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German Pages 385 [386] Year 2019
Nora Hagemann Vater-Tochter-Inzest in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
Trends in Medieval Philology
Edited by Ingrid Kasten, Niklaus Largier and Mireille Schnyder Editorial Board Ingrid Bennewitz, John Greenfield, Christian Kiening, Theo Kobusch, Peter von Moos, Uta Störmer-Caysa
Volume 36
Nora Hagemann
Vater-Tochter-Inzest in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
ISBN 978-3-11-061560-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061844-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061704-7 ISSN 1612-443X Library of Congress Control Number: 2019931218 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine für den Druck überarbeitete und gekürzte Fassung meiner Ende 2015 von der Fakultät für Geisteswissenschaften an der Universität Hamburg angenommenen Dissertation mit dem Arbeitstitel Tabu und Emotion. Vater-Tochter-Inzest in narrativen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Sie nahm ihren Anfang 2009 am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie an der Freien Universität Berlin im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ältere deutsche Literatur und Sprache von Ingrid Kasten und entstand maßgeblich in den Jahren 2011 bis 2014 an dem damals ebenfalls an der Freien Universität Berlin beheimateten, im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder geförderten Clusters Languages of Emotion als Stipendiatin der dortigen Graduiertenschule. Besonderer Dank gebührt meinen Betreuern Martin Baisch und Ingrid Kasten, die meine Arbeit von Beginn an begleitet haben. Ohne sie wäre dieses Buch nie verwirklicht worden. Ich danke Martin Baisch für sein stets offenes Ohr und die Motivation, die er mir kontinuierlich vermittelt hat. Ingrid Kasten danke ich für die konstruktive Kritik, die immer wieder ‚rote Fäden‘ in meine Arbeit gelegt hat, und die ungezählten Stunden einer angeregten Auseinandersetzung, die mich in meinem Arbeitsprozess unterstützt und ihn allererst ermöglicht hat. Hierzu zählen nicht zuletzt die Sitzungen ihres Forschungscolloquiums, dessen Teilnehmerinnen und Teilnehmern mein herzlicher Dank gilt, meine Ideen schon in den frühesten Phasen offen und hilfreich diskutiert zu haben. Der rege interdisziplinäre Austausch am Cluster Languages of Emotion öffnete meinen analytischen Blick; insbesondere Jan Slaby und meine Kommilitoninnen und Kommilitonen der Graduiertenschule haben mich immer wieder aufs Neue inspiriert. Das großzügige Stipendium sowie die Finanzierung einer Handschriftenreise im Jahr 2011 haben entscheidend dazu beigetragen, mein Forschungsvorhaben auch auf materieller Ebene realisieren zu können. Danken möchte ich neben Martin Baisch Jutta Eming für zahlreiche Möglichkeiten, einzelne Aspekte meiner Studie auf Konferenzen und Tagungen mit dem Fachpublikum zu diskutieren und zum Teil auch in Sammelbänden zu publizieren. Für die Aufnahme in die Reihe TMP danke ich den Herausgebern Ingrid Kasten, Niklas Largier und Mireille Schnyder sowie dem Verlag Walter de Gruyter. Für mich geht mit diesem Buch ein langgehegter Wunsch in Erfüllung. Zu Dank verbunden bin ich darüber hinaus der Bayerischen Staatsbibliothek in München, der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, der https://doi.org/10.1515/9783110618440-001
VI
Vorwort
Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und der Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek in Regensburg für die freundliche Erteilung von Bildrechten sowie die stete Unterstützung bei Recherche und Materialbereitstellung. Nicht zuletzt ist auch der Trend zur zunehmenden Digitalisierung von Handschriften und älteren Drucken meinem Forschungsvorhaben entgegengekommen und hat meine Arbeit sehr erleichtert. Ich widme dieses Buch meinem Vater Frank Weider, der stolz auf mich gewesen wäre, und meiner Mutter Cornelia Weider, die mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich bin. Ohne meine Tochter Kyra Weider hätte ich nicht das Studium der Germanistik aufgenommen, ohne meinen Mann Steffen Hagemann nicht die Promotion gewagt. Ich danke euch, dass ihr mich auf den Weg gebracht und begleitet habt, mag er auch oft steinig gewesen sein. Dieser Einstieg in die Wissenschaft wird zugleich mein Abschied sein. Ich habe meine Berufung gefunden als Lehrerin am Privatgymnasium Weierhof in Bolanden, dem meine Zukunft gelten soll. Mein Ausflug in die Forschung war für mich eine Dekade der Bereicherung; dieses Buch ist sein Ergebnis. Kaiserslautern, den 23. September 2018 Nora Hagemann
Inhalt
Einleitung
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3 (Vater-Tochter‐)Inzest Historische Inzestverbote 5 Im Schatten: Vater-Tochter-Inzest, Missbrauch und 14 Emotionen Mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur 18 24 Leerstelle: Vater-Tochter-Inzest und Emotion
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Tabu 26 29 (Vater-Tochter‐)Inzest als Tabu Generative Aspekte des Inzesttabus 39 Inzesttabu und Sprache Inzesttabu und Emotion 41
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44 Emotion Historizität 47 Emotionsforschung in der germanistischen Mediävistik Referenzproblem 53 Mimesisproblem 58 62 Begriffsbestimmung und Operationalisierung Textinterne Ebene: Emotionen auf Handlungs- und 63 Figurenebene Textexterne Ebene: Rezeptions-Stimuli 68 Rezeptions-Spuren 82
Korpus, Erkenntnisinteresse und Herangehensweise
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Lot
1
34
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90 94 Rudolf von Ems: Weltchronik Schrecken und Not in Sodom und Gomorrha 95 97 Genealogische Dimensionierung im Ko(n)text Verworrene Verwandtschaft im Geschlecht der Sünde Christherre-Chronik 107 Die Angst des Vaters 107 Der sündige Samen 110 113 Die Macht der Norm im Ko(n)text
103
VIII
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Inhalt
Jans Enikel: Weltchronik 116 Aus Freude am Inzest 117 121 Zur Unterhaltung: Der Inzestakt Exkurs: Der König von Reussen. Vater-Tochter-Inzest im Spiegel 126 138 Bearbeitungen des 14. und 15. Jahrhunderts 143 Zwischenfazit 145 Myrrha Georg Wickrams Metamorphosen und Albrechts von Halberstadt Spuren 149 153 Proleptische Brille: Glättung der Ambivalenz Spiele der Entschlüsselung: Freierwahl und Ammengespräch 164 177 Inzest als Rätsel Vertreibung und Metamorphose 182 189 Gerhard Lorichius’ Auslegungen Christoph Bruno: Etliche Historien – Myrrha als Exempel der Schande 198 Hans Sachs: Die (schändlich) liebende Mirra (mit ihrem Vater 203 Cinera) 207 Johannes Spreng: Metamorphoses Venus’ Neid und Myrrhas unnatürliche Liebe ohne Scham 208 Kosmischer Inzest und Metamorphose 212 217 Inzest als allgemeine Warnung im Ko(n)text Zwischenfazit 218 222 Apollonius Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland 230 Prolog und Exposition: Nebukadnezars Zorn und ein 233 aller mynniklichiste kind Von toten Müttern, teuflischer Liebe und Frau Minne 236 247 Inzest als Sieg und Niederlage Rätselepisode 258 270 Vater-Tochter-Inzest als Paradigma 279 Leipziger Apollonius Eine libliche historie von Inzestehe und Befleckung 280 Pluralisierung der Spiegel- und Kontrastfolie im Ko(n)text 288 299 Heinrich Steinhöwel: Appolonius Prolog und Vorrede: Belehrung durch Geschichte 302
Inhalt
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Mütterlicher Wunsch und väterliche Liebe gegen die Ordnung 303 310 Inzesträtsel: Freude und Zorn des Königs Genealogie und Herrschaft, Inzest und Emotion im Ko(n)text 315 321 Zwischenfazit
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Fazit
Abbildungsverzeichnis
332
335 Literaturverzeichnis Abgekürzt zitierte Literatur Handschriften 336 337 Drucke Primärliteratur 337 340 Forschungsliteratur Register
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371
Verzeichnis der Handschriften und Drucke
376
IX
1 Einleitung In der Erzählung Die Cenci, mit der Stendhal den Kriminalfall der Vatermörderin Beatrice Cenci aufgreift, lässt er ihren Vater Francesco den denkwürdigen Satz formulieren, „wenn ein Vater seine eigne Tochter umarme, würden die Kinder, die daraus geboren werden, Heilige“¹. Aus moderner Perspektive mag der Nexus von Inzest und Heiligkeit befremden, in mittelalterlicher Sicht zeigt sich Stendhal als Kenner der Materie, denn die Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts bringt eine ganze Reihe an Erzählungen hervor, die einen Inzest in Heiligkeit münden lassen.² Vertrauter dürfte dem modernen Leser der emotionale Gehalt der Erzählung scheinen. Beatrice Cenci, so heißt es, wurde „ebenso angebetet und geachtet, wie ihr schrecklicher Vater verhasst und verabscheut war“, dieser „schämte sich nicht, sich nackt in ihr Bett zu legen“ und „war so in Zorn, daß er Beatrice mit Schlägen überschüttete“, so dass ihr Leben schon bald „geradezu unterträglich“ wurde und sie sich zu einem Mordkomplott entschließt, um „ihre Leiden in der Welt zu beenden.“³ Im mittelalterlichen Inzestdiskurs indes, wie ihn die Geschichtswissenschaften aufbereitet haben, finden Emotionen in der Form keine Entsprechung. Die Gelehrten dieser Zeit interessieren sich rege für Umfang und Geltungsbereich der Verbote, für Sündentheologie und Bibelexegese des Vergehens, kaum jedoch für emotionale Aspekte des Inzests,⁴ die im Fokus der vorliegenden Studie stehen sollen. Wer sich in historischer Perspektive mit der Inzestthematik beschäftigt, sieht sich mit einem eigentümlichen Spannungsverhältnis von Universalität und Alterität konfrontiert. Unter dem Paradigma der Universalität ist in der Forschung sowohl für eine Inzestscheu als auch für eine Inzestneigung plädiert worden,⁵ Stendhal: Die Cenci. In: Ders.: Die Äbtissin von Castro. Erzählungen. Hrsg. und übers. von Franz Blei, Zürich 1981 (Stendhal Werkausgabe 6), S. 65 – 110, hier S. 85. Zum Nexus von Inzest und Heiligkeit in der mittelalterlichen Literatur vgl. im Überblick Erhard Dorn: Der sündige Heilige in der Legende des Mittelalters, München 1967 (Medium Aevum 10); Kurt Ruh: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 1: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, Berlin 1967 (Grundlagen der Germanistik 7); Peter Strohschneider: InzestHeiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns Gregorius. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber, Tübingen 2000, S. 105 – 134. Stendhal, Cenci, S. 78 und 84 ff. Siehe hierzu ausführlich Kap. 2.1. Für Ersteres vgl. etwa EDWARD WESTERMARCK: Geschichte der menschlichen Ehe, Jena 1893; NORBERT BISCHOF: Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie, München u. a. 1985; JÖRG KLEIN: Inzest: Kulturelles Verbot und natürliche Scheu, Opladen 1991 (Studien zur Sozialwissenschaft 102). Für Letzteres vgl. etwa JAMES GEORGE https://doi.org/10.1515/9783110618440-002
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1 Einleitung
wobei gerade der Vater-Tochter-Inzest zu einem Kernbestand der zum Teil recht unterschiedlich ausgeprägten kulturellen Verbote zu gehören scheint,⁶ was nicht zuletzt für die Inzestverbote des Mittelalters und der Moderne gilt. Dabei existieren jedoch wesentliche Differenzen im jeweiligen Verständnis von Inzest, die nicht allein korrelative Themen wie Heiligkeit und Emotionen betreffen, sondern den Gegenstandsbereich als solchen, den Umfang der Verbote, ihre Bezugssysteme. Diese Differenzen, die unter das Paradigma der Alterität fallen,⁷ werden im Folgenden skizziert, um von hier ausgehend ein theoretisch-methodisches Instrumentarium für die Analyse narrativer Texte des 12. bis 16. Jahrhunderts zu entwickeln, das eine Untersuchung der in der Literatur mit dem Vater-TochterInzest verknüpften Emotionen erlaubt. Zu diesem Zweck werden zunächst die historischen Inzestverbote des Mittelalters dargestellt und der aktuelle Forschungsstand diskutiert, um im Anschluss den emotionalen Aspekt der Inzestthematik über den Tabubegriff herzuleiten und in Auseinandersetzung mit der historischen, literaturwissenschaftlichen und interdisziplinären Emotionsforschung für die daran anschließenden Textanalysen zu operationalisieren. Dabei lässt sich die Studie von der These leiten, dass die vermeintliche Emotionslosigkeit der Inzestthematik im Mittelalter, wie sie im kirchlichen Inzestdiskurs aufscheint, primär auf die Quellenlage zurückzuführen ist. Die Fokussierung narrativer Texte hingegen – zumal jener, die überlieferte Stoffe wieder- und damit neu erzählen und so in Abweichungen und Brüchen ein valides Zeugnis einer historisch spezifischen Auffassung vom Vater-Tochter-Inzest geben – besitzt das Potential, auch Emotionen auf die Spur zu kommen.
FRAZER: Totemism and exogamy. A treatise on certain early forms of superstition and society, Bd. 4, London u. a. 1910, S. 97 f.; SIGMUND FREUD: Totem und Tabu (1912– 1913). In: Ders.: Studienausgabe. Hrsg. von ALEXANDER MITSCHERLICH/ANGELA RICHARDS/JAMES STRACHEY, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1997, S. 287– 444; CLAUDE LÉVI-STRAUSS: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt a. M. 1981. Vgl. WALTER KIEFL: Inzest und Inzestverbote. Versuch einer Systematisierung und Beurteilung von Erklärungsansätzen, (Diss.) München 1986, S. 19; 22 und 25; Klein, Inzest, S. 11. Vgl. im Überblick ALEXANDRE KOSTKA/SARAH SCHMIDT: Alteritätsforschung/Interkulturalitätsforschung. In: Methodengeschichte der Germanistik. Hrsg. von Jost Schneider, Berlin, New York 2009, S. 33 – 70; Anja Becker/Jan Mohr: Alterität. Geschichte und Perspektiven eines Konzepts. In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hrsg. von dens., Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), S. 1– 60.
2 (Vater-Tochter‐)Inzest Der Vater-Tochter-Inzest fällt in der Regel unter übergreifende Inzestverbote, die ihn kontextualisieren, weshalb zunächst der Gegenstandsbereich, der gemeinhin als ‚Inzest‘ bezeichnet wird, etymologisch, definitorisch und diskursiv umrissen wird, um den Vater-Tochter-Inzest innerhalb dieser Bezugssysteme zu verorten. Sprachgeschichtlich lässt sich ‚Inzest‘ als Nominalbildung auf lat. castus („rein, keusch“) zurückführen, das mit dem Negationspartikel in zusammengesetzt wird, was die Grundbedeutung „unrein, unkeusch“ ergibt.¹ In der Folge des römischen Rechts, das neben der Geschlechtsvereinigung mit Verwandten auch den Beischlaf mit einer Vestalin (einer unberührbaren Jungfrau), die Ehe mit einer Prostituierten und die Entweihung heiliger Stätten als incestus brandmarkt,² findet der Begriff als terminus technicus Einzug in lateinische didaktische Texte, wobei an seiner Stelle auch fornicatio („Unzucht“), stuprum/adulteritas („Ehebruch“) oder verwandte Begriffe als übergeordnete Leittermini stehen können.³ Entsprechend paraphrasieren mittelhochdeutsche Glossen incestus als unkeuschheit mit den magen […] vel junckfrawen – sippehur – eebruch – erberaubung vel ernemung der junckfrawschafft ⁴. Im semantischen Feld ergibt sich somit für das Mittelalter ein weiter Gegenstandsbereich, der verschiedene Formen von Unreinheit und Unkeuschheit, körperlicher, moralischer und religiöser Befleckung umfasst,⁵ worunter auch der Vater-Tochter-Inzest subsumiert wird. In aktuellen Definitionen von ‚Inzest‘ hat sich kaum etwas von dieser weiten Semantik erhalten. Gängige Bestimmungen greifen meist auf vier konstitutive Kriterien zurück: Den (1) heterosexuellen, (2) tatsächlich vollzogenen Beischlaf zwischen (3) zwei Blutsverwandten innerhalb der (4) Kernfamilie.⁶ Diese Defini Vgl. Sandra Karst: Die Entkriminalisierung des § 173 StGB, Frankfurt a. M. u. a. 2009 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 2: Rechtswissenschaft 4819), S. 6. Vgl. Heinrich Többen: Über den Inzest. Mit vier Tabellen, Leipzig, Wien 1925, S. III; Claudia Jarzebowski: Inzest. Verwandtschaft und Sexualität im 18. Jahrhundert, Köln 2006 (L’homme Schriften 12), S. 48 f. Vgl. Elizabeth Archibald: Incest and the medieval imagination, Oxford 2001, S. XIII. Többen, Inzest, S. III; „Unzucht mit Verwandten oder Jungfrauen – Inzest – Ehebruch – Ehrberaubung oder auch Entjungferung“. Vgl. Christian Kiening: Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens, Würzburg 2009 (Philologie der Kultur 1), S. 67 und 69; Nancy B. Black: Medieval Narratives of Accused Queens, Gainesville u. a. 2003, S. 46. Analoges gilt für den wesentlich späteren Begriff ‚Blutschande‘; vgl. hierzu Többen, Inzest, S. III. Vgl. Klein, Inzest, S. 10; Kiefl, Inzest, S. 19; § 173 StGB; Duden. Fremdwörterbuch, 7., neu bearb. und erw. Aufl., Mannheim u. a. 2001 (Der Duden in zwölf Bänden 5), S. 460; Brockhaus-Enzyklopädie. In 30 Bänden. 21., völlig neu bearb. Aufl., Leipzig, Mannheim 2006, S. 455 f.; Meyers https://doi.org/10.1515/9783110618440-003
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2 (Vater-Tochter‐)Inzest
tion stellt allerdings bereits ein Abstraktum dar und kaschiert signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen Inzestkonstellationen wie dem Mutter-Sohn-, Vater-Tochter- und Geschwisterinzest.⁷ So ist der Vater-Tochter-Inzest im Speziellen die mit Abstand häufigste Inzestform,⁸ geprägt von einem charakteristischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnis,⁹ das ihn von anderen Inzestformen abhebt. Damit aber sind schon moderne Diskursivierungen der Inzestthematik angesprochen. Der gegenwärtige Inzestdiskurs wird überblendet mit einem Diskurs über Kindesmissbrauch.¹⁰ Der Konnex von Inzest und Emotion ist in diesem Zusammenhang unmittelbar evident. Psychologie und Psychotherapie beschreiben Scham- und Schuldgefühle, Ekel und Abneigung, Angst und Ohnmachtserfahrung, Trauer und Niedergeschlagenheit als typische Reaktionen auf den Inzest; positive Emotionen wie Zuneigung und Respekt treten erschwerend hinzu; den Tätern wird ein eklatanter Mangel an tiefen und dauerhaften Emotionen attestiert, der nicht selten in der eigenen Sozialisation begründet liegt.¹¹ Eine abweichende Lesart bietet Sigmund Freud mit seinem psychoanalytischen Basisnarrativ vom Ödipus-Komplex, demzufolge sich das kindliche Begehren als unbewusster Wunsch auf den gegengeschlechtlichen Elternteil richtet, der als ‚besetzt‘ und ‚verboten‘ erkannt wird, was Neid, Eifersucht und Todeswünsche dem ‚besitzen-
großes Universallexikon. In 15 Bänden mit Atlasband, 4 Ergänzungsbänden und Jahrbüchern, Mannheim u. a. 1983, S. 130; die die einzelnen Kriterien zum Teil implizit, zum Teil explizit teilen. Vgl. Kiefl, Inzest, S. 8 und 52. Vgl. ebd., S. 30; Mathias Hirsch: Realer Inzest. Psychodynamik des sexuellen Mißbrauchs in der Familie, Gießen 1999, S. 23. Vgl. Josephine Rijnaarts: Lots Töchter. Über den Vater-Tochter-Inzest, München 1993 (dtv 35031), S. 18 f. Inzest und Missbrauch sind aber nicht deckungsgleich; vgl. Archibald, Incest, S. 5; Mary Hamer: Incest. A new perspective, Cambridge 2002, S. 11; Jarzebowski, Inzest, S. 32. Auch das Strafrecht unterscheidet zwischen beiden Delikten; vgl. §§173 und 176 StGB. Vgl. Franz Moggi: Emotion, kognitive Bewertung und Inzest, Bern u. a. 1994 (Freiburger Beiträge zur Psychologie 13), S. 206; Hirsch, Realer Inzest, S. 15; Ursula Enders: Zart war ich, bitter war’s. Psychodynamik des Opfers. In: Zart war ich, bitter war’s. Handbuch gegen sexuellen Missbrauch. Hrsg. von ders., Köln 2001, S. 129 – 158, hier S. 131– 134; 140 f.; 144 und 146 ff.; Dirk Bange: Arbeitsgruppe 1: Täterschaft, Pädokriminalität und der ganz normale Mann. Veränderungen männlicher Rollenbilder zur Prävention kommerzieller Ausbeutung von Kindern. In: Sexueller Missbrauch von Kindern. Dokumentation der Nationalen Nachfolgekonferenz ‚Kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern‘ vom 14./15. März 2001 in Berlin. Hrsg. von Monika Schröttle, Opladen 2002, S. 85 – 97, hier S. 88; Heidi Kastner: Täter Väter. Väter als Täter am eigenen Kind, Wien 2009, S. 125 f.; Andrea Moldzio: Nach dem sexuellen Mißbrauch. Über ein traumatisches Schamgefühl. In: Berliner Debatte Initial 17 (2006), S. 117– 122, hier bes. S. 118.
2.1 Historische Inzestverbote
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den‘ und Lust und Verlangen dem ‚begehrten‘ Elternteil gegenüber hervorruft.¹² Diese Annahme ist angesichts realer Inzestfälle vielfach kritisiert worden, was den Vater-Tochter-Inzest in besonderer Weise tangiert, agieren doch mehrheitlich Männer als Aggressoren, nicht Töchter als Verführerinnen.¹³ In beiden Modellen aber, dem psychologischen wie dem psychoanalytischen, wird deutlich, dass aus moderner Perspektive Inzest und Emotion aufs Engste verwoben sind.
2.1 Historische Inzestverbote Mit Blick auf die mittelalterlichen Inzestverbote lässt sich keiner der genannten Aspekte universalisieren. Sie können in erster Linie als kirchliche Eheverbote beschrieben werden, die ausgehend vom Frühmittelalter eine zunehmende Ausweitung und Radikalisierung erfahren. Diese historische Entwicklung wird im Folgenden zusammenfassend dargestellt, um den kulturellen Kontext zu eruieren, in dem die Erzählungen von einem Vater-Tochter-Inzest im 12. bis 16. Jahrhundert stehen. Primäre Bezugsquelle der mittelalterlichen Inzestverbote bildet die Bibel, die maßgeblich im Buch Levitikus sanktionierte Verbindungen anführt. Der VaterTochter-Inzest fällt unter das allgemeine Gebot, nicht mit einer Blutsverwandten zu schlafen (vgl. Lev 18,6), konkretisiert in dem Verbot, mit der Tochter oder Enkeltochter einer Frau, mit der man verkehrt, eine Verbindung einzugehen (vgl. Lev 18,17). Gelistet werden weitere blutsverwandte Frauen wie Mütter (vgl. Lev 18,7), Schwestern und Halbschwestern (vgl. Lev 18,9 und 11) sowie Tanten (vgl. Lev 18,12 f.), wobei die Adressaten der Verbote stets Männer, die Zielobjekte stets Frauen sind, so dass eine spezifische Geschlechterordnung aufscheint.¹⁴ Dabei
Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Jean Laplanche/Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 141998 (stw 7), S. 351 und 356. Vgl. etwa Klein, Inzest, S. 130 ff.; Rijnaarts, Lots Töchter, S. 122 – 128; Kathryn T. Jennings: Kindesmißbrauch durch Frauen in Forschung und Literatur. In: Frauen als Täterinnen. Sexueller Mißbrauch an Mädchen und Jungen. Hrsg. von Michele Elliott, Ruhnmark 1995, S. 304– 323, hier S. 304 f.; Hirsch, Realer Inzest, S. 13 ff. und 23; Hamer, Incest, S. 25. Dabei ist mit Blick auf den Ödipus-Komplex zu berücksichtigen, dass das Begehren des Kindes zwar als tatsächliches gedacht ist, das Kind aber noch keine Vorstellung davon hat, was sein Wunsch bedeutet; vgl. Jutta Eming: Zur Theorie des Inzests. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hrsg. von Ingrid Bennewitz/Ingrid Kasten, Münster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 29 – 48, hier S. 39; Claudia Benthien: ‚Inzestscheu‘ und Tragödie (Sophokles, Racine, Schiller). In: Tabu. Interkulturalität und Gender. Hrsg. von ders./Ortrud Gutjahr, München 2008, S. 73 – 100, hier S. 75. Vgl. hierzu a. Rijnaarts, Lots Töchter, S. 57.
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2 (Vater-Tochter‐)Inzest
erschöpfen sich die levitischen Vorschriften nicht wie die skizzierten modernen Definitionen von Inzest im Bereich der Blutsverwandtschaft (consanguinitas), sondern umfassen auch Verbindungen innerhalb der Schwägerschaft (affinitas) wie die Ehefrau des Onkels oder des Sohnes (vgl. Lev 18,14 f.). Das Verwandtschaftsverhältnis der affinitas gründet dabei auf der una caro-Lehre, derzufolge Mann und Frau durch den Beischlaf zu ‚einem Fleisch‘ werden. Sie findet sich bereits in der Schöpfungsgeschichte formuliert (vgl. Gen 2,24) und im Neuen Testament bestätigt (vgl. Mat 19,5 f.; Eph 5,28 – 31). In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts überträgt der Bischof und Kirchenlehrer Basilius von Caesarea die una caro-Lehre auf die Inzestverbote und passt sie der christlichen Lehre an, derzufolge die ‚Einheit des Fleisches‘ eine ewige, über den Tod hinaus gültige ist.¹⁵ In der Konsequenz werden die Verwandtschaftstypen consanguinitas und affinitas fortan gleichgestellt.¹⁶ Bereits im römischen Recht, das neben der Bibel eine weitere legislative Ursprungslinie der Gesetzgebung im Mittelalter bereitstellt, setzt ungefähr zeitgleich eine sukzessive Erweiterung der Eheverbote ein, die mit den frühen Konzilien im 6. Jahrhundert vorangetrieben wird.¹⁷ Werden bis dahin personale Verbote ausgesprochen und konkrete Verwandtschaftsbeziehungen benannt,¹⁸ entwickelt das mittelalterliche Recht in der Folge abstrahierte und systematisierte Verbote, die sich nach Verwandtschaftsgraden richten. So bestimmt schon das II. Konzil von Toledo (527/531) auf dem vorgeblichen Grund der biblischen Verbote einen wesentlichen größeren Einzugsbereich, indem jedem die Ehe mit einem Verwandten verboten wird, „zu dem er die Linien der Verwandtschaft in der Geschlechterfolge kennt“¹⁹. Doch wo ‚beginnt‘ Verwandtschaft und wo ‚endet‘ sie? Die Antwort auf diese Frage wird zu einem wichtigen Faktor der Erweiterung der mittelalterlichen Inzestverbote. Zunächst werden nach römischer Zählweise
Vgl. Saint Basile: CLX. A Diodore. In: Ders.: Lettres. Hrsg. und übers. von Yves Courtonne, Bd. 2, Paris 1961, S. 88 – 92. Deutsche Übersetzung in: Basilius von Caesarea: Brief 160. In: Briefe. Zweiter Teil. Eingel., übers. und erl. von Wolf-Dieter Hauschild, Stuttgart 1973 (Bibliothek der griechischen Literatur 3), S. 80 – 83. Vgl. hierzu Karl Ubl: Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300 – 1100), Berlin 2008 (Millennium-Studien 20), S. 12 und 53. Vgl. Joseph Freisen: Geschichte des canonischen Eherechts. Bis zum Verfall der Glossenliteratur, Paderborn 1893, S. 439 und 443 f.; Jarzebowski, Inzest, S. 44 f. Vgl. Freisen, Geschichte, S. 443; Ubl, Inzestverbot, S. 46. Vgl. Freisen, Geschichte, S. 374. Ubl, Inzestverbot, S. 200 f.; vgl. hierzu a. Christof Rolker: Two models of incest. Conflict and confusion in high medieval discourse on kinship and marriage. In: Law and marriage in medieval and early modern times. Proceedings of the Eighth Carlsberg Academy Conference on Medieval Legal History. Hrsg. von Peer Andersen/Mia Münster-Swendsen/Helle Vogt, Kopenhagen 2012, S. 139 – 159, hier S. 148.
2.1 Historische Inzestverbote
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die Zeugungen zwischen zwei Verwandten berechnet, die Grenze der Verwandtschaft liegt gemäß dem römischen Erbrecht beim 6. Grad.²⁰ Dann aber findet die kanonische Zählweise Verwendung,²¹ bei der die Zeugungen bis zu einem gemeinsamen Stammahnen zur Grundlage der Berechnung gemacht werden, was „ipso facto […] eine Verdopplung in der Ausdehnung der Grade der Verwandtschaft“²² bedeutet. Diese Umstellung der Zählweise zeichnet sich bereits Mitte des 8. Jahrhunderts ab, setzt sich gesichert jedoch erst im 11. Jahrhundert durch, nachdem beide Zählweisen eine Zeit lang parallel Verwendung gefunden zu haben scheinen.²³ Eine zentrale Rolle spielt in diesem Kontext Burchards von Worms Decretum (nach 1023), eine Rechtsammlung, in der verschiedene Vorschriften aus Bibel, Kanones, Konzilienbeschlüssen und päpstlichen Verlautbarungen systematisch zusammengestellt werden,²⁴ wobei erstmals in der Geschichte ein eigener Abschnitt zu den Inzestverboten gebildet und in Buch VII unter dem Titel De incesta copulatione zusammengeführt wird.²⁵ Stärker noch als in anderen Teilen der Arbeit weicht Burchard hier von dem ab, was er in früheren Sammlungen vorfinden konnte, geht selektiv in der Wahl der gelisteten Autoritäten vor, manipuliert die vorgefundenen Texte, unternimmt Fälschungen, verändert Rubriken und Inschriften und suggeriert so vermeintliche Einheitlichkeit, unter deren Deckmantel er den Eindruck entstehen lässt, dass die von ihm angeführte Textbasis für ein Verbot der Verwandtenehe bis zum 7. Grad spreche.²⁶ Burchards Methode stößt im weltlichen wie im kirchlichen Recht schnell auf Zuspruch und kann bereits für das 11. Jahrhundert als kanonisch gelten.²⁷
Vgl. Freisen, Geschichte, S. 375; Ubl, Inzestverbot, S. 16. Zum Teil auch ‚germanische‘ statt ‚kanonische‘ Zählweise; nach Karl Ubl ein Forschungskonstrukt, vgl. ebd., S. 18. Jack Goody: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa. Übers. von Eva Horn, Berlin 1986, S. 152. So sind beispielsweise Kinder von Geschwistern nach römischer Zählweise im 4., nach kanonischer im 2. Grad verwandt; vgl. Ubl, Inzestverbot, S. 16. Vgl. ebd., S. 14 ff., 22; 26 f.; 293. Vgl. Georges Duby: Ritter, Frau und Priester. Die Ehe im feudalen Frankreich, Frankfurt a. M. 1985, S. 70. Vgl. Rolker, Two models, S. 153 f. Vgl. ebd., S. 152 ff.; Ubl, Inzestverbot, S. 427 und 430. Burchard zählt von den Stammgeschwistern eines Ehepaares aus. Geschwister sind in dieser Lesart ein ‚Stamm‘ und nicht durch einen Grad zu trennen, so dass Burchard argumentieren kann, dass der 6. eigentlich den 7. Grad meint, der von nun an die Grenze der Verwandtschaft markiert; vgl. Burchard von Worms: Decretum VII cap. 9 ff.; 18; 28; 30. In: Burchardi Vormatiensis Episcopi Opera Omnia. Hrsg. von Jaques Paul Migne, Paris 1880 (PL 140), Sp. 537– 1058, hier Sp. 781– 786. Vgl. Ubl, Inzestverbot, S. 16; 23; 426 – 435.
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Ihren Höhepunkt erreichen die kirchlichen Eheverbote jedoch erst mit Gratians Decretum (um 1140), das zunächst als Privatarbeit entsteht und rasch zum offiziellen Rechtsbuch der Kirche avanciert.²⁸ Gratian tritt für die kanonische Zählung und die Gültigkeit der Verbote über den Tod hinaus ein, Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft sind gleichgeordnet, eheliche und leibliche Verbindungen werden in einem Atemzug bis zum 7. Grad untersagt.²⁹ Daneben räumt Gratian dem christlichen Konzept der geistlichen Verwandtschaft viel Platz ein.³⁰ Geistliche Verwandtschaft (cognatio spiritualis) wird durch Taufe und Firmung begründet, die als geistliche Geburt der leiblichen entsprechen und somit ein dauerhaftes Verwandtschaftsverhältnis aller Beteiligten begründen.³¹ Sie wird im Neuen Testament vorformuliert (vgl. Joh 3,5; Tit 3,5), als Ehehindernis erstmals bei dem oströmischen Kaiser Justinian aktenkundig,³² ins westliche Kirchenrecht schließlich mit dem Konzil von Rom (721) inkludiert,³³ von wo aus es nur zwei Jahre später in das weltliche Recht übernommen wird.³⁴ Etwa zeitgleich werden Taufe und Firmung (ursprünglich in einem Ritus zusammengeschlossen) gesplittet, was die Anzahl spiritueller Verwandter potenziert.³⁵ Zunächst scheint selbst innerhalb der Kirche Ungewissheit über dieses Ehehindernis zu herrschen,³⁶ dreihundert Jahre später indes ist es in Burchards Decretum fest veran-
Vgl. ebd., S. 2. Vgl. Decretum Magistri Gratiani. Hrsg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879 (CICa 1), c. 1– 22 C. 35 q. 2 und 3, Sp. 1263 – 1270. Vgl. ebd., C. 30 passim, Sp. 1095 – 1108. Der Pate und der Taufende werden zu Eltern des Täuflings, seine leiblichen Eltern zu compater und commater, Pate und Eltern sind einander ‚Gevatter‘; vgl. Freisen, Geschichte, S. 507 und 515; Emil Ludwig Richter/Richard Wilhelm Dove: Lehrbuch des katholischen und evangelischen Kirchenrechts. Mit besonderer Rücksicht auf deutsche Zustände, Leipzig 1867, S. 807; Simon Teuscher: Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500, Köln u. a. 1998, S. 115. Vgl. Codex Iustinianus. Hrsg. von Paul Krüger, Berlin 1892 (CICiv 2), 5,4,26, S. 197. Vgl. hierzu Ubl, Inzestverbot, S. 70; Goody, Entwicklung, S. 211– 214. Vgl. Leah Otis-Cour: Lust und Liebe. Geschichte der Paarbeziehungen im Mittelalter, Frankfurt a. M. 2000 (Fischer-Taschenbücher Europäische Geschichte 60107), S. 59. Vgl. etwa Leges Liutprandi regis lex 34. In: Leges Langobardorum. Hrsg. von Friedrich Bluhme/Georg Heinrich Pertz, Hannover 1868 (MGH. Leges 4), S. 96 – 182, hier S. 98. Vgl. Goody, Entwicklung, S. 216. Dies legt zumindest ein aus dem Jahr 735 überlieferter Brief des Bonifatius nah, in dem er aus gegebenem Anlass eine Anfrage an den Bischof Pehthelm von Withorn stellt, ob Patenschaft ein Ehehindernis darstelle, wenn ein Mann seine verwitwete commater heiraten möchte; vgl. Bonifatius: Briefe des Bonifatius. Willibalds Leben des Bonifatius. Hrsg. von Reinhold Rau, Darmstadt 1968 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters IVb), S. 106 ff. Die fränkischen und gallischen Priester behaupten, ein solcher Mann mache sich „des größten Verbre-
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kert.³⁷ Gratian diskutiert dieses Ehehindernis kasuistisch und benennt keinen genauen Grad, verboten sind in jedem Fall die Ehe zwischen Pate und Täufling sowie zwischen den leiblichen und den geistlichen Kindern des Taufpaten; auch dürfen Eltern nicht ihr eigenes Kind aus der Taufe heben, da sie auf diesem Weg miteinander verwandt würden (cognatio spiritualis superveniens).³⁸ Neben der Patenschaft bestimmt Gratian den Verkehr mit Nonnen als inzestuös, Gott ist ihnen Vater und Bräutigam.³⁹ Die Inzestverbote erreichen damit im 11. und 12. Jahrhundert einen interkulturell und historisch einzigartig weitreichenden Umfang.⁴⁰ Dabei stehen die kirchlichen Regelungen nicht in einem luftleeren Raum. Ein entscheidender Unterschied zwischen modernen und mittelalterlichen Inzestverboten besteht in ihren abweichenden ordnungsstiftenden Bezugssystemen. Regulieren die Inzestverbote in der Neuzeit Sexualität, zielen sie im Mittelalter auf die Ordnung der Ehe und das Prinzip der Allianz.⁴¹ Das Inzestverbot generiert, wie Claude Lévi-Strauss in seinen anthropologischen Studien argumentiert, Exogamie: „Das Inzestverbot ist weniger eine Regel, die es untersagt, die Mutter, Schwester oder Tochter zu heiraten, als vielmehr eine Regel, die dazu zwingt, die Mutter, Schwester oder Tochter anderen zu geben.“⁴² Das Inzestverbot definiert also eine Gruppe von Beziehungstypen als verwandt und verboten und legt damit zugleich eine Gruppe in Frage kommender Ehepartner fest. Ihm ist somit ein Exogamiegebot inhärent, das Allianzen zwischen Familien herstellt, Austauschprozesse und Bindungen befördert.⁴³ Im Mittelalter trifft dieses Prinzip der Exogamie auf das gegenläufige Prinzip der Isogamie, das (standesgemäße) Eheschließungen innerhalb einer bestimmten sozialen Schicht bevorzugt.⁴⁴ chens“ schuldig, Bonifatius hingegen ist diese „Art von Sünde“ unbekannt; ebd., S. 109. Vgl. hierzu Goody, Entwicklung, S. 214. Vgl. Burchard von Worms, Decretum I cap. 94 int. 33, Sp. 575. Vgl. Decretum Gratiani C. 30 passim, Sp. 1095 – 1108; vgl. hierzu Freisen, Geschichte, S. 511– 531. Vgl. ebd., S. 586. Vgl. Otis-Cour, Lust und Liebe, S. 59; Ubl, Inzestverbot, S. 3 f. Vgl. hierzu grundlegend Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M. 1977 (stw 716), S. 128 – 131, hier bes. S. 129. Lévi-Strauss, Verwandtschaft, S. 643. Vgl. ebd., S. 87 und 97. Allianzen werden begründet nach dem Prinzip des Tausches, wobei die ‚Ware‘, die getauscht und explizit mit Gebrauchsgütern gleichstellt wird, Frauen sind. Zur Kritik aus feministischer Perspektive vgl. Gayle Rubin: The Traffic in Women. Notes on the „Political Economy“ of Sex. In: Toward an anthropology of women. Hrsg. von Rayna Rapp Reiter, New York u. a. 1975 (Modern reader 399), S. 157– 210, hier S. 171 und 175 ff.; Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991 (es 1722), S. 68 – 74. Vgl. Ubl, Inzestverbot, S. 435 – 440.
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Verwandtschaft bildet in der mittelalterlichen Ständegesellschaft ein zentrales Ordnungssystem für das Selbstverständnis des Adels und die Legitimität von Herrschaft.⁴⁵ Die Ehe ist in diesem Rahmen ein wichtiges Instrument politischdynastischer Herrschaftssicherung und -erweiterung, sie dient der Akkumulation von Erbe, Besitz und Macht.⁴⁶ Ein Nebeneffekt des isogamen Heiratsverhaltens ist (insbesondere mit Blick auf den zahlenmäßig überschaubaren Hochadel), dass Ehen innerhalb der weiteren Verwandtschaft verbreitet sind, die durch die Erweiterung der kirchlichen Ehehindernisse sukzessive erfasst, als endogam definiert und damit als verboten deklariert werden, was die Wirkmöglichkeiten dieses Machtinstruments empfindlich einschränkt. Die Eheverbote sind Politikum, feudale Ehepraxis und kirchliche Ehelehre konfligieren.⁴⁷ Zudem findet um die Jahrtausendwende ein entscheidender Paradigmenwechsel statt, als sich das Konzept der Monogamie endgültig durchsetzt und das Prinzip der Unauflösbarkeit der Ehe im Kirchenrecht etabliert.⁴⁸ Alternative Eheformen wie die Friedel- und die Kebsehe werden zunehmend zurückgedrängt, das Konkubinat bekämpft.⁴⁹ Im 12. Jahrhundert wird die Theorie der Ehe als Sakrament festgeschrieben, was die Möglichkeiten zur Ehetrennung und -scheidung erheblich begrenzt, so dass schon bald die Verwandtschaft zweier Eheleute eine der wenigen Möglichkeiten – wenn nicht die einzige – bereitstellt, eine unliebsame Ehe legitim zu lösen und gegebenenfalls eine neue Ehe einzugehen.⁵⁰ Dabei handelt es sich um ein durchaus zweischneidiges Schwert. Zwar kennt das mittelalterliche Recht eine ganze Reihe
Vgl. Ingrid Bennewitz: Frühe Versuche über alleinerziehende Mütter, abwesende Väter und inzestuöse Familienstrukturen. Zur Konstruktion von Familie und Geschlecht in der deutschen Literatur des Mittelalters: In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 34 (2000), S. 8 – 18, hier S. 10; Beate Kellner: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, S. 104. Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1990 (dtv 30170), S. 534. Vgl. ebd., S. 544. Vgl. Otis-Cour, Lust und Liebe, S. 66. Ubl weist darauf hin, dass dieser Paradigmenwechsel nur deshalb erfolgreich sein konnte, weil sich zeitgleich das Konsens-Prinzip etabliert; vgl. Ubl, Inzestverbot, S. 388. Vgl. Duby, Ritter, S. 49 f. Vgl. Otis-Cour, Lust und Liebe, S. 55; Constance B. Bouchard: Consanguinity and Noble Marriages in the Tenth and Eleventh Century. In: Speculum 56/2 (1981), S. 268 – 287, hier S. 268; Raymund Kottje: Ehe und Eheverständnis in den vorgratianischen Bußbüchern. In: Love and marriage in the twelfth century. Hrsg. von Willy Van Hoecke/Andries Welkenhuysen, Louvain 1981, S. 18 – 40, hier S. 29 und 36. Die Ehetrennung wird nicht als Scheidung aufgefasst, Verwandtenehen gelten als nichtig von Beginn an; vgl. Peter Landau: Papst Cölestin II. und die Anfänge des kanonischen Eherechts. In: De processibus matrimonialibus 13 (2006), S. 57– 71, hier S. 57.
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an Sanktionen für einen Verstoß gegen die Inzestverbote wie Enteignung, Verbannung, Verknechtung und Kerkerhaft im weltlichen Recht,⁵¹ Exkommunikation, Buße und Anathema im kirchlichen Recht,⁵² die bedeutendste Strafe aber ist die Ehetrennung⁵³ – wird die Verwandtschaft entdeckt, müssen die Eheleuten sich trennen (es sei denn, sie erhalten Dispens). Dies ist in Anbetracht der weitreichenden Ausdehnung der Ehehindernisse problematisch, wie Karl Ubl zu bedenken gibt: „Niemand war im 12. Jahrhundert in der Lage, alle für das Eherecht relevanten Verwandten zu überblicken.“⁵⁴ Vor diesem Hintergrund sind die Veränderungen des 13. Jahrhunderts zu sehen. Mit dem IV. Laterankonzil (1215) werden die verbotenen Grade für consanguinitas und affinitas auf den vierten Grad reduziert mit dem Ziel, dem Missbrauch der Ehehindernisse entgegenzuwirken und Eherechtsprozesse zu beschleunigen.⁵⁵ Der Konzilsbeschluss läutet eine Phase der Konsolidierung der kirchlichen Inzestverbote ein, die Regelung behält bis ins frühe 19. Jahrhundert Gültigkeit.⁵⁶ Ebenfalls aus dem Willen heraus, existierende Missstände zu beseitigen, wird Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem Konzil von Trient das Ehehindernis der geistlichen Verwandtschaft auf den nächsten Kreis der Beteiligten eingeschränkt.⁵⁷
Vgl. Heinz Holzhauer: Art. ‚Blutschande‘. In: Lexikon des Mittelalters. Hrsg. von RobertHenri Bautier, München, Zürich 1983, S. 290 – 291, hier S. 290. Vgl. im Überblick a. Többen, Inzest, S. 12 ff. Vgl. Rudolf Weigand: Die Ausdehnung der Ehehindernisse der Verwandtschaft. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 101 (1994), S. 1– 17, hier S. 3; Ubl, Inzestverbot, S. 126 f. Anathema als kirchlicher Bannfluch bedeutet „die völlige Scheidung von Christus, den seelischen Tod, die Verdammnis“; Karl Hofmann: Art. ‚Anathema‘. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Hrsg. von Theodor Klauser/Franz Joseph Dölger/Ernst Dassmann, Stuttgart 1950, Sp. 427– 430, hier Sp. 429. Vgl. Landau, Papst Cölestin II., S.57. Ubl, Inzestverbot, S. 3 f. Vgl. IV. Laterankonzil (1215), c. 50. In: Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512– 1517). Hrsg. von Josef Wohlmuth/Gabriel. Sunnus/ Johannes Uphus, Paderborn u. a. 2000 (Dekrete der ökumenischen Konzilien 2), S. 257 f. Vgl. im Überblick Goody, Entwicklung, S. 160. Vgl. Konzil von Trient, Sess. 24, cap. 2. In: Konzilien der Neuzeit. Hrsg. von Josef Wohlmuth, Paderborn u. a. 2002 (Dekrete der ökumenischen Konzilien 3), S. 757. Vgl. im Überblick Michael Permaneder: Handbuch des gemeingültigen katholischen Kirchenrechts. Mit steter Berücksichtigung der die äußeren Seiten der katholischen Kirche berührenden Landes-Verordnungen der deutschen Bundesstaaten, insbesondere Bayerns, Landshut 1846, S. 286; Richter/Dove, Lehrbuch, S. 808 f.
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Den skizzierten Konflikt stellt der französische Historiker Georges Duby in den Mittelpunkt seiner pointierten Studien. Er liest sich bei ihm als Widerstreit zwischen unversöhnlichen Kontrahenten, die Kirche treibt die Radikalisierung der Eheverbote voran, über die sich der Adel zunächst weitgehend hinwegsetzt, ‚Kriegermoral‘ und ‚Priestermoral‘ prallen aufeinander; die Ehehindernisse werden bestenfalls als willkommenes Mittel genutzt, sich unliebsamer Gatten zu entledigen.⁵⁸ Constance Bouchard hingegen vertritt die Gegenthese, der Adel sei im 10. und 11. Jahrhundert bemüht gewesen, die kirchlichen Verbote bei der Wahl der Ehepartner zu berücksichtigen, selbst jene Eheleute, die als inzestuös gelten, seien in der Regel nicht näher als im 5. oder 6. Grad verwandt.⁵⁹ Dieser Befund lässt sich mit Ubl weiter revidieren, der überzeugend darlegt, dass Duby, Bouchard und andere insofern von falschen Voraussetzungen ausgehen, als sie die Umstellung auf die kanonische Zählung (die jene Ehen erst zu inzestuösen macht) für einen zu frühen Zeitpunkt anlegen.⁶⁰ Der entscheidende Wendepunkt liegt nach Ubl im 11. Jahrhundert, erst hier verortet er einen massiven Missbrauch.⁶¹ Ähnlich pointiert wie Duby stellt Jack Goody die Entwicklung der Inzestverbote dar, der den Konflikt primär als einen ökonomischen begreift. Goody folgt der Leitthese, die Kirche versuche, ihren Besitz zu vermehren und zu akkumulieren, indem sie verschiedene Strategien anwende (unter ihnen das Inzestverbot, das Verbot des Konkubinats und das Monogamiegebot), um Erbschaftsangelegenheiten zunehmend zu kontrollieren, den Kreis erbberechtigter Personen zu minimieren und so Erblassungen, Schenkungen und Stiftungen Sterbender an die Kirche zu maximieren – die Inzestverbote entwickeln eine spezifisch monetäre Ökonomie.⁶² Die neuere Forschung indes stellt in Frage, ob der von Duby und Goody beschriebene Antagonismus zwischen Kirche und Adel in der Schärfe
Vgl. Duby, Ritter, S. 58 und 331 ff. Den Ausgang des Geschehens bewertet Duby widersprüchlich. In seiner Schrift Ritter, Frau, Priester resümiert er, dass sich nicht ein Modell gegen das andere durchsetze, sondern ab dem 13. Jahrhundert ein Ausgleich zwischen beiden Positionen zu beobachten sei; vgl. ebd., S. 333. In Die Frau ohne Stimme legt er nah, dass sich im jahrhundertelangen Wettstreit schließlich die Kirche durchsetze; vgl. Ders.: Die Frau ohne Stimme. Liebe und Ehe im Mittelalter, Berlin 1989 (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 13), S. 12 und 18. Zudem ist kritisch anzumerken, dass nicht jeder Eherechtsprozess von einem Missbrauch der Inzestverbote zeugt, vielmehr muss zwischen Zuerkennungs- und Trennungsklagen unterschieden werden, wobei Verfahren, in denen um Eheerlaubnis ersucht wird, den größeren Teil auszumachen scheinen; vgl. Otis-Cour, Lust und Liebe, S. 62 f.; Landau, Papst Cölestin II., S. 58 und 69 f. Vgl. Bouchard, Consanguinity, S. 272. Vgl. Ubl, Inzestverbot, S. 374. Ebd., S. 393 und 472 f. Vgl. Goody, Entwicklung, S. 98; 104 und 149.
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aufrecht zu erhalten ist.⁶³ Entgegen der Metathesen von einem Konflikt zeigt etwa Ubl, dass bei der Radikalisierung der Inzestverbote kirchliche und weltliche Initiativen, religiöse und politische Motive ineinandergreifen.⁶⁴ Einen alternativen Erklärungsansatz formuliert Mayke de Jong. Sie setzt die Art und Weise, wie über den Inzest gesprochen wird, als Konstituens der Radikalisierung. Der Diskurs zeichne sich durch eine biblisch geprägte Redeweise aus, die innerhalb einer Logik von Reinheit und Befleckung Furcht schüre und so ihrerseits ab dem 8. Jahrhundert den Weg zur Erweiterung ebne.⁶⁵ Christof Rolker ergänzt, dass neben der von de Jong beschriebenen erhitzten und polarisierenden Redeweise, die sich hauptsächlich auf den Geschlechtsakt und unkeusche Handlungen als Befleckung richtet, ebenso eine mehr nüchterne und technische Redeweise den mittelalterlichen Inzestdiskurs prägt, die die Diskussion um die Definition von Verwandtschaft, den Umfang und die Systematisierung der Ehehindernisse trägt.⁶⁶ Beide Redeweisen koexistieren zunächst, werden dann aber ab dem 11. und 12. Jahrhundert zum Teil kombiniert.⁶⁷ Zentral für die vorliegende Studie ist, dass mit der auf die Erzeugung von Furcht angelegten biblischen Redeweise überhaupt zum ersten Mal in der Auseinandersetzung mit dem kirchlichen Inzestdiskurs Emotionen zur Sprache kommen. Sie stellen damit eines von mehreren Differenzkriterien der Inzestthematik in Mittelalter und Moderne dar, auf die nun ausführlicher zu sprechen zu kommen ist.
Vgl. etwa Bouchard, Consanguinity, S. 268 f.; 272; Mayke de Jong: To the limits of kinship. Antiincest legislation in the early west (500 – 900). In: From Sappho to De Sade. Moments in the history of sexuality. Hrsg. von Jan Bremmer, London 1991, S. 36– 59, hier S. 37; Ursula Peters: Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. Die Adelsfamilie in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1999 (Hermaea N. F. 85), S. 18– 20; Ubl, Inzestverbot, S. 374; 388 und 464. Vgl. ebd., S. 141; 212; 404 f., 425; 435 und 486 ff. Vgl. Jong, To the limits, S. 41 und 50. Zur Logik von Reinheit und Befleckung vgl. a. Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt a. M. 1988 (stw 712). Ubl wendet kritisch ein, dass der bei de Jong zentrale Begriff pollutio auch im römisch-heidnischen Kontext Verwendung findet, während er in den merowingischen Konzilien nicht auftaucht; vgl. Ubl, Inzestverbot, S. 139 f. I. O. „‚heated‘ incest discours as an abonimation“ beziehungsweise „cool (utilitarian) mode of speaking“; Rolker, Two models, S. 149 f. Vgl. ebd., S. 151 f. So könne Burchard gerade dadurch, dass er die Sprache der Verunreinigung auf Ehen innerhalb der weiteren Verwandtschaft überträgt, die Radikalisierung der Ehehindernisse vorantreiben; vgl. ebd., S. 152– 155.
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2.2 Im Schatten: Vater-Tochter-Inzest, Missbrauch und Emotionen Vergleicht man nun den mittelalterlichen mit dem modernen Inzestdiskurs, werden drei für die vorliegende Arbeit zentrale ‚blinde Flecken‘ offenbar: die Missbrauchsthematik, der Vater-Tochter-Inzest und Emotionen. Das mittelalterliche Kirchenrecht blendet sexuellen Missbrauch aus.⁶⁸ Ubl nennt in seiner umfangreichen Studie nur eine einzige Ausnahme, die sich im weitesten Sinne als Missbrauchsdelikt lesen lässt, nämlich den ‚Fall Theutberga‘ (9. Jahrhundert), die von ihrem Mann, dem fränkischen König Lothar II., der vorehelichen Unzucht mit ihrem Bruder Hugbert bezichtigt wird.⁶⁹ Der Begriff ‚Missbrauch‘ (abusus) findet in theologischen und kirchenrechtlichen Schriften zwar zuweilen Verwendung, meint jedoch gerade nicht den gewalttätigen Übergriff eines Familienmitglieds auf ein anderes, sondern den Missbrauch der göttlich gefügten Verwandtschaftsordnung durch inzestuöse Handlungen.⁷⁰ Auch der Vater-Tochter-Inzest steht im Schatten der weitreichenden Ehehindernisse. Zwar ist er im Kirchenrecht stets mitgemeint, mitunter wird auch zwischen Inzest innerhalb der näheren und der weiteren Verwandtschaft unterschieden, so zum Beispiel in einigen Strafnormen des weltlichen Rechts oder bei Thomas von Aquin.⁷¹ Doch lässt sich ein Vater-Tochter-Inzest im Konkreten in den Gerichtsakten des Mittelalters nur schwerlich nachweisen,⁷² was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass das mittelalterliche Inzestrecht auf die Ordnung der Ehe fixiert ist, eine Heirat zwischen Vater und Tochter aber wohl kaum angestrebt worden sein dürfte. Erst recht sind keine Dokumente überliefert, die Hinweise auf Emotionen geben, die einen Vater-Tochter-Inzest gängigerweise begleiten. Erweitert man den
Vgl. Archibald, Incest, S. 27. Vgl. Ubl, Inzestverbot, S. 4 f.; 345 – 351. Vgl. exemplarisch Decretum Gratiani c. 2 C. 36 q. 1, Sp. 1289; Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II q. 154 a. IX und X. In: Ders.: Masshaltung (2. Teil). II-II 151– 170. Hrsg. von Josef Groner. Übers. von Dominikanern und Benediktern Deutschlands und Österreichs. Graz u. a. 1993 (Die deutsche Thomas-Ausgabe 22), S. 97; 100 und 104. Vgl. ebd., S. 100 f. Für das Kirchenrecht vgl. Paul Mikat: Zu den konziliaren Anfängen der merowingisch-fränkischen Inzestgesetzgebung. In: Überlieferung, Bewahrung und Gestaltung in der rechtsgeschichtlichen Forschung. Hrsg. von Stephan Buchholz/Paul Mikat/Dieter Werkmüller, Paderborn u. a. 1993 (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 69), S. 213 – 228, hier S. 216 f. Für das weltliche Recht vgl. Többen, Inzest, S. 12 f. Vgl. Archibald, Incest, S. 46. Archibald bezieht sich an dieser Stelle auf den Inzest innerhalb der nächsten Blutsverwandtschaft insgesamt (Vater-Tochter, Mutter-Sohn, Geschwister).
2.2 Im Schatten: Vater-Tochter-Inzest, Missbrauch und Emotionen
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Blick auf die Inzestthematik insgesamt, bleibt das historische Material immer noch dünn. Ubl referiert nur zwei konkrete historische Inzestfälle, bei denen Emotionen überhaupt eine Rolle zu spielen scheinen. So gibt er gleich zur Einleitung den Casus Philipps II. von Frankreich, der 1193 Ingeborg von Dänemark heiratet. Der König wendet sich, wie Chronisten berichten, schon einen Tag nach der Hochzeit voll Hass und Ekel von ihr ab; bald danach rekonstruiert eine eigens einbestellte Synode, dass die Eheleute im vierten Grad verwandt seien; die Verbindung wird gelöst.⁷³ Anders gelagert ist der Fall Roberts II. von Frankreich und seiner zweiten Frau Berta (10. Jahrhundert), die – tatsächlich zu eng verwandt, und zwar sowohl konsanguin als auch spirituell – ihre Ehe gegen die Intervention der Kirche zu verteidigen suchen, wofür Ubl „die emotionale Bindung von Robert und Berta, die von den Quellen unzweifelhaft belegt wird“⁷⁴, als ursächlich erachtet. In den kirchenrechtlich relevanten Schriften kommen Emotionen ausgesprochen selten und abweichend zur Moderne zur Sprache. So begründet Augustinus die Inzestverbote in seinem Gottesstaat explizit mit Liebe, womit nicht zwischengeschlechtliche Liebe (amor) oder sexuelle Leidenschaft (libido), sondern christliche Nächstenliebe (caritas) gemeint ist. Im Prinzip nimmt Augustinus in „emphatischer Weise“ vorweg, was bei Lévi-Strauss in „nüchterner Prosa“⁷⁵ wiederkehrt. Durch die Ehe, so Augustinus, werden soziale Bande geknüpft, die sich auf möglichst viele Menschen erstrecken sollen, um das Band verwandtschaftlicher Liebe zu erweitern.⁷⁶ Thomas von Aquin schließt sich dem an, verwendet aber den Begriff der Liebe zudem in abweichender Weise (amor), wenn er die Befürchtung formuliert, dass sich aufgrund ihres übermäßig hitzigen und glühenden Wesens nur allzu leicht unter nah beieinander lebenden Verwandten die Möglichkeit ergäbe, den Geschlechtsakt zu vollziehen. Mit Rekurs auf Aristoteles naturalisiert Thomas diese Begründung: „Da der Mann von Natur aus die Blutsverwandte liebt, entstünde eine allzu heftige Liebe und eine höchste Aufstachelung der Lustbegierde, wenn dazu noch die Geschlechtsliebe käme, und das
Vgl. Ubl, Inzestverbot, S. 1 ff. Ebd., S. 400. Ebd., S. 491. Vgl. Aurelius Augustinus: Der Gottesstaat. De civitate Dei. Hrsg. und übers. von Carl Johann Perl. Bd. 2. Paderborn u. a. 1979 (Aurelius Augustinus’ Werke), XV 16, S. 40 f.; vgl. insgesamt S. 48 – 53.
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widerspricht der Keuschheit.“⁷⁷ Eine solcherart gewissermaßen naturalistische Argumentationslinie lässt sich ebenfalls seit Augustinus nachvollziehen: Ad humanum enim sensum vel adliciendum vel offendendum mos valet plurimum […]. Verum quis dubitet honestius hoc tempore etiam consobrinorum prohibita esse coniugia? non solum secundum ea, […] sed etiam quia nescio quo modo inest humanae verecundiae quiddam naturale atque laudabile, ut, cui debet causa propinquitatis reverendum honorem, ab ea contineat, quamvis generatricem, tamen libidinem, de qua erubescere videmus et ipsam pudicitiam coniugalem. Das Herkommen übt nämlich, was Anziehung und Abstoßung anbelangt, auf das menschliche Gemüt einen sehr starken Einfluß aus. […] Indes wer würde zweifeln, daß es für unsere Zeit schicklicher ist, auch die Ehe von Geschwisterkindern zu verbieten? Und das nicht nur wegen des oben Gesagten […], sondern auch weil das menschliche Schamgefühl […] ein natürliches lobenswertes Empfinden dafür hat, daß einem weiblichen Wesen aus der Verwandtschaft eine Ehrerbietung zukommt, die der Begierde Einhalt gebietet, selbst wenn es der Zeugung dient, da wir ja sogar die eheliche Züchtigkeit sich dieser Begierde schämen sehen.⁷⁸
Hieran knüpft Thomas an, wenn er konstatiert, „daß vor allem die Geschlechtstätigkeiten mit einer der Ehrerbietung entgegenstehenden gewissen Schmach verbunden sind […]; deshalb empfinden die Menschen dabei auch Scham.“⁷⁹ Darüber hinaus bringt er (was den Vater-Tochter-Inzest in besonderer Weise betrifft) für Verbindungen zwischen Eltern und Kindern ein ‚Naturgesetz der Ehrfurcht‘ in Anschlag, welches selbst für die Tiere gelte: „Daher bemerkt Aristoteles, ein Pferd, das hinterlistig von seiner Mutter zur Geschlechtsvereinigung verleitet worden sei, habe sich in einen Abgrund gestürzt, sozusagen vor Schrecken, weil es sogar bei gewissen Tieren eine natürliche Ehrfurcht vor den Eltern gibt.“⁸⁰ Die Gelehrten des Mittelalters scheinen ebenso wie die der Gegenwart zwischen der Idee einer ‚natürlichen‘ Inzestneigung und Inzestscheu zu schwanken, quia cum naturaliter homo consanguineam diligat, si adderetur amor qui est ex commixtione venerea, fieret nimius ardor amoris, et maximum libidinis incentivum; quod castitati repugnat; Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II q. 154 a. IX, S. 100. Augustinus, De civitate Dei XV 16, S. 52 f. […] quod in actibus venereis maxime consistit quaedam turpitudo honorificentiae contraria: unde de his homines verecundantur; Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II q. 154 a. IX, S. 99. Unde Philosophus dicit […], quod quidam equus, quia deceptus fuit ut matri commisceretur, seipsum praecipitavit, quasi prae horror, eo quod etiam animalibus aliquibus inest naturalis reverentia ad parentes; ebd., q. 154 a. 9 ad 3, S. 101. Thomas’ Quelle, Aristoteles, argumentiert diesbezüglich allerdings widersprüchlich, wenn er in seiner Tierkunde diametral entgegengesetzt den Nutzen der Inzucht vorstellt: „Pferde belegen auch ihre Mütter und Töchter, ja die Pferdezucht erreicht einen Höhepunkt, wie es scheint, wenn sie die eigene Nachkommenschaft decken“; Aristoteles: Historia animalium. Tierkunde. Hrsg. und übers. von Paul Gohlke. Paderborn 1949 (Die Lehrschriften 13/1), VI 22, 576a19 – 22, S. 288.
2.2 Im Schatten: Vater-Tochter-Inzest, Missbrauch und Emotionen
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die jeweils mit spezifischen Emotionen verknüpft wird. Dabei existieren mit Scham und Liebe zum Teil Berührungspunkte zur Moderne, zumeist jedoch wird Historizität transparent wie bei caritas, Ehrfurcht und Schrecken; auch werfen Keuschheit und Laster abweichende normative Bezugspunkte auf. Vor allem aber ist diese Zusammenstellung ausgesprochen selektiv und pointiert – im Gesamtkontext der zahlreichen patristischen, theologischen, kanonischen und scholastischen Schriften kommt Emotionen nur eine marginale Bedeutung zu. Im Kirchenrecht, so auch Elizabeth Archibald, spielen die emotionalen Folgen für die Betroffenen keine Rolle, von Belang ist die Verdammung der Seele.⁸¹ Das bedeutet jedoch nicht, dass die Debatte ohne Emotionen geführt würde.⁸² So ließe sich die bereits erwähnte biblische Redeweise auf eine spezifische emotionale Logik hin lesen, insofern sie darauf zielt, Furcht zu schüren.⁸³ Im Hintergrund dieser Furcht steht der Zorn Gottes über Unreinheit und Befleckung (vgl. Lev 18,24 f.; 18,29; 20,22), der seinen festen Platz im Inzestdiskurs im 6. Jahrhundert bei Justinian erhält.⁸⁴ Strenggenommen ist der Gotteszorn allerdings – so zumindest Augustinus’ Lesart – gerade kein Gefühl, sondern ein Urteil oder Gericht, kraft dessen Strafe über Sünde verhängt wird.⁸⁵ Er wird als legitimes Machtmittel verstanden, das, wie Laktanz in seiner Abhandlung De ira dei herleitet, notwendig und von
Vgl. Archibald, Incest, S. 5. Von der Synode in Diedenhofen aus dem Jahr 1003 etwa, bei der die Erweiterung der Inzestverbote wesentlich vorangetrieben wird, sind Zorn, Feindschaft, Raserei und Zwietracht der Teilnehmer überliefert; vgl. Ubl, Inzestverbot, S. 406. Umgekehrt verteidigt sich das IV. Laterankonzil (1215), bei dem die Inzestverbote wieder reduziert werden, vorbeugend gegen eine etwaige Erregung über die Änderung; vgl. IV. Laterankonzil c. 50, S. 257 f. I. O. „fear of pollution“; Jong, To the limits, S. 50. Es handelt sich zunächst um zwei getrennte Forderungen: Schon in seinem Codex dehnt Justinian die Inzestverbote auf die geistliche Verwandtschaft aus; vgl. Codex Iustinianus 5,4,26, S. 197. In seiner Novellengesetzgebung verringert Justinian die Möglichkeiten zur Ehescheidung drastisch; vgl. Novellae. Hrsg. von Rudolf Schoell/Wilhelm Kroll, Berlin 1895 (CICiv 3), Nov. 117, S. 551– 566. Bei Zuwiderhandeln drohen Enteignung, Vermögensverlust und Einweisung ins Kloster, was den Gotteszorn besänftigen soll; vgl. Nov. 134, S. 676 – 689. Zudem werden unter anderem Homosexualität und Blasphemie unter Strafe gestellt, damit der Zorn Gottes nicht durch gottlose Handlungen erregt werde; vgl. Nov. 77, S. 381– 387. Den direkten Zusammenhang stellt Justinian noch nicht her, doch auch Inzestehen gelten ihm als gottlos und gegen die Natur gerichtet, vgl. Nov. 12, 1, S. 95 f. sowie Nov. 154 pr., S. 730. Justinians Rekurs auf den Gotteszorn kann mit Ubl als radikale Neuerung des spätantiken Rechts gelten, die sich im Laufe des Frühmittelalters zur vorherrschenden Argumentationsstruktur entwickelt; vgl. Ubl, Inzestverbot, S. 67– 69. Vgl. die jeweilige Übersetzung: Augustinus, De civitate Dei XV 25, S. 83; Aurelius Augustinus: Des heiligen Augustinus zwey und zwanzig Bücher von der Stadt Gottes. Hrsg. und übers. von J. P. Silbert, Bd. 2, Wien 1826, S. 341.
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positivem Nutzen, „für die menschlichen Verhältnisse besonders heilsam ist“⁸⁶. Gotteszorn provoziert normkonformes Verhalten innerhalb einer genuin christlichen Logik, wie sich mit Evamaria Freienhofer sagen lässt: „Zusammen mit der Gunst (gratia) ergänzt er sich wie Zuckerbrot und Peitsche […]. Eine Gunstbezeugung Gottes […] soll zu positivem Handeln animieren, Zorn hingegen über die Erzeugung von Angst und Schrecken von schlechten Taten abhalten.“⁸⁷ Jenseits der genannten Ausnahmen werden Emotionen im historischen Inzestdiskurs in der Regel allerdings nicht thematisch und noch seltener Gegenstand der Reflexion, entsprechend wenig Aufmerksamkeit ist Emotionen in den Geschichtswissenschaften zugekommen. Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie sich die mittelalterliche Literatur zu dem Themenkomplex verhält. Dort nämlich finden sich Aspekte der Inzestthematik verhandelt, die sich sowohl vom modernen als auch vom klerikalen Inzestdiskurs unterscheiden.
2.3 Mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur Die mittelalterliche Literatur hat eine Fülle an Inzesterzählungen hervorgebracht, die in der psychoanalytisch orientierten Arbeit Otto Ranks und der themazentrierten Studie Archibalds aufbereitet sind.⁸⁸ In der Folge verschiedener cultural turns und wissenschaftlicher Neuorientierungen rückt die Inzestthematik seit den 1980er Jahren vermehrt in den Fokus des Forschungsinteresses, wobei sich insbesondere Arbeiten, die sich an den Gender-Studies orientieren, dem VaterTochter-Inzest widmen. Auf der Grundlage der seitdem entstandenen Studien lassen sich folgende Metathesen des aktuellen Forschungsstandes referieren, die im diachronen und synchronen Vergleich signifikante Unterschiede zu den bisher skizzierten Auffassungen von Inzest offenbaren und eine Eigenlogik von Literatur transparent machen.
quod est rebus humanis maxime salutare; Laktanz: Vom Zorne Gottes. De ira Dei liber. Eingel., hrsg., übertr. und erl. von Heinrich Kraft/Antonie Wlosok, Darmstadt 1974 (Texte zur Forschung 4), 23, 9, S. 74 f.; vgl. insgesamt 23, 9 – 13, S. 74– 77. Evamaria Freienhofer: Tabuisierung von Zorn als Herrscherhandeln im König Rother. In: Machtvolle Gefühle. Hrsg. von Ingrid Kasten, Berlin, New York 2010 (TMP 24), S. 87– 106, hier S. 88. Vgl. Otto Rank: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge eine Psychologie des dichterischen Schaffens, Leipzig 21926; Archibald, Incest. Trotz beeindruckender Materialfülle bleibt Manko von Ranks Untersuchung, dass sie historisch spezifische narrative Konstellationen allein als Effekte von Verdrängungs-, Sublimierungs- und Entstellungstendenzen eines letztlich ahistorischen Dichter-Ichs fasst; vgl. etwa Rank, Inzest-Motiv, S. 54 ff.; 312 f.
2.3 Mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur
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(1) In der Literatur wird die nächste Verwandtschaft fokussiert, die kirchlichen Ehehindernisse werden ausgeblendet. Der wohl auffälligste Befund betrifft den im Diskurs abgebildeten Gegenstandsbereich. In der Literatur findet Inzest vornehmlich innerhalb der nächsten Verwandtschaft statt, während die umfassenderen Inzestverbote der Kirche weitgehend ausgespart werden.⁸⁹ Als nah verwandt gilt dabei die Trias Vater-MutterKind mit den Inzesttypen Vater-Tochter, Mutter-Sohn und Bruder-Schwester,⁹⁰ was der modernen Definition von Inzest entspricht. Über die komplexen Heiratsregeln der Kirche hingegen wird, wie Archibald konstatiert, in der Literatur nicht reflektiert.⁹¹ Zwar scheint, so Ursula Peters, „[d]ie sich schärfende kirchliche Lehre von dem Ehehindernis der zu engen Verwandtschaft […] den höfischen Autoren sehr wohl geläufig gewesen zu sein“⁹², zugleich bleiben berühmte Paare wie Tristan und Isolde oder Parzival und Condwiramur von jedem Inzestvorwurf frei, obgleich sie gemäß der kirchlichen Verbote zu nah miteinander verwandt sind.Vor allem aber tritt der Vater-Tochter-Inzest in der Literatur aus seinem mittelalterlichen Schatten heraus – er gehört zu den am häufigsten behandelten Inzestkonstellationen.⁹³ (2) Die Inzestthematik bildet spezifisch mittelalterliche Narrative aus. In Abhängigkeit von Variablen wie dem Ausgang des Geschehens, der verwandtschaftlichen Beziehungskonstellation, dem Geschlecht der Concumbenten und dem Gattungszusammenhang lassen sich Erzähltypen und allgemeine Cha-
Vgl. Danielle Buschinger: Das Inzest-Motiv in der mittelalterlichen Literatur. In: Psychologie in der Mediävistik. Gesammelte Beiträge des Steinheimer Symposions. Hrsg. von Jürgen Kühnel, Göppingen 1985 (GAG 431), S. 107– 140, hier S. 135; Elizabeth Archibald: „The appalling dangers of family life“. Incest in medieval literature. In: Medieval family roles. A book of essays. Hrsg. von Cathy Jorgensen Itnyre, New York 1996 (Garland reference library of the humanities 1727), S. 157– 172, hier S. 168; Peters, Dynastengeschichte, S. 324; 328 – 335. Vgl. ebd., S. 331; Buschinger, Inzest-Motiv, S. 107 und 135; Archibald, The appalling dangers, S. 168. Jutta Eming bringt für diesen Gegenstandsbereich den Begriff des ‚primären Inzests‘ in Anschlag; vgl. Jutta Eming: Inzestneigung und Inzestvollzug im mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerroman (Mai und Beaflor und Apollonius von Tyrus). In: Historische Inzestdiskurse. Interdisziplinäre Zugänge. Hrsg. von ders./Claudia Jarzebowski/Claudia Ulbrich, Königstein/ Taunus 2003, S. 21– 45, hier S. 23. Vgl. Archibald, The appalling dangers, S. 168. Peters, Dynastengeschichte, S. 333; vgl. a. S. 334. Vgl. Ingrid Bennewitz: Mädchen ohne Hände. Der Vater-Tochter-Inzest in der mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Erzählliteratur. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Hrsg. von Kurt Gärtner/Ingrid Kasten/Frank Shaw, Tübingen 1996, S. 157– 172, hier S. 159 f.
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rakteristika bestimmen, die zum Teil zeitspezifisch sind.⁹⁴ So kommt der VaterTochter-Inzest in der mittelalterlichen Literatur (anders als der Mutter-Sohn-Inzest) nicht in Form eines unwissenden Inzests vor, bei dem Vater und Tochter unerkannt Beischlaf oder Ehe vollziehen, die Literatur kennt aber zwei grundsätzlich voneinander abweichende Modi, nämlich den vollzogenen und den versuchten Inzest.⁹⁵ Während das Thema des vollzogenen Inzests aus überlieferten Stoffen wie dem Lot-, dem Myrrha- und dem Apollonius-Stoff tradiert wird, entfaltet das Thema des versuchten, aber im letzten Moment verhinderten Inzests den genuin mittelalterlichen Erzähltyp ‚Mädchen ohne Hände‘, bei dem die Avancen des Vaters zur Vertreibung oder Flucht der Tochter führen, von wo aus sich die weitere Romanhandlung entspinnt.⁹⁶ Darüber hinaus bringt auch der vollzogene Inzest eine literarische Neuerung hervor, er dient in einigen der ebenfalls mittelalterspezifischen Sünderheiligenlegenden als (austauschbares⁹⁷) Eingangsthema, das Geburt und Aussetzung des Helden motiviert, wobei die Inzestthematik im weiteren Handlungsverlauf gedoppelt wird mit einem unwissentlichen Mutter-Sohn-Inzest nach dem Vorbild der Ödipus-Fabel.⁹⁸ Hiermit hängt eine weitere Eigenart mittelalterlicher Inzesterzählungen zusammen, auf die nun zu sprechen zu kommen ist: der Aspekt der Heiligkeit.
Vgl. ebd., passim; Buschinger, Inzest-Motiv; Archibald, The appalling dangers. Vgl. Archibald, Incest, S. 146. Vgl. Hermann Suchier: Introduction. In: Œuvre poétiques de Philippe de Remi Sire de Beaumanoir. Hrsg. von dems., Paris 1884, S. i-clx, Heinrich Däumling: Studie über den Typus des ‚Mädchens ohne Hände‘ innerhalb des Konstanzezyklus, (Diss.) München 1912; Margaret Schlauch: Chaucer’s Constance and Accused Queens, New York 1969 [1927]; Elizabeth Archibald: The Flight from Incest. Two late Classical Persecutors of the Constance Theme. In: The Chaucer Review 20 (1986), S. 259 – 272; Bennewitz, Mädchen; Kiening, Unheilige Familien, S. 105 – 138; Nora Hagemann: Vorgeschichten. Inzestthematik im Liebes- und Abenteuerroman. In: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Martin Baisch/Jutta Eming, Berlin 2013, S. 135– 162. So setzen struktur- und funktionsäquivalent Hartmanns von Aue Gregorius mit einem Geschwisterinzest, die Judaslegende mit einem Traumorakel, die Albanuslegende mit einem VaterTochter-Inzest ein. Vgl. Jürgen Kühnel: Ödipus und Gregorius. In: Psychologie in der Mediävistik. Gesammelte Beiträge des Steinheimer Symposions. Hrsg. von dems., Göppingen 1985 (GAG 431), S. 141– 169; Christoph Huber: Mittelalterliche Ödipus-Varianten. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von Johannes Janota, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 165 – 200; Archibald, Incest, S. 107– 126; Jutta Eming: Judas als Held. Formen des Erzählens in der mittelalterlichen Judaslegende. In: ZfdPh 120 (2001), S. 394– 412, hier S. 396 – 399.
2.3 Mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur
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(3) Die Inzestthematik korreliert mit Heiligkeit. Im literarischen Inzestdiskurs existiert ein signifikantes Element, das der Debatte um die kirchlichen Ehehindernisse ebenso fremd ist wie der Diskussion in der Moderne, nämlich Heiligkeit als Folge eines Inzests. In der älteren Forschung ist dieser Konnex zunächst am Beispiel der Sünderheiligenlegenden theologisch gedeutet worden. Dem Inzest als „schwerste Sünde“⁹⁹ folgen Beichte, Buße und Reue, die schließlich in Vergebung und Heiligkeit münden, wobei das maßlose Verbrechen am Anfang die unermessliche Gnadentätigkeit Gottes am Ende erweist.¹⁰⁰ Dass auch jenseits hiervon Korrelationen zwischen Inzest und Heiligkeit zu beobachten sind, zeigt Peter Strohschneider unter dem programmatischen Titel Inzest-Heiligkeit mit Rekurs auf die Theoriebildung von Niklas Luhmann und René Girard für Hartmanns von Aue Gregorius. Über den Weg der Entdifferenzierung, also der zunehmenden Nivellierung von ordnungskonstitutiven Unterschieden, wird der Held aus der Welt ausgestoßen und kehrt als Heiliger zurück, der Übergang ins Heilige ist kein kausaler Konnex, sondern ein kategorialer Sprung vom Profanen ins Transzendente.¹⁰¹ Dies lässt sich im Ansatz mit Christian Kiening auch für den Vater-Tochter-Inzest nachzeichnen, der für den Erzähltyp ‚Mädchen ohne Hände‘ den Begriff ‚Genealogie-Mirakel‘ prägt. Die Erzähllogik ist ihm zufolge von einer Matrix aus Genealogie und Heiligkeit getragen, die „wie in Brautwerbungsgeschichten am (glücklichen) Ende orientiert ist und wie in Heiligenlegenden die Finalität am direkten Eingreifen göttlicher Instanzen sichtbar macht.“¹⁰² Sie spannt sich auf zwischen den Polen (initialer) Inzest und (finale) Heiligkeit, „[d]och gewinnt sie ihren spezifischen Charakter gerade aus der Tatsache, dass jener nicht vollzogen und diese nicht erreicht wird“¹⁰³. Geistliches und Weltliches greifen also ineinander, womit eine weitere wesentliche Bezugsdimension aufgerufen ist, nämlich die Herrschaftsthematik. (4) Die Inzestthematik korreliert mit der Herrschaftsthematik. Der literarische Inzestdiskurs ist verflochten mit Fragen nach der richtigen Herrschaft.¹⁰⁴ Oft setzt der Vater-Tochter-Inzest mit dem frühen Tod der Mutter ein, der
Buschinger, Inzest-Motiv, S. 135. Zu Sünderheiligenlegenden vgl. grundsätzlich Dorn, Der sündige Heilige. Ihre Struktur lässt sich mit Kurt Ruh fassen als Dreischritt „große Sünde – große Buße – große Gnade“; Ruh, Höfische Epik, S. 109. Zur Funktion der Inzestthematik im Speziellen vgl. Kiening, Unheilige Familien, S. 66. Vgl. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 105 f. Kiening, Unheilige Familien, S. 108. Ebd., S. 107. Vgl. Eming, Inzestneigung, S. 22; 31 f.; 38.
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herrschafts- und erbpolitische Konflikte nach sich zieht; die Königin verstirbt ohne einen männlichen Thronfolger geboren zu haben, der Fortbestand der Dynastie steht auf dem Spiel.¹⁰⁵ Der Inzest stellt dabei paradoxerweise als eine Art „genealogische[r] Kurzschluß“¹⁰⁶ eine vermeintliche Lösung bereit, wie neben Almut Schneider auch Kiening anmerkt: „Das, was die genealogische Fortsetzung sichert, soll nur durch Überschreitung genealogischer Regeln möglich sein.“¹⁰⁷ Analoges beschreibt schon Strohschneider für den Gregorius, der eine „prekär gewordene Herrschaft“¹⁰⁸ als Krise weltlicher Herrschaft im Moment der Sukzession zeigt, von der als Übertretung des Inzesttabus erzählt wird. Zugleich bieten die Erzählungen zum Teil implizit, zum Teil explizit alternative Lösungen, an erster Stelle Exogamie. So bestimmt Strohschneider als Konstituens der Krise, dass der versterbende Vater versäumt, seine Tochter exogam zu verheiraten.¹⁰⁹ In Erzählungen nach dem Typ ‚Mädchen ohne Hände‘ scheint mitunter die Möglichkeit auf, dass der verwitwete König eine andere Frau heiraten könnte, um seine verstorbene Gattin zu ersetzen, was jedoch meist einhergeht mit der Ebenbildlichkeit der Tochter, die so als einzige geeignete Kandidatin für eine neue Ehe erscheint.¹¹⁰ Was an dieser Stelle durch Flucht oder Vertreibung narrativ abgewiesen wird, entpuppt sich schließlich als Voraussetzung dafür, dass die Töchter in der Fremde einen Herrscher heiraten und einen Sohn gebären, so dass die Thronfolge in der Schlussperspektive gesichert, die genealogische Krise über Umwege gelöst ist. In diesem Rahmen deutet sich eine Geschlechtsspezifik und mit ihr eine letzte Metathese an. (5) Die Inzestthematik ist gender-sensibel. Die gendertheoretisch bis feministisch orientierte Forschung beschäftigt sich insbesondere mit Strategien der Schuldzuweisung und -entlastung, ihr hauptsächliches Untersuchungsfeld ist der Vater-Tochter-Inzest. So konstatiert Ingrid Bennewitz, dass Bearbeitungen in dieser Kategorie ihren Ausgang vom frühen Tod der Mutter (beziehungsweise ihrer Abwesenheit) nehmen.¹¹¹ Ähnlich betont schon Vgl. Bennewitz, Mädchen, S. 161. Almut Schneider: Chiffren des Selbst. Narrative Spiegelungen der Identitätsproblematik in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich und in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland, Göttingen 2004 (Palaestra 321), S. 197. Kiening, Unheilige Familien, S. 111 f. Strohschneider, Inzest-Heiligkeit, S. 113; vgl. a. S. 115 f. Vgl. ebd., S. 113. Vgl. ebd., S. 111; Bennewitz, Mädchen, S. 161; Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 62008 (Kröners Taschenausgabe 301), S. 393; Kiening, Unheilige Familien, S. 111. Vgl. Bennewitz, Mädchen, S. 161.
2.3 Mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur
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Danielle Buschinger, dass die Mutter stirbt, sobald die Tochter das Alter der sexuellen Reife erreicht.¹¹² Dabei erscheint sie oft als Ebenbild der Mutter,¹¹³ ihr „(verjüngtes) Spiegelbild“¹¹⁴, ihre „Stellvertreterin“¹¹⁵. Hinzu tritt die exponierte Schönheit und „erotische Attraktivität“ der Tochter, die das Begehren des Vaters in gewisser Weise verständlich machen und so „unterschwellig auf eine Ent-Schuldigung des Vaters hinarbeiten“¹¹⁶. Wird vom Inzest in Form einer Eheanbahnung erzählt, kann die Hochzeit ihm zudem, so Jutta Eming, einen „Anstrich von Legitimität“¹¹⁷ verleihen und damit ebenfalls entlastend wirken. Nicht zuletzt kann der Einfluss des Teufels als Entlastungsinstanz dienen.¹¹⁸ Typisch für den VaterTochter-Inzest sind darüber hinaus autoaggressive Handlungen der Töchter, die sich entweder in der Folge oder im Versuch der Abwehr des Inzests verstümmeln und verunstalten oder versuchen, sich zu töten.¹¹⁹ Zeigt sich in diesen Forschungsarbeiten zunächst, dass die Schuldökonomie in Erzählungen vom VaterTochter-Inzest hochgradig gender-sensibel ist,¹²⁰ konstatiert Archibald in globaler Perspektive im Vergleich mit Erzählungen von anderen Inzestkonstellationen, die mittelalterlichen Dichter seien aus moderner Perspektive überraschend „gender-blind“¹²¹. Zwar existieren, so Archibald, geschlechtsspezifische Erzähltypen wie die ‚Mädchen ohne Hände‘, auch werden Heldinnen im Gegensatz zu Helden in der Regel nicht zu Heiligen; im Ganzen aber lasse sich eine misogyne Grundannahme nicht bestätigen, Mütter wie Väter werden zu Inzesttätern, den Gefahren des Inzests können potentiell jedermann und jedefrau erliegen. Die vorliegende Studie kann sich damit auf eine breite Basis wissenschaftlicher Forschungsarbeiten stützen, die die eminente Bedeutung von Themenfeldern wie Gender, Genealogie, Herrschaft und Heiligkeit aufgezeigt haben, und sich vollends auf einen Aspekt konzentrieren, der bisher so gut wie keine Aufmerksamkeit erfahren hat: Emotionen.
Vgl. Buschinger, Inzest-Motiv, S. 119. Vgl. Frenzel, Motive, S. 393. Bennewitz, Mädchen, S. 161. Buschinger, Inzest-Motiv, S. 119. Bennewitz, Mädchen, S. 161. Eming, Inzestneigung, S. 25. Vgl. Buschinger, Inzest-Motiv, S. 120; Bennewitz, Mädchen, S. 162. Vgl. Buschinger, Inzest-Motiv, S. 122; Eming, Inzestneigung, S. 31 f. Vgl. für Mai und Beaflor Ingrid Kasten: Ehekonsens und Liebesheirat in Mai und Beaflor. In: Oxford German Studies 22 (1993), S. 1– 20, hier S. 14 f.; Eming, Inzestneigung, S. 29; für den Erzähltyp insgesamt vgl. Buschinger, Inzest-Motiv, S. 127; Bennewitz, Mädchen, S. 163 f. Archibald, Incest, S. 234, vgl. a. S. 147 ff.
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2.4 Leerstelle: Vater-Tochter-Inzest und Emotion Dass die Inzestthematik emotional aufgeladen ist, wird in der Forschung mitunter en passant erwähnt, ist jedoch bisher an keiner Stelle systematisch untersucht worden. So finden sich in einschlägigen Forschungsarbeiten verstreut Bemerkungen wie folgende: „Die Auseinandersetzung mit dem Thema Inzest geht nicht ohne Emotionen vonstatten“, so Claudia Jarzebowski, sie sei in besonderer Weise geeignet, „Aufmerksamkeit zu erregen und Emotionen zu schüren.“¹²² Bennewitz spricht von einer in Anführungsstriche gesetzten „‚Beliebtheit‘“¹²³ des Themas, Eming stellt fest, dass einige „Inzesthelden auch Bewunderung erregen“¹²⁴. Archibald sieht die Priorität des Kernfamilien-Inzests in der Literatur darin begründet, dass er aufsehenerregend, spannend und schockierend sei,¹²⁵ Elisabeth Frenzel spricht von einer „zwiespältigen Faszination“¹²⁶ für den Gegenstand. Neben diesen primär auf die Rezeption der Erzählungen zielenden Bemerkungen finden sich gelegentlich die Handlungsebene betreffende Aussagen. So steht die Tochter nach Frenzel in „emotionaler Autoritätsabhängigkeit vom Vater“¹²⁷; aus „Mitleid mit ihrer Unschuld“¹²⁸, so Buschinger, wird ihr im Fall des verhinderten Inzests zur Flucht verholfen. Inzestuöse Liebe kann mit Buschinger mit einem ganzen Set an Ausdrücken umrissen werden wie „verbrecherische[.]“ oder auch „väterliche Liebe“, die sich „in eine abscheuliche Leidenschaft“¹²⁹ verwandelt. Archibald resümiert, dass der Geschwisterinzest in Hartmanns von Aue Gregorius von einer emotionalen Nähe gekennzeichnet sei, während beim Vater-Tochter-Inzest nie von gegenseitiger Liebe erzählt werde.¹³⁰ Eming zeigt, dass der „inzestuöse[n] Liebe“ häufig eine „wünschenswert exogame“ und „vorbildliche Liebe der Protagonistenpaare“¹³¹ gegenübergestellt wird. Dass die emotionale Komponente bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist, mag nicht zuletzt an Definitionsfragen liegen. Weder die moderne Minimaldefinition noch das mittelalterliche Verständnis von Inzest zielen auf Emotionen. Ihre Bedeutung lässt sich nur diskursiv erfassen und fällt, wie gezeigt, für den
Jarzebowski, Inzest, S. 6; 32. Bennewitz, Mädchen, S. 159. Eming, Inzestneigung, S. 39. Vgl. Archibald, The appalling dangers, S. 168. Frenzel, Motive, S. 392. Ebd., S. 393. Buschinger, Inzest-Motiv, S. 119. Ebd., S. 107; 117 f. Vgl. Archibald, Incest, S. 145. Eming, Theorie des Inzests, S. 39 und 47.
2.4 Leerstelle: Vater-Tochter-Inzest und Emotion
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kirchlichen Diskurs marginal aus. Dass es sich bei diesem Befund um eine Frage der Quellenlage handeln und sich ein abweichendes Bild ergeben könnte, wenn man stärker literarische Texte fokussiert, ist die Annahme, von der die vorliegende Studie ihren Ausgang nimmt. Um die disparaten Definitionen und korrelativen Themenfelder, die die Auseinandersetzung mit dem modernen und dem mittelalterlichen Inzestdiskurs in Kirchenrecht und Literatur ergeben haben, integrieren zu können, wird im Folgenden der Tabubegriff als Leitkonzept entwickelt, der sich in besonderer Weise eignet, für eine literaturwissenschaftliche Analyse fruchtbar gemacht zu werden und die emotionalen Potentiale der Inzestthematik systematisch einzuholen.
3 Tabu Als der Seefahrer und Entdecker James Cook Ende des 18. Jahrhunderts von seinen Südseereisen nach England zurückkehrt, hat er ein neues Wort im Gepäck, das in den folgenden zwei Jahrhunderten einen Siegeszug durch die europäischen Volkssprachen in die Geistes- und Sozialwissenschaften antritt: Tabu.¹ Bei dem polynesischen Begriff tapu (auch ta pu) handelt es sich um eine Wortzusammensetzung aus ta („kennzeichnen/markieren“) und pu (kräftig/intensiv), die ursprünglich so viel wie „intensive Kennzeichnung“ oder etwas „besonders Markiertes“ bedeutet.² Heute gängige Übersetzungen operieren meist mit den spannungsreichen Begriffen „heilig“ und „verboten“ (auch „unrein“),³ was eine grundsätzliche Ambivalenz anzeigt. Schon James George Frazer merkt zu den Tabuvorschriften indigener Kulturen an, „[e]inige würden wir heilig nennen, andere unrein und befleckt“⁴; eine Doppelbewegung, die in Freuds Paraphrasierung als „heilige Scheu“⁵ und Giorgio Agambens Begriff des homo sacer wiederkehrt.⁶ In einer ersten Annäherungsbewegung lassen sich Tabus in Abgrenzung zu einfachen Verboten bestimmen. So konstatiert bereits Freud in seiner Schrift
Vgl. Wolfgang Braungart: Art. ‚Tabu‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Jan-Dirk Müller/Georg Braungart/Harald Fricke, Bd. 3, Berlin 2003, S. 570 – 573, hier S. 570 f.; Andreas Musolff: Sind Tabus tabu? In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 60 (1987), S. 10 – 18, hier S. 10 f.; Hartmut Schröder: Art. ‚Tabu‘. In: Handbuch interkulturelle Germanistik. Hrsg. von Alois Wierlacher/Andrea Bogner, Stuttgart, Weimar 2003, S. 307– 315, hier S. 308; Martin Baisch/Elke Koch: Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. In: Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. Hrsg. von dens., Freiburg im Breisgau u. a. 2010 (Rombach Scenae 12), S. 7– 26, hier S. 12. Um Cook rankt sich die Legende, er sei 1779 auf Hawaii aufgrund eines Tabubruchs von den Einheimischen gelyncht worden; vgl. Werner Betz: Tabu. Wörter und Wandel, in: Meyers enzyklopädisches Lexikon. Bd. 23, Mannheim u. a. 1978, S. 141– 144, hier S. 141. Vgl. Schröder, Tabu, S. 308; Baisch/Koch, Neugier, S. 12; Ingrid Kasten: Tabu und Lust. Zur Verserzählung Der Ritter von Staufenberg. In: Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. Hrsg. von Martin Baisch/Elke Koch, Freiburg im Breisgau u. a. 2010 (Rombach Scenae 12), S. 235 – 254, hier S. 237. Vgl. Schröder, Tabu, S. 308; Ursula Kocher: Art. ‚Tabu‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, Bd. 9, Darmstadt 2009, Sp. 403 – 409, hier Sp. 403. James George Frazer: Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker, Leipzig 1928, S. 324 f. Freud, Totem und Tabu, S. 311. Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002 (es 2068), S. 81– 123. https://doi.org/10.1515/9783110618440-004
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Totem und Tabu: „Die Tabubeschränkungen sind etwas anderes als die religiösen oder moralischen Verbote. Sie werden nicht auf das Gebot eines Gottes zurückgeführt, sondern verbieten sich eigentlich von selbst […]. Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung; sie sind unbekannter Herkunft […].“⁷ Obgleich diese Abgrenzung nicht immer trennscharf zu ziehen ist,⁸ gilt sie auch der neueren Tabuforschung als wesentlich.Während Verbote als eine Art objektive Einstellung in der Regel schriftlich codiert sind und ihre Einhaltung sanktioniert wird, müssen Tabus „weder rational legitimiert noch funktional begründet“⁹ sein, sie werden von den Mitgliedern einer Gemeinschaft in stiller Übereinkunft geteilt und internalisiert. Ebenfalls tabuspezifisch ist der Umstand, dass sich mit dieser diffusen, austauschbaren Begründung ein stark normativer Impetus verbindet – Tabus stellen ein „allgemein respektiertes Meidungsgebot“¹⁰ dar. Sie beziehen sich auf zentrale Werte und Normen einer Gesellschaft, lassen sich mit Werner Betz als Anti- oder Komplementärnormen,¹¹ mit Émile Durkheim als negative Riten,¹² mit Freud als kantischer ‚kategorischer Imperativ‘ beschreiben.¹³ Tabus gehören zu den grundlegenden Organisations- und Kommunikationsformen von Kultur, betreffen anthropologische Konstanten wie Leben und Tod, Sexualität und Gewalt und bieten den Mitgliedern eines Kollektivs prototypische Orientierungsmuster und Verhaltensschemata an.¹⁴ Sie besitzen eine originär ordnungsstiftende Funktion, sind Instrumentarien, die, so Nicole Zöllner, „den Einzelnen über kollektiv verbindliche, meist unbewusst wirkende Verbote […] reglementieren, um den Erhalt einer sozialen Ordnung zu gewährleisten.“¹⁵ Dabei kann die durch das Tabu geschützte Norm, wie Ingrid Kasten anmerkt, im Moment der Transgres Freud, Totem und Tabu, S. 311. Vgl. Baisch/Koch, Neugier, S. 13; Schröder, Tabu, S. 310. Dagmar von Hoff: Familiengeheimnisse. Inzest in Literatur und Film der Gegenwart, Köln 2003 (Literatur – Kultur – Geschlecht 28), S. 30; vgl. a. Kocher, Tabu, Sp. 403 und 405. Art. ‚Tabu‘. In: Meyers enzyklopädisches Lexikon. Bd. 23, Mannheim u. a. 1978, S. 146. Vgl. Betz, Tabu, S. 141. Vgl. Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1994 (stw 1125), S. 61– 65. Vgl. Freud, Totem und Tabu, S. 315. Vgl. Marion Oswald: Tabubrüche. Choreographien ihrer Wahrnehmung zwischen ‚Heimlichkeit‘ und ‚Öffentlichkeit‘. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hrsg. von Horst Wenzel/Charles Stephen Jaeger, Berlin 2006 (PhSt 195), S. 167– 187, hier S. 167; Claudia Benthien/Ortrud Gutjahr: Interkulturalität und Gender-Spezifik von Tabus. Zur Einleitung. In: Tabu. Interkulturalität und Gender. Hrsg. von dens., München 2008, S. 7– 18, hier S. 7. Nicole Zöllner: Der Euphemismus im alltäglichen und politischen Sprachgebrauch des Englischen, Frankfurt a. M., New York 1997 (Forum linguisticum 35), S. 24.
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sion ebenso bestätigt wie unterminiert werden.¹⁶ Tabus ist ein produktives Potential inhärent, das subversive Schlagkraft entfalten kann. Das in ihnen aufbewahrte Ordnungssystem ist nicht unumstößlich, sondern – wenn auch gegebenenfalls schwerfällig – prinzipiell dynamisch und flexibel. Gerade Literatur kommt hier eine entscheidende Rolle zu, da sie Tabus umspielt und zur Disposition stellt.¹⁷ Sprache trägt in diesem Kontext zentrale Bedeutung. Tabuisierung beeinflusst Sprachverwendung. Handlungstabus korrelieren mit Sprachtabus, deren vorrangige Funktion nach Hartmut Schröder darin besteht, „die Tabuisierung der unter einem absoluten Tabu stehenden Handlungen [zu] unterstützen und ab[zu]sichern (‚Darüber spricht man nicht, und man tut es nicht‘).“¹⁸ Dabei werden Tabus erneut sowohl restriktiv als auch produktiv wirksam. Sprachliche Vermeidungsstrategien treiben rhetorische Blüten wie Metaphern und Euphemismen, die das Unsagbare zu umgehen suchen – wer von tabuisierten Handlungen erzählt, die den gesellschaftlichen Standards gemäß eigentlich weder stattfinden noch benannt werden dürfen, sieht sich vor ein Darstellungsproblem gestellt.¹⁹ Damit öffnet sich der Tabubegriff auf eine poetologische Dimension hin, so dass die Darstellung tabuisierter Handlungen sowie Strategien der Umschreibung, Verhüllung und Umgehung in einem literaturwissenschaftlichen Zugriff analytisch beschreibbar werden.²⁰ Vor allem aber zeichnen sich Tabus durch einen ausgeprägten emotionalen Gehalt aus. Der Übergang zwischen Verbot und Tabu ist ein fließender, die Unterscheidung mehr graduell als kategorial, es sind aber gerade Emotionen, die als Gradmesser für eine Differenzierung herangezogen werden können. Tabus sind, so Ursula Kocher, „stets mit starken Emotionen verbunden“²¹, und, so Claudia Benthien, „durch eine Affektökonomie reguliert“²². Anders als Verbot, Regel oder Norm, so auch Martin Baisch und Elke Koch, „transportiert der Tabube-
Vgl. Kasten, Tabu und Lust, S. 238. Vgl. ähnlich a. Benthien/Gutjahr, Interkulturalität, S. 8; Ortrud Gutjahr: Tabus als Grundbedingungen von Kultur. Sigmund Freuds Totem und Tabu und die Wende in der Tabuforschung. In: Tabu. Interkulturalität und Gender. Hrsg. von Claudia Benthien/Ortrud Gutjahr, München 2008, S. 19 – 50, hier: S. 49. Vgl. Braungart, Tabu, S. 570. Schröder, Tabu, S. 311. Vgl. ebd., S. 311 f.; Hartmut Eggert: Säkulare Tabus und die Probleme ihrer Darstellung. Thesen zur Eröffnung der Diskussion. In: Tabu und Tabubruch. Literarische und sprachliche Strategien im 20. Jahrhundert. Hrsg. von dems./Janusz Golec, Stuttgart 2002 (M & P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung), S. 15 – 24, hier S. 22 ff. Vgl. Baisch/Koch, Neugier, S. 14. Kocher, Tabu, Sp. 405. Benthien, Inzestscheu, S. 73. Vgl. a. Benthien/Gutjahr, Interkulturalität, S. 7 f.
3.1 (Vater-Tochter‐)Inzest als Tabu
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griff eine besondere Aufladung. Mit dem Tabu sind […] starke emotionale Potentiale verbunden, wodurch es von anderen sozialen Regeln abgehoben erscheint.“²³ So sehr man den theoretischen Unterbau bei Freud kritisieren kann, ist ihm doch anzurechnen, dass er diese tabuspezifische „Ambivalenz der Gefühlsregungen“²⁴ treffend charakterisiert, die zwischen Lust und Furcht, Begehren und Scham, Eifersucht und Reue, Faszination und Ekel changieren. Vor diesem Hintergrund wird die von Baisch und Koch erarbeitete Definition von ‚Tabu‘ für die vorliegende Studie zugrunde gelegt: Wir schlagen deshalb vor, den Tabubegriff für Grenzen und Verbote geltend zu machen, die a) zwar gewusst sind, deren Inhalt und Geltung aber dethematisiert wird, b) in bestimmten Kommunikations- und Diskursbereichen Vermeidungsstrategien hervorrufen, c) mit starken emotionalen Potentialen aufgeladen und d) mit gravierenden Konsequenzen verbunden sind.²⁵
Hieran anschließend wird der Tabubegriff für die Textanalyse operationalisiert, wobei auf drei der angeführten Teilbereiche ein besonderes Augenmerk gerichtet wird: die ordnungsstiftende Funktion von Tabus, Sprache und Emotion.
3.1 (Vater-Tochter‐)Inzest als Tabu Inzest ist ein Tabu, vielleicht das Tabu schlechthin.²⁶ Dabei besitzt das Inzesttabu im Mittelalter, wie bereits deutlich geworden sein dürfte, durchaus eine Verbotsseite, die Gesetzesform annimmt. Sie erfasst den Vater-Tochter-Inzest, der jedoch gewissermaßen ein im Verbot tabuisiertes Herzstück bildet, wie die Ausführungen des Konzils von Epaon (517) exemplarisch illustrieren: Incestis coniunctionibus nihil prursus veniae reservamus […]. Incestus vero nec ullo coniugii nomine praevelandus praeter illos, quos vel nominare funestum est, hos esse censemus […].²⁷
Baisch/Koch, Neugier, S. 15. Freud, Totem und Tabu, S. 311; vgl. a. S. 323 f. und 426 f. Baisch/Koch, Neugier, S. 16 f. Inzest wird oft als Paradebeispiel für Tabus angeführt; vgl. etwa Schröder, Tabu, S. 311; Oswald, Tabubrüche, S. 167. Evelyn Finger bezeichnet den Inzest als letztes, Betz als vorletztes Tabu; vgl. Evelyn Finger: Das letzte Tabu. In: Die Zeit, Nr. 46 vom 08. November 2007, S. 17; Betz, Tabu, S. 141. In der Psychoanalyse bildet das Inzesttabu einen Schlüsselbegriff; vgl. Freud, Totem und Tabu; vgl. hierzu a. Kocher, Tabu, Sp. 409. Konzil von Epaon (517) c. 30. In: Concilia aevi Merovingici. Hrsg. von Friedrich Maassen, Hannover 1893 (MGH. Concilia 1), S. 15 – 30, hier S. 26.
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Für inzestuöse Verbindungen behalten wir absolut keine Vergebung bei […]. Wir sind der Ansicht, dass aber – außer jenen (inzestuösen Verbindungen), die schon beim Namen zu nennen verderblich ist, – insbesondere folgende – ohne auch nur den Namen der Ehe zu verdienen – als Inzest zu gelten haben […].²⁸
Gelistet werden im Anschluss Verwandtschaftstypen wie Schwägerin, Stiefmutter, Onkel und Cousinen – Vater und Tochter aber fallen unter jene Verbindungen, die nicht einmal benannt werden. Sie verbieten sich, um Freuds Worte aufzugreifen, „eigentlich von selbst“²⁹. Aus moderner Perspektive mag diese Feststellung verwundern. Inzest verbietet sich, so die landläufige, zuletzt vom Bundesverfassungsgericht vertretene Meinung,³⁰ da aus solchen Verbindungen vermehrt Nachkommen mit Behinderungen geboren würden. Das Basisnarrativ der Degenerationshypothese ist populär, vermag das Inzesttabu bei genauer Betrachtung jedoch nicht zu erklären. Tatsächlich erhöht sich bei inzestuöser Fortpflanzung aufgrund der höheren genetischen Übereinstimmung das Risiko erblich bedingter Defekte.³¹ Doch handelt es sich um eine Frage der Ausgangskonstellation, nicht der Blutsverwandtschaft. So besteht auch bei nicht-inzestuöser Fortpflanzung eine grundsätzliche Gefahr von circa eineinhalb bis drei Prozent, dass genetische Defekte auftreten,³² die auf bis zu fünfzig, in sehr seltenen Ausnahmefällen sogar hundert Prozent ansteigen kann, wenn die Vererbung über das X-Chromosom erfolgt. Diese Fälle werden legislativ jedoch nicht sanktioniert, und das „aus guten Gründen“, käme es doch einer „Verneinung des Lebensrechts behinderter Kinder“³³ gleich – das genetische Argument wächst sich rasch zu einem eugenischen aus. Setzt man hingegen ein diffuses Ideal der ‚Volksgesundheit‘, überrascht die Grenze, die auf vorgeblich biologischer Basis gezogen wird. Sie liegt in Deutschland gemäß der aktuellen Rechtsprechung bei Halbgeschwistern, was der genetischen Verwandtschaft von
Mikat, Inzestgesetzgebung, S. 216 f. Freud, Totem und Tabu, S. 311. Vgl. BVerfGE 120, 224, bes. S. 229; 243 und 247– 250. Vgl. Markus Nöthen: Vortrag bei der Anhörung des Deutschen Ethikrates zum Thema „Inzestverbot“ am 22. November 2012 im Veranstaltungsblock ‚Humangenetische Aspekte‘. http:// www.ethikrat.org/dateien/pdf/anhoerung-22-11-2012-noethen-ppt.pdf. Berlin 2012 (18. Dezember 2014), S. 3 und 7. Vgl. Finger, Tabu, S. 17. BVerfGE 120, 224, S. 259. Mit diesem Argument wendet sich Richter Winfried Hassemer in einem Sondervotum gegen das Urteil. Vgl. a. Deutsche Gesellschaft für Humangenetik: Eugenische Argumentation im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Inzestverbot. http://www. gfhev.de/de/leitlinien/LL_und_Stellungnahmen/2008_05_20_GfH_Stellungnahme_Inzestverbot. pdf. München 2008 (11. August 2018), S. 1 f.
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Onkel/Nichte und Tante/Neffe entspricht, die ihrerseits aber nicht vom Strafrecht erfasst sind. Tatsächlich können Verbindungen zwischen Cousinen ersten Grades, werden sie über Generationen hinweg im Rahmen von Kreuzcousinenheirat oder vergleichbaren kulturellen Imperativen praktiziert, langfristig Folgen für den Genpool zeitigen,³⁴ auch sie sind jedoch nicht verboten. Darüber hinaus existieren selbst in Gesellschaften, denen die leibliche Abstammung unbekannt ist, Reglementierungen des Geschlechtsverkehrs; Sanktionen gelten meist ebenso für eigene wie für Adoptiv- oder Stiefkinder.³⁵ Auch der deutsche Inzestparagraph hat bis in die 1970er Jahre hinein mit Schwager und Schwägerin nicht-konsanguine Verbindungen beinhaltet, was bei der Berufung auf die „Tradition des Inzestverbots“³⁶ in Vergessenheit zu geraten scheint. Genaugenommen zielt der genetische Legitimationszusammenhang nicht einmal auf den Geltungsbereich des Inzests, also den Geschlechtsakt zwischen Verwandten, sondern auf den der Inzucht, also die Fortpflanzung unter Verwandten. Inzest aber ist auch in jenen Fällen strafbewehrt, in denen die Empfängnis durch Verhütung verhindert wird,³⁷ während eine inzestuöse künstliche Befruchtung mithilfe einer In Vitro-Fertilisation paradoxerweise legal wäre.³⁸ Das genetische Argument führt sich selbst ad absurdum. Vor allem aber geht die Degenerationshypothese nicht in einer genetischen Logik auf. Analog zum modernen Mythos existiert bereits im Mittelalter die Vorstellung, dass aus inzestuösen Verbindungen vermehrt missgestaltete Kinder geboren würden. In der Kapitulariensammlung des Benedictus Levita heißt es, dass aus solchen Beziehungen Blinde, Lahme, Bucklige und Schwachsinnige hervorzugehen pflegen.³⁹ Die Idee der Missbildung nimmt dabei keineswegs die moderne Biologie vorweg, sie ist im Sinne einer göttlichen Strafe für getane Sünde gedacht, die auch bei anderen unzüchtigen Handlungen wie Geschlechtsverkehr
Vgl. Martin Langer: Die konsanguine Ehe. Eine medizinische und soziokulturelle Herausforderung. In: Speculum – Zeitschrift für Gynäkologie und Geburtshilfe 29/1 (2011), S. 4– 7, hier S. 4. Vgl. Kiefl, Inzest, S. 27. BVerfGE 120, 224, S. 229 und 248; den Gesetzgeber zitierend, für Belege siehe dort. Vgl. dahingegen a. S. 225 – 230; bes. S. 227 f. Vgl. ebd., S. 250 f. Vgl. Deutscher Ethikrat: Inzestverbot. Stellungnahme. http://www.ethikrat.org/dateien/ pdf/stellungnahme-inzestverbot.pdf, Berlin 2014 (17. November 2015), S. 37. Vgl. Benedictus Levita: Collectio capitularium III 179. In: Edition der falschen Kapitularien des Benedictus Levita. Hrsg. Gerhard Schmitz. http://www.benedictus.mgh.de. München 2018 (11. August 2018). Vgl. hierzu a. Freisen, Geschichte, S. 373; Duby, Ritter, S. 100; Jong, To the limits, S. 49 f.
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mit menstruierenden Frauen oder in der Fastenzeit zu befürchten steht.⁴⁰ Es ist eben jener Konnex, der das Zentrum der biblischen Redeweise bildet, die über eine Sprache der Reinheit und Befleckung Angst schürt vor dem Übertreten religiös motivierter Tabus – womit der eigentliche Urgrund des Inzesttabus benannt wäre. Inzest ist, so Lévi-Strauss, „in allen menschlichen Gesellschaften von einer Aura des Heiligen umgeben.“⁴¹ Das Verhältnis von Inzest und Heiligkeit kann dabei sowohl als kategorial-trennendes als auch als kausal-assoziiertes konzipiert sein. In ersterem Sinne ist das Inzesttabu bei Mary Douglas gedacht, die über die levitischen Eheverbote sagt: All diesen Unterlassungsgeboten geht das allgemeine Gebot voraus: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig. […] Heiligkeit verlangt, die einzelnen Kategorien der Schöpfung voneinander getrennt zu halten. Sie setzt demzufolge eine genaue Bestimmung, Unterscheidung und Ordnung voraus. So gesehen, sind alle Vorschriften zur Sexualmoral Ausdrucksformen für das Heilige. Inzest und Ehebruch (3. Mose 28,6 – 20 [sic]) laufen Heiligkeit – im einfachen Sinne der richtigen Ordnung – zuwider.⁴²
Zentral ist die kategoriale Trennung von Reinheit und Unreinheit,⁴³ die über einen Bezug auf das Heilige hergeleitet wird. Dieser erhält sich im mittelalterlichen Kirchenrecht, die levitischen Verbote werden als Teil des göttlichen Rechts (ius divinum; lex divina) rezipiert,⁴⁴ der Rekurs auf das Heilige der Verbote zieht sich von Justinian über Augustinus und Basilius in die Laterankonzilien bis zu Thomas von Aquin.⁴⁵ Entsprechend hart und drastisch ist der göttliche Strafenkatalog, den die Bibel expliziert, vom Tod durch Steinigung oder Feuer über Unfruchtbarkeit, Krankheit und Dürre, Leichenfledderei, Kannibalismus und Krieg bis hin zum Untergang des israelitischen Volkes (vgl. Lev 20,2 und 11– 21, Dtn 28,15 – 68), um nur einige Besipiel zu nennen. Der Bruch mit dem Inzesttabu bedeutet einen Ausschluss aus der (heiligen) Gemeinschaft, was sich in der mittelalterlichen Strafpraxis in Exkommunikation und Anathema konkretisiert.⁴⁶ Gleichsam er Vgl. Duby, Ritter, S. 35 und 100; Jong, To the limits, S. 49 f. Lévi-Strauss, Verwandtschaft, S. 55. Douglas, Reinheit, S. 73. Gemeint sind die Verbote in Lev 18. Vgl. a. Hubertus Lutterbach: Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts, Köln 1999 (Archiv für Kulturgeschichte, Beihefte 43), S. 30 ff. Vgl. Mikat, Inzestgesetzgebung, S. 227. Vgl. Novellae Nov. 77, 1, S. 382; Codex Iustinianus 5,4,26, S. 197; Augustinus, De civitate Dei XV 16, S. 52 f.; Saint Basile, A Diodore, S. 88 ff.; II. Laterankonzil (1139), c. 17. In: Konzilien des Mittelalters, S. 201; Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II q. 154 a. X,3, S. 104. Vgl. Hofmann, Anathema, Sp. 427.
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öffnet sich in christlicher Denkart im Gegensatz zum zürnenden Gott des Alten Testaments und seiner drohenden Todespeitsche die Hoffnung auf Erlösung (vgl. 1 Kor 5, 5), Reue, Beichte und Buße können von der Sünde ‚reinwaschen‘. Auf der anderen Seite kann Inzest Bestandteil und Ausdruck des Heiligen sein. Er ist in der griechischen, ägyptischen, indischen, japanischen und nordischen Mythologie ein Vorrecht der Götter, Ursprungs-, Schöpfungs- und Stammelternmythen setzen häufig mit einem Inzest ein, ganze Göttergenerationen werden, so Rank, in „ununterbrochener Inzestfolge“⁴⁷ gezeugt. Dieser Aspekt ist dem kirchlichen Diskurs fremd, im literarischen aber durchaus präsent.⁴⁸ Beide Korrelationen von Inzest und Heiligkeit, die trennende wie die einende, sind im Tabu unauflösbar verschränkt.⁴⁹ Sie nehmen in der Theoriebildung von Freud und Girard eine zentrale Position ein. Beide erzählen Ursprungsmythen über die Entstehung des Inzesttabus, die im Wesentlichen davon ausgehen, dass eine ursprüngliche Konkurrenz zwischen den Männern eines Stammes um die verfügbaren Frauen in einem Akt der Gewalt eskaliert.⁵⁰ Während der Wunsch bei Freud objektgerichtet ist und die Söhne die Frau(en) des Vaters begehren, isoliert Girard mit seinem Konzept der Mimesis den Wunsch vom Objekt, der Sohn ahmt in dieser Lesart das Begehren des Vaters nach. In der Mimesis werden ordnungsstiftende und hierarchisierende Unterschiede innerhalb der Gemeinschaft nivelliert (Entdifferenzierung), was Rivalität und Gewalt hervorruft und in einem Kampf aller gegen alle mündet. Sowohl bei Freud als auch bei Girard versagen sich die Kontrahenten im Nachgang die einst begehrten Güter und belegen sie mit einem Tabu. Sie werden sakralisiert und zu Funktionen des Heiligen, eine Form der Re-Differenzierung, die Girard als ‚Mechanismus des versöhnenden Opfers‘ oder auch ‚Sündenbockmechanismus‘ bezeichnet, wie er es später nennt.⁵¹ Für ihn besitzt das Inzesttabu damit eine vorrangig soziale Funktion: Wo die Gewalt aufgeflammt ist, erhebt sich ein Verbot. […] Das Verbot lastet auf allen Frauen, die Gegenstand der Rivalität waren, also auf allen nahestehenden Frauen, und zwar nicht, weil sie an sich begehrenswerter wären, sondern weil sie nahe stehend sind, weil sie sich der Rivalität anbieten. […] Die Verbote […] sind nicht unnütz. Sie hängen keineswegs in der Luft,
Rank, Inzest-Motiv, S. 272; vgl. a. S. 269 – 274; Kiefl, Inzest, S. 63; Frenzel, Motive, S. 392. Siehe hierzu ausführlich Kap. 2.3. Gemeint ist kein „wirre[s] Vermischen des Heiligen und des Unreinen“, sondern der Umstand, dass Religionen häufig „gerade jene Dinge, die unrein und mit Abscheu zurückgewiesen worden sind, sakralisieren“; Douglas, Reinheit, S. 207. Vgl. Freud, Totem und Tabu, S. 410; 425 – 430; René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. 1992 (Fischer-Taschenbücher Sozialwissenschaft 10970), S. 281– 321. Vgl. René Girard: Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks, Frankfurt a. M. 1992 (Fischer-Taschenbücher Sozialwissenschaft 11090).
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sondern sie hindern ganz im Gegenteil die Angehörigen daran, in die gewalttätige Mimesis zurückzufallen.⁵²
Jenseits der Frage, welcher wissenschaftliche Erkenntniswert sich mit diesen modernen Ursprungsmythen verbindet, zeigen sie die genuin ordnungsstiftende Funktion des Inzesttabus an, die sich mit einem Rekurs auf Heiligkeit verbindet.
3.2 Generative Aspekte des Inzesttabus Auf dem Fundament der basalen Unterscheidung zwischen einem sakralen und einem profanen Bereich, die eine heilige Sphäre von der Welt abtrennt und zugleich ein Tor zu ihr öffnet, schlagen Tabus Furchen in das Universum des Möglichen. Sie ziehen Grenzen zwischen dem, was erlaubt und erwünscht, und dem, was verboten und verpönt ist, dem, was man tun kann und soll, und dem, was nicht geschehen darf. Das Inzesttabu wird produktiv wirksam und bringt gesellschaftsrelevante Strukturen hervor, die weit über den Bereich des Religiösen hinausreichen. So generiert das Inzesttabu an erster Stelle, wie bereits mit Bezug auf LéviStrauss ausgeführt, Exogamie und Verwandtschaft. Das Verbot, mit einer bestimmten Gruppe an Menschen eine geschlechtliche Verbindung einzugehen, bedeutet vice versa, dass die übrigbleibende Gruppe einen Pool erlaubter Sexualund Ehepartner bereitstellt. Inzestverbot und Exogamiegebot sind funktional identisch,⁵³ beide ziehen eine Grenze zwischen verwandten (= verbotenen) und nichtverwandten (= erlaubten) Verbindungen. Dabei bringen sie ein System relationaler und diskreter Verwandtschaftsterme wie ‚Vater‘ und ‚Tochter‘, ‚Schwager‘ und ‚Schwägerin‘ oder ‚Onkel‘ und ‚Tante‘ allererst hervor, die je nach Beschaffenheit und Geltungsbereich der Ver- und Gebote kulturell variieren können, jedoch stets ein Gefüge an Beziehungstypen ergeben, die einander ausschließen – man kann nicht zugleich Tochter und Ehefrau ein und desselben Mannes sein.⁵⁴ Kommt es allerdings zum Inzest, wird die Tochter zur Frau ihres Vaters, das Verwandtschaftssystem und ihm zugehörige Rollenmuster geraten aus
Girard, Das Heilige, S. 318. Vgl. Lévi-Strauss, Verwandtschaft, S. 106. Vgl. Judith Butler: Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frankfurt a. M. 2001 (es 2187), S. 112 und 117. Kulturelle Varianzen zeigt nicht zuletzt das Mittelhochdeutsche, das für Tante und Onkel noch zwischen œheime („Mutterbruder“), vetere („Vaterbruder“), muome („Mutterschwester“) und base (Vaterschwester“) unterscheidet; vgl. Gerd Fritz: Historische Semantik, Stuttgart, Weimar 1998 (Sammlung Metzler 313), S. 109 ff.
3.2 Generative Aspekte des Inzesttabus
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den Fugen, es lässt sich keine eindeutige Verwandtschaftsposition mehr bestimmen.⁵⁵ Dieser Gedanke findet sich im Prinzip schon bei Justinian,⁵⁶ ausführlich bei Augustinus formuliert, wenn er ausführt, dass Adam noch gezwungen gewesen sei, seine Kinder zu verheiraten, so dass er ihnen Vater und Schwiegervater zugleich war, was sich schon in der nächsten Generation potenziere, da nun als drittes Verwandtschaftsverhältnis der Onkel hinzutrete.⁵⁷ Dabei ist das durch das Inzesttabu generierte Verwandtschaftssystem keineswegs starr und unumstößlich. Gerade im Moment der Transgression kann es zu Verschiebungen, Störungen und Brüchen im System kommen, wie Judith Butler am Beispiel Antigones zeigt. Butler versteht Verwandtschaft nicht als eine qua Blut gegebene Ordnung, sondern als „ein Bündel von Praktiken, […] es handelt sich um Beziehungen, die jeweils durch die Praxis ihrer Wiederholung neu eingesetzt werden.“⁵⁸ Verwandtschaft ist in dieser Perspektive eine performative, nicht zuletzt sprachlich geprägte Praxis, was Butlers Ansatz in besonderer Weise für einen literaturwissenschaftlichen Zugriff anschlussfähig macht. Das Konzept der Performativität hat wesentliche Impulse von der Sprechakttheorie in der Folge John Langshaw Austins und den Theaterwissenschaften erhalten, es fokussiert soziale Interaktion und Kommunikation und die aus ihnen resultierende Dynamiken, „den Handlungscharakter kultureller Praktiken“⁵⁹. Sprache besitzt in diesem Sinne eine spezifische Transformationskraft, sie kon-
Ein Beispiel aus dem Jahr 1907 gibt Rank aus einem Zeitungsartikel mit dem sprechenden Titel Wie man sein eigener Vater wird; Rank, Inzest-Motiv, S. 380. Ein Arbeiter schwängert seine ihm unbekannte Tochter, so dass sich „nun ein ganz merkwürdiges Verwandtschaftsverhältnis […] entsponnen [hat]. Der […] Arbeiter ist der Vater seiner Frau, ergo sein eigener Schwiegervater. Er ist aber als Vater seiner Frau auch der Großvater seines Kindes. Da er aber der Großvater seines Kindes ist, muß er auch sein eigener Vater sein“; ebd., S. 381. Vgl. Novellae Nov. 12, 1, S. 95 f.; Nov. 154 pr., S. 730. Vgl. Augustinus, De civitate Dei XV 16, S. 48 – 51. Die Kinder sind sich entsprechend zugleich Geschwister, Gatten, Vettern, Schwager. Butler, Antigones Verlangen, S. 94. Hans Rudolf Velten: Performativität. Ältere deutsche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hrsg. von Claudia Benthien/Hans Rudolf Velten, Reinbek bei Hamburg 2002 (Rowohlts Enzyklopädie 55643), S. 217– 242, hier S. 221 ff.; vgl. a. Ders.: Performativitätsforschung. In: Methodengeschichte der Germanistik. Hrsg. von Jost Schneider, Berlin, New York 2009, S. 549 – 571, hier S. 550; Ingrid Kasten: Einleitung. In: Machtvolle Gefühle. Hrsg. von ders., Berlin, New York 2010 (TMP 24), S. 1– 24, hier S. 4 ff. Austin zeigt unter dem programmatischen Titel How to do things with words den Handlungscharakter sprachlicher Äußerungen auf, am deutlichsten greifbar in Sprechakten wie ‚Hiermit taufe ich dich‘ oder ‚Ich trenne mich von dir‘, mit denen die benannten Handlungen zugleich vollzogen werden; vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart 21994 (RUB 9396), S. 28 ff. und 35.
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3 Tabu
stituiert Wirklichkeit und besitzt damit das Potential, Veränderungen zu bewirken.⁶⁰ Butler exemplifiziert die performative Dimension des Verwandtschaftssystems an Sophokles’ Antigone. Antigones Verwandtschaftsverhältnisse sind durch einen Inzest verviel- und veruneindeutigt, ihr Vater Ödipus ist zugleich der Mann ihrer gemeinsamen Mutter Iokaste und damit ihr Bruder, Antigones Brüder wiederum sind ihre Neffen, Antigone selbst „in einem Netz aus Beziehungen gefangen, aus dem keine konsistente Verwandtschaftsposition hervorgeht“, gleichsam „im strengen Sinn nicht außerhalb der Verwandtschaft, und ihre Stellung ist auch nicht völlig undurchsichtig.“⁶¹ Auf wen oder was referiert Antigone also, wenn sie ‚Bruder‘ sagt? Im konkreten Moment des Ausrufs eines Terms, der eine verwandtschaftliche Position bezeichnet, wird diese und mit ihr korrelierende Normen wie Gehorsam oder verwandtschaftliche Liebe nicht einfach iterativ im Medium der Sprache restituiert, sie werden überhaupt erst konstituiert, so dass in Brüchen und Störungen eine alternative Logik von Verwandtschaft aufscheinen kann.⁶² Butler bezeichnet dieses Phänomen als ‚Reiteration’, als performative Einheit aus Wort und Tat, als „fehlerhaftes oder falsches Aufrufen“⁶³, und damit „ein unberechenbares zeitliches Echo“, durch das „das Gesetz von seiner Bahn abzuweichen droht.“⁶⁴ Hier und in anderen Arbeiten Butlers hat dieses Projekt politisch-utopische Stoßrichtung und zielt darauf, überkommene Strukturen zu dekonstruieren und zu überwinden.⁶⁵ Doch lässt sich ihr Ansatz auch in historischer Perspektive fruchtbar machen,⁶⁶ indem die Texte auf sprachliche Praktiken hin untersucht werden, die durch den VaterTochter-Inzest heraufbeschworene ‚Verwandtschaftsverwirrungen‘ thematisieren. Dabei ist eine weitere Kategorie als zentral zu erachten: das Geschlecht. Mit Benthien und Ortrud Gutjahr ist die Geschlechtsspezifik von Tabus hervorzuheben:
Vgl. Kasten, Einleitung, S. 5. Butler, Unbehagen der Geschlechter, S. 93. Vgl. hierzu bes. Butler, Antigones Verlangen, S. 93 – 132. Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a. M. 2006 (es 2414), S. 230. Butler, Antigones Verlangen, S. 104; vgl. a. S. 96. An anderer Stelle spricht Butler allgemeiner von einer potentiell diskursverändernden „subversiven Resignifikation“; Butler, Haß spricht, S. 246. Vgl. hierzu bes. Judith Butler: Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell? In: Historische Inzestdiskurse. Interdisziplinäre Zugänge. Hrsg. von Jutta Eming/Claudia Jarzebowski/ Claudia Ulbrich, Königstein/Taunus 2003, S. 304– 341. Vgl. etwa Judith Klinger: Gespenstische Verwandtschaft. Melusine oder die unleserliche Natur des adligen Geschlechts. In: Historische Inzestdiskurse. Interdisziplinäre Zugänge. Hrsg. von Jutta Eming/Claudia Jarzebowski/Claudia Ulbrich, Königstein/Taunus 2003, S. 46 – 85.
3.2 Generative Aspekte des Inzesttabus
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Größtenteils sind Tabus […] in ihrer Geltung und Reichweite geschlechtsspezifisch codiert, […]. […] Tabus kommt an der Schnittstelle von Kultur und Gender eine grundlegende Steuerungsfunktion zu, insofern sie basale Ein- und Ausschlussbewegungen innerhalb einer Gemeinschaft regeln und die affektive Codierung geschlechtlicher Zuschreibungssmodelle fundieren.⁶⁷
So offenbart ein dekonstruktivistischer Zugriff auf das Inzesttabu, wie Butler ihn vornimmt, zwei weitere, ihm inhärente produktive Aspekte – es generiert Heteronormativität und Geschlechtsidentität.⁶⁸ Beide Aspekte müssen historisiert werden. Im Mittelalter bildet Heterosexualität nur in nuce das Normzentrum (nämlich als ehelicher, auf die Fortpflanzung gerichteter Zeugungsakt, dem das Ideal der Keuschheit, der Enthaltsamkeit und der Gottesliebe noch übergeordnet sind), während Homosexualität allgemein unter dem Verdikt der ‚Sodomie‘ mit anderen sexuellen Praktiken wie Anal- und Oralverkehr subsumiert wird.⁶⁹ Homo- und Heterosexualität wirken nicht, wie in Theoremen der Neuzeit postuliert, identitätsstiftend, wie schon Foucaults Unterscheidung zwischen moderner sexueller Identität (mit all ihren Klassifizierungen) und vormodernen sexuellen Akten nahelegt.⁷⁰ Stattdessen spielen Exogamie und Verwandtschaft in der Ständegesellschaft des Mittelalters eine wesentlich bedeutendere Rolle als in der Gegenwart, da sie kollektive Identitäten ausbilden, an denen der/die Einzelne partizipiert und von denen sich die jeweilige soziale Stellung ableitet.⁷¹ Auch die Kategorie des Geschlechts muss somit historisiert werden. Sie wird in der vorliegenden Studie prinzipiell mit Butler als performative Praxis verstanden, die Geschlecht und Körper über Sprechakte, Handlungen und Normen
Benthien/Gutjahr, Interkulturalität, S. 8. Vgl. Rubin, Traffic; Butler, Unbehagen der Geschlechter, S. 111– 114. Vgl. Judith Klinger: Gender-Theorien. Ältere deutsche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hrsg. von Claudia Benthien/Hans Rudolf Velten, Reinbek bei Hamburg 2002 (Rowohlts Enzyklopädie 55643), S. 270 – 285, hier S. 273. Während ein Mann, der mit einem Mann schläft, zunächst nur als zu verurteilendes Rechtssubjekt auftritt, wird er in der Moderne als Individuum spezifiziert. Homosexualität ist nicht mehr ein Verbrechen, sondern eine Identität mit ihren je eigenen Charakterzuschreibungen: „Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies“; Foucault, Wille zum Wissen, S. 58. Vgl. Klinger, Gender-Theorien, S. 284; Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Ein Handbuch. Hrsg. von Manuel Braun/Alexandra Dunkel/Jan-Dirk Müller, Berlin 2012, S. 17 f.
