebung, S. 145-147. Vg!. a. Hagemann, Rechtsleben, S. 32. Vg!. Krause, Gesetzgebung, Sp. 1606-1620 bes. Sp. 1606. Wolf, Gesetzgebung, S. 145: nEs ist aussichtslos, die Gesetzgebung inhaltlich zu definieren." Vg!. u. a. Krause, Gesetzgebung, Sp. 1606f. Geht davon aus, dass die RechtsaufZeichnung seit dem spaten Mittelalter immer mehr zur Gesetzgebung wurde. Krause, AufZeichnung des Rechts, Sp. 256ff. Nach Schmidt-Wiegand lagen Recht und Gesetz seit Beginn der schriftlichen Oberlieferung dicht beieinander, so dass es zu etlichen Verzahnungen oder Mischformen gekommen sei, welche nur schwer dem einen oder anderen Bereich zuzuordnen seien. Vg!. Schmidt-Wiegand, Recht, S. 149. Der Obergang von einer mUndlichen zu einer schriftlichen Rechtstradition ist fUr die Stadte niirdlich der Alpen bisher nur unzureichend geklart. Besonders Dilcher hat auf den paradigmatischen Wechsel von Oralitat zu Literalitat im 12. und 13. ]h. hingewiesen. Vg!. u.a. Dilcher, Oralitat, S. 17. Auch auf dem Hintergrund der zur Verschriftlichung oberitalienischer Statuten erbrachten Ergebnisse muss offensichtlich mit gro/len regionalen Unterschieden gerechnet werden und es kann nicht entgegen frUheren Annahmen von einem gesamteuropaischen Prozess der Rechtsverschriftlichung im 12. und 13. ]h. ausgegangen werden. Vg!. Wolf, Gesetzgebung,
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besonders stadtischer Rechtstexte, so war man liberzeugt, zeige sich hauptsachlich in einer entschiedenen T endenz zu detailliert ausformulierten Sammlungen von Normen. Diese seien als auto nom gesetztes Recht vorwiegend im Kreis der Blirgerschaft entstanden. Erst die Normenkataloge machten es moglich, soziale Vorgange in planender Voraussicht hypothetisch entscheidbar zu machen und normativ zu steuern. In letzter Zeit ist dieser paradigmatische Wandel von einer mlindlichen zu einer schriftlichen Rechtskultur verschiedentlich in Zweifel gezogen worden. Regionale U ntersuchungen zur Verschriftlichung der Rechtstradition haben ergeben, dass keine der liberlieferten Stadtrechtaufzeichnungen des 12. bis 15. J ahrhunderts die Vollstandigkeit und die Systematik aufweist, die als Grundlage flir eine geregelte Rechtsprechung oder zur Durchsetzung eines stadtischen Normensystems erforderlich gewesen ware. 51 Aus dies er Diskussion sind besonders zwei Erkenntnisse flir die vorliegende Untersuchung als wichtig hervorzuheben. Zum einen ist davon auszugehen, dass nordlich der Alpen bis ins 15. Jahrhundert hinein weiterhin die Mlindlichkeit das tragende Element in der stadtischen Rechtstradition darstellte. Zum anderen konnen Rechtstexte abgesehen von ihren direktiven Funktionen, welche vor allem die klassische Rechtsgeschichte interessieren, auch andere Wirkungsweisen haben. Besonderes Augenmerk ist deshalb auch auf protektive und reprasentative Funktionen zu legen. 52 Des Weiteren ist der mittelalterliche Rechtsbegriff mit semiotischen Prozessen in Zusammenhang gebracht worden. 53 Dabei wurde darauf hingewiesen, dass Recht in der mittelalterlichen Gesellschaft nicht nur in soziale Prozesse eingebunden, sondern selbst Gegenstand des sozialen, politischen, wirtschaftlichen Verhandelns war. In der sozialen Praxis aktualisierten und vergegenwartigten Akteure Bedeutungsinhalte und bedeutsame Zusammenhange, indem sie versuchten, ihr Handeln und den Handlungskontext mit Bedeutung zu versehen. Die Aktualisierung von Bedeutung bot sich mit Vorteil dort an, wo sozial gebundene Institutionen, gesellschaftlich bedeutsame Raume oder rituelle Handlungszusammenhange berlihrt wurden. 54 War die Aktualisierung von Rechtstexten erfolg-
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S. 143-171. V. a. Keller hat darauf hingewiesen, dass durch den Verschrifi:lichungsprozess Mlindlichkeit nicht einfach durch Schriftlichkeit abgelost worden sei. Trotzdem wlirden im Rechtsleben innerhalb kurzer Zeit Symbolhandlungen und ritualisierte Sequenzen von feststehenden Worten und Zeichen ihre Relevanz flir die Verbindlichkeit von Rechtsakten verlieren. Keller, Vorschrift, bes. S. 27f. Vg!. hierzu die Untersuchung der Rechtstradition in Duisburg von Mihm: Mihm, Dingprotokoll, S. 45fT. Auch Weitzel relativiert den Einfluss des gelehrten Rechts auf die stadtischen Verhaltnisse. Vg!. Weitzel, GerichtsofTentlichkeit, S. 76. Vg!. Mihm, Dingptotokoll, S. 56. Vg!. zum RechtsbegrifT und semiotischen Prozessen: Hildbrand, Aktualisierung, bes. S. 167175. Vg!. Hildbrand, Aktuaiisierung, S. 174.
Ziele und Methode der Arbeit
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reich, so galt auch die Beziehung als aktualisiert, welche dem Rechtsbereich als zugehorig definiert war. Sie konnte die Grundlage fUr eine dauerhafte soziale Ordnung sein. Im Folgenden sollen stadtische Rechtstexte im Sinne von ,normativen Aufzeichnungen' verstanden werden, die in Form von Normenkatalogen, sei es in Urkunden, Einzelniederschriften oder Gesetzeslisten, je nach Handlungskontext ne ben direktiven auch andere Funktionen Ubernehmen konnen. ,Normative Aufzeichnungen' sind in soziale Prozesse der Bedeurungszuschreibungen eingebunden, in welchen in der Praxis von den Akteuren einzelne Bedeutungselemente hervorgehoben werden konnen. Die Aktualisierung von schriftlichen Normen als Grundlage gesellschaftlicher Ordnung soli besonders im Hinblick auf die Etablierung stadtischer Herrschaftsbeziehungen thematisiert werden. Im Mittelpunkt stehen dabei Bedeutungszuschreibungen, die an Orten stattfinden, an denen den Handlungen Offentlichkeit zuteil wird. ,Normative Aufzeichnungen' konnen demnach auch anlasslich politischer Inszenierungen in der spatmittelalterlichen Offentlichkeit aktualisiert werden. Da sich schriftliche Normen im Spatmittelalter zwischen Schriftlichkeit und MUndlichkeit bewegen, ist davon auszugehen, dass sie in der sozialen Praxis einen bi-medialen Charakter haben. Die Untersuchung setzt bei der Luzerner Rechtstradition des so genannten ,Geschworenen Briefes' an. Im ,Geschworenen Brief' wurden erstmals stadtische Normen schriftlich fixierr. Seine altesten Versionen in Form von Stadtrechtsurkunden stammen aus dem 13. Jahrhundert. Im Laufe des Spatmittelalters entwickelte sich der ,Geschworene Brief' zu einem auGerordentlich wichtigen Rechtstext fUr das Rechtsverstandnis der Stadt. Bis zum Ende des 18. J ahrhunderts hatte er die Funktion eines Fundamentalrechts. Die ursprUngliche Urkunde machte im Laufe der Zeit mehrere Metamorphosen durch, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Inhalt, sondern auch auf die T extgestalt. Die unterschiedlichen Versionen zeugen von den Bedeutungsverschiebungen des Textes und einer Veranderungen unterworfenen Praxis. Vielversprechend sind in diesem Zusammenhang neuere Ansatze, wie sie besonders in sprachwissenschafdichen Untersuchungen erprobt wurden, welche die kulturellen Praktiken im Umgang mit rechtsprachlichen Texten berUcksichtigen. Neben Texten werden auch Bilder als Zugang zu den zu rekonstruierenden Handlungsweisen genutzt werden. Zum einen findet damit eine Gruppe von historischen Quellen BerUcksichtigung, die in der Diskussion urn die Entstehung und Bedeutung stadtischer Schrifdichkeit bislang keine oder nur wenig Beachtung fand. Diese Erweiterung der Materialbasis eroffnet andererseits die Moglichkeit, Inszenierungen nicht nur in der Vermitdung uber die Sprache der Zeitgenossen, sondern auch in einem anderen, visuellen Medium zu erfassen. FUr ein solches Vorgehen bieten sich die zum Teil reich bebilderten Stadtchroniken aus dem
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Einleitung
Gebiet der heutigen Schweiz, allen voran die Berner und Luzerner Bilderchroniken, geradezu an. 55 Ihre detaillierten Darstellungen alltaglicher und weniger alltaglicher Szenen bilden einen einzigartigen Quellenfundus. Eine besondere Stellung kommt im Folgenden der Luzerner Bilderchronik des Diebold Schilling zu, die in den Jahren zwischen 1507 und 1513 entstanden sein muss. 56 Ihre mehr als 450 Illustrationen, von denen ungefahr drei Viertel von Schilling selbst unter Beizug mehrerer Hilfskrafte stammen, zeigen haufig verschiedene Handlungskontexte in offenen und geschlossenen Raumen, in deren Mittelpunkt ganz deutlich Schriftstiicke stehen. 57 Ungefahr ein Drittel der Illustrationen zeigen verschiedene Formen politischen Handelns, bei denen Schrift im weitesten Sinn eine wichtige Rolle spielt. 58 Bisher sind diese Darstellungen von der Forschung noch nie auf ihren diesbeziiglichen Informationsgehalt hin untersucht worden. 59 In ihnen werden nicht nur zeitgenossische Vorstellungen im Hinblick auf den Umgang mit bestimmten Schriftstiicken und ihre Visualisierung deutlich, sondern es wird auch ein Zusammenwirken verschiedener kommunikativer Ablaufe greifbar. Es handelt sich dabei um ein Vorgehen, welches als bewusste Inszenierung von Schrift angesprochen werden kann. In dies em Zusammenhang erscheinen die Schriftstiicke jenseits ihres Schriftgehaltes, mit dem sich die bisherige Forschung ausschliemich beschaftigen wollte, als Objekte und miissen auch als solche betrachtet werden. Der ikonographische Gehalt von Schillings Darstellungen bietet reiche Moglichkeiten zum Erkenntnisgewinn, den es fiir die vorliegende Fragestellung zu nutzen gilt. Gelegentlich werden, so weit sich diese in chronikalischen Darstellungen niederschlagen, auch die VerhaItnisse in anderen Stadten, insbesondere in Bern vergleichend und erganzend beriicksichtigt. Vor allem ausfiihrliche Schilderungen in 55 56 57
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Vg!. allgemein u.a.: Baumann, Entstehung; Bodmer, Chroniken. Vg!. Schmid (Hg.), Luzemer Chronik; Ladner, Untersuchung, S. 541-558; Ruck, Diebold Schilling, S. 559-574. Die ubrigen Darstellungen wurde von einem bislang nicht identifizierbaren Illustrator ausgefuhrt. Zu den Illustrationen von Schilling in seiner Luzemer Chronik vg!.: Saurma-Jeltsch, Illustrationen, S. 31-71; Schmid, Illustrationen, S. 679-706. Nach Ruck betreffen je dreigig Prozent der Bilder ,Politik und Diplomatie' und ,Ungluck, Magie, Verbrechen'. Etwas mehr Raum nehmen die meist doppelseitigen Kriegsdarstellungen ein. Die prozentuale Verteilung der Bildem auf die genannten Gruppe entspricht allerdings nicht dem jeweiligen Anteil am Text. So beanspruchen Themen zur ,Politik und Diplomatie' mehr als ein Drittel der beschriebenen Seiten. Vg!. Ruck, Schilling, S. 573. Der hohe dokumentarische Weft der Illustrationen wurde schon von der Historiographie des 19. Jahrhunderts erkannt. Vor einiger Zeit hat Carl Pfaff auf die groge Aussagekraft von Schillings Bildem im Hinblick auf die Darstellung mittelalterlicher ,Staatlichkeit' hingewiesen: "Ohne Zweifel sind hier dem Luzemer wie sonst keinem seiner Zeitgenossen wahre Sinnbilder des republikanischen Gemeinwesen samt ihrer sie beherrschenden Honoratiorengesellschaft gegluckt." Vg!. Pfaff, Staat und Gesellschaft, S. 89-116.
Ziele uncl Methocle cler Arbeit
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Chroniken ermoglichen oft tiefe Einblicke in gangige oder auch kontrare Vorstellungen der Zeitgenossen im Umgang mit Schrift. Erst die Kombination verschiedener Betrachtungsweisen, welche sich in unterschiedlicher Art und Weise in Bild und Text niederschlagen, ermoglicht es, einen wesentlichen Beitrag zu diesen flir das Verstandnis unserer Vergangenheit so elementaren Fragestellungen zu erarbeiten. Weder wird in dieser Arbeit angestrebt, eine umfassende Geschichte der Schriftlichkeit und der Verwaltungsstrukturen in Luzern vorzulegen, noch sollen die bereits edierten Quellen im Sinne einer Re-edition neu erschlossen werden. 60 Es geht hier vielmehr darum, die Inszenierung von Texten in der stadtischen Offentlichkeit aufzuzeigen und sie vor dem Hintergrund der allgemeinen historischen Enrwicklung, das heiBt der Intensivierung der stadtischen Herrschaft im Spatmittelalter, zu verorten. 61 SchlieBlich mochte die vorliegende Untersuchung auch einen Beitrag dazu leisten, den qualitativen Wandel im Umgang mit stadtischer Schriftlichkeit im Verlauf des 15. Jahrhunderts, wie er bisher einzig von Pitz in seinem vergleichenden Oberblickswerk thematisiert wurde, anschaulich darzustellen. Die vorliegende Untersuchung setzt denn auch bei der Rekonstruktion anschaulicher Verfahren im Umgang mit Schrift durch einzelne Akteure an. Sie erortert die Funktion und den Stellenwert, welche den jeweils spezifischen Rechtstexten im stadtischen Herrschaftsgeflige zukamen. Gefragt wird, inwiefern sich die vorgefundenen Handlungsformen bestimmten Bereichen der Herrschaftsauslibung und bestimmten Handlungsraumen zuordnen lassen, wie Einzelne in sie eingebunden waren und ob sie Moglichkeiten zur Mitgestaltung wahrnehmen konnten. Des Weiteren interessiert, inwiefern sich dabei Tendenzen zur Unterordnung von Handlungen unter generalisierbare N ormen und Muster beobachten lassen. Heuristische Zugange zu diesen vorwiegend die Herrschaftsorganisation betreffenden Situationen bietet vor allem das so genannte Verwaltungsschriftgut, damit also jene Schriftgutgattungen, die - gemaB heutigem Kenntnisstand - die praktische Seiten der Herrschaft betreffen. Die Arbeit gliedert sich, ihrer Fragestellung entsprechend, in drei HauptkapiteI. In den ersten beiden Kapiteln werden die Texte sowie die Orte in der stadtischen T opographie, an denen die unterschiedlichen Handlungen stattfinden, vorgestellt. Dabei sind auch die stadtische Kanzlei und das Archiv als bedeutsame Orte zu erachten, da sie den institutionellen Rahmen flir die Herstellung und die Aufbewahrung von stadtischer Schriftlichkeit bildeten. Im dritten Kapitel stehen 60 61
Zur allgemeinen Entwicklung cler aclministrativen Schriftlichkeit in Luzern vg!.: Giissi, Ratsprotokoll Nr. 1; Ders., VelWaltung, 5.171-197; Kiirner, Staatsfinanzen. Zu Herrschaftsintensivierung uncl T erritorialisierung vg!.: Moraw, Verfassung; Ders., Reich, S. 15-33; Glauser, Lancleshoheit, S. 1-114.
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dann die Handlungen selbst irn Vordergrund. Es ist nach den einzelnen kornrnunikativen Urngangsweisen rnit Schrift untergliedert. Innerhalb der einzelnen, den jeweiligen Strategien gewidrneten Abschnitte ist die Vorgehensweise chronologisch, urn die Entwicklungen von Herrschaftsintensivierung und Territorialisierung deudich werden zu lassen.
2. Die ,Geschworenen Briefe' von Luzern 2.1 Die Dberlieferung Der erste ,Geschworene Brief von Luzern ist in einer heute nicht mehr erhaltenen Fassung erstmals im Jahr 1252 ausgestellt worden. Er entstand vor dem Hintergrund der Bereinigung einer Fehde zwischen der Stadt und ihren Klostervogten, den Herren von Rothenburg. Die Narratio der Urkunde berichtet, wieArnold von Rothenburg, seine Sohne Ludewig, Marchwart und Arnold, der Ammann, der Rat und die Biirger von Luzern iibereingekommen sind und mit geschworenen Eiden bekraftigt haben, allen verschworerischen Einungen und kriegerischen Auseinandersetzungen in Zukunft zu entsagen. N ach dieser Einleitung folgt eine Auflistung von etwas mehr als zwanzig Bestimmungen hinsichtlich Waff"entragens, gewalttatiger Auseinandersetzungen, zum Fehdewesen und ganz allgemein zur Sicherung des innerstadtischen Friedens. SchlieBlich schworen alle Versammelten, nicht nur zur Einhaltung des Vereinbarten, sondern auch zu seiner Durchsetzung beizutragen. Im Rahmen dies er Einigung zwischen den Klostervogten und der Stadt werden in Luzern erstmals stadtische N ormen schriftlich flxiert.! Der ,Geschworene Brief wird und wurde immer schon als ein Schriftstiick mit besonderem Stellenwert wahrgenommen. Die Urkunde steht in dem Ruf, den Charakter eines stadtischen ,Grundgesetzes' zu haben. Schon im 13. und 14. Jahrhundert muss der ,Geschworene Brief sogar augerhalb der Stadt bekannt gewesen sein. 2 Aber auch iiber das Spatmittelalter hinaus wurde dem ,Geschworenen Brief und seinen verschiedenen Oberarbeitungen eine hohe Bedeutung im stadtischen Zusammenleben beigemessen. 3 Bis zum Ende des Ancien Regime im 18. Jahrhundeft wurde er zweimal im Jahr an den Johannistagen, dem 24. Juni und dem 27. Dezember, in der Peterskapelle vorgelesen. Die mannlichen Biirger legten an
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Allgernein zurn .Geschworenen Brier von Luzern vg!.: Segesser, Rechtsgeschichte 2, S. 213-220; Blickle. Friede. S.113; Wanner. Ratsherrschaft. S. 6; SSRQ LU 111. Einleitung. S. XXXI-XXXVII. Vg!. z. Bsp. StALU RP 1, fo!' 90r. Zur Bewertung des .Geschworenen Briefes' von Luzern in der alteren Forschung vg!. u.a.: Durrer. Einheit. S. 346f; Meyer, Blinde, S. 28ff; QW Ill, Nr. 667, 296-303.
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Die ,Geschworenen Briefe' von Luzern
diesen Tagen einen Eid auf den Brief ab und wiederholten so in ritualisierter Form die Handlung, die einst die Vogte, der Rat und die versammelte Gemeinde vollzogen hatten.
2.1.1 Die lateinische und die volkssprachliche Version des 13. Jahrhunderrs Die vermurlich lateinische Originalfassung des ,Geschworenen Briefes' von 1252 gilt als verloren. Die beiden altesten iiberlieferren Exemplare miissen innerhalb weniger Jahre bald nach 1252 entstanden sein. Es sind dies eine lateinische und eine volkssprachliche Version. Obwohl sich beide Fassungen inhalrlich kaum voneinander unterscheiden,4 ist bei der jiingsten Edition zurecht darauf hingewiesen worden, dass es sich bei der deutschen Version nicht urn eine Oberrragung oder Obersetzung der lateinischen handelt, wie bisher angenommen. S Beide Version enthalten mehrere Artikel, von denen angenommen wird, dass sie in der verlorenen originalen Urkunde nicht vorhanden waren. 6 Auch lassen sich in den beiden altesten Versionen verschiedene redaktionelle Oberarbeirungssrufen in sprachlicher und inhalrlicher Hinsicht nachweisen. Insbesondere die normativen Bestimmungen diirften bei der Neuausstellung durch mehrere Artikel erganzt worden sein. Diese Partien wurden - wie auch die Passagen des urspriinglichen Briefes - aus einer oder mehreren heute verlorenen Vorlagen abgeschrieben. Es besteht jedoch kein zwingender Grund zu der Annahme, dass es sich bei der altesten iiberlieferten Version bereits urn die erste Oberarbeitung des ,Geschworenen Briefes' handelt. Trotz gewisser inhalrlicher und sprachlicher Abweichungen ist sowohl die lateinische als auch die volkssprachliche Urkunde unlangst als ,authentische Neuausfertigung' des urspriinglichen ,Geschworenen Briefes' bezeichnet worden. 7 Damit wurde den alteren Forschungsmeinungen widersprochen, wonach beide Versionen als Falschungen anzusehen seien. Obwohl wir nachweislich nicht die originale Urkunde vom 4. Mai 1252 vor uns haben, tragen dennoch beide das 4
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Die deutsche Version wurde urn einen Artikel erganzt. Da sich beide U rkunden abgesehen vorn N orrnenbestand auch in anderen Punkten unterscheiden, wurden sie in der neuesten Edition als zwei unterschiedliche Versionen dargestellt. Vg!. SSRQLU 1/1, Nr. 4 u. Nr. 5, S. 6-9 bzw. 10-14. Besonders Ursula Schulze hat in der Vergangenheit auf die enge Beziehung zwischen beiden U rkunden hingewiesen. Sie ging deshalb von einer Obertragung vorn Lateinischen in die Volkssprache aus. Allerdings raurnt sie ein, dass der volkssprachliche Obersetzer den Inhalt jedoch ohne "sklavische Abhangigkeit" wiedergab. Schulze, Parallelurkunden, S. 112. Dies llisst sich aus den Bernerkungen zur neuesten Edition schliellen. Vg!. SSRQLU 1/1, Nr. 4 u. 5, S. 6-9 bzw. 10-14. SSRQ LU 1/1, Einleitung, S. XXXIII.
Die Oberlieferung
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Datum der erstmaligen Ausstellung. Nicht nur durch die Obertragung des Daturns, sondern auch indem der Einleitungspassus mit der Nennung der Vogte von Rothenburg aus dem ursprilnglichen ,Geschworenen Brief von 1252 ilbernommen wurde, knilpfte man bei der redaktionellen Oberarbeitung in beiden Fassungen an die ,authentische' Herstellungssituation von 1252 an. 8 Einzig in den Siegelankilndigungen bleiben der altere Arnold von Rothenburg und sein Sohn Ludewig unerwahnt, da sie offen bar vor der Herstellung der neuen Versionen gestorben sind. 9 Funktional ursprilnglich als Vertrage ausgestaltet, sind beide Fassungen der Einung zwischen den Vogten und der Stadt in je zwei Exemplaren ausgefertigt worden, wobei von den lateinischen Urkunden nur noch eine Ausfertigung erhalten ist. Anhand der Oberlieferungssituation ist also nicht von vornherein auf ein starkeres Interesse an der volkssprachlichen Version zu schlieBen. 1o Sowohl die volkssprachliche wie auch die lateinische Version wurden in spaterer Zeit noch mehrmals abgeschrieben. 11
2.l.2 Abschriften und Neubearbeitungen des 14. und 15. Jahrhunderts Abgesehen von den authentischen N euausfertigungen des 13. J ahrhunderts wurde der ,Geschworene Brief im Verlauf des gesamten 14. J ahrhunderts und eigentlich bis 1415 nur vereinzelt neubearbeitet. Die aus dieser Zeit stammenden Abschriften sind vermutlich alle in Hinblick auf die zweimal jahrlich stattfindende Verlesung und Beschworung des ,Geschworenen Briefes' entstanden. In diesem Zusammenhang sind besonders die folgenden beiden Schriftstilcke zu erwahnen: Eine Abschrift der deutschen Fassung in Urkundenform von Johannes Fricker, die wahrend seiner Tatigkeit als Stadtschreiber zwischen 1360 und 1378 entstanden sein muss und die er als Grundlage filr seinen eigenen Vortrag in der Peterskapelle benutzt haben dilrfte. 12 AuBerdem ein aus dem ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhun-
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Liebenau, Rechtsquellen, S. 432ff. Vg!. ausfiihrlich zur Diskussion der alteren Forschung: SSRQ LU 1/1, Einleitung, S. XXXIIIff. Ebd. Nr. 4 /5, S. 9f. bzw. 13f. Zur Datierung der beiden altesten iiberlieferten Fassungen des ,Geschworenen Briefes' siehe die ausfiihrliche Diskussion in den Anmerkungen der neuesten Editionen: SSRQ LU 1/1, Einleirung, XXXI und Nr. 4 bzw. 5, S. 6-14. Hierbei ist Ursula Schulze zu widersprechen, die in der ungleichen Oberlieferung ein gro/Seres Interesse an der deutschen Version begriindet sieht, da schon kurze Zeit spater eine weitere Kopie der volkssprachlichen Version hergestellt wird. Nach neuestem Erkenntnisstand ist die van ihr als Argument angefiihrte Version aber erst im spateren 14. Jahrhundert entstanden. Schulze, Parallelurkunden, S. 112. Vg!. beispielsweise die Abschriften der lateinischen und der deutschen Version in: StALU COD 1066, fo!' 1-3v bzw. 4r-7v; COD 1245, fo!' 2r-6r. StALU URK 487/8653. Siehe auch SSRQ LU 1/1, Nr. 107b, S. 205.
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Die ,Geschworenen Briefe' von Luzern
derts stammendes Papierheft, in das der damalige Stadtschreiber Johannes Recher die lateinische und die deutsche Version der ,Geschworenen Briefe' des 13. Jahrhunderts abschrieb und auch zwei ausfUhrliche, den Schutz des innerstadtischen Friedens betreffende Erganzungen anbrachte. Diese beiden Texte wurden vermutlich gemeinsam mit dem ,Geschworenen Brief jeweils anlasslich der Schwurzeremonie vorgelesen. 13 lm Vergleich zu anderen zwischenzeidich erlassenen Satzungen wurden sie deudich als Rechtsaufzeichnungen mit besonderer Relevanz eingestuft. Beide Erganzungen hatten bei einer Neuausstellung des ,Geschworenen Briefes' zu Beginn des 15. Jahrhunderts thematisch IUckenlos in dies en eingearbeitet werden konnen. Spater, nach der Erlangung der Reichsfreiheit Luzerns im Jahr 1415, wurden beide Abschriften modifiziert. 14 So strich Heinrich Golz, Amtsnachfolger von Johannes Recher, fUr die Verlesung am 24. Juni 1415 in der Papierhandschrift den Passus her Arnolt und mine sdne, her Ludewig, her Marquart
und her Arnolt, va:gte von Rotenburg, herr Walther der amann, der rat und die mengi der burger von Lucern und ersetzte ihn am Rand durch der schultheis, der rat, die hundert und die gemeind der burgeren ze Lucern. Auch im Schlussteillid~ Heinrich Golz die Vogte von Rothenburg als Siegler weg und ersetzte die alte Datierung. Die Formulierung lautet jetzt: mit unser statt anhangendem ingsigel der geben ist an
sant Joham tag ze sdngicht, do man zalt von Christus gebdrt vierzechenhundert und fdnfoehen jar. 15 Moglicherweise war man schon fruher zu einem W ortlaut iibergegangen, der die Vogte von Rothenburg nicht mehr nannte, denn auch an der alteren urkundlichen Abschrift von Fricker lassen sich ahnliche handschrifdiche Korrekturen feststellen. 16 Eine Version, in der die habsburgischen Herzoge von Osterreich anstelle der Vogte von Rothenburg als deren Rechtsnachfolger mit der Stadt eine vertragliche Einung eingehen, scheint nie hergestellt worden zu sein. Spatestens nachdem Luzern 1415 reichsfrei geworden war, hatte der ,Geschworene Brief die Form einer innerstadtischen Vereinbarung zwischen Schultheig, Rat und den BUrgern. Aus einem zwischen Herrschaft und Gemeinde geschlossenen Vertrag wurde ein stadtisches Statut. Die Anderung der Textgattung spiegelt die Enrwicklung zur grogeren Autonomie von Luzern.
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StALU COD 1066; SSRQLU 1/1, Nr. 79, S. 174 Anrn. 3. Vg!. Glauser, Landeshoheit, S. 17 Anrn. 57. Es handelt sich urn Regelungen beziiglich des Totschlags eines Nichtbiirgers an einern Biirger und urn allgerneine Bestirnrnungen zur Wahrung des Stadtfriedens (,Gib Frieden'). SSRQLU 1/1, Nr. 24 u. 79, S. 107fu. 172f. Segesser, Rechtsgeschichte 2, S. 217 Anrn. 1; Glauser, Landeshoheit, S. 17 bes. Anrn. 57; SSRQ LU 1/1, Einleitung, S. XXXIII. SSRQ LU 1/1, Nr. 107a, S. 204f. Verrnutlich sind die Anderungen erst 1420 oder 1421 bei Beratungen iiber den ,Geschworenen Brier beschlossen worden. SSRQ LU 1/1, Einleitung, S.XXXIII. SSRQ LU Ill, Nr. 107b, S. 205f
Die Oberlieferung
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Sieht man von den Neuausfertigungen des 13. Jahrhunderts und den erwahnten Korrekturen an den beiden volkssprachlichen Abschriften ab, stammen die meisten Neubearbeitungen des ,Geschworenen Briefes' aus der Zeit nach 1415. Besonders in den Jahren urn 1434 ist in den Ratsverhandlungen mehrmals eine Oberarbeitung desselben als Traktandum angesetzt worden.!? Inwiefern diese Beratungen dann tatsachlich zu einer Neuausstellung des ,Geschworenen Briefes' fUhrten, ist aufgrund der schlechten Quellenlage fUr diese Jahre oftmals nicht eindeutig zu klaren.!8 Zumindest kann mit einiger Sicherheit von zwei Bearbeitungen bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts ausgegangen werden, wenn auch die Entstehungszusammenhange beider Versionen von 1434 und 1449 einige Fragen offen lassen. Ob es sich tatsachlich urn dem Wortlaut nach identische Versionen handelt, ist nicht zu beurteilen, da der jUngere Brief einzig als Fragment einer Kopie von 1452 uberliefert ist. Die Abschrift von 1452 entstammte nachweislich einem Heft oder Buch, welches fUr das Vorlesen des ,Geschworenen Briefes' an den halbjahrlichen Schwi:irtagen hergestellt worden war.!9 Auf die Frage, warum man drei Jahre nach der Ausstellung eine identische Abschrift des Briefes von 1449 fUr die Beschwi:irung herstellte, bietet sich der zeitgleiche Wechsel im Stadtschreiberamt als plausibler Grund an. Johannes Dietrich leistete am 27. September 1452 als Nachfolger von Egloff Etterlin den Amtseid als Stadtschreiber. Schon einige Wochen nach seinem Stellenantritt stellte er eine Gebrauchskopie der aktuellen Version her, welche er dann fUr seinen ersten i:iffentlichen Vortrag als Vorlage anlasslich der Beschwi:irung am 27. Dezember verwendete. Weit undurchschaubarer sind die Umstande, die zur Entstehung der alteren Fassung von 1434 fUhrten. 20 Die Version ist mit dem Datum vom 24. Juni 1434 versehen. Der vollstandige Text istlediglich als Abschrift im so genannten ,Silbernen Buch' erhalten. Das ,Silberne Buch' ist im wesendichen aber vor dem 19. Mai 1433 entstanden. Demzufolge kann die Version von 1434 nur nachtraglich in den Kodex gelangt sein. Das ist exakt das Resultat der jUngsten kodikologischen Untersuchung. Diese hat ergeben, dass die Lage, auf welcher die Version von 1434 geschrieben steht, erst nachtraglich eingefUgt worden ist. Sie ersetzte eine altere Lage mit den beiden altesten uberlieferten Versionen des ,Geschworenen Briefes' aus dem 13. Jahrhundert, was sowohl aus der Einleitung als auch dem Inhaltsverzeichnis des ,Silbernen Buches' hervorgeht. 2! Die kodikologische Untersuchung hat des Weiteren offengelegt, dass der Austausch der betreffenden Lagen nicht erwa, wie zu vermuten ware, zur Zeit der Entstehung 1434 erfolgte, sondern in der Mitte oder in der zwei17 IS 19 20 21
SSRQLU 112, Nr. 21S, S. lS7f. SSRQLU 112, Einleitung, S. XXX. Vg!. hierzu die Bemerkungen zur Neuedition: SSRQLU 112, Nr. 345, S. 30S-310. SSRQLU 112, Nr. 206 u. 21S, S. 174-1S0 u. lS7f. SSRQ LU 112, Einleitung, S. XLII-XLIII.
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Die ,Geschworenen Briefe' von Luzern
ten Halfte der 1450er Jahre, zu einer Zeit also, als bereits mindestens eine weitere Version des ,Geschworenen Briefes' aus demJahr 1449 existierte. Auch wenn aufgrund der fragmentarischen Oberlieferung nicht abschlieBend geklart werden kann, ob es sich bei den nach 1434 entstandenen Briefen um neue Versionen oder lediglich um identische Gebrauchskopien handelt, bedarf die Riickdatierung des Eintrags im ,Silbernen Buch' einer Erklarung. Zur weiteren Verwirrung tragt die Tatsache bei, dass bereits einige Monate nach dem angeblichen Ausstellungsdatum von 1434 der im ,Silbernen Buch' nachtraglich eingesetzten Version des ,Geschworenen Briefes' im Rat wieder iiber die Erneuerung des Briefes diskutiert wurde. Auch in den Jahren 1436 und 1442 war seine Oberarbeitung Gesprachsstoffim Luzerner Rat. 22 Mit welchem Briefhaben wir es also im ,Silbernen Buch' tatsachlich zu tun? Mit der Version von 1434, von 1449 oder von 1452? Immerhin lasst sich vermuten, dass die langwierigen Konflikte um 1430 den AnstoB zur Neuausfertigung von 1434 gegeben hatten. Unter anderem waren im Vorfeld der halbjabrlichen Eidesleistung vom 27. Dezember 1431 kritische AuBerungen laut geworden, dass der Gemeindeversammlung in der Peterskapelle der ,Geschworene Brief nicht aus einer Urkunde, sondern diesmal aus einer Abschrift vorgelesen worden war. 23 Auch die neuerliche Erwagung, den Brief nur einige Monate, nachdem er im J uni 1434 erneuert worden war, zu iiberarbeiten, war schlieBlich Ausdruck innerstadtischen Widerstandes, welcher sich angesichts der neuen Version formiert hatte. Desgleichen waren auch die VorstoBe von 1436 und 1442 zu verstehen. Sie gipfelten schlieBlich in der nur als Fragment iiberlieferten Neuausstellung von 1449. Nichtsdestoweniger wurde in den 1450er Jahren aber der Brief vom 1. Juni 1434 als die giiltige Fassung angesehen, gelangte er doch neben einer iiberarbeiteten Version des Luzerner Bundes von 1332, dem Ziircher Bund von 1351 sowie dem Zuger Bund von 1352 in das so genannte ,Silberne Buch'. Das ,Silberne Buch' war von Stadtschreiber EgloffEtterlin unter Beihilfe verschiedener Mitarbeiter 1433 angelegt worden. Es handelte sich um eine reprasentativ ausgestattete Abschriftensammlung, welche neben dem ,Geschworenen Brief und den Bundbriefen wichtige Freiheiten und Privilegien der Stadt enthielt. Was mit der originalen Urkunde geschah, ob sie nach den 1450er Jahren vernichtet wurde, ist eine weitere offene Frage. Die Abschrift im Kopialkodex legt zumindest nahe, dass der ,Geschworene Brief, wenn er am 1. Juni 1434 tatsachlich ausgestellt worden ist, sich in seiner formalen Ausgestaltung noch eng an das urspriingliche Schema des ,Geschworenen Briefes' hielt. Unter Beriicksichtigung der Caste in der Stadt werden an gewissen Stellen Biirger und Caste nunmehr
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SSRQLU 1/2, Nr. 206, S. 178f. Bern. u. Nr. 218, S. 187f. SSRQ LU 112, Nr. 206, S. 179 Bern. 7.
Die Oberlieferung
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gleichermaEen genannt. 24 Einige Neuerungen ergaben sich auch bezUglich der Rechtsinhalte der Artikel. Die neue Version wurde urn drei Bestimmungen erweitert. Diese konnen zum grogten Teil als Verscharfungen bereits bestehender Normen zur F riedenswahrung aufgefasst werden. DarUber hinaus behielt man sich nun explizit vor, den ,Geschworenen Brief bei Bedarf zu verandern. 25 So kam im Schlussprotokoll zu stehen: es were dann, das uns deheinost duchte, in disem brieff utzit ze endren, ze myndren oder ze meren, da habent wir uns selber lutter vor behan, das wir das wol tun mugend nach frigheit sag, so wir von keisern und kungen hand, und ~ns dz alles an unsren eiden nit schaden sol. Damit war klargestellt, dass der Text allein in der VerfUgungsgewalt der Gemeinde stand; Veranderungen bedurften nicht der Zustimmung des ursprUnglichen Vertragspartners bzw. dessen Nachfolger. Im Vergleich zu fruheren Modifikationen fallt ab er auf, dass im Einleitungspassus bei der Nennung der Aussteller die ,Hundert' alS politische Instanz dies mal unerwahnt bleiben. 26 In den Neuausfertigungen der 1470er und 1480er Jahre zeigen sich erstmals Ansatze, Bestimmungen uber die politische Organisation aununehmen. Eine 1474 entstandene Version ist allerdings nur als Fragment Uberliefert. Das grogformatige Pergamentheft enthalt neben den Oberresten des ,Geschworenen Briefes' von 1474 auch den jeweils zusammen mit dem ,Geschworenen Brief beschworenen Zusatz ,Unser Stadtfrid' sowie den Eid der Hundert. 27 In dieser Hinsicht aufschlussreicher, da vollstandig erhalten, ist die Neuredaktion von 1489. 28 Mit ihr wurde zum ersten Mal das Kooptationsrecht des Rats alS so genannte ,alteste Freiheit' in den ,Geschworenen Brief aufgenommen. 29 Als Briefzusatz findet sich zudem das Recht der Gemeinde verankert, in bestimmten politischen Fragen - wie der Erhebung von Steuern, bei Kriegserklarungen und im Fall einer Verpfandung der Stadt - mitzuentscheiden. Ebenso ist dort auch das Recht des Grogen Rates festgehalten, sich unter bestimmten Bedingungen auf eigene Initiative hin und ohne den Kleinen Rat versammeln zu dUrfen. 30 Eine weitere - dritte - Etappe der Textgestalt des ,Geschworenen Briefes' war damit 24 25 26 27
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Die Gleichstellung von Biirgern und Gasten im ,Geschworenen Brief' war bereits am 24. Juni 1421 beschlossen worden. SSRQLU Ill, Nr. 220, S. 311. StALU COD 1080, fo!' 15v. Vg!. auch Segesser, Rechtsgeschichte 2, S. 217ff. Vg!. a. SSRQLU 112, Nr. 206, S. 177. Vg!. SSRQLU Ill, Nr. 107a, S. 204. StALU COD 1067: Auf dem Umschlagblatt sind verschiedene, zum Teil gestrichene Bestimmungen aus der Zeit urn 1500 erhalten. Es ist unklar, ob die mit einer anderen Hand geschriebenen Artikel zum ,Geschworenen Brief' gehoren. Der Grogteil der im Innern des Heftes niedergeschriebenen Bestimmungen decken sich mit denen der Version von 1434. StALU COD 1068, fo!' 5-21. StALU COD 1068, fo!' 15. Segesser, Rechtsgeschichte 2, S. 220; Liebenau, Frischhans Teilling, S. 1-37.
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Die ,Geschwarenen Briefe' van Luzern
erreicht. Was einst als Instrument der Friedenssicherung konzipiert wurde, war nunmehr ein Dokument der politischen Verfassung der Gemeinde in Luzern. Neben verschiedenen, nachtraglich erganzten Satzungen ist der ,Geschworene Brief' von 1489 selbst nur ein Bestandteil eines mehrseitigen, groBformatigen Pergamenthefts. Ihm gehen verschiedene Mitgliederlisten des Kleinen und des GroBen Rates aus den Jahren 1474 und 1512 voran. Diese Listen wie auch die spateren Nachtrage dUrften in einem direkten Zusammenhang mit der Neuredaktion von 1489 stehen. Eine mogliche Erklarung konnte in der Beschriftung der U mschlagsseite der Handschrift liegen. Dort heiBt es: Der nuw geschworen brief!an no domini 1474. Der Inhalt besteht aber unzweifelhaft aus der Neuredaktion des ,Geschworenen Briefes' vom 24. Juni 1489. Moglicherweise war das Heft - oder zumindest sein U mschlag - ursprUnglich fUr die Neuausfertigung von 1474 angelegt worden. AuBer den Ratslisten von 1474 kam es aus ungeklarten GrUnden zu keinen weiteren Eintragen. Die auf der hinteren Seite des U mschlags niedergeschriebenen Eidesformeln gehoren vermutlich in denselben Entstehungszusammenhang. 31 Die Namen neu gewahlter Ratsmitglieder wurden spatestens seit 1489 gemeinsam mit dem ,Geschworenen Brief' anlasslich der Beschworungszeremonie vorgelesen. Das wird aus einem Anhang deutlich, in welchem erstmals auch der genaue Ablauf des halbjahrlich stattfindenden Beschworungsrituals schrifdich fixiert wird. Die Anleitung zu den verschiedenen, sich abwechselnden Sprech- und Schwurhandlungen mit den Eidesformeln der Rate, der Hundert, der Gemeinde und des SchultheiBen ist von nun an ein Bestandteil des ,Geschworenen Briefes'. In der Folge Ubernehmen alle Versionen die mit der Neuausfertigung von 1489 entstandene Form des ,Geschworenen Briefes'. Weitere Neuerungen finden sich lediglich in einzelnen Abschnitten. Nach 1500 kommt es dann ungefahr alle 25 Jahre zu einer Neubearbeitung des ,Geschworenen Briefes'.32 In dies er Zeit entstehen die festgebundenen und reprasentativen, so genannten Schwor(tag)blicher. Sie enthalten neben dem ,Geschworenen Brief' noch weitere Satzungen, Eidesformeln, Ratslisten sowie den Wordaut und die Regieanweisungen fUr den Stadtschreiber als Zeremonienmeister des Rituals. In diesen BUchern lass en sich zunehmend Bestrebungen erkennen, die Besetzung der politischen Amter immer detaillierter aufZufuhren sowie die einzelnen Handlungen des Beschworungsrituals von Mal zu Mal starker zu reglementieren. In gleicher Weise wird jetzt in den Blichern auch der territoriale Geltungsanspruch des ,Geschworenen Briefes' 31 32
Vg\. StALU COD 1068. StALU COD 1085 (1526); StALU COD 1090 (1550 mit Zusarzen bis 1569 van Stadtschreiber Zacharias Bletz angelegt); StALU COD 1069 (1562 van Stadtschreiber Hans Kraft angelegt); StALU COD 1070 (1550 bzw. 1575 mit Nachtragen bis 1610, Abschrift van Renward Cysat); StALU COD 1245 (1573 ebenfalls eine Abschrift van Renward Cysat); StALU COD 1095 (1575 mit Nachtragen bis 1721, ebenfalls weitgehend eine Abschrift van Renward Cysat).
Die Oberlieferung
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exakt umschrieben, indem unter der Rubrik Berftrend daj Burgerzil vnd sine limiten jeweils die Grenzen und die Ausdehnung des stadtischen Herrschaftsgebietes festgeschrieben werden. 33
2.1.3 Die verschiedenen Versionen und ihre materielle Erscheinung Die ,Geschworenen Briefe' des 16. Jahrhunderts haben formal mit den altesten Fassungen aus dem 13. Jahrhundert nicht mehr vie! gemeinsam. Die ursprlingliche Form der U rkunde hat sich im Lauf der Zeit zu einem mehrseitigen, gebundenen Schworbuch gewande!t. Trotzdem bleiben auch in den ,Geschworenen Briefen' urn und nach 1500 wesentliche Elemente der Urkunde prasent: Die Invocatio mit der Anrufung Gottes, die ,Arenga', welche die erstmalige Schriftherstellung begrlindet, und das Schlussprotokoll stehen im ,Geschworenen Brief' nach wie vor an ihrem Platz. Den genannten Teilen des Protokolls kommt besonders im Hinblick auf die Koharenz der urkundlichen Rechtshandlung eine zentrale Bedeutung zu, dadurch dass sie Auftakt und Ende der riruellen Schwurhandlungen feierlich verklinden. Was jedoch die Anordnung der normativen Aufzeichnungen anbe!angt, lassen sich interessante Neuerungen erkennen. Die einze!nen Bestimmungen werden in dieser spateren Zeit nicht mehr als FlieBtext, sondern optisch voneinander getrennt angeordnet, wobei jeder Artike!anfang mit einer Rubrik versehen wird. Man war zunehmend darum bemliht, die einze!nen Normen libersichtlicher anzuordnen und mitte!s der Rubrizierung das Auffinden bestimmter Artike! zu erleichtern, sei es flir die Vorlesung anlasslich der Beschworung oder flir den alltaglichen Rechtsgebrauch. Seit 1474 ist diese Darstellungsweise in alien Versionen nachweisbar. Auch in seiner auBeren Gestalt und Materialitat war der ,Geschworene Brief' augenfalligen Wandlungen unterworfen. Seine altesten Versionen in Form der lateinischen und der volkssprachlichen Pergamenturkunde aus dem 13. Jahrhundert drlicken in ihrer auBeren Erscheinung feierliche Unantastbarkeit aus. Beide knlipfen inhaltlich und sicherlich auch optisch eng an die verlorene Originalurkunde von 1252 an. Nach 1400 lost sich die Urkunde dann formlich vom Pergamentgrund ab. Es entstehen mehrseitige handliche Papierhefte, in welche die lateinische und die deutsche Urkunde als gleichwertige Fassungen nacheinander abgeschrieben werden. Die Wahl zweier unterschiedlicher Layouts, vor allem bei der Darste!lung der normativen Aufzeichnungen, darf als Ausdruck eines verstarkten Interesses an der volkssprachlichen Version gedeutet werden. Allein die deut-
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StALD COD 1085, fol. 2v.
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Die ,Geschworenen Briefe' von Luzern
sche Neubearbeitung von 1434, auch wenn sich ihre Entstehungsumstande nicht klaren lieBen, findet schlieBlich als Abschrift Eingang in das ,Silberne Buch'. Spatestens damit wird der ,Geschworene Brief' sichtbar in den Kreis weiterer wichtiger Privilegien, Freiheiten und Bundesbriefe eingereiht. lm Gegensatz zu den feierlichen und reprasentativen Urkunden beziehungsweise Kodizes zeugen die liberlieferten Handschriften aller nach 1450 entstandenen Versionen von praktischer Benutzbarkeit. Etliche Streichungen, Erganzungen, verschiedene Zeichen und Verweise sowie Randbemerkungen wie blipt und liisen weisen auf ihren konkreten Gebrauch anlasslich der Beschworungszeremonie hin, so dass die Darstellung dieser Zeremonien neben dem rechtlichen Gehalt des ,Geschworenen Briefes' lnhalt der Schwortagblicher ist, was sich erstmals besonders deutlich in der Version von 1489 zeigt. 34 Darliber hinaus lasst sich an den verschiedenen Gebrauchsspuren aber auch eine veranderte Einstellung zur Schriftlichkeit und Materialitat des ,Geschworenen Briefes' ablesen. So zeigt sich in den redaktionellen Bearbeitungen die Absicht, durch Modifikationen und Neuerungen das Schriftliche sogleich veranderten Erfordernissen anpassen zu wollen, noch bevor man die Herstellung einer ganzlich neuen Version anstrebte. Vereinzelt kam es zu Modifikationen mittels Streichungen schon in den Vorlaufern der Schwortagblicher. 35 Nicht zuletzt boten ihre leeren Seiten genligend Raum fur die Aufnahme von Zusatzen und weiteren Satzungen, welche in die Nahe des ,Geschworenen Briefes' und seiner Legitimitat gerlickt werden sollten. Der ,Geschworene Brief' zeigt in seiner Oberlieferung vom 13. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts eine auBerordentliche Entwicklung im lnhaltlichen wie in seiner auBeren Gestaltung. Mit den Versionen aus der zweiten Halfte des 15. Jahrhunderts wird der ,Geschworene Brief' immer mehr zu einem politischen Herrschaftsinstrument der stadtischen Obrigkeit und lost den Textinhalt von jedem Konnex zu adligen Herrschaften, deren Herausdrangen aus der Stadt sich in den veranderten Gebrauchsmodi und Versionen der Schrift widerspiegelt. Gleichwohl bleibt der Anspruch bestehen, durch einen ,alten' Text die stadtische Verfassung zu begrlinden. Der ,Geschworene Brief' erlaubt somit zweierlei: Legitimitatsstiftung durch Tradition und Akkommodation an geanderte Verfassungen durch Neuerungen. Die Wandlungsfahigkeit des Textes schafft unterschiedliche Gebrauchsmodi; der Text bleibt gleichwohl dem Anspruch verhaftet, den Zustand der Zeit seiner Entstehung zu konservieren. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts zeigt si ch auch eine Tendenz, den Text noch starker als bisher an die mlindliche Rechtskultur anzubinden. Die Beschworung wird in dieser Zeit Bestandteil des Textes. Bei den mit dem Luzerner Wappen und den Standesfarben Blau-WeiB ausgestat-
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StALU COD 1068. Vg!. SSRQLU Ill, Nr. 107a u. b, S. 204f.
Die beiden altesten Versionen des ,Geschworenen Briefs'
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teten Versionen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts wird dem territorialen Geltungsanspruch auch visuell Ausdruck verliehen. Sie haben mit den Urkunden des 13. Jahrhunderts kaum mehr gemeinsam, als dass es sich jedes Mal urn den ,Geschworenen Brief von Luzern handelt.
2.2 Die beiden altesten Versionen des ,Geschworenen Briefes' und ihre kommunikativen Konzepte Die Unterschiede wie auch die Gemeinsamkeiten der beiden aus dem 13. Jahrhundert liberlieferten Versionen des ,Geschworenen Briefes' bedlirfen in verschiedener Hinsicht einer Klarung. Dazu zahlen insbesondere Fragen nach dem Bedeutungswandel und dem konkreten Gebrauch des ,Geschworenen Briefes' im Spannungsfeld von schriftlicher und mlindlicher Kommunikation. lm Folgenden sollen seine alteste lateinische und die etwas jlingere volkssprachliche Version aus der Zeit nach der erstmaligen Ausstellung im Jahre 1252 im Zentrum des Interesses stehen. Dies vor allem deshalb, als die Dbertragung lateinischer Urkunden in die Volkssprache allgemein als ein entscheidender Schritt im Verschriftlichungsprozess gewertet wird. 36 Aufgrund der Quellenlage konnen Gebrauch und Funktionen dieser frlihen Ausgaben nur indirekt aus der sprachlichen und redaktionellen Differenz abgeleitet werden. Dazu ist es unumganglich, auch neuere sprachwissenschaftliche Methoden in die Untersuchung mit einzubeziehen, welche vermehrt die kulturellen Praktiken im Umgang mit rechtssprachlichen Texten in den Mittelpunkt stellen. 37 Die beiden altesten liberlieferten Versionen des ,Geschworenen Briefes' aus dem 13. Jahrhundert gehoren zum ,Corpus der altdeutschen Originalurkunden' und erfuhren in philologischen Untersuchungen zur Syntax lateinisch-deutscher Parallelurkunden bisher einige Beachtung. 38 Dabei wurden die Luzerner Urkunden neben dem Mainzer Landfrieden und der Kulmer Handfeste zum Typus der ,Rechtsordnungen' beziehungsweise der ,gesetzgebenden Urkunden' gezahlt. Insbesondere die zahlreichen normativen Bestimmungen lieBen den Slihnevertrag als
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So beispielsweise Reiffenstein, BegrUndung, 5. 662. Vg!. hierzu den Sammelband von Ursula Peters (Hg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450, Stuccgart/Weimar 2001. Desgleichen die unlangst von Hubert Foerster und Jean-Daniel Dessonaz veroffendichten Kongressakten zur Freiburger Handfeste: Die Freiburger Handfeste von 1249. Edition und Beitrage zum gleichnamigen Kolloquium 1999, Freiburgl Schweiz 2003. Zum Problem der Sprache in volkssprachlichen RechtsaufZeichnungen ist besonders der Beitrag von Waiter Haas zu erwabnen: Haas, Sprache, S. 341-368. Corpus Nr. 26, Nr. 26A u. B. Das Folgende stUtzt sich auf die neuesten ausfUhrlich kommentierten Editionen in: SSRQLU 111, Nr. 4 u. 5, S. 6-14.
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Die ,Geschworenen Briefe' von Luzern
eine dem Stadtrecht verwandte Form der Rechtsordnung erscheinen. 39 Trotz des unterschiedlichen Satzbaus und gewisser U nterschiede in T eilen des U rkundenformulars wurde bei Texrvergleichen immer wieder die enge Beziehung zwischen der lateinischen und der deutschen Version herausgestellt. In der Annahme, dass es sich inhaldich in beiden Fallen urn Rechtstexte handele, ging man mehr oder weniger von einer Obertragung des Lateinischen ins Deutsche aus und bezeichnete beide Versionen in der Folge als so genannte ,Parallelurkunden'. 40 Diese Einschatzung stellt sich bei genauerer Priifung als voreilig heraus. Der Bestand an Normen weist inhaltlich zwar groBe Obereinstimmungen in beiden Urkunden auf, dennoch lassen sich beziiglich der inneren Struktur und der Reihenfolge der einzelnen Artikel einige signifikante Abweichungen feststellen, welche in die bisherigen Oberlegungen keinen Eingang fanden. Zum einen weist die volkssprachliche Version eine zusatzliche Bestimmung auf. Zum anderen lass en stilistische und sprachliche Unterschiede die deutsche Version weit mehr als eine bloBe Obersetzung der lateinischen erscheinen. Und nicht zuletzt erhielt die erstmalige Verschrifdichung des Siihnevertrags in der Volkssprache bisher zu wenig Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang haben lediglich die Arengen der ,Geschworenen Briefe' mit ihren ausfiihrlichen Begriindungen der Schriftlichkeit einige Beachtung gefunden. Dabei kamen auch die unterschiedlichen kommunikativen Konzeptionen zur Sprache, die der lateinischen und volkssprachlichen Aufzeichnung im Spannungsfeld von miindlicher und schrifdicher Rechtskultur zu Grunde liegen.41 Insgesamt gesehen miissen beide Fassungen als eigenstandige redaktionelle Oberarbeitungen des Urtextes aufgefasst werden und nicht, wie haufig angenommen, als lateinisch-deutsche Parallelurkunden.
2.2.1 Bedeutungsverschiebungen: Omnia iudicanda und gesetzede Im Folgenden sollen die Bedeutungsverschiebungen beider Versionen aus dem 13. Jahrhundert herausgearbeitet werden. Insbesondere Ruth Schmidt-Wiegand hat unter anderem am Beispiel des Mainzer Reichslandfriedens, welcher wie der ,Geschworene Brief dem Typus der ,Rechtsordnungen' zugerechnetwerden kann, die Funktionalitat volkssprachlicher Texte vorgestellt, wie sie sich aus sprachlichen und stilistischen Verschiedenheiten der einzelnen Versionen ableiten lasst. 42 Anhand dieser bereits erprobten Kriterien soll das Verhaltnis von lateinischer und 39 40 41 42
Schulze, Parallelurkunden, S. 112. Vg!. v.a. Schulze, Parallelurkunden, S. 112. Reiffenstein, Arengen, S. 182f.; Ders., Begriindung, S. 659f. u. 666f.; Schulze, Parallelurkunden, S. 112f. Schmidt-Wiegand, Recht, S. 157-165.