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prozesshaft hervorbringt.⁷² Das Inzesttabu spielt in diesem Rahmen eine zentrale Rolle: In der Tat: betrachtet man das Inzesttabu in seinen Effekten vorrangig als produktiv, so wird das Verbot, das das ‚Subjekt‘ begründet und als das Gesetz seines Begehrens fortwirkt, zum Mittel, durch das sich die Identität, insbesondere die geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity), konstituiert.⁷³
Die zugrundeliegende Ordnung operiert mit einer binären Opposition, ‚man‘ ist entweder Frau oder Mann. Dieses Metaprinzip hierarchischer Geschlechterdichotomie aber ist historisch zu hinterfragen. Nicht jedes Geschlechtermodell braucht das „andere Geschlecht“⁷⁴, um eine Formel Simone de Beauvoirs in ihr Gegenteil zu verkehren. So existieren im Mittelalter kulturell gestiftete Verwandtschaften, die gegebenenfalls rein homosozial konstruiert sein können wie im Fall der geistlichen Freundschaft oder der Schwurbrüderschaften.⁷⁵ Für die französischsprachige Literatur des Mittelalters zeigt Simon Gaunt, dass Gattungen wie die chanson de geste einem ‚monologischen‘ Geschlechtermodell folgen.⁷⁶ Für die Zeit von der Antike bis zur Aufklärung formuliert der Historiker Thomas Laqueur auf der Grundlage anatomischer Darstellungen, medizinischer und juristischer Diskurse das sogenannte one-sex-model. Es zielt, wie der Term sex anzeigt, konkret auf die Konstruktion von Körper, nicht auf die soziale Rolle (gender), und propagiert eine graduelle Geschlechterdifferenz, in der ‚Mann‘ und ‚Frau‘ kein Gegensatzpaar bilden, sondern zwei Endpunkte auf einer Skala.⁷⁷ Diese Vorstellung nimmt nicht die Idee einer Gleichwertigkeit der Geschlechter vorweg (vielmehr fungiert der männliche Pol als Ideal und der weibliche als hitzebedingte defizitäre Abweichung), erlaubt aber Bewegung und Fluktuation.⁷⁸ Vgl. Butler, Unbehagen der Geschlechter. Vgl. a. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004 (es 2373), S. 37– 41; Arbeitsgruppe Gender: Begehrende Körper und verkörpertes Begehren. Interdisziplinäre Studien zu Performativität und gender. In: Paragana 13/1: Praktiken des Performativen. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf, Berlin 2004, S. 251– 309. Butler, Unbehagen der Geschlechter, S. 114. Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1952. Vgl. Klinger, Gender-Theorien, S. 285. Vgl. Simon Gaunt: Gender and genre in medieval French literature, Cambridge, New York 1995, S. 22– 70; bes. S. 22 f. Vgl. Thomas Walther Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a. M., New York 1992 (dtv 4696), S. 13 – 49. Vgl. ebd., S. 16 f. und 40 ff. Hierzu merkt Armin Schulz an: „Das bedeutet […], daß das Geschlecht eines Menschen nicht auf immer und ewig festgelegt ist. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit gibt es ernsthafte Berichte darüber, daß junge Mädchen beim Herumtoben im Freien
3.3 Inzesttabu und Sprache
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Auch Gaunts und Laqueurs Modelle sind in die Kritik geraten,⁷⁹ erweitern aber den an der Moderne geschulten Horizont, sensibilisieren für die Möglichkeit alternativer Geschlechtermodelle und legen nah, einen möglichst offenen, textorientierten Zugang zu wählen. Butlers Ansatz lässt sich historisch öffnen, wenn man ihn seines identitätsstiftenden Impetus entkleidet und berücksichtigt, dass pluralistische Geschlechterentwürfe koexistieren, die kontextabhängig von Spezialdiskursen und Gattungen sind.⁸⁰ Eine zentrale Rolle spielt dabei Sprache, die vom Inzesttabu weitreichend tangiert wird.
3.3 Inzesttabu und Sprache Tabuisierung wirkt restriktiv auf Sprachverwendung und führt zu Vermeidungsstrategien.⁸¹ Die radikalste Form ist das (Ver‐)Schweigen, mit dem die im Tabu aufgehobene Norm geschützt und Kommunikation beschränkt wird.⁸² Dabei kann sich, was im Schweigen bewahrt wird, symptomatisch Ausdruck verschaffen, Schmerzen, Somatisierungen und Essstörungen werden zu Körper-Zeichen des Tabubruchs.⁸³ Neben bestimmten Themen werden bestimmte Ausdrücke tabui-
derart in Hitze-Wallung geraten sind, daß ihnen sich, feststellbar nach einem Sprung, die Vagina nach außen gestülpt und sich als Penis entpuppt hat. Sie haben sich also in Männer verwandelt und leben fortan auch als solche“; Schulz, Erzähltheorie, S. 105. Vgl. etwa Brigitte Spreitzer: Störfälle. Zur Konstruktion, Destruktion und Rekonstruktion von Geschlechterdifferenz(en) im Mittelalter. In: Manlichiu wip, wiplich man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Ingrid Bennewitz/Helmut Tervooren, Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh 9), S. 249 – 263, hier S. 251; Ingrid Bennewitz: Zur Konstruktion von Körper und Geschlecht in der Literatur des Mittelalters. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hrsg. von ders./Ingrid Kasten, Münster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 1– 10, hier S. 2 f. Vgl. etwa die Darstellungen und Analysen von Spreitzer, Störfälle; Bennewitz, Konstruktion; Klinger, Gender-Theorien; Kerstin Schmitt: Poetik der Montage. Figurenkonzeption und Intertextualität in der Kudrun, Berlin 2002 (PhSt 174), S. 24– 32; Silke Winst: Gender Studies in der literaturwissenschaftlichen Mediävistik. Eine kulturwissenschaftliche Perspektive. http://www.que relles-net.de/forum/forum7-1-p.htm. Querelles-net 7 (2002) (10. August 2018). Vgl. Baisch/Koch, Neugier, S. 16. Vgl. Kocher, Tabu, Sp. 404. Vgl. Thomas Fuchs: Zur Phänomenologie des Schweigens. In: Sagbar – Unsagbar. Philosophische, psychoanalytische und psychiatrische Grenzreflexionen. Hrsg. von Martin Heinze/ Christin Kupke/Isolde Eckle, Berlin 2006 (Beiträge der Gesellschaft für Philosophie und Wissenschaften der Psyche 5), S. 89 – 108, hier S. 96; vgl. a. S. 92.
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3 Tabu
siert. „Es gibt Wörter“, so Rudi Keller, „die ‚sagt man nicht‘“⁸⁴; eine Feststellung, die laut aktuellem Forschungsstand die Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts in besonderer Weise betrifft. Inzest wird dort in der Regel weder bei seinem lateinischen Fachterminus benannt noch bei durchaus zur Verfügung stehenden volkssprachigen Begriffen wie sippehuor („Blutschande“), sippebrëchen („Blutschande treiben“) und sippebrëcher („Blutschänder“).⁸⁵ So kommt die Frage auf, welche Begriffe oder Umschreibungen stellvertretend für den Vater-Tochter-Inzest verwendet werden. In diesem Sinn wirken Tabus also kreativ und sprachschöpfend.⁸⁶ Analytisch können zwei Ebenen unterscheiden werden: Eine rhetorische, die Umgehung des Worttabus betreffende, sowie eine poetologische, die Darstellung der tabuisierten Handlung betreffende Ebene.⁸⁷ Auf Wortebene wird das ‚unaussprechliche Wort‘ ersetzt durch rhetorische Figuren, wobei sich mit Wilhelm Havers ein ganzes Set an Ersatz- und Verweisstrategien umreißen lässt, das von Metaphern und Euphemismen über Andeutungen und Ellipsen bis hin zu rhetorischen Strategien wie der captatio benevolentiae („Erheischen des Wohlwollens“) und einer ‚Flucht in die Allgemeinheit‘ durch Generalisierungen reicht.⁸⁸ Auf poetologischer Ebene wirken Tabu und Tabubruch strukturbildend,⁸⁹ der produktive Aspekt umfasst dann die Narration als solche. Es ist ein Signum von Inzesterzählungen, dass sie eine an sich tabuisierte Handlung zu ihrem Erzählgegenstand machen, mit dem potentiell paradoxen Ergebnis, dass der VaterTochter-Inzest zwar unbenannt bleibt, zugleich aber von ihm erzählt und berichtet wird. Dass der Vater-Tochter-Inzest als Tabu bestimmte Erzählschemata ausbildet, ist bereits im Forschungsüberblick diskutiert worden, welche Emotionen sich damit verbinden, möchte die vorliegende Studie untersuchen. Denn der
Rudi Keller: Worttabu und Tabuwörter. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 60 (1987), S. 2– 9, hier S. 2. Vgl. Archibald, Incest, S. XIV, die sich auf die gesamteuropäische Literatur bezieht. Zu den jeweiligen mhd. Begriffen und ihren Bedeutungen vgl. Lexer 2, Sp. 939. Vgl. Christel Balle: Tabus in der Sprache, Frankfurt a. M. u. a. 1990 (FAS/A 10), S. 27; Kocher, Tabu, Sp. 405. Ein klassisches Beispiel ist das jüdische Tabu, Gott (JHWH) beim Namen zu nennen, welches eine ganze Reihe an Ersatzbegriffen hervorbringt; vgl. Stephen Ullmann: Semantik. Eine Einführung in die Bedeutungslehre, Frankfurt a. M. 1973, S. 257. Vgl. a. die Unterscheidung zwischen Tabu-Motiven (Darstellung tabuisierter Handlungen) und Tabu-Strukturen (sprachliche und bildliche Vermeidungs- und Umgehungsstrategien) bei Baisch/Koch, Neugier, S. 14. Vgl. Wilhelm Havers: Neuere Literatur zum Sprachtabu, Wien 1946 (Akademie der Wissenschaft Wien/Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte 223,5), S. 117– 165; vgl. a. Schröder, Tabu, S. 311 f. Vgl. Braungart, Tabu, S. 571.
3.4 Inzesttabu und Emotion
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Tabubegriff eignet sich nicht allein in besonderer Weise für eine sprach- und textbasierte literaturwissenschaftliche Analyse, er kann zudem mit einer dezidiert emotionswissenschaftlichen Fragestellung verknüpft werden.
3.4 Inzesttabu und Emotion Tabus sind, so Christoph Antweiler, nicht nur eine „kulturwissenschaftliche Denkfigur“, sie sind vor allem eine „Fühlfigur“⁹⁰. Spezifikum von Tabus ist, dass sie weniger kognitiv durchstochen und rational nachvollzogen, als vielmehr emotional erfasst werden. Dabei ist charakteristisch, dass Emotionen quasi automatisch in Gang gesetzt werden.⁹¹ Dies lässt sich leicht am Beispiel von Kellers Ausführungen zu Speisetabus illustrieren. Keller konstatiert, dass Moslems aus ihrer Eigensicht nicht etwa kein Schweinefleisch essen, weil der Koran es verbiete, sondern „weil es eklig ist; und deswegen ist sein Verzehr im Koran auch verboten.“⁹² Das Attribut ‚eklig sein‘ ergibt sich somit erst sekundär aus dem konkreten Objekt, auf das der Ekel zielt, primär handelt es sich um ein kulturspezifisches Tabu, das gefühlsmäßig erfasst wird. Besonders prominent in der Tabuforschung ist die Emotion Furcht. Schon in den 1940er Jahren formuliert Hutton Webster in seiner soziologischen Studie über Tabus bei indigenen Kulturen den denkwürdigen Satz: „Fear is systematized in taboo.“⁹³ Er hebt ebenso wie Freud den ambivalenten Charakter von Tabus hervor, Furcht umfasst eine Skala von furchtbar bis ehrfürchtig, identische Gegenstände können gemieden und bewundert werden.⁹⁴ Die hier formulierte ‚Furchthypothese‘ geht auf das 19. Jahrhundert zurück und ist insofern problematisch, als sie mitunter als Differenzkriterium für vermeintlich weniger und
Zitiert nach Baisch/Koch, Neugier, S. 15, die sich auf einen unveröffentlichten Vortrag Antweilers beziehen. Vgl. Schröder, Tabu, S. 310; Fuchs, Phänomenologie, S. 93; Benthien, Inzestscheu, S. 73; Benthien/Gutjahr, Interkulturalität, S. 8. Keller, Worttabu, S. 3. Dieser tabutypische emotionale Mechanismus kommt auch ohne explizites Verbot aus – in Deutschland ist es durchaus erlaubt, Heuschrecken und andere Insekten zu verzehren, was in der Regel aber vermieden wird (weil es eklig ist), während in Thailand, so Keller weiter, „überall in Straßenständen Heuschrecken angeboten [werden], die man flanierend aus der Tüte knabbert, wie hierzulande etwa Pommes Frites.“ Hutton Webster: Taboo. A sociological study, New York 1973, S. 14. Allerdings dominieren nach Webster, zumindest was die von ihm untersuchten Kulturen anbelangt, Strategien der Ablehnung und Vermeidung gegenüber jenen der Anziehung und Nachahmung.
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3 Tabu
weiter entwickelte Religionen herangezogen wird.⁹⁵ Sie gliedert sich ein in teleologische Metathesen, die nicht allein Tabus, sondern auch Emotionen betreffen. So postuliert etwa Christel Balle: Tabus sind zeit- und gesellschaftsspezifisch: Heutige Tabus unterscheiden sich von früheren durch ihre Motivation: Während der Naturmensch glaubte, Dämonen zu erzürnen und durch Verletzung des Verbots leibhaftigen Schaden davonzutragen, bedingen heute vorwiegend die Angst, Aufsehen, Peinlichkeit, Scham und Verletzung zu erregen, also Rücksichtnahme und Respekt, die Achtung der Gebote.⁹⁶
Entscheidende Wandlungen des emotionalen Erlebens und der Affektkontrolle in der Chronologie von Mittelalter, Renaissance, Aufklärung und Moderne beschreibt der Soziologe Norbert Elias. Er versteht Tabus als „gezüchtete[.] Scham- oder Peinlichkeitsgefühle“⁹⁷, die zu genuinen Charakteristika der Moderne geraten. Elias geht von einer gerichteten Entwicklung der Affekt- und Kontrollstrukturen aus, die sich mit den Begriffspaaren Straffung und Differenzierung, Internalisierung und Intimisierung umreißen lassen.⁹⁸ Ursprüngliche Fremd- werden in Selbstzwänge überführt, so dass „viele Affektimpulse weniger spontan auslebbar“ seien, was letztlich ein „Vorrücken der Schamgrenze, der Peinlichkeitsschwelle, des Affektstandards“⁹⁹ bedeute. Diese Trennung von Mittelalter und Moderne versperrt jedoch den Blick auf Überschneidungen und Gemeinsamkeiten. Douglas dekonstruiert die Furchthypothese und zeigt, dass auch moderne Gesellschaften mit Konzepten des Unreinen und des Ängstigenden operieren.¹⁰⁰ Ähnlich betont Wolfgang Braungart, dass Tabus in säkularisierten Gesellschaften nicht ohne Rekurse auf das Heilige und Unantastbare auskommen.¹⁰¹ Von hier aus gesehen kann evident gemacht werden, dass die Moderne die im Inzesttabu aufgehobene Furcht noch kennt – die Sorge um genetische Defekte bei den Nachkommen, wie sie in der bereits diskutierten Degenerationshypothese zum Ausdruck kommt, gründet auf einer tabuspezifischen Furcht vor automatischen Strafen, während der vorgeblich genetische Grund bei genauer Betrachtung irrational und unter ethischen
Vgl. die Kritik bei Douglas, Reinheit, S. 11– 17. Balle, Tabus, S. 20. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a. M. 31977 (stw 158), S. 188; vgl. a. S. 88 f. Vgl. ebd., S. IX; 194 und 261 f. Ebd., S. LXI und 283; vgl. a. S. 297. Vgl. Douglas, Reinheit, S. 11– 17. Vgl. Braungart, Tabu, S. 570.
3.4 Inzesttabu und Emotion
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Gesichtspunkten unhaltbar ist.¹⁰² Im Gegenzug ist für das Mittelalter ein möglichst offener Blick zu wählen, der eine vorschnelle Trennung vermeidet. Der skizzierte Furcht-Konnex ist nicht zu verabsolutieren, ebenso ist zu fragen, inwiefern der Tabubruch ‚Vater-Tochter-Inzest‘ in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit Emotionen wie Scham oder Ekel einhergeht. Die neuere Forschung erweitert den Komplex tabuspezifischer Emotionen zwar um Motivationen wie Takt- und Feingefühl, Schicklich- und Sittsamkeit, Ideologie und political correctness,¹⁰³ doch sind diese durch ihren starken Bezug auf Gesellschaft und Politik nur bedingt auf mittelalterliche Kontexte anwendbar, vielmehr stellt sich für die Analyse die Aufgabe, Motivationskomplexe auf der Grundlage der Texte zu historisieren. Vor allem aber vermögen die genannten Tabutypen ein potentiell mögliches Spektrum an Emotionen nicht zu erfassen, sie begrenzen den analytischen Blick. Zurückgegriffen werden soll deshalb auf die altgermanistische und interdisziplinäre Emotionsforschung.
Siehe hierzu ausführlich Kap. 3.1. Vgl. Ullmann, Semantik, S. 257– 261; Elisabeth Danninger: Tabubereiche und Euphemismen. In: Sprachtheorie und angewandte Linguistik. Festschrift für Alfred Wollmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Werner Welte/Alfred Wollmann, Tübingen 1982, S. 237– 251, hier S. 238; Zöllner, Euphemismus, S. 52; Schröder, Tabu, S. 311.
4 Emotion Der erst im 17. Jahrhundert aus dem Französischen ins Deutsche entlehnte Begriff ‚Emotion‘ geht auf lat. movere mit der Grundbedeutung „bewegen“ zurück, aus dem sich emovere („herausbewegen“; „entfernen“) und das mittellateinische exmovere („in Bewegung setzen“) entwickeln, die zunächst im wörtlichen, später im übertragenen Sinn verwendet werden, so dass mit der Zeit die Bedeutung „erregen“ hinzutritt.¹ Als Begriff steht ‚Emotion‘ in Konkurrenz zu verwandten Termini wie ‚Affekt‘, ‚Gefühl‘, ‚Empfindung‘ oder ‚Gemütsbewegung‘, hat sich seit den 1960er Jahren aber als dominanter Sammelbegriff in den Wissenschaften etabliert und wird in der vorliegenden Studie als Leitterminus geführt.² Bildeten Emotionen lange ein Desiderat der Forschung, ist seit nunmehr einigen Dekaden treffender von einer regelrechten „Konjunktur der Emotionsforschung“³ in den Wissenschaften zu sprechen. Was genau dabei unter ‚Emotion‘ verstanden und als ‚Emotion‘ definiert wird, differiert von Theorieangebot zu Theorieangebot. Das Modell der Basisemotionen etwa, das in seinen Grundzügen auf Charles Darwin zurückgeht, postuliert ein Set angeborener primärer oder fundamentaler Emotionen, bei denen (Gesichts‐)Ausdruck und spezifische Handlungsimpulse automatisch und nach festem Muster erfolgen.⁴ Einer anderen basalen Ordnung folgen Pleasure-arousal- oder auch core-affect-Theorien.⁵ Ana Vgl. Kluge, S. 243; Ingrid Kasten: Rationalität und Emotionalität in der Literatur des Mittelalters. In: Wolfram-Studien XX (2008), S. 253 – 271, hier S. 225. In Anlehnung an Elke Koch: Bewegte Gemüter. Zur Erforschung von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: LwJb 49 (2009), S. 33 – 54, hier S. 37; vgl. im Überblick a. Ute Frevert: Gefühle definieren. Begriffe und Debatten aus drei Jahrhunderten. In: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Hrsg. von ders. u. a., Frankfurt a. M., New York 2011, S. 9 – 40, hier S. 29. Thomas Anz: Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung. In: Im Rücken der Kulturen. Hrsg. von Karl EibL/Katja Mellmann/Rüdiger Zymner, Paderborn 2007 (Poetogenesis 5), S. 207– 239, hier S. 207. Vgl. Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren [1877], Bremen 2010; Paul Ekman: Emotion in the human face, Cambridge 1982; Paul Ekman/Wallace V. Friesen/Joseph C. Hager: Facial action coding system. The manual, Salt Lake City, Utah 2002; Carroll E. Izard: Die Emotionen des Menschen. Eine Einführung in die Grundlagen der Emotionspsychologie,Weinheim 1999. Zur Kritik vgl. Andrew Ortony/Terence J. Turner: What’s Basic About Basic Emotions? In: Psychological Review 97 (1990), S. 315 – 331. Vgl. James A. Russell: Core Affect and the Psychological Construction of Emotion. In: Psychological Review 110 (2003), S. 145 – 172; Rainer Reisenzein: Pleasure-Arousal Theory and the Intensity of Emotions. In: Journal of Personality and Social Psychology 67 (1994), S. 525 – 539. Für ältere Zwei-Faktoren-Modelle vgl. schon Stanley Schachter/Jerome E. Singer: Cognitive, sohttps://doi.org/10.1515/9783110618440-005
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log zu der schon bei Aristoteles getroffenen binären Wahrnehmungsqualität aller Emotionen als Lust oder Schmerz werden Emotionen entlang von zwei bipolaren und orthogonalen Dimensionen bestimmt,⁶ den Achsen ‚hedonische Valenz‘ mit den Polen angenehm und unangenehm (pleasure/displeasure) und ‚Erregung‘ (arousal) mit den Polen Aktivität und Inaktivität (activation/deactivation).⁷ In den ebenfalls prominenten Mehrkomponentenmodellen hingegen wird ein komplexes Gefüge interagierender Komponenten angenommen, die im Konkreten je nach Theorem variieren, meist aber übergreifend eine kognitive (intentionale, evaluative), motivationale und gefühlsmäßig-wahrnehmungshafte (feeling) Komponente umfassen.⁸ Demgegenüber setzt die Phänomenologie die ganzheitliche Erfahrung als Konstituens von Emotionen. Physis und Kognition werden nicht als separate Teilprozesse aufgefasst, sie fallen phänomenal in eins,⁹ „im Gefühlserleben erschließt sich dem Fühlenden das evaluative Profil einer bedeutsamen Situation ganzheitlich“¹⁰. Mit Rekurs auf die Neue Phänomenologie in der Tradition von Herman Schmitz werden Emotionen als leibliches Spüren beschrieben und Gefühlszustände entlang der Koordinaten Engung und Weitung beziehungsweise Spannung und Schwellung individuiert.¹¹ So disparat die Theoreme auch sein mögen, lassen sich doch Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen extrahieren, die die Frage nach dem Zusammenhang von Vater-Tochter-Inzest und Emotion tangieren. Emotionen werden nicht nur durch einen bestimmten Stimulus (also ein Objekt oder ein Umweltereignis) ausgelöst, sie evaluieren ihn auch in spezifischer Weise, zum Beispiel als Objekt von Furcht oder Scham. Dass mit Emotionen Evaluationen vorgenommen werden, findet sich in unterschiedlicher Ausprägung in verschiedenen Emoticial, and physiological determinants of emotional states. In: Psychology Review 69 (1962), S. 379 – 399. Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Übers. und erl. von Christoph Rapp, Berlin 2002 (Werke in deutscher Übersetzung 4), II 1, 1378a20 – 23, S. 73; Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. von Franz Dirlmeier, Berlin 1960 (Werke in deutscher Übersetzung 6), II 4, 1105b, S. 34. Vgl. Reisenzein, Pleasure-Arousal Theory; Russell, Core Affect. Vgl. etwa Aron Ben-Ze’ev: Emotional Intensity. In: Theory & Psychology 6/3 (1996), S. 509 – 532; Klaus R. Scherer: What are emotions? And how can they be measured? In: Social Science Information 44 (2005), S. 695 – 729; Christiane Voss: Die narrative Transformation aristotelischer und moderner Emotionstheorien. In: Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike. Hrsg. von Martin Harbsmeier/Sebastian Möckel, Frankfurt a. M. 2009 (stw 1908), S. 107– 130. Vgl. Christoph Demmerling/Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, S. 21. Jan Slaby: Gefühl und Weltbezug. Die menschliche Affektivität im Kontext einer neo-existentialistischen Konzeption von Personalität, Paderborn 2008, S. 23. Vgl. Hermann Schmitz: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosphischen Therapeutik, Bielefeld 2008 (Edition sirius), S. 44– 49; Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 22 f. und 64 ff.
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onstheorien formuliert, wobei der psychologische Begriff appraisal (als [be]wertende Informationsverarbeitung eines Stimulus) sozusagen den schwachen Pol der evaluativen Skala markiert,¹² der philosophische Begriff des Urteils (als Zustimmung oder Ablehnung zu Erscheinungen in der Welt) den starken.¹³ Jan Slaby spricht, um die Differenz zu rein kognitiven Phänomenen zu markieren, von ‚gefühlten Wertungen‘.¹⁴ Der Begriff zielt auf eine spezifisch affektive Dimension, die in kognitiven Emotionstheorien häufig unterbelichtet bleibt und die sich mit einem oft bemühten Beispiel von Michael Stocker illustrieren lässt.¹⁵ Angenommen man stürzt auf glattem Eis. Schon zuvor mag einem auf rein kognitiv-evaluativer Ebene intellektuell bewusst gewesen sein, dass glattes Eis gefährlich ist. Der Begriff der Gefährlichkeit ist aber zunächst rein perzeptiv – man sieht und erkennt die Gefahr. Rutscht man nun aber aus, wird die Gefahr emotional manifest – man erschreckt sich und im Erschrecken fühlt und spürt man die Gefährlichkeit, erfasst sie auf schmerzhafte Weise. Verstanden als ‚gefühlte Wertungen‘ können gerade Emotionen darüber Aufschluss geben, wie die Inzestthematik in einer Kultur bewertet wird; positiv oder negativ, erstrebens- oder vermeidenswert, als Objekt von Scham, Schrecken oder anderen Emotionen. Hieran schließt sich die analyseleitende Frage an, mit welchen Emotionen der Vater-Tochter-Inzest in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Objekt besetzt wird und welche emotionsauslösenden Stimuli in seinem Kontext relevant werden. Ebenfalls übergreifend wird die motivationale Dynamik von Emotionen betont, so dass sich die Frage stellt, welche Handlungsimpulse sich mit bestimmten Vgl. etwa Ben-Ze’ev, Intensity, S. 515; Gerald L. Clore: Why Emotions Vary in Intensity. In: The Nature of Emotion. Fundamental Questions. Hrsg. von Paul Ekman/Richard J. Davidson, New York 1994, S. 386 – 393, hier S. 386; Scherer,What are emotions, S. 698 f.; Klaus R. Scherer/ Tobias Brosch: Culture-Specific Appraisal Biases Contribute to Emotion Dispositions. In: European Journal of Personality 23 (2009), S. 265 – 288, hier S. 272. Vgl. etwa Martha C. Nussbaum: Narrative Emotions. Beckett’s Genealogy of Love, in: Love’s knowledge. Essays on philosophy and literature, New York 1992, S. 286 – 313, hier S. 290; Dies.: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001, S. 37; als Vertreterin eines radikalen und Sabine A. Döring: Allgemeine Einleitung. Philosophie der Gefühle heute. In: Philosophie der Gefühle. Hrsg. von ders., Frankfurt a. M. 2009 (stw 1907), S. 12– 65, hier S. 29 ff. und 50 f.; als Vertreterin eines moderaten Kognitivismus. Einen kurzen Überblick geben Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 3 f.; eine ausführliche Diskussion findet sich bei Slaby, Gefühl, S. 228 – 235. Vgl. ebd., S. 276. Vgl. Michael Stocker: Psychic feelings. Their importance and irreducibility, in: Australasian Journal of Philosophy 61/1 (1983), S. 5 – 26, hier S. 20 f. Vgl. hierzu Slaby, Gefühl, S. 277; Peter Goldie: Emotionen und Gefühle. Einleitung. In: Philosophie der Gefühle. Hrsg. von Sabine A. Döring, Frankfurt a. M. 2009 (stw 1907), S. 369 – 397, hier S. 382.
4.1 Historizität
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Emotionen im Rahmen der Inzestthematik verbinden. Welche Emotionen motivieren den Vater-Tochter-Inzest, welche resultieren aus ihm, was für Handlungsimpulse schließen sich im Speziellen an? Und auch wenn neurophysiologische Aspekte wie Herzrasen und Gänsehaut, körperliche Ausdrucksmodalitäten wie Mimik und Gestik sowie das subjektive Gefühlsempfinden beziehungsweise das leibliche Spüren in den einzelnen Theorieangeboten ganz unterschiedlich akzentuiert werden, geben sie doch generell Anlass, nach typischen Ausdrucksmustern und Empfindungsqualitäten von Emotionen zu fragen. Dabei stellt sich die Schwierigkeit eines Verständnisses von Emotionen für die Analyse von Texten in der germanistischen Mediävistik ohnehin in besonderer Weise. Ihr fehlt auf Darstellungs- und Handlungsebene der Bezugspunkt, von dem alle hier skizzierten Emotionstheorien ihren Ausgang nehmen: Die fühlende Person. Im Gegenzug sieht sie sich vor zwei ihr eigentümliche Herausforderungen gestellt: Die zeitliche Distanz, die historische Variabilität impliziert, und die mediale Vermitteltheit des Untersuchungsgegenstandes, also der Umstand, dass sprachlich vermittelte Emotionen in literarischen Texten zur Analysegrundlage werden.
4.1 Historizität Theorien über Emotionen sind kein Kind der Moderne.¹⁶ Mittelalterliche Modelle kennen den Ausdruck ‚Emotion‘ nicht, widmen sich aber verwandten lateinischen Begriffen wie affectus, affectio und passio sowie dem mittelhochdeutschen muot,¹⁷ wobei meist eine explizite Wertung mitschwingt. Schon in der Patristik etwa fasst Clemens von Alexandria weltliche Affekte (passiones) als ‚Dämonen‘, Laktanz unterscheidet zwischen Emotionen menschlicher Schwäche wie Furcht, Neid, Lust und göttlichen Emotionen wie Barmherzigkeit, Zorn, Mitleid; auch Augustinus differenziert zwischen teuflischen passiones und himmlischer Liebe (caritas), die bei ihm eine Art christlich konnotierter Leitemotion bereitstellt.¹⁸ Emotionen werden also durchaus thematisiert, „allerdings funktionalisiert als
Für einen Überblick über klassische Emotionstheorien vgl. etwa Hilge Landweer/Ursula Renz (Hrsg.): Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin 2008. Vgl. Rüdiger Schnell: Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung. In: FMSt 38 (2004), S. 173 – 276, hier S. 208; Schulz, Erzähltheorie, S. 112; Anja Kühne: Vom Affekt zum Gefühl. Konvergenzen von Theorie und Literatur im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, Göppingen 2004 (GAG 713), S. 27– 213. Vgl. im Überblick Philipp Mayring/Dieter Ulich: Psychologie der Emotionen, Stuttgart 2003, S. 15 f.
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das Medium des Glaubens, der Beziehung zu Gott“¹⁹ – affectio und passio sind religiös aufgeladen und häufig negativ besetzt, passiones gegen die Natur und damit gegen Gott gerichtet, affectus bewegende Kräfte der Seele (motus animorum), die dem Willen unterworfen werden müssen.²⁰ Die Vorstellung von Affekten als bewegenden Kräften der Seele läuft auf eine charakteristische Dynamik hinaus, die in der Forschung als ‚hydraulisches Modell‘ umrissen wird, demzufolge Affekte „von außen kommend, den Menschen ‚anfüllen‘, bis sie wieder aus ihm ‚herausquellen‘.“²¹ Diese Dynamik wird oft zusammen gedacht mit der Humoralpathologie,²² deren Grundannahmen sich bei Hippokrates formuliert finden und die Galen in Verbindung mit der Temperamentenlehre in ihrer für Jahrhunderte gültigen Form ausarbeitet. Im Modell der sogenannten ‚Viersäftelehre‘ wird angenommen, dass Gemütszustand und Charakter des Menschen vom Mischungsverhältnis der vier Körpersäfte bestimmt sind, Emotionen also physisch, nicht psychisch determiniert sind.²³ Der Aspekt des Überwältigtseins wird in den Vordergrund gestellt, bei einem ‚Säfte-Übergewicht‘ kommt es zu einem ‚Überlaufen‘, die angestauten Emotionen entladen sich in einem heftigen Affekt.²⁴ Neben dem patristischen und medizinischen manifestiert sich auch im literarischen Diskurs eine von der Moderne abweichende Auffassung von Emotionen. So sieht sich der neuzeitliche Leser mittelalterlicher Texte mitunter mit überbordender Emotionalität,²⁵ „affektiv ausladenden Reaktionen, anfallsartig auftretende Gemütsbewegungen“²⁶ und einem stark über den Körper ausagierten,
Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 16; Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 208; Elke Koch: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2006 (TMP 8), S. 1. Schulz, Erzähltheorie, S. 112. Für einen Überblick nebst kritischer Auseinandersetzung vgl. a. S. 112 f.; Barbara H. Rosenwein: Worrying about Emotions in History. In: American Historical Review 107 (2002), S. 821– 845, hier S. 834– 837; Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 224 f.; Jutta Eming: Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft. In: Journal of Literary Theory 1/2 (2007), S. 251– 273, hier S. 225 f.; Katharina Philipowski: Erzählte Emotionen, vermittelte Gegenwart. In: PBB (2008), S. 62– 81, hier S. 68. Vgl. Schulz, Erzähltheorie, S. 113. Vgl. im Überblick nebst der charakteristischen Typik ebd., S. 37. Vgl. Koch, Trauer, S. 2; Eming, Emotionen, S. 255. Vgl. Armin Schulz: Die Verlockungen der Referenz. Bemerkungen zur aktuellen Emotionalitätsdebatte. In: PBB 128 (2006), S. 472– 495, hier S. 488. Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 203.
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nicht ‚innerlich‘ konturierten Gefühlsausdruck konfrontiert,²⁷ der zum Teil „hyperbolisch, klischeehaft, stereotyp“²⁸ wirkt. Eine Rückprojektion moderner, insbesondere psychologischer Emotionstheorien ist vor diesem Hintergrund problematisch, insofern sich Konzepte wie Charakter, Subjektivität und Individualität nicht ohne Weiteres auf das Mittelalter applizieren lassen, wird doch einmal auf die Psyche, einmal auf die Physis Bezug genommen, scheint der Mensch einmal als Subjekt, ein anderes Mal als Objekt seiner Empfindungen.²⁹ Ebenso könnte aber ein ausschließlicher Rekurs auf mittelalterliche Emotionstheorien den möglichen Erkenntnisgewinn verkürzen,³⁰ zudem schwingt in beiden Perspektivierungen die Gefahr einer Übergeneralisierung mit, die synchrone Differenzen und diachrone Gemeinsamkeiten eindampft.³¹ Den „Thesen von der archaischen Affektivität der Menschen im Mittelalter“ lässt sich mit Koch eine im Mittelalter „bereits entfaltete Gefühlskultur“³² entgegenhalten, Kasten formuliert den Auftrag der mediävistischen Emotionsforschung gerade in Abgrenzung zu einem Bild vom Mittelalter, das sich im Irrationalen, ungezügelt Emotionalen und Nicht-Zweckmäßigen erschöpft.³³ Unterschiede in der Darstellung von Emotionen sind im Einzelfall nicht zwingend auf den Faktor der Zeit zurückzuführen, sie können ebenso gut in unterschiedlichen Gattungslogiken, Kontexten und Diskursen begründet liegen.³⁴
Vgl. Ingrid Kasten: Einleitung. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von Charles Stephen Jaeger/Ingrid Kasten, Berlin, New York 2003 (TMP 1), S. XIII-XXVIII, hier S. XIV. Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts, Berlin 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39), S. 15. Vgl. Müller, Spielregeln, S. 203; Katharina Philipowski: Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt? Trûren, zorn, haz, scham und nît zwischen Emotionspsychologie und Narratologie. In: PBB 128 (2006), 2, S. 251– 274, hier S. 255 ff.; Schulz, Erzähltheorie, S. 113. Zur Kritik an einer interdisziplinären Ausrichtung der Emotionsforschung in der Altgermanistik vgl. daneben Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 196; Philipowski, Erzählte Emotionen, S. 69. Vgl. Koch, Trauer, S. 1 f.; 37; Eming, Emotionen, S. 268. Wie sie mitunter in Arbeiten manifest wird, die von einer teleologischen Entwicklung ausgehen; vgl. etwa Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Stuttgart 1987, S. 1; Elias, Prozeß der Zivilisation, S. 79 und 88. Für einen Überblick nebst kritischer Diskussion vgl. Rosenwein, Worrying, S. 827 f.; aus germanistischer Perspektive Koch, Trauer, S. 5 f.; Eming, Emotionen, S. 254 ff. Koch, Trauer, S. 8. Vgl. Kasten, Rationalität und Emotionalität, S. 256. Zum Zusammenhang von Emotionsdarstellung und Gattung vgl. im Überblick Koch, Bewegte Gemüter, S. 51 ff.
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In einem ersten Schritt kann der Idee des Irrational-Überbordenden mit dem Historiker Gerd Althoff der Ritualbegriff gegenübergestellt werden. Althoff zeigt in seinen Studien, dass der emotionale Ausdruck im Mittelalter mitnichten „unkontrolliert, irrational [und] grobschlächtig“³⁵ ist, sondern vielmehr konkrete (politische) Funktionen in der öffentlichen Kommunikation erfüllt, die sich nach präzisen ‚Spielregeln‘ richtet. Der Überschwang des emotionalen Ausdrucks ist bedingt durch rituelles Handeln, das „theatralisch, feierlich, festlich oder dramatisch übersteigert“³⁶ ist, der Körperausdruck demonstrativ-gestischer Natur mit einer spezifischen Zeichenfunktion, die auf den Rang in Relation zum Gegenüber, Kriegs- oder Friedensbereitschaft verweist. Auch in modernen soziologischen Emotionstheorien wird der Ritualbegriff produktiv gemacht,³⁷ er spielt im Mittelalter aber eine ungleich gewichtigere Rolle und hat sich in der Folge Althoffs als fruchtbar für die Analyse mittelhochdeutscher Literatur erwiesen.³⁸ Doch kann der Ritualbegriff Emotionsdarstellungen in der Literatur nicht erschöpfend erfassen. So handelt es sich etwa beim Vater-Tochter-Inzest um einen starken Normbruch, der in der Regel verborgen vor der Öffentlichkeit im Geheimen stattfindet und damit eine Sphäre tangiert, die Althoff explizit aus seinen Überlegungen ausschließt.³⁹ Vor dem skizzierten Hintergrund ergibt sich die Notwendigkeit, nicht nur einen gleichermaßen offenen wie historisch adäquaten Emotionsbegriff für die Analyse zu entwickeln, der geschichtliche Beschreibungsmodelle und Darstellungsmodalitäten weder von vornherein ausblendet noch verabsolutiert, sondern auch und vor allem einen Emotionsbegriff, der die Spezifik literarischer Emotionsdarstellungen erfasst.
Gerd Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 278. Gerd Althoff: Gefühle in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters. In: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hrsg. von Claudia Benthien/Anne Fleig/Ingrid Kasten, Köln 2000 (Literatur – Kultur – Geschlecht: Kleine Reihe 16), S. 82– 99, hier S. 85; vgl. a. S. 83. Vgl. im Überblick Jonathan Turner/Jan E. Stets: Sociological Theories of Human Emotions. In: Annual review of sociology 32 (2006), S. 25 – 52, hier S. 32 ff. Vgl. etwa Jan-Dirk Müller: Visualität – Geste – Schrift. Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik. In: ZfdPh 22 (2003), S. 118 – 132, hier S. 124 f.; Albrecht Classen: Rituale des Trauerns als Sinnstiftung und ethische Transformation des eigenen Daseins im agonalen Raum der höfischen und postheroischen Welt. Zwei Fallstudien: Mai und Beaflor und Diu Klage. In: LiLi 36/144: Ritual und Literatur (2006), S. 30 – 54; Schulz, Verlockungen, S. 490 und 494; Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 225 f. Vgl. Althoff, Gefühle, S. 32 f.
4.2 Emotionsforschung in der germanistischen Mediävistik
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4.2 Emotionsforschung in der germanistischen Mediävistik Der „Affektboom“⁴⁰ in den Wissenschaften erfasst schon früh auch die Altgermanistik und erhält wesentliche Impulse von dem von Kasten geleiteten Projekt ‚Emotionalität in der Literatur des Mittelalters‘ in dem interdisziplinär ausgerichteten Berliner Sonderforschungsbereich ‚Kulturen des Performativen‘. Setzt dessen erste historisch orientierte Publikation, der von Benthien, Anne Fleig und Kasten im Jahr 2000 herausgegebene Sammelband Emotionalität, noch mit einem umfangreichen Fragenkatalog ein,⁴¹ sind in der Zwischenzeit in dem Projekt und jenseits hiervon zahlreiche Untersuchungen zu Einzelemotionen,⁴² zur historischen Semantik von Emotionswörtern,⁴³ zu Emotionen in bestimmten Gattungen und Stoffzusammenhängen⁴⁴ sowie eine ganze Reihe an Sammelbänden⁴⁵ und Überblicksdarstellungen⁴⁶ entstanden, zu denen sich kritische
Daniela Hammer-Tugendhat/Christina Lutter: Emotionen im Kontext. Eine Einleitung. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2: Emotionen (2010), S. 7– 15, hier S. 7. Vgl. Claudia Benthien/Anne Fleig/Ingrid Kasten: Einleitung. In: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hrsg. von dens., Köln 2000 (Literatur – Kultur – Geschlecht: Kleine Reihe 16), S. 7– 20, hier S. 8. Vgl. Koch, Trauer; Freienhofer, Tabuisierung; Dies.: Verkörperungen von Herrschaft. Zorn und Macht in Texten des 12. Jahrhunderts, Berlin, Boston 2017 (TMP 32); Martin Baisch/Elke Koch (Hrsg.): Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens, Freiburg im Breisgau u. a. 2010 (Rombach Scenae 12); Antje Wittstock: Melancholia translata. Marsilio Ficinos MelancholieBegriff im deutschsprachigen Raum des 16. Jahrhunderts, Göttingen 2011 (Berliner Mittelalterund Frühneuzeitforschung 9); Martin Baisch: Immersion und Faszination im höfischen Roman. In: LiLi 42/167: Immersion im Mittelalter (2012), S. 63 – 81; Annette Gerok-Reiter: angest/vorhte – literarisch. Möglichkeiten und Grenzen zwischen Text und Kontext. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2: Emotionen (2010), S. 15 – 22; Martin Baisch/Evamaria Freienhofer/Eva Lieberich (Hrsg.): Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters, Göttingen 2014 (Aventiuren 8). Vgl. Miriam Riekenberg: Literale Gefühle. Studien zur Emotionalität in erzählender Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. 2006 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 18: Vergleichende Literaturwissenschaft 115); Klaus Grubmüller: Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nît, haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von Charles Stephen Jaeger/Ingrid Kasten, Berlin, New York 2003 (TMP 1), S. 47– 69. Vgl. Kühne, Affekt; Eming, Emotion und Expression; Andrea Sieber: Medeas Rache. Liebesverrat und Geschlechterkonflikte in Romanen des Mittelalters, Köln, Weimar, Wien 2008 (Literatur – Kultur – Geschlecht 46). Vgl. Ingrid Kasten (Hrsg.): Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart, Weimar 2002 (Querelles 7); Dies. (Hrsg.): Machtvolle Gefühle, Berlin, New York 2010 (TMP 24); Dies./Charles Stephen Jaeger (Hrsg.): Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, Berlin, New York 2003 (TMP 1).
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Arbeiten gesellen,⁴⁷ die wiederum eine konstruktive Auseinandersetzung und weitere Feinjustierungen der Emotionsforschung in der Altgermanistik provoziert haben,⁴⁸ so dass mittlerweile elaborierte Arbeitsdefinitionen eines historisch und literaturwissenschaftlich adäquaten Emotionsbegriffs vorliegen.⁴⁹ Erste Annäherungen an den Gegenstand können über Methoden der historischen Semantik vollzogen werden, die mithilfe von synchronen und diachronen Wortfeldanalysen Bedeutungen, Konnotationen und historischen Wandel des Gefühlswortschatzes oder einzelner Emotionswörter eruiert.⁵⁰ Dieses gleichsam traditionelle wie unumstrittene Arbeitsfeld schöpft den möglichen Erkenntniswert jedoch nicht aus. Emotionen werden, so Kasten „nicht nur durch Emotionswörter explizit kommuniziert, sondern auch implizit, durch körpergebundene Zeichen, durch ‚Atmosphären‘, durch Szenarien und durch literarische Strategien“⁵¹. Diskursive Verflechtungen mit und Abgrenzungen zu extraliterarischen Kontexten wie dem medizinischen oder juridischen Diskurs können allein auf Wortebene nicht erfasst werden,⁵² stehen jedoch im Fokus der vorliegenden Studie. Um auch diese Aspekte in einen analytischen Zugang zu integrieren, haben sich in der altgermanistischen Emotionsforschung zwei Zugriffsoptionen etabliert: das Paradigma der Performativität und das Konzept der Codierung. Gemünzt auf Emotionen zielt Performativität auf kulturelle und sprachliche Praktiken der Bedeutungserzeugung und Ausdrucksmodulation, auf die enge Relationierung zum Körper sowie und insbesondere auf den Handlungscharakter von Emotionen, die nicht bloß reaktiv, sondern auch motivational wirksam werden.⁵³ Die Analyse erhält ein kommunikatives und interaktives Moment, das die soziale Dynamik und spezifische Transitorik von Emotionen beschreibbar macht, wobei angenommen wird, dass Strukturen und Bedeutungszusammenhänge immer wieder neu hergestellt werden und potentiell veränderbar sind.⁵⁴ Um die
Vgl. Kasten, Einleitung, S. XIII-XXVIII; Eming, Emotionen; Koch, Bewegte Gemüter; Kasten, Einleitung, S. 1– 24. Vgl. Schnell, Historische Emotionsforschung; Müller, Visualität; Philipowski, Erzählte Emotionen; Schulz, Verlockungen. Vgl. Koch, Bewegte Gemüter; Kasten, Einleitung, S. 1– 24. Vgl. Eming, Emotionen; Koch, Bewegte Gemüter, S. 42; Kasten, Einleitung, S. 1– 24. Vgl. etwa Gerda Rössler: Freude. Ein linguistischer Beitrag zur Semantik von Gefühlswörtern, Frankfurt a. M. 2001 (Mannheimer Studien zur Linguistik, Mediävistik und Balkanologie 12), S. 154– 159; Grubmüller, Historische Semantik; Riekenberg, Literale Gefühle. Kasten, Einleitung, S. 2 f. Vgl. ebd., S. 3. Vgl. ebd., S. 5; Kasten, Einleitung, S. XVIIIf.; Eming, Emotionen, S. 252. Zu Performativität allgemein siehe auch Kap. 3.2. Vgl. Kasten, Einleitung, S. XIX; Eming, Emotionen, S. 252; Kasten, Einleitung, S. 2.
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mediale Vermitteltheit und den Zeichencharakter von Emotionen in literarischen Texten bewusst zu halten, sind die Begriffe ‚Code‘ und ‚Codierung‘ in die Debatte eingeführt worden.⁵⁵ ‚Code‘ meint ein „bedeutungsgenerierendes Regelsystem“⁵⁶, ein Set an konventionalisierten Verhaltensmustern und Bedeutungszuschreibungen verbaler wie nonverbaler Zeichen.⁵⁷ Die Spezifik von Literatur wird also bewusst gehalten, zugleich liegt dem Code-Begriff die Annahme zugrunde, dass Emotionen generell in Sprache, Gesten, Gebärden, Mimik und anderem vermittelt sind, so dass der Code-Begriff auch als Schnittstelle zwischen der Literatur und der Kultur, die sie hervorgebracht hat, fungiert.⁵⁸ Performativität und Codierung von Emotionen sind kontrovers diskutiert worden, wobei sich die Kritikpunkte zu zwei Problemkreisen bündeln lassen: Dem Referenzproblem (‚In welcher Beziehung stehen verbaler und nonverbaler Ausdruck und Emotion?‘) und dem „Mimesisproblem“⁵⁹ (‚In welchem Verhältnis stehen Literatur und Welt?‘).
4.2.1 Referenzproblem Das Referenzproblem tangiert zunächst ganz generell das Verhältnis von Emotion und Sprache und lässt sich auf die Frage zuspitzen: ‚Auf was referiert überhaupt eine in einem narrativen Text geschilderte Emotion?‘⁶⁰ Negiert wird eine einfache Abbildungsrelation von Emotion und Sprache; angemahnt, dass Sprache letztlich reine Repräsentationsfunktion übernehme.⁶¹ Muss nicht generell die „Möglichkeit einer der Sprache vorgängigen bzw. unzugänglichen Gefühlswelt“⁶² eingeräumt werden? Was ist mit Emotionen, die in einer Kultur sprachlich unterrepräsentiert
Vgl. Kasten, Einleitung, Fn 3, S. XIIIf. Rainer Warning: Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. von dems., München 1975 (UTB 303), S. 9 – 41, hier S. 17. Vgl. Eming, Emotionen, S. 258; Koch, Bewegte Gemüter, S. 35; Kasten, Einleitung, S. 8. Vgl. ebd., S. 8. Ebd., S. 7. Vgl. Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 186 f. Vgl. Schulz,Verlockungen, S. 473 und 477; ähnlich a. Müller,Visualität, S. 123 ff.; Wolfgang Haubrichs: Emotionen vor dem Tod und ihre Ritualisierung. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von Charles Stephen Jaeger/ Ingrid Kasten, Berlin, New York 2003 (TMP 1), S. 70 – 97, hier S. 72 f.; Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 176 – 184; Philipowski, Drachentraum, S. 251 ff.; Philipowski, Erzählte Emotionen, S. 62 f.; 66 f. und 69. Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 186; ähnlich a. Philipowski, Erzählte Emotionen, S. 63.
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sind, werden sie allein nonverbal ausagiert und/oder tabuisiert und/oder sind sie schlichtweg nicht existent?⁶³ Dieser Sprachskepsis steht der Umstand gegenüber, dass andere, auch nicht primär textbasierte Disziplinen wie Psychologie, Ethnologie, Soziologie und Philosophie Sprache einen hohen Erkenntniswert zumessen.⁶⁴ Zwar existiert empirische Evidenz, dass emotionstypische Erregungsverläufe unbewusst und präreflexiv auftreten,⁶⁵ doch stellt sich die Frage, ob in diesen Fällen überhaupt von einer Emotion zu sprechen ist. Slaby etwa grenzt affektive Zustände von allgemeinen Erregungszuständen und Körpererscheinungen gerade entlang des Kriteriums ab, dass sie begrifflich verfasst sind.⁶⁶ Damit ist nicht gemeint, dass Emotionen immer sprachlich artikuliert sein müssen, sondern dass sie potentiell sprachlich artikuliert werden können. ⁶⁷ Die Philosophin Giovanna Colombetti beschreibt vielfältige Wechselwirkungen zwischen Sprache und Emotion. Selbst wenn Sprache reine Mitteilungsfunktion übernehme, wirke sie klärend und konstitutiv, indem mit der Verbalisierung ein präreflexiver Zustand auf ein reflexives Niveau gehoben und eine diffuse Erlebnisqualität in einen individuierten Gefühlszustand überführt werde. Unter dem Stichwort enhancing, das sich nur unelegant mit „Steigerung“, „Erhöhung“ oder „Verstärkung“ ins Deutsche übersetzen lässt, zeigt Colombetti, dass sogar Verbalisierungen von außen, also von anderen Menschen als dem Empfindenden, dessen emotionales Erleben bereichern und allererst initiieren können. In der Interaktion und Kommunikation mit anderen kommt es zu Rückkopplungseffekten, wobei Sprache die affektive Erfahrung transformiert, indem sie Aufmerksamkeit lenkt, Komplexität reduziert und das emotionale Er-
Vgl. Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 186 und 268; Fn 52, S. 186; Schulz, Verlockungen, S. 472 f.; Fn 5, S. 473. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass bereits Heinz-Günter Vester, auf den sich der verwendete Code-Begriff maßgeblich bezieht, zwischen über- und untercodierten Emotionen unterscheidet; vgl. Heinz-Günter Vester: Emotion, Gesellschaft und Kultur. Grundzüge einer soziologischen Theorie der Emotionen, Opladen 1991, S. 96. Vgl. etwa für die Ethnologie Birgitt Röttger-Rössler: Emotion und Kultur. Einige Grundfragen. In: Zeitschrift für Ethnologie 127 (2002), S. 147– 162, hier S. 154 f.; für die Psychologie Scherer, What are emotions, S. 707; für die Phänomenologie Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 31. Vgl. Giovanna Colombetti: What Language Does to Feeling. In: Journal of Consciousness Studies 16/9 (2009), S. 4– 26, hier S. 7. Für eine leicht gekürzte deutsche Übersetzung des Artikels durch Viktoria Räuchle siehe Giovanna Colombetti: Was Sprache mit Gefühlen macht. In: Gefühle. Sprechen. Emotionen an den Anfängen und Grenzen der Sprache. Hrsg. von Viktoria Räuchle/Maria Römer, Würzburg 2014, S. 43 – 66. Vgl. Slaby, Gefühl, S. 284. Vgl. ebd., S. 275.
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leben verdichtet. Es erhält gewissermaßen ein sprachliches Etikett, wird sichtbar und zugänglich, kanalisiert und strukturiert das emotionale Empfinden.⁶⁸ Dem Phänomen, dass in einigen Kulturen ein reiches Vokabular und differenzierte Konzepte existieren, die somatische Erfahrungen als Emotionen klassifizieren, während in anderen Kulturen bestimmte Emotionen sprachlich kaum elaboriert und unterrepräsentiert sind, lässt sich methodisch mit dem Konzept der Hyper- und Hypokognition Rechnung tragen. Als Fallbeispiel führt die Ethnologin Birgitt Röttger-Rössler eine ihrer Feldstudien bei den Makassar in Indonesien an, die kein exponiertes ‚Verliebtheitsmodell‘ kennen, da sich heterosexuelle Liebe in dieser Gesellschaft traditionell ausschließlich im Rahmen arrangierter Ehen vollzieht und stufenweise entwickelt. Allein aufgrund des Sprachbefundes müsste man demnach davon ausgehen, dass das Gefühl der Verliebtheit in dieser Gesellschaft nicht existiert. Im Laufe der Feldforschung zeigte sich aber, dass in der Adoleszenz häufig ein spezifisches Krankheitsbild auftritt, genannt garring lolo, das sich in seiner Symptomatik weitgehend mit den Eigenschaften deckt, die die westliche Welt mit Verliebtheit assoziiert wie innere Unruhe, gedankliche Fixierung und Schlaflosigkeit. Die Emotion ist also durchaus existent, wird bei den Makassar aber als eine durch Magie verursachte Erkrankung pathologisiert.⁶⁹ Hiermit ist bereits ein weiteres Feld angesprochen, das durch das Referenzproblem tangiert wird, nämlich das Verhältnis zwischen Ausdruck und Emotion. So weist Jan-Dirk Müller mit Rekurs auf Augustinus’ Zeichentheorie darauf hin, dass zwischen indexikalischen und arbiträren Zeichen zu unterscheiden sei, wobei sich nur letztere als codiert bezeichnen ließen.⁷⁰ Zu Recht merkt er an: „Was ich an meinem zornigen Gegenüber als ‚Zorn‘ decodiere, muss von diesem nicht encodiert sein. Im Gegenteil kann er alle Anzeichen des Zorns zu dissimulieren […] suchen“⁷¹. Hieran schließt sich das Problem abweichender Entschlüsselungspraxis von Beobachtern ersten Grades (die Beobachter im Text, die Protagonisten) und zweiten Grades (die Beobachter des Textes, die Rezipierenden) an: „Für den Rezipienten wird alles zum Zeichen, während die Akteure jeweils nur einen Teil als Zeichen auffassen.“⁷² Diese Unterscheidung ist tragend, wenn eine Erzählung unterschiedliche Zeichen- und Entschlüsselungspraxen ausstellt und umspielt (wie im genannten Fall der dissimulatio, der bewussten Verstellung und Vortäuschung von Gefühlen, bei der ein gegebener Ausdruck gerade nicht auf das
Für den Absatz vgl. Colombetti, Language, S. 5; 10 – 13; 17; 20. Für den Absatz vgl. Röttger-Rössler, Emotion, S. 150 – 155. Vgl. Müller, Visualität, S. 122 f. Ähnlich unterscheidet Schnell zwischen expression und representation of emotions; vgl. Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 177 f. Müller, Visualität, S. 123. Ebd., S. 130.
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gängigerweise mit ihm angezeigte Gefühl verweist),⁷³ bezieht doch der Text sein Spannungspotential gerade aus der abweichenden Wahrnehmung der Figuren, die sich täuschen lassen, und der Rezipierenden, die die Täuschung erkennen. Gleichsam ist dissimulatio weder ein rein literarisches Phänomen noch restlos von Emotionen entkoppelt. Es handelt sich um eine in der Alltagswelt regulär praktizierte Bewältigungsstrategie (coping),⁷⁴ die gerade deshalb funktioniert, weil der Ausdruck, obgleich vorgetäuscht, lesbar bleibt, da er sich in ein konventionalisiertes und insofern auch imitierbares Verhaltensmuster fügt. Vor allem aber lässt sich jenseits dieser konkreten Funktionalisierungen der gegebene Zeichenstatus allein aufgrund des Textbefundes in den meisten Fällen nicht oder nur schwer eruieren.⁷⁵ Im Rücken der Gegenüberstellung ‚natürlicher‘ und ‚willkürlicher‘ Zeichen steht ein Disput, der lange das Schlachtfeld der Emotionsforschung in und zwischen den Disziplinen bestimmt hat und der das Verhältnis von anthropologischer Universalität und kultureller Bedingtheit von Emotionen innerhalb der Koordinaten ‚Natur‘ versus ‚Kultur‘ betrifft.⁷⁶ Die Debatte kulminiert nicht selten in der Frage, ob Gefühle überhaupt eine Geschichte haben können,⁷⁷ und der Forderung, historische Emotionsforschung habe sich auf den Bereich der Konzepte und Vorstellungen von Emotionen zu begrenzen.⁷⁸ Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass aktuell in unterschiedlicher Gewichtung und Ausprägung Rückkopplungseffekte von Kultur und Emotion angenommen werden,⁷⁹ in verschiedenen Disziplinen sind integrative und synthetische Ansätze
So in dem von Müller gegebenen Beispiel, aus dem sich im Nibelungenlied ein epischer Konflikt entspinnt; vgl. ebd., S. 129 – 131. Das Motiv der dissimulatio ist vor diesem Hintergrund verschiedentlich gegen den Code-Begriff ins Feld geführt worden; vgl. ebd., S. 123; Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 188; Schulz, Verlockungen, S. 491. Vgl. hierzu James J. Gross/Ross A. Thompson: Emotion Regulation. Conceptual Foundations. In: Handbook of emotion regulation. Hrsg. von James J. Gross, New York 2007, S. 3 – 26, hier S. 15 f. Vgl. Koch, Trauer, S. 52. Vgl. hierzu die Überblicksdarstellungen bei Röttger-Rössler, Emotion, S. 147 f.; Anz, Kulturtechniken, S. 208; Hammer-Tugendhat/Lutter, Emotionen, S. 7. Vgl. Armin Günther: Sprache und Geschichte. Überlegungen zur Gegenstandsangemessenheit einer historischen Psychologie. In: Individuum und Geschichte. Beiträge zur Diskussion um eine ‚Historische Psychologie‘. Hrsg. von Michael Sonntag/Gerd Jüttemann, Heidelberg 1993 (Historische Psychologie), S. 34– 48, hier S. 35; Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 193. Vgl. Schulz, Verlockungen, S. 474. Vgl. etwa für die Psychologie Scherer/Brosch: Culture-Specific Appraisal Biases; für die Phänomenologie Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 25. Selbst Vertreter der Theorie der Basisemotionen, die evolutionsbiologisch argumentierend von einem angeborenen Set universaler Gesichtsausdrücke ausgehen, merken an, dass soziokulturelle Einflüsse für die Erforschung
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formuliert worden,⁸⁰ transdisziplinäre Projekte wie der Cluster Languages of Emotion an der Freien Universität in Berlin, an dem die vorliegende Studie maßgeblich entstanden ist, gründen auf der Idee, dass erst das Zusammensetzen disziplinärer Puzzleteile ein möglichst dichtes Vexierbild ergibt und eine Annäherung an den Gegenstand erlaubt. Für die Analyse von Emotionen in Texten ist, wie Koch anmerkt, ohnehin vielmehr entscheidend, dass sich aus Perspektive der Rezipierenden (erst recht der Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler) jedes Zeichen im Text zu einem Code ordnet. Dementsprechend sind „auch solche Körperzeichen in literarischen Inszenierungen als codiert zu betrachten […], deren Encodierung durch ihren Sender, d. h. die Figuren der Texte, nicht vorauszusetzen ist“, wobei generell gelte: Darstellungen von Emotionen in narrativen Texten sind […] nicht ausdruckspsychologisch, sondern grundsätzlich nur als symbolische Verfahren zu beschreiben. Jede emotionale Kommunikation ist dort ein Produkt ästhetischer Stilisierung, dies gilt nicht nur für Mimik und Gestik, sondern ebenfalls für physiologische Reaktionen.⁸¹
Betont wird die mediale Vermitteltheit, „das schlichte Faktum, dass es sich um schriftlich vermittelte Emotionsdarstellungen, um medialisierte Emotionen, handelt.“⁸² Dass es sich bei Emotionen in der Literatur stets um inszenierte handelt, ist eine gängige, aber noch nicht abschließend kanonisierte Unterscheidung, was sich in einer fehlenden Nomenklatur und einem breiten Bezeichnungsspektrum zeigt, welches die in Texten verhandelten Emotionen als inszenierte,⁸³ literale,⁸⁴ fiktionale,⁸⁵ erzählte⁸⁶ oder auch kodierte⁸⁷ Emotionen
von Emotionen zu berücksichtigen seien; vgl. Izard, Emotionen, S. 23; Paul Ekman: Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren, München 2012, S. 5 f.; 17. Bereits 1991 fordert Vester für die Emotionsforschung ein „biopsychosoziale[s] Paradigma“; Vester, Emotion, S. 21. Für einen integrativen, mit dem Begriff des Bio-Kulturellen operierenden Ansatz vgl. etwa Alexander Laban Hinton: Prolegomenon to a Processual Approach to the Emotions. In: Ethos 21 (1993), S. 417– 451; sowie den Sammelband Birgitt Röttger-Rössler/ Hans J. Markowitsch (Hrsg.): Emotions as bio-cultural processes, New York 2009. Der Psychologe und Neurowissenschaftler Arthur Jacobs legt zusammen mit dem Dichter Raoul Schrott ein ‚Modell der Neurokognitiven Poetik‘ vor; vgl. Raoul Schrott/Arthur Jacobs: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011, S. 494– 511. Koch, Trauer, S. 53 und 48. Kasten, Einleitung, S. 8. Vgl. Koch, Trauer, S. 48; Philipowski, Erzählte Emotionen, S. 66. Vgl. Riekenberg, Literale Gefühle. Vgl. Eva Illouz: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung, Berlin 2012 (stw 2057), S. 376 – 386.
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charakterisiert. Abgestellt wird mit diesen Begriffen auf einen spezifisch literaturwissenschaftlichen Problemkreis der Emotionsforschung, auf den nun zu sprechen zu kommen ist, das Mimesisproblem.
4.2.2 Mimesisproblem Literatur folgt stets einer Eigenlogik. Aufgrund ihrer Fiktionalität, Narrativität, Ästhetik, Medialität, kurz: ihres im Vergleich zum Leben wesentlich größeren Spielraums, steht sie nie in einer einfachen Abbildfunktion zur Wirklichkeit.⁸⁸ Literatur bringt ein eigentümliches Referenzsystem hervor. Zwar basiert literarische Sprache auf der Alltagssprache, durch Selektion und Kombination kommt es jedoch zur Übercodierung von Zeichen in einem literarischen Text, durch zahlreiche intra-, inter-, trans- und extratextuelle Bezüge entsteht ein semantischer Überschuss.⁸⁹ Dennoch sind Literatur und Welt nicht völlig voneinander losgelöst. Texte sind „keine Monaden, sie sind durchlässig auf die Kultur, die sie hervorgebracht hat“⁹⁰, sind ein „ästhetisches Arrangement ‚eine Handbreit über dem Boden der Realität‘“⁹¹. Im Zusammenspiel von Performativität und Code ergibt sich mit Koch die Grundannahme: Demnach sind Deutungen von Emotionen, Regeln ihres Ausdrucks, d. h. ihre ‚Lesbarkeit‘, und soziale Verhaltensmuster, innerhalb derer Gefühle erlebt und kommuniziert werden, kulturspezifisch und werden in sozialer Interaktion erworben. Durch den Rückgriff auf diese Konzepte lassen sich historische Diskurse über Emotionen, Semantiken von Emotionswörtern, Normierungen und letztlich auch mediale Inszenierungen von Emotionen als Elemente einer ‚Emotionskultur‘ begreifen, die das, was als Emotion wahrgenommen und ‚gelesen‘ wird, mit definiert.⁹²
Mit dem Begriff ‚Emotionskultur‘ bezieht sich Koch auf sozialkonstruktivistisch inspirierte Arbeiten der Historikerin Barbara Rosenwein, die spezifische Un Vgl. Philipowski, Erzählte Emotionen. Vgl. Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin 2003 (ALW 7). Vgl. Manuel Braun: Trauer als Textphänomen? Zum Ebenenproblem der mediävistischen Emotionsforschung. In: Machtvolle Gefühle. Hrsg. von Ingrid Kasten, Berlin, New York 2010 (TMP 24), S. 53 – 86, hier S. 55 ff. Vgl. Müller, Visualität, S. 127; Schulz, Verlockungen, S. 475. Braun, Trauer, S. 56 f.; vgl. a. Kasten, Einleitung, S. 7. Annette Gerok-Reiter: Die Angst des Helden und die Angst des Hörers. Stationen einer Umbewertung in mittelhochdeutscher Epik. In: Das Mittelalter 12/1 (2007), S. 127– 143, hier S. 128. Koch, Bewegte Gemüter, S. 42.
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terschiede zwischen sozialen Gruppen entlang von Kategorien wie Verwandtschaft, Geschlecht, Hofadel und Klostergemeinschaft beschreibt, die die Definition und Bewertung von Einzelemotionen im Speziellen, von Emotionalität im Generellen sowie die Art der affektiven Bindung zwischen Menschen und Modi des emotionalen Ausdrucks betreffen.⁹³ Zäumt man das Pferd von hinten auf, fällt ohnehin auf, dass in anderen Disziplinen in den letzten Jahren geradezu eine ‚Entdeckung der Literatur‘ zu verzeichnen ist.⁹⁴ Schon Koch und Eming berufen sich auf Ronald de Sousas Konzept des paradigm scenarios,⁹⁵ das für die Ontogenese postuliert: Meine Hypothese lautet: Wir werden mit dem Gefühlsvokabular vertraut gemacht, indem wir es mit Schlüsselszenarien assoziieren lernen. Anfangs, solange wir klein sind, beziehen wir diese Szenen aus unserem alltäglichen Leben; später verstärkt aus Geschichten, Kunst und Kultur. Noch später werden sie, in Lesekulturen, ergänzt und verfeinert durch Literatur. Schlüsselszenarien umfassen zwei Aspekte: erstens einen Situationstyp, der die charakteristischen Objekte des besonderen Gefühlstyps liefert […] und zweitens eine Gruppe von charakteristischen oder ‚normalen‘ Reaktionen auf die Situation […].⁹⁶
Mit dem Konzept des Schlüsselszenarios werden prototypische Situationen angenommen, die typische Auslöser und Verlaufsmuster von Emotionen bereitstellen, welche nicht allein in der Alltagserfahrung, sondern auch in Kunst und Literatur erworben werden können. Dieser Konnex lässt sich mit einem Rekurs auf den Begriff des Narrativen weiter fundieren, wie er jüngst in philosophischen Emotionstheorien Konjunktur erfährt. Schon Martha Nussbaum und Peter Goldie entwerfen Emotionstheorien, in denen das Narrative eine zentrale Rolle spielt.⁹⁷ Zum zentralen Definitionsmerkmal von Emotionen wird Narrativität bei
Vgl. Rosenwein, Worrying, S. 837 und 842. Um nur eine kleine Auswahl verschiedener Disziplinen zu geben; vgl. Nussbaum, Narrative Emotions, S. 290; Clore, Emotions, S. 392 f., Ben-Ze’ev, Intensity, S. 518 f.; Ronald de Sousa: Die Rationalität des Gefühls. Übers. von Helmut Pape unter Mitarbeit von Astrid Pape und Ilse Griem, Frankfurt 1997, S. 289 f.; Slaby, Gefühl, S. 118 und 317 ff.; Colombetti, Language, S. 11; Goldie, Emotionen, S. 395 ff.; Illouz, Liebe, S. 376 – 386. Vgl. Koch, Trauer, S. 29 f.; Eming, Emotionen, S. 265; Koch, Bewegte Gemüter, S. 46 f. Sousa, Rationalität, S. 298 f. Auf der Grundlage literarischer Texte zeigt Nussbaum zwar, wie Emotionen auf komplexen Narrationen aufbauen, und spricht ihnen eine narrative Struktur zu, versteht sie aber letztlich primär als Urteile; vgl. Nussbaum, Narrative Emotions, S. 236 und 290. Vgl. hierzu kritisch Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 11 f.; Slaby, Gefühl, S. 228 – 235. Goldie bestimmt Empfindungsqualität und Episodenhaftigkeit als Konstituenten sogenannter (welt)gerichteter Gefühle (feelings towards); vgl. Goldie, Emotionen, S. 370; 380; 393. Narrativität meint bei Goldie aber mehr den großen Wurf der Selbsterzählung: „A true narrative […] is not simply a interpretive
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der Philosophin Christiane Voss, derzufolge „Geschichten […] die kleinsten Bedeutungseinheiten der Emotionen“⁹⁸ bilden. Voss geht von einem Mehrkomponentenmodell aus, in dem Narrativität eine integrative und synthetisierende Funktion zukommt, heterogene Elemente wie neurophysiologische Veränderungen oder Handlungsimpulse werden durch Assoziation und zeitliche Verknüpfung in ein chronologisches Sinnganzes gebracht, Ursache-Folge-Beziehungen hergestellt.⁹⁹ Slaby vertritt anders als Voss ein ganzheitliches Verständnis von Emotionen, priorisiert aber ebenfalls den Begriff des Narrativen, dessen Funktion er ganz ähnlich als „affektive Synthesis“ beschreibt: Eine primäre Integrationsleistung des Narrativs besteht darin, dass durch es ein umfassender Sinnzusammenhang konstituiert wird, mit dem all das, was mit der jeweiligen Superstruktur in einem inhaltlichen Zusammenhang steht, rational verbunden wird. […] Auch Vorgänge, die für sich betrachtet keine Verhaltungen der fühlenden Person, also keine intentionalen Zustände sind, werden von der narrativen Struktur des Gefühls umfasst und integriert. Auch ihr Erbleichen, ihre Schweißausbrüche, ihr Im-Boden-Versinken-Wollen gehören zu ihrer Gefühlslage.¹⁰⁰
Unabhängig von der für die Literaturwissenschaft letztlich irrelevanten Frage, ob das Wesen von Emotionen nun als Komponentenmodell oder als ganzheitliches Phänomen aufzufassen ist, macht der Fokus auf Narrativität die philosophischen Überlegungen anschlussfähig für die Analyse von Literatur. Dabei ist zunächst hervorzuheben, dass die Begriffe ‚Narrativ‘ und ‚Narration‘ nicht deckungsgleich sind. Ein Narrativ ist eine abstrakte Struktur, die in ihrer Gesamtheit einen bestimmten Sinnzusammenhang ausbildet, eine Narration das Ergebnis eines absichtsvollen Schreib- und Sprechprozesses.¹⁰¹ Narrativität als Strukturprinzip aber schlägt eine Brücke zwischen beiden Ebenen: Unter einem Narrativ ist […] die spezifisch sinnhaft-kohärente Verfasstheit einer dynamischen Struktur zu verstehen, die es ermöglicht, dass diese Struktur zum Gegenstand einer Erzählung (Narration) wird. Wenn wir also sagen, dass Gefühle eine ‚narrative Struktur‘ besitzen, so sagen wir damit nicht, dass Gefühle Erzählungen sind, sondern lediglich, dass Gefühle von der Art sind, dass eine Thematisierung in Form von Erzählungen die ange-
framework, placed […] over a persons’s life; it is, rather, what that life is“; Peter Goldie: The emotions. A philosophical exploration, Oxford 2002, S. 5. Christiane Voss: Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien, Berlin 2004 (Ideen & Argumente), S. 209. Vgl. ebd., S. 125 und 184 f. Slaby, Gefühl, S. 288 f. Vgl. ebd., S. 284; Voss, Narrative Emotionen, S. 185 f.
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messene Art ihrer Thematisierung ist, dass die Struktur der Gefühle eine Thematisierung in Form einer Narration hervorbringt.¹⁰²
In diesem Zusammenhang sind Rückkopplungseffekte zwischen Literatur und Welt anzunehmen. Schon Voss hebt hervor, dass sich Literatur in besonderer Weise zur Affektsteuerung eignet, da sie sich strukturell isomorph zu Emotionen verhält und die sprachliche Handlungsform der Erzählung eine privilegierte Form emotionaler Kommunikation bereitstellt.¹⁰³ Die Soziologin Eva Illouz sieht in medial vermittelten Emotionen „Bausteine für die kulturelle Aktivität der Einbildungskraft“, die sich zu „kognitiven Schablonen vorgreifender Gefühle“¹⁰⁴ verdichten. Sie „entwickeln sich in Geschichten und als Geschichten“¹⁰⁵, so dass Emotion und Fiktion in direkter Wechselwirkung stehen. Colombetti bestimmt Literatur als einen externen Stimulus, der bestimmte emotionale Erfahrungen überhaupt erst ermöglicht, indem er von außen emotionale Erfahrungen induziert, die im alltäglichen Leben in der Regel nicht begegnen;¹⁰⁶ ein Diktum, das auf den Vater-Tochter-Inzest in besonderer Weise zutreffen dürfte. Wenn medial vermittelte Emotionen in diesen Lesarten zentrale Bedeutung für die emotionale Sozialisation des Individuums tragen, ist dieser Konnex historisch zu hinterfragen. Die genannten Forscher von de Sousa bis Slaby stellen dezidiert auf die moderne Konsumkultur ab, deren medialer Impakt auf die Sozialisation nicht mit dem der Handschriftenkultur des Mittelalters zu vergleichen ist. Literatur besitzt hier einen deutlich geringeren Wirkradius, erreicht einen kleineren Personenkreis und spielt damit für die Sozialisation des Einzelnen keine vergleichbare Rolle, da sie von relevanteren Faktoren wie Stand und Religion überlagert wird. Doch liegt gerade hierin zugleich eine Chance. Literatur wird zu dieser Zeit von und für eine relativ kleine Gruppe an Menschen produziert, wie Kai Christian Ghattas in einem anderen Kontext ausführt: Ein Verfasser von Versromanen schreibt im 12. Jahrhundert für eine noch kleine adlige Schicht von literarischen Connaisseurs, deren Alltag er tagtäglich miterlebt; er schreibt seinen Text in einen Herrschaftsraum ein, dessen geographische wie hegemoniale Erfahrungsräume er kennt. Er schreibt für die, die vom Reiten genauso viel verstehen wie vom
Slaby, Gefühl, S. 284. Vgl. Voss, Transformation, S. 129 f. Illouz, Liebe, S. 378. Ebd., S. 381. So hat etwa das in zahlreichen Filmen verarbeitete Motiv der ‚Hollywoodliebe‘ mit realen Liebeserfahrungen wenig gemein, stellt aber ein (unerreichbares) Ideal dar, das Erwartungen, Wünsche und Gefühle beeinflusst; vgl. ebd., S. 380 und 383 ff. Vgl. Colombetti, Language, S. 11.
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Fechten, die vom gesellschaftlichen Umgang der Geschlechter miteinander ebenso eine vergleichsweise einheitliche Vorstellung haben, wie von dem, was an diesem Hof als höfisches Benehmen gilt. […]. Schließt man sich Bumkes Ausführungen an […], dann ist diese Literatur […] mit Blick auf eine relativ homogene Gruppe von Rezipienten konzipiert.¹⁰⁷
Diese relative Homogenität lässt sich mit Rosenweins Konzept der Emotionskultur verbinden. Einblick gewährt die Analyse von Literatur dann nicht in die Gesellschaft an sich (ein ohnehin nicht einzuholender Anspruch), sehr wohl aber in einen ihrer Ausschnitte, wobei potentielle Rückkopplungseffekte zwischen Literatur und Welt innerhalb dieses Kulturkreises aufgrund der gegebenen Nähe noch enger gestrickt sein können als in der modernen, global orientierten Konsumkultur.
4.3 Begriffsbestimmung und Operationalisierung Vor dem skizzierten Hintergrund folgt die Studie der von Koch vorgeschlagenen Definition von Emotionen als „eine kulturell variable Kategorie anthropologischer Selbstbeschreibung, die durch Wissenstraditionen und Sprachregelungen geprägt ist und den Gegenstand, den sie bezeichnet und beschreibt, mit hervorbringt und formt“¹⁰⁸. Die Begriffsbestimmung ist konstruktivistisch, aber keineswegs willkürlich. Nicht alle beliebigen Eigenschaften sind auf intelligible Weise emotional besetzbar, was Voss mit Aussagen wie „S ist stolz darauf, dass heute Montag ist“ oder „S freut sich auf etwas, das sie in jeder Hinsicht negativ beurteilt“ illustriert: „Die logisch-semantische Festlegung eines möglichen Spektrums der Objekte für jeden Emotionstypus fungiert somit als sinnkonstitutive Einschränkung der Anwendung von Emotionstermen.“¹⁰⁹ Evaluative Eigenschaften von Objekten und Umweltereignissen etwa sind essenziell normativ, wie Slaby konstatiert: „Eine evaluative Eigenschaft (z. B. ‚bedrohlich sein‘) ist nicht lediglich die Disposition, gewisse wertende Reaktionen – hier: Furcht – auszulösen, sondern ist überdies etwas, das diese Reaktionen verdient.“¹¹⁰ Evaluative Eigenschaften bilden keinen kausalen Konnex aus, sie sind ein Richtwert, ob ein bestimmtes Gefühl in einem gegebenen Kontext angemessen ist oder nicht. Dass es sich hierbei um eine intersubjektive, nicht eine individuelle Leistung handelt,
Kai Christian Ghattas: Rhythmus der Bilder. Narrative Strategien in Text- und Bildzeugnissen des 11. bis 13. Jahrhunderts, Wien, Köln, Weimar 2009 (Pictura et poesis 26), S. 56. Koch, Bewegte Gemüter, S. 42. Voss, Transformation, S. 118. Slaby, Gefühl, S. 201; vgl. für Folgendes a. S. 202 f.
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wird daran erkennbar, dass Normativität Kategorien ausbildet (das ‚Furchterregende‘, das ‚Lustige‘), es handelt sich um kollektive Klassifikationsprozesse. Dieser normative Aspekt ist für die mittelalterliche Kultur noch stärker hervorzuheben als für die moderne. So zeichnen sich Emotionsdarstellungen in der mittelhochdeutschen Literatur einerseits durch einen starken Normbezug aus,¹¹¹ werden aber zugleich „in narrativen Zusammenhängen dynamisiert und verändert“¹¹², „über komplexe, literarästhetisch gestaltete Episodentypen […] differenziert und reflektiert, kritisiert oder parodiert“¹¹³. Texte sind in diesem Verständnis „Medien der reflektierenden Bearbeitung von Schlüsselszenarien“¹¹⁴ und zurückgebunden an die Kultur, die sie hervorbringt. Dabei sind für die Analyse drei Ebenen zu unterscheiden, die im Folgenden methodisch operationalisiert werden: auf Textebene dargestellte Emotionen, mit Blick auf die Rezipierenden intendierte Emotionen und faktische, die Rezeption begleitende Emotionen.
4.3.1 Textinterne Ebene: Emotionen auf Handlungs- und Figurenebene In der vorliegenden Studie wird der Begriff ‚textinterne Ebene‘ genutzt, um Darstellungen von Emotionen auf Handlungs- und Figurenebene zu markieren. Mit Kasten und Eming rücken in den Analyseblick typische Emotionsauslöser und -anlässe, Darstellungsformen von Emotionsausdrücken in Mimik und Gestik, Körperinszenierungen,Verlaufsformen und Handlungsdynamiken von Emotionen sowie literarische und ästhetische Darstellungs- und Wirk-Strategien.¹¹⁵ Der Begriff des Narrativen ist diesbezüglich nicht allein anschlussfähig an Kochs zugrundegelegte Definition, insofern sowohl Narrative als auch Narrationen ihrerseits kulturelle, durch Wissenstraditionen und Sprachregelungen geprägte ‚Selbstbeschreibungen‘ sind, er wirkt hinsichtlich der genannten Analysekategorien integrativ. Emotionen auf Figurenebene bleiben meist fragmentarisch (vielleicht wird nur ein Emotionswort benannt, vielleicht ein Handlungsimpuls, vielleicht ein nonverbaler Ausdruck oder eine dichte Beschreibung leiblichen Spürens), die einzelnen Elemente können, müssen sich aber nicht zu einem
Vgl. Kasten, Einleitung, S. XIX. Kasten, Einleitung, S. 5. Klaus Ridder: Schlüsselszenarien. Scham und Schamlosigkeit im Prosa-Lancelot. In: Scham und Schamlosigkeit. Hrsg. von Katja Gvozdeva/Hans Rudolf Velten, Berlin, New York 2011 (TMP 21), S. 194– 222, hier S. 196. Koch, Trauer, S. 30. Vgl. Kasten, Einleitung, S. XIX; Eming, Emotionen, S. 252.
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Ganzen oder einer Annäherung an das Ganze fügen. Analog zur beschriebenen ‚affektiven Synthesis‘ bei alltagsweltlichen Emotionen, die heterogene Einzelaspekte narrativ integriert, kann auch in diesen Fällen über den gegebenen Kontext und das Weltwissen ein narratives Band rekonstruiert werden, das auf eine bestimmte Emotion hindeutet.¹¹⁶ Dabei gilt es, trotz der wesensmäßigen Unterschiede zwischen alltagsweltlichen und literarisch inszenierten Emotionen eine Parallele im Blick zu behalten: Ebenso wie sich ein Mensch durch ein Gefühl zu der Welt positioniert, die ihn umgibt, und damit das Objekt seiner Emotion evaluiert, wird eine Figur in einem Text durch eine ihr zugeschriebene Emotion innerhalb der Erzählwelt situiert, sie verhält sich zu einem Erzählelement in einer spezifischen Art und Weise, etwa wenn der Vater-Tochter-Inzest gefürchtet oder sich über ihn erzürnt wird. Vice versa gilt, dass der Inzest als fürchtenswert oder zorneswürdig gezeigt wird, was kulturelle Zuschreibungskategorien transparent macht. Dieser evaluative und mit ihm normative Aspekt ist für die Analyse zentral, gibt er doch den Blick frei auf kulturelle Konfigurationen im Spannungsfeld von Inzesttabu und Emotion. Übergeordnetes Erkenntnisinteresse der Studie ist die Frage, mit welchen Emotionen der Vater-Tochter-Inzest in der Literatur verknüpft wird. In den Fokus treten damit zunächst Emotionen, die explizit thematisiert werden. Die entsprechenden Emotionswörter werden nach der Methode der historischen Semantik analysiert und kontextualisiert. Darüber hinaus können rhetorische Figuren auf Emotionen verweisen, besonders prominent die Metapher.¹¹⁷ Sie wird als grundsätzliches Denkmuster auch in der Alltagssprache verwendet, um Emotionen zum Ausdruck zu bringen, wobei ein weiter Metaphernbegriff anzulegen ist, der ebenso Metonymien, Vergleiche, Allegorien und Personifikationen umfasst,¹¹⁸ zwischen denen in der Textanalyse wieder präzise zu unterscheiden ist. Während in diesem Bereich in der Regel eine konkrete Einzelemotion zugeordnet werden kann, lässt sich mit Simone Winko das rhetorische Repertoire erweitern um Elocutio, Inversion, Parallelismus, Chiasmus und Wiederholungsfiguren im All Werden zum Beispiel Tränen dargestellt, kann dies zwar prinzipiell sowohl auf Leid und Trauer als auch auf Freude oder Erleichterung verweisen, praktisch aber lässt sich in der Regel anhand des Kontextes rekonstruieren, welche Emotion hier genau zur Darstellung kommen soll. Vgl. Henrike F. Alfes: Literatur und Gefühl. Emotionale Aspekte literarischen Schreibens und Lesens, Opladen 1995 (Konzeption empirische Literaturwissenschaft 19), S. 102 f.; Winko, Kodierte Gefühle, S. 105 – 108, und 135; Schnell, Historische Emotionsforschung, S. 235. Vgl. hierzu George Lakoff/Mark Johnson: Metaphors we live by [with a new afterword], Chicago 2003, S. 267; Raymond W. Gibbs: Metaphor and Thought. The State of the Art. In: The Cambridge handbook of metaphor and thought. Hrsg. von dems., Cambridge 2008, S. 3 – 13, hier S. 3. Metaphern wie beispielsweise ‚Sie blühte auf wie eine Blume‘ sind emotional konnotiert und können auf Emotionen, in diesem Fall Freude, verweisen; vgl. Winko, Kodierte Gefühle, S. 135.
4.3 Begriffsbestimmung und Operationalisierung
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gemeinen, die „eine emotionale Beteiligung des Sprechers signalisieren, nicht aber spezifizieren können“, daneben besitzen Emphase, Litotes, Hyperbel und Ironie eine „Emotionen signalisierende Wirkung“¹¹⁹, die Antithese wendet die bezeichnete Emotion in ihr Gegenteil, die Klimax intensiviert sie. Neben rhetorischen Figuren können Interjektionen als Indikatoren herangezogen werden. Den Zusammenhang von Interjektionen und Emotionalität erkennt schon die ältere Forschung, wenn der ‚Naturlaut‘ Johann Gottfried von Herder als unmittelbare Äußerung des Affekts, als „Ton der Empfindung“¹²⁰, gilt und Jacob Grimm in Interjektionen den „leidenschaftlichen Ausdruck der Empfindungen“¹²¹ sieht. Benannt sind damit wesentliche Merkmale von Interjektionen, die auch die gegenwärtige Diskussion bestimmen. Zum einen wird unisono ihr emotiv-expressiver Charakter betont,¹²² zum anderen ihr spezifischer sprachlicher Status. Zwar räumt die neuere Forschung mit der Idee der ‚Naturlaute‘ auf, Interjektionen kommt jedoch ein Sonderstatus zu. Sie sind syntaktisch autonom und nicht referentiell (man kann mit ihnen nicht über Gegenstände in der Welt sprechen), dennoch sind sie als sprachliche Mittel zu verstehen, die volle Sprechakte ausbilden,¹²³ verschiedenen illokutiven Typen wie Ermahnung, Zweifel oder Wunsch zugeordnet werden können.¹²⁴ Einige Interjektionen lassen sich direkt mit konkreten Gefühlen verknüpfen – „au: Schmerz, hei: Jubel, hu: Entsetzen, pfui: Abscheu, ätsch: Spott“¹²⁵ – andere wiederum sind multifunktional.¹²⁶ Trotz dieser altbekannten Zusammenhänge bilden Interjektionen ein Desiderat der Emotionsforschung. Dies liegt wahrscheinlich nicht zuletzt an ihrem sprachlichen Status, unterliegen Interjektionen doch als Signum der ge Ebd., S. 136. Johann Gottfried Herder: Über den Ursprung der Sprache. In: Ders.: Herders Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Wilhelm Dobbek, Berlin, Weimar 1969, Bd. 2, S. 77– 190, hier S. 89; vgl. a. S. 81 und 176. Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. Dritter Theil, Göttingen 1831, S. 288. Vgl. Sabine Kowal/Daniel C. O’Connell: Einleitung. In: Zeitschrift für Semiotik 26/1– 2 (2004), S. 3 – 10, hier S. 6. Vgl. Damaris Nübling: Die prototypische Interjektion. Ein Definitionsvorschlag. In: Zeitschrift für Semiotik 26/1– 2 (2004), S. 11– 46, hier S. 14 und 20. Vgl. Konrad Ehlich: Interjektionen, Tübingen 1986 (Linguistische Arbeiten 111), S. 23. Wilhelm Schneider: Stilistische deutsche Grammatik. Die Stilwerte der Wortarten, der Wortstellung und des Satzes, Basel 1959, S. 357. Vgl. a. schon Herder: „Das matte Ach! ist sowohl Laut der zerschmelzenden Liebe als der sinkenden Verzweiflung, das feurige Oh! ist sowohl Ausbruch der plötzlichen Freude als der auffahrenden Wut, der steigernden Bewunderung als des zuwallenden Bejammerns“; Herder, Ursprung, S. 81. Wie Schneider am Beispiel von o und ach veranschaulicht: „Die Stufenleiter der Gefühle reicht von schmerzlicher Sehnsucht und tiefstem Gram, Haß und Abscheu bis zu zärtlichem Wohlwollen“; Schneider, Grammatik, S. 357.
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sprochenen Sprache in der geschriebenen Literatur oft dem Verdikt schlechten Stils.¹²⁷ Gerade für die Literatur des Mittelalters mit ihrer ausgeprägten Semioralität stellen sie damit jedoch einen unverzichtbaren Forschungsbereich dar und werden in der Analyse im Rückgriff auf Grimms Systematik regelhaft berücksichtigt.¹²⁸ Über Interjektionen lässt sich zudem ein weithin vernachlässigtes Merkmal von Emotionen auf textinterner Ebene einholen: Intensität. Während in einigen Emotionsmodellen Intensität als Erregungs- und Aktivierungsgrad beziehungsweise Empfindungsqualität eine zentrale Kategorie bildet (vergleichbar mit dem Grad der Helligkeit beim Licht oder der Lautstärke eines Geräusches),¹²⁹ wird Intensität in der altgermanistischen Forschung zwar diskutiert, ist in der disziplinären Emotionsforschung aber kaum etabliert.¹³⁰ Intensität kann mit Erich Vgl. ebd., S. 360 ff. Vgl. Grimm, Deutsche Grammatik, S. 288 – 308. Vgl. unter jeweils recht unterschiedlichen theoretischen Prämissen und entsprechend divergierenden Definitionen von ‚Intensität‘: Schachter/Singer, Cognitive; Clore, Emotions; Reisenzein, Pleasure-Arousal Theory; Nico H. Frijda: The complexity of intensity. Issues concerning the structure of emotion intensity. In: Review of personality and social psychology 13 (1994), S. 60 – 89, hier bes. S. 64; Ben-Ze’ev, Intensity; Turner/Stets, Sociological Theories, S. 26 – 32; Jack W. Brehm: The Intensity of Emotion. In: Personality and Social Psychology Review 3/1 (1999), S. 2– 22; Russell, Core Affect; Scherer, What are emotions, S. 702; Schmitz, Leib, S. 203 f.; Bernard Rimé: Emotion Elicits the Social Sharing of Emotion: Theory and Empirical Review. In: Emotion review 1 (2009), S. 60 – 85, hier S. 67. Emotionen bilden nicht den primären Bezugspunkt der Intensitäts-Debatte. Hans Jürgen Scheuer konturiert Intensität im Zwischenspiel von Imagination und Vergegenwärtigung, wobei er einmal mehr visuelle Strategien im Blick hat; vgl. Hans Jürgen Scheuer: Bildintensität. Eine imaginationstheoretische Lektüre des Strickerschen Artusromans Daniel von dem Blühenden Tal. In: ZfdPh 124 (2005), S. 23 – 46, hier S. 25 f.; ein anderes Mal stärker auf Zeitstrukturen abstellt; vgl. Ders.: Gegenwart und Intensität. Narrative Zeitform und implizites Realitätskonzept im Iwein Hartmanns von Aue. In: Zukunft der Literatur, Literatur der Zukunft. Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Reto Sorg/Adrian Mettauer/Wolfgang Pross, München 2003, S. 123 – 138, hier S. 134. Michael Waltenberger versteht Intensität an Gille Deleuze orientiert allgemeiner als „Effekt eines – historisch je spezifisch geregelten – Zusammenspiels von phänomenaler und diskursiver Dimension“; Michael Waltenberger: Pikarische Intensitäten. Ein Lektüreversuch zu alteritären Aspekten der Erzählstruktur im ersten tratado des Lazarillo de Tormes. In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hrsg. von Anja Becker/Jan Mohr, Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), S. 121– 140, hier S. 129; vgl. a. schon Michael Waltenberger: Diß ist ein red als hundert. Diskursive Konventionalität und imaginative Intensität in der Minnerede Der rote Mund. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hrsg. von Horst Wenzel/Charles Stephen Jaeger, Berlin 2006 (PhSt 195), S. 248 – 274, hier S. 253. Hartmut Bleumer schließlich untersucht primär den visuellen Bereich und schließt von der narrativen Überkomplexität in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg auf eine ausgeprägte visuelle Intensität; vgl. Hartmut Bleumer: Zwischen Wort und
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Kleinschmidt als graduell verfasster Modus unterschiedlicher Wirkungsgrade von Empfindung und Kognition bestimmt werden, die greifbar wird in einer „Ästhetik des Intervalls“ und eine „lesbare Intensitätsspur“¹³¹ in der Sprache hinterlässt entlang von Prozessen der Verdichtung und Verstärkung oder anhand von Indikatoren wie Metaphorik, Klimax, Komparation und Modifikation durch Adverbien und Adjektive. Obgleich Kleinschmidt darauf hinweist, dass Sprache und Schrift, möchten sie Emotionen ausdrücken, qualitativ und quantitativ auf diese Möglichkeiten der Graduierung zurückgreifen müssen,¹³² ist Intensität bei ihm in erster Linie eine kulturpoetische Denkfigur, der emotionale Aspekt steht nicht im Vordergrund. Dennoch lässt sich sein Ansatz für die Analyse von Emotionen in Texten produktiv machen. Versteht man mit Kleinschmidt Intensität als Ästhetik des Intervalls, geben Frequenz und Dichte von Emotionsdarstellungen, Interjektionen, Metaphern und anderen rhetorischer Figuren einen Hinweis darauf, dass die entsprechende Episode von hoher emotionaler Intensität gekennzeichnet ist. Dabei können gerade Interjektionen als „intensifiers“¹³³ dienen, da sie eine amplifizierende Wirkung besitzen. Auch für Metaphern gilt die Faustregel, je intensiver die geschilderte Emotion, desto häufiger werden Metaphern eingesetzt, um sie zu beschreiben.¹³⁴ Ihre volle Breitenwirkung indes entfaltet Intensität erst mit Blick auf die Ebene der Rezipierenden.
Bild. Narrativität und Visualität im Trojanischen Krieg. In: Zwischen Wort und Bild. Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter. Hrsg. von dems. u. a., Wien, Köln, Weimar 2010, S. 109 – 156, hier S. 113. In allen skizzierten Ansätzen stehen somit Wahrnehmungsprozesse im Vordergrund. Eine Extremposition hingegen formuliert der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer in seiner Polemik gegen die Erforschung von Gefühlen unter dem Titel Intensität ist kein Gefühl, in der er die Kategorie als Kennzeichen und Eigenschaft von Emotionen zurückweist und sie allein als Effekt künstlerischer Formgebung und als ästhetische Kategorie beschrieben wissen will; vgl. Karl Heinz Bohrer: Intensität ist kein Gefühl. Nietzsche contra Wagner als Lehrbeispiel. In: Merkur 38 (1984), S. 138 – 144, hier S. 138. Erich Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 84 und 68; vgl. a. S. 23; 77; 83 f., 87; 97 und 120. Vgl. ebd., S. 77. Neal R. Norrick: Interjections as pragmatic markers. In: Journal of Pragmatics 41 (2009), S. 866 – 891, hier S. 880. Fügt man etwa der Aussage ‚Ich freue mich‘ ein ‚Oh – wie freue ich mich‘ hinzu, steigt der angezeigte Freudigkeitsgrad; vgl. Klaus R. Scherer: Affektlaute und vokale Embleme. In: Zeichenprozesse. Semiotische Forschung in den Einzelwissenschaften. Hrsg. von Roland Posner/Hans-Peter Reinecke, Wiesbaden 1977 (Schwerpunkte Linguistik und Kommunikationswissenschaft 14), S. 199 – 214, hier S. 203.Vgl. ähnlich a. Nübling, Interjektion, S. 18 f. Vgl. Winko, Kodierte Gefühle, S. 105; die sich hier auf die Alltagssprache bezieht.
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4.3.2 Textexterne Ebene: Rezeptions-Stimuli Bisher wurden nur Wechselwirkungen zwischen Emotionen auf textinterner Ebene und dem kulturellen Kontext besprochen, in dem sie entstehen. Literatur ruft ihrerseits aber auch Emotionen hervor, wie dieser Dialog zwischen Platon und Sokrates illustriert: So höre und überlege. Wenn die besten von uns dem Homer oder einem anderen tragischen Dichter zuhören, der einen Heros nachahmt, wie er in seinem Jammer eine lange Klagerede von sich gibt, oder wie Helden singen und sich die Brust schlagen, dann haben wir, das weißt du, Freude daran, geben uns ganz dem hin und folgen voller Mitgefühl. Und wer uns am meisten in diese Stimmung versetzt, den loben wir in allem Ernst als einen guten Dichter. ‚Ja, das weiß ich allerdings.‘ Trifft uns aber ein eigener Schmerz, dann kannst du doch bemerken, daß wir uns gerade das Gegenteil zur Ehre machen, wenn wir nämlich ruhig bleiben und standhaft ertragen können, weil das männlich, das andere aber, das wir im ersten Fall lobten, weibisch sei. ‚Ja, das weiß ich‘, sagte er. Hat es nun wohl mit diesem Lob seine Richtigkeit? fuhr ich fort; man sieht also einem Manne zu, der ein Betragen zeigt, das man sich selber nicht erlauben und dessen man sich schämen würde; doch man wendet sich nicht entrüstet ab, sondern freut sich darüber und lobt ihn?¹³⁵
Eine komplexe Kette emotionaler Zustände wird greifbar, die von der dargestellten Klage über die hervorgerufene Lust bis hin zu Scham in der Reflexion des Philosophen reicht. Tangiert wird der Sonderfall jener Emotionen, die durch ein Artefakt im Akt der Rezeption hervorgerufen werden. Sie unterscheiden sich von alltagsweltlichen, auf die konkrete Umwelt gerichteten Emotionen insbesondere mit Blick auf die persönliche Betroffenheit und die motivationale Wirksamkeit, ist das Objekt der Emotion doch ein fiktives, so dass etwa typische Handlungsimpulse wie der Furcht-Flucht-Konnex fehlen.¹³⁶ Distinktes Merkmal ästhetischer
Platon: Der Staat. Politeia. Griechisch/Deutsch. Hrsg. von Thomas Alexander Szlezák. Übers. von Rüdiger Rufener. Düsseldorf, Zürich 2000 (Sammlung Tusculum), X 605c-e, S. 838 – 841. Vgl. John Morreall: Enjoying Negative Emotions in Fictions. In: Philosophy and Literature 9 (1985), S. 95 – 103, hier S. 100. Klaus R. Scherer grenzt deshalb utilitaristische Emotionen wie Trauer, Scham und Schuld von ästhetischen Emotionen wie Bewunderung und Faszination ab, da nur erstere eine adaptative, auf die Bewältigung der Umwelt gerichtete Funktion erfüllen; vgl. Scherer, What are emotions, S. 706 f.; Ders.: Which Emotions Can be Induced by Music? What Are the Underlying Mechanisms? And How Can We Measure Them? In: Journal of New Music Research 33 (2004), S. 239 – 251. Die Begriffsbildung ist jedoch nicht unproblematisch, da sie zwei wesensmäßig verschiedene Typen von Emotionen propagiert, die in der Trennschärfe nicht auseinanderzuhalten sind. Ed Tan etwa setzt ebenfalls das Objekt der Emotion als Differenzkriterium, ergänzt jedoch artefact-based um fiction-based emotions, so dass neben den von
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Erfahrung ist dabei nach Nico H. Frijda, dass sie in einer eher sicheren Umgebung stattfindet und in der Regel mit einer positiven Grundstimmung verbunden ist.¹³⁷ Die Rezeptions-Situation ist eine kontrollierbare, was Einfluss auf das Gefühlserleben nimmt.¹³⁸ Traditionell wird ästhetische Erfahrung allererst als Gratwanderung zwischen Lust und Unlust beschreiben, wobei bezeichnend ist, dass neben dem Schönen das Schreckliche zu einer Quelle der Lust werden kann.¹³⁹ Ein Exempel für diese merkwürdige Schaulust gibt Augustinus, wenn er schildert, wie Alypius widerwillig das Schauspiel des Gladiatorenkampfes betrachtet: quo ubi ventum est et sedibus, quibus potuerunt, locati sint, fervebant omnia inmanissimis voluptatibus. ille clausis foribus oculorum interdixit animo, ne in tanta mala procederet. atque utinam et aures opturavisset! nam quodam pugnae casu, cum clamor ingens totius populi vehementer eum pulsasset, curiositate victus et quasi paratus, […] aperuit oculus. et percussus est graviore vulnere in anima quam ille in corpore […]. ut enim vidit illum sanguinem, immanitatem simul ebibit et non se avertit, sed fixit aspectum et hauriebat furias et nesciebat, et delectabatur scelere certaminis et cruenta voluptate inebriabatur. Als man nun angekommen war und sich […] niedergesetzt hatte, flackerte überall bereits die wildeste Lust. Er aber schloß die Pforten seiner Augen und untersagte seinem Geist, an diesen Greueln Anteil zu nehmen. Hätte er doch auch seine Ohren verstopft! Denn was geschah? Als bei einem Zwischenfall des Kampfes das ganze Volk in ungeheures Geschrei ausbrach, wurde er so erschüttert, daß er, von Neugier überwunden […] die Augen aufschlug. Da ward seiner Seele eine schwerere Wunde geschlagen als dem Leib dessen, den zu sehen ihn gelüstete […]. Denn sobald er das Blut sah, durchdrang ihn wilde Gier, konnte er sich nicht mehr abwenden, sondern war von dem Anblick wie gebannt, schlürfte Wut ein und wußte es selbst nicht, hatte seine Wonne an dem frevlen Kampf und berauschte sich an grausamer Wollust.¹⁴⁰
Scherer gemeinten spezifisch ästhetischen Emotionen auch eigentlich utilitaristische Emotionen wie Freude oder Trauer in den Blick rücken, die allerdings nicht durch die Umwelt, sondern durch die dargestellte Handlung hervorgerufen werden; vgl. Ed S.-H. Tan: Film-induced affect as a witness emotion. In: Poetics 23 (1994), S. 7– 32, hier S. 13. Vgl. Nico H. Frijda: Aesthetic emotion and reality. In: American Psychologist 44 (1989), S. 1546 – 1547, hier S. 1546 f. Vgl. Morreall, Negative Emotions, S. 97. Vgl. Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 1998, S. 70 und 114. So konstatiert bereits Aristoteles: „Von den Dingen nämlich, die wir selbst nur mit Widerwillen anschauen, betrachten wir Abbildungen […] mit Vergnügen, wie zum Beispiel die Gestalten abscheulichster Kreaturen und toter Körper“; Aristoteles: Poetik. Übers. und erl. von Arbogast Schmitt. Berlin 2008 (Werke in deutscher Übersetzung 5), 4, 1448b10 – 12, S. 6. Aurelius Augustinus: Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch. Hrsg. und übers. von Wilhelm Thimme. Düsseldorf, Zürich 2004 (Sammlung Tusculum), VI 13, S. 234 f.
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Ein narrativ verhandeltes Unlust-Thema ruft Lust-Erfahrungen hervor – in der ästhetischen Distanz können Freude und Gefallen empfunden werden an Themen, mit denen man sich in der Alltagswelt, erst recht in der eigenen Erfahrungswelt, lieber nicht beschäftigen möchte wie Tod, Krankheit oder eben auch Inzest.¹⁴¹ Nach Thomas Anz bezieht Literatur einen „Großteil ihrer Anziehungskraft […] seit jeher aus der Faszination des Schrecklichen“¹⁴², wobei, so Baisch, „für Faszination die Bewertung etwas Unbekanntes oder Ungewisses in einer eigentlich bekannten Domäne als zentral anzusehen ist.“¹⁴³ Es ist nun gerade Spezifikum der Inzestthematik, dass sie im Regelfall nicht der eigenen Erfahrungswelt entspringt, zugleich aber in bekannten Domänen (Verwandtschaft, Sexualität) verortet werden kann – in der kontrollierbaren Situation der Rezeption vermag sie also potentiell Faszination auszulösen. Ob die Inzestthematik die mittelalterlichen Rezipierenden tatsächlich fasziniert hat, lässt sich indes nicht mit Sicherheit klären. Anders als der Neugermanistik ist der Altgermanistik empirische Forschung auf immer verschlossen, wie Armin Schulz polemisch, aber treffend anmerkt: „Weder mit Toten noch mit literarischen Figuren kann man psychologische Experimente durchführen.“¹⁴⁴ Da in der Regel auch überlieferte Rezeptionszeugnisse fehlen, müsse man, so Manuel Braun, mit einer black box operieren.¹⁴⁵ Was der Forschung indes überliefert ist, sind die literarischen Texte selbst, die ihrerseits als ‚Zeugnisse‘ der Auseinandersetzung mit der Inzestthematik verstanden werden können. Schon in der antiken Rhetorik werden Form-Funktions-Zusammenhänge formuliert, die Texte als „Kombination kalkuliert eingesetzter und erlernbarer Techniken zur Emotionalisierung des Rezipienten“¹⁴⁶ fassen. Die von Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser begründete Rezeptionsästhetik geht von der Prämisse aus, dass Sinn und Bedeutung von Texten und ihren prinzipiell polyvalenten Merkmalen erst im Akt der Rezeption durch Kontingenzreduktion und Kohärenzproduktion hergestellt werden,¹⁴⁷ wobei sich die
Vgl. Morreall, Negative Emotions, S. 95; 97 und 101; Christoph Klimmt: Was ist die Funktion von Tod und Sterben in medialer Unterhaltung? In: Publizistik 54 (2009), S. 415 – 430, hier S. 417. Anz, Literatur, S. 125. Baisch, Immersion, S. 70. Schulz, Erzähltheorie, S. 112; vgl. hierzu a. Koch, Bewegte Gemüter, S. 35. Vgl. Braun, Trauer, S. 60. Anz, Kulturtechniken, S. 220; in mediävistischer Perspektive vgl. Gert Hübner: evidentia. Erzählformen und ihre Funktionen. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland/Matthias Meyer, Berlin, New York 2010 (TMP 19), S. 119 – 147. Vgl. Margit Schreier: Textwirkungsforschung/Empirische Literaturwissenschaft. In: Methodengeschichte der Germanistik. Hrsg. von Jost Schneider, Berlin, New York 2009, S. 721– 746,
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Studie insbesondere für jene Textmerkmale interessiert, „die in herausgehobener Weise die Qualität einer angestrebten Rezeption oder Wirkung benennen, etwa den begleitenden Affekt oder dergleichen.“¹⁴⁸ Diese sind, ebenso wie die Techniken der klassischen Rhetorik, dem Paradigma der Performativität affin, das in Anlehnung an Kasten und Eming als theoretisches Leitkonzept entlang der These behandelt wird, dass literarische Emotionsdarstellungen ein wirklichkeitskonstituierendes Potential besitzen, das sich anhand von rhetorischen Verfahren im Text interpretativ rekonstruieren lässt.¹⁴⁹ Entsprechend gilt es, in den Text eingeschriebene, potentiell emotionsauslösende „Rezeptions-Stimuli“¹⁵⁰ zu identifizieren, „deren künstliche bzw. künstlerische Machart darauf angelegt ist, […] bestimmte Emotionen hervorzurufen“¹⁵¹. Sie werden in der vorliegenden Studie in Abgrenzung zur ‚textinternen‘ als ‚textexterne Ebene‘ bezeichnet und der Begriff ‚affizieren‘¹⁵² genutzt, um zu markieren, dass eine rhetorische oder narrative Strategie darauf zielt, Emotionen bei den Rezipierenden zu evozieren. Ob diese Emotionen tatsächlich evoziert wurden, muss dahingestellt bleiben – auch wenn mit Anz davon ausgehen werden kann, dass „literarische Kommunikationsprozesse aufgrund eingespielter Mechanismen, Regeln und Konventionen […] einigermaßen ‚gelingen‘, wenn Autor und Leser unter annähernd gleichen kulturellen Voraussetzungen agieren“¹⁵³, bewegt sich die Analyse hier stets in einem Wahr-
hier S. 721. Vgl. grundlegend Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1971, hier S. 6; Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz 1967 (Konstanzer Universitätsreden 3); im Überblick vgl. Warning, Rezeptionsästhetik; Hans-Edwin Friedrich: Rezeptionsästhetik/Rezeptionstheorie. In: Methodengeschichte der Germanistik. Hrsg. von Jost Schneider, Berlin, New York 2009, S. 597– 628. Wilfried Barner: Pioniere, Schulen, Pluralismus. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft, Tübingen 1997, S. 339. Vgl. Eming, Emotionen, S. 263. Alfes, Literatur, S. 103; von der der Begriff im Folgenden übernommen wird. Anz, Kulturtechniken, S. 216. In der semantischen Binnendifferenzierung des Gefühlswortschatzes steht ‚Affekt‘ für heftige, körperbetonte emotionale Reaktionen und wird in der mediävistischen Forschung häufig in seinem historisch spezifischen Sinn als äquivalenter Sammelbegriff zu Emotion genutzt; vgl. Koch, Bewegte Gemüter, S. 37 f. und Fn 26, S. 38; Frevert, Gefühle, S. 30 f. Die vorliegende Studie hält am Term ‚Emotion‘ als Leitbegriff fest und verwendet das Verb ‚affizieren‘ im Wortsinn von lat. afficere für „erregen/anregen“, „einwirken“, „reizen“ heuristisch, um eine terminologische Differenzierung zwischen textinterner und textexterner Ebene zu gewährleisten. Zur Verwendung von ‚emotionalisieren‘ siehe in Abgrenzung Kap. 5. Zum Bedeutungsspektrum von ‚Affekt‘ und ‚affizieren‘; vgl. Art. ‚affizieren‘, in: Duden, S. 33; Art. ‚Affekt‘, in: Kluge, S. 19. Anz, Kulturtechniken, S. 218; vgl. zu Folgendem a. Eming, Emotionen, S. 263.
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scheinlichkeitsbereich und muss prinzipiell in Kauf nehmen, dass die faktischen Emotionen der Rezipierenden von den intendierten abweichen. Dieser methodische Ansatz dürfte für einige ästhetische Emotionen relativ unstrittig sein. So zeichnet sich beispielsweise Faszination, verstanden als „zeitlich gestreckte emotionale Reaktion auf eine atypische Situation, die hinsichtlich der eigenen fundamentalen Handlungsziele als kontrollierbar bewertet wird, deren weitergehende Bewertung […] aber instabil und unsicher ist“¹⁵⁴, durch eine ausgeprägte Zuwendung zum emotionsauslösenden Stimulus aus, die Aufmerksamkeit bindet. Entsprechend lässt sich am Text überprüfen, welchen Erzählelementen und -gegenständen besonders viel Aufmerksamkeit zukommt, was also sehr detailliert und ausführlich zur Darstellung kommt. Auch Spannung kann nicht allein kognitionspsychologisch als Affektstruktur, sondern auch literaturwissenschaftlich als typische Erzählstruktur beschrieben werden, bei der ein initiales Schlüsselereignis gesetzt wird, das sich im weiteren Verlauf als gut oder schädlich erweisen kann, um so die „spannende Frage zu erzeugen (deren Beantwortung durch Hindernisse o. ä. verlängert werden kann), ob, wann und wie die erwarteten Folgen denn nun eintreten werden.“¹⁵⁵ Kritik hingegen erfährt in der Altgermanistik insbesondere das Postulat sogenannter ‚Ansteckungsphänomene‘, also die Annahme, (dargestellte) Emotionen der Figuren übertrügen sich auf die Rezipierenden, die sich mit den Figuren fürchten, freuen oder schämen. Zu Recht wird vor einem vorschnellen „Kurzschluss von der textanalytisch ermittelbaren Figurenemotion auf die Leseremotion“¹⁵⁶ gewarnt, eine notwendige Differenzierung verschiedener Stimuli (Figur versus Situation) oder auch bestimmter Emotionen (Furcht versus Eifersucht) angemahnt. Dabei ist wohl weniger fraglich, dass es in der Rezeption zu einer gefühlsmäßigen Bewertung des Rezipierten kommt,¹⁵⁷ als vielmehr, wie sich die hervorgerufenen zu den im Text dargestellten sowie zu alltagsweltlichen Emotionen verhalten.
Baisch, Immersion, S. 70. Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 72007 (C. H. Beck Studium), S. 152, vgl. a. S. 151. Katja Mellmann: Gefühlsübertragung? Zur Psychologie emotionaler Textwirkungen. In: Machtvolle Gefühle. Hrsg. von Ingrid Kasten, Berlin, New York 2010 (TMP 24), S. 107– 119, hier S. 110; für Folgendes vgl. a. S. 113 und 116 f. Vgl. ähnlich a. Rüdiger Schnell: Erzähler – Protagonist – Rezipient im Mittelalter. Oder: Was ist der Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung. In: IASL 33/2 (2008), 2, S. 1– 51, hier S. 11 und 14. Schnell entwickelt allerdings im Anschluss selbst Kategorien, die eine Annäherung an den Gegenstand erlauben. Vgl. daneben a. Braun, Trauer, S. 60; Schulz, Erzähltheorie, S. 112. Vgl. Jan Boelmann: Leseforschung. In: Methodengeschichte der Germanistik. Hrsg. von Jost Schneider, Berlin, New York 2009, S. 309 – 321, hier S. 310.
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Hierfür ist zunächst die mediale Rezeptionssituation zu klären. So führt Katja Mellmann in ihrer literaturwissenschaftlichen Kritik von Ansteckungsphänomen aus: Ein Film mag mit der Großaufnahme eines verzweifelt wehklagenden Gesichts tatsächlich so etwas wie einen Ansteckungsreflex bewirken […]. Denn das Medium Film verfügt über genau den audio-visuellen Informationskanal, über den die fraglichen Emotionssignale wirken. Im Fall von Literatur sind Ansteckungseffekte viel schwierigier zu erzielen. Zu lesen (bzw. erzählt zu hören), dass eine Figur verzweifelt […] weint, und es sich lebhaft vorzustellen, hat nicht annähernd die Wirkung eines bewegten Bildes mit dazu passender Tonspur.¹⁵⁸
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche affektiven Potentiale sich mit der Rezeption mittelhochdeutscher Literatur verbinden. Sie ist in der semioralen Kultur des Mittelalters primär auditiv; nicht das Lesen, sondern das Hören ist der übliche Wahrnehmungskanal. Nach Erich Schön geht die Erfindung des stillen Lesens mit einem Verlust sinnlicher Erfahrung einher, der Körper wird zunehmend vom Rezeptionserleben ausgeschlossen,¹⁵⁹ so dass sich im Vergleich ein affektiver Mehrwert des lauten Vortrags ergibt. Hinzu tritt die meist versifizierte Form. Schon in der klassischen Rhetorik ist Grundannahme, dass Reim und Rhythmus Worten magische Kraft verleihen.¹⁶⁰ Sie lenken nicht nur Wahrnehmung und erleichtern Memorierbarkeit, sie wirken, wie empirische Forschungen evident machen, auch und in erster Linie affizierend.¹⁶¹ Mit Raoul Schrott und Arthur Jacobs lässt sich sagen: In einer oralen Gesellschaft zu denken heißt […], seine Gedanken auf durchrhythmisierten, symmetrischen Strukturen aufzubauen: auf Repetitionen und Antithesen, Alliterationen und Assonanzen, Epitheta und formelhaften Ausdrücken, auf Sprichwörtern und Maximen […]. Diese Art zu denken ist weit körperlicher, als wir es von der Schrift gewohnt sind: sie geht weit stärker auf Emotionen als homöostatisch abgespeicherte Erfahrungswerte zurück […]. Keiner unserer Sinne wirkt so stark auf uns wie das Gehör, so direkt in uns hinein […]. Das Sehen isoliert; das Hören inkorporiert.¹⁶²
Mellmann, Gefühlsübertragung, S. 113. Vgl. Erich Schön: Mentalitätsgeschichte des Leseglücks. In: Leseglück. Eine vergessene Erfahrung? Hrsg. von Alfred Bellebaum/Ludwig Muth, Opladen 1996, S. 151– 179, hier S. 173. Vgl. Schrott/Jacobs, Gehirn und Gedicht, S. 353. So weist eine Forschergruppe um Christian Obermeier experimentell nach, dass Reime signifikant ästhetisches Wohlgefallen und emotionale Intensität beeinflussen; ein reguläres Metrum hat einen ähnlichen, die Lexik hingegen keinen vergleichbaren Effekt; vgl. Christian Obermeier u. a.: Aesthetic and emotional effects of meter and rhyme in poetry. In: Frontiers in Psychology 4/10 (2013), S. 1– 10, hier: S. 6 f. Schrott/Jacobs, Gehirn und Gedicht, S. 378 und 383 f.
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Über Symmetrie und Rhythmus rücken für die mittelalterliche Erzählkunst Techniken wie Wiederholung und Kontrast in den Fokus. So fährt Ghattas in seinem bereits angeführten Zitat fort: Schließt man sich Bumkes Ausführungen an […], dann ist diese Literatur […] mit Blick auf eine relativ homogene Gruppe von Rezipienten konzipiert. Für Hörende und Lesende nämlich, die zumindest in den grundsätzlichen visuellen und kinästhetischen Wahrnehmungserfahrungen miteinander übereinstimmen […]. Das bedeutet, dass jedes Wort die zur Kommunikation notwendige Grundvorstellung als multimodale Sinnesdaten zur Verfügung stellt, und dass sich diese Vorstellungen aufgrund des vergleichbaren Erfahrungsraums der Rezipierenden ähneln […]. Ihr akustisches und imaginatives Erleben ist daher von Überraschungen, Kontrasten und Wiedererkennen geprägt […].¹⁶³
Für das ästhetische Empfinden kommt solchen Wiederholungsmustern im Spannungsfeld von Gleichförmigkeit und Abweichung zentrale Funktion zu, wobei Kontrast und Klarheit zusätzlich steigernd wirken können.¹⁶⁴ Aus kognitiver Perspektive werden Emotionen typischerweise durch einen plötzlichen Wandel in der Umwelt ausgelöst, die Signifikanz eines Ereignisses ist ausschlaggebend für die Intensität einer Emotion.¹⁶⁵ Abweichungen und Überraschungen wirken in dieser Lesart intensitätssteigernd, so dass Strategien wie Wiederholung, Kontrast und Überraschung als Techniken beschrieben werden können, die in der auditiven Rezeption eine starke Reizwirkung besitzen. Neben inhaltlichen, lautlichen und stilistischen Reminiszenzen und Divergenzen können so etwa Brüche im Reimschema (wie ein Drei- oder Vierreim in einem eigentlich paargereimten Epos) als rezeptionslenkende Gliederungsmittel verstanden werden, die den Vers, der ‚aus der Reihe fällt‘, hervorheben. Auch Leer- und Unbestimmtheitsstellen (wie Ellipse oder Rätsel), die Rezipierende dem Postulat der Rezeptionsästhetik nach „dauernd auffüllen beziehungsweise beseitigen“¹⁶⁶, Ghattas, Rhythmus, S. 14. Vgl. Anz, Literatur, S. 87; aus empirischer Perspektive vgl. Helmut Leder u. a.: A model of appreciation and aesthetic judgements, in: British Journal of Psychology 95 (2004), S. 489 – 508, hier S. 494 ff. Vgl. Ben-Ze’ev, Intensity, S. 511; Clore, Emotions, S. 386 f. und 390 f. Vgl. a. die Begriffe backgrounding (Hintergrundelemente wie Repertoire, vertraute Begriffe, Normen, Erwartungshorizont) und foregrounding (Vordergrundmittel wie Stilmittel, Tropen, Verfremdung); vgl. im Überblick Schrott/Jacobs, Gehirn und Gedicht, S. 495. Iser, Appellstruktur, S. 15. Ein Set an Unbestimmtheitsstellen referiert Rainer Warning: „Störungen im Aufbau der intentionalen Satzkorrelate, Schnitt-, Montage- und Segmentiertechniken, Erzählerkommentare, die die Geschichte perspektivisch auflösen, dem Leser ein breitspektriges Bewertungsangebot offerieren, Überpräzisierungen des Darstellungsrasters, die das Bedürfnis des Lesers nach Konsistenzbildung irritieren, schließlich Verfremdungstechniken im weitesten Sinn“; Warning, Rezeptionsästhetik, S. 32. Dieses Set macht deutlich, dass in der ur-
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lassen sich als aufmerksamkeitslenkende und intensitätssteigernde RezeptionsStimuli begreifen. Vor allem aber sind vor dem von Schrott und Jacobs beschriebenen Hintergrund immersive Effekte anzunehmen,¹⁶⁷ die mithin die Voraussetzung dafür bilden, dass Rezipierende in der Erzählwelt versinken und mit den Figuren ‚mitfühlen‘. Der ästhetische Begriff ‚Immersion‘ stellt auf Präsenzeffekte eines als „ganzheitliches Erlebnis verstandenen Eintauchens in eine medial erzeugte Bildwelt“¹⁶⁸ ab, ein „Zustand von Selbstvergessenheit und emotionaler Involviertheit“¹⁶⁹. Dieser wird durch den auditiven Rezeptionsfluss begünstigt. Neurologisch und kognitiv betrachtet ist die Aufmerksamkeitsspanne beim Zuhören durch den akustischen Arbeitsspeicher und das Kurzzeitgedächtnis begrenzt,¹⁷⁰ die Vorstellungskraft fluktuiert nicht frei, sie fließt mit dem Vortrag.¹⁷¹ Dabei ist für die faktische Aufführungssituation davon auszugehen, dass es zu Störungen und Unterbrechungen kommt,¹⁷² der Rezeptionsfluss also punktuell gestört wird. Dieser Störeffekt wird aber gewissermaßen ausgeglichen durch die physische Anwesenheit des Vortragenden, durch die die Rezeption ein interaktionales Moment erhält. Sie erschöpft sich nicht im rein Auditiven, vielmehr ist die mittelalterliche Rezeptionssituation als multisensorisches und leiblich-emotionales Erleben zu beschreiben.¹⁷³ Damit ist der mediale Grundstein gelegt, der eine Affizierung der Rezipierenden möglich und wahrscheinlich macht. Nicht geklärt ist indes, wie sich die durch den Text hervorgerufenen zu den im Text dargestellten Emotionen verhalten. So fährt Mellmann fort: Auch wenn ich mir lebhaft vorstellen kann, wie das lyrische Ich in Goethes Willkomm und Abschied liebt, welch qualvolle Eifersucht Woyzeck empfindet oder unter welcher Belastung Thomas Buddenbrook steht – so lebhaft, dass ich es schier selbst zu spüren meine –, so bin
sprünglichen Konzeption das Primat moderner Literatur herrscht. Doch lassen sich auch in der mittelhochdeutschen Literatur verwendete Formen und Figuren wie Rätsel und Ellipse als Leerstellen fassen. Zum Teil auch ‚Transportation‘, vgl. Schreier, Textwirkungsforschung, S. 738. Balász J. Nemes: Der involvierte Leser. Immersive Lektürepraktiken in der spätmittelalterlichen Mystikrezeption. In: LiLi 42/167: Immersion im Mittelalter (2012), S. 38 – 62, hier S. 40 f. Baisch, Immersion, S. 66. Vgl. Schrott/Jacobs, Gehirn und Gedicht, S. 379 f. Vgl. Ghattas, Rhythmus, S. 14. Vgl. Harald Haferland: Gibt es einen Erzähler bei Wickram? Zu den Anfängen modernen Fiktionsbewusstseins. In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der WickramForschung. Hrsg. von Maria E. Müller/Michael Mecklenburg, Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 361– 394, hier S. 361. Vgl. Christina Lechtermann: Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur um 1200, Berlin 2005 (PhSt 191), S. 110 – 113.
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ich doch trotzdem selbst weder verliebt noch eifersüchtig noch überlastet. […] Ich kann mir die Eifersucht einer literarischen Figur noch so lebhaft mental repräsentieren, ich werde nie sagen können: nun bin ich selbst eifersüchtig.¹⁷⁴
Diese Differenzierung hat in der Forschung Tradition. Da das Objekt der Emotion ein fiktives ist, so etwa Kendall L. Walton, kann nur von einer (zwar existenten, aber substantiell verschiedenen) ‚Quasi-Emotion‘ gesprochen werden, Colin Radford hält solche Gefühle für möglich, aber irrational und inkohärent.¹⁷⁵ Mit John Morreall hingegen lässt sich gegen Walton und Redford ins Feld führen, dass sie das kognitive Moment (also das Kriterium der Wahrheit und faktischen Richtigkeit als Konstituens von Emotionen) zu stark betonen und die Kraft der Imagination vernachlässigen.¹⁷⁶ Sich etwas vorzustellen meine nicht, dass es sich um schlichte Einbildung handelt, vielmehr können Erinnerungen oder antizipierte Situationen ebenso Emotionen stimulieren.¹⁷⁷ So ließe sich Mellmann mit Slaby entgegnen: Wieso soll es denn z. B. einem Marcel Proust nicht gelingen, uns die Eifersucht auf dem Weg literarischer Beschreibungen derart nahe zu bringen, dass wir fortan wissen, wie es ist eifersüchtig zu sein? Mir scheint sogar, dass ein aufmerksamer und verständiger Proust-Leser, der noch nie selbst Eifersucht erlebt hat, durchaus besser wissen kann, wie es ist, eifersüchtig zu sein, als z. B. jemand, der zwar schon einmal eifersüchtig war, aber weder über eine besondere Feinfühligkeit noch über ein besonders hohes Artikulationsniveau, sondern dafür über die Neigung verfügt, unangenehme Erfahrungen zu verdrängen oder gar nicht erst an sich heran zu lassen.¹⁷⁸
Mellmann, Gefühlsübertragung, S. 116 f. Vgl. Kendall L.Walton: Fearing Fictions. In: Journal of Philosophy 75/1 (1978), S. 5 – 27, hier S. 6 und 10; Colin Radford/Michael Weston: How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina? In: Proceedings of the Aristotelian Society. Supplementary Volumes 49 (1975), S. 67– 93, hier S. 78. Vgl. Morreall, Negative Emotions, S. 100. Vgl. ähnlich a. Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 9 f. Dies gilt auch jenseits von Literatur, wie Slaby unter dem Stichwort ‚kognitive Undurchdringlichkeit‘ diskutiert. Eine Emotion kann selbst dann Bestand haben, wenn der Fühlende weiß, dass sie unangemessen und ‚falsch‘ ist, sozusagen eine ‚Persistenz wider besseren Wissens‘; vgl. Slaby, Gefühl, S. 233. Man kann Angst vor Spinnen haben, obgleich von ihnen keine reale Gefahr ausgeht, Angst vorm Fliegen, obgleich es sich um sicheres Transportmittel handelt, man kann eine Person lieben, von der man längst erkannt hat, dass sie nicht liebenswert ist, und eifersüchtig auf einen Nebenbuhler sein, der längst Geschichte ist. Ebd., S. 318.