Die beiden altesten Versionen des ,Geschworenen Briefs'
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deutscher Version des ,Geschworenen Briefes' diskutiert werden. Damit rlicken zwangslaufig die sprachlich-kommunikativen Konzepte und der unterschiedliche SteUenwert der normativen Aufzeichnungen im allgemeinen Prozess der Verschriftlichung ins Blickfeld. 43 Beim Vergleich der lateinischen mit der deutschen Urkunde lassen sich an einigen SteUen Variationen bei der Wortwiedergabe feststeUen. 44 AusmaB und Wirkung der jeweiligen Abweichungen sind sehr unterschiedlich zu bewerten. Eine untergeordnete RoUe spielen besonders Synonyme, da ihr Gebrauch den Rechtsinhalt der Urkunde meist nicht tangiert und ihnen im Hinblick auf die sprachlichkommunikativen Konzepte keinerlei Bedeutung beizumessen ist. So wird beispielsweise separando und dividentem in der volkssprachlichen Version beide Male mit scheiden libersetzt. 45 Anders verhalt es sich demgegenliber mit der unterschiedlichen W ortwahl bei Bezeichnung des U rkundeninhaltes in der lateinischen beziehungsweise der volkssprachlichen Version des ,Geschworenen Briefes'. Es sind dies sprachliche Varianzen, die bisher erstaunlichetweise in den philologischen und rechtshistorischen Untersuchungen des Briefes nicht zur Kenntnis genommen wurden. Wmrend die lateinische Urkunde das schrifdich Vereinbarte an mehreren SteUen mit Ausdrlicken wie nostram inhibitionem, omnia iudicanda, omnia supradicta umschreibt, spricht die mittelhochdeutsche Urkunde an den gleichen SteUen einheidich von gesetzede beziehungsweise gesetzide. 46 Die klassische Datierungsformel am Schluss der Urkunde acta sunt hec an no dominj { .. J wird in der volkssprachlichen Version zu dis& gesetzide beschach in dem jare { . .]. Auf seinen semantischen Gehalt hin befragt, kann das Wort gesetzede im Sinn einer vertraglichen Vereinbarung verstanden werden - wie die ursprlingliche Einung zwischen Vogten und Stadt, die zur erstmaligen AussteUung des ,Geschworenen Briefes' 1252 geflihrt hatte, eine gewesen sein muss. Genauso kann gesetzede aber in der Wortbedeutung von ,gesetzlicher Verfligung' verwendet werden, wie es gleichermaBen fur eine echte Stadtrechtsurkunde zu erwarten ware. 47 Ob mit dieser Modifikation letzdich eher der legislative oder eher der vertragliche Charakter hervorgehoben werden soUte und ob dies im Hinblick auf eine eventueU veranderte Bedeutung der deutschen Fassung geschah, muss vorerst dahin gesteUt bleiben.
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Steinbauer, Rechtsakt, S. 13. !ch danke Udo Kiihne fiir die Unterstiitzung in philologischer Hinsicht. SSRQ LU 111, Nr. 4 u. 5, S. 6-10 bzw. 10-14. Vg!. SSRQ LU 111, Nr. 4 u. 5, S. 9 bzw. 13. Wiirterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache, Artikel ,gesetzede', Bd. 1, S. 673.
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Die ,Geschworenen Briefe' von Luzern
2.2.1.1 Verdoppelungen und formelhafte Ausdrucksweisen
Als ein wichtiges sprachliches Gestaltungsprinzip einer fruhen Verschriftlichung von Rechts- und Geschaftsvorgangen wird die Verwendung von Doppel- und Mehrfachausdrucken hervorgehoben. 48 Solche Wortverbindungen, die haufig als Paar- oder Zwillingsforrneln bezeichnet werden, lassen sich sowohl in der lateinischen als auch in der deutschen Version an rnehreren Stellen finden. Dabei beschreiben die se forrnelhaften Wendungen wie Nos und rechtlos, consilium vel auxilium, verbo vel opere, infra civitatem vel extra und anderes rnehr, nicht nur Gegensatze, sondern auch synonyrne Verdoppelungen. 49 Ihr Gebrauch wird allgernein als ein aus vorliteraler Zeit starnrnendes Variationsverfahren charakterisiert, das in pragrnatischer wie auch in nicht pragrnatischer Schriftproduktion gleicherrnaRen haufig verwendet wurde. Hierrnit sollte der Mangel an abstrakter Begriffiichkeit, wie er irn 13. Jahrhundert irn Bereich der Rechtssprache vorherrschte, ausgeglichen werden. 50 Besonders durch das Zitieren eines volkssprachlichen Doppelausdrucks elos und rechtlos in der lateinischen Urkunde wird ihre Provenienz aus der vor Gericht gesprochenen Volkssprache deutlich erkennbar. 51 Forrnelhafte Wiederholungen, Urnschreibungen sowie Konkretisierungen allgerneiner wie rechtlicher Art pragen rnit ihrer Redundanz die fruhe, rechtserhebliche Schriftproduktion - zu der auch die altesten Versionen des ,Geschworenen Briefes' zu zahlen sind. Durch ihre Einpragsarnkeit konnten sie als rnnernotechnische Stutzen dazu beitragen, den fur die rnundliche Rezeption bestirnrnten Urkundenwortlaut bei Bedarf leichter zu reproduzieren. 52 Vor allern Ursula Schulze hat darauf hingewiesen, dass sich hinter dies en Wortverbindungen, ungeachtet ihrer Forrnelhaftigkeit, rneist keine stabilen Kornbinationen verbergen. 53 Diese Flexibilitat irn Urn gang rnit Paar- und Zwillingsforrneln lasst sich auch anhand der beiden altesten Versionen des ,Geschworenen Briefes' beobachten, indern nahezu alle Wortverbindungen der lateinischen Urkunde nach ihrer Obertragung in die Volkssprache in exakt urngekehrter Reihenfolge erscheinen. Consilium vel auxilium wird zu helfe old rat, lapidem sive baculum zu mezser ald swert, infra civitatem vel extra zu vor der stat aId in der stat, rebus mobilibus et immobilibus zu ligenden
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Zur Untersuchung der mehrgliedrigen Ausdrucksweisen in der deutschen Urkunde des ,Geschworenen Briefes' vg!.: Matzinger-Pfister, Paarformel, S. 50 u. 133. Schulze, Varianz, S. 51. Vg!. auch die zahlreichen Beitrage von Schmidt-Wiegand: Dies., Sprachgebarden, S. 91; Dies., Artikel ,Paarformeln', in: Handworterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 3, Sp. 1387-1393. Schulze, Varianz, S. 48. SSRQ LU 11 I, Nr. 4, Art. 3, S. 6. Schmidt-Wiegand, Recht, S. 159. Schulze, Varianz, S. 49.
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und verndem guote etc. Als ein weiteres Prinzip lasst sich die Zusammenlegung zweier getrennter Doppelausdriicke zu einer mehrgliedrigen Kombination beobachten. Die neue melodiose Formellautet dann mezser aid swert, stab aid stein. 54 Ganz allgemein spielen formelhafte Ausdrucksweisen in der volkssprachlichen Version eine groBere Rolle. Der Schreiber der deutschen Version entschied sich an sieben Stellen zusatzlich fur Formulierungen mit Doppelausdriicken, wo in der lateinischen Vorlage keine vorgesehen waren. 55 In der volkssprachlichen Arenga fugte er die alte Formel ndtz und vrome ein. Es ist dennoch voreilig, hinter der erhohten Formelhaftigkeit der Urkunde eine bewusste Versrarkung des miindlichen Duktus fur den offentlichen Vortrag zu sehen. Nicht zuletzt hangen solche Varianzen und der Sprachstil auch von den Umsetzungsspielraumen und dem sprachlichen Gestaltungsstil des Schreibers ab. Dazu sind auch regionale Gepflogenheiten der stadtischen Kanzlei zu rechnen, iiber die fiir das 13. Jahrhundert allerdings nur MutmaBungen angestellt werden konnen, da weder iiber den Schreiber noch den Dbersetzer etwas bekannt ist. 56 Gleichwohl weisen die erfassten Dberlieferungsvarianzen auf die sprachliche Beweglichkeit der rechtsrelevanten Urkunden und zugleich auf das Fehlen einer standardisierten Rechtssprachlichkeit in dieser Zeit hin. Besonders in den als Gedachtnisstiitze fungierenden Doppelausdriicken macht sich das Oszillieren der mittelalterlichen Rechtskultur zwischen miindlicher Rechtshandlung, schriftlicher Fixierung und miindlicher Rezeption bemerkbar. Dieser Wechsel zwischen miindlichen und schrifdichen Gebrauchsformen sei es, so Schulze, der die Beweglichkeit des Textes mit veranlasse. 57
2.2.1.2 Die Statutenreihenfoige und der Gebrauch von Modaiverben
Auch zur Statutenreihenfolge und zur Akzentuierung in den jeweiligen Sanktionen lassen sich interessante Divergenzen feststellen. Die Reihenfolge der vierzehn ersten der insgesamt fast zwei Dutzend Artikel wurde bei der Dbertragung in die Volkssprache mit Ausnahme einer zusatzlichen Bestimmung unverandert iibernommen. 58 Die hier interessierenden Veranderungen betreffen also vorwiegend die Artikel aus dem letzten Drittel der lateinischen U rkunde, die schliemich in das
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SSRQ LU 1/1, Nr. 5, S. 11 bes. Art. 4. Vg!. a. Schulze, Varianz, S. 57. In den Art. 2, 9, 13, 15, 20 und 23 wurden in Abweichung zur lateinischen Vorlage Doppelausdriicke als sprachliche Gestaltungsmittel eingesetzt. Vg!. SSRQLU Ill, Nr. 5, S. 10fT. Vg!. die Bemerkungen von Waiter Haas zur Sprache der deutschen Dbersetzung der Freiburger Handfeste: Haas, Sprache, bes. S. 345-368. Vg!. Schulze, Varianz, S. 53. SSRQLU 1/1, Nr. 5, S. 11 Art. 12.
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Schlussprotokoll mUnden. Diese Artikel wurden in der deutschen Neuausfertigung nicht nur umgestellt, sondern sind auch in ihrer inneren Struktur teilweise verandert worden. Ein den Umstrukturierungen zu Grunde gelegtes Ordnungsprinzip lasst sich auf Anhieb allerdings nicht erkennen. Als inhaldiche Umgruppierung kann einzig die Verschiebung zweier aufeinander folgender Bestimmungen an den Schluss der deutschen U rkunde aufgefasst werden. In beiden Fallen handelt es sich urn Bestimmungen, worin die Selbstbindung der BUrger und ihre Pflicht bei der Durchsetzung der Rechtssatzungen herausgestellt werden. 59 Beide Verordnungen mUnden schlieGlich in eine aIIgemeine Bekraftigung, in der alle - BUrger, Gaste und Fremde - dazu aufgefordert werden, die Normen ze schirmen und ze gnaden. Abgerundet wird diese Passage wie ublich durch die Corroboratio und das Schlussprotokoll. Moglicherweise wollte man mit dieser Umstellung an die Gliederung der ursprUnglichen lateinischen Version des ,Geschworenen Briefes' anknUpfen, in welcher auch die Bestimmungen, die an die Selbstbindung der BUrger appellieren, den Abschluss der normativen AufZeichnungen bildeten. Vermutlich stand dem Schreiber die heute verlorene Version des ,Geschworenen Briefes' sogar als Vorlage zur VerfUgung. Bemerkenswert ist nun, dass das vom volkssprachlichen Dbersetzer verwendete WOft gesetzide im Kontext der umgestellten Gebote zur Durchsetzung und Einhaltung der Statuten, und nur hier, mehrmals erscheint. Auch im direkt anschlieGenden Schlussteil und in der Datierung wird die Bezeichnung gesetzide nochmals genannt. Der konsequente Gebrauch im Schlussprotokoll lasst eine gewisse Systematik vermuten. Dies erhoht zusammen mit den umgestellten Bestimmungen die Verbindlichkeit der volkssprachlichen Urkunde und betont deren verordnungsmaGigen Charakter. Letzteres spiegelt sich auch darin, dass fast jeder der Artikel mit solkonstruiert wird. Die Verwendung von Modalverben spielt wie beim Mainzer Reichslandfriede, der ebenfalls vor aIlem Gebote und Verbote umfasst, eine erhebliche Rolle und verweist - so meint jedenfalls Ruth Schmidt-Wiegand - auf die vor Gericht benutzte Sprache, obwohl die Modalverben bereits von der lateinischen Vorlage vorgegeben sind. 60 Ahnliche Tendenzen lass en sich auch bei den StrafankUndigungen beobachten, in denen die Hohe der BuGen als Wiedergutmachung fUr die BUrger und die Opfer festgesetzt werden. Wahrend die lateinische Sanctio jeweils zuerst die Entschadigung zu Gunsten der BUrger und dann erst die der Geschadigten ankUndigt, 59
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Art. 15 u. 16 der lateinischen Version gehen in der deutschen Version in Art. 21 u. 22 Uber. Sie betreffen die doppelte Selbstbindung def BUrger, welche die Durchsetzung der Normen beinhaltet. Die Art. 17 bis 22 der lateinischen Version gel ten als Erganzungen, die in der altesten verlorenen Version des ,Geschworenen Briefes' offenbar fehlren. Art. 15 u. 16 bildeten folglich vor dem Schlusspfotokoll das Ende des Normenkataloges im ursprUnglichen Brief. Vg!. hierzu Schmidt-Wiegand, Recht, S. 160.
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verhalt es sich in der deutschen Version genau umgekehrt. Dort liegt der Akzent primar auf der Entschadigung des Opfers. Auf die Unterschiede in der Syntax der beiden Versionen des ,Geschworenen Briefes' ist bereits hingewiesen worden. Vor allem Ursula Schulze hat in ihrer Untersuchung zur Syntax der mittelhochdeutschen Urkundensprache im 13. Jahrhundert auf die Tendenz hingewiesen, die komplexen und ineinander verschlungenen lateinischen SatzgefUge in einfachere volkssprachliche Konstruktionen aufzulosen. 61 Diese Tendenzen lassen sich nicht nur im Einleitungspassus mit der Arenga nachweisen, sondern auch im Satzbau der rechtsrelevanten Bestimmungen. Umformungen solcher Art sind von Ruth Schmidt-Wiegand im Zusammenhang mit der deutschen Version des Mainzer Reichslandfrieden als "horeroder empfangerorientiert" taxiert worden, wohl weil der leicht veranderte Aufbau eine Rezitation geradezu nahe legt. 62
2.2.1.3 ,Lebende urk!mde' zwischen Mundlichkeit und Schriftlichkeit Etwaige Veranderungen in den kommunikativen Konzepten lassen sich nicht zuletzt anhand der Unterschiede im Bauschema beider Urkunden aufZeigen. In diesem Zusammenhang haben bisher vor allem pragmalinguistische Untersuchungen versucht, die Herstellung von Urkunden und das Rechtshandeln im 13. Jahrhundert im Spannungsfeld von MUndlichkeit und Schriftlichkeit einzuordnen. In diesen Untersuchungen wurde daraufhingewiesen, dass sich Rechtshandlungen in Urkundenform - wie diejenigen anlasslich der Einung zwischen den Vogten und der Stadt - vornehmlich aus verschiedenen Sprechakten konstituierten. Die Herstellung des ,Geschworenen Briefes' ist dabei als ein Versuch zu verstehen, die komplexen miindlichen Rechtshandlungen im genormten Schema der U rkunde abzubilden und fUr kiinftige fixierte und institutionalisierte Verfahren zu ritualisieren. Den einzelnen Teilen des Urkundenprotokolls kommen unterschiedliche kommunikative Funktionen im Hinblick auf die Obermittlung der Information zu. 63 Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei die Arenga als allgemeine BegrUndung der Urkundenherstellung ein. Dies umso mehr, als sie als Teil des Urkundenprotokolls in den volkssprachlichen Urkunden des 13. Jahrhunderts nur noch selten votzufinden ist. 64 Neben der Arenga spielt auch die Kundma61 62 63
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Zur Syntax des ,Geschworenen Briefes' vg!.: Schulze, Parallelurkunden, S. 109ff u. 132ff. Schmidt-Wiegand, Recht, S. 156ff. Zu den verschiedenen miindlichen und schriftlichen Elementen und ihrem Bezug zur Rechtsfunktion der Urkunden des 13. Jahrhunderts vg!.: Schubert, Sprachstruktur, S. 14-38; Steinbauer, Rechtsakt, S. 115-119. Reiffenstein, Begriindung, S. 662.
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chungsformel eine entscheidende Rolle, welche eine kommunikative Funktion des Offentlich-Machens als unabdingbare Voraussetzung flir den Vollzug und die Sicherung der Rechtshandlung erflillt. Abgesehen davon libernehmen auch verschiedene nichtsprachliche Zeichen wie zum Beispiel das Siegel Funktionen des Kundmachens. 65 Die beiden sprachlichen Elemente des Offentlich-Machens sind in beiden Versionen eng miteinander verknlipft. Dennoch lass en sich sowohl bei der formalen als auch bei der inhaltlichen Gestaltung zwischen der lateinischen und der deutschen Version einige Divergenzen feststellen. Die herausragende Bedeutung der Arenga des ,Geschworenen Briefes' wurde schon von Ingo Reiffenstein erkannt. Diese ist umso groBer, als die Mehrheit der Urkunden aus dem 13. Jahrhundert keine Arenga besitzt. Ganz besonders trifft dies flir die volkssprachlichen Urkunden zu. Dort, wo wie beim ,Geschworenen Brief eine Arenga vorhanden ist, liberwiegt die des so genannten ,Schriftlichkeitstypus'. Auch die des ,Geschworenen Briefes' wird zum Typus der so genannten ,Schriftlichkeitsarengen' gezahlt. Diese gehen vom Topos der Verganglichkeit menschlicher Gedachtnisleistung aus und begrlinden die Urkundenerstellung mit dem Hinweis auf die Nlitzlichkeit von schriftlichen Aufzeichnungen, welche den Rechtshandlungen Dauer verleihen konnen. 66 Die lateinische und deutsche Arenga des ,Geschworenen Briefes' lautet: Cum in tanta rerum mutabilium varietate omnes actus mortalium audiendo disci nequeant et teneri memoria, mediante presenti scripta sciat presens etas et discat fotura posteritas [. . .}. 67 Want von der welte wandelunge aller der luite getat und gewerb mit des cites umbelofi verswinet, daz man nut ellu ding v(l?llekliche in gehuigede mag behaben, dar umbe wart du schrift vunden, daz si t(l?t/icher dinge lebende urkunde m(l?chte geben. Dar umbe sun wizsen alle, dien es ze wizsenne nutze und vrome ist [. .. }. 68
Der ,Geschworene Brief wurde mehrfach als besonders aussagekraftiges Beispiel flir die unterschiedliche Gestaltung von lateinischer und volkssprachlicher Arenga angeflihrt. 69 Im Gegensatz zur lateinischen Arenga, die, in ein groBeres Satzgeflige eingebunden, flieBend in die Publicatio (sciat presens etas et discat futura posteritas) und in die Narratio (quod nos [... D libergeht, ist die deutsche Arenga syntaktisch und inhaltlich aus dem Kontext herausgelost. In ihr werden alte und neue Motive zu einem allgemeingliltigen, feierlichen Leitspruch verdichtet. Aufschlussreich im 65 66 67 68 69
Steinbauer, Rechtsakt, S. 147. Vg!. Reiffenstein, Arengen, S. 177-192; Ders., Begriindung, S. 659-669. SSRQLU 1/1, Nr. 4, S. 6. SSRQLU 1/1, Nr. 5, S. 10. Reiffenstein, Arengen, S. 182f.; Ders., Begriindung, S. 659; Schulze, Parallelurkunden, S. 112f. u. 132f.
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Hinblick auf die kommunikativen Konzepte sind die Argumentationsweisen, mit denen die Herstellung des jeweiligen Schriftstiickes begriindet wird. Die lateinische Version berichtet, dass durch bloBes Horen die veranderlichen Taten der Sterblichen nicht gelernt und im Gedachtnis behalten werden konnen. Die Gegenwartigen und die Kiinftigen seien deshalb durch Vermittlung dieses materiell greifbaren Schriftstiickes (mediante presenti scrip to) zu unterrichten. 70 Demgegeniiber beginnt die deutsche Arenga allgemein mit dem Lauf der Zeit und dem Wandel aller Dinge, welche das Gedachtnis nicht zu fassen vermag, urn damit schliemich die Erfindung der Schrift iiberhaupt zu erkiaren. Dar umbe wart du schrift vunden, daz si t{l!t/icher dinge iebende urklmde m{l!chte geben,71 wie die "hochst wirkungsvoll antithetisch zugespitzte Formulierung lautet".72 Wahrend die Unvollkommenheit menschlicher Rezeptionsleistungen im einen Fall mit einem gegenwartigen Schriftstiick kompensiert wird, erfahrt die Kompensationsfahigkeit der Schrift im zweiten Fall, und hier ist die Volkssprache gemeint, eine Steigerung, indem sie als befahigt erscheint, von Dingen, die, weil vergangen, als todlich bezeichnet werden, eine Urkunde zu geben, die, weil unverganglich, als lebendig bezeichnet wird. Die Dichotomie ist damit kontrar zur iiblichen Vorstellung von den ,toten Buchstaben'. Diese sind es vielmehr, die das ephemere gesprochene Wort in Permanenz iiberfiihren, also erst ,lebendig' machen. Zum Leben erwecken muss die Urkunde der Mensch. lm Fall von Luzern diirfte dies der Schreiber oder eine des Lesens kundige Person gewesen sein. Sie transponieren das schriftlich Fixierte durch ihren Vortrag wieder in die Miindlichkeit. Ganz offensichtlich war es dem Schreiber der volkssprachlichen Version ein besonderes Bediirfnis, die Wirksamkeit und die Legitimitat rechtlich-normativer Aufzeichnung in der Arenga herauszustellen. Dazu wurde der Schriftgebrauch mit einer feierlichen und pathetischen Formulierung grundsatzlich und umfassend gerechtfertigt. lm lateinischen Kontext wurde das als weniger notwendig angesehen. Es ist gerade diese profunde Legitimierung der normativen Aufzeichnungen, die zeigt, wie wenig selbstverstandlich ein derartiger volkssprachlicher Schriftgebrauch im 13. Jahrhundert noch war. Nichtsdestotrorz zeigt sich in der nachfolgenden Publikationsformel die Absicht umso deutlicher, das schriftlich Fixierte offentlich zu machen. So artikuliert die deutsche Urkunde die Kundmachung als ein deutlich von der Arenga abgeserztes Satzgefiige und hebt zu einer formelhaften Synthese an: dar umb sun wizsen aiie, dien es ze wizsenne nlttze und vrome ist. Dagegen lautet ihre lateinische Entsprechung lapidar: sciat presens etas et discat fotura posteritas. Trotz dieser Ab-
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SSRQ LU 1/1, Nr. 4, S. 6 (Zeile 19). SSRQLU ]/1, Nr. 5, S. 10 (Zeile 22f.). Reiffenstein, Arengen, S. 182.
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setzung voneinander bleiben in der Volkssprache die Verklindigungsformel und die Arenga logisch miteinander verbunden, so dass mit der Erklarung der Genese der Schrift praktisch auch ihre Bekanntmachung postuliert wird. Anders die lateinische Urkunde: In der Anrufung Jesu, der feierlich einpragsamen Arenga und der kunstvollen Verklindigungsformellost sich das komplexe Satzgeflige auf. Es moduliert am Urkundenanfang eine feierliche Sprechhandlung. Diese scheint den zeremoniellen Auftakt flir den mlindlichen Vortrag der folgenden Rechtsartikel zu bilden. Darliber hinaus lass en sich auch besondere Gemeinsamkeiten, vor allem im Verhaltnis beider Neuausfertigungen zur verlorenen Urkunde von 1252, feststellen. So imitieren beide spateren Fassungen die erste Version des ,Geschworenen Briefes', ohne wirkliche Falschungen zu sein. Mit der Nennung der erstmaligen Aussteller, der Narratio und der Datierung wird die Herstellungssituation evoziert, wie sie zur erstmaligen Ausstellung der Urkunde von 1252 geflihrt hatte. Die Umstande der Urkundenherstellung von 1252 in der lateinischen und der deutschen Version werden fiktivals eine Kompilation vorgestellt. Dabei bleiben der erweiterte Normenbestand und die jeweiligen Modifikationen beider Urkunden an den ursprlinglichen mlindlichen Handlungsrahmen der erstmaligen Aufzeichnung gebunden.
2.2.2 Rezeptions- und Gebrauchsformen Angesichts der beschriebenen Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Urkunden stellt sich die Frage nach ihrer praktischen Nutzung. Es ist zu vermuten, dass die Funktion der beiden Schriftstlicke im konkreten Kommunikationszusammenhang nicht dieselbe war. Aufgrund der Quellenlage ist lib er den Gebrauch der U rkunden im 13. Jahrhundert jedoch nichts bekannt. Auch nicht, ob bereits zu dieser Zeit die symbolischen Rechtshandlungen der Beschworung regelmaGig von der versammelten Blirgerschaft wiederholt wurden und der Urkundeninhalt vorgetragen wurde. Die Herstellung einer in verschiedener Hinsicht modifizierten volkssprachlichen U rkunde nur einige Jahre nach der lateinischen Version lasst zumindest auf ein starkes Interesse am ,Geschworenen Brief schlieBen. Im Folgenden sollen die moglichen Vermitdungsverfahren und Gebrauchsformen der beiden Versionen erortert werden. Dabei ist jeweils auch nach dem Stellenwert des Schriftstlickes zu fragen, welcher diesem innerhalb der unterschiedlichen Verfahren und im Prozess der Veroffendichung zukam. Diesem Vorgehen liegt die Pramisse zu Grunde, dass die Wahl von unterschiedlichen sprachlichen Gestaltungsmitteln Rlickschllisse auf die kulturelle Praxis im Umgang mit diesen Texten ermoglicht. 73
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Was den Gebrauch der lateinischen Version anbelangt, so ist von einem ,Abfolgemodell' auszugehen, wie es auch flir andere urkundliche Friedensordnungen und Rechtsweisungen des 12. und 13. Jahrhunderts herausgearbeitet wurde?4 Den mlindlichen Rechtshandlungen in der Volkssprache und symbolischen Handlungen folgt hierbei die Au&'eichnung in lateinischer Sprache gemag dem modellhaften Schema der Urkunde. So werden beispielsweise bei den alljahrlichen Beschworungen der Inhalt der Urkunde und mit ihm die vereinbarten Normen wieder in die Volkssprache transponiert. 75 Die schriftliche Au&.eichnung wird also in der erinnernden Wiederholung wieder in die Mlindlichkeit liberflihrt. Die lateinische Urkunde dient dabei als greifbares und sichtbares Zeichen (presenti scripto) der Authentizitat der Rechtshandlung und stellt bei der mlindlichen Vermitdung ihres Inhaltes eine Art Protokoll zur Gedachtnisstlitze dar. Der gesprochene Wordaut muss demzufolge von Mal zu Mal variiert haben. Dies, obschon die mlindliche wie die schrifdiche Fassung von den Rezipienten jedes Mal als identisch aufgefasst worden sein dlirfte. Nicht die Urkunde und ihre wortgetreue Wiedergabe, sondern der mlindliche Vorgang hat sie verbindlich gemacht. Dabei waren es neben den reinen Sprech- auch gestische Handlungen wie der Eid, die anwesenden Zeugen und das Siegeln, die konstitutiv wirkten. Mit der lateinischen Version des ,Geschworenen Briefes' ist fraglos ein komplexes Zeichen der rechtsrelevanten Sprechhandlungen der Einung von 1252 entstanden. Sein inhaltliches Kernstlick, die hier erstmals schriftlich fixierten Rechtsnormen, konnten jederzeit durch die mlindliche volkssprachliche Wiedergabe oder die eidliche Beschworung offendich gemacht werden. Dabei dokumentierte das Schriftstlick vor allem als materialisiertes Symbol die Rechtsgliltigkeit der Sprechhandlung. Diese Sprechhandlung, der von Anfang an ewige Geltung zugedacht war, konnte von nun an regelmamg wiederholt werden, freilich ohne dass die Vogte an der Wiederholung des Eides beteiligt gewesen waren. Jederzeit ins Gedachtnis gerufen werden konnten dabei auch die grundlegenden Rechtsnormen, die womoglich schon langst in der miindlichen Rechtspraxis verankert waren. Dies alles sind denkbare Gebrauchsformen, die im kommunikativen Konzept der Urkunde angelegt sind. Ihre Benutzung war oh ne die mlindliche Dbersetzung durch eine latein- und lesekundige Person allerdings nicht zu bewerkstelligen. Da die Stadt im 13. Jahrhundert liber keine dazu geeignete Amtsperson verfugte, wurde daflir wahrscheinlich
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Schulze, Varianz, S. 47ff. Vg!. auch die Oberlegungen zur Rezeption des Mainzer Landfriedens von Ruth Schmidt-Wiegand: Schmidt-Wiegand, Recht, S. 147ff. Vg!. hierzu die Ausfiihrungen zum Gebrauch des Bayerischen Landfriedens von 1094, der Regaliendefinition von 1158 und den volkssprachlichen Stadtrechten wie beispielsweise des Freiburger Stadtrechts. Vg!. Schulze, Varianz, S. 58-62. Reiffenstein, Begriindung, S. 660.
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von Mal zu Mal ein Geisdicher aus dem Kloster im Hof oder ein Weltgeisdicher herangezogen. Auch die Gebrauchsformen der volkssprachlichen Version sind, trotz des bestechenden Pladoyers fur die Schrift als neues Medium, stark von den GesetzmaBigkeiten mlindlicher Kommunikation gepriigt. Anders als in der lateinischen Urkunde, lieBen sich aber schon auf der Ebene von Satzstruktur und sprachlicher Ausgestaltung verschiedene Reflexe der gesprochenen Sprache feststellen. Sie sind als Indiz daflir zu werten, dass die deutsche Urkunde flir den mlindlichen Vortrag bestimmt war. Dies spiegelte sich auch in der hervorgehobenen Stellung der Kundmachungsformel wider. Aufgrund ihrer strukturellen und sprachlichen Divergenzen wird auch die kommunikative Funktion, die das jeweilige Schriftstlick im mlindlichen Vermittlungsprozess libernahm, sehr unterschiedlich gewesen sein: Das lateinische Schriftstlick diente dem Vortragenden anlasslich des Beschworungszeremoniells als eine Art Gedachtnisstlitze. Die volkssprachliche Urkunde machte auf der anderen Seite eine unabhangige wortliche Rezitation - je nach Geschick des Sprechenden - des Textes moglich. Im ersten Fall libernahm die Urkunde mehr oder weniger die Rolle eines Handlungsrequisits und verkorperte als greifbares Zeichen die RechtmaBigkeit der Handlung. rm zweiten Fall bildete sie darliber hinaus auch die konkrete Anleitung flir den Vortrag. Handlungsorientierte Gebrauchsformen beziehen ihre rechdiche Geltungskraft mehrheitlich aus der Rahmenhandlung der Urkundenherstellung und den diese bestimmenden Faktoren wie Ort, Zeitpunkt und anwesende Zeugen. Hingegen beziehen schriftorientierte Handlungsablaufe ihre Legitimitat weniger aus der Performanz ihrer Kontextualisierung als vielmehr aus der starkeren Anbindung an das geschriebene Wort. Der praktische Umgang mit der lateinischen und der deutschen U rkunde dlirfte sich tatsachlich aber innerhalb der hier antithetisch dargestellten Handlungsformen bewegt haben. Diese lassen sich namlich nicht einfach endang der Grenze von lateinischer Sprache und Volkssprache unterscheiden. So kann keinesfalls davon ausgegangen werden, dass mit der erstmaligen Herstellung einer volkssprachlichen Urkunde sogleich die Ausbildung schriftorientierter Handlungsweisen einherging. Deren Entstehung war schlieBlich nicht nur an rein sprachliche Voraussetzungen geknlipft. Zu den hierbei beteiligten Faktoren zahlte beispielsweise der verfligbare Vortragende genauso wie die politischen und ortlichen V oraussetzungen. Die konzeptionelle Bimedialitat der volkssprachlichen Urkunde - indem sie eben auf besondere Weise Text und Objekt zugleich sein kann - wird schon in ihrer Selbstbezeichnung als ,Urkunde' deudich. Sie hat mit dem Changieren der Wortbedeutung von ,Urkunde' zwischen mlindlichem und schriftlichen Kontext zu tun. Im mittelalterlichen Sprachgebrauch wird die Bezeichnung ,Urkunde'
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haufig synonym mit ,Wortzeichen' verwendet. Beide Wortbedeutungen konnen sowohl miindliche als auch schriftliche Vereinbarungen umschreiben. Je nachdem nimmt ,Urkunde' mehr die Bedeutung eines Korperzeichens oder eines Schriftzeichens an. 76 Der gleitende Obergang von Miindlichkeit und Schriftlichkeit wird besonders dort fassbar, wo es in der Arenga programmatisch heiBt, die Absicht der Schrift sei, daz si ta:tlicher dinge lebende urk!mde ma:chte geben. Die Verwendung von urk!mde ist im rechtssprachlichen Kontext sowohl im Sinne von ,Zeuge' als auch von ,Zeugnis' nachgewiesen. 77 Im Zusammenhang ist eine Deutung als Zeugnis oder Beglaubigungszeichen des miindlichen W ortes, respektive einer miindlichen Vereinbarung plausibel. Wie wenig abstrakt das Wortzeichen entgegen seine m neuzeitlichen Wortgebrauch dabei gedacht wird, zeigt sich im adjektivischen Zusatz lebende. Die Urkunde bleibt dadurch lebende und damit korpernah, dass der anwesende Zeuge, Bote oder Schreiber mit seinem Korper fiir die Legitimitat der Rechtshandlung biirgt. Die verschiedenen, flieBend ineinander iibergehenden Wortbedeutungen von ,Korper', ,Zeuge' und ,Zeugnis'78 verdeutlichen, wie sehr sich die Urkunde in der Obergangszone von miindlicher, korpernaher und schriftlicher, sozusagen korperabstrakter Kommunikation bewegt. Letztlich wird mit der authentischen Imitation der Einung von 1252 an die urspriinglichen Handlungen angekniipft. Dies ist als Traditionsbildung zu bewerten. Erst durch die Schrift wird die Tradition aktiviert, der Text somit lebendig, die Vergangenheit dem Vergessen entrissen und so verhindert, dass diese abgestorben zuriickbleibt - ohne Wirkung auf die neuen Gegenwarten.
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Ausfiihrlich zum Bedeutungswandel von ,Urkunde' und ,Wortzeichen' zwischen Korper und Schrift, Miindlichkeit und Schriftlichkeit: Kellner, Wort, bes. S. 161-68. Deutsches Worterbuch, Artikel ,Urkunde', Bd. 11.3, Sp. 2455f. und 2458. Siehe auch Kellner, Wort, S. 164. Kellner, Wort, S. 166.
3. Orte und Institutionen politischen Handelns mit Schrift 3.1 Die Peterskapelle 3.1.1 Politische HandIungen im sakralen Raum Die Peterskapelle war das alteste Gotteshaus innerhaIb der Luzerner Stadtmauern. Am Ende des 12. Jahrhunderts hatte der Abt von Murbach auf die Leutpriesterei in Luzern verzichtet. Seitdem wurde sie jeweils mit einem vom Luzerner Benediktinerkloster im Hof gewahIten Weltgeistlichen besetzt. Dieser unterhielt neben dem Kreuzaltar in der Hofkirche auch den Gottesdienst in der Peterskapelle. I Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts wird deutlicher erkennbar, dass die Kapelle, wie dies haufig fUr mittelalterliche Kirchen zu beobachten ist, ein bevorzugter Ort fUr die Bereinigung von Rechtsgeschaften und die Herstellung von Urkunden war. 2 Die Wahl des Ortes weist auf die Einbettung der RechtshandIungen in ein religioses Umfeld hin. Zweifellos kamen dem Ort wie auch den SchriftstUcken dadurch ein bestimmtes MaB an Legitimitat und Durchsetzungskraft zu, sei es aus Traditionsbewusstsein oder aufgrund der chrisdichen Religiositat. Es versteht sich von selbst, dass mit alIen religiosen Aktivitaten im Kirchenraum die sozialen und poIitischen Dimensionen des Gemeindelebens untrennbar verbunden waren. 3 Die Peterskapelle erlangte schon zu dieser Zeit eine gewisse Bedeutung als politischer VersammIungsort und als Austragungsort von Konflikten. NachweisIich wurden wahrend der 1250er Jahre dort die immer wieder aufflackernden zwischenherrschaftlichen Spannungen zwischen den Vogten von Rothenburg, dem Kloster im Hof und der Stadt bereinigt. 4 Es wird angenommen, dass die Einung von 1252 zwischen den Vogten von Rothenburg und der Stadt, welche im dauerhaft beschworenen Stadtfrieden des ,Geschworenen Briefes' ihren Ausdruck fand,
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Vg!. allgemein zur Luzerner Peterskapelle: Fleischlin, Stifts- und Pfarrkirche; Weber, Peterskapelle; KDM LU 2/1, S. 208ff. Vg!. u.a. Ackermann, Kirchen, S. 530-545; Steinbauer, Rechtsakt, S. 154. Rau/Schwerhoff, Offentliche Raume, S. 33ff. QW Ill, Nr. 808, S. 367-370.
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in oder vor der Kapelle zustande gekommen ist. 5 Auf eine ungebrochene Bedeurung lassen die nur wenige Jahre spater vorgenommenen, weitreichenden baulichen Veranderungen an der Kapelle schlieBen, welche 1259 eine Neuweihe durch den Bischof von Konstanz notwendig machten. 6 Ob ein Zusammenhang zwischen den Umbauten an der Kapelle und der zunehmenden Bedeutung des ,Geschworenen Briefes' bestand, ist aufgrund der sparlichen Quellenlage nicht erkennbar. Immerhin WIt der Umbau der Peterskapelle in die Entstehungszeit der volkssprachlichen Version, welche aufgrund ihres miindlichen Duktus und der Charakterisierung als stadtisches Herrschaftsinstrument eine regelmaBige Verlesung und Beschworung durch die Gemeinde nahe legt. Zu einem wichtigen Ort fiir die Wiederherstellung des innerstadtischen Konsenses wird die Peterskapelle spater in den innerstadtischen Einungsbewegungen in der Krisenzeit am Ende der 1320er und zu Beginn der 1330er Jahre. Den Hintergrund der innerstadtischen Parteiungen bildete vor allem die zunehmend unklare Rechtslage zwischen der Stadt und den Vogten von Rothenburg. 7 Hauptziel der neuerlichen Schwureinungen war es demnach, die Rechte Luzerns und die der Herrschaft Osterreichs in gleicher Weise zu schiitzen und zugleich den innerstadtischen Frieden zu erneuern. 8 Die verschiedenen Schwurhandlungen in der Peterskapelle, an denen sich schlieBlich die ganze Gemeinde beteiligte, und ihre Verschriftlichung durch die Herstellung von so genannten Schwurbriefen zeigten deudich, dass damit auch eine Wiederholung der friedensstiftenden Handlungen von 1252 beabsichtigt war. Auch in der Folge sollten Konsensfindung und stadtisches Rechtshandeln haufig eng mit der Peterskapelle verbunden bleiben, wenngleich sich die Bedingungen und Spielregeln der Handlungen mit der Zeit stark veranderten. Oberhaupt entstanden viele der friihen schriftlichen Rechtssetzungen vor dem Hintergrund der Bereinigung innerstadtischer Konflikte in der Peterskapelle. Darauf weist jeweils der Zusatz actum in capella hin. 9 Haufig blieb bei dies en friihen Rechtssetzungen auch dann die Verbindung zur ritualisierten Beschworung des innerstadtischen Friedens ausdriicklich bestehen, wenn sie nicht als Schwurbrief, sondern mehr in der Form von Statutensammlungen abgefasst waren. Dariiber hinaus etablierte sich die Peterskapelle als Versammlungslokal von Rat und der an der Herrschaftsausiibung teilhabenden politischen Gemeinde. 1o So
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Vg!. Weber, Peterskapelle, S. 38. QW Ill, Nr. 849, S. 390. Vg!. a. Weber, Peterskapelle, S. 9. Vg!. Glauser, Luzern, S. 46ff. SSRQ 1/1, Nr. 15 u. 18, S. 85-88 bzw. 92-96. Vg!. hierzu SSRQLU 111, Nr. 23, S. 104. Zuletzt erwahnte Poeck in seiner Studie zu Ritualen der Ratswahl im europaischen Kontext die Luzerner Peterskapelle als Ort des stadtischen Zeremoniells: Poeck, Rituale, S. 17f.
Die Peterskapelle
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muss dort von einem bestimmten Zeitpunkt an regelmagig der Eid auf den ,Geschworenen Brief' als legitime Herrschaftsgrundlage wiederholt worden sein. 5pater wurde an den Tagen der Beschworung jeweils auch die politische Ordnung erneuert, wobei die Gemeinde die neu ernannten Ratsmitglieder allenfalls bestatigte, an ihrer Wahl aber niemals direkt beteiligt war. Vereinzelt fanden vor der Peterskapelle auch Biirgerrechtsaufnahmen statt. 11 5chliemich spielte die Peterskapelle auch fiir die 5atzungstatigkeit des Rates, die seit dem Ende des 14. Jahrhunderts mit einer gewissen Regelmagjgkeit einsetzte, eine zunehmend wichtigere Rolle. So konnten dort schriftliche Rechtssetzungen anlasslich der Gemeindeversammlung dadurch Offentlichkeit erlangen, dass sie, gleich der Normen des ,Geschworenen Briefes', vor grogem Publikum und an einem sakralen art vorgetragen wurden, wodurch ihnen ein erhohter Geltungsanspruch zuteil wurde. Regeln dariiber, welche 5atzungen wie vorgetragen werden soHten, bestanden vorerst keine. Dementsprechend vielfaltig miissen auch die Beweggriinde gewesen sein, welche im Einzelfall dazu fiihrten, dass bestimmte Rechtssetzungen offentlich gemacht wurden und andere nicht. Mehr noch als eine koharente Durchsetzung schriftlichen Rechts war mit der punktuellen Herstellung von Offentlichkeit und der Verkiindigung von N ormen wohl die Herstellung eines brei ten Konsenses in einem dynamischen und wenig gefestigten Herrschaftsgefiige verbunden. Diese Einsicht lasst sich aus der Tatsache ableiten, dass die Gemeinde oft gerade dann versammelt wurde, wenn ihre Meinung zu wichtigen oder besonders konflikttrachtigen 5atzungsvorlagen und Entscheiden eingeholt werden musste, was nicht haufig, aber hin und wieder geschah. 12 An der Herstellung der politischen Teiloffentlichkeit war schon bald der stadtische Rat dadurch maggeblich beteiligt, dass er allein das Recht beanspruchte, die Versammlung der Gemeinde in der Kapelle einberufen zu konnen.13 Auch in Luzern zeigten sich in der Folge obrigkeitliche Tendenzen, die Teilhabe der Gemeinde an der politischen Offentlichkeit in der Peterskapelle immer weiter einzuschranken und zu reglementieren. 14 Immerhin muss der Entscheidungsgewalt der Gemeindeversammlung in den ersten J ahrzehnten des 14. J ahrhunderts noch groge Autoritat beigemessen worden sein. So bestand zu dieser Zeit eine Art Rekursoder Appellationsmoglichkeit des Rates gegeniiber der Gemeinde. Dabei konnte eine Ratsminderheit, welche sich in der Ratsdebatte nicht gegen die Mehrheit hatte durchsetzen konnen, die umstrittene Entscheidung der versammelten Gemein-
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ScALU COD 3655. fa!' 19r. Vg!. hierzu Wanner. Ratsherrschaft, S. 9. SSRQLU 111. Nr. 9 Art. 109. S. 41; Segesser. Rechtsgeschichte 2. S. 171-184. Vg!' zur allgemeinen Entwicklung: Haverkamp. Offendichkeit. S. 104. Haverkamp sieht in der "keineswegs gleichartigen und gleichbleibenden chrisdichen Religiasitat und Kirchlichkeit" wesendiche Grundlagen fUr die Entstehung van Offendichkeit im Mittelalter. Ebd. S. 88.
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One und Institutianen palitischen Handelns rnit Schrift
de vorlegen. 15 Die Gemeindeversammlung konnte in wichtigen Sachfragen zwar am Ende des Spatmittelalters immer noch einberufen werden, die Verhandlungen fanden aber vor einem ausgewahlten Kreis von Gemeindemitgliedern und unter Ausschluss der Offentlichkeit im Rathaus statt. Das Prozedere ging so vonstatten, dass, nachdem die einberufene Gemeinde ihren Eid geleistet harte, jedes Mitglied des Kleinen und des Gro6en Rates einen der ehrbarsten eingesessenen Blirger aus der Gemeinde an seine Seite nahm. Der in den anschlie6enden Verhandlungen erzielte Mehrheitsbeschluss konnte dann guten Gewissens als Gemeindebeschluss bezeichnet werden. 16 Auch wenn die Veranderungen der politischen Offentlichkeit in der Peterskapelle hi er nicht im Detail nachgezeichnet werden konnen, ist in Luzern trotz unlibersehbarer obrigkeitlicher Tendenzen wohl kaum von einer linearen Entwicklung auszugehen. 17 Die andauernden Spannungen innerhalb des Rates und auch zwischen dem Rat und der Gemeinde im Verlauf des gesamten 15. Jahrhunderts, welche immer wieder urn die politischen Kompetenzen und die Formen der Partizipation insbesondere des Gro6en Rates und der Gemeinde kreisten, lassen dies mit gro6er Wahrscheinlichkeit vermuten. Gleichwohl konnte sich die Gemeinde immer auch gegen den Willen des Rates versammeln und eigene Begehren schriftlich vorlegen, was nachweislich auch geschah. 18 Die Peterskapelle war art des politischen und sakral-rituellen Handelns des Rates und der Gemeinde. Obwohl sich viele der Handlungen und ihre Funkrionen in enger Anlehnung an die Ausbildung der stadtischen Ratsherrschatt entwickelten, kann die Peterskapelle nicht als ,Ratskapelle' im engeren Sinn bezeichnet werden. Heckert definierte die Ratskapelle zuletzt als einen art fur das "heimliche Herrschaftshandeln einer Elite", 19 die sich von Blirgerkirchen und anderen stadtischen Eintichtungen unterscheide, da die Ratsmemoria und die verschiedenen Wahl- und Rechtshandlungen in einem geweihten Rahmen und unter Ausschluss der Offentlichkeit stattfanden. Abgesehen von der Frage, inwiefern die Handlungen einer exklusiven Flihrungsgruppe vor Gott liberhaupt als ,heimlich' bezeichnet werden konnen, muss die Luzerner Peterskapelle eher zu den zahlreichen Mischformen gezahlt werden, woflir sich bisher keine einheitliche Definition durchsetzen konnte. Es waren gerade die Wechselwirkungen zwischen ,heimlichen' und ,offentlichen' Handlungen, urn im Duktus von Heckert zu bleiben, welche der Peterskapelle ihr spezifisches Geprage verliehen. Das lasst sich in Luzern besonders gut am Ritual zur Schulthei6enwahl zeigen. Die Wahl des Schulthei6en fand jeweils einmal im Jahr am Johannistag im Winter, dem 27. Dezember, start. 15 16 17 18 19
SSRQLU 111, Nr. 9 Art. 243 zit. bei Wanner, Ratsappasitian, S. 4ff. StALU RP 6, fa!' 188 zit. bei Segesser, Rechtsgeschichte 2, S. 149f. Bern. 4. Vg!. Haverkarnp, Offentlichkeit, S. 104. StALU RP SA, fa!' 110v. Vg!. Heckert, Ratskapelle, S. 4ff.
Die Pererskapelle
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Nachdem der Stadtschreiber den Namen des neu gewahlten SchultheifSen verhindet hatte, verliefSen die Gemeinde und die Mitglieder des GrofSen Rates die Peterskapelle. Daraufhin leistete der neu erkorene SchultheifS seinen Eid im Beisein der verbleibenden K1einratsmitglieder vor dem Hochaltar und betete danach vor dem St. Barbara Altar. Auch wenn gewisse Teile des Rituals unter Ausschluss der Gemeinde stattfanden, waren Fortgang und Inhalt der Handlungen do ch bekannr. Zudem erlangte die Wahl dadurch eine weit iiber die Peterskapelle hinausreichende Offentlichkeit, dass die Ratsmitglieder den neu gewahlten SchultheifSen nach Abschluss der Handlungen in der Peterskapelle paarweise und unter den K1angen der Stadtmusik in einem feierlichen Umzug nach Hause geleiteten. 20 Die Peterskapelle war aber auch ein art der stadtischen und eidgenossischen Reprasentation. 2! So fand 1430 die Bundeserneuerung mit einem feierlichen Ritual im Beisein eidgenossischer Boten und Vertreter der luzernischen Landschaft im Kirchhof der Kapelle statt. Einzig Weggis, Gersau und Vitznau sandten wegen des schwelenden Rechtskonflikts zwischen Luzern und den drei Waldstatten iiber die Zugehorigkeit der drei Orte keine Vertreter zur Bundeserneuerung. 22 Abgesehen von Zeremonien wie der Bundeserneuerung oder der feierlichen Verlosung der Burgunderbeute im Jahr 1483, fanden auch andere offizielle Begegnungen zwischen Vertretern der einzelnen eidgenossischen Orte statt. 23 In den Kontext der politischen Praxis der Biindnisse und ihrer sichtbaren Reprasentation gehort schliefSlich auch die Ausschmiickung der Peterskapelle mit dem so genannten ,Arbedodenkmal'.24 Dieses Denkmal in Gestalt einer Wappentafel war nach dem Alten Ziirichkrieg urn 1450 in der Kapelle angebracht worden und sollte an die Ereignisse der Schlacht von Bellentz im J ahr 1422 erinnern. 25 Auch Diebold Schilling hat dem Motiv in seiner Bilderchronik in Bild und Text zentrale Bedeutung beigemessen. Die mit einer Kette verbundenen Wappen der beiden eidgenossischen Stande Luzern und Uri sind dabei Ausdruck ewigen Gedenkens, gegenseitiger Treue und Unterstiitzung: Werte, die gerade nach der katastrophalen Niederlage bei Bellentz auf eine harte Probe gestellt worden waren, hatten doch 20 21 22 23 24
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Vg!. Liebenau, Schultheissen, S. 68. Allgemein zur Funkrion mittelalterlicher Sakralbauren als Orte stadrischer Reprasentation vg!.: Zahlten, Sakralbauten, S. 77-91. StALU RP 4, fol.!53 v. Vg!. SSRQ LU 2/1, Einleitung, S. XXXI. Vg!. Fleischlin, Stifts- und pfarrkirche, S. 140; Weber, Pererskapelle, S. 36; Schmid, Geschichte, S.542; Die Bezeichnung ,Arbedodenkmal' hat sich erst in der historischen Literatur des 19. Jahrhundens eingebUrgert. Die zeitgenossische Zuweisung der entsprechenden Schlacht laurer ,bei Bellentz'. Vg!. Schmid, Geschichte, S. 539. Zur zentralen Bedeutung der Darstellung des Freundschaftsbildes von Uri und Luzern in Schillings Bilderchronik vg!.: Ladner, Untersuchung, S. 554f.; Schmid, Geschichte, S. 529-558. Vg!' auch KDM LU 2/1, S. 211f.
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Orte und Institutionen politischen Handelns mit Schritt
die grogen Verluste - auf luzernischer Seite ganz besonders auch unter den Ratsmitgliedern - zu heftigen Schuldzuweisungen innerhalb der Stadt und zwischen den verblindeten Eidgenossen geflihrt. Schon zum ersten J ahrestag der Niederlage hatte der Luzerner Rat eine Jahrzeit eingerichtet, welche vorerst am Tag nach St. Peter und Paul (29. Juni), dem Fest des Patrons der Peterskapelle, feierlich begangen wurde. Am Montagvor demJohannistag im Sommer sollte jeweils das groge Gebet zelebriert und eine Spende gegeben werden. Seit 1501 wurden die Jahrzeitfeier der Schlacht von Arbedo, des Kampfes urn die Letzi am Hirzel am 24. Mai 1443 und des Schwabenkrieges gemeinsam auf den Montag nach dem Johannistag verlegt. 26 Schliemich unterstrichen sowohl Jahrzeitfeier als auch Wappentafel die Funktion der Peterskapelle als Ort flir die stadtische Toten- und Schlachtenmemoria. 27 In diesem Sinn wurde die Peterskapelle zu einem ritualisierten Raum. In ihr wurde das Beschworungszeremoniell des ,Geschworenen Briefes' und das feierliche Gedenken an aktuelle Ereignisse der jlingsten Geschichte Luzerns an zwei aufeinanderfolgenden Feiertagen in eine sich wiederholende Abfolge gestellt.
3.1.2 Inszenierung von Eid und Schrift Veranderungen des raumlichen Kontextes hatten auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung des ,Geschworenen Briefes' und seine offentliche Verklindigung. "Der jeweilige Ort verlieh den situativ stattfindenden Handlungen und Kommunikationen den funktionsspezifischen symbolischen Rahmen. In dies er symbolischen Qualitat des Raums liegt es auch begrlindet, dass er, obzwar Inbegriff von Immanenz, auch als ,Symbolon' des Jenseitigen, des Utopischen fungieren kann. So bildete etwa die Einhegung des Sakralen in Gestalt der Kirche die topischinstitutionelle V oraussetzung von Kommunikation lib er T ranszendenz. Es waren somit nicht allein Bilder, Schriften usw., die als Medien Sinn vermittelten, sondern schon der Raum selbst. "28 Welche sinnstiftende Funktion das Medium Raum auslibte, lasst sich am besten anhand einer Raumbeschreibung beurteilen. Besonders aufschlussreich ist dazu eine Darstellung der Peterskapelle von Diebold Schilling in seiner Luzerner Bilderchronik (Abb. 1). Sie erlaubt einen Eindruck
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Schmid, Geschichte, S. 541. Graf, Schlachtengedenken, S. 63-69. Neben der Peterskapelle war auch die Franziskanerkirche ein Ort fur das stadtische Schlachtengedenken. 50 waren dort die eroberten Banner aus der Schlacht von Sempach im Jahr 1386 affendich ausgestellt, an welche - offenbar aufWunsch der BUrger (,cives volunt et constituerunt') - ebenfalls mit einer Jahrzeitfeier erinnert wurde. Vg!. S5RQLU I/], Nr. 52, S. 136f. Zum Aspekt von Raum und Interaktion: Dark, Raum, S. 122-132.