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In diesem Sinn wird in vorliegender Studie das Verhältnis von textinternen und textexternen Emotionen mit Anz gefasst, der mit Rekurs auf Jurij M. Lotman ausführt, dass sich Literatur analog zum Spiel verhalte: Beide bewegen sich in Modellen der Wirklichkeit und der Lebenspraxis. Beide beruhen dabei auf der ‚Fertigkeit, sich zweischichtig zu verhalten‘, und zwar vor allem in emotionaler Hinsicht. Den im Spiel modellhaft dargestellten Tiger fürchtet das Kind ‚ein wenig, d. h. es hat gleichzeitig Angst und keine Angst‘. Ähnlich werden vom Leser ‚gleichzeitig zwei Verhaltensweisen realisiert: er erlebt alle Emotionen, die eine analoge praktische Situation hervorrufen würde, und ist sich zur gleichen Zeit doch klar bewußt, daß die mit dieser Situation verbundenen Handlungen (z. B. dem Helden Hilfe zu erweisen) nicht ausgeführt werden dürfen‘.¹⁷⁹
Ausschlaggebend für einen emotionalen Respons der Rezipierenden sei weniger, wie neben Morreall auch Illouz insistiert, ob ein Sachverhalt wahr oder falsch, existent oder imaginiert sei, sondern wie lebendig und eindrücklich er vor Augen stehe.¹⁸⁰ Dieses Diktum lässt sich mit der aus der antiken Rhetoriktradition stammenden, im Mittelalter populären evidentia-Lehre kurzschließen, die darauf zielt, eine Sache oder Angelegenheit durch die Prinzipien der Klarheit und Wahrscheinlichkeit dergestalt darzustellen, dass sie ‚vor Augen zu stehen‘ scheint.¹⁸¹ Schon Platon unterscheidet die Darstellungsmodi Diegese und Mimesis.¹⁸² Die Mimesis, die später Aristoteles zum Dichtungsideal und zur Voraussetzung der Lust-Erfahrung durch Kunst erklärt,¹⁸³ folgt einer nachahmenden Darstellungsweise, ihre reinste Form ist der (kontextlose) Dialog oder Monolog, der die Illusion erzeugt, dass eine oder mehrere Figuren sprechen, denen die Rezipierenden lauschen (man könnte es auch einen ‚Schlüssellocheffekt‘ nennen, der immersive Effekte befördert).¹⁸⁴ Die Diegese ist geprägt vom Bericht des Dichters, als dessen Rede sich die Erzählung zeigt, und besitzt gegebenenfalls ebenfalls immersives Potential. So können beispielweise descriptiones als „intensive Phantasmen, Präsensphantasmen“ und Strategien einer „imaginative[n] Intensivierung“¹⁸⁵ wirken, bei denen „die Sache den Augen durch die Ohren vergegenwärtigt“¹⁸⁶ wird. Daneben rückt der Topos der Augenzeugenschaft in den
Anz, Literatur, S. 53; die Zitate im Zitat stammen aus: Jurij M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt a. M. 1973 (es 582), S. 104. Vgl. Morreall, Negative Emotions, S. 100; Illouz, Liebe, S. 379 und 382. Vgl. Hübner, evidentia, S. 123. Vgl. Platon, Politeia III 392c-394c, S. 208 – 215. Vgl. Aristoteles, Poetik 4, 1448b4– 9, S. 6; 24, 1460a5 – 18, S. 35; 26, 1462b10 – 16, S. 41. Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, München 21998 (UTB 8083), S. 123. Baisch, Immersion, S. 74. Hübner, evidentia, S. 124.
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Blick, der als Strategie der Authentisierung die Rezipierenden zu „Augenzeugen einer Augenzeugenschaft“¹⁸⁷ macht. Während in diesen Fällen die Illusion von Gegenwärtigkeit geschaffen wird, können auf der anderen Seite Mittelbarkeit und Distanz zum Erzählten durch Raffung erzeugt werden.¹⁸⁸ Auch Metaphern können als Indikatoren herangezogen werden. Sie korrelieren schon nach Aristoteles aufs Engste mit Lustgefühlen und dem Eindruck von Schönheit,¹⁸⁹ und werden in der römischen Rhetoriktradition der Trias von docere („belehren“), delectare („erfreuen“) und movere („bewegen, emotionalisieren, erschüttern“) dienbar gemacht.¹⁹⁰ Movere zielt konkret auf die Erregung starker Affekte, die sich, wie Cicero in seinen Überlegungen zur Gerichtsrede konstatiert, besser als Vorschriften oder Rechtsnormen eignen, Meinungen zu beeinflussen, um nicht zu sagen: zu manipulieren.¹⁹¹ Es lässt sich also jeweils bereits an Darstellungsweisen und -modi festmachen, ob und wie stark ein Text darauf angelegt ist, die Rezipierenden zu affizieren oder nicht. Während bis hierhin eher allgemein der Grad affektiver Involviertheit diskutiert wurde, lassen sich auch konkrete Rezeptions-Stimuli identifizieren, die auf bestimmte Emotionen bei den Rezipierenden zielen. Diese können sich im Gleichklang mit der Narration befinden: Man kann sich mit den Figuren über einen glücklichen Ausgang des Geschehens freuen, mit ihnen um Tote trauern, sich vor einem grauenerregenden Ungeheuer fürchten. Als Einfallstor einer Parallelisierung können im allgemeinsten Sinn Erzählepisoden dienen, in denen eine Figurenemotion dominiert, auf die die Rezipierenden ‚eingeschwungen‘ werden, indem sie über verbale wie nonverbale Zeichen wiederholt und auf gedrängtem Raum zur Darstellung kommt (wie Freude in einer Festszene, Kampfeslust in einer Schlachtszene oder Angst und Furcht in einer Fluchtszene). Daneben ist es insbesondere die Figurenrede, die Signalwirkung entfaltet. Schon Aristoteles weist darauf hin, dass sie in besonderer Weise geeignet ist, Affekte zu erregen.¹⁹² Gerade
Cornelia Herberichs: Ereignis und Wahrheit. Authentisierungsstrategien inspirierter Rede in Mechthilds von Magdeburg Das fließende Licht der Gottheit. In: Das Authentische. Referenzen und Repräsentationen. Hrsg. von Ursula Amrein, Zürich 2009, S. 275 – 290, hier S. 282. Vgl. Winko, Kodierte Gefühle, S. 138. Vgl. Aristoteles, Rhetorik III 2, 1404b1– 33, S. 131– 134; vgl. a. Aristoteles, Poetik 22 und 23, S. 31– 34. Obgleich historisch und kulturell variabel ist, was als schön empfunden wird, lassen sich doch typische Ordnungsprinzipien im Sinne einer allgemeinen Objektästhetik identifizieren wie Ordnung, Harmonie, Symmetrie, Wohlproportioniertheit; vgl. Anz, Literatur, S. 82 und 85. Vgl. Dietmar Peil: Art. ‚Metapher’. In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning, Stuttgart 2004, S. 450. Vgl. Marcus Tullius Cicero: De Oratore. Über den Redner. Lateinisch/Deutsch. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein, Berlin 2011 (Sammlung Tusculum), II 178, S. 210 – 213. Vgl. hierzu Hübner, evidentia, S. 121.
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emotionale Figurenkommunikation ist, wie Anz feststellt, „Bestandteil der literarischen Emotionalisierungstechniken und wohl einer der wichtigsten.“¹⁹³ Unter performativitätstheoretischen Gesichtspunkten kann sie, so Eming, obgleich nicht dezidiert didaktisch angelegt, „normierend [wirken], indem sie auf den Habitus der Rezipienten zielt.“¹⁹⁴ Dieser Konnex ist für die vorliegende Studie von besonderem Belang. Wie bereits in der Auseinandersetzung mit dem Tabubegriff betont, bilden Emotionen einen zentralen Bestandteil des Normgefüges, mit dem das Tabu zusammenhängt. Gilt der Vater-Tochter-Inzest beispielsweise gemäß der biblischen Redeweise von Reinheit und Befleckung als Objekt von göttlichem Zorn und menschlicher Furcht,¹⁹⁵ verbindet sich damit ein normativer Anspruch an die Gläubigen, den Inzest zu fürchten. Auf ähnliche Weise (wenn auch nicht mit derselben Verbindlichkeit) können Emotionen der Figuren, die den VaterTochter-Inzest evaluieren, modellhaft auf die Rezipierenden abstrahlen, insbesondere dort, wo sie in der Figurenrede auf ein reflexives Niveau gehoben werden. Performativität als „eine sich ständig wiederholende Praxis, durch die Normen etabliert und stabilisiert werden“¹⁹⁶, rückt so den Einzeltext in den Mittelpunkt der Analyse und erlaubt, textimmanent konturierte Emotionsnormen zu rekonstruieren. Mit dem Begriff ‚Emotionsnorm‘ werden entsprechend im Analyseteil all jene Emotionen bezeichnet, die mit einem normativen Anspruch formuliert und konkret auf den Casus ‚Vater-Tochter-Inzests‘ bezogen werden und dadurch explizit oder implizit eine spezifische emotionale Haltung einfordern. Am deutlichsten werden solche auf die Rezipierenden gerichteten Wirkstrategien in der direkten Ansprache durch einen Erzähler greifbar. In den Blickpunkt geraten Erzählerkommentare und -exkurse, in denen der Erzähler an sein Publikum appelliert oder sich mit Ich-Aussagen selbst emotional involviert zeigt; er wird gewissermaßen zum „Vor-Bild für die Rezipienten“, es wird eine „emotionale Korrespondenz generiert“¹⁹⁷.
Anz, Kulturtechniken, S. 220. Eming, Emotionen, S. 263. Siehe hierzu ausführlich Kap. 2.1., 2.2 und 3.1. Kasten, Einleitung, S. XIX. Schnell, Erzähler, S. 34 und 44; vgl. hierzu a. Anz, Kulturtechniken, S. 224. In der Altgermanistik ist dieser Effekt etwa für Mechthilds von Magdeburg Das fließende Licht der Gottheit beschrieben worden; vgl. Niklaus Largier: Die Applikation der Sinne. Mittelalterliche Ästhetik als Phänomenologie rhetorischer Effekte. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin, New York 2007 (TMP 12), S. 43 – 60; Herberichs, Ereignis; Sandra Linden: Der inwendig singende Geist auf dem Weg zu Gott. Lyrische Verdichtung im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg. In: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius, Berlin, New York 2011 (TMP 16),
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Neben diesen etablierten Kategorien werden in der vorliegenden Studie Interjektionen dem Instrumentarium an Rezeptions-Stimuli hinzugefügt.¹⁹⁸ So wusste bereits Herder: Da unsre Töne der Natursprache vorzüglich zum Ausdrucke der Leidenschaft bestimmt sind, so ists natürlich, daß sie auch die Elemente aller Rührung werden. Wer ists, dem bei einem zuckenden, wimmernden Gequälten, bei einem ächzenden Sterbenden, auch selbst bei einem stöhnenden Vieh […] dies Ach! nicht zu Herzen dringe? Wer ist dieser gefühllose Barbar?¹⁹⁹
Was in Herders Begriff der ‚Rührung’ anklingt, arbeitet Konrad Ehlich 200 Jahre später systematisch aus. Interjektionen erfüllen kommunikative Funktion, sie stellen eine unmittelbare Beziehung zwischen Sprecher und Hörer her, eine „interaktionale Übereinstimmung“²⁰⁰ hinsichtlich des gegenseitigen Kontaktes, der emotionalen Befindlichkeit, der Wissensverarbeitung und des Handlungsablaufs. Die Begriffe ‚Sprecher‘ und ‚Hörer‘ sind nicht zufällig gewählt, im Schriftbild vermögen Interjektionen nicht dieselbe Wirkung hervorzurufen, wie ebenfalls bereits Herder anmerkt: Nun sind freilich diese Töne sehr einfach, und wenn sie artikuliert und als Interjektionen aufs Papier hinbuchstabiert werden, so haben die entgegengesetztesten Empfindungen fast einen Ausdruck. […] In ihrem lebendigen Zusammenhange, im ganzen Bild der wirkenden Natur, begleitet von so vielen andern Erscheinungen, sind sie rührend und gnugsam; aber von allen getrennet, herausgerissen, ihres Lebens beraubet, freilich nichts als Ziffern.²⁰¹
Damit sind Interjektionen für die Analyse der primär auditiven Rezeption im Mittelalter fruchtbar zu machen – ihr Medium ist die Mündlichkeit.²⁰² Dabei wird die These vertreten, dass Interjektionen als auf die Rezipierenden gerichtete Strategien fungieren, die Aufmerksamkeit auf handlungsrelevante Punkte lenken
S. 359 – 386. Der Text entfaltet ein performatives Potential, indem ein aktiver Nachvollzug durch die Rezipierenden gefordert wird, so dass sie „von Betrachtern (spectatores) zu Teilnehmenden (participants) und so in die geschilderte Situation der Unio mystica emotional involviert [werden]“; Nemes, Leser, S. 47. Auf ähnliche Weise lassen sich kürzere Passagen in Texten unter performativitätstheoretischen Gesichtspunkten deuten, etwa wenn der Erzähler ausdrücklich zum emotionalen Mitvollzug oder zu gemeinsamen Handlungen wie einem Gebet für Held oder Heldin aufruft. In der von mir gesichteten Literatur verweist einzig Alfes auf die affizierende Wirkung von Interjektionen, nennt sie jedoch nur beiläufig; vgl. Alfes, Literatur, S. 102. Herder, Ursprung, S. 87. Ehlich, Interjektionen, S. 241. Herder, Ursprung, S. 81 f. Vgl. Nübling, Interjektion, S. 16; Ehlich, Interjektionen, S. 183.
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und diese affektiv färben, wobei ein Gleichklang der Emotionen auf textinterner und textexterner Ebene angestrebt wird. Proleptisch eingesetzt wirken sie, wie in Analogie zu Wilhelm Schneider gesagt werden kann, „wie ein Eingangsakkord, der vor der gegenständlichen Aussage angeschlagen wird und in die Stimmung einführt“, synchron oder analeptisch „durchdringen sie […] mit ihrem unmittelbaren Gefühlsaudruck die ganze Aussage und wirken wie ein zusätzlich gezogenes Register, als vox humana.“²⁰³ Die im Vorfeld genannten Textmerkmale können dabei nicht allein eine Parallelisierung leisten, sondern ebenso gut asymmetrisch angelegt sein. Man kann sich freuen über die Schmach des Tyrannen, Neid und Rachegelüste des Antihelden verachten, erleichtert sein über die öffentliche Bloßstellung des Intriganten. Auch können Rezipierende, wie Mellmann mit Rekurs auf Ed Tan und Frijda anmerkt, auf völlig gegensätzliche Situationstypen mit derselben Emotion reagieren, den Tod des Helden gleichermaßen beweinen wie den Moment, in dem die Liebenden endlich zueinander finden.²⁰⁴ Bei diesem Wirkmechanismus kommt ins Spiel, was die Rezeptionsästhetik unter dem von Jauß geprägten Begriff des Erwartungshorizonts fasst, der sich mit Rainer Warning definieren lässt: Der Begriff subsumiert […] zweierlei Systeme: einmal – semiotisch gesprochen – die im Werk selbst codierten und gegebenenfalls zugleich verletzten Erwartungen […], sodann aber auch einen lebensweltlichen Erwartungshorizont, den Erwartungshorizont der Lebenspraxis […], der vom Leser […] an das Werk herangetragen wird.²⁰⁵
Durch explizite Ankündigungen oder implizite Hinweise gibt jedes Werk einen allgemeinen Horizont des Verstehens vor, wobei es zu Übereinstimmungen und Abweichungen mit dem lebensweltlichen Erwartungshorizont kommt.²⁰⁶ Letzteren historisch adäquat zu bestimmen, erweist sich als Schwierigkeit des rezeptionsästhetischen Ansatzes,²⁰⁷ wenn nicht gar als uneinholbare Utopie. Doch lässt sich mit Blick auf den Vater-Tochter-Inzest der kulturelle Normhorizont zumindest in einer Annäherungsbewegung erahnen, wenn man zeitgenössisch relevante gelehrte und literarische Schriften, christliche und adlige Tugendvorstellungen hinzuzieht, wie sie zum Teil bereits unter den Stichworten ‚Historischer Inzest-
Schneider, Grammatik, S. 356 f. Mellmann, Gefühlsübertragung, S. 114. Warning, Rezeptionsästhetik, S. 24. Vgl. Jauß, Literaturgeschichte, S. 33. Vgl. Warning, Rezeptionsästhetik, S. 25; Barner, Pioniere, S. 311; Friedrich, Rezeptionsästhetik, S. 602.
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diskurs‘ und ‚Historizität von Emotionen‘ diskutiert worden und im Analyseteil anhand konkreter Textbeispiele zu vertiefen sind. Leicht rekonstruieren lässt sich nämlich der textintern abgebildete Verständnishorizont, der, betrachtet man ein ausreichend großes Korpus, seinerseits einen Teil des kulturellen Kontextes abbildet und Aufschluss darüber gibt, ob Normen verletzt werden und wie bestimmte Emotionen der Figuren zu bewerten sind. Damit sind Indikatoren für die Analyse textexterner Emotionen anhand von Rezeptions-Stimuli benannt, die den Leitfaden für die Textarbeit geben. Die vorliegende Studie möchte aber noch einen Schritt weitergehen und darüber hinaus auch konkrete Rezeptions-Spuren untersuchen.
4.3.3 Rezeptions-Spuren Im vorangegangenen Teilkapitel wurden allein in den Text eingeschriebene Rezeptions-Stimuli herausgearbeitet, die eine emotionale Reaktion der Rezipierenden möglich und wahrscheinlich machen. Davon unberührt gilt für die faktische Rezeption im Mittelalter, dass man, wie bereits mit Braun angeführt, mit einer black box operieren müsse, „was das Streben nach methodischer Solidität konterkarier[.]e“²⁰⁸. Doch lässt sich über Umwege ein wenig Licht ins Dunkel bringen. In der vorliegenden Studie wird ein philologischer Zugriff in Anschlag gebracht, um sich faktischen Rezeptionsweisen im Spannungsfeld von Tabu und Emotion zu nähern. Die Vorgehensweise lässt sich dabei von der These leiten, dass die mittelalterliche Literaturproduktion transparent auf Rezeptionsprozesse ist. Anders als bei der seriellen Textherstellung in der Moderne entsteht Literatur bis zur Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert über das (Ab‐)Schreiben von Handschriften, in der Regel ist also „[j]edes mittelalterliche ‚Literaturwerk‘ […] immer schon ein rezipiertes“²⁰⁹. Die Schreiber sind dabei weder ‚Kopiermaschinen‘ noch ‚originäre Schöpfer‘, vielmehr bewegt sich die mittelalterliche Literaturproduktion, so Johannes Janota, im „Spannungsfeld zwischen bloßer Ab-
Vgl. Braun, Trauer, S. 60. Dabei bestätigen Ausnahmen die Regel. So belegt etwa Balász J. Nemes seine Thesen an einem konkreten Rezeptionszeugnis; vgl. Nemes, Leser, S. 49 f. Norbert H. Ott: Überlieferung, Ikonographie – Anspruchsniveau, Gebrauchssituation. Methodisches zum Problem der Beziehungen zwischen Stoffen, Texten und Illustrationen in Handschriften des Spätmittelalters. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Hrsg. von Ludger Grenzmann, Stuttgart 1984 (Berichtsbände/Germanistische Symposien 5), S. 365 – 386, hier S. 357.
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schrift […] und textverändernder Adaptation“²¹⁰. Hieraus ergibt sich zweierlei: Zum einen ist in der Regel nicht ein Text überliefert, sondern verschiedene Varianten eines Textes, die nach dem Verständnis der New respektive Material Philology als gleichwertig zu betrachten sind.²¹¹ Zum anderen ist in derselben theoretischen Schlagrichtung von einem „erweiterten, nicht auf eine Person eingeengten Autorbegriff“²¹² auszugehen. Die Pluralisierung der Autorfunktion lässt sich mit Baisch bestimmen: Autor, Schreiber, Redaktor, Illuminator, Rubrikator und Kommentator verfertigen als Pluralität von Autorinstanzen in je besonderer Arbeitsteilung eine Handschrift, produzieren damit einen polyphonen Sinnzusammenhang, dessen Rekonstruktion Einblick in den kulturellen Kontext, in dem die Handschrift entsteht, gewährt.²¹³
Vor diesem theoretischen Hintergrund wird mit Baisch, der seinerseits auf Iser und Karlheinz Stierle Bezug nimmt, der Text als Handlung und der mittelalterliche Schreiber (auch) als Leser verstanden. Durch Selektion und Kombination im Akt des Abschreibens, ist es möglich, die Schreiber von Handschriften als ‚Leser‘ ihrer Vorlagen zu bestimmen, die auf textkonstitutive Merkmale wie Unbestimmtheit und Leerstellen als Kommunikationsbedingungen des Textes je verschieden reagieren. Im Akt der (ab/schreibenden) Rezeption bzw. Reproduktion gelingt oder misslingt die Rekonstruktion des Textes als sinnkonstituierendes System […].²¹⁴
Die Überlieferung selbst wird hier also als Akt der Rezeption verstanden, die sich interpretationshaft entfaltet. Die materielle Produktion eines Textes wird zu einem eigenen Sinnsystem, „[d]ie Handschrift als dichtes Bedeutungsgewebe […] Johannes Janota: Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten. In: „In Spuren gehen…“. Festschrift für Helmut Koopmann. Hrsg. von Andrea Bartl u. a., Tübingen 1998, S. 65 – 80, hier S. 79. Vgl. hierzu a. Martin Baisch: Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft. Tristan-Lektüren, Berlin, New York 2006 (TMP 9), S. 42. Die alte Schule Lachmannscher Couleur hat ihre philologische Detailarbeit noch dem Ziel gewidmet, im Vergleich verschiedener Varianten einen Archetyp zu rekonstruieren, der dem Original so nah wie möglich kommen sollte; vgl. ebd., S. 4. Die New Philology hingegen, wie sie sich mit den Namen Stephen G. Nichols verbindet, stellt die einzelnen Handschriften wertfrei in den Vordergrund und begreift Varianten nicht als Abweichungen und Fehler, sondern geht von einem dynamischen Textbegriff aus; vgl. im Überblick ebd., S. 26 – 31; Ursula Peters: Philologie und Texthermeneutik. Aktuelle Forschungsperspektiven der Mediävistik. In: IASL 36 (2011), S. 251– 282, hier S. 259 ff. Janota, Entstehungsvarianten, S. 69. Baisch, Textkritik, S. 33 f. Ebd., S. 79 f.
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zur Schnittstelle verschiedener Bedeutungsfäden“²¹⁵. Daraus folgt mit Simone Schultz-Balluff: „Jeder Überlieferungsträger muss daher für sich untersucht werden, da sich so neue, i. e. zeitlich gebundene Deutungsabsichten, Identifikationsversuche und Ideologiemodelle erkennen lassen.“²¹⁶ In der vorliegenden Studie wird deshalb der primär hermeneutische Zugriff um einen modifiziertphilologischen ergänzt,²¹⁷ um konkrete Textzeugen dort auf ihr Deutungsangebot hin zu untersuchen, wo sie Rückschlüsse auf Rezeptionsweisen im Zusammenhang des Vater-Tochter-Inzests mit Tabu und Emotion erlauben. Während in der ursprünglich eingereichten Dissertationsschrift alle Textzeugen systematisch in Einzelkapiteln behandelt wurden, werden für die vorliegende Drucklegung zum Zwecke der besseren Nachvollziehbarkeit und Pointierung nur jene Ergebnisse berücksichtigt, die am Text gewonnene Erkenntnisse und Thesen stützen, und in die literaturwissenschaftliche Analyse integriert. Zugrunde liegen dabei folgende Analysekategorien: 1. Überlieferungsverbund: Charakteristisch für das Mittelalter sind Sammelhandschriften, in denen mehrere Texte zusammengebunden wurden. Die Art und Weise der Zusammenstellung gibt nicht allein Aufschluss darüber, welche Texte als passend gedacht und unter welchen thematischen Schwerpunkten sie versammelt wurden, sondern lenkt und beeinflusst den Erwartungshorizont der Rezipierenden.²¹⁸ Je nach Überlieferungsverbund lässt sich so eine eher geistliche, didaktische, historische oder unterhaltende Rezeptionshaltung vermuten. 2. Textkritik: Über die traditionelle Textkritik lassen sich Kürzungen, Hinzufügungen und inhaltliche Variationen rekonstruieren, aus denen sich Änderungen im Sinnangebot ergeben. Fruchtbar ist ein solcher Zugriff vor allem dann, wenn die Textgestalt im Vergleich zu anderen Textzeugen so stark fragmentiert oder aufgebläht ist, dass sich konkrete Tendenzen im Bedeutungsangebot nachzeichnen lassen wie (Ent‐)Tabuisierung, (Ent‐)Emotionalisierung, Vereindeutigung oder Pluralisierung. Auch wird nach Durchstreichungen und Anmerkungen von späteren Händen gefragt.
Ebd., S. 34; vgl. zu Vorangegangenem a. S. 84. Simone Schultz-Balluff: Dispositio picta – Dispositio imaginum. Zum Zusammenhang von Bild, Text, Struktur und ‚Sinn‘ in den Überlieferungsträgern von Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland, Bern u. a. 2006 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 45), S. 36 f. Für einen integrativen Zugriff, der die beiden methodisch unterschiedlichen und durchaus streitbaren Wissenschaftsparadigmen verbindet, vgl. Peters, Philologie. Ähnlich wie Jauß es für Gattungsnormen und -konventionen sowie intertextuelle Bezüge beschreibt; vgl. Jauß, Literaturgeschichte, S. 32– 35.
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Gliederungsprinzipien: Die Gliederung von Erzählungen kann Aufschluss darüber geben, welche Erzählabschnitte als Sinnabschnitte gefasst werden, sie lenkt demnach die Rezeption. Mit Nigel F. Palmer lässt sich ein „Inventar der Gliederungsmittel“²¹⁹ bestimmen: Absätze, Paragraphenzeichen, Initialen, Überschriften, Incipit- und Explicitformeln, Zierschriftzeilen, Durchzählung der Bücher und/oder Kapitel, Leerräume und Leerzeilen, verschiedene Tintenfarben, Kolumnenüberschriften, Register und Kapitelverzeichnisse. Da diese Arbeitsschritte in der Regel separiert waren, öffnet sich ein Fenster zur Rezeption hin, es lassen sich Thesen darüber aufstellen, welche Textpassagen und -inhalte durch die Gliederungsmittel als bedeutungstragende hervorgehoben werden, wobei insbesondere Überschriften zugleich eine Interpretation der folgenden Erzählabschnitte anbieten. Kommentarebene: Hiermit überschneiden sich partiell explizite Kommentare und Anmerkungen von Schreiber, Redaktor oder Illuminator, was vor allem im Kontext von bebilderten Handschriften relevant wird, da einzelne Textelemente zur Illustration herausgegriffen werden, wobei sich zum Teil schriftliche Anweisungen an den Illustrator finden. Diese Anweisungen stellen, wie auch schon die Überschriften, eine Interpretation des gegebenen Textinhaltes dar; analoges gilt für Bildunterschriften. Bilderzyklen: Die Ikonographie in Handschriften und Drucken ist sowohl Rezeptionszeugnis als auch Rezeptionslenkung. Spezifische Problemstellungen und Deutungsweisen werden, so Norbert H. Ott, an Handschriftenund Druckillustrationen, an der Wahl der Bildertypen und -zyklen sowie am Anspruchs- und Ausstattungsniveau der Textzeugen ablesbar.²²⁰ Illustrationszyklen, so auch Schultz-Balluff, stellen nicht einfach Kurzfassungen von Texten dar, sondern interpretieren literarische Muster jeweils neu, es handelt sich um ein „paralleles Erzählen in einer visuellen Sprache.“²²¹ In diesem Sinne werden in der vorliegenden Studie Bilder als Interpretamente verstanden, als Deutungsmittel, die das Erzählte graphisch-visuell auslegen. Weil Abschriften oft noch Jahrzehnte und Jahrhunderte nach Entstehen eines Textes produziert werden, lassen sich gerade Miniaturen auch als Effekte der Aktualisierung beschreiben, die tradierte Ikonographien anpassen, beibehalten oder verändern.²²² Dabei ist zunächst zu fragen, ob und wie die In-
Nigel F. Palmer: Kapitel und Buch. Zu den Gliederungsprinzipien mittelalterlicher Bücher. In: FMSt 23 (1989), S. 43 – 88, hier S. 44. Vgl. Ott, Überlieferung, S. 356. Schultz-Balluff, Dispositio picta, S. 37; vgl. a. S. 35 f. Vgl. ebd., S. 36.
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zestepisode ins Bild gesetzt wird, sodann in welchem Verhältnis das Bild zum Text steht. Die skizzierten Textelemente werden unter dem Oberbegriff ‚Paratext‘ zusammengefasst, den Gérard Genette definiert als: Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- oder allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten und manchmal mit einem offiziellen oder offiziösen Kommentar versehen, dem sich auch der puristischste und äußeren Informationen gegenüber skeptischste Leser nicht so leicht entziehen kann […].²²³
Paratexten kommt eine rezeptionssteuernde Funktion zu,²²⁴ zugleich geben sie Aufschluss darüber, wie der jeweilige Verfasser oder Schreiber seinerseits den von ihm vorgefundenen Text rezipiert und ihn in Wort und Bild interpretiert.
Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993 (es 1683), S. 11 f. Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 1989 (Edition de la Maison des Sciences de l’Homme), S. 10 f.
5 Korpus, Erkenntnisinteresse und Herangehensweise Der Fokus der Untersuchung wird auf die in der mediävistischen Literaturwissenschaft bisher nur beiläufig behandelte Verknüpfung von Vater-Tochter-Inzest und Emotionen gerichtet, die über den Tabubegriff theoretisch-methodisch in Verbindung gebracht worden sind. Analyseleitend werden die Fragen behandelt: Welche Emotionen motivieren auf textinterner Ebene den Inzest, welche werden durch ihn hervorgerufen, wie wird in Erzählerkommentaren und Figurenrede über sie reflektiert? Welche Rezeptions-Stimuli werden gesetzt, lassen sich Emotionen auf textexterner Ebene spezifizieren? Geben Rezeptions-Spuren in Handschriften und Drucken Hinweise, wie der Vater-Tochter-Inzest wahrgenommen und bewertet wird? Übergeordnetes Ziel der Studie ist, in (notwendiger) Ergänzung zum klerikalen Inzestdiskurs zu fragen, ob und wie das Thema ‚Vater-Tochter-Inzest‘ in der mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Literatur emotional aufgeladen ist und ob sich zeit- und kulturtypische Emotionen eruieren lassen. Hierfür ist erforderlich, eine valide Datenbasis zu finden, die im Vergleich erlaubt nachzuweisen, welche Bedeutung der emotionalen Komponente zukommt. Das Korpus der Studie speist deshalb primär aus überlieferten Stoffen, die das Thema ‚Vater-Tochter-Inzest‘ aus Bibel und Antike ins Mittelalter tradieren, so dass sich mit den jeweiligen Prätexten Material bereitgestellt findet, das komparatistisch herangezogen werden kann, um charakteristische Bearbeitungstendenzen herauszuarbeiten. In diesem Bereich geht die Untersuchung in Breite und Tiefe, um einerseits Vielfalt und Varianz aufzeigen, andererseits übergreifende Bearbeitungstendenzen identifizieren zu können. Analysiert werden dabei im Genauen folgende Texte: ‒ Bearbeitungen des aus der Bibel tradierten Lot-Stoffes: ‒ Rudolf von Ems: Weltchronik (um 1250), ‒ Christherre-Chronik (1270/80), ‒ Jans Enikel: Weltchronik (nach 1284), ‒ Heinrich von München: Weltchronik-Kompilation (14. Jhdt.), ‒ Historien der alden E (1340/50), ‒ Schedels Weltchronik (1493), ‒ Historienbibeln (14., 15. Jhdt.). ‒ Bearbeitungen der Myrrha-Episode aus Ovids Metamorphosen: ‒ Albrecht von Halberstadt: Metamorphosen (1190/1210), ‒ Christoph Bruno: Etliche Historien … (1541), ‒ Hans Sachs: Mirra (1541), ‒ Georg Wickram: Metamorphosen (1545), https://doi.org/10.1515/9783110618440-006
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‒
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‒ Johannes Spreng: Metamorphoses (1554). Bearbeitungen des hellenistischen Liebes- und Reiseromans Historia Apollonii regis Tyri: ‒ Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland (um 1300), ‒ Leipziger Apollonius (1465/1470), ‒ Heinrich Steinhöwel: Appolonius von Tyrus (1471).
Die Inzestepisoden dieser Texte werden einem close reading unterzogen, also einer textnahen, deskriptiven und kleinschrittigen Lektüre und Interpretation,¹ die im Abgleich mit den Prätexten komparatistisch verfährt, damit gezeigt werden kann, ob und welchen Emotionen mehr oder weniger Bedeutung zugemessen wird und ob die produktive Aneignung tabuisierend oder ent-tabuisierend erfolgt. Dabei wird der Begriff ‚emotionalisieren‘ (des überlieferten Stoffes, der Handlung, einzelner Erzählelemente oder der Figurenkonstellationen) verwendet,² wenn auf eine spezifische Signifikanz angespielt werden soll, ein ‚Mehr‘ an Emotionen auf textinterner Ebene im Vergleich zur Vorlage. Darüber hinaus wird mit einem modifizierten philologischen Zugriff nach konkreten Rezeptions-Spuren in mittelalterlichen Handschriften und frühneuhochdeutschen Drucken gefragt. Berücksichtigt werden schließlich die Kontexte, in denen die jeweilige Vater-TochterInzest-Erzählungen stehen, und zwar sowohl Paratexte (wie zum Beispiel Prologe und Überschriften) als auch ‚Ko-Texte‘, also andere Erzählungen, Erzählepisoden oder Reflexionen, die im Gesamtzusammenhang (des Romans, der Chronik, der Handschrift, des Drucks) die Inzestthematik tangieren. Auf diesem Weg soll das Normgebäude, das sich um das Inzesttabu rankt, möglichst erschöpfend rekonstruiert und zugleich Besonderheiten des Vater-Tochter-Inzests konturiert werden. Die wenigsten Texte des Korpus liegen in Übersetzungen vor. Um die Studie auch für andere Disziplinen verständlich zu halten, werden in der Regel Übersetzungen angegeben, es handelt sich hierbei stets um (diskutierbare) Übersetzungsvorschläge. Dort, wo die Studie Textauszüge aus Handschriften und Drucken zitiert, wird so weit wie möglich der Text nah am originalen Schriftbild transkibiert, diakritische Zeichen und Abbreviaturen werden beibehalten, nur das Schaft-ſ wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit durchgängig als rundes-S wiedergegeben. Die Studie wäre in dieser Form nicht möglich gewesen, wenn nicht eine Vielzahl der Textzeugen mittlerweile als Digitalisat online zugänglich wäre. Um den Fußnotenapparat nicht zu überlasten, Aktualität bei der stetig Vgl. Ansgar Nünning: Art. ‚close reading‘. In: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe. Hrsg. von dems, Stuttgart 2004, S. 87 f. Abweichend etwa zu Anz, der mit ‚emotionalisieren‘ die textexterne Ebene im Blick hat; vgl. Anz, Kulturtechniken.
5 Korpus, Erkenntnisinteresse und Herangehensweise
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voranschreitenden Digitalisierung historischer Bestände zu ermöglichen und eine eindeutige Zuordnung insbesondere der Drucke zu gewährleisten, erfolgen statt bibliographischer Hinweise auf Internetadressen von Digitalisaten fortlaufend Verweise auf die Katalogisierung etablierter Verzeichnisse und Datenbanken wie dem Handschriftencensus (HC),³ dem Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW),⁴ dem Marburger Repertorium zur Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus (MRFH)⁵ sowie dem Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD16).⁶ Dort finden sich in der Regel neben Literatur- und Standortangaben auch (aktuelle) Verlinkungen zu elektronischen Ressourcen. Bibliographiert werden dabei in dieser Studie nur jene Handschriften und Drucke, mit denen tatsächlich gearbeitet wurde; für darüber hinaus genannte sei auf die jeweils angegebene Sekundärliteratur verwiesen.
Handschriftencensus. Eine Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters. http://www.handschriftencensus.de. Hrsg. von der PhilippsUniversität Marburg, Marburg 2006- (19. August 2018). Im Folgenden werden unter der Abkürzung HC die jeweiligen Katalognummern der Handschriften angeben. Gesamtkatalog der Wiegendrucke. http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de. Online-Datenbank der Druckausgabe. Hrsg. von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2003- (23. September 2018). Im Folgenden werden unter der Abkürzung GW die jeweiligen Katalognummern der Inkunabeln zu Identifikationszwecken angegeben und entsprechend im Literaturverzeichnis geführt. Marburger Repertorium zur Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus. http:// www.mrfh.de. Bearb. von CHRISTA BERTELSMEIER-KIERST u. a., Marburg 2007– 2012 (22. September 2018). Im Folgenden werden unter der Abkürzung MRFH ergänzend die jeweiligen Katalognummern für Drucke, Handschriften und Überblicksdarstellungen zu Autoren und Werken angegeben. Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts. http:// www.gateway-bayern.de/index_vd16.html. Online-Datenbank der Druckausgabe. Hrsg. von der Bayerischen Staatsbibliothek München, München 2000- (23. September 2018). Im Folgenden werden unter der Abkürzung VD16 die jeweiligen Katalognummern der Drucke zu Identifikationszwecken angegeben und entsprechend im Literaturverzeichnis geführt.
6 Lot In der Bibel berichtet das Buch Genesis von einem Inzest zwischen Lot und seinen Töchtern (vgl. Gen 19,15 – 38). Nachdem Gott Sodom und Gomorrha vernichtet und Lots Frau zur Salzsäule hat erstarren lassen, flieht Lot allein mit seinen Töchtern in die Berge. Die Schwestern, die die Welt menschenleer wähnen, entschließen sich zum Inzest, machen den Vater betrunken und liegen ihm nacheinander heimlich bei; aus dem doppelten Vater-Tochter-Inzest werden die Stammväter Moab und Ammon geboren Das biblische Basisnarrativ folgt damit einer doppelten Erzähllogik aus NotInzest und Stammelternmythe. Der Begriff ‚Not-Inzest‘ bezeichnet in der Forschung eine exzeptionelle Inzestkonstellation, bei der sich eine eigentlich exogame Gruppe unter bestimmten Umständen wie der räumlichen oder sozialen Isolation zu einem endogamen Fortpflanzungsverhalten gezwungen sieht.¹ Die Stammelternmythe stellt hier eine Sonderform dar, bei der der Pool möglicher Partner von vornherein begrenzt ist.² Avant la lettre werden diese Konzepte bereits in der Patristik herangezogen, um den eklatanten Widerspruch zwischen dem Normbestand der levitischen Verbote und der Tatsache zu erklären, dass im Alten Testament etliche zwischenmenschliche Verbindungen existieren, die mit diesen Verboten brechen.³ So argumentiert etwa Augustinus in seinem Gottesstaat, dass die Männer in der Zeit nach der Vertreibung aus dem Paradies genötigt seien, ihre Schwestern zur Frau zu nehmen, da es keine Menschen außer ihnen gebe. Ist die Geschwisterehe jedoch einst durch Zwang geboten, sei sie „nachher durch die Religion als verwerfliche Tat verboten“⁴ – aus einer Notwendigkeit wird Unrecht. Dabei wächst sich der adamatische Ausnahmezustand zu einem postparadiesischen Paradoxon aus, wenn Augustinus für die inzestuösen Verbindungen der Stammväter das caritas-Argument in Anschlag bringt, welches ihm an anderer Stelle dazu dient, den Nutzen der Exogamie zu begründen: Fuit autem antiquis patribus religiosae curae, ne ipsa propinquitas se paulatim propaginum ordinibus dirimens longius abiret et propinquitas esse desisteret, eam nondum longe positam rursus matrimonii vincula conligare et quodam modo revocare fugientem. Unde iam pleno hominibus orbe terrarium, non quidem sorores ex patre vel matre vel ex ambobus suis parentibus natas, sed tamen amabant de suo genere ducere uxores.
Vgl. Kiefl, Inzest, S. 61 und 63. Vgl. Rank, Inzest-Motiv, S. 269 – 275 und 304– 311. Vgl. Gen 11,29 und 20,11 f.; 19,24– 38; 29,9 – 30; 38,1– 30; 49,3 f.; 2 Sam 13,1– 21. Vgl hierzu Rank, Inzest-Motiv, S. 306. […] postea factum est damnabilius religione prohibente; Augustinus, De civitate Dei XV 16, S. 48 f. https://doi.org/10.1515/9783110618440-007
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Bei den alten Vätern aber war es eine heilige Sorge, die Verwandtschaft, die ja noch nicht lange bestand, bevor sie sich durch immer neue Fortpflanzungen allmählich zu sehr verflüchtigte und ganz verwischte, immer wieder durch ein Eheband zu verknüpfen und dadurch die gewissermaßen Fliehende zurückzurufen. Deshalb pflegten sie, obwohl der Erdkreis sich bereits mit Menschen gefüllt hatte, zwar nicht mehr die leiblichen Schwestern zu heiraten, die den gleichen Vater oder die gleiche Mutter oder die gemeinsamen Eltern hatten, aber sie liebten es, Frauen aus ihrem Stamm zu ehelichen.⁵
Hieraus ‚folgert‘ Augustinus das Verbot der Vetternehe, indem er polemisch gegenfragt: „Indes wer würde zweifeln, daß es für unsere Zeit schicklicher ist, auch die Ehe von Geschwisterkindern zu verbieten?“⁶ Die levitischen Eheverbote werden in ihr Recht gesetzt, ohne die Stammväter zu diskreditieren, und im selben Atemzug signifikant erweitert. Diese Argumentationslinie erweist sich als ausgesprochen wirkmächtig und kann bis Gratian und Thomas von Aquin nachverfolgt werden;⁷ auf sie wird im Weiteren verschiedentlich zurückzukommen sein. Der Inzest Lots nun lässt sich als Paradebeispiel für Augustinus’ Ausführungen zum exzeptionellen Inzest in der Urzeit der Menschheit lesen. In der Isolation sind die Schwestern gezwungen, verunmöglichte Exogamie in verfügbare Endogamie zu überführen, um den Fortbestand des Menschengeschlechts zu sichern; ein Zusammenhang, der im biblischen Basisnarrativ exponiert wird (vgl. Gen 19,31 f.). Die Episode bildet einen Gelenkpunkt und ein Bindeglied in der Gesamtnarration, sie schließt die ‚Lebensgeschichte‘ Lots ab und begründet den genealogischen Nullpunkt der Geschlechter der Moabiter und Ammoniter. Obgleich der Normbruch nicht explizit bewertet wird, ist der Tabucharakter der Inzestthematik implizit präsent. Die Schwestern bleiben in der sonst so sehr auf Genealogie bedachten Genesis namenlos,⁸ der Inzest findet in der Abgeschiedenheit der Berge statt, die Töchter greifen auf eine Weinlist zurück, um den Vater zu täuschen, der bis zum Ende unwissend bleibt. Zudem enthält der Inzest am Ursprung der Geschlechter ein diskreditierendes Element. Lot selbst gehört zwar als Neffe Abrahams dem religionsbildenden Stamm an (vgl. Gen 11,27– 31), die von ihm abstammenden Geschlechter erschöpfen sich aber in einem genealogi-
Ebd., S. 53 f. Zu Exogamie und caritas bei Augustinus siehe ausführlich Kap. 2.2. Ebd., S. 53. Vgl. Decretum Gratiani C. 35 q. 1 passim, Sp. 1261 f.; Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II q. 154 a. 9 ad 3, S. 97 f. Die biblischen Genealogien sind patrilinear und agnatisch, insofern dominieren ohnehin männliche Ahnen. Einige Frauen werden aber namentlich erwähnt, so zum Beispiel Sarah und Rebekka oder die den Töchtern Lots vergleichbare ‚Stammmutter‘ der Ismaeliten Hagar, Sklavin und Nebenfrau Abrahams.
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schen Nebenstrang der Bibel, der aus der Perspektive der Israeliten durchaus konfliktreich aufgeladen ist (vgl. Num 25,2; Ri 3,12 ff.; 1 Sam 12,9 und 14,47). Emotionen spielen im biblischen Basisnarrativ im Prinzip keine Rolle. Einzig die Flucht Lots wird emotional motiviert, Furcht (timor) treibt ihn in die Berge (vgl. Gen 19,30), der Vater-Tochter-Inzest selbst geht völlig emotionslos vonstatten. Gleichzeitig prägt eine signifikante Leerstelle die Emotionsökonomie. Hatte sich Gottes Zorn soeben noch in der Zerstörung Sodoms und Gomorrhas und der Bestrafung von Lots ungehorsamer Frau manifestiert, wird der Inzest gerade nicht bestraft, sondern mit der Geburt von Nachkommen sanktioniert. Analoges gilt für das unmittelbar vorgeschaltete Erzählereignis, die sogenannte ‚Bedrängnis Lots‘ (vgl. Gen 19,1– 14). Lot, der zwei Engel in seinem Haus beherbergt, wird von den Stadtbewohnern bestürmt, sie herauszugeben, und bietet ihnen an ihrer statt seine noch unberührten Töchter an. Dieses ‚unmoralische Angebot‘ begünstigt Lots Errettung, da es die Engel vor den homosexuellen (‚sodomitischen‘) Avancen der Stadtbewohner bewahrt, während diese zur Strafe mit Blindheit geschlagen und ihre Städte zerstört werden (vgl. Gen 19,4– 13). Vor diesem Hintergrund kritisiert Josephine Rijnaarts aus feministischer Perspektive, dass der Inzest „als etwas unter bestimmten Umständen durchaus Akzeptables“⁹ erscheine, den Vater treffe keine Schuld, alle Aktivität gehe von den Töchtern aus, auch die Abwesenheit der Mutter und die Trunkenheit des Vaters wirke entlastend. Bennewitz bezeichnet die biblische Erzählung im Anschluss hieran als „christlich-abendländische Kernversion des Vater-Tochter-Inzests“¹⁰, die wesentliche Ingredienzien mittelalterlicher Inzesterzählungen bereitstellt, so dass sich für die Analyse der einzelnen Bearbeitungen die Frage aufdrängt, wie die von Rijnaarts und Bennewitz hervorgehobenen Erzählelemente in mittelhochdeutschen Varianten der Lot-Erzählung behandelt werden. Mit der produktiven Aneignung alttestamentarischer Stoffe im Mittelalter ist die biblische Geschichte vom Inzest zwischen Lot und seinen Töchtern in Weltchroniken und Historienbibeln breit überliefert. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstehen innerhalb weniger Jahrzehnte drei volkssprachige Weltchroniken, welche die Inzestepisode beinhalten: die mit rund 36000 Versen voluminöse, aber Fragment gebliebene Weltchronik des Rudolf von Ems (um 1250), die anonym überlieferte, ebenfalls fragmentarische Christherre-Chronik (um 1270/1280) sowie die erste vollständige volkssprachige Universalchronik von Jans Enikel (nach 1284), die die Schöpfungs- bis zur Gegenwartsgeschichte um-
Rijnaarts, Lots Töchter, S. 26; vgl. ähnlich schon Rank, Inzest-Motiv, S. 345. Bennewitz, Mädchen, S. 157.
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spannt.¹¹ Sie stehen am Beginn eines volkssprachigen Zweigs des Lot-Stoffes,¹² der bis zum Ende des 15. Jahrhunderts reicht. Vorbemerkend lässt sich konstatieren, dass die drei Werke durch das verbindende Glied der Gattung einen gemeinsamen Erwartungshorizont teilen.¹³ Die Inhalte mittelalterlicher Weltchroniken und mit ihnen die biblischen Stoffe werden, auch wenn sie mit dem modernen Fakten-Verständnis von Historiographie wenig gemein haben und ebenso Erzählgut enthalten, das heute als genuin fiktional eingestuft würde, im Mittelalter im Rahmen der Heilsgeschichte als Geschichte rezipiert.¹⁴ Profangeschichte wird mit Heilsgeschichte synthetisiert, alle drei Werke richten sich mehr oder weniger stringent nach der Abfolge der sechs Weltalter, die auf die Endzeit zustreben.¹⁵ Sie dienen der Unterhaltung, Belehrung
Im Überblick für Rudolf von Ems vgl. Wolfgang Walliczek: Art. ‚Rudolf von Ems‘. In: VL 8, Sp. 338 – 342; Kurt Gärtner: Überlieferungstypen mittelhochdeutscher Weltchroniken. In: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983. Hrsg. von Christoph Gerhardt, Tübingen 1985, S. 110 – 118, hier S. 112; Helmut de Boor/Richard Newald: Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang, München 1991 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 2), S. 176. Für die Christherre-Chronik vgl. Norbert H. Ott: Art. ‚Christherre-Chronik‘. In: VL 1, Sp. 1213 – 1217; Ralf Plate: Die Überlieferung der Christherre-Chronik, Wiesbaden 2005 (Wissensliteratur im Mittelalter 28), S. 1. Für Jans Enikel vgl. Karl-Ernst Geith: Art. ‚Enikel, Jans‘. In: VL 2, Sp. 565 – 569; Leopold Hellmuth: Zur Entstehungszeit der Weltchronik des Jans Enikel. In: Österreich in Geschichte und Literatur mit Geographie 29 (1985), S. 163 – 170, hier S. 164 ff. Die Gattung der Universalchronistik blickt auf eine längere lateinische Tradition zurück; vgl. hierzu Karl Heinrich Krüger: Die Universalchroniken, Turnhout 1976 (Typologie des sources du moyen âge occidental 16), die im Folgenden nur am Rande berücksichtigt wird. Sie hat mit der Kaiserchronik und der Sächsischen Weltchronik volkssprachige Vorläufer, diese enthalten aber die alttestamentarischen Stoffe nicht beziehungsweise geben nur die biblischen Genealogien in geraffter Form wieder. Die Wiener Genesis erwähnt Lot im Rahmen der Abrahamsgeschichte; vgl. Die frühmittelhochdeutsche Wiener Genesis. Kritische Ausgabe mit einem einleitenden Kommentar zur Überlieferung. Hrsg. von Kathryn Smits, Berlin 1972 (PhSt 59), V. 819; spart die Erzählepisoden ‚Sodom und Gomorrha‘ und ‚Lot und seine Töchter‘ jedoch aus. Zum Zusammenhang von Gattung und Erwartungshorizont allgemein vgl. Jauß, Literaturgeschichte. Vgl. Helmut de Boor/Richard Newald: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Erster Teil 1250 – 1350, München 1997 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 3,1), S. 419; Christiane Witthöft: Ritual und Text. Formen symbolischer Kommunikation in der Historiographie und Literatur des Spätmittelalters, Darmstadt 2004, S. 6 f. Vgl. ebd., S. 13 f.; Boor/Newald, Die deutsche Literatur, S. 165; Gärtner, Überlieferungstypen, S. 110; Ursula Liebertz-Grün: Gesellschaftsdarstellung und Geschichtsbild in Jans Enikels Weltchronik. Mit Notizen zur Geschichtserkenntnis und Geschichtsbild im Mittelalter. In: Euphorion 75 (1981), S. 71– 99, hier S. 78; 82; Raymond Graeme Dunphy: Daz was ein michel wunder. The presentation of old testament material in Jans Enikel’s Weltchronik, Göppingen 1998 (GAG 650), S. 52– 60. Diese doppelte Struktur stellt ein Ideal dar, zur konkreten Ausformung in den
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und Erbauung, ihre vorrangige Funktion aber ist die Vermittlung geschichtlicher Informationen.¹⁶ Die Geschichte von Lot und seinen Töchtern wird dementsprechend im Mittelalter als Weltgeschichte, nicht als religiöser Mythos oder fabula aufgefasst, und ist Bestandteil eines historischen Wissens, das wiederholt aktualisiert wird. Die überlieferten Handschriften sind zahlreich, wobei Illustrationen eine Konstante in der Überlieferung bilden,¹⁷ so dass eine breite Materialbasis verfügbar ist, um nach zeitspezifischen Darstellungs- und Rezeptionsweisen zu fragen. Bisher nicht systematisch erforscht sind Emotionsdarstellungen in der Gattung der Weltchroniken. Die vorliegende Studie kann hier nur einen themenzentrierten Einblick geben, eine gattungstheoretische Untersuchung von Emotionen steht noch aus.
6.1 Rudolf von Ems: Weltchronik Rudolf von Ems kann mit Helmut de Boor und Richard Newald als ‚Historiker‘ im mittelalterlichen Verständnis gelten, für ihn ist „Geschichte als Wissensstoff, Geschichtsschreibung als Tatsachendarstellung wesentlich“¹⁸. In seiner Weltchronik ¹⁹ sieht sich Rudolf dem Ideal von Kürze und Wahrheit verpflichtet (vgl.
einzelnen Weltchroniken vgl. für Rudolf von Ems Helmut Brackert: Rudolf von Ems. Dichtung und Geschichte, Heidelberg 1968, S. 169 – 175; Christine Kratzert: Die illustrierten Handschriften der Weltchronik des Rudolf von Ems, (Diss.) Berlin 1974, S. 20 ff.; Boor/Newald, Die höfische Literatur, S. 177; für die Christherre-Chronik vgl. Monika Schwabbauer: Profangeschichte in der Heilsgeschichte. Quellenuntersuchungen zu den Incidentien der ChristherreChronik, Bern u. a. 1997 (Vestigia bibliae 15/16), S. 10 f.; Plate, Überlieferung, S. 1 f.; für Jans Enikel vgl. Liebertz-Grün, Gesellschaftsdarstellung, S. 86 f.; Dunphy, Daz was ein michel wunder, S. 64; Witthöft, Ritual, S. 18. Vgl. Norbert H. Ott: Kompilation und Zitat in Weltchronik und Kathedralikonographie. Zum Wahrheitsanspruch (pseudo‐)historischer Gattungen. In: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983. Hrsg. von Christoph Gerhardt, Tübingen 1985, S. 119 – 135, hier S. 119 f. Vgl. Jörn-Uwe Günther: Die illustrierten mittelhochdeutschen Weltchronikhandschriften in Versen. Katalog der Handschriften und Einordnung der Illustrationen in die Bildüberlieferung, München 1993 (tuduv-Studien. Reihe Kunstgeschichte 48), S. 14; Plate, Überlieferung, S. 295. Boor/Newald, Die höfische Literatur, S. 168 und 177. Im Folgenden im Fließtext zitiert nach der Ausgabe Rudolf von Ems: Weltchronik. Aus der Wernigeroder Handschrift. Hrsg. von Gustav Ehrismann, Zürich 1967 (DTM 10).
6.1 Rudolf von Ems: Weltchronik
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V. 177),²⁰ entsprechend knapp und bibelnah handelt er die Inzestepisode der LotGeschichte in nur 61 Versen ab (vgl. V. 4906 – 4967).
6.1.1 Schrecken und Not in Sodom und Gomorrha Rudolf beschränkt sich zunächst auf die Vorgaben der Vulgata, übersetzt timor aber nicht wörtlich mit vorhte („Furcht“), sondern paraphrasiert: do was der selige Lot so sere irschrochin von der not dú dem lande da geschah, das er belibinnes gemah niht getorste han alda […]. (V. 4906 – 4910) Da erschrak der gute Lot so sehr ob der Bedrängnis, die dem Land da widerfuhr, dass er nicht wagte, ruhig dort zu verharren.
Die emotionale Logik der Bibel wird reproduziert, mit seinem Schrecken, der die Flucht motiviert, reagiert Lot adäquat auf den Zorn Gottes, unterstrichen durch das Attribut selig („gut“; „gesegnet“; „selig“²¹). Dieser Konnex wird durch die Semantik der gewählten Emotionsbegriffe verstärkt: Mit mhd. (er)schrëcken („aufu. zurückspringen, auffahren, aufschrecken […]; erschrecken vor“²²) wird im Speziellen leibliche Betroffenheit transportiert,²³ der göttliche Wille gewissermaßen inkorporiert. Objekt der Emotion ist die äußerlich gegebene nôt, die hier in ihrer passiven Bedeutungsdimension als Zustand des Bedrängtseins („Drangsal, Schmerz, Qual, Notlage, Bedrängnis, Gefahr“²⁴) hervortritt und als Emotionswort Leid,²⁵ Schmerz,²⁶ zum Teil auch Trauer konnotiert.²⁷ Da die drastische Schilde-
Vgl. Kratzert, Handschriften, S.21 f.; Ingrid von Tippelskirch: Die Weltchronik des Rudolf von Ems. Studien zur Geschichtsauffassung und politischen Intention, Göppingen 1979 (GAG 267), S. 62– 68, hier S. 78. Vgl. Lexer 2, Sp. 581. Lexer 1, Sp. 669. Vgl. Schmitz, Leib, S. 219; Hans Rudolf Velten: Ekel, Schrecken, Scham und Lachen. Inszenierungen ‚negativer Emotionen‘ im Neidhartspiel. In: Koordinaten der Leidenschaft. Kulturelle Aufführungen von Gefühlen. Hrsg. von Clemens Risi/Jens Roselt, Berlin 2009 (Theater der Zeit. Recherchen 59), S. 214– 241, hier S. 223. Beat Wolf: Vademecum medievale. Glossar zur höfischen Literatur des deutschsprachigen Mittelalters, Bern u. a. 2002, S. 62. Vgl. Riekenberg, Literale Gefühle, S. 70.
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6 Lot
rung des Untergangs der Städte – vom Himmel schießen Feuer, Pech, Schwefel und brennender Nebel groß wie Hagelkörner, die Menschen schmelzen in der Hitze, werden vom Abgrund des ewigen Todes verschlungen (vgl.V. 4822– 4834) – den Rezipierenden aus dem unmittelbar zuvor Erzählten noch eindrücklich präsent ist, stellt diese Textstelle einen potentiellen Anschlusspunkt dar, Emotionen auf textinterner und textexterner Ebene zu parallelisieren. In illustrierten Handschriften wird diese Potenz noch verstärkt durch die Macht der Bilder.²⁸ Die Handlung wird typischerweise in einem dynamischen Ereignisbild zusammengefasst, das im größeren linken Bildteil die Zerstörung einer oder zweier Städte zeigt, im rechten, am Rand, fast schon aus dem Bild kippend, Lot mit vorwärts gewandtem Blick und eilendem Schritt, wie er mit seinen Töchtern flieht, hinter ihnen seine zur Salzsäule erstarrte Frau, an der zum Teil eine Ziege leckt.²⁹ Mit einer einzigen Ausnahme setzen alle erhaltenen Handschriften dieser Gruppe Zerstörung und Vernichtung drastisch ins Bild, Feuer regnet vom Himmel, Häuser brennen, Türme stürzen ein.³⁰ Das massenhafte Sterben und Leiden der Stadtbewohner wird dabei zum Teil sehr plastisch visualisiert. In der Stuttgarter
Mhd. nôt meint allgemein einen körperlichen und seelischen Schmerz, Liebesschmerz oder theologische Bedrängnis; in Rudolfs von Ems Guten Gerhard konkret die Qualen des Erdendaseins; vgl. Wolf, Vademecum medievale, S. 62 f. Vgl. Koch, Trauer, S. 31; Riekenberg, Literale Gefühle, S. 70. Zum Bildprogramm bei Rudolfs von Ems vgl. Kratzert, Handschriften; Ellen J. Beer: Die Buchkunst der Handschrift 302 der Vadiana. In: Rudolf von Ems Weltchronik. Der Stricker Karl der Große. Hrsg. von ders. u. a., Luzern 1987, S. 61– 125, hier S. 84– 97; Martin Roland: Illustrierte Weltchroniken bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts. http://www.ksbm.oeaw.ac.at/roland_ dissinhalt.html. (Diss.) Wien 1991 (17. November 2017), S. 282– 296; Günther, Weltchronikhandschriften, S. 496 – 575, hier S. 504 f. Vgl. etwa Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 6406, fol. 15r (HC 1249); Hochschul- und Landesbibliothek Fulda, Cod. Aa 88, fol. 46r (HC 2222); Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 79, fol. 28v (HC 2780); Universitätsbibliothek Kassel – Landes- und Murhardsche Bibliothek zu Kassel, Ms. theolog. 2° 4, fol. 50v (HC 8313); Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. 2° 5, fol. 26v (HC 14915) und Cod. HB XIII 6, fol. 49v (HC 5917). Für weitere Belegexemplare vgl. Günther,Weltchronikhandschriften, S. 504 f. Das Ziegenmotiv findet sich ebenso in Jans Enikel-Handschriften, wozu Raymond Graeme Dunphy anmerkt, es besitze einen „touch of humour“; Dunphy, Daz was ein michel wunder, S. 143. Dies mag auf diese und einige andere Handschriften zutreffen, so zum Beispiel die wesentlich spätere, 1459 in der LauberWerkstatt entstandene Handschrift Bibliothèque de la Ville Colmar, Ms. 305, fol. 48v (HC 2566); die eine echte Säule mit dem darauf thronenden Haupt von Lots Gattin zeigt, an der ein ganzes Rudel verschiedener Tiere leckt. Die vorrangige Funktion des Motivs aber besteht meines Erachtens darin, das Material der Säule visuell anzuzeigen; es handelt sich, wie die zahlreichen Belege nahelegen, um eine gängige Chiffre in der Ikonographie. Vgl. Hochschul- und Landesbibliothek Fulda, Cod. Aa 88, fol. 46r (HC 2222); die nur eine menschenleere Stadt mit steinerner Statue zeigt.
6.1 Rudolf von Ems: Weltchronik
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Handschrift HB XIII 6 etwa betrachtet der letzte lebende Stadtbewohner mit gesenktem Haupt zwei Tote, im Fenster neben ihm eine Leiche, die optisch zwischen Mumie und Totenkopf changiert.³¹ Im Kasseler Kodex Ms. theolog. 2° 4 sind die Stadtbewohner in verschiedenen Stadien der Verzweiflung zu sehen, sie recken die Hände gen Himmel, stehen mit weit aufgeschlossenen Armen im Feuerhagel, beten und sterben, vor dem Stadttor kniet ein zusammengekauerter Mann, im Schoß ein Haupt gebettet.³² In der Miniatur der Karlsruher Handschrift Cod. Donaueschingen 79 quellen drei Leichen, eine von ihnen nackt, hinweggerafft im Fluchtversuch aus dem zerstörten Stadttor.³³ Die Darstellungen sind in ihrer Drastik deutlich darauf angelegt, ihrerseits Angst und Schrecken bei den Rezipierenden hervorzurufen.
6.1.2 Genealogische Dimensionierung im Ko(n)text Beim Vater-Tochter-Inzest selbst indes schenkt die Erzählung Emotionen keine Aufmerksamkeit. Lots Schrecken ist die einzige Emotion in der gesamten Episode, der Inzest geht (wie schon in der Bibel) ohne jede Gefühlsregung vonstatten. Auch kompositorisch ist die Narration an dieser Stelle nicht darauf ausgerichtet, die Rezipierenden zu affizieren. Im Gegenteil, in der Bibel findet sich eine kurze, in direkter Rede wiedergegebene Unterredung der Schwestern, bei der die Ältere die Jüngere instruiert (vgl. Gen 31 f. und 34), wobei die mimetische Darstellungsweise der Erzählung Anschaulichkeit verleiht. Rudolf nun nimmt die Dialogform zurück, er differenziert nicht zwischen den beiden Schwestern und gibt das Gespräch als unmarkierte indirekte Rede im Konjunktiv wieder (vgl. V. 4914– 4928), so dass sich textextern ein distanzierender Effekt einstellt. Die genealogische Notsituation wird als gegeben vorgestellt (vgl. V. 4917– 4923), ihr ‚zwingender‘ Charakter aber resultiert einzig aus der Beschlussfindung der Töchter, nicht aus den äußeren Umständen (als ez do wart von in gedaht, /als můstes geschehen da; ³⁴ V. 4929 f.). Begehrensstrukturen und Emotionen spielen in diesem Kontext keine Rolle, der Inzest ergibt sich allein in Folge einer rationalen Überlegung. Den inzestuösen Akt streift Rudolf nur im Vorübergehen, wenn er schreibt, dú eltir gie zůzim […] / und wart sin wip nah rehter art ³⁵ (V. 4931 f.). Damit wird auf die
Vgl. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. HB XIII 6, fol. 49v (HC 5917). Vgl. Universitätsbibliothek Kassel – Landes- und Murhardsche Bibliothek zu Kassel, Ms. theolog. 2° 4, fol. 50v (HC 8313). Vgl. Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 79, fol. 28v (HC 2780). „Sobald es von ihnen erdacht war, da musste es [auch] geschehen.“ „Die Ältere ging zu ihm […] und wurde seine Frau auf rechtmäßige Art und Weise.“
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rhetorischen Tabuvermeidungsstrategien ‚Flucht in die Allgemeinheit‘ und Euphemismus zurückgegriffen, der Tabubruch als Recht und Norm entsprechend kaschiert. Diese Bezeichnungspraxis lässt sich als Tabuisierung zweiter Ordnung beschreiben. Die Phrasen ‚zu ihm gehen‘ und ‚seine Frau werden‘ sind umschreibende Ersatzbegriffe für den sexuellen Akt im Allgemeinen, die im Lauf der Zeit diese Bedeutung neben ihrer ursprünglichen voll angenommen haben; eine Dynamik, die in der Forschung als ‚Euphemismus-Tabu-Zyklus‘ bezeichnet wird.³⁶ Die Tabuisierung wird auf eine zweite Stufe gehoben, indem die Phrasen hier nicht allein auf den Geschlechtsakt referieren, sondern speziell auf den ‚Sonderfall Inzest‘. Er bleibt an dieser Stelle ohne Kontur, da auch Verwandtschaftsbezeichnungen wie ‚Vater‘ und ‚Tochter‘ ausgespart und hinter Personalpronomina verdeckt werden. Vor allem aber werden auf die Schilderung des Geschlechtsakts beim ersten Inzest nur zwei Verse verwendet, während sieben darauf entfallen, Moab einzuführen und zu beschreiben, der aus dem Inzest geboren wird (vgl. V. 4933 – 4939). Ähnlich verhält es sich beim zweiten Inzest. Die Jüngere ‚geht‘ ebenfalls zum Vater, zielgerichtet heißt es nur, dass sie ein Kind von ihm empfängt, dessen Wirken und Nachkommen deutlich ausführlicher geschildert werden (vgl. V. 4942– 4952). Beide Sequenzen werden also von einer genealogischen Dimensionierung bestimmt, während die emotionale und die körperliche Komponente zurückgedrängt werden. Dieser Befund lässt sich anhand der Illustrationen zum Beilager in bebilderten Handschriften sowie weiterer Inzestgeschichten in Rudolfs Weltchronik differenzieren. Darstellungen des Beilagers schöpfen im klassischen Rudolf von Ems-Bildprogramm aus einem etablierten Motivbestand und werden typischerweise als Bettszene visualisiert. Lot liegt zugedeckt im Bett, die Töchter stehen neben ihm, die eine streicht am Kopfende den Bart des Vaters, die andere am Fußende die Decke.³⁷ Die Inzestthematik wird im Bild über die Chiffre des Bartstreichens bestenfalls angedeutet, der Geschlechtsakt im Einklang mit der Narration tabuisiert. Es lassen sich jedoch Varianzen beobachten, die den Grad der Tabuisierung betreffen. Betrachtet man zunächst die Karlsruher Handschrift Cod. Donaueschingen 79, fällt auf, dass Lot vollständig bekleidet im Bett liegt, nichts deutet auf den Inzest hin, vielmehr könnte man durch die direkt hintereinander geschaltete Bildfolge vermuten, Lot habe zu viel Wein getrunken und werde nun
Vgl. Hartmut Schröder: Semiotisch-rhetorische Aspekte von Sprachtabus. https://www.kuwi. europa-uni.de/de/lehrstuhl/sw/sw2/forschung/tabu/weterfuehrende_informationen/artikel_ zur_tabuforschung/semiot-rheto.pdf. VAKKI:n julkaisut 25 (1999) (18. Dezember 2017), S. 7. Ähnlich beispielsweise die neuhochdeutsche Phrase ‚miteinander schlafen‘. Vgl. klassisch etwa Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. HB XIII 6, fol. 50v (HC 5917).
6.1 Rudolf von Ems: Weltchronik
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am Krankenlager von seinen Töchtern umsorgt.³⁸ Im Fuldaer Kodex Cod. Aa 88 hingegen, in dem wahrscheinlich dasselbe Bildprogramm aus einer nicht erhaltenen älteren Handschrift verarbeitet wird,³⁹ sieht man Lot nackt im Bett. Die Tochter am Kopfende hält mit der einen Hand die seine und streicht ihm mit der anderen über die entblößte Brust. Die Tochter am Fußende ist vollständig entkleidet zum Vater unter die Decke geschlüpft, sie umschlingt hockend seine zugedeckten Beine, ihr nackter Bauch, Po und Oberschenkel sind deutlich zu erkennen (siehe Abb. 1 im Anhang).⁴⁰ Das Bild erhält Züge einer Ménage à trois und entfaltet im direkten Vergleich mit der Donaueschinger Miniatur erotischere Wirkung. Eine nachweislich direkte Abschrift der Donaueschinger Handschrift ist wiederum die Stuttgarter Handschrift Cod. bibl. 2° 5, zu der Martin Roland anmerkt: Das Bildprogramm wurde jedoch nicht blind übernommen, sondern einer durchgreifenden Revision unterzogen. Viele im Vorbild und in vielen anderen Weltchroniken unklare oder sogar unverständliche Szenen wurden hier offenbar nach gründlichem Studium des Textes (und des Bibeltextes?) korrigiert; das Bildprogramm dieser Handschrift ist wohl das einzige einer Weltchronik, das als korrekt und als dem Text entsprechend bezeichnet werden kann.⁴¹
Dieser korrigierende Zugriff zeichnet sich auch bei der Darstellung des Beilagers ab. Im Einklang mit der Narration wird der Donaueschinger Bildinhalt angepasst, die Bettszene als Zweierkonstellation konkretisiert, Lot liegt zugedeckt im Liebesspiel mit seiner älteren Tochter im Bett.⁴² Die Illustrationen dieser Handschrift zeichnen sich insgesamt durch eine feine und gut erkennbare Mimik und Gestik aus, sie bringen trotz einer einheitlichen und typisierten Grundformel „vielfältige Gefühlsregungen“⁴³ zum Ausdruck. So schauen sich Vater und Tochter hier, die Gesichter nah einander zugewandt, ernst (fast möchte man sagen skeptisch) in die Augen, Lots Mundwinkel sind leicht heruntergezogen. Er wird anders als im Text als aktiv Agierender in Szene gesetzt, liegt über die Tochter gebeugt und hält sie eng umschlungen, ihre rechte Brust lugt zwischen den Körpern hervor. Die Miniatur zeichnet sich durch eine detaillierte und vergleichsweise freizügige Darstellungsweise aus, was insbesondere in Abgrenzung zu Handschriften deut-
Vgl. Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 79, fol. 29r (HC 2780). Vgl. Roland, Weltchroniken, S. 293. Vgl. Hochschul- und Landesbibliothek Fulda, Cod. Aa 88, fol. 47v (HC 2222). Roland, Weltchroniken, S. 232. Vgl. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. bibl. 2° 5, fol. 27r (HC 14915). Die ältere Tochter wird in der Miniatur der Weinlist durch die Größe als ältere Schwester markiert und ist in der Bettszene an ihren Haaren als solche erkennbar. Roland, Weltchroniken, S. 224.
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lich wird, die den Inzest ebenfalls als konkretes Beilager inszenieren. Die Handschriften Colmar, Ms. 305, und Kassel, Ms. theolog. 2° 4, zeigen übereinstimmend eine Bettszene, Lot liegt bei einer seiner Töchter, die andere steht daneben und schaut zu.⁴⁴ Der Ausdruck ‚beieinander liegen‘ ist in dem Fall buchstäblich gemeint, Vater und Tochter berühren sich nicht, in der Colmarer Handschrift schauen sie sich nicht einmal an, auch wird die Ältere mit einer Haube als verheiratete Frau markiert, was das transgressive Moment des Inzests verschleiert. So zeigt sich, dass die Illustrationen zur Inzestepisode in Rudolf-Handschriften innerhalb einer engen und relativ festgefügten Bildmotivik doch Varianzen aufweisen, die den Darstellungs- und mit ihm den Tabuisierungsgrad betreffen, und zwar selbst da, wo sie in direkter genetischer Abhängigkeit stehen. Sie reichen vom Indiz des Bartstreichens als andeutende Geste bis zum offensichtlichen Liebesspiel, das Körper mal verdeckt, mal entblößt. Nicht ins Bild gesetzt hingegen wird der genealogische Aspekt, den der Text so profiliert; erst spätere Weltchronik-Kompilationen des 14. und 15. Jahrhunderts ergänzen eine Miniatur, die Lots Nachkommen visualisiert.⁴⁵ Damit sind die Illustrationen dort, wo die Darstellungsweise freizügig angelegt ist, auch als eine Art Gegenkommentar zum Text zu verstehen, da sie ins Bild setzen, was die Narration verschleiert, und ausblenden, was sie ausstellt. Die genealogische Dimensionierung der Lot-Geschichte als Kennzeichen Rudolfs lässt sich weiter spezifizieren, wenn man einen Seitenblick auf seine Weltchronik wirft, in der er zwei weitere Episoden adaptiert, die die Inzestthematik aufgreifen. So ist die Tabuisierung der Inzestthematik im Fall des Jakobssohns Juda im Vergleich zur Lot-Geschichte noch maximiert, wenn Rudolf im Stil der biblischen Stammbäume zwar Judas und seine Frau Sue sowie deren gemeinsame Söhne Her und Omam listet, dann aber übergangslos mit Tamar fortfährt, die als Judas’ zweite Frau, rechtmäßige Gattin und Mutter seiner Söhne Phares und Zara vorgestellt wird (vgl. V. 7142– 7145). Dass Tamar zuvor zunächst mit Judas’ Erst-, dann mit seinem Zweitgeborenen verheiratet ist (vgl. Gen 38,6 – 10),⁴⁶ wird nicht erwähnt, die vorgängige Verwandtschaft verschwiegen. Bereits vor dem Horizont der levitischen Gesetze bewegt sich die Geschichte in
Vgl. Universitätsbibliothek Kassel – Landes- und Murhardsche Bibliothek zu Kassel, Ms. theolog. 2° 4, fol. 51r (HC 8313); Bibliothèque de la Ville Colmar, Ms. 305, fol. 49r (HC 2566). Vgl. etwa Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 250, fol. 30r (HC 9446); Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Hdschr. 389, fol. 35r (HC 3275). Siehe hierzu ausführlich Kap. 6.4. Als Tamars Mann Er kinderlos verstirbt, gibt Juda sie seinem Zweitgeborenen Onan, um Nachkommen zu zeugen. Weil diese Kinder als Söhne des toten Bruders gelten, verweigert sich Onan der Fortpflanzung und lässt seinen Samen auf den Boden fallen (vgl. Gen 38,9), hierher auch der Begriff ‚Onanie‘, der eigentlich den coitus interruptus meint; vgl. Kluge, S. 667.
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einem Graubereich konfligierender Normen. Eigentlich verbietet das levitische Recht Verbindungen zwischen Schwager und Schwägerin (vgl. Lev 18,16), doch ist ein verheirateter Mann ohne Nachkommen geblieben, greift nach seinem Tod das Gebot der sogenannten Leviratsehe und seine Brüder sind gestaffelt nach Alter verpflichtet, Söhne mit der verwitweten Schwägerin zu zeugen, um den Erhalt seines Geschlechts zu sichern (vgl. Dtn 25,5 – 10).⁴⁷ Das Gebot der Leviratsehe setzt zwar nicht das Beischlafverbot für Schwiegervater und Schwiegertochter außer Kraft (vgl. Lev 18,15), doch handelt Tamar – daran lässt die Bibel keinen Zweifel (vgl. Gen 38,26) – rechtmäßig, als sie Juda heimlich als Prostituierte beiliegt, verweigert ihr der Schwiegervater doch seinen dritten Sohn zur Ehe und vertreibt Tamar aus seinem Haus, so dass sie zur Täuschung genötigt ist, um Kinder zu empfangen (vgl. Gen 38,11– 16). Vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Ehehindernisse aber überschlagen sich die Transgressionen des Inzesttabus geradezu. Das Verbot der Schwagerehe gilt gemäß der una caro-Lehre über den Tod hinaus, ein aufhebendes Gebot existiert nicht, Tamar steht plötzlich im Fadenkreuz eines multiplen Inzests, zusätzlich verstärken Prostitution und Ehebruch den transgressiven Charakter der Narration. So zeitigt Rudolfs Auslassung einen spezifischen Effekt: Da sich aus dem unter anderem von Tamars Sohn Perez abhängigen Davidsgeschlecht in direkter Folge Jesus’ ‚Vater‘ Josef ableitet (vgl. Mt 1,1– 17), kann eine lückenlose Genealogie von Abraham bis Jesus aufrechterhalten und zugleich vom Vorwurf des Inzests freigehalten werden – die Vorfahrin Tamar wird erwähnt, die Inzestthematik ausgespart. Dieser Vorwurf jedoch ergibt sich überhaupt erst vor dem Hintergrund der kirchenrechtlichen Erweiterung der Inzestverbote, so dass der tabuisierende Zugriff als Zeugnis seiner Zeit gesehen werden kann. Zugleich wird retrospektiv deutlich, dass auch der Inzest zwischen Lot und seinen Töchtern hätte verschwiegen und eine alternative Herleitung Moabs und Ammons leicht hätte gefunden werden können. Unterschiedliche Grade der Tabuisierung werden manifest: Auf der Ebene der affinitas ist die Inzestthematik im Stammbaum Jesu stärker tabuisiert als die Ebene der consanguinitas in einem genealogischen (und potentiell problematischen) Nebenstrang des Abrahamsgeschlechts. Für beide Fälle indes gilt, dass der Fokus auf der genealogischen Dimension liegt, Erzählanlass gibt weniger der Inzest als vielmehr die aus ihm Geborenen. Während die Juda(s)-Geschichte in Bibel und Weltchronik ebenfalls ohne Emotionen auskommt, übernimmt Rudolf aus dem zweiten Buch Samuel eine ganz andere Inzestgeschichte, die sich um eine Namensschwester Tamars rankt (vgl. 2 Sam 13). Sie weist weitreichende Unterschiede zur Lot-Geschichte auf: Das
Vgl. hierzu a. Freisen, Geschichte, S. 440 ff.; Többen, Inzest, S. 7.
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Begehren geht von einem Mann aus und wird mithilfe einer List gegen den Willen und Widerstand der Frau mit Gewalt vollzogen (vgl. 2 Sam 38,5 – 14), die Inzestmit einer Vergewaltigungsthematik überblendet. Eine genealogische Konfliktsituation liegt nicht vor, dafür kommt Emotionen mehr Gewicht zu. Dies gilt bereits für den biblischen Prätext, umso mehr aber für Rudolfs Bearbeitung. So verliebt sich Davids erstgeborener Sohn Amnon in seine Halbschwester Tamar (vgl. 2 Sam 13,1 f.), was Rudolf mit dem Motiv der Liebeskrankheit höfisch überblendet (vgl. V. 29110 – 29121). Mit dem Vollzug kippt das Begehren in Hass, der seinerseits motivational wirksam wird und Amnon die geschundene Schwester von einem Knecht mit einem Fußtritt aus dem Haus werfen lässt (vgl. 2 Sam 13,15 ff.; V. 29155 – 29179). In der Bibel wird nur beschrieben, wie Tamar sich daraufhin am Kleid zerrt und den Kopf bedeckt (vgl. 2 Sam 13,18), erst Rudolf deutet und expliziert die nonverbalen Zeichen als Ausdruck von leit, scham und jâmer (vgl. V. 29180 – 29183). Die Ehrverletzung lässt Tamar ihrem Bruder Absalon ihr Leid klagen, der in Zorn gerät und seinen Bruder schließlich aus Rache tötet (vgl. 2 Sam 20 – 37; V. 29184– 29261), woraus sich ein epischer Konflikt mit seinem Vater David entspinnt. Während Absalon in der Bibel an dieser Stelle sozusagen Unrecht mit Unrecht vergilt, betont Rudolfs Weltchronik, dass seine erste Rachehandlung mit Recht geschehe (vgl.V. 29210 – 29214; 29255 – 29261), erst als er auf seinem Feldzug gegen David in einem sexuellen Exzess mit dessen Nebenfrauen schläft und sich damit selbst des Inzests schuldig macht, wird daraus Unrecht (vgl. V. 29691– 29718). Stärker noch als in der Bibel erscheint die Inzestthematik somit im textinternen Normgefüge als Vergehen, das es mit Recht zu ahnden gilt. Emotionen stellen dabei das zentrale Substrat der Handlung, sie motivieren und dynamisieren Handlung. Vor allem aber enthalten sie ein ausgeprägtes Problem- und Konfliktpotential. Emotionen (beziehungsweise die mangelnde Kontrolle über sie) sind der Grund allen Übels, Motivation für verderbliche Handlungen wie Inzest, Vertreibung und Brudermord. Insbesondere eine Leerstelle rückt durch den intratextuellen Vergleich in den Vordergrund: Der Inzest zwischen Lot und seinen Töchtern geht weder mit minne noch mit anderen Formen des Begehrens einher. Die relative Emotionslosigkeit der Inzestepisode wirft damit auch ein positives Licht, zeitigt minne in der Erzählung von Tamar doch so verheerende Folgen. Entscheidend scheint zu sein, dass sich in der Tamar-Geschichte durch die Vergewaltigungs-, Entjungferungs- und Ehrthematik ein eindeutigerer Normhorizont abzeichnet, der keine genealogischen Entlastungsmomente kennt. Doch enthält auch die Lot-Geschichte bei Rudolf ein größeres Problempotential als in der Bibel, da er einen Erzählerkommentar anschließt, auf den nun zu sprechen zu kommen ist.
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6.1.3 Verworrene Verwandtschaft im Geschlecht der Sünde Rudolf verlässt mit einem Erzählerkommentar, der die knappe Narration flankiert (vgl. V. 4953 – 4967), sein selbstauferlegtes Gebot von Kürze und Wahrheit.⁴⁸ Der Kommentar nimmt gut ein Viertel der Episode ein und lässt sich in der Form auf keine Quelle zurückführen, auch wenn Rudolf vorgibt, als dú scrift úns hat verjehen ⁴⁹ (V. 4967); ein geschickter Winkelzug, die eigene Interpretationsleistung als Gemein- und Quellengut auszugeben. Lot was mit selkir trunckenheit betoibit in den sinnen das er niht wart innin das er bi sinen tohtirn lac und ir ze wibe beidir pflac, so das er wart ir beidir man und sinir súne beidir an unde von dem libe sin geborn wart sin einiclin und brůdir wrdin můmin kint. (V. 4953 – 4962) Lot war von dieser Trunkenheit so besinnungslos, dass er nicht bemerkte, dass er bei seinen Töchtern lag und sie beide zu seiner Frau machte, so dass er ihrer beider Ehemann und seiner beiden Söhne Großvater wurde und seine Enkelchen wurden von ihm selbst gezeugt und Brüder wurden Cousins [wörtlich: Kinder von Mutterschwestern].
Der Nexus von Trunkenheit und Unwissenheit wird zunächst als wesentliches Moment des Vater-Tochter-Inzests hervorgehoben, indem er der Handlung nachgestellt noch einmal besonders betont wird. Wie stark dieser Sinnzusammenhang auch die Rezeption bestimmt, lässt sich an den Bilderzyklen in illustrierten Handschriften nachvollziehen, die bevorzugt die Doppelwendung von Weinlist und Beischlaf ins Bild setzen, meist realisiert als zwei dicht aufeinander folgende Illustrationen, die zum Teil zu einem Doppelbild zusammengeschlossen oder synthetisiert werden.⁵⁰ Für Rudolf bildet er jedoch nur die Steilvorlage, noch ei-
Auch an anderen Stellen der Weltchronik geraten beide Ideale beizeiten in Konflikt, Rudolf streicht offensichtliche Wiederholungen in der Vulgata und distanziert sich von den jüdischen Sitten; vgl. Tippelskirch, Weltchronik, S. 68. Auf der anderen Seite durchsetzt er den Text mit Exkursen und Vorausdeutungen, die zusätzlich Orientierung geben; vgl. Boor/Newald, Die höfische Literatur, S. 176; Walliczek, Rudolf von Ems, Sp. 341. „Wie uns die Quelle/die Überlieferung/die Bibel verkündet hat“. In den von Günther untersuchten illustrierten Rudolf von Ems-Handschriften beinhalten neun von 17 Textzeugen jeweils ein Bild zu Weinlist und Inzest; vgl. Günther, Weltchronik-
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nen Schritt weiter zu gehen. In dem zitierten Konsekutivsatz werden die gravierenden Folgen des Inzests heraufbeschworen, der Töchter zu Ehefrauen und Söhne zu Enkelkindern macht. Rudolf, der mit den Schriften von Augustinus vertraut gewesen sein dürfte,⁵¹ amalgamiert damit aus dessen Schrift Der Gottesstaat kreativ den bereits skizzierten Grundgedanken, der sich eigentlich auf die direkten Abkömmlinge Adams nach der Vertreibung aus dem Paradies bezieht.⁵² Wenn überhaupt ein Beleg für Rudolfs Quellenbekundung in Betracht kommt, ist es dieser. Nur dient der intertextuelle Verweis nicht wie bei Augustinus dazu, eine exzeptionelle Notlage zu entwerfen, die den Inzest akzeptabel macht. Die gegebene Zwangslage wird nicht analogisiert, Lots Töchter nicht entlastet. Vielmehr zieht Rudolf verheerende Schlüsse aus der multiplen Verwandtschaftsunordnung: die sippe die sus virworren sint / und nu můstin súntlich sin, / geschůfen wip und fůgte win ⁵³ (V. 4963 ff.). Die durch den Inzest verworrene Verwandtschaft wird mit dem Stigma der Sünde belegt, Frauen als Urheberinnen gesetzt – Sündhaftigkeit gerät zu einer generalisierten Konstante des weiblichen Geschlechts. Diese Idee findet sich zwar prominent im biblischen Sündenfall präfiguriert, die Projektion auf die Lot-Geschichte aber ist eigentümlich. Ein rechtfertigender textinterner Normbestand existiert nicht, da Rudolf in den Büchern Levitikus, Numeri und Deuteronomium starke Kürzungen vornimmt,⁵⁴ denen unter anderem die levitischen Eheverbote zum Opfer fallen.⁵⁵ Auch Augustinus entfaltet keine ver-
handschriften, S. 504 f. Hinzu kommt die Handschrift Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 6406 (HC 1249); die die Miniaturen aufgrund von Blattverlust, verursacht durch eine Neubindung im 19. Jahrhundert, zwar nicht mehr enthält, aber, wie Roland plausibel darlegt, ursprünglich enthalten hat; vgl. Roland, Weltchroniken, S. 115. In der Handschrift Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. HB XIII 6, fol. 50v (HC 5917); werden die Inhalte in einem Doppelbild zusammengefasst; in der späten Handschrift Bibliothèque de la Ville Colmar, Ms. 305, fol. 49v (HC 2566); zu einem Bild verschmolzen. Diese Doppelwendung ist typisch für die Rudolf von EmsÜberlieferung und findet sich in der Form nicht in der Enikel-, Christherre- oder Historienbibeltradition. Vgl. Brackert, Rudolf von Ems, S. 178; Danielle Jaurant: Rudolfs Weltchronik als offene Form. Überlieferungsstruktur und Wirkungsgeschichte, Tübingen, Basel 1995 (Bibliotheca Germanica 34), S. 15 und 45 f. Siehe hierzu ausführlich Kap. 2.2.; 3.2.1.; 6. „Die Geschlechter, die so in Unordnung gebracht sind, dass sie fortan sündhaft sein sollten, schufen Frauen und bewirkte Wein.“ Vgl. Tippelskirch, Weltchronik, S. 68; die auf die Selbstdistanzierung in V. 11976 ff. hinweist. Rudolf geht im Prinzip direkt von Ex 21,24 ff. (dem ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘-Gebot, das er anprangert und gegen das christliche Ideal der Vergebung ausspielt) über zu Buch Numeri (vgl. V. 12890 – 12948). Aus dem Buch Levitikus wird einzig Lev 24 übernommen (vgl. V. 12910 ff.), dem ein kurzer Erzählerkommentar vorgeschaltet ist, den Rudolf einleitet mit davon wilich der ê gedagin / und von ir lúzil mere sagin (V. 12902 f.; „Deshalb möchte ich von der Ehe schweigen und
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gleichbare geschlechtsspezifische Logik, was ebenso für weitere mögliche Quellen gilt,⁵⁶ aus denen Rudolf ganz andere Lesarten und Interpretationen der LotGeschichte hätte schöpfen können. In der Historia scholastica von Petrus Comestor beispielsweise werden die Töchter in der Tradition des Hieronymus explizit als entschuldbar bezeichnet, weil sie aus der Einsicht heraus handeln, die Welt sei ausgestorben.⁵⁷ Lots Verhalten hingegen sei, wie auch Walahfrid Strabo argumentiere, unentschuldbar und münde als Wurzel des Übels in einer ganzen Verkettung von Sünden.⁵⁸ Rudolfs Kommentar ist damit als historisches Zeugnis zu sehen, das den ‚Casus Lot‘ durch Selektion und Kombination verschiedener Quellen eigenwillig als Exempel für die Sündhaftigkeit des weiblichen Geschlechts interpretiert. Diese Lesart bleibt nicht ohne Widerspruch, wie einzelne Redaktionen der deutlich späteren, ab dem Ende des 14. Jahrhundert anzusetzenden Historienbibeln zeigen.⁵⁹ Die an Rudolf von Ems orientierte Gruppe IIa etwa schließt mit dem Satz: Also was Lot ein sündig man, das geschüff der win und wiber rot ⁶⁰. Die noch gut erkennbare Quelle wird im Sinngehalt verkehrt, nicht das weibliche Geschlecht, sondern der bei Rudolf so positiv gezeichnete Lot wird zum Inbegriff der Sünde. Bleibt hier zumindest noch der Rat der Frauen ursächlich, stellt die Gruppe IIIb, deren Grundstock eine Übersetzung der Historia Scholastica von Petrus Comestor bildet,⁶¹die umgekehrte Schuldökonomie noch stärker heraus, indem der Hieronymus/Strabo-Kommentar leicht gekürzt übernommen wird. Während das Handeln der Töchter entschuldigt werden könne, da sie dachten, das Menschengeschlecht stürbe aus, wenn nicht sie selbst es mehrten, sei Lots von ihr wenig berichten“). Er gibt an, nur auf das eingehen, das nútze und gůt ze wizzende ist (V. 12909; „was nützlich und gut zu wissen ist“), wozu er die Eheverbote offensichtlich nicht zählt, die er geflissentlich übergeht. Zu Rudolfs Quellenmaterial vgl. Hubert Herkommer: St. Galler Kodex als literarhistorisches Monument. In: Rudolf von Ems Weltchronik. Der Stricker Karl der Große. Hrsg. von Ellen J. Beer u. a., Luzern 1987, S. 127– 273, hier S. 149. Vgl. Petri Comestoris Scolastica historia. Liber Genesis. Hrsg. von Agneta Sylwan, Turnhout 2005 (CCCM 191), S. 103. […] infidelitas eius causa fuit incestus. […] peccatum causa peccati; ebd., S. 103. Zu den Historienbibeln und ihren Redaktionen vgl. grundlegend Hans Vollmer: Ober- und mitteldeutsche Historienbibeln, Berlin 1912 (Materialien zur Bibelgeschichte und religiösen Volkskunde des Mittelalters 1/1); Ders.: Niederdeutsche Historienbibeln und andere Bibelbearbeitungen, Berlin 1916 (Materialien zur Bibelgeschichte und religiösen Volkskunde des Mittelalters 1/2). Einen Forschungsüberblick gibt Jaurant, Weltchronik, S. 29 – 40. Die deutschen Historienbibeln des Mittelalters. Hrsg. von Theodor Merzdorf, Bd. 1, Tübingen 1870 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 100), S. 652; „Auf diese Weise wurde Lot ein sündiger Mann, das bewirkten der Wein und der Rat der Frauen.“ Vgl. Vollmer, Ober- und mitteldeutsche Historienbibeln, S. 23.
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Handeln unentschuldbar, seine Trunkenheit führe direkt in Sünde und Verderbnis. Dieses Diktum wird am Exemplum narrativ vorgeführt, hier sind es die Schwestern, nicht Lot, die sich fürchten, wobei der Anlass ihrer Furcht regelrecht vor Augen und Ohren gestellt wird, sie hören noch das Prasseln der Brände und fürchten, die Welt werde im Feuer vergehen. Der Inzest wird in biblischer Manier kurz anzitiert, was einen Erzählerkommentar aus kritischer Distanz provoziert – dass der Geschlechtsakt an sein wissen („ohne sein Wissen“) vonstattengegangen sein soll, das ist doch nicht gar müglich von natur oder man spracht das loth nich weste das sy sein töchter wärent / er want es war sein hawsfraw ⁶². Diese ‚kritische‘ Lesart steht in diametralem Gegensatz zu Rudolfs interpretativer Aneignung. Seine Fassung der Lot-Geschichte zeichnet sich, wie zusammenfassend gesagt werden kann, durch eine starke genealogische Dimensionierung aus, der durch den nachgeschalteten Kommentar ein spezifischer Problemgehalt verliehen wird. Gendertheoretisch gesprochen sind die Sympathien einseitig auf Lot verteilt, der als Opfer der Handlungen seiner Töchter erscheint, während Sündhaftigkeit als Eigenschaft des weiblichen Geschlechts gesetzt wird. Emotionen spielen dabei auf textinterner Ebene eine ähnlich marginale Rolle wie im biblischen Prätext, doch haftet ihnen auch, wie die Geschichte um Amnons Tamar im Kontext der Weltchronik illustriert, eine destruktive Kraft an, so dass die Leerstelle implizit positives Schlaglicht wirft. Textextern stellt die Narration an zwei Stellen zumindest rudimentär darauf ab, die Rezipierenden zu affizieren. Während die Inzestthematik weitläufig tabuisiert wird, bietet die Episode an ihrem Anfang und ihrem Ende potentielle Anschlusspunkte, die Rezipierenden mit Lot Gott fürchten zu lassen respektive sich von Lots Exempel abschrecken zu lassen. Gleichsam scheint für Rudolf eine gewisse Faszinationskraft von dem Grundgedanken auszugehen, dass die Verwandtschaftsordnung durch den Inzest aus den Fugen gerät – die verschiedenen, durch den Inzest uneindeutig gewordenen Verwandtschaftsbegriffe ‚Ehemann‘, ‚Großvater‘, ‚Söhne‘, ‚Enkel‘, ‚Mutterschwesterkinder‘ werden nicht allein additiv hinzugefügt, sie werden geradezu ostentativ ausgestellt.
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1108, fol. 21r (HC 8506); „Das ist doch von Natur aus gar nicht möglich, es sei denn man sagt, dass Lot nicht wusste, dass sie seine Töchter waren [und] er dachte, es wäre seine Ehefrau.“
6.2 Christherre-Chronik
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6.2 Christherre-Chronik Die anonym überlieferte Christherre-Chronik (um 1270/1280) steht Rudolfs Chronik nah und galt lange als Variante seines Geschichtswerks.⁶³ Im Vergleich zeigt sie aber eine breitere Ausgestaltung einzelner Episoden und legt einen stärkeren Fokus auf geistliche Themen, ihr „Anliegen […] ist weniger chronographischer als theologischer Natur“⁶⁴. Das Werk ist primär Bibeldichtung, das Geschichtsbewusstsein heilsgeschichtlich geprägt.⁶⁵ Es verfährt in der Regel quellen- und damit bibelnah,⁶⁶ so auch in der Inzestepisode, die 65 Verse einnimmt (vgl. V. 5967– 6032), und damit die Handlung etwas ausführlicher entfaltet als Rudolf von Ems, zumal ein vergleichbarer Kommentar fehlt.
6.2.1 Die Angst des Vaters Die Christherre-Chronik beschränkt sich auf textinterner Ebene ebenfalls auf die Furcht des Vaters, wobei timor analog mit vorhte (vgl.V. 5967) übersetzt wird. Mhd. vorhte trägt die Grundbedeutung „furcht, angst, besorgnis“⁶⁷ und besitzt eine objektive Bedeutungsdimension im Sinne von ‚Schrecken‘ als das kategorial ‚Furchterregende‘,⁶⁸ so dass sich auch hier der Sinngehalt normkonformer Gottesfurcht annehmen ließe. Doch kommt es zu einer semantischen Verschiebung, indem die Textstelle ausgebaut wird: Lot was noch in vorchte Die im di sorge worchte Vnd in zwiuel ouch lerte
Im Folgenden im Fließtext zitiert nach der Teiledition Christherre-Chronik. Göttinger Handschrift Cod. 2° Ms. Philol. 188/10 Cim. (olim Gotha, Membr. I 88). Transkription von Monika Schwabbauer. http://dtm.bbaw.de/bilder/christh.pdf. Trier 1991 (02. Februar 2017). Der Textbefund deutet darauf hin, dass der Verfasser Rudolfs Weltchronik zwar gekannt, jedoch nicht als Quelle im eigentlichen Sinn herangezogen hat; vgl. Plate, Überlieferung, S. 2. Stellen, die auf eine genetische Abhängigkeit hindeuten, sind gegebenenfalls auf das geteilte Quellenmaterial sowie mündlich tradierte oder verlorene Quellen zurückzuführen; vgl. Schwabbauer, Profangeschichte, S. 110. Ebd., S. 117; vgl. a. S. 36; 116 f. und 197. Am Beispiel der Textzusammenstellung in frühen Sammelhandschriften ähnlich a. Plate, Überlieferung, S. 300. Vgl. Schwabbauer, Profangeschichte, S. 116 und 197. Vgl. Plate, Überlieferung, S. 2. Lexer 3, Sp. 469. Vgl. Ulrich Pretzel: Mittelhochdeutsche Bedeutungskunde, Heidelberg 1982 (Germanische Bibliothek 1: Sprachwissenschaftliche Lehr- und Elementarbücher), S. 59.
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Uf einen berk er kerte Mit sinen tochteren / vnd vloch In ein hol er sich zoch Vnd lag darinne uirborgen Mit sorclichen sorgen. (V. 5967 – 5974) Lot war noch voller Furcht, die ihm die Bedrängnis einhandelte und ihm auch Zweifel beibrachte. Er ging auf einen Berg mit seinen Töchtern und floh, er zog sich in eine Höhle zurück und lag darin versteckt mit sorgenvollen Sorgen.
Sorge wird zum Leitbegriff. Sie meint im Mittelhochdeutschen „mit größter Häufigkeit den Vorgang, die Haltung, den Inbegriff des Sichsorgens“ und macht im semantischen Querschnitt für vorhte die geteilte Bedeutung von „Angst“, „Besorgnis“⁶⁹ dominant. Angst aber nun kann gerade im Gegensatz zur Gottesfurcht als Ausweis mangelnden Gottvertrauens gelten,⁷⁰ wie Annette Gerok-Reiter mit Blick auf den theologisch-philosophischen Diskurs konstatiert: „Gottesfurcht führt in der Konsequenz zur Angstlosigkeit in der Welt. Mangelnde Gottesfurcht ruft dagegen Angst in der Welt hervor“⁷¹. Hinzu tritt die Kombination mit mhd. zwîvel („Zweifel“; „Unsicherheit“; „Verzweiflung“⁷²), was sich mit desperatio in Verbindung bringen lässt, eine „in der patristischen, monastischen und scholastischen Tradition […] unvergebbare Sünde wider den Heiligen Geist“⁷³. So führt die Emotionalisierung der Textstelle zu einer Sinnverschiebung; noch nach der gottbefohlenen Flucht in die Berge verharrt Lot in Sorge und Zweifel. Die ihm zugeschriebenen Emotionen bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen positiv konnotierter Gottesfurcht und negativ besetzter Angst aus mangelndem Gottvertrauen. Letzteres ist textintern durch das unmittelbar vorgeschaltete Handlungsereignis konflikthaft aufgeladen. Bei der Zerstörung Sodoms und Gomorrhas werden, so Monika Schwabbauer, didaktische Zusätze inseriert, „der moralische Zeigefinger [liegt] auf der Neugier von Lots Frau und ihrem Ungehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot“⁷⁴. Lot nimmt damit eine Zwischenposition ein, er gehorcht auf der Handlungsebene Gottes Wort, die ihm zugeschriebenen Emotionen aber signalisieren mangelndes Gottvertrauen. Der in der lateinischen Tradition präsente Vorwurf, Lot habe nicht darauf vertraut, dass die
Wolf, Vademecum medievale, S. 85; mit Blick auf die historische Semantik von mhd. sorge. Vgl. Gerok-Reiter, Angst, S. 133. Gerok-Reiter, angest, S. 17. Vgl. Hennig, S. 503. Ulrich Ernst: Der Gregorius Hartmanns von Aue. Theologische Grundlagen – legendarische Strukturen – Überlieferung im geistlichen Schrifttum, Köln 2002 (Ordo 7), S. 167. Schwabbauer, Profangeschichte, S. 142; vgl. insgesamt S. 141 f.
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Engel ihn aus Segor retten können,⁷⁵ kommt so implizit zum Ausdruck. Explizit wird er in der um 1370 entstandenen Münchner Handschrift Cgm 5, die Lots Furcht den Zusatz alz in der teufel lert ⁷⁶ hinzufügt, was die der Bibel zugrundeliegende Logik in ihr Gegenteil verkehrt – Lots Furcht wird vom Ausweis seiner Gottfolgsamkeit zum Signum seiner Gottverlassenheit. In anderen Textzeugen hingegen wird die Beschreibung von Lots Furcht noch einmal mit bis zu sechs Versen ausgebaut und mit dem Gottesgericht verknüpft, so dass ihr Anlass verdeutlicht und die Flucht plausibilisiert wird,⁷⁷ die emotionale Logik von Gotteszorn und menschlicher Furcht also als Korrektiv zu Sorge und Angst wieder in ihr Recht gesetzt wird. Die Emotionalisierung der Textstelle in der Christherre-Chronik und ihre rhetorisch-stilistischen Merkmale lancieren Emotionen auf textexterner Ebene. Es ist eine hohe Frequenz an Emotionswörtern und emotional aufgeladenen Begriffen zu verzeichnen, die repetitiv eingesetzt werden, wozu neben dem zorn Gottes (vgl. V. 5954, 5956) und der sorge Lots (vgl. V. 5968, 5974) auch verderben (vgl. V. 5977, 5983, 5988) oder sterben (vgl. V. 5978, 5984) zu zählen sind. Insbesondere das Polyptoton mit sorclichen sorgen (V. 5974), das in einer Doppelbewegung ebenso mit „sorgenvollen“ wie mit „besorgniserregenden Ängsten/Sorgen“ übersetzt werden kann, wirkt mit Blick auf die textexterne Ebene potentiell intensitätssteigernd.⁷⁸ Ob sich die Rezipierenden mit Lot fürchten oder ob Sorge und Zweifel eine ablehnend-verurteilende Haltung evozieren, die aus dem Bruch mit einem christlich geprägten Erwartungshorizont resultiert, lässt sich auf der Grundlage von Textindizien nicht beantworten. Generell aber kann die These
Vgl. Petri Comestoris Scolastica historia, S. 103. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 5, fol. 37r (HC 7989); „wie ihn der Teufel lehrt“. Vgl. im Überblick Roland, Weltchroniken, S. 82. Es handelt sich um einen Mischtext aus Jans Enikel und Christherre-Chronik, die Lot-Geschichte wird nach Christherre erzählt. Der Rekurs auf den Teufel im Rahmen der Lot-Geschichte findet sich allgemein auch in der Historia Scholastica formuliert; vgl. Petri Comestoris Scolastica historia, S. 103. So etwa in den Redaktionen α und β der Weltchronik, die sich mit dem Namen Heinrich von München verbindet. Sie erzählen die Lot-Geschichte weitgehend nach Christherre; vgl. Johannes Rettelbach: Studien zur Weltchronik Heinrichs von München. Bd. 2/1: Von der Erweiterten Christherre-Chronik zur Redaktion α,Wiesbaden 1998 (Wissensliteratur im Mittelalter 30/1), S. 258. Die Plusverse sind Ersatzverse für V. 5967 f. der Christherre-Chronik und finden sich in einer Mehrzahl der bei Dorothea Klein berücksichtigten Heinrich von München-Handschriften; vgl. Dorothea Klein: Studien zur Weltchronik Heinrichs von München. Bd. 3/2: Die wichtigsten Textfassungen in synoptischer Darstellung,Wiesbaden 1998 (Wissensliteratur im Mittelalter 31/2), S. 82 f.; vgl. a. S. 103. Zur theoretisch-methodischen Grundlegung siehe ausführlich Kap. 4.3.2.
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vertreten werden, dass die Emotionalisierung der Textstelle einer Affizierung der Rezipierenden Vorschub leistet. Das sich anschließende Gespräch der Schwestern hingegen folgt einer eigenwilligen Darstellungsweise, die einen genau gegenteiligen Effekt haben dürfte. Es zerfällt in zwei Teile. Die Schwestern, so leitet der erste Teil ein, wurden vnder in inein (V. 5976; „wurden unter sich einig“), dass Welt und Menschengeschlecht nicht aussterben sollen (vgl. V. 5977– 5983). Durch die Verwendung der indirekten Rede und des Konjunktivs stellt sich auf textexterner Ebene ein distanzierender Effekt ein, der inhaltlich verstärkt wird, indem die Logik des Not-Inzests ebenso wie bei Rudolf von Ems auf die Entscheidung der Töchter, nicht auf eine gegebene Notwendigkeit zurückgeführt wird (vgl. V. 5979 f.). Hierauf folgt ein zweiter Teil, der in direkter Rede wiedergegeben wird und doch keinen Dialog ergibt – ältere und jüngere Schwester sprechen mit einer Stimme, wie die Markierung der Sprecherposition Si sprachen (V. 5984) anzeigt, in der Rede selbst wird dann aber zwischen ‚Ich‘ und ‚Du‘ unterschieden (vgl. V. 5002). Ist der Text an dieser Stelle formal darauf angelegt, die Rezipierenden in Distanz zum Erzählten zu rücken, kommt es auf textinterner Ebene erneut zu einer Emotionalisierung der Handlung. Lots Sorge und Angst werden motivational wirksam, es ist das Leid des Vaters, an das sich der Plan der Schwestern hängt (vgl. V. 5990 – 5993), der damit gewissermaßen zu einem Ausdruck von Hilfe wird. Anders als in der Bibel wird ein Geflecht von Emotion und Reaktion transparent, Emotionen dynamisieren die Handlung. Von Begriffen des Begehrens indes bleibt die Inzestthematik auch in der Christherre-Chronik frei.
6.2.2 Der sündige Samen Der Inzestakt wird ganz ähnlich wie bei Rudolf von Ems bibelnah, emotionslos und ergebnisorientiert abgehandelt. Vorbemerkend wird die Trunkenheit Lots betont, die ihn sinnes- und verstandeslos macht (vgl. V. 5999 – 6002). Beim ersten Inzest wird auf mit Rudolf von Ems vergleichbare Strategien der Tabuvermeidung zurückgegriffen: Die elder tochter zu im ginc / Von im si samen empfienc ⁷⁹ (V. 6004 f.), wobei der Zusatz [n]ach menschlicher art (V. 6005; „der menschlichen Natur gemäß“) den transgressiven Charakter des Inzests in einem anthropologischen Kontinuum auffängt. Noch einmal wird herausgestellt, dass Lot nichts bemerkt (vgl. V. 6006 ff.); von den insgesamt zehn Versen, die den Inzest ‚schildern‘, entfallen sieben (!) auf das Insistieren, dass Lot unwissend sei. Eine Art
„Die ältere Tochter ging zu ihm [und] empfing von ihm seinen Samen.“
6.2 Christherre-Chronik
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Gegenkommentar bildet hier eine Miniatur in der bereits erwähnten Münchner Handschrift Cgm 5, der einzigen Christherre-Handschrift, die die Szene überhaupt bebildert.⁸⁰ Das Bildprogramm orientiert sich in an Enikel und schaltet die Miniaturen ‚Lots Frau als Salzsäule/Lots Flucht‘ und ‚Lots Blutschande‘ auf einem Blatt direkt hintereinander.⁸¹ Im linken Bildteil sieht man Stadttor und Salzsäule, im rechten die Flucht der Töchter, denen der Vater vorauseilt, so dass er aus dem Rahmen heraus zu schreiten scheint.⁸² Indem nun direkt daneben eine Miniatur positioniert wird, die Lot und eine seiner Töchter im Bett zeigt, entsteht in der mise en page der optische Eindruck, die Flucht führe Vater und Tochter unmittelbar und ohne den Umweg der Weinlist ins Bett; eine Dynamik, die konträr zur Bildfolge im Rudolf von Ems-Bildprogramm mit ihrer Zentralstellung der Weinlist steht. Bezeichnend ist die Bettszene: Während die Tochter wacht und den Vater anblickt, hält dieser die Augen geschlossen und schläft, was im Einklang mit der Narration steht, die auf Lots Unwissenheit hinweist (vgl.V. 6006 f.). Im Schlaf aber umschlingt er die Tochter mit seinem rechten Arm und hält ihre linke Brust in der Hand, was in Abgrenzung zum Text eine aktive Beteiligung Lots suggeriert. Der Text selbst vermeidet Suggestionen dieser Art, wie auch der zweite Inzest zeigt. Direkt im Anschluss an den ersten heißt es: Si ginc uon im. Vnd riet Der swester. daz sie tete sam Do di ander nacht quam Sie tet als ir ander swester e (V. 6008 – 6010) Sie verließ ihn und riet der Schwester, dass sie ebenso handeln sollte. Als die nächste Nacht kam, handelte sie wie zuvor ihre andere Schwester.
Dies hängt damit zusammen, dass die Christherre-Chronik in der Regel nicht bebildert ist. Während Ott Ende der 1970er Jahre noch davon ausgeht, dass „alle bekannten Redaktionen, Mischformen, auch Prosaauflösungen […] illustriert [waren]“; Ott, Christherre-Chronik, Sp. 1216; und Roland ein spezifisches Christherre-Bildprogramm zumindest für möglich hält; vgl. Roland, Weltchroniken, S. 297; weist Ralf Plate nach, dass Christherre-Handschriften ursprünglich typischerweise nicht bebildert waren; „[v]or der Mitte des 14. Jahrhundert ist die Illustration des unvermischten Textes überhaupt nicht bezeugt, danach bildet sie eine hohe Ausnahme“; Plate, Überlieferung, S. 295 f. Eine dieser Ausnahmen ist der Münchner Kodex Cgm 4, doch bleibt Lots Inzest auch hier visuelle Leerstelle. Sie ist damit die einzige illustrierte Handschrift in der von Günther zu einer Gruppe zusammengefassten Enikel/Erweiterte Christherre-Überlieferung, die die Episode nicht bebildert; vgl. Günther, Weltchronikhandschriften, S. 585. Vgl. ebd., S. 213. Zum Enikel-Bildprogramm siehe ausführlich Kap. 6.3.2. Vgl. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 5, fol. 37r (HC 7989).
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Über das Verb tuon wird ein maximaler Grad der Verallgemeinerung erreicht, in dem sich die Darstellung vollends erschöpft, denn gleich im nächsten Vers bricht der Erzähler die ‚Schilderung‘ mit dem einzigen Kommentar in der gesamten Episode ab: Nu waz sal der rede me ⁸³ (V. 6012). So wird beim zweiten Inzest förmlich greifbar, wie der Erzähler sich windet, von dem, was die Geschichte berichtet, zu erzählen. Wie schon bei Rudolf von Ems konzentriert sich die Narration im Nachgang auf die Nachkommen, die aus dem Inzest geboren werden, die Entfaltung des genealogischen Aspekts nimmt fast ein Drittel des Textumfangs ein. Sie hat primär vorausdeutende Funktion (vgl. V. 6025; 6032), die Geschlechter, die sich von Moab und Ammon herleiten, werden eingeführt und mit den Attributen crefteclich (vgl. V. 6024; 6031; „kräftig, stark; gewaltig, mächtig“⁸⁴) und stark (vgl. V. 6029; „stark, kräftig; mächtig, groß“; auch, aber nicht zwingend, „schlimm, böse“⁸⁵) versehen. Erst beim Fluchtpunkt dieser Vorausdeutung, der Textstelle, an der die Geschlechter erneut thematisch werden, wird eine explizite Bewertung angeboten: Diese Geschlechter seien, so heißt es, in Sünde geboren, aus dem sündigen Samen aber entstehen sündige Nachkommen, an denen sich Gottes Rache entlädt (vgl. V. 7144– 7151). Damit entfaltet sich ein Kreislauf, der nicht zuletzt emotional geprägt ist – Gott straft in seinem Zorn die Bewohner Sodoms und Gomorrhas für ihre Gottverlassenheit und Lots Frau für ihren Ungehorsam. Hiervon setzt sich Lots Gottvertrauen, das sich unter anderem in seiner Furcht entäußert, zwar zunächst positiv ab, gleichsam verharrt er in Sorge und Leid, wozu für einen Gottgefälligen in einer gottgefügten Welt kein Anlass besteht. Dieses Leid wiederum lässt seine Töchter zum Inzest schreiten mit der Konsequenz, dass die so entstandenen Nachkommen und die von ihnen abhängigen Geschlechter sündhaft sind, was seinerseits die Rache Gottes auf sich zieht. Obgleich nicht expliziert, ist der Lot-Episode eine Didaxe eingeschrieben, die darauf zielt, bedingungslos auf Gott zu vertrauen, was sich nicht zuletzt an bestimmten Emotionen entäußert. Diese Lehre fügt sich im Ko(n)text der Christherre-Chronik in einen übergeordneten normativen Rahmen, der im Folgenden dargestellt und auf die Lot-Episode rückbezogen wird.
„Nun, was soll der Rede mehr?“ Hennig, S. 192. Ebd., S. 309.
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6.2.3 Die Macht der Norm im Ko(n)text In der Gesamtschau des überlieferten Christherre-Textes fällt auf, dass die Inzestthematik einerseits weitläufig tabuisiert und gänzlich ausgespart wird, zugleich aber ein Normhorizont wiederholt in Anschlag gebracht wird. So übergeht die Christherre-Chronik eine Vielzahl an Episoden in der Genesis, die die Inzestthematik aufgreifen,⁸⁶ so dass neben Lot und seinen Töchtern nur noch Jakobs Doppelehe mit zwei Schwestern sowie Rubens Fehltritt mit einer Nebenfrau seines Vaters bleiben. Bibelkonform berichtet die Christherre-Chronik, wie sich Iakob in die schöne Rachel verliebt und sieben Jahre bei ihrem Vater Laban, Iakobs Mutterbruder, für ihre Hand Dienst leistet, was über die Bibel hinausreichend als höfischer Minnedienst gestaltet wird (vgl. V. 8060 – 8078). In der Hochzeitsnacht jubelt Laban Iakob seine ältere Tochter unter, die hässliche Lia mit dem Vluzouge (V. 8100; „lippus“⁸⁷; „triefäugig, mit entzündeten Augen“; auch: „geistig blind, blödsüchtig“⁸⁸). Schließlich leistet Iakob für Rachel sieben weitere Jahre Dienst (vgl. V. 8129 – 8136), was einen längeren Erzählerkommentar provoziert, der um die polygame Verwandtenehe kreist. Er folgt im Prinzip Augustinus’ Argumentation, ohne dass dieser als direkte Quelle erkennbar würde. Einerseits wird die (monogame und exogame) Ehe als göttliches Gebot vorgestellt, welches das auserwählte Volk von den Heiden scheidet, und Iakobs Einwilligung als lihte (V. 8137; „leichtfertig“; „unbeständig“; „gering“) bewertet. Andererseits heißt es, man könne ihm nichts vorhalten (vgl. V. 8147 ff.), er handele als Gottes Knecht nach Gottes Recht (vgl. V. 8145 f.), in daz wol inzam / Daz er sinis ohemis tocht(er) nam / Zwo ⁸⁹ (V. 8143 ff.). Um nun aber keine Missverständnisse über die Heiligkeit der Ehe aufkommen zu lassen, wird im Nachgang ausführlich erläutert, dass Gott in dieser frühen Zeit der Menschheit, in der es vor Heiden nur so wimmelt in der Welt, die Verwandtenehe gebietet, um das auserwählte Volk rein zu halten, während später, zur Zeit Mose und noch viel mehr im Christentum, ausreichend
Zwar gibt Abram seine Ehefrau Saray ebenfalls als seine Schwester aus (vgl. V. 4807– 4821), doch wird nicht wie in der Bibel (vgl. Gen 20,11 f.) darauf hingewiesen, dass sie tatsächlich seine Halbschwester ist (vgl. V. 4674 f.; 4807– 4874). Judas Tamar findet keine Erwähnung, die Christherre-Chronik schreitet direkt von Gen 37 zu Gen 39 fort (vgl.V. 9316 f.). Auch Amnons Tamar fehlt, da die Christherre-Chronik am Beginn des Richterbuches abbricht. Zur Fragmentgestalt des Textes vgl. Plate, Überlieferung, S. 2. Lexer 3, Sp. 423. Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches und deutsch-lateinisches Handwörterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hülfsmittel, Hannover u. a. 1869, Sp. 671. „Es gehörte sich gewiss für ihn, dass er zwei Töchter seines Mutterbruders heiratete.“
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Frauen vorhanden seien, [z]u wibe nemin vnsippe wip / Vnd lazen der niftelin lip ⁹⁰ (V. 8165 f.; vgl. a.V. 8148 – 8170). Mit dieser Argumentationslinie, die in einem Wurf die Verwandtenehen der Vorväter und die weitreichenden Inzestverbote legitimiert, befindet sich der Verfasser der Christherre-Chronik in guter Gesellschaft der Gelehrten seiner Zeit, die Augustinus folgend ganz ähnlich argumentieren.⁹¹ Wie im Ansatz schon bei Rudolf von Ems findet damit ein Aspekt des kirchenrechtlichen Diskurses Widerhall in der Literatur. Vom Inzest Rubens schließlich wird in der Bibel in einer Analepse berichtet. Als Rubens Vater Jakob auf dem Sterbebett liegt, entzieht er ihm das Erstgeborenenrecht, da er einst ‚zügellos wie die Fluten des Wassers‘ auf sein Bett gestiegen sei (vgl. Gen 49,3 f.). In einem längeren Erzählerkommentar legt der Verfasser der Christherre-Chronik die Allegorie aus und erläutert Rubens Vergehen (vgl. V. 10733 – 10762). Wie das Wasser nie höher als seine Quelle fließe, so könne auch Ruben nie zu Höherem gelangen, hat er doch in der Verblendung seiner Jugend mit der Frau seines Vaters geschlafen. Gemeint ist die Sklavin Bala (Bilha), die Iakob einst mit Rachel zur Nebenfrau erhielt. Der Inzest wird nicht narrativ entfaltet, die vergangenen Ereignisse bleiben konturlos bis auf den Hinweis, dass sie Iakobs haz (V. 10733; „Hass, Feindschaft; Neid, Missgunst“⁹²) hervorgerufen haben. Wohl aber wird Rubens Handeln mit normativen Begriffen wie lastir (V. 10753; „Schande, Schmach“⁹³), mein (V. 10752; „Sünde, Verbrechen, Frevel“⁹⁴) und sunde (vgl.V. 10747; 10753; „Sünde, Schuld; Schande“⁹⁵) verurteilt. Spätestens hier lässt sich im intratextuellen Kontext sagen, dass es primär der Ehebruch ist, der den Stein des Anstoßes bildet. Die Kommentare zu Iakobs und Rubens Vergehen prangern ihn an, nicht den Inzest. Dabei wird, anders als bei Rudolf von Ems, der konkrete Normbestand der levitischen Eheverbote aus der Bibel übernommen. Zwar kürzt die ChristherreChronik die Bücher Levitikus und Deuteronomium ebenfalls signifikant (etwa im Bereich der Opfer- und Reinheitsgesetze), es sind jedoch gerade die Vorschriften zur Ehe, die beibehalten werden.⁹⁶ Die Darstellung gerät zu einer Art historischen
„Nichtverwandte Frauen zur Frau zu nehmen und nahe Verwandten zu vermeiden.“ Eigentlich bezeichnet mhd. niftel im engeren Sinne Nichten, Tanten und Cousinen mütterlicherseits; vgl. Lexer 2, Sp. 81; Hennig, S. 244. An dieser Stelle aber ist in Anbetracht der kirchlichen Eheverbote wohl allgemein die nahe Verwandtschaft gemeint. Siehe hierzu ausführlich Kap. 2.2. und 6. Hennig, S. 147. Ebd., S. 200. Ebd., S. 219. Ebd., S. 319. Vgl. Schwabbauer, Profangeschichte, S. 20 f.
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Genese der Gesetze im Lichte christlicher Heilsgeschichte, in der Inzest- und Ehethematik aufs Engste verwoben werden. In der Frühzeit, in der die Menschen sich zunächst mehren sollen, lässt Gott sie ehelos und ungebunden, nur zwei Typen Frau sind dem Mann verboten, seine Mutter und seine Tochter (vgl. V. 18509 – 18516). Damit erscheint der Vater-Tochter-Inzest als Sonderfall, als ursprüngliches und vorgängiges Inzesttabu, dem erst später weitere Typen hinzugefügt werden, sozusagen der primus inter pares unter den Inzestverboten. Als dann aber Gott den Menschen die Ehe schenkt, verbietet er zwölf weibliche Verwandte zur Heirat, eine Zahlensymbolik, die zwischen den zwölf Stämmen Israels im Alten und den zwölf Jüngern Jesu im Neuen Testament vermittelt. Die verbotenen Verwandtschaftstypen werden personal benannt: Mutter, Stiefmutter, Schwester, Bruderkind, Schwesterkind, Tochter, wase („Vaterschwester“), mume („Mutterschwester“), Ehefrauen des Vaterbruders, Stieftöchter, snuor („Sohnesfrau“) sowie die Schwester der Ehefrau respektive Schwägerinnen (vgl. V. 18519 – 18528). Nach einem kurzen Exkurs zur Praxis der Leviratsehe kommt der Kommentar abschließend auf die Ehe in der heiligen christinheit (V. 18540) zu sprechen. Dort nun ist nicht nur generell verboten, seine Ehepartnerin innerhalb der nahen Verwandtschaft zu suchen (vgl. V. 18545), vor allem ist geboten, monogam zu leben (vgl. V. 18546 – 18550). Damit legt der Kommentar Zeugnis ab von einer historischen Entwicklung, die bereits im Theorieteil als Besonderheit der kirchlichen Ehehindernisse beschrieben worden ist, nämlich die historisch und interkulturell einzigartige Verbindung von Monogamie und Unauflösbarkeit der Ehe, die mit der Erweiterung der Inzestverbote korreliert.⁹⁷ Sie konsolidiert sich erst im 12. Jahrhundert, ist zum Zeitpunkt der Entstehung der Christherre-Chronik im darauffolgenden Jahrhundert aber offensichtlich schon gelehrtes Gemeingut. Darüber hinaus korrigiert die Christherre-Chronik die Rolle und Funktion Gottes. Sein strafender Charakter, der im Alten Testament in den Büchern Levitikus und Deuteronomium hervorsticht, wird im christlichen Sinn umcodiert, über mehrere Verse hinweg wird die Gnadentätigkeit Gottes gepriesen, die noch dem schlimmsten Sünder Vergebung verspricht (vgl. V. 18553 – 18560). So propagiert die Christherre-Chronik ein im Text vergleichsweise präzise benanntes Normgerüst, das die Geschichte um Lot und seine Töchter tangiert. Der Vater-Tochter-Inzest gehört zu den ersten Verbotszonen göttlichen Rechts, die von Anbeginn der Menschheit an gültig sind. Von hier aus erklärt sich, warum die Nachkommen Lots ein Geschlecht der Sünde sind, obgleich doch der Normbestand der levitischen Inzestverbote erst bei Moses formuliert wird, und ebenso, warum keine entlastenden Aspekte in die Narration oder als Kommentar einge-
Vgl. Ubl, Inzestverbot, S. 388. Siehe hierzu ausführlich Kap. 2.1.
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pflegt werden. Gleichsam gilt dies umgekehrt für den Anklagemodus, in dem der Iakob- und der Ruben-Kommentar stehen, der in der Lot-Geschichte ebenfalls keine Entsprechung findet. Als ursächlich kann dabei erachtet werden, dass es dem Verfasser der Christherre-Chronik in erster Linie um die Ehe geht, nicht um die Inzestthematik, welche er an anderen Stellen wie der Abrahams- und der Tamar-Geschichte ausspart. Eine erhöhte Kommentarfrequenz ist nur da zu beobachten, wo die Inzest- von der Ehethematik berührt wird. Die weitreichenden Inzestverbote erscheinen so als Teilfunktion eines übergreifenden christlichen Ehekonzepts, das auf Monogamie und Unauflösbarkeit abstellt. Doch wie man es auch dreht und wendet – obwohl der Inzest zwischen Lot und seinen Töchtern nicht bewertet wird, wird er von der Macht der Normen erdrückt, die andernorts in der Christherre-Chronik formuliert werden. Er ist, daran bleibt im Gesamtkontext kein Zweifel, als schwere Sünde anzusehen.
6.3 Jans Enikel: Weltchronik Jans Enikel schreibt als wohlhabender, dem niederen Adel zuzurechnender Wiener Bürger aus der Sicht und für ein städtisches Publikum.⁹⁸ Dies prägt sein Geschichts- und Gesellschaftsbild,⁹⁹ „[d]ie Gestalten des Alten Testaments kleiden sich, treten auf, denken, handeln und kämpfen wie das ‚moderne‘ höfische Personal“¹⁰⁰, „[i]n Abraham und Moses sieht er seinesgleichen.“¹⁰¹ Stärker als die bisher besprochenen Weltchroniken selektiert und kombiniert Enikel biblische, antike, unterhaltende und belehrende Stoffe aus verschiedenen Gattungstraditionen,¹⁰² so dass die Geschichtsdarstellung durch eine „lockere Folge amüsanter
Vgl. Dunphy, Daz was ein michel wunder, S. 342; Witthöft, Ritual, S. 19 f. Jans Enikel wird in der Forschung zum Teil auch Jans von Wien genannt; vgl. etwa Fritz Peter Knapp: Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439. 1. Halbband: Die Literatur in der Zeit der frühen Habsburger bis zum Tod Albrechts II. 1358, Graz 1999 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart 2/ 1), S. 237. Die vorliegende Arbeit verwendet Dunphys Argumentation folgend die Schreibung ‚Jans Enikel‘ mit der Kurzform ‚Enikel‘; vgl. Raymond Graeme Dunphy: Jans der Enkel oder Jans von Wien? http://www.perspicuitas.uni-essen.de/miszell/dunphy_jans%20der%20enkel.pdf. Perspicuitas. Internet-Periodicum für mediävistische Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft (2003) (18. Juni 2017). Vgl. Liebertz-Grün, Gesellschaftsdarstellung, S. 71. Ebd., S. 87. Dunphy, Daz was ein michel wunder, S. 343. Vgl. ebd., S. 342; Albrecht Classen: Literarische Diskurs-Bricolage als literarische Strategie (Textallianz) in spätmittelalterlicher Chronistik. Der Fall von Jans Enikels Weltchronik. In:
6.3 Jans Enikel: Weltchronik
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Anekdoten, schwankartiger Histörchen und unterhaltsamer, oft novellistisch abgerundeter Erzählungen“¹⁰³ durchbrochen wird; er erzählt „Geschichte durch Geschichten“¹⁰⁴. Raymond Graeme Dunphy charakterisiert Enikels Programm mit den Schlagworten ‚Sensationalisierung und Rationalisierung‘: Die Vorliebe für das Außergewöhnliche, die Steigerung dramatischer Höhepunkte, die Betonung des Emotionalen und die Hervorhebung des unterschwellig Erotischen bieten Indizien für Enikels Neigung zum Sensationellen. Rationalisierung beobachten wir immer dort, wo eine Handlung schwer nachvollziehbar, unnötig kompliziert oder dem mittelalterlichen Leser schlicht fremdartig erscheint. Um diese Effekte zu erzielen, bedient sich Enikel einer Reihe literarischer Techniken: vornehmlich des Aufbaus von Dialogen, der kausalen Verknüpfung eigentlich separater Ereignisse, die die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung herstellt, und der thematischen Organisation der Erzählelemente, die eine liberale Einstellung zu Reihenfolge und Chronologie voraussetzt.¹⁰⁵
Was Dunphy beschreibt, lässt sich (zumindest in Teilen) in den Termini der vorliegenden Studie als ‚Emotionalisierung‘ und ‚Affizierung‘ bezeichnen; über das ‚unterschwellig Erotische‘ kommt zudem die Tabuthematik ins Spiel. Erfassen diese Bearbeitungstendenzen auch die Lot-Episode? Raum hierfür bestünde, Enikel weitet den Erzählabschnitt wesentlich aus, der bei ihm rund ein Drittel mehr Textumfang besitzt als in Rudolfs von Ems und der Christherre-Chronik. Anlass gibt auch Dunphys Feststellung, Enikel nutze das erotische Potential der Inzestszene, von der die Bibel nüchtern und trocken erzähle.¹⁰⁶
6.3.1 Aus Freude am Inzest Zunächst ist bemerkenswert, dass Enikel die einzige Stelle, die in der Tradition der Bibel regelmäßig emotional besetzt ist, systematisch ausblendet. Der Einzug in die Wälder, die bei Enikel die biblischen Berge ablösen, ist höfisch überformt, mit reichen Speisen und Wein ausgestattet treffen Lot und seine Töchter am Zufluchtsort ein (vgl. V. 4199 – 4203),¹⁰⁷ von der Furcht des Vaters kein Wort. Doch
Strukturen und Funktionen in Gegenwart und Geschichte. Festschrift für Franz Simmler zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Claudia Wich-Reif, Berlin 2007, S. 425 – 444, hier S. 427 und 431 f. Liebertz-Grün, Gesellschaftsdarstellung, S. 71. Witthöft, Ritual, S. 21. Dunphy, Daz was ein michel wunder, S. 342. Vgl. ebd., S. 144. Im Folgenden im Fließtext zitiert nach der Ausgabe Jans Enikel: Weltchronik. In: Jansen Enikels Werke. Hrsg. von Philipp Strauch, Dublin, Zürich 1972 (MGH Deutsche Chroniken 3), S. 1– 597.