Die Peterskapelle
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davon, wie der Innenraum der Kapelle zu Beginn des 16. Jahrhunderts ausgesehen haben mag. Neben der auBerst detailreichen Wiedergabe der Innenausstattung scheinen die Herstellung von Offentlichkeit in der Peterskapelle und ihre spezifisch obrigkeitliche Auspragung ebenso zentrale Anliegen seiner Darstellung gewesen zu sein. Schilling zeigt Offentlichkeit unmittelbar als ritualisierte wechselseitige Handlung zwischen der Obrigkeit und der versammelten Gemeinde, wobei er dem Schriftstiick und seiner Inszenierung als Mittelpunkt der Handlung eine auBerordentliche Bedeutung beimisst. Schillings Interesse an der Peterskapelle war nicht ausschlieBlich politisch motiviert, sondern resultierte nicht zuletzt aus seiner eigenen Verbundenheit mit der Kapelle. Immerhin hatte er in der Peterskapelle im J ahr 1483 und 1496 zeitweise Dienst als Kaplan an verschiedenen Altaren verrichtet, was mit der Pflicht verb unden war, dreimal pro Woche die Messe zu lesen. 29 Er war wohl auch an den groBeren Neu- und Umbauten in der Kapelle beteiligt, welche 1511 erneut eine Neuweihung notwendig machten. In diesem Zusammenhang hatte die Stadt auch das Freundschaftsbild von Uri und Luzern auf eigene Kosten erneuern und die Fensterscheiben in der Kapelle teilweise ersetzten lassen. Als Gegengabe fiir die Erneuerung der Wappentafel hatte Uri die Stiftung von Wappenscheiben angeboten. 30 Wie kodikologische Untersuchungen der Bilderchronik ergaben, muss Schillings Bild im Jahr 1512 entstanden sein, also unmittelbar nach Vollendung der verschiedenen Umbauten und Erneuerungen an der Kapelle. 31 In seiner Darstellung fokussiert Schilling zentralperspektivisch auf den Chorbogen und Chor mit dem groBen Hauptaltar in der Mitte. Neben dem Chorbogen, auf der vom Betrachter aus gesehen linken Seite, iiber einem Tabernakel und zwischen zwei weiteren Altaren hangt leicht erhoht und gut sichtbar die Arbedowappentafel. Gegeniiber stehen auf der rechten Seite des Chorbogens ein groBes Kruzifix und ein weiterer Seitenaltar. Direkt vor dem Chorbogen und gewissermaBen im Zentrum von Schillings szenischer Handlung befindet sich uniibersehbar das Schriftstiick. Es wird umgeben von der versammelten Gemeinde, dem SchultheiBen, dem Stadtschreiber und anderen Amtspersonen. Sie treten mittels stilisierter Gebarden iiber das inszenierte Schriftstiick in einen Kommunikationszusammenhang. Der Stadtschreiber steht vor dem Hauptaltar im Chorborgen, dort, wo sich sonst der Priester aufhalt, und 29
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Pfaff, Familie Schilling, S. 538. Die Peterskapelle wird in Schillings Bilderchronik mehrmals als Motiv in Bild und Text verwendet: fol. 7v: Bau der Kapelle, fol. 68v: Teil einer Stadtansicht, fol. 61r: Abbildung der Wappentafel des ,Arbedodenkmals', fol. 264rA: Innenansicht der Kapelle gegen den Chor mit Ausstattung. Vgl. hierzu: KD M LV 2/1, S. 208ff. KDM LV 211, S. 209ff. Ladner, Vntersuchung, S. 555.
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Orte und Institutionen politischen Handelns mit Schrifi:
halt das Schriftstiick in der Hand. Der leicht abseits stehende SchultheiB deutet mit beiden Handen auf den Text, welchem durch den miindlichen Vortrag des Stadtschreibers als Zeremonienmeister akustische Prasenz verliehen wird. Die versammelte Gemeinde, die in Riickenansicht gezeigt wird, beschwi:irt den Text mit zum Eid erhobener Hand demonstrativ und bekundet damit ihre Zustimmung. Dies nicht nur von Angesicht zu Angesicht mit den Reprasentanten der politischen Ordnung, sondern auch mit dem gekreuzigten Jesus und dem ,Arbedodenkmal', welches durch seine symbolische Gestalt visuell Beziige zur luzernischen und eidgeni:issischen Historiographie herstellt.
3.2 Rathaus und Ratsstube Das mittelalterliche Rathaus und seine vielfaltigen Funktionen haben im Hinblick auf die Entstehung der stadtischen Ratsherrschaft bisher verhaltnismaBig geringes Interesse geweckt. Trotz einiger Ansatze fehlt es bislang an einer zusammenfassenden Obersicht zur Entstehung und Entwicklung der stadtischen Rathauser seit dem spateren Mittelalter - was verstandlich wird, wenn man die groBe Zahl erhaltener oder dokumentierter Gebaude bedenkt sowie die Fiille ihrer Erscheinungsformen und verschiedenen Aufgaben. Eine gewisse Beachtung haben neben einigen herausragenden Beispielen immer wieder die Innenausstattungen und der auBere Schmuck einzelner Rathauser gefunden. Dabei ist die mittelalterliche Ikonographie ausgewahlter Rathauser - soweit diese iiberhaupt umfassend rekonstruiert werden konnte - vor allem von Seiten der Kunstgeschichte im Hinblick auf die stadtische Selbstdarstellung gedeutet worden. 32 In letzter Zeit sind neben der Innenausstattung der Ratsraume auch die ratsspezifischen Handlungsweisen und politischen Rituale mit ihren zeichen- und symbolhaften Ausdrucksweisen vermehrt aufInteresse gestoBenY Auch die ambivalente Funktion des Rathauses als "i:iffentlicher Raum" hat in der Friihneuzeitforschung neuerdings einiges Interesse geweckt. 34 Inwiefern Schriftstiicke in die Handlungsweisen des Rates einflossen, im Rathaus inszeniert und als Teil der dort stattfindenden ,Ratsmemoria' institutionalisiert wurden, hat bislang noch keine Beachtung gefunden. Zunachst soli hier nun das Rathaus als vielfaltiger Handlungs- und Kommunikationsraum vor-
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Allgemein zur Entstehung und Funktion der mittelalterlichen Ratshauser u.a.: Paul, Rathaus; Isenmann, Stadt, S. 54f. Besonders zum Forschungsstand: Roeck, Rathaus, S. 94-96. Vg!. u.a. zum Bremer Rathaus im Zeichen stadtischer Selbstdarstellung: Albrecht, Bremer Rathaus. Vg!. zum Ritual der Ratswahl im europaischen Kontext: Poeck, Rituale; Ders., Rat, S. 286-335; Ders., Zahl, S. 396-427. Vg!. die Beitrage im Sammelband: Rau/Schwerhoff, Gotteshaus.
Rathaus und Ratsstube
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gestellt werden, soweit dies den vorgenannten Zusammenhang betrifft. 35 In einem zweiten Teil steht die zeichenhafte Verschriftlichung der Ratsstube als Herzstlick im Mittelpunkt des Interesses.
3.2.1 Handlungs- und Kommunikationsraume des Rathauses Der erste, seit Beginn des 14. Jahrhunderts bezeugte Versammlungsort des Rates - als aula oder stupa cornulum bezeichnet - war in einem Haus untergebracht, welches die Stadt vom Kloster im Hof als Erblehen empfangenen hatte. 36 Zweifellos verlieh die zentrale Lage am Fischmarkt, dem wohl altesten Versammlungs-, Gerichts- und Marktplatz in Luzern, umsaumt von Schaal und Kawerschenhaus dem politischen Handeln des Rates von Anfang an eine offentliche Wirkung. Schon bald fand sich dies er dort mehr oder weniger regelmaBig zur Behandlung majora negotia ein. 37 Der Offendichkeit der Rathausumgebung entsprach auf der anderen Seite der Versuch, das Handeln des Rates von Anfang gewissen N ormen zu unterziehen und von augen abzugrenzen. Die erstmalige Erwahnung eines Versammlungsraumes fiel zeitlich ziemlich genau mit der Entstehung einer Statutensammlung zusammen. Das so genannte ,alteste Ratsblichlein' war zwischen 1315 und 1321 von Schreiber Johannes Kotmann angelegt worden. Den Kern der Sammlung bildeten 260 Ratsbeschllisse, welche aus Vorlagen unterschiedlichen Alters zusammengestellt worden waren. Obwohl das Ratsblichlein von einem immensen Regelungsund Kontrollbedlirfnis des Rates zeugte, konnte es nur beschrankt als Hilfsmittel flir die jurisdiktionellen Entscheidungen desselben anlasslich der Ratssitzungen dienen, da den kompilierten Satzungen keine erkennbare Systematik zu Grunde lag und wohl einzig der Schreiber bei Bedarf eine Satzung wiederfinden konnte. Einzige Ausnahme bildeten die Satzungen der Ratsorganisation, welche allesamt zu Beginn der Statutensammlung zu stehen kamen und von der feierlichen Einung der Ratsmitglieder Zeugnis ablegten. Mit der Ratseinung waren alter und neuer Rat liberein gekommen und hatten ihre Absicht feierlich mit Eid bekraftigt, fortan einer regelmagigen und geordneten Ratstatigkeit nachgehen zu wollen. In den beeidigten Normen kommen deutlich die Bemlihungen zum Ausdruck, die Verhandlungstatigkeit des Rates und besonders seine Rechtssprechung fortan wirksam zu gestalten und regelmagig abzuhalten. Dennoch war den schriftlichen 35 36 37
Zurn soziologischen Raurnbegriff und zur Unterscheidung von Ort und Raurn vg!. Low, Raurnsoziologie, S. 154ff. u. S. 272f. AUg. zur Enrwicklung von Rathaus und Ratsstube in Luzern: KDM LU 3/2, S. 3ff.; Glauser, Verfassungstopographie, S. 94ff.; Pfaff, Urnwelt, S. 614ff. Meyer, Stadt, S. 530f. Bern. 114.
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Orte und Insritutionen politischen Handelns mit Schrift
Normen keine handlungsleitende Wirkung beschieden. Zumindest lassen die vielen Klagen und neuerlichen Versuche der Regelung dies vermuten. Dies steht ganz im Gegensatz zu dem, was fur die fruhen Formen der Verschriftlichung in den Stadtkommunen Italiens festgestellt wurde. Auch dort bildeten detaillierte Bestimmungen zur Amtstatigkeit sowie die Verhaltensregeln von Amtstragern meistens sogar den umfangreichsten Teil der Statutensammlungen. Es war die Furcht vor Missbrauch der Amtsautoritat und der Amtsbefugnisse uberhaupt, welche die Verschriftlichung der Gesellschaft in den oberitalienischen Kommunen maBgeblich vorantrieb. 38 Dennoch kam dem Ratsbuchlein eine lang andauernde Bedeutung zu. So wurde es bis 1402 sporadisch weiterhin fur die Aufzeichnung von Rechtssetzungen benutzt und durfte bei den Ratsverhandlungen aufgelegen haben. 39 Die Statutensammlung hatte vor allem eine symbolisch-expressive Funktion, indem sie augenscheinlich von der gesetzgebenden Gewalt des Rates als politischer Instanz und von seinem Organisationswillen Zeugnis ablegte. 4o Ob sich Rat und SchultheiB im Haus am Fischmarkt fortan einmal pro Woche zur Behandlung majora negotia zusammenfanden und dieses sich mit der Zeit zum Zentrum des politischen Geschehens entwickelte, d.h. die Funktion eines Rathauses ubernahm, darf angesichts der Tatsache bezweifelt werden, dass auch Kreuzgang, Kapitelstube und Refektorium des Franziskanerklosters dem Rat seit Mitte des 14. Jahrhundert bis ins Jahr 1575 zeitweilig als Versammlungslokale dienten. 41 Gelegentlich tagten dort auch der Rat und die Hundert oder sogar die Gemeinde, was im 15. Jahrhundert nachweislich zweimal geschah. Im 15. und 16. Jahrhundert kamen die Rate bei den Franziskanern bis zu dreimal wochentlich zusammen, so dass man dort nicht nur standig Schreibutensilien bereithielt und ein genterly fur die Aufbewahrung wichtiger Schriftstucke und Geld einrichtete,
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Vg!. u.a. Keller, Verschriftlichung, S. 25f. Auch in Luzern gingen Impulse zum vermehrten Schriftgebrauch immer wieder vom Wunsch nach einer strafferen Kontrolle der Amtsleute oder dem BedUrfnis nach Reformierung der Ratsgeschafte aus. Von einer linearen Entwicklung kann diesbezUglich allerdings keine Rede sein. Vielmehr bildeten ,krisenhafte' Ereignisse und besonders die innerstadtischen Auseinandersetzungen im Verlauf des 14. und IS. Jahrhunderts regelrechte ,Kristallisationspunkte' fur die Entstehung neuer Rechts- und Verwaltungstexte. Abgesehen von Ausnahmen zeitigten die Aufzeichnungen keine Auswirkungen im Hinblick auf eine dauerhafte Straffung der Ratsgeschafte, da die damit verbundenen MalSnahmen schon bald wieder aufgegeben wurden. Von einer stetigen Kontrolle durch Schrift im Sinne einer linearen Entwicklung kann fUr Luzern folglich keine Rede sein. Vielmehr manifestierte sich in der mehrmaligen Erneuerung der fast immer gleich lautenden Normen bis ins 16. Jahrhundert, wobei damit nicht selten Klagen Uber ihre mangelhafte Einhaltung und immer neue Sanktionen verbunden waren, ein standiges EinUben der Ratsdisziplin. SSRQLU 1/1, Nr. 9, S. 27ff. Vg!. a. Weber (Hg.), RatsbUchlein. Vg!' Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, S. 395f. Vg!. StUdeli, Minoritenniederlassungen, S. 39,75, 86f., 96ff., 12If., 125f., 129ff.
Rathaus und Ratsstube
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sondern auch ein eigenes Ratsprotokoll fUhrte. 42 Die Oberschneidung verschiedener stadtischer und kirchlicher Funktionen war im Fall des Franziskanerkonvents unter anderem Ausdruck fUr das einst enge Zusammengehen von Stadt und Bettelorden vor allem in den 1260er Jahren gegen das Kloster im Hof. Erstmals bezeugt ist dies im Jahr 1344, als alter und neuer Rat gemeinsam die Folgen des Aufruhrs von 1343 bereinigten und die opponierenden Kollegen - denn Ratsherren von 1332 waren es, die rebelliert hatten - ins Recht nahmen. 43 Die Stadt griff denn auch fUr die Bewirtung hoher Gaste, die Verwahrung politisch missliebiger Geistlicher oder auch fUr Eidesleistungen immer wieder auf die verschiedenen Einrichtungen des Franziskanerklosters zurUck. Die Franziskanerkirche spielte nicht nur als art der Messe vor den Ratssitzungen eine groBe Rolle, sondern auch als art stadtischen Schlachtengedenkens. So stellte die Stadt dort nach der Schlacht von Sempach im Jahr 1386 ihre eroberten Banner offentlich zur Schau, weil hier der groBte Zulauf von Menschen nicht nur aus der Pfarrei, sondern von weither moglich war. 44 Ganz allgemein spielte der im Kloster Ubliche Wirtshausbetrieb fUr die Ratsgeselligkeit eine wichtige Rolle, da die Ratsmitglieder sich dort ofters nach politischen Verhandlungen zum Imbiss trafen oder jeweils am Ostermontag gemeinsam einen weltlichen Osterbrauch vollzogen. Seit der zweiten Halfte des 15. J ahrhunderts unternommene Versuche, AuBenstehende vom klosterlichen Wirtshausbetrieb auszuschlieBen und diesen auf ehrbare Leute, das heiBt Angehorige der im Rat vertretenen Geschlechter, einzuschranken, schlugen lange Zeit feh1. 45 Das Rathaus als stadtische Einrichtung und Symbol der eigenstandigen HerrschaftsausUbung enrwickelte sich letztlich nicht am Fischmarkt, sondern am Kornmarkt und zwar in dem Gebaude, welches seit Ende des 14. Jahrhunderts als stadtisches Korn- und Kaufhaus genutzt wurde und wegen seiner groBen Raume auch fUr Versammlungen und Gastmahler gedient hatte. 46 Es war die Multifunktionalitat des Rathauses, welche in groBem MaBe seine offentliche Zuganglichkeit ausmachte. Aber auch seine politische Bestimmung zeichnete sich immer mehr ab. Stetig wachsende Zustandigkeiten und Geschafte hatten dazu beigerragen, dass die Sitzungen - dur unser statt nutz und er willen -von altem und neuem Rat seit 1421 auf drei Tage pro Woche ausgedehnt wurden, wobei man die Bestimmung spater dahingehend relativierte, dass der alte Rat nur in bestimmten Fallen zu aktivieren
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StALU RP 32, fol. 32. Glauser, Verfassungstopographie, S. 83ff.; Ders., Barfiisserkloster, 49ff. SSRQLU 111, Nr. 52, S. 136f. ,[ ... ] Et nos gloriosissimam obtinuimus victoriam, que patet in vexillis apud fratres minores publice elevatis et affixis [... r. Glauser, Barfusserkloster, S. 53. KDM LU 3/2, S. 3ff.; Glauser, Verfassungstopographie, S. 97.
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Orte und Institutionen politischen Hande!ns mit Schrift
war. 47 Abgesehen von seiner Sitzungstatigkeit bei den Franziskanern dtirfte sich der Rat nach 1447 zu diesem Zweck mehr oder weniger regelmaGig mindestens einmal pro Woche im Korn- und Kaufhaus versammelt haben. 48 Dessen ungeachtet erftillte das Rathaus aber weiterhin die Funktion eines stadtischen Korn- und Kaufhauses und wurde aIs solches auch weiterhin bezeichnet. 49 AuGerdem fanden dort immer noch verschiedene gesellige Vergntigen statt. Wie viele andere Rathauser in dies er Zeit besaG auch das Luzerner eigentliche Tanzdielen. Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts zeigte sich die allgemeine EntwickIung hin zur raumlichen und funktionalen Differenzierung, wie sie sich tiberall im Reich in vergleichbaren Stadten beobachten Iasst und welche mit der zunehmenden Verdichtung der stadtischen Herrschaftsaustibung zusammenhing. Dabei kam es zu einer Konzentration bestimmter zentraler politischer und rep rasentativer Aufgaben im Rathaus, wmrend andere Bereiche ausgelagert wurden. 50 AIs FoIge davon verbot der Luzerner Rat jetzt das Tanzen im Rathaus und in der Ratsstube mehrmaIs.51 Andere gesellige Vergntigen wie das Fechten, Spielen sowie die Zusammenktinfte der Kapitelherren und das Abhalten von Gastmahlern und Hochzeiten waren schon seit 1463 verboten. 52 Im Laufe der Zeit entwickelte sich das Rathaus mehr und mehr zum Haus miner herren, dann miner gnadigen herren, schlieGlich miner gnadigen herren und obern. 53 Die Obrigkeit beanspruchte das Rathaus aIs ihren politischen und reprasentativen Herrschaftsraum. Das Rathaus avancierte im Verlauf des 15. Jahrhunderts auch zum zentralen Herstellungs- und Aufbewahrungsort ftir die stadtische Schriftlichkeit, welche in immer groGerem Umfang eine Rolle ftir die Herrschaftsaustibung der Stadt spielte. Offenkundig unter groGem zeitlichen Druck und angesichts der stark angestie47 48
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SSRQ LU 1/1, Nr. 221, S. 312f. Vg!. auch Segesser, Rechtsgeschichte 2, S. 187 Bem. l. Vg!. Glauser, Verfassungstopographie, S. 97: Das alte Rathaus wurde als Gerichtshaus beniitzt und 1490 verkauft. In der Folge iibernahm es die Funktion einer Wirtschaft. Das erste Gerichtshaus entstand 1480/8l. StALU RP 6, 68v: ,Man sol angends die gloggen uff dem alten kouffhus ze richten l ... Roeck, Rathaus, S. 97. Kopp, Ratsaltertiimer, S. 5-9. Demgegeniiber blieben die wirtschaftlichen Funktionen des Rathauses erhalten. StALU RP 5 B, fo!' 21Ov: ,Item uff fritag sant partholomeus tag anno 1463 jar hand sich ditt und hundert bekent, dz nieman me fiirhin uff dem ratt huss sol schirmen oder fechten. Er sy, wer der we! des glichen sol man die cappitel herren nit me uff dem ratthuss lassen jr mall haben'. Vg!. zur Gese!ligkeit in Gemeinde- und Gesellschaftsstuben: Kopp, Ratsaltertiimer; Cordes, Stuben. Kopp, Ratsaltertiimer, 9. ,Uff hiitt hand mgh angesehen, das man uff dem rathus fiir hin keine hochzyt, kiinigkrych noch andre derglychen nachpurschafften und maler, allein was fiir maler sind, so mgh antreffen l ... J mit frombden liitten und sollichs das mgh betrifft hallten und ouch gar niemant da tantzen noch in die beid ratstuben lassen solle, anderst war uffs rathus ghort oder es sige dann mgh oder ettliche amptsliit und mgh diener daby, damit niitzit geschendt, verwahrloset oder verloren werde'. StALU RP 38, fo!' 18v.
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Rathaus und Ratsstube
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genen Menge und Bedeutung von Schriftstiicken liegen der Rat und die Hundert 1485 auch gewolb und kantzly, welche bislang in der alten Kanzlei am Fischmarkt untergebracht waren,54 ins neue Rathaus einbauen und ordneten an: dz der gemacht werde, als dz zu uns statt sachen und fryheiten not ist und sol man den bumeistern by irn eyden gebieten, den buw mit dem muntzhlts still zestellen und disen buw jUrzenemmen. 55 Mit den verschiedenen strukturellen Neuerungen auf dem Rathaus waren auch Bestrebungen verkniipft, die Formen politischen Hande!ns, insbesondere den miindlichen Verhandlungsstil und die allgemeine Sitzungsdisziplin der Ratsmitglieder zu reformieren. Darauflasst jedenfalls eine im se!ben Jahr 1485 erneuerte Ratsordnung schliegen. 56 Die von Rat und den Hundert beschlossene Ordnung nimmt in vie!erlei Hinsicht Bezug auf die erste Ratsordnung im Ratsbiichlein oder ist eine Verscharfung der dort erstmals fixierten Bestimmungen. Mange!ndes Pflichtbewusstsein und U npiinktlichkeit, vorzeitiges Verlassen der Sitzungen sowie unaufgefordertes Reden, Unterbrechung einer Urteilsverkiindung, hitziges Debattieren und gegenseitiges Uberbrechten, d.h. Oberschreien, waren aber im Verlauf des ganzen 15. Jahrhunderts und dariiber hinaus immer wieder Anlass zahlreicher Ordnungsbemiihungen, denen nie langerfristige Wirkung beschieden war. Daran anderte auch die Tatsache nichts, dass zur Durchsetzung der verschiedenen Normen und verhangten Sanktionen immer haufiger schriftliche Mitte! zur Kontrolle eingesetzt wurden. Eine allgemeine Entwicklung zu mehr Schriftlichkeit lasst sich in diesem Zusammenhang dennoch nicht beobachten. Vie!mehr ist von einer gegenseitigen Verstarkung von Miindlichkeit und Schriftlichkeit zur Durchsetzung der ge!tenden Ratsordnungen zu sprechen. 50 war seit 1414 der Weibe! mit dem Einziehen der bei der Obertretung einze!ner Normen falligen Bugen betraut. 57 lm Zusammenhang mit der Ausdehnung der Ratsgeschafte auf drei Tage pro Woche sind auch die Rege!ungen der altesten Ratsordnung teilweise erneuert und prazisiert worden. Fiir das Einziehen der verhangten Bugen soUte jetzt je ein Mitglied des Rates und der Hundert bestimmt werden. 58 Nach 1451 war es dann die Aufgabe des Stadtschreibers, fiir die Anwesenheit der Ratsmitglieder zu sorgen. 59 5patestens seit 1500 soUte dieser all jene, welche zu spat oder gar nicht erschienen, aufschreiben, damit anschliegend die falligen Bugen eingezogen werden konnten. 60 1505 ging man dann dazu iiber, nach
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StAiU RP 6, fo!' 80r. StAiU RP 6, fo!' 67v. StAiU RP 6, fo!' 89rff. In Ausschnitten zit. bei Segesser, Rechtsgeschichte 2, S. 204 Bern. 1f. Vg!. StALU RP 2, fo!' 41r zit. Segesser, Rechtsgeschichte 2, S. 201 Bern. 2. Vg!' SSRQLU 1/1, Nr. 221, S. 312ff. StAiU RP 5B, fo1. 123v. StAiU RP 9, fo!' 31r.
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Orte und Institutionen politischen Handelns rnit Schrift
dem Liuten der Ratsglocke die N amen der fehlenden Ratsmitglieder auf eine T afel zu schreiben und diese laut verlesen zu lassen. 61 Nach dem Scheitern schriftlicher Kontrolle setzte man wiederum auf die Macht des gesprochenen Wortes. In der 1485 neu erlassenen Ordnung zeigte sich die Absicht, das politische Handeln des Rates auch nach auBen starker abzugrenzen. Dazu wurde den Mitgliedern des GroBen und Kleinen Rates die Geheimhaltung des wahrend der Sitzungen Verhandelten, besonders auch der einzelnen Meinungen der Mitglieder und dessen, worUber ausdrUcklich gemeinsames Stillschweigen vereinbart war, auferlegt. 62 Hinter dem Geheimhaltungsgebot verbarg sich aber weit mehr als nur ein Versuch des Rates, politisches Verhalten zu formalisieren und die fehlende Sitzungsdisziplin der Ratsmitglieder einmal mehr anzumahnen. Es war ein Versuch, Uber den eigentlichen Raum der Ratsverhandlungen hinaus die Exklusivitat des Ratshandelns zu sichern und einen Arkanbereich der Macht zu schaffen. Des Weiteren bedeutete die unkontrollierte und unautorisierte Informationsverbreitung eine schwerwiegende Gefahr fUr den nach auBen getragenen Konsens des Rates. Besonders in Zeiten heftiger Konflikte wurde die Verletzung des Geheimhaltungsgebots durch einzelne Ratsmitglieder immer wieder als U rsache fUr die Entstehung von grof vintschajft und unruw in der Stadt angeprangert. 63 Ungleich radikaler sollten demzufolge auch die angedrohten Sanktionen im Fall von Missachtung dieses Gebotes ausfallen. Wahrend unentschuldigtes Fernbleiben der Ratsitzungen beispielsweise mit einer BuBe von gerade einmal einem Schilling bestraft wurde, war diese im Fall des heimlichen Mithorens der Ratssitzungen urn ein Vielfaches hoher und lag bei 20 Pfund. 64 DemgegenUber hatten 1490 diejenigen, welche aus dem Rat redeten, bis auf weiteres mit dem Ausschluss aus dem Gremium zu rechnen. 65 Im Zusammenhang mit den tiefgreifenden Auseinandersetzungen der 1480er ] ahre waren derart radikale Vorgehensweisen erforderlich geworden. Einmal mehr jedoch war ihre Durchsetzung in der Praxis nicht einfach zu bewerkstelligen. T rotz der zunehmenden funktionalen und raumlichen Abgrenzung als Handlungsraum des Rates waren Rathaus und Ratsstube nicht ausschliemich ein art fUr das ,heimliche' Herrschaftshandeln der politischen FUhrungsgruppe. Vor Rat und Gericht erschienen auch nicht zum Kreis der Ratsmitglieder und der Amtspersonen gehorende Personen als Bittsteller, Empfanger, Klager oder Angeklagte, Steuer- und Wehrp£lichtige oder als Bewerber fUr die Aufnahme ins BUrgerrecht. 66 Das
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StALU RP 9, fo!' 205rf. Vg!. StALU RP 6, fo!' 89r-90r. Seit Beginn des 15. Jahrhunderts verpflichteten sich die Hundert rnit ihrern Eid zu ,helen, was ze helent ist'. Vg!. SSRQLU 1/1, Nr. 230a, S. 321. StALU RP 7, fo!' 39. Segesser, Rechtsgeschichte 2, S. 203 Bern. 2. StALU RP 7, fo!' 39. Vg!. hierzu u.a.: SSRQLU 111, Nr. 163, S. 261; SSRQLU 111, Nr. 49, S. 134[; SSRQLU 1/
Rathaus und Ratsstube
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Rathaus erlangte unter diesen Umstanden den Status eines offentlichen bzw. teiloffentlichen Raumes. Aber auch hier wurde die Zugangsmoglichkeit van der Obrigkeit immer starker farmalisiert und durch schriftliche Verfahren erganzt beziehungsweise substituiert, wabei sich keine lineare Entwicklung ausmachen lasstY Die Einfiihrung einer Gebiihr fiir das Besiegeln van Bittbriefen im Jahr 1423 ist ein sicheres Indiz dafiir, dass die schriftliche Kammunikatian in zunehmendem MaGe das Verhaltnis zwischen Herrschaft und stadtischer Einwahnerschaft pragte. 68 Der Bittbrief als Moglichkeit, Zugang zur Obrigkeit erlangen, war umsa wichtiger als in der spatmittelalterlichen GeseUschaft viele Entscheidungsverfahren nach wenig institutianalisiert waren. 69 Exemplarisch wird der Obergang zu schriftlichen Verfahren seit der Mitte des 14. Jahrhunderts im Kanflikt urn die umstrittenen Fischereirechte zwischen dem Luzerner Klaster im Haf und den Fischern erkennbar. Zur Schlichtung des Kanflikts waren beide Parteien offenlich var den Rat getreten. Im Gegensatz zu den Luzerner Fischern, welche nach ganz auf ihre miindliche Oberzeugungskraft setzten, legten die Herren vam Klaster dem Rat zur Bekraftigung ihrer Farderung Rodel, Kundschaften und besiegelte Briefe var. Angesichts der erdriickenden Beweiskraft der vargelegten Schriftstiicke empfahl der Rat den Fischern, van ihren Anspriichen Abstand zu nehmen. Im Gegenzug verlangten diese, dass die Schlichtungsvereinbarung ze einem urkt!ende und bestetung im Ratsbuch schriftlich fixiert werden saUte. 70 Auch sie waUten kiinftig fiir Kanflikte geriistet sein. Eine einheitliche Tendenz zu einer zunehmenden ,Biirokratisierung' der Kammunikatiansraume im Rathaus lasst sich dennach nicht ausmachen. Sa kannte nicht in jedem Fall personliches Erscheinen var dem Rat und Miindlichkeit durch ein schriftliches Verfahren ersetzt werden. Dies gale var allem dann, wenn Amtsinhaber ausdriicklich under augen und wort dazu aufgebaten warden waren, personlich var dem Rat zu erscheinen, wie es bei der jahrlich stattfindenden miindlichen Rechnungslegung der Landvogte seit Beginn des 15. Jahrhunderts iiblich war. Trotz der Einfiihrung eines zentralen Rechnungswesens in den 1430er Jahren waren personliche Prasenz und die miindlich vargetragene Rechnungslegung varerst weiterhin kanstitutiver Bestandteil der stadtischen Herrschaftsbeziehungen. Dies musste auch der abtriinnige Vagt van Kriens, Welti Meyer,
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1, Nr. 95, S. 196; SSRQLU 111, Nr. 161, S. 259; SSRQLU 111, Nr. 204, S. 294tE; SSRQLU 111, Nr. 305. S. 384. Zum Wandel von Offentlichkeit in der FrUhen Neuzeit und zur Funktion von Schriftlichkeit vg!.: RaulSchwerhoff. Offentliche Raume. S. 11-52; Dork, Raum, S. 119-154. SSRQLU 1/1, Nr. 258, S. 346. Althoff, Spielregeln, S. 267. SSRQLU1Il,Nr.28,S.113.
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erfahren, der sich 1425 der Veruntreuung und libler Nachrede schuldig gemacht hatte und deswegen mehrmals vergeblich vor den Rat zitiert worden war.71 Statt personlich seiner mlindlichen Rechenschaftspflicht vor dem Rat nachzukommen, hatte er in einem Brief an diesen die Aufklindigung seines Blirgerrechts anklindigen lassen. Doch auch in diesem Zusammenhang war der schriftlichen Kommunikation kein Erfolg beschieden. So antwortete der Luzerner Rat zwar ebenfalls schriftlich, doch damit war das Problem keinesfalls gelost: Wir der Schultheiss und rat ze Lucern tl'm ze wissen mit diesem brief dir Welti Meyer, als du uns geschriben hast und din burgrecht mit eim brief!meinst uns ufgeben han, da nemen wir din burgrecht nit also von dir uff, want das nit unser stattrecht ist [ .. .J. n Der Rat berief sich in seiner Antwort also auf das Luzerner Stadtrecht. BekanntermaBen handelte es sich bei der Aufnahme ins Luzerner Blirgerrecht, wie auch bei seiner Wiederaufgabe urn weit mehr als einen vor dem Rat ausgeflihrten Vetwaltungsakt, obwohl in Luzern gerade in diesem Bereich besonders frlih die Existenz von Vetwaltungstexten zu beobachten ist. 73 Es ging vielmehr urn einen Initiations- bzw. Abgangsritus, welcher den Kern der schon im ,Geschworenen Brief' verankerten und eidlich beschworenen Mitgliedschaft im stadtischen Herrschaftsverband berlihrte. Folgerichtig lieB der Rat in seinem Antwortschreiben ausrichten: weler burger von Lucern sin burgrecht ufgeben wil der sol komen for ein rat d unl und sol sin burgrecht mit sim mund und mit sinr hand in unsern rat ufgeben und sin ~del bezalen. 74 Die Handlungsraume des Rathauses waren von der Ambivalenz zwischen offentlicher Reprasentation und reglementierter Zuganglichkeit gepr1igt, wobei Mund und Hand und damit weiterhin die mlindliche Kommunikation das bestimmende Element der dort stattfindenden Offentlichkeit waren.
3.2.2 Inszenierungen in der Ratsstube Die Bedeutung und die Funktion des Rathauses lassen sich nur dann hinreichend erfassen, wenn auch die Ausstattung des Ortes und entsprechende Umgestaltungen berlicksichtigt werden. Seine Kontextualisierung durch Bilder und Bildprogramme ermoglicht eine bessere Deutung des Handlungsraumes, da in ihrer spezifischen Ikonographie politische Vorstellungen visualisiert wurden. Dies war umso bedeutungsvoller, als der politischen Ikonographie Legitimations- und
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Vg!. hierzu den ausfiihrlichen BriefWechsel zwischen dem Luzerner Rat und Welti Meyer, dem Vogt von Kriens. StALU URK 38116974-79. StALU URK 38116979. Weber (Hg.), Biirgerbuch. StALU URK 381/6979.
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Appellfunktion zukamen. 75 Der Raum wirkte wie im Fall der Peterskapelle auch hier sinnstiftend. Zur naheren Betrachtung eignen sich die groBe und kleine Ratsstube des Luzerner Rathauses, da Schilling den spezifischen Ausstattungen dieser beiden Innenraume als Mitte!punkt der Macht besonders vie! Beachtung schenkte. Seit dem letzten Vierte! des 15. Jahrhunderts war das Luzerner Rathaus nicht nur ein zentraler Ort fur das politische Hande!n des Rates, sondern gleichzeitig auch Herstellungs- und Aufbewahrungsort fur die wachsende stadtische Schriftproduktion. 76 Inwieweit die im Rathaus hergestellten, aufbewahrten und benutzten Schriftstucke als Grundlage einer legitimen Herrschaftsausubung und als Zeichen stadtischer Selbstdarstellung in der ikonographischen Ausgestaltung der Ratsstube Eingang fanden, ist bisher wenig beachtet worden. Schillings Innenansichten der groBen und kleinen Ratsstube zeigen diese gleichsam als den inneren Kreis stadtischer Herrschaftsausubung und gleichzeitig haufigen Tagungsort der eidgenossischen Tagsatzung. Auf seiner politischen Schaubilhne erscheinen Ratsmitglieder, Boten, Stadtschreiber, in- und auslandische Herrschaftstrager oder andere Reprasentanten der politischen Ordnung. 77 Sie alle treiben das groBe Geschehen der Politik verhandelnd, schworend, schreibend, lesend, Schriftstucke uberbringend in arbeitsteiligem Zusammenwirken voran (Abb. 2). Dementsprechend kommt in den Bildern von Schilling neben den handelnden Akteuren besonders den Schriftstucken groBe Bedeutung zu. Es ist die Inszenierung der Schriftstucke, der Vertrage mit verschiedenen auslandischen Machthabern, der Bundesbriefe und wichtigen Rechtstexte, die ihn offensichtlich besonders interessierte. Auf eindringliche Weise fuhrt er dem Betrachter ihre Gultigkeit und herausragende Bedeutung gleichsam als Substrat politischen Hande!ns vor Augen. Diese Betrachtungsweise wird auBerdem durch seine auBerst sorgfaltige Illustration der Handlungsraume unterstutzt, deren Ausstattung eine spezifisch eidgenossische und luzernische Ikonographie zeigt: In den Fenstern der Ratsstube sind deutlich die Wappenscheiben der acht Alten Orte zu sehen, wobei das mittlere Fenster fur eine Vollscheibe mit dem thronenden heiligen Leodegar, dem Luzerner Stadtheiligen, ausgespart bleibt. Er verweist auf die Stadt als Sakralund Kultgemeinschaft und verortet das in der Ratsstube stattfindende politische Handeln und die Schriftstucke im gottlichen Heilsplan. Schillings Inszenierungen
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Vg!. Einfiihrung in die Ikonographie deutscher Rathauser bei Albrecht, Rathaus, S. 33-51. Zu Formen und Funktionen spatmittelalterlicher Rathausikonographie vg!. besonders Heckert, Ausstattung, S. 303-317; Meier, Mythos, S. 345-387. Zu Typologisierung und Problematik einer ,stadtischen Ikonographie' vg!. u.a. Meier, Mythos, S. 346f. KDM LU 3/2, S. 4. Vg!. Paul, Rathaus; Isenmann, Stadt, S. 55; Roeck, Rathaus, S. 93-114. Schilling bildet haufiger die groGe Ratsstube ab. Zur Unterscheidung der groGen und der kleinen Ratsstube im Luzerner Rathaus und allgemein zur Ausgestaltung der ,profanen' Innenraumen in Schillings Darstellungen vg!.: Pfaff, Umwelt, S. 631ff.
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Orte und Institutionen politischen Handelns mit Schrift
machen deutlich, wie Schriftstucke in der Abgeschlossenheit der Ratsstube unter den Augen des Stadtpatrons und im Kreis der Alten Orte nicht nur zum Hilfsmittel der Administration, sondern zu legitimierenden Requisiten der politischen Fuhrungsgruppe werden. Trotz unubersehbarer Stilisierungstendenzen bildet Schillings Ratsidyll (Abb. 3) durchaus detailgetreu einige Veranderung in der Ratsstube ab, welche urn 1500, unmittelbar vor der Entstehungszeit seiner Bilderchronik vorgenommen worden sein mussen. So sind zwischen 1495 und 1503 in der groBen Ratsstube die Scheiben samtlicher Fenster erneuert worden. Neben den Bannerscheiben oh ne Bannertrager der acht Alten Orte, welche moglicherweise Geschenke der Bundnispartner waren, ist auch eine Luzerner Scheibe mit Bannertrager eingelassen worden. 78 Direkt anschlieBend folgte eine Scheibe mit dem heiligen Leodegar, wohl ein Geschenk des Klosters im Hof. Als Gegenstuck dazu stand in einer Nische zwischen zwei Fenstern eine Figur des zweiten Stadtpatrons, dem heiligen Mauritius, mit Kreuzschild und Fahne. 79 Es wurden auch Bezuge zur jungsten Geschichte geschaffen, so lieB man 1494 fur den Ratssaal ein Bild zur Erinnerung an die Schlacht von Murten malen, in welcher Luzern erfolgreich an der Seite der eidgenossischen Bundnispartner gekampft hatte. 1511 wurden Bildnisse der Herzoge von Montferrat im Ratssaal aufgehangt. Dies ist wohl darauf zuruckzufuhren, dass Markgraf Wilhelm von Montferrat 1507 mit Luzern, Uri und Unterwalden ein Burg- und Landrechtsbundnis geschlossen hatte. so In gewisser Hinsicht erinnert die Ausstattung an die des Berner Rathauses. Auch dort nahm das Bildprogramm der Ratssale neben lokalen Begebenheiten und den ,Exempla virtutis' vor all em Bezug aufhistorische Ereignisse, indem man unter anderem Gemalde der Schlachten von Murten, Dornstadt und Sempach anbringen lieB. Weitere Gemalde in den Ratssalen zeigten zudem die Stadtgrunder, die Herzoge von Zahringen, sowie verschiedene Reichsfursten und Konig Sigismund, welcher 1414 Bern einen Besuch abgestattet hatte. Sl Schon Roeck hat daraufhingewiesen, dass Themen der lokalen Geschichte zur Ausschmuckung von Ratsstuben und Ratssalen in den Rathausern des Reiches eher unublich waren und meistens nur eine untergeordnete RoUe spiel ten. S2 Auch dem Luzerner Rat war daran gelegen, was Gamboni schon fur Bern feststellte, mit der Ausgestaltung an die Eintracht der Miteidgenossen zu appellieren und identitatsstiftende Bilder zu schaffen, in denen sich die Werte der
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KDM LU 312, S. 6 Zur Bedeutung und Ausbreitung des Mauritius-Kultes im Gebiet der heutigen Schweiz und besonders in der Innerschweiz vg!.: Widmer, Sankt Mauritius, S. 5-66; KDM LU 3/2, S. 6f. Nach der Reformation wurde das Bild des h!. Vinzenz, welches in der Kleinen Ratsstube des Berner Rathauses stand, zugedeckt. Vg!' Gamboni/Germann, Zeichen, S. 354f. Roeck, Rathaus, S. 109.
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eigenen Herrschaft und Geschichte und die der Eidgenossenschaft gegenseitig steigerten. 83 Die Gemalde zielten demnach nicht so sehr auf die BUrger als Betrachter, sondern besonders auf die Regierenden und die von ihnen empfangenen Gesandten und Botschafter. Dies geschah des Ofteren, war das Luzerner Rathaus doch auch haufiger T agungsort der eidgenossischen Tagsatzung. 84 1505 wurde in Luzern das ,Silberne Buch', der pergamentene Kopialkodex mit den wichtigsten Freiheiten, Privilegien und Rechten, in wertvollen Samt in den Luzerner Standesfarben Blau und Weig neu eingebunden. Gleichzeitig lieg man ein Kissen anfertigen, worauf der Kodex zu liegen kam. 85 Man war bestrebt, der Kommunalisierung der rechtlichen Traditionen auch visuell Ausdruck zu verleihen. Der Kodex war damit fUr alle sichtbar ein SchriftstUck von grogerer Autoritat geworden. Gleichzeitig war ein reprasentatives Herrschaftszeichen entstanden, welches gleichsam als ,Ratsbibel' im Ratssaal auflag. 86 lnwiefern sich die Verbindung von rechtlicher Tradition und stadtischer Symbolik programmatisch in das durch chrisdich-Iuzernische und eidgenossische Ikonographie bestimmte Bildprogramm der Ratssrube einfUgt, ist schwer abschatzbar. Immerhin ist fUr Regensburg ein Bild erhalten, welches die stadtische Rechtstradition bzw. den Akt der Obergabe eines Freiheitenbuches an einen Ratsherrn in VerknUpfung mit einer spezifischen lkonographie darstellt. 87 lm Freiheitenbuch waren die vom Kaiser und anderen Herren erteilten Privilegien fUr die Stadt und den Rat niedergeschrieben. Die legitimitatsstiftenden BezUge der Rechtstradition im Bezug auf das Handeln des Rates sind auch im Bild dargestellt, indem die zentrale Handlung der Obergabe von den Wappen der versammelten Ratsherren umgeben ist, welche wiederum vom Kaiserlichen Wappen mit Reichsadler, Krone und Goldenem Vlies gekront und vom Stadtwappen Regensburgs nach unten abgerundet wird. FUr Luzern verleihen allenfalls parallele Entwicklungen in der Peterskapelle der Vorstellung einer umfassenden Programmatik eine gewisse Plausibilitat. Jene hatte sich seit Mitte des 15. J ahrhunderts als ein Ort politischer Teiloffentlichkeit fUr die Bekanntmachung wichtiger Gesetzesvorlagen und als Plattform fUr sakralriruelle Handlungen etabliert, wobei der halbjahrlichen Beschworung des ,Geschworenen Briefes' eine herausragende Bedeutung zukam. Fast zeitgleich mit dem Rathaus waren 1511 auch an der Kapelle umfangreiche Umbauten vorgenom men worden, welche die Erneuerung der Fensterscheiben und die des Freund83 84 85 86 87
Gamboni/Germann, Zeichen, S. 355. Vgl. Amtliche Sammiung der aiteren eidgenossischen Abschiede. Vg!. hierzu und zur Tagsatzung ais Fotum eidgenossischer Kommunikation: Jucker, Gesandte. KDM LU 312, S. 48. Angabe ohne Quellennachweis: Weber, Kamon, S. 846. Ausfiihrlich hierzu Poeck, Rituaie, S. 300-304.
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Orte und Institutionen politischen Handelns mit Schrift
schaftsbildes von Luzern und Vri einschlossen. Als Gegenleistung hatten die Vrner die Finanzierung von Wappenscheiben angeboten. 88 Wie das ,Silberne Buch' waren in den Jahrzehnten nach 1500 auch die Versionen des ,Geschworenen Briefes' mit dem Luzerner Wappen und den Standesfarben Blau-WeifS ausgestattet worden. 89 Anlasslich des ritualisierten Vortrags des Stadtschreibers sind der ,Geschworene Brief' und mit ihm besonders die schriftlichen Herrschaftssymbole Luzerns vor dem Hintergrund der christlichen und eidgenossischen Ikonographie in der Peterskapelle inszeniert worden. Obwohl vom spatmittelalterlichen Rat- und Kaufhaus sowie den zwischen 1495 und 1503 eingesetzten Scheibenzyklen nichts erhalten ist, liegt es auf der Hand, dass den verschiedenen Neuerungen nach 1500 bei der Ausschmiickung der Peterskapelle und der Ratsstube, und auch der dort jeweils inszenierten Schriftstiicke, eine gewisse T endenz zur Vereinheitlichung und Angleichung des ikonographischen Programms zu Grunde lag. 90 Zumindest wird in der symbolisch-visuellen Verankerung der schriftlichen Rechtstraditionen in der Gesamtkonzeption des Raums mit seinen aktuellen politischen und christlichen Beziigen ihre Bedeutung als Orte politischen Handelns mit Schrift sichtbar. Der zeichenhaften ,Verschriftlichung' des Raums sollten mit der Zeit offenkundige Bemiihungen des Rates folgen, sein Handeln nun konsequent auf schriftliche T exte abzustiitzen. Dazu war man iibereingekommen, das nun flrhin all ratstag der stat
satzung buch uffden tisch gelegt und die artickell verlasen und daruffgericht werden sol/e. 91 Auch wenn sich an dies er Stelle nicht klaren lasst, ob den verschiedenen fast zeitgleichen Neuerungen in der Peterskapelle und in der Ratsstube programmatische Vorstellungen zu Grunde lagen, war zumindest mit Schillings Bildern ein zusammenhangendes Programm entstanden, welche das richtige Handeln mit Schriftstiicken definierte, so dass die Bilder nicht die Funktion hatten, einen Zustand wiederzugeben, sondern vielmehr Normen festlegten. Auf seine eindringliche, den Betrachter zur Nachahmung ermunternde Darstellungsweise, welche sich neben den szenischen Darstellungen in der Ratsstube noch deutlicher in den Illustrationen offentlicher Beschworungszeremonielle zeigt, wurde bereits hingewiesen. Als Betrachter seiner reprasentativen Chronik, welche im stadtischen Archiv lagerte, kamen in erster Linie die Mitglieder der Luzerner Obrigkeit in Frage.92 Ihnen sollten nicht nur die wichtigen Vertrage und die eidgenossischen
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Vg!. KDM LU 2/1, S. 211f. Vg!. hierzu Kap. 2.1. 1599 beschloss der Rat an der gleichen Stelle einen vollstandigen Neubau, welcher von 1602 bis 1606 realisiert wurde. Vg!. KDM LU 3/2, S. 6-11. StALU RP 14, fo!' 199v. Schmid, Geschichte, S. 547ff.
Offendiche Platze und stadtische Gesellschaftsstuben
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Biindnisse sowie deren alten Ideale verbindlich vorgestellt werden, sondern sie sollten eben auch mit den symbolischen Handlungen und den zugehorigen legitimierenden Beziigen vertraut gemacht werden. Ob Schillings visuell normative Vorstellungen Auswirkungen im Hinblick auf eine starkere Wahrnehmung der stadtischen Rechtssetzungen und ihren handlungslegitimierenden Moglichkeiten hatten, muss unbeantwortet bleiben. Neuere Untersuchungen zur spatmittelalterlichen Rathausikonographie haben aber gezeigt, dass die Bildprogramme haufig Resultate politischer Struktur- und Legitimationskrisen oder Ergebnisse von Integrations- und Konsensstrategien der stadtischen Fiihrungsgruppe waren. 93 So fiel in Luzern die Herstellung von Schillings Bilderchronik zwischen 1511 und 1513 denn auch in eine Phase, die von inneren Parteikampfen, den Aufstanden der U ntertanen auf der Landschaft94 und den Auseinandersetzungen urn das Sold- und Pensionenwesen gepragt war. Die Orte der Inszenierung wurden spatestens seit dem 16. J ahrhundert zweimal im Jahr anlasslich von Ratswahl und Beschworungszeremoniell durch einen offentlichen Umzug der Rate und des SchultheiBen vom Rathaus zur Kapelle miteinander verbunden. 95 Das Rathaus sollte sich in dieser Zeit immer mehr zu einem mit beinahe sakral anmutender Wiirde versehenen Ort entwickeln. In entsprechend angemessener Feierlichkeit hatten die Ratsmitglieder ihre Handlungen anlasslich ihrer Sitzungen zu vollziehen. So schrieb eine neuerliche Ratsordnung vor: Namlich wann der rat versamlet ist, sol ein zucht und ernstliches ansehen sjn mitt j ngezogmer erbarkeit und stille, lose und uffinercken glych wie jn einer kilchen [ ... ]. 96
3.3 Offendiche Platze und stadtische Gesellschaftsstuben Dem politischen Handeln mit Schrift war iiberall im stadtischen Rechtsraum Wirksamkeit beschieden, besonders aber dort, wo Handlungen vor aller Offentlichkeit vollzogen wurden - so auf StraBen und Platzen der Stadt, vorzugsweise den zentral gelegenen Markt- und Gerichtsplatzen, und bis zu einem gewissen Grad auch unter den Dorflinden, den offentlichen Gerichtsplatzen auf dem Land. Insbesondere die diversen offentlichen Platze und ,gemeinen' StraBen waren im Spatmittelalter Biihne und Schauplatz fiir offendiche Auffiihrungen und Spiele nebst dem Theater, welches im hohen Mittelalter aus liturgisch-religiosen Darstel-
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Meier, Mythos, S. 376. So beispielsweise im ,Zwiebelnkrieg' im Jahr 1513. StALU RP 14, fo!' 70r. StALU RP 45, fo!' 52r.
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Orte und Institutionen politischen Handelns mit Schrift
lungen neu entwickelt worden war. 97 Schon aufgrund ihrer vielbeschworenen Multifunktionalitat steht die Charakterisierung dieser Orte als offentliche Raume auBer Frage. Nicht zuletzt waren die stadtischen Gesellschaftsstuben und Wirtshauser Orte, an welchen sich anlasslich der haufig in Luzern stattfindenden Tagsatzungen neben den Bewohnern und Ratsmitgliedern Luzerns auch eidgenossische Boten und fremde Gesandte zum geselligen Zusammensein und informellen Informationsaustausch trafen. 98 Auch hier ermoglicht Schilling aufschlussreiche Einblicke. In zahlreichen Szenen (Abb. 4, 5,6) zeigt er die Obergabe von Briefen, die Vernehmung von Zeugen und die Herstellung von Kundschaften und Urkunden, besonders auch die Verlesung und Beschworung wichtiger Privilegien und Bundesbriefe auf verschiedenen Platzen und StraBen als Bestandteile stadtischer Selbstdarstellung in der Offentlichkeit. Dadurch dass Schilling die meist fliichtigen Handlungen in der Offentlichkeit als Momentaufnahmen festhalt und die handelnden Akteure wie Bote, Weibel, SchultheiB und Stadtschreiber mit groBer Akribie durch spezifische Zeichen und Farben als Mitglieder der politischen Ordnung kennzeichnet, gelingt es ihm, den offentlichen Raum als stadtischen Rechtsraum zu visualisieren und zu inszenieren. In diesem erlangen die Schriftstiicke als legitime Zeichen eine besondere Wirkung. Schillings idealtypische Inbesitznahme des offentlichen Raums durch die politische Ordnung mit ihren vielfaltigen Zeichen - ,Wortzeichen' und anderen - lasst fiir diejenigen, welche nicht im Besitz solcher legitimer Zeichen waren, einzig die Rolle als schworende Zuschauer und Zeugen iibrig. Dabei war der stadtische Rechtsraum weit weniger homogen und mit Zeichen durchsetzt als Schillings Darstellungen glauben machen wollen. Auch die Vorstellung, dass Vertreter der stadtischen Ordnung bei der Ausfiihrung immer gleich als solche erkannt werden konnten, entspricht nicht den Tatsachen. So lassen sich in Luzern, wie in vielen Stadten nordlich der Alpen, erst fur das 15. Jahrhundert Belege beibringen, dass die stadtischen Bediensteten wie die Stadtknechte, Weibel, Boten und andere mit einer spezifischen Kleidung ausstaffiert waren. 99 In den Stadten 97
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A11gemein zur Funktion und Perzeption des offentlichen Raums im Spatmittelalter vg!' u.a.: Haverkamp, Offentlichkeit; Hanawalt/Kobialka (Hg.), Practices of Space; Jaritz (Hg.), Strasse. Zur gegenwartigen Diskussion urn die Raumerfassung und das Raumbewusstsein im Spatmittelalter vg!.: Moraw (Hg.), Raumerfassung; Schmidt, Raumkonzepte, S. 87-125; Heimann, Rli.ume, S. 203-231. Vg!. auch die zahlreichen Beitrage in: Rau/Schwerhoff, Im 16. Jahrhundert war der Luzerner Fischmarkt Schauplatz der meist mehrere Tage andauernden geistlichen Spiele. Vg!. Thali, Text, S. 157-189. Wiirgler, Boten, S. 291-296. Mertens, Wappenrock, S. 193ff.; Groebner, Parameter, S. 143. Bislang haben v.a. die Boten als stadtische Nachrichten- und Zeichentrager einige Beachtung gefunden: Vg!. Weber, Boten, S. 159-192; Wenzel, Boten, S. 86-105; Heimann, Visualisietung, S. 22-36; Ders., Rli.ume, S. 203-231; Wiirgler, Boten, S. 287-312.