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hält sich Enikels Erzählregie ohnehin nicht an die Vulgata, so dass Lots Geschichte durch Auslassungen in nur zwei Teile zerfällt, die Episoden ‚Sodom und Gomorrha‘ und ‚Inzest‘.¹⁰⁸ Sie stehen singulär in klarem Kontrast, was die polarisierende Logik hervortreten lässt. Der narrative Nexus der Episoden, die nicht mehr durch Lots Furcht verbunden sind, verlagert sich auf das geteilte Thema, die zur Disposition stehenden sexuellen Vergehen. Während Enikel die in der Bibel unbenannten Verbrechen der Bürger von Sodom und Gomorrha als Homosexualität und Pädophilie konkretisiert und in einem seiner seltenen Erzählerkommentare negativ bewertet (vgl. V. 4077– 4088), ermangelt die Inzestepisode eines entsprechenden Kommentars. Dennoch wird proleptisch ein Referenzrahmen angeboten, wenn die Töchter einleitend als kluoc (V. 4204; „klug, weise, verständig, schlau“¹⁰⁹) bezeichnet werden. Diese Attribuierung (vgl. a. V. 4213; 4220; 4227) stellt eine Wertung für die Rezipierenden bereit. Der Inzest erscheint schon im Vorfeld (und deutlicher als bei Rudolf von Ems und in der ChristherreChronik) als Folge eines rationalen Beschlusses, die Sympathielenkung kippt zugunsten der Schwestern. Dass Enikel deutende Kommentare vermeidet, ist in der Forschung hinlänglich beschrieben.¹¹⁰ An ihre Stelle treten, so Maria Dobozy, Dialoge, was einer Dramatisierung Vorschub leistet, die Darstellung wirkt dynamisch, lebendig und anschaulich,¹¹¹ damit potentiell affizierend. Auch die Inzestepisode setzt mit dem in der Bibel vorgefügten Dialog zwischen den Schwestern ein, der ausgebaut und verlängert wird. Gefolgt wird einer durch und durch mimetischen Darstellungsweise, die Unterredung der Schwestern wird in direkter Rede wiedergegeben, nur kurz wird die jeweilige Sprecherposition markiert – Enikel macht die Rezipierenden zu ‚Ohrenzeugen‘ des Gesprächs: diu ein zuo der andern sprach ‚unser friund ungemach müet mich vil sêre. doch klag ich michels mêre, daz wir ân friunt süllen sîn. daz klag ich, liebiu swester mîn,
Vgl. Dunphy, Daz was ein michel wunder, S. 140 ff. Ausgelassen werden die Verwandtschaft zwischen Lot und Abraham, seine Gefangennahme und Befreiung in Gen 14 sowie seine Zwischenstation in Zoar/Segor. Hennig, S. 188. Vgl. etwa Liebertz-Grün, Gesellschaftsdarstellung, S. 88. Vgl. Maria Dobozy: Historical Narrative and Dialogue. The Serious and the Burlesque in Jans Enikel’s Weltchronik. In: Current topics in medieval German literature. Texts and analyses. Hrsg. von Sibylle Jefferis, Göppingen 2008 (GAG 748), S. 151– 169, hier S. 154; 157 und 164 f.
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wan ez sint friunt, mâg und ros versunken all in daz mos. wir süln mit unsern sinnen ander friunt gewinnen, bruoder und swesterlîn. daz schaff ich hiut mit dem wîn.‘ (V. 4205 – 4217) Die eine sagte zu der anderen: ‚Das Leid unserer Freunde quält mich sehr. Doch beklage ich noch viel mehr, dass wir ohne Freund sein sollen. Das beklage ich, meine liebe Schwester, denn Freunde,Verwandte und Pferde sind allesamt im Sumpf versunken. Wir müssen mit all unserem Verstand einen anderen Freund herbeischaffen, Bruder oder Schwesterchen, das werde ich heute mit dem Wein bewirken.‘
Der Dialog steht im Modus der Klage. Mhd. klagen für einen „Schmerz empfinden, schmerzen“¹¹², ihn zum Ausdruck bringen, sich klagend gebärden, gehört ebenso wie mhd. müen mit der Grundbedeutung „beschweren, quälen, bekümmern, verdriessen“¹¹³ in das Wortfeld der Trauer.¹¹⁴ Wie in der Bibel dient damit eine Emotion als syntagmatisches Bindeglied zwischen den Handlungsschritten ‚Zerstörung der Städte‘ und ‚Inzest‘. Die Furcht des Vaters wird aber durch die Trauer der Töchter ersetzt, was die motivationale Kette enger knüpft. Bildet die Furcht des Vaters die Vorbedingung für die Flucht und führt mittelbar auf den Inzest hin, wird die Trauer der Töchter direkt motivational wirksam. Ihr Objekt ist der Verlust der friunt, die in der Bibel äußerlich gegebene Notlage wird personalisiert und emotionalisiert. Dabei spielt der Text mit der polyvalenten Semantik von mhd. friunt, das sowohl „Freund“ als auch „Geliebter/Gemahl/Verlobter“ als auch „Verwandter“ meinen kann,¹¹⁵ und zwar mütterliche wie väterliche, blutsverwandte wie verschwägerte.¹¹⁶ Anlass für müen ist zunächst deren ungemach („Übelbefinden, Leid“¹¹⁷), was die Bedeutung „Geliebter“ wahrscheinlich macht. Pretzel, Mittelhochdeutsche Bedeutungskunde, S. 154. Lexer 1, Sp. 2213; vgl. a. Sp. 1601. Vgl. Koch, Trauer, S. 31. Vgl. Henning, S. 443. Vgl. David Warren Sabean/Simon Teuscher: Kinship in Europe. A New Approach to LongTerm-Development. In: Kinship in Europe. Approaches to Long-Term-Developments (1300 – 1900). Hrsg. von Jon Mathieu/David Warren Sabean/Simon Teuscher, New York, Oxford 2007, S. 1– 32, hier S. 5. In der direkten Interaktion referiert vriund auf konkrete Verwandte, während ein Begriff wie ‚Geschlecht‘ mehr abstrakte Verwandtschaftsgruppen bezeichnet, die relevant für den sozialen Stand und politische Macht sind; vgl. in demselben Sammelband Simon Teuscher: Politics of Kinship in the City of Bern at the End of the Middle Ages, S. 76 – 90, hier S. 79. Zur Semantik von fründe als Verwandtschaftsbegriff, allerdings mit Fokus auf das 15. Jahrhundert; vgl. a. Teuscher, Bekannte, S. 39 und 75 – 79. Lexer 2, Sp. 1847.
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Bei Enikel kommt der Bezug unvermittelt, in der Bibel werden Verlobte der Töchter erwähnt (vgl. Gen 19,14).¹¹⁸ Das Signifikat „Verlobte/Geliebte“ ist auch für die Zukunftsperspektive in Vers 4209 naheliegend, während im Rückblick in den Versen 4211 f. ein weiter Bedeutungsbereich aufscheint, der in die allgemeine Richtung von „Freunde“ oder „Gefährten“ tendiert, da in einer Enumeratio auch mâg aufgezählt werden, was „(Bluts‐)Verwandter“¹¹⁹ als Signifikat für friunt unwahrscheinlich macht, käme dies doch einer semantischen Dopplung gleich. So enthält die Forderung der Älteren, ein ander friunt zu gewinnen, im Zwischenspiel der Wahrnehmungsebenen von (um den Ausgang wissenden) Rezipierenden und Figuren zwar ein spezifisches Spannungs-, im konkreten Erzählmoment aber überhaupt kein Problempotential. Entsprechend angetan zeigt sich die Jüngere zunächst von dem Plan, der sie für das erfahrene leid (V. 4218; „Leid, Schmerz, Kummer“¹²⁰; „das angetane oder widerfahrende Böse, Unerfreuliche“¹²¹) entschädigen soll, und von dem die Ältere verspricht, swester, dû solt wesen vrô ¹²² (V. 4224). Der noch nicht konkretisierte Plan wird mit vröude korreliert, die etymologisch auf ahd. frô („mit Freude erfüllt, in gehobener Stimmung, heiter“¹²³) zurückgeht. Aufgerufen wird damit ein für die höfische Kultur zentraler Leitbegriff, der als „Gefühl der Hochstimmung“¹²⁴ „eine Art sozialpsychologisches Signum ist, ein Parameter für eine funktionsfähige Gesellschaft“¹²⁵. Indem der Ist-Zustand mit Leid, die Zukunftsperspektive mit Freude besetzt ist, wird eine höfische Gefühls-Ökonomie installiert, die typischerweise einer kontrastiven Ordnung folgt,¹²⁶ wobei der Inzest bezeichnenderweise positiv besetzt wird, bevor er überhaupt benannt ist. Als die Jüngere aber nun erfährt, mit wem und wie der Plan durchgeführt werden soll, gibt sie zu bedenken, dass der Vater sie töten könnte, wenn er sie erwischt, denn die Schwester verliere ihre êre (V. 4237; „Ansehen“; „Anerken-
Vgl. Dunphy, Daz was ein michel wunder, S. 144. Henning, S. 213. Ebd., S. 203. Udo Gerdes/Gerhard Spellerberg: Althochdeutsch – Mittelhochdeutsch. Grammatischer Grundkurs zur Einführung und Textlektüre. Frankfurt a. M. 1972, S. 117. „Schwester, du sollst [wieder] glücklich werden!“ Wolf, Vademecum medievale, S. 135; zur Etymologie vgl. a. Kluge, S. 316 und 318. Wolf, Vademecum medievale, S. 135; vgl. zur historischen Semantik von vröude a. Pretzel, Mittelhochdeutsche Bedeutungskunde, S. 59. Rössler, Freude, S. 155. Zu Emotionen und Kontrast in der höfischen Interaktion vgl. Harald Haferland: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), S. 239 ff.
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nung“; „Rang in der Gesellschaft“¹²⁷). Mit dem Konzept der êre wird ein weiteres höfisches Moment eingespielt, das als Gegenpol zum Inzest steht, als Wert, der mit dem Beischlaf unter Verwandten verletzt wird. Dass die Jüngere der Älteren widerspricht, ist weder in der Bibel noch in anderen mittelalterlichen Bearbeitungen des Stoffes gegeben. Die Erzählung erhält ein Spannungsmoment, indem einerseits eine Alternative möglich gemacht und erst abgewiesen werden muss, andererseits die Folgen einer möglichen Entdeckung in Aussicht gestellt werden. Dabei wird, was im Basisnarrativ dahingestellt bleibt, bei Enikel emotional motiviert, es ist die Furcht der Jüngeren, die die Ältere den Vortritt nehmen lässt (vgl. V. 4238 ff.). Emotionen kommt damit die interaktionale Funktion zu, reaktive Emotionen zu erzeugen, was die Handlung dynamisiert und plausibilisiert. Zugleich geben sie Wertungen vor, indem mit ihnen Leitbegriffe der höfischen Kultur aufgerufen werden.
6.3.2 Zur Unterhaltung: Der Inzestakt Wurden die Rezipierenden zu ‚Ohrenzeugen‘ des Gesprächs, werden sie nun zu ‚Augenzeugen‘ des Inzests. Enikel lässt die Inzestszene plastisch vor Augen treten, indem er Details und Dialoge einfügt, die zum Teil schwankartigen Charakter haben. Lot konsumiert so viel Wein, dass er vor lauter Trunkenheit ganz rot im Gesicht wird und besinnungslos bis in den Morgen in dem von der Tochter sorgsam vorbereiteten Bett döst (vgl. V. 4245 – 4251). Enikel geht minutiös ins Detail: er leit sich an der selben stunde. zuo im leit si sich drât, über sich daht si ir wât und leit in schôn an ir arm. da lâgen si ân mâzen warm. (V. 4252 – 4256) In derselben Stunde legte er sich hin, rasch legte sie sich zu ihm, deckte ihre Kleidung über sich und legte ihn liebevoll in ihren Arm. Da lagen sie überaus warm.
Der Abschnitt ist durch eine repetitive Struktur geprägt, die mit lautlichen und rhetorischen Wiederholungsfiguren operiert. In einer Epanalepse wird in den ersten beiden Versen das Verb legen als Leitterminus eingeführt. Denotativ ist der konkrete Akt des Hinlegens gemeint, konnotativ schwingt die Bedeutung von
Vgl. Gerdes/Spellerberg, Althochdeutsch – Mittelhochdeutsch, S. 112.
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‚sich zu jemandem legen‘ als Ersatzbegriff für den sexuellen Akt mit, was durch die Satzstellung im zweiten Vers, die das Präpositionalobjekt ‚zu ihm‘ an den Anfang stellt, syntaktisch angedeutet wird. Anders als bei den bisher besprochenen Varianten fungiert der Begriff nicht als verschleierndes Tabuwort zweiter Ordnung, sondern bezeichnet eine tatsächliche Handlung, die aufgrund der semantischen Polyvalenz mehrdeutige Konnotationen erhält. Durch die Epanalepse und die temporale Analogisierung wird das Hinlegen von Vater und Tochter parallelisiert und in einer dem Chiasmus ähnlichen Satzstruktur miteinander verschränkt. Durchbrochen von einer Accumulatio mit dem Verb ‚(zu)decken‘ wird der Leitterminus ein drittes Mal aufgegriffen und im körperlichen Akt des Umarmens konkretisiert. In der dreifachen Repetitio wird die Semantik von ‚legen‘ zunehmend verlagert und verengt: Dem unverfänglichen ‚Hinlegen‘ folgt das sexuell konnotierte ‚zu ihm Legen‘, das nun als ‚ihn in ihren Arm legen‘ in einer intimen Geste fixiert wird. Schließlich kulminiert die sich zuspitzende Klimax in der Phrase si lagen. Mit dem Verb lîgen wird ein etymologisch verwandtes Wort aufgegriffen.¹²⁸ Über das Personalpronomen werden Vater und Tochter zu einem Satz- und damit Handlungssubjekt zusammengeschlossen. Die über die Syntax suggerierte Annäherungsbewegung (er legte sich – sie legte sich zu ihm – sie legte ihn in ihren Arm) mündet in der Unio (sie lagen). Dabei wird durch die Adjektive schôn und warm eine angenehme Atmosphäre evoziert, die synästhetische Züge enthält. Hinzu tritt ein lautlicher Wohlklang, der durch Alliterationen (selben stunde; si sich) und ähnlich klingende Worte (drât – daht), durch die Wiederholung identischer und das Einsetzen etymologisch verwandter Begriffe erreicht wird. Rhetorisch-stilistisch ist die Textstelle darauf angelegt, eine ästhetisch angenehme Erfahrung zu generieren. Als der Vater aus seinem Vollrausch erwacht, lacht ihn die Tochter an, er denkt, sie sei seine Ehefrau, drückt sie zärtlich an sich und macht sie swanger an der stat ¹²⁹ (V. 4261). Zwar sind mit den Begriffen ‚legen/liegen‘ und ‚schwanger machen‘ auch hier sprachliche Tabuisierungstendenzen zu beobachten, die detaillierte Darstellung aber stellt die Szene bildlich vor Augen. Das transgressive Moment des Tabubruchs wird in schwankartigen Elementen aufgefangen, die nicht Schrecken oder Distanz, sondern Komik und Unterhaltung auf textexterner Ebene wahrscheinlich machen. Ganz ähnlich der zweite Inzest. Die Jüngere schreitet erst zur Tat, als sie erfährt, dass der Plan aufgegangen ist und eine Entdeckung nicht zu befürchten steht, das Objekt ihrer Furcht also eliminiert ist (vgl. V. 4264 – 4273). Sie bringt Lot
Legen bildet sprachgeschichtlich ein Kausativum zu lîgen, vgl. Kluge, S. 565. „[…] machte sie auf der Stelle schwanger“.
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ein weiteres Fässchen Wein und sichert ihm zu dû treist der êren kron ¹³⁰ (V. 4278). In der Reiteration wird êre resignifiziert – stand sie zunächst als Gegensatz zum Inzest, wird sie nun zu einem Attribut des inzestuösen Vaters.¹³¹ Es ist nicht ganz klar, ob auf textexterner Ebene ein moralisierender oder ein komischer Effekt intendiert ist (vielleicht geht auch beides Hand in Hand), denn im Anschluss spielt Enikel erneut schwankartige Elemente ein. So verrät ein Erzählerkommentar, dass Lot noch mit den Folgen der vorangegangenen Nacht kämpft: waz solt er sich mit wîn laben? / der zung maht er niht gehaben ¹³² (V. 4279 f.). Lot wird zum Bett geführt, des was diu jung tohter vrô (V. 4282). Ihr initiales Leid und ihre Furcht kippen, wie von der älteren Schwester prophezeit, in Freude, wozu – ein eigentümliches Charakteristikum – ausgerechnet der Inzest Anlass gibt. So wird auch der Inzest als Objekt von Emotionen resignifiziert, er ist nicht furchterregend, sondern freudebringend, glücklichmachend. Über die Methode von Kontrast und Konversion wird der Tabubruch bei Enikel so innerhalb eines höfischen Wertesystems zur Normerfüllung umcodiert, wobei Emotionen als Marker fungieren. Der Geschlechtsakt selbst wird mit dem ersten Inzest parallelisiert, die macht er ouch swanger zehant ¹³³ (V. 4283). Im Vergleich zu den bisher besprochenen Varianten wird Lots biblische Rolle gewissermaßen korrigiert und erhält ‚realistischere‘ Züge.Während er in der Christherre-Chronik nicht einmal merkt, dass die Töchter überhaupt ein- und ausgehen¹³⁴ (unbeachtet des Umstandes, dass er immerhin in der Lage ist, den Geschlechtsakt zu vollziehen), wähnt sich Lot bei Enikel schlicht in Gegenwart seiner Ehefrau; wo Rudolf eine passivische Konstruktion setzt (die Schwestern werden von ihm schwanger¹³⁵), realisiert Enikel eine aktivische, der Vater schwängert die Töchter. Lot ist nicht Opfer, er agiert als Handlungsträger. Die genealogische Dimension schließlich wird zurückgedrängt, ihr schenkt Enikel vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Vorausdeutend werden Lots Nachkommen in höfischer Manier als spätere Landesherren kurz (und falsch) als Moab und Joab vorgestellt (vgl. V. 4284– 4292).¹³⁶ Enikels Variante sticht damit unter den anderen mittelalterlichen Bearbeitungen hervor. Er emotionalisiert den
„Du trägst den Ehrenkranz.“ Zu ‚Reiteration‘ siehe ausführlich Kap. 3.2. „Warum sollte er sich am Wein laben? Er konnte kaum die Zunge heben!“ „[…] die machte er auch auf der Stelle schwanger.“ Vgl. Christherre-Chronik, V. 6006 f. Vgl. Rudolf von Ems, Weltchronik, V. 4932; 4943. Ein Verschreiber, den Enikel später korrigiert; vgl. Dunphy, Daz was ein michel wunder, S. 17 und 145.
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Stoff und legt einen Schwerpunkt in der Darstellung auf den Inzestakt, der freizügig behandelt wird und in einem positiven Licht erscheint. Dies spiegelt sich in den Illustrationen der bebilderten Kodizes wider. Darstellungen des Beilagers sind ein bevorzugtes und in der Episode singulär stehendes Motiv,¹³⁷ so dass der Inzestakt im Fokus steht. Die älteste überlieferte, ungefähr 65 Jahre nach der Niederschrift entstandene Illustration in der Münchner Handschrift Cgm 11 zeigt Lot mit einer seiner Töchter im Bett (siehe Abb. 2 im Anhang).¹³⁸ Die Decke ist bis zur Hüfte heruntergerutscht und offenbart den nackten Oberkörper der Tochter, die Gesichter sind einander zugewandt, Lot leicht zu seiner auf dem Rücken liegenden Tochter geneigt, beide sehen sich an. Ob Lot, wie im Text beschrieben, seine Tochter anlächelt, ist nicht mehr zu entscheiden, zu erkennen ist nur noch der auf den Vater geheftete Blick der Tochter, während die Handschrift dort, wo Lots Gesicht prangen sollte, von einer späteren Hand unkenntlich gemacht worden ist. Stein des Anstoßes bildet offensichtlich nicht der Geschlechtsakt, denn nur wenige Blätter später sind – unversehrt – Jakob und Lea eng umschlungen im Liebesspiel zu sehen.¹³⁹ Vielmehr scheint konkret der Vater-Tochter-Inzest, vielleicht gar die visuell umgesetzte Freude an ihm, den Anlass für die ‚Zensur‘ gegeben zu haben. Hierfür spricht zumindest die Münchner Handschrift Cgm 250 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, zu der Karin Schneider in der Handschriftenbeschreibung notiert: „Einige für einen späteren Besitzer anstößige Bilder übermalt oder verwischt.“¹⁴⁰ Unter ihnen ist Lots Beilager, mit braun-rötlicher Farbe überdeckt, so dick und weitflächig aufgetragen, dass sie auf die benachbarten Blätter durchdrückt, aber noch durchlässig genug, um das ursprünglich Dargestellte erkennen zu können (siehe Abb. 3 im Anhang). In der ausgeführten Maleranweisung Hie ligent si pai ain and ¹⁴¹ sieht man Lot über seine Tochter gebeugt, deren Brüste unter der Decke hervorlugen. Das in der Narration beschriebene Lachen ist ins Bild gesetzt, Vater und Tochter
Vgl. die Übersicht bei Günther, Weltchronikhandschriften, S. 585 (die Belegexemplare, in denen die Lot-Episode nicht singulär steht, sind Kompilationen, auf die in Kap. 6.4. zurückzukommen sein wird). Vgl. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 11, fol. 21r (HC 7522). Von der noch älteren Handschrift Cgm 199 sind nur einzelne Blätter aus anderen Teilen der Chronik erhalten, wobei die Bildprogramme der beiden Handschriften wahrscheinlich ohnehin weitgehend übereinstimmten; vgl. Günther, Weltchronikhandschriften, S. 223 – 226. Vgl. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 11, fol. 23v (HC 7522). Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 201– 350, Wiesbaden 1970 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis 5/2), S. 137. Vgl. a. Günther, Weltchronikhandschriften, S. 226. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 250, fol. 30r (HC 9446); „Hier schlafen sie miteinander“.
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blicken sich im Liebesspiel in die Augen und lächeln einander an. Dass eine ähnliche Darstellung auch die Regensburger Handschrift Ms. Perg. III zierte, lässt sich mit gutem Recht vermuten,¹⁴² entzieht sich aber der Überprüfbarkeit. Die Miniatur, die an den Rändern noch Reste des Bettes erkennen lässt, wurde von späterer Hand ausradiert und in Gänze zerstört (siehe Abb. 4 im Anhang).¹⁴³ Da sich die Handschrift durch eine „Vielzahl emotionaler Ausdrucksformen der Mimik“¹⁴⁴ auszeichnet, ist durchaus wahrscheinlich, dass sie die narrative Freude am Beilager auch visualisierte. Hierfür spricht etwa die Linzer Handschrift Cod. 472, die um 1350 ebenfalls in der Enikelwerkstätte entsteht.¹⁴⁵ Sie zeigt Vater und Tochter lächelnd im Liebesspiel, die Schwester steht neben dem Bett und offeriert gestisch den Wein.¹⁴⁶ Dabei steht das Bett auf der freien Heide, im Hintergrund sind Pflanzen zu sehen, so dass die Ikonographie Züge eines locus amoenus erhält. Das Bildmotiv kehrt in der Wiener Handschrift Cod. Ser. nova 2642 wieder, hier sind es allerdings nur die Schwestern, die freudig lachen beziehungsweise lächeln, während Lots Gesicht eher ernste Züge trägt.¹⁴⁷ Eine Spielart des locus amoenus-Motivs gibt die Wiener Handschrift Cod. 2921 aus dem Jahr 1397 oder 1398.¹⁴⁸ Sie verzichtet auf Bett und Wein und verlagert den VaterTochter-Inzest direkt in den Wald.¹⁴⁹ Zwischen den Bäumen sieht man Lot mit einer seiner Töchter beim Geschlechtsakt, beide sind nackt bis auf die Strümpfe und ein schmales Tuch, das Lots Hüfte mehr schlecht als recht bedeckt (siehe Abb. 5 im Anhang). Das Bild prägen voyeuristische Züge; die andere Schwester lugt, erst auf den zweiten Blick erkennbar, zwischen den Bäumen hervor und beobachtet das Paar. Im Vergleich zur Rudolf von Ems-Überlieferung ist die optische Darstellung des Vater-Tochter-Inzests im Enikel-Bildprogramm also wesentlich eindeutiger, um in modernen Worten zu sprechen: ‚erotischer‘. Dabei werden im Handschriftenmaterial Spuren der Tabuisierung manifest. Sie lassen sich nicht per-
Nach Philipp Strauch gehen Cgm 11 und die Regensburger Handschrift auf eine gemeinsame Vorlage zurück; vgl. Philipp Strauch: Einleitung. In: Jansen Enikels Werke. Hrsg. von dems. Dublin, Zürich 1972 (MGH Deutsche Chroniken 3), S. I-C, hier S. VI. Vgl. a. Roland, Weltchroniken, S. 176; Günther, Weltchronikhandschriften, S. 317 f. Vgl. Regensburg, Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek, Ms. Perg. III, fol. 26v (HC 14914). Vgl. hierzu Strauch, Einleitung, S. IX; Roland, Weltchroniken, S. 176. Ebd., S. 172. Vgl. ebd., S. 49. Inhaltlich überliefert die Handschrift nicht den reinen Enikeltext, erzählt an dieser Stelle aber weitgehend nach Enikel. Vgl. Linz, Oberösterreichische Landesbibliothek, Cod. 472, fol. 52r (HC 2688). Vgl. ÖNB/Wien Cod. Ser. nova 2642, fol. 48v (HC 2331). Zur Datierung vgl. Günther, Weltchronikhandschriften, S. 367. Vgl. ÖNB/Wien Cod. 2921, fol. 48v (HC 3830).
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sonalisieren oder zeitlich konkretisieren, die Häufung ist aber so signifikant, dass sich der Befund erhärten lässt, dass Enikels freizügige Erzählweise in Kombination mit einer ebenso freizügigen Darstellungsweise (die nackte Körper im Liebesspiel zur Ansicht bringt, häufig die Freude am Inzest transportiert und die Inzestthematik der Tendenz nach positiv konnotiert) von späteren Benutzern als Grenzüberschreitung einer zu schützenden Norm wahrgenommen wird und die Gemüter immerhin so sehr in Wallung bringt, dass die Verschandelung eines so kostbaren und wertvollen Gegenstandes wie einer Handschrift in Kauf genommen wird, um die Norm nachträglich in ihr Recht zu setzen. Eine Ikonographie, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens geläufig ist und seriell eingesetzt wird, stellt im späteren Rezeptionsprozess einen Stein des Anstoßes dar.
6.3.3 Exkurs: Der König von Reussen. Vater-Tochter-Inzest im Spiegel Enikels Weltchronik zeichnet sich durch eine lockere Episodenfolge aus, die neben biblischen, antiken und profangeschichtlichen auch fiktionale Stoffe aufgreift,¹⁵⁰ zu denen die Erzählung vom König von Reussen zählt, die dem mittelalterlichen Erzähltyp ‚Mädchen ohne Hände‘ folgt,¹⁵¹ einer Subgruppe des Erzähltyps der
Vgl. Liebertz-Grün, Gesellschaftsdarstellung, S. 85 ff.; Knapp, Die Literatur des Spätmittelalters, S. 239; Witthöft, Ritual, S. 6 ff. und 18; Classen, Diskurs-Bricolage, S. 429. Zum Erzähltyp ‚Mädchen ohne Hände‘ vgl. Johann Joseph von Görres: Die teutschen Volksbücher. Nähere Würdigung der schönen Historien-, Wetter- und Arzneybüchlein, welche theils innerer Werth, theils Zufall, Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat, Heidelberg 1807, S. 136 – 148; Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Anmerkungen zu KHM 31 [1822]. In: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Hrsg. von Heinz Rölleke, Frankfurt a. M. 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker 5), S. 918 – 920; Friedrich Heinrich von der Hagen: Gesammtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen: Ritter- und Pfaffen-Mären, Stadt- und Dorfgeschichten, Schwänke, Wundersagen und Legenden, Bd. 3, Stuttgart, Tübingen 1850; Theodor Merzdorf: Einleitung. In: Des Büheler’s Königstochter von Frankreich. Mit Erzählungen ähnlichen Inhalts verglichen. Hrsg. von dems. Oldenburg 1867, S. 6 – 50; Hermann Suchier: Ueber die Sage von Offa und þRYĐO. In: PBB 4 (1877), S. 500 – 521; Ders., Introduction, S. i-clx; Alfred Bradly Gough: The Constance Saga, Berlin 1902 (Palaestra 23); Däumling, Studie; Rank, Inzest-Motiv, S. 360 – 367; Schlauch, Chaucer’s Constance; Thelma S. Fenster: Joïe Mêlée de Tristouse. The Maiden with the Cut-off Hand in Epic Adaption. In: Neophilologus 65 (1981), S. 345 – 356; Dies.: Beaumanoir’s La Manekine. Kin D(r)ead: Incest, Doubling, and Death. In: American Imago 39 (1982), S. 41– 58; Archibald, Flight; Bennewitz, Mädchen; Ines Köhler-Zülch: Art. ‚Mädchen ohne Hände‘. In: EM 8, Sp. 1357– 1387; Black, Accused Queens, S. 46; Kiening, Unheilige Familien, S. 105 – 138.
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‚unschuldig verfolgten Frau‘,¹⁵² für die die Inzestthematik im Eingangsteil charakteristisch ist.¹⁵³ Die Erzählung fällt aus dem chronologischen Rahmen, wird aber in das geschichtliche Gefüge eingeflochten und beschließt den narrativen Teil der Chronik als versifizierte Historie,¹⁵⁴ so dass am anderen Ende von Enikels Weltchronik eine weitere ‚historische‘ Erzählung begegnet, die einen Vater-Tochter-Inzest behandelt. Sie wird im Folgenden vergleichsweise ausführlich analysiert, da sie einem genuin mittelalterlichen Erzähltyp folgt und dabei zentrale Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Lot-Erzählung offenbart, die Aufschluss über den Zusammenhang von Inzest und Emotion geben. Die Inzestthematik ist im König von Reussen multifunktional determiniert.¹⁵⁵ Nach dem Tod seiner Gattin drängen die Fürsten den König erneut zu heiraten, damit dem Reich ein Thronerbe geboren werde; als sich keine geeignete Braut findet, wird gemeinschaftlich die Hochzeit mit der Tochter beschlossen und mit reichen Bestechungsgeldern die Einwilligung des Papstes eingeholt (vgl. V. 26679 – 26774). Sowohl aus psychoanalytischer als auch aus gendertheoretischer Perspektive wird angemerkt, dass diese Überdetermination einer Entlastung und Entschuldigung des Vaters Vorschub leiste.¹⁵⁶ Verleiht schon eine mögliche Heirat dem Vater-Tochter-Inzest, so Eming, einen „Anstrich von Legitimität“¹⁵⁷, Zum Erzähltyp ‚unschuldig verfolgte Frau‘ vgl. Axel Wallensköld: Le conte de la femme chaste convoitée par son beau-frère. In: Acta Societatis Scientarium Fennicaem 34 (1907), S. 1– 173; Svetislav Stefanović: Die Crescentia-Florence-Sage. Eine kritische Studie über ihren Ursprung und ihre Entwicklung. In: Romanische Forschungen 29 (1911), S. 462– 556; Schlauch, Chaucer’s Constance; Ilana Dan: The Innocent Persecuted Heroine. In: Patterns in oral literature. Hrsg. von Heda Jason/Dimitri Segal, Den Haag 1977, S. 13 – 30; Elfriede Moser-Rath: Art. ‚Frau‘. In: EM 7, Sp. 100 – 137; Frenzel, Motive, S. 238 – 253; Frauke Stiller: Die unschuldig verfolgte und später rehabilitierte Ehefrau. Untersuchung zur Frau im 15. Jahrhundert am Beispiel der Crescentia- und Sibillen-Erzählungen. http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/stiller-frauke2001–07–20/PDF/Stiller.pdf. (Diss.) Berlin 2001 (16. Januar 2018); Black, Accused Queens; Kiening, Unheilige Familien, S. 87– 104. Vgl. Suchier, Ueber die Sage, S. 513, Däumling, Studie, S. 17; Dan, The Innocent Persecuted Heroine, S. 13 f.; Moser-Rath, Frau, Sp. 113. Vgl. Liebertz-Grün, Gesellschaftsdarstellung, S. 90 – 93; Knapp, Die Literatur des Spätmittelalters, S. 340; Black, Accused Queens, S. 7 und 58. Wie für den Erzähltyp ‚Mädchen ohne Hände‘ typisch; vgl. Fenster, Beaumanoir’s La Manekine, S. 46; Bennewitz, Mädchen, S. 160 f. Vgl. zum Teil mit Blick auf den König von Reussen, zum Teil mit Blick auf den Erzähltyp ‚Mädchen ohne Hände‘ oder andere Textvarianten Fenster, Beaumanoir’s La Manekine, S. 46 ff.; Buschinger, Inzest-Motiv, S. 119 f.; Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, Stuttgart 1992 (Kröners Taschenausgabe 300), S. 487 f.; Bennewitz, Mädchen, S. 161 ff., Eming, Theorie des Inzests, S. 37 f.; Dies., Inzestneigung, S. 25 und 29. Vgl. im Ansatz schon Rank, Inzest-Motiv, S. 337 f. Eming, Inzestneigung, S. 25.
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wird er zusätzlich durch den päpstlichen Dispens protegiert, eine, so Bennewitz, „besonders aparte Variante offizieller Sanktionierungsversuche“¹⁵⁸. Das dynastische Argument der Fürsten entwickelt im feudal-genealogischen Ordnungssystem eine bezwingende Logik, „das Leben des Vaters als Witwer, [und] die daraus erwachsenden politischen bzw. erbschaftsrechtlichen Probleme“ stellen Kausalvernetzungen bereit, die „unterschwellig auf eine Ent-Schuldigung des Vaters hinarbeiten“¹⁵⁹. Doch wird eine ‚Mitschuld‘ der dahinscheidenden Mutter, wie sie andere Varianten des Erzähltyps suggerieren,¹⁶⁰ im König von Reussen narrativ blockiert. Ganze drei Verse werden in der gesamten Erzählung auf sie verwendet, wovon zwei auf ihre Einführung und einer auf ihren Tod entfallen, der nur kurz und elliptisch abgehandelt wird (vgl. V. 26683 f. und 26697). Die Königstochter ist nicht, wie sonst so oft,¹⁶¹ Stellvertreterin oder Ebenbild ihrer Mutter, ihre überlegene Schönheit wird von vornherein als Alleinstellungsmerkmal gesetzt, das sie von allen anderen Frauen in der Welt abhebt (vgl. V. 26687 ff.).¹⁶² So verschiebt sich die Sinnachse, es ist die Schönheit der Tochter, in die das Verlangen des Vaters eingeschrieben ist. Dieser Konnex deutet sich bereits in der Exposition an und wird emotional besetzt: diu tohter dem vater liep was, daz er vor freuden kûm genas, sô er sie ane sehen solt. sîn herz, sîn lîp was ir holt. (V. 26693 – 26696)
Bennewitz, Mädchen, S. 162. Zum Teil wird das Motiv des päpstlichen Dispenses in der Forschung auch als Romschelte und Papstkritik gedeutet, vgl. etwa Liebertz-Grün, Gesellschaftsdarstellung, S. 88 f.; Knapp, Die Literatur des Spätmittelalters, S. 340. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Papst am Ende der Erzählung die zentrale Figur ist, unter deren Schirmherrschaft der initiale Konflikt wieder harmonisiert wird; vgl. Black, Accused Queens, S. 47 f. Theodor Merzdorf dient der päpstliche Dispens als Differenzkriterium zur Unterscheidung verschiedener Zweige in der Erzähltradition der ‚Mädchen ohne Hände‘; vgl. Merzdorf, Einleitung, S. 13 f. Bennewitz, Mädchen, S. 162. Durch die Ebenbildlichkeit von Mutter und Tochter; durch den letzten Wunsch der Mutter, ihr Mann möge nur eine Frau heiraten, die ihr gleicht; durch die zeitliche Koinzidenz vom Tod der Mutter und dem Erreichen der sexuellen Reife der Tochter u. ä.; vgl. hierzu Buschinger, InzestMotiv, S. 119 f.; Bennewitz, Mädchen, S. 161 ff.; Eming, Theorie des Inzests, S. 37; Eming, Inzestneigung, S. 25. Vgl. auch Buschinger, Inzest-Motiv, S. 119; Bennewitz, Mädchen, S. 161; Frenzel, Motive, S. 393. So sucht der König bei der erfolglosen Brautschau nicht etwa einen Ersatz für seine verstorbene Frau, sondern ein megedîn, / diu mîner tohter sî gelîch (V. 26712 f.; „ein Mädchen, das meiner Tochter gleicht“); vgl. a. V. 26722– 26727.
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Dem Vater war die Tochter lieb, so dass er sich vor Freude kaum halten konnte, wenn er sie betrachten konnte. Er war ihr mit Herz und Seele zugetan.
Liebe wird formelhaft anzitiert, es ist aber bezeichnenderweise erneut das höfisch konnotierte Gefühl der Freude, das im Vorfeld des Inzests aufgerufen wird. Qualifiziert Freude zunächst die emotionale Haltung des Vaters zur Tochter, ergreift sie zunehmend andere Akteure wie den Papst und die Fürsten.¹⁶³ Der VaterTochter-Inzest wird – wie schon in der Lot-Erzählung und deshalb umso bemerkenswerter – mit Freude als Gefühl der Hochstimmung enggeführt, Signum einer funktionierenden, nicht einer gestörten Gesellschaft.¹⁶⁴ Sie markiert eine positive Grundstimmung des Kollektivs und die gesellschaftliche Akzeptanz der Inzestehe. Noch deutlicher als in der Lot-Erzählung wird der Vater-Tochter-Inzest dabei zur Normerfüllung umcodiert, wenn wiederholt betont wird, dass die Geschichte ân schande (V. 26677; „ohne Schande“) erzählt werden solle,¹⁶⁵ der König seine Tochter mit reht (V. 26749; 2626766; 26770; „rechtmäßig“), âne haz ¹⁶⁶ (V. 26736; „in Frieden“), âne swaere (V. 26756; „unbeschwert“; „unbekümmert“), ân missetat (V. 26768; „ohne Sünde“) und ohne Gefahr für sein Seelenheil (vgl. V. 26762 f.) ehelichen könne, was der König letztlich gar als gottgewollt deklariert (vgl. V. 26772). Diese Erzählweise lässt sich mit Blick auf die textexterne Ebene als Mittel der Spannungserzeugung interpretieren. Spannung kann kognitionspsychologisch als Affektstruktur, literaturwissenschaftlich als typische Erzählstruktur beschrieben werden.¹⁶⁷ Mit Clemens Lugowski ist zu differenzieren: Man kann zwei Arten von Spannung unterscheiden. Die eine geht auf das ‚Ob überhaupt‘: Ob der Streich überhaupt gelingen wird, ob die Liebe überhaupt ein glückliches Ende nehmen
Der Papst freut sich ob des reichen Schatzes, der ihm angediehen wird (vgl. V. 26742), Ritter, Knechte und der König ob seiner Einwilligung (vgl. V. 26750 f.), was dann noch einmal superlativisch gesteigert wird, wenn der König konstatiert, so möht mîn freud niht groezer sîn (V. 26774; „Meine Freude könnte nicht größer sein“). Vgl. zu letzterem in Perspektive der historischen Semantik Rössler, Freude, S. 155. Classen, Diskurs-Bricolage, S. 433. Zu einer verwandten Formel in Herborts von Fritzlar Liet von Troye merkt Klaus Grubmüller an: „In der Umkehrung dient die Versicherung, etwas geschehe oder jemand sei âne haz und âne nît zur Betonung edelster Absichten, ja zur zusammenfassenden Bezeichnung makelloser Idealität“; Grubmüller, Historische Semantik, S. 62. Siehe hierzu ausführlich Kap. 4.3.2.
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wird usw. Die andere geht auf das ‚Wie‘: wie der Streich gelingen wird, wie das glückliche Ende aussehen wird.¹⁶⁸
Als ‚Mädchen ohne Hände‘-Erzählung ist die Handlung im König von Reussen primär final motiviert,¹⁶⁹ die spannungserzeugende Frage lautet nicht, ob es zum Inzest kommt, sondern wie der Inzestversuch und seine Abwendung inszeniert werden. Diesbezüglich folgt Enikel einer strengen Erzählregie. Deutet sich das Verlangen des Vaters bereits in der Exposition an, werden nach und nach mögliche Alternativen wie das Dasein als Witwer, die Heirat mit einer anderen Frau und der Einspruch des Papstes narrativ abgewiesen. So spitzt sich die Eingangsszene mehr und mehr zu und führt auf den Inzest hin, der schon bald unausweichlich erscheint, und doch – ein klassisches Mittel, um Spannung zu halten – immer weiter hinausgezögert wird. Vor dieses sorgsam aufgebaute Szenario tritt nun die Königstochter als ‚Kontrastfigur‘. Während das ganze Land ob der bevorstehenden Hochzeit von Vater und Tochter in Freude schwelgt, wart sî trûric und unfrô (V. 26795; „wurde sie traurig und unglücklich“). Die Emotionsbegriffe stehen in semantischer Opposition zu vreude,¹⁷⁰ die bis hierhin zunehmend verengte Erzählführung bricht auf, der plötzliche Wechsel wirkt mit Blick auf das ästhetische Erleben potentiell intensitätssteigernd.¹⁷¹ Zugleich wird das bis dahin eng geschnürte Korsett evaluativer Eigenschaften der Inzestthematik um Trauer erweitert, was den Deutungsrahmen flexibilisiert und ein Identifikationsangebot für die Rezipierenden bereitstellt. Die Bezeichnung ‚Kontrastfigur‘ ist dabei Kienings Begriff „Figur der Differenz“¹⁷² nachgebildet, den er für die ‚Mädchen ohne Hände‘ im Sinne Girards verwendet. Der sukzessiven Entdifferenzierung, die in einer allgemeinen Akzeptanz der Inzestehe auf der Grundlage einer genealogisch-feudalen Logik kulminiere, werde die Heldin in einem radikalen Gegensatz als „Repräsentantin göttlicher Gerechtigkeit“¹⁷³ gegenübergestellt. Auch die Königstochter von Reussen wird gewissermaßen zu einem Sprachrohr Gottes, wenn sie an späterer Stelle
Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung, Hildesheim, New York 1970 (Neue Forschung. Arbeiten zur Geistesgeschichte der germanischen und romanischen Völker 14), S. 41; vgl. insgesamt S. 41– 44. Vgl. hierzu Kiening, Unheilige Familien, S. 108. Vgl. Koch, Trauer, S. 45. Vgl. für Emotionen allgemein Ben-Ze’ev, Intensity, S. 511; Clore, Emotions, S. 386 f. und 390 f.; für ästhetische Emotionen Leder, A model of appreciation, S. 494 f. Siehe hierzu auch ausführlich Kap. 4.3.2. Kiening, Unheilige Familien, S. 113. Ebd.
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moniert, von kristen nie dhein man sîn kint ze wîb gewan ¹⁷⁴ (V. 26855 f.), womit ihr Wort machtvoll gegen das des Papstes steht. Doch fehlt der Erzählung ein Merkmal, das für diesen Sinnzusammenhang charakteristisch ist, nämlich die namengebende Verstümmelung. Typischerweise hacken sich die vom Vater bedrängten Töchter in Anbetracht des drohenden Inzests eine oder beide Hände ab.¹⁷⁵ Das Motiv ist überdeterminiert, die fehlende Hand soll die Schönheit zerstören und das Verlangen des Vaters abwenden, dient als Kennzeichen der Identität und transportiert den Aspekt der Differenz, die Entstellung führt zur Verstoßung aus dem Herkunftsgeschlecht, am Ende werden die Hände auf mirakulöse Weise geheilt, sie sind Objekt des Wunderbaren und Zeichen für den besonderen Bezug der Heldin zu Gott.¹⁷⁶ Im König von Reussen hängt dieser Sinnbezug maßgeblich am metonymischen Zeichen des Kleides, die Königstochter tauscht ihre prächtigen, eigens für die Hochzeit beigebrachten Kleider gegen einen grauen Rock und wechselt so von einer adligen in eine christlichasketische Identität (vgl. V. 26802– 26805).¹⁷⁷ An die Stelle des sinnfälligen
„Bei den Christen hat niemals ein Mann sein Kind zur Frau genommen.“ Vgl. hierzu Suchier, Introduction, S. xxiv und lvj; Merzdorf, Einleitung, S. 14; Däumling, Studie, S. 14 ff.; 21; 25 ff.; im Überblick S. 89 f.; Rank, Inzest-Motiv, S. 366 f.; Schlauch, Chaucer’s Constance, S. 38 f.; Fenster, Joïe Mêlée de Tristouse, S. 348 f.; Buschinger, Inzest-Motiv, S. 122 f.; Archibald, Flight; Dies., Incest, S. 148 – 158; Black, Accused Queens, S. 37– 44. Vgl. Kiening, Unheilige Familien, S. 118 f. Einzelne oder mehrere der genannten Teilfunktionen finden sich ebenfalls beschrieben bei Suchier, Introduction, S. lvj; Merzdorf, Einleitung, S. 14; Däumling, Studie, S. 89 f.; Archibald, Incest, S. 148 – 158; Black, Accused Queens, S. 40. In psychoanalytischer Perspektive wird das Motiv der Selbstverstümmelung darüber hinaus als Bestrafung für Masturbation interpretiert; vgl. Rank, Inzest-Motiv, S. 366; und als symbolischer Akt der Kastration gedeutet; vgl. Fenster, Beaumanoir’s La Manekine, S. 50 f.; Buschinger, Inzest-Motiv, S. 122 f. Mit einer metonymischen Zeichenrelation ist die Vertretung der Gesamtheit durch einen Teilaspekt in einer Kontiguitätsbeziehung gemeint; vgl. Harald Haferland/Armin Schulz: Metonymisches Erzählen. In: DVjs 84 (2010), S. 3 – 43, hier S. 6. Zentral ist die repräsentative Funktion der Zeichen, sie bringen etwa Stand und Rang zum Ausdruck; vgl. Haferland, Höfische Interaktion, S. 218. Hierzu ist insbesondere Kleidung zu zählen, die im Mittelalter eine soziale Verweis- und Signalfunktion besitzt; vgl. Gabriele Raudszus: Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters, Hildesheim u. a 1985 (Ordo 1), S. 183 und 191 ff. Sie lässt sich mit der Identitätsthematik in Verbindung bringen, da sie personale Differenz markiert; vgl. Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen 2006 (Bibliotheca Germanica 50), S. 31. Im König von Reussen entspinnt sich im Nachgang eine metonymische Zeichenkette, die die Erzählung bis in die Schlussperspektive semantisiert (vgl. etwa V. 26858 f.; 26886; 26913 ff.; 26123 und 27299). Ganz ähnlich ist das metonymische Zeichen des grauen Rockes im Orendel-Epos gestaltet, so dass sich einige Annahmen aus Kienings Orendel-Analyse übertragen lassen; vgl. Kiening, Unheilige Fa-
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Handabschlagens hingegen treten autoaggressive Handlungen, mit einer Schere schneidet die Königstochter ihre Haare kurz und zerkratzt sich das Gesicht (vgl. V. 26801 und 26808 f.). Das Motiv behält, wie sich mit Heinrich Däumling sagen lässt, etwas von seiner finalen Funktion bei, wird jedoch nicht bis zum Ende durchgeführt: Sie entstellt sich […], um häßlich oder gar aussätzig auszusehen und so ihren Vater und die, welche ihm rieten seine eigene Tochter zu heiraten, abzuschrecken. Diese Entstellung wird dann auch, gleich dem Abhauen der Hand, zum Anlaß ihrer Verbannung. […] Im folgenden hören wir aber nicht mehr, wie sie ihre Schönheit wiedererlangt; wir müssen annehmen, daß ihr Haar während der Seereise wieder wuchs und daß die Wunden und Schrammen, die sie sich selbst zugefügt, heilten, ehe sie der König von Griechenland fand.¹⁷⁸
Fokussiert man Emotionen, kann die These vertreten werden, dass sich in der konkreten Ausgestaltung der Szene neben die finale eine kausale Erzähllogik legt. Trûric und unfrô sîn gehören in das Wortfeld der Trauer, wobei sich aus dem Set an Schlüsselszenarien, das Koch in ihrer Studie zu Trauer in der mittelhochdeutschen Literatur führt,¹⁷⁹ drei sinnhaft auf den Kontext beziehen lassen: Die Trauer der Tochter resultiert aus einer Beschädigung der êre, sie antizipiert ein drohendes Unrecht und reagiert auf einen Verlust, nämlich den Verlust des Vaters als Vater und mit ihm der Zugehörigkeit zum feudal-adligen System als Königstochter. Der Identitätsverlust, materialisiert im metonymischen Zeichen des Kleides, wird damit zugleich emotional unterfüttert. Dabei werden Trauer und Leid motivational wirksam (vgl. a. V. 26798 und 26802), sie führen zu autoaggressiven Handlungen, die (dies nur als Seitenblick auf die textexterne Ebene) mit einiger Drastik ausgestattet werden: si zerkratzt ir antlütz gar, / daz ir daz bluot ze tal ran ¹⁸⁰ (V. 26808 f.). Das Blutigkratzen, welches sich in der mittelhochdeutschen Literatur häufig als Klagegeste beschrieben findet,¹⁸¹ lässt sich so auch als nonverbales Zeichen für Trauer lesen. Schwieriger zu deuten ist der Hinweis, die Königstochter wolle sich machen als ein schem gevar (V. 26807). Er lässt zwei Deutungen zu, die gegebenenfalls ineinanderfließen. So meint mhd. scheme wie nhd. „Schemen“ den „schatten, umbra“¹⁸², wofür Matthias Lexer besagte Textstelle zum Beispiel gibt, was farbsymbolisch zu dem grauen Rock passt. In einigen Fällen begegnet
milien, S. 150 – 160. Das Motiv findet sich im König von Reussen jedoch nicht mit derselben Stringenz durchgeführt. Däumling, Studie, S. 24. Vgl. Koch, Trauer, S. 31 und 38 – 43. „Sie zerkratzte ihr Gesicht so sehr, dass ihr das Blut zu Boden rann.“ Vgl. Koch, Trauer, S. 39; Riekenberg, Literale Gefühle, S. 124. Lexer 2, Sp. 698.
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schem aber auch als Form von mhd. scham/schame („Scham, Schamhaftigkeit, Scham- und Ehrgefühl“).¹⁸³ Emotionstheoretisches Signum von Scham ist, dass sie durch einen Verstoß gegen eine Norm ausgelöst wird, die vom Fühlenden geteilt und mit der Scham als legitim anerkannt und sanktioniert wird.¹⁸⁴ Diese auch in der Moderne gegebene Rückbindung an gesellschaftlichen Normen ist für die mittelalterliche Kultur noch stärker zu betonen; mhd. schame semantisiert erlittene Schande und widerfahrenes Unrecht,¹⁸⁵ verweist, so Katja Gvozdeva und Hans Rudolf Velten, „auf ein soziales Defizit als Ergebnis […] einer Ehrverletzung“¹⁸⁶ und kommt in der mittelhochdeutschen Literatur, so Müller, „immer ins Spiel, wo eine (ständische, sexuelle, ethische) Ordnung verletzt ist. Scham ist die angemessene Haltung gegenüber Schande, Schande aber ist das Antonym von Ehre.“¹⁸⁷ Diese Bedeutungsebene kann zumindest assoziativ an den Text herangetragen werden. Sie wird zum einen durch die Inszenierung einer roten ‚Färbung‘ gestützt, wie sie im Bluts-Motiv anklingt und später mit bluotvar (V. 26821; „blutfarbig“¹⁸⁸; „blutgetränkt“¹⁸⁹) aufgegriffen wird, ein als Schamesröte typischer Ausdruck von Scham.¹⁹⁰ Zudem ist im Nachgang vom verschamten lip (V. 26828) die Rede, wobei verschamt so viel wie „schamlos“ oder „unverschämt“ bedeutet.¹⁹¹ Hervor tritt die Bedeutung von Scham als „schimpf, schande, herabsetzung der sittlichen werthschätzung, verurtheilung durch andere“¹⁹², was sich in einer Kultur der Sichtbarkeit gemäß dem Ideal der InnenAußen-Kongruenz am Körper entäußert. Die Phrase zielt weniger auf das Gefühl der Scham als vielmehr auf die körperliche Entstellung, die nun zu öffentlicher Schande gerät, die Königstochter ist so verunstaltet, dass ein jeder meint, sie sei Vgl. ebd., Sp. 697; BMZ 3, Sp. 133a; DWB 14, Sp. 2107. Vgl. Hilge Landweer: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999 (Philosophische Untersuchungen 7), S. 215; Demmerling/ Landweer, Philosophie, S. 228 und 326. Zur historischen Semantik von schame, vgl. Wolf, Vademecum medievale, S. 78; Pretzel, Mittelhochdeutsche Bedeutungskunde, S. 57. Katja Gvozdeva/Hans Rudolf Velten: Einleitung. In: Scham und Schamlosigkeit. Hrsg. von dens., Berlin, New York 2011 (TMP 21), S. 1– 24, hier S. 14. Jan-Dirk Müller: Scham und Ehre. Zu einem asymmetrischen Verhältnis in der höfischen Epik. In: Scham und Schamlosigkeit. Hrsg. von Katja Gvozdeva/Hans Rudolf Velten, Berlin, New York 2011 (TMP 21), S. 61– 96, hier S. 69. Lexer 1, Sp. 318. Hennig, S. 42. Vgl. zu letzterem DWB 14, Sp. 2109; Gvozdeva/Velten, Einleitung, S. 5. Vgl. Lexer 3, Sp. 213; sowie Müller mit Blick auf Wolframs von Eschenbach Parzival, der in V. 170,17 denselben Ausdruck hat, von Müller übersetzt mit der „Unverschämte“; Müller, Scham, S. 69. DWB 14, Sp. 1209.
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dem Teufel gleich (vgl. V. 26816). Pointiert gesprochen lässt sich die Entstellung als Praktik der Beschämung bezeichnen, sie bereitet dem König schande (vgl. a. V. 26828), vor leid und vor ungemach (V. 26825; „vor Leid und Unglück“) fällt er in Ohnmacht, ein Motiv, das in bebilderten Handschriften bevorzugt aufgegriffen wird.¹⁹³ Sie ist damit aber auch eine Praktik der Macht,¹⁹⁴ welche der König sogleich zu restituieren sucht, wenn er die Tochter in einem Fass auf dem Meer aussetzen lässt (vgl.V. 26840 ff.). Da diese im Vertrauen auf Gott die Strafe auf sich nimmt (vgl. V. 26860 f.), erhält sie die für ‚Mächen ohne Hände‘ typischen märtyrerhaften Züge,¹⁹⁵ doch erschöpfen sich Emotionen nicht in dieser final vorgegebenen Textfunktion, sie laufen als Kausalmotivationen wie eine zweite Tonspur neben der finalen Erzähllogik her und plausibilisieren die vorgegebenen Handlungsschritte. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass der Vater-Tochter-Inzest ebenso wie seine Abwehr trotz diverser Kausalmotivationen primär final determiniert sind.¹⁹⁶ Die vorrangige Funktion der Inzestthematik im Erzähltyp ‚Mädchen ohne Hände‘ besteht darin, in Form eines drohenden, aber im letzten Moment verhinderten Vater-Tochter-Inzests als Katalysator für die Freisetzung der Töchter zu dienen. Ausgestoßen aus ihrem Herkunftsgeschlecht ziehen sie in die Welt, weshalb Archibald vom Erzähltyp „Flight from the Incestuous father“¹⁹⁷ spricht. Dass die Inzestthematik final motiviert ist, wird dabei insbesondere daran ersichtlich, dass von ihr, so Kiening, am Ende keine Rede mehr ist und sie im weiteren Erzählverlauf im Prinzip keine Rolle mehr spielt.¹⁹⁸ Vielmehr werden Kernkonfliktpunkte, die den verhinderten Vater-Tochter-Inzest in der Vorgeschichte prägen, im Handlungsfortgang thematisch gespiegelt. So konterkariert die Ehe, die die Königstochter in der Fremde mit dem König von Griechenland eingeht, die initiale Inzestehe. Nicht Zwang, Konsens ist ihre Basis,¹⁹⁹ sie ist maximal exogam, nicht
Vgl. exemplarisch Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 5, fol. 214v (HC 7989); vgl. daneben die Übersicht bei Günther, Weltchronikhandschriften, S. 629. Zu Praktiken der Beschämung als Techniken der Macht vgl. im Überblick Gvozdeva/Velten, Einleitung, S. 15 f. Vgl. hierzu Kiening, Unheilige Familien, S. 107. Vgl. ebd., S. 108. Archibald, Incest, S. 147; vgl. a. S. 147 ff.; Dies., Flight; Black, Accused Queens, S. 8 f.; Hagemann, Vorgeschichten, S. 147– 160. Vgl. Kiening, Unheilige Familien, S. 113. Vgl. hierzu a. Black, Accused Queens, S. 48 f. In anderen Varianten des Erzähltyps kommt dieser Gedanke noch deutlicher zum Tragen, so zum Beispiel in dem Liebes- und Abenteuerroman Mai und Beaflor; vgl. hierzu Kasten, Ehekonsens, S. 10 ff.
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endogam.²⁰⁰ Auch Eltern-Kind-Konstellationen stehen in einem Spiegel- und Kontrastverhältnis,²⁰¹ die Mutter des Königs von Griechenland intrigiert gegen die Schwiegertochter (vgl. V. 26949 – 26952) und verleumdet sie in einem gefälschten Brief, sie habe ein Kind geboren, daz is gestalt als ein schem. / ein tiuvel es schier hin nem ²⁰² (V. 27049 f.) – ein typisches Motiv im Erzähltyp der ‚unschuldig verfolgten Frau‘,²⁰³ das in einem direkten Zusammenhang mit der Inzestthematik steht, hier noch verstärkt durch die wörtlichen Reminiszenzen. Der König lässt sich blenden und verstößt seine Gattin, die mit ihrem neugeborenen Kind wieder in ein Fass eingeschlagen wird und zurück nach Rom gelangt, wo es fünf Jahre später unter der Schirmherrschaft des Papstes zur Wiederzusammenkunft von Königstochter,Vater und Ehemann kommt.Während der König von Reussen in der Schlussperspektive „pardoniert“²⁰⁴ wird, nachdem er seine Sünden – wohlgemerkt nicht den Inzest, sondern die vermeintliche Tötung seiner Tochter (vgl. V. 27266 – 28284) – beichtet, ‚muss‘ die Schwiegermutter eliminiert werden. Als ihr Sohn die Intrige aufdeckt, mauert er sie zur Strafe lebendig ein (vgl. V. 27215 – 27220), eine unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten ebenso eigentümliche wie für den Erzähltyp charakteristische Logik von Schuld und Strafe.²⁰⁵ In der Schlussperspektive, so Kiening, sind diese Konfliktpotentiale überwunden, der Generationenwechsel ist vollzogen, die labile in eine stabile Situation überführt: An diesem Punkt wird sichtbar, daß die Teleologie der Geschichte nicht darauf gerichtet ist, mit der Problemkonstellation auch die sie verursachende Gesellschaft zu überwinden, sondern darauf, aus der Monströsität der Regelüberschreitung eine emphatische Bestätigung des die Regel konstituierenden Systems abzuleiten. Sichtbar wird, daß die Abfolge der einzelnen Handlungseinheiten einer mehr final als kausal begründeten Logik gehorcht. Das harmonische Ende setzt den Schlußpunkt hinter eine Serie genealogischer Transformationen.²⁰⁶
Wie typisch für den Erzähltyp; vgl. hierzu Kiening, Unheilige Familien, S. 117; für Mai und Beaflor Eming, Theorie des Inzests, S. 47. Vgl. hierzu mit unterschiedlichen Deutungen Buschinger, Inzest-Motiv, S. 125 f.; Kasten, Ehekonsens, S. 14 f.; Bennewitz, Mädchen, S. 163 ff.; Eming, Theorie des Inzests, S. 41 ff. „Es sieht aus wie ein Schemen. Ein Teufel würde es sofort zu sich nehmen.“ Vgl. Schlauch, Chaucer’s Constance, S. 21– 35. Kiening, Unheilige Familien, S. 116. Vgl. Kasten, Ehekonsens, S. 14 f.; Bennewitz, Mädchen, S. 163 ff.; Kiening, Unheilige Familien, S. 116. Ebd., S. 116 f. Kiening bezieht sich auf den Erzähltyp ‚Mädchen ohne Hände‘ im Allgemeinen. Der Sache nach gilt seine Beobachtung auch für den König von Reussen, in dem allerdings der Herrschaftsthematik an dieser Stelle vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt wird.
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Neben diese final determinierte Sinnachse tritt aber, ebenso wie schon in der Inzestepisode, eine kausale. Kumber (V. 26907; 26910; „Kummer, Leid, Schmerz“²⁰⁷) und ungemach (V. 26912; „Unglück, Kummer, Leid“²⁰⁸) der Königstochter lassen den König von Griechenland mit ihr leiden (vgl.V. 26912) und sie zu sich nehmen; erst als sie ein halbes Jahr bei ihm lebt, ohne etwas zu tun, wofür sie sich schämen müsste (vgl.V. 26921), heiratet er sie. Seine Mutter wird in einem der seltenen Erzählerkommentare als bitter (V. 26930; „bitter“²⁰⁹; „wütend“²¹⁰) und übel (vgl. V. 26931; „übel, böse, bösartig“²¹¹) bezeichnet, sie macht sich zum Vorsatz, der Schwiegertochter grôz nôt (V. 26952) zu bereiten, des Königs ungemach ob der vorgeblichen Monstergeburt lässt ihn seine Frau verstoßen (vgl. V. 27061– 27075). Der Marschall, der mit der Ausführung betraut wird, ist voll Trauer und weint mit seiner Königin (vgl.V. 27088 – 27091; 27098; 27106, 27118), es ist die Furcht vor des Königs Zorn, die ihn seinem Befehl Folge leisten lässt (vgl. V. 27093). Als der König entdeckt, dass er im Unrecht handelt, bereitet ihm die Vertreibung jâmer unde leide (V. 27193; „Schmerz und Leid“), im Zorn mauert er seine Mutter ein (vgl. V. 27215 ff.), damit sie auf immer in smerzen, jâmer und nôt (V. 27220; „Schmerzen, Leid und Qual“) sei. Eine Mischung aus Zorn, Traurigkeit und Angst treibt ihn schließlich nach Rom zur Buße (vgl. V. 27221– 27234), Reue authentifiziert die Beichten der beiden Könige (vgl. V. 27254 und 27278). In der Schlussperspektive wird erneut Freude aufgerufen (vgl. V. 27322; 27326; 27338 f.; 27346; 27356), die diesmal auch die Königstochter und mit ihr alle Glieder des Kollektivs erfasst, was markiert, dass ein harmonisches Ende gefunden, die gesellschaftliche Ordnung restituiert ist. Emotionen üben damit die gesamte Erzählung hindurch eine Doppelfunktion aus als Marker, die Richtwerte für die Rezipierenden bereitstellen, wie ein bestimmtes Erzählelement zu bewerten ist (als erfreulich, betrauernswert usw.), und als Katalysatoren, welche die Handlung antreiben und motivieren. Blickt man von hier zurück auf die Lot-Episode, ergeben sich sowohl weitreichende Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten. Einerseits lassen sich die beiden Erzählungen von einem Vater-Tochter-Inzest, die Enikels Weltchronik rahmen, im intratextuellen Zusammenhang als Spiegelbilder und Gegenentwürfe lesen. Bildet der Vater-Tochter-Inzest einmal den Höhepunkt und Abschluss der narrativen Einheit, bildet er das andere Mal das Eingangsthema; geht die Initiative einmal von den Töchtern aus, ist es das andere Mal der Vater; wird der Inzest dort
Hennig, S. 195. Ebd., S. 371. Ebd., S. 40. Lexer 1, Sp. 287. Lexer 2, Sp. 1603.
6.3 Jans Enikel: Weltchronik
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vollzogen, wird er hier im letzten Moment verhindert; ist er zunächst im Modus eines sexuellen Kontakts gehalten, wird er nun im Modus der Ehe verhandelt; ist er einmal als heimliche List durchgeführt, steht ihm auf der anderen Seite ein öffentlicher Beschluss gegenüber. Andererseits stechen zentrale Gemeinsamkeiten hervor. In beiden Fällen resultiert (auch wenn dem auf der Textoberfläche vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird) der Vater-Tochter-Inzest aus einer genealogischen Notsituation, die einmal menschheitsgeschichtlich, einmal dynastisch gefasst ist. Signifikant aber ist vor allem, dass die Inzestthematik in beiden Erzählungen mit dem höfischen Gefühl der Freude enggeführt und damit partiell positiv evaluiert wird. Enikels Lot-Fassung stellt, so lässt sich bilanzieren, sowohl auf textinterner als auch auf textexterner Ebene einen Sonderfall dar. Er emotionalisiert den vorgefundenen Stoff, es ist die Trauer der Töchter, die als Handlungskatalysator fungiert und den Vater-Tochter-Inzest motiviert. Dieser ruft bezeichnenderweise Freude hervor, ein Signum der Enikelschen Variante, was in seinem König von Reussen wiederkehrt. Freude wird so in seiner Weltchronik zur dominanten, mit der Inzestthematik verbundenen Emotion. Gleichsam scheinen an den Rändern mit der Furcht von Lots jüngerer Tochter und der Trauer der Königstochter von Reussen alternative evaluative Eigenschaften des Vater-Tochter-Inzests auf. Sie ersetzen explizite normative Wertungen oder Kommentare, der Deutungsrahmen wird allein über nonverbale und in Figurenkommunikation verbalisierte Emotionen flexibilisiert. Dabei ist unter gendertheoretischen Gesichtspunkten bemerkenswert, dass durch die Erzählführung Sympathien auf die jeweiligen Töchter entfallen, ganz anders als es zum Beispiel bei Rudolf von Ems der Fall ist. Auch mit Blick auf die Tabuthematik ist Enikels Lot-Fassung als Ausnahmefall zu bezeichnen. Er bringt den Inzestakt eindrücklich und lebendig zur Anschauung und macht die Rezipierenden zu ‚Ohren-‘ und ‚Augenzeugen‘ des Inzests, wobei zum Teil schwankartige Elemente eingezogen werden – die biblische Geschichte von Lot wird zu einer unterhaltsamen Erzählung. Dies geht einher mit einer freizügigen, im Vergleich mit Rudolf von Ems und der Christherre-Chronik geradezu ‚tabulosen‘ Bildmotivik in illustrierten Handschriften, die Bettszenen und Liebesspiele auf der Freien Heide zeigt, nackte Concumbenten, die mit Freude ‚bei der Sache‘ sind. Dabei lassen sich am Handschriftenmaterial gehäuft Spuren der Tabuisierung nachweisen, die freizügige Darstellungsweise wird von späteren Benutzern offensichtlich als anstößig empfunden und unkenntlich gemacht, um nicht zu sagen: ‚zensiert‘.
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6.4 Bearbeitungen des 14. und 15. Jahrhunderts Die Gattung der Weltchronik lässt sich als Gebrauchsliteratur bestimmen, die bis ins auslaufende Spätmittelalter hinein breit rezipiert und reproduziert wird.²¹² In der Überlieferung stellt die autornahe Fassung einen absoluten Ausnahmefall dar, vielmehr bilden die drei analysierten Chroniken zusammen mit der lateinischen Tradition eine Art stofflichen Grundstock, der schon früh kombiniert und variiert wird.²¹³ Die Gattung lässt sich als offene Form bestimmen, die, so Danielle Jaurant, „durch wechselnde Einschübe und Zusätze, manchmal auch durch Streichungen, je nach Handschriftentypus ihre Gesamtstruktur verändern kann.“²¹⁴ Ein Extrembeispiel für inhaltliche Kürzungen liefern die Historien der alden E (um 1340/50), eine Bearbeitung der Historia Scholastica von Petrus Comestor, in der der „große Stoff […] in einer erbärmlichen Kürze und Dürre“²¹⁵ abgehandelt wird, Lots Inzest in gerade einmal 14 Versen.²¹⁶ Sie tritt in ihrer narrativen Ausgestaltung noch hinter die Bibel zurück, Flucht und Dialog fehlen, dafür wird auf dem ohnehin knappen Raum dreimal die Trunkenheit Lots betont.²¹⁷ Ebenfalls verknappend verfährt die historisch ausgerichtete, enzyklopädische und an der „Gesamtheit der wissenschaftlichen Bildung“²¹⁸ interessierte Schedelsche Weltchronik (auch Nürnberger Chronik), die 1493 in einer lateinischen und deutschen Doppelausgabe in Druck geht. Die gesamte ‚Lebensgeschichte‘ Lots wird in toto gebündelt und in nur 16 Zeilen wiedergegeben, die Inzestepisode gerinnt zum nackten Faktenbericht und schrumpft auf vier Sätze zusammen.²¹⁹
Vgl. Rettelbach, Studien, S. 1. Nach Günther sind insgesamt mehr als 200 Textzeugen versifizierter mittelhochdeutscher Weltchroniken erhalten; vgl. Günther, Weltchronikhandschriften, S. 63. Für Rudolf von Ems geht Hubert Herkommer von über 100 Textzeugen aus; vgl. Herkommer, St. Galler Kodex, S. 127; für die Christherre-Chronik listet Plate 98 Textzeugen, vgl. Plate, Überlieferung, S. 26 – 45; für die Enikel-Überlieferung gibt Strauch 38 an; vgl. Strauch, Einleitung, S. IV-XL. Zwischen den Gruppen ist von Überschneidungen auszugehen. Vgl. Gärtner, Überlieferungstypen, S. 113 f.; Rettelbach, Studien, S. 2; Plate, Überlieferung, S. 292 f. Jaurant, Weltchronik, S. 286. Boor/Newald, Die deutsche Literatur S. 426. Vgl. Historien der Alden E. Hrsg. von Wilhelm Gerhard, Leipzig 1927 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 271), V. 536 – 552. Vgl. ebd., V. 536; 540; 547. Stephan Füssel: Die Welt im Buch. Buchkünstlerischer und humanistischer Kontext der Schedelschen Weltchronik von 1493, Mainz 1996 (Kleiner Druck der Gutenberg-Gesellschaft 111), S. 8. v] die tcther [sic] loth machtē in auff dē perg truncken vnd vermischtē sich mit ime. vnd die grsser gepar iren sun moab. vnd die klainer iren sun amon. von den selben komen die amonite vnd moabite die selben zway volck woneten in dem tal syrie; Hartmann Schedel: Weltchronik 1493.
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Der mit Abstand am weitesten verbreitete Überlieferungstyp aber ist die Kompilation, bei der aus verschiedenen Quellen Teile exzerpiert und neu zusammengefügt werden.²²⁰ Ein frühes Beispiel gibt die sogenannte Erweiterte Christherre-Chronik,²²¹ als Paradebeispiel kann die vierte große Weltchronik des Mittelalters aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gelten, die sich mit dem Namen Heinrich von München verbindet.²²² Neben den genannten Quellen, aus denen kreativ geschöpft wird und die wahrscheinlich bereits in einer Mischredaktion vorlagen, werden weitere Teile der volkssprachigen und lateinischen Chronistik aufgenommen, Einschübe aus Heiligenlegenden inseriert und Erzählblöcke aus historischen Erzählungen in der Tradition des Antikenromans und der Chanson de geste eingearbeitet.²²³ Der Lot-Geschichte wird ein wesentliches Erzählelement hinzugefügt: Im Anschluss an die Inzestepisode wird berichtet, dass Lot zurück in seine Heimatstadt Chaldäa geht, wo er verbrannt wird, weil er sich weigert, nach dem Brauch der Stadt das Feuer anzubeten.²²⁴ Herkunft und Quelle dieser Textstelle sind unklar, sie lässt sich in dieser Konstellation nirgendwo anders nachweisen.²²⁵ Das neue Ende hat einen doppelten Effekt, zum einen positiviert es Lot, weil er sich märtyrerhaft weigert Götzen anzubeten, zum anderen negativiert es ihn, weil er anders als Abraham nicht aus den Flammen errettet wird. Darüber hinaus droht laut Buch Levitikus demjenigen der Flam-
Kolorierte Gesamtausgabe. Hrsg. und komment. von Stephan Füssel, Köln 2013, fol. XXIr; „Und die Töchter machten Lot auf dem Berg betrunken und schliefen mit ihm. Und die Größere gebar ihren Sohn Moab und die Kleinere ihren Sohn Amon, von denen stammen die Ammoniter und Moabiter, die in dem Tal Syrien lebten.“ Vgl. Gärtner, Überlieferungstypen, S. 116 f. Vgl. Rettelbach, Studien, S. 3. Vgl. Norbert H. Ott: Art. ‚Heinrich von München‘. In: VL 3, Sp. 827– 837. Die Namensnennung erfolgt im Text, es ist jedoch umstritten, ob sie mit Autorschaft gleichzusetzen ist; vgl. ebd., Sp. 827 f. Der hier interessierende Textteil ist bisher nicht ediert, eine Synopse der wichtigsten Handschriften findet sich bei Klein, Studien. Vgl. Ott, Heinrich von München, Sp. 830 – 834; Ders., Kompilation, S. 120; Rettelbach, Studien, S. 1. Vgl. die Synopse bei Klein, Studien, S. 82 f., derzufolge alle dort aufgeführten Handschriften den Zusatz führen. Zur Textgestalt vgl. Rettelbach, Studien, S. 130. Vgl. exemplarisch die Handschrift Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 7364, fol. 69r (HC 3191). Nach Klein ist die Quelle bislang nicht ermittelt; vgl. Dorothea Klein: Studien zur Weltchronik Heinrichs von München. Bd. 3/1: Text- und überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen zur Redaktion β, Wiesbaden 1998 (Wissensliteratur im Mittelalter 31/1), S. 96. Sie hängt eng zusammen mit einer Erzählung über Abraham und Aran (Lots Vater), von denen etwa Petrus Comestor erzählt, sie seien von den Chaldäern dem Feuertod anheimgegeben worden, aus dem nur Abraham errettet worden sei. Die Abweichung könnte somit auf eine Variante in der Überlieferung der Historia Scholastica zurückgehen; vgl. Rettelbach, Studien, S. 130.
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mentod, der gleichzeitig Tochter und Mutter zur Frau nimmt (vgl. Lev 20,14), so dass er sich auch als Strafe für den Inzest deuten lässt. Unterstützt wird diese Interpretation durch den Umstand, dass der Feuertod auf symbolischer Ebene die Brände spiegelt, die Sodom und Gomorrha zerstören, und so die sexuellen Vergehen ‚Sodomie‘ und ‚Inzest‘ parallelisiert, womit ein eigener Beitrag zur Schuldfrage geleistet wäre. Singulär in der Überlieferung zeigt die Wolfenbütteler Handschrift Cod. Guelf. 1.5.2 Aug. 2° eine Miniatur, in deren oberer Bildhälfte Lot mit seinen Kindern spielt und in der unteren den Feuertod stirbt.²²⁶ Diese Bildschöpfung findet sich, so Jörn-Uwe Günther, „in keiner anderen illustrierten Weltchronik-Hs.“²²⁷. Sie steht in enger Text-Bild-Korrelation; mit dem Feuertod Lots findet die spezifische ‚Schuldlogik‘ der Narration eine visuelle Entsprechung. Ohnehin bringen die Illustrationen zur Inzestepisode im 14. und 15. Jahrhundert neue Bildtypen hervor. Die Textkompilation geht meist mit einer Bildkompilation einher,²²⁸ wobei zum Teil das Motivrepertoire durch Neuschöpfungen erweitert und/oder die Frequenz der Miniaturen erhöht wird. So erreicht die Illustrationsdichte der Inzestepisode in den Handschriften Berlin, Hdschr. 389, und München, Cgm 250, mit drei Miniaturen ihr Maximum. Die Handlung wird kleinschrittig und genau ins Bild gesetzt,²²⁹ die Miniaturen folgen einer Trias, die der Doppelwendung von ‚Weinlist‘ und ‚Inzest‘ ‚Lots Töchter mit ihren Kindern‘ hinzufügt.²³⁰ Der dargebotene Sinnzusammenhang wird um die genealogische Dimension erweitert, ein Gegengewicht zum Text, der nach Enikel erzählt. Eine ähnliche Miniatur findet sich auch im Rahmen der Erweiterten Christherre-Überlieferung im Linzer Kodex Cod. 472, und ihrer jüngeren Wiener Schwesternhandschrift Cod. Ser. nova 2642, die eine Zweierkonstellation aus ‚Beilager‘ und ‚Nachkommen‘ zeigen,²³¹ so dass die Visualisierung der genealogischen Dimension als ein Spezifikum des letzten Viertels des 14. und ersten Viertels des 15. Jahrhunderts beschrieben werden kann. Eine Spielart gibt die Berliner Handschrift Hdschr. 389. Im linken Bildfeld sieht man eine der Töchter mit einem Kleinkind auf dem Arm, die auf den von der anderen Tochter im rechten Bildfeld
Charakteristisch in diesem Traditionsstrang ist eigentlich, dass nur die Episode von Sodom und Gomorrha, nicht die von Lot und seinen Töchtern illustriert wird; vgl. die Übersicht bei Günther, Weltchronikhandschriften, S. 637. Ebd., S. 400. Vgl. Jaurant, Weltchronik, S. 55. Vgl. Günther, Weltchronikhandschriften, S. 300. Vgl. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 250, fol. 30r (HC 9446); Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Hdschr. 389, fol. 35r (HC 3275). Vgl. Linz, Oberösterreichische Landesbibliothek, Cod. 472, fol. 52r und 52v (HC 2688); ÖNB/ Wien Cod. Ser. nova 2642, fol. 48v (HC 2331).
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emporgehobenen, am Wickeltuch als Säugling erkennbaren Sohn blickt.²³² Ist der Altersunterschied der Kinder schon irritierend, trägt diese Tochter zudem eine Kopfbedeckung, die sie als verheiratete Frau markiert. Auch in den anderen Handschriften tragen die Töchter Lots als Mütter (zum Teil sogar schon als Töchter) eine Haube oder ein Gebende,²³³ hier aber ist bezeichnend, dass sie nur eine Tochter kleidet. Hinzu tritt, dass in ihrem Rücken der Vater steht und sie zärtlich umarmt (siehe Abb. 6 im Anhang).²³⁴ Im Bild wird das transgressive Moment des Tabubruchs zurückgenommen, Lot und eine seiner Töchter erscheinen als Ehepaar. Auch das Beilager bringt neue Bildmotive hervor. Die in der Mitte des 15. Jahrhunderts entstehende Berliner Handschrift Ms. germ. fol. 480 weist eigentlich eine „ursprüngliche Expressivität“ auf, so „sprengt der Zeichner […] rote Farbe über die Seite, um den Untergang von Sodom und Gomorrha anschaulicher zu machen“²³⁵. Nicht so in der Inzestepisode. Obgleich das Bildprogramm auf einer ähnlichen Vorlage wie die bereits erwähnte Münchner Handschrift Cgm 250 fußt, in der das Beilager ursprünglich freizügig dargestellt wird, „handelt es sich offensichtlich um eine ikonographisch sehr eigenständige Arbeit“, in der sich Bildschöpfungen finden, „die ohne Parallelen in der sonstigen Weltchronik-Illustration sind“²³⁶. So entspricht auch die Darstellung des Beilagers keiner der bisher besprochenen Varianten. Zu sehen ist eine Art Familienidyll in karger Landschaft, in der Lot trinkend sitzt, neben ihm knien seine Töchter, die Hände zu Zeigegesten erhoben.²³⁷ Die Weinlist lässt sich optisch erahnen, von der Inzestthematik fehlt jede Spur. Es ist damit der älteste überlieferte Beleg für eine hochgradig tabuisierende Visualisierung, die sich im frühen Material nicht, im auslaufenden Spätmittelalter aber häufiger findet. So lässt sich an dem von Lieselotte E. Saurma-Jeltsch untersuchten Korpus spätmittelalterlicher Historienbibeln, die in Werkstätten wie der von Diebold Lauber seriell produziert werden, exemplarisch nachweisen, dass im 15. Jahrhundert „zwei vollständig verschiedene Interpretationen“²³⁸ miteinander konkurrieren. Die ältesten Exem Vgl. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Hdschr. 389, fol. 35r (HC 3275). Vgl. etwa Linz, Oberösterreichische Landesbibliothek, Cod. 472, fol. 52r und 52v (HC 2688); Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 250, fol. 30r (HC 9446). Vgl. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Hdschr. 389, fol. 35r (HC 3275). Günther, Weltchronikhandschriften, S. 97. Ebd., S. 98. Vgl. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 480, fol. 93v (HC 8820). Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung. Bilderhandschriften aus der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau, 2 Bde., Wiesbaden 2001, hier Bd. 1, S. 197.
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plare, die Handschriften Dresden, Mscr. A 49, und London, Add. 24917, entstehen im Umfeld der elsässischen Werkstatt von 1418, einem Vorläufer der LauberWerkstatt, deren Arbeiten sich dadurch auszeichnen, „daß sie auf […] die emotionale Beteiligung der Akteure achten, daß sie trotz der Raffung mehrerer Textgeschehnisse in einem Bild die Genauigkeit der Detailschilderung suchen“²³⁹. In beiden Handschriften sowie in Dresden, Mscr. A 50, ist ein Bettlager zu sehen, das zu einer echten Ménage à trois gerät.²⁴⁰ Lot liegt nackt im Bett, eine Tochter zur linken, die andere zur rechten Seite. In der Dresdner Handschrift Mscr. A 49 fasst Lot ihr an die Brust, in Mscr. 50 setzen die Blickrichtungen der Figuren Lot als Bildmittelpunkt, der als Jüngling daherkommt, so dass der Altersunterschied im Bild kaschiert wird.²⁴¹ Die Darstellungsweise ist eindeutig und freizügig und transportiert als erste hier besprochene überhaupt den doppelten Inzest, der in einem Bild zusammengefasst wird. Dem diametral entgegengesetzt ist die Laubersche Formulierung, wie sie in den Handschriften Köln, W 250, Frauenfeld, Y 19, und Berlin, Hdschr. 382, überliefert ist,²⁴² die sich um Darmstadt, Hs. 1, ergänzen lassen.²⁴³ Sie aktualisiert Weinlist und Beilager als Familienidyll, das optisch weder von dem einen noch von dem anderen eine Spur erahnen lässt. Zu sehen ist Lot, wie er in der freien Natur zwischen seinen Töchtern sitzt und sie umarmt. Es handelt sich dabei (ohne eine genetische Abhängigkeit behaupten zu wollen) um eine leichte Abwandlung des Motivs, das im mittelalterlichen Betrieb nur singulär mit dem Berliner Kodex Ms. germ. fol. 480 überliefert ist und das nun eine ikonographische Tradition entfaltet. Die Darstellungsweise lässt sich im Vergleich mit den bisher besprochenen Visualisierungen als maximale Tabuisierung der Inzestthematik bezeichnen, nur noch die Akteure, nicht mehr ihre Aktionen sind zu erkennen. Damit konkurrieren in den Handschriften des 15. Jahrhunderts ein freizügiger und ein verschleiernder Illustrationstyp. Während die Laubersche Interpretation bis in die fünfziger Jahre gültig bleibt, greifen die spätesten Handschriften Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 1.15 Aug. 2°, und Solothurn, Cod. II 43, „über den Umweg eines Rückbezuges auf ältere Formulierungen“²⁴⁴ wieder den für die Ebd., S. 40. Vgl. die Handschriften Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Mscr. A 49, fol. 18v (HC 6784) und Mscr. A 50, fol. 54r (HC 6785); letztere ist abgebildet bei Saurma-Jeltsch: Spätformen 2, S. 297 (Abb. 276). Zur Londoner Handschrift vgl. Dies., Spätformen 1, S. 197; die als Blattangabe fol. 58v nennt. Vgl. Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Mscr. A 49, fol. 18v (HC 6784) und Mscr. A 50, fol. 54r (HC 6785). Vgl. Saurma-Jeltsch, Spätformen 1, S. 197. Vgl. Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Hs. 1, fol. 34r (HC 6756). Saurma-Jeltsch, Spätformen 1, S. 197. Beide Miniaturen sind abgedruckt bei ders., Spätformen 2, S. 297 (Abb. 275 und 277).
6.5 Zwischenfazit
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Umgebung der Werkstatt von 1418 üblichen Typus des Bettlagers auf, so dass chronologisch auf die tabuisierende wieder eine enttabuisierende Darstellungsweise folgt.
6.5 Zwischenfazit Der alttestamentarische Stoff von Lot und seinen Töchtern wird bis ins Spätmittelalter als Bestandteil des historischen Wissens aktualisiert. Er bildet damit unzweifelhaft über Jahrhunderte eine kulturelle „Kernversion des Vater-TochterInzests“²⁴⁵, doch geht die produktive Aneignung des Stoffes nicht zwingend mit den von Rijnaarts und Bennewitz am Beispiel des biblischen Basisnarrativs beschriebenen genderspezifischen Erzählstrategien einher, vielmehr zeichnet sich ein weiter Spielraum ab. Beschwört der Not-Inzest in der Bibel einen Mechanismus herauf, der quasi automatisch auf den Beischlaf zwischen den Töchtern und ihrem Vater hinausläuft, wird der Zwangscharakter bei Rudolf von Ems und in der Christherre-Chronik auf die Entscheidungsfindung der Schwestern projiziert, bei Enikel emotionalisiert und als kluger Beschluss rationalisiert. In diesem Rahmen kommt Emotionen Bedeutung zu. So verbleiben Rudolfs und die Christherre-Chronik weitgehend auf dem Stand der Bibel, der Inzestakt bleibt emotionslos, allein die Furcht des Vaters, die die Fluchthandlung motiviert, bildet eine mittelbare Voraussetzung für den Inzest. Doch während Rudolf mit Lots erschrecken ob der äußerlich gegebenen nôt die biblische Logik von (normkonformer) Gottesfurcht in Reaktion auf den Zorn Gottes reproduziert, bringt die Christherre-Chronik mit Sorge und Zweifel Emotionen ein, die eher auf mangelndes Gottvertrauen anspielen. Sie sind Vorboten einer die Lotfigur zunehmend negativ beurteilenden Entwicklung, was sich bei Heinrich von München mit Lots Feuertod symbolisch niederschlägt und schließlich in einigen Redaktionen der späteren Historienbibeln expliziert wird. Hier sind es dann zum Teil die Töchter, die sich normkonform fürchten, so dass sich das in der Furcht enthaltene Entlastungsmoment verschiebt. Verläuft in den beiden frühen Weltchroniken die Schuldzuschreibung einseitig auf die Töchter, ist es nun Lot, der durch den Inzest zu einem sündigen Mann wird, und das Handeln der Töchter, das entschuldigt wird. Wirkt Lots Trunkenheit in den Chroniken des 13. Jahrhunderts entlastend, wird sie nun zu einem Stein des Anstoßes. Ohnehin trifft die Kritik am biblischen Basisnarrativ, der Vater-Tochter-Inzest erscheine „als etwas unter bestimmten
Bennewitz, Mädchen, S. 157.
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Umständen durchaus Akzeptables“²⁴⁶, in dieser Schärfe nicht auf alle Bearbeitungen zu. Der Inzest wird weder bei Rudolf noch in der Christherre-Chronik legitimiert, er wird verurteilt und mit dem Stigma der Sünde belegt. Eine Sonderposition kommt in diesem Rahmen Enikels Fassung zu. Er emotionalisiert den Stoff, die Trauer der Töchter um den Verlust der friunt motiviert den Inzest, der seinerseits zu einem Objekt von Freude wird. So ist ausgerechnet seine Weltchronik, die – anders als Rudolf mit seinem Pamphlet gegen Frauen als Geschlecht der Sünde – keine Schuldzuschreibungen vornimmt, diejenige, die in der Gesamtschau durchaus das kulturelle Phantasma entwirft, der Vater-Tochter-Inzest sei unter bestimmten Voraussetzungen akzeptabel. Dies wird zusätzlich gestützt durch die Erzählung vom König von Reussen, in der Fürsten und Papst freudig ihre Zustimmung zur Inzestehe geben. Enikels Variante ist zugleich die einzige, die den Inzest zur Darstellung bringt, in allen anderen Textzeugen bewegt sich der Grad der Tabuisierung auf dem Niveau der Bibel, vom Inzest wird knapp und verschleiernd berichtet, die Transgression hinter Tabuwörtern zweiter Ordnung wie ‚zu ihm legen‘ oder ‚seine Frau werden‘ verdeckt. Anders Enikel, der detailliert schildert, wie die Concumbenten sich umarmen und anlächeln. Tangiert wird die textexterne Ebene: Wo andere Bearbeitungen auf Distanz setzen, wählt Enikel ein Arrangement, das die Rezipierenden nah an den Inzest heranholt. Was bei Rudolf als abschreckendes Exempel konzipiert ist, gibt bei ihm den Stoff für eine unterhaltsame Erzählung. Analoges gilt für das Enikel-Bildprogramm. Insgesamt weisen die Illustrationen zur Inzestepisode weitreichende Varianzen auf. Dies betrifft zum einen die im Bild angezeigte Handlungsfolge, die in der Rudolf von Ems-Überlieferung den Konnex von Weinlist und Inzest als Quintessenz der Erzählung exponiert, bei Enikel durch Alleinstellung auf den Beischlaf als Substrat der Episode fokussiert, in Textzeugen der Erweiterten Christherre-Chronik die genealogische Dimension als Korrektiv und Ergänzung setzt, bei Heinrich von München noch ergänzt um Lots Tod im Feuer. Es tangiert zum anderen die konkrete Visualisierung des VaterTochter-Inzests, das Motivspektrum reicht vom verschleiernden Familienidyll bis zum von zärtlichen Gesten begleiteten Beilager zu zweit oder zu dritt. Dabei konnten am Handschriftenmaterial Spuren der Tabuisierung nachgewiesen werden. Eine freizügige Darstellungsweise, wie sie für die Enikel-Überlieferung typisch ist, wird später als anstößig empfunden, die entsprechende Miniatur unkenntlich gemacht.
Rijnaarts, Lots Töchter, S. 26.
7 Myrrha Die in der griechischen und römischen Mythologie populäre Verwandlungssage von Smyrna/Myrrha ist vorrangig in der Fassung Ovids auf das Mittelalter gekommen. In seinen Metamorphosen erzählt Ovid,¹ wie Myrrha, angetrieben von starkem Begehren und zurückgehalten von gesellschaftlichen Konventionen und Normen, mit ihrem Verlangen nach dem Vater hadert, bis sie schließlich in den Selbstmord flüchtet. Im letzten Moment knüpft ihre Amme sie vom Strick und leitet sie mit einer List unerkannt zu ihrem Vater Cinyras, der wie Lot in Trunkenheit schwelgt. Es kommt zum Inzest, der über mehrere Nächte hinweg wiederholt wird. Als Cinyras seine Geliebte zu sehen trachtet und die eigene Tochter erkennt, versucht er, sie mit einem Schwert zu erschlagen. Myrrha gelingt die Flucht, in der Fremde metamorphosiert sie zum Myrrhenbaum, aus dessen Stamm die Frucht der Verbindung, Adonis, geboren wird.² Ovids Myrrha-Erzählung weist Übereinstimmungen mit der biblischen Geschichte von Lot und seinen Töchtern auf. Alle Aktivität geht von der Tochter aus, die Mutter ist abwesend, der betrunkene Vater unwissend. Zugleich werden Unterschiede greifbar. Myrrha handelt nicht aus einer genealogischen Konfliktsituation heraus, ihre Mutter ist nicht tot. Vor allem aber ist die Inzestthematik bereits im Prätext emotional aufgeladen. Amor ³ („Liebe“; „Leidenschaft“) und furor ⁴ („Raserei der Liebe“; „Wut“) treiben Myrrha zu dem, was timor ⁵ („Furcht“) eigentlich verhindern soll, pudor ⁶ („Scham“) hält die Liebende zurück, dolus ⁷ („Schmerz“; „Leid“) quält sie. Die Amme ergreifen angesichts des Inzests horror ⁸ („Schauder, Schrecken, Abscheu“) und tremor ⁹ („Beben, Zittern, Schrecken“), den Vater dolus. ¹⁰ Emotionen halten das transgressive Moment inzestuösen Verlangens die gesamte Erzählung hindurch bewusst und provozieren Reflexionen.¹¹
Im Folgenden nach der Ausgabe Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch/deutsch. Hrsg. und übertr. von Erich Rösch, München, Zürich 131992 (Sammlung Tusculum). Vgl. ebd., 10.298 – 502, S. 374– 383. Vgl. ebd., 10.315 und 319, S. 374; 10.342, S. 376; 10.404, S. 378 u. a. Vgl. ebd., 10.397, S. 378. Vgl. ebd., 10.361, S. 376. Vgl. a. metuere in 10.349, S. 376. Vgl. ebd., 10.371, S. 376; 10.454, S. 380. Vgl. ebd., 10.413, S. 378. Vgl. ebd., 10.414, S. 378. Ebd., 10.424, S. 380. Vgl. ebd., 10.474, S. 382. Vgl. Archibald, Incest, S. 64; Betty Rose Nagle: Byblis and Myrrha. Two Incest Narratives in the Metamorphoses. In: The Classical Journal 78 (1983), S. 301– 315, hier S. 306 f. und 312. https://doi.org/10.1515/9783110618440-008
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Zugleich ist die Textgestalt stark auf eine ästhetische Wirkung hin ausgerichtet. Sprache und Rhetorik bilden im knappen wie elaborierten Erzählstil Ovids die Substanz, als Rezeptions-Stimuli potentiell textexterne Effekte zu erzielen, so etwa in dem Chiasmus „Ein Verbrechen den Vater zu hassen! – So ihn zu lieben, größer Verbrechen als Haß!“¹²; einem Sprachspiel, das Signifikanzen verschiebt. Doch wie wird Ovid vom 12. bis zum 16. Jahrhundert rezipiert? Die Geschichte der produktiven Aneignung fördert zunächst einige Kuriositäten zu Tage. Ovid wird das gesamte Mittelalter hindurch gelesen, seine Metamorphosen gelten als einer der „Basistexte mittelalterlicher Mythenrezeption“¹³. Schon im 8. Jahrhundert rücken antike Dichtung und Rhetorik im Umkreis Karls des Großen vermehrt in das Interesse der Gelehrten, ab dem 10. Jahrhundert bildet sich eine allegorische Deutungstradition aus.¹⁴ Im 12. und 13. Jahrhundert erreicht die Rezeption ihren Höhepunkt, Ovidsche Konzepte wie ‚Liebe als Krankheit‘ oder ‚Liebe als Dienst‘ prägen die höfische Dichtung nachhaltig.¹⁵ Nur: Als geschlossener Text dringen die Metamorphosen kaum in die volkssprachige Dichtung. Einzig am Antike affinen Hof Hermanns von Thüringen, an dem auch Heinrich von Veldeke seinen Eneasroman (um 1170/84) und Herbort von Fritzlar sein Liet von Troye (nach 1190) verfassen, entsteht die erste und bis ins 16. Jahrhundert einzige Übertragung in die Volkssprache.¹⁶ Über den Verfasser ist nur bekannt, was er in seinem Prolog preisgibt. Der Sachse Albrecht von Halberstadt wirkt auf der Burg Zechenbuch, was Grimm als Jechaburg bei Sondershausen identifiziert,¹⁷ Albrechts zweideutige Datumsangabe verweist entweder auf das Jahr 1190 oder 1210 als Entstehungszeit.¹⁸ Seine Metamorphosen stehen im 13. Jahrhundert
scelus est odisse parentem: hic amor est odio maius scelus; Ovid, Metamorphosen 10.314 f., S. 374 f. Vgl. hierzu Leonard Barkan: The Gods Made Flesh. Metamorphosis and the Pursuit of Paganism, New Haven, New York 1986, S. 63; zu Wort- und Lautspiel bei Ovid vgl. a. Frederick Ahl: Metaformations. Soundplay and Wordplay in Ovid and Other Classical Poets, Ithaca u. a. 1985, S. 215 f. und 218 f.; zur ästhetischen Wirkung Michèle Lowrie: Myrrha’s Second Taboo. Ovid Metamorphoses 10.467– 68. In: Classical Philology 88 (1993), S. 50 und 52. Alfred Ebenbauer/Manfred Kern: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, Berlin 2003, S. XXXVII. Vgl. ebd, S. XV; Heike Link: Die Metamorphosenverdeutschung des Albrecht von Halberstadt. In: Dô tagte ez. Deutsche Literatur des Mittelalters in Sachsen-Anhalt. Hrsg. von Andrea Seidel/ Hans-Joachim Solms, Dössel 2003, S. 97– 112, hier S. 104. Vgl. ebd., S. 104– 107. Vgl. Karl Stackmann: Art. ‚Albrecht von Halberstadt‘. In: VL 1, Sp. 187– 191, hier Sp. 187 f. Vgl. Jacob Grimm: Albrecht von Halberstadt. In: ZfdA 8 (1851), S. 397– 422, hier S. 397; Ders.: Jiukan. In: ZfdA 8 (1851), S. 6 – 11, hier S. 10 f. Für 1190 plädiert etwa Link, Metamorphosenverdeutschung, S. 101; für 1210 Grimm, Albrecht, S. 397; Brigitte Rücker: Die Bearbeitung von Ovids Metamorphosen durch Albrecht von Halb-
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weitgehend isoliert, ihnen scheint wenig Erfolg beschieden zu sein. Name oder Werk werden in keinem anderen mittelhochdeutschen Text erwähnt, die Überlieferungslage ist dürftig, bis auf einige Bruchstücke hat sich keine Handschrift bis in die Gegenwart erhalten.¹⁹ Ein ähnliches Schattendasein führt Myrrha als literarische Gestalt. Nach Archibald zählt sie zu den am häufigsten erwähnten Heldinnen antiker Inzestgeschichten, es entsteht aber keine eigene Stofftradition, die sich in Einzelerzählungen oder umfangreicheren Narrationen niederschlägt.²⁰ Vielmehr gehört Myrrha, so Alfred Ebenbauer und Manfred Kern, „zu den klassischen ovidianischen ‚Verbrechern aus Liebe‘. Diese verkörpern im ma. Liebesdiskurs den ‚amor stultus et illicitus‘, die törichte und illegitime Liebe“²¹. In dieser Funktion wird sie mitunter in Katalogen tragischer Liebender oder als abschreckende Gewährsfrau für unangemessenes und bedrohliches Begehren gelistet, ohne jedoch zwingend als Inzestuöse markiert zu werden.²² Die Nennungen in der mittelhochdeutschen Literatur sind spärlich. Heinrich von dem Türlin etwa führt Myrrha in Diu Crône in einem Klagekatalog an, der die unermessliche Klage am Artushof um die entführte Ginover illustrieren soll, während Gottfried von Straßburg Myrrha in seinen senemaere im Tristan ebenso übergeht wie Albrecht in seinem Dichterexkurs.²³ Um es überspitzt zu sagen: Albrecht und Myrrha bilden ‚blinde Flecken‘ in der an sich durchaus ausgebildeten Ovidrezeption des Mittelalters. Erst im Zuge des Humanismus und des erstarkenden Interesses am antiken Erzählgut tritt Ovids Myrrha (wieder) auf den Plan volkssprachiger Literatur. Im Jahr 1545 geht die sowohl von den Zeitgenossen als auch von der modernen Forschung wohl am meisten beachtete, erste vollständige Metamorphosen-Bear-
erstadt und Jörg Wickram und ihre Kommentierung durch Gerhard Lorichius, Göppingen 1997 (GAG 641), S. 53. Vgl. Stackmann, Albrecht, Sp. 190. Die Bruchstücke entstammen einer wahrscheinlich im 17. Jahrhundert zerschnittenen, als Füllmaterial genutzten Handschrift; vgl. hierzu Link, Metamorphosenverdeutschung, S. 98. Vgl. Archibald, Incest, S. 78. Ebenbauer/Kern, Lexikon, S. 410. Vgl. Archibald, Incest, S. 79. Vgl. Heinrich von dem Türlin: Diu crône. Kritische mittelhochdeutsche Leseausgabe mit Erläuterungen. Hrsg. von Gudrun Felder, Berlin, Boston 2012, V. 11592; Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers., komment. und mit einem Nachwort vers. von Rüdiger Krohn, 2 Bde., Stuttgart 112006/92007 (RUB 4471/4472), V. 4621– 4820 und V. 17182– 17199; vgl. hierzu a. Ebenbauer/Kern, Lexikon, S. XXIII; 410.
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beitung bei Ivo Schöffer in Mainz in den Druck,²⁴ verfasst von dem Autodidakten und ‚Allround-Talent‘ Georg Wickram. Ob Wickram, der keine schulische oder universitäre Ausbildung genießt und des Lateinischen nach eigener Auskunft nicht mächtig ist, als Humanist oder bestenfalls als ‚Möchtergern-Humanist‘ gelten kann,²⁵ kann dahin gestellt bleiben, es entbehrt jedoch nicht einer gewissen Ironie, dass in einer Zeit, in der das Lateinische en vogue ist, Wickram nicht etwa auf eine Ovid-Handschrift zurückgreift, sondern auf eine im 16. Jahrhundert offensichtlich noch kursierende mittelhochdeutsche Übertragung der Metamorphosen Albrechts, der seinerzeit gegen den Gestus der Gelehrten aus dem lateinischen Original, nicht aus einer altfranzösischen Vorlage schöpft.²⁶ Wickrams Myrrha-Fassung steht im 16. Jahrhundert nicht singulär, das Interesse an antiken Stoffen steigt explosionsartig. Bereits vier Jahre bevor Schöffer Wickram verlegt, erscheint in Augsburg eine Bearbeitung der Myrrha-Episode von Christoph Bruno, die Hans Sachs 1541 zu Meisterlied und Spruchgedicht inspiriert, neun Jahre nach Wickram tritt Johannes Spreng mit einem „konkurrenzunternehmen“²⁷ volkssprachiger Metamorphosen-Bearbeitungen auf den Markt. Diese Texte stellen das Korpus der folgenden Analyse. Dabei ergibt sich zunächst ein gemeinsames Glied, das die mutmaßliche Rezeptionsweise betrifft. Antike Stoffe werden im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit als historische Stoffe wahrgenommen,²⁸ wenn auch nicht mit demselben Stellenwert und derselben Verbindlichkeit wie die biblischen. Über das Konzept der Präfiguration werden antike und biblische Gestalten verknüpft, die Auslegungsweise ist aber heterogen,²⁹ so dass in der Analyse nach konkreten Funktionalisierungen zu fragen ist.
Vgl. Mainz: Ivo Schöffer 1545, (VD16 O 1663). Vgl. hierzu Evamarie Blattner: Holzschnittfolgen zu den Metamorphosen des Ovid. Venedig 1497 und Mainz 1545, München 1998 (Beiträge zur Kunstwissenschaft 72), S. 15. Vgl. zu diesem Spannungsfeld Jan-Dirk Müller: Wickram – Ein Humanist? In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hrsg.von Maria E. Müller/ Michael Mecklenburg, Frankfurt a. M. 2007, S. 21– 39, hier S. 21, vgl. a. S. 35 ff. Vgl. a. Blattner, Holzschnittfolgen, S. 17 und 117; Johannes Bolte: Vorwort. In: Georg Wickrams Werke. Hrsg. von dems., Bd. 8, Tübingen 1906, S. V-LXXVI, hier S. V. Vgl. Hans-Gert Roloff: Nachwort des Herausgebers. In: Georg Wickram: Sämtliche Werke. Hrsg. von dems., Bd. 13/2, Berlin 1990 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 135), S. 885 – 894, hier S. 885; Link, Metamorphosenverdeutschung, S. 97; Lena Behmenburg: Philomela. Metamorphosen eines Mythos in der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2009 (TMP 15), S. 114. Bolte, Vorwort, S. XXX. Vgl. Ebenbauer/Kern, Lexikon, S. IXf. Vgl. ebd., S. XVIIIf.; Archibald, Incest, S. 241 f.; Behmenburg, Philomela, S. 114.
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7.1 Georg Wickrams Metamorphosen und Albrechts von Halberstadt Spuren Obgleich nur wenige Fragmente Albrechts von Halberstadt überliefert sind, lässt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass er Ovids Metamorphosen ursprünglich vollständig bearbeitet hat und die wenigen hundert Verse, die noch erhalten sind, einstmals einem Konvolut von circa 20.000 Versen angehörten.³⁰ Der Text ist damit deutlich umfangreicher als seine Vorlage,³¹ wobei es sich nicht um eine reine Aufschwellung handelt, vielmehr folgt Albrecht „dem Ovidtext verhältnismäßig genau“³², zugleich hat er ihn, „nicht […] schulmäßig übersetzt, sondern […] Stellen weggelassen, geändert oder ausführlicher behandelt“³³, so dass sich im Gesamtergebnis „freie Übernahmen und subjektive Umformungen“³⁴ einstellen, die den Blick auf spezifische Lesarten des Myrrha-Mythos freigeben. Gleichsam gründet fast alles, was heute über Albrechts Metamorphosen bekannt ist, auf Wickrams Text (auch der bereits erwähnte Prolog, den Wickram als Vorrede Albrechts abdruckt;³⁵ vgl. XIII/1, Prologus, S. 7– 19). So sieht sich die Forschung in der misslichen Lage, auf Albrechts Werk nur punktuell über die spärlichen Fragmente (die die Myrrha-Episode nicht enthalten) oder vermittelt durch Wickrams Text zugreifen zu können. Aus diesem Grund werden beide Werke in einem Kapitel besprochen, wobei Wickrams Text im Mit-
Vgl. Stackmann, Albrecht, Sp. 189; Link, Metamorphosenverdeutschung, S. 97. Karl Bartsch gibt die Losung aus, dass auf einen Ovid-Vers in etwa zwei Verse bei Albrecht/ Wickram kommen, wobei die Plusverse ungleichmäßig verteilt seien; vgl. Karl Bartsch: Albrecht von Halberstadt und Ovid im Mittelalter, Quedlinburg, Leipzig 1861 (Bibliothek der gesamten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 38), S. CXXXIX. Stackmann, Albrecht, Sp. 189. Rücker, Bearbeitung, S. 83. Blattner, Holzschnittfolgen, S. 17. Im Folgenden im Fließtext nach der Ausgabe Georg Wickram: Metamorphosen. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans-Gert Roloff, Bd. 13/2 Teilbde. Berlin 1990 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 134/135). Die Literaturangaben erfolgen nach dem Muster: Band der Roloff-Reihe in römischen Ziffern/Teilband in arabischen Ziffern, Buch. Figur, Vers. Bei Folgeverweisen wird nur der Vers angeführt. Den Philologen des 19. Jahrhunderts gibt die bei Wickram abgedruckte Vorrede Anlass, den ursprünglichen Prolog Albrechts zu rekonstruieren; vgl. Moriz Haupt: Die Vorrede Albrechts von Halberstadt. In: ZfdA 3 (1843), S. 289 – 292; Grimm, Albrecht, S. 397– 422. Bartsch wagt gar eine vollständige Rückübertragung des Textes; vgl. Bartsch, Albrecht. Sie erweist sich als unbrauchbar, als Bruchstücke einer originalen Abschrift zum Vorschein kommen; vgl. Rücker, Bearbeitung, S. 91; Lena Behmenburg: Dieweil ir swester was sein weib. Zur Bedrohung familiärer Ordnung in Georg Wickrams Philomela. In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hrsg. von Maria E. Müller/Michael Mecklenburg, Frankfurt a. M. 2007, S. 135 – 146, hier S. 136 f.
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telpunkt stehen und nur an jenen Stellen auf Albrechts mutmaßliche Textgestalt verwiesen werden soll, an denen sich auf der Basis allgemeiner Bearbeitungstendenzen, textkritischer Wahrscheinlichkeiten und thematischer oder stilistischer Übereinstimmungen mit überlieferten Fragmenten mehr oder weniger gesicherte Hypothesen formulieren lassen. Die Welt der Metamorphosen ist gesättigt von transgressiven Begehrensstrukturen, Geschlechtermodellen und Sexualitäten,³⁶ was zunächst die grundsätzliche Frage aufwirft, wie sich die späteren Bearbeiter, die einer christlichen Kultur entstammen, zu dem Themenkomplex stellen.³⁷ So betont Wickram in seinem Prolog, er habe alle unzucht vermitten / damit diß buoch von jungen und alten Frawen und Junckfrawen / sunder allen anstos gelesen werden ³⁸ [könne] (XIII/ 1, Prologus, S. 10, Z. 13 ff.). In ähnlicher Weise distanziert sich Albrecht vom überlieferten ‚heidnischen‘ Stoff (vgl. S. 7 ff., V. 12– 41; 66 – 80). Doch bleibt es bei dieser Absichtserklärung, potentiell anrüchige Passagen werden in der Regel übernommen.³⁹ Einzige Ausnahme bildet das Thema der Homosexualität, allen voran der Knabenliebe, die weitläufig tabuisiert und ausgespart wird;⁴⁰ die Inzesterzählungen um Byblis, Myrrha, Nyctimene und Philomela aber werden allesamt übernommen. Dienlich ist hier vor allem ein Vergleich der Myrrha- mit der Philomela-Episode aus dem sechsten Buch der Metamorphosen, ⁴¹ da sie mit einem Schwager-Schwägerin-Inzest ein eng verwandtes Thema behandelt und mit dem 144 Verse umfassenden Fragment A aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zumindest in Teilen in Albrechts Fassung vorliegt, was einen direkten Vergleich ermöglicht.⁴² Um spezifische Lesarten Wickrams herauszuarbeiten, kann man sich zudem strukturelle Besonderheiten seiner Metamorphosen zunutze machen. Die 15 Bü-
Vgl. Andrea Sieber: Transgressionen des Begehrens in Wickrams Metamorphosen-Bearbeitung. In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hrsg. von Maria E. Müller/Michael Mecklenburg, Frankfurt a. M. 2007, S. 147– 168. Vgl. zu diesem Problemkomplex Rücker, Bearbeitung, S. 204– 207; Link, Metamorphosenverdeutschung, S. 110 f.; Helmut Puff: Sodomy in Reformation Germany and Switzerland, 1400 – 1600, Chicago, London 2003 (The Chicago Series on Sexuality, History, and Society), S. 72. „[…] alles Unzüchtige vermieden, damit dieses Buch auch von jungen und alten Frauen und Jungfrauen ohne jeden Anstoß gelesen werden kann.“ Vgl. Rücker, Bearbeitung, S. 297; Behmenburg, Dieweil ir swester, S. 145. Vgl. hierzu v. a. die einschlägige Studie von Puff, Sodomy, S. 72 f. Vgl. Ovid, Metamorphosen 6.412– 676, S. 218 – 230. Im Folgenden im Fließtext unter der Abkürzung ‚A‘ nach dem Erstabdruck bei August Lübben: Neues Bruchstück von Albrecht von Halberstadt. In: Germania 10 (1865), S. 237– 245, hier S. 238 – 241. Die von Lübben und Wilhelm Leverkus aufgrund von Blattabschnitt hinzugefügten Zeichen werden ohne weitere Kennzeichnung übernommen, um den Lesefluss zu erleichtern.
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cher Ovids sind zusätzlich unterteilt in jeweils drei Figuren (kürzere Erzähleinheiten, die die Bücher gliedern), denen ein Titel und ein Holzschnitt vorgeschaltet sind, der wiederum von einer Inhaltsangabe flankiert wird.⁴³ Die Holzschnitte entwirft Wickram eigens für den Druck, so dass der seltene Fall vorliegt, dass der Urheber von Text und Bild identisch ist.⁴⁴ Zudem operiert Wickram jenseits etablierter ikonographischer Traditionen, seine Illustrationen stehen originär in einer engen Text-Bild-Korrelation und geben damit Aufschluss, wie Wickram das von ihm (Wieder‐)Erzählte (visuell) interpretiert.⁴⁵ Die Holzschnitte gliedern den Text nicht nur als optische „Lesezeichen“⁴⁶ und bringen ihn dem leseunkundigen Publikum nah, sie lenken auch als „Erzählbilder“⁴⁷ die Rezeption. Die abgebildeten Szenen entsprechen häufig nicht den Schlüsselszenen der Narration, sondern richten die Wahrnehmung auf andere Erzählelemente, was die Frage nach Selektion und Kombination aufwirft, zumal die Holzschnitte, so Anna Schreurs, „eine Vertiefung und bessere Einprägung der Geschichten ermöglichen [sollen], dies vor allem im Sinne eines erhobenen Zeigefingers, der in moralisierender Weise auf das zu Lernende in den Fabeln hinweist.“⁴⁸ Hinzu kommen Zwischentitel,⁴⁹ die die Figuren in weitere Abschnitte gliedern. Anders als bei den eher neutral gehaltenen Inhaltsangaben handelt sich dabei nicht selten um tendenziöse Überschriften, es erfolgen wertende Erläuterungen mit moralisierender Absicht.⁵⁰ Einzelne Verse werden zudem mit Marginalglossen kommentiert, die ebenfalls Wickrams Feder entstammen. Sie sind formal aus dem Fließtext her-
Im Folgenden angegeben nach dem Muster: Band/Teilband, Ill. Buch.Figur, Seite; Band/ Teilband, Inh. Buch.Figur, Seite, Vers. Vgl. Sebastian Möckel: Metamorphosen des Zorns. Ovids Racheerzählungen in Mittelalter und früher Neuzeit. In: Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin Baisch/Evamaria Freienhofer/Eva Lieberich, Göttingen 2014 (Aventiuren 8), S. 101– 131, hier S. 123. Vgl. Rücker, Bearbeitung, S. 252 f; 262 ff.; Anna Schreurs: Ein selbstgewachsner Moler illustriert die Malerbibel. Wickrams Holzschnitte zu Ovids Metamorphosen. In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hrsg. von Maria E. Müller/ Michael Mecklenburg, Frankfurt a. M. 2007, S. 167– 184, hier S. 169 ff. Ebd., S. 172. Hubertus Fischer: Wickrams Bilderwelt. Vorläufige Bemerkungen. In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hrsg. von Maria E. Müller/ Michael Mecklenburg, Frankfurt a. M. 2007, S. 199 – 214, hier S. 204. Schreurs, Moler, S. 171 f.; vgl. a. Margit Stadlober: Der Wald in der Malerei und der Graphik des Donaustils, Wien, Köln, Weimar 2006 (Ars viva 10), S. 143 f; Möckel, Metamorphosen, S. 123 f. Die Zwischentitel sind im Druck mit römischen Ziffern in Kleinbuchstaben durchnummeriert und werden entsprechend im Folgenden angegeben nach dem Muster: Band/Teilband, Buch.Nummer der Kapitelüberschrift in römischen Ziffern in Kleinbuchstaben, Seite, Zeile. Vgl. Rücker, Bearbeitung, S. 275.
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ausgerückt und mit einem Indexfinger (einem Handzeichen, bei dem ein ausgestreckter Zeigefinger auf die entsprechende Textstelle deutet), einem kleinen oder einem großen Asterisk versehen (in Hans-Gert Roloffs Edition zu Indexfingern vereinheitlicht).⁵¹ Die Marginalglossen haben häufig eine zusammenfassende oder erklärende Funktion, nicht selten aber selbst dort, wo sie vermeintlich sachlich daherkommen, einen normativen Einschlag.⁵² Sichtbar werden damit Handlungselemente, die Wickram als kommentierungswürdig erachtet. Damit steht eine ganze Reihe rezeptionssteuernder Paratexte im Sinne Genettes zur Verfügung, die sich, wie auch Lena Behmenburg hervorhebt, im Sinne von „‚Schaltstellen‘ oder ‚Text-Schwellen‘ […] als besonders aufschlussreiche Knotenpunkte der Interpretation erweisen“⁵³. Im Gegensatz zum Fließtext lassen sie sich direkt auf Wickram zurückführen und geben somit Hinweis auf ‚seine‘ Lesart von Albrechts Metamorphosen, sind also nicht nur Rezeptionslenkung, sondern auch Rezeptionszeugnis. Dies gilt auch für eine weitere Gruppe an Paratexten, die seine Metamorphosen beinhaltet. Abgeschlossen wird jede Figur von einer Auslegung, die Schöffer durch den Geistlichen Gerhard Lorichius einpflegen lässt, um, so Johannes Bolte, „die heidnischen fabeln gegen den vorwurf unchristlicher leichtfertigkeit zu decken“⁵⁴. Gefolgt wird der Tradition einer interpretatio christiana wie etwa in dem altfranzösischen Ovide moralisé; ein Deutungsverfahren, das in Albrechts Text keine Entsprechung findet.⁵⁵ Die Auslegungen stehen mitunter quer zu Wickrams Narrationen, einiges spricht dafür, dass Lorichius seine Kommentare abfasst, ohne die Texte Wickrams oder Albrechts jemals in der Hand zu halten,⁵⁶ vielleicht benutzt er eine lateinische Ausgabe der Metamorphosen von Raphael Regius.⁵⁷ Seine Auslegungen stellen deshalb, so Sebastian Möckel, als Zeugnis einer etablierten Kommentierungspraxis eine wertvolle Ergänzung zu der Frage bereit, wie Ovids Erzählungen in der Frühen Neuzeit vor einem christlichen Sinnhorizont interpretiert und als Exempla funktionalisiert werden.⁵⁸
Vgl. Behmenburg, Dieweil ir swester, S. 140. Vgl. Rücker, Bearbeitung, S. 268 – 275. Behmenburg, Dieweil ir swester, S. 140. Bolte, Vorwort, S.VII. Die Auslegungen werden im Folgenden zitiert nach dem Muster Band/ Teilband, Ausl. zu Buch.Figur, Seite, Zeile. Vgl. Ebenbauer/Kern, Lexikon, S. XXIIf. So erfahren die Rezipierenden beispielsweise – und ausgerechnet – nur in Lorichius’ Auslegung von Orpheus’ Knabenliebe, die Wickram (oder schon Albrecht) geflissentlich übergeht; vgl. Puff, Sodomy, S. 73. Vgl. Bolte, Vorwort, S. XXXIX. Vgl. Möckel, Metamorphosen, S. 102 und 121 f.
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7.1.1 Proleptische Brille: Glättung der Ambivalenz Der eigentlichen Erzählung sind mit Titel, Illustration, Inhaltsangabe und Zwischentitel gleich vier Paratexte vorgeschaltet (vgl. XIII/2, S. 565), die aufschlussreich für die Analyse sind, da proleptisch das Substrat der Handlung vorgestellt und damit eine Art Brille oder Folie für die Rezeption generiert wird. Der Holzschnitt zur Myrrha-Figur ist durch einen Balken in zwei Bildhälften geteilt, was mit einer räumlichen Trennung einhergeht.⁵⁹ Im geringfügig größeren linken Bildteil sieht man die Entdeckungsszene, im rechten Myrrhas Verwandlung in einen Baum (vgl. XIII/2, Ill. 10.2, S. 565). Durch Selektion und Kombination richtet sich der Bildfokus also auf die unmittelbaren Folgen des Inzests. Die Entdeckungsszene findet sich pointiert bei Margit Stadlober paraphrasiert: „Der unwissend von seiner Tochter verführte Vater befördert die Sündhafte mit einem kräftigen Fußtritt in deren Kehrseite aus seinem Bett.“⁶⁰ Die Inzestthematik klingt in zwei Bilddetails an: Die Szene ist in einer Kemenate situiert, zudem sind beide Protagonisten nackt, die fliehende Myrrha ist in ihrer ganzen Blöße zu sehen, mit (schwangerem) Kugelbauch, Busen und Scham; der auf dem Schlaflager aufgerichtete Cynaras ist bis zur Hüfte zugedeckt. Im rechten Bildteil wird Adonis aus der Rinde des Myrrhenbaums geboren, so dass über die Szenenfolge ein Konnex von Inzest und Metamorphose optisch nahegelegt wird. Während der Holzschnitt die Aufmerksamkeit auf die Folgen des Inzests richtet, skizziert die Inhaltsangabe die Gesamthandlung: Myrrha inn lieb zum vatter bhafft Irs vatters gleich bgert sie eyn mann Je mehr und mehr lieb sie brann Myrrha zů irem vatter lag Zum baum wird sie auß großer klag. (XIII/2, Inh. 10.2, S. 565, V. 1 – 5) Myrrha wurde von Liebe zum Vater ergriffen, sie wünschte sich einen Mann ihrem Vater gleich. Stärker und stärker entbrannte sie in Liebe. Myrrha legte sich zu ihrem Vater, mit großen Schmerzen wurde sie zu einem Baum.
Initial wird der Zusammenhang von Inzest und Emotion aufgerufen, liebe als Leitterminus eingeführt. Obgleich die Inhaltsangabe neutral gehalten und rhetorisch nicht sonderlich ausgefeilt ist, spielt sie mit der semantischen Polyvalenz
Wie auch bei vielen anderen Holzschnitten in Wickrams Metamorphosen; vgl. Rücker, Bearbeitung, S. 254 und 256. Stadlober, Wald, S. 143.
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des im Frühneuhochdeutschen weiten Begriffs.⁶¹ Durch den Zusatz zum vatter wird zunächst die Bedeutungsebene verwandtschaftlicher Liebe aufgerufen, durch die Prädikate bhafft und bgert aber sogleich mit zwischengeschlechtlicher Liebe konterkariert. In der Gleichsetzung von Vater und begehrtem Mann fallen die eigentlich ordnungsstiftenden Grenzen zwischen erlaubtem und verbotenem Sexualpartner zusammen, vermengen sich verwandtschaftliche und eheliche Liebe, eine Diffusion in der Grenzziehung, die Wickram ausstellt. Doch verfährt die Inhaltsangabe nicht normativ, vielmehr wird Liebe als Gefühl inszeniert. Ihr wird Widerfahrnischarakter zugeschrieben, sie befällt die Liebende, ist auf ein Zielobjekt hin kanalisiert, geht mit konkreten Handlungsimpulsen einher und führt quasi zwangsläufig auf den Vollzug hin. Diese Zwangsläufigkeit wird mit der Metapher von der ‚Liebe als Feuer‘ transportiert und mit der Klimax mehr und mehr kombiniert, so dass Liebe als eine sich sukzessiv steigernde Kraft erscheint, die die Fühlende in Beschlag nimmt, bis sich das Begehren Bahn bricht. Die Inzestthematik wird zwar durch Verwandtschaftstermini bewusst gehalten, zugleich aber mit der schon im Lot-Stoff prominenten Phrase ‚zu ihm legen‘ mehr angedeutet, denn benannt. Myrrhas Metamorphose schließlich wird als Klage emotionalisiert. So scheinen Emotionen bereits in der Inhaltsangabe proleptisch als zentrales Thema der Erzählung auf. Der sich nun anschließende Zwischentitel verfährt wie viele der Paratexte wertend, wobei, so Brigitte Rücker, drei Laster besonders häufig thematisiert werden: „Verfehlungen sexueller Art, Trunksucht und Anmaßung […]. Besonders schlimm ist die widernatürliche Liebe […].“⁶² In diese Kategorie fällt die MyrrhaErzählung, wie sich gleich am ersten Zwischentitel ablesen lässt: Die unkeusch Myrrha felt inn unmessige lieb gegen irem leiplichen vatter / sie macht mancherley rathschlag mit ir selb / jedoch überwint sie zu letzst die bß begir / bewilliget deren statt zu thun. (XIII/2, 10.viij, S. 565, Z. 1 – 5) Die unkeusche Myrrha verfällt in maßlose Liebe zu ihrem leiblichen Vater, sie beratschlagt sich verschiedentlich mit sich selbst, am Ende jedoch überwindet sie das böse Begehren und macht sie willens, ihm stattzugeben.
Auf engstem Raum wird eine wertende Positionierung in aller Dichte greifbar, die sich an der Verwendung von Adjektiven festmachen lässt. So wird Myrrha so-
Vgl. FWB 9.1, Sp. 1123 – 1137. Rücker, Bearbeitung, S. 272 f.
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gleich mit dem Attribut unkeusch (vgl. Z. 1) ‚ausgezeichnet‘.⁶³ Während sich kiusche mit der Bedeutung „keusch, rein, unschuldig, sittsam, schamhaft“⁶⁴ im Mittelhochdeutschen als allgemeines, primär weiblich konnotiertes Tugendideal von Anstand, Sittsamkeit und Reinheit nicht zwingend auf den Geschlechtstrieb bezieht, was sich bis ins Frühneuhochdeutsche mit der doppelten Bedeutung von „enthaltsam (unter sexuellen Aspekten); mäßig, sittsam (in bezug auf Lebensführung)“⁶⁵ hält, ist die Negationsform deutlicher auf den Sexualtrieb bezogen und rekurriert im Mittelhochdeutschen konkret auf den Themenkomplex fornicatio („Unzucht“), incestus („befleckt“), impudicus („unzüchtig“), im Frühneuhochdeutschen auf den tatsächlichen Koitus oder eine Vergewaltigung.⁶⁶ Diese sexuell-normative Bedeutungsebene, die sich in erster Linie als Abweichung vom gesellschaftlich Geforderten definiert, wird Myrrha durch die Attribuierung als Eigenschaft zugeschrieben. Ihre Liebe wird zudem als unmessige lieb (Z. 1 f.; „übermäßige, maßlose, auch: ungeheuerliche Liebe“) bewertet, was das transgressive Potential ausstellt. Sie bricht mit dem Prinzip der mâze als „Maßhalten zugunsten der Mitte, die Dämpfung des Grellen, die Beherrschung der Affekte“⁶⁷. Eine Liebe aber, „die ohne Maß und ohne Vernunft ist“⁶⁸, so Rüdiger Schnell, erhält Züge eines Liebeswahnsinns. Dabei stellt Myrrhas Liebe nicht allein wegen ihrer Maßlosigkeit einen Normbruch dar, sondern auch und vor allem wegen ihres Objekts, dem leiplichen vatter (Z. 2), womit die natürliche Abstammung betont wird. Angedeutet wird, dass Myrrha sich gegen ihr Verlangen zu wehren versucht (vgl. Z. 2 f.), jedoch überwint sie zu letzst die bß begir (Z. 3 f.). Profiliert wird die überwältigende Kraft des inzestuösen Verlangens, wobei der Term begir, der semantisch sowohl „erotisches Verlangen, Begehren, sinnlicher Trieb“⁶⁹ als auch
Vgl. hierzu a. Elisabeth Lienert: Antike Töchter in deutscher Erzählliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Eine Skizze. In: Generationen und gender in mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur. Hrsg. von Dina De Rentiis, Bamberg 2009 (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien 3), S. 9 – 24, hier S. 13. Lexer 1, Sp. 1592; vgl. zu Folgendem a. BMZ 1, Sp. 822b; Gerdes/Spellerberg, Althochdeutsch – Mittelhochdeutsch, S. 113. FWB 8, Sp. 844 f. Vgl. zu kiusche als Tugendideal für die Frühe Neuzeit a. Arndt Weber: Affektive Liebe als ‚rechte eheliche Liebe‘ in der ehedidaktischen Literatur der frühen Neuzeit. Eine Studie unter besonderer Berücksichtigung der Exempla zum locus Amor coniugalis, Frankfurt a. M. 2001 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1819), S. 20. Vgl. BMZ 1, Sp. 822b; Baufeld, S. 236. Gerdes/Spellerberg, Althochdeutsch – Mittelhochdeutsch, S. 115 Rüdiger Schnell: Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern 1985, S. 37. FWB 3, Sp. 592; vgl. a. Sp. 594.
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eine ausgeprägte Intensität desselben transportiert, äquivalent zu liebe steht und mit dem Attribut böse analog negativ bewertet wird. Wickram steckt das transgressive Feld mit normativen Grenzsteinen genau ab. Noch bevor die Erzählung einsetzt, sind Inzest und Emotion nicht nur als zentrale Themen aufgerufen, sondern auch bereits bewertet. Bei Ovid setzt Orpheus, der in diesem Teil der Metamorphosen als Erzähler in Erscheinung tritt, mit einem prospektiv affizierenden Appell ein: Dira canam: procul hinc natae, procul este parentes! aut, mea si vestras mulcebunt carmina mentes, desit in hac mihi parte fides, nec credite factum, vel, si credetis, facti quoque credite poenam! Graunvoll, was ich nun singe. Bleibt fern, ihr Töchter, ihr Väter! Oder wird mein Gesang eure Sinne bestricken, versagt mir hierhin euer Vertrauen und glaubt nicht, daß es geschehen. Oder wenn ihr es glaubt, so glaubt auch, wie es bestraft ist.⁷⁰
Die „paradoxe Pose“⁷¹ generiert eine ambivalente Rezeptionshaltung. Warnung mischt sich mit Verlockung, Orpheus’ Gesang wohnt ein Faszinationspotential inne. Eine ausgefeilte Rhetorik wie diese findet sich bei Wickram nur rudimentär in der genealogischen Überleitung von der vorangegangenen Episode, die von Pygmalion und seiner menschgewordenen Elfenbeinstatue berichtet,⁷² wenn es heißt, zwei Söhne würden aus der Verbindung geboren, Paphus und Myrrhas Vater Cynaras, Der wer auch selig an der statt / So er nit kinder het gehatt ⁷³ (XIII/2, 10.1, V. 566 f.). In der Gegenüberstellung wird über eine Konjunktivkonstruktion eine Alternative aufgezeigt, die quer zur tatsächlichen Konstellation steht,⁷⁴ Myrrha als Einfallstor für das Unglück ihres Vaters gesetzt, noch bevor ihr Name fällt. Im Ganzen aber findet Ovids Sprachstil kaum Nachhall in der frühneuhochdeutschen Fassung, was wahrscheinlich bereits auf Albrecht zurückzuführen ist, der, so Otto Runge, von Ovid nur die einfachsten Ausdrucks- und Stilformen kopiert und nichts, „was sich der Manier nähert“⁷⁵. Damit aber geht dem
Ovid, Metamorphosen 10.300 – 303, S. 374 f. Möckel, Metamorphosen, S. 120; vgl. im Ansatz a. Nagle, Byblis and Myrrha, S. 306. Vgl. Ovid, Metamorphosen 10.298 f., S. 374. „Der wäre ebenfalls glücklich gewesen, wenn er keine Kinder gehabt hätte.“ Auf dem Weg zu Wickram kommt es zu einem Missverständnis, Paphos ist bei Ovid der Sohn des Pygmalion und Vater des Cinyras, nicht Bruder; vgl. Bolte, Vorwort, S. XXI. Vgl. hierzu für Ovid Nagle, Byblis and Myrrha, S. 306; Ahl, Metaformations, S. 214. Otto Runge: Die Metamorphosen-Verdeutschung Albrechts von Halberstadt, Berlin 1908 (Palaestra 73), S. 40; vgl. a. S. 132. Vgl. ähnlich a. Link, Metamorphosenverdeutschung, S. 111.
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Gesang des Orpheus seine Tendenz zur Ambivalenz verloren. Dies lässt sich nicht nur stilistisch, sondern auch auf inhaltlicher Ebene nachzeichnen, auf der im Prinzip nur ein kurzer Exkurs über den Myrrhenbaum übernommen wird. Ovid bezieht sich auf die fiktive Insel Panchaia, ein idyllisch-utopischer Ort der Fruchtbarkeit, in dem es Zimt,Weihrauch und Myrrhe im Überfluss gibt. Fülle und Reichtum aber können den Schaden nicht aufwiegen, „soviel wert ist das neue Gewächs nicht gewesen.“⁷⁶ Bei Wickram indes bildet allein das eigene Land den Bezugsraum, aus dem der Myrrhenbaum verwunschen wird (vgl. XIII/2, 10.2, V. 573 f.; 583), so dass sich kein vergleichender Verlustwert ergibt, kein Verzicht, keine Entbehrung. Ungeachtet der christlichen Mythologie, die Myrrhe und Weihrauch positiv besetzt,⁷⁷ begründet der Erzähler den freiwilligen Verzicht allein mit der drohenden Schande: Drum wllen wir der Edlen fricht Inn disem landt bgeren nicht Domit wir solch schandt nit bghon Wie diese Myrrha hat gethon (V. 580 – 585) Darum wollen wir die edle Frucht in diesem Land nicht begehren, damit wir nicht solch eine Schande begehen, wie jene Myrrha sie begangen hat.
Performativ wird mit dem Personalpronomen ‚wir‘ eine Gemeinschaft zwischen Erzähler und Rezipierenden heraufbeschworen, die sich darüber definiert, dass sie gegen die Schande steht, die sich mit dem Namen Myrrha verbindet. Ihr Beispiel gerät zu einem exotischen Skandalon, das in einer Abwehrhaltung abgewiesen wird. Indem Myrrhe als edle Frucht bezeichnet wird, die nicht begehrt werden darf (vgl. V. 582 f.), wird zudem ein Motiv eingefügt, das Myrrha mit Eva und dem Sündenfall assoziiert (und dabei, ebenso wie bei jener, vielleicht überhaupt erst die Neugier weckt). Der Gesang des Orpheus ist damit bei Ovid und Wickram einerseits funktional identisch, er wirkt, wie Betty Rose Nagle für den lateinischen Prätext anmerkt, als „musikalische Ouvertüre“⁷⁸, die Schlüsselbegriffe wie scelus („Verbrechen, Frevel“), nefas („Frevel, Sünde“) und pietas („Frömmigkeit, Ehrfurcht“) einspielt, was bei Wickram vereindeutigt wiederkehrt als schand/schandt (V. 581; 584; vgl. a. V. 615; 630; 667; 673; 839 und 859; „Schande, Laster, Sünde“). Andererseits zielt
tanti nova non fuit arbor; Ovid, Metamorphosen 10.310, S. 374 f. Vgl. hierzu Manfred Lurker: Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole, München 1987, S. 245 f. I. O. „musical overture“; Nagle, Byblis and Myrrha, S. 308.
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Orpheus’ Gesang bei Wickram auf einen anderen textexternen Effekt. Er ist zwar ebenfalls darauf angelegt zu affizieren, indem ein ‚Wir‘ als Gemeinschaft gegen den emotional aufgeladenen Begriff der Schande aufgepeitscht wird, vereindeutigt aber Ovids Ambivalenzen zu einer Abwehrhaltung. Wo den Worten bei Ovid ein fasziniertes Staunen innewohnt, dominiert bei Wickram ein empörtes Abweisen. Um welche Form der Schande es sich handelt, wird dabei erst im Nachgang präzisiert: Eyn falsche lieb trug die sinnloß Und wardt entzindet also groß Gegen dem iren vatter frumb Welcher doch gar nicht wust dorumb So das sie sein begert zu mann (V. 585 – 590) Die Verstandeslose trug eine falsche Liebe und war derart stark entbrannt ihrem guten Vater gegenüber, der doch gar nicht darum wusste, dass sie ihn zum Mann begehrte.
In der Tradition Ovids wird das inzestuöse Verlangen mit liebe motiviert (vgl. V. 586), die das lateinische amor vertritt. Obgleich im Frühneuhochdeutschen semantisch polyvalent, ist liebe zu dieser Zeit erhöht belegt „als unrecht, unordenlich, ungeordnet, unredlich, unrein, eigen o. ä. charakterisierter Hang zur Sexualität“⁷⁹, womit insbesonders illegitime, außereheliche Liebe angesprochen ist. In dieser Verwendungsweise steht der Begriff bei Wickram, der liebe auf den Bedeutungsbereich erotischen Verlangens und sexueller Verfehlung verengt, indem er liebe mit begern kombiniert und als falsch klassifiziert.⁸⁰ Da es im Fall von Tereus’ inzestuöser Liebe zu seiner Schwägerin Philomela erst Wickram ist, der qualifizierende Adjektive wie bse (vgl. XIII/1, 6.2., V. 1002; „schlecht“; „böse“; „übel“; „minderwertig“, „schädlich“⁸¹) und falsch (V. 1018; „falsch, hinterlistig, unehrenhaft“⁸²) hinzufügt,⁸³ handelt es sich auch an dieser Stelle wahrscheinlich um seine Zutat, die eine eigene normative Wertung in die bei Albrecht vorgefundene Erzählung einzieht. Aufgemacht wird zudem erneut die Metapher von der ‚Liebe als Feuer‘ und mit ihr die Vorstellung, dass liebe Widerfahrnischarakter besitzt, die den Liebenden in Beschlag nimmt, und eine Empfindungsqualität, die
FWB 9.1, Sp. 1130; vgl. a. Sp. 1123 – 1137. ‚Zum Mann begehren‘ kann schlicht „heiraten wollen“ bedeuten, ausschlaggebend ist hier jedoch die Kombination. Vgl. Baufeld, S. 39. Ebd., S. 76. Vgl. Rücker, Bearbeitung, S. 132; Behmenburg, Dieweil ir swester, S. 138; Dies., Philomela, S. 163; 166 f.
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sich im Gefühl des Brennens entäußert, wobei sie, wie die Konsekutivkonstruktion ‚so dass‘ nahelegt, Handlungsdruck entfaltet, der auf Vollzug drängt. Dabei wird Myrrhas liebe abweichend zur Stofftradition motiviert. Schon bei Ovid ist die Entstehung der inzestuösen Liebe seltsam unterdeterminiert. Die griechische Mythologie kennt noch einen konkreten Begründungszusammenhang, Smyrnas Verlangen ist eine Retourkutsche Aphrodites, die sich dafür rächt, dass Smyrnas Mutter prahlt, das Mädchen sei schöner als die Göttin (in einigen Varianten auch, weil Smyrna die Riten nicht richtig befolgt).⁸⁴ Die Inzestthematik ist ursprünglich in einen übergreifenden Rachezyklus eingegliedert, die Vermessenheit der Mutter führt zum Fluch der inzestuösen Liebe, aus dem Inzest geht Adonis hervor, der wiederum Aphrodites Liebe auf sich zieht, was Eifersucht und Rache bei Artemis, Apollon oder Ares hervorruft und zu Adonis’ Tod führt.⁸⁵ Diese Erzählelemente sind in der römischen Mythologie noch präsent,⁸⁶ Ovid aber spart den Begründungszusammenhang aus, was, so Möckel, einen konkreten Rezeptionseffekt nach sich zieht: Die Verkürzung der Rache-Logik hat […] bemerkenswerte Konsequenzen […]. Eine […] Funktion des verdunkelten Rache-Grundes besteht in der Intensivierung der emotionalen Wirkung der Geschichte. Da das Initialvergehen fehlt, das zur Bestrafung Myrrhas führt, eignet der Erzählung eine prägnante Dramatik.⁸⁷
Weil Venus nicht als rächende Urheberin agiert, wirkt Myrrhas Begehren umso unerklärlicher, damit schrecklicher,⁸⁸ vielleicht auch faszinierender. Bei Ovid weist Cupido seine Verantwortlichkeit zurück, es ist das Feuer der Styx und eine der drei Furien, die Myrrhas Verlangen entflammen.⁸⁹ In der Gestalt der Furie hallen Reste der Rachethematik nach; Alekto („die nie Endende“), Megaira („die Neidische“) und Tisiphone („die Mordrächende“) sind weibliche Rachegeister, die für die „Rechtmäßigkeit der Dinge innerhalb der eingerichteten Ordnung [sor-
Vgl. Apollodor: Bibliotheke. Götter- und Heldensagen. Hrsg., übers. und komment. von Paul Dräger, Düsseldorf, Zürich 2005 (Sammlung Tusculum), III, 183, S. 222 f.; vgl. hierzu Michael Grant/John Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München 1987 (dtv 3181), S. 245; Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Reinbek bei Hamburg 1960 (Rowohlts deutsche Enzyklopädie 115), S. 58 f. Vgl. Archibald, Incest, S. 58. So zum Beispiel bei Hyginus: Fabula LVIII. In: Hygini Fabvlae. Hrsg. von Peter Kenneth Marshall, Stuttgart, Leipzig 1993 (BT), S. 61. Möckel, Metamorphosen, S. 119 ff. Vgl. Margherita Pampinella-Cropper: Incestuous Passion and Political Transgression (Inferno, 30). In: Forum Italicum 46 (2012), S. 82– 109, hier S. 87. Vgl. Ovid, Metamorphosen 10.311– 314, S. 374.
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gen]“⁹⁰. Dadurch entsteht ein symbolischer Überschuss, denn die Furien können auch assoziativ mit Myrrhas Begehren in Verbindung gebracht werden,⁹¹ bestrafen sie doch „jeden Frevel gegen das ungeschriebene Sittengesetz“⁹² und verfolgen diejenigen, „die gegen naturgegebene Gesetze verstießen, besonders gegen jene, die Familienbande zerstört hatten“⁹³. Während also Ovid den mythologischen Hintergrund immerhin andeutet und Myrrha als Opfer des Begehrens inszeniert,⁹⁴ fehlen bei Wickram selbst das Feuer der Styx und die Furie.⁹⁵ Das inzestuöse Verlangen wird stattdessen „ohne jede mythologische Entschuldigung“⁹⁶ direkt auf Myrrha zugeschriebene Eigenschaften zurückgeführt, wenn sie eingangs gleich als eyn magt an sinnen blindt (XIII/2, 10.2, V. 569; sinngemäß: „ein Mädchen mit getrübtem Verstand“ oder „ein Mädchen, unfähig zur Einsicht“) und eine sinnloß (V. 586; „Verstandeslose, Wahnsinnige, Entrückte“⁹⁷) bezeichnet wird. Sie ist Initiatorin und Akteurin, kein Opfer äußerer Mächte. Dass es sich hierbei um eine eigentümliche Lesart Wickrams handelt, macht ein Seitenblick auf Albrechts Philomela-Fragment wahrscheinlich. Dort wird das inzestuöse Verlangen ganz ähnlich ‚erklärt‘, Tereus begund en binnen / razen uon vnsinnen ⁹⁸ (A, V. 89 f.), auch heißt es, so tumplichen kvone / machet ime div minne / daz herz vnd al die sinne ⁹⁹ (A, V. 110 f.). Nur wer ohne Sinn und Verstand ist, so ließe sich paraphrasieren, liebt auf diese Art und Weise. Während aber nun bei Albrecht die Macht der Minne ihre Kräfte entfaltet und den
Grant/Hazel, Lexikon, S. 154. Vgl. Pampinella-Cropper, Incestuous Passion, S. 87. Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart, Wien 1988, S. 154. Grant/Hazel, Lexikon, S. 154. Vgl. hierzu a. Möckel, Metamorphosen, S. 121. Wickram erwähnt an anderen Stellen die Furien als die drei Schwestern der Nacht (vgl. etwa XIII/1, 4.2,V. 837 ff.; XIII/2, 10.1,V. 129 ff.), die bei ihm die Namen tragen toedtlich hertzenleyt (XIII/1, 4.2, V. 837; „tödliches Leiden des Herzens“; in etwa: „Liebeskummer, Liebesleid, Herzschmerz“), vergessenheyt (V. 838; „das Vergessen; die Vergesslichkeit“) und tobend sucht (V. 839; „Tobsucht, Wahnsinn“). Sie werden in der Myrrha-Erzählung ebenfalls genannt, aber von Orpheus’ Gesang in Myrrhas Monolog verlegt (vgl. XIII/2, 10.2,V. 616 ff.). So ist auch hier eine letzte Reminiszenz an die Rachethematik erhalten; vgl. Möckel, Metamorphosen, S. 121. Sie ist jedoch ihres ursprünglichen Symbolgehalts entkleidet und dient allein dazu, die Heldin in die Nähe des Teufels zu rücken, nicht aber ihr Verlangen zu motivieren. Lienert, Töchter, S. 13. Zur Semantik von sinnelos vgl. Wolf, Vademecum medievale, S. 82; Lexer 2, Sp. 933. Auch im Frühneuhochdeutschen trägt sinn die Bedeutung von „Verstand, Klugheit“; Baufeld, S. 219. „[…] begann innerlich vor Wahnsinn zu rasen.“ „[…] so töricht mutig machte ihm die Liebe das Herz und allen Verstand.“
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Liebenden verstandeslos und rasend macht, ist das Verhältnis bei Wickram genau umgekehrt gefasst, wenn er über Tereus schreibt: So gentzlich was der taub und tum / Inn seim gmüt irr inn eyner summ ¹⁰⁰ (XIII/1, 6.2., V. 1012 f.). Einfalt und Stumpfsinn erscheinen als Voraussetzung, nicht als Folge des Liebeswahns. Was im 13. Jahrhundert ein Merkmal der inzestuösen Liebe, ist im 15. Jahrhundert ein Merkmal des inzestuös Liebenden. Die Verdunkelung der Rachethematik erhält damit bei Wickram eine spezifische Funktion. Myrrhas Begehren ist nicht schrecklich-faszinierend unerklärlich, im Gegenteil, es wird dezidiert darauf zurückgeführt, dass die Heldin schlichtweg einfältig und dumm, ja, wahnsinnig und verrückt ist. Die Attribuierung legt Schneisen in den Text, die es den Rezipierenden ermöglichen, sich der Figur überlegen zu fühlen, so dass textextern gegebenenfalls sogar Verachtung hervorgerufen wird. Als Emotion geht Verachtung mit einem ausgeprägten Ablehnungsgefühl einher, das zugleich als angenehm empfunden werden kann, da es sozial hierarchisierend wirkt und den Fühlenden über das Objekt seiner Emotion erhebt,¹⁰¹ eine affektive Haltung, auf die die Darstellungsweise bei Wickram hinarbeitet. Dies lässt sich gut am anschließenden Monolog Myrrhas illustrieren. Ihr heimlich gsprech (XIII/2, 10.2., V. 592; „heimliches Zwiegespräch“) wird in direkter Rede wiedergegeben, so dass der Eindruck entsteht, man belausche ein Geheimnis. Die Rezipierenden werden nun also zunächst in die Nähe der Figur gerückt, zusätzlich gestützt durch die affizierende Wirkung der Interjektion Weh mir (V. 592), die den Monolog einläutet. Sie kann als Interjektion dolentis Bedauern, Schmerz und Trauer sowohl zum Ausdruck bringen als auch erzeugen.¹⁰² Doch wird in dem sich anschließenden Monolog inhaltlich nur reproduziert, was im Vorgang schon gesagt ist. Myrrha fragt sich, woher kumpt mir solch schnoed begir ¹⁰³ (V. 593), prangert ihre Verstandes- und Vernunftlosigkeit an (vgl. V. 595, vgl. a. V. 622 f., 625) und wünscht offt das ir vatter wer / An seiner vernunfft und sinn als leer ¹⁰⁴ (V. 600 f.). Die beiden zuletzt zitierten Verse stechen dabei besonders
Sinngemäß: „So war der ganz und gar Stumpfsinnige und Einfältige vollkommen des Wahnsinns.“ Vgl. aus unterschiedlichen emotionstheoretischen Perspektiven Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 107– 110; Ekman, Gefühle lesen, S. 250 ff. Vgl. Grimm, Deutsche Grammatik, S. 291 f. Die Interjektion ist auch an anderer Stelle in Wickrams Metamorphosen mit unerfülltem inzestuösem Begehren verknüpft; vgl. etwa vgl. XIII/2, 9.2, V. 877. „Woher kommt mir solch verwerfliches Verlangen?“ „[…] wünscht oft, dass ihr Vater ebenso wenig bei Verstand und [genauso] wahnsinnig wäre.“
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hervor, da Wickram sie in einer Marginalglosse mit dem Ausruf kommentiert: O du schnœde Tochter (XIII/2, 10.2, S. 566, Marginalglosse zu V. 601; „Oh, du verdammenswerte Tochter“). Die handelnde Figur wird vom Erzähler direkt angesprochen,¹⁰⁵ der sich emotional involviert in seine Geschichte zeigt, so dass der Eindruck von Unmittelbarkeit und Präsenz entsteht. Das einleitende o, das als Interjektion vocantis/exclamantis eine starke Gemütserregung, als Interjektion hortantis Ermahnung zum Ausdruck bringt, in der gleichsam Schmerz anklingt,¹⁰⁶ steht in unmittelbarer Nachbarschaft zu Myrrhas Ausruf Weh mir, so dass die Interjektionen gewissermaßen in Konkurrenz zueinander stehen – wo Myrrhas Weh ein Einstimmen der Rezipierenden in das Leid der Heldin ermöglicht, gebietet das o des Kommentars Einhalt. Das an dieser Stelle wiederholte Attribut schnœd mit der Bedeutung „verdammenswert, verächtlich“¹⁰⁷ besetzt Myrrha zudem mit dem Stigma der Verachtung, inszeniert also erneut einen Gestus der Überlegenheit, der als Rezeptions-Stimulus für Verachtung, vielleicht gar als Rezeptions-Spur Wickrams betrachtet werden kann. Eine wertende Deutung, die allein Myrrhas unvernünftiges und unverständiges Wesen für ihr verwerfliches Verlangen verantwortlich macht, wird in der Narration fort- und festgeschrieben, bezeichnenderweise aus der Perspektive der Heldin selbst. So reflektiert Myrrha das transgressive Potential ihres Verlangens: Solt ich verstürzten alles sammen, Mein gut geschrey und meinen namen Solt ich meiner mutter gemeinerin sein Und eyn kps weib des vatters mein Darzu meins kindts schwester genant Meins bruders mutter sein inn schandt (XIII/2, 10.2., V. 610 – 615) Würde ich alles zum Zusammenbruch bringen, meinen guten Ruf und meine gesellschaftliche Position, würde ich die Konkurrentin meiner Mutter sein und eine Mätresse meines Vaters, darüber hinaus Schwester meines Kindes genannt werden, [dann] wäre die Mutter meines Bruders voller Schande.
Diese Verse finden sich ähnlich bereits bei Ovid, bei dem allerdings nicht ein ich spricht, sondern ein tu angeklagt wird.¹⁰⁸ Erneut wird somit die Figur bei Wickram aus einer Ich-Perspektive diskreditiert. Dabei werden zwei durch den Inzest gefährdete Ordnungssysteme aufgerufen, der Komplex von Ehre, Ansehen und Ruf
Vgl. Rücker, Bearbeitung, S. 173. Vgl. Grimm, Deutsche Grammatik, S. 288 und 300. Baufeld, S. 209. Vgl. Ovid, Metamorphosen 10.346 – 351, S. 376.
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sowie die Verwandtschaftsordnung. Vorgeführt werden Verwandtschaftsverwirrungen, die Züge einer Rätselstruktur tragen. Wenn die durch das Inzesttabu errichteten Schranken fallen, wird das ‚sprechende Ich‘, das eigentlich die Tochterposition besetzt, zur Konkurrentin der eigenen Mutter, wobei die pejorative Bezeichnung als Kebsweib die Illegitimität dieser Position im Gegensatz zum rechtlichen Status der Ehegattin markiert. Der Vater-Tochter-Inzest würde das ‚sprechende Ich‘ zur Schwester des eigenen Kindes machen, so dass es paradoxerweise eine doppelte Verwandtschaftsposition besetzt, die der Schwester und die der Mutter; eine Dopplung, die das Inzesttabu eigentlich verhindert. Die komplexe Verweisstruktur Meines bruders mutter dient im letzten Vers als Satzsubjekt und ist damit syntaktisch vom ‚sprechenden Ich‘ getrennt, führt in der dekonstruierten Verwandtschaftsordnung aber unweigerlich zurück auf das ‚sprechende Ich‘, das seinem Bruder ja zugleich Mutter wäre. Dass aber jemand sich selbst die eigene Mutter sein soll, bringt das Verwandtschaftssystem endgültig zum Kollabieren. Ebenso wie Butler es für Antigone beschreibt, verlieren auch bei Myrrha Verwandtschaftsterme ihre genuine Bezeichnungsfunktion und werden „unwiderruflich vieldeutig“¹⁰⁹. Das ‚sprechende Ich‘, das Positionen besetzt, die sich eigentlich einander ausschließen, geistert in einem Niemandsland der Verwandtschaft umher. Der Zusammenbruch der verwandtschaftlichen Ordnung birgt auf textexterner Ebene ein Faszinationspotential in sich. Wie bereits im Theorieteil mit Rekurs auf Baisch ausgeführt, ist für Faszination „die Bewertung etwas Unbekanntes oder Ungewisses in einer eigentlich bekannten Domäne als zentral anzusehen“¹¹⁰, die ambivalente Emotionen hervorruft. Mit den Verwandtschaftstermen nun werden Begriffe aus einer eigentlich bekannten Domäne aufgegriffen, die durch das drohende Überschreiten des Inzesttabus ins Unbekannte, Ungewisse überführt werden. Die Ordnung droht zur Unordnung zu werden.Was in der konkreten Erfahrungswelt wohl eher Angst und Schrecken induzieren würde, wird in der kontrollierbaren Situation der Rezeption zu einem möglichen Stimulus von Faszination.¹¹¹ Doch während dieser Effekt bei Ovid überwiegt, vielleicht gar komisch-skurrile Züge trägt,¹¹² ist im frühneuhochdeutschen Sprachspiel, das sich als eines der wenigen von Ovid über Albrecht bis Wickram erhält, eine kleine, aber entscheidende Verschiebung zu beobachten. Indem ein finales inn schandt hinzugefügt wird, wird das Inzesträtsel zu einem abschreckenden Exempel funktionalisiert. In der Faszination wird die Dimension des Schreckens dominant.
Butler, Antigones Verlangen, S. 93. Baisch, Immersion, S. 70. Vgl. ebd. So zumindest Barkan, Gods, S. 64.
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Es folgt ein weiterer kurzer Abschnitt in direkter Rede, in dem Myrrha noch einmal ihre Schande, Verstandes- und Vernunftlosigkeit rekapituliert (vgl. V. 616; 622– 625), bis der Erzähler mit den Worten abbricht: Noch vil mer redt Myrra hat gthon / Doch will ich solche under lohn / Und schandt halb solche wort fůrghon ¹¹³ (V. 628 ff.). Der aus der Reihe fallende Dreireim hebt den letzten Vers hervor, mit dem sich der Erzähler von Myrrhas Rede distanziert. Die Ellipse ist markiert, gleichwohl gibt Wickrams Textgestalt kein Indiz für den Inhalt dieser Auslassung. Dabei ist, was verschwiegen wird, signifikant. Bei Ovid zeigt sich Myrrha in dem nun folgenden Monolog redegewandt und sophistisch, sie reflektiert über ihr Begehren und hadert mit der gesellschaftlichen Ordnung, sinniert über die Kindesliebe, die das Inzestverbot noch nicht kennt, über Tierarten und Völker, die den Inzest praktizieren, dekonstruiert die verwandtschaftliche Ordnung, die Cinyras als Vater setzt und als Geliebten verunmöglicht, imaginiert Intimität mit ihm.¹¹⁴ All dies, was bei den Rezipierenden zu einer ambivalenteren Bewertung des Inzesttabus hätten führen können, fehlt bei Wickram, der stattdessen den Eindruck erweckt, Myrrhas Rede würde in eben dem Duktus fortgeführt, den er ihr angedeiht. Ob die Auslassung auf Albrecht oder auf Wickram zurückzuführen ist, ist in der Forschung umstritten.¹¹⁵ Doch wem man die Kürzung auch zuschreiben möchte, ihre Konsequenz zumindest besteht darin, dass alles gestrichen ist, was einer eindeutig negativen Bewertung der Inzestthematik hätte zuwiderlaufen können. Um keinen Riss im Normgefüge aufscheinen zu lassen, denunziert Myrrha sich selbst und wird – anders als bei Ovid, bei dem sie die gesellschaftlichen Ordnungsmodelle hinterfragt – zu einem Sprachrohr der Norm. So verdichten sich Orpheus’ Gesang und Myrrhas Monolog durch inhaltliche und stilistische Veränderungen zu einer Abwehrhaltung gegen die Schande, die der Inzest bedeutet.
7.1.2 Spiele der Entschlüsselung: Freierwahl und Ammengespräch An diesem Punkt nun setzt mit der Freierwahl die eigentliche Handlung ein, bei Wickram abgesetzt durch einen weiteren Zwischentitel. Er betont die Unwissenheit des Vaters, problematisiert die Figur in gewissem Sinne aber auch – obgleich
„Myrrha hat noch viel mehr gesagt, aber ich möchte das unterlassen und solche Worte der Schande wegen übergehen.“ Vgl. Ovid, Metamorphosen 10.319 – 355, S. 374 und 376. Vgl. hierzu Barkan, Gods, S. 63 f.; Nagle, Byblis and Myrrha, S. 307– 310; Ahl, Metaformations, S. 214. Nach Bolte geht sie zurück auf Albrecht; vgl. Bolte, Vorwort, S. XXIV; nach Günther Heinzmann auf Wickram; vgl. Günther Heinzmann: Albrecht von Halberstadt und Jörg Wickram. Studien zu einer Rekonstruktion von Albrechts Metamorphosen, (Diss.) München 1969, S. 111.
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Myrrha wünscht, er möge sie einem Mann geben im in allen dingen gleich (XIII/2, 10.ix, S. 567, Z. 2 f.), versteht Cynaras das verborgen begeren (Z. 3 f) nicht, welches doch deutlicher kaum zu formulieren ist. Emotionen spielen an dieser Stelle keine Rolle, akzentuiert wird das verwandtschaftliche Beziehungsgefüge (vgl. Z. 1– 4). Im Nachgang wird geschildert, wie zahlreiche Jünglinge um Myrrhas Hand werben (vgl. XIII/2, 10.2, V. 633 f.), was implizit darauf hindeutet, dass Myrrha begehrenswert ist. Schönheit und Körper werden jedoch nicht exponiert, ganz anders als etwa im Fall Philomelas. Schon Albrecht weitet deren Einführung von vier Hexametern bei Ovid auf 41 Verse aus und preist die Königstochter in höfischen Parametern: Sie ist wunnechlich (vgl. A, V. 53; 58; 78; „freude erregend, anmuthig“¹¹⁶; „herrlich, schön, prächtig“¹¹⁷) und scone (vgl. A, V. 75; 82; „schön, herrlich“; „glänzend, hell“¹¹⁸), lieblicher als die Blumen im Mai, hellster Stern am Firmament, glänzender als alle Edelsteine (vgl. A, V. 59 – 70 und 78 f.).¹¹⁹ Gemäß dem Ideal der Kalokagathie erscheint Philomela, so Rücker, „sittlich rein, ohne Tadel – sie ist demnach auf keinen Fall schuld an dem, was geschehen wird“¹²⁰; ein Diktum, das vice versa auf Myrrha nicht zutrifft. Andererseits wird Philomela im bewundernden Blick überhaupt erst als begehrenswert gezeigt. Überall blitzt und blinkt es, die descriptio ist darauf angelegt, die Rezipierenden in den Bann ihrer Schönheit zu ziehen und sich an ihrem Glanz zu laben. Weder Cynaras noch Myrrha werden in ähnlicher Weise inszeniert, während die Schönheit Philomelas den ausschlaggebenden Punkt bildet, an dem sich das Begehren entzündet (vgl. A, V. 85 – 91; XIII/1, 6.2., V. 979 – 998). Bei Myrrhas Freierwahl hingegen werden nicht Blicke auf die, sondern mit der Heldin geworfen. Auf Cynaras’ Frage hin, welchen Mann sie wählen wolle, setzt ein ‚Wechselbad der Gefühle‘ ein. Zunächst verfällt Myrrha, während sie den Vater betrachtet, in Schweigen, dann aber heißt es, [v]on wasser warn ir euglein naß (vgl. XIII/2, 10.2., V. 640). Cynaras registriert die Tränen, weiß sie jedoch nicht einzuordnen und beginnt mit der Dechiffrierarbeit. Er vermutet als Ursache grosse forcht und scham […] Oder aber Junckfrewliche forcht (V. 643 ff.). Furcht scheint an dieser Stelle in ihrer essenziellen Bedeutungsdimension im Sinne von Furchtsamkeit auf, wie sie auch in Begriffen wie ‚Ehrfurcht‘ anklingt,¹²¹ was durch die Verknüpfung mit Myrrhas Unberührtheit normkonform wirkt. Analoges gilt für scham, die hier im sozialen und ethischen Sinn als Tugendbegriff der zurück-
BMZ 4, Sp. 818a. Hennig, S. 482. Vgl. Lexer 2, Sp. 768. Vgl. hierzu a. Rücker, Bearbeitung, S. 72 ff.; Behmenburg, Philomela, S. 152 f. Rücker, Bearbeitung, S. 74. Vgl. hierzu kritisch Behmenburg, Philomela, S. 153. Vgl. Pretzel, Mittelhochdeutsche Bedeutungskunde, S. 59.
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haltenden Schamhaftigkeit fungiert,¹²² wie sie schon in der Antike als „höchste Tugend“¹²³ verstanden wird, bei Aristoteles als Furcht vor der Schande,¹²⁴ ähnlich bei Thomas von Aquin als „Furcht vor etwas Schändlichem, das verabscheuungswürdig ist“¹²⁵, gefasst wird. In den Augen des Vaters, so ließe sich resümieren, deuten Myrrhas Tränen auf eine normkonforme und positiv besetzte Furchtsamkeit und Schamhaftigkeit hin, aus seiner Perspektive (und nur aus seiner) ist Myrrha tugendhaft und keusch. Damit steht die Wahrnehmung der Figur in einem spannungsreichen und spannungserzeugenden Kontrast zur Wahrnehmung der Rezipierenden, die um den Grund ihrer Tränen wissen und sie unschwer als nonverbale Zeichen von Trauer und Verzweiflung entschlüsseln können. Aus dieser Diskrepanz der Wissens- und Wahrnehmungsebenen entspinnt sich im Nachgang eine Art ‚Spiel‘, das um die Entschlüsselung polyvalenter nonverbaler Zeichen kreist. Es durchläuft zunächst eine Klimax im Akt des Tröstens: Er hieß sie schweigen und küst sie ¹²⁶ (V. 647). Der zärtliche, aber der Unzucht unverdächtige Vaterkuss spricht Myrrhas Begehren an (vgl. V. 649 f.), beinahe ist man in Versuchung, Foucault zu zitieren, der mit Blick auf die Intimität der bürgerlichen Kleinfamilie konstatiert, der Inzest werde „bemüht und abgewehrt, gefürchtet und herbeigerufen“¹²⁷. Das Spiel mit den Wissens- und Wahrnehmungsebenen wird nun auf die Spitze getrieben, unter der Einwirkung des Kusses trifft Myrrha ihre Wahl: Dir vatter gleich so will ich eynen ¹²⁸ (V. 653). Der Unwissende lobt ihre Entscheidung (vgl. V. 656) und setzt noch einen oben drauf: Tochter / so musst du inn all deinen tagen / Gegen deim vatter liebe tragen ¹²⁹ (V. 657 f.). Die mit liebe angesprochene Bedeutungsebene verwandtschaftlicher Zuneigung steht in einem Spannungsverhältnis zur faktischen, inzestuös gerichteten Liebe.¹³⁰ Sie bedeutet eine Abweichung zu Ovid, bei dem Cinyras die
Vgl. zu dieser Bedeutungsebene ebd., S. 57 f.; Wolf,Vademecum medievale, S. 77 f.; Müller, Scham, S. 68. Gvozdeva/Velten, Einleitung, S. 2 und 14. Vgl. Aristoteles, Rhetorik IV 15, 1128b, S. 94. timor alicujus turpis, quod scilicet est exprobrabile; Thomas von Aquin: Summa Theologica IIII q. 144 a. 1 In: Ders.: Tapferkeit – Maßhaltung (1. Teil). II-II 123 – 150. Hrsg. von Josef Groner. Übers. von Dominikanern und Benediktern Deutschlands und Österreichs, Graz u. a. 1964 (Die deutsche Thomas-Ausgabe 21), S. 290. „Er befahl ihr zu schweigen und küsste sie.“ Foucault, Wille zum Wissen, S. 131. „Dir gleich, Vater, so einen möchte ich.“ „Tochter, auf diese Weise musst du dein ganzes Leben lang deinen Vater lieben.“ Zur Bedeutung von fnhd. liebe als verwandtschaftliche Zuneigung vgl. FWB 9.1, Sp. 1126.
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Tochter für ihre Keuschheit und Frömmigkeit (pietas) lobt.¹³¹ Während Ovid an dieser Stelle jegliche Verwandtschaftstermini vermeidet und so ein spezifisches Spannungsverhältnis heraufbeschwört (welches erst in der Inzestszene spektakulär gelöst wird), stellt Wickram die Verwandtschaft der Protagonisten demonstrativ aus. Auch hier lohnt ein Blick auf Albrechts Philomela-Fragment, bei dem auffällt, dass erst Wickram die Verwandtschaft der handelnden Akteure betont.¹³² Die Weichen sind bereits bei Albrecht gestellt. Während bei Ovid Tereus Pandion im Namen Prognes um Philomela bittet, fragt er bei Albrecht im Namen der Schwester nach der Tochter, setzt also Verwandtschaftsgrade anstelle der Eigennamen (vgl. A, V. 34– 37).¹³³ Dies differenziert Wickram aus: ‚Herr Schweher ich beger Wlt mich geweren meiner bett Mein weib mich zů euch gschicket hett Welche ist ewer eygen kindt Und bitt euch das ir ihr vergünt Das Philomela mit mir far Ir schwester / darum komm ich har Welche auch ewer tochter ist‘ (XIII/1, 6.2., V. 937 – 944) Herr Schwager, ich wünsche, dass ihr meine Bitte gewähren möget, meine Ehefrau, welche euer eigenes Kind ist, hat mich zu euch geschickt und bittet euch, dass ihr ihr erlaubt, dass Philomela mit mir fährt, ihre Schwester, welche ebenfalls eure Tochter ist, deshalb komme ich her.¹³⁴
Das bei Ovid nicht, bei Albrecht nur beiläufig benannte verwandtschaftliche Gefüge wird präzisiert, das Beziehungsverhältnis konkretisiert und netzwerkartig aufgespannt; eine Bearbeitungstendenz, die die gesamte Szene prägt (vgl.V. 990 – 993 und A, V. 92 ff.). Während die ältere Forschung vermutet, „Tereus spricht […] zum langsam denkenden Leser, indem er ihm alles so genau wie möglich erklärt“, ein „Verumständlichen“¹³⁵ im Dienste des Verständlichmachens, das zum Teil zu
Vgl. Ovid, Metamorphosen 10.365 f., S. 376. Vgl. Friedrich Neumann: Meister Albrechts und Jörg Wickrams Ovid auf deutsch. In: PBB 1 (1874), S. 321– 389, hier S. 364; Heinzmann, Albrecht, S. 18; Behmenburg, Dieweil ir swester, S. 142 ff. Vgl. Ovid, Metamorphosen 6.470 und 475, S. 220 f.; vgl. hierzu a. Behmenburg, Philomela, S. 158. Die syntaktische Umstellung wird vorgenommen, um die Textstelle dem Neuhochdeutschen zuträglich zu machen. Neumann, Meister, S. 364.
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vernichtenden Stilurteil verleitet,¹³⁶ stellt Behmenburg die These auf, dass bei Albrecht auf diesem Weg „das Ungeheuerliche des Geschehens sowie seine Differenz zu dem in der höfischen Literatur dargestellten Verhaltenscodex noch stärker hervor[treten]“, was dann bei Wickram, „zu einer Zeit, in deren gesellschaftlicher Unordnung das Bestehen familiärer Strukturen von zentraler Bedeutung war“¹³⁷, noch einmal an Relevanz gewinnt. Die Bearbeitungstendenz lässt sich damit als „ein bewusstes Thematisieren des Überschreitens verwandtschaftlicher Grenzen“¹³⁸ auffassen, was auf den Themenkomplex hindeutet, den Wickram als Kernkonflikt der Handlung versteht – die Inzestthematik, die er als Bedrohung der verwandtschaftlichen Ordnung die gesamte Erzählung hindurch bewusst hält. Dies macht im Vergleich wahrscheinlich, dass auch die in der Myrrha-Episode beobachtete Betonung der Verwandtschaft in der Ausprägung erst bei Wickram anzusiedeln ist, zumal sie, wie skizziert, auch die Paratexte prägt. Für ihn stellt die Transgression der gesellschaftlich normierten verwandtschaftlichen Rollen das Skandalon im Myrrha-Mythos dar. Doch nicht nur Verwandtschaft, auch Emotionen werden bei Wickram stärker herausgearbeitet, wie sich am Motiv des Vaterkusses nachvollziehen lässt, welches die beiden Inzesterzählungen verbindet. Bei Ovid beobachtet Tereus den Kuss, was sein Begehren anstachelt, er imaginiert sich an des Vaters statt.¹³⁹ Die Szene bezieht ihr Spannungspotential (ähnlich wie bei Myrrha) aus dem Kontrast zwischen keuschem Vaterkuss und inzestuösem Verlangen, das sich an ihm entzündet.¹⁴⁰ Bei Albrecht bereitet der Anblick Tereus schlicht groz quale (A, V. 142; „großen Schmerz“), die Emotion wird um-, der „phantasierte Rollentausch“ nur angedeutet, womit Albrecht, so Behmenburg, „den erotischen Reiz des Zuschauens völlig unter den Tisch fallen [lässt].“¹⁴¹ Wickram weitet die Szene wieder aus: So dann Tereus semlichs sach Seim hertzen also weh geschach Daß er die Jungfraw ehgedocht An ihren mundt nit kssen mocht An stadt ihrs vatters wie gehrt
Vgl. Heinzmann, Albrecht, S. 19 – 27. Behmenburg, Dieweil ir swester, S. 158 und 144. Ebd., S. 139; für weitere Belegstellen vgl. a. S. 142 ff.; sowie Dies., Philomela, S. 171 ff. Vgl. Ovid, Metamorphosen 6.478 – 483, S. 220 f. Der Kuss wird zum Teil als inzestuöse Bindung gedeutet; vgl. Behmenburg, Philomela, Fn 13, S. 74, vgl. a. S. 138; 172 und 219. Dies werde aber in anderen Varianten deutlicher profiliert; vgl. Dies., Dieweil ir swester, S. 142. Behmenburg, Philomela, S. 138 und 155; vgl. a. Rücker, Bearbeitung, S. 75.
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Dann forcht und scham im sllichs wert Doch hoffet er gentzlich der stundt Das er auch ihren rot mundt Mcht kůssen nach dem will sein (V. 1040 – 1048) Als da Tereus das alles sah, schmerzte sein Herz, dass er die Jungfrau, [an die] zuvor gedacht, nicht anstelle ihres Vaters küssen konnte, wie gehört, denn Furcht und Scham verwehrten ihm dies, doch vertraute er vollkommen auf die Stunde, in der auch er ihren roten Mund nach seinem Willen küssen können würde.
Wickram gewährt, so Behmenburg, „Einblicke in die Gefühlswelt seiner Figuren“¹⁴² und „führt […] die Innenwelt des Tereus in einem eigenständigen Zusatz […] detailliert aus, innerhalb dessen Begriffe wie Furcht, Scham und Hoffnung fallen“¹⁴³, was sich in der Terminologie der vorliegenden Studie als Emotionalisierung fassen lässt. Dabei werden die Küsse ausführlicher geschildert als in der Vorlage und insgesamt dreimal erwähnt, „das dritte Mal wird die erotische Komponente des Kusses sogar durch das Adjektiv rot hervorgehoben: Ihr Mund erscheint besonders begehrenswert“¹⁴⁴. So schärft sich die potentielle textexterne Wirkung, das Motiv wird vom faktischen über den geneideten zum imaginierten Kuss gesteigert, was das Begehren eindringlich vor Augen stellt. Vor diesem Hintergrund steht zu vermuten, dass ebenfalls erst Wickram die Szene von Myrrhas Vaterkuss auf eine Folge nonverbaler Zeichen hin pointiert, denen Anschaulichkeit und Plastizität und damit tendenziell eine stärkere textexterne Wirkung verliehen wird. Hierfür zumindest spricht, dass die sich nun anschließende Freierwahl Myrrhas von derselben Erzähl- und Darstellungsweise geprägt ist. Bei Ovid ist Sprache der Schlüssel zum Verständnis der Szene, Worte werden in ihrer doppelten Bedeutung umspielt und in einen konfusen Status überführt.¹⁴⁵ Bei Wickram indes tritt ein anderes Moment hervor, das Spiel mit den Wahrnehmungsebenen wird auf dem Feld nonverbaler Zeichen ausagiert. Es ist ein Spiel falscher Entschlüsselungen, die das inzestuöse Begehren umtanzen und ein spezifisches Spannungsverhältnis generieren. So heißt es etwa am Ende der Szene, Myrrha hieng ir gsicht schamhafft zu thal ¹⁴⁶ (XIII/2, 10.2., V. 659). Die Geste des gesenkten Kopfes lässt sich mit der Phänomenologie der Scham in Verbin-
Behmenburg, Dieweil ir swester, S. 138. Ebd., S. 163. Ebd., S. 143; vgl. insgesamt S. 142 f. Vgl. Barkan, Gods, S. 64. „[…] senkte ihren Blick schamhaft zu Boden“; sinngemäß: „[…] ließ ihren Kopf vor Scham hängen.“
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dung bringen; dem Bewegungsimpuls, verschwinden zu wollen.¹⁴⁷ Aus Cynaras’ Perspektive handelt es sich erneut um einen Ausdruck der Schamhaftigkeit Myrrhas, aus Sicht der Rezipierenden um einen Ausdruck von Scham infolge ihres Verlangens. Da bei Scham „im Empfinden und Wahrnehmen etwas sowohl für das Selbst, als auch für die Gesellschaft Grundsätzliches berührt, aktualisiert und verhandelt wird“ und sie sich „prospektiv oder retrospektiv auf die Norm [richtet], die man nicht verletzen bzw. nicht verletzt haben möchte“¹⁴⁸, wird die Figur durch die Schamgeste dennoch zugleich in gewisser Weise positiviert, zeigt sie doch an, dass Myrrha die Norm des Inzesttabus prinziell teilt. Inszeniert wird, dass sie ‚fühlt‘, dass sie etwas Falsches tut. Diese Lesart wird im Ko(n)text gestützt. So berichtet eine kurze Anspielung im zweiten Buch der Metamorphosen in einer Art Rückblende von einem VaterTochter-Inzest, der sich mit dem Namen Nyctimene verbindet.¹⁴⁹ Welche Junckfraw durch grosse schand Inn eyn nacht Eulen ward verwandt Deß mir die gantz Insel Leßbon Gewiß zeugnuß geben wirt davon Ir magtum ir benummen wardt Von irem eygnen vatter zart Drumb kumpt sie nit anß tages licht Dann sie schempt sich so man sie sicht So baldt und sie sehen lodt Melden die vgel ir mißtodt Und schreien mit eynander all Uber die Eul mit grossem schall (XIII/1, 2.2, V. 1265 – 1276) Diese Jungfrau wurde durch große Schande in eine Nachteule verwandelt, wovon mir die ganze Insel Lesbos gewiss Zeugnis geben würde. Ihre Jungfräulichkeit wurde ihr von ihrem eigenen schwachen Vater genommen, deshalb kommt sie nie ans Tageslicht, denn sie schämt sich, wenn man sie sieht, da die Vögel, sobald sie sich sehen lässt, ihr Vergehen verkünden und alle miteinander die Eule mit großem Getöse verschreien.
Zur Phänomenologie von Scham vgl. Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 222 f. Zum gesenkten Kopf als typische Schamgeste vgl. Gvozdeva/Velten, Einleitung, S. 9 Ebd., S. 4 f. Vgl. grundlegend a. Landweer, Scham, S. 215; sowie Dies.: Dimensionen der Macht im Gefühl der Scham. Zur Einführung. In: Berliner Debatte Initial 17 (2006), S. 77– 83, hier S. 79. Vgl. Ovid, Metamorphosen 2.590 – 595, S. 74.Vgl. hierzu Nagle, Byblis and Myrrha, S. 304 und Fn 13, S. 304; Archibald, Incest, S. 59. Zu Nyctimene bei Wickram vgl. Rücker, Bearbeitung, S. 273.
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Ebenso wie in der Myrrha-Erzählung wird der Vater-Tochter-Inzest mit Scham korreliert, die hier als singuläre Emotion steht und damit als evaluativer Gehalt der Inzestthematik hervorsticht, so dass Scham in der Übereinstimmung im Ko(n)text von Wickrams Metamorphosen als auf den Inzest gerichtete Emotionsnorm aufscheint. Sie ist an die öffentliche Beschämung gekoppelt; konturiert wird ein Entsprechungsverhältnis von Scham und Schande. Unter gendertheoretischen Gesichtspunkten indes unterscheiden sich die beiden Berichte von einem Vater-Tochter-Inzest eklatant. So ist im Fall Nyctimenes der Vater die treibende Kraft, eine bemerkenswerte Umdeutung der späteren Bearbeiter, denn bei Ovid ist es Nyctimene, die das Lager des Vaters befleckt.¹⁵⁰ Sie ist wahrscheinlich bereits bei Albrecht anzusetzen, fügt doch Wickram nun seinerseits eine verhältnismäßig ausführliche Marginalglosse hinzu: Nyctimene ward von irem eignen vatter geschwecht / darumb sie inn eyn nacht Eul verkert ward / von wegen solches grosen lasters kumpt sie niemmer an den tag / sie wirt von den vogeln beschreit ¹⁵¹ (XIII/1, 2.2, Marginalglosse zu V. 1274). Die Nyctimene-Geschichte scheint eine gewisse Faszinationskraft auf Wickram auszuüben, handelt es sich bei dem Kommentar doch weniger um ein additives Element, das der Moralisierung oder Gliederung dient, als vielmehr um ein paralleles Erzählen, das die histoire in Wickrams Worten wiedergibt. Er erzählt die Geschichte im Prinzip noch einmal, akzentuiert aber mit dem Prädikat schwechen („schänden“; „entehren“; „vergewaltigen“¹⁵²) stärker die Vergewaltigungsthematik und vereindeutigt mit laster („Schmach, Schande“¹⁵³) die Schande, die sie bedeutet. So wird der Myrrha-Erzählung bei den späteren Bearbeitern (anders als bei Ovid, bei dem allein Frauen als Initiatorinnen agieren) intratextuell eine alternative Auffassung vom Vater-Tochter-Inzest beigestellt, was die Idee blockiert, dass allein Töchter als Initiatorinnen des Inzests agieren. Sie lässt jedoch ebenfalls keinen Zweifel daran, dass die Inzestthematik negativ zu beurteilen und mit Scham besetzt ist, die als auf den Inzest gerichtete Emotionsnorm erscheint. Das skizzierte Spiel der Entschlüsselung nonverbaler Zeichen, das die Szenen von Freierwahl und Vaterkuss prägt, kommt im nun folgenden Erzählabschnitt zu seinem Höhepunkt. Selbstmord und Ammengespräch werden durch einen weiteren Zwischentitel eingeleitet:
Vgl. Ovid, Metamorphosen 2.592 f., S. 74. „Nyctimene wurde von ihrem eigenen Vater vergewaltigt, deshalb wurde sie in eine Nachteule verwandelt, aufgrund solch großer Schmach erscheint sie niemals am Tage, sie wird von den Vögeln mit Geschrei verfolgt.“ Vgl. Baufeld, S. 213. Vgl. FWB 9.1, Sp. 342.
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Myrrha je mehr und mehr inn inbrünstiger lieb gegen irem vatter entzünt / inn solchem unmůt understhet sie sich an eynem strick zu erwürgen / ir Am kumpt ir zu hilff / trst sie / sagt ir zu iren bsen willen zu endt zu bringen. (XIII/2, 10.x, S. 568) Je stärker und stärker Myrrha in inbrünstiger Liebe zu ihrem Vater entbrennt, untersteht sie sich in solch einer Aufgebrachtheit, sich mit einem Strick zu erwürgen. Ihre Amme kommt ihr zu Hilfe, tröstet sie und verspricht ihr, ihr schlimmes Vorhaben zu einem Ende zu bringen.
Aktualisiert wird die Vorstellung von ‚Liebe als Feuer‘, der ein Steigerungsmoment zugeschrieben wird, sie brennt stärker und stärker. Zugleich wird präsent gehalten, dass sich diese Liebe auf den Vater richtet, was wiederum negativ bewertet wird. Dass es dabei heißt, unmuot (Z. 3; „Trauer“; „Ärger“¹⁵⁴) motiviere den Selbstmordversuch, kommt einer leichten Umdeutung des Haupttextes gleich. Hier nämlich wird der emotionale Extremzustand Myrrhas in einen rationalen Prozess der Reflexion überführt (vgl. XIII/2, 10.2., V. 666 – 686), der Myrrha nicht schlafen, ihre Gedanken bald in jene, bald in die andere Richtung schwanken lässt und ihr schließlich so sehr ungevel (V. 687; „Unglück“; „Ärgernis“¹⁵⁵) und Verzweiflung (vgl. V. 680; 695) bereitet, dass Selbstmord als einziger Ausweg erscheint. Das Motiv des Selbstmords als extreme Form autoaggressiver Handlungen findet sich in der antiken und mittelalterlichen Literatur häufig mit der Inzestthematik verbunden.¹⁵⁶ Eine Besonderheit der Myrrha-Erzählung besteht aber darin, dass mit ihm nicht auf einen vollzogenen oder drohenden Inzest reagiert wird, sondern das eigene inzestuöse Verlangen abgewehrt und verhindert werden soll. Als Myrrhas Amme sie in actu überrascht, schreit sie laut auf, zerrt an Kleidung und Haaren (vgl. V. 701 f.), reagiert also ihrerseits emotional. Emotionen werden in Handlungen und nonverbalen Zeichen plastisch (und drastisch) ‚vor Augen gestellt‘, was textextern immersive Effekte ermöglicht, indem es die Rezipierenden nah an das Geschehen heranholt. Inszeniert wird ein interaktionales Moment von Emotion und Reaktion, der extreme Gefühlszustand Myrrhas wird in Handlung umgesetzt, die bei der Amme eine emotionale Reaktion hervorruft. Sie beantwortet Myrrhas Leid mit tröstenden Gesten, wie sie für den Umgang mit kleinen Kindern typisch sind; bietet Myrrha die entblößte Brust, setzt sie auf ihren Vgl. Alfred Götze: Frühneuhochdeutsches Glossar. Berlin 71967 (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 101), S. 220. Vgl. Baufeld, S. 235. Vgl. Archibald, Incest, S. 56 und 59; Eming, Inzestneigung, S. 31. Siehe ausführlich Kap. 2.3.
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Schoß und nimmt sie in den Arm (vgl. V. 714 f.; 752 f.). Die Beziehung zwischen Heldin und Amme wird als affektiver Binnenraum gezeigt, als ‚Gefühlsgemeinschaft‘, die sich auf Seiten der Amme durch Erbarmen, faktisches Mit-Fühlen und Trost auszeichnet (vgl. V. 754 f.; 793 f.). Damit wird ein erster Rezeptions-Stimulus gesetzt, der modellhaft ein Mitfühlen und Mitleiden der Rezipierenden mit Myrrha ermöglicht. Die bisher geschürte Antihaltung der Heldin gegenüber erhält erstmals in der Narration sympathetische Züge, was maßgeblich über die Darstellung nonverbaler Zeichen erfolgt, die einer Anschaulichkeit eignet, die in der Form bei Ovid nicht gegeben ist. Myrrha empfindet Leid über den missglückten Selbstmordversuch (vgl. V. 710 ff.), aufgefordert, ihr Geheimnis zu entdecken, [d]ie magt erseufftzet gantz bleichfar / Und kert ir Augen anderswar ¹⁵⁷ (V. 721 f.). Im Erbleichen sind Schrecken und Furcht enthalten, im abgewendeten Blick ein furchtspezifischer Flucht- und schamspezifischer Ausweichimpuls, im Seufzen Leid und Angst.¹⁵⁸ Da die Amme jedoch nicht um Myrrhas Verlangen weiß, vermag sie die Zeichen (anders als die Rezipierenden) zunächst nicht zu entschlüsseln. Die Szene ist von einer ähnlichen Dynamik getragen wie schon die Freierwahl, was eine dramatische Spannung aufbaut. Die Amme eruiert verschiedene Gründe, kann sich Myrrhas Leid aber letztlich nicht erklären, leben doch Vater und Mutter noch (vgl. V. 737– 742). Als Myrrha das Wort ‚Vater‘ hört, seufzt sie erneut auf (vgl. V. 743 f.). Obgleich nun der Objektbereich abgesteckt ist, ahnt die Amme noch nicht, [w]ohin semlicher seufftzen gieng ¹⁵⁹ (V. 746), und fährt mit der Entschlüsselungsarbeit fort. Sie vermutet richtig, dass Myrrha verliebt sei, verkennt jedoch den Konfliktpunkt und bietet an, Myrrha zum Geliebten zu verhelfen, ohne dass der Vater etwas mitbekomme. Das nun zum dritten Mal wiederholte Wort ‚Vater‘ verpasst Myrrha den Dolchstoß: Zuhandt fiel Myrrha uff die erdt ¹⁶⁰ (V. 761). Die rasende Wut (furor) und die Sorge um Beschämung (pudor) von Ovids Myrrha kennt Wickrams Heldin nicht,¹⁶¹ eine Reduktion, die die Klimax der nonverbalen Zeichen deutlicher hervortreten lässt. Hieß es bei der Freierwahl, Myrrha senkt den Kopf zu thal (V. 659; „nach unten“) und nach dem Selbstmordversuch Mit irem haubt neiget sie sich / Gar tieff biß zu der erdt zu thal ¹⁶² (V. 708 f.), versinkt sie jetzt im Akt des Niederfallens sozusagen tatsächlich im Boden. Der charakteristische Schamim-
Sinngemäß: „Das Mädchen seufzte leichenblass und wendete ihren Blick woandershin.“ Vgl. hierzu für die mittelhochdeutsche Epik Riekenberg, Literale Gefühle, S. 124 und 135. „[…] worauf sich dergleichen Seufzen bezog.“ „Auf der Stelle fiel Myrrha nieder zu Boden.“ Vgl. Ovid, Metamorphosen 10.410 f., S. 378. „Ihren Kopf neigte sie ganz tief nach unten bis zum Boden.“
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puls, verschwinden zu wollen, wird in eine Art Dramaturgie nonverbaler Zeichen übersetzt und in einer Abwärtsbewegung gesteigert. Die Amme kniet in ihrer noth (V. 767; „Bedrängnis, Elend, Not“¹⁶³) nieder, streckt Myrrha die vor Leid und Alter zitternden Hände entgegen, umschmeichelt sie mit süßen Worten (vgl.V. 772); Myrrha wiederum erwidert eine Geste kindlicher Zärtlichkeit und legt ihren Kopf auf die Brust der Amme (vgl. V. 775 f.). Inszeniert wird ein Moment gleichzeitiger Geborgenheit und Weltabgewandtheit: Vor scham und grossem hertzen leidt / Decket si ire augen beidt ¹⁶⁴ (V. 779 f.). Scham ist hier also weniger als bei den bisher besprochenen Textstellen als Entsprechungsverhältnis zu öffentlicher Schande konfiguriert, ist nicht „primär gesellschaftsbezogene Reaktion auf die anderen, sondern bezeichnet ein Selbstverhältnis“¹⁶⁵, ist konkret an Myrrhas Liebesleid gekoppelt. Virulent wird der auch in diesem Verständnis von Scham konstitutive Konnex von Scham und Sichtbarkeit im Blick der anderen,¹⁶⁶ nur mit verborgenem Gesicht (vgl. V. 781) und in Rätseln vermag Myrrha nun vom Unsagbaren zu sprechen: Wer ich so selten rich / Als mein mutter ist jetz zu mann / Wie selig wer ich ¹⁶⁷ (V. 782 ff.). Den Term ‚Vater‘ übergeht Myrrha geflissentlich und umschreibt ihn über die Position der Mutter.¹⁶⁸ Es bleibt bei der Andeutung, das inzestuöse Begehren wird nicht expliziert, Myrrha verstummt direkt im Anschluss (vgl. V. 784). Als sie nun erneut seufzt, weiß ihre Amme das nonverbale Zeichen endlich zu deuten, doch wird ihre Deutung bezeichnenderweise nicht in Worte gefasst. Vielmehr entäußert sich das verschwiegene Wort emotional: Davon erschrack sie also gar / Das ir ghen berg gieng als ir har / Als sie verstundt solchen unfůg ¹⁶⁹ (V. 787 ff.). Die Inzestthematik wird als Objekt von Schrecken evaluiert, mit unfůg („ungebührliches Verhalten, Unziemlichkeit, Ro-
Vgl. Baufeld, S. 180. Zur historischen Semantik von nôt siehe ausführlich Kap. 6.1.1. „Vor Scham und großem Liebesleid bedeckte sie beide Augen.“ Müller, Scham, S. 93; der sich auf einen anderen Kontext bezieht. Meines Erachtens findet sich aber genau dieses Verständnis von Scham an dieser Stelle bei Wickram konfiguriert. Vgl. hierzu Landweer, Dimensionen der Macht, S. 78 ff.; Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 219; Gvozdeva/Velten, Einleitung, S. 4. „Hätte ich so große Freude, wie sie jetzt meiner Mutter zum Mann ist, wie glücklich wäre ich.“ Die Übersetzung bereitet einige Umstände. Wahrscheinlich hat Albrecht an der Stelle (und danach richtet sich hier der Übersetzungsvorschlag) saeldenriche („glückselig, reich an sælde, an grosser freude, segensreich, voll heil“; BMZ 2, Sp. 689a). Alternativ könnte man auch lesen selten rich („selten, kaum“ „mächtig“; „vornehm“; „edel“; Hennig, S. 291 und 266) und sinngemäß paraphrasieren: „Wäre ich so privilegiert, wie es meine Mutter durch ihren Mann ist, wäre ich glücklich“. Für Ovid vgl. Barkan, Gods, S. 64. „Darüber erschrak sie so sehr, dass ihr die Haare zu Berge standen, als sie diesen Frevel verstand.“
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heit, Frevel, Störung der öffentlichen Ordnung“¹⁷⁰) ein gesellschaftlicher Ordnungsbegriff aufgerufen, so dass Myrrhas Begehren emotional und normativ bewertet wird, ohne es zu benennen. Die Amme versucht, Myrrha von ihrem Plan abzubringen, doch deren brennendes Begehren lässt nur zwei Optionen, Tod oder Vollzug (vgl. V. 791 f.). So verspricht die Amme Myrrha dir wirt zu theil dein ¹⁷¹ (V. 794), bricht dann aber mitten im Satz ab, [a]ls sie jetz vatter sollte sprechen / Do irret sie daran die schand ¹⁷² (V. 796 f.). Nachdem im Dialog das Wort ‚Vater‘ bis an Myrrhas Schmerzgrenze wiederholt worden ist, ist es jetzt, im Bezugsbereich der Inzestthematik, unmöglich auszusprechen. Die Ellipse dient als Stilmittel der Hervorhebung, im Schweigen hallt das unsagbare Wort nach als schattenhaftes Echo seiner selbst und tönt dabei umso lauter. In der Forschung ist die Rolle der Amme, die nunmehr beim Inzest eine tragende wird, in erster Linie problematisiert worden. Letztlich, so etwa Nagle, sei die Tragödie Myrrhas nicht auf ihr eigenes Handeln zurückzuführen, sondern auf andere, so und vor allem auf den Aktionismus der Amme.¹⁷³ Damit übt die Figur vorrangig eine Entlastungsfunktion aus, indem ihr eine Teil- oder gar die Hauptschuld am Inzest zugeschrieben wird. Fokussiert man hingegen Tabu und Emotion und blendet die Schuldfrage aus, lässt sich auch eine alternative Interpretation vorschlagen. So ist die Wortwahl einschlägig: Myrrhas Monolog ist ein heimlich gesprech, ihr Begehren bei der Freierwahl dem Vater verborgen (XIII/2, 10.ix, S. 567, Z. 4), im Gespräch mit der Amme möchte sie solchen hling nit gesagen (XIII/2, 10.2, V. 766; „solch ein Geheimnis nicht verraten“). In allen drei Handlungssequenzen werden damit Termini aufgerufen, die auf den Akt des (notwendigen) Verheimlichens, Verbergens, Verhüllens des inzestuösen Begehrens verweisen. Tangiert, ausgestellt und umspielt wird die tabuspezifische und gesellschaftlich normierte Grenze zwischen dem Heimlichen und dem Öffentlichen, dem, was nach außen treten darf, und dem, was verborgen bleiben muss.¹⁷⁴ Bei dem ebenfalls mit Scham korrelierten Inzest Nyctimenes wird dieser Zusammenhang in ein sinnfälliges Bild gesetzt – es ist der Blick der anderen, der Nyctimene Scham bereitet, ihr Reich ist die Dunkelheit der Nacht (vgl. XIII/1, 2.2,
Baufeld, S. 235. „Dir wird geschenkt dein –“. „[…] als sie Vater hätte sagen müssen, denn daran hinderte sie die Schande.“ Vgl. Nagle, Byblis and Myrrha, S. 311 f. und 314. Vgl. hierzu am Beispiel anderer Inzesterzählungen meinen Aufsatz Nora Hagemann: Gefühle an der Grenze. Inzesttabu und Emotionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Gefühle. Sprechen. Emotionen an den Anfängen und Grenzen der Sprache. Hrsg. von Viktoria Räuchle/Maria Römer, Würzburg 2014, S. 115 – 138, hier S. 118 und 125 – 134.
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1271 f.). In Myrrhas Fall zeigen jedoch nonverbale Zeichen das Begehren nach außen hin an, woraus ein Spannungsmoment resultiert, das in den drei nacheinander geschalteten Handlungssequenzen ‚Myrrhas Monolog‘, ‚Freierwahl‘ und ‚Ammengespräch‘ narrativ produktiv gemacht wird. Vom Monolog als Mikrokosmos einer Sphäre des Heimlichen, in der die Begehrende auf sich selbst zurückgeworfen ist, schreitet die Erzählung fort zur Freierwahl, die in der Sphäre des Öffentlichen angesiedelt ist, wobei auf der Handlungsebene allein die Heldin um die wahren Beweggründe weiß, was sie gewissermaßen aus der Gemeinschaft ausscheidet, ein Moment der Isolation und Desintegration, das mit dem Tabucharakter der Inzestthematik zusammenhängt, im Motiv des Selbstmordes symbolträchtig zugespitzt. Im Ammengespräch nun wird die Grenze zwischen dem Heimlichen und dem Öffentlichen erneut thematisch. Problematische Emotionen werden einerseits durch nonverbale Zeichen nach außen hin angezeigt, andererseits wird das inzestuöse Begehren an keiner Stelle im Dialog expliziert – noch in dem Augenblick, in dem es offenbar wird, bleibt es unaussprechlich. Im (Ver) Schweigen entäußert sich die extremste Form der Sprachreglementierung durch Tabus, wobei bezeichnenderweise das Nicht-Verbalisierbare seinen Ausdruck im Nonverbalen findet. Eine Neubewertung der Rolle, die der Amme zugewiesen wird, ist möglich, wenn man sich vor Augen führt, dass sie die erste und einzige Figur ist, die überhaupt in das Geheimnis eingeweiht wird und es mit Myrrha teilt. Dabei werden Amme und Myrrha als ‚Gefühlsgemeinschaft‘ inszeniert. Die Beziehung zwischen ihnen ist als tiefe emotionale Bindung figuriert, in einem interaktionalen Zyklus von Emotion und Reaktion nähert sich der Dialog dem Geheimnis. Was sich am Ende Bahn bricht, ist nicht die Moral- oder Skrupellosigkeit der Amme – sie empfindet Schrecken, ist sich des Normbruchs bewusst, hat das Tabu soweit verinnerlicht, dass es ihre Sprachverwendung reglementiert. Es ist die inzestuöse Liebe Myrrhas, die einen so starken Handlungsdruck entfaltet, dass die existentielle Frage von Leben und Tod berührt wird. Was die Amme schließlich helfen lässt, ist ihr Mitleid mit der Ziehtochter, der Umstand, dass es keine andere Möglichkeit gibt als den Vollzug, um sie am Leben zu erhalten. Diese Interpretation lässt sich durch Marginalglossen stützen, von denen ganze vier den Textabschnitt kommentieren: Myrrha will sich selb erhencken (XIII/ 2, 10.2., Marginalglosse zu V. 688); Wie sie ir seug Am ermant (zu V. 717); Die Am merckt das Myrrha mit heimlicher lieb umbgeben ist (zu V. 747); Die Am versthet das anligen Myrrhe (zu V. 786). Im Gegensatz zu der ersten Marginalglosse, die Myrrha denunziert, üben sie eher inhaltsgliedernde Funktion aus und richten das Augenmerk auf relevante Knotenpunkte der Handlung, Wickram nutzt die Gelegenheit also nicht etwa, um nun die Amme anzuklagen. Die Glossen besitzen keine Zusatzinformationen und üben weder erklärende noch erläuternde Funktion aus, vielmehr wird die Bewegung der Narration nachvollzogen. Heimliche
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Liebe steht im Raum, in dem Moment aber, wo das inzestuöse Begehren offenbar wird, wird die Inzestthematik nicht benannt, nur nebulös mit das anligen Myrrhe angedeutet, was alles und nichts meinen kann. Die Glossen lancieren damit die Dramaturgie der Szene, die sich der Aufdeckung des inzestuösen Begehrens mehr und mehr nähert, um es dann, einmal heraufbeschworen, unausgesprochen im Raum stehen zu lassen.
7.1.3 Inzest als Rätsel Der den Inzestakt einleitende Zwischentitel stellt die Verwandtschaft der Concumbenten aus und betont vorbeugend die Unwissenheit des Vaters (vgl. 10.xj, S. 572, Z. 2 ff.), die somit ähnlich wie in vielen Lot-Bearbeitungen als Erzählelement hervorgehoben wird. Mit einer List verhilft die Amme Myrrha zum Vater. Es ist die Zeit des Ceresfestes, ein Erzählelement, das bei Ovid überdeterminiert ist. Zunächst motiviert es textintern die Abwesenheit der Mutter, realisiert als rituelle Abstinenz zu Ehren der Göttin des Ackerbaus, die von den römischen Frauen neun Tage Enthaltsamkeit fordert, so dass der Platz im elterlichen Ehebett vakant wird.¹⁷⁵ Das Ceresfest gehört nicht genuin zum Myrrha-Mythos,¹⁷⁶ in der Forschung ist umstritten, ob es sich tatsächlich um ein (vergessenes) cyprisches Fest handelt oder ob Ovid Elemente des römischen Cereskultes aufnimmt.¹⁷⁷ Beide Feste bringen Subtexte in die Erzählung ein, die zum Verständnis der Erzählung nicht notwendig sind, die sich aber im weiteren Erzählverlauf atmosphärisch an bestimmte Motive hängen.¹⁷⁸ Diese kultischen Subtexte sind zur Zeit Wickrams (wahrscheinlich schon Albrechts) verloren. Da die Protagonisten zwar mitunter auf Myrrhas Mutter referieren, sie bei Wickram aber an keiner Stelle als Akteurin in Erscheinung tritt, geht selbst der Kontrast zwischen mütterlicher Abstinenz und töchterlicher sexueller Aktivität verloren. Die Abwesenheit der Mutter ist gesetzt, bildet aber weder ein Element in dem Motivationskomplex, der auf den Inzest hinführt, noch einen Kontrastpunkt, der der verbrecherischen Myrrha eine fromme Mutter entgegensetzt. So hat das Ceresfest bei Wickram nur eine Funk-
Vgl. Ovid, Metamorphosen 10.431– 437, S. 380; vgl. hierzu Lowrie, Myrrha’s Second Taboo, S. 50. Vgl. ebd., S. 51. Wie zum Beispiel das religiöse Fest der Cerialia oder das sacrum anniversarium Cereris; vgl. Shawn O’Bryhim: Myrrha’s Wedding (Ov. Met. 10.446 – 70). In: The Classical Quarterly 58 (2008), S. 190 – 195, hier S. 194. Vgl. ebd., S. 190 ff. und 195; Lowrie, Myrrha’s Second Taboo, S. 50 ff.
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tion: Es lässt als Folie Myrrhas sexuelles Vergehen umso gravierender wirken. In einer Zeit, in der die Frauen keusch und rein sein sollen (vgl. XIII/2, 10.2., V. 809), schläft die Unkeusche mit ihrem Vater. Das Inzesttabu wird mit einem religiösen Keuschheitsgebot verstärkt, das transgressive Potential verdoppelt. Wie schon die Töchter Lots bedient sich die Amme einer Weinlist (vgl. V. 814). Allerdings ist eine leichte Verschiebung zu beobachten, Cynaras muss nicht betrunken gemacht werden, er ist es bereits. Die Amme offeriert eine Bettgenossin, [d]ie wer on mossen wolgestalt ¹⁷⁹ (V. 821). Dies ist die einzige Stelle in der Narration, an der Myrrhas Körper Kontur gewinnt, ihre Schönheit ist ausschließlich innerhalb der Inzestthematik funktionalisiert. Wie bei Ovid hakt der Vater nach, ob das Mädchen alt sei, woraufhin die Amme zusichert, sie sei in Myrrhas Alter.¹⁸⁰ Dabei verstärkt Wickram den diskreditierenden Effekt, indem er vereindeutigt, was Ovid in der Schwebe hält, wenn die Amme verspricht, [s]i ist inn deiner tochter maß / Und gleicht sich wol der schoenen Myrrhe ¹⁸¹ (V. 824 f.). Das Motiv der Unwissenheit des Vaters, sein Status als Opfer, wird unterminiert, die Achse der Entschuldung neigt sich zuungunsten der Vaterposition. Als Myrrha die Nachricht vernimmt, dass dem Vollzug nichts entgegensteht, heißt es: Als sie die worte vername / do Ward sie inn irem hertzen fro Jedoch trauret sie noch etwaß Dann Frumbkeyt ist der Snd gehaß Darzu so anet sie nichts gutes Und was gar eyns erschrocken mutes (V. 833 – 838) Als sie die Worte hörte, da freute sie sich in ihrem Herzen, doch trauerte sie auch ein wenig, denn Rechtschaffenheit ist der Sünde verhasst, darüber hinaus ahnte sie nichts Gutes und hatte ein sehr erschrockenes Herz.
Der bevorstehende Vater-Tochter-Inzest evoziert ambivalente Emotionen.¹⁸² Myrrha ist hin- und hergerissen zwischen freudiger Verlockung und düsterer Vorahnung, eine tabutypische Doppelbewegung von Anziehen und Abstoßen. Auf dem Weg zum Vater verengen sich diese ambivalenten Gefühle zu Furcht und Schrecken (vgl. V. 856), was ausdrucksstark geschildert und plastisch vor Augen geführt wird; Myrrha erblasst (vgl.V. 853), steht kurz vor der Ohnmacht (vgl. „Die ist außerordentlich anmutig.“ Vgl. Ovid, Metamorphosen 10.441, S. 380. „Sie ist im Alter deiner Tochter und sieht der schönen Myrrha sehr ähnlich.“ Nagle spricht mit Blick auf Ovid von ‚gemischten Gefühlen‘; vgl. Nagle, Byblis and Myrrha, S. 312.
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V. 853), ihre Knie zittern (vgl.V. 857), sie verspürt einen starken Fluchtimpuls (vgl. V. 858). Über ihren Körper wird gezeigt, dass sie die Norm des Inzesttabus prinzipiell teilt und sich normkonform vor der Grenzüberschreitung fürchtet, mit jedem Schritt, den sie zur Schlafstätte des Vaters macht, wächst ihr Schrecken (vgl. V. 855 f.). Mit Blick auf die textexterne Ebene wird dabei rhetorisch-stilistisch (wie bei Ovid) eine dunkle und schicksalshafte Atmosphäre geschaffen, die Nacht ist finster, Mond und Sterne wolkenverhangen, kein Licht brennt, in absoluter Dunkelheit zerrt die Amme Myrrha hinter sich her, schlechte Omen säumen ihren Weg (vgl.V. 839 – 852; 854) – die Szenerie spannt einen unheilvollen Schleier über das, was nun kommen soll. In einer eigens inserierten Marginalglosse erläutert Wickram das dreimalige Anstoßen des Fußes und den dreimaligen Ruf des Uhus als Zeichen der Heiden (vgl. XIII/2, 10.2, Marginalglosse zu V. 845), um den Effekt der antiken Omen für das zeitgenössische Publikum zu bewahren.¹⁸³ Die Rezipierenden bewegen sich mit Myrrha durch einen Raum, der sich mehr und mehr verdunkelt, verengt, bedrohlich wirkt. Die Darstellungsweise ist darauf angelegt, textinterne und textexterne Ebene zu parallelisieren, in Furcht und Schrecken ob des Inzests sind Figur und Rezipierende vereint. So wird in der Inzestepisode eine neue Rezeptionshaltung geschürt, die gänzlich abweichend zur initialen steht. Setzen Orpheus’ Gesang und Myrrhas Monolog darauf, eine Abwehrhaltung gegen die Schande der Heldin zu erzeugen, dominiert nun ein sympathetischer Bezug. Die Rezipierenden sollen sich mit, nicht vor Myrrha fürchten. Die Erzählung schreitet fort zu ihrem Höhepunkt, dem Vollzug des VaterTochter-Inzests. Dabei wird Ovids „[s]o empfing in das schändliche Bett der Vater sein eigen Fleisch und Blut“¹⁸⁴ signifikant erweitert: Die alte schleyffet sie den weg Und leget do die nacht zusammen Eynerley blůt und doch zwen namen Wellicher namen inn der zal Bald vier wurden do zu mal Und waren dannocht nur zwein leib Doch vatter / tochter / man / und weib (XIII/2, 10.2., V. 862 – 868) Die Alte schleifte sie ans Ziel und auch wenn sie in dieser Nacht ein Blut und doch zwei Namen zusammenlegte, welche in ihrer Anzahl dann zudem bald vier wurden, so waren es dennoch nur zwei Menschen, [und] trotzdem Vater, Tochter, Ehemann und Ehefrau.
Vgl. Rücker, Bearbeitung, S. 270 f. accipit obsceno genitor sua viscera lecto; Ovid, Metamorphosen 10.465, S. 382 f.
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Diese, so schon Bolte, „bei Ovid […] fehlende, wenngleich seiner scharfgespitzten rhetorik nicht unangemessene bezeichnung des blutschänderischen paares […] erinnert an die rätsel aufgebenden grabschriften in ähnlichen incestgeschichten“¹⁸⁵. Sowohl Bolte als auch Ebenbauer und Kern siedeln die Erweiterung bereits bei Albrecht an,¹⁸⁶ so dass sich die These formulieren lässt, dass das Skandalon der Verwandtschaftsverwirrung bereits auf Albrecht eine gewisse Faszinationskraft ausgeübt haben muss, schöpft er es doch kreativ aus Myrrhas Monolog bei Ovid, verdoppelt es und projiziert es in die Inzestszene. Thematisch werden damit erneut Verwandtschaftsverwirrungen, die aus der Transgression des Inzesttabus resultieren, wobei im Speziellen die Kategorien name und lîp aufgerufen werden. Der Term name bezeichnet vom Mittelhochdeutschen kommend „stand, begriff, würde, wesen, beschaffenheit“¹⁸⁷ eines Menschen, also die soziale Identität, die sich aus dem gesellschaftlichen Status ergibt. Er wird häufig zur allgemeinen Umschreibung von Personen gebraucht, was ihn in die Nähe zu lîp rückt, welches jedoch stärker auf die Person als Individuum zielt,¹⁸⁸ während mhd. name auf den Rang in der Gesellschaft abstellt. Vorgeführt wird das Paradoxon einer durch den Inzest multiplizierten Identität, die sich aus einer Spaltung von name und lîp ergibt, in zwei Menschen treten vier genealogisch determinierte Identitäten zusammen.¹⁸⁹ Damit wird auch die Tabuthematik berührt, der VaterTochter-Inzest kommt nicht zur Darstellung, er geht vollends in dem Inzesträtsel auf, die Erzählung fokussiert die Konsequenzen, nicht den Akt. Auch die Emotionen auf textinterner Ebene konzentrieren sich auf die Folgen des Inzests. Nach dem Vollzug stellen sich bei Myrrha Schrecken und Furcht ein, die machten das / Myrrha ohn massen traurig was ¹⁹⁰ (V. 869 f.). In der Steigerung ohn massen findet sich das schon zu Beginn maßlose, im Nachgang sukzessiv gesteigerte Begehren Myrrhas noch übertrumpft. Den Endpunkt der emotionalen Klimax bilden dabei im Moment des Vollzugs nicht Liebe oder Freude, sondern Traurigkeit. Über die Emotion wird der Vollzug somit als Verlust, nicht als Gewinn evaluiert, was durch den Zusatz nit unbillich (V. 871; „nicht zu Unrecht“) in einer doppelten Negation als erfüllte Emotionsnorm dargestellt wird. Damit hat sich, wie noch einmal zu betonen ist, die in der Erzählung geschürte Haltung zur Heldin eklatant gewandelt. Für Ovids Myrrha zeigt Nagle, wie die anfängliche Abwehrhaltung des Erzählers der Heldin gegenüber Schritt für Schritt in einen
Bolte, Vorwort, S. XXf. Vgl. ebd., S. XXf.; Ebenbauer/Kern, Lexikon, S. 410. BMZ 2, Sp. 305b. Vgl. BMZ 1, Sp. 1002a. Vgl. hierzu a. Ebenbauer/Kern, Lexikon, S. 410. „[…], die bewirkten, dass Myrrha außerordentlich traurig war.“
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sympathetisch-mitleidenden Bezug gewendet wird.¹⁹¹ Bei Wickram wird diese Rezeptionslenkung maßgeblich über die Darstellung und Transformation von Myrrha zugeschriebenen Emotionen vollzogen. Die eingangs verurteilte Liebe Myrrhas wird in Scham, Schande, Trauer und Furcht überführt, die zunächst ambivalent sind und auch Freude beinhalten, sich im Moment des Vollzugs aber zu Schrecken, Furcht und Trauer verdichten, was eine negative Haltung zur Inzestthematik beibehält, aber zugleich eine positivere Haltung zur Figur begünstigt. Dies wird umso deutlicher, als Cynaras Myrrha auffordert, [b]iß froelich tochter ¹⁹² (V. 873). Die Aufforderung zur Freude steht konträr zu Myrrhas gegebener Trauer und Furcht sowie zu dem Glück, das sich Myrrha vom Beischlaf mit dem Vater erhofft hat. Dass Cynaras Myrrha ausgerechnet beim Inzestakt als tochter anspricht, beschwört einen, wie Michèle Lowrie es für den lateinischen Prätext nennt, spezifischen „Nervenkitzel“¹⁹³ herauf. Er ist nicht ganz so ausgeprägt wie bei Ovid, der bis hierhin penibel vermeidet, dass Myrrha und Cynaras sich beim Verwandtschaftsnamen nennen, eine lang vorbereitete Spannungskurve, die nun ihren spektakulären Höhepunkt findet: „[Er] spricht, dem Alter gemäß, vielleicht mit Tochter sie an und sie ihn mit Vater, damit dem Frevel die Namen nicht fehlen‘“¹⁹⁴. Bei Wickram indes, der die verwandtschaftliche Ordnung die gesamte Erzählung hindurch bewusst hält, verliert die Ansprache als Tochter an Schärfe, was durch die Aufforderung, [b]iß froelich, gewissermaßen ausgeglichen wird. Während der ästhetische ‚Nervenkitzel‘ bei Ovid am Term ‚Vater‘ hängt, also als Sprachspiel gestaltet ist, das sein Spannungspotential aus dem Aufschub bezieht, findet er sich bei Wickram auf die Ebene textinterner Emotionen verschoben und ergibt sich aus dem Kontrast zwischen der Aufforderung des Vaters zur Freude, den antizipierten und den faktischen Emotionen Myrrhas. Zugleich offenbart die Darstellung des Inzestaktes eine signifikante Leerstelle, wie sich nun im Anschluss an die Analyse mit Rekurs auf die NyctimeneErzählung behaupten lässt. Dort nämlich wird eigens betont, dass der Vater der Tochter ihr magtum (XIII/1, 2.2, V. 1267; „ihre Jungfräulichkeit“) nimmt, was bei Myrrha überhaupt nicht zur Sprache kommt. Der Vergleich zeigt, dass das Skandalon nicht primär in der Verletzung des Hymens besteht, sondern im Verlust
Vgl. Nagle, Byblis and Myrrha, S. 312 und 314 f. „Sei fröhlich, Tochter!“ I. O. „frisson“; Lowrie, Myrrha’s Second Taboo, S. 50. forsitan aetatis quoque nomine ‚filia‘ dixit, / dixit et illa ‚pater‘, sceleri ne nomina desint; Ovid, Metamorphosen 10.467 f., S. 882 f. Vgl. hierzu a. Barkan, Gods, S. 64.
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der Keuschheit im Sinne weiblich konnotierter Tugendhaftigkeit,¹⁹⁵ die der Vollzug des Inzests bedeutet. Ihre Keuschheit aber verliert Myrrha bereits durch ihre Begehren, sie ist von vornherein unkeusch, weshalb die Entjungferung keine Rolle spielt, während sie bei Nyctimene weit über die eigentliche Defloration hinausreichend den Anlass stellt, Ansehen und Ehre auf immer zu verlieren.
7.1.4 Vertreibung und Metamorphose Myrrha, die sogleich schwanger wird, führt die nächtlichen Besuche fort, bis Cynaras schließlich seine geheimnisvolle Geliebte zu sehen trachtet. Als er seine Tochter erkennt, verschlägt es ihm vor tobheyt (XIII/2, 10.2., V. 887; „Raserei“; „Wut“; „furor“¹⁹⁶) die Sprache. Semantisch lassen sich von zorn für ira die Begriffe wuot und tobeheit für furor unterscheiden, die von einem impulsiven, schwer kontrollierbaren Handlungsdrang und Gewaltpotential im Sinne von Raserei und Wüten zeugen, wobei tobeheyt auch eine gewisse Sinnlosigkeit oder Unsinnigkeit des Unterfangens konnotiert und zum Wahnsinn tendiert.¹⁹⁷ Ovid hat an dieser Stelle dolor („Schmerz“),¹⁹⁸ der emotionstheoretisch, so Fabian Bernhardt, den „affektiven Rohstoff“ bildet, „aus dem die Emotionen sind, mit denen wir auf Verletzungen reagieren: Scham, Trauer, Empörung, Wut, Zorn oder Hass“¹⁹⁹, wobei für die Distinktion eine zentrale Rolle spiele, welchem Stellenwert die Verletzung unter normativen Gesichtspunkten zukomme. Während Ovids dolor allein passivisch auf das zugefügte Leid rekurriert, setzt Wickram mit Wut einen Ag-
Vgl. hierzu allgemein James A. Schultz: „Although female children are called ,virgins’, the stories are not interested in their virginity itself, since they ignore all the years when the virgins remained virgin, but only in the moment when that virginity attracts the interest of men“; James A. Schultz: No Girls, No Boys, No Families. On the Construction of Childhood in Texts of the German Middle Ages. In: Journal of English and Germanic Philology (1995), S. 59 – 81, hier S. 68 Vgl. Lexer 2, Sp. 1452; auch im Frühneuhochdeutschen meint toben „rasen“; Baufeld, S. 53. Zur Semantik von zorn, wuot; wüeten; tobeheit und tobesuht; vgl. Lexer 2, Sp. 1452; 3, Sp. 1004; 1150; BMZ 4, Sp. 47b; Baufeld, S. 253; Grubmüller, Historische Semantik, S. 56; Hendrikje Lehmann: liep âne zorn mac niht sîn? Vom Liebeszorn und Racheglück im Minnesang. In: Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin Baisch/Evamaria Freienhofer/Eva Lieberich, Göttingen 2014 (Aventiuren 8), S. 171– 186, hier S. 174 und 181. Vgl. Ovid, Metamorphosen 10.474, S. 382. Fabian Bernhardt: Was ist Rache? Versuch einer systematischen Bestimmung. In: Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin Baisch/Evamaria Freienhofer/Eva Lieberich, Göttingen 2014 (Aventiuren 8), S. 49 – 72, hier S. 67.
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gressionsaffekt, mit dem auf erlittenes oder empfundenes Unrecht reagiert wird, einhergehend mit dem charakteristischen Handlungsimpuls, den auslösenden Anlass zu überwinden;²⁰⁰ formt also den ‚Rohstoff‘ in eine spezifische Emotion um, die ihrerseits das Erzählsyntagma semantisiert. So tritt bei Wickram stärker das reaktive Moment als Handlungsoption mit einer ausgeprägten Macht- und Gewaltdimension hervor, Cynaras’ Wut führt zu Rachegelüsten (vgl. V. 888), die ihn das Schwert zücken lassen. Das Erzählsyntagma wird auf diesem Weg enger geknüpft. Wo Ovid nur dolor hat, der den Schwertstoß motiviert, führt die Entdeckung des Inzests bei Wickram zu Wut, die Wut zu Rache, die Rache zum Schwertstoß. Wird die Rachethematik im Eingangsteil verdunkelt, wird sie nun in ihr Recht gesetzt, wie auch Möckel konstatiert: Die Komplexität der Rache-Inszenierungen Ovids ist von Georg Wickram nicht in allen Feinheiten erkannt und aktualisiert worden. Dennoch ist Vieles in seiner Übersetzung ‚hinübergerettet‘ in einen Kontext, der die antiken Imaginationen von Rache als moralische Exempel weitgehend ihrer subtilen Vergeltungsnarrative entkleidet. Insbesondere die Ausformulierung der emotionalen Motivierung von Rache scheint ein wesentlicher Zug von Wickrams Transformation zu sein. Dort, wo Ovid ambivalent und dunkel bleibt, drängt er auf eine deutliche Kausalbegründung für Vergeltungshandlungen, wofür er auf das Ausdifferenzieren der Initialemotion zurückgreift.²⁰¹
Dabei wird mit rechen (V. 888), das semantisch den Vergeltungsgedanken transportiert,²⁰² auch eine wertende Ebene eingezogen; Cynara von einem aus Leid Handelnden bei Ovid zu einem mit Recht Handelnden bei Wickram. Der expliziert das zugrundeliegende Normgefüge in einer Marginalglosse: Cynaras als er sich vernimpt mit seiner tochter gesundigt haben / will er sie mit eynem schwert umbringen ²⁰³ (XIII/2, 10.2, Marginalglosse zu V. 889). Wut und Rache werden plausibilisiert, Cynaras ist getrieben von der Erkenntnis, gesündigt zu haben. Damit tendieren Wut und Rache durch Wickrams Zutat in die Richtung eines gottgefälligen Handelns – sie sind kein gerechter Zorn im engeren Sinne, erscheinen aber aufgrund der Sündhaftigkeit des Vergehens gerechtfertigt(er). Im Gesamtko(n)text von Wickrams Metamorphosen scheint dabei unter gendertheoretischen Gesichtspunkten bemerkenswert, dass Philomela zunächst mit Trauer und Scham auf den Inzest reagiert (vgl. XIII/1, 6.2., V. 1220; 1228; 1360; 1362 und 1367), Rache, Zorn und Wut also männlichen Protagonisten vorbehalten zu
Vgl. Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 108; 289. Möckel, Metamorphosen, S. 130 f. Vgl. Lexer 2, Sp. 359; DWB 14, Sp. 22 ff. „Cynaras möchte sie, als er hört, mit seiner Tochter gesündigt zu haben, mit einem Schwert umbringen.“
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sein scheinen. Tatsächlich aber übersteigt das sich nun anschließende Racheszenario sowohl Cynaras’ als auch Tereus’ Gewaltakt, der Philomela immerhin mit ihren Haaren an einen Baum fesselt, vergewaltigt, die Zunge herausschneidet und allein im Wald zurücklässt. Die verstummtee Philomela wirkt ihr Schicksal mit roten Seidenbuchstaben auf einen weißen Gürtel, was dem Verschwiegenen einen ästhetisierten Ort zuweist, in der Schrift offenbart sich die Wahrheit. Als Progne die Zeilen liest, eilt sie zu Philomela in den Wald. Die Szene ist dem Ammengespräch vergleichbar. Zunächst werden über nonverbale Zeichen, die in diesem Fall tatsächlich Sprache stellvertreten, extreme Emotionen zum Ausdruck gebracht: PHilomela ir gsicht hinwandt Dann sie bedrpt die schmoch unnd schandt So ir ir Schwager hat gethon Meint / die schwester hast sie davon Ir handt reicht sie ir weinend dar Vor scham stund sie gantz rosenfar (V. 1362 – 1367) Philomela wandte ihr Gesicht ab, denn sie betrübte die Schmach und Schande, die ihr ihr Schwager angetan hatte, sie dachte, die Schwester würde sie deswegen hassen, sie reichte ihr weinend die Hand, vor Scham war sie ganz rosenfarben.
Ebenso wie die Amme deutet Progne die Zeichen und wird zur Mitstreiterin ihrer Schwester (vgl. V. 1370 f.), die beiden werden als ‚Gefühlsgemeinschaft‘ inszeniert,²⁰⁴ wobei nun Rache dominant wird. In einem Monolog ergeht sich Progne in Rachegelüsten, denen einige Drastik abgewonnen wird; sie imaginiert, Tereus zu erstechen, zu vergiften, zu kastrieren, im Schlaf zu verbrennen (vgl.V. 1372– 1391). Die schließlich ausgeführte Rachehandlung übertrumpft diese Gewaltphantasien noch, sie erschlägt das eigene Kind und setzt es Tereus zum Mahl vor, der ward sein nit gewar / Das er sein bluot und fleisch do fraß ²⁰⁵ (V. 1445 f.). Zwar wird in der Philomela-Erzählung die Monströsität des Kindsmords durchaus ausgestellt (vgl. V. 1404– 1436), die Rachehandlung bleibt aber nachvollziehbar und ist dem Vergehen nach dem Inzest untergeordnet, wie die anschließende Metamorphose zeigt, die Tereus für die Vergewaltigung in einen Wiedehopf, Progne in eine Schwalbe und Philomela in eine Nachtigall verwandelt, wobei die Götter allein mit den Schwestern, nicht mit Tereus Erbarmen zeigen (vgl. V. 1469 – 1515). Indem bei Wickram auch Cynaras Rache zugeschrieben wird, wird dieser Sinnzusam-
Mitunter wird die Schwestern- auch als inzestuöse Bindung gedeutet; vgl. hierzu mit weiteren Belegen Behmenburg, Philomela, S. 77 ff. „[…], der nicht bemerkte, dass er da sein eigen Fleisch und Blut verzehrte.“
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menhang aktualisiert und semantisiert die Inzestthematik in der Myrrha-Episode intratextuell. Eine geschlechtsspezifische Segregation ist so im Gesamtzusammenhang von Wickrams Metamorphosen nicht zu beobachten, Frauen rächen den Inzest ebenso wie Männer, so dass Rache gerade in der Übereinstimmung als angemessene Reaktion auf den eklatanten Normbruch erscheint. Myrrha gelingt die Flucht vor dem Schwert des Vaters. Sie irrt die Monate ihrer Schwangerschaft in Arabien umher und landet schließlich, als die Geburt einsetzt, in Sabea. Ovid führt in der Schlussperspektive sein existentielles Thema fort, wie schon beim Selbstmordversuch ist Myrrha hin- und hergerissen „zwischen Todesfurcht und Lebensüberdruss“²⁰⁶. Sie fleht die Götter an, wegen ihrer Schande aus dem Reich der Lebenden und der Toten verbannt zu werden; ein Wunsch, der mit der Metamorphose in den Myrrhenbaum erfüllt wird. Die Gestalt des Baumes ist, wie Frederick Ahl anmerkt, im Zwischenreich von Leben und Tod angesiedelt, hat Adern, durch die Leben pulsiert, ist zugleich hart und unbelebt wie Stein; auch wird Myrrhe zum Einbalsamieren von Leichen genutzt, so dass Myrrha im Prinzip ebenfalls in der Schwebe gehalten wird zwischen Leben und Tod, ein Paradoxon aus Sein und Nicht-Sein,²⁰⁷ was, so Leonard Barkan, das unlösbare Dilemma löst.²⁰⁸ Das Konzept der Metamorphose ist dabei auf das Engste verknüpft mit Konzepten von Identität. So merkt etwa Caroline Walker Bynum an: „Metamorphis goes from one entity that is one thing to an entity that is another. […] There is […] a certain two-ness in metamorphosis; the transformation goes from being one to another.“²⁰⁹ Die Metamorphose vollzieht sich über eine Gefährdung der ursprünglichen Identität, die in einen neuen Seinszustand überführt wird, dabei jedoch rückgebunden bleibt an Physis und Verhalten. Zentrale Kategorie der Metamorphose ist der Körper (oder vielmehr: die Gestalt oder Form, wie Bynum insistiert), zentrale Form die Erzählung, der narrative Prozess, der allein von einem in den anderen Zustand überführen kann: „Metamorphosis expresses a labile world of flux and transformation, encountered through story. […] It is essentially narrative.“²¹⁰ Führte Myrrhas Begehren jenseits aller Ordnung, ist ihre Metamorphose als eine Form des Triumphs zu verstehen, eine finale Verwandlung, die Schutz, Erlösung und Rettung bietet, nicht Strafe, in der sich das Verbrechen spiegelt.²¹¹ Was aber bedeutet das für Myrrhas Meta-
and
inter mortisque metus et taedia vitae; Ovid, Metamorphosen 10.482, S. 382 f. Vgl. Ahl, Metaformations, S. 224. Vgl. Barkan, Gods, S. 65. Caroline Walker Bynum: Metamorphosis and Identity, New York 2005, S. 30; vgl. a. S. 32. Ebd., S. 29 f.; vgl. a. S. 180. Vgl. Barkan, Gods, S. 65 f.; David Gallagher: Metamorphosis. Transformations of the Body the Influence of Ovid’s Metamorphoses on Germanic Literature of the Nineteenth and
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morphose bei Wickram, bei dem die Heldin nie die Welt bis in ihre Urgründe zu erkunden gesucht hat, so dass der thematische Nexus zwischen der Frage nach Leben und Tod und der Gestalt des Myrrhenbaumes zwangsläufig verfehlt wird? In der Schlussperspektive sind die weitreichendsten Abweichungen zur Ovidschen Textgestalt zu verzeichnen, zugleich verlässt Wickram nicht den vorgezeichneten Weg. Er bleibt in der antiken Götterwelt, Myrrha betet auch hier zu den Göttern, nicht zu Gott, und obgleich sich der Erzähler mit der Anmerkung, [i]ch weyß nicht was Gotts sie erhort ²¹² (V. 915), distanziert, wird die grundsätzliche Erzähllogik beibehalten. Dabei wird im Speziellen ein Erzählelement Ovids aufgegriffen, der schreibt, „[d]em, der bekennt, ihm leiht ihr Ohr eine Gottheit“²¹³, was sich, so Möckel, vorzüglich eignet, als „Konversionsgeschichte“²¹⁴ in eine christliche Logik transferiert zu werden. Hieran anknüpfend soll im Folgenden gezeigt werden, wie diese Umdeutung primär über Emotionen vollzogen wird und sich im Sinne Bynums ebenfalls ein spezifisches, mit der Metamorphose verknüpftes Erzählsyntagma ergibt, das jedoch anderen Regeln folgt als bei Ovid. Die anstehende Geburt wird bei Wickram als Befreiung von der Bürde des Inzests bezeichnet, Myrrhas Gemütszustand aber als einer der größten Not gestaltet, die mit arbeyt („Mühe, Mühsal“²¹⁵), elendt (in der Doppelbedeutung von ‚Exil in der Fremde‘ und „not u. trübsal, elend“²¹⁶), Verdruss, Todesangst, körperlichem Schmerz, Weinen und Klage eindringlich vorgeführt wird (vgl. XIII/2, 10.2., V. 901– 910). Diese Emotionen bereiten den Boden für Myrrhas Sündenbekenntnis (vgl.V. 909 f.) und stellen den Schlüssel zur Szene bereit – auch wenn der Begriff nicht fällt, lässt sich aus ihnen das Muster der Reue rekonstruieren. Mhd. riuwe hat im Mittelalter noch eine umfassende Bedeutung von „Betrübnis, Schmerz, Kummer und Leid“ und bezeichnet sowohl dolor als „seelischer Schmerz als Reaktion auf äußere Repression“ als auch contritio cordis als „Schmerz infolge innerer Bußbereitschaft“²¹⁷. Auf dem Weg zur Frühen Neuzeit erfährt der Begriff eine Bedeutungsverengung auf den letztgenannten Bereich und meint im Rahmen der Bußlehre den „Schmerz über etwas, das man selbst getan oder unterlassen hat“²¹⁸. Bei Wickram nun ist es eben jener Schmerz, der über
Twentieth Centuries, Amsterdam, New York 2009 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 127), S. 46. „Ich weiß nicht, welcher Gott sie erhört.“ Numen confessis aliquod patet; Ovid, Metamorphosen 10.488, S. 382 f. Möckel, Metamorphosen, S. 121. Baufeld, S. 12. Lexer 1, Sp. 539; vgl. a. Baufeld, S. 66. Wolf, Vademecum medievale, S. 71. Ebd., S. 71.
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eine Vielzahl emotionaler Schattierungen und Ausdrucksformen vorgeführt wird, was Myrrhas nun folgendes Sündenbekenntnis authentisiert. Ihr ultimatives Gebet wird christlich umgedeutet. Myrrha bittet die Götter nicht um Strafe oder Verwandlung, sondern darum, dass sich die mackel (V. 913; „die Befleckung“) nicht auf ihr Kind übertrage (vgl. V. 911– 914). Das Gebet wird neu konzipiert und auf den Zusammenhang umgeleitet, dass Sünde vererbbar ist, was konnotativ das Thema der Erbsünde aufruft. Ob sich dieser Wunsch erfüllt, bleibt dahingestellt, Wickram fährt regulär mit der Adonis-Geschichte fort. Das Thema wird nicht noch einmal aufgegriffen, es ließe sich aber anhand einiger Textindizien, die Adonis’ Schönheit und Beliebtheit hervorstellen (vgl. V. 955 f.; 960; 964 f.), behaupten, dass Myrrhas Sünde sich nicht auf ihn überträgt. Vor allem aber wird das Gebet durch die inhaltliche Veränderungen bei Wickram von der Verwandlung entkoppelt, was den dargebotenen Sinnzusammenhang verschiebt, ist die Verwandlung doch jetzt nicht mehr Konsequenz ihres Wunsches. Myrrhas Metamorphose wird minutiös geschildert, ihre Füße werden zu Wurzeln, Rinde zieht den Körper hinauf, alle Vernunft weicht aus ihr, sie verliert das Bewusstsein (vgl. V. 916 – 938). Indem an dieser Stelle die Begriffe vernunfft (V. 932) und sinn (V. 933) erneut fallen, wird ein Bogen gespannt zum Beginn der Erzählung, der Myrrhas Vernunft- und Verstandeslosigkeit anprangert; mit dem sinn der sinnloßen weicht der Quell allen Übels. Anders als die eingangs mit Nachdruck negativ bewertete Myrrha wird der Myrrhenbaum mit positiven Eigenschaften versehen, er ist dünn / lauter und schoen (V. 935), von ihm geht ein edler Geruch aus (vgl. V. 938). Eines aber ist von Myrrha im Myrrhenbaum noch erhalten: Emotionen. Selbst als das Bewusstsein aus Myrrha weicht, weint der Baum (934; 951), er kann nicht schreien (vgl. V. 924), hat aber schmertzen und arbeyt (V. 945; „Schmerzen und Mühsal“), empfindet Leid und Not (vgl. V. 946 f.; 951). Dieses Erzählelement hat zwar schon Ovid,²¹⁹ prägt jedoch bei Wickram, der die gesamte Erzählung hindurch Emotionen fokussiert, das Erzählsyntagma nachhaltiger und ist, wie retrospektiv deutlich wird, das Moment, das Kontinuität in der Verwandlung bewahrt. Was der Verwandlung anheimfällt, ist Myrrhas (Un‐)Verstand und damit die Voraussetzung ihrer falschen Liebe. Dies sind die Endpunkte des Erzählsyntagmas, wie Wickram es fasst, die Eckpfosten der Metamorphose. In diesem Sinne ist sie auch bei Wickram als Rettung und Erlösung zu verstehen, Myrrha ist vom Laster ihrer Liebe befreit, doch im (Sünden‐)Schmerz noch sie selbst. Diese Lesart wird durch eine strukturelle Besonderheit der Wickramschen Metamorphosen gestützt. Der Holzschnitt zur Myrrha-Episode ist der einzige im
Vgl. hierzu Pampinella-Cropper, Incestuous Passion, S. 90.
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gesamten Werk, der doppelt abgedruckt ist (vgl. XIII/2, Ill. 10.2, S. 577),²²⁰ den Rezipierenden also sozusagen gleich zweimal ‚ins Auge sticht‘. Er lohnt eines zweiten Blickes, denn obwohl Wickrams Illustrationen grob und einfach gehalten sind,²²¹ kommen in ihnen Emotionen zum Ausdruck, hauptsächlich, so Evamaria Blattner, in der Gestik der Figuren, seltener auch in ihrer Mimik.²²² Den MyrrhaHolzschnitt tragen beide Darstellungsmodi. So deuten bei Myrrha „der zurückgewandte Blick mit den vor das Gesicht gehaltenen Händen […] auf ihren Schrecken“²²³; Cynaras’ Wut und Rache werden am augenfälligsten durch den Fußtritt und das gegen die Tochter erhobene Schwert visualisiert, ein, so Möckel, „Sinnbild gedrängter Aktion“²²⁴, das dynamische Gewalt fixiere und sich als Rache- und Vergeltungsakt dechriffrieren lasse. Emotionen zeigen sich zudem im Gesichtsausdruck. Auf Cynaras’ Stirn kräuseln sich tiefe Furchen, die als Zornesfalten gelesen werden können. Auch bei Myrrha kann die Darstellung ihres Gesichtes über typische Signale wie die nach unten gezogenen Mundwinkel, den gesenkten Blick, die leicht verengten Augen und die angehobenen Wangen als Ausdruck von Trauer und Verzweiflung decodiert werden, selbst die sogenannte Nasolabialfalte zwischen Mundwinkel und Nasenflügel ist gut zu erkennen.²²⁵ Indem Cynaras’ Kopf leicht nach hinten, Myrrhas nach unten geneigt ist, zeigt sich zudem in der hierarchisierten Bewegung eine dynamische Folge von Cynaras’ Wut und Myrrhas Verzweiflung. Obwohl die Schwangerschaft im linken Bildteil mit Myrrhas Kugelbauchs Kontur gewinnt, zeichnet sie sich bei der Verwandlung im rechten Bildteil nicht am Baum ab. Dennoch ist er, so Stadlober, „deutlich anthropomorphisiert: Er besitzt menschliche Körperformen und ein lächelndes weibliches Gesicht, das Freude über die Geburt vermittelt.“²²⁶ Über die Mimik wird so ein Kontrast zwischen den beiden Bildteilen hergestellt, Trauer und Verzweiflung im linken Bildteil werden Erleichterung und Freude im rechten gegenübergestellt. Damit gibt das Bild eine Ergänzung zur Narration. Dominieren dort
Vgl. Roloff, Nachwort, S. 889 ff.; Rücker, Bearbeitung, S. 253; Blattner, Holzschnittfolgen, S. 199. Was ihnen in der älteren, um Wertung bemühten Forschung teils niederschmetternde Stilurteile einbringt; vgl. etwa Bartsch, Albrecht, S. CXXXIII; Max Dittmar Henkel: Illustrierte Ausgaben von Ovids Metamorphosen im XV., XVI. und XII. Jahrhundert. In: Warburg Vorträge 6 (1926/1927), S. 58 – 144, hier S. 105. Vgl. Blattner, Holzschnittfolgen, S. 103. Ebd., S. 103. Möckel, Metamorphosen, S. 125. Zum typischen Gesichtsausdruck von Trauer und Verzweiflung vgl. Ekman, Gefühle lesen, S. 135 f. und 148 f. Stadlober, Wald, S. 143.
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Schmerz und Mühsal, tritt nun Freude hinzu, was ein additives Deutungselement bereitstellt und die Metamorphose positiv evaluiert. Gestützt wird damit die These, dass Wickram Myrrhas Verwandlung als Rettung und Erlösung versteht. Dabei ist die konkrete Strukturposition des Zweitabdrucks aufschlussreich. Er findet sich ausgerechnet unmittelbar bei Geburt und Verwandlung inseriert, so dass in unmittelbarer Textnachbarschaft eine visuelle Deutung der Metamorphose als Anlass von Freude beigestellt ist. Ob es sich hierbei um einen Setzfehler oder eine beabsichtigte Dopplung handelt, ist retrospektiv nicht zu entscheiden, als Effekt aber stellt sich eine besondere Betonung der Illustration ein, da sie die Erzählung nicht nur ein-, sondern auch Myrrhas finale Verwandlung begleitet. Im Gesamtzusammenhang von Wickrams Metamorphosen ist dabei auffällig, dass die Inzestthematik im Bild weitläufig visuell tabuisiert wird,²²⁷ der Myrrha-Holzschnitt deutet sie im Vergleich noch am ehesten an (auch wenn nicht der Akt, nur die Folgen ins Bild gesetzt sind), was einmal mehr bemerkenswert macht, dass ausgerechnet er doppelt abgedruckt ist. Doch sind damit die Paratexte, die der Myrrha-Erzählung beigestellt sind, noch nicht erschöpfend analysiert. Mit Lorichius’ Auslegungen, auf die nun zu sprechen zu kommen ist, wird Wickrams Reigen eine weitere Stimme hinzugefügt.
7.1.5 Gerhard Lorichius’ Auslegungen Das die Myrrha-Erzählung enthaltende zehnte Buch der Metamorphosen ist im Schöffer-Druck von einer strukturellen Unregelmäßigkeit geprägt. Während bei der dritten Figur Lorichius’ Auslegung fehlt, wird die erste gleich von zwei Kommentaren begleitet,²²⁸ so dass die zweite, die hier interessierende MyrrhaFigur, bereits im Vorfeld von Lorichius ausgedeutet wird. ‚Ausgedeutet‘ charakterisiert die Auslegung allerdings nur unzureichend, vielmehr redupliziert Lorichius nicht nur die genealogische Überleitung von der Pygmalion-Episode (vgl. XIII/2, Ausl. 10.1b, S. 563, Z. 5), er nimmt im Prinzip die gesamte histoire vorweg.
Die Nyctimene-Geschichte ist aufgrund ihrer Kürze gar nicht illustriert, der Holzschnitt zur Philomela-Episode konzentriert sich auf die Gewaltakte und damit ebenso wie der MyrrhaHolzschnitt auf die verheerenden Folgen des Inzests, die Vergewaltigung aber ist optisch nicht zu erahnen; vgl. XIII/1, Ill. 6.3, S. 368. Der Biblis-Holzschnitt visualisiert zwar die zentralen Schritte im Erzählsyntagma, das Bild entbehrt jedoch jeder Erotik, die Inzestthematik ist ohne den Text nicht zu erschließen; vgl. XIII/2, Ill. 9.3, S. 525. Im Folgenden mit Rücker als Ausl. 10.1a und Ausl. 10.1b unterschieden; vgl. Rücker, Bearbeitung, S. 250.
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Lorichius verfährt zunächst primär narrativ: Myrrha / darnach so ir mutter verschieden was / hat wunder grossen lust bekommen bei irem vatter zu schlaffen ²²⁹ (Z. 5 ff.). Der Tod der Mutter findet sich weder bei Ovid noch bei Wickram formuliert. Das Motiv stellt ein typisches Element mittelalterlicher Inzesterzählungen dar, so dass Lorichius’ Inserat nahelegt, dass es sich um ein etabliertes Denkmuster handeln könnte.²³⁰ Das inzestuöse Begehren Myrrhas wird nicht als liebe, sondern als lust gefasst, das im Frühneuhochdeutschen „Begierde“ und „Wollust“²³¹ bedeutet und bei Lorichius als wunder gross hyperdimensionalisiert wird. Die Bezeichnungspraxis erhält in Lorichius’ Parallelerzählung geschlechtsspezifische Schlagkraft, die Amme schleust Myrrha als metze (vgl. Z. 8; „Hure“) ins Bett des Vaters; weil Myrrha nit was zu settigen (Z. 9; „nicht genug bekam“), wird sie schließlich vom Vater entdeckt – Lorichius fährt einschlägige Klischees auf, die das Stereotyp der unersättlichen, von Begierde getriebenen Frau bedienen. Dieses Stereotyp wird von Lorichius auf das gesamte weibliche Geschlecht hin generalisiert, wenn er anmerkt, [a]ber nit unbillich hat eyn jeder bider mann eyn schewens und grewel ob der weiber unzucht und unsetlicher bser begir ²³² (Z. 17 f.). Performativ wird eine Gemeinschaft ehrenwerter Männer konstituiert, was Appellfunktion entfaltet – wer unter den Rezipienten möchte sich schon zu den Ehrlosen rechnen? So sieht sich der rechtschaffene bider mann gefordert, konfrontiert mit weiblicher Unzucht konkret eyn schewens und grewel zu haben, die zudem durch die doppelte Negation nit unbillich („nicht zu Unrecht“) als Emotionsnormen verbindlich gemacht werden. Sie lohnen eines genauen Blicks. Schewen ist, gleichbedeutend mit der im heutigen Sprachgebrauch nur noch feminin verwendeten „Scheu“, ein im 16. Jahrhundert noch gebräuchliches Maskulinum, das allgemein Furcht als „angst vor einer wirklichen oder vermeintlichen gefahr oder strafe“ meint, im Speziellen auch die Furcht davor, „die religion, moral, sitte, anstand und überhaupt irgend etwas, das als heilig, ehrfurcht gebietend, unantastbar gilt, zu verletzen, wie gottesfurcht, ehrfurcht, scham“²³³. Grewel bezeichnet „gegenstand und empfindung des grauens“ und findet näherhin etwa „in der bibelsprache von levitisch unreinen dingen“ Verwendung, also „sexuell gewendet: […] widernatürlicher unzucht […] (blutschan-
„Myrrha bekam, nachdem ihre Mytter verstorben war, eine unbegreifliche Lust mit ihrem Vater zu schlafen.“ Siehe hierzu den Forschungsüberblick in Kap. 2.3. Baufeld, S. 163. „Aber nicht zu Unrecht hat jeder ehrenhafte Mann Scheu und Grauen vor der Unzucht der Frauen und unersättlicher böser Begierde der Frauen“. DWB 14, Sp. 2604 f.
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de, sodomie u. s.w.)“²³⁴. Manifest wird eine religiös aufgeladene Redeweise, die Furcht vor Unreinheit und Befleckung schürt, was Überschneidungen zum kirchlichen Inzestdiskurs offenbart.²³⁵ Doch lässt sich eine weitere Emotion ins Spiel bringen: Ekel. So meint schewen bereits im 16. Jahrhundert ebenso „Ekel“ und „Widerwille“, gerade das von Lorichius verwendete Maskulinum erhält sich bis heute im Kompositum „Abscheu“.²³⁶ Auch grewel semantisiert, insbesondere in der vorliegenden Wendung grewel haben, „Abscheu“ im Sinne von lat. abominato; horror; aber auch fastidium;²³⁷ das grauen, auf das er zielt, trägt bei den Lexikographen des 16. Jahrhunderts „vorwiegend die bedeutung ‚abscheu, ekel‘“²³⁸. So finden sich gleich zwei Begriffe aufgerufen, die Ekel semantisieren. Emotionsthereotisch zeichnet sich Ekel durch einen starken Körperbezug aus, der dort relevant wird, „wo aus der Perspektive dessen, der sich ekelt, Grenzüberschreitungen stattfinden bzw. Grenzen verletzt werden“²³⁹, wobei mit Aurel Kolnai zwischen physisch und moralisch Ekelhaftem unterschieden werden kann.²⁴⁰ Die Psychoanalyse geht davon aus, dass Ekel eine ursprüngliche Lust voraussetzt, „[u]nzweifelhaft steckt im Anekeln als Teilelement auch ein gewisses Einladen, ein ich möchte sagen makabres ‚Anlocken‘.“²⁴¹ Ekel ist also von einer spezifischen Ambivalenz geprägt, wie sie auch dem Inzesttabu inhärent ist.²⁴² Das Ekelhafte, so Íngrid Vendrell Ferran, „wird zurückgestoßen, verborgen, entfernt und in die Distanz gebracht und doch gleichzeitig bejaht“²⁴³; der Gegenstand des Ekels, so Kolnai, hat „ebenso einen Hang zum Versteckten, Verborgenen, Mehrschichtigen, Undurchdringlichen und Unheimlichen […], wie andererseits zu Schamlosigkeit, Aufdringlichkeit und Anlockung der Versuchung.“²⁴⁴ Vor diesem Hintergrund sind für Ekel mit Winfried Menninghaus drei elementare Merkmale
DWB 9, Sp. 204; 207 und 212. Siehe hierzu ausführlich Kap. 2.1. und 2.2. Vgl. DWB 14, Sp. 2604 f. Vgl. DWB 9, Sp. 221. DWB 8, Sp. 2134. Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 95; vgl. a. S. 94 ff. Vgl. a. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 1999, S. 7 und 13. Vgl. Aurel Kolnai: Ekel, Hochmut, Hass. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt a. M. 2007 (stw 1845), S. 29 – 47. Ebd., S. 19. Nach Freud haben „Scham, Ekel, Grauen, Schmerz“ die Funktion, den „Trieb innerhalb der als normal geltenden Schranken zu bannen“; Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Leipzig, Wien 1925, S. 34; ein „Widerstand der Libido“; ebd., S. 32. Zu ‚Inzestekel‘ als ‚Überdrußekel‘ vgl. Kolnai, Ekel, S. 40. Zur Ambivalenz von Ekel vgl. S. 20. Íngrid Vendrell Ferran: Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie, Berlin 2009 (Philosophische Anthropologie 6), S. 233; vgl. a. S. 158 und 234. Kolnai, Ekel, S. 23.
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anzunehmen, „die heftige Abwehr (1) einer physischen Präsenz bzw. eines uns nahe angehenden Phänomens (2), von dem in unterschiedlichen Graden zugleich eine unterbewußte Attraktion bis offene Faszination ausgehen kann (3)“²⁴⁵, was insbesondere für Ekelempfindungen in der ästhetischen Distanz gilt. Es wäre historisch schief, Ekel im modernen Sinn eins zu eins auf den frühneuhochdeutschen Text zu applizieren. Die biblische Redeweise setzt in erster Linie auf Furcht und Schrecken, eine Bedeutungsdimension, die bei dem Geistlichen Lorichius dominiert (vgl. a. XIII/2, Ausl. 10.1a, S. 549, Z. 20). Der entscheidende Unterschied zwischen den eng verwandten Emotionen Ekel und Furcht (respektive Angst, die Kolnai als Oberbegriff setzt) liegt darin, dass Ekel sich ohne Ansehen der eigenen Person auf etwas kategorial Ekelhaftes richtet und dass in ihm eine Faszinationskraft erhalten bleibt, die der Angst, die auch die eigene Person intendiert, mit ihrem ausgeprägten Fluchtimpuls abgeht.²⁴⁶ Nun erfüllt aber Lorichius’ Aufforderung an die Rezipienten genau dieses Differenzkriterium. Indem allein Männer angesprochen und Handlungen von Frauen als Objekt der Emotion gesetzt werden, richtet sie sich ausschließlich auf ein externes Objekt – Männer müssen Unzucht nicht bei sich selbst fürchten, nur bei Frauen verabscheuen. Die Emotionsnorm dient nicht wie im Fall von Furcht und Schrecken der direkten Handlungsvermeidung, installiert wird vielmehr eine Geschlechterordnung, in der sich ein Gefühlsregime der Abscheu abzeichnet, das Männer als fühlendes Subjekt und Frauen als Objekt der Emotion setzt. Mit Blick auf den (männlichen) Ekel ob der (weiblichen) Unreinheit hat diese Geschlechterordnung Tradition.²⁴⁷ So ließe sich gegebenenfalls mit dem Konzept der sprachlichen Hypo- und Hyperkognition argumentieren, das darauf abstellt, dass Emotionen in einigen Kulturen sprachlich ausdifferenziert, in anderen unterrepräsentiert sein können.²⁴⁸ Der Begriff ‚Ekel‘ selbst blickt nämlich auf eine vergleichsweise kurze Wortgeschichte zurück,²⁴⁹ die Verbform erken/erkelen (z.T. a.:
Menninghaus, Ekel, S. 13 f.; für Folgendes vgl. bes. S. 39 – 75. Vgl. Kolnai, Ekel, S. 13 – 20; vgl. hierzu a. Íngrid Vendrell Ferran: Zwischen Phänomenologie und analytischer Philosophie. Aurel Kolnai. In: Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie. Hrsg. von Bruno Accarino/Matthias Schlossberger, Berlin 2008 (Internationales Jahrbuch für philosophische Anthropologie 1), S. 285 – 295, hier S. 288. Vgl. Menninghaus, Ekel, S. 151– 159. Zum misogynen Aspekt ekelerregender Darstellungen in der mittelhochdeutschen Literatur am Beispiel des vetula-Topos vgl. Rüdiger Schnell: Ekel und Emotionsforschung. Mediävistische Überlegungen zur Aisthetik des Hässlichen. In: DVjs 79 (2005), S. 359 – 432, hier S. 407 f. Vgl. hierzu Röttger-Rössler, Emotion, S. 150 ff. Siehe hierzu ausführlich Kap. 4.2.1. So vermerkt Grimm im 19. Jahrhundert, Ekel sei „eins der auffallendsten wörter unserer sprache, heute feststehend und […] zu feinen unterscheidungen ausgeprägt, war es ehmals un-
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eken/ekelen: „Abscheu haben“²⁵⁰) ist ab dem 15., vermehrt erst im 16. Jahrhundert belegt,²⁵¹ das Adjektiv erklich („zuwider“²⁵²; „ekelhaft, leidig“²⁵³) findet sich zwar im Mittelhochdeutschen, ist aber ausgesprochen selten.²⁵⁴ Doch listet Schnell in seiner Auseinandersetzung mit Ekel in der mittelalterlichen Literatur eine ganze Reihe an Begriffen, die im Mittelhochdeutschen stellvertretend für ‚Ekel‘, ‚ekelhaft‘ und ‚sich ekeln‘ stehen können, und weist anhand diverser Beispiele aus geistlicher und weltlicher Literatur emotionale Grundelemente von ‚Ekel‘ nach, die zum Teil mit Vermeidungsstrategien, zum Teil aber auch mit ästhetischen Wirkstrategien einhergehen, Lust an der Darstellung von eigentlich Ekelhaftem zu erzeugen.²⁵⁵ Auch kann, obgleich Ekel als ästhetische Emotion erst in den letzten 250 Jahren Konjunktur erfährt, mit Menninghaus gelten: „Literarische Texte haben schon seit der Antike […] ekelhafte Phänomene evoziert“, wobei für das Mittelalter anzunehmen sei, dass sie der „‚moralischen und sozialen Ökonomie von Scham und Ehre untergeordnet‘ [sind].“²⁵⁶ Ohne historische Differenzen aus dem Blick verlieren zu wollen, die hier auf vielfältige Weise ineinandergreifen, lässt sich vor diesem Hintergrund die These aufstellen, dass Ekel sowohl auf textinterner als auch auf textexterner Ebene durch Lorichius’ Zeilen hindurchscheint, zumal begrifflich der angesprochene bider mann im Frühneuchdeutschen einen gesellschaftlichen Ehrbegriff impliziert.²⁵⁷ Der Doppelformel von männlicher Abscheu gegenüber weiblicher Unzucht wohnt eine ekelspezifische Faszinationskraft mit ihrer ausgeprägten Sensorik inne, ein Schaudern aus der Distanz, das sich auf einen Normverstoß außerhalb der eigenen Person bezieht und doch tief verankert im eigenen Leib wirkt und den Körper schüttelt. Hier gilt auf ‚moralischer‘ (also: normativer) Ebene, was Schnell über Darstellungen von physisch Ekelhaften in der Literatur
erhört, tritt auch in den übrigen deutschen sprachen fast nirgends auf“; DWB 3, Sp. 394. Zur Geschichte als ästhetischer Begriff vgl. Menninghaus, Ekel, S. 39 f. In genuin mediävistischer Perspektive vgl. Schnell, Ekel, S. 374 f. Kluge, S. 237. Vgl. DWB 3, Sp. 394. Kluge, S. 237. Lexer 1, Sp. 643. Vgl. DWB 3, Sp. 394. Vgl. Schnell, Ekel; Ders.: Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik. In: FMSt 39 (2008), S. 1– 100, hier bes. S. 75 f. und 96 f. Menninghaus, Ekel, S. 10. Vgl. Baufeld, S. 34; DWB 1, Sp. 1810 ff. Zu ständischen Dimensionierungen von Ekel für die mittelalterliche adlige Gesellschaft vgl. Schnell, Ekel, S. 374; 381 und 428 – 432.
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konstatiert: „Ekel bedeutet Ausgrenzung, Abstoßen, Fliehen und impliziert doch heimliches Genießen und Hereinholen des Verdrängten“²⁵⁸. Dass die Inzestthematik bei Lorichius mit Ekel, aber auch einer gewissen Lust korreliert, lässt sich am Beispiel seiner Auslegung der Philomela-Episode grundieren. Um Tereus zu diffamieren, bedient sich Lorichius exzessiv der sprechenden Sprache der Exkremente: der Widhop eyn unreyner vogel ist / der inn sein eygen neste scheist ²⁵⁹ (XIII/1, Ausl. 6.3, S. 382, Z. 14); Wie nun dieser Tereus sein eygen schwgerin und haußfrawe geschendt hat / můß er nun inn seinem eygenen quadt sitzen ²⁶⁰ (Z. 21 f.); auch bei Isidor finde man zu lesen, dass der Wiedehopf sein Nest gerne mit menschlichem Kot baue (vgl. Z. 26 f.). Bei Lorichius werden, so Möckel, „Vogelkunde und Normative sexuellen Sozialverhaltens […] aneinander gesteigert.“²⁶¹ Dabei wird die Allegorese auch mit Emotionen verknüpft, der Wiedehopf bringe den Menschen nur Kummer und Leid (vgl. S. 382, Z. 24; Wiederholung Z. 26). Vor allem aber stellt die skatologische Redeweise einen potentiellen Rezeptions-Stimulus für Ekel auf textexterner Ebene dar, da das Motiv menschlicher Ausscheidungen par excellence als Objekt für physischen, körpernahen Ekel gilt.²⁶² Es geht hier nicht allein darum, Normative zu entwerfen. Lorichius entfaltet die Kot-Motivik ostentativ, ja geradezu mit Genuss. „Unzweifelhaft“ spricht aus seinen Worten, um noch einmal Kolnai zu zitieren, auch ein „makabres ‚Anlocken‘.“²⁶³ Da Lorichius die zitierten Textpassagen nicht direkt aus Quellen übernimmt, sondern in seiner Auseinandersetzung mit den überlieferten Stoffen anführt, ließe sich sogar noch einen Schritt weitergehen und eine Rezeptions-Spur behaupten – konfrontiert mit dem Inzest der antiken Helden, ekelt sich der Geistliche. Die in der Auslegung zur Myrrha-Episode installierte, mit Ekel verknüpfte Geschlechterordnung wird dabei im Fortgang zunächst weiter verfestigt. Vorzügliches Attribut der Frauen wird ihre Unersättlichkeit: Es sein drei unsetlicher ding /
Ebd., S. 432. „Der Wiedehopf ist ein unreiner Vogel, der in sein eigenes Nest scheißt.“ „So wie dieser Tereus Schande über seine eigene Schwägerin und Ehefrau gebracht hat, so muss er jetzt in seinem eigenen Kot sitzen.“ Möckel, Metamorphosen, S. 127. Vgl. zu Exkrementen als Ekelobjekten bei Kant, Freud und Kolnai im Überblick Menninghaus, Ekel, S. 30; 82– 88 und 315 – 322. Für die mittelhochdeutsche Literatur vgl. Schnell, Ekel, S. 398 und 428. Vgl. daneben a. Veltens Analyse zum Kot-Motiv im Neidhartspiel, bei der er insistiert, dass die handlungsintern inszenierten Ekelgesten „durch ihre intensive Präsenz gekennzeichnet sind. Emotionen können so als körperliche Interaktionen zwischen den Akteuren untereinander begriffen werden, an denen die Zuschauer jedoch ebenso teilhaben“; Velten, Ekel, S. 218. Kolnai, Ekel, S. 19.
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als nemlich die Hell / die weibliche scheme / und die Erde / das viert ist das fewer / so nimmer sagt „hr auff“ ²⁶⁴ (XIII/2, Ausl. 10.1b, S. 563, Z. 19 ff.). Im Anschluss an diesen misogynen Kahlschlag allerdings unternimmt Lorichius eine zielgerichtete Ehrenrettung des weiblichen Geschlechts. Unter der Fragestellung Soll umb vil bser willen das gantz frewlich geschlecht verhaßt werden / als das keyn fromm sei? ²⁶⁵ (Z. 21 f.), diskutiert Lorichius die Vorteile der Ehe. Dem in der Frage anklingenden Hass wird die Furcht vor Gott als Emotionsnorm entgegengestellt (vgl. Z. 26). Wer Gott dient, dem schenkt er ein ehrlichs weib (Z. 27 f.: „eine ehrliche Frau“), was als Gegenmodell zu den bisher aufgerufenen Eigenschaften von Frauen steht. Es ist das Sacrament der heyligen Ehe (Z. 36), das bei Lorichius als eyn heilsam artznei (Z. 37: „eine heilsame Medizin“) wirkt und hier wie an anderen Stellen im „Zentrum seiner kurativen Verve“²⁶⁶ steht (vgl. a. Z. 38 – S. 564, Z. 20). Nachdem jetzt das weibliche Geschlecht Platz und Funktion in der göttlichen Ordnung erhalten hat, wird auch Myrrha in christlichem Licht positiviert. Schon in seiner Inhaltszusammenfassung deutet Lorichius an, Myrrha sei, da sie ihre Sünde gebeichtet habe, die Gnade der Götter zuteil geworden (vgl. S. 563, Z. 12 f.). Ihre Metamorphose legt er als christliches Exempel aus, Myrrha hat genad bey den Gtten bekommen durch ir bekentnuß und Beicht […]. Gott verleßt di nit / so in rew ire sünde bekennen ²⁶⁷ (S. 564, Z. 21 ff.). Ihr Sündenbekenntnis wird durch Reue authentifiziert, die nicht wie bei Wickram in ‚gefühlsmäßigen‘ Parametern inszeniert, sondern in den Dienst der christlichen Lehre gestellt wird, wenn es heißt, die Macht göttlicher Gnade übersteige jede Sünde. Zugleich wird textextern ein sympathetischer Bezug zur Figur angestrebt, ebenso wie der Sünderin Maria Magdalena gebühren Myrrha Ruhm und Ehrerbietung (vgl. Z. 24– 27). Dabei lässt sich die Inzestthematik in Lorichius’ Normhierarchie klar verorten. Ihr Platz ist durch vorangegangene Kommentare noch vor der Myrrha-Episode voll etabliert. Inzest wird explizit als incestus bezeichnet, also bei seinem lateinischen Fachausdruck benannt (vgl. etwa XIII/1, Ausl. 6.3, S. 382, Z. 16; XII/2, Ausl. 9.3., S. 539, Z. 14; 25; 29 und Ausl. 10.1a, S. 539, Z. 22),²⁶⁸ ein Alleinstel-
„Es existieren drei Dinge, die unersättlich sind, nämlich die Hölle, das weibliche Geschlecht und die Erde, das vierte ist das Feuer, das niemals sagt: ‚Hör auf‘.“ „Soll wegen des sehr bösen Verlangens das ganze Frauengeschlecht verhasst sein, als ob keine rechtschaffen sei?“ Möckel, Metamorphosen, S. 129. Zur Ehe als Normzentrum bei Lorichius vgl. a. Sieber, Transgressionen, S. 149. „[…] Gnade von den Göttern erhalten wegen ihres Bekenntnisses und ihrer Beichte […]. Gott verlässt jene nicht, die ihm in Reue ihre Sünde bekennen“. Vgl. hierzu a. Möckel, Metamorphosen, S. 129. Vgl. a. Behmenburg, Dieweil ir swester, S. 146.