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des Oberrheins wie StraBburg, Base!, Selestat oder Freiburg setzte sich erst in den 14S0er J ahren durch, dass die stadtischen Ordnungshiiter wahrend ihres Dienstes Kleider in den jeweiligen Stadtfarben trugen. IOO In Luzern wird nach 1415 die Vergabe von Kleidern oder Staff als Teil der Entschadigung fur die im Dienst der Stadt stehenden Bediensteten mit einer gewissen RegelmaBigkeit in den Ratsprotokollen verzeichnet. Aus dem W ortlaut einzelner Eintragungen lasst sich aber schlieBen, dass es sich vielfach urn die schriftliche Fixierung bereits bestehender Anstellungsvereinbarungen handelte. Dabei kann oft nicht genau gesagt werden, ob ausschlieBlich Kleider in den Stadtfarben vergeben wurden. Urn die Funktion eines Erkennungszeichens erfiillen zu konnen, brauchten die amtlichen Kleider nicht notwendigerweise in diesen Farben zu sein. Trotzdem lassen sich gewisse Abstufungen bei den Kleidergeschenken erkennen. So erhielt der Harnischmeister, welcher 1415 - wohl im Zusammenhang mit der neu errungenen Position Luzerns als quasi reichsfreier Stadt - dauerhaft in den Dienst genommen wurde, ein Kleid a/z andern der statt kneht, den besten. 1ol Einzig den stadtischen Pfeiffern und Weibeln verlieh man unser herren roek, was Ausdruck ihrer speziellen Funktionen im Dienste der Stadt sein konnte. I02 Schilling fuhlt sich nicht nur der Visualisierung von Rechtsraumen in der Stadt verpflichtet. In der legendenhaften Erzahlung der ,Mordnacht', welche als Motiv seit Mitte des 15. Jahrhunderts - und verstarkt in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts - in die stadtischen Chroniken Eingang gefunden hatte, kommen den heimlichen Briefen und unsichtbaren Handlungen, welche ihren Anfang an wenig offentlichen Orten der Stadt genommen hatten, eine zentrale Rolle zu. Die nachtlichen Verschworer hatten sich in der ,Mordnacht' zur Umsetzung ihres geplanten Mordanschlags auf die schlafende Stadt under dem grojen schwibogen l03 an der Eck versammelt, weil dort umb die zit in der nacht allerminst /uten wand/ote fund] sy wustend ouch, dz zu den se/ben zitten die wachter nit an die Eck oder durch den schwibogen giengend. 104 Die heimlichen Machenschaften der
Verbiindeten, geeint ,mit Brief und Siegel', zielen in der Folge auf die Pervertierung der legitimen Schwurgemeinschaft der Burger und weisen in ihrem Kern auf die Dialektik von ,coniuratio' und ,conspiratio' als einem pragenden Element stad-
100 Vg!' Mertens, Wappenrock, S. 193. 101 SSRQLU 111, Nr. 102b, S. 201. 102 Vg!' SSRQLU 111, Nr. 159, S. 258, Ebd. Nr. 188, S. 282; Ebd. Nr. 209, S. 301. Ebd. Nr. 218, S. 310; Ebd. Nr. 219, S. 310. 103 Als Schwibbogen wurde in Luzern ein Torbogen bezeichnet, der sich von einer Gasse zur anderen wolbte. Vg!. Glauser, Verfassungstopographie, S. 66. 104 Schmid, Luzerner Chronik des Diebold Schilling, S. 18.
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tischer Rechtsraume im Mittelalter. 105 An kaum einem anderen Motiv stadtischer Selbstdarstellung wie an dem der Mordnacht lasst sich so deutlich zeigen, dass sich hinter dem Gebrauch von Schriftstiicken im stadtischen Rechtsraum letztlich ein Kampf der Zeichen verbirgt, und zwar nicht nur der ,Wortzeichen', der konkurrierenden Schriftstiicke, sondern aller sichtbarer und unsichtbarer Zeichen. Schilling hat die Erzahlung des nachtlichen Mordanschlags und seiner schicksalhaften Vereitelung durch einen Knaben in Bild und Text festgehalten (Abb. 7) .106 Er berichtet zu Beginn ausfiihrlich, wie sich nach Abschluss des Luzerner Bundes mit den drei Waldstatten bei etlichen Biirgern und Anhangern der Habsburger Widerspruch geregt hatte, der wohl deshalb nicht auf offene Ohren stieB - so Schilling - da der merteil was daran by den lendern ze bliben und alf! biderb lut brief! und sigel ze halten. l07 Im Bewusstsein der Aussichtslosigkeit ihrer Position sehen sich die Unzufriedenen veranlasst, ihren politischen Zielen in Form eines eigenen Biindnisses Ausdruck zu verleihen: und alf! nu die so lesterichsch
warend marcktend, dz sy nit mochtend forbrt£chen und oberhand haben, so machtend under einander ein heimlichen anschlag und geselschaJft, verpundend sich ouch zesamen mit gelupten, eyden, brie./fund siglen, also das alle die, so in der selben puntnijJ warend, sich mustent gegen einander verbrieffen. 108 Es geschieht also genau das, was
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in cler Stadtgemeinde iiblich ist und diese konstituiert. Dieselben Verfahren werden freilich hier als verwerflich dargestellt: Es sind Ziele, die Urteile nach sich ziehen und dariiber hinaus durch ihre Heimlichkeit, die zwar ebenfalls mit der Praxis der Obrigkeit konform ist, deren Monopol auf Geheimhaltung aber in F rage stellen und herausfordern. Als auBeres Zeichen ihrer Verbundenheit und zur gegenseitigen Erkennung vereinbarten die Verschworer das Tragen eines roten kmels, was ihnen zu dieser Zeit den Obernamen ,Rotarmler' einbrachte. In der Folge ist ihren grausamen Mordabsichten kein Erfolg beschieden, so will es zumindest die Erzahlung. Nachdem sich die Verschworer unbehelligt an besagtem art versammelten, urn ihren nachtlichen Plan umzusetzen und die ,gut Eitgnossen' - in der Version Etterlins sind es Ratsherren, deren Hauser von auBen mit einem geheimen Zeichen kenntlich gemacht wurden - zu ermorden, gelingt es einem Knaben, villicht ujJ glettlicher schickung, so meint Schilling, die Tater zu belauschen. U nter Einsatz seines Lebens, nachdem er den Verschworern unter Eid hatte versprechen miissen, niemandem von seiner nachtlichen Entdeckung zu berichten, findet der verzweifelte Knabe in der Gesellschaftsstube der Metzger Zuflucht. Dort brennt zur spaten Stunde noch Licht und es sind viele Leute 105 Vg!. hierzu die zahireichen Arbeiten von Otto Gerhard Oexie: Oexie, Friede, S. 115-150; Ders., Kuitut, S. 119-137; Ders., Konflikt, S. 65-83. 106 Schilling, LuzernerChronik, S. 18-20. Vg!. a. Groebner, Parameter, S. 145-151. 107 Zit. Schilling, Luzerner Chronik, S. 18. 108 Ebd.
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versammelt. In einer Rede am Ofen inmitten der Stube erzahlt er, was er gehort und keinem Menschen zu sagen geschworen hatte. Den aufgeschreckten Gasten in der Gesellschaftsstube gelingt es daraufhin in letzter Minute, die schlafende Stadt zu retten. Besonders Groebner hat auf die Vielschichtigkeit der Erzahlungen der ,Mordnacht' im Hinblick auf die stadtischen Rechtsraume und ihre Visualisierung aufmerksam gemacht. 109 Dabei werden die Rechtsraume in zweierlei Hinsicht visualisiert bzw. konterkariert. Zum einen sind es die Verschworer, die mit ihren unrechtmaGigen Absichten den stadtischen Frieden gefahrden, aber schlieglich an ihren eigenen Erkennungszeichen erkannt werden konnen. Zum andern konfrontiert Schilling die Vergangenheit direkt mit der stadtischen Raumkontrolle seiner Gegenwart. Bei der Beschreibung des heimlichen Treffpunkts der Verschworer under dem grojJen schwibogen an der Eck vermutet Schilling, dass diese den art vor allem daher gewahlt hatten, weil die stadtischen Wachter damals nicht durch den T orbogen gingen. Seither habe man allerdings verordnet, so fugt er hinzu, dass sie ouch in all ander winckel ze gan und ze lugen hatten. Schilling evoziert hier nicht nur die Bedrohung durch den Feind, sondern auch die erfolgreiche Raumkontrolle in allen Winkeln und Ecken der Stadt durch die obrigkeitliche Gewalt, die Homogenisierung des stadtischen Rechtsraumes. llo Schillings Darstellung ist ebenso fiktional wie das bei ihm genannte Datum; er vermischt ganz offensichtlich Elemente der stadtischen Unruhen von 1328/30 und 1343 miteinander. 111 Beide Male stellten Sondergellibde und heimliche Schwureinungen eine ernsthafte Bedrohung flir die Schwurgemeinschaft der Gemeinde als der grundlegenden Rechtsform im stadtischen Rechtsraum dar. 1328 waren es vor allem strittige Rechtsansprliche zwischen der Stadt und dem osterreichischen Vogt, welche zur Spaltung innerhalb des Rates und der Gemeinde beitrugen. Die Uneinigkeiten veranlassten in der Folge die Mehrheit der Ratsmitglieder und einige Nichtmitglieder zur heimlichen Ausstellung eines ,Geschworenen Briefes', worin sie ihren politischen Zielen Ausdruck gaben und sowohl die Respektierung und den Schutz der Rechtssphare der Habsburger als auch derjenigen der Stadt beschworen. Die Verschworer kamen der ursprlinglichen Intention des ,Geschworenen Briefes' sehr nahe, d.h. einer gemeinsamen Interessensfindung von Gemeinde und Vogt, wichen aber eklatant von der politischen Bedeutung der Urkunde ab, die sie im 14. Jahrhundert erlangt hatte. Die Interpretation bezog sich auf unterschiedliche Zeitschichten und provozierte den Konflikt. Losgelost vom Kontext lieg sich der schriftliche Text nicht verstehen; je nach Kontextbezug
109 V. a. Groebner, Parameter, S. 145ff. 110 Schilling, Luzerner Chronik, S. 18. Vg!. a. Groebner, Parameter, S. 146f. III Vg!. Glauser, Luzern, S. 65 u. 132; Wanner, Ratsopposition, S. 3-18.
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wurden gegensatzliche Positionen eingenommen. Erst als sich im Kon£likt mit dem Vogt 1330 eine Regelung abzeichnete, konnte auch der innerstadtische Kon£like mit einem weiteren Schworbriefbeigelegt werden, welcher vom gesamten Rat und der Gemeinde als Zeichen ihrer neuerlichen Einung offendich beschworen wurde. 112 Ahnlich diirften 1343 - wie auch schon 1337 im Fall der Miihlenbesitzer und Miiller - Sonderschwiire und heimliche Biindnisse einzelner Biirger oder Handwerker wiederum zu heftigen Zerwiirfnissen gefiihrt haben. 113 Auch diesmal erneuerten Rat und Gemeinde als Siihneleistung und zur Wiederherstellung des Stadtfriedens ihre Schwureinung, indem sie fortan jeglicher Art von Sonderbiindnissen unter Eid zu entsagen gelobten, was eigendich schon im halbjahrlichen Schwur auf den ,Geschworenen Brief' miteingeschlossen war. Mit dem neuerlichen Eid auf den ,Geschworenen Brief' war jetzt aber die Pflicht jedes Einzelnen verbunden, selbst als Wachter der Schwureinung - ahnlich den Begebenheiten in der ,Mordnacht' - im stadtischen Rechtsraum tatig zu werden und schon das Wissen urn heimliche Verschworungen nicht zu verschweigen, sondern dieses dem Rat zu offenbaren, wollte man sich nicht des Schworens eines Meineids schuldig machen. 114 Die Initiative zu einem auBerterminlichen Eidschwur auf den ,Geschworenen Brief' am Ende des Konflikts diirfte maBgeblich vom stadtischen Rat ausgegangen sein. Mit der konkreten Bedrohung legitimer Zeichen wie dem Eid und dem ,Geschworenen Brief' durch illegitime Zeichen, erschaffen an heimlichen Orten und in Gesellschaftsstuben, war namlich nicht nur die Bedrohung der Schwureinung von Rat und Gemeinde verkniipft, sondern die politische Ordnung an und fiir sich in Frage gestellt. Auch wenn der Eid in diesem Fall nicht auf den ,Geschworenen Brief' geleistet wurde, so machte er doch die dort verankerten Grundsatze einmal mehr sichtbar. Dadurch, dass der Eid an einem ungewohnten Termin geschworen werden sollte, reprasentierte er zudem einen auBerordendichen Akt der Durchsetzung und Aktualisierung der legitimen stadtischen Ordnung in der Offendichkeit. Mit der gemeinsamen Erneuerung der stadtischen Schwureinung ging auch die Vereidigung und Bekanntgabe fiinf neuer Satzungen einher, welche die obrigkeidichen Regelungskompetenzen rur zukiinftige Kon£likte festschrieben. In der Verbindung mit den iiblichen legitimen Zeichen entfalteten diese ihrerseits ihre Wirkung als neue Herrschafts- und Wortzeichen. ll5 Schillings Erzahlung legt gerade beziiglich der Bedeutung der Handwerker und ihrer Gesellschaftsstuben als Orte politischen Handelns eine ambivalente Haltung offen. Zum einen ist es in der ,Mordnacht' den Metzgern und vor allem 112 113 114 115
Vg!. Glauser, Luzern, S. 46-79. Vg!. Dubler, Handwerk, S. 26f. SSRQLU Ill, Nr. 23, S. 104f. Vg!. Ebd. besonders Bern. 4, S. 106. Vg!. Jiine, Funktion, S. 13-16.
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der OffentIichkeit ihrer Gesellschaftsstube - als einzigem art, wo zu spater Stunde no ch Licht brennt - zu verdanken, dass die schIafende Stadt schIiemich vor grogem Unheil gerettet wird. Zum anderen geht von den Handwerkern und ihren Sonderschwuren, ganz zu schweigen von den Gesellschaftsstuben als Brutstatte zahIreicher Konflikte und Geruchte, welche rasch in politische Vorwurfe und ubIe Nachrede umschIagen konnten, eine Gefahr fur den stadtischen Frieden und die Schwurgemeinschaft der Burger aus. IIG Zu eigentlichen Unruhen zwischen den Handwerkern und dem stadtischen Rat kam es dann in den 1330er und nochmals in den 1360er Jahren. Doch konnten sich die Handwerker in Luzern nicht gegen den Rat durchsetzen und mussten am Ende ihre Ambitionen auf politische Partizipation vorerst begraben. 1I7 lm Fall der MuhIenbesitzer und Muller war 1337 mit der Aufhebung samtlicher Sondergelubde auch die Beschneidung eigener Regelkompetenzen verbunden. Anderungsvorschlage, Ordnungsbedurfnisse und Unstimmigkeiten innerhaIb der Gesellschaft sollten in Zukunft nur unter der Aufsicht des Rates geregelt werden konnen.1I8 Dennoch fehIte es in der Folge nicht an Versuchen der Handwerker, ihre auf handwerkIiche Vergehen beschrankte Gerichtsbarkeit auch auf andere Straftaten auszudehnen. Dazu hatten die verschiedenen Gesellschaften ubereinstimmend einen Artikel angenommen, welcher festschrieb, dass die Stubengenossen bei internen Streitigkeiten erst nach AbIauf einer Frist von vierzehn Tagen vor dem Rat klagen durften. Der stadtische Rat setzte diese Bestimmung sogleich ab, da sie gegen den ,Geschworenen Brief und das Stadtrecht verstieK 119 Dennoch gaben die Gesellschaften auch in der Folge ihren Anspruch nicht auf. lmmerhin wurde der Artikel von 1417 auch in die spateren Stubenordnungen teilweise bis zum Ende des 16. Jahrhunderts unverandert immer wieder ubernommen. DesgIeichen muss trotz des Verbots die Handwerksgerichtsbarkeit in den Gesellschaftsstuben in bescheidenem Ausmag heimIich weiterbestanden haben. 120
116 Vg!. Wechsler, Ehre, S. 225. 117 Dubler, Handwerk, S. 26-29. 118 Vg!. SSRQLU 1/1, Nr. 19, S. 97. Ebd. Nr. 20, Art. 1. Ebd. Nr. 21, Art. 5. Dubler, Handwerk, S. 27. Vg!. auch Segesser, Rechtsgeschichte 2, S. 184f. Bern. 5. 119 Vg!.SSRQLUlIl,Nr.143,S.246. 120 Dubler, Handwerk, S. 52.
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3.4 Kanzlei und Schreiber Es wil jetz alles schryber sin vnd Jeder ein fider von der gans haben [ .. .}. /21 Die Orte der HersteUung von Schriftstiicken und die damit betrauten Spezialisten sind naturgemaB eng mit der Entstehung und Entwicklung der stadtischen Schriftlichkeit verbunden. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die mit dem Urn fang der Regierungs- und Vetwaltungstatigkeit wachsende Schreibarbeit zunachst von sporadisch engagierten Schreibern ausgefiihrt wurde. Erst spater verpflichtete die Stadt standig in ihrem Dienst stehende Rats- oder Stadtschreiber. Es wird angenommen, dass in der Regel seit dem 13. Jahrhundert ausgehend vom Amt des Stadtschreibers der Ausbau der Schreibstube oder Kanzlei zu einer wichtigen stadtischen Institution erfolgte. 122 In ahnlicher Weise entwickelten sich auch die Verhaltnisse in Luzern, auch wenn diese in Ansatzen erst mit einer Verzi::igerung von hundert J ahren genauer zu verfolgen sind. 123 Eine vergleichend angelegte Untersuchung, welche die Entstehung von stadtischen Kanzleien und die Ausbildung von Formen der Verwaltung, der HersteUung und der Aufbewahrung von Schriftstticken breit thematisiert, steht bis heute aus. 124 So ist auch die RoUe der Stadtschreiber als Innovationstrager der neuen Kulturtechnik bisher nicht ausreichend herausgearbeitet worden. Ober die verwaltungstechnischen Tatigkeiten hinaus war ihre Funktion ganz aUgemein ftir die Etablierung schriftgestiitzter Herrschaftsformen weit wichtiger als bislang angenommen.125 Anstrengungen, die
121 StALU COD 1440/3, fo!' 6v. 122 Vg!. hierzu allgemein: Skrzypczak, Stadt; Pitz, Schrift- und Aktenwesen, S. 122fT.; Burger, Stadtschreiber; Schmied, Ratsschreiber; Isenmann, Stadt, S. 143f. Ebenso zur Entwicklung im Gebiet der heutigen Schweiz u.a.: Elsener, Notare; Breiter, SchafThauser Stadtschreiber; Sulser, Stadtschreiber Peter Cyro; Mommsen, Basler Kanzleiwesen; Ruck, Kanzellariat; Ders., Kanzlei; Zahnd, Studium. 123 Vg!. allgemein zu den Luzerner Stadtschreibern und zur Kanzlei: Weber, Beitrage; Glauser, Schreiber; Gossi, Archivordnungen; Ders., Verwaltung; StaufTacher, Johannes Fricker; Wanner, Schreiber; Head, Abbildung. 124 In diesem Zusammenhang ist am ehesten die Untersuchung von Pitz zu erwahnen, indem darin die Verhaltnisse in Koln, Nurnberg und Lubeck miteinander verglichen werden: Pitz, Schriftund Aktenwesen. Allerdings verfolgt Pitz dabei, wie bereits in der Einleitung dargelegt wurde, Vorstellungen, die zu stark auf die Konstruktion linearer Entwicklungslinien ausgerichtete sind. Vg!' Kap. 1, S. XXX. 125 In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf das vielfalrige Wirken des Berner Stadtschreibers Thuring Fricker (1429-1519) verwiesen, welcher wahrend zehn Jahren der Stadtkanzlei vorstand und uber seine verwaltungstechnische Tatigkeit hinaus als Gelehner, Chronist und Politiker die politische Kultur Berns im spateren Mittelalter maflgeblich pragte. Zu seiner Funktion als Stadtschreiber fur die politische Entscheidungsfindung des Rates vg!.: Esch, Alltag. Zu seiner Rolle als Chronistwahrend des Twingherrenstreits (1469-1471) vg!.: Schmid, Reden,
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Schreiber vermehrt als Trager einer Kanzleikultur zu sehen, sind bisher vor allem von Seiten der Literatur- und Medienwissenschaft unternommen warden. Im Vorwort des Sammelbandes einer 1999 zur europaischen Kultur der Sekretare abgehaltenen Tagung heiGt es, dass der Titel des Sekretars, Kanzlisten, Archivars oder Bibliothekars nicht einfach auf eine Geschichte von unterschiedlichen Funktionaren, Berufsgruppen und Karrieren verweise, sondern "vielmehr ein Ensemble aus - politischen, administrativen, technischen, diskursiven - Operationen versammle, mit denen die abendlandische Schriftkultur zur Basistechnologie fUr die Verwaltung von Dingen und Leuten, ihrer Verhaltnisse und ihrer Verkehrsformen geworden" sei. 126 Zudem gebe es gute GrUnde, "sekretare Figuren und Praktiken als Leitfossilien fur eine Geschichte zu betrachten, in der sich Aufschreibeweisen und gouvernementales Handeln zu einer neuen Ordnung der Dinge verschrankt." Diese Ansatzpunkte haben in der Geschichtsforschung bisher nur wenig Resonanz ausgelost. Dort blieb die Beschaftigung mit Schreibern und anderen sekretaren Personen lange mehrheidich von verwaltungs- und bildungsgeschichdichen Fragestellungen gepragt. 127 Erst mit dem neu aufkommenden Interesse an den HintergrUnden einer brei ten Verschriftlichung gesellschaftlichen Handelns rUckte jene mobile geistige Elite, zu der auch die Stadtschreiber zu zahlen sind, als Trager der Schriftkultur vermehrt ins Blickfeld. 128 Dabei ging man davon aus, dass diese Angehorigen einer ,europaischen Intellektuellenschicht' trotz ihrer heterogenen Zusammensetzung ein gemeinsames Streben nach Wissen und Erkenntnis verband, welches an den aus den bisherigen Bildungssystemen entwickelten intellektuellen Zentren erworben worden war. Indes konnten die diesbezUglichen Erklarungen bisher nicht resdos Uberzeugen, umso mehr als der Anteil dieser hohen Verwaltungsbeamten am Prozess der Veschriftlichung selbst bis heute nur in seinen allgemeinen Konturen skizziert wurde. Vor allem die damit verbundene Vorstellung, wonach die neuen Verfahren des Verwaltungshandelns und der
S. 38-70. FUr Luzern hat Wanner neuerdings versucht, die institutionelle Verfestigung der stadtischen Kanzlei vor allem von den Personen der Stadtschreiber aus nachzuzeichnen: Wanner, Schreiber. 126 Die T agungsband Europa. Kultur der Sekretare wurde von Bernhard Siegert und J oseph Vogl herausgegeben. Er geht auf eine Tagung zurUck, welche 1999 in Zusarnmenarbeit mit dem Zentrum flir Literaturforschung (Berlin) und dem Kolleg Friedrich Nietzsche der Stiftung Weimarer Klassik an der Fakultat Medien der Bauhaus-Universitat Weimar stattgefunden hat. Zit. Siegertl Vogl (Hg.), Kultur, S. 7. V. a. zwei Beitrage berUhren das Mittelalter: MUller, Archiv, S. 13-27; Wenzel, Sekretare, S. 29-43. 127 Hier seien als neuere Arbeiten genannt Kinrzinger, Bildungswesen; Zahnd, Studium; Jucker, T eilzeitangestellten. 128 Von den zahlreichen Untersuchungen von Hagen Keller zum vielschichtigen Verhaltnis von Stadtkultur und Verschriftlichung seien v.a. erwahnt: Keller, Entwicklung, S. 193ff; Ders., Veranderung, S. 21.
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Rechtspflege von dieser in regionalen und tiberregionalen Bildungszentren ausgebildeten Verwaltungse!ite in die Stadte gebracht wurden und sich anschlieGend auch unter weniger gebildeten Schichten verbreitet hatten, greift moglicherweise zu kurz. SchlieBlich werden die Rezipienten von Schrift in dieser Perspektive beinahe ausschlielSlich in die passive Rolle einer Anpassung an Normen und Verfahrensgrundsatze gedrangt. Dies zudem erst, nachdem aufgrund tiefgreifender soziokultureller Veranderungen neue diesbeztigliche gesellschaftliche Bedtirfnisse entstanden sein soHen. 129 Ein kurzer Blick in die Kanzleigeschichte zeigt allerdings, dass in Luzern von einem konsequenten Ordnungsstreben bei der Ausbildung administrativer Verfahren mit Schrift, se!bst wenn die Schreiber in einer gewissen Phase in der tiberwiegenden Zahl eine universitare Ausbildung genossen, nicht vie! zu sptiren war. Schon eine breitere Definition dessen, was gemeinhin als Schriftkompetenz der Schreiber umschrieben wird, worunter die Fahigkeit zur Herstellung von Verwaltungs- und Rechtsdokumenten verstanden wird, konnte aus dieser allzu engen Sichtweise herausftihren. Und zwar dann, wenn neben ihrem praktischen Wissen im Umgang mit Schrift vermehrt auch ihre Kompetenzen und Funktionen im Hinblick auf eine glaubwtirdige, konsensstiftende und als legitim erachtete Vermittlung von Schriftlichkeit in einer illiteraten und primar der Mtindlichkeit verpflichteten Gesellschaft miteinbezogen werden. Das bringt neben den Orten der Schriftherstellung auch das Sozialprofil der Stadtschreiber wieder starker in die Wirkungszusammenhange von Stadtkultur und Schriftlichkeit. Im Folgenden kann das Sozialprofil der Stadtschreiber nur soweit dargestellt werden, als es zum Verstandnis ihrer Funktion im Hinblick auf die verschiedenen offentlichen Strategien im Umgang mit Schrift beitragt. Im Falle Luzerns ist mit einer quantitativen wie qualitativen Zunahme der stadtischen Schriftlichkeit frtihestens seit dem Ende des 14. Jahrhunderts zu rechnen. 130 Allerdings lasst sich schon seit Beginn des 14. Jahrhunderts die Tatigkeit verschiedener Schreiber nachweisen, welche se!bststandig arbeiteten oder im Dienst geistlicher Institutionen standen. Obwohl einige dies er Schreiber sich se!bst als Stadtschreiber bezeichneten, kann zu dieser Zeit von einer dauerhaften
129 Keller, Entwicklung, S. 194. In einem spateren Beitrag zur administrativen Entwicklung in den italienischen Stadtkommunen verliert die Sichtweise, wonach die Verschriftlichung var allem aIs Leistung einer kleinen Elitegruppe anzusehen ist, wieder an Bedeutung. Keller argumentiert stattdessen mehr mit einer strukturell bedingten Eigendynamik des Verschriftlichungsprozesses und einem grundlegenden Wandel in den stadtischen Macht- und Herrschaftsverhaltnissen. Vg!. Keller, Verschriftlichung, S. 24ff. 130 Vg!. zur Entwicklung der VerwaltungsschriftIichkeit in Luzern: Gossi, Verwaltung, S. 171-197; Kilrner, Staatsfinanzen, S. 17-34; Wanner, Schreiber, S. 2-44.
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Indienstnahme durch die Stadt nicht ausgegangen werden. 131 Vielmehr dlirfte es sich allenfalls urn das gehandelt haben, was Kintzinger flir Braunschweig als das Prinzip der "aktuellen Funktionslibertragung" bezeichnete: Der stadtische Rat zog flir die Herstellung und die Verlesung von Urkunden sowie flir die einsetzende AufZeichnung von Rechtssetzungen bei Bedarf einen meist geistlichen Schreiber hinzu.132 Im Vergleich zur liberregionalen, gesamteuropaischen Entwicklung, wo nach einer Phase des Obergangs mit einer intensiven Durchdringung seit dem 13. und 14. Jahrhundert fast aller Lebensbereiche mit Schrifdichkeit zu rechnen ist, kam der Schrift in Luzern vorerst eine relativ geringe Bedeutung zu. Offenbar verzichtete auch der stadtische Rat flir die meisten rechdichen und administrativen Handlungen weitgehend auf die Schriftform. Daran andert auch eine umfassende und relativ frlih angelegte Statutensammlung nichts, das sogenannte ,AIteste Ratsblichlein', welche von Schreiber Johannes Kotmann zwischen 1315 und 1321 angelegt worden war und zum Teil bereits Abschriften alterer Satzungen enthielt. 133 Die weit lib er zweihundert Ratsbeschllisse umfassende Statutensammlung kann nur schwerlich als Hilfsmittel flir eine schriftgestlitzte Entscheidungsfindung des Rates gedient haben, da der Zusammenstellung, abgesehen von einer Ratsordnung zu Beginn der Sammlung, keine ersichdiche Systematik zu Grunde liegt. Einzig der Schreiber, welcher sich wohl no ch am ehesten an die Abfolge der geschriebenen Artikel erinnern mochte, konnte durch das Vortragen einzelner Artikel die Sammlung fur den Gebrauch nutzbar machen. Da Kotmann weder als Schreiber noch als Sprecher wahrend der Ratssitzungen regelmaBig zur Verfugung stand, konnte die Sammlung zumindest zum Zeitpunkt ihrer Entstehung nur sehr beschrankt die Funktion eines Gerichtsbuches erflillen. 134 Auch die nachfolgenden Schreiber haben das Ratsblichlein bis 1402 zeitweise flir die Aufzeichnung von Rechtssetzungen benutzt. In dieser Funktion ist es im Verlauf des 14. Jahrhunderts allmahlich erst durch das 1357 entstandene sogenannte ,Alteste Blirgerbuch' und spater durch die 1381 einsetzenden Ratsprotokolle ersetzt worden. Dies entspricht einer Entwicklung, wie sie in anderen Stadten, welche liber das ,ius statuendi' verfligten, zu beobachten ist. Auch dort stellten Gesetzeslisten in unterschiedlicher Form und Lange meist eine Vorform zur Rechtssetzung in Sitzungs-
131 Glauser, Schreiber, S. 96; Wanner, Schreiber, S. 4. 132 Kintzinger, Bildungswesen, S. 469. 133 SSRQLU 1/1, Nr. 9, S. 25-60. Allgemein zum so genannten ,Altesten Ratsblichlein' in Luzern: Segesser, Rechtsgeschichte 2, 174; Weber (Hg.), Ratsblichlein, S. 3-7; Gossi, Verwaltung, S. 184f.; Sablonier, Gesellschaft, S. 126. 134 Bedenken zur Funktion normativer Aufzeichnungen des 12.-15. Jahrhunderrs als Grundlage flir eine geregelte Rechtssprechung aullerte auch: Mihm, Dingprotokoll, S. 44.