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lungsmerkmal im Korpus der vorliegenden Studie. Lorichius verwendet den Begriff in der Regel als terminus technicus und setzt jeweils die lateinische Form in Kapitälchen mit einer kurzen volkssprachigen Erläuterung, dass der Beischlaf unter Verwandten gemeint sei. Im Anschluss an die Orpheus/Eurydike-Episode geißelt Lorichius in einem „misogynen Rundumschlag sexuelle Lasterhaftigkeit“²⁶⁹ und kommt auf die Sünden wider die Natur zu sprechen (vgl. XIII/2, Ausl. 10.1a, S. 549, Z. 15 – S. 550, Z. 23). Zu ihnen zählt er den Inzest, der jedoch weniger schwer wiege als Sodomie (vgl. S. 549, Z. 20 – 26), letztere sei warlich grausamer (Z. 20 f.), da sie stärker gegen die Schöpfungsordnung verstoße.²⁷⁰ Sodomie, hier als Homosexualität verstanden, wird mit dem Heidentum assoziiert (vgl. Z. 27), während sie im Christentum keinen Ort habe, selbst der Teufel wäre ob disem ubel entsetz (Z. 31). An ihm, dem Teufel (!), sollen sich die Menschen ein emotionales Vorbild nehmen und sich ebenfalls über Sodomie entsetzen (vgl. Z. 31– 34). Im schwarzen Herzen der Sünden wider die Natur aber sitzt die Verweigerung von Zeugung und Fortpflanzung (vgl. S. 550, Z. 11– 23). Als Folie für seine Hierarchie verbotener Lüste dienen Lorichius die Naturgesetze, für die er eine ganze Reihe an Autoritäten listet, was ihn, wie Helmut Puff darlegt, in die Lage versetzt, die Geschichte von Orpheus zu einem Spiegel der christlichen Seele zu machen; der Knaben liebende Orpheus wird vom Ur-Vater der Sodomiten zum Emblem für Sünden wider die Natur umgedeutet, die homosexuelle Handlung hinter der Abkehr vom weiblichen Geschlecht versteckt.²⁷¹ Letztlich ist, wie auch Möckel feststellt, dieser „asketische Rückzug […] der eigentliche Skandal der paganen Exempelgeschichte“²⁷². Dass die Inzestthematik innerhalb dieser Normhierarchie eher im mittleren Bereich angesiedelt ist, bedeutet jedoch nicht, dass die Schwere des Vergehens zu vernachlässigen wäre. In seiner Auslegung der Philomela-Episode setzt Lorichius Inzest äquivalent zu ketzerei (XIII/1, Ausl. 6.3, S. 382, Z. 16; vgl. a. Z. 18).²⁷³ Ketzer amalgamiert im Frühneuhochdeutschen zwei Bedeutungsbereiche, Gotteslästerung, Häresie und den Hang zum falschen Glauben auf der einen sowie Sodomie und Wollust auf der anderen Seite.²⁷⁴ Bei Lorichius werden beide Bedeutungs-
Möckel, Metamorphosen, S. 129. An dieser Stelle findet sich ein kurzer Verweis auf Lot (vgl. XIII/2, Ausl. 10.1a, S. 549, Z. 24 ff.), der insofern bemerkenswert ist, als er nur auf das Angebot Lots Bezug nimmt, seine Töchter den Sodomitern zu übergeben, um Sodomie zu vermeiden, während sein Inzest Leerstelle bleibt. Vgl. Puff, Sodomy, S. 73. Möckel, Metamorphosen, S. 129. Vgl hierzu a. Behmenburg, Philomela, S. 183. Vgl. FWB 8, Sp. 838 f.
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bereiche profiliert, er kommt über Inzest und Ketzerei allgemein auf sexuelle und moralische Verfehlungen zu sprechen (vgl. S. 382, Z. 38-S. 383, Z. 22).²⁷⁵ Im Rahmen der Byblis/Caunus-Episode zementiert Lorichius noch einmal die bereits eingeführten Deutungskategorien. Der Inzest wird als Ketzerei (vgl. XIII/2, Ausl. 9.3, S. 539, Z. 28 ff.) und laster (Z. 5 und 14; „Schmach, Schande“²⁷⁶) bezeichnet, als grausam und schrecklich deklariert (vgl. Z. 5 und 17). Nicht allein die Bibel verdamme ihn (vgl. Z. 17), selbst die Natur ist darob entsetzet (Z. 17 f.). Wenn aber nicht nur der Teufel, sondern auch die Schöpfung sich über den Inzest entsetzt – wie sollten sich die Rezipierenden diesem Sog entziehen? Um aber ganz sicher zu gehen, bringt Lorichius zur Verstärkung noch einige illustrierende Beispiele. So sei eine Frau, die ihre Kinder beim Inzest in flagranti erwischt habe, vor Schrecken für immer verstummt (vgl. Z. 18 – 22), ebenso hätten sich zwei Geschwister sogleich selbst getötet (vgl. Z. 22 f.), schließlich lege die biblische Geschichte von Amnon und Thamar ausreichend Zeugnis ab von jammer durch Ketzerei ²⁷⁷ (Z. 25 ff.). Lorichius fährt schwere normative Geschütze auf. Lange bevor die Geschichte von Myrrha in Wickrams Metamorphosen beginnt, installiert er einen umfassenden normativen Deutungsrahmen, der eine spezifische affektive Haltung der Rezipierenden der Inzestthematik gegenüber fordert, die sich zu Grauen und Entsetzen verdichtet, mitunter Züge von Abscheu und Ekel trägt. Seine Auslegungen geraten zur Steilvorlage: Zwar nimmt die Inzestthematik in der skizzierten Normhierarchie nur eine mittlere Position ein, sie fordert aber ebenso wie die anderen Sünden wider die Natur Grauen, Schrecken, Entsetzen und Leid, die religiös fundiert sind. Dabei ist zu beobachten, dass Lorichius einen weiten Bezugsraum von Unzucht, Unkeuschheit und Wollust aufmacht, in dem die Inzestthematik neben Sodomie, Verschwendung des Samens und anderem nur einen kleinen Teilbereich ausmacht; der Vater-Tochter-Inzest im Speziellen erhält kein Profil. Zugleich ist die Position Myrrhas, die ihr in diesem Normgefüge zugewiesen wird, positiv konnotiert, sie erfährt Gnade durch Reue. Erweitert man von hier den Blick wieder auf Wickrams Metamorphosen im Ganzen, erschließt sich die bemerkenswerte Bedeutung der Struktur für die textexterne Ebene. Bevor die Handlung beginnt, wird mit Wickrams und Lorichius’ Paratexten, Orpheus’ Gesang und Myrrhas Monolog ein umfassender Bewertungsrahmen besiegelt, der verschiedene Positionen verschiedener Stimmen und narrativer Instanzen beinhaltet. Noch bemerkenswerter ist fast, dass trotz-
Vgl. hierzu Möckel, Metamorphosen, S. 128. Vgl. FWB 9.1, Sp. 342. „Leid, verursacht durch Wollust.“
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dem keine Ambivalenzen oder Widersprüche entstehen – Myrrhas Liebe zu ihrem Vater ist verwerflich, darin sind sich alle Beteiligten einig. Und sie fordert eine spezifische emotionale Haltung: Da die inzestuöse Liebe falsch und abscheulich ist, ist ihr mit Schrecken, Grauen und Entsetzen zu begegnen. Dabei bildet der Vater-Tochter-Inzest keinen Sonderfall, das Verdikt gilt quer durch die verschiedenen Konstellationen (Vater-Tochter, Schwager-Schwäger, Geschwister; vollzogen, nicht-vollzogen) und bezieht sich allgemein auf die Inzestthematik. Das inzestuöse Begehren wird als liebe gefasst, ihre Macht mit der Feuermetapher illustriert. Diese Metapher prägt alle Inzesterzählungen bei Wickram, ist aber nicht allein dem inzestuösen Begehren vorbehalten, sondern begegnet auch an vielen anderen Stellen (vgl. etwa XIII/1, 1.xvij, S. 66, Z. 3; 2.2, V. 1544; XIII/2, 10.2., V. 974 u.v. m), so dass sich metaphorisch und thematisch Bezugspunkte zu weiteren Liebeserzählungen ergeben. Gerade der Inzestthematik widmet Wickram jedoch besondere Aufmerksamkeit, indem er ihr transgressives Potential mit Blick auf die Verwandtschaftsordnung verschiedentlich ausstellt, wobei Vater-Tochterund Schwager-Schwägerin-Inzest gleichrangig nebeneinanderstehen. Während Lorichius stärker darauf setzt, Emotionen bei den Rezipierenden zu evozieren, sie mit Grauen, Schrecken, Abscheu und Ekel affektiv und normativ auf die Themen Inzest, Unkeuschheit und Sünde einzustimmen, fokussiert Wickram Emotionen auf Handlungs- und Figurenebene. Diese Darstellungsweise zeitigt ihrerseits textexterne Wirkung, durch die Darstellung nonverbaler Zeichen tritt die Handlung plastisch vor Augen, aus dem doppelten Spiel von Deutung und Bedeutung beziehen Freierwahl und Ammengespräch ein Spannungspotential. Neben reflexiven sind es dabei vor allem dynamisierende Momente, die textinterne Emotionen in der Erzählung auszeichnen, sie tragen als enggeknüpfte Handlungsfolge und interaktionales Netz von Aktion und Reaktion das Erzählsyntagma. Dabei wird die initial abqualifizierte Liebe Myrrhas in Scham, Furcht und Trauer transformiert, ruft Schrecken, Zorn und Rache hervor und kulminiert am Ende im Schmerz der Reue, wodurch ein wesentliches Erzählelement bereitgestellt wird, um die Metamorphose in eine Konversionsgeschichte umzudeuten.
7.2 Christoph Bruno: Etliche Historien – Myrrha als Exempel der Schande Vier Jahre bevor Schöffer Wickrams Metamorphosen in Druck gibt, entsteht bei Heinrich Steiner in Augsburg ein kleineres Übersetzungswerk des Münchener
7.2 Christoph Bruno: Etliche Historien – Myrrha als Exempel der Schande
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Lizenziaten der Rechtswissenschaften und Dichtkunst Christoph Bruno.²⁷⁸ Der heute weitgehend in Vergessenheit geratene Literat ist zu seiner Zeit, so zumindest Karl von Reinhardsstöttner, einer „der tüchtigsten Vertreter des bayerischen Humanismus“ und „hervorragendsten Vorkämpfer der klassischen Bildung“, der als Übersetzer und Herausgeber römische Klassiker auf den Markt bringt, denen er „trotz anklebender Härten eine gewisse Zierlichkeit abgerungen hat“²⁷⁹. In seinem Erstlingswerk exzerpiert Bruno zehn antike Erzählungen, die zum Teil Ovids Metamorphosen entstammen, und löst sie in Prosa auf. Nach Reinhardsstöttner ist seine Übersetzung in diesem „netten Unterhaltungswerk […] abwechselnd und ergötzlich“²⁸⁰, nach Carl Drescher hingegen „schlicht und kunstlos, statt der schmuckreichen Ausdrucksweise des Musäus oder des Ovid finden wir durchweg nüchterne Erzählung mit dem ausgesprochenen Bestreben nach Deutlichkeit und Verständlichkeit.“²⁸¹ Bruno selbst stellt die Erzählungen in den doppelten Dienst von lehrhafter Unterweisung und kurzweiliger Unterhaltung (vgl. Titelei). Er möchte, wie er in einer Vorrede anführt, der unerfahrenen Jugend, die sich in Völlerei, Trinkerei und Glücksspiel ergeht, ein gutes Beispiel geben (vgl. fol. iij v) und verteidigt sein Projekt gegen jene, die die naß drüber rümpffen /oder (wie man sagt) den mupff drauff schlahen ²⁸² (fol. Iijr), womit typische Ekelgesten antizipiert werden. Die Geschichte Myrrhas lässt sich innerhalb dieser Doppelbewegung von Didaxe und Unterhaltung eher dem Exempel zuordnen, wenn es in der Überschrift heißt: Ein erschrocklich beyspil / dardurch wir ermanet werden zůbegern / das yenig so wir mitteeren vberku^en mgenn / dann gewißlich bleybt die straff der vbelthat nit auß. Als diß exempel meldet ²⁸³ (fol. XXv). Angekündigt wird ein abschreckendes Exempel, Furcht als Emotionsnorm generiert (vgl. a. fol. XXIr). Als Ordnungssystem scheint der Komplex von Ehre auf, was ein Identifikationsangebot für die Rezipierenden bereitstellt, sich als ehrenwerte
Der Text ist nicht ediert und wird im Folgenden im Fließtext zitiert nach dem Druck Christoph Bruno: Etliche Historien vnnd fabulen gantz lustig zů lesen / jetzt newlich zů ainer bung vnd kurtzweyl zůsamenn getragenn / vnnd inn das Teütsche gebracht. Augsburg: Heinrich Steiner, 1541 (VD16 B 8646). Karl von Reinhardsstöttner: Die Geschichte des Humanismus und der Gelehrsamkeit in München unter Karl dem Fünften. In: Jahrbuch für Münchener Geschichte 4 (1890), S. 45 – 174, hier S. 64 f. und 74. Ebd., S. 65. Carl Drescher: Studien zu Hans Sachs, Marburg 1891, S. 32. „[…] die Nase darüber rümpfen, oder (wie man sagt) mit spöttisch verzogenem Mund darauf einschlagen [im Sinne von ‚sich darüber aufregen/spotten, dagegen aufbegehren‘].“ „Ein erschreckendes Beispiel, durch das wir angehalten werden, dasjenige zu begehren, was wir in Ehren vollbringen können, denn die Strafe der Übeltat bleibt mit Sicherheit nicht aus. Wie dieses Exempel verkündet.“
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Menschen vom Negativbeispiel der Heldin zu distanzieren, verstärkt noch durch den ermahnenden Gestus und die Vorausdeutung auf die Verwandlung als Strafe. Der Plot ist bei Bruno wesentlich gedrängter wiedergegeben als bei Ovid und so stark gekürzt, dass einzelne Handlungselemente ganz entfallen. So setzt die Handlung, in die exotische Fremde des Morgenlandes verlegt, erst mit der Freierwahl ein, Orpheus’ Gesang und Myrrhas Monolog fehlen. Reste hiervon haben sich aber in aller Kürze in der Freierwahl erhalten: Doch hat yr under jn allen kainer baß gefallen dan̅ jr aigner nattürlicher vatter / des sie sich dann jemerlich beklagt in jrem hertzen / darumb das sie des künigs tochter wer / vnd deßhalb jren schmertzen vnd schentliche begird / dester weniger offenbarn drft. (fol. XXIr) Doch hat ihr unter ihnen allen keiner besser gefallen als ihr eigener leiblicher Vater, deshalb beklagte sie sich dann bitter in ihrem Herzen darüber, dass sie die Tochter des Königs wäre, und deshalb ihre Qualen und ihr schmachvolles Verlangen umso weniger bekannt machen dürfte.
Myrrhas Verlangen wird ausschließlich als begird bezeichnet, so dass der sexuelle Aspekt als „erotisches Verlangen, Begehren, sinnlicher Trieb“²⁸⁴ hervortritt, was mit dem Stigma der Schande besetzt wird. Ihr Begehren bereitet Myrrha Leid, während Trauer und Klage primär aus dem Umstand resultieren, dass es nicht offenbar werden darf. Dabei wird einerseits die Verwandtschaft als Hemmnis benannt, andererseits eine Standesebene eingezogen, die suggeriert, das Inzesttabu gelte in besonderem Maße für die Höhergestellten. Bei den Motiven ‚Vaterkuss‘ und ‚Vaterwahl‘ übersetzt Bruno die bei Ovid vorformulierten Emotionen Myrrhas fast wörtlich, passt sie aber zum Teil interpretierend an. Gefragt, welchen sie wählen möchte, erschrack sie seer (fol. XXIr), eine Hinzufügung, die sich ebenfalls in erster Linie darauf beziehen lässt, dass ihr Verlangen nicht publik werden darf. Sie erschrickt, weil sie droht ‚ertappt‘ zu werden, nicht, weil sie an ihrer Liebe leidet, emotional zerrissen ist oder die im Titel als Emotionsnorm konturierte Furcht teilt. Als Cynara sie für ihre gotsforcht lobt, weil sie einen Gatten möchte, der ihm gleicht, erläutert Bruno wertend, dass sie den Kopf senke, weil sie jrs hertzen boßheit wußt ²⁸⁵, und ergänzt, dass sie schamrot davonziehe, deutet die Szene also als Anlass für Scham. Doch ist die Darstellung weder reflexiv noch ambivalent noch zielt sie darauf, Spannung oder Schauder zu erzeugen. Auch Myrrhas anschließender Hader mit ihrem Begehren erschöpft sich in Scham, die Szene beinhaltet keine tieferen Reflexionen und
FWB 3, Sp. 595. „[…] um die Bosheit in ihrem Herzen wusste.“
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beschränkt sich zielgerichtet darauf, dass die Heldin hin- und hergerissen ist, keine Ruhe findet und schließlich den Tod sucht (vgl. fol. XXIr und v). Die Amme stößt schreiend und weinend hinzu und versucht zu ergründen, was ihr Ziehkind zum Selbstmord treibt, wobei sie vermutet, Myrrha sei mit liebe verhafftet ²⁸⁶ (fol. XXIv). Damit wird in der direkten Rede der (noch unwissenden) Amme zum ersten Mal liebe erwähnt, so dass eine Differenz zwischen liebe und begirde hervortritt. Als die Amme zusichert, sie werde Myrrha ohne das Wissen ihres Vaters zu dieser Liebe verhelfen, springt Myrrha von ihrem Schoß auf, wirft sich auf das Bett und drückt ihren Kopf in die Laken – das vieldeutige Seufzen im Prätext wird durch eine Geste der Verzweiflung ersetzt. Insgesamt ist die Darstellung nonverbaler Zeichen aber wesentlich zurückgefahren, sie erschöpft sich im Weinen, den dargebotenen Brüsten der Säugamme, Myrrhas Schweigen und Myrrhas Seufzer, der nur einmal genannt und nicht wie bei Ovid und Wickram in eine ausgefeilte Inszenierung überführt wird, schlicht ihr Geständnis begleitet, sie treibe ein lasterstuck um („eine schändliche/schmähliche Angelegenheit“). Von hier aus gesehen wird deutlich, wie ausdrucksstark Wickram Emotionen vor Augen stellt, was Bruno weitläufig abgeht. Zudem möchte die Amme zwar mit der List Trost spenden, sie gibt aber kein Modell für Mitleid, nur für die im Titel angekündigte Emotionsnorm, wenn es (wie bei Ovid) heißt, auf Myrrhas Geständnis hin gieng jr ein schauder vber den gantzen leib (fol. XXIIr). Kein Gespür hat Bruno für das Spiel mit dem Wort ‚Vater‘, das er gänzlich streicht, die Amme befiehlt einfach: Schweig / dir sol werden / was du begerest / als war ich leb ²⁸⁷. Das (Ver)Schweigen wird weder auf die Unsagbarkeit des Terms ‚Vater‘ hin pointiert noch auf die Inzestthematik, sondern allein darauf bezogen, dass sich Myrrha nach wie vor umbringen möchte, wenn ihr die Liebe des Vaters nicht zuteilwird, wobei der Begriff liebe erneut nur in der indirekten Rede Myrrhas verwendet wird. Als Cynaras Frau, die explizit erwähnt wird, wegen des Ceresfestes abkömmlich ist, gibt die Amme dem betrunkenen Vater zu verstehen, wie ein jungfraw̅ sey die ein rechte lieb zu jm trag ²⁸⁸. Damit wird liebe wieder in einer Figurenrede erwähnt, diesmal als Teil eines Täuschungsmanövers. Während die Amme Myrrha auffordert, Freude über den bevorstehenden Inzest zu empfinden, stellt sich diese bei der Heldin nicht recht ein. Sie wird als vnglückselig bezeichnet, was erstmals in der Erzählung einen sympathetischen Bezug, einen Hauch von Mitleid und Bedauern ermöglicht.²⁸⁹ Bei der Schilderung von Myrrhas ambiva Sinngemäß: „von Liebe in Beschlag genommen“; „in Liebe versunken“; „in Liebe verstrickt“. „Schweig, du sollst bekommen, was du begehrst, so wahr ich lebe.“ Vgl. hierzu a. Drescher, Studien, S. 40. „[…], dass es eine Jungfrau gäbe, die rechte Liebe zu ihm trage.“ Für Ovids infelix; vgl. hierzu Nagle, Byblis and Myrrha, S. 312 und 314 f.
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lenten Emotionen, mit denen sie auf das Angebot reagiert, hält sich Bruno prinzipiell an Ovid, Traurigkeit schmälert ihre Freude. Ovids „so herrscht im Gemüt ihr der Zwiespalt“²⁹⁰ aber übersetzt er schief als Anklage: Solch ein grosses zwitrechtigkait ist in menschlichē hertzen ²⁹¹ (fol. XXIIr). Dem Weg Myrrhas zum Vater weiß Bruno nichts hinzufügen, er beschränkt sich atmosphärisch darauf, dass es still und dunkel ist, was Myrrha die Scham nimmt, sie zittert und ye nher sie jrem laster ist / ye mer jhr grauset ²⁹² (fol. XXIIv). Mit grausen wird eine „körperlich wahrnehmbare Erschütterung einer starken Empfindung“ transportiert, die mit „Schauder und Entsetzen verbunden“²⁹³ ist. Furcht ist, wie im Titel angekündigt, das Gebot der Stunde und erfasst nun auch die Heldin. Der Darstellung des Inzestaktes fehlt jede Finesse, die Concumbenten nennen sich nicht gegenseitig ‚Vater‘ und ‚Tochter‘, was den ovidspezifischen Schauder aus der Szene abzieht. Der Beischlaf wird in aller Kürze abgehandelt und beinhaltet nur das für die Handlung Notwendigste, die Amme legt sie im zů, der Vater nimmt die Tochter (unwissend, wie in einer hinzugefügten Klammer betont²⁹⁴) in den Arm und tröstet sie, dann fährt der Text schon fort, wie sie am Morgen von ihm geht. Der Geschlechtsakt wird somit nur in der allgemeinen und in der vorliegenden Studie häufiger beobachteten Phrase ‚zu-ihm-legen‘ anzitiert, euphemistisch-verhüllend als Akt des Tröstens bezeichnet, letztlich jedoch als Leerstelle belassen. Als Cynara die schand /so er mitt seiner tochter gewircket het ²⁹⁵ (fol. XXIv) erkennt, zückt er das Schwert, doch treiben weder Zorn oder Wut noch Rache ihn an, selbst Ovids dolor fehlt. Die Metamorphose schließlich nimmt eine eigentümliche Zwischenposition ein. Obgleich zuvor das Bild eines christlichen Gottes eingefügt wird, der Hilfe und Beistand leistet (vgl. fol. XXIr), wird Myrrha auf ihr Gebet hin zůr straff jrer vbelthat in ain baum verwandelt ²⁹⁶ (fol. XXIIv). Konsequent wird der Baum nicht mit positiven Attributen oder überhaupt mit spezifischen Eigenschaften versehen, vielmehr wird das transgressive Potential präsent gehalten, wenn (wie bei Ovid) betont wird, dass Adonis in Schande empfangen
tanta est discordia mentis; Ovid, Metamorphosen 10.445, S. 380 f. „Solch eine große Zwietracht ist in menschlichen Herzen.“ „[…] je näher sie ihrer Schandtat kam, desto stärker grauste ihr [davor]“. Velten, Ekel, S. 221. Vgl. hierzu a. Drescher, Studien, S. 40. „Die Schande, die er mit seiner Tochter vollzogen hatte“. „[…] wurde zur Strafe für ihre Übeltat in einen Baum verwandelt.“ Tatsächlich fällt sogar fnhd. ru̅wen (vgl. XXIIv). Da es unmittelbar zuvor aber heißt, Myrrha sei müde geworden, ist eher „ruhen“ als „bereuen“ gemeint, zumal Ovid beschreibt, dass Myrrha sich erschöpft niederlässt und rastet; auch wird die Thematik bei Bruno nicht weiter entfaltet.
7.3 Hans Sachs: Die (schändlich) liebende Mirra (mit ihrem Vater Cinera)
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wurde. Auch gibt bei Bruno das Weinen des Kleinkindes, nicht Schmerz oder Qual des Baumes den Anlass, dass die Göttinnen des Wassers hinzueilen. Obwohl Bruno seine Erzählung als Exempel ankündigt und auf dem Feld der Ehelehren produktiv ist,²⁹⁷ die sich als positives Gegenmodell anböten, findet sich keine didaktische Auslegung am Ende des Textes. Auch in die Erzählung werden keine wertenden Kommentare eingefügt, Bruno lässt das Exempel für sich sprechen. Der im Titel angemahnte Schrecken etwa wird nicht auf ein reflexives Niveau gehoben oder in eine Didaxe überführt, manifestiert sich aber an diversen Knotenpunkten der Erzählung, bei der Amme und bei der Heldin selbst, was gegebenenfalls als Rezeptions-Stimulus wirkt. Auch die Verwendung des Begriffs liebe stellt implizit einen Deutungsrahmen für die Rezipierenden bereit, da Bruno ihn nur in der Figurenrede verwendet, in der Erzählerrede aber vermeidet und allein von begirde spricht, so dass ein Widerspruch zwischen (vermeintlicher) rechtmäßiger Liebe und (tatsächlichem) inzestuösen Begehren aufscheint. Unterm Strich allerdings sind bei Bruno Emotionen (und ganz besonders das Thema Liebe, das doch eigentlich im Kontext seines Übersetzungswerkes das vordringliche Thema stellt²⁹⁸) eher notwendiges Beiwerk, dem er nicht mehr Aufmerksamkeit schenkt, als seine Vorlage unbedingt erfordert. Prinzipiell hält sich Bruno eng an Ovid, übergeht jedoch so manche Ambivalenz und Anspielung. So wird die Erzählung zu einem Exempel der Schande vereindeutigt, das illustriert, dass ein jeder die Strafe bekommt, die er verdient.
7.3 Hans Sachs: Die (schändlich) liebende Mirra (mit ihrem Vater Cinera) Unmittelbar nach der Entstehung von Brunos Metamorphosen-Extrakten arbeitet der Nürnberger Spruchdichter, Meistersinger und Dramatiker Hans Sachs vier seiner Erzählungen in Meisterlieder und Spruchgedichte um, am 31. Mai 1541 widmet er sich dem Myrrha-Stoff.²⁹⁹ Der Vielschreiber Sachs zeigt sich an antiken Stoffen interessiert (er besitzt nachweislich ein Handexemplar von Wickrams Metamorphosen,³⁰⁰ bearbeitet Ovids Texte in mehr als 70 Liedern³⁰¹) und bemüht
Vgl. hierzu im Überblick Reinhardsstöttner, Geschichte, S. 67 ff. Vgl. Drescher, Studien, S. 31. Vgl. ebd., S. 32. Vgl. Christine Baro: Wenn Göttergatten Jungfrauen bezirzen. Erotik und ihre Folgen in der moralisierenden Mythenrezeption des Hans Sachs. In: Simpliciana 31 (2009), S. 377– 398, hier S. 381.
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sich um ihre Aktualisierung und Vermittlung. Dabei gerät, wie Christine Baro vermerkt, die griechisch-römische Mythologie mit ihren transgressiven Begehrensstrukturen geradezu „zwangsläufig“³⁰² in Konflikt mit seiner Ehe- und Tugendmoral. Sachs ist, wie es Maria E. Müller in ihrer Dissertationsschrift nennt, ein „Poet der Moralität“, der dem Konzept passionierter Liebe die „Passion der Ehe“³⁰³ gegenüberstellt. Er vertritt ein striktes Tugendmodell, in dem Liebe nur in der Ehe geordnet, natürlich und gottgewollt ist, außerhalb der Ehe aber eine Gefährdung darstellt.³⁰⁴ Unter diesem Stern funktionalisiert Sachs die antiken Stoffe, die er in den Dienst der Didaxe stellt, wie Baro ausführt: In den freizügigen antiken Mythen findet er eine Fülle von Material, an dem er seine Lehren ex negativo exemplifizieren kann. Er geißelt viele verschiedene Formen ‚falscher Liebe‘: unzeitige und heimliche Liebe, Untreue, und immer wieder Wollust […]. Die Strategie der Moralisierung macht ihm so gut wie jeden Stoff verfügbar, so dass er kaum selektieren muss. Er bearbeitet auch die Episoden, die nach damals üblicher Auffassung unmoralische und sogar abnorme Sexualität thematisieren, wie z. B. der Inzest in der Myrrha-Mythe […]. Die antike Mythologie mit all ihren libidinösen Göttern, bezirzten Jungfrauen und verführerischen Vollweibern bietet ihm die Möglichkeit zu gleich drei Dinge auf einmal: Unterhaltung, Bildung und Belehrung.³⁰⁵
Myrrha fügt sich in die Reihe großer, durch ihr Beispiel zur Warnung gemahnender Liebender. Sachs erste Fassung ist ein Meisterlied mit der Überschrift Die liebhabent Mirra,³⁰⁶ so dass Liebe bereits im Titel als zentrales Thema vorgestellt wird. Abweichend von Bruno und übereinstimmend mit Ovid erhält die Liebe bei Sachs wieder ihren Platz: Allain hetz iren vatter holde Mit alzo ungestu’mer lieb, Das sie all augenplick antrieb, Oft wolt sie es dem vatter sagen, Schempt sich doch thet zweyflent verzagen. (V. 8 – 12)
Vgl. Johannes Rettelbach: Aufführung und Schrift im Meistergesang des 16. Jahrhunderts. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 155 (2003), S. 241– 258, hier S. 255. Baro, Göttergatten, S. 378. Maria E. Müller: Der Poet der Moralität. Untersuchungen zu Hans Sachs, Bern, Frankfurt a. M., New York 1985 (Arbeiten zur Mittleren Deutschen Literatur 15), Titel und S. 243. Vgl. ebd., S. 243 f. Baro, Göttergatten, S. 394 f. Im Folgenden im Fließtext zitiert nach Hans Sachs: Die liebhabent Mirra. In dem roszen thon Hans Sachsen. In: Carl Drescher: Studien zu Hans Sachs. Marburg 1891, S. XIV-XV.
7.3 Hans Sachs: Die (schändlich) liebende Mirra (mit ihrem Vater Cinera)
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Sie hatte allein ihren Vater lieb, mit allzu ungestümer Liebe, die sie jeden Augenblick antrieb, oft wollte sie es dem Vater sagen, schämte sich jedoch [und] verzagte zweifelnd.
Liebe wird als treibende Kraft gesetzt, ihr transgressives Potential durch Scham und Zweifel markiert. Dies sind jedoch die einzigen (!) Emotionen, die Mirra neben ihrer Liebe zugeschrieben werden. Trauer und Klage der Vorlage fehlen, Furcht und Schrecken, die in den Dienst des Exempels gestellt hätten werden können, werden nicht in Anschlag gebracht. Sachs lässt allein Mirras Liebe für sich sprechen, und das mit einiger Drastik – Mirras Herz sei hart wie Stahl, wettert Sachs gegen ihre Weigerung, einen Bräutigam zu wählen (vgl. 4 ff.). Auch ist ihre Liebe unmittelbare Ursache für den Selbstmordversuch (vgl. V. 15 f.). Die Amme errät rasch, dass Mirra in Liebe zum Vater entbrennt (vgl. V. 25 f.), wobei Sachs dramatisierend das Konzept der Liebeskrankheit hinzufügt, das Mädchen vor lieb mu’est sterben, / Wo sie sein hult nicht ku’nt erwerben ³⁰⁷ (V. 31 f.). Beim Bettlager verweist einzig Mirras Zittern implizit auf Furcht (vgl. V. 37). Sachs versucht vielmehr die Liebe von Tochter und Vater zu parallelisieren, der Vater ist auch in liebe […] peweget (V. 38), ein Alleinstellungsmerkmal des Nürnberger Dichters. Ebenso motiviert reziproke Liebe die Entdeckung: Das selbig trieb sie also lang, Das den ku’nig die liebe zwang Die zw peschawen in dem pette, Die in so iniclich lieb hette. (V. 43 – 46) Dasselbe trieb sie so lange, dass die Liebe den König zwang, jene anzusehen in dem Bett, die ihn so innig lieb hatte.
Sachs re- und ent-emotionalisiert den Stoff, wie er ihn bei Bruno auffindet. Liebe wird wieder in ihr Recht gesetzt, steht jedoch weitgehend singulär. Alle anderen Emotionen fallen dieser Fokussierung zum Opfer; von Trauer und Verzweiflung Mirras, von Mitleid und Trost der Amme, Wut und Rache des Vaters kein Wort, keine ambivalenten Gefühle, kein emotionaler Konflikt. Mirras Liebe wird nicht explizit bewertet, ihr Charakter aber einschlägig durch die Erzählung zutage getragen, wenn die Metamorphose mit den Worten auf den Punkt gebracht wird, [z]w straff der gotter on versaum / Wart sie verwandlet in ein paum ³⁰⁸ (V. 53 f.). Abschließend fügt Sachs eine Moraldidaxe ein, wobei er durch eine Quellenberufung auf Ovid (vgl. V. 57) den Eindruck entstehen lässt, dieser sei der Urheber des „[…] musste aus Liebe sterben, wenn sie seine Gunst nicht erwerben könnte“. „Zur Strafe der Götter wurde sie ohne Zögern in einen Baum verwandelt.“
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7 Myrrha
Sinnspruchs: Ein ides laster hat sein pus, / Kan man es gleich ein zeit verglosen / So spricht man doch: ‚die zeit pringt rosen‘ ³⁰⁹ (V. 58 ff.). Das ist, was man Sachs’ Meinung nach vom Exempel Mirras lernen soll: Jedes Vergehen kommt mit der Zeit zum Vorschein und wird bestraft. Die Didaxe wird zwar im Vorfeld inhaltlich mit Liebe korreliert, zielt aber allgemein auf laster, also im Prinzip auf alle möglichen Vergehen.³¹⁰ Die monströse Liebe Mirras dient als Folie für eine alltagsweltliche ‚Lebensweisheit‘. Dass Sachs das Handlungsgerüst reduziert, ist nicht allein der thematischen Fokussierung geschuldet, sondern auch durch die Gattungsregeln des Meistersangs bedingt.³¹¹ Noch am selben Tag schreibt er das Meisterlied zu einem Spruchgedicht um, das 18 Plusverse und mit ihnen den gesamten Adonis-Anhang umfasst. Inhaltlich sind nur geringfügige Änderungen zu beobachten, von denen die gravierendste den Titel betrifft, der wertend erweitert wird: Historia. Die schendlich liebhabend Mirra mit irem vatter Cinera ³¹². Zwar ist nach wie vor Liebe als zentrales Thema gesetzt, wird aber von vornherein als inzestuös markiert und als schändlich bewertet, so dass die Rezeption stärker normativ gerichtet ist. Mit Blick auf Emotionen kommt es nur zu kleineren Änderungen. Der bekräftigende Schwur der Amme wird zu einem Ausdruck des Bedauerns, indem statt der
Eine Übersetzung bereitet Schwierigkeiten. Anfang und Ende sind klar: „Eine jede Schande hat ihre Strafe, […], [so] sagt man doch: ‚Die Zeit bringt Rosen‘.“ Doch wie ist der mittlere Vers zu verstehen? Bezugspunkt ist ein zeit, was unter anderem „Zeitspanne“; „Zeitraum“; „Zeitlauf“ zulässt; vgl. DWB 31, Sp. 521– 551. Das im Anschluss zitierte Sprichwort zielt auf die Wirksamkeit und Allmacht von Zeit; vgl. TPMA 13, S. 361 f. und 371 f. Verglosen meint so viel wie „auslegen“; „erklären“; vgl. Lexer 1, Sp. 1039; DWB 25, Sp. 462. Mit gleich wird eine Vergleichsoperation angestrebt, so dass sich paraphrasieren ließe „vergleichbar einer Zeit/eines Zeitlaufs/einer Zeitspanne auslegen“; „so wie eine Zeit deuten“, sinngemäß vielleicht auch „mit einem Sprichwort zur Zeit erklären“ oder verkürzt „mit der Zeit vergleichen“. Die Naturmetapher dient an dieser Stelle wohl dazu, dass Zwingende und Unvermeidliche der Vergeltung eines Vergehens zu betonen. Um nur einige Bedeutungsdimensionen von laster im Frühneuhochdeutschen zu nennen: „fortwährendes Verstoßen gegen Tugend und Moral“; „schändende moralisch-sittliche Haltung“; „Verstoß gegen das Recht“; „ehrverletzende Nachrede, Verleumdung, Schmähung, Beleidigung, Verspottung, Lästerung“; „Schmach, Schande, Erniedrigung, moralische Verachtung, die man über ein beschämenswertes Vergehen oder eine derartige Haltung empfindet oder die jm. durch Übergriffe anderer zugefügt werden“; „Fehler, Mangel, Makel“; FWB 9.1, Sp. 336 – 343. Vgl. hierzu Drescher, Studien, S. 36. Im Folgenden im Fließtext zitiert nach Hans Sachs: Historia. Die schendlich liebhabend Mirra mit irem vatter Cinera. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Adelbert von Keller, Bd. 2, Tübingen 1870 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 103), S. 189 – 191.
7.4 Johannes Spreng: Metamorphoses
207
Konjunktion als die Interjektion ach gesetzt wird (vgl. S. 190, V. 3).³¹³ Bei Mirras Flucht wird ihr Gemütszustand als müde und elend, die Strafe der Götter als Rache spezifiziert (vgl. S. 190, V. 28 ff.). So ändert sich nichts an Sachs’ Blick auf den Myrrha-Mythos, die Moral am Ende der Geschichte bleibt fast bis in den Wortlaut identisch.³¹⁴ Allerdings ist die Didaxe nun als Beschluss formal aus dem Fließtext herausgerückt und deutlicher an die Rezipierenden adressiert (vgl. S. 191, V. 11), auch nennt sich Hans Sachs als Verfasser (vgl. V. 16). Der Myrrha-Stoff muss eine gewisse Faszinationskraft auf Sachs ausgeübt haben, wählt er doch diese Erzählung unter anderen aus Brunos Übersetzungswerk und bearbeitet sie gleich zweimal. Zugleich erwächst sein Interesse vor allem aus dem Impuls, den Stoff einer Moraldidaxe dienlich zu machen. Sachs zeigt am Beispiel Mirras, wie an unzähligen anderen Beispielen auch,³¹⁵ die gefährdende Kraft einer nicht in der Ehe gebändigten Liebe und nutzt den skandalträchtigen Stoff für eine allgemeine Warnung vor einem lasterhaften Leben.
7.4 Johannes Spreng: Metamorphoses 1564 erscheint von dem Augsburger Meistersinger Johannes Spreng eine Metamorphosen-Bearbeitung,³¹⁶ die ebenfalls den gesamten Ovid-Text umfasst. Hinzu treten Auslegungen Sprengs, die ähnlich wie bei Lorichius in der Tradition einer interpretatio christiana stehen, welche Spreng als Programm auslobt, wenn er in seiner Vorrede ankündigt, dass in den antiken Geschichten manche gute lehr […] als ein ssser kern vnter einer bittern schelffen verborgen ligt ³¹⁷ (fol. ij v). Der Text wird grob durch 178 Holzschnitte gegliedert, die Virgil Solis nach dem Vorbild Bernard Salomons aus Lyon für eine französische Ovid-Ausgabe fertigt,³¹⁸ von Spreng mit kurzen Texten versehen, „ziemlich kahlen und dürftigen inhaltsangaben und alberner moral“³¹⁹, wie Bolte bemängelt. Auch die Geschichte von
Es könnte sich hierbei auch um einen Lese- oder Druckfehler handeln, denn in der dritten Ausgabe der Nürnberger Folioausgabe wird wieder als gesetzt; vgl. ebd., S. 190, Anm. 3. Ergänzt wird ein Plusvers: Die zeyt bringt rosen, Das all haymligkeyt offen wer (S. 191, V. 14 f.; „Die Zeit bringt Rosen, so dass alle Geheimnisse aufgedeckt werden“). Vgl. hierzu Müller, Poet, S. 57 und 243 – 250; Baro, Göttergatten, passim. Der Text ist nicht ediert und wird im Folgenden im Fließtext zitiert nach dem Druck Johannes Spreng: P. Ouidij Nasonis / deß Sinnreichen vnd hochverstendigen Poeten / Metamorphoses oder Verwandlung. Frankfurt [a. M.]: Georg Rab, Sigmund Feyerabend und Weigand Han, 1564 (VD16 S 8377). „[…] manch gute Lehre […] wie ein süßer Kern unter einer bitteren Schale verborgen liegt“. Vgl. Henkel, Illustrierte Ausgaben, S. 104. Bolte, Vorwort, S. XXX.
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7 Myrrha
Myrrha wird mit einer solchen Kombination aus Illustration und Inhaltsangabe eingeleitet.
7.4.1 Venus’ Neid und Myrrhas unnatürliche Liebe ohne Scham Der zum Auftakt gegebene Holzschnitt wählt unter dem Titel Myrrha wil sich selbs erhencken (fol. 249r) den Selbstmordversuch als proleptisch vorgestelltes, damit zentrales Erzählelement. Zu sehen ist ein dynamisches Ereignisbild, das zwei Szenen in einer Kemenate vereint. Links sieht man Myrrha barbusig am Strick hängen, der niedergesenkte Kopf und abgewendete Blick der Heldin lässt sich als Scham- oder Trauergeste deuten. Im rechten Bildteil liegt Myrrha im Schoß der Amme, das Gesicht, in der Mimik trotz des künstlerisch-ästhetisch deutlich höheren Niveaus nahezu identisch mit Wickrams Holzschnitt, vor Qual und Verzweiflung verzogen. Im Kontrast hierzu erwecken Sprengs Inhaltsangabe und Text eher komisch-skurrile Effekte, hängend und seufzend zappelt Myrrha am Strick (vgl. fol. 249r und v). Wo Solis einen mitleidenden Blick auf die Heldin wirft, droht Spreng sie zur Witzfigur verkommen zu lassen. Dabei greift Spreng in seiner Inhaltsangabe neben Inzest und Selbstmord ein Erzählelement auf, das Wickram, Bruno und Sachs fremd ist, wenn Myrrhas Mutter als Handlungssubjekt figuriert und nicht nur (bestenfalls) beiläufig erwähnt wird. Myrrha wird als Tochter von Cinyre und Cenchreidis genealogisch eingeführt, wobei der in der griechisch-römischen Mythologie bewanderte Spreng den alten Rachemythos aktualisiert und den neyd (fol. 249r: „Neid, Hass, Feindschaft“³²⁰) der Göttin Venus als Motivationskomplex für das inzestuöse Begehren reintegriert (vgl. a. fol. 249v). Der mhd. Begriff nît, der dem ahd. nîd (nîdh, nith) mit der Grundbedeutung „Haß, Zorn, Streit“ entspringt, meint ursprünglich eine feindliche Gesinnung im Allgemeinen und „Kampf, Kampfwut und haßerfüllte Angriffslust“³²¹ im Speziellen. Neben dieser Funktion als Kampfeszorn kann der Begriff ebenso auf die Emotion Neid als „Mißgunst, Eifersucht, Arg“³²² zielen, ein Bedeutungsbereich, auf den sich der Begriff zum Neuhochdeutschen hin verengt. Spreng als Dichter des 16. Jahrhunderts setzt Neid als Emotionswort, gleichsam wird im Wetteifern der Göttin mit der Königin noch die alte Bedeutung von Kampf/ Wettkampf virulent. Emotionstheoretisch lässt sich Neid als relationale Reaktion und Distinktionsgefühl definieren, „über das Unterschiede emotional und durch
Baufeld, S. 178. Wolf, Vademecum medievale, S. 62; vgl. a. Grubmüller, Historische Semantik, S. 60. Ebd., S. 62.
7.4 Johannes Spreng: Metamorphoses
209
Handlungen ausagiert werden.“³²³ Er steht in hohem Maße in einem Normgeflecht und wird meist im Lichte negativer Bewertungen thematisiert, zählt in der christlichen Tradition zu den Hauptsünden und gilt insbesondere dem frühen Christentum als Gefährdung der sozialen Gemeinschaft.³²⁴ Das etwa noch bei Aristoteles anzutreffende Konzept des gerechten Neids als Gefühl des gerechten Unwillens (nemesis) und des Eifers (zēlos), die vom eigentlichen Neid (phthonos) unterschieden sind, wird unter dem Einfluss des Christentums weitgehend tabuisiert, da er in einer von Gott geschöpften, per definitionem gerechten Ordnung der Welt keinen legitimen Verankerungspunkt besitzt.³²⁵ Auch in der höfischen Literatur haftet Neid, so Eva Lieberich, häufig Negativität an und bildet regelmäßig einen konstitutiven Bestandteil bei Intrigehandlungen.³²⁶ Bei diesem auf den ersten Blick eindeutigen Werturteil ist mit Baisch, Freienhofer und Lieberich jedoch zu berücksichtigen: Welche Emotionen angesichts des Vorteils des Anderen aufgerufen werden, bleibt in den mittelalterlichen Diskursen diffus. So beschreibt Thomas [von Aquin] Neid im Anschluss an Johannes von Damaskus als ‚Trauer über die Güter anderer‘. Augustinus hingegen stellt den Hass auf das fremde Glück, odium felicitatis alienae, in den Vordergrund. Die Emotionen, mit denen Neid im Mittelalter verknüpft werden, variieren folglich.³²⁷
Indem nun Spreng der Göttin Neid zuschreibt, erscheint Myrrha bei ihm in Übereinstimmung mit dem griechischen Ursprungsmythos als Opfer, dem das Begehren von außen eingeflößt wird. Neid dient mittelbar als Motivation für den Inzest, scheint auf der Textoberfläche aber weder gerechtfertigt noch legitimiert, da keine Begründungszusammenhänge angeführt werden, so dass Neid vor dem skizzierten kulturellen Hintergrund einen niederen Beweggrund darstellt. Anders als in den bisher besprochenen Varianten wird Myrrha bei Spreng als schöne und adlige, also innerhalb höfischer Parameter begehrenswerte Königstochter eingeführt, um die viele Freier werben, sie aber In unnatrlich lieb on
Martin Baisch/Evamaria Freienhofer/Eva Lieberich: Einleitung. In: Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters. Hrsg. von dens., Göttingen 2014 (Aventiuren 8), S. 9 – 25, hier S. 14. Vgl. a. in demselben Band Eva Lieberich: Â Tristan, waere ich alse duo! Tristan und die neidische Hofgesellschaft, S. 209 – 237, hier S. 209 f. Vgl. hierzu grundsätzlich Günter Burkart: Distinktionsgefühle. In: Gefühle – Struktur und Funktion. Hrsg. von Hilge Landweer, Berlin 2007 (DZPh Sonderband 14), S. 159 – 174. Vgl. Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 196 und 203; Grubmüller, Historische Semantik, S. 62 f.; Lieberich, Â Tristan, S. 210. Vgl. Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 203 ff. Vgl. Lieberich, Â Tristan, S. 209. Baisch/Freienhofer/Lieberich, Einleitung, S. 16.
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7 Myrrha
scham / Gegen dem Vatter was gerathen / Darinn thet sie schandtlich umbwaten ³²⁸ (fol. 249v). Das inzestuöse Verlangen wird als liebe qualifiziert, selbige sogleich als widernatürlich, schändlich und ohne Scham klassifiziert, so dass Myrrha als schamlos erscheint, „d. h. ohne jeden Ansatz eines ethischen Schamgefühls“³²⁹. Äquivalent zu liebe verwendet Spreng begir, ebenfalls als verwerflich und unrein markiert (vgl. fol. 249v). Neben der Feuermetapher wird die Metapher vom verwundeten Herzen aufgerufen, was einerseits von einem ersten Missverständnis zeugt, denn bei Ovid beteuert Orpheus Cupidos Unschuld,³³⁰ andererseits eine parallele Logik in den Text einzieht. Myrrhas Verlangen wird bei Spreng dem alten Rachemythos folgend von außen iniitiert, ein Hellgttin vnuerdrossen (fol. 249v; „eine unbekümmerte Furie“) flößt es ein, die Heldin erscheint als Spielball höherer Mächte. Anders als bei Wickram richtet sich die negative Bewertung in der Attribuierung bei Spreng folglich weniger auf die Inzestliebende als auf die Inzestliebe. Diese brenne im Innern wie Feuer, was ebenfalls, wenn auch deutlich verkürzt, als sukzessives Steigerungsmoment entfaltet wird, Myrrha findet je lenger je mehr keine Ruhe und tobet spat vnd fru (fol. 249v; „raste spät und früh“). Es ist ein Gefühl rasender Wut (furor) mit dem Beigeschmack des Wahnsinns und leidenschaftlichen Verlangens, das sich unter die Liebe mischt; ein eigentümliches Charakteristikum Sprengs.³³¹ Über Emotionen wird so eine andere Logik transportiert als bei Ovid oder Wickram. Zwar heißt es beiläufig, Myrrha versuche, ihr Verlangen zu unterdrücken, doch hadert sie nicht mit ihrem Begehren, schämt sich nicht ob ihrer Liebe oder fürchtet die Konsequenzen des Inzests, sondern wird allein vom wütenden Rasen ihres Verlangens getrieben. Inhaltlich orientiert sich Spreng eng an Ovid, wobei sich mitunter der Eindruck aufdrängt, er habe den Prätext nicht richtig verstanden (oder bewusst zensiert). So reproduziert Spreng die Freierwahl, mit der er in die Handlung einsteigt, verpasst aber die Pointen von ‚Vaterwahl‘ und ‚Vaterkuss‘. Cinyres Nachfrage hängt sich an Myrrhas Ruhelosigkeit, doch möchte sie Qual, Kummer und Leid der Tochter ergründen (vgl. fol. 250r), von denen zuvor keine Rede war, sie steht also inhaltlich quer zum beschriebenen wütenden, tobenden, rasenden Zustand. Diese Abweichung geht nicht in einem Spiel mit Worten oder einer In-
„[…] war in eine unnatürliche Liebe ohne Scham zu ihrem Vater verfallen, in der sie voller Schande umherwatete.“ Hans Rudolf Velten: Schamlose Bilder – schamloses Sprechen. Zur Poetik der Ostentation in Heinrichs Reineke Fuchs. In: Scham und Schamlosigkeit. Hrsg. von Katja Gvozdeva/Hans Rudolf Velten, Berlin, New York 2011 (TMP 21), S. 97– 130, hier S. 97; in einem anderen Kontext. Vgl. Ovid, Metamorphosen 10.311 f., S. 374. Ovid spricht erst nach dem Selbstmordversuch von furor; vgl. Ovid, Metamorphosen 10.397, S. 378. Zur Semantik von fnhd. toben vgl. Baufeld, S. 53.
7.4 Johannes Spreng: Metamorphoses
211
szenierung nonverbaler Zeichen einher, sie bedeutet schlicht einen erzähltechnischen Lapsus. Auf die Frage, welchen sie wähle, schweigt Myrrha und schämt sich (vgl. fol. 250r), was einen weiteren Bruch im Erzählkontinuum bedeutet, definiert Spreng eingangs doch inzestuöse Liebe als Liebe ohne Scham (vgl. fol. 249v). Von hier aus wird im Prinzip direkt zum Selbstmordversuch übergegangen, der aus der tödlichen Kraft der Liebe entspringt und zusätzlich mit Schmerz und Verzweiflung motiviert wird (vgl. fol. 250r). Dieser Wechsel im Emotionsregister von rasender Liebe zu schmerzvoller Verzweiflung, von Schamlosigkeit zu Scham bringt bei Spreng kein Hadern Myrrhas zum Ausdruck, dient nicht als Marker für eine (Neu‐)Bewertung der Figur. Vielmehr übernimmt Spreng einzelne Emotionen von Ovid, spart aber ihre Kontexte aus, so dass sie unverbunden wirken. Dies gilt auch für das Ammengespräch. Die Amme eilt auf Myrrhas jammer (fol. 250r: „Wehklage“³³²) hin zu ihr, schneidet sie vom Strick und bietet sogleich ihre Hilfe an. Doch zeigt sie sich nicht emotional involviert, Myrrhas Problem wird nicht expliziert oder in einer ausgefeilten Rhetorik angedeutet. Die Handlungslogik der Hilfe ist auf das Nötigste reduziert und zielt weder darauf, die Figuren zu emotionalisieren, noch die Rezipierenden zu affizieren. Nicht allein das schaurige Spiel mit dem Term ‚Vater‘ fehlt, Spreng spart den Dialog komplett aus und lässt die Figuren gleich zur Tat schreiten. Zuvor aber lässt sich Spreng, der in der Narration raffend und kürzend verfährt, in einer Auslegung selbst zu Wort kommen. Er wendet sich im Anschluss an den vereitelten Selbstmordversuch direkt an die Rezipierenden und mahnt: Hie lernen wir das sich niemand/ Beflecke mit greuwlicher schand/ Weliche die Natur verbeut/ Der Satan sich allein erfreuwt Ab solcher snd/darzů er gar/ Die Menschen reitzet mit gefahr. (fol. 250v) Hier lernen wir, dass sich niemand mit schrecklicher Schande beflecken soll, die die Natur verbietet, der Satan allein erfreut sich an solcherlei Sünde, zu der er die Menschen sogar hinterlistig verführt.
Fnhd. jamer bezeichnet den „hörbare[n] Ausdruck des Schmerzes, Wehklage“ sowie den „Zustand des Elends, beklagenswerter Zustand“; FWB 8, Sp. 280 f.
212
7 Myrrha
Mit Befleckung und greuwlicher schand, also gleichermaßen levitisch unreiner wie widerwärtiger Schande,³³³ finden sich wie schon bei Lorichius Elemente einer biblisch vorgeprägten Redeweise, die hier, assoziiert mit Termini wie Sünde, Natur, Teufel und Gefahr, weniger Ekel als vielmehr ein typisch christliches Gefühlsregiment der Abschreckung vor Unreinheit semantisieren. Die Didaxe wird von den konkreten ‚Tatbeständen‘ Inzest und Selbstmord auf alle Sünden wider die Natur ausgeweitet, der Teufel als Anstifter zur Sünde vorgestellt und mit Freude besetzt, so dass der Sünde der evaluative Gehalt teuflischer Freude zukommt. Damit wird die textextern anvisierte Abschreckung von den konkreten Handlungselementen Inzest und Selbstmord entkoppelt und auf Schande und Sünde allgemein abstrahiert. Die Warnung, die sich mit Myrrha verbindet, gilt für jedermann.
7.4.2 Kosmischer Inzest und Metamorphose Unter dem Titel Myrrha schlafft bey jrem Vatter (fol. 251r) zeigt Solis’ Holzschnitt die Amme – die, eben noch in der Blüte ihrer Jugend (vgl. fol. 249r), nun als alte Vettel daherkommt (vgl. fol. 251r) – im Bildmittelpunkt, sie hält die nackte Myrrha, die ihre Scham notdürftig mit der linken Hand verbirgt, an deren rechter Hand und bietet sie dem ebenfalls nackten, zugedeckt im Bett liegenden Vater an, der, wie Handgesten verraten, willig auf das Angebot der Amme eingeht (vgl. fol. 251r). Im Bild erscheint er als ebenso aktiver respektive passiver Part beim Geschlechtsakt wie Myrrha. Aus der Kammer heraus blickt man im rechten Bildteil in die Ferne und sieht einen nackten Cinyre der ebenfalls nackten Myrrha mit einem Schwert hinterhereilen, deren offene Haare im Wind wehen (vgl. fol. 251r). Der Inzestakt, der durch den Titel anzitiert wird, bleibt visuelle Leerstelle, gezeigt werden die beiden Szenen, die ihm direkt vorausgehen und folgen, was ein Fenster in der Rezeption öffnet, die Leerstelle imaginativ zu füllen. Bezeichnend ist darüber hinaus, dass Myrrha in beiden Fällen als Objekt der Handlungen anderer gezeigt wird. Die zugehörige Inhaltsangabe nimmt den Plot vom Ceresfest bis zur Flucht in neutralen Worten vorweg (vgl. fol. 251r), sie verfährt rein narrativ und weist keine Abweichung zur Textgestalt oder normative Deutung auf. Für die Inzestszene wird im Stile Ovids eine dunkle und unheilvolle Atmosphäre geschaffen, wobei Spreng auf die antiken Vorzeichen verzichtet und eine kleine, gravierende Umdeutung vornimmt:
Vgl. zur Semantik von greulich DWB 9, Sp. 238 f.
7.4 Johannes Spreng: Metamorphoses
213
Der Mon auch zuvor hell vnd pur/ Geschwind sein klaren schein verlur/ Vnd sich darab entsetzen thet/ Das wetter wurd auch gantz vnstet/ Der himmel mit wolcken bedeckt/ Und gleich durch diese schand befleckt (fol. 252r) Auch der Mond, zuvor hell und klar, verlor geschwind seinen hellen Schein und entsetzte sich darüber, das Wetter wurde ebenfalls ganz unbeständig, der Himmel mit Wolken bedeckt und gleich durch diese Schande befleckt.
Das Motiv, dass die Kräfte des Kosmos die Geburt oder Zeugung bedeutender Männer ankündigen, ist in der mittelhochdeutschen Epik tradiert.³³⁴ Es findet sich im Prinzip bereits bei Ovid in Form des Omens vorgeprägt, Spreng aber spielt ein neues Element ein, indem er die Naturgewalten personifiziert und im Speziellen emotionalisiert, die so eine kosmische Kulisse für den nun folgenden Inzest bilden. Das Entsetzen des Mondes ob der drohenden Schande stellt in einer Art Vorbildfunktion eine Emotionsnorm für die Rezipierenden bereit, der durch ihre Verankerung in der Schöpfungsordnung Nachdruck verliehen wird. Im Ganzen betrachtet aber fehlt Sprengs Inzestszene der ovidspezifische ‚Nervenkitzel‘. Ebenso wie schon bei Freierwahl und Ammengespräch übergeht er Anspielungen und Subtexte, Cinyres Trunkenheit ist schlicht schlechte Fügung, die unbekannte Geliebte wird motivisch nicht in die Nähe der Tochter gerückt, da statt des Alters der Buhlerin allgemeinere Kriterien wie ihr Stand und ihre Schönheit hervorgehoben werden (vgl. fol. 251v). Auch bleibt dieser Erzählteil auf Handlungsebene selbst im textinternen Vergleich seltsam emotionslos. Am Anfang ist Cinyre begierig, mit dem Mädchen zu schlafen, jenseits dieses Triebes fällt weder von seinen noch von Myrrhas noch von überhaupt irgendwelchen Emotionen ein Wort. Auf den Inzestakt verwendet Spreng so wenige Worte wie möglich: […] Myrrha thet/ Steigen auff jres Vatters bett. Nachdem nun dise snd abscheuwlich/ Vollbracht ward von den zweyen greuwlich/ Begert ein liecht der Knig […] (fol. 252r)
Vgl. etwa Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. und komment. von Elisabeth Lienert, Stuttgart 2007 (RUB 18508), V. 105 – 114 [V]; V. 125 – 138 [S].
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7 Myrrha
[…] Myrrha kletterte in das Bett ihres Vaters. Nachdem nun diese abscheuliche Sünde von den beiden schrecklicherweise vollzogen worden war, begehrte der König ein Licht […].
Die zielstrebig auf den Inzest hinführende Bewegung wird durch die temporale Konjunktion nachdem abgebrochen, der Geschlechtsakt syntaktisch als Ellipse markiert. Emotionen spielen keine Rolle, die Wortwahl deutet aber darauf hin, dass Spreng versucht, bei den Rezipierenden eine spezifische Rezeptionshaltung zu schüren. In der Doppelformel von abscheuwlich und greuwlich kehrt fast wörtlich Lorichius wieder, so dass erneut, wie auch schon in Sprengs erster Auslegung, ein zeitgenössisches Denkmuster transparent wird, das mit dem Inzesttabu in Verbindung steht. Es fügt sich bei Spreng primär in eine religiös überhöhte Redeweise von Reinheit und Befleckung, der Vater-Tochter-Inzest wird auch hier wiederholt als Schande (vgl. fol. 249v, 251v), Sünde (vgl. fol. 252r) und Befleckung (vgl. fol. 249r) bezeichnet. So gewinnt Sprengs Erzählung affektive Schlagkraft, die Inzestthematik wird (und zwar dezidiert mit Blick auf die Rezipierenden, nicht auf die Handlungsebene) mit starken, tabuspezifischen Emotionen besetzt, die ein Klima von Schrecken und Grauen schaffen und auf die Handlungsoption der Vermeidung hinauslaufen. Dies wird besonders in Sprengs den Inzestakt kommentierenden Auslegung deutlich. Als Cinyre erkennt, wer bei ihm liegt, entstehen jammer vnd klag (fol. 252r: „Leid und Klage“), voll grim („wut, wütender, heftiger zorn“³³⁵) jagt er die Tochter vom Schloss. Über diese Emotionen wird verdeutlicht, dass der Inzest einen schmerzhaften Verlust und einen (legitimen) Stimulus für Wut und Zorn bildet, der interaktionale und motivationale Aspekt, den Wickram so profiliert, fällt durch Raffung und Kürzung jedoch unter den Tisch. Stattdessen nimmt wiederum eine Auslegung den meisten Raum ein, bei der Spreng erneut das Motiv der personifizierten Elemente des Kosmos aufgreift: Durch der menschen greuwliche that/ Der himmel selbs ein trauren hat/ Die Natur sich darab entsetzt/ Wirt gleich in jrem lauff verletzt/ Das Erdtrich offt erbidmen thut/ Ab der welt boßhafftigem mut/ Die Element verkeren sich/ Ab der Menschen snd jmerlich/ Noch nichts deß weniger die leut/ In schand sich sehr vmbweltzen heut/ Ob sich schon die Natur verwendt/
DWB 4, Sp. 347.
7.4 Johannes Spreng: Metamorphoses
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Jedoch ist die welt so verblendt/ Das sie von snden nicht abkert/ Noch sich zu besseren begert. (fol. 252r/v) Wegen der unreinen Tat der Menschen trägt der Himmel selbst Trauer, die Natur entsetzt sich darüber, wird sogleich in ihrem Lauf verletzt, das Erdreich erbebt häufig wegen der Boshaftigkeit der Welt, die Elemente werden durcheinandergebracht wegen der schrecklichen Sünde der Menschen, dennoch suhlen sich die Leute heutzutage nichtsdestoweniger in Schande, obwohl sich die Natur bereits abwendet, ist die Welt doch so verblendet, dass sie weder von den Sünden ablässt noch gewillt ist, sich zu bessern.
Spreng geht hier noch einen Schritt weiter als in der Narration. Er personifiziert die kosmischen Kräfte, deutet die Personifikationen allegorisch aus und funktionalisiert die Allegorien didaktisch. So knüpft er eine Art Fries (wenn nicht allegorischen Monumentalbau), gleich einem Publikum säumen die Naturgewalten die narrative Leerstelle des Inzestaktes. Trauer und Entsetzen der Naturgewalten stellen ein affektives Modell für die Rezipierenden bereit, das durch die Naturalisierung normative Kraft entfaltet und der Freude des Teufels antagonistisch gegenübersteht. Objekt dieser Emotionsnormen sind Sünde und Schande, nicht der Inzest, der allein dazu dient, einer generalisierten Sündhaftigkeit einen spezifischen Schrecken zu verleihen. Die Didaxe lässt sich tendenziell auf jede Sünde ausweiten, das antike Exempel wirkt in die Gegenwart der Rezipierenden hinein, die Inzestthematik in jedes noch so kleine Vergehen. In der dritten und letzten Illustration zu Myrrha wird anders als bei den vorangegangenen narrativen Doppelbildern allein die Verwandlung visualisiert und so zentralgestellt (vgl. fol. 253r). Mittig steht Myrrha, das Gesicht in Qual und Leid verzogen, mit Zweigen statt Haaren und Wurzeln statt Füßen, der Körper aber ist nackt und nach weiblichen Attributen geformt. Solis schreibt die Unkeuschheit Myrrhas fest, kein einziges Mal zeigt er sie vollständig bekleidet, die bloßen Brüste fungieren als Signum ihrer Unkeuschheit. Auch die Inhaltsangabe insistiert, dass Myrrha […] auß vnnatrlichem beischlaff jres Eheleiblichen Vatters schwanger gieng ³³⁶ (fol. 253r). In dem Begriff eheleiblich kulminieren die Verwandtschaftskonzepte von Deszendenz und Affinitas, er wird verwendet, um über die leibliche Abkunft hinaus zu bezeugen, dass das Kind in einer rechtmäßigen Ehe geboren ist.³³⁷ Mithilfe dieser verwandtschaftlichen Ordnungsbegriffe wird
„Myrrha von ihrem unnatürlichen Beischlaf mit ihrem eheleiblichen Vater schwanger war“. Vgl. Samuel Johann Ernst Stosch: Versuch in richtiger Bestimmung einiger gleichbedeutenden Wörter der deutschen Sprache. Bd. 2, Wien 1786, S. 509.
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7 Myrrha
Myrrha als rechtmäßiges Kind klassifiziert, das transgressive Moment des Inzests verstärkt. Darüber hinaus wird in der Inhaltsangabe proleptisch darauf hingewiesen, dass Myrrha des Lebens überdrüssig ist, den Tod aber fürchtet, weshalb sie ihr Gebet an die Götter richtet. Spreng geht also den bei Ovid vorgezeichneten Weg, deutet diesen aber ebenfalls im christlichen Sinne aus: Weil Myrrha jr missethat bekennt / vnd die Gtter hertzlich gebetten hat […] ist sie von Gttren erhrt ³³⁸ (fol. 253r). Entsprechend offeriert Spreng bei der sich anschließenden Metamorphose eine Lesart, die sich sowohl von Wickrams Erlösungs- als auch von Brunos Bestrafungslogik unterscheidet. Myrrha ist betrübt wegen der bevorstehenden Geburt, so dass sie sich erneut den Tod wünscht, wovon Angst und Furcht sie abhalten (vgl. fol. 253v und 254r). Sie motivieren Myrrhas Gebet, das ausführlich entfaltet wird (vgl. fol. 253v-254r). Bezeichnenderweise bittet die Heldin darin nicht allein um Gnade und Huld der Götter, sondern um Strafe für ihre Sünden, für die sie bereit ist, weitere Leiden zu ertragen (vgl. a. fol. 254r). So gelingt es Spreng, die Metamorphose sowohl als Strafe als auch als Rettung erscheinen zu lassen – die Strafe ist die Rettung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kürzungen Sprengs Emotionen auf der Handlungsebene betreffen, denen er auf Kosten von Kohärenz und Stringenz weniger Platz einräumt als seine Vorlage, auch wenn er in den Inhaltsangaben mitunter emotionalisierend verfährt. Doch wiegt er die Bedeutung, die er Emotionen auf textinterner Ebene nimmt, auf textexterner Ebene mit einer Reihe an Rezeptions-Stimuli auf. Sie sind religiös fundiert und zielen auf Grauen, Schrecken und Entsetzen. Zudem zensiert Spreng mit Myrrhas Monolog, Vaterwahl und Vaterkuss sowie den Anspielungen im Ammengespräch alles, was allzu anzüglich erscheinen und imaginatives Potential hätte entfalten können, so dass in der Textaneignung Spuren der Tabuisierung transparent werden, die sich nicht zuletzt in der Inzestszene entäußern. Statt inhaltlicher Ambivalenzen und stilistischer Finesse setzt Spreng auf die klare Sprache wertender Adjektive, die den Inzest als etwas Abscheuliches und Unreines brandmarken, sowie die normative Kraft personifizierter und emotionalisierter Naturgewalten, die modellhaft Entsetzen ob der Inzestthematik fordern, der Fokus liegt auf textexterner Ebene. Dass es ihm hierbei gar nicht im Besonderen um die Inzestthematik geht, wird neben dem Umstand, dass er den Nyctimene-Einschub überspringt, vor allem in seiner letzten sowie den Auslegungen anderer Inzestgeschichten evident, wie abschließend gezeigt werden soll.
„[…] ihre Vergehen bekennt und die Götter herzlich gebeten hat […] wird sie von den Göttern erhört“.
7.4 Johannes Spreng: Metamorphoses
217
7.4.3 Inzest als allgemeine Warnung im Ko(n)text Spreng greift das Inzestthema im Anschluss an den Schwager-Schwägerin-Inzest zwischen Tereus und Philomela nicht in seiner Auslegung auf, sondern nutzt die Gelegenheit zunächst für eine allgemeine Tyrannenkritik (vgl. fol. 146v), sodann das Motiv des Teppichs, auf den die verstummte Philomela ihr Schicksal wirkt, um an alle Frauen zu appellieren: Beim leben dise Schwester blib/ Durch Kunst vnd arbeit die sie trib/ Ein Ehrenweib mercke hiebey/ Daß sie daheim nit mssig sey/ Die arbeit hat ein grosse krafft/ Der mssiggang vil arges schafft. (fol. 148v) Diese Schwester blieb am Leben durch handwerkliche Fähigkeiten und mühsame Arbeit, die sie betrieb. Eine ehrenvolle Frau lernt hieran, dass sie zu Hause nicht müßig sein soll, [denn] Arbeit hat eine große Kraft, [während] Müßiggang viel Schlechtes schafft.
Das Schicksal der geschändeten Philomela wird genutzt, um das Ideal einer tätigen Hausfrau zu propagieren – fast ist man gewillt, Boltes harschem Urteil zuzustimmen, Sprengs Auslegungen trügen mitunter alberne Züge.³³⁹ Bei Biblis steht die Inzestthematik ebenfalls nicht im Vordergrund der Auslegungen. Aus dieser Fabel, so Spreng, sei zu lernen, dass man nicht in Unkeuschheit und Schande leben solle und unreine Liebe Todesschmerz erzeuge (vgl. fol. 226v). Abstrahiert wird damit erneut von der konkreten inzestuösen Liebe im Prätext auf eine verallgemeinerte Sündhaftigkeit, die jedes schandhafte Handeln umfasst. Und auf eben jenen Sinnzusammenhang, der vom antiken Exempel eine ‚lebenspraktische‘ Anweisung für die Zeitgenossen zu extrahieren sucht, stellt die abschließende Auslegung ab, die den Ehrenhaften lobt, der vor der Unzucht flieht, während der, der in Sünde verweilt, vor Gottes Angesicht zerfließt (vgl. fol. 228v). Sollen die Rezipierenden sich allen Ernstes fürchten, wie Biblis zu einer Quelle zu metamorphisieren, im wahrsten Sinne des Wortes zu ‚zerfließen‘, wenn sie Gottes Geboten keine Folge leisten? Sprengs Bestreben, die antiken Fabeln in den Dienst von Moraldidaxen zu stellen, bringt Brüche hervor. Die Inzestthematik im Speziellen verschwindet nahezu hinter einem moralingesäuerten Rundumschlag, der das ‚große Ganze‘ von der Tätigkeit der Hausfrau über die Herrscherkritik bis hin zu Sünde und Unzucht im Allgemeinen im Visier hat. Dieses
Vgl. Bolte, Vorwort, S. XXX.
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7 Myrrha
Deutungsmuster prägt auch die letzte Auslegung zu Myrrha, die auf ihre Metamorphose folgt. Spreng schließt erneut vom konkreten Fall auf allgemeine Sündhaftigkeit (vgl. fol. 254r/v), stellt aber nun die Gnadentätigkeit Gottes in den Vordergrund und lobt – ausgerechnet – Myrrha zum Vorbild aus. Die Rezipierenden sollen sich an ihr ein Beispiel nehmen und ebenso wie jene demütig und aus tiefstem Herzen ihre Sünden bekennen und sich willig in die von Gott zugedachte Strafe fügen (vgl. fol. 254r). Die antike Inzestliebende wird zum Positivexempel.
7.5 Zwischenfazit Die Geschichte von Myrrha, wie Ovid sie kurz nach dem Jahre 0 erzählt, wird von den volkssprachigen Dichtern im 16. Jahrhundert unterschiedlich aktualisiert und interpretiert. Selbst der basale Konnex von Narration und Metamorphose, der den Sinnzusammenhang des Erzählsyntagmas generiert, differiert. Wickram versteht Myrrhas Verwandlung als Rettung und Erlösung, Bruno und Sachs hingegen als Strafe, bei Spreng schließlich ist ausgerechnet die Strafe ein Ausdruck göttlicher Gnade. Wo Myrrha bei Bruno als Negativexempel figuriert ist, wird sie bei Spreng zum Vorbild. Bei Wickram ist zunächst eine ablehnende Erzählhaltung der Heldin gegenüber zu beobachten, die dann zunehmend in Sympathie kippt. Zur Tabuthematik ist anzumerken, dass alle Dichter die aus dem antiken Stoff vorgegebenen transgressiven Begehrensstrukturen reproduzieren (und nicht etwa die Geschichte Myrrhas aus den Metamorphosen ausblenden), im Vergleich zu Ovid aber die Tendenz aufweisen, Ambivalenzen bezüglich der Inzestthematik zu glätten (wofür insbesondere der ‚Pointenverpasser‘ Spreng ein Beispiel gibt). Dabei zeichnet sich in der konkreten Ausgestaltung ein unterschiedlicher Grad der Tabuisierung ab. So ist Wickram in der Folge Albrechts der einzige, der Orpheus’ Gesang und Myrrhas Monolog aufgreift, wodurch Inzest, Tabu und Emotion zumindest im Ansatz reflexive Tiefe erreichen, auch wenn er allzu Ambivalentes ausspart. In der Inzestszene wird die Intimität von Vater und Tochter in der Regel reinszeniert und gewinnt durch die Situierung in Kemenate und Bett, Gesten der Zärtlichkeit oder Dialoge in direkter Rede an Kontur. Am plastischsten tritt der Inzest- als Liebesakt bei Hans Sachs vor Augen, obgleich seine Fassungen die kürzesten hier berücksichtigten sind, während Wickram in (Verwandtschafts‐) Rätseln spricht; am stärksten tabuisiert ist er im elliptischen Zugriff Sprengs. Unterschiedlich behandelt werden auch korrelative Erzählelemente wie die Trunkenheit und Unwissenheit des Vaters und die Abwesenheit der Mutter, die als Entlastungsstrategien fungieren können. So insistiert Bruno auf Unwissenheit, während Sachs die Emotionen von Vater und Tochter zu parallelisieren versucht.
7.5 Zwischenfazit
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Die Konzeption der Mutterfigur reicht von der Leerstelle bei Wickram bis hin zur aktiven Handlungsträgerin bei Spreng. Keiner der frühneuhochdeutschen Dichter vermag Ovid in Stil und Sprache zu kopieren, Spreng erfasst nicht einmal den Inhalt korrekt. Die bei Ovid vorgeprägte zentrale Rolle von Emotionen hingegen bleibt auch in den Textzeugnissen des 16. Jahrhunderts bestehen. Mit Ausnahme Brunos kreisen alle Bearbeitungen um liebe, die in Ovidscher Tradition als ein Gefühl imaginiert wird, das einen sich steigernden Handlungsdruck entfaltet und auf Vollzug drängt, prominent metaphorisiert als ‚Liebe als Feuer‘. Bei Sachs ist Liebe sogar nahezu die einzige Emotion, die relevant wird. Äquivalent stehen mitunter Begriffe wie begir, begern und lust, die den Bedeutungsbereich sexuellen Verlangens und körperlichen Begehrens dominant machen. Dabei lassen die Verfasser keinen Zweifel daran, dass diese Form der Liebe eine schändliche und verwerfliche ist, was bei Wickram und Spreng durch die Attribuierung von Adjektiven präsent gehalten, bei Bruno und Sachs durch das Arrangement des Stoffes selbst zutage getragen wird. (Falsche) Liebe ist jedoch nicht die einzige Emotion, die mit der Inzestthematik einhergeht; Scham, Furcht, Trauer, Wut, Rache, Reue, Verachtung, Entsetzen, Schrecken und Ekel treten hinzu. Insgesamt sind mit Blick auf Emotionen aber weitreichende Unterschiede zu verzeichnen. Bei Spreng und Bruno bleiben sie Makulatur, bei Wickram bilden sie die Essenz der Erzählung. Sie geben dabei weniger Anlass zur Reflexion als bei Ovid, Wickram fokussiert die Ausdrucksebene und transformiert Ovids Spiel mit Worten in ein Spiel mit nonverbalen Zeichen. Dieses Spiel, das in unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen von Figuren und Rezipierenden fundiert ist, befördert Spannung auf textexterner Ebene. Der Erzählstoff dürfte aber auch mit einem spezifischen Faszinationspotential ausgestattet sein, denn durch die Reihe schildern die Bearbeiter Grauen, Entsetzen, Verachtung oder auch Ekel, die in der ästhetischen Distanz Lustgewinn ermöglichen. Spreng konzentriert sich gar auf die textexterne Ebene, seine Bearbeitung zielt darauf, die Rezipierenden zu affizieren, wofür er das Motiv personifizierter Naturgewalten einfügt. In ähnlicher Weise verfährt Lorichius. Bei beiden wird ein theologischer Diskurs greifbar, der in die durch die Schöpfung vorgegebene Ordnung eine Gender-Ebene einzieht, die mit spezifischen Emotionen verknüpft ist. Unkeuschheit wird mit dem weiblichen Geschlecht korreliert und mit negativen Emotionen besetzt, sie fordert Furcht und Entsetzen. Überhaupt ist zu beobachten, dass nicht die Inzestthematik selbst im Mittelpunkt des Normzentrums steht, sondern übergeordnete Konzepte wie Unkeuschheit oder Sünde, für die der Inzest ein abschreckendes Beispiel gibt. Zugleich scheint durch die christliche Überformung auch die Möglichkeit göttlicher Gnade auf, die aus der Gefallenen eine Gerettete macht. Das christliche Wertesystem ist allerdings nicht die einzige strukturelle Ordnung, auf die Bezug ge-
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7 Myrrha
nommen wird. Daneben wird bei allen Dichtern auch ein weltliches, am Prinzip von Ehre und Schande orientiertes, auf die Verwandtschaft und/oder das adlige Selbstverständnis zielendes Ordnungssystem thematisiert. Insgesamt lässt sich sagen, dass Wickrams Bearbeitung mit Blick auf textinterne Emotionen unter den anderen hervorsticht. Seine Variante entwickelt ein Gespür dafür, Emotionen nicht allein zu benennen, sondern zu zeigen, und die Handlung stringent um eine reaktive Folge von Emotionen zu gruppieren. Es ist zu vermuten, dass diese Ausrichtung zumindest in ihren Grundzügen bereits bei Albrecht vorgeprägt ist, wobei bemerkenswert ist, dass knapp 350 Jahre nach Albrechts wenig erfolgreichen Metamorphosen seine Lesart des Myrrha-Stoffes, vermittelt und verstärkt durch Wickram, so erfolgreich ist. Denn Wickrams Metamorphosen-Bearbeitung erfreuen sich in ihrer Zeit einiger Popularität, nur sechs Jahre nach Erscheinen geht eine zweite Auflage bei Schöffer in den Druck, 1581 bringt der umtriebige Verleger Sigmund Feyerabend in Frankfurt am Main eine weitere Ausgabe der Metamorphosen heraus.³⁴⁰ Es handelt sich der Sache nach um eine Wickram-Ausgabe, doch erscheint sein Name nicht im Titel, Widmungen und Vorreden sind gestrichen, darüber hinaus nimmt Feyerabend Eingriffe in die Textgestalt vor, ergänzt Lücken mit Spreng und tauscht Wickrams Holzschnitte gegen Solis’ Illustrationen aus, die dem Zeitgeschmack offensichtlich mehr entsprechen.³⁴¹ Die Miniaturen sind oberhalb mit lateinischen, unterhalb mit volkssprachigen Inschriften versehen. So ist es möglich, die Erzählung durch schauendes Lesen zu erschließen, gleichsam wird auf der Grundlage der Inschriften deutlich, dass es sich um eine parallele Erzählung handelt oder vielmehr: zwei parallele Erzählungen, denn die volkssprachigen Angaben stellen keine reinen Übersetzungen der lateinischen dar. So ist zum Beispiel in den lateinischen Bildtiteln das Lexem scelus prominent vertreten (vgl. fol. 133r, 134r), das nur ein einziges Mal mit schandt (fol. 134r) übersetzt, sonst ersatzlos übergangen wird. Dafür fügt Feyerabend bei der Illustration zur Verwandlung den Zorn des Vaters hinzu (vgl. fol. 135r). Im Text nimmt Feyerabend nur geringfügige Eingriffe vor. Er redupliziert die Indexhände nicht, eine Marginalglosse markiert aber Myrrhas Metamorphose (vgl. fol. 134v). Wickrams Inhaltsangaben werden übernommen, bei der ersten fügt Feyerabend zur Erläuterung von Myrrhas Liebe den Satz hinzu: Deßhalb sie sich auch trawrig stellt (fol. 132r). Diese Aussage ist in-
Vgl. Mainz: Ivo Schöffer, 1551 (VD16 O 1664). Der Feyerabend-Text ist nicht ediert und wird im Folgenden im Fließtext zitiert nach dem Druck P. Ovidii: Metamorphosis. Oder: Wunderbarliche vnnd seltzame Beschreibung / von der Menschen / Thiern / vnd anderer Creaturen vernderung. Frankfurt a. M.: Sigmund Feyerabend, 1581 (VD16 O 1665). Vgl. Bolte, Vorwort, S. XXX; Roloff, Nachwort, S. 886; Rücker, Bearbeitung, S. 260; Schreurs, Moler, S. 182 f.
7.5 Zwischenfazit
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sofern hervorzuheben, als zum ersten Mal im Rahmen der hier behandelten Myrrha-Bearbeitungen der Vorwurf der Verstellung (dissimulatio) anklingt – wo doch in der Narration das Problem virulent wird, dass Myrrha sich gerade nicht verstellen kann und nonverbale Zeichen nach außen hin anzeigen, was nicht zum Vorschein kommen darf. Hiervon abgesehen bleibt die Wickramsche Textgestalt und mit ihr die Betonung von Emotionen aber erhalten, was aufschlussreich ist, entscheidet sich Feyerabend doch bewusst gegen Sprengs und für Wickrams Version. Ob er diese Entscheidung aus inhaltlich-stilistischen oder wirtschaftlichen Gründen trifft, kann dahingestellt bleiben, Fakt ist, dass Wickrams Fassung der Verkaufsschlager im Bereich der Metamorphosen-Bearbeitungen ist. Dieser Erfolg hält noch im 17. Jahrhundert an, Feyerabends Ausgabe bildet die Grundlage für zwei weitere Drucke, 1609 bei Johann Saurn und 1631 bei Caspar Roetel.³⁴² Wickrams Text, ausgehend von Albrecht, durchsetzt mit Solis, Spreng und Feyerabend, ist damit nahezu hundert Jahren nach seinem ersten Erscheinen noch auf dem Markt präsent, was von einem anhaltenden Interesse zeugt am Stoff der Metamorphosen, wie Wickram ihn erzählt.
Vgl. hierzu Roloff, Nachwort, S. 886; Rücker, Bearbeitung, S. 260.
8 Apollonius Der Apollonius-Stoff erfreut sich das gesamte Mittelalter hindurch einer beständigen Beliebtheit. Auch wenn man nicht mit Richard Peters annehmen muss, es handele sich um den „Lieblingsroman des Mittelalters“¹, lässt sich mit Archibald von einem „mittelalterlichen Bestseller“² sprechen, der über ein Millennium hinweg breit rezipiert und reproduziert wird. Allein für die lateinische Historia Apollonii Regi Tyri aus dem 5. oder 6. Jahrhundert,³ die vielleicht auf eine griechische Fassung zurückgeht, zählt Georgius A. A. Kortekaas in seiner Edition über einhundert Textzeugen.⁴ In einer Art Vorgeschichte erzählt die Historia vom König Antiochus, der seine Tochter begehrt und sich ihrer bemächtigt. Die Gestaltung der Inzestthematik unterscheidet sich eklatant von den bisher besprochenen Erzählungen. Ging dort das Begehren von den Töchtern aus, ist es nun der Vater, den es zur Tochter drängt; bedienen sich die Töchter einer List, wendet Antiochus grobe Gewalt an; die Vergewaltigungs- überblendet die Inzestthematik.⁵ Während der Vater-Tochter-Inzest in der Forschung in den letzten Jahren vergleichsweise viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat,⁶ finden Emotionen bestenfalls beiläufig Erwäh-
So der Untertitel bei Richard Peters: Die Geschichte des Königs Apollonius von Tyrus. Der Lieblingsroman des Mittelalters, Berlin 1904 (Kulturhistorische Liebhaberbibliothek 18). I. O. „medieval bestseller“; Archibald, Incest, S. 96. Für die Historia wird zwischen drei Redaktionen unterschieden, im Folgenden unter den gängigen Abkürzungen HA (RA) und HA (RB) nach der Ausgabe Historia Apollonii regis Tyri. Prolegomena, text edition of the two principal latin recensions, bibliography, indices and appendices. Hrsg. von Georgius A. A. Kortekaas, Groningen 1984 (Mediaevalia Groningana 3); HA (RC) nach der Ausgabe Historia Apollonii regis Tyri. Hrsg. von Gareth Schmeling, Leipzig 1988 (BT). Vgl. Georgius A. A. Kortekaas: Prolegomena. In: Historia Apollonii regis Tyri. Prolegomena, text edition of the two principal latin recensions, bibliography, indices and appendices. Hrsg. von dems., Groningen 1984 (Mediaevalia Groningana 3), S. 1– 274, hier S. 7 f. Vgl. hierzu a. Elizabeth Archibald: Apollonius of Tyre. Medieval and Renaissance themes and variations, Cambridge 1991, S. 45; Archibald, Incest, S. 96; Helmut Birkhan: Leben und Abenteuer des großen Königs Apollonius von Tyrus zu Land und zur See. Ein Abenteuerroman von Heinrich von Neustadt verfaßt zu Wien um 1300 nach Gottes Geburt, Bern 2001, S. 402. Vgl. Albrecht Classen: Sexual violence and rape in the Middle Ages. A critical discourse in premodern German and European literature, Berlin 2011 (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 7), S. 161; Lienert, Töchter, S. 13 f. Vgl. etwa Margie Burns: Oedipus and Apollonius. In: International Journal of Moral and Social Studies 7/1 (1992), S. 3 – 17, Archibald, The appalling dangers; Dies., Incest, S. 94– 101; Ulrike Junk: Transformationen der Textstruktur. Historia Apollonii und Apollonius von Tyrland, Trier 2003 (LIR 31), S. 19 – 60; Helmut Berneder: Väter und Töchter in der Historia Apollonii Regis Tyri. In: Frauen und Geschlechter. Bd. 2: Bilder – Rollen – Realitäten in den Texten antiker Auhttps://doi.org/10.1515/9783110618440-009
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nung, wenn Helmut Berneder „Spannung, Humor, und Abenteuerliches“⁷ beobachtet, Karen Cieslik die Historia als „ebenso abenteuerliche wie emotional anrührende Geschichte“⁸ beschreibt, Eming in der initialen Inzestthematik das „Bild der Familie als Gefahrenherd der Sexualität und emotionalen Verstrickung“⁹ erkennt oder Kiening das affektive Moment der Erzählung hervorhebt.¹⁰ Diese Äußerungen beziehen sich zum Teil auf die textinterne, zum Teil auf die textexterne Ebene, eine systematische Analyse steht noch aus. Dass Emotionen bisher nicht zum Einzelgegenstand umfassender Untersuchungen geworden sind, mag nicht zuletzt in Stil und Duktus der Historia begründet liegen. So konstatiert Franz Peter Waiblinger: Der Typisierung der Personen entsprechen die stilistischen Klischees. Statt differenzierter Beschreibungen finden wir formelhafte Wendungen […]. Seelische Zustände werden meist als stereotype Aktion dargestellt (‚unter einem Strom von Tränen…‘) oder durch bloße Benennung eines Gefühls signalisiert (‚es freut sich der König, es freut sich auch Apollonius‘).¹¹
Die Handlung ist arm an emotionaler und kausaler Motivation, was zu Brüchen und Inkonsistenzen im Erzählkontinuum führt.¹² Auch das inzestuöse Verlangen des Königs entsteht mehr oder weniger unvermittelt. Die Königstochter wird von Freiern umworben, erst „als der Vater überlegte, wem er seine Tochter denn nun zur Frau geben solle, bezwang ihn das Feuer der Begehrlichkeit mit unerlaubter Lust, und er fiel in leidenschaftliche Liebe zu seiner Tochter und begann sie anders zu lieben, als es sich für einen Vater gehörte.“¹³ Das inzestuöse Verlangen wird als Begierde und Leidenschaft gefasst (cupiditas; amor) und mit den Metaphern ‚verwundetes Herz‘ und ‚Liebe als Feuer‘ als (be)zwingende Kraft imaginiert. Antiochus versucht furor („Raserei“) und dolor („Schmerz“) zu widerstehen, toren zwischen Antike und Mittelalter. Hrsg. von Christoph Ulf/Robert Rollinger, Köln 2006, S. 211– 226; Classen, Sexual violence, S. 161 ff. Berneder, Väter, S. 224. Karin Cieslik: Wertnormen und Ideologie im Apollonius von Tyrland des Heinrich von Neustadt. In: Le roman antique au Moyen Âge. Hrsg.von Danielle Buschinger, Göppingen 1992 (GAG 549), S. 43 – 52, hier S. 43. Eming, Inzestneigung, S. 40. Vgl. Kiening, Unheilige Familien, S. 37. Franz Peter Waiblinger: Einleitung. In: Historia Apollonii regis Tyri. Hrsg., übers. und eingel. von dems., München 1978 (dtv 9141), S. 5 – 14, hier S. 9 f. Vgl. Archibald, Incest, S. 63 ff. Historia Apollonii regis Tyri. Hrsg., übers. und eingel. von Franz Peter Waiblinger, München 1978 (dtv 9141), S. 17; […] cum pater deliberaret, cui potentissimo filiam suam in matrimonium daret, cogente iniqua cupiditate flamma concupiscentie incidit in amorem filie sue et cepit eam aliter diligere, quam patrem oportebat; HA (RA) cap. 1, Z. 7– 10, S. 278.
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aber „die Leidenschaft besiegt ihn“, „angestachelt vom Wahnsinn seiner Leidenschaft“¹⁴ bemächtigt er sich seiner Tochter. Beim Inzestakt werden keine Emotionen erwähnt, selbst seine Folgen bleiben diesbezüglich relativ konturlos, die Amme sieht „das Mädchen mit Tränen im Gesicht, von Rosenröte übergossen und den Fußboden mit Blut bespritzt“¹⁵. Die nonverbalen Zeichen verweisen auf Trauer, gegebenenfalls auch Scham, Emotionen werden aber nicht konkretisiert. Vielmehr zeigt sich der Schrecken des Inzests in einem symbolträchtigen Motiv, dem Blut der Defloration. Es trägt die Szene motivisch und wird auf gedrängtem Raum in nur zwei direkt aufeinander folgenden Sätzen dreimal inseriert.¹⁶ Das sprechende Motiv und seine formale Replikation ergeben eine drastische Darstellungsweise, die auf einen textexternen ‚Schockeffekt‘ setzt, die dreimalige Wiederholung zeugt zugleich von einer gewissen Sensationslust. Hierfür spricht zumindest die Redaktion HA (RB), die gleichwertig neben der bisher besprochenen Redaktion HA (RA) steht und in der die „dreimalige Verwendung in unmittelbarer Folge […] als anstößig beseitigt“¹⁷ wird, das Blutsmotiv nur einmal genannt. Es initiiert in beiden Redaktionen einen Hilfe-Dialog mit der Amme, der Myrrhas Ammengespräch unter umgekehrten Vorzeichen entspricht.¹⁸ Emotionen werden kaum profiliert, die Amme erschrickt (horror), als die Königstochter klagt, noch vor der Ehe entehrt worden zu sein, der Tochter schaudert (horror) ob der Schande.¹⁹ Erneut kommen die gravierenden Konsequenzen des Inzests primär motivisch zum Ausdruck. Erstens beklagt die Tochter, an ihr seien zwei Namen zerstört worden. In dieser Doppelfunktion bezieht sich der Namensverlust zum einen auf den verlorenen Status als Jungfrau (den unwiederbringlichen Verlust von Keuschheit und Reinheit noch vor der Eheschließung), zum anderen auf den Verlust des Vaters als Vater (und mit ihm des Standes als Königstochter).²⁰ Die ohnehin schon namenlose, ausschließlich über ihre Funktion als Braut und Tochter definierte Königstochter wird durch den Inzest in ein Niemandsland sozialer Zugehörigkeit katapultiert. Der Name bildet dabei auch an anderen Stellen in der Historia ein Medium, im Moment der Ka-
Historia, S. 17; vincitur amore; stimulante furore liuidinis; HA (RA) cap. 1, Z. 11 f. und 16, S. 278. Historia, S. 17; puellam fleuili uultu, asperso pauimento sanguine, roseo rubore *perfusa; HA (RA) cap. 2, Z. 2, S. 280. Vgl. ebd., cap. 1, Z. 19 f. und cap. 2., Z. 2, S. 278 und 280. Markus Janka: Die Fassungen RA und RB der Historia Apollonii Regis Tyri im Vergleich. In: Rheinisches Museum 140 (1997), S. 168 – 187, hier S. 173 f. Vgl. HA (RB) cap. 2, Z. 2, S. 281. Vgl. Reinhold Merkelbach: Isis regina – Zeus Sarapis. Die griechisch-ägyptische Religion nach den Quellen dargestellt, München, Leipzig 2001, S. 397 ff. sowie Fn 1 und 2, S. 399. Vgl. HA (RA) cap. 2, Z. 8 und 14, S. 280. Vgl. ebd., cap. 2, Z. 4– 12.
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tastrophe über Identität zu reflektieren, die nicht personal gedacht, sondern über den sozialen Status definiert ist.²¹ Zweitens äußert die Königstochter den Wunsch, der Schande durch Selbstmord zu entgehen, womit sie, so Eming, den „sozialen Tod“²² in Worte fasst, den der Inzest für sie bedeutet. Die Amme überzeugt die Königstochter durch freundliches Zureden von diesem Vorhaben abzulassen und rät ihr, dem Vater zu Willen zu sein. Um das inzestuöse Verhältnis fortzuführen und Werber von seiner Tochter fernzuhalten, ersinnt Antiochus ein Rätsel als Freierprobe; wer es löst, erhält die Hand der Tochter, wer versagt, wird enthauptet. Was als ‚Halsrätsel‘ daherkommt, bedeutet faktisch den sicheren Tod, die Dekapitation wird ausnahmslos exekutiert. Das Rätsellösen als Feierprobe ist ein verbreitetes Motiv in der Literatur, wird aber in dieser Funktion ad absurdum geführt.²³ Auch der „Konnex zwischen Brautwerbungsschema und Inzestmotiv […] ist als Option grundsätzlich in der Logik des Brautwerbungsschemas mit angelegt“ und „hat die Funktion, die zentrale Hürde für den Erwerb der Braut zu erzeugen“²⁴, doch wird die Logik von Gabe und Gegengabe im System des Frauentausches pervertiert; nicht die Braut, der Tod wird zum Lohn. In diese prekäre Ausgangslage tritt Apollonius, der eigentliche Held der Geschichte. Er löst das Rätsel, doch Antiochus schickt ihn fort und schmiedet hinter seinem Rücken ein Mordkomplott. Der Held muss fliehen, die Romanhandlung nimmt ihren Lauf, Antiochus und seine Tochter spielen fortan keine handlungstragende Rolle mehr. Damit ist ein weiterer signifikanter Unterschied zu den bisher besprochenen Erzählungen benannt. Bildet die Inzestthematik dort das Substrat der Haupthandlung, ist sie dieser nun äußerlich und der eigentlichen Erzählung vorgelagert. Diese „strukturelle Eigentümlichkeit“²⁵ hat der Forschung Anlass gegeben zu diskutieren, ob die Inzestthematik überhaupt genuiner Bestandteil des Stoffes ist oder ob es sich um eine spätere Hinzufügung handelt, die
Vgl. Hans-Jürgen Bachorski: grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von dems./Günter Berger/Stephan Kohl, Trier 1993 (LIR 7), S. 59 – 86, hier S. 71; Schneider, Chiffren, S. 201 f. und 204. Eming, Inzestneigung, S. 32; vgl. a. Archibald, Incest, S. 59; Benthien, Inzestscheu, S. 84 f. Vgl. Birkhan, Apollonius, S. 404. Margreth Egidi: Inzest und Aufschub. Zur Erzähllogik im Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt. In: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von ders./Ludger Lieb, Berlin 2012 (PhSt 240), S. 281– 290, hier S. 281; vgl. a. S. 283 ff. Ebd., S. 281.
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im Prinzip irrelevant für die Handlung ist.²⁶ Doch wirkt die Vorgeschichte an zwei Stellen als Handlungskatalysator.²⁷ Sie motiviert Apollonius’ Flucht, auf der er seiner späteren Ehefrau begegnet, sowie die Trennung der Eheleute, zumindest mittelbar, denn durch Antiochus’ Tod fällt Apollonius die Königswürde in Antiochia zu.²⁸ Gemeinsam mit seiner schwangeren Gattin bricht er zur Herrschaftsübernahme auf, aber sie verstirbt (vermeintlich) bei der Geburt auf hoher See. Apollonius gibt die neugeborene Tochter zu Pflegeeltern und nennt sie nach der Stadt Tarsus, in der er sie zurücklässt, Tarsia. Er selbst wählt für 14 Jahre ein asketisches Leben. Noch komplexer ist die Funktion der initialen Inzestthematik als Spiegel- und Kontrastfolie für die Gesamthandlung.²⁹ Die Vorgeschichte spielt Themen und Figurenkonstellationen ein, die antithetische Bezugspunkte bereitstellen: die lange Reihe der ‚A.s‘ (Antiochus, Apollonius, Archistrates, Athenagoras) stellt dem tyrannischen König vorbildliche Herrscher gegenüber,³⁰ ihre Töchter setzen sich von Antiochus’ Tochter ab, indem sie ihre Keuschheit gegen alle Widerfahrnisse bewahren.³¹ Diese begegnen vor allem Tarsia reichlich. Sie entkommt einem Mordanschlag der Pflegeeltern, wird von Piraten entführt und an ein Bordell in Mytilene verkauft, das sie als Jungfrau verlässt. In Mytilene kommt es zum Wiedersehen mit dem (zunächst unerkannten) Vater, der seine Tochter tot wähnt. Es ist insbesondere diese Szene, für die die initiale Inzestthematik zentrale Bedeutung besitzt. Motivparallelen wie das Rätsel werden aufgerufen, die die Wiedererkennungsszene in ein Spiegelverhältnis zur Vorgeschichte stellen – anders als in Antiochia kommt es in Mytilene nicht zum Inzest.³² Es sind also mithin Vgl. Albert H. Smyth: Shakespeare’s Pericles and Apollonius. A Study in Comparative Literature, Philadelphia 1898, S. 15 ff.; Philip H. Goepp: The narrative Material of Apollonius of Tyre. In: Journal of English Literary History (1938), S. 150 – 172, hier S. 163 f.; Waiblinger, Einleitung, S. 8.; Archibald, Apollonius, S. 59; Burns, Oedipus, S. 15. Vgl. hierzu ausführlich Hagemann, Vorgeschichten, S. 141. Vgl. Elimar Klebs: Die Erzählung von Apollonius aus Tyrus. Eine geschichtliche Untersuchung über ihre lateinische Urform und ihre späteren Bearbeitungen, Berlin 1899, S. 307; Kortekaas, Prolegomena, S. 5. Vgl. hierzu Rank, Inzest-Motiv, S. 350; Xenja von Ertzdorff: Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts in Deutschland, Darmstadt 1989, S. 56; Carl Werner Müller: Der Romanheld als Rätsellöser in der Historia Apollonii regis Tyri. In: Würzburger Jahrbücher 17 (1991), S. 267– 279, hier S. 275; Archibald, Incest, S. 94 f.; Eming, Inzestneigung, S. 35 und 38 ff.; Junk, Transformationen, S. 58; Kiening, Unheilige Familien, S. 38 f. und 42. Vgl. Ertzdorff, Romane, S. 56; Eming, Inzestneigung, S. 38; Archibald, Incest, S. 94. In psychoanalytischer Lesart als Doubletten; vgl. Rank, Inzest-Motiv, S. 350; Junk, Transformationen, S. 58. Vgl. Eming, Inzestneigung, S. 33 ff.; Kiening, Unheilige Familien, S. 42. Vgl. Müller, Romanheld, S. 275; Eming, Inzestneigung, S. 35; Egidi, Inzest, S. 284.
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Vater-Tochter-Beziehungen, die das Hauptthema des Romans bilden und die sich von der ersten, konflikthaften Antibeziehung abstoßen.³³ Dies betrifft nicht zuletzt die dem Inzesttabu inhärente Logik der Exogamie, das von Lévi-Strauss beschriebene System des Frauentausches wird avant la lettre narrativ durchgespielt.³⁴ Während am Punkt der Störung der König seine Tochter für sich behält, geben die späteren Helden ihre Töchter bereitwillig her und schmieden so politische Allianzen,³⁵ die gestörte Brautwerbung am Anfang findet ihre Gegenstücke in geglückten Brautwerbungen im weiteren Handlungsverlauf.³⁶ Dabei ist aus gendertheoretischer Perspektive bemerkenswert, dass Archistrates’ Tochter, die sich in den schiffbrüchigen Apollonius verliebt, die Wahl des Gatten explizit freigestellt wird, der Zwang in Antiochia und die freie Wahl in Pentapolis stehen in einem aufschlussreichen Spannungsverhältnis.³⁷ Die antithetische Funktion der Vorgeschichte lässt sich bis in die Schlussperspektive erweitern und mit einer herrschaftspolitischen Dimensionierung verbinden.³⁸ Während Antiochus’ Geschlecht mit ihm untergeht, ist Apollonius am Ende nicht nur mit Frau und Kind wiedervereint, er regiert auch über ein durch Allianzbildungen gewaltig gewachsenes Herrschaftsgebiet, ihm wird (sozusagen ‚zum krönenden Abschluss‘) ein Sohn geboren. Der Roman ist, wie Kiening resümiert, „beherrscht von der Vorstellung einer idealen Kernfamilie, die die Prokreation in männlicher wie weiblicher Linie gewährleistet, Herrschaft wie Frieden wahrt. Doch diese Idealität wird profiliert vor dem Hintergrund von Situationen, die zeigen, wie es nicht sein soll.“³⁹ Zu dieser Hintergrundfolie gehört an erster Stelle die Inzestepisode, die initial einen Konflikt aufwirft, der eine Störung der sozialen Ordnung bedeutet, was in der Haupthandlung von unterschiedlichen Seiten her aufgegriffen und ultimativ gelöst wird – die Katastrophe am Beginn mündet in eine glorreiche Restituierung der sozialen, politischen und moralischen Ordnung am Ende.⁴⁰ Hieran schließt sich die übergeordnete Frage an, wie sich mittelalterliche und frühneuzeitliche Fassungen zu Stoff und Struktur verhalten. In der Forschung wird neben der Langlebigkeit des Stoffes seine Konsistenz betont, die Historia ist Vgl. Archibald, Incest, S. 94; Wolfgang Achnitz: Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt, Tübingen 2002 (Hermaea N. F. 98), S. 363; Egidi, Inzest, S. 283 f. Vgl. ebd., S. 284 f. Vgl. Archibald, Incest, S. 95; Eming, Inzestneigung, S. 38 f. Vgl. Junk, Transformationen, S. 28; Egidi, Inzest, S. 281 f. Vgl. Berneder, Väter, S. 214. Vgl. Archibald, Incest, S. 94; Eming, Inzestneigung, S. 38 ff. Kiening, Unheilige Familien, S. 38. Vgl. Archibald, Apollonius, S. 59; Eming, Inzestneigung, S. 39; Junk, Transformationen, S. 28 und 57 f.
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in Anbetracht der Tatsache, dass sie bis ins 17. Jahrhundert hinein hundertfach bearbeitet wird, recht einheitlich überliefert, Eingriffe in die Textgestalt betreffen in der Regel nur einzelne Passagen, nicht den Grundentwurf.⁴¹ In den Einzelinterpretationen soll deshalb die Frage analyseleitend behandelt werden, ob und inwiefern Emotionen (neu) gestaltet werden. Denn obgleich die Liebesthematik im Mittelpunkt der Romanhandlung steht, spielen Emotionen auf textinterner Ebene nur eine untergeordnete Rolle, reflexive Momente finden sich keine. Anders ist es im Prätext um die textexterne Ebene bestellt.Während bei Ovid Sprache und Rhetorik die Basis bilden, sind es in der Historia skandalträchtige Motive. Sie ist von einem knappen Berichtstil getragen, der ohne Abschweifungen und Exkurse, in großen Teilen sogar ohne wertende Adjektive auskommt.⁴² Der Text setzt auf den Effekt des Skandalons, wofür Inzest, Blut, Namensverlust und Todeswunsch nur die ersten Beispiele geben, hinzu kommen Mordanschläge, Entführung, Schiffbruch, Hungersnot, Tod, Trennung der Familie, Prostitution, Keuschheits- und Bewährungsproben, wobei, so Waiblinger, „die gehäufte Darstellung extremer Lebenslagen“ eine „Lust am seelischen Wechselbad“ begünstige und den Rezipierenden ermögliche, „Leid und Freuden in überdimensionaler Intensität mitzuerleben“⁴³. Dass von der Historia eine anhaltende Faszinationskraft ausgegangen ist, lässt sich nicht zuletzt an der kontinuierlichen Popularität des Stoffes bemessen. Schon im 12. Jahrhundert scheint sie weithin bekannt. Im Alexanderlied des Pfaffen Lambrecht findet sich ein kurzer Hinweis, wenn der Vorauer Alexander (1150) vermerkt, dass Apollonius vor dem inzestuösen Antiochus fliehen muss, mit forhten, wie der ausführlichere Straßburger Alexander (1170) hinzufügt.⁴⁴ Wenig später, zwischen 1186 und 1191, entsteht mit dem Pantheon von Gottfried von Viterbo ein mittellateinisches Geschichtswerk, dessen Abschnitt zum Apollonius im elften Buch spätere volkssprachige Bearbeitungen beeinflusst.⁴⁵ Nur am Rande sei
Vgl. Kortekaas, Prolegomena, S. 8; Burns, Oedipus, S. 6 und 10; Ebenbauer/Kern, Lexikon, S. 101; Birkhan, Apollonius, S. 402 f. Vgl. Goepp, Material, S. 169 f. Waiblinger, Einleitung, S. 8 – 10; vgl. hierzu a. Burns, Oedipus, S. 7; Classen, Sexual violence, S. 161 f. Vgl. Pfaffe Lambrecht, Alexanderroman, V. 997– 1001 [V]; 951– 959 [S]. Vgl. Samuel Singer: Appolonius von Tyrus. Untersuchungen über das Fortleben des antiken Romans in spätern Zeiten. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Halle 1895, Hildesheim, Zürich, New York 1974, S. 150 – 177 und 199; Klebs, Erzählung, S. 338 – 349; Archibald, Apollonius, S. 47.
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das mittellateinische Lied des Apollonius in der Carmina Burana erwähnt,⁴⁶ das auf der Ebene allgemeiner Anspielungen verweilt, wobei das Verschweigen des Inzests auf Tabuisierungstendenzen verweist. Auf der anderen Seite wird die Liebesthematik stärker prononciert, was das Potential des Stoffes zur Emotionalisierung illustriert. Die erste umfassende Bearbeitung in der Volkssprache erfährt die Historia um die 1300er-Jahrhundertwende durch den Wiener Arzt Heinrich von Neustadt, der den überlieferten Stoff auf ein Konvolut von über 20.000 Versen anschwellen lässt. In der lateinischen Tradition ist Apollonius in den wirkmächtigen Gesta Romanorum vertreten, die seine Geschichte als Exemplum rezipieren, auch wenn die sonst typische christliche Ausdeutung am Ende fehlt.⁴⁷ Es handelt sich um die mit Abstand längste Erzählung in der Sammlung, die ihrerseits zu zahlreichen volkssprachigen Bearbeitungen inspiriert.⁴⁸ So bildet sie mit Gottfrieds Pantheon die Quellenbasis für die circa 150 Jahre nach Heinrich von Neustadt entstehende Prosa-Variante von Heinrich Steinhöwel, seines Zeichens ebenfalls Arzt.⁴⁹ In dieser Zeit, dem 15. Jahrhundert, florieren volkssprachige Historia-Bearbeitungen.⁵⁰ Um 1465 entsteht mit dem sogenannten Breslauer Apollonius „eine nüchterne und trockene Übersetzung des Textes“⁵¹, die der neueren Forschung aufgrund von Kriegsverlust nicht mehr zugänglich ist.⁵² Etwa zeitgleich ist der Leipziger Apollonius anzusetzen, fast 100 Jahre später das Meisterlied Der könig Apollonius im bad von Hans Sachs. Anders als für die bisher besprochenen Stofftraditionen lässt sich keine gattungs- oder stoffbedingte Rezeptionshaltung bestimmen. Prinzipiell wird Apollonius ebenfalls als historische Persönlichkeit vom Schlage ‚duldsamer Hiob Vgl. CB 97. In: Carmina burana. Texte und Übersetzungen. Hrsg. von Benedikt Konrad Vollmann, Frankfurt a. M. 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 16), S. 350 – 355; vgl. hierzu Archibald, Apollonius, S. 47. Vgl. Gesta Romanorum 153. De tribulacione temporali, que in gaudium sempiternum postremo commutabitur. In: Gesta Romanorum. Hrsg. von Hermann Oesterley. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1872, Hildesheim 1963, S. 510 – 532; vgl. hierzu Klebs, Erzählung, S. 353 f.; Archibald, Apollonius, S. 48 und 100; Brigitte Weiske: Die Apollonius-Version der Gesta Romanorum. In: Fortuna vitrea 1 (1991), S. 116 – 122, hier S. 121 f. Vgl. Archibald, Apollonius, S. 48; Weiske, Apollonius-Version, S. 116; Helmut Melzer: Nachwort. In: Appollonius von Tyrus. Mit einem Nachwort von Helmut Melzer. Hrsg. von HansDieter Kreuder/Helmut Melzer, Hildesheim, Zürich, New York 2006 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken A/2), S. I-X, hier S. II. Vgl. ebd., S. IIf.; VIII; Klebs, Erzählung, S. 497 ff. Vgl. Archibald, Apollonius, S. 48. Klebs, Erzählung, S. 490; zur Datierung vgl. S. 488. Vgl. HC 7412. Die von Klebs benutzte Abschrift von Otto Hintze wurde auf testamentarischen Wunsch hin vernichtet; vgl. Bundesarchiv: Hintze, Otto (1861 – 1940). http://www.nachlassdaten bank.de, Koblenz 2004/2005 (18. Juni 2018).
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Typ‘ verstanden, der im christlichen Sinne als Vorbild dienen und zur imitatio anregen soll.⁵³ Und ebenso prinzipiell spielt die Historia prototypisch das Handlungsschema des antiken Liebes- und Reiseromans ins Mittelalter ein.⁵⁴ Doch wird der Stoff zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert in verschiedenen Gattungen (als Roman, Historie, Exemplum, Lied) unterschiedlich funktionalisiert (als Ermahnung, Unterhaltung) und kontextualisiert (höfisch, legendarisch),⁵⁵ so dass sich keine übergreifende Rezeptionsweise festlegen lässt.
8.1 Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland Als Heinrich von Neustadt um 1300 mit seinem Apollonius von Tyrland die erste Übertragung des Stoffes in die Volkssprache verfasst,⁵⁶ schreibt sich der gelehrte Wiener Arzt ‚selbstbewusst‘ in eine tausendjährige Tradition ein (vgl. V. 20590 –
Vgl. Kortekaas, Prolegomena, S. 9. Vgl. Achnitz, Babylon, S. 3. Zur Historia als Liebes- und Abenteuerroman (bezeichnet als ‚griechischer Roman‘ respektive als ‚abenteuerlicher Prüfungsroman‘) vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Übers. von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt a. M. 2008 (stw 1879), S. 10 – 35. Für Steinhöwels Apollonius unter dem Stichwort ‚Liebes- und Reiseroman‘ vgl. Bachorski, grosse vngelücke, S. 65 f. Für Heinrichs von Neustadt und Steinhöwels Apollonius vgl. Hagemann, Vorgeschichten. Zum Liebes- und Abenteuerroman als mhd. Gattung allgemein vgl. Werner Röcke: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens, Stuttgart 1984, S. 395 – 423; Christian Kiening: Wer aigen mein die welt… Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher Minneund Abenteuerromane des 14. Jahrhunderts. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFGSymposium 1991. Hrsg. von Joachim Heinzle, Stuttgart,Weimar 1993, S. 474– 494; Boor/Newald, Die deutsche Literatur, S. 82– 97; Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich, Friedrich von Schwaben, Berlin 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 12); Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens – Partonopier und Meliur – Wilhelm von Österreich – Die schöne Magelone, Berlin 2000 (PhSt 161); Eming, Emotion und Expression; Martin Baisch/Jutta Eming (Hrsg.): Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit, Berlin 2013. Vgl. Archibald, Apollonius, S. 51 und 81– 92. Im Folgenden im Fließtext zitiert nach der Ausgabe Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland. In: Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland nach der Gothaer Handschrift. Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach der Heidelberger Handschrift. Hrsg. von Samuel Singer. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1906, Dublin, Zürich 1967 (DTM 7), S. 1– 328. Zur Datierung vgl. Achnitz, Babylon, S. 239 und 243; Birkhan, Apollonius, S. 397 f.
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20603).⁵⁷ Seine Fassung kann als eine der innovativeren gelten,⁵⁸ das spätantike Handlungsgerüst wird zur Rahmenhandlung umfunktionalisiert, ein umfangreicher Binnenteil eingefügt, der von Apollonius’ Abenteuern in fremden Welten erzählt. So entfallen von den insgesamt 20644 Versen nur 5324 auf die lateinische Vorlage, der in der sogenannten ‚Verlängerung‘ weitere 3308 hinzugefügt werden, den „Löwenanteil von 12012 Versen oder fast 60 % des Ganzen macht der ‚Binnenteil‘ aus“⁵⁹. Er trägt Züge des höfischen Epos, fährt alle Register des Ritterromans auf und berichtet von zahlreichen âventiuren und Wundern des Orients,⁶⁰ so dass sich die Frage stellt, ob und inwiefern der Binnenteil auch auf die Vorgeschichte aus dem antiken Handlungsrahmen zurückstrahlt. Schon Albrecht Bockhoff und Samuel Singer weisen darauf hin, dass Heinrich in der Rahmenhandlung bemüht sei, „das etwas dürre Gerippe seiner Quelle mit dem blühenden Fleische des mittelalterlichen Lebens zu bekleiden.“⁶¹ Zugleich herrscht in der älteren, um Quellenforschung bemühten Forschung relative Einmütigkeit darüber, dass Heinrich im antiken Handlungsteil nur kleinere Änderungen vornimmt, insgesamt jedoch nah an seiner Vorlage bleibt,⁶² auch wenn bis heute nicht zufriedenstellend geklärt ist, um welche Vorlage es sich hierbei gehandelt hat.⁶³ In der neueren Forschung wird das Verhältnis unterschiedlich beurteilt. Nach Albrecht Classen fügt Heinrich neue und umfangreiche Sektionen ein, liefert Details und Hintergrundinformationen,⁶⁴ Ulrike Junk beobachtet ein Schwanken Heinrichs zwischen Vorlagentreue und eigener Sinnprägung.⁶⁵ Wolfgang Achnitz zufolge überträgt Heinrich die Historia „weitgehend sinn-
Vgl. hierzu Walter Schürenberg: Apollonius von Tyrland. Fabulistik und Stilwille bei Heinrich von Neustadt, (Diss.) Göttingen 1934, S. 89. Vgl. Archibald, Apollonius, S. 48. Helmut Birkhan: Ditz sind abenteure. Zur Herkunft einiger Motive im Apolloniusroman des Heinrich von Neustadt. In: Swer sînen vriunt behaltet, daz ist lobelîch. Festschrift für András Vizkelety zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Márta Nagy/László Jónácsik, Piliscsaba 2001 (Budapester Beiträge zur Germanistik 37), S. 117– 131, hier S. 118. Vgl. Alfred Ebenbauer: Der Apollonius von Tyrland des Heinrich von Neustadt und die bürgerliche Literatur im spätmittelalterlichen Wien. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050 – 1750). Hrsg. von Herbert Zeman, Graz 1986, S. 311– 348, hier S. 321. Albrecht Bockhoff/Samuel Singer: Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland und seine Quellen. Ein Beitrag zur mittelhochdeutschen und byzantinischen Literaturgeschichte, Tübingen 1911 (Sprache und Dichtung 6), S. 21. So ausnahmsweise unisono Klebs, Erzählung, S. 485; Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 12. Vgl. die Klebs-Bockhoff/Singer-Kontroverse in Klebs, Erzählung, S. 486; Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 1– 12. Vgl. im Überblick Junk, Transformationen, S. 61. Vgl. Classen, Sexual violence, S. 167. Vgl. Junk, Transformationen, S. 68.
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gemäß, aber nicht wörtlich“, wobei die Funktion der kleineren Änderungen darin bestehe, auf die Binnenhandlung vorzubereiten: Die Erweiterung dient dazu, die christliche Grundtendenz der aus dem 5. Jahrhundert n.Chr. stammenden Bearbeitungen der ‚Historia Apollonii‘ zu vertiefen, zu aktualisieren und zu höfisieren. Das Verhältnis zwischen der Vorlage und der Binnenerzählung ist daher, bei großzügiger Behandlung des Umfangs, als dilatatio materiae aufzufassen, die als Mittel der amplificatio die Aufmerksamkeit des Publikums erregen, auf die Hauptfigur lenken und emotionale Betroffenheit herstellen soll.⁶⁶
Achnitz’ Beobachtungen geben Anlass, in der Analyse besonders auf rhetorische Strategien zu achten, die darauf zielen, die Rezipierenden zu affizieren, ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen zu richten und sie auf ihren konkreten Funktionalisierungen hin zu befragen. Dabei gilt für die Forschung zu Heinrichs Apollonius, was über die Historia gesagt wurde. Während die Inzestthematik in aktuelleren Studien vermehrt Berücksichtigung findet,⁶⁷ werden Emotionen nur am Rande erwähnt, wenn etwa Helmut Birkhan feststellt: Heinrichs Werk [ist] voll packender Anschaulichkeit […]. Weniger geglückt scheint mir die Zeichnung der Charaktere […]. An dem Haupthelden in seiner stets gleichen Perfektion nimmt man trotz all seiner Leiden und Freuden wenig emotionalen Anteil […]. Bemerkenswert ist Heinrichs Neigung, die Monsterdarstellung und auch die bestimmter Menschen stärker zu emotionalisieren.⁶⁸
Wie also verhält es sich mit Antiochus und seiner Tochter? Gehören sie zu jenen Figuren, die emotionalisiert werden? Ist die Erzählweise darauf angelegt, dass die Rezipierenden emotional Anteil nehmen? Nicht nur die Forschungs-, auch die Quellenlage ist diesbezüglich dürftig. So ist die Inzestepisode die mit Abstand am schlechtesten überlieferte Textstelle.Von den vier erhaltenen Handschriften berücksichtigt einzig Hs b die AnthiochiaEpisode in Gänze.⁶⁹ Sie gibt die vollständigste, doch oft fehlerhafte und textkri-
Achnitz, Babylon, S. 133 und 271. Vgl. Buschinger, Inzest-Motiv; Bennewitz, Mädchen; Achnitz, Babylon, S. 257 ff.; Junk, Transformationen, S. 77– 167; Schneider, Chiffren, S. 197– 212; Classen, Sexual violence, S. 166 – 171; Egidi, Inzest. Birkhan, Apollonius, S. 419. Es handelt sich um spätere, erst im 15. Jahrhundert entstehende Handschriften, die in der Folge Joseph Strobls unter folgenden Siglen katalogisiert sind: Hs a (Straßburg, Bibliothèque Nationale et Universitaire, Ms. 2334, 1431); Hs b (Gotha, Forschungsbibliothek, Chart. A 689, um 1465); Hs c (ÖNB/Wien Cod. 2886, 1467) und Hs d (ÖNB/Wien Cod. 2879, 1461); vgl. Joseph Strobl:
8.1 Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland
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tisch unzuverlässige Textgestalt wieder.⁷⁰ Es wäre verführerisch, in diesem Befund eine Tendenz zur Tabuisierung des Inzests zu sehen, doch spricht dagegen, dass ebenfalls tabuisierte Handlungen wie Ehebruch und Notzucht erhalten bleiben. Da die Inzestepisode am Anfang steht, ist vielmehr von einem einfachen Blattverlust auszugehen.⁷¹
8.1.1 Prolog und Exposition: Nebukadnezars Zorn und ein aller mynniklichiste kind Heinrich schaltet einen Prolog vor, in dem der Erzähler die Unbeständigkeit der Welt und den Sittenverfall beklagt (vgl.V. 1– 7). Doch ist die Zeitenklage nicht sein vordringliches Thema. Ausführlich referiert und gedeutet wird der Traum Nebukadnezars, der sich im biblischen Verständnis auf die Abfolge der vier Weltreiche bezieht (vgl. Dan 7), bei Heinrich aber eine abweichende Deutung erfährt.⁷² Im Schlaf erscheint dem König eine Statue, die Krone aus Gold, die Brust aus Silber, der Rumpf bis zu den Knien aus Kupfer, die Schienbeine aus Blei, die Füße aus Erde (vgl. V. 23 – 36). Ein Donnerschlag zerschlägt die Säule und reißt Nebukadnezar aus dem Schlaf. Er vergisst den Traum, Gelehrte der Astronomie und Nigromantie werden hinzubestellt, ergebnislos, weshalb er sie verbrennen lässt.
Einleitung. In: Apollonius. Von Gotes Zuokunft. Im Auszuge mit Einleitung, Anmerkungen und Glossar. Hrsg. von dems., Wien 1875, S.V-XXXVII, hier S. XXXVI. Vgl. hierzu Birkhan, Apollonius, S. 431– 434; Achnitz, Babylon, S. 243 – 249; Ders.: Textproduktion und Sinnkonstituierung. Zur Affinität von Textlinguistik und Rhetorik am Beispiel des Apollonius-Romans. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Elizabeth Andersen/ Manfred Eikelmann/Anne Simone, Berlin, New York 2005 (TMP 7), S. 121– 142, hier S. 125 f.; Schultz-Balluff, Dispositio picta, S. 39 – 48; Margit Krenn: Minne, Aventiure und Heldenmut. Das spätmittelalterliche Bildprogramm zu Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland, Marburg 2013, S. 27 ff. Die Handschriften sind umfassend aufgearbeitet, so dass Textzeugen im Folgenden in der Regel nach der Sekundärliteratur zitiert werden. Hinzu kommt ein von Achnitz angezeigter Leimabdruck aus dem Fürstlich Leiningenschen Archiv in Amorbach, dem er die Sigle e zuteilt; vgl. (nebst Teilabdruck) Wolfgang Achnitz: Ein neuer Textzeuge zu Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland. In: ZfdA 132 (2003), S. 453 – 459. Hs e enthält die Inzestepisode nicht; Hs a setzt bei V. 363 ein; Hs d bei V. 579, Hs c sogar erst bei V. 703; vgl. Achnitz, Babylon, S. 244 und 247 f. Vgl. ebd., S. 249. Dass beispielsweise Hs a die Vorgeschichte ursprünglich berücksichtigt, wird daran ersichtlich, dass das Register sie im Anhang als titulus führt; vgl. (mit einem Abdruck des Registers) Achnitz, Textproduktion, S. 139 ff. Vgl. Achnitz, Babylon, S. 254; Schneider, Chiffren, S. 61; vgl. für den folgenden Abschnitt a. S. 62 f.
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Hieran anschließend gibt Heinrich Daniels (vermeintliche) Auslegung des Traums wieder, die Materialfolge stehe für die Stufung der Lebensalter und die Materialqualität für den Grad der Tugendhaftigkeit (vgl. V. 68 – 82). Abschließend wird vor dem Gottesgericht gewarnt (vgl. V. 83 – 86), womit ein christlich-eschatologischer Bezug aufgemacht wird; Gott straft jene, die sich von ihm abwenden. Die Traumdeutung rückt den Menschen ins Zentrum, von ihm ist abhängig, ob er mit seinem Handeln Gottes Gnade er- oder verwirkt.⁷³ Erhalten bleibt damit der traditionelle Verwendungszusammenhang der translatio imperii als Legitimation von Herrschaft, neu hinzu tritt das Thema der Tugendhaftigkeit.⁷⁴ Vom Prolog lässt sich eine Identifikationslinie zum Antihelden Anthiochus aufmachen,⁷⁵ dessen Namensvetter, der Judenfeind Antiochus IV. Epiphanes, dem Mittelalter ebenso wie Nebukadnezar als altertümlicher Vorläufer des Antichrist galt.⁷⁶ Darüber hinaus rollt der Prolog eine allgemeine Folie für die Rezeption wie einen Teppich aus. Er lässt sich in didaktischer Weise auf die Rezipierenden zurückbeziehen: Jeder einzelne ist in der Lage, durch tugendhaftes Verhalten den Verfall der Welt aufzuhalten.⁷⁷ In dieser Lesart wirkt der Prolog als Klammer, die nicht nur Anthiochus und alle handelnden Akteure des Romans, sondern auch die Rezipierenden umfasst, und für alle gleichermaßen den Maßstab eines tugendhaften und gottgefälligen Lebens setzt. In diesem Rahmen kommen auch Emotionen zur Sprache. Nebukadnezar erschrickt vom Donnerschlag (vgl. V. 42), was ihn den Traum überhaupt erst vergessen lässt. Darüber ward im unmassen zorn (V. 45; „wurde er unmäßig zornig“), was seine weiteren Handlungen antreibt und mittelbar zum Tötungs-Exzess führt. Es ist eben jener zügellose Zorn, den Gott am Ende richtet (vgl.V. 86), der Zorn des Königs zieht den Zorn Gottes auf sich. Hinzu kommt Nebukadnezars Bösartigkeit, die laut Traumdeutung zur untersten Tugendstufe führt (vgl. V. 82). Emotionen (oder vielmehr die Kontrolle über und die Angemessenheit von Emotionen) stellen damit einen Bestandteil der allgemein geforderten Tugendhaftigkeit dar.
Vgl. ebd., S. 63; ähnlich a. Achnitz, Babylon, S. 256. Vgl. Schneider, Chiffren, S. 60 f. Vgl. ebd., S. 62, Junk, Transformationen, S. 78; Achnitz, Babylon, S. 255; mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Vgl. ebd.; Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 17. Vgl. allgemein Hans-Peter Kursawa: Antichristsage, Weltende und Jüngstes Gericht in mittelalterlicher deutscher Dichtung. Analyse der Endzeiterwartungen bei Frau Ava bis zum Parusiegedicht Heinrichs von Neustadt vor dem Horizont mittelalterlicher Apokalyptik, (Diss.) Köln 1975/1976, S. 51 f.; Horst Dieter Rauh: Das Bild des Antichrist im Mittelalter. Von Tyconius zum deutschen Symbolismus, Münster 1979 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters N. F. 9), S. 37. Vgl. Achnitz, Babylon, S. 256; Schneider, Chiffren, S. 63.
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In der sich anschließenden Exposition wird Anthiochus über die in der Historia vorgefügte Textgestalt hinaus zunächst als mächtiger Herrscher vorgestellt (vgl. V. 97– 105). Noch mehr Aufmerksamkeit wird seiner Tochter geschenkt. Zwar bleibt sie ebenso wie in der Historia namenlos, was ihren Objektstatus unterstreicht,⁷⁸ doch gewinnt sie im Vergleich an Profil. Die Königstochter wird nach allen Regeln der höfischen Kunst vorgestellt, sie ist exorbitant schön, liebreizend, freundlich, auserkoren, an ihr haben Natur und Gott nichts vergessen, ein perfektes Gleichgewicht der vier Elemente (vgl. V. 108 – 119). Leitwort der Exposition und vorzügliche Eigenschaft der Königstochter ist das Epitheton minneclich (vgl. V. 108; 112; vgl. a. V. 121). Es lässt sich einem höfischen Kanon zuordnen und auf äußere wie innere Qualitäten beziehen, meint gleichermaßen „schön“ wie „lieb/ lieblich/liebevoll“ als auch eine Außenwirkung im Sinne von „liebreizend/liebenswert“.⁷⁹ Assoziativ wird ein erster Bezug zu minne aufgerufen, welche im weiteren Verlauf eine ausschlaggebende Rolle bei der Entstehung des inzestuösen Begehrens spielen wird. Zwei Semantiken von minne prallen aufeinander, ein höfisch überformter, positiv konnotierter Bedeutungsgehalt, wie er sich in den der Königstochter zugeschriebenen Eigenschaften abzeichnet, und ein am lateinischen amor des Prätextes orientierter Bedeutungsgehalt, der auf sexuelles Verlangen und Begehren zielt.⁸⁰ Gleichsam legt der Wortgebrauch nah, dass die spätere minne des Königs bereits in den Eigenschaften der Tochter verankert ist, denn während Anthiochus’ Ehefrau nur beiläufig in ihrer Reproduktionsfunktion als Mutter erwähnt wird (vgl. V. 107), werden Schönheit und Liebreiz der Tochter demonstrativ ausgestellt und superlativ gesteigert, sie ist das aller mynniklichiste kind (V. 108). Schließlich gipfelt der Lobpreis in dem Ausruf Ila fabella fuit fier fer ⁸¹ (V. 120). Das zerrüttete Mittellatein, wahrscheinlich von zeitgenössischen Klerikern als internationale lingua franca verwendet,⁸² verleiht dem Text Gelehrsamkeit und Weltläufigkeit. Rezeptionsästhetisch ist der Sprachwechsel darauf ausgerichtet, die Aufmerksamkeit der Rezipierenden zu erregen, der lautliche Wohlklang darauf, auditiv Genuss zu bereiten, die Euphonie bildet das synästhetische Korrelat zur begrifflichen Beschreibung der Königstochter. Die Exposition ist von einem harmonischen Grundton getragen, der sich auf die Heldin richtet.
Vgl. hierzu allgemein Eming, Inzestneigung, S. 30. Zur Bedeutung von mhd. minneclich vgl. Hennig, S. 224. Zur Semantik von mhd. minne vgl. Dorothea Wiercinski: Minne. Herkunft und Anwendungsschichten eines Wortes, Köln 1964 (Niederdeutsche Studien 11), S. 7– 21; Gerdes/Spellerberg, Althochdeutsch – Mittelhochdeutsch, S. 114; Wolf, Vademecum medievale, S. 57– 60. „Dieses schöne Mädchen war wahrhaftig stolz“; Birkhan, Apollonius, Anm. 5, S. 323. Vgl. ebd.
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8.1.2 Von toten Müttern, teuflischer Liebe und Frau Minne Die Erweiterungen, die Heinrich vornimmt, sind jedoch wesentlich weitreichender. Er inseriert im Nachgang mit dem Tod der Mutter, den Einflüsterungen des Teufels und der Macht von Frau Minne Erzählelemente, die den Inzest zusätzlich motivieren. So verstirbt die Mutter der Königstochter, als diese herangewachsen ist (vgl. V. 124 f.). Das Motiv ist bemerkenswert – auch wenn es in einigen Inhaltsparaphrasen der Historia wie selbstverständlich angeführt wird,⁸³ enthält es in der Form keine der edierten Redaktionen, während es in späteren, insbesondere volkssprachigen Bearbeitungen verbreitet ist.⁸⁴ In der Redaktion RA wird gar keine Mutter erwähnt, die Redaktionen RB und RC vermerken nur, der König habe ex amissa coniuge ⁸⁵ seine Tochter gewonnen. Als Adjektiv bedeutet amissa im Mittellateinischen „ehemalig“, als Partizip gehört es zur Stammform amittere für „fortschicken“; „entlassen“; „verlassen“; „beseitigen“, „verlieren“.⁸⁶ Erst im Mittelalter wird, so etwa bei Gottfried von Viterbo, aus der verlorenen (oder verstoßenen?) Gattin eine matre[.] defuncta ⁸⁷ („verstorbene Mutter“), mitunter sogar, wie im vorliegenden Fall, aus der verstorbenen eine sterbende. Die Narrativierung des Motivs legt eine Sinnachse in den Text, die implizit (und stärker als in der
So etwa bei Goepp, Material, S. 151; Classen, Sexual violence, S. 161 f. Vgl. hierzu a. Archibald, Apollonius, Fn 18, S. 60; die das aufgeworfene Thema in einer Fußnote streift. Textgenetisch lassen sich Entstehung und Entwicklung des Motivs nicht präzisieren. Archibald vermutet, dass es über eine Art ‚Kreuzbefruchtung‘ mit dem Erzähltyp ‚Mädchen ohne Hände‘ in den Stoff gedrungen sein könnte, die in beide Richtungen verlaufen sein kann. Der Apollonius-Stoff und der Erzähltyp ‚Mädchen ohne Hände‘ teilen weitere zentrale Motive und Strukturmomente, weshalb Philip H. Goepp auf einen gemeinsamen Ursprung schließt; vgl. Goepp, Material, S. 164 ff. Archibald hingegen wendet ein, dass geteilte Motive nur auf einem geteilten Grundstock, nicht zwingend auf einer gemeinsamen Abstammung gründen; vgl. Archibald, Apollonius, S. 61. Sie diskutiert die Parallelen ausführlich in ihrem Aufsatz Archibald, Flight. Die älteren vergleichenden Stilstudien von Klebs, Singer und Bockhoff/ Singer, die an anderen Stellen viel Energie darauf verwenden, deutlich unbedeutendere Details auf eine spezifische Quelle zurückzuführen, widmen sich dem Motivkomplex nicht; nur im Vorübergehen erwähnen Bockhoff und Singer den Tod der Mutter als einen von mehreren Zusätzen Heinrichs, die ihrer Ansicht nach Motivationsmängel der Historia ausgleichen, vgl. Bockhoff/ Singer, Apollonius, S. 17. HA (RB) cap. 1, Z. 2 f., S. 279; HA (RC) cap. 1, Z. 2, S. 84. Ob die Historia ursprünglich den Hinweis enthalten hat, lässt sich nicht klären, da die beiden ältesten überlieferten Redaktionen RA und RB gleichwertig nebeneinanderstehen: vgl. zum Verhältnis der Redaktionen Klebs, Erzählung, S. 45. Vgl. MLW 1, Sp. 569 ff. Gottfried von Viterbo: Pantheon 11, 1. In: Heinrich Steinhöwels Apollonius. Edition und Studien. Hrsg. von Tina Terrahe, Berlin, Boston 2013 (Frühe Neuzeit 179), S. 151– 249, hier S. 162.
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Historia) einen Zusammenhang zu dem im Anschluss entstehenden inzestuösen Begehren nahelegt. Die Konstellation ist dem bereits besprochenen König von Reussen verwandt; ein männlicher Thronfolger fehlt, was durch den Vater-TochterInzest, so Schneider, in einem „genealogischen Kurzschluß“⁸⁸ gelöst werden soll. Allerdings wird, so daneben auch Kiening, in Heinrichs Apollonius weder eine genealogische noch eine dynastische Motivation des Inzests in den Vordergrund gestellt.⁸⁹ Ganz im Gegenteil, so lässt sich hinzufügen, setzt der Text Blockaden gegen die Auffassung, weibliche Nachkommen seien ein herrschaftspolitisches Manko. Nicht nur, dass die Geburt gottgewollt ist und die Königstochter einem höfischen Idealtyp entspricht, unter gendertheoretischen Gesichtspunkten ist zudem als Pointe angelegt, dass es sich beim Königskind um ein Mädchen handelt. In der Exposition wird erst nach acht Versen das Geschlecht genannt, was dem Lobpreis keinen Abbruch tut, der im gewohnten Duktus fortfährt (vgl. 113 – 122). An keiner Stelle wird problematisiert, dass ein männlicher Thronerbe fehlt, das dynastische Argument ist der Erzählung höchstens als Subtext eingeschrieben.⁹⁰ Doch welche Funktion kommt dem Inserat dann zu? Im Folgenden wird die These vertreten, dass die Narrativierung des Motivs einer textexternen Wirkung dienbar gemacht wird. Allein als auserzähltes Motiv vermag die Todesthematik, die ihrerseits in jeder Kultur zu jeder Zeit emotional aufgeladen ist, einen affizierenden Effekt zu entfalten. Zwar wird der Tod nicht mit Trauer korreliert, er ist aber ein typisches Objekt von Trauer,⁹¹ was die Handlung dramatisiert. Sie operiert mit einem schnellen Wechsel im affektiven Grundton, indem Motive angeführt werden, die typischerweise mit komplementären Emotionen besetzt sind. Nach der düsteren Nebukadnezar-Geschichte wird die Exposition von einem harmonischen Grundton im vertrauten höfischen Stil getragen; nun erfolgt mit dem Tod der Mutter ein radikaler Einschnitt. Dieser Wechsel im affektiven Grundton ist das wichtigste Instrument im rezeptionsästhetischen Arrangement der Inzestepisode. Der Wandel wird an dieser Stelle mit einer Vorausdeutung zusätzlich markiert:
Schneider, Chiffren, S. 197. Vgl. ebd., S. 198; Kiening, Unheilige Familien, S. 37. So lassen sich etwa das Rätsel und der Schluss als Subtexte eines genealogischen Kernkonflikts lesen, doch wird die Herrschaftsthematik in der Vorgeschichte nicht expliziert wie etwa in Enikels König von Reussen. Zu Trauer im Rahmen der Todesthematik vgl. Koch, Trauer, S. 38 f.
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Das kam dem vater seyt zu schaden Da leib und sel ward im erladen Und auch die wunniklichen magett Als euch hernach wirt gesagett. (V. 126 – 129) Das sollte dem König noch zum Verhängnis werden, das ihm auf Leib und Seele lastete, aber auch dem reizenden Mädchen, wie ihr gleich erfahren werdet.⁹²
Es wird also durchaus ein direkter Bezug der Todes- zur Inzest-, nicht jedoch zur Herrschaftsthematik hergestellt. Vielmehr dient die Vorausdeutung auf das drohende Unheil vor allem der Generierung von Spannung.⁹³ Sie nimmt vorweg, dass sich ein Konflikt anbahnt, ohne ihn zu konkretisieren, und hängt wie ein Schatten über der Erzählung, die zunächst wieder in unbeschwertem Ton fortfährt. Erst jetzt wird das Werben der Fürsten aus der Historia aufgegriffen. Während im spätantiken Roman das Alter der Geschlechtsreife, das Werben der Freier und das Begehren des Vaters sinnfällig in einem Handlungsmoment kulminieren, ist diese Logik bei Heinrich entzerrt. So kommt es zu einer Verlagerung: Ist der Handlungsverlauf in der Historia zunächst konform mit den Erwartungen (der Vater überlegt, wem er seine Tochter zur Frau geben möchte), birgt die plötzliche Entscheidung des Vaters (er wählt sich selbst als Bräutigam) ein Überraschungsmoment. Nicht so bei Heinrich, bei dem Anthiochus an keiner Stelle überhaupt nur in Erwägung zieht, seine Tochter exogam zu verheiraten. Auch der Vater-Tochter-Inzest steht noch nicht im Raum, das Begehren von Brautwerbern und Brautgeber wird nicht parallelisiert. So kommt die Szene ungebrochen im Stil eines höfischen Kampfidylls daher, im ritterlich-höfischen Gepräge des Binnenteils messen sich edle und rechtschaffene Ritter aus aller Herren Länder im Buhurt.⁹⁴ Dabei wird ein weiteres Motiv eingespielt, das die Historia nicht kennt, bei Heinrich aber prägend wirkt. So heißt es über die Werber, metrisch hervorgehoben durch einen der selteneren Dreireime, die Achnitz als rezeptionslenkende und sinnkonstituierende Gliederungsmittel beschreibt,⁹⁵ Yegklicher wolt si han pejagett ⁹⁶ (V. 138). Mit mhd. bejagen („erringen“, „erwerben“, „erbeuten“⁹⁷) wird eine Jagd- und Kampfmetaphorik eingeholt, die Tochter wird zum Gegenstand von Kampf und Sieg, zu einem begehrten Objekt im ritterlichen Beuteschema.
Birkhan, Apollonius, S. 14. Vgl. Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 17; vgl. allgemein a. Schürenberg, Apollonius, S. 95 f. Vgl. hierzu allgemein a. Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 16. Vgl. Achnitz, Textproduktion, S. 129. „Ein jeder wollte sie erringen.“ Vgl. Hennig, S. 24.
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Im Stakkato des rapiden Wechsels hängt sich unmittelbar an das Ritteridyll eine weitere unheilvolle Vorankündigung: Eines tages das geschach Da von vil groß ungemach Dein kunig und sein kint pesaß (V. 142 ff.) Eines Tages geschah etwas, das dem König und seinem Kind großes Leid verursachte.
Die Vorausdeutung bleibt nebulös und beschränkt sich auf Emotionen, der VaterTochter-Inzest wird als Objekt von ungemach („Unglück; Kummer, Leid“⁹⁸) eingeführt, bevor er benannt ist, was einen Richtwert für die Rezipierenden bereitstellt, wie sie das, was nun folgt, emotional bewerten können. Indem aber das Objekt der Emotion noch nicht präzisiert wird, zielt die Vorausdeutung ebenfalls darauf, Spannung zu erzeugen, noch gesteigert durch die Gradierung des drohenden Leids als ‚sehr groß‘. Dabei ist bezeichnend, dass es sich sowohl auf den Vater als auch auf die Tochter bezieht. Erst jetzt löst Heinrich die sorgsam aufgebaute Spannung auf: Der laydig tüfel das fugett das Das im muet und synne Stund nach der tochter mynne (V. 145 ff.) Der widerwärtige Teufel fügte es so, dass ihm Herz und Verstand nach der Liebe der Tochter verlangten.
Der Teufel wird als Agens des Vater-Tochter-Inzests gesetzt,⁹⁹ das Begehren von außen stimuliert. Die inzestuöse minne erscheint als Werk des Teufels,¹⁰⁰ der
Ebd., S. 371. Vgl. Classen, Sexual violence, S. 167. Achnitz geht mit einem Verweis auf das Blockbuch Von dem Entkrist noch einen Schritt weiter und versteht den Vater-Tochter-Inzest als „Stätte der Zeugung des Antichrist durch den Teufel“; Achnitz, Babylon, S. 257. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass in der mittelhochdeutschen Literatur zwar Inzest und Geburt des Antichrist verknüpft werden, so nicht zuletzt in Heinrichs Lehr- und Erbauungsgedicht Gottes Zukunft, in dem es heißt, er sei Mit bosem uberhure / Von zwein gesippen geborn; Heinrich von Neustadt:Von Gottes Zukunft. In: Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland nach der Gothaer Handschrift. Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach der Heidelberger Handschrift. Hrsg. von Samuel Singer. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1906, Dublin, Zürich 1967 (DTM 7), S. 331– 452, hier V. 5035 f.; „aus üblem Ehebruch zwischen zwei Verwandten geboren“. Doch kursieren daneben zahlreiche alternative Geburtsszenarien; vgl. im Überblick Kursawa, Antichristsage, S. 91– 104. In der Literatur werden zudem
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Vater wird als Opfer höherer Mächte stilisiert. Die Erwähnung des Teufels hat hier wie andernorts einen ambivalenten Effekt. Sie entlastet den ‚Täter‘, indem ihm eine Teilschuld abgenommen wird, negativiert ihn aber zugleich, da er zu einem Helfershelfer des Teufels wird. Während in der Forschung zur mittelalterlichen Inzestliteratur der erstgenannte Effekt stark gemacht und die Entlastungsfunktion betont wird,¹⁰¹ soll an dieser Stelle mit Thomas von Aquin die zweite Lesart in den Vordergrund gestellt werden. Unter der Fragestellung, ob der Teufel die Ursache der Sünde sei, führt Thomas in seiner Abhandlung De Malo an, dass der Teufel nur in der Weise des Überredenden agiere, die Entscheidung zur Sünde aber in der Wahl des Willens stehe.¹⁰² Schon Augustinus zufolge geschieht die Entscheidung zum Bösen aus dem Willen des Menschen heraus, für die Sünde (malum peccati) ist der böse Wille (voluntas mala) verantwortlich.¹⁰³ Diese Lesart wird in Heinrichs Apollonius narrativ gestützt. Der Teufel tritt nicht mehr als Akteur in Szene, während in der Inzestepisode Semantiken des Willens wie muot und sin sowie die Bösartigkeit im Handeln des Königs ausgestellt werden (vgl. V. 146; 231; 346; 351 und 378). Zu bedenken ist darüber hinaus die potentielle Wirkung auf textexterner Ebene. Der Teufel als das personifizierte Böse,Verführer der Sünder und Herr über die Hölle ist eine Figur, die durch ihren Platz im Heilsgeschehen polarisiert und sich in ein kirchliches Gefühlsregiment der Angst fügt.¹⁰⁴ Seine Erwähnung stellt in einer christlichen Kultur ein klassisches Reizwort dar, das mit starken negativen Emotionen aufgeladen ist.¹⁰⁵ Die Figur des Teufels gibt auf textexterner Ebene nicht allein eine Bewertung für das Handeln des Königs vor, sie wirkt direkt affizierend. Im Hinweis auf den Teufel verbirgt sich ein weiterer Motivationskomplex; es ist minne (vgl. V. 146), die dem König eingeflüstert wird und die sein schändliches Handeln initiiert. Gemeint ist minne im Sinne sexuellen Begehrens, was nicht
mitunter aus dem Inzest geborene Kinder genau im Gegenteil zu Heiligen, so zum Beispiel in Hartmanns von Aue Gregorius und in der Albanuslegende. Im Kontext von Genealogie kann die inzestuöse Zeugung ebenso gut Exorbitanz begründen; vgl. Julia Weitbrecht: Genealogie und Exorbitanz. Zeugung und (narrative) Erzeugung von Helden in heldenepischen Texten. In: ZfdA 141 (2012), S. 281– 309. Zudem wird in Heinrichs Apollonius die Zeugung eines Nachkommens weder auserzählt noch anzitiert. Vgl. Buschinger, Inzest-Motiv, S. 120; Bennewitz, Mädchen, S. 162. Vgl. Thomas von Aquin:Vom Übel. De malo. Hrsg.von Rolf Schönberger, übers. von Stefan Schick, Teilbd. 1, Hamburg 2009 (Quaestiones Disputatae 11), q. 3 a. 3, S. 171; 177 ff. Vgl. hierzu Therese Fuhrer: Augustinus, Darmstadt 2004 (Klassische Philologie kompakt), S. 114 f. Vgl. Florian Mittl: Der Teufel in der Literatur. Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. In: Disputatio philosophica 15 (2014), S. 65 – 79, hier S. 66 und 77. Vgl. Monika Schwarz-Friesel: Sprache und Emotion, Tübingen 2013 (UTB 2939), S. 194.
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zuletzt daran sichtbar wird, dass Heinrich äquivalent von gelust (V. 230; „Verlangen“; „Begierde“¹⁰⁶) spricht. Sie provoziert einen längeren Erzählerexkurs, in dem über das Wesen von minne reflektiert wird. Generell ist die Figur des Erzählers in Heinrichs Apollonius kaum profiliert, längere Erzählerkommentare sind im Gesamtwerk rar gesät, nur selten wird rezeptionslenkend in die Handlung eingegriffen.¹⁰⁷ Umso bemerkenswerter ist, dass sich im Kontext der Inzestthematik gleich zwei umfangreiche Exkurse inseriert finden, die mit fast einhundert Versen circa ein Achtel der gesamten Vorgeschichte und circa ein Drittel der Inzestepisode im engeren Sinne ausmachen. Der Redegegenstand, dem so viel Aufmerksamkeit zukommt, ist minne, angesprochene Adressatin ihre Personifikation, Frau Minne. Der erste Exkurs folgt einer diffizilen Argumentationskette, die drei thematische Blöcke durchläuft, eine sprachlich-rhetorische, eine literarische und eine lebensweltliche Reflexion. So klagt der Erzähler zunächst Frau Minne in einer Apostrophe an: Fraw Mynne, das ist unrecht tan, Ir seitt schuldig gar dar an: Ir sullet zu rechter mynne wegen, Nicht zu solher mynne stegen. Macht ir den kunig also plintt Das er so mynnet sein aigen kindt, Das ist nicht raine mynne. Ir valsche ratgebynne, Ir sult nach solher mynne streben Als die natur hatt gegeben Und Got selber gepotten hatt. (V. 148 – 158) Frau Minne, das ist unrecht gehandelt, daran seid ganz und gar ihr schuld: zu rechter Liebe sollt ihr einen Weg bahnen, nicht einen Steg zu solcher Liebe. Wenn ihr den König so blind macht, dass er sein eigenes Kind liebt, ist das keine reine Liebe. Ihr falsche Ratgeberin, ihr sollt nach jener Liebe streben, wie die Natur sie vorgesehen und Gott selbst sie geboten hat.
Die personifizierte Liebe wird ebenso wie der Teufel als Agens des Begehrens gesetzt; sie ist es, die unrecht handelt und Schuld trägt. Agensbetonung und Agensaussparung lassen sich mit Schröder als tabutypische Umgehungsstrategien beschreiben,¹⁰⁸ die Hervorhebung der Wirkmacht externer Kräfte drängt Anthiochus als handelnden Akteur zurück, wobei insbesondere die Verschiebung
Vgl. BMZ I, Sp. 1055a. Vgl. Achnitz, Babylon, S. 257. Vgl. Schröder, Tabu, S. 312.
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durch eine Personifikation einen rhetorischen Kunstgriff darstellt. Die Benennungsfunktion von Sprache wird unterminiert, wenn der zweifach eingesetzte Begriff solhe minne zwar gleich lautet, aber kategorial Gegensätzliches bezeichnet; solhe minne ist rechtmäßig und der natürlichen und göttlichen Ordnung entsprechend (vgl. V. 150; 156 ff.), solhe minne hingegen ist unrein, macht den Vater blind und lässt ihn sein eigenes Kind lieben (vgl.V. 154; 151 ff.). Dies nun lässt den Erzähler gegen Frau Minne ausrufen: Tuett solhes nit, das ist mein ratt: (Psäch, Mynne, ir sult euch sere schamen) Ir verlieset anders ewren namen (V. 159 ff.). Tut so etwas nicht, das ist mein Rat: (Pfui, Minne, ihr solltet euch schämen!), sonst verliert Ihr euren Namen.
Der Erzähler tritt als ‚sprechendes Ich‘ aus seinem Vortrag heraus und weist Frau Minne in ihre Schranken. Psäch entspricht in etwa, wie Birkhan übersetzt, nhd. „Pfui“¹⁰⁹ oder, wie die lautliche Ähnlichkeit nahelegt, dem weitgehend äquivalenten „Bäh“ und kann entsprechend als Interjektion aversantis,¹¹⁰ eine „Ekelgefühle anzeigende Symptominterjektion“¹¹¹, einer „Sprache des Ekels“¹¹² zugeordnet werden.Wie bereits im Myrrha-Kapitel dargelegt, ist Ekel als Emotionswort erst später gängig,¹¹³ sodass sich erneut mit dem Konzept der Hypo- und Hyperkognition argumentieren ließe. Die Interjektion übt eine Doppelfunktion aus. Zum einen inszeniert sich der Erzähler als emotional involviert, was durch die unmittelbar emotiv-expressive Funktion von Interjektionen authentifiziert wird. Zum anderen vermittelt sie einen Präsenzeffekt und zielt im mündlichen Vortrag in ihrer kommunikativen und interaktionalen Funktion darauf, auch bei den Rezipierenden Ekel oder Abscheu zu evozieren. Beide Funktionen stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis, das sich sozial grundieren lässt. So konstatiert Schnell für die mittelalterliche Kultur und Literatur eine „Omnipräsenz des Handlungszieles ‚von allen geliebt werden‘ […], wonach das Handlungsziel ‚sich beliebt machen‘ sich vor allem in sozialen Gemeinschaften findet, deren Mitglieder auf engem Raum zusammenleben“¹¹⁴. Diese Gemeinschaft als
Birkhan, Apollonius, S. 15. Vgl. hierzu Grimm, Deutsche Grammatik, S. 304. Velten, Ekel, S. 219. Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 100. Vgl. DWB 3, Sp. 394; Kluge, S. 237. Siehe hierzu ausführlich Kap. 7.1.5. Schnell, Die höfische Kultur, S. 37 und 46.
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Kreis der Rezipierenden lässt sich für Heinrich mit Ebenbauer innerhalb des bürgerlichen Patriziats (dem Heinrich selbst angehört), des hohen und niederen Adels der Wiener Gesellschaft verorten, die vielfältig verflochten sind.¹¹⁵ Die Darstellung von Ekelhaftem steht konträr zum Handlungsziel sozialer Integration; aus dem Ausruf spricht, wenn man so will, die „Angst, Anlaß des Ekels für andere Menschen zu werden“¹¹⁶, wie Schnell es in einem anderen Kontext ausdrückt. Genötigt vom Inzest zu erzählen – als Tabubruch prädestiniert, starke negative Reaktionen wie Ekel und Abscheu bei den Rezipierenden hervorzurufen – zeigt sich der Erzähler selbst angeekelt. Wird hier in der Gemeinschaft durch die Interjektion ein Präsenzeffekt hergestellt, wird das Erzählte durch die Ekelgeste zugleich in Distanz gerückt. Personifikation, Apostrophe und Interjektion lassen sich in Anlehnung an Schnell als poetische Techniken verstehen, die dafür sorgen, „daß das Ekelhafte nicht mehr als unmittelbar bedrohendes Ekelerregendes erschien, sondern als literarisches Produkt bewußt gemacht wird“¹¹⁷. Diese Distanzierung durch Ästhetisierung ist zugleich geeignet, im Rezeptionsprozess Lust zu erzeugen. Darüber hinaus wird auf textinterner Ebene inzestuöse minne mit Scham verbunden, sie ist es, ob der sich Frau Minne schämen soll. Was beim Betrachter Ekel hervorruft, fordert vom Handlungssubjekt Scham; ein Zusammenhang, der sich auch in modernen Emotionstheorien formuliert findet – man ekelt sich in der Regel über Eigenschaften und Handlungsweisen, für die man sich, würde man sie selbst besitzen oder ausführen, schämen würde.¹¹⁸ Für das Mittelalter ist der soziale Aspekt dieses Zusammenhangs noch stärker hervorzuheben. Virulent wird ein gesellschaftliches Gefüge, in dem das Ausbleiben der eigentlich mit Blick auf den Inzest sozial geforderten Emotion Scham im Sinne von „Schande als bleibender Nichtung der Ehre“¹¹⁹ seinerseits zu Objekt und Stimulus von Ekel in der Außenperspektive wird. Sowohl Ekel als auch Scham werden auf diesem Weg implizit als Emotionsnormen entworfen, die sich auf das Inzesttabu richten und es eigentlich schützen sollen. Wenn Frau Minne sich nicht schämt, so heißt es weiter, verliert sie ihren Namen. Damit ruft Heinrich vorgreifend die Namensthematik auf, die in der Historia erst beim Ammengespräch eingeführt wird, und wendet sie kreativ gegen Frau Minne. So steigern sich die Reflexionen ins Paradoxon: Schämt sich Frau Minne nicht, verliert sie ihren Namen, mithin ihre Identität, ihr Wesen. Was aber
Vgl. Ebenbauer, Apollonius, S. 342 f. Schnell, Die höfische Kultur, S. 97. Schnell, Ekel, S. 429. Demmerling/Landweer, Philosophie, S. 109 f. Velten, Schamlose Bilder, S. 104.
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ist diese Form der Liebe, wenn sie keine Liebe mehr ist? Im Bemühen, innerhalb des semantischen Feldes von minne inzestuöses Begehren von gesellschaftlich akzeptierter Liebe zu scheiden, stößt die Reflexion an Grenzen. Das transgressive Moment inzestuöser Liebe wird über ausufernde Erläuterungen konturiert, die ihrerseits die sprachliche Bezeichnungsfunktion von minne brüchig werden lässt.¹²⁰ Nach diesen allgemeinen Reflexionen werden nun Beispiele aus der Literatur referiert, die das schändliche Wirken fehlgeleiteter Liebe illustrieren. An erster Stelle stehen Tristan und Isolde, Frau Minne wird vorgeworfen, sie zum Treuebruch gegenüber Marke verleitet zu haben und für ihren Tod verantwortlich zu sein (vgl. V. 166 – 176). Cieslik argumentiert, in der Parallelisierung des inzestuösen und des ehebrecherischen Paares zeichne sich ein feudalhöfisches Minneverständnis ab, das „die unmäßige, die Schranken der Ehegesetzlichkeit überschreitende Minne nachdrücklich verurteilt“¹²¹. Burghart Wachinger hingegen hält den Vergleich für hinkend, „die Romanhandlung kennt keine ernsthaften Konflikte zwischen Liebe und Gesellschaft oder Liebe und Moral.“¹²² Doch lässt sich nicht allein über die Liebes-, sondern auch über die Inzestthematik ein Bezug zwischen den beiden Erzählstoffen herstellen. Legt man die kirchenrechtlichen Inzestverbote an, die Schwieger- und Blutsverwandtschaft gleichsetzen, ist die Figurenkonstellation im Tristan als inzestuöses Gefüge zu beschreiben, insofern Isoldes Verbindung mit Tristan, dem Neffen ihres Mannes, einen Inzest im 1./2. Grad darstellt. Die Tristan-Romane schenken diesem Umstand in der Regel keine Aufmerksamkeit; Liebe, Ehebruch und Verrat bilden die Kernkonflikte, nicht die Inzestthematik.¹²³ Dennoch ist durchaus möglich, wie Archibald zu bedenken gibt, dass das zeitgenössische Publikum diese Deutungsebene präsent hatte, „nonetheless the shadow of incest must have hung over the story for audiences and readers in the late twelfth century.“¹²⁴ Diese Vermutung lässt sich am Beispiel des Minneexkurses in Heinrichs Apollonius verifizieren. Er legt Zeugnis ab, dass der Tristan im Mittelalter durchaus als Inzestgeschichte rezipiert wurde, wie sich vor allem sprachlich festmachen lässt. So wird die Verwandtschaft auffällig betont, wenn es über Isolde heißt, sie
Teile dieses Absatzes überschneiden sich mit meinen Überlegungen in Hagemann, Gefühle, S. 126. Cieslik, Wertnormen, S. 49. Burghart Wachinger: Heinrich von Neustadt, Apollonius von Tyrland. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 1), S. 97– 115, hier S. 113 Vgl. Peters, Dynastengeschichte, S. 333 f.; Archibald, Incest, S. 223. Ebd.
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sei die Ehefrau des Mutterbruders von Tristan (vgl. V. 168). Inzest- und Ehebruchsthematik werden nicht einfach in einem Sammelsurium unrechter Liebe subsumiert, vielmehr bildet der Tristan-Stoff eine Steilvorlage, über die Inzestthematik die Problemkomplexe Ehe- und Treuebruch einzuholen, und so ihre fatalen Implikationen zu vergrößern.Vermeintlich schief wird Heinrichs Vergleich erst mit seinem Hinweis auf Pyramus und Thisbe, einer „Art Vorstufe zu ‚Romeo und Julia‘“¹²⁵. Denn was die beiden Liebespaare verbindet, ist eine Liebe, die so stark, absolut und gegen die gesellschaftliche Ordnung ist, dass sie am Ende in den Tod führt. Möchte Heinrich Anthiochus und seine Tochter ebenfalls als tragisches Liebespaar verstanden wissen? Ihren Tod als Liebestod? Oder versteht er umgekehrt Tristan und Isolde sowie Pyramus und Thisbe gerade nicht als große Liebespaare, sondern als Verfehlte? Die Konzeption des Exkurses spricht für die zweite Lesart. Wurde Frau Minne bereits im ersten Abschnitt als schlechte Ratgeberin tituliert (vgl. V. 155), wird sie nun ein ketzerynne (V. 163) geschimpft, ein nicht nur ungläubiger, sondern „frevelhafter, verworfener mensch […], bes. der unnatürl. wollust fröhnt, Sodomit“¹²⁶, was im Mittelalter alle unkeuschen Handlungen von Homosexualität über Inzest bis hin zu Onanie umfasst.¹²⁷ Die Beispiele aus der Literatur sollen Frau Minnes Eigenart veranschaulichen, von früh bis spät posen ratt (V. 165; „schlechten Ratschlag“) zu erteilen, der bloß Schmerz bereitet (vgl. V. 178). Doch damit nicht genug. Seyt ir eyn göttinne / Und ayn kunigynne? ¹²⁸ (V. 172), fragt der Erzähler rhetorisch gegen, gängige Bezeichnungen von Frau Minne aus der mittelhochdeutschen Literatur aufgreifend, und antwortet gleich selbst: Nain zwar, ir morderynne! ¹²⁹ (V. 174). Sodann wird sie als ungeertes weib (V. 179; „ehrlose Frau“) angesprochen, womit ins Gegenteil verkehrt wird, was Frau Minne gemeinhin auszeichnet. Sind im höfischen Minneideal êre und minne aufs Engste miteinander verknüpft, wird der Personifikation mit ihrem neuen Namen Ehre abgesprochen; konnotiert die Bezeichnung als frouwe positiv den adligen Stand, wird mit wîp der allgemeinere, im Vergleich niedere Begriff gewählt; führt Frau Minne die Liebe noch im Namen, wird selbige an dieser Stelle ersatzlos gestrichen. Das in der Personifikation angelegte höfische Minneideal wird Schritt für Schritt seiner prägenden Eigenschaften entkleidet, bis am Ende nur noch das Gegenteil von dem bleibt, wofür Frau Minne eigentlich steht. Ebenso wie zuvor der Term minne erfährt auch sie im Verlauf des Exkurses eine sukzessive Dekonstruktion. Sich von Frau Minnes Ratschlägen leiten zu
Birkhan, Apollonius, Anm. 10, S. 324. Lexer 1, Sp. 1563. Vgl. hierzu Klinger, Gender-Theorien, S. 280. „Seid ihr eine Göttin und eine Königin?“ Sinngemäß: „Gewiss nicht, ihr Mörderin!“
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lassen – denn genau hierhin besteht die Gemeinsamkeit von Anthiochus mit Tristan und Isolde, Pyramus und Thisbe, wie Heinrich sie versteht – wird mit Nachdruck verurteilt. Heinrich schiebt einen dritten Teil nach, der sich auf die Lebenswelt der Rezipierenden bezieht, die Wiener Gesellschaft, in der der Apollonius ursprünglich vorgetragen wird.¹³⁰ Der Abschnitt ist gespickt mit obszönen, ins WitzigSkurrile kippenden Anspielungen, die sich heute nicht mehr zufriedenstellend deuten lassen.¹³¹ Wer ist der Krüppel, der auf seinen Krücken tanzt, weil ihm die Liebe zur Königin gewährt wird? Was ist unter einem rosenlachenden Mann zu verstehen? Wer ist der schwarze Koch mit dem sprechenden Namen Nagel (V. 202), was im Mittelhochdeutschen auch das männliche Geschlechtsorgan bezeichnen kann?¹³² Wer der Bastard, den er zeugt, und der den Nagel im Wappen trägt, um sich vor der Schande zu hüten, in der er geboren wurde? Die Geschichten und Gerüchte, die einst hinter diesen Anspielungen gesteckt haben mögen, können heute nicht mehr rekonstruiert werden. Vom Text lassen sich jedoch zwei Stoßrichtungen ableiten. Zum einen steht das Thema von Ehre und Tugend im Vordergrund, im Speziellen der Kontrast, dass Liebe oft dem gewährt wird, der ihrer nicht würdig ist, während die Edlen und Rechtschaffenen nicht bedacht werden (vgl. V. 180 f.; 185; 189 und 196 f.). Zum anderen werden die Anspielungen vom zeitgenössischen Publikum wahrscheinlich verstanden, es wird gelacht oder zumindest geschmunzelt,¹³³ sie geben potentielle Rezeptions-Stimuli für Komik oder auch Spott. Anders als in den bisher besprochenen Kommentaren und Auslegungen werden auf textexterner Ebene nicht Furcht oder Schrecken ob der Inzestthematik anvisiert. In den Spuren des Textes gewinnt eine zeitlich und lokal eingrenzbare Rezeptionsgemeinschaft Kontur, die sich über fehlgeleitete Sexualität und unrechte Liebe (auch) lustig macht. Die Dekonstruktion von Frau Minne wird in einer Abwärtsspirale fortgeführt, wenn sie nun noch ein krankes weib (V. 213; „böses Weibsstück“) geschimpft wird, was seinen Tiefpunkt schließlich in der Bezeichnung als gemaines freuwelein (V. 215; „gemeine Dirne“¹³⁴) findet, das leichtlebig seinen Körper feilbietet (vgl. V. 214; 216). Frau Minne ist zur Prostituierten ‚avanciert‘. Hier gilt, was schon Walter Schürenberg beobachtet:
Vgl. Birkhan, Apollonius, S. 343 und 398 f.; Cieslik, Wertnormen, S. 45. Vgl. Birkhan, Apollonius, Anm. 12 und 13, S. 324; 398 f. Vgl. ebd., Anm. 13, S. 324. Vgl. a. nhd. vulgärsprachlich ‚nageln‘. Vgl. ebd. Ebd., S. 15.
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Heinrich läßt sich keine Gelegenheit zu einer Strafrede entgehen […]. Doch die Freude am drastischen Ausdruck ist dabei mindestens ebenso groß. Auch die Schauergeschichte wird so intensiv gestaltet, daß das Vergnügen an ihr die Entrüstung übersteigt. Das entspricht durchaus der Sittenpredigt dieser und der folgenden Zeit, die Tugend lehren will, indem sie alle Laster so farbig wie möglich ausmalt.¹³⁵
In Heinrichs Minneexkurs soll die Anklage von Frau Minne den Rezipierenden vor allem eines bereiten: Vergnügen. Hierfür spricht auch die Schlusssequenz des Exkurses, in der erneut ein ‚sprechendes Ich‘ inszeniert wird. Wäre es der Meister von Frau Minne, so heißt es, müsste ihr Leben anders aussehen (vgl. V. 219 f.). Der Erzähler schwingt sich auf zum Herrn über die herabgesetzte Herrin der Liebe. Trotz dieser fundamentalen Kritik schält sich aus den Reflexionen keine eindeutige Sinnprägung heraus. Weder wird ein höfisches Minneideal propagiert noch folgt der Exkurs einer biblisch geprägten Redeweise. Zwar besteht an der Verwerflichkeit fehlgeleiteter Liebe kein Zweifel, sie ist ein Thema, über das man klagt und vor dem man warnt, zugleich ist sie aber Objekt und Stimulus von Ekel und Scham, Spott und Komik. Durch den Exkurs wird nicht nur textintern ein Bewertungsrahmen eingeführt, so dass die Vorgeschichte, wie schon Bockhoff und Singer anmerken, „einen festen Rahmen […] gewinnt, innerhalb dessen sie sich selbständig bewegen kann“¹³⁶. Er dient auf textexterner Ebene auch dazu, die Rezipierenden zu affizieren und in den Bann der Geschichte zu ziehen. Dabei lässt sich eine weitere Emotion ins Spiel bringen: Spannung. Exposition und Entstehung des Begehrens, auf die die Historia knappe 12 Zeilen verwendet, nehmen bei Heinrich bereits an diesem Punkt 129 Verse ein. Der Exkurs ist ebenso wie die Vorausdeutungen, die hinzugefügten und auserzählten Motive als Methode der Hinauszögerung ein zentraler Bestandteil in Heinrichs Spannungsrepertoire.¹³⁷ Derart ‚affiziert‘ und ‚gespannt‘ leitet die Erzählung die Rezipierenden nun zum Inzestakt über.
8.1.3 Inzest als Sieg und Niederlage Zur Handlung der Historia zurückkehrend verweist der Erzähler einleitend noch einmal auf das unrechte Begehren des Vaters:
Schürenberg, Apollonius, S. 105. Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 17. Vgl. Schürenberg, Apollonius, S. 99.
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Der kunig prinnund ward Von mynne seiner tochter zartt. Der ungert trayb dar an Wie er seines kindes man Haymlichen wurde. Das was der sele ein purde. Aines morgens, do es tagtt, Grosser gelust in jagt Und sein prynnender muett An ain ding, das was nit guett. (V. 223 – 232) Der König war entbrannt in Liebe zu seiner lieblichen Tochter. Der Ehrenlose setzte alles daran, wie er heimlich der Mann seines Kindes werden konnte. Das war eine Bürde für die Seele. Eines Tages, als es tagte, trieben ihn große Begierde und sein loderndes Verlangen zu einer Sache, die nicht gut war.
Stand im Exkurs ein reflexives Moment im Vordergrund, wird minne nun in ‚gefühlsmäßigen‘ Parametern geschildert, Anthiochus ist vom Feuer der Leidenschaft getrieben, das auf den Vollzug drängt. Classen sieht das inzestuöse Begehren detailliert und psychologisch motiviert,¹³⁸ vergleicht man die Verse aber mit der Historia, tritt Heinrich an dieser Stelle noch hinter seine Quelle zurück. Sein Anthiochus versucht sich seinem Begehren nicht zu widersetzen, es gibt keinen inneren Konflikt, bei dem am Ende die Leidenschaft obsiegt. Der Hinweis auf die Seelenbürde und die Bewertung seines Handelns als eine ungute Sache sind weniger Ausdruck einer ‚Figurenpsychologie‘ als vielmehr, wie sich am verallgemeinernden Ton und dem fehlenden Objektbezug auf eine grammatikalische Person festmachen lässt, eine Deutung des Erzählers, die als eine Art Korrektiv zur histoire fungiert. Es ist kein Zufall, dass mit Ehre, Heimlichkeit und Begierde Themen des Liebesexkurses wieder aufgerufen werden, der nun eine Funktion als normativer Bewertungsrahmen erfüllt. Bemerkenswert ist daneben die Jagdmetapher, die Anthiochus’ Begehren qualifiziert (vgl. V. 230). Sie wird an dieser Stelle bereits zum dritten Mal verwendet (vgl. a. V. 137; 188) und trägt die nun folgende Inzestszene motivisch. Ebenso wie in der Historia greift Anthiochus auf den Vorwand zurück, er habe etwas mit seiner Tochter zu besprechen, dann schreitet er zur Tat:
Vgl. Classen, Sexual violence, S. 168.
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In die kamer er sich schwaif, Sein liebe tochter er pegraiff. Er vergaß das er ir vatter was Und ir ir muter genas. Der vatter wart seines kindes man, Das kind sein weyb: das ist ubel gethan. Sust prach er ir der keusche strigk, Die raine die verlost den sigk. (V. 237 – 244) Er drängte in die Kammer, packte seine liebe Tochter. Er vergaß, dass er ihr Vater war und mit ihrer Mutter geschlafen hatte. Der Vater wurde zum Mann seines Kindes, das Kind seine Frau: das ist unrecht getan. So brach er ihr das Band der Keuschheit; die Reine, die verlor den Sieg.
Der Inzest geht auf in einer Rede von Sieg und Niederlage. Während die Tochter in der Historia versucht sich zu wehren, erscheint sie bei Heinrich durch die Metaphorisierung – die sich ebenfalls als typische Tabuvermeidungsstrategie verstehen lässt¹³⁹ – als (Jagd‐)Objekt. Gleichsam zeigt sich, wie Schneider anmerkt, dass der Inzest weder primär durch den Einfluss des Teufels noch dynastisch motiviert ist, sondern begründet liegt im Vergessen von Differenz.¹⁴⁰ Anthiochus ‚vergisst‘, dass er der Vater seiner Tochter ist. Hinzufügen lässt sich, dass bereits die Historia in ganz ähnlicher Weise vermerkt, dass er vergaß, dass er ihr Vater war und ihr Gatte wollen werde.¹⁴¹ Doch bleibt die Transgression im Verwandtschaftssystem dort auf die kategoriale Differenz von Affinitas und Deszendenz, auf die Verschiebung vom Vater zum Ehemann, beschränkt, auch bezieht sich der Hinweis auf die Entstehung und Ursache, nicht auf die Folgen des Inzests. Bei Heinrich hingegen wird (in der im Rahmen dieser Studie mittlerweile als typisch zu bezeichnenden Weise) die Komplexität der Verwandtschaftsverwirrung ausgestellt als direkter Ausdruck und unmittelbare Konsequenz des Inzests; eine kategoriale Sprachverwirrung im sich vollziehenden Bruch mit der verwandtschaftlichen Ordnung, wie sie in der chiastischen Struktur anklingt, die Vater und Ehemann, Kind und Ehefrau verwebt. Junk sieht hierin, dass „unterschwellig eine Konvergenz zwischen dem Willen des Vaters und dem Willen der Tochter mitschwingt“¹⁴². Blickt man von der textinternen jedoch auf die textexterne Ebene, lassen sich Metapher und Chiasmus auch als rhetorische Strategien beschreiben, die, wie bereits die klassische Rhetoriktradition formuliert, Wohlgefallen und
Vgl. Schröder, Tabu, S. 312. Vgl. Schneider, Chiffren, S. 198. Vgl. HA (RA) cap. 1, Z. 12, S. 278; HA (RB) cap. 1, Z. 12, S. 279. Junk, Transformationen, S. 88.
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Lustgefühle, also eine ästhetisch angenehme Erfahrung, erzeugen sollen.¹⁴³ Heinrichs Gestaltung der Inzestszene kann als Paradebeispiel für jenen schon im Theorieteil erläuterten Umstand gelten, dass in der ästhetischen Erfahrung das Schreckliche zu einer Quelle von Lust werden kann. Das Motiv der Verwandtschaftsverwirrung bindet massiv Aufmerksamkeit, was sich mit Faszination korrelieren lässt,¹⁴⁴ für die sie einen Rezeptions-Stimulus gibt – potentiell für die Rezipierenden, faktisch für Heinrich, der das Motiv aus der Historia übernimmt und ausbaut. Zugleich wird die negative Bewertung des Inzests präsent gehalten.¹⁴⁵ Während die Tochter als lieb bezeichnet wird, wird Anthiochus Handeln sogleich als ubel („übel, böse, schlimm, schlecht“, „unrecht“¹⁴⁶) charakterisiert. Dominant sind in diesem Erzählteil aber weder die Emotionen des Vaters noch die der Tochter, sondern die textexterne Ebene, durch die die Inzestthematik Form erhält in der Metaphorisierung als Kampf und Niederlage, der schrecklich-schönen Verwandtschaftsverwirrung und der Auffassung des Erzählers, die sich in wertenden Attributen äußert. Unmittelbar nachdem Anthiochus seine Tochter verlässt, stößt ihre Dienerin Pynnell zu ihr. Heinrich nimmt zwei kleinere Änderungen vor, aus der Amme wird eine Dienerin, so dass der mütterliche Aspekt entfällt, zugleich gewinnt die Figur Profil, indem sie einen Namen erhält. Dies unterstreicht den Objektstatus der Königstochter umso mehr, die somit neben ihrer Mutter als einzige handlungstragende Figur namenlos bleibt (selbst die Monster und Wunderwesen des Orients werden mit Namen, zum Teil sogar mit Genealogien, ausgestattet¹⁴⁷). Eine größere Umdeutung erfährt der sich nun anschließende Dialog. Die einzelnen Redebeiträge werden verlängert,¹⁴⁸ die drei Hauptmotive Tränen, Blut und Rosenröte gesplittet. So dienen als Gesprächseinstieg nicht die Blutstropfen, sondern allein die Tränen der Königstochter. Pynnell sieht sie [j]amerlichen weinen (V. 250; „kummervoll weinen“) und erschrickt (vgl. V. 251), reagiert also ihrerseits emotional, aus Mitleid sucht sie den Kummer ihrer Herrin zu ergründen (vgl.V. 252 ff.).
Vgl. Heike Mayer: Rhetorische Kompetenz. Grundlagen und Anwendung, Stuttgart 2007 (UTB 8361), S. 201. Vgl. Baisch, Immersion, S. 70. Vgl. a. Classen, Sexual violence, S. 170. Hennig, S. 344. Vgl. zu den Genealogien der Gegenwelt Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 39; Christian Kiening: Apollonius unter den Tieren. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer/Volker Mertens, Tübingen 2002, S. 415 – 432, hier S. 425; Schneider, Chiffren, S. 235 – 240; Vgl. Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 18.
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Diese versucht zunächst, sich auf eine Krankheit auszureden (vgl. V. 256),¹⁴⁹ was ebenfalls emotional motiviert wird: Allsust wolt sy es verschwigen han Durch rechte weypliche scham, Und auch das es nicht enzam Das vatter solhe dät Mit seiner tochter hatt. (V. 258 – 262) Auf diese Weise wollte sie es verschweigen aufgrund angemessener weiblicher Schamhaftigkeit und auch weil es sich nicht gehört, dass ein Vater solche eine Tat mit seiner Tochter begeht.
Der Hinweis auf Scham lässt sich mit der Aufforderung an Frau Minne aus dem Liebesexkurs assoziieren, sie solle sich ob der inzestuösen Liebe schämen. Scham wird in eine Genderperspektive gerückt und dem weiblichen Geschlecht als Tugend zugeschrieben, in der Spezifizierung als rechte (vgl. a. V. 288) scheint ein normativer Bezug auf. In der Zusammenschau mit dem Exkurs lässt sich Scham somit als implizit entworfene Emotionsnorm fassen, die sich in der Königstochter erfüllt und motiviert, dass sie das Geheimnis des Inzests verbergen möchte. Die in der Historia vorgeprägte Dynamik des Ammengesprächs wird auf eine reziproke Kette von Emotionen hin akzentuiert, denen motivationale Funktion zukommt. Dies gilt auch für das ebenfalls emotionalisierte Blutsmotiv, das zudem noch stärker als in der Historia einer textexternen Außenwirkung dienbar gemacht wird: Pynnell die was weysse, Die pegund [spehen] leysse; Sie deucht es war nit also: An der statt sach sie do Die rechten wortzaichen, Pynnell pegund pleichen: Pluett var was der frauwen watt. ¹⁵⁰ (V. 263 – 269)
Vgl. hierzu a. Classen, Sexual violence, S. 169. Ich lese mit Bockhoff und Singer in V. 264 spehen statt sprechen; vgl. Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 18; sowie Birkhan, Apollonius, Anm. zu V. 264, S. 7. Hierfür spricht, dass die Textstelle in einem visuellen Modus steht, Pynnell sieht im Nachgang das Blut. Würde man stattdessen sprechen setzen, wäre die Aussage in V. 265 als indirekte Rede aufzufassen, eine eher untypische Darstellungsweise im Gesamtwerk. Vielmehr werden in längere Dialoge und Rede-
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Pynnell, die war klug und sah sich unauffällig um, ihr schien, es sei nicht so, sofort sah sie dort die Wahrzeichen, Pynnell erbleichte: Blutgetränkt war das Kleid der Dame.
Schon Bockhoff und Singer attestieren Pynnell „einen Zug teilnehmender Neugierde“¹⁵¹, sie schenkt der Ausflucht der Königstochter keinen Glauben und blickt sich unauffällig um. Dabei heißt es zunächst nur allgemein, sie erkenne die Zeichen und erbleiche. Dieser Aufschub generiert die spannungserzeugende Frage, was sie sieht, zumal der Anblick über nonverbale Zeichen als Objekt von Schrecken und Furcht antizipiert wird.¹⁵² So gibt die Textstelle gegebenenfalls ihrerseits einen Rezeption-Stimulus für Neugier als textexterne Emotion.¹⁵³ Das Blutsmotiv selbst ist dann auch mit einiger Drastik gestaltet. Mit den Augen der Dienerin ‚sehen‘ die Rezipierenden nicht einige Blutsspritzer auf dem Boden, das ganze Kleid ist blutgetränkt. Der narrative Blick weidet sich am blutigen Spektakel. Der nun folgende Redebeitrag Pynnells schwillt bei Heinrich von einem Satz auf 13 Verse an (vgl. V. 270 – 282). Sie empört und entrüstet sich ob der offensichtlichen Defloration (vgl. V. 270; 273; 278 f.), bezeichnet den Zustand der Königstochter als nott (V. 280; „Leid; Schmerz, Qual“; „Notlage“¹⁵⁴), fordert in einer
szenen häufig beschreibende und erläuternde Sequenzen inseriert; vgl. Schürenberg, Apollonius, S. 61. Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 18. Erbleichen kann neben Furcht auch auf Zorn, Scham, Trauer oder (unerfüllte) Minne verweisen; vgl. Koch, Trauer, S. 44 und Fn 84, S. 270; Riekenberg, Literale Gefühle, S. 77 und 100; William Jervis Jones: Historisches Lexikon deutscher Farbbezeichnungen. Bd. 1, Berlin 2013, S. 862. Durch den Kontext sind aber Furcht und Schrecken wahrscheinlich, nicht zuletzt weil es in der Historia an dieser Stelle heißt horror; HA (RA) cap. 2, Z. 8, S. 280. Im klerikalen Diskurs ist Neugier als Schaulust (curiositas) in der Folge von Augustinus negativ bewertet, weshalb Achnitz für den Binnenteil in Heinrichs Apollonius die These vertritt, „daß nicht nur der Held seine schrittweise Verstrickung in die Wunder des Orients und das SichVerzetteln aufgrund von curiositas (zunächst) nicht wahrnimmt, sondern daß ihn der Rezipient auf diesem Irrweg begleitet“; Achnitz, Babylon, S. 190; vgl. a. Ders: Heinrich von Neustadt. Apollonius von Tyrland, München 1998 (Codices illuminati medii aevi 49), S. 7– 17, hier S. 13. Doch gilt das klerikale Verdikt nicht uneingeschränkt für die Literatur; vgl. Martin Baisch: Vorausdeutungen. Neugier und Spannung im höfischen Roman. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland/Matthias Meyer, Berlin, New York 2010 (TMP 19), S. 205 – 230, hier S. 211 ff. Zumindest wäre an dieser und anderen Stellen ein deutlicher Erzählüberschuss zu verzeichnen. Zu Neugier allgemein sowie im Zusammenhang mit Spannung in der mittelhochdeutschen Literatur vgl. daneben Baisch/Koch, Neugier. Vgl. Hennig, S. 245.
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figura etymologica: Ir sult […] Klaglichen ewrem vatter klagen ¹⁵⁵ (V. 281 f.). Die Erweiterung dient der Emotionalisierung, im Außenblick wird der Zustand der Königstochter als ein empörender, leidvoller, beklagenswerter präzisiert. In ähnlichem Tonus klingt ihre Antwort: Die junge jammerlichen sprach / ‚Ach! herre Gott und ymer ach!‘ ¹⁵⁶ (V. 283 f.). Mhd. jâmerlich meint in einer Aktiv-PassivDoppelbedeutung ebenso „leidvoll“ wie „beklagenswert“,¹⁵⁷ das Stammwort mhd. jâmer ein „schmerzgefühl, das ein bitterer verlust erzeugt“¹⁵⁸, was mit den Interjektionen eindringlich ‚vor Ohren gestellt‘ wird, die – wiederholt, gesteigert, verstetigt – die textexterne Wirkung intensivieren können. Sie läuten einen Redebeitrag ein, der sich als ‚Wiedererzählen‘ und ‚Erzählen im Erzählen‘ beschreiben lässt, vom Vater-Tochter-Inzest wird noch einmal, nun aus der Perspektive der Königstochter, berichtet. Dieses ‚Wiedererzählen‘, das als narrative Strategie schon die Historia durchzieht,¹⁵⁹ ermöglicht, so Kiening, Mitgefühl und „verleiht den Beziehungen affektive Dimension“¹⁶⁰, was durch die initiale interjectio und exclamatio noch verstärkt wird. Dabei beklagt die Tochter nicht allein, an ihr seien zwei Namen verloren, sie fügt in direkter Rede hinzu, [d]eß ich mich pillich mueß schamen ¹⁶¹ (V. 288).Wie schon bei Rudolfs von Ems Tamar und Georg Wickrams Nyctimene ist es damit der passive Part beim Inzest, nicht der aktive, der sich schämt, Anthiochus kennt weder Scham noch Schuld. Die moderne Missbrauchs-Forschung bezeichnet dieses Phänomen als Psychodynamik der „Selbstverkehrung des Opfers zu einem Täter“¹⁶². Doch lässt sich die Emotion in dem mittelalterlichen Roman nicht in Parametern der Psychologie fassen, sie ist als Textstrategie der Normierung und Sympathielenkung zu verstehen. Scham wird erneut durch die Qualifikation als pillich („mit/zu Recht“¹⁶³) als auf den Inzest gerichtete Emotionsnorm zementiert und allein der Tochter zugeschrieben. In ihr ist die gesellschaftliche Norm inkorporiert, sie teilt das Inzesttabu, was sie positiv vom Vater abhebt.
Sinngemäß: „Bringt, was zu beklagen, eurem Vater zur Anklage!“ Die Dopplung zielt darauf, dass das, was beklagt werden soll, beklagenswert ist; vgl. a. Birkhans Übertragung: „[…] klagt alles Eurem Vater, wie es rechtens ist“; Birkhan, Apollonius, S. 16. „Die Junge sagte leidvoll: ‚Ach! Herr Gott, und noch mehr ach!‘“ Vgl. BMZ 1, Sp. 769a; Hennig, S. 177. BMZ 1, Sp. 768a. Vgl. Bachorski, grosse vngelücke, S. 71; 74 ff. Kiening, Unheilige Familien, S. 40. „Dafür muss ich mich zu Recht schämen.“ Moldzio, Mißbrauch, S. 118. Hennig, S. 38.
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Das Namensmotiv wandelt Heinrich leicht ab: Ich was ain magett und vatters kind, Die paide an mir verdorben sind: Des kind ich waß, des weib pin ich (V. 288 ff.) Ich war eine Jungfrau und Vaterstochter, die beide an mir zerstört worden sind, dessen Kind ich war, dessen Frau bin ich.
Der Verlust rekurriert wie in der Historia auf die Zerstörung der sozialen Zugehörigkeit,¹⁶⁴ Heinrich verlagert aber den Fokus auf die Tochter, indem er die Referenzpunkte verschiebt. Die Königstochter verliert nicht in einem Objektbezug Vater und Ehefähigkeit, sondern in einem Subjektbezug den Status als maget, also „als unverheiratete und unberührte Frau“¹⁶⁵, und als Tochter, die Gegenstandbereiche ‚Keuschheit‘ und ‚Verwandtschaft‘ sind vom ‚sprechenden Ich‘ her gedacht. Auch die bereits beim Inzestakt thematisch gewordene Verwandtschaftsverwirrung wird noch einmal aus der Perspektive der Tochter reformuliert, in einem Parallelismus werden die dem Inzest vorgängige und nachgängige Verwandtschaftsposition kontrastiert. Die Königstochter ist durch den VaterTochter-Inzest aus dem Netz der verwandtschaftlichen Ordnung gefallen und zugleich auf immer in ihm verstrickt, ganz ähnlich wie es Butler für Antigone diskutiert und Wickram an Myrrha durchdekliniert.¹⁶⁶ Eine größere Umdeutung erfährt das Selbstmordmotiv. Der Todeswunsch wird von der drohenden gesellschaftlichen Schande gekappt und emotionalisiert, die Königstochter fleht Gott an, ihr den Tod zu schicken, um sie von ihrem Leid zu erlösen (vgl. V. 292– 295). Vor allem aber agiert sie den Selbstmordversuch tatsächlich aus, was die Szene dramatisiert.¹⁶⁷ Der bloße Gedanke in der Historia wird in Handlung transformiert. Die Königstochter greift nach einem Speer, steckt den Schaft an die Wand, wendet das spitze Eisen gegen sich, nimmt Anlauf und rennt los (vgl.V. 296 – 301). Im letzten Moment kann Pynnell sich dazwischen und die Königstochter zu Boden werfen (vgl. V. 302 ff.). Das Tempo der Erzählung wird über Adverbien der Zeit wie schier (V. 297; „sofort“, „geradewegs“¹⁶⁸), schnell Vgl. Schneider, Chiffren, S. 201 f. Gerdes/Spellerberg, Althochdeutsch – Mittelhochdeutsch, S. 110. Vgl. Butler, Antigones Verlangen, S. 93. Siehe hierzu ausführlich Kap. 3.2. Den Bezug zwischen Anthiochus’ Tochter und Butlers Antigone-Reflexionen stellt mit Blick auf Heinrich Steinhöwels Apollonius schon Eming her; vgl. Eming, Inzestneigung, S. 31. Für Wickrams Myrrha siehe Kap. 7.1.1. und 7.1.3. Vgl. Classen, Sexual violence, S. 169. Hennig, S. 283.
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(V. 301) und vast (V. 303; „eilig“, „schnell“¹⁶⁹) beschleunigt, der Bewegungsablauf detailliert vor Augen gestellt, Handlungsverben dominieren (vgl. V. 297– 304). Die Szene ist von Aktionismus und Spannung getragen, die Kampf-Dynamik, die sowohl die Inzestepisode als auch große Teile der Binnenhandlung prägt, erfasst auch die Darstellung des Selbstmordversuchs. Pynnell schließt die Heldin tröstend in den Arm und wünscht, Gott mögen Kummer und Leid ihrer Herrin erbarmen (vgl. V. 306 f.), was ein Modell für die Rezipierenden bereitstellt, das Schicksal der Königstochter emotional zu bewerten – es ‚verdient‘ Mitleid. Dann aber appelliert Pynnell an Ehre, Vernunft und Klugheit der Königstochter, um sie zum Schweigen aufzufordern (vgl.V. 308 – 315). Der Inzest wird zu einem geheimen Wissen,¹⁷⁰ die Königstochter stumm geschaltet, sie spricht (wie in der Historia) das gesamte Werk hindurch kein Wort mehr. Unter dem Anspruch, die Wahrheit zu sprechen (vgl. V. 317), verkündet Pynnell abschließend: Es sind ee grosser ding geschehen. Latt hin gen als es gatt! Sein mag gar wol werden ratt (V. 318 ff.) Es sind schon größere Freveltaten geschehen. Laßt es sein, wie es ist! Es wird sich schon ein Ausweg finden.¹⁷¹
Das Leid der Heldin, eben noch Mitleid wert, wird marginalisiert. Was widersprüchlich scheint, ist dem Zwang der Vorlage geschuldet. Heinrich, der bis hierhin viel Arbeit darauf verwendet hat, das Leid der Königstochter zu detaillieren, muss wieder in die Handlung der Historia einlenken. Dennoch wird die Heldin durch die Erweiterungen und Veränderungen bei Heinrich deutlicher als in der Historia zu einer Sympathieträgerin. So lautet das letzte Wort, das sie als Akteurin betitelt, bezeichnenderweise die raine (V. 321; „die Unschuldige“). Sie ist gestaltet als eine emotionalisierte und affizierende Figur, die Trauer, Leid und Scham erfährt, Mitleid und Erbarmen fordert und die auch nach dem Inzest mit positiven Attributen versehen bleibt. Im Anschluss wird ein weiterer Liebesexkurs inseriert, Heinrich, der sonst lieber erzählt als kommentiert, nimmt sich das letzte Wort zum Thema. Der Exkurs ist an Frau Venus adressiert, die in der volkssprachigen Literatur als Personifi-
Ebd., S. 401. Vgl. Schneider, Chiffren, S. 200. Birkhan, Apollonius, S. 16 f.
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kation der Liebe weitgehend äquivalent zu Frau Minne steht.¹⁷² In mythographischen Schriften findet sich die antike Vorstellung von zwei Venusgestalten, „die gute Venus als kosmische Macht und Verkörperung der natürlichen, auf Fortpflanzung ausgerichteten Liebe; die schlechte Venus als zerstörerische Macht und Verkörperung sinnlich-sexueller Lust“, wobei in der geistlich-didaktischen Literatur meist die zweite Bedeutungsebene als „Göttin der fleischlichen Lust“ und „Verkörperung der fleischlichen Liebe“¹⁷³ obwiegt, in der weltlichen jedoch beide Bedeutungsebenen zusammentreten. Durch die Dekonstruktion von Frau Minne im ersten Liebesexkurs, die allein das Moment sexuellen Begehrens hat bestehen lassen, scheint bei Heinrich zunächst die Bedeutungsebene sinnlich-sexueller Lust auf, die in den ersten Versen erneut massiv verurteilt wird (vgl. V. 323 ff.). Doch dann unternimmt der Erzähler eine Ehrenrettung von minne. ¹⁷⁴ Ye doch mueß ich den streyt lan: Wan mir ist vil wol geschehen Von euch, deß muß ich ymmer jehen, An der sussen Melein Und an frawn Kathrein. (V. 326 – 330) Ich [selbst] jedoch sollte diesen Streit sein lassen, denn mir ist es sehr gut ergangen mit euch, das muss ich immer wieder betonen, mit der lieblichen Melein und Frau Kathrin.
Es ist nicht ganz klar, ob dieser Hinweis auf eine oder zwei Frauen Bezug nimmt.¹⁷⁵ Birkhan plädiert dafür, dass es sich bei Melein/Mermelein um einen Kosenamen für Heinrichs Gattin Katherina handelt, so dass von einer Person auszugehen wäre.¹⁷⁶ Der Exkurs ließe sich somit als Plädoyer für die Ehe lesen, führe er nicht fort:
Vgl. Erika Kohler: Liebeskrieg. Zur Bildersprache der höfischen Dichtung des Mittelalters, Stuttgart 1935 (Tübinger germanistische Arbeiten 21), S. 5 ff.; Walter Blank: Die deutsche Minneallegorie. Gestaltung und Funktion einer spätmittelalterlichen Dichtungsform, Stuttgart 1970 (Germanistische Abhandlungen 34), S. 110 f.; Schnell, Causa amoris, S. 29. Ebd., S. 28 f. Vgl. hierzu a. Classen, Sexual violence, S. 170. Heinrich war nachweislich zweimal verheiratet. Urkundlich belegt ist seine letzte Frau Alheit/Adelheit, im Apollonius bezieht er sich an zwei weiteren Stellen auf eine Frau (vgl. V. 13649; 15112); vgl. hierzu Peter Ochsenbein: Art. ‚Heinrich von Neustadt‘. In: VL 1, Sp. 839; Birkhan, Apollonius, S. 396; Classen, Sexual violence, S. 166. Vgl. Birkhan, Apollonius, S. 396.
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Auch haimlich an maniger statt Gab mir ewer hilffe guten ratt Und auch vil dicke hail (V. 331 ff.) An manch heimlicher Liebesstatt habt ihr mir Hilfe und Rat zuteil werden lassen.¹⁷⁷
Der jenseits der Öffentlichkeit vollzogene Liebesakt wird ebenfalls positiviert. Spätestens hier wird deutlich, dass Heinrich kein strenges Minnekonzept verfolgt.¹⁷⁸ Vielmehr wird die Kritik an der personifizierten Liebe abschließend auf die Formel gebracht: Ich wil euch straffen doch ain tail; Wann ir seyt gar ze milte […] Ewr milt wirt da mit geschant Das ir den swachen werett Der susser mynne nie ward wertt. Den stoltzen so ir werder haben, Den schwachen laßt rüben graben! (V. 334 – 342) Dennoch muß ich euch einen Vorwurf machen: Ihr seid gar zu freigebig […]. Ihr schändet eure Freigebigkeit […] damit, daß ihr einem Unwerten süße Minne gewährt, der er nie würdig war. Ihr sollt die Würdigen höher achten und die Unwerten Rüben graben lassen!
Die „Kritik am unterschiedslosen und verschwenderischen Geben der Frau Venus“¹⁷⁹ lässt sich mit Margreth Egidi auf die Logik von Gabe und Gegengabe wenden, die auch Lévi-Strauss’ System des Frauentauschs zugrunde liegt. Innerhalb dieser systemhaften Logik zeichnet sich die Inzestthematik durch ihren Ausschlusscharakter aus, sie bedeutet Störung und Unterminierung.¹⁸⁰ Mit Blick auf minne hingegen lässt sich der Exkurs in der Terminologie Butlers als Reiteration oder Resignifizierung beschreiben,¹⁸¹ die auf die Dekonstruktion im ersten Exkurs folgt. Aus den Trümmern der zerschmetterten Liebe steigt – über die Inszenierung eines autobiographischen Bezugs (!) – die Liebe wie ein Phönix aus
Ebd., S. 17. Vgl. mit Blick auf das Gesamtwerk ebenso Wachinger, Heinrich, S. 113; Elisabeth Lienert: Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 169 f. Anders hingegen Cieslik, Wertnormen, S. 48 ff.; Achnitz, Babylon, S. 258 f. und 382. Margreth Egidi: Schrift und ‚ökonomische Logik‘ im höfischen Liebesdiskurs. Flore und Blanscheflur und Apollonius von Tyrland. In: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Hrsg. von Mireille Schnyder, Berlin, New York 2008 (TMP 13), S. 147– 163, hier S. 157. Vgl. Egidi, Inzest, S. 283. Siehe hierzu ausführlich Kap. 3.2.
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der Asche. Eine gute, rechtmäßige und positiv konnotierte Liebe, so lässt sich paraphrasieren, muss man sich verdienen, muss ihrer würdig sein. Sie ist keine uneingeschränkt positive Macht, aber auch keine uneingeschränkt negative, entscheidend ist die Haltung der Liebenden, die sie der Liebe würdig macht. Der Erzähler imaginiert sich als einer von ihnen und gibt sich selbst zum Beispiel.
8.1.4 Rätselepisode Der ‚Ehrlose‘ führt seine ‚Boshaftigkeit‘ fort (vgl. V. 343 – 354), in deutlich wertender Sprache wird das Handeln des Königs abgeurteilt. Während er in der Historia nach außen hin das ‚Verhältnis‘ verbirgt, macht Heinrichs Anthiochus kein Geheimnis aus seinem Treiben (vgl. V. 348),¹⁸² was sich auf einen Mangel an Tugend und Affektkontrolle hin lesen und auf das Programm des Prologs zurückbeziehen lässt. Die Rätselszene setzt erneut auf Ausbau und Steigerung des bereits in der Historia angelegten Kontrasts. Dem Versprechen, die Tochter (Historia), Ländereien und Herrschaft (vgl. V. 356 – 362) als Lohn für die Lösung des Rätsels zu erhalten,¹⁸³ steht der wahre ‚Lohn‘ gegenüber, ein jeder wird enthauptet, der Kopf auf die Zinnen gepflockt (Historia), der kopflose Leichnam verscharrt (vgl.V. 364– 368). Bei Heinrich erkennen viele Freier, [d]itz ist ain poses schimpf spil ¹⁸⁴ (V. 378), wagen aber nicht, ihr Leben zu riskieren.¹⁸⁵ So ändert sich die Hintergrundfolie, vor die nun der eigentliche Held der Geschichte, Apollonius, tritt. Ist er in der Historia zunächst einer von vielen, sticht er in Heinrichs Fassung von vornherein unter den Werbern hervor. Bei der Einführung von Apollonius werden Tugendadel und Geblütsadel aufs Engste verwoben (vgl. V. 403; 406; 408 f.; 419 – 422), er setzt sich durch seine Tugendhaftigkeit (vgl. V. 411) und sein Wissen darum, wie man frauwen dienen soll (V. 412), von den anderen Männern, insbesondere von Anthiochus, ab. Apollonius trägt bereits alle Attribute, die das Heldenbild des Binnenteils prägen, ihn begleitet schon jetzt ein abenteuerliches Gefolge, vor den Toren der Stadt kommt es zu einem Ritterkampf, in dem er sich gegen seinen späteren Widersacher Thaliarchus behauptet (vgl. V. 425 – 524). Der antike Asket wird zu einem mittelalterlichen Ritter, der passiv-leidende zu einem aktiven
Vgl. dagegen HA (RA) cap. 3, Z. 1 ff., S. 280. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Missverständnis des Originaltextes; vgl. Heinrich von Neustadt, Apollonius, Anm. zu V. 348, S. 8; Birkhan, Apollonius, Anm. 16, S. 325. Vgl. hierzu a. Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 18. „Das ist ein böser Scherz!“; Birkhan, Apollonius, S. 17. Vgl. Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 18.
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Helden figuriert, ein „konsequente[r] Transfer des antiken Helden in eine Welt höfisch-ritterlicher Konventionen“¹⁸⁶. Bei ihrem Einzug in die Stadt werden Apollonius und sein Gefolge in einer umfangreichen descriptio in all ihrer Pracht beschrieben, sie ziehen die Blicke der Menschen auf sich, die sie preisen und segnen (vgl.V. 533 – 616). Diese letztgenannte Verlagerung in die direkte Rede lässt sich mit Schürenberg als Mittel der Belebung bestimmen, „es wird dadurch an einigen Stellen so etwas wie Stimmung des Publikums (Verwunderung oder Neugier) erzeugt mit der fühlbaren Absicht, sie suggestiv […] zu übertragen.“¹⁸⁷ So wie Apollonius bei den Bürgern der Stadt Staunen und Bewunderung erzeugt, ist die Darstellung im Text darauf angelegt, die Rezipierenden schauenden Blickes in den Bann des Helden zu ziehen. Durch die Erweiterungen wird dem Helden mehr Raum gegeben, wie schon Bockhoff und Singer anmerken: „In der Historia ist die düstere Gestalt des Antiochus so dominierend, daß sie den Apollonius erdrückt. Dem hilft Heinrich ab […].“¹⁸⁸ Tatsächlich wird der Held bereits an dieser Stelle so zentral gestellt, dass die Inzestgeschichte um Antiochus in den Hintergrund tritt. Diese These lässt sich anhand der beiden illustrierten Handschriften Hs b und c stützen, die zwar mit 128 respektive 109 Federzeichnungen reich bebildert sind,¹⁸⁹ aber die Inzestthematik nicht zur Darstellung bringen, was durchaus ungewöhnlich ist, gehört die Anthiochia-Episode doch zu den populärsten Bildthemen in volkssprachigen und lateinischen Apollonius-Handschriften.¹⁹⁰ Dies hängt nach Schultz-Balluff damit zusammen, dass die Illustrationszyklen generell den Helden fokussieren: Die Grundintention des gesamten Bilderzyklus’ ist die Demonstration der Zentralstellung des Protagonisten. Es wird keine Erzählsequenz bebildert, die nicht direkt Angelegenheiten und Bestrebungen des Protagonisten zeigt. Die Inzest-Geschichte ist die Geschichte Antiochius’, in die Apollonius erst zu einem späteren Zeitpunkt eintritt […]. Betont werden damit vor allem die Zentralstellung des Protagonisten und die Demonstration der natürlichen, d. h. nicht künstlich herbeigeführten Stärke und Siegesfähigkeit desselben.¹⁹¹
Junk, Transformationen, S. 69; vgl. a. S. 3; Ebenbauer, Apollonius, S. 329; Lienert, Antikenromane, S. 169. Schürenberg, Apollonius, S. 99. Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 18. Vgl. Schultz-Balluff, Dispositio picta, S. 55 – 58; Krenn, Minne, S. 33 – 80. Vgl. Archibald, Apollonius, S. 95. Archibald vermutet, Hs c habe den Vater-Tochter-Inzest ursprünglich auf einem heute fehlenden Blatt enthalten. Schultz-Balluff, Dispositio picta, S. 310 f. Schultz-Balluff wendet gegen Archibald ein, dass die vollständige Hs b, deren Bilderzyklus dem gleichen Aufbau folgt, den Inzest ebenfalls ausspart, woraus sie folgert, „dass es von der Grundintention her intendiert war, diese Passage nicht zu bebildern“; ebd., S. 310.
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Es ist der Held als ein an höfischen Normen orientierter Ritter und Herrscher, auf den sich die Miniaturen im Einklang mit dem Text konzentrieren.¹⁹² Dort findet die Zentralstellung des Helden Entsprechung in den skizzierten Einschüben, die zudem als Methode der Hinauszögerung Spannung erzeugen können. Dem Versagen der Freier wird die ritterliche Bewährung des Helden gegenübergestellt, so dass der Moment, an dem dieser lautere und mutige Held endlich an den Hof kommt, um Anthiochus die Stirn zu bieten, prospektiv mit Spannung aufgeladen ist. So rufen die heidnischen Fürsten, als Apollonius die Burg betritt, dann auch aus, [d]itz mainet abentewer ¹⁹³ (V. 629). Der Held tritt vor den König und verlangt die Tochter zur Ehefrau, die er mit Ehre erlangen will (vgl. V. 634– 638). Damit wird ein Kontrast zum ehrlosen Anthiochus aufgemacht, der seinerseits die drohende Schande fürchtet (vgl. V. 655 f.). Der Text arbeitet mit grellen Gegensätzen, ein makelloser, mutiger Held wird dem schändlichen, feigen Antihelden gegenübergestellt. Das Rätsel selbst wird in abgewandelter Form wiedergegeben. Um die Tragweite der Nuancierung abschätzen zu können, ist zunächst auf das Rätsel in der Historia einzugehen: Scelere uehor, maternam carnem uescor; qu£ro fratrem meum, me£ matris uirum, uxoris me£ filium: non inuenio. ¹⁹⁴ Im Verbrechen bewege ich mich, das Fleisch der Mutter verzehre ich, ich suche meinen Bruder, den Mann meiner Gattin und finde ihn nicht.¹⁹⁵
Das Rätsel gibt auch der Forschung Rätsel auf. Einerseits ist der Sinn klar, es folgt einer paradoxen Konstruktion und zeigt in chiffrierter Form an, was es eigentlich verbergen soll, den Inzest.¹⁹⁶ Andererseits ist eine explizite Deutung schwierig,
Vgl. ebd., S. 317 ff. Ähnlich verortet Margit Krenn die Bilderzyklen im Spannungsfeld von „Minne, Aventiure und Heldenmut“, sie geben eine „Mischung aus höfischer Lebensart, versinnbildlicht durch Ritterdisziplinen, Minne und Aventiure“, gepaart mit „deren Verortung im Orient“ und einer „Auseinandersetzung mit dem ‚Fremden‘“; Krenn, Minne, S. 13. „Jetzt gibt es ein Abenteuer“; Birkhan, Apollonius, S. 20. Der Vers ist durch einen Dreireim hervorgehoben. HA (RA) cap. 4, Z. 10 ff., S. 282. In der Redaktion RB sind virum und filium vertauscht; vgl. HA (RB) cap. 4, Z. 14, S. 283. Historia, S. 21. Vgl. Egidi, Inzest, S. 283.
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wer spricht über wen, auf wen oder was referieren die angeführten Verwandtschaftspositionen? Die Syntax ist uneindeutig – bezieht sich die Suche des ‚sprechenden Ichs‘ auf den Bruder und den Mann der Mutter und den Sohn der Gattin oder ist der Bruder zugleich Mann der Mutter und Sohn der Gattin? Apollonius selbst löst bestenfalls die erste und die zweite Frage („sieh nur auf dich selbst. […] schau nur deine Tochter an!“¹⁹⁷); eine Antwort auf den dritten und vierten Vers bleibt aus.¹⁹⁸ Auf der Suche nach einer Lösung mutmaßt Singer: „Der witz des rätsels beruht darauf, dass verwantschafts- und schwägerschaftsverhältniss als identisch gedacht wird.“¹⁹⁹ Tomas Tomasek vertritt die These: „Das gemeinte Verbrechen besteht darin, daß Antiochus […], […] der eigenen Sippe entstammendes […] ‚Fleisch‘ verzehrt, so daß die leiblichen Verwandtschaftsbeziehungen ihre alte Eindeutigkeit verlieren.“²⁰⁰ Carl Werner Müller hingegen rekonstruiert eine verlorene Vorgeschichte: Nach dem Vorbild der berühmten Geschichte von der Liebe des Seleukidenprinzen Antiochos zu seiner schönen Stiefmutter Stratonike verliebte sich auch der Vater des Apollonius in seine Stiefmutter, die Gattin des Königs von Antiochia. Wie in dem hellenistischen Vorbild verzichtete der Vater zur Rettung des liebeskranken Sohnes […] auf seine junge Frau. Apollonius aber […] war das aus dieser Verbindung von Stiefmutter und Stiefsohn stammende Kind. Doch ehe es zur Übernahme der Herrschaft […] kommt, gelingt es dem eifersüchtigen Bruder […] Antiochus […] den verhaßten Nebenbuhler […] zu Fall zu bringen und aus dem Land zu treiben. Der als verschollen Geltende kommt zusammen mit seinem Söhnchen Apollonius nach Tyrus, wo man ihn […] zum König macht. […] [I]n Antiochia ist […] Antiochius […] der neue König und heiratet nun seine Stiefmutter und Frau des vertriebenen Bruders.²⁰¹
Das Kind aus dieser Ehe wäre dann die Königstochter, Apollonius Antiochus’ Neffe, die zur Frau begehrte Königstochter seine Halbschwester, er selbst ein inzestuös gezeugtes Kind. Müllers Erklärungsansatz ist für die Tabuthematik von
te respice […] filiam tuam intuere; HA (RA) cap. 4, Z. 17 ff., S. 284 (S. 21). Vgl. Müller, Romanheld, S. 269; Merkelbach, Historia, S. 400 f. Singer, Appolonius, S. 38. Singers hier vorgeschlagene Lösung entfällt dann aber fast noch komplizierter als das Rätsel selbst: „Es ist der könig, der spricht. Er geniesst seiner mutter fleisch, denn seine tochter ist seine mutter (genauer seine schwiegermutter) geworden, dadurch dass sie seine frau wurde. Nun sucht er einen mann für seine tochter, der dann sein bruder (insofern als sie beide schwiegersöhne desselben schwiegervaters, d. i. seiner selbst, sind), aber auch der mann seiner mutter (d. i. seine tochter) und auch der sohn (recte schwiegersohn) seines weibes (d. i. wieder seine tochter, die ja als frau ihres vaters ihre eigene mutter ist). Aber er findet keine solchen, d. h. keine, der durch lösung des rätsels mann seiner tochter werden könnte.“ Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Tübingen 1994 (Hermaea N. F. 69), S. 181; vgl. a. S. 180. Müller, Romanheld, S. 269 f.
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Charme, da der christliche Bearbeiter Erzählelemente getilgt hätte, die er „als anstößig empfunden“²⁰² hat, so dass im Aneignungsprozess Spuren der Tabuisierung transparent würden. Doch interessieren für den vorliegenden Untersuchungskontext weniger Wortsinn und Genese als textexterner Effekt des Rätsels. Es lässt sich mit der Rezeptionsästhetik als Leer- und Unbestimmheitsstelle par excellence verstehen, insbesondere, weil der Text eine Lösung verweigert. Das Rätsel als agonaler Wettbewerb spricht, so Johan Huizinga in seinem Homo ludens, den Spieltrieb des Menschen an,²⁰³ es handelt sich, so André Jolles in seinen Einfachen Formen, um „eine Frage, die eine Antwort heischt“, wobei nicht die Lösung „der eigentliche und einzige Zweck des Rätsels ist, sondern das Lösen“: Ein Rätsel kann so gestellt sein, daß es dem Ratenden unmöglich ist zu raten, ja die richtige Lösung eines Rätsels kann verlorengegangen sein – und dennoch hat der Ratende das Bewußtsein, daß es jemanden gibt oder gegeben haben muß, der die Lösung kennt oder gekannt hat – ein unlösbares Rätsel ist eben kein Rätsel. Mehr noch – die Form des Rätsels ist nicht nur so, daß der Ratende weiß, daß die Lösung einem anderen bekannt ist oder gewesen ist, sie ist auch so, daß er aus dieser Form die Überzeugung gewinnt: er selbst kann die Lösung finden. Diese Überzeugung aber setzt sich sofort um in jene andere: er muß sie finden.²⁰⁴
Dieser Prozess ist nicht rein kognitiv, „jedes Rätselspiel [ruft] bei seinen Teilnehmern polarisierte Emotionen hervor.“²⁰⁵ Rätsel wecken kognitive Dissonanz, ein gleichermaßen kognitiver wie emotionaler Erregungszustand, der einen intensiven Gedankenprozess initiiert, Kohärenz und Konsistenz herzustellen;²⁰⁶
Ebd., S. 271. Vgl. Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956 (Rowohlts deutsche Enzyklopädie 21), S. 105 – 116. André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 1968, S. 134 f. und 129. Katja Gvozdeva: Spielprozess und Zivilisationsprozess. Emotionales Rätsel in Italien und Frankreich zwischen 1475 und 1638. In: Scham und Schamlosigkeit. Hrsg. von ders./Hans Rudolf Velten, Berlin, New York 2011 (TMP 21), S. 363 – 395, hier S. 363. Die Theorie der ‚Kognitiven Dissonanz‘ wird maßgeblich von Leon Festinger in den 1950er Jahren formuliert und bezieht sich ursprünglich auf eine Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln (wie in dem oft bemühten Beispiel vom Raucher, der um die gesundheitliche Schädlichkeit des Rauchens weiß); vgl. Leon Festinger: Theorie der kognitiven Dissonanz. A theory of cognitive dissonance, Bern 1978, S. 15 f.; 23 ff. und 42.Während Festinger die kognitive Dimension fokussiert, bringt Michael S. Pallak den Begriff „dissonance arousal“ ins Spiel, der auf die emotionale und motivationale Dimension abstellt; vgl. Michael S. Pallak: Effects of expected shock and relevant or irrelevant dissonance on incidental retention. In: Journal of Personality and Social Psychology 14 (1970), S. 271– 280; Ders./Thane S. Pittman: General motivational effects of
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hier: der Lösung auf die Spur zu kommen. Kognitive Dissonanz geht mit ambivalenten Emotionen einher, sie wird prinzipiell als unangenehm empfunden, ihre Überwindung als angenehm, wobei gilt: „Je größer die Dissonanz, desto größer die unmittelbare Gratifikation bei ihrer Auflösung.“²⁰⁷ Rätsel lassen sich mit Kolnai sowohl mit Angst als auch mit Komik in Verbindung bringen, das eigenständige Lösen geht mit Freude, näherin vielleicht sogar mit Überlegenheitsgefühlen und (Selbst‐)Zufriedenheit einher,²⁰⁸ das Nicht-Lösen-Können hingegen befördert Frustration und Ärger. Gvozdeva beschreibt im Speziellen Scham, die „sich unser [bemächtigen kann], wenn wir keine bzw. eine falsche Lösung gegeben und damit das Gesicht im Rätselwettbewerb verloren haben.“²⁰⁹ So lässt sich das Rätsel in der Literatur als Form bestimmen, die Rezipierende kognitiv und emotional aktiviert und involviert. Dass das Inzesträtsel der Historia im Mittelalter massiv Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, lässt sich am Handschriftenmaterial belegen. Es stellt, wie Archibald in ihren Apollonius-Studien zeigt, die mit Abstand am häufigsten kommentierte und mit Glossen versehene Textstelle dar.²¹⁰ So fügt bereits das älteste erhaltene deutschsprachige Rätselzeugnis, die Handschrift Stuttgart Cod. hist. 2° 411, die im 12. Jahrhundert im Kloster Zwiefalten entsteht, dem lateinischen Rätsel eine mittelhochdeutsche Übersetzung bei: Min main lait mich. miner můter fleisch ize ich. minen uater sůch ich. laider den infinde ich. man miner můter. mines wibes tohter. ²¹¹ Moriz Haupt spekuliert, „den schreiber […] wandelte die lust an das räthsel in deutsche reime zu bringen“²¹², nach Tomasek dient die Übersetzung dem pädagogischen Zweck der Laienunterweisung.²¹³ Zwei Dinge dissonance arousal. In: Journal of Personality and Social Psychology 21 (1972), S. 349 – 358. Die Theorie lässt sich für widersprüchliche Kognitionen und Motive verallgemeinern und für eine literaturwissenschaftliche Analyse fruchtbar machen; vgl. etwa Johannes J. Eisenhut: Überzeugen. Literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu einem kognitiven Prozess, Berlin 2009 (ALW 12), S. 66 – 69 und 107– 119. So nennt Eisenhut die Dissonanzquelle ‚unaufgelöste Frage‘, der sich das Rätsel zuordnen ließe, wobei „die Textstruktur ‚dringende Frage – verzögerte Antwort‘ […] überprüfbarerweise zeit- und kulturunabhängig in vielen […] episch-fiktionalen Texten anzutreffen ist, d. h. offensichtlich eine funktionale Kommunikationsform darstellt“; ebd., S. 115 f. Ebd., S. 68; vgl. a. S. 116. Vgl. Aurel Kolnai: Über das Mystische. In: Imago 7 (1921), S. 40 – 70, hier S. 46 und 68. Gvozdeva, Spielprozess, S. 363. Vgl. Archibald, Apollonius, S. 94. Zitiert nach Singer, Appolonius, S. 222; „Mein Verbrechen führt mich. Meiner Mutter Fleisch esse ich. Meinen Vater suche ich. Leider finde ich ihn nicht. Den Mann meiner Mutter. Tochter meiner Ehefrau“. Vgl. hierzu a. Moriz Haupt: Opuscula. Bd. 3, Leipzig 1876, S. 23; Kortekaas, Prolegomena, S. 55 f. und 208 ff.; Tomasek, Rätsel, S. 178. Haupt, Opuscula, S. 23. Vgl. Tomasek, Rätsel, S. 183 f.
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werden an diesem Beispiel manifest, die im Folgenden analyseleitend behandelt werden: Erstens erregt das Rätsel Aufmerksamkeit, wovon die Glosse Zeugnis ablegt, denn sie wird dem lateinischen Text erst nachträglich von einer anderen Hand hinzugefügt,²¹⁴ und worauf sie wohl auch zielt, denn die Übersetzung wird formal durch einen roten Strich hervorgehoben, so dass sie geradezu ‚ins Auge sticht‘. Zu fragen ist also, ob sich im Korpus der Studie vergleichbare Formalia finden lassen, die auf Lenkung und Bindung von Aufmerksamkeit im Rezeptionsprozess schließen lassen. Zweitens ist der Schreiber seinerseits ein Rezipient des lateinischen Rätsels und wird in der Übertragung interpretierend tätig. Das lateinische scelus etwa übersetzt er mit main, was sich in der Bedeutung von „Verbrechen, Frevel“ überschneidet, zusätzlich aber „Unglück“ und damit einen emotionalen Aspekt semantisiert, mit „Sünde“ eine christliche Bedeutungsdimension konnotiert, zum Teil auch konkret „Blutschande“ meint,²¹⁵ so dass das Leitthema des Rätsels präzisiert und in der Bezeichnungspraxis bewertet wird. Solche Varianzen sind für die Analyse im Blick zu behalten. Konfrontiert mit der sprachlichen Uneindeutigkeit des Rätsels werden die späteren Bearbeiter selbst zu ‚Rätsellösern‘ und schlagen je eigene ‚Übersetzungen‘ vor, die den Sinnzusammenhang verändern, kognitive Dissonanz reduzieren oder steigern können. Dass das Inzesträtsel Heinrichs Aufmerksamkeit erregt hat, ja, ihn geradezu fasziniert haben muss, sollte bereits daran deutlich geworden sein, dass er die in ihm vorgeführte Verwandtschaftsverwirrung schon im Vorfeld in andere Erzählzusammenhänge transferiert. Mit dem Wortlaut des Rätsels scheint er sich ebenfalls intensiv auseinandergesetzt zu haben: Unrainikait die furet mich. Vatters flaisch deß leb ich. Meinen vatter suoch ich nü Und meines weybes sun dar zu. Noch sust noch so gewinnen kann Meiner lieben muter man. (V. 677 – 682) Unreinheit, die speist mich, Vaters Fleisch, davon lebe ich. Nun suche ich meinen Vater und auch meiner Gattin Sohn. Weder so noch so kann ich den Ehemann meiner lieben Mutter finden.
Der Haupttext entstammt wahrscheinlich der Mitte oder der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die Übersetzung des Rätsels der zweiten Hälfte oder dem Ende des 12. Jahrhunderts, vgl. ebd., S. 178. Zu den unterschiedlichen Bedeutungen von main vgl. Hennig, S. 219; Lexer 1, Sp. 2078.
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Heinrich versucht, wie auch Junk anmerkt, Unverständlichkeiten der lateinischen Fassung auszugleichen und das Rätsel sinnvoll auf die Inzesthandlung zu beziehen, indem er statt maternam carnem vatters fleisch und statt fratrem wiederum vatter setzt.²¹⁶ Eine Vereinfachung stellt die syntaktische Spaltung dar, gesucht sind Vater und Sohn der Gattin, die beide nicht helfen, den Mann der Mutter zu finden.²¹⁷ Im produktiven Aneignungsprozess wird die Bearbeitungstendenz greifbar, Sinnzusammenhänge zu vereindeutigen, was kognitive Dissonanz reduziert und einem etwaigen unangenehmen textexternen Effekt vorbeugt. Dies tangiert auch die für die Historia ungelöste Frage ‚Wer spricht?‘. Heinrich löst sich vom Dogma des Königs als ‚sprechendes Ich‘ und setzt an seine Stelle zumindest in Teilen die Tochter. Birkhan meint, Heinrich habe insgesamt „den Text dieses Rätsels der Prinzessin in den Mund gelegt“²¹⁸, muss dafür aber im vierten Vers seines statt meines lesen. Dagegen spricht zudem, dass Heinrich im ersten Vers unrainikait schreibt, eine interpretierende Anpassung, die die Bedeutung „unreinheit, unkeuschheit, unheiliger lebenswandel“²¹⁹ in das Rätsel hineinträgt. Da aber nun die Königstochter mehrfach und selbst nach dem Inzestvollzug als raine bezeichnet wird, ist unwahrscheinlich, dass dieser Vers ihr zugeschrieben sein soll.Vielmehr ist mit Junk von einem Sprecherwechsel auszugehen, im ersten Vers wird der König als Sprecher, im zweiten die Königstochter als Sprecherin inszeniert.²²⁰ Im Versuch, die Bedeutung des Rätsels zu verstehen und es sinnvoll zu übersetzen, orientiert sich Heinrich offensichtlich an den Antworten, die Apollonius in der Historia gibt und die er redupliziert: ‚Unrainikeit die furet mich‘: Künig, selber mercke dich! ‚Vatters flaisch des leb ich‘: Prueffe dein dochter mynniklich! (V. 691 – 694) ‚Unreinheit leite mich‘: König, das bezieh’ auf dich selber! ‚Von Vaters Fleisch lebe ich‘: Sieh nur deine liebreizende Tochter an!‘²²¹
Vgl. Junk, Transformationen, S. 92. Vgl. Schneider, Chiffren, S. 231. Birkhan, Apollonius, Anm. 33, S. 327. BMZ II, Sp. 662b. Vgl. Junk, Transformationen, S. 92. Birkhan, Apollonius, S. 21.
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Der Vierreim lässt sich als metrisches Medium der Rezeptionslenkung beschreiben, was an sinnprägender Bedeutung gewinnt, wenn man sich zunächst mit Jolles das Verhältnis von Rätselsteller und Rätsellöser vor Augen führt: Wir haben gesehen, daß der Aufgebende sich im Besitze des Wissens befindet, daß er weiß. Andererseits zeigt der Ratende, der geraten hat, daß er dem Aufgebenden ebenbürtig ist, daß er gleichfalls weiß. An erster Stelle ist also das Aufgeben des Rätsels eine Prüfung des Ratenden, eine Untersuchung seiner Ebenbürtigkeit.²²²
Indem Apollonius die richtige Antwort gibt, wird angezeigt, dass er Anthiochus ebenbürtig ist; indem seine Antwort in einen Vierreim gefasst wird, im Gesamtwerk noch seltener als Dreireime,²²³ wird suggeriert, dass er ihm überlegen ist. Doch was ist mit dem Rest des Rätsels? Nach Junk ist auch der dritte Vers der Tochter zuzuschreiben, worin sie eine Konvergenz des Begehrens zwischen Vater und Tochter angedeutet sieht.²²⁴ Doch lässt sich auch eine alternative Lesart vorschlagen. Zwar unterscheidet Heinrich in seinen Vorausdeutungen nicht zwischen aktivem und passivem Part des Inzests, in der Erzählführung aber durchaus. So ist der Erzählfokus im Vorfeld des Inzests auf den Vater, im Nachgang auf die Tochter gerichtet. Sie steht somit als Figur nicht bei Handlungen im Mittelpunkt, die den Inzest herbeiführen und fördern, sondern bei jenen, die aus dem Inzest resultieren. So ließe sich auch das Rätsel verstehen: Der zweite und der dritte Vers werden der Königstochter zugeschrieben, sie ‚lebt‘ vom Fleisch des Vaters, wobei mhd. leben sowohl „ernähren von“ als auch „leben von“ oder gar „am Leben erhalten von“²²⁵ meinen kann. Der Hinweis lässt an die una caro-Lehre denken, derzufolge zwei Menschen durch den Beischlaf zu ‚einem Fleisch‘ werden, nur ‚speist‘ sie von einem ‚Fleisch‘, das ihr bereits verwandt ist. Der Vers verweist also direkt auf den Inzest, woraus sich der dritte Vers erklärt: Jetzt, nach dem Inzest, sucht das ‚sprechende Ich‘ den Vater, eine Verwandtschaftsposition, die durch den Inzest vakant geworden ist. Im vierten Vers hingegen ist es wieder der Vater, der spricht, er sucht den Sohn der Gattin, also einen rechtmäßigen Erben und Thronnachfolger. Die letzten beiden Verse schließlich sind wieder der Tochter zuzuschreiben, sie insistieren, dass der Ehemann der Mutter nicht gefunden werden kann, eine Verwandtschaftsposition, die durch den Inzest verunmöglicht ist. Wurde im Ammengespräch vorgeführt, wie die Tochter durch den
Jolles, Einfache Formen, S. 134. Vgl. Achnitz, Textproduktion, S. 129. Vgl. Junk, Transformationen, S. 93. Vgl. Hennig, S. 201.
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Inzest aus den Fugen der Verwandtschaft fällt, ist es nun Anthiochus, der kein Vater seiner Tochter mehr ist und kein Ehemann seiner (verstorbenen) Frau. Heinrich liest, so lässt sich zusammenfassend sagen, das Rätsel auf die Transgressivität inzestuösen Begehrens hin, das Verwandtschaft verundeutigt. Er versucht, kognitiver Dissonanz entgegenzuwirken, indem er Klarheit schafft, was insbesondere daran deutlich wird, dass die Lösung des Rätsels nun im Text expliziert wird. So überzeugt sich Heinrichs Apollonius, als er nach Tyrus zurückkehrt, von der Richtigkeit seiner Antwort in den Büchern und benennt des Rätsels Lösung (oder zumindest deren Kern): Gar heymliche mynne / Der kunig zu seiner tochter hatt ²²⁶ (V. 762 ff.). Heinrich füllt die Leerstelle der Historia, im produktiven Aneignungsprozess wird transparent, wie er sich in der Auseinandersetzung mit dem rätselhaften Rätsel bemüht, Konsistenz und Kohärenz herzustellen. Wo die Fassung der Historia gegebenenfalls ein unangenehmes Gefühl bei den Rezipierenden hinterlässt, weil das Rätsel nicht (mehr) lösbar ist oder gar nicht erst verstanden wird, setzt Heinrich mit der Lösung einen Rezeptions-Stimulus, der das Bedürfnis nach einer Antwort stillt und damit, gerade wenn die Rezipierenden bereits selbst auf die Lösung gekommen sind, textextern eine angenehme Erfahrung generiert. Der Held also löst das Rätsel und wie in der Historia wird ihm eine dreißigtätige Frist gewährt, die handlungslogisch gleichermaßen notwendig wie irrational ist. Die Historia und die meisten der anhängigen Bearbeitungen ignorieren dieses Problem, eine Motivationslücke, die Heinrich schließt, indem er den Aufschub auf Apollonius’ ritterliche Betätigung zurückführt.²²⁷ Der Erzählzusammenhang wird zudem emotionalisiert. Konfrontiert mit der Rätsellösung entbrennt Anthiochus in Zorn (vgl. V. 696), er droht nicht nur mit Tötung, sondern konkret mit seinem haß (V. 706; „Hass“; „Feindschaft“²²⁸), was Apollonius ungemach (V. 716; „Kummer, Leid; Gefahr, Bedrängnis“²²⁹) bereitet und ihn von dannen ziehen lässt (vgl.V. 715 – 718). Indem Zorn und Tötungsabsicht enggeführt werden, wird das Thema des Prologs erneut aufgegriffen, ebenso wie Nebukadnezar lässt sich Anthiochus blind von seinem Zorn leiten. Selbst das Mordkomplott wird emotional motiviert, Thaliarchus rächt sich für die erlittene Niederlage im Ritterkampf (vgl. V. 743 – 746). Emotionen kommt die Funktion von Schnittstellen zu, die einzelne Handlungsschritte motivieren.
„Der König hat ein heimliches Liebesverhältnis mit seiner Tochter“; Birkhan, Apollonius, S. 22. Vgl. Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 19; Archibald, Apollonius, S. 64 f. Vgl. Hennig, S. 147. Ebd., S. 371.
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Im Abschluss der Szene findet sich eine weitere signifikante Veränderung. Während Apollonius in der Historia flieht, weil ihm Thaliarchus im Nacken sitzt, bricht Heinrichs Apollonius auf, weil er sich ge effet (V. 766; „zum Affen gemacht“) und um seinen Lohn, die Hand der Königstochter, betrogen fühlt.²³⁰ Erzähllogisch entsteht so ein Bruch, der heimliche Aufbruch, den Heinrich gemäß seiner Vorlage wiedergibt, gerät, so Junk, „zum blinden Motiv“²³¹. Mit Blick auf die Figurenkonzeption aber ist die Abwandlung stringent. Denn während Apollonius’ Flucht in der Historia „wenig ‚heldenhaft‘“²³² erscheint, macht er sich bei Heinrich kämpferisch auf den Weg, um seinen Lohn einzufordern. Die Änderung hat dieselbe Funktion wie schon das Inserat der Ritterkämpfe, unterstreicht Heldenmut und Kampfbereitschaft des Helden. Diese Abwandlung erfasst auch die Konzeption der Königstochter. Generell gilt (wie die Historia und andere Inzesterzählungen implizit nahelegen): „Eine Frau, an der tatsächlich Inzest begangen wurde, ist entwertet. […] Sie ist nicht würdig, eine Dynastie zu begründen oder fortzuführen; der Inzest haftet an ihr wie ein Makel.“²³³ Diesen Makel nimmt Heinrich der Königstochter. Er ändert die Szene ab und lässt Apollonius an der Braut festhalten, obgleich er um den Inzest weiß.²³⁴ Eine ähnlich gravierende Umbesetzung betrifft die letzte Erwähnung von Anthiochus und seiner Tochter. In Erzählungen von einem vollzogenen VaterTochter-Inzest werden die Töchter oft selbst dann mit dem Tod (oder einer Metamorphose) ‚bestraft‘, wenn sie nicht als aktiver Part agieren, meist kommen sie zusammen mit ihrem Vater zu Tode.²³⁵ Auch in der Historia werden Vater und Tochter gemeinsam durch Gottes Hand vom Blitz erschlagen, in der Redaktion RA sinnfällig während des sexuellen Aktes.²³⁶ Die Omnipotenz des Göttlichen richtet das Böse, wobei im Akt des Richtens ‚Täter‘ und ‚Opfer‘ zusammengeschlossen werden. In Heinrichs Apollonius hingegen heißt es, als ein Schiffsmann auf der Suche nach Apollonius die Todesnachricht überbringt: Ich wolte im gute mere sagen: Anthiochus ist erschlagen. Das hatt gethan ain donerslag, Do er posen sunden pflag. (V. 2281 – 2284)
Vgl. Egidi, Inzest, S. 287. Junk, Transformationen, S. 81. Eming, Inzestneigung, S. 32. Ebd.; vgl. ähnlich a. Bennewitz, Mädchen, S. 166; Archibald, Incest, S. 187 f. Vgl. Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 19; Junk, Transformationen, S. 81. Vgl. Archibald, Incest, S. 56; 187 f.; 190 f. Vgl. HA (RA) cap. 24, Z. 14 f., S. 326; HA (RB) cap. 24, Z. 14 f., S. 327.
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Ich möchte ihm eine gute Nachricht überbringen: Anthiochus wurde erschlagen, das hat ein Donnerschlag vollbracht, nachdem er böse Sünden beging.²³⁷
Die göttliche Strafe trifft allein Anthiochus,²³⁸ die Tochter wird nicht zur Zielscheibe des Makels der Sünde. Erzähllogisch ist diese Änderung unsinnig, verschärft sie doch die Thronfolgeproblematik in Anthiochia, da die Königstochter noch lebt. Tatsächlich wird sie dann auch nicht mehr erwähnt, als Apollonius schließlich die Herrschaft antritt, ein weiterer Bruch im Erzählkontinuum. Die Änderung hat nur dann einen Sinn, wenn es Heinrich primär darum geht, deutlicher als seine Vorlage zwischen aktivem und passivem Part beim Inzest zu differenzieren und die Figur der Königstochter insgesamt zu positivieren. So diffamiert der Erzähler abschließend allein Anthiochus: Anthioch, du schanden paum, An dir ist erfullet der trawm: Der donerslag hatt dich geschlagen, Dein leib, dein gut, dein er zertragen. Du pist an eren gar verwundt. Dein sel pauwet der helle grundt. (V. 2293 – 2298) Anthiochus, du Schandsäule, an dir ist der Traum erfüllt worden: Der Donnerschlag hat dich erschlagen, dein Leben, deinen Besitz, deine Ehre zunichte gemacht. Du bist in Bezug auf deine Ehre beschädigt. Deine Seele bewohnt den Abgrund der Hölle.²³⁹
Das ohnehin schon sinnfällige Motiv wird bei Heinrich ausdekliniert, ein Bezug zu Nebukadnezars Zorn zum Prolog hergestellt, Anthiochus’ Tat als Sünde und Schande deklariert. Die Tochter bleibt unbescholten, das Crimen des Inzests betrifft sie nicht. Durch kleinere, mit Blick auf das Sinnangebot jedoch gravierende Veränderungen wird so bei Heinrich aus der Gefallenen der Historia eine gottgeschenkte und erbarmungswürdige Tochter, die ohne jede Schuld ist.
Die Konjunktion dô ist temporal („als“), entsprechend übersetzt Birkhan ähnlich wie in der Historia „König Antiochus hat mitten in seinen bösen Sünden der Donner erschlagen“; Birkhan, Apollonius, S. 45. Dô kann aber auch übersetzt werden mit „nachdem; weil“; Hennig, S. 55. Unabhängig davon, ob Gleichzeitigkeit oder eine Folge angedeutet sein soll, entscheidend ist, dass die Tochter nicht erwähnt wird. Vgl. hierzu a. Junk, Transformationen, S. 80. Die Übersetzung orientiert sich an Birkhan, Apollonius, S. 45.
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8.1.5 Vater-Tochter-Inzest als Paradigma Heinrichs Apollonius verbleibt zunächst im Fahrwasser des überlieferten Stoffes, springt dann aber mit Apollonius’ vierzehn Jahre währender Trennung von der Tochter (eine Phase, die in der Historia mit Blick auf den Helden nicht weiter auserzählt wird) in den sogenannten Binnenteil, der von seinen âventiuren im Orient berichtet. Die sinnkonstitutive Bedeutung der Inzestthematik für die Gesamthandlung wird, wie Bennewitz feststellt, durch die Erweiterung marginalisiert: Hier liegt das gesamte Gewicht auf der Geschichte des Protagonisten selbst, die durch die endlose Kette von Abenteuern erweitert wird und neben der das Schicksal der Tochter ebenso wie die einleitende Erzählung seiner Werbung um die vom Vater zum Inzest gezwungene Tochter des Anthiochus zu nebensächlichen Episoden am Rande des eigentlichen Interesses verblassen.²⁴⁰
Die Vorgeschichte büßt ihre antithetische Strahlkraft ein, Apollonius’ Reisen, Abenteuer und Kämpfe lassen die Keuschheitsproben seiner Ehefrau Lucina und seiner Tochter Tharsia in den Hintergrund treten, die in der Historia angelegten strukturellen Zusammenhänge und thematischen Bezüge der Haupthandlung zur Inzestepisode werden überdeckt.²⁴¹ Sinnkonstitutiv bleibt die Inzestthematik hingegen in der Gesamtinterpretation von Schneider: Mit der Lösung des Inzesträtsels […] nähert sich der Held der Königsfigur des Anthiochius an, gelangt damit jedoch zugleich in den Bannkreis der Problematik dieser Figur, die aufgrund des Vergessens der genealogischen Positionen die eigene Genealogie zerstört hat. […] Mit dem Recht auf die Königswürde am gefährdeten Hof gerät Apollonius in der Folge zugleich in die Gefahr, diesen Inzest selbst zu wiederholen und somit zu einer Kopie des Anthiochius zu werden. […] Jenseits eines gestalteten Figurenbewußtseins hält der Text die Erinnerung an die Ausgangsproblematik präsent, indem er Apollonius mehrfach mit Bildern der gestörten Ordnung in der Gegenwelt konfrontiert.²⁴²
Ebenfalls bedeutsam für die Gesamthandlung ist der Vater-Tochter-Inzest in heilsgeschichtlichen Interpretationen. Diese bereits von Tomasek und Helmut G. Walther vorgeschlagene Lesart arbeitet Achnitz systematisch aus, der die Anordnung des Stoffes als Kriterium setzt, um die Funktion der Vorgeschichte im Gesamtgefüge zu bestimmen:
Bennewitz, Mädchen, S. 169. Siehe hierzu ausführlich a. Hagemann, Vorgeschichten, S. 141– 146. Aus psychoanalytischer Perspektive vgl. a. Junk, Transformationen, S. 77; 82; 85; 169. Schneider, Chiffren, S. 248.
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Dieser Disposition sowie dem neu hinzugesetzten Ende nach handelt der Roman davon, daß Apollonius als Heide die heilsgeschichtlichen Implikationen des Vater-Tochter-Inzests […] nicht erkennt. Statt um die Tochter des Antiochus zu werben, hätte er dem Inzestverhältnis, nachdem er es aufgedeckt hat, eine Ende setzen sollen […] Noch am Ende des Romans […] hat Apollonius als Richter mit den Spätfolgen seiner Flucht vor einer Auseinandersetzung mit Antiochus, dem Inbegriff des Bösen, zu kämpfen und agiert schließlich – in Kontrast zu den Ereignissen der Inzest-Vorgeschichte – als ‚Anti-Antiochus‘.²⁴³
Doch bleiben in beiden Deutungsperspektiven Sinnüberschüsse bestehen, da sie Teilaspekte wie Genealogie und Heilsgeschichte fokussieren. Im Binnenteil werden aber die unterschiedlichsten Sinnbezüge, Erzähltraditionen und -schemata produktiv gemacht. Das aus der Historia überlieferte Strukturmuster des Liebesund Reiseromans kontaminiert mit Artus- und Alexandertradition, Heilsgeschichte und Brautwerbung, griechische Mythologie wird mit christlicher Teufelsfiguration, ritterliche Tugendhaftigkeit mit biblischer Prophetie verbunden.²⁴⁴ In der Forschung ist umstritten, ob sich in summa überhaupt ein kongruentes Sinngefüge ergibt. So beobachtet schon Ebenbauer, „alle diese Artusromanbezüge werden nicht durchgeführt, bleiben in Ansätzen stecken oder werden zerstört und verändert“²⁴⁵; ähnlich merkt Wachinger an, er erkenne „kein Konzept, das alle Eigenglieder einzubinden und zu durchdringen vermöchte“²⁴⁶. Kiening hingegen schlägt vor, die Erzählstruktur in Heinrichs Apollonius als eine paradigmatische zu verstehen. Die einzelnen Episoden sind nicht in einer kausalen Abfolge von Ursache und Wirkung verknüpft, sie stehen in einem thematischen Zusammenhang.²⁴⁷ Diese narrative Struktur lässt sich mit der skizzierten Gattungsmischung in Verbindung bringen. Sie ist Folge einer Hybridisierung als „Überlagerung bzw. Überschneidung unterschiedlicher, intertextuell präfigurierter Semantiken im Wortlaut oder in der Struktur einer literarischen
Achnitz, Textproduktion, S. 132; vgl. a. Achnitz, Babylon; sowie bereits Tomas Tomasek/ Helmut G. Walther: Gens consilio et scienca caret ita, ut non eos racionabiles extimem. Überlegenheitsgefühl als Grundlage politischer Konzepte und literarischer Strategien der Abendländer bei der Auseinandersetzung mit der Welt des Orients. In: Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Hrsg. von Odilo Engels/Peter Schreiner, Sigmaringen 1993 (Veröffentlichungen des Mediävistenverbandes 4), S. 243 – 272. Vgl. hierzu Werner Röcke: Die Wahrheit der Wunder. Abenteuer der Erfahrung und des Erzählens im Brandan- und Apollonius-Roman. In: Wege in die Neuzeit. Hrsg. von Thomas Cramer, München 1988 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 8), S. 252– 269, hier S. 262; Kiening, Apollonius, S. 415 f.; 419 f.; Hagemann, Vorgeschichten, S. 142. Ebenbauer, Apollonius, S. 322. Wachinger, Heinrich, S. 115; vgl. a. S. 101 und 103; sowie ähnlich a. Lienert, Antikenromane, S. 169. Vgl. Kiening, Apollonius, S. 417.
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Äußerung.“²⁴⁸ So beschreibt Warning „Erzählen im Paradigma“²⁴⁹ am Beispiel von Gottfrieds von Straßburg Tristan als Kurzschluss disparater Erzählschemata, deren traditionelle Logiken und Semantiken durch die Überblendung kollabieren. Das narrative Prinzip ist die (reihende) Episodizität, wobei die Bezüge zwischen den einzelnen Erzählelementen nicht formal vorgegeben sind, sondern von den Rezipierenden thematisch-semantisch hergestellt werden müssen, ohne zu einer abschließenden, umfassenden Synthese gebracht werden zu können.²⁵⁰ Ebenso kann mit Kiening für den Apollonius angenommen werden, „[d]er Held akkumuliert Frauen, Kinder und Positionen, der Text Sinnmuster“, ohne dass die Erzählung ein kohärentes Ganzes ergäbe: Mit der räumlichen und zeitlichen Ausweitung der epischen Welt geht ein Verlust an Sinntotalität einher. […] Sinn wird pluralisiert und gleichzeitig partialisiert. Was sich auf der Ebene des Figurenhandelns als Aggregativität von Zuständen zeigt, manifestiert sich auf der Ebene der Textorganisation als Additivität von Stationen und Bedeutungshorizonten. Hier wie dort dominiert die Quantität über die Qualität, die Wiederholung über die Vertiefung. Der Raum weitet sich, das Wunderbare vermehrt sich, das Abenteuer verselbständigt sich.²⁵¹
Von hier ausgehend ist die Rezeptionsweise zu beleuchten, die ebenso wie der Text eine Vielzahl möglicher Zugriffe zulässt: Das unterhaltende Moment, das die Abenteuer prägt,²⁵² die „Ästhetik des Sensationellen“²⁵³, die die Darstellung der faszinierenden Wunderwelten und -wesen trägt, die „spannende Handlung, reich an Wechselfällen des Glücks und an Bewährungsmöglichkeiten“²⁵⁴, die schon der hellenistische Liebes- und Reiseroman mit sich bringt,²⁵⁵ die metahistorischen Bezüge, die auf einen heilsgeschichtlichen Bedeutungsgehalt verweisen,²⁵⁶ die historisierenden Bezüge, Quellen- und Wahrheitsbekundungen, die Apollonius
Schulz, Erzähltheorie, S. 363. Schulz geht ebenfalls von einer paradigmatischen Struktur aus, die er näherhin als metonymische Handlungsverknüpfung deutet; vgl. ebd., S. 340 – 343; bes. S. 341. Rainer Warning: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im Tristan. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hrsg. von Gerhard Neumann/Rainer Warning, Freiburg 2003, S. 175 – 212, hier S. 179. Vgl. ebd., S. 182. Kiening, Apollonius, S. 417 f. Vgl. ähnlich a. schon Ebenbauer, Apollonius, S. 337; Wachinger, Heinrich, S. 101; 103 und 115. Vgl. Cieslik, Wertnormen, S. 44. Kiening, Apollonius, S. 421. Wachinger, Heinrich, S. 103. Vgl. Waiblinger, Einleitung, S. 8. Vgl. Ebenbauer, Apollonius, S. 332; Achnitz, Babylon, S. 300.
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als historische Persönlichkeit ausweisen,²⁵⁷ die aktualisierenden Bezüge, mit denen der Erzähler sich und die ihn umgebende Lebenswelt zum Roman positioniert und in ihm situiert²⁵⁸– all diese Bezugspunkte greifen ineinander und überlagern sich. Doch worin genau bestehen die thematischen Verbindungslinien, die den Text paradigmatisch zusammenhalten? Nach Kiening bilden die Themen der gestörten Ordnung, der Gewalt und der regellosen Sexualität innerhalb von Leitkategorien wie Minne und Tugend beziehungsweise Natur und Kultur den übergeordneten Nenner der âventiuren;²⁵⁹ nach Schulz die Kopplung von Herrschafts- und Frauenerwerb „als narrative Ausprägung einer exogamen Heiratsregel“²⁶⁰. Diese Themen aber nun, so meine hier und anderer Stelle vertretene These,²⁶¹ werden durch die Inzestepisode überhaupt erst aufs Tapet gebracht. Damit lässt sich eine genuine Funktion der Vorgeschichte bestimmen, sie fungiert, wie sich in Analogie zu Warnings Tristan-Analysen sagen lässt, als „Eröffnung des Paradigmas“²⁶². Das mit der Inzestepisode aufgeworfene Konfliktpotential ragt thematisch in die Binnenhandlung hinein,²⁶³ ohne kausal zu wirken oder final motiviert zu sein. Um nur einige Beispiele zu nennen, die den vorliegenden Untersuchungskontext im engeren Sinne betreffen: Das Thema der fehlgeleiteten Sexualität kehrt in Form von Notzucht und Vergewaltigungen wieder,²⁶⁴ die Monster des Orients verbindet eine „‚artübergreifende’ sexuelle Begierde“²⁶⁵. Gleich in der zweiten âventiure etwa ist der Held in der Gegenwelt mit dem rie-
Vgl. zur Rezeption des Apollonius als historische Persönlichkeit allgemein Kortekaas, Prolegomena, S. 9. In dieser Sparte lassen sich zwei Schlagrichtungen unterscheiden: Aktualisierende Bezüge, die mit Ritterspielen und -ethos Zeitgenössisches in die antike Erzählung hineintragen; vgl. hierzu Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 16; und aktualisierende Bezüge, die sich auf den Erzähler und sein Publikum beziehen; vgl. hierzu Birkhan, Apollonius, S. 398 f. Vgl. Kiening, Apollonius, S. 417 und 421. Schulz, Erzähltheorie, S. 340. Diese Themen werden auch in Interpretationsansätzen stark gemacht, die nicht primär paradigmatisch argumentieren. Vgl. zum Schema der Brautwerbung in seinen unterschiedlichen Ausprägungen etwa Egidi, Inzest; Junk, Transformationen; zu den gestörten Ordnungen der Gegenwelt Wachinger, Heinrich, S. 110 f.; Schneider, Chiffren, S. 235 ff; zu Tugend und Minne Ebenbauer, Apollonius, S. 315; Wachinger, Heinrich, S. 104– 108; 111– 115; Schneider, Chiffren, S. 60 und 67 f.; zu fehlgeleiteter Sexualität Tomasek/Walther, Gens consilio, S. 264; Achnitz, Babylon, S. 363; zu Herrschaft und Macht Ebenbauer, Apollonius, S. 315 und 317 f.; Achnitz, Babylon, S. 363. Vgl. Hagemann, Vorgeschichten, S. 144. Warning, Lust an der List, S. 189. Vgl. a. Kiening, Apollonius, S. 428. Vgl. hierzu Achnitz, Babylon, S. 257 und 363. Kiening, Apollonius, S. 428.
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senhaften Mischwesen Kolkan konfrontiert, der sechshundert Jungfrauen auf seiner Burg hält und mit einer Menschenfrau ein Kind zeugt (vgl. V. 4389 – 4394; 4493 – 4502; 5535 – 5546), sein Reich ist ein „verzerrtes Abbild Anthiochias“²⁶⁶. Im Turnieraufruf des Jechonias von Assyrien wird die Freierprobe der Vorgeschichte in ein anderes Extrem gewendet, der Herrscher ruft, in der Anmaßung ohnehin als Sieger aus dem Turnier hervorzugehen, seine eigene Ehefrau zum Preis aus (vgl. V. 6077– 6110). Im goldenen Tal von Crisa wird ein „heidnisch-höfisches MinneParadies“²⁶⁷ figuriert, in das nur gelangen kann, wer die Tugendproben besteht (vgl.V. 8861– 8869), womit die Forderung des zweiten Liebesexkurses aufgegriffen wird, dass man der Liebe würdig sein müsse. Zugleich zeigt sich gerade in dieser Episode, dass sich aus den einzelnen Erzählelementen, ihren Wiederholungen und Bezügen keine Sinntotalität ergibt. Die Tugendproben besteht der Held nicht aus Lauterkeit, sondern mithilfe von Lüge und List (vgl. V. 10934– 13044), Tugend ist verhandelbar, nicht statisch.²⁶⁸ Norm und Transgression umtanzen in den âventiuren einander, doch übernimmt keine von beiden die Führung, es schält sich kein Minne- oder Tugendideal heraus, das ungebrochen propagiert würde. Zwar wird die initiale Inzestthematik in geglückten Brautwerbungen gespiegelt, „womit nach dem fundamentalen Fehlverhalten des Antiochus die Geltung des Frauentauschs als Norm wieder hergestellt und bekräftigt wird.“²⁶⁹ Doch wird das Schema ins Uferlose pluralisiert, der Held arrangiert nicht nur eine ganze Reihe an Ehen, er „‚heiratet‘ sich durch seine Aventiurewelt“²⁷⁰, wodurch der Erzählung eine „besondere Pikanterie“²⁷¹ eignet. Am Höhepunkt seiner Polygamie ist Apollonius mittelbar mit vier Frauen liiert, von denen eine tot ist (Cirilla), er eine tot wähnt (Lucina) und er mit zweien gleichzeitig verheiratet ist (Diomena und Palmina). Durch den Ehebruch mit Palmina, bei dem Diomena ihn durch eine Spiegelsäule in flagranti erwischt (vgl. V. 14298 – 14320), und seiner anschließenden Bigamie reiht sich der Held selbst in jene Protagonisten ein, die sich eines sexuellen Fehltritts schuldig machen. Doch wird dieses Verhalten kaum problematisiert.²⁷² In der Palmina-Episode etwa geht es weniger darum, den Ehebruch Schneider, Chiffren, S. 236; vgl. insgesamt S. 235 f. Achnitz, Heinrich, S. 12. Vgl. Schneider, Chiffren, S. 67. Egidi, Inzest, S. 285. Ebenbauer/Kern, Lexikon, S. 101. Schulz, Erzähltheorie, S. 340 f. Vgl. a. Junk, Transformationen, S. 166. Palmina lobt im Vorfeld Apollonius’ Tugend und Ehre (vgl.V. 13847; 14042), Diomenas hertzen layd (V. 14308) bezieht sich hauptsächlich darauf, dass die andere eine Schwarze ist (vgl. V. 14308 – 14320; 14410 – 14414 und 14516). Apollonius rechtfertigt seine Zweitehe mit Ehre (vgl.V. 14458 – 14467), schließlich zeigt sich Diomena einsichtig, dass ihre Reaktion ungerechtfertigt war (vgl. V. 14504– 14537).
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zu verurteilen, als vielmehr um die „Sensation“²⁷³ der heidnischen Praxis der Polygamie (vgl. V. 14046 – 14053) und einer Liaison zwischen einem Mann des Okzidents und einer Frau des Orients. Heinrich entlehnt das Thema aus dem Parzival,²⁷⁴ und entwirft verschiedene Szenarien, die es umspielen und die von Komik und Faszination getragen sind. Komische Züge prägen etwa das Bettlager,²⁷⁵ bei dem sich Palmina heimlich zu dem betrunken gemachten Helden legt, der zunächst im Halbschlaf wähnt, es sei Diomena, die rund und warm neben ihm liege und ihn so fest drückt, dass ihm, dem starken Helden, ein ‚och, tu tust mir we!‘ (V. 14212) entweicht. Erst als sie nach dem Kuss zu ihm spricht, wird er sich gewahr, […] Das er pey der schwartzen lag. Er ruckte hin dan und erschrack. Si hieng an im als ain hartz (V. 14227 ff.). […], dass er bei der Schwarzen lag. Er riss sich los und erschrak. Sie haftete an ihm wie Pech.
Das Bettlager entfaltet zugleich potentiell Faszinationskraft, indem das Phantasma einer sexuell freizügigen Frau entworfen wird,²⁷⁶ die in Liebesangelegenheiten so versiert ist (vgl. V. 14084 f.), dass der sich zunächst sträubende Held sogleich in Minne verfällt (vgl. V. 14235 – 14247). Die eigentümliche Mischung aus Faszination und Komik zeichnet auch die Schilderung ihrer Nachkommen aus, der Sohn Garamant, dessen eine Hälfte schwarz, die andere weiß ist, und die Tochter Marmacora, die schwarz ist wie eine Krähe (vgl.V. 14281– 14286). Es ist die Lust am Erzählen von fremden Welten, die Liebe zum Detail und zu intertextuellen Begegnungen, die diese und andere Episoden tragen. Heinrich teilt die Vorliebe der Historia für skandalträchtige Motive als Rezeptions-Stimuli, doch dienen sie ihm nicht allein dazu, Schrecken zu verbreiten, sondern auch Faszination und Komik auszulösen. Vor diesem Hintergrund ist Elimar Klebs Verdikt über Heinrichs Apollonius aufzugreifen: „Der ursprüngliche Charakter des lateinischen Originals ist durch die Versetzung in die Sphäre der ritterlichen Poesie völlig vernichtet. Das Ganze Lienert, Antikenromane, S. 170. Vgl. Alfred Ebenbauer: Es gibt ain mörynne vil dick susse mynne, in: ZfdA 113 (1984), S. 16 – 41, hier S. 33. Vgl. hierzu a. Achnitz, Babylon, S. 329; der jedoch abweichend zu der hier vorgeschlagenen Lesart folgert, dass Apollonius sich der Lächerlichkeit preisgebe und Minne bloßgestellt werde; vgl. ebd., S. 330. Vgl. im Ansatz a. Ebenbauer, der konstatiert, Palmina agiere „selbstsicher, ja aggressiv“; Ebenbauer, Es gibt ain mörynne, S. 35.
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ist leer an jeder echten dichterischen Erfindung und Empfindung, lang und langweilig […].“²⁷⁷ Das Gegenteil ist der Fall, Heinrich extrahiert zentrale Konfliktpunkte der Inzestepisode und projiziert sie in die von ihm hinzugefügten Gegenwelten, spinnt sie in unterschiedlichen Konstellationen weiter. Damit ist aber auch Bockhoff und Singer zu widersprechen, die gegen Klebs ins Feld bringen, dass Heinrich einen der großen Mängel der Historia, nämlich die Unverbundenheit der Inzestepisode, abschwächt, indem er sie als Vorrede abkoppelt.²⁷⁸ Heinrich schwächt die Inzestthematik nicht ab, er stärkt ihre Bedeutung, nur eben auf einer anderen als der syntagmatisch-kausalen Ebene. Dies wird nicht allein daran deutlich, dass die geschlossene, zyklische Form der Historia, die Pentapolis als Zielpunkt setzt, durch die Verlängerung aufgebrochen wird, und die Handlung zurück an ihren Ausgangspunkt Anthiochia führt.²⁷⁹ Sondern auch und vor allem an den skizzierten paradigmatischen Bezügen, die Heinrich aus der Rahmenhandlung in die Binnenhandlung zieht. Der antike Stoff und die in ihm aufgeworfenen Kernkonflikte geben den Anlass, vergleichbare oder assoziierbare Erzählkonstellationen zu entwerfen und narrativ durchzuspielen. So zeugen gerade die verschiedenen Verbindungen, die Apollonius mit Frauen eingeht, von der Signalkraft der Inzestepisode. Wo die Historia mit Apollonius’ Ehefrau und Tarsia nur ein einfaches Spiegelverhältnis setzt, pluralisiert Heinrich den Kontrastbereich. Anders als die zum Inzest gezwungene Königstochter wählt nicht nur Lucina, sondern auch Palmina Apollonius aus freien Stücken zum Gatten; anders als bei der Königstochter gelingt es Apollonius seine Bräute Cirilla und Palmina von ihren Usurpatoren zu befreien; anders als Anthiochius zeugt er mit ihnen Söhne, die die Herrschaftsfolge in den Ländern ihrer Mütter sicherstellen; auch beruht die Minne, die die jeweiligen Paare verbindet, stets (auf kurz oder lang) auf Gegenseitigkeit. Darüber hinaus wird eine Vielzahl weiblicher Geschlechterentwürfe aufgerufen, denen nicht selten eine bemerkenswerte Aktivität innewohnt, vom wilden Weib Gargana, die hundert Kinder entführt (vgl. V. 9479 – 9764), bis hin zu Flordelise, die den Fall ihrer Schwester erfolgreich vor den als Richter agierenden Apollonius bringt (vgl. V. 19856 – 20396). Diese kann sich (anders als die Königstochter) einem Vergewaltigungsversuch mit körperlicher Kraft widersetzen (vgl.V. 20039 – 20042), wird dafür aber von Silvian beim Ehemann verleumdet und muss seither eingesperrt in einem Verschlag mit den Hunden essen (vgl. V. 20067– 20073). Flordelise setzt ihre
Klebs, Erzählung, S. 486. Vgl. Bockhoff/Singer, Apollonius, S. 17. Vgl. Junk, Transformationen, S. 85.
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Schwester wieder in ihr Recht, indem sie als halber man (V. 20167) Silvian im Gerichtskampf besiegt.²⁸⁰ Dabei ist zu berücksichtigen, dass Heinrich nicht alle Zutaten seines Binnenteils aus der Vorgeschichte zieht. Jagd- und Kampfmetaphorik in der Inzestszene und die Figuration der Rätselepisode als âventiure zum Beispiel sind genau umgekehrt als Zusätze zu betrachten, die vom Binnenteil her auf die Vorgeschichte zurückstrahlen. Die Superiorität und Dominanz des Helden wird ebenfalls dem Binnenteil angeglichen. Sie sind Effekte der Hybridisierung, zu denen auch die Emotionalisierung der Vorgeschichte zu zählen ist, die die Gestaltung der Inzestepisode im Vergleich zur Historia aufweist.²⁸¹ Mit Eming lässt sich Emotionalität als Spezifikum der Gattung des mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman definieren, Emotionsdarstellungen nehmen breiten Raum ein, was nicht allein für die namengebende ‚Liebe‘ gilt, sondern für Emotionen insgesamt, die ausführlich und detailliert geschildert werden; auch spielen emotional besetzte Bindungen zwischen Eltern und Kindern, zu Verwandten und Vasallen, in Ehe und Freundschaft eine zentrale Rolle.²⁸² Wie gesehen erweitert Heinrich das in der Historia vorgeprägte Emotions-Panorama in der Vorgeschichte signifikant, wobei Emotionen als Katalysatoren wirken, die Handlung motivieren, also die primär paradigmatische Prägung um eine kausale Logik ergänzen. Diese Funktion kommt Emotionen auch im Binnenteil zu. Die Bösartigkeit Kolkans beispielsweise (vgl.V. 4578), der ursprünglich niemandem etwas zu leide tun kann (vgl. V. 4585), resultiert aus seinem Zorn (vgl. V. 4601), der auf ein zugefügtes Leid und Unrecht reagiert, nachdem Cipirian ihn grundlos auf einer Jagd angreift (vgl. V. 4593 f.).²⁸³ Der Zorn wird motivational wirksam und eskaliert im Exzess, Kolkan metzelt den König und seine Mannen nieder (vgl. 4605 f.). Auch mit Diomena geht der Zorn durch, als sie Apollonius seinen Ehebruch vorwirft (vgl. V. 14510 f.), Silvian ist bei der versuchten Vergewaltigung und Verleumdung von Schmach, Schande, Rache und Hass getrieben (vgl.V. 19899 – 19995; 20017– 20023). Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, im Gesamtgefüge dominieren jedoch auch hier paradigmatische Bezüge. Die Zornszenarien etwa lassen sich mit Nebukadnezars
Dass die Geschlechter körperlich unterschiedlich stark sind, wird ausgestellt und mit einer spezifischen Konstruktion des Gerichtkampfes, die als Rechts-Usus dargestellt wird, ausgeglichen – Silvian kämpft mit einem Knüppel und ihm wird ein Arm auf den Rücken gebunden, Flordelise kämpft mit einem in ein Tuch gewickelten Stein (vgl. V. 20155 – 20200). Vgl. hierzu a. Achnitz, Babylon, S. 357. Vgl. hierzu a. meine Diskussion in Hagemann, Vorgeschichten, S. 146. Vgl. Eming, Emotion und Expression, S. 11 f.; 15 und 23. Vgl. hierzu a. Schneider, Chiffren, S. 236; die allerdings nicht auf Emotionen abstellt, sondern die Textstelle unter der Herrschaftsthematik als Fehlverhalten des Königs diskutiert.