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protokollen dar. 135 Erst im 15. Jahrhundert wurde der umfangreiche Bestand des ,AItesten Ratsbuchlein' fur einen schriftgebundenen Gebrauch als Gerichtsbuch nutzbar gemacht, indem viele auch der altesten Satzungen am Rand jeweils mit einem Stichwort versehen wurden, was ihr Auffinden unabhangig von der Leistung des Schreibers erleichterte. Der Schopfer der ersten Statutensammlung, Kotmann, und auch sein Nachfolger Meister Diethelm sind die ersten Schreiber, von denen nachgewiesen ist, dass sie ihre Ausbildung an einer Universitat erhalten haben.136 Insbesondere Kotmann kann zu jener beweglichen Gruppe geisdicher Verwaltungsspezialisten gezahlt werden, die ihre vielfaltigen Kompetenzen im Umgang mit Schrift in den verschiedensten Bereichen einzusetzen verstanden. So amtierte er gleichzeitig neben seinem Engagement fur die Stadt als Schulmeister an der Schule des Klosters im Hof. Zudem vertrat er haufig seinen Bruder Waiter, der zugleich Leiter der Stiftsschule Beromunster und Kuster des Klosters im Hof war, bei der Verwaltung der Kusteramtsguter. 137 Allerdings brachte er seine ausgewiesenen Verwaltungskompetenzen nicht mehr in den Ausbau einer stadtischen Verwaltung mit ein. Dies lag daran, dass dazu zu seiner Zeit wohl noch keine Notwendigkeit bestand. In der zweiten Halfte des 14. Jahrhunderts wuchs dann seitens der Stadt das Bedurfnis, einen hauptamdichen Schreiber in ihren Dienst zu nehmen. Dies zeigt sich darin, dass nun auch in zeitgenossischen Schriftstucken die Bezeichnung ,Stadtschreiber' zur Kennzeichnung bestimmter Personen auftritt. 138 1359 findet sich in einer Luzerner U rkunde ein Werner Hofmeier der stat schriber. Auch wenn im Quellenmaterial die Bezeichnung ,Stadtschreiber' schon fruher auftaucht, bedeutet das nicht zwangslaufig, dass diese in einem festen DienstverhaItnis mit der Stadt standen.139 Hofmeier war der erste Schreiber, welcher neben der Ausstellung von Urkunden und der Aufzeichnung von Rechtssetzungen uber mehrere Jahre hinweg kontinuierlich verschiedene Vetwaltungsaufgaben wahrnahm. Diese Neuerungen durften vom Rat ausgegangen sein und waren Ausdruck der krisenhaften Ereignisse der 1350er Jahre. 140 Offenbar hatten die hohe Finanzbelastung aus den verschiedenen kriegerischen Auseinandersetzungen an der Seite der eidgenossischen Bundnispartner und befreundeter Stadte gegen die Habsburger zusammen mit einer extensiv betriebenen Burgerrechtspraxis erstmals die Notwendigkeit ei-
135 Vg!. zu den Verschriftlichungsstufen stadtischer Rechtstraditionen: Mihm, Dingprotokoll, S. 53ff. 136 Wanner, Schreiber, S. 4. 137 SSRQ LU 111, Einleitung, S. XLII. 138 Schmied, Ratsschreiber, S. 23. 139 Glauser, Schreiber, S. 96 zit. Segesser, Rechtsgeschichte I, S. 491. Vg!.a.Wanner, Schreiber, S. 4. 140 Marchal, Sempach, S. 118-132.
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ner schriftgebundenen Verwaltungstatigkeit generiert. 141 Hofmeier versuchte den neuen Anforderungen mit der Anlage Ubersichtlich gestalteter BUrger-, Waffen-, Steuer- und Statutenlisten gerecht zu werden. 142 In seinen Bestrebungen zeigen sich erstmals Ansatze dazu, Verwaltungsaufgaben mit der UnterstUtzung schriftlicher Verwaltungsdokumente planend zu strukturieren - auch wenn im Nachhinein nicht immer nachvollzogen werden kann, ob und wie die einzelnen Verwaltungsschritte umgesetzt wurden. SchlieBlich gehorte dazu auch die Anlage eines gemischten Stadtbuches, welches in der einschlagigen Literatur ,AItestes BUrgerbuch' genannt wird, obwohl diese Bezeichnung schon seit langerem als unztreffend gilt. 143 Das Stadtbuch sah neben BUrger- und Statutenlisten auch eine Rubrik fUr die chronologische Aufzeichnung erinnerungswUrdiger Oaten aus der jUngeren Vergangenheit Luzerns vor. Besonders neuere Untersuchungen haben ihr Augenmerk vermehrt auf diese historiographischen Eintragungen und Verwaltungsnotizen aller Art gelenkt, wie sie haufig in StadtbUchern anzutreffen sind, und haben diese entgegen alteren Ansichten nicht als Historiographie zweiter Klasse, sondern wertfreier als ,dokumentierende Aufzeichnungen' bezeichnet. 144 Gemeinsam ist ihnen, dass sie oft einen engen Bezug zur Politik des Rates aufweisen. Das bestatigt sich auch im Luzerner Stadtbuch, in dem gerade die Ereignisse der Krise, welche den Ausschlag zur Herstellung gegeben haben, zumindest am Anfang mehr oder weniger chronologisch rapportiert wurden. Mehr noch als nur die Nahe zum politischen Handeln des Rates zeigen sich in den historiographischen AufZeichnungen die Absichten des Stadtschreibers, seine vielfaltigen Verwaltungshandlungen in den Gesamtzusammenhang der politischen Ereignisse zu stellen und diese dadurch zu dokumentieren und legitimieren. Nicht zuletzt spiegelten sich darin aber auch die kurzfristigen politischen Motivationen, welche den Anlass fUr die verschiedenen Verwaltungsaufgaben gegeben hatten. Insofern blieben Hofmeiers BemUhungen auch auf den Moment beschrankt, zumindest ging von ihnen keine InitialzUndung fUr einen kontinuierlichen Ausbau einer schriftlichen Verwaltungstatigkeit aus. Auch wenn die N achfolger Hofmeiers sich nicht an die vorgegebenen Strukturen hielten, so benutzen sie das Stadtbuch doch bis zum Ende des 15. Jahrhunderts fur ihre Eintragungen. Es nahm somit immer mehr die Form eines stadtischen Rechts-, Verwaltungs- und Erinnerungsbuch an, in welchem jeder Stadtschreiber scheinbar willkurlich seine Notizen und Rechtssetzungen hinterlieK Den Aufzeichnungen aller nachfolgender Schreiber war aber zumindest erwas
141 Auch in Luzern hatten die sozialen und politischen Spannungen des 14. und 15. Jahrhunderts einen groBen Einfluss auf die Entwicklung einer schriftlichen Finanzverwaltung. Vg!. Kirchgassner, Frtihgeschichte; Schwab, Kassenfiihrung; Korner, Staatsfinanzen, S. 170-174. 142 Vg!. zuden einzelnen Verwaltungsschrifrstiicken: Gossi, Verwaltung, S. 171-197. 143 StALU COD 3655; Weber (Hg.), Biirgerbuch; Gossi, Verwaltung, S. 189. 144 Vg!. Wriedt, Geschichtsschreibung, S. 30-37 u. 45-48.
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One und Institutianen palitischen Handelns mit Schrift
gemein: Sie trugen alle in dem Teil, welcher fur die Aufzeichnung erinnerungswiirdiger Ereignisse vorgesehen war, eigenhandig ihre Namen in eine mit Schreiber Hofmeier beginnende chronologische Liste ein: Der erste Eintrag stammt von Hofmeiers N achfolger Johannes Fricker: Jtem anno domini m ° ccc ° Ix° fuit maxima pestilencia in partibus istis. Eodem anno in die decollacionis sancti Johannis baptiste obiit Wernherus dictus Hofmeiier notarius civitatis Lucernensis, qui hunc librum fecit. Es folgt wohl von der Hand Nikolaus Schulmeisters: Et successor suus fuit Johannes dictus Friker de Brugga [. . .].145 Aufs Eindriicklichste zeigt sich hier, dass weit wichtiger als die Fortsetzung der administrativen Verfahren die liickenlose Dokumentation der in Dienst genommenen Stadtschreiber war. Sie erscheinen dabei nicht so sehr als Trager eines Verschriftlichungsprozesses, sondern eher als Garanten einer rechtlich-administrativen Kontinuitatswahrung, welche sich nur punktuell und nach keinen einheitlich vorgegebenen Regeln und Verfahren auf schriftliche Hilfsmittel abstiitzte. In der Phase des Ausbaus der eigenen Herrschaft ab dem Ende des 14. Jahrhunderts berief die Stadt nachweislich ausschlieGlich von auswarts kommende Schreiber. Fraglich erscheint allerdings, ob der Bestellung fremder Schreiber die Absicht zu Grunde lag, Parteienbildung innerhalb der Stadt zu verhindern. 146 Auffallend haufig - und wohl kaum als Zufall zu werten - kamen die Stadtschreiber in dieser Zeit aus den aargauischen Stadten, welche direkt im Einflussbereich der Habsburger lagen. 147 Diese Haufung hangt vermutlich erst in zweiter Linie damit zusammen, dass die Habsburger, welche selbst eigene Schreiber beschaftigten, auch durch Fiirsprache bei geistlichen Institutionen und Stadten Schreibern leicht Stellen verschaffen konnten. Die im Umfeld der habsburgischen Verwaltung zu hoch qualifizierten Verwaltungsspezialisten ausgebildeten Schreiber diirften vom Luzerner Rat gezielt im Hinblick auf die neuen Aufgaben angestellt worden sein, welche mit dem Ausbau der eigenen territorialen Herrschatt zusammenhingen. 148 Viele Neuerungen betrafen namlich den Ausbau einer zentralen Verwaltung fiir das Umland. Die im Zuge des Ausbaus der eigenen Herrschaft angelegten Verwaltungsinstrumente diirfen in ihrer Bedeutung und Funktionsweise nicht an neuzeitlichen MaBstaben gemessen werden. So verbergen si ch hinter dem ,Rechnungsbuch Vogteien und Amter' vorerst nur wenig strukturierte, protokollartige Rechenschattsberichte von Vogten und Amtsinhabern iiber ihre Ein- und Ausgaben, welche den zustandigen Ratsmitgliedern oder Stadtrechnern jeweils vom Stadtschreiber zur Genehmigung vorgelesen wurden: Audientur computum collectarum: scultetus et H. Stans, C. Stege et Sidler.149 145 146 147 148
StALU COD 3655, fa!' 53v. Glauser, Schreiber, S. 89f. Wanner, Schreiber, S. 4. Marchal, Sempach, S. 133.
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Ein Hauptziel der verschiedenen MaBnahmen war die Neugestaltung der Herrschaftsverhaltnisse im stadtischen Einflussbereich, alIen voran die Beziehungen zu den Vogten und Amtsinhabern in den abhangigen Gebieten. Obwohl nun die KontroUe der Amtsleute in Form schriftlicher Rechnungsvorlagen vorgesehen war, lassen sich in keiner Weise grundlegende Tendenzen zur Entpersonalisierung der herrschaftlichen Personenbeziehungen erkennen. Vielmehr legt die Anlage der frlihen Rechnungsblicher nahe, dass sie die personliche Prasenz der Amtstrager und auch des Stadtschreibers geradezu voraussetzen, dessen Vortrag die mlindliche Rechenschaftsablegung und damit die Aktualisierung der Herrschaftsbeziehungen erst ermoglichte. Ganz deutlich zeigt sich dabei aber die von Anfang an zentrale schriftvermittelnde RoUe des Stadtschreibers als ein in den Ablauf der Herrschaftsorganisation integriertes Moment. Indem er seine Funktion im Dienst der Stadt auslibt, kann seine RoUe zugleich als herrschaftsvermittelnd bezeichnet werden. Mit einer regelmaBigen N utzung von Schrift flir die stadtische Herrschaftsauslibung, die mit einer allgemeinen Ausbreitung der Schriftkultur einherging, gewann der Stadtschreiber weiter an Bedeutung. Als Zeichen einer zunehmenden Verfestigung und der herausragenden Bedeutung seiner Funktion in der stadtischen Sozialtopographie kann die Verleihung eines reprasentativen Hauses als festen Wohn- und Arbeitsort an einem der zentralen Platze, dem Fischmarkt, im Jahr 1417 gelten. Dem vorausgegangen war die Abkopplung des Stadtschreiberamtes vom geistlichen Stand, welche in Luzern im Vergleich mit anderen Stadten relativ frlih und konsequent durchgeflihrt wurde. So berief die Stadt nach 1408 keine Geistlichen mehr in dieses Amt. Demgegenliber verzeichnen beispielsweise die Stadtschreiberlisten in Nlirnberg erst nach 1495 nur noch Laien als Vorsteher der stadtischen Kanzlei. 150 Gleichzeitig mit der Einrichtung einer Schreiberei zeigten sich auch Bestrebungen, die Kompetenzen und Fahigkeiten des stadtischen Schreibers im U mgang mit Schrift zu mehren und auf das gesamte luzernische Territorium auszuweiten. Einzig dem im Dienst der Stadt stehenden Schreiber war im gesamten stadtischen Herrschaftsgebiet, mit Ausnahme von WiUisau und Entlebuch, das Recht verliehen, Urkunden auszustellen. 151 Jegliche Schriftstlicke, selbst wenn sie besiegelt waren, soU ten kein krafJt han und unnutz sin, sofern sie nicht vom Stadtschreiber ausgesteUt worden waren. AusschlieBlich die Schreibfahigkeiten des Stadtschreibers in Verbindung mit seiner personlichen Autoritat soUten Schriftstlicken fortan RechtmaBigkeit und herrschaftliche Legitimitat verleihen.
149 StALU COD 6855. Vg!' a. SSRQ 111, Nr. 123, S. 223 Bern. 2; SSRQLU 1/1, Nr. 130, S. 234 Bern. 3. Zit. SSRQLU 111, Nr. 130, S. 234 Bern. 3. 150 Vg!. Glauser, Schreiber, S. 97; Schmied, Ratsschreiber, S. 55. 151 SSRQLU 111, Nr. 132, S. 236f.
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Orte und Institutionen politischen Handelns mit Schrift
In der Starkung seiner Position spiegelte sich nicht nur die groBere Bedeutung der Schriftstlicke als Herrschaftsinstrumente, sondern auch die veranderten Bedlirfnisse breiter Bevolkerungsgruppen sind hier ablesbar, welche sich als Folge der allmahlichen Ausbreitung der Schriftkultur seit der ersten Halfte des 15. Jahrhunderts bemerkbar machten. Auf eine gesteigerte Nachfrage deutet zum einen die T atsache hin, dass er die anfallende Arbeit wohl nicht mehr alleine bewaltigen konnte und deshalb zeitweise eine Hilfskraft beschaftigte. I52 Von einer breiten Palette verschiedener Rezipienten seiner Schreiberleistungen zeugen zum anderen die zahlreichen Eintragungen in den wenigen erhaltenen Notizheftchen der Stadtschreiber. 153 Neben dem Namen der Empfanger enthalten diese auch Informationen liber den Typ der ausgestellten Urkunde sowie liber die Hohe der veranschlagten Taxe. Da die Schreiber die Auftrage nur sporadisch notierten und die Informationen darliber unregelmaBig liberliefert sind, lasst sich der Umfang der Schreibarbeit, die sie neben ihrer Tatigkeit rur den Rat leisteten, nicht abschatzen. Dennoch ist davon auszugehen, dass ihre Schreibleistungen am haufigsten flir die Ausstellung schrifdicher Vollmachten, sogenannter ,Gewaltsbriefe', 154 von Missiven und Bittbriefen l55 in Anspruch genommen wurden. Zu den Auftraggebern zahlten neben Einzelpersonen auch geisdiche Institutionen und andere Herrschaftstrager. Das Einzugsgebiet hierflir reichte je nach Schreiber dann auch weit liber das luzernische Herrschaftsgebiet hinaus. Die Hohe der Geblihren, die der Stadtschreiber flir seine Beurkundungstatigkeit erhob, dlirfte oft Anlass von Konflikten gewesen sein. Darauf weist der Erlass einer detaillierten Geblihrenregelung im Jahr 1432 hin.156 N eben der hohen Mobilitat war es vor allem diese Auftragstatigkeit, welche in geographischer wie in sozialtopographischer Hinsicht einen groBen Wirkungskreis umspannte und die Stadtschreiber als Movens einer brei ten Verschrifdichung erscheinen lasst. Dass der Stadtschreiber eine offendiche Person war und weit liber die Stadtgrenzen hinaus als eine solche auch wahrgenommen wurde, dokumentiert ein Wirtshausgesprach in Langnau im Amt Willisau. Dem Luzerner Rat war der nicht sehr rlihmliche Ausspruch kolportiert worden, wonach ein Knabe aus Luzern dort die Nachrichtvom Tode des Stadtschreibers Golz imJahr 1427 mit den Worten angeklindigt hatte: Es giit abel ze Luzern, der schriber ist tod { .. }. 157 Die Identifikation von stadtischem Wohl mit dem des Stadtschreibers verdeut-
152 153 154 155 156 157
Wanner, Schreiber, S. 7. StALU COD 1440/4, fo!' 1-6. Vg!. a. StALU COD 1256/1, fo!' 200-20l. Vg!. Schweizerisches Idiotikon, Artikel,Gewaltbrief', Bd. 5, Sp. 494f. SSRQLU Ill, Nr. 258, S. 346. SSRQLU Ill, Ne. 132, S. 236. StALU RP 4, fo!' 109v.
Kanzlei und Schreiber
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licht, wenn auch ein gewisser Pathos in diesem Zusammenhang nicht zu leugnen ist, den zunehmend groGen Einfluss des Stadtschreibers. Dieser handelte zwar im Auftrag der Stadt, war aber keineswegs nur ein verlangerter (Schreib-)Arm der Obrigkeit. Entsprechend zahlreich sind die Belege von Schreibern, die ihre vielfaltigen Tatigkeiten, welche ihnen den Zugang zu einem groGen politischen Wirkungsfeld ertiffneten, flir die Verfolgung eigener Interessen nutzten. Nicht immer waren diese jedoch mit den politischen Absichten der Stadt vereinbar. Es konnte geschehen, dass die nebenamtlichen Aktivitaten der Schreiber oder U nterschreiber zum Vertrauensverlust seitens der Obrigkeit und zu einer langerfristigen Verdrangung aus der Position flihrten. In einigen Fallen verbargen sich dahinter Machtkampfe im Zusammenhang mit der Neubesetzung des Stadtschreiberamtes. 158 Gleichwohl flihrte das Engagement der Schreiber flir den Aufbau eines N etzes von politischen Beziehungen generell zu einer Festigung und Starkung ihrer sozialen Stellung. Der Handlungsrahmen des Stadtschreibers war seit 1427 durch den Wortlaut seines Eides vorgegeben: Er schwor, dem Rat gehorsam zu sein und vertraulich mit den stadtischen Blichern umzugehen. 159 Einheitliche Verfahren und Regelungen, welche die schriftliche Umsetzung der verschiedenen Verwaltungs- und Rechtshandlungen sowie seine herrschaftsvermittelnden Handlungen festlegten, bildeten sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts erst langsam aus. Bedingt durch die damit verbundenen U msetzungsspielraume waren viele Verwaltungs- und Rechtstexte von der individuellen Personlichkeit des jeweiligen Stadtschreibers gepragt und besonders auch von seinen Vorstellungen hinsichtlich eines ,rationalen' Gebrauchs schriftlicher Hilfsmittel. Oftmals wurden nach einem Wechsel im Stadtschreiberamt die begonnenen Ratsprotokolle und Sammlungen nicht weiter- oder einem anderen Zweck zugeflihrt. lm Gegenzug konnten vormals stillgelegte Ratsprotokolle von Stadtschreibern flir die Anlage von Statutensammlungen herangezogen werden. Desgleichen folgte die Arbeitsteilung der verschiedenen, zum Teil kurzfristig wechselnden Hilfs- und Unterschreiber bis ins 16. Jahrhundert keinen vorgegebenen Strukturen, wie unlangst eine neuere Untersuchung zur Enrwicklung der stadtischen Kanzlei Luzerns zeigte. GleichermaGen erfolgte der personelle Ausbau der Kanzlei keineswegs geradlinig und lieG sich nicht immer mit administrativen Notwendigkeiten begrlinden. 160 Die Bezeichnung Kantz/ye verdrangte erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts die lange gebrauchliche Umschreibung aft schribery. Die in anderen Stadten bereits seit der Mitte des 15. Jahrhunderts entstan-
158 Vg!. Wanner, Schreiber, S. 10f. 159 StALU RP 1, fo!' 323v. 160 Vg!. Wanner, Schreiber, S. 43.
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denen Stadtschreiberordnungen sind in Luzern erstaunlicherweise erst seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts erhalten und damit reichlich spat. 161 Gleichwohl werden auch hier schon frUher T endenzen deutlich, die Handlungsspielraume des Stadtschreibers klarer zu umschreiben und starker an das politische Handeln des Rates zu binden. Ein sicherer Hinweis dafUr sind die Veranderungen im Sozialprofil der Anwarter auf das Amt des Stadtschreibers. So wurden seit Beginn der 1460er Jahre mit wenigen Ausnahmen ausschlieGlich in Luzern geborene BUrger zum Stadtschreiber ernannt. 162 Eine weitere Verengung des Anwarterkreises zeichnet sich insofern ab, als sich immer haufiger unerfahrene Kandidaten aus der stadtischen Oberschicht durch FUrsprache einflussreicher Kleintatsmitglieder gegen die Sohne bekannter Schreiberfamilien durchsetzten, welche ihre Laufbahn als Kanzleigehilfen oder Unterschreiber begonnen hatten. 163 Die politische Amterlaufbahn mit engen Beziehungen zu den Inhabern der hochsten politischen Amter wurde mittlerweile hoher bewertet als eine hohe Spezialisierung im praxisbezogenen Umgang mit Schrift. Das Stadtschreiberamt war zum Inbegriff der VerfUgungsgewalt Uber Schrift und Schriftkompetenz geworden und hatte groGe Bedeutung im Ausbau von Sozialprestige und politischem Einfluss der FUhrungsgruppe erlangt. Die zu Beginn des 14. Jahrhunderts als schriftvermittelnd umschriebene Funktion des Stadtschreibers, die sich in einer ersten Phase des Herrschaftsausbaus mehr zu einer herrschaftsvermittelnden erweitert hatte, verschob sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts immer mehr zu einer schriftreprasentierenden Funktion in der stadtischen Offentlichkeit. Zusammenfassend lasst sich sagen, dass die Stadtschreiber aufgrund ihrer Nahe zur Obrigkeit und aufgrund ihres betrachtlichen Handlungsspielraums bei der Vermittlung von mUndlicher und schriftlicher Spahre eine entscheidende RoUe im Prozess der Verschriftlichung und bei der Inszenierung von Schriftlichkeit gespielt haben.
3.5 Das Archiv Auch den Orten, an denen stadtische SchriftstUcke aufbewahrt wurden, muss im Hinblick auf das politische Handeln mit Schrift eine erhebliche Bedeutung beigemessen werden. Dies umso mehr, als neuere Untersuchungen zur mittelalterlichen Archivierungspraxis besonders auch in norditalienischen Kommunen deutlich gemacht haben, dass die Orte, Formen und Methoden der Aufbewahrung und ihre 161 StALU COD 1440/1. In Schaflhausen beispielsweise stammt die erste Stadtschreiberordnung bereits aus der Mine des 15. Jahrhunderts. Vg!. Breiter, Schaflhauser Stadtschreiber, S. 197. 162 Glauser, Schreiber, S. 90. 163 Kurmann, Fiihrungsschicht, S. 106ff.
DasArchiv
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Veranderungen grundlegende Einsichten in den stadtischen Umgang mit Schrift ermoglichen. 164 Nicht zuletzt hatte die Aufbewahrungspraxis und die damit verbundene Zuschreibung von Bedeutung auch Auswirkungen auf die offendiche Wahrnehmung und Inszenierung bestimmter Schriftguttypen. Da fUr das 13. und 14. Jahrhundert Informationen Uber die Archivierung von SchriftstUcken allgemein nur sparlich beizubringen sind, haben die in schriftlicher Form vorliegenden Register und Archivordnungen erhohte Aufmerksamkeit gefunden. Eine vergleichend angelegte Untersuchung der stadtischen Kanzleien und Archive nordlich der Alpen vor dem Hintergrund eines generell steigenden Schriftgebrauchs steht wie im Fall der Stadtschreiber allerdings noch aus. 165 Der Schwerpunkt der bisherigen Forschung lag bei der Rekonstruktion und Bewertung spatmittelalterlicher Herrschaftsarchive und damit bei der Frage, "in welcher Ordnung und Auswahl die herrschende Macht die Gesamtheit ihrer Selbstdarstellung uberliefert hat" .166 Verschiedentlich ist darauf hingewiesen worden, dass die Analyse von Archivordnungen Einblicke in die normativen politischen Ordnungsvorstellungen gewmren, auch wenn sich die postulierten Prinzipien nicht immer unmittelbar in der Wirklichkeit des Archivs wiederfinden lassen wUrden. Neuerdings sind die mittelalterlichen Archivordnungen und die Aufbewahrungspraktiken stacker als bisher im Kontext einer alltaglichen HerrschaftsausUbung erforscht worden. So ergaben Untersuchungen insbesondere zur klosterlichen Archivierungspraxis in der spatmittelalterlichen Ostschweiz, dass die jeweilige Aufbewahrungspraxis eng mit den zukUnftigen und von den Schriftbenutzern antizipierten Verwendungsmoglichkeiten von Schrift verknupft sind. 167 Im Spatmittelalter und auch noch danach wurde das stadtische Schriftgut in der Regel nicht an einem Ort aufbewahrt. Mit der Entstehung spezieller stadtischer Einrichtungen fUr die Aufbewahrung von Schrift ist in Luzern nicht vor dem 15. J ahrhundert zu rechnen. Schon vor 1400 sind allerdings vom Schreiber fUr die Arbeit des Rates sporadisch U rkundenbestande zusammengestellt worden, worauf die im Ratsprotokoll unter dem Titel Privilegia cardinalis registrierten zehn Freiheits- und Gnadenbriefe von Kardinal Philipp von Alen