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Zorn im Prolog in Verbindung bringen und verhandeln das in ihm aufgeworfene Thema der Affektkontrolle jeweils neu. Doch ergibt sich auch auf diesem Feld keine Sinntotalität. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Die Minne zu einer Frau baut nicht auf Ausschließlichkeit; der Zorn, der die Antihelden zu Fall bringt, ergreift ebenso den Helden und schwingt ihn auf zum Sieger im Kampf (vgl. etwa V. 6327); Spott, wie er im ersten Liebesexkurs in den Beschimpfungen Frau Minnes genüsslich anklingt, wird in einem späteren Erzählerkommentar abqualifiziert (vgl. V. 19217– 19224). Trotz dieser Vielfalt und Widersprüchlichkeit sind es doch immer wieder dieselben, bereits in der Vorgeschichte aufgeworfenen Themen, die die âventiuren des Binnenteils tragen. So brüchig das Erzählkontinuum auf syntagmatischer Ebene ist, so ‚stringent‘ ist es auf paradigmatischer. Heinrich nimmt den überlieferten Stoff als Ausgangspunkt für eine ausufernde Romanhandlung, die er in weiten Teilen mit eigenen Zusätzen bestreitet, indem er in der Vorgeschichte aufgeworfene Themen und Konfliktpotentiale durchspielt und ‚durcheinanderwürfelt‘. Umgekehrt beeinflusst die Konzeption des Binnenteils die Vorgeschichte, wenn der Inzest im Modus von Kampf und Niederlage und die Rätselepisode mit Fokus auf den Helden gestaltet ist. Auch die Emotionalisierung der Vorgeschichte ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Heinrich fügt sowohl textintern als auch textextern Emotionen hinzu, die die Inzestthematik als Folge fehlgeleiteter Minne und als Objekt von Scham und Ekel evaluieren und Affektkontrolle thematisieren, wodurch paradigmatische Bezüge zum Binnenteil aufgemacht werden. Doch ist Heinrichs Apollonius nicht viel Erfolg beschieden. Die überlieferten Handschriften sind späte Textzeugnisse, woraus Achnitz folgert, dass „er erst in der zweiten Hälfte des 15. Jh.s auf ein größeres Interesse gestoßen zu sein [scheint].“²⁸⁴ Sie stehen damit in zeitlicher Koinzidenz zum Leipziger Apollonius und zu Heinrich Steinhöwels Prosavariante, die circa einhundertzwanzig bis einhundertfünfzig Jahre nach Heinrichs Fassung entstehen, was auf eine spezifische Popularität des Stoffes im 15. Jahrhundert verweist. Während Steinhöwels Apollonius-Bearbeitung sich mit der Drucklegung zum Verkaufsschlager entwickelt, findet Heinrichs Apollonius keine Nachfolger und verschwindet bald in der Versenkung.²⁸⁵ Ähnlich ist es um den Leipziger Apollonius bestellt, auf den nun zu sprechen zu kommen ist.
Achnitz, Textproduktion, S. 453. Vgl. Krenn, Minne, S. 12 f.; Birkhan, Apollonius, S. 438.
8.2 Leipziger Apollonius
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8.2 Leipziger Apollonius Der sogenannte Leipziger Apollonius ist ein ostmitteldeutsches Prosastück,²⁸⁶ unikal in der Leipziger Handschrift Ms 1279 überliefert, zuletzt von Christoph Mackert auf 1465/1470 datiert.²⁸⁷ Der wahrscheinlich im Leipziger Augustinerchorherrenstift St. Thomas entstandene Kodex ist durchgehend von einer Hand geschrieben, wobei Verfasser und Schreiber vermutlich identisch sind; es liegt somit einer der nur selten vorkommenden Autographen, wahrscheinlich sogar eine Urschrift vor, so zumindest im Apollonius-Teil.²⁸⁸ Das Manuskript, so Makkert, „vermittelt […] den Eindruck eines beständigen Bemühens um die richtige Formulierung im Schreibprozess“²⁸⁹, die Niederschrift gibt also gewissermaßen Zeugnis von einem work-in-progress. Die Frage nach der Vorlage ist noch nicht abschließend geklärt,²⁹⁰ es herrscht jedoch weitgehend Einmütigkeit, dass der Leipziger Apollonius relativ treu seiner Quelle folgt,²⁹¹ also nah an der Historia
Im Folgenden im Fließtext zitiert nach der Ausgabe Leipziger Apollonius. In: Griseldis. Apollonius von Tyrus. Hrsg. von Carl Schröder, Leipzig 1873 (Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung vaterländischer Sprache und Althertümer in Leipzig 5,2), S. 25 – 81. Vgl. Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 1279, fol. 160v-235r (HC 5348). Vgl. hierzu Christoph Mackert: Die Leipziger Textsammlung Ms 1279 und die Schriftproduktion eines Leipziger Augustinerchorherren im mittleren 15. Jahrhundert. In: Wolfram-Studien XXII (2012), S. 219 – 263, hier S. 221 und 240 f. Für die ältere Datierungsdiskussion vgl. Moriz Haupt: Märchen und Sagen. In: Altdeutsche Blätter 1 (1836), S. 113 – 163, hier S. 113; Klebs, Erzählung, S. 503; Fritz Peter Knapp: Art. ‚Leipziger Apollonius‘. In: VL 5, Sp. 684– 686, hier Sp. 684; Franzjosef Pensel: Ms 1279. Literarische Sammelhandschrift. In: Verzeichnis der deutschen mittelalterlichen Handschriften in der Universitätsbibliothek Leipzig. Hrsg. von Irene Stahl, Berlin 1998 (Verzeichnisse altdeutscher Handschriften 3), S. 173 ff. Für einen aktuellen Überblick vgl. a. Tina Terrahe: Heinrich Steinhöwels Apollonius. Edition und Studien, Berlin, Boston 2013 (Frühe Neuzeit 179), S. 77. Vgl. Mackert, Leipziger Textsammlung, S. 224; 228 f.; 236 – 239 und 246– 255. Vgl. a. Haupt, Märchen, S. 116; Carl Schröder: Griseldis. Apollonius von Tyrus. Hrsg. von dems., Leipzig 1873 (Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung vaterländischer Sprache und Althertümer in Leipzig 5,2), S. V; Klebs, Erzählung, S. 503; Knapp, Leipziger Apollonius, Sp. 685; Pensel, Ms 1279, S. 173. Mackert, Leipziger Textsammlung, S. 236. Singer nimmt eine der Handschrift ÖNB/Wien Cod. 480 nahestehende Quelle an, die RA und RB mischt, kommt aber zu dem Schluss, dass sie nicht die alleinige Quelle sein kann, sondern der Verfasser wahrscheinlich mehrere Quellen hinzuzieht; vgl. Singer, Appolonius, S. 223 und 227. Klebs plädiert (die Vorstudien Singers ignorierend) für die Wiener Handschrift; vgl. Klebs, Erzählung, S. 93 f.; 504 f.; Tomasek für eine der Redaktion RA nahestehende Fassung; vgl. Tomasek, Rätsel, S. 205. Vgl. Klebs, Erzählung, S. 503; Knapp, Leipziger Apollonius, Sp. 686.; Classen, Sexual violence, S. 171; Mackert, Leipziger Textsammlung, S. 237; Terrahe, Apollonius, S. 77.
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bleibt. Er kommt mit einfachen Stilmitteln wie Synonymen, Epitheta und Alliterationen aus,²⁹² eine eigene Deutungsperspektive, so Elisabeth Lienert, „ist nicht erkennbar“²⁹³. Klebs bemerkt „eine schlichte Naivität des Tones, die sich ebenso von gelehrtem Aufputz wie von allem Moralisieren fern hält“²⁹⁴, Archibald einen expressiven Darstellungsstil,²⁹⁵ der den Text für die Analyse von Emotionen attraktiv macht. Dies gilt auch für die mutmaßliche Gebrauchssituation, in der der Leipziger Apollonius entsteht. Aufgrund eines Zufallfundes, die Leipziger Handschrift Ms 803, weist Mackert nach, dass diese und weitere Handschriften von demselben Schreiber abgefasst sind, den er basierend auf der Urkundenüberlieferung als Johannes Grundemann identifiziert.²⁹⁶ Grundemann war zeitweise Propst in besagtem Stift und als volkssprachiger Prediger aktiv, weshalb sich mit Mackert vermuten lässt, dass „die lehrhaft-unterhaltenden Übersetzungswerke in Ms 1279 […] als Materialbasis für die offenbar eindrucksvollen Predigt-Auftritte […] vor der Leipziger Bevölkerung gedient haben könnten.“²⁹⁷ Dies wirft die Fragen auf, ob die christliche Sinnprägung, die in nuce bereits in der Historia angelegt ist,²⁹⁸ stärker akzentuiert wird, welche Rolle Emotionen in diesem Kontext zukommt und ob sich im Speziellen sprachliche Wirkstrategien identifizieren lassen, die mit einem mündlichen Vortrag in der Predigt in Verbindung stehen.
8.2.1 Eine libliche historie von Inzestehe und Befleckung Die einzelnen in der Handschrift Ms 1279 bearbeiteten Stoffe sind mit tituli als Erzähleinheiten ausgewiesen, die in einem Register am Beginn des Kodexes angeführt werden.²⁹⁹ Der Leipziger Apollonius trägt die Überschrift: Hir nach volget das geschichte von Appollonio Tyro, eine libliche historie, unde von dem köninge Anthiocho der sine eiene tochter beslif ³⁰⁰ (S. 25, Z. 1 ff.). Mit den Termen geschichte
Vgl. Knapp, Leipziger Apollonius, Sp. 686. Lienert, Antikenromane, S. 173. Klebs, Erzählung, S. 508. Vgl. Archibald, Apollonius, S. 202. Vgl. ähnlich a. Klebs, Erzählung, S. 508. Vgl. Mackert, Leipziger Textsammlung, S. 241– 249. Ebd., S. 254 f.; vgl. insgesamt S. 249 – 255. Vgl. hierzu a. Terrahe, Apollonius, S. 77; Gesine Mierke: Einleitung. In: Die Crescentia-Erzählung aus der ‚Leipziger Kleinepikhandschrift‘ Ms 1279. Hrsg. von ders., Chemnitz 2013 (Saxofodina 1), S. 11– 28, hier S. 21. Vgl. Kortekaas, Prolegomena, S. 9; Achnitz, Babylon, S. 271. Vgl. Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 1279, fol. 1r-9v (HC 5348). „Hiernach folgt die Geschichte von Appollonio Tyro, eine angenehme Historie, und von König Anthiocho, der seine eigene Tochter beschlief.“
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und historie wird der Stoff als wahre Begebenheit vorgestellt, mit liblich eine grundsätzlich angenehme, nicht etwa abschreckende Erzählung versprochen. Hiervon syntaktisch abgetrennt wird der Vater-Tochter-Inzest angekündigt, ohne seinerseits bewertet zu werden. Die zweigliedrige Struktur ruft Held und Antiheld gleichermaßen als zentrale Handlungsakteure auf, eine Praxis, die in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kodizes und Drucken verbreitet ist.³⁰¹ Doch ist der Vater-Tochter-Inzest das einzige im Vorfeld benannte Handlungselement, so dass der Fokus auf das Skandalon in der Vorgeschichte gerichtet wird. Der Titel hat somit einen gliedernd-deiktischen Charakter, der proleptisch einen Filter für die Rezeption generiert und die Aufmerksamkeit auf die Inzestgeschichte um Anthiochus richtet. Dieser wird im ersten Satz der Erzählung im Stil der Historia knapp als mächtiger Herrscher eingeführt, seine Frau und seine Tochter kurz erwähnt (vgl. S. 25, Z. 4– 7.). Classen nennt als Charakteristikum der Bearbeitung, dass das Motiv vom Tod der Mutter nicht weiter auserzählt werde.³⁰² Doch haben die vorangegangenen Untersuchungen nahegelegt, dass es sich bei der Narrativierung des Motivs um eine späte und nicht durchgängige Entwicklung handelt.³⁰³ Der Text verbleibt an dieser Stelle vielmehr ganz im Bauplan der Redaktion RB und ihr folgender Mischredaktionen,³⁰⁴ wenn es heißt, der selbe könig hatte gar eine schne thochter von siner vorstorbenen frowe ³⁰⁵ (S. 25, Z. 6 f.). Der Hinweis steht als einfaches Motiv, das mit Blick auf den Inzest kaum Kausalkraft entwickelt. Assoziativ kausal wirkt hingegen die Schönheit der Tochter, die, so auch Classen, besonders ausgestellt wird.³⁰⁶ Ihr stetes Epitheton ist schön, mit vier Nennungen in nur zwei Sätzen mit hoher Frequenz inseriert (vgl. S. 25, Z. 6 – 10),³⁰⁷ was seinen Höhepunkt in dem sinnfälligen Moment erreicht, do sie mambar wart ³⁰⁸ (S. 25, Z. 9), also das Alter der sexuellen Reife erreicht. Während das Verlangen in der Historia mit dem König durchgeht, als er überlegt, wem er die Tochter geben soll, wird Antiochus im Leipziger Apollonius in dem Moment, in dem die Werber mit großen Brautgaben um die Tochter wettei-
Vgl. zu dieser Praxis allgemein Archibald, Apollonius, S. 93. Vgl. Classen, Sexual violence, S. 171. Siehe hierzu ausführlich Kap. 8.1.2. Vgl. hierzu in textgenetischer Perspektive a. Singer, Appolonius, S. 223. „Dieser König hatte eine sehr schöne Tochter von seiner verstorbenen Ehefrau.“ Vgl. Classen, Sexual violence, S. 171. Die Historia nennt die Schönheit der Tochter nur zweimal; vgl. HA (RA) cap. 1, Z. 3 und 5, S. 278; HA (RB) cap. 1, Z. 3 und 5, S. 279. „[…] als sie mannesfähig wurde.“
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fern, erre (S. 25, Z. 13: „verwirrt“; „verrückt“; „ketzerisch, schädlich“³⁰⁹). Dieses additive Deutungselement markiert den Zustand des Königs innerhalb eines christlichen Wertesystems als Abweichung von der Norm und verändert die Sinnlogik, die sein inzestuöses Begehren motiviert. Erst seine ketzerische Verblendung verunmöglicht ihm, einen Bräutigam zu wählen (vgl. S. 25, Z. 13 f.), und wird zur Grundbedingung seines Verlangens, wenn es im Anschluss heißt, in der wise viel he in eine boße hitczige falsche libe, das he sine tochter vorder libete wen ein vater sin kint thuen sal ³¹⁰ (S. 25, Z. 14 ff.). Das Begehren wird als libe gefasst, wobei wie in der Historia die Verwandtschaft als Gradmesser von Transgression und Norm gesetzt wird – der Vater liebt die Tochter mehr als ein Vater sein Kind lieben sollte. Zudem werden wertende Adjektive hinzugefügt, und zwar ostentativ. Der Verfasser des Leipziger Apollonius „liebt die Fülle, sinnverwandte Wörter werden gehäuft, und Beiwörter, oft von dichterischer Färbung, hinzugesetzt“³¹¹; „Schilderungen sind bisweilen lebendiger, formelhaft wertende Epitheta der Personen ergänzt“³¹². Die Zusätze ziehen nicht nur eine normative Ebene ein, Begriffe wie boße und falsch wirken zudem aufgrund ihrer ethischen Bedeutung potentiell affizierend, die Häufung intensitätssteigernd. Gibt der Text tatsächlich eine Grundlage für Grundemanns Predigten, muss man sich den intonierten mündlichen Vortrag vor Augen (oder vielmehr: vor Ohren) führen, um die affizierende Amplitude dieser Sprechweise zu erahnen. Wahrscheinlich werden die Adjektive besonders betont, ergeben eine Tirade, die Antiochus’ Liebe normativ und affektiv auflädt, noch bevor das mit ihnen qualifizierte Substantiv fällt. In diesem tonalen Duktus fährt die Erzählung fort, wenn es heißt, alzo wart he in im selber wtende unde thabende unde vacht in der boßen anevechtunge der falschen libe ³¹³ (S. 25, Z. 16 ff.). In der Übertragung werden interpretierende Anpassungen transparent. Das lat. furor („Raserei“, „Wut“) wird mit wüetend und tobend gleich zweimal übersetzt, Wut somit als dominante Emotion hervorgestellt, wobei toben (ähnlich wie schon erre) „nicht bei Verstand sein“³¹⁴ konnotiert – Antiochus ist des (rasenden) Wahnsinns. Das in der Historia quälende lat. dolor („Schmerz“) hingegen entfällt zugunsten der christlichen konnotierten boßen anevechtunge, der „bösen Versuchung“. Falsch wird zu einem festen Begleitwort von liebe. Die
Vgl. FWB 8, Sp. 210. „Auf diese Art und Weise verfiel er in eine bösartige, hitzige, falsche Liebe, so dass er seine Tochter mehr liebte, als ein Vater sein Kind [lieben] sollte.“ Klebs, Erzählung, S. 508. Lienert, Antikenromane, S. 173. Sinngemäß: „So wurde er in sich selbst wütend und rasend und rang mit der bösen Versuchung der falschen Liebe.“ Baufeld, S. 53.
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Textstelle ist dicht an emotionalen und emotional aufgeladenen Begriffen und zielt darauf, die Rezipierenden zu affizieren und so eine negative Haltung Antiochus und dem Inzest gegenüber zu schüren. Ein metaphorischer Sprachgebrauch wie in dem in der Historia prominenten Motiv des Liebesfeuers fehlt, nur die Liebeskrankheit wird hier und in der Folge rudimentär anzitiert und mit Sünde assoziiert (vgl. S. 25, Z. 18 ff.).³¹⁵ Eine moralische Deutung wird nicht expliziert, sondern allein über affizierende und wertende Begriffe anvisiert (vgl. a. S. 25, Z. 1), auch in dem Moment, in dem sich das Begehren schließlich Bahn bricht, do he das grusame gedechteniß in sime hertczen nicht lenger erliden konde ³¹⁶ (S. 25, Z. 20 f.). Fnhd. grausam bedeutet sowohl „grauen-“ als auch „ekelerregend“³¹⁷, was den Inzest als Objekt emotional bewertet. Indem es heißt, der König könne sein Begehren nicht länger ertragen, wird die Leidensthematik aufgerufen, doch gibt sie nicht wie bei Heinrichs von Neustadt Königstochter einen möglichen Rezeptions-Stimulus für Mitleid. Im Gegenteil, Leidensfähigkeit gilt gemäß der imitatio christiani als christliche Tugend, insbesondere wenn es darum geht, der Sünde zu widerstehen. In kleineren Umdeutungen und Hinzufügungen des Leipziger Apollonius wird eine eigene Deutungsperspektive manifest, die eine christliche Sinnprägung maßgeblich über Emotionen und emotionale Begriffe profiliert. Als Signum des Textes kann gelten, dass die Inzestthematik im Modus der Ehe verhandelt wird (vgl. S. 25, Z. 20; S. 26, Z. 13 und 26; S. 218, Z. 35), Inzest- und Ehethematik also überblendet werden, wie es für den kirchlichen Inzestdiskurs typisch ist.³¹⁸ Der konkrete Inzestakt hingegen ist vorlagengetreu als Sexualakt gestaltet, erzählt aber abweichend aus der Perspektive der Tochter. Wie in der Historia schickt Antiochus die Diener unter dem Vorwand fort, er habe etwas mit seiner Tochter zu besprechen, woran sich einer der selteneren wertenden Erzählerkommentare hängt, wenn es heißt, do met beschnte he di boze libe ³¹⁹ (S. 25, Z. 24 – S. 26, Z. 1).³²⁰ Dann fährt die Erzählung aus der Sicht der Tochter fort, aber do das sine tochter erkante, der werte sie sich alze best konde, aber der vater liß nicht abe, sunder beroubete si irer küschen jungfrowschaft ³²¹ (S. 26, Z. 1 ff.). Die
Vgl. Classen, Sexual violence, S. 171 f. „[…], als er die grausamen Gedanken in seinem Herzen nicht länger ertragen konnte, […].“ Vgl. Baufeld, S. 114. Vgl. Classen, Sexual violence, S. 172. Zum kirchlichen Inzestdiskurs siehe ausführlich Kap. 2.1. und 2.2. „Damit beschönigte er die böse Liebe, […].“ Vgl. hierzu a. Classen, Sexual violence, S. 172. „[…], als jedoch seine Tochter dies erkannte, da wehrte sie sich so gut sie konnte, aber der Vater ließ nicht ab, sondern beraubte sie ihrer keuschen Jungfräulichkeit“
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Vergewaltigung wird kaum beschrieben bis auf die physischen Wunden der Königstochter, indiziert über das Blutstropfenmotiv,³²² das im destillierten Stil der Redaktion RB gestaltet ist, also nur einmal erwähnt wird. Der Wunsch der Tochter, die untagent (S. 26, Z. 5: „Untugend“, „Sünde“) des Vaters zu verbergen, steht in direktem Kontrast zu den Blutstropfen, die das Verbrechen unweigerlich nach außen hin anzeigen. Die Tochter überlegt, was nun zu tun sei (vgl. S. 26, Z. 6 f.), erst nachträglich fügt der Schreiber hinzu, dass sie weinte.³²³ Im Produktionsprozess lässt sich damit nachzeichnen, dass die emotionale Reaktion der Tochter zunächst ausgespart, sodann aber nachgetragen wird. Ursache für die Korrektur ist wahrscheinlich, dass das Weinen im Nachgang die Handlungsdynamik begründet, während die Blutstropfen, die in der Historia den Dialog mit der Amme initiieren, im Leipziger Apollonius zum blinden Motiv werden, wenn die hinzutretende Kammerfrau sie gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. Die Korrektur macht die These möglich, dass der Verfasser sich entscheidet, nicht das Blutsmotiv, sondern die Tränen als nonverbales Zeichen für Trauer als Gesprächseinstieg zu wählen. Die Kammerfrau sieht, dass die Königstochter betrubet waß (S. 26, Z. 9: „traurig war“), worüber sie erschrickt und nachfragt, ‚was bedüt, das du alzo betrubetis mutes bist unde vorchtsam?‘ ³²⁴ (S. 26, Z. 9 f.). Trauer und Furcht komplettieren das Panorama mit dem Inzest korrelierter Emotionen und dynamisieren die Figurenkommunikation. Im Rahmen der Namensthematik mahnt die Tochter an, ihre Hochzeit sei vor der Zeit erfolgt, met sülcher boßheit bin ich beflegket ³²⁵ (S. 26, Z. 13 f.). Transparent wird eine biblisch geprägte Redeweise von Reinheit und Befleckung, wie sie Teile des kirchlichen Inzestdiskurses prägt. Sie kommt in der hier verwendeten Terminologie einer auf die Rezipierenden zielenden, affizierenden und polarisierenden Redeweise gleich, die Furcht vor Sünde schürt. So antwortet auch die Kammerdienerin, ‚eya, wer iß so mechtig, der einer koninges tochter sael thaer also beflegken? he hette doch wol den könig mocht vörchten‘ ³²⁶ (S. 26, Z. 15 ff.). Geschickt umgeht der Leipziger Apollonius die infame Aufforderung der Amme, die Tochter möge sich dem Vater anvertrauen, und schafft es dennoch, die Diskrepanz zwischen Rollenerwartung und faktischem Handeln des Vaters auszustellen. Die
Vgl. Classen, Sexual violence, S. 172. Vgl. Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 1279, fol. 162r (HC 5348). „Was hat es zu bedeuten, dass du so traurig und ängstlich bist?“ „Mit solch einer schrecklichen Angelegenheit bin ich befleckt“. „Hey, wer hat so viel Macht, dass er die Tochter eines Königs auf diese Weise schänden könnte? Er hätte doch wohl den König fürchten müssen.“
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Interjektion eiâ drückt gleichermaßen Verwunderung und Klage aus,³²⁷ sie kann im intonierten Vortrag der Predigt aufgrund ihrer emotiven und kommunikativen Funktion als Medium der ‚Gefühlsübertragung‘ dienen. Die Tochter beklagt den Verlust des Vaters und wünscht sich den Tod, das mins vater schande nicht offenbar worde vor allem volke ³²⁸ (S. 26, Z. 19 f.). Ebenso wie schon bei der monierten ‚Untugend‘ wird die Schande allein auf den Vater bezogen, womit der Leipziger Apollonius seinen Beitrag zur ‚Schuldfrage‘ leistet, es ist allein der Vater, dessen Handeln sünd- und schandhaft ist. Die Schande des Vaters stellt aber ihrerseits das Objekt für eine Emotion der Tochter, nämlich leide (S. 26, Z. 21: „Schmerz, Kummer, Traurigkeit“³²⁹), was motivational wirksam wird und sie an Selbstmord denken lässt. Die Kammerfrau gibt in Reaktion ir guten trost unde troste sie met sßen worten ³³⁰ (S. 26, Z. 22 f.), was allerdings auch hier auf den Rat hinausläuft, dem Vater zur Verfügung zu stehen (vgl. S. 26, Z. 23). Der Trost zielt auf Linderung, nicht auf Hilfe durch Abhilfe, der status quo wird anerkannt. Dennoch ergreift der Text deutlich Position für die Tochter. Die Figurenkonstellation ist schematisch, der schönen Tochter steht der böse Vater gegenüber. Die negative Darstellung des Vaters gerät zu einem Rundumschlag, anders als in der Historia verstellt er sich nicht vor seinen Untertanen, sondern vernachlässigt zusätzlich seine Aufgaben als Herrscher und konzentriert sich allein darauf, das Verhältnis zur Tochter fortzuführen (vgl. S. 26, Z. 24– 27). Der transgressive Charakter des Tabubruchs wird präsent gehalten, der König möchte seine Tochter weiterhin unordentlichen gebruchen (S. 26, Z. 27; wörtlich: „regelwidrig benutzen“; sinngemäß: „sich gegen jede Ordnung an ihr erfreuen“; „ihr den Normen widersprechend teilhaftig werden“). Im Ammengespräch wird die Sympathetisierung mit der Tochter über Emotionen vollzogen, der Dialogverlauf hält sich eng an die Historia, weitet die emotionale Komponente aber geringfügig aus, so dass im Grundzug eine Handlungsdynamik interagierender Emotionen greifbar wird. In der Rätselepisode werden einige Verschiebungen vorgenommen, die ebenso wie bei Heinrich von Neustadt davon zeugen, dass sich der Verfasser intensiv mit der Rätselthematik auseinandersetzt. Zunächst wird ganz richtig erkannt, dass in dem Rätsel nicht eine, sondern etliche Fragen kulminieren (vgl. S. 26, Z. 28), sodann wird die Dekapitation nicht als Farce dargestellt, sondern als Konsequenz, dass die Freier das Rätsel nicht richtig lösen (vgl. S. 27, Z. 1 ff.). Diametral entgegengesetzt zur Historia lassen sich die Freier abschrecken, keiner Eîa kann daneben auch Freude zum Ausdruck bringen; vgl. BMZ 1, Sp. 414a; Lexer 1, Sp. 516; was durch den gegebenen Kontext aber ausgeschlossen werden kann. Sinngemäß: „[…], damit die Schande meines Vaters nicht in aller Öffentlichkeit publik wird“. FWB 9.1, Sp. 817. „[…] spendete ihr freundlichen Trost und tröstete sie mit lieben Worten […].“
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wagt, um die Tochter zu werben (vgl. S. 27, Z. 3 ff.).Vor diese Kulisse aus Feiglingen tritt nun Apollonius, dessen Vorzüge Belesenheit und Bildung sind (vgl. S. 27, Z. 6 – 9). Die Figurenzeichnung setzt den Helden vorlagengetreu als Rätsellöser und gibt ihm bei Weitem nicht so viel Raum wie Heinrich von Neustadt, zunächst vergisst der Schreiber gar, den Namen des Helden zu nennen, und fügt ihn erst nachträglich als Korrektur ein.³³¹ Wie schon am Titel ablesbar, zeigt sich im materiellen Aneignungsprozess, dass das Hauptgewicht in diesem Erzählabschnitt auf dem Antihelden Antiochus liegt. Das Gespräch mit Apollonius wird gewissermaßen aus seiner Perspektive erzählt, wozu eine schon in der Historia angelegte chiastische Struktur ausgebaut wird: Als Apollonius den König grüßt, heißt es, der köning sach en aen, aber sach en nicht gerne; als Apollonius um die Hand der Tochter bittet, der köning horte, da he nicht gerne horte ³³² (S. 27, Z. 11 f. und 17 f.), so dass Apollonius über die ‚Innensicht‘ des Königs als sein Konkurrent vorgestellt wird. Dieser Konnex wird emotional gefüllt. Dass es dem Helden trotz aller Hürden ernst ist mit seiner Werbung, lässt den König in Zorn entbrennen (vgl. S. 27, Z. 22), was anzeigt, dass Apollonius sich etwas anmaßt, das ihm aus Antiochus’ Sicht nicht zusteht. Richtwert ist die Standesebene, der König versucht den Helden zunächst zu degradieren, indem er seine Standesgemäßheit anzweifelt (vgl. S. 27, Z. 13 – 17).³³³ Dass die Rätselepisode eine besondere Aufmerksamkeit erfährt, wird aber insbesondere bei der Fassung des Rätsels selbst deutlich und das gleich auf mehreren Ebenen. So zeugen verschiedene Elemente von einer intensiven Auseinandersetzung. Der Übersetzung wird die lateinische Fassung beigefügt, einzelne Begriffe werden durchgestrichen und korrigiert.³³⁴ Darüber hinaus zielt die Darstellung darauf, Aufmerksamkeit zu erregen, was nicht nur durch den Sprachwechsel begünstigt wird, die Rätsel werden zudem formal hervorgehoben, ihr Beginn mit einem Alinea-Zeichen markiert, der Wortlaut mit roter Tinte unterstrichen. An der Übersetzung in die Volkssprache wird erkennbar, wie sich der Verfasser bemüht, die im Rätsel angelegte kognitive Dissonanz zu reduzieren. So muss der Schreiber angesichts der lateinischen Fassung, wie sie in der Wiener Handschrift Cod. 480 vorliegt,³³⁵ zunächst irritiert gewesen sein, heißt es doch utor (S. 27, Z. 24: „er/sie/es gebraucht, benutzt“) im zweiten Vers des Rätsels und
Vgl. Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 1279, fol. 163v (HC 5348). „Der König sah ihn an, aber sah ihn nicht gerne. […] Der König hörte, was er nicht gerne hörte.“ Ähnlich in HA (RA) cap. 4, Z. 7, S. 282; HA (RA) cap. 4, Z. 10, S. 283. Vgl. a. die Korrektur in der Handschrift Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 1279, fol. 163v (HC 5348). Vgl. ebd., fol. 164r. Vgl. Singer, Appolonius, S. 229.
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vescor (S. 27, Z. 5: „ich nähre mich“) in der Lösung, so dass sich in der Varianz die Verwirrung, die das Rätsel stiftet, noch erhöht. Auch heißt es im ersten Vers vereor statt vescor, so dass mit lat. vereri („fürchten“) eine Emotion Einzug in das Rätsel hält. Dies übernimmt der Verfasser des Leipziger Apollonius, führt jedoch eine Umdeutung durch: lasters mag ich mich schemen, wer mich kan recht vernemen: miner muter fleisch habe ich gebrucht minen bruder habe ich gesucht, miner muter soen ich nicht envant, mins wibes man iß mir umbekant. (S. 27, Z. 23 – 31) Für die Schmach muss ich mich schämen, wer mich recht verstehen vermag: Das Fleisch meiner Mutter habe ich benutzt, meinen Bruder habe ich gesucht, den Sohn meiner Mutter fand ich nicht, der Mann meiner Frau ist mir unbekannt.
Laster („Schmach“; „Fehler“; „Makel“³³⁶) und Scham werden in das Rätsel hineingetragen und in ein Bedingungsverhältnis gesetzt; der Vater-Tochter-Inzest als laster fordert scham, die somit als Emotionsnorm erscheint. Dass der Verfasser versucht, die Uneindeutigkeit des Rätsels, mit der er selbst zu ringen hat, für die Rezipierenden zu minimieren, lässt sich dabei insbesondere daran nachvollziehen, dass die Lösung gleich beigefügt wird, wenn Apollonius antwortet: ‚das bedüth alles: du beslefest selber dine tochter‘ ³³⁷ (S. 28, Z. 7). Textextern wird das Bedürfnis nach einer Lösung des Rätsels befriedigt, textintern gerät sie zur öffentlichen Anklage. Antiochus erschrickt und fürchtet sich, Zorn malt sich in sein Gesicht (vgl. S. 28, Z. 8 ff.). Diese textinternen Emotionen werden hinzugefügt und stehen erneut in dem Dienst, Handlung zu dynamisieren. So wirft Antiochus Apollonius nun seinerseits vor, er sei erre worden (S. 28, Z. 13: „verrückt geworden“; „vom rechten Weg abgekommen“), vertreibt ihn vom Hof und sendet ihm seinen Getreuen Taliarchus nach. Auch Taliarchus weiß um den Inzest (vgl. S. 28, Z. 23 f.), der in der Leipziger Variante kein geheimes Wissen ist. Von Antiochus’ Tod hingegen wird vorlagengetreu berichtet. Ein Schiffsmann aus Tyrus, der auf der Suche nach seinem König ist, spricht den unerkannten Apollonius am Strand von Pentapolis an: vindest du den, so sage im, das he sich frowe unde habe einen guten mut: das füer unde der blix von dem himmele hat vorbrant den köning Antiochum
Vgl. Baufeld, S. 157. „Das alles bedeutet: du schläfst selbst mit deiner Tochter.“
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met siner tochter, unde das rich czu Antiochia wert im noch gehalden czu gute.‘ ³³⁸ (S. 44, Z. 28 – 31). Im gemeinsamen Tod werden ‚Täter‘ und ‚Opfer‘ gleichgeschaltet. Der Text vermeidet eine Wertung als Gottesstrafe und kommentiert den Tod nicht weiter. Indem er jedoch mit Freude einhergeht, wird implizit nahegelegt, ihn als positives Ereignis zu verstehen. Dabei bezieht sich die Freude allerdings weniger auf den Tod als primär auf seine Konsequenz für den Helden. Dieser, auf der Flucht aufgrund eines Schiffbruchs mittellos in Pentapolis gestrandet, tritt zunächst betrübt vor den König Archistrati, sein schneller Aufstieg am Hof lindert seine Trauer sukzessive, doch erst mit der Hochzeit mit Archistratis Tochter Archistrates stellt sich Freude ein (vgl. S. 44, Z. 13 f.), die nun mit der Todesnachricht ihren vorläufgen Höhepunkt erreicht. Apollonius ist wieder in sein Recht als Herrscher gesetzt, ihm fällt endlich zu, worauf er in der Vorgeschichte einen Anspruch erworben hat, die Herrschaft über Antiochia. Freude fungiert als Marker einer (vorübergehend) wieder hergestellten Harmonie, für die Antiochus’ Tod den Anlass, nicht den Gegenstand gibt.
8.2.2 Pluralisierung der Spiegel- und Kontrastfolie im Ko(n)text Da sich der Leipziger Apollonius eng an das Handlungsgerüst der überlieferten Historia hält, übt die Inzestthematik im Gesamtkontext eine analoge Funktion als Handlungskatalysator und multifunktionale Negativfolie aus, die durch Anspielungen präsent gehalten wird. So werden bei der Einführung von Apollonius’ Braut Archistrates verschiedene Erzählelemente der Inzestepisode aufgegriffen. Auch sie ist eine libe tachter, gar ein schoene lustlich liblich mensche (S. 37, Z. 13; „liebe Tochter, ein sehr schönes, Freude bringendes, angenehmes Mädchen“) und wird ebenfalls in merkwürdig intim anmutenden Situationen mit dem Vater gezeigt, wenn ihre erste Handlung der Vaterkuss ist (vgl. S. 37, Z. 14) oder sie am frühen Morgen in sein Schlafzimmer dringt (vgl. S. 40, Z. 21– 26).³³⁹ Darüber hinaus wird Archistrates ebenso wie die Königstochter von Fürsten umworben, die sich vom Vater hingehalten fühlen (vgl. S. 41, Z. 18 – 23), ebenso wie Antiochus wird sie liebeskrank (vgl. S. 41, Z. 3 – 10) und liegt bei Egemones in fremden Betten (vgl. S. 47, Z. 35 f.). Diese zahlreichen Motivparallelen rücken Archistrates jedoch gerade nicht in die Nähe des blutschänderischen Paares, sondern stellen sie in „Falls du ihn findest, richte ihm aus, dass er sich freuen und guten Mutes sein kann: das Feuer und der Blitz des Himmels haben König Antiochus mit seiner Tochter verbrannt und das Reich Antiochia wird für ihn in guter Absicht verwahrt.“ Zur Metaphorik des Raumes in der Historia als Gleichsetzung räumlicher und sexueller Penetration vgl. Junk, Transformationen, S. 88 f.
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Kontrast: Der Vaterkuss ist ein nach höfischer Etikette gebotener Gruß; ins Schlafzimmer dringt sie, um den Vater um Unterricht bei Apollonius zu bitten (vgl. S. 40, Z. 28 ff.). Der Wunsch der Freier wird anders als in Antiochus’ Fall erhört, wobei Archistrati seiner Tochter freistellt, wen sie zum Gatten wählt, und ihre Entscheidung auch dann akzeptiert, als sie für den schiffsbrüchigen Apollonius optiert, der gar nicht zur Wahl steht (vgl. S. 41, Z. 26 – S. 42, Z. 2). Egemones ist der Arzt, der Archistrates nach dem Schiffbruch wiederbelebt; mit dem ersten Augenaufschlag mahnt diese, man solle sie nicht unzüchtig berühren (vgl. S. 48, Z. 6 – 9), und geht, sobald sie wieder bei Kräften ist, in ein Kloster (vgl. S. 48, Z. 24– 28). Gerade im Vergleich zum eingeschränkten Handlungsspielraum der Königstochter ist das Frauenbild von einer ausgesprochenen Aktivität gekennzeichnet, Archistrates spielt vorzüglich Harfe (vgl. S. 38, Z. 23 – 27), studiert auf eigenen Wunsch bei Apollonius. Sie bemüht sich aktiv um den von ihr auserkorenen Helden, so dass eher von einer Bräutigam- als einer Brautwerbung die Rede sein kann. Als Äbtissin im Tempel/Kloster unterstehen ihr Frauen wie Priester gleichermaßen (vgl. S. 76, Z. 2– 5). Archistrates steht als Gegenmodell zur Königstochter. Noch deutlicher wird diese Funktion als Kontrastfigur im Fall ihrer Tochter Tarsia, die diverse Anschläge auf ihre Keuschheit übersteht, von der Entführung durch Piraten bis hin zum Aufenthalt im Freudenhaus von Mytellena. Gefährdung und Verteidigung ihrer Keuschheit werden im Text hervorgehoben und betont (vgl. S. 75, Z. 3 f.), wobei häufig eine biblische Redeweise von Reinheit und Befleckung verwendet wird (vgl. S. 55, Z. 31 f.; S. 56, Z., 31; S. 63, Z. 5 ff.), was einen Bezug zur Inzestepisode herstellt. Die Inzestthematik wird umspielt, etwa wenn Tarsias zukünftiger Bräutigam Antinagoras bei seinem Bordellbesuch anmerkt, er habe eine Tochter von einer verstorbenen Frau und fürchte, ihr könne dasselbe Schicksal widerfahren (vgl. S. 58, Z. 23). Gemeint ist das Schicksal Tarsias als Prostituierte, latent aber schwingt die Inzestthematik mit, ist doch auch Antiochus’ Frau verstorben. Später heißt es gar, Antinagoras habe Tarsia liebgewonnen wie seine eigene Tochter (vgl. S. 56, Z. 6 ff.), er spricht sie als mine libe tochter (S. 61, Z. 24) an, so dass er auf Ebene des Subtextes am Ende quasi seine eigene Tochter ehelicht. Am deutlichsten ist der Bezug zur Vorgeschichte, als Apollonius und Tarsia unerkannt aufeinandertreffen. Die Szene ist durch der Abgeschiedenheit des Raumes im Schiffsbauch und durch Tarsias aktuellen Status als dirne (S. 63, Z. 16) erotisch geprägt, die in der Vorgeschichte eingeführten Motive des Blutes und des Rätsels werden aufgegriffen (vgl. S. 71, Z. 22 f.; S. 64, Z. 10 – S. 71, Z. 5), auch wenn der Übersetzer einige Probleme hat, die Rätsel in die Volks-
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sprache zu übertragen.³⁴⁰ Die Gestaltung der Szene legt nah, dass beide Episoden vergleichbar sind und dass sie in einem Spiegelverhältnis stehen. Schließlich spiegelt die Schlussperspektive die initialen Konflikte ex negativo. Infolge der Wiederzusammenkunft der Familie macht sich allgemeine Freude breit (vgl. S. 78, Z. 8; 13; 16; 18; 21; S. 80, Z. 6 ff.; S. 81, Z. 6), die den in Antiochia gestörten gesellschaftlichen Zustand als einen wiederhergestellten harmonischen markiert. Den Gegenspielern widerfährt ihre gerechte Strafe (vgl. S. 73, Z. 16 – 19; S. 78, Z. 28 – S. 79, Z. 26), die Guten werden belohnt (vgl. S. 74, Z.19 – 28; S. 79, Z. 26 – 32; S. 80, Z. 13 – 35), wobei insbesondere die Standes- und Herrschaftsthematik virulent wird; anders als Antiochus verteilt Apollonius großzügig Ländereien und Titel. Erst als di ding alle vorbrocht worden (S. 81, Z. 1) wird Apollonius ein Sohn geboren, der die Herrschaft in Pentapolis übernimmt. Im Vergleich zu Heinrichs Apollonius dominiert die Standesebene, das Herrschaftssystem ist restituiert. Erst im Schlusssatz, der unverknüpft und formelhalft daherkommt, wird der Held in der Heilsgeschichte verortet: Alzo besaz he das vorgenkliche rich. Got gebe uns noch dißem leben das ewige rich. amen. (S. 81, Z.: 9 f.; „Und so beherrschte er das vergängliche Reich. Gott gebe uns noch in diesem Leben das ewige Reich. Amen.“). Im Exclipit wird die Erzählung als süberlich herlich geschichte von Appollonio Tyro (S. 81, Z. 11 f.; „statthafte und prächtige Geschichte von Apollonio Tyro“) bezeichnet. Das im Incipit mit dem Namen Antiochus verbundene Verbrechen wird im Laufe der Narration überwunden, retrospektiv rückt die Vorbildfunktion des Helden, nicht die Abschreckung durch das Exempel in den Vordergrund. Blickt man von hier aus auf den Gesamtkontext des Kodexes, zeigt sich, dass diese Vorbildfunktion generalisiert werden kann. Die Handschrift Ms 1279 umfasst eine „Sammlung von Thierfabeln, Sagen, Märchen, Legenden und moralischen Versen“³⁴¹, die in einem christlich-didaktischen Erzählzusammenhang
Vgl. hierzu Singer, Appolonius, S. 226 f.; Klebs, Erzählung, S. 505 f.; Tomasek, Rätsel, S. 205 f.; Mackert, Leipziger Textsammlung, S. 236. Schröder, Griseldis, S. V; und von ihm wörtlich zitierend, ohne das Zitat auszuweisen Klebs, Erzählung, S. 504. Im Genauen sind dies: Katalog von Eigenschaften, die weltlichen und seligen Menschen zugeschrieben werden (fol. 10r), Leipziger Äsop (fol. 11r-110v), Ecce mundus moritur / Von der werlde ythelkeyt (fol. 110v-113v), Visio Philiberti / Eyn gesichte wy dy sele czu deme lichenam sprach (fol. 113v-129v), Die Ermordung eines Juden und die Rebhühner (fol. 129v-131v), Ritter, Bürger, Bauer (Der Bauer im Zweikampf) (fol. 131v-135r), Leipziger Griseldis (fol. 135v-160r), Leipziger Apollonius (fol. 160v-235r), Erzählungen aus den Sieben weisen Meistern (fol. 236r-286v), Die Vögte von Weida (fol. 287r-294r), Prosafassung der Crescentia-Legende (fol. 294v-304r), Legende der Hildegund von Schönau (fol. 304v-311r), lateinisch-deutsche Fassung eines Conflictus virtutum et vitorum; hieran anschließend Katalog von Eigenschaften weltlicher und seliger Menschen (fol. 311v-318r), lateinische Verse zum Themenkomplex mulier/bursales mit abschlie-
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stehen.³⁴² Sie setzt ein mit einer tabellarischen Übersicht, in der die Eigenschaften der werltlichen und der selygen Menschen einander gegenübergestellt werden, was am Ende des Kodexes wiederholt und in die Volkssprache übertragen wird.³⁴³ Der Katalog fungiert als Rahmen, der, so Gesine Mierke, auf das ‚Programm‘ des Kodexes hinweist, die „Texte illustrieren an unterschiedlichen Beispielen wie den Äsopschen Fabeln oder anhand epischer Figuren […] die menschlichen Eigenschaften, formulieren daran gebunden ethische Vorschriften und haben moraldidaktischen Charakter.“³⁴⁴ Welche der im Katalog genannten Eigenschaften verhandelt werden, differiert dabei von Textteil zu Textteil, klassische Themen wie Herrschaftskritik,³⁴⁵ der Unterschied zwischen Arm und Reich,³⁴⁶ Gerechtigkeit, Vergänglichkeit und Sündhaftigkeit kommen wiederholt zur Sprache.³⁴⁷ Worauf es im Folgenden hauptsächlich ankommt, sind die im Katalog geführten Eigenschaften Demut, Keuschheit und Klugheit (humilis, castus, sensata ³⁴⁸) in jenen Erzählungen, die eine Frauengestalt in den Mittelpunkt der Haupthandlung stellen, wie sie im umfangreichen zweiten Teil der Handschrift vermehrt begegnen.³⁴⁹ Sie erweitern, so die hier vertretene These, die im Apollonius angelegte Spiegelachse und multiplizieren weibliche Figurenentwürfe, die als Kontrast zu Antiochus’ Tochter stehen. Dabei wird die Inzestthematik in zwei weiteren Erzählungen tangiert: Die Crescentia-Handlung nimmt bei einem versuchten Schwager-Schwägerin-Inzest ihren Ausgang, die Grysildis-Handlung mit einem fingierten Vater-Tochter-Inzest ihr Ende. Sie lassen sich (ebenso wie weitere Erzählungen im Kodex wie etwa Hildegund von Schönau und das Märchen von den
ßendem deutschen Vierzeiler (fol. 318r-319v). Vgl. hierzu im Überblick: Haupt, Märchen, S. 113 – 163 [mit Teilabdrucken]; Pensel, Ms 1279, S. 173 ff.; Mackert, Leipziger Textsammlung, S. 222 ff.; Mierke, Einleitung, S. 22. Vgl. Karen Baasch: Die Crescentialegende in der deutschen Dichtung des Mittelalters, Stuttgart 1968 (Germanistische Abhandlungen 20), S. 188; Franzjosef Pensel: Art. ‚Ritter, Bürger, Bauer‘ (Der Bauer im Zweikampf). In: VL 8, Sp. 96 – 98, hier Sp. 97; Mackert, Leipziger Textsammlung, S. 254 f.; Terrahe, Apollonius, S. 77. Vgl. Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 1279, fol. 10r und 317v-318r (HC 5348). Mierke, Einleitung, S. 23. Vgl. für den Leipziger Äsop Klaus Grubmüller: Art. ‚Leipziger Äsop‘. In: VL 5, Sp. 690. Vgl. Hans Lothar Markschies: Ein unbekanntes Gedicht Von der werlde ythelkeyt und sein Verfasser. In: PBB 78 (1956), S. 302– 310, hier S. 305. Vgl. für die jeweiligen Texteinheiten ebd., S. 302– 310; Nigel F. Palmer: Art. ‚Visio Philiberti‘. In: VL 10, Sp. 412– 418; Pensel, Ritter, Bürger, Bauer. Zu dem Streitgespräch zwischen personifizierten Tugenden und Lastern am Ende des Kodexes vgl. Mackert, Leipziger Textsammlung, S. 223. Vgl. Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 1279, fol. 317v (HC 5348); vgl. a. die Übersetzung in die Volkssprache auf fol. 318r. Vgl. ebd., ab fol. 135v.
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Schwanjünglingen) mehr oder weniger lose dem Erzähltyp der ‚unschuldig verfolgten Frau‘ zuordnen, der von schuldlos in Bedrängnis geratenen, sich gegen jede Gefährdung behauptenden Heldinnen handelt.³⁵⁰ In der Forschung werden meist Duldsamkeit und Passivität der Heldin betont, das massive Leiden, das sie bis zur Selbstaufgabe demütig auf sich nimmt.³⁵¹ Ein Extrembeispiel hierfür liefert die Geschichte von Grysildis, deren Gehorsam und Treue von ihrem Mann Walterius immer radikaler bis hin zur (angeblichen) Tötung der eigenen Kinder und Verstoßung geprüft werden. Sie wird in Incipit und Excipit zur erbaulichen Ehelehre funktionalisiert,³⁵² moraldidaktisch beharrt der Verfasser, wie Fritz Peter Knapp hervorhebt, „auf der bei Petrarca zurückgedrängten direkten moralischen Vorbildlichkeit, offenbar ohne das Monströse dieser Ehelehre gewahr zu werden.“³⁵³ Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass ein Spezifikum, das den Erzähltyp von anderen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stoffen abhebt, darin besteht, dass regelmäßig eine weibliche Heldin im Mittelpunkt der Haupthandlung steht,³⁵⁴ die sich bewährt, Kraft und Standhaftigkeit beweist.³⁵⁵ In der Forschung werden die Termini „Rehabilitierung“³⁵⁶ oder „Wiederherstellung“³⁵⁷ verwendet, um den finalen Handlungspunkt zu kennzeichnen, mitunter vollzieht sich narrativ allerdings eher eine Spiralbewegung, die die Heldin erhöht, denn eine einfache Kreisbewegung, die den status quo ante wiederherstellt.³⁵⁸ So ist die Geschichte von Grysildis bei genauer Betrachtung eine Aufstiegsgeschichte, nicht nur, weil das arme Bauernmädchen zur Adligen avanciert, sondern auch und vor allem weil sie allein durch ihre Resistenz gegenüber den Prüfungen ihres Mannes am Ende paradoxerweise unschuldiger, demütiger und treuer erscheint als zuvor. Vgl. Moser-Rath, Frau, Sp. 113. Vgl. ebd., Sp. 113 f.; Frenzel, Motive, S. 238. Vgl. Leipziger Griseldis. In: Griseldis. Apollonius von Tyrus. Hrsg. von Carl Schröder, Leipzig 1873 (Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung vaterländischer Sprache und Althertümer in Leipzig 5,2), S. 1– 21, hier S. 3, Z. 1 ff.; S. 21, Z. 28 ff. Vgl. hierzu Christa Bertelsmeier-Kierst: Griseldis in Deutschland. Studien zu Steinhöwel und Arigo, Heidelberg 1988 (GRM Beihefte 8), S. 137 f.; Dies.: Steinhöwels Griseldis im Kontext europäischer Hofkultur des 15. Jahrhunderts. In: Die deutsche Griselda. Transformationen einer literarischen Figuration von Boccaccio bis zur Moderne. Hrsg. von Achim Aurnhammer/Hans-Jochen Schiewer, Berlin, New York 2010 (Frühe Neuzeit 146), S. 73 – 92, hier S. 74. Knapp, Leipziger Apollonius, Sp. 693; vgl. a. Christa Bertelsmeier-Kierst: Übersetzungsliteratur im Umkreis des deutschen Frühhumanismus. Das Beispiel Griseldis. In: WolframStudien 14 (1996), S. 323 – 343, hier S. 330 und 341. Vgl. Black, Accused Queens, S. 3 f. Moser-Rath, Frau, Sp. 113. Stiller, Ehefrau, S. 23. I. O. „reinstatement“; Black, Accused Queens, S. 2. Vgl. Kiening, Unheilige Familien, S. 88.
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Auch wenn es aus moderner Perspektive befremden mag, das Frauenbild in der Erzählung ist positiv, Demut führt zu Erhöhung.³⁵⁹ Noch häufiger, nahezu regelhaft, werden in dem Kodex Vater-Tochter-Beziehungen thematisch, was ebenfalls Bezüge zur Inzestthematik zulässt. Wo die Apollonius-Handlung den Inzest mit positiven Vater-Tochter-Beziehungen auf einer Spiegelachse kontrastiert, bietet der Leipziger Kodex eine ganze Fülle an Kontrastfolien. Auch der Vater in Der Jude und das Pfund Fleisch ist ein Witwer, er lässt seiner Tochter aber anders als Antiochius und ebenso wie Archistrati eine umfassende Bildung zukommen. Die Erzählung profiliert den Bildungsaspekt, wie Kerstin Losert betont: „Ihr außergewöhnliches Wissen und ihre Klugheit versetzen sie nicht nur in die Lage, den vom Vater ererbten Besitz zu verwalten und zu vergrößern. Sie ermöglichen es ihr auch, ihrem Ehemann mit juristischer Spitzfindigkeit das Leben zu retten.“³⁶⁰ Ähnlich ist Crescentia von Hause aus gebildet, ihr wird, ebenso wie Archistratis im Apollonius und der Heldin in Der Jude und das Pfund Fleisch, die Wahl des Gatten freigestellt.³⁶¹ Auch in Die Vögte von Weida steht eine enge Vater-Tochter-Beziehung im Zentrum. Dass der Vater seiner Tochter (und nicht etwa seinem ebenfalls zur Verfügung stehenden Bruder) die Interimsherrschaft übergibt, zahlt sich am Ende aus, wenn sie ihn aus der Gefangenschaft in Aquitanien befreit. Es dominieren positive Vater-Tochter-Beziehungen, die zum Vorbild gereichen, nicht abschreckende Exempla wie der Casus Antiochius. Dieser Befund ist signifikant, führt man sich traditionelle literarische Vater-Tochter-Beziehungen vor Augen. So unterscheidet Lienert vier Ausprägungen der Tochterrolle in aus der Antike tradierten Erzählstoffen des Mittelalters: „die (mehr oder weniger) gehorsame und verfügbare Tochter; die bis zum Inzest nahe, zu nahe VaterTochter; die rebellierende Tochter, die sich über Elternwillen und Vaterordnung hinwegsetzt; die schutzlose, von ihren Eltern verlassene Tochter.“³⁶² Die wenigsten der im Leipziger Kodex behandelten Töchter lassen sich einer dieser Rollen zuordnen, vielmehr werden weite weibliche Aktions- und Handlungsradien manifest. Frauen sind Retterinnen (Märchen von den Schwanenjünglingen, Der Jude
Vgl. a. Bertelsmeier-Kierst, die über Petrarcas und Steinhöwels Griseldis resümiert, adlige Damen hätten sie „als höchstes Lob wyblichen geschlechts verstanden und geschätzt“; Bertelsmeier-Kierst, Übersetzungsliteratur, S. 339. Kerstin Losert: Überschreitung der Geschlechtergrenzen? Zum Motiv der Frau in Männerkleidern im Dolopathos des Johannes de Alta Silva und anderen literarischen Texten des Mittelalters, Bern 2008 (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters 43), S. 163. Vgl. Die Crescentia-Erzählung aus der ‚Leipziger Kleinepikhandschrift‘ Ms 1279. Hrsg. und übers. von Gesine Mierke. Chemnitz 2013 (Saxofodina 1), S. 29 – 69, hier V. 16 und 21. Lienert, Töchter, S. 10.
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und das Pfund Fleisch, Die Vögte von Weida, Crescentia), Heilende (Crescentia) und Heilige (Crescentia, ³⁶³ Hildegund), sind in großen Handlungsabschnitten auf sich allein gestellt und bewähren sich in einer von Männern dominierten Welt (Apollonius, Märchen von den Schwanenjünglingen, Der Jude und das Pfund Fleisch, Die Vögte von Weida, Crescentia, Hildegund). Dies wird im Gesamtkontext der Handschrift mit einer Vorbildfunktion versehen. Dem Programm des Kodexes entsprechend wird zwar kategorial zwischen zwei Frauentypen unterschieden, den bösen, valschen („unehrenhaften“³⁶⁴) und den fromen („rechtschaffenen“; „ehrlichen“³⁶⁵) Frauen,³⁶⁶ doch ist der Menschenschlag böser Frauen auffällig rar gesät. Dies lässt sich gut am Beispiel der Sieben weisen Meister nachvollziehen, mit dem ein Stoff aufgegriffen wird, der in der Tradition des Dolopathos von Johannes de Alta Silva aus dem 12. Jahrhundert steht, dem die Forschung einen misogynen Einschlag attestiert.³⁶⁷ Die Rahmenhandlung berührt die Inzestthematik, ein Prinz wird von seiner Stiefmutter zu Unrecht der versuchten Vergewaltigung bezichtigt, nacheinander erzählen die Weisen Geschichten, um seine Hinrichtung aufzuhalten und die Intrigantin zu diskreditieren. Zwar findet das Thema weiblicher Machtlust und sexueller Gier in den Beispielerzählungen keinen Nachklang,³⁶⁸ in ihnen geht es aber, so Udo Gerdes, „vor allem um drei Themen: den Wert von Weisheit und Erziehung, die Ränke böser Frauen und das Handeln und Urteilen von Herrschern“³⁶⁹. Dieser genderspezifische Schematismus wird im Leipziger Kodex brüchig. Die Rahmenhandlung wird ausgespart, die Einzelerzählungen selektiv und in geänderter Reihenfolge wiedergegeben.³⁷⁰ Im Prinzip diffamiert nur eine einzige Erzählung das weibliche Geschlecht. In der Senex-Fassung Der König zu Rom verrät die Frau des Helden öffentlich sein Geheimnis, dass er gegen den Befehl des Königs, alle Alten wegen der drohenden Hungersnöte niedermetzeln zu lassen, verstoßen und seinen Vater versteckt gehalten hat, und erweist damit dem von ihrem Mann erhobenen Vorwurf alle Ehre, dass die Ehefrau die schlimmste Feindin des Mannes
In der Leipziger Crescentia tritt allerdings das heiligende gegenüber dem heilenden Moment zurück; vgl. Baasch, Crescentialegende, S. 188 f.; Stiller, Ehefrau, S. 61 f. Vgl. Baufeld, S. 76 Vgl. ebd., S. 96. Im Folgenden wird, sofern nicht anders angegeben, nach dem Teilabdruck der Handschrift bei Haupt zitiert; vgl. hier bes. S. 135 f.; 148 und 156. Vgl. in kritischer Auseinandersetzung mit dem Misogynie-Begriff und älteren Forschungsarbeiten Bea Lundt: Weiser und Weib. Weisheit und Geschlecht am Beispiel der Erzähltradition von den Sieben weisen Meistern (12.–15. Jahrhundert), München 2002, S. 37– 40. Mit Blick auf den Dolopathos vgl. ebd., S. 204. Udo Gerdes: Art. ‚Sieben weisen Meister‘. In: VL 8, Sp. 1174– 1189, hier Sp. 1175. Vgl. Losert, Überschreitung, S. 139.
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sei.³⁷¹ Die Botschaft ist, so Bea Lundt mit Blick auf den Dolopathos, „deutlich geschlechtsspezifisch differenziert. Die Vernichtung der Alten erweist sich als falsch, weil ein Land der Weisheit der lebenserfahrenen Männer bedarf. Weise Väter, nicht Ehefrauen, sind die Bausteine der Gesellschaft.“³⁷² Die Geschichte nimmt im Leipziger Kodex allerdings insofern eine Sonderposition ein, als sie anders als die meisten der Erzählungen in diesem Textteil gerade nicht eine weibliche, sondern eine männliche Figur fokussiert. Vorwurf und Verrat wirken mit Blick auf den Helden direkt funktional und dienen der Rettung, nur auf diesem Weg gelingt es, den König milde zu stimmen und Vater und Sohn vor dem sicheren Tod zu retten. Dass die Botschaft des Textes nicht darin besteht, das weibliche Geschlecht in ein schlechtes Licht zu rücken, wird in der Moraldidaxe deutlich, in der Jugend und Alter, Weisheit und Torheit als zentrale Themen benannt werden, nicht (wie sonst so oft) Frauen.³⁷³ Selbst in der Puteus-Erzählung mit dem sprechenden Titel Von einem bösen Weibe geht es nur vordergründig um die Schlechtigkeit der Frau.³⁷⁴ Zwar werden falsche Liebe und Unkeuschheit der Ehebrecherin wiederholt betont, die Didaxe formuliert aber eine huote-Kritik, die gegen den Ehemann schießt. Im Märchen von den Schwanenjünglingen (Cygni) hingegen mahnt die Moralsentenz an, man möge sich vor bösen Frauen hüten, und gibt mit der intriganten Schwiegermutter ein illustres Beispiel, die der Schwiegertochter aus dem Geschlecht der wünschelwybere ³⁷⁵ („Schwanjungfrauen“) bei der Geburt ihrer Kinder Welpen unterjubelt und sie der Tiergeburt bezichtigt. Ihr gegenüber steht aber die in der Didaxe ebenfalls benannte und zahlenmäßig besser vertretene Gruppe fromer, rechtschaffener Frauen, der die domestizierte Fee und ihre Tochter angehören. Letztere befreit schließlich durch Tapferkeit und Treue ihre zum Schwanendasein verdammten Brüder und führt die Aufdeckung der Intrige herbei.³⁷⁶ Neben den wenigen femininen Antitypen, zu denen auch die Stiefmutter Tarsias im Apollonius zählt, überwiegen damit Prototypen weiblicher Geschlechterentwürfe. Die Kategorisierung als from zielt dabei nicht allein auf Rechtschaffenheit und Gottesfürchtigkeit, sie weitet sich gemäß der Semantik des Wortes auf die Eigenschaftsbereiche „gut“ und „tapfer“³⁷⁷ aus, nicht selten verbirgt sich unter dem Deckmantel des Frommen ein von Klugheit, Selbständigkeit
Vgl. Haupt, Märchen, S. 149 – 154, hier S. 153. Lundt, Weiser, S. 174 Vgl. Haupt, Märchen, S. 154. Vgl. ebd., S. 154 ff. Ebd., S. 129; vgl. insgesamt S. 128 – 136. Vgl. Lundt, Weiser, S. 197. Baufeld, S. 96.
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und Mut geprägter weiblicher Geschlechterentwurf. Wenn etwa die Moraldidaxe in Der Jude und das Pfund Fleisch mahnt: Wer dysse mere wyl rech vornemen, Der darff sich fromer frowen nicht schemen ³⁷⁸, dann bezieht sich das auf eine weibliche Heldin, die gebildet und klug ist, ihren Gatten nicht nur selbst wählt, sondern gleich die ganze Freierprobe stellt, und ihn am Ende verkleidet als Mann erfolgreich vor Gericht vertritt. Das Motiv des Cross-Dressings prägt auch die HildegundLegende,³⁷⁹ der Weg der Heldin unter dem Alias Joseph ist mirakulös und abenteuerlich,³⁸⁰ führt sie von Neuss ins Heilige Land zurück nach Köln, Richtung Rom und schließlich zu einem Männerkloster in Schönau; konfrontiert sie mit Raub und Verrat, Gottesgericht, Entführung und Tötungsversuch. Die Prüfungen atmen das Flair des Abenteuers und werden auch als solche bezeichnet.³⁸¹ In der Erzählung Die Vögte von Weida übersteht die Heldin gar eine âventiure, an der vor ihr die mutigsten Männer scheitern.³⁸² Ohnehin setzen sich Frauen häufig gegen das andere Geschlecht durch. Der Philosoph in der Erzählung Von einem bösen Weibe möchte alle lystikeyt und geschydekeyt der frowen ³⁸³ bannen, indem er seine Ehefrau in einem Turm einsperrt. Am Ende ist es jedoch eben deren Klugheit, die den Sieg davonträgt, wenn es ihr gelingt, einen Ehebruch zu vollziehen, ihren Mann zu täuschen, ihn mit den eigenen Waffen zu schlagen und am Ende ihre Freiheit zu erpressen. Hildegund glänzt vor den Schurken, die sie bedrängen, Crescentia vor den sie verleumdenden Männern, die sie von der Gottesstrafe des Aussatzes heilt. Geschlechtergrenzen werden ausgestellt und überschritten, etwa wenn es über Grysildis heißt, sie habe ein starg menlich herlich gemuete ³⁸⁴, Kühnheit und Mut die Tochter des Vogtes von Weida gegenüber den Rittern auszeichnen,³⁸⁵ oder in der Hildegund-Legende für die Heldin wiederholt die Doppelformel knabe[.] adder mädchen ³⁸⁶ ausgegeben wird. Einige Frauen bleiben unverheiratet,³⁸⁷ beachtlich wenige haben Kinder,³⁸⁸ die Reproduktionsfunktion
Haupt, Märchen, S. 148; „Wer diese Erzählung richtig verstehen will, der darf sich rechtschaffener Frauen nicht schämen.“ Vgl. insgesamt S. 143 – 149. Vgl. für die lateinische Hildegund-Literatur Andrea Liebers: „Eine Frau war dieser Mann“. Die Geschichte der Hildegund von Schönau, Zürich 1989, S. 61– 67. Vgl. Franz Josef Worstbrock: Art. ‚Hildegund von Schönau‘. In VL 4, Sp. 4– 8, hier Sp. 7. Ebenthuer; Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 1279, fol. 310v (HC 5348). Vgl. Haupt, Märchen, S. 157– 163. Ebd., S. 154; „alle Klugheit und Gefährlichkeit der Frauen“. Leipziger Griseldis, S. 6, Z. 19 f.; vgl. a. S. 6, Z. 32 f.; „sehr männliches, herrenmäßiges Gemüt.“ Vgl. Haupt, Märchen, S. 161. Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 1279, fol. 307r (HC 5348); vgl. a. fol. 308r; „Junge oder Mädchen“. Neben der heiligen Hildegund die Tochter in Die Vögte von Weida.
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steht nicht im Mittelpunkt. Sichtbar werden weibliche Aktionsradien, die temporär oder langfristig von männlichen Bezugspersonen abgekoppelt sind, was Handlungsspielräume eröffnet, in denen Frauen gesellschaftliche Funktionen erfüllen, die üblicherweise Männern zustehen. Sie übernehmen Erbe (Der Jude und das Pfund Fleisch), Herrschaftsgeschäfte (Grysildis, Die Vögte von Weida), politisch relevante Entscheidungen (Crescentia), Kurien- und Gerichtsaufträge (Hildegund, Der Jude und das Stück Fleisch). Wo Männer versagen, bestehen sie (Grysildis, Der Jude und das Pfund Fleisch, Von einem bösen Weibe, Die Vögte von Weida). Die im Gesamtkontext des Kodexes angelegte Spiegel- und Kontrastfolie manifestiert sich dabei auch auf der Ebene textinterner Emotionen, die mögliche Bezüge zum Apollonius komplettieren. So wird enge Verwandtschaft als emotionaler Binnenraum imaginiert, besonders im Märchen von den Schwanenjünglingen, in dem das Prinzip verwandtschaftlicher Liebe naturalisiert wird.³⁸⁹ In den Beispielerzählungen der Sieben weisen Meister äußert sich die (späte) Einsicht der Protagonisten, wie Lundt konstatiert, „meist in einer emotionalen Leistung“³⁹⁰. Emotionen können aber auch wie im Fall des Antiochus zum Verhängnis werden. Die Ehefrau in der König zu Rom verrät das Geheimnis in der Hitze des Zorns, hervorgerufen durch die öffentliche Kränkung ihres Mannes.³⁹¹ Dabei erhält insbesondere die Inzestthematik durch die Gestaltung textinterner Emotionen ergänzend zum Apollonius Kontur. Grysildis und ihr Vater Yanicola etwa sind in kintlicher unde veterlicher libe ³⁹² verbunden, was sie von Antiochus’ falscher Liebe absetzt. Die im Leipziger Apollonius stark gemachte Sinnebene, dass Emotionen inzestuöses Begehren motivieren, findet sich in der Leipziger Crescentia fortgesetzt. Sie ist durchdrungen vom Rachegedanken,³⁹³ der zurückgewiesene Schwager Dietrich hegt heymelichen haß ³⁹⁴ („verborgenen Neid/Hass“) gegen die Heldin, was Inzestversuch und erste Verleumdung motiviert, die zweite Verleumdung geht auf den Neid des Verwalters am Herzoghof zurück, an dem die Heldin Zuflucht findet. Emotionen dienen dabei, was wiederum eine Analogie zu
Neben Archistratis sind nur Grysildis, die Fee im Märchen von den Schwanenjünglingen sowie die Ehefrau in Der König zu Rom Mütter. Vgl. Haupt, Märchen, S. 131 und 133 f.; vgl. hierzu a. Lundt, Weiser, S. 193 und 196. Ebd., S. 204. Vgl. Haupt, Märchen, S. 153. Leipziger Griseldis, S. 6, Z. 26. Vgl. Thomas Möbius: Studien zum Rachegedanken in der deutschen Literatur des Mittelalters, Frankfurt a. M. u. a 1993 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1395), S. 113 ff. Leipziger Crescentia, V. 24; vgl. für Folgendes a. V. 239 – 242.
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Antiochus’ Tochter darstellt, zum Teil als geschlechtsspezifisch geprägte Marker, die Frauen positiv von Männern abheben. Signum der Crescentia etwa ist, dass sie das aus der Rache des Schwagers und dem Neid des Verwalters resultierende Unrecht gemäß christlicher Ideale erduldet, ihr Verzicht auf Rache führt in einer Welt, in der Gott als Richter agiert, zu Gerechtigkeit.³⁹⁵ Signum der Grysildis wiederum ist, dass sie an keiner Stelle emotional auf die Zumutungen ihres Mannes reagiert, keine noch so harte Prüfung vermag sie zu betrüben oder Zeichen der Trauer zu provozieren.³⁹⁶ Dieses Merkmal ist ihre vorzügliche Eigenschaft und hebt sie von allen anderen Protagonisten, einschließlich ihres Ehemannes, ab.³⁹⁷ Dieser Einschlag ist bereits bei Petrarca angelegt, wie sich mit Christa Bertelsmeier-Kirst sagen lässt: „Sie verfällt weder anläßlich ihres Glücks in superbia, noch läßt sie sich im Unglück durch accidia niederdrücken.“³⁹⁸ Durch kleinere Zusätze verleiht der Verfasser der Leipziger Griseldis dieser Grundarchitektur jedoch eigene Züge, wenn er die ausbleibende emotionale Reaktion der Heldin kommentiert, si hett aber wol mocht sprechen ‚owe des rates mines mannes! owe der sweren stunde! owe des bittern ambligkes disses knechtes!‘ ³⁹⁹, wozu Bertelsmeier-Kirst anmerkt: Hatte Petrarca die Beherrschung der Affekte als philosophisches Ideal in den Mittelpunkt gestellt, beschreibt der deutsche Verfasser nun Griseldis’ innere Reaktion und billigt ihr damit gewisse menschliche Emotionen zu, die dem Leser eine größere Identifikationsmöglichkeit mit der Figur dieses Exempels erlauben […].⁴⁰⁰
Dabei sind es weniger Emotionen der Heldin, die hier geschildert werden, als vielmehr Emotionen, die normalerweise in Reaktion auf die Zumutungen ihres Gatten zu erwarten wären, wie die Verwendung des Konjunktivs anzeigt. An Grysildis und Crescentia wird das Hiob-Thema durchdekliniert; die Emotionslosigkeit, mit der sie auf Prüfungen und Gefahren reagieren, ist funktional und zeichnet sie mit heiligenmäßigen Zügen aus. So lässt sich zusammenfassend sagen, dass der Leipziger Apollonius in der Vorgeschichte zwar sehr nah an der Historia bleibt, jedoch Emotionen wie die Wut
Vgl. Möbius, Studien, S. 113 – 116. Vgl. etwa Leipziger Griseldis, S. 11, Z. 5 f. Allein das Gute vermag sie emotional zu berühren; vgl. S. 21, Z. 3 – 10. Vgl. ebd., S. 17, Z. 26 – 34; S. 18, Z. 1 ff. und Z. 20 – 23. Bertelsmeier-Kierst, Griseldis, S. 131. Leipziger Griseldis, S. 11, Z. 32 ff., „Sie hätte sehr gut sagen können: ‚Oh weh über den Rat meines Mannes! Oh weh der schweren Stunde! Oh weh über den bitteren Anblick dieses Knechtes!‘“ Bertelsmeier-Kierst, Griseldis, S. 154.
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des Vaters, das Leid der Tochter, den Trost der Amme, Zorn und Hass des Königs sowie die Furcht des Helden hinzufügt, welche die Handlung dynamisieren und Motivationslücken schließen. Ebenfalls hinzugefügt werden qualifizierende Adjektive, die anstelle expliziter Kommentare Normierung leisten und das inzestuöse Begehren als böse, falsch und grausam bewerten. Sie folgen einer Redeweise von Reinheit und Befleckung, es ist also ein religiöser Grundeinschlag zu beobachten, was den einem klösterlichen Kontext entstammenden Verfasser mit den ebenfalls theologisch geschulten Zeitgenossen Lorichius und Spreng verbindet. Innerhalb dieser christlichen Prägung aber wird im Gesamtkontext der Handschrift eine Vielzahl weiblicher Geschlechterentwürfe aufgerufen, die sich durch Aktivität, Mut und Klugheit auszeichnen. Obgleich Klebs die Bearbeitung des Apollonius-Stoffes im Leipziger Kodex „unter den prosaischen zu den besten zählt“⁴⁰¹, steht sie in ihrer Zeit, wie Makkert resümiert, „offenbar völlig isoliert“ und entwickelt „keine breite Rezeption“⁴⁰². Der Leipziger Apollonius belegt allerdings, so Tomasek, ein „Interesse am Apollonius-Stoff in volkssprachlichen literarisch interessierten Kreisen“⁴⁰³. Dieses Interesse wird im 15. Jahrhundert maßgeblich durch die Konkurrenzschrift von Heinrich Steinhöwel bedient, mit der die Untersuchung nun abgeschlossen werden soll.
8.3 Heinrich Steinhöwel: Appolonius Etwa zeitgleich mit dem Leipziger Apollonius nimmt Heinrich Steinhöwel seine Arbeit an dem Stoff auf.⁴⁰⁴ Steinhöwel kommt im Laufe seiner Studien, die er zeitweise in Padua absolviert, mit den Schriften von Boccaccio, Petrarca und anderen italienischen Humanisten in Kontakt und macht sich in der Folge mit der Übertragung antiker Stoffe in die Volkssprache um den süddeutschen Frühhumanismus verdient.⁴⁰⁵ Sein Prosastück Appolonius fußt auf zwei Quellen, Gottfrieds von Viterbo Pantheon, das Steinhöwel im Nachwort als Quelle angibt, und den Gesta Romanorum. ⁴⁰⁶ Damit operiert Steinhöwel mit zwei Quellen, die unter
Klebs, Erzählung, S. 509. Mackert, Leipziger Textsammlung, S. 226 f. Tomasek, Rätsel, S. 204 Im Folgenden im Fließtext zitiert nach der Ausgabe Heinrich Steinhöwels Apollonius. Edition und Studien. Hrsg. von Tina Terrahe, Berlin, Boston 2013 (Frühe Neuzeit 179), S. 151– 249. Vgl. Melzer, Nachwort, S. III; Terrahe, Apollonius, S. 14 f. Vgl. Klebs, Erzählung, S. 493. Dies vermutet schon Bartsch; vgl. Karl Bartsch: Heinrich Steinhöwels Apollonius. In: Germanistische Studie. Supplement zur Germania 2 (1875), S. 305 –
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gattungsmäßigen Gesichtspunkten ganz unterschiedlich auf den Stoff zugreifen, ihn im Fall des Pantheon ‚historisieren‘,⁴⁰⁷ der Gesta Romanorum ‚moralisieren‘.⁴⁰⁸ Obgleich Steinhöwel in seinem Prolog vorgibt, [e]igen gedicht wer mir zeschwer / Latin zetútschen ist min ger ⁴⁰⁹ (V. 19 f.), reicht seine Bearbeitung weit über eine reine Übersetzungstätigkeit hinaus. Er überträgt den Text mehr sinngemäß als wörtlich und setzt eigene Akzente in der Bearbeitung, agiert, so Tina Terrahe, als interpres, „dem es um eine eigene literarische Adaptation des Stoffes geht.“⁴¹⁰ Helmut Melzer beobachtet ein „Bestreben des Bearbeiters […], die Handlungsweise der Personen moralisch eindeutig zu bewerten“, daneben fänden sich Zusätze zum besseren Textverständnis, „in denen die Handlungsweise der Personen genauer motiviert oder durch drastische Darstellung hervorgehoben wird.“⁴¹¹ Terrahe kommt in diesem Rahmen auch auf Emotionen zu sprechen: Mit der erklärten Absicht, seinen Leser zu Identifikation, Mitgefühl und rechtem Lebenswandel anzuleiten, indem er ihm mit den dargestellten Personen gute wie abschreckende Beispiele zur Hand gibt, richtet er sich jeweils nach der Quelle, die ihm für seine Zwecke am geeignetsten erscheint. Bietet keine der Quellen die notwendige Lesehilfe, so fügt er den moralisierenden Kommentar selbst hinzu. Diese über seine Quelle hinausweisenden Einschübe […] schildern Emotionen der handelnden Personen oder geben Erklärungen für logische Schwachpunkte im Handlungsgefüge.⁴¹²
Vor diesem Hintergrund ist in der Analyse zu fragen, an welchen Stellen und mit welchem Effekt Steinhöwel dem Pantheon oder den Gesta Romanorum folgt oder aber eigene Zusätze bringt, die textinterne und textexterne Emotionen betreffen.
312, hier S. 307. Singer plädiert aufgrund kleinerer Abweichungen von beiden Basistexten für eine den Gesta nahestehende eigenständige Quelle; vgl. Singer, Appolonius, S. 201; wofür er sich von Klebs den Vorwurf einhandelt, ob denn Steinhöwel „ein vollkommener Idiot“; Klebs, Erzählung, S. 502; gewesen sei, dass er die gemeinten Textstellen nicht selbst interpoliert haben könnte. Klebs erbringt den endgültigen Nachweis, dass Steinhöwel mit einer Handschrift der Gesta Romanorum gearbeitet haben muss; vgl. ebd., S. 494– 503; Melzer, Nachwort, S. VIII. Die genaue Quelle identifiziert Terrahe mit der Wolfenbütteler Handschrift 24.5; vgl. Terrahe, Apollonius, S. 9. Vgl. Archibald, Apollonius, S. 185. Vgl. Melzer, Nachwort, S. II. Sinngemäß: „Ein eigenes Gedicht [zu verfassen] wäre mir zu schwer, Latein ins Deutsche zu übersetzen ist mein Wunsch.“ Terrahe, Apollonius, S. 96; vgl. a. S. 7; sowie Melzer, Nachwort, S. IV; Lienert, Antikenromane, S. 173. Melzer, Nachwort, S.Vf.Vgl. a. Ertzdorff, Romane, S. 56; Lienert, Antikenromane, S. 174. Terrahe, Apollonius, S. 83; vgl. a. S. 100.
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In diesem Rahmen kann für die Analyse konkreter Rezeptions-Spuren auf reiches Material zurückgegriffen werden. Die Überlieferung von Steinhöwels Appolonius gibt ein eindrückliches Beispiel für die mediale Übergangssituation im Bereich der Buchproduktion und -distribution im 15. Jahrhundert.⁴¹³ Der Text ist zunächst handschriftlich verbreitet und in fünf Textzeugen überliefert, 1471 erfolgt die erste Drucklegung bei Günther Zainer in Augsburg, der bald zahlreiche folgen, alle späteren Handschriften sind Druckabschriften dieser oder anderer Auflagen.⁴¹⁴ Während bei den Handschriften nur Handschrift W mit sechs kolorierten Federzeichnungen ausgestattet ist,⁴¹⁵ sind die Drucke ab der zweiten Ausgabe bei Johann Bämler mit Holzschnitten versehen. Sie zeichnen sich nach Joachim Knape durch eine besonders intensive Illustrierung aus, in der Ausgabe von Anton Sorg etwa ist mit 35 Holzschnitten auf 72 Blättern nahezu jedes zweite Blatt bebildert.⁴¹⁶ Rasch bildet sich ein fester Motivbestand aus: Die Überlieferung der ‚Apollonius‘-Drucke ist ein anschauliches Beispiel für die enge Zusammenarbeit der Drucker Günther Zainer, Johann Bämler, Anton Sorg und Johann Schönsperger. Das Verhältnis der Augsburger Buchdrucker untereinander war nicht nur durch Wettbewerb geprägt, sondern man nutzte auch gemeinsame Vertriebssysteme, gab Holzschnitte aneinander weiter und verkaufte oftmals nicht nur die eigenen Werke, sondern auch die der anderen ortsansässigen Drucker.⁴¹⁷
Im 16. Jahrhundert kommt Bewegung in die ikonographische Tradition, einen teilweise abweichenden Motivbestand findet man etwa in der Ausgabe von Hans Zimmermann, einen nahezu gänzlich anderen bei Matthias Hupfuff.⁴¹⁸ Sie sind allerdings nicht als Innovationen zu bezeichnen – während die frühen Holz Vgl. ebd., S. 7; 33 und 140. Vgl. ebd., S. 106 – 110; als Grundlage für die dort angegebenen Siglen der erhaltenen Handschriften: Hs D (Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 150, 1468); Hs W (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. 75.10 Aug. 2°, 1468); Hs D1 (Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 86, um 1470 – 1480); Hs T (Biblioteca Comunale Trento, Cod. 1951, 1488); Hs V (ÖNB/Wien Cod. 4119, Ende 15. Jhdt.); ohne Sigle (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Hs. Merkel 2° 966, 1524– 26). Zu Gesamtüberlieferung vgl. a. S. 111– 126 und 140; im Überblick a. Melzer, Nachwort, S. V; MRFH 43502. Vgl. KdiH 1, S. 257. Vgl. Joachim Knape: Augsburger Prosa-Drucke des 15. Jahrhunderts. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Johannes Janota/Werner WilliamsKrapp, Tübingen 1995 (Studia Augustana 7), S. 330 – 357, hier S. 341. Terrahe, Apollonius, S. 141. So nutzt Anton Sorg die identischen Holzschnitte wie Johann Bämler, von denen Johann Schönsperger spiegelverkehrte Nachschnitte anfertigen lässt, die dann auch der Ulmer Konrad Dinckmut und später Johann Zainer verwenden; vgl. ebd., S. 144. Vgl. Straßburg: Matthias Hupfuff, 1516 (VD16 A 3135); vgl. hierzu a. MRFH 33506; Augsburg: Hans Zimmermann, 1552 (VD16 A 3136); vgl. hierzu a. MRFH 33512.
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schnitte eigens für den Text angefertigt werden, wird nun aus einem Bestand geschöpft, aus dem die einzelnen Szenen mehr schlecht als recht mit existierenden Holzschnitten versehen werden. Damit steht eine breite Materialbasis zur Verfügung, die den Grundstock für die nun folgenden Überlegungen gibt.
8.3.1 Prolog und Vorrede: Belehrung durch Geschichte Steinhöwels Appolonius beginnt mit zwei Paratexten. In einem versifizierten Prolog (vgl. V. 1– 50) sind Name, Herkunft und Beruf Steinhöwels sowie das vermutliche Entstehungsjahr des Textes, das Terrahe neu auf 1460 datiert, in einem Akrostichon genannt.⁴¹⁹ Er formuliert einen didaktischen Bildungsanspruch, der die Jugend als Publikum intendiert (vgl. V. 25 – 29), so dass die Rezeption in eine unterweisende und belehrende Richtung gelenkt wird. Doch gilt dies nur für die Zainer- und ihm folgende Drucke und Handschriften, da der Prolog erst mit der dortigen Drucklegung 1471 hinzugefügt wird.⁴²⁰ Älter hingegen ist die prosaische vorred. Sie verortet die Erzählung durch historische Bezüge zur Bibel und zum Alexanderroman in Raum und Zeit (vgl. Z. 55 – 194). Die geschichtlichen Angaben sind dem Pantheon entnommen,⁴²¹ „durch die Anwendung traditioneller Historizitätssignale präsentiert Steinhöwel […] den ‚Appolonius‘ als authentische Herrscherbiographie“⁴²², was eine Rezeption der Erzählung als historische Begebenheit begünstigt. Die Vorrede exponiert, so Eming, dynastische und herrschaftspolitische Aspekte, und situiert Held und Antiheld in den großen Genealogien der Vergangenheit.⁴²³ Ergänzen ließe sich, dass diese Situierung in zwei Stoßrichtungen erfolgt, die ihrerseits ein Programm für den jeweiligen Protagonisten vorgeben. Tyrus und Sidonia werden im Rahmen der Eroberungszüge Alexanders eingangs erwähnt und tauchen am Ende der Vorrede als Herkunftsund Herrschaftsländer des Appolonius wieder auf (vgl. V. 73 f. und 182 f.). Sie sind die loci der Weltgeschichte, an denen der Weg des Helden beginnt. Die genealogische Herleitung hingegen bezieht sich primär auf Antiochus. Nach dem Tod Alexanders des Großen wird dessen Reich in zwölf Teile geteilt, von dem Antiochus Ahnvater einen Teil bestehend aus Syrien, Babylon und Antiochia erhält
Vgl. Terrahe, Apollonius, S. 13 f.; vgl. hierzu a. Bartsch, Heinrich, S. 305 f.; Melzer, Nachwort, S. II. Vgl. hierzu a. Terrahe, Apollonius, S. 31. Vgl. hierzu Singer, Appolonius, S. 197; Klebs, Erzählung, S. 494 f. und 497; Melzer, Nachwort, S. IV. Terrahe, Apollonius, S. 79. Vgl. Eming, Inzestneigung, S. 30.
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(vgl. Z. 135). Geboren aus dem Geschlecht der Seleukiden, verheiratet mit einer Tochter des Antipatris (vgl. Z. 201 f.), einem Geschlecht, das ebenfalls seit dem Tod Alexanders über Griechenland herrscht (vgl. Z. 134 f.), trägt Antiochus somit die Verantwortung für den Fortbestand geschichtsträchtiger Genealogien. Im historischen Resonanzraum diffundieren dabei verschiedene geschichtliche Begebenheiten, die mit dem Namen Antiochus verknüpft sind und die eine normative Bewertung des Antihelden nahelegen. Über das Geschlecht der Seleukiden und der Antipatriden sowie den älteren und den jüngeren Antiochus wird implizit jene Geschichte aufgerufen, die sich um die Doppelehe Stratonikes mit Vater und Sohn rankt, und die, wie im Kapitel zu Heinrich von Neustadt dargelegt, nach Müller gegebenenfalls ursprünglich mit der Historia verknüpft war.⁴²⁴ Der ältere Antiochus entspricht darüber hinaus der historischen Gestalt Antiochus IV. Epiphanes,⁴²⁵ der gegen die Juden ins Feld zog, was im Text negativ bewertet wird (vgl. Z. 164– 180). Auch der Vater-Tochter-Inzest, der sich im Speziellen mit dem literarischen Antiochus der Historia verbindet, wird proleptisch erwähnt und als vnzimliche ding (Z. 181: „unangemessene Sache“) antizipiert, was die Negativhaltung Antiochus gegenüber weiter schürt. Doch erst in Kombination mit dem späteren Prolog in den Drucken und ihnen anhängigen Handschriften ergibt sich eine dezidiert didaktisch situierte Rezeptionssituation – Geschichte dient der Belehrung.
8.3.2 Mütterlicher Wunsch und väterliche Liebe gegen die Ordnung Ebenfalls druckspezifisch ist, dass der Beginn der eigentlichen Erzählung mit einer Überschrift markiert ist. Die älteste überlieferte Handschrift D, der Karlsruher Kodex Cod. Donaueschingen 150, kennt noch kein gliederndes Überschriftensystem, stellt die Vorgeschichte mit einem Incipit jedoch in einen spezifischen Kontext: Hie vachet an Appolonius vngefell ⁴²⁶. Das mit roter Tinte geschriebene Incipit ruft die Fortuna-Thematik auf, die ein wesentliches Ordnungsprinzip in Steinhöwels Apollonius bereitstellt,⁴²⁷ an deren Rad die Vorgeschichte zuungunsten des Helden dreht. Handschrift D unterteilt den Text bereits durch Initialen in kürzere Kapitel, die im Erstdruck bei Zainer mit Überschriften versehen werden; ein Strukturmodell, das weder im Pantheon noch in den Gesta Ro Vgl. Müller, Romanheld, S. 269 ff. Siehe ausführlich Kap. 8.1.4. Zu Antiochus IV. Epiphanes vgl. Kursawa, Antichristsage, S. 51 f., Rauh, Bild des Antichrist, S. 37. Hs D zitiert nach Terrahe, Apollonius, S. 163, Anm. 197. Vgl. Bachorski, grosse vngelücke, S. 72.
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manorum ein Vorbild findet.⁴²⁸ Nach Melzer sollen die Überschriften „durch ihren vorausdeutenden Inhalt […] zu einer Integration des Erzählten beitragen“⁴²⁹. Dies macht bemerkenswert, dass der Inzest nicht angekündigt wird, wie es dann in Drucken des 16. Jahrhunderts der Fall ist, wenn der Straßburger Drucker Matthias Hupfuff 1516 titelt Hie nach beſchlieff Antiochus den man nent Seleceus ſein leyblich tochter / über iren willen ⁴³⁰ und damit leibliche Verwandtschaft, Gewalt und Zwang prospektiv in das Kaleidoskop der Rezeption setzt oder der Magdeburger Johann Francke um 1600 als Überschrift druckt Wie der König Antiochus zu ſeiner Tochter in die Kammer gieng / vnd ſie beſchlieff ⁴³¹, womit die Inzestthematik und der Vater als treibende Kraft in den Fokus gerückt werden. Nicht so in den Zainer- und ihnen anhängigen Textzeugen, die die Inzestthematik weder hier noch an späterer Stelle in Überschriften benennen. So verspricht der Zainer-Druck stattdessen, [h]ie hebet an die hystori von appolonio der ain kúng in tiria vnd sidonia was ⁴³², dabei tritt der Held in diesem Erzählabschnitt noch gar nicht in Erscheinung. Vielmehr werden zunächst allein Antiochus, seine Frau und seine Tochter eingeführt, auf der das Hauptaugenmerk liegt. Sie ist überschöne (Z. 202), nach künglichen eren wol vnd schon erzogen ⁴³³ (Z. 203), just in dem Moment, in dem sie manbar (Z. 203) wird, verstirbt ihre Mutter. Damit nimmt Steinhöwel gleich zu Beginn eine folgenreiche Umdeutung vor, die er nicht aus seinen Quellen haben kann. Die Gesta Romanorum berichten, Antiochus habe mit seiner Frau ein Kind gezeugt,⁴³⁴ lassen die Figur dann aber fallen, so dass der Inzest im Prinzip zu Lebzeiten der Mutter stattfindet. Gottfried von Viterbo erwähnt nur, dass die Tochter von einer verstorbenen Mutter abstammt.⁴³⁵ Steinhöwel nun narrativiert das Motiv, die Mutter leidet an einer tödlichen Krankheit, Bestattung und Totenklage werden geschildert (vgl. Z. 204 ff.). Steinhöwel geht also noch einen Schritt weiter als Heinrich von Neustadt. Indem das Sterben der Mutter detailliert wird, tritt die Szene plastisch vor Augen. Über das reine Todesmotiv hinaus werden mit Krankheit und Beerdigung weitere Stimuli gesetzt, die als anthropologische Konstanten in sich emotional aufgeladen sind. Potentielle textexterne Emotionen finden somit ein narratives Vorbild in der geschilderten Totenklage, die Detaillierung dient der Dramatisierung. Dabei verschiebt sich die
Vgl. Terrahe, Apollonius, S. 139. Melzer, Nachwort, S. V. Straßburg: Matthias Hupfuff, 1516 (VD16 A 3135), fol. 5v. Magdeburg: Johann Francke, um 1600 (VD16 ZV 30895), fol. 5v. Terrahe, Apollonius, Anm. zu Z. 199, S. 163. „[…] nach königlichen Ehren gut und anständig erzogen […].“ Vgl. Gesta Romanorum 153, S. 510, Z. 24. Vgl. Gottfried von Viterbo, Pantheon 11, 1, S. 162.
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textinterne Logik. Auf dem Totenbett formuliert die dahinscheidende Königin einen merkwürdigen letzten Wunsch, wenn es heißt, [s]ie befalch insunderhait dem uatter ir liebes kind inerclichen vnd verschied ⁴³⁶ (Z. 204 f.). Damit wird der von Bennewitz beschriebene Zusammenhang vom Tod der Mutter als „Ausgangspunkt für die Bedrohung der Tochter“⁴³⁷ in Steinhöwels Fassung deutlicher als in den bisher besprochenen Varianten profiliert, ihr ausdrücklicher Wunsch stellt die Weichen für die (zu) enge Beziehung. Dieser Konnex wird auch in den in der Folge Bämlers bebilderten Drucken exponiert. Die einleitende Überschrift wird von einem Holzschnitt begleitet, der den letzten Wunsch der Mutter einfängt. Die sterbende Königin liegt nackt, aber gekrönt im Krankenbett, mit der rechten Hand hält sie die Hand ihres auf der Bettkante sitzenden Mannes, dem sie mit der linken die neben ihr stehende Tochter ‚übergibt‘.⁴³⁸ Die Blickrichtungen gehen vom Vater auf die Mutter und von der Mutter auf die Tochter, die ihren Blick erwidert. Obgleich die Illustration im wahrsten Sinne des Wortes holzschnittartig ist, kommen in ihr Emotionen zum Ausdruck, die schematisiert, dadurch aber umso leichter zu dechiffrieren sind. Trauer zeichnet die Gesichter aller Protagonisten, die Mundwinkel hängen ebenso wie die äußeren Augenwinkel und Augenbrauen nach unten, die Augenlider sind gesenkt.⁴³⁹ Im Münchner Exemplar lassen sich darüber hinaus Tabuisierungstendenzen nachweisen. Der nackte Körper der Königin, bis zum unteren Brustansatz sichtbar, ist grün übermalt, so dass es scheint, als trüge sie ein Kleid.⁴⁴⁰ Da die Holzschnitte in diesem Exemplar nur halbherzig und ausgesprochen selektiv koloriert sind,⁴⁴¹ liegt die Vermutung nah, dass die Färbung allein dem Zweck dient, die Nacktheit der Königin zu übertünchen, zumal es sich um die einzige kolorierte Miniatur in der Vorgeschichte handelt. Wird der Zusammenhang vom Tod der Mutter und Inzest in Text und Bild somit bei Steinhöwel besonders betont,⁴⁴² entsteht das inzestuöse Begehren in der
„Insbesondere vertraute sie dem Vater ihr liebes Kind inniglich an und verstarb.“ Bennewitz, Mädchen, S. 161. Vgl. Augsburg: Johann Bämler, 1476, fol. 9r (GW 2274); vgl. hierzu a. MRFH 20190; Ulm: Konrad Dinckmut, 1495, fol. 74v (GW 2277); vgl. hierzu a. MRFH 20230. Zur Typik des Gesichtsausdrucks von Trauer vgl. Ekman, Gefühle lesen, S. 135 f. Vgl. Bayerische Staatsbibliothek München, 4 Inc.c.a. 77 m-2, fol. 9r (GW 2274; BSB-Ink L-90). Vgl. Terrahe, Apollonius, S. 120. Der Bildbezug gilt nicht für alle Drucke. So zeigt der Holzschnitt bei Hupfuff eine im Bett liegende, dahindarbende Königin oder Prinzessin, zur linken steht ein König, zur rechten ein adliger Mann, der einen Brief in der Hand hält; vgl. Straßburg: Matthias Hupfuff, 1516 (VD16 A 3135), fol. 5r. Denselben Holzschnitt verwendet Hupfuff bei der Szene, in der Cleopatra liebeskrank wird, zu der er wesentlich besser passt; vgl. ebd., fol. 18r. Bei Zimmermann, der zum Teil tradierte, zum Teil fremde Holzschnitte einfügt, sind ein König und eine Dame im Gespräch ab-
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Folge ebenso wie in der Historia, während Antiochus bei der Freierwahl überlegt, welchen Werber er wählen soll. Dies lässt den Erzähler narrativ den Kopf schütteln, wais ich nit, von was vngerechter vnuätterlicher begirde vnd scharpffem flammen er enzündet ward in vnordelicher liebi siner tochter, mer wann ainem vngesiptem zimlich wer, ich geschwig aines vatters ⁴⁴³ (Z. 211– 214). ‚Ich’-Aussagen sind in dem Werk eher selten, Kommentare finden sich jenseits von Vorrede und Nachwort kaum, Exkurse wie bei Heinrich von Neustadt gar nicht. Umso bemerkenswerter, dass sich der Erzähler ausgerechnet bei der Entstehung des Begehrens zu Wort meldet. Die Textstelle ist nicht allein tabutypischer Topos, bei dem sich der Erzähler von der Geschichte, die er zu erzählen hat, distanziert, sie gibt den Blick frei auf die Auseinandersetzung Steinhöwels mit seinen Quellen. Was den Gesta Romanorum als Motivation für den Vater-Tochter-Inzest dient, das brennende und rasende Verlangen nach der Tochter,⁴⁴⁴ wird bei Steinhöwel als erklärungsbedürftig deklariert. Die Verwerflichkeit des Verlangens sticht so besonders hervor,⁴⁴⁵ das Begehren des Vaters ist schlichtweg unerklärlich, trotz der Schönheit der Tochter, trotz des Todes der Mutter. Das inzestuöse Verlangen wird dabei als liebe und begirde gefasst, deren Kombination auf den verengten Bedeutungsbereich sexuellen Begehrens verweist.⁴⁴⁶ Zusätzlich wird die Transgressivität dieses Begehrens mit qualifizierenden Begriffe wie ungerecht, unerlaubt, unordenlich, mer wan zimlich präsent gehalten (vgl. a. Z. 181 und 249), wobei, wie schon am Beispiel diverser Texte in dieser Studie beobachtet, verwandtschaftliche Liebe den normativen Maßstab gibt für die Grenze, die eine mit dem Inzesttabu brechende Liebe überschreitet. So erscheint Antiochus bei Steinhöwel dann auch nicht als Opfer äußerer Mächte, er schreitet absichtsvoll und methodisch zur Tat, mit seiner Tochter die werck der vnkünschait zů verbringen ⁴⁴⁷ (Z. 214 f.). Vom Inzest wird im Modus körperlicher Gewalt erzählt:
gebildet; Zeichen von Tod, Krankheit oder Wunsch sind nicht erkennbar; vgl. Augsburg: Hans Zimmermann, 1552, fol. 5r (VD16 A 3136). „Ich weiß nicht, von welcher unrechten, nicht-väterlichen Begierde und wilden Flamme er in unerlaubter Liebe zu seiner Tochter entzündet wurde, mehr als jemandem außerhalb der Familie zukäme, ganz zu schweigen einem Vater“; Eming, Inzestneigung, Fn 36, S. 44. Vgl. Gesta Romanorum 153, S. 510, Z. 27– 30. Vgl. hierzu a. Melzer, Nachwort, S. IV; Ertzdorff, Romane, S. 56; Eming, Inzestneigung, S. 30; Classen, Sexual violence, S. 175; Terrahe, Apollonius, S. 81. Zur Semantik von fnhd. liebe vgl. FWB 9.1, Sp. 1123 – 1137. Zu fnhd. begierde vgl. FWB 3, Sp. 595 – 601. „[…], die Taten der Unreinheit zu vollziehen“. Vgl. hierzu a. Classen, Sexual violence, S. 174.
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Er ward bewegt von wietendem raissen der vnkünschait, das er siner tochter gewalt anlegt so krefticlich, das ir macht des uatters bössen willen nit wider stan mocht, den sie zwungenclich volbringen můst. Do aber der uatter von ir uss gangen was, sass die tochter vnd betrachtet innerclichen, was sie getan hett, wie ir ir künschait so ellendeclich genomen was von irem vatter. (Z. 217 – 220) Er wurde getrieben von der rasenden Verlockung der Unkeuschheit, so dass er seiner Tochter Gewalt antat, auf so heftige Weise, dass ihre Kraft dem bösen Willen des Vaters nicht widerstehen konnte, den sie gezwungenermaßen vollbringen musste. Als aber der Vater von ihr weggegangen war, saß die Tochter und dachte inständig darüber nach, was sie getan hatte, wie ihr ihre Keuschheit so jammervoll genommen worden war von ihrem Vater.
Die Darstellungsweise geht mit einem Perspektivwechsel einher. Zunächst wird aus der Sicht des Vaters erzählt, der seine Tochter körperlich überwältigt. Gewalt und Zwang werden betont, sein Handeln über Termini wie unkünschait und böse normativ verortet. Der Inzestakt selbst ist als Leerstelle belassen, unvermittelt fährt die Erzählung im Plusquamperfekt fort, die Ellipse ist mit einer temporalen Konjunktion markiert. Im Zwischenraum eröffnet sich ein narratives Fenster, das den heraufbeschworenen Inzest der Imagination der Rezipierenden überlässt. In der Folge wechselt die Narration nun auf die Perspektive der Tochter und gewährt einen Einblick in ihre Gedanken. Mit Blick auf die Erzählordnung ergibt sich so eine Konstellation, die auf narrativer Ebene auf Tabuisierungstendenzen verweist: Während Antiochus’ Handeln proleptisch auf den Inzest hinarbeitet, wird mit der Rede der Tochter analeptisch auf den Geschlechtsakt Bezug genommen, der selbst als Leerstelle konzipiert ist. Dabei geben weder Pro- noch Analepse wieder, was tatsächlich geschieht, sie schildern zum einen Antiochus’ Beweggründe, die zum Inzest führen, zum anderen die Konsequenzen, die für die Tochter aus ihm resultieren. Eine Wertung wird dabei nicht zuletzt über Emotionen transportiert, der Vater lässt sich von seinen entfesselten, als böse titulierten Affekten leiten, die ihn in einen Zustand der Wut und Raserei versetzen, sein Gewaltakt macht die Tochter zur Leidtragenden, wie insbesondere im nun folgenden Ammengespräch deutlich wird. Dieses konzentriert sich ebenfalls auf die emotionalen Folgen des Inzests für die Königstochter. Steinhöwel erzählt die Episode gegen das Pantheon mit den Gesta Romanorum, so dass das sinnträchtige Motiv der Blutstropfen fehlt.⁴⁴⁸ In der Auseinandersetzung mit seinen Quellen entscheidet sich Steinhöwel also dafür, das ‚schockierende‘ Bluts-Motiv und mit ihm einen potentiellen Stimulus für textexterne Emotionen wie Schrecken und Furcht auszusparen. Er ersetzt das Motiv jedoch durch einen Rezeptions-Stimulus, der seinerseits auf eine Affizie-
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rung der Rezipierenden zielt, nämlich nonverbale Zeichen von Trauer und Verzweiflung. Die Amme, die bei ihm eine maisterin (Z. 222: „Lehrerin, Erzieherin“⁴⁴⁹) ist, findet die Tochter mit wainenden ogen, zerstrobletem haur vnd trurigem angesicht ⁴⁵⁰ (Z. 223). Was sich in seiner Quelle im Weinen erschöpft,⁴⁵¹ baut Steinhöwel aus, indem er Traurigkeit benennt und mit zusätzlichen nonverbalen Zeichen ‚vor Augen stellt‘, wodurch die Erzählung anschaulicher und lebendiger wirkt. Textextern ergibt sich im narrativen Blick auf das Leid der Königstochter ein mögliches Einfallstor für die Rezipierenden, mit der Königstochter zu leiden oder ihr Schicksal zu bedauern. Textintern dienen die nonverbalen Zeichen als alternativer Gesprächseinstieg, sie lassen die Erzieherin nachfragen: ‚O, vmb was vrsach ist din sel so bekümret?‘ ⁴⁵² (Z. 224). Die Interjektion vocantis/exclamantis o als „bloße[r] ausruf oder anruf, kein bestimmteres gefühl bezeichnend“⁴⁵³ zeigt die emotionale Betroffenheit der Erzieherin an. Wie schon in den anderen Apollonius-Bearbeitungen ist die Szene als Abfolge von Emotion und Reaktion dynamisiert. Anders als in jenen hingegen versucht Steinhöwels Königstochter nicht, das Delikt zu verbergen, auch das Motiv der Namen wird neu gedeutet, wenn sie antwortet: O aller liebste, uff diese stund sind zwen edel namen an mir entwichen, künschait vnd vätterliche liebi ⁴⁵⁴ (Z. 225 f.). Über die gleichlautende Interjektion werden Erzieherin und Königstochter zu einer ‚Gefühlsgemeinschaft‘ zusammengeschlossen (vgl. a. Z. 229). Der Bezugsraum der Namen ist aus der Perspektive der Tochter gedacht und bezieht sich einmal auf Keuschheit, einmal auf die Liebe eines Vaters. Der Kontrast zwischen normativ sanktionierter Liebe unter Verwandten und faktischer Inzestliebe bildet damit einen wesentlichen Maßstab bei Steinhöwel, der sowohl im Vorfeld als auch im Nachgang der Inzestthematik ausgestellt wird (vgl. Z. 212 ff. und 245). Der Inzest wird von der Tochter in einem Zusatz als größte Sünde bezeichnet (vgl. Z. 227), so dass als weiteres Normzentrum eine christliche Moral aufscheint, wobei der Inzest durch Verwendung des Superlativs an die Spitze eines nicht weiter spezifizierten Sündenkatalogs gestellt wird. Die Erzieherin erschrickt und fragt, welcher Teufel ihr das angetan habe (vgl. Z. 228 ff.). Der Teufel, den Steinhöwel aus den Gesta Romanorum übernimmt,⁴⁵⁵ agiert dabei nicht wie bei Heinrich von Neustadt als
Vgl. Baufeld, S. 168. „[…] mit weinenden Augen, zerzaustem Haar und traurigem Blick“. Vgl. Gesta Romanorum 153, S. 510, Z. 36. „Oh, aus welchem Grund ist deine Seele so bedrückt?“ Grimm, Deutsche Grammatik, S. 288. „Oh, Allerliebste, in dieser Stunde sind zwei edle Namen an mir verloren gegangen, Keuschheit und väterliche Liebe“; vgl. hierzu a. Classen, Sexual violence, S. 175. Vgl. Gesta Romanorum 153, S. 511, Z. 4 f.
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Verführer, er wird mit dem Vater in eins gesetzt. Während in den Gesta Romanorum die Tochter impietas ⁴⁵⁶ („Gottlosigkeit“) als Motivation für sein Handeln vermutet, ist es bei Steinhöwel dessen Ungütikait (Z. 231; „Bosheit“). Eine signifikante Umbesetzung im Einklang mit den Gesta Romanorum findet sich am Schluss der Szene. Die Erzieherin erkennt, dass der Selbstmordgedanke aus dem großen Leid der Königstochter und ihrem Sündenbewusstsein resultiert (vgl. Z. 235 f.), was die Tochter positiv vom teuflischen Vater absetzt. Die Erzieherin tröstet sie und versucht Trauer und Leid zu lindern (vgl. Z. 236 f.), fordert aber nicht, die Tochter solle dem Vater zur Verfügung stehen. So ist sie bei Steinhöwel allein als Helferin der Königstochter, nicht als Helfershelferin des Vaters konzipiert. Die Folgen des Inzests fokussiert auch der Holzschnitt in den Bämler- und ihnen anhängigen Drucken, welcher der Inzestepisode vorangestellt ist. Eigentlich stehen Kapitelüberschriften und Illustrationen in diesen Textzeugen in einem engen Zusammenhang,⁴⁵⁷ die Illustration zur Inzestepisode aber steht solitär und hängt sich nicht an einen Titel. Sie lässt sich somit als Surplus im Deutungssystem der Paratexte verstehen, das die bereits skizzierte Marginalisierung der Inzestthematik in den Überschriften korrigiert. Zu sehen ist der Moment, der sich unmittelbar an den Inzest anschließt.⁴⁵⁸ Antiochus eilt fliehenden Schrittes aus der Kammer, den Blick zurückgewandt zu Erzieherin und Königstochter, die noch auf dem Bett sitzt.Wieder sind die Gesichter in Trauer verzerrt, alle Blicke richten sich auf die Tochter. In Einklang mit der Narration werden die unmittelbaren Folgen des Inzests ins Bild gesetzt, sein Schrecken findet sich trotz der groben Darstellungsweise der Holzschnitte visualisiert. Es ist bezeichnend, dass dabei in der optischen Anverwandlung des Textes Antiochus ebenfalls zugeschrieben wird, Leid und Verzweiflung zu empfinden, denn Gestik und Mimik unterscheiden sich nicht von Amme und Königstochter. Eine korrigierende Spielart gibt der Druck von Dinckmut, in dessen sonst identischem Holzschnitt es scheint, als lächle der König, während Trauer und Verzweiflung der Königstochter deutlicher herausgearbeitet sind, sie stützt den niedergesenkten Kopf mit der Hand und blickt resigniert zu Boden, die Erzieherin wendet sich ihr hilfebietend und belehrend zu.⁴⁵⁹ In der seit Bämler begründeten Darstellungsweise der Inzestthematik werden Tabuisierungstendenzen manifest, da nicht der Akt, sondern seine Folgen zum
Vgl. ebd., Z. 6. Vgl. Melzer, Nachwort, S. V; Terrahe, Apollonius, S. 142. Vgl. Augsburg: Johann Bämler, 1476, fol. 10r (GW 2274). Vgl. Ulm: Konrad Dinckmut, 1495, fol. 75r (GW 2277).
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Bildinhalt werden. Das Skandalon der Inzestthematik wird im Bild über die Darstellung von Emotionen auf geschickte Weise eingeholt, ohne selbst anrüchig zu sein. Die Leerstelle des Textes wird also im Bild reproduziert, der Inzestakt weiterhin der Imagination der Rezipierenden überlassen. Gefüllt wird das Fenster der Imagination hingegen im Hupfuff-Druck, in dem eine Illustration ein geschmeidiges Liebesspiel an einem locus amoenus zeigt.⁴⁶⁰ Weder ist ersichtlich, dass es einen Altersunterschied zwischen den Concumbenten gibt, noch, dass der Beischlaf gegen den Willen der beteiligten Frau geschieht. Im Gegenteil, freudig lächelnd blicken sich Frau und Mann in die Augen, während er ihr an die Brust greift. Text und Illustration stehen in einem Spannungsverhältnis, der narrative Schrecken wird durch die optische Freude konterkariert, die Inzestthematik beschönigt. Die Illustration, die Hupfuff offensichtlich einem fremden Motivbestand entnimmt, steht damit in eklatantem Widerspruch zur Narration und generiert ein Spannungsverhältnis zwischen Bild und Text.⁴⁶¹
8.3.3 Inzesträtsel: Freude und Zorn des Königs Zu Beginn der Rätselepisode wird geschildert, wie Antiochus die ‚Beziehung‘ zu seiner Tochter fortsetzt, eine Szene, die Steinhöwel im Vergleich zu seinen Vorlagen anschwellen lässt. Genauer als in den Quellen wird Antiochus’ Handeln motiviert und bewertet, wenn es über seine Verstellungskünste heißt: Das tät er darumb, das er on arckwan sinen uss vnd in gang dester öffter zu ir haben möcht. Sin gemüt ward erhebt, das er siner tochter ain gemachel funden hett in sinem huß, darumb billicher sin sel in laid bewegt worden were ⁴⁶² (Z. 245 – 248). Im Motiv des Ein- und Ausgehens wird sexuelle Penetration räumlich metaphorisiert,⁴⁶³ in der Bezeichnung als Gatte die Ehethematik eingezogen und die Freierwahl mit dem Fehlschluss beendet, dass sich der Brautgeber selbst zum Bräutigam wählt. Der Normbruch wird mit gegensätzlichen Emotionen markiert, den König erfreut, wofür er eigentlich Seelenleid empfinden sollte. Wie schon im Ammengespräch wird dabei die Seele als Ort der Gefühle und Ethik imaginiert (vgl. a. Z. 224). Das Rätsel dient explizit der Abschreckung (vgl. Z. 265; 279), wird also emotional
Vgl. Straßburg: Matthias Hupfuff, 1516 (VD16 A 3135), fol. 5v. Vgl. hierzu a. Archibald, Apollonius, S. 95. „Dies tat er zu dem Zweck, dass er seinen Aus- und Eingang bei ihr ohne Argwohn umso häufiger haben könnte. Sein Gemüt war erhoben, weil er für seine Tochter einen Ehegatten in seinem eigenen Haus gefunden hatte, wofür seine Seele angemessener von Leid erschüttert worden wäre.“ Vgl. mit Blick auf die Historia Junk, Transformationen, S. 88 f.
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unterfüttert, ebenso wird das Gespräch zwischen Held und Antiheld um emotionale und motivationale Einzelheiten ergänzt. Appolonius, als mächtiger König eingeführt (vgl. Z. 270), weiß nichts von uffsatz vnd böß list Antiochi ⁴⁶⁴ (Z. 271 f.), der König vngeren hört (Z. 276), dass er um die Tochter wirbt, und ist beweget in sinem gemüt (Z. 280 f.; „beunruhigt“). Beim Rätsel orientiert sich Steinhöwel an den Gesta Romanorum. ⁴⁶⁵ Sie geben eine verkürzte Historia-Variante: Scelere vehor, materna carne vescor, quero fratrem meum matris mee virum, nec invenio ⁴⁶⁶. Erneut lässt sich beobachten, dass dem Inzesträtsel außerordentliche Aufmerksamkeit zukommt. Dies gilt zunächst für die textexterne Ebene. Steinhöwel überträgt das Rätsel in einen versifizierten Fünfzeiler nach dem Reimschema aabbb, „wodurch die Prosa aufgelockert wird und den entsprechenden Versen besonderes Gewicht zukommt“⁴⁶⁷. Dies wird zusätzlich durch Formalia gestützt. Nicht nur, dass das Rätsel in den Überschriften genannt wird,⁴⁶⁸ es wird mitunter auch formal aus dem Textfluss hervorgehoben. In der Handschrift D etwa sind Rätsel und Lösung rot unterstrichen,⁴⁶⁹ in D1 ist das Rätsel in roter Tinte geschrieben.⁴⁷⁰ Häufig wird das versifizierte Rätsel aus dem prosaischen Fließtext herausgerückt, was ebenfalls rezeptionslenkend wirkt, so neben der Handschrift D1 in einer Vielzahl der Druckfassungen.⁴⁷¹ Anhand konkreter Rezeptions-Spuren lässt sich somit nachweisen, dass dem Rätsel ein herausragender Stellenwert zukommt. Dies gilt auch für den konkreten Produktionsprozess. Das Rätsel und seine lückenhafte Lösung lösen bei Steinhöwel offensichtlich das aus, was im Kapitel zu Heinrich von Neustadt unter dem Stichwort ‚kognitive Dissonanz‘ diskutiert wurde,⁴⁷² zumin-
„Vorsatz [auch: ‚Aufregung‘; ‚Feindschaft‘, vgl. Götze, Glossar, S. 15] und böser Absicht des Antiochus“. Vgl. Singer, Appolonius, S. 38 f. Gesta Romanorum 153, S. 511, Z. 29 f.; „Auf einem Verbrechen fahre ich, das Fleisch meiner Mutter verzehre ich; ich suche meinen Bruder und meiner Mutter Mann und finde sie nicht“; Gesta Romanorum. Geschichten von den Römern. Hrsg. und übers. von Winfried Trillitzsch, Frankfurt a. M. 1973, S. 303. Terrahe, Apollonius, S. 84; vgl. a. Tomasek, Rätsel, S. 200. Wie der kúng ain gesaczt machet / wer siner tochter begerte, das er sein frag vßlegti oder man solt in toetten; Terrahe, Apollonius, Anm. zu Z. 214, S. 165. Vgl. Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 150, fol. 8v (HC 10567); vgl. a. MRFH 10490. Vgl. Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 86, fol. 222v (HC 5016); vgl. a. MRFH 10480. Vgl. etwa Augsburg: Günther Zainer, 1471, fol. 285v (GW 2273); vgl. a. MRFH 20180; Augsburg: Johann Bämler, 1476, fol. 14r (GW 2274). Siehe Kap. 8.1.4.
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dest versucht Steinhöwel in seiner Textfassung selbige zu reduzieren. So lautet das Rätsel bei ihm: Der sünden wagen menen ich, Müterlich flaisch das spiset mich. Wie fast mich mant miner můter man, So wil sich doch nit finden lan Der brůder des ich begert han. (Z. 284 – 288) Den Wagen der Sünde führe ich, mütterliches Fleisch, das speist mich, wie sehr mich der Mann meiner Mutter auch antreibt, so wird sich doch nicht finden lassen der Bruder, den ich begehrt habe.
Beim Motiv des Sündenwagens handelt es sich um eine interpretierende Anpassung, die die Rede vom ‚Fahren im Verbrechen‘ in ein christliches Bild setzt. Der ‚Sündenwagen‘ verweist, etwa in Wolframs von Eschenbach Parzival, auf das spezifisch christliche Konzept der Erbsünde.⁴⁷³ Zudem wird erneut die Inzestthematik an die Spitze eines fiktiven Sündenkatalogs gestellt. Vor allem aber nimmt Steinhöwel Veränderungen vor, die die Lösung des Rätsels erleichtern, was insbesondere an Appolonius’ Antwort deutlich wird, welche die Lösung gleich mitliefert. Im ersten Vers sieht er, wie in der Stofftradition üblich, Antiochus und seine Taten angesprochen (vgl. Z. 293 f.). Dann aber referiert er nicht nur den zweiten Vers, sondern den kompletten Rest des Rätsels und resümiert, das diese letste wort din tochter berürent ⁴⁷⁴ (Z. 297 f.). Diese Konstellation kann Steinhöwel nicht aus seinen Quellen ziehen, die Gesta Romanorum halten sich an dieser Stelle eng an die Historia, im Pantheon wird direkt mit der Lösung aufgewartet, dass der Vater Geschlechtsverkehr mit seiner Tochter habe.⁴⁷⁵ Diese Lösungsvorschläge stellen Steinhöwel anscheinend nicht zufrieden, weshalb er sich selbst intensiv mit dem Rätsel auseinandersetzt und seinerseits einen Lösungsvorschlag unterbreitet. Noch deutlicher als bei Heinrich von Neustadt folgt er dabei der schon in der Historia nahegelegten Idee, dass im Rätsel ein Sprecherwechsel stattfindet, und formuliert es entsprechend um. Setzt man die Tochter ab dem zweiten Vers in die Sprecherposition, sind die Verwandtschaftspositionen nicht mehr verworren vieldeutig: Das ‚sprechende Ich’ (also die Tochter) speist vom
Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok. Berlin, New York 22003, V. 465,5; vgl. hierzu Kiening, Unheilige Familien, S. 172. „[…], dass diese letzte Worte deine Tochter betreffen.“ Vgl. Gesta Romanorum 153, S. 511, Z. 33 ff.; Gottfried von Viterbo, Pantheon 11, 8, S. 166.
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mütterlichen Fleisch, welches sich über die una caro-Lehre als Vater dechiffrieren lässt. In der Folge werden die syntaktischen Rollen bei Steinhöwel entzerrt und zugunsten einer syntagmatischen Reihung aufgelöst; durch den Einschub der Phrase wie vast mich mant wird der Mann der Mutter vom Bruder separiert, das manen („antreiben“; „anmahnen; „auffordern“⁴⁷⁶) stellt einen Sinnzusammenhang zwischen dem das ‚sprechende Ich’ antreibenden Mann der Mutter (ergo dem Vater) und dem vom ihm vorgegebenen Ziel, dem Bruder, her. Doch auch wenn die Tochter von ihrem Vater dazu angetrieben (also immer wieder vergewaltigt) wird, so lässt sich doch kein Bruder finden, denn selbst wenn die Tochter vom Vater schwanger würde, wäre dieser nicht nur ihr Bruder, sondern zugleich ihr Sohn. Der konkrete Produktionsprozess, der seinerseits ein Rezeptionsprozess ist, illustriert eindrücklich, wie Steinhöwel in Auseinandersetzung mit dem Rätsel selbst zum Rätsellöser wird. Seine Fassung lässt sich stärker auf die Verknüpfung von Inzest- und Herrschaftsthematik beziehen: Der König begehrt einen Thronfolger, der mit der Tochter gezeugte Sohn trüge jedoch den Makel des Inzestkindes, was ein Erreichen dieses Ziels verunmöglicht. Schließlich ist auch textintern, auf der Handlungsebene, eine Verschiebung zu beobachten. In aller Öffentlichkeit schließt Appolonius seine Lösung des Rätsels mit den Worten, [o]b aber din will were, das ich din frag klarlicher uss legen sölt, dar zů will ich auch berait sin ⁴⁷⁷ (Z. 298 f.); seine Antwort gerät zur Drohgebärde. Dadurch erhält die Szene eine emotionale Handlungsdynamik, der König reagiert mit Zorn, verbietet dem Helden den Mund, gleich zweimal droht er, ihn zu enthaupten (vgl. Z. 300 – 308). In der einzigen bebilderten Handschrift W findet sich an dieser Stelle die erste Illustration, die bezeichnenderweise weder Inzestthematik noch Freierprobe visualisiert, sondern das erste Zusammentreffen von Antiochus und Appolonius.⁴⁷⁸ Die beiden Protagonisten stehen allein, Antiochus sitzt auf einem Thron und wird so als Herrscher markiert, Appolonius steht vor ihm, der Dialog wird mit Redegesten ins Bild umgesetzt. Appolonius hält die geöffneten Hände in einer bittstellenden Geste vor sich, Antiochus’ erhobener Zeigefinger hat mahnenden Charakter und kann als „allgemeine Darstellung einer Unmutsäußerung, der Klage als affektiver Regung“⁴⁷⁹ gelten. Ins Bild fällt der Konflikt, der sich zwischen den zentralgestellten Protagonisten aufspannt.
FWB 9.1, Sp. 1745 f. „Aber wenn dein Wille sein sollte, dass ich deine Frage deutlicher auslege, bin ich auch dazu bereit.“ Abgedruckt bei Hellmut Lehmann-Haupt: Schwäbische Federzeichnungen. Studien zur Buchillustration Augsburgs im XV. Jahrhundert, Berlin 1929, Abb. 53. Ott, Überlieferung, S. 360.
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Die Frist, die Antiochus Appolonius gewährt, begründet er mit der guote[n] gestalt (Z. 304) des Helden, eine Glättung Steinhöwels, die dem Versuch geschuldet ist, den motivationalen Bruch in der Erzählung auszugleichen, warum die Frist überhaupt gewährt und Appolonius nicht an Ort und Stelle getötet wird.⁴⁸⁰ Ebenfalls kongruenter motiviert wird die Flucht von Appolonius, wobei wiederum zum Teil Emotionen motivational wirksam werden, wenn es heißt, Appolonius ward betrübet von disen worten, vnd in grossen sorgen ging er wider in sin schiff (Z. 314 f.). Als er in Tyrus in seinen Büchern die Lösung des Rätsels nachschlägt, wird der Inzest ebenso wie in den Gesta Romanorum benannt,⁴⁸¹ Appolonius’ anschließende Flucht aber genauer motiviert, wenn ein Einblick in seine Gedanken gegeben wird: ,So der küng so in inbrünstiger böser liebe siner tochter also brinnet, so lasset er nit, er trachte künstencliche nach minem lib, mich zetötten, darumb das ich nach siner tochter nit mer gestellen müg. Nun ist besser von im geflochen wan gestorben.‘ ⁴⁸² (Z. 333 – 336). Die Flucht erscheint nicht als feige, sondern als rationale und logische Konsequenz einer äußeren Bedrohung, die konkret mit der inzestuösen Liebe des Königs zusammenhängt. Bei Steinhöwel sterben Vater und Tochter gemeinsam, sie werden von dem hellischen für uff dem mer verbrennt (Z. 786). Beim Höllenfeuer handelt es sich um einen Zusatz Steinhöwels, der sich in den moralisierenden Bearbeitungsstil fügt und einen christlich-didaktischen Zweck verfolgt – Übeltäter erhalten ihre (gott)gerechte Strafe,⁴⁸³ seien sie ‚Täter‘ oder ‚Opfer‘. Die Nachricht wird mit grosse[r] fröd (Z. 785) verkündet, der Tod von Antiochus und seiner Tochter also als ein Objekt von Freude inszeniert, die als Gegenstück zu Appollonius’ Betrübtheit und Sorge steht, die seine Flucht initiierten. Dies markiert, dass die Gesellschaft sich auf dem Weg der Besserung befindet. Die Szene findet sich ebenfalls in Handschrift W illustriert, deren vierte Miniatur das Höllenfeuer zeigt.⁴⁸⁴ Tochter und Vater befinden sich mit einigen Gefolgsleuten in einem Segelschiff auf dem Meer, Antiochus steht im Mittelpunkt des Bildarrangements, er hat die Arme zum Himmel erhoben, aus dem es Flammen regnet. Sein Blick ist auf seine neben ihm stehende Tochter gerichtet, so dass der Konnex zwischen falscher Liebe zur eigenen Tochter und Gottesstrafe hervorsticht. Das Bild bietet eine ganz eigene Interpretation des göttlichen Strafaktes, denn allein Antiochus steht
Vgl. Singer, Appolonius, S. 201; Klebs, Erzählung, S. 502. Vgl. Gesta Romanorum 153, S. 512, Z. 11 f. „Wenn der König so sehr in inbrünstiger böser Liebe zu seiner Tochter brennt, dann lässt er nicht ab, er trachtet listig nach meinem Leben, mich zu töten, damit ich seiner Tochter nicht mehr nachstellen kann. Jetzt ist es besser, vor ihm zu fliehen, als zu sterben.“ Vgl. Melzer, Nachwort, S. IVf.; Terrahe, Apollonius, S. 83. Abgedruckt im KdiH 1, Abb. 138.
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im Feuerhagel, die Tochter erwidert seinen Blick nicht, sie schaut angstvoll gen Himmel, die Hände im Gebet verschränkt. Wie in einer korrigierenden Fußnote legt die Illustration eine eigene Interpretation zur Schuldfrage vor, abweichend zum Text wird allein Antiochus als Zielscheibe der göttlichen Strafe inszeniert, die Tochter bleibt unbescholten.
8.3.4 Genealogie und Herrschaft, Inzest und Emotion im Ko(n)text Da sich der Roman eng an das antike Handlungsgerüst hält, sei an dieser Stelle nur auf die vorangegangenen Kapitel ver- und auf einige Besonderheiten der Steinhöwelschen Variante hingewiesen. Ebenso wie in der Historia wird das System des Frauentausches restituiert, die Könige verheiraten ihre Töchter mit dem bevorzugten Bräutigam, der seinerseits zum König wird.⁴⁸⁵ Cleopatra, wie Appolonius’ Gattin bei Steinhöwel nach Gottfried von Viterbo heißt,⁴⁸⁶ und Tarsia stehen „für weibliche Tugenden wie Keuschheit, Demut und eine bedingungslose Leidensbereitschaft“, insgesamt setzt das Ensemble auf Gegensätzlichkeit, die „positiven Eigenschaften heben sich kontrastvoll von dem verwerflichen Handeln negativer Figuren ab.“⁴⁸⁷ Allerdings tilgt Steinhöwel einige Reminiszenzen an die Inzestthematik, die die Spiegelachse in der Historia charakterisieren. So hat Athenagoras bei ihm keine Tochter, was in der Stofftradition sonst nur bei Heinrich von Neustadt und in einem Schweizer Prosastück der Fall ist,⁴⁸⁸ so dass die Parallelisierung von Antiochus’, Appolonius’ und Athenagoras’ Töchtern entfällt und die Ehe zwischen Athenagoras und Tarsia jeder inzestuösen Anspielung entkleidet wird (ganz anders als im Leipziger Apollonius, der die inzestuösen Anspielungen stärkt). Als Tarsia unerkannt auf ihren Vater trifft, wird das Blutsmotiv aufgerufen (vgl. Z. 1360 f.), da es in der Vorgeschichte aber ausgespart ist, hallt in ihm nicht der Vater-Tochter-Inzest nach. Dennoch lassen sich Bezüge zur Inzestthematik herstellen. Tarsia dünkt, Appolonius habe Gefallen an ihr gefunden (vgl. Z. 1354), wodurch eine gefährliche Nähe heraufbeschworen wird. Auch zieht sie ihm am Rock (vgl. Z. 1355 f.), eine körperliche Annäherung, die Eming als impliziten Hinweis deutet, dass die Tochter sich durch Verführungsstrategien an dem Inzest mitschuldig machen könnte.⁴⁸⁹ Hierüber zürnt Appolonius (vgl. Z. 1358 f.), das heißt sein Zorn hat einen dem Zorn des Antiochus diametral ent
Vgl. Archibald, Incest, S. 95. Vgl. Singer, Appolonius, S. 197 f.; Klebs, Erzählung, S. 497. Terrahe, Apollonius, S. 27. Vgl. Singer, Appolonius, S. 204. Vgl. Eming, Inzestneigung, S. 36.
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gegengesetzten Objektbezug. Wo Antiochus in Zorn entbrennt, weil ihm das alleinige ‚Anrecht‘ auf die Tochter streitig gemacht wird, weist Appolonius die körperliche Annäherung mit seinem Zorn gerade ab. In der Schlussperspektive schließt sich der Kreis zur Vorrede; Genealogie und Herrschaft, nicht Emotionen, stehen im Vordergrund. Die Inzestthematik ist in Steinhöwels Appolonius eingebunden in einen Diskurs über richtige Herrschaft und zeigt exemplarisch, dass eine exogame Heirat eine erfolgreiche Dynastie begründen kann, das harmonisierte Ende wird gekrönt mit der Geburt eines männlichen Erben, was das Erb- und implizit das Inzestproblem löst.⁴⁹⁰ Hier wird ein Bezug zur Vorrede hergestellt, ohne expliziert werden zu müssen – Antiochus, Stammhalter mächtiger Adelsgeschlechter, hinterlässt selbst keine männlichen Erben, mit ihm stirbt seine Linie. An seine Stelle tritt schließlich Appolonius, der mit Antiochia seinen Einzugsbereich im ehemals alexandrinischen Reich signifikant vergrößert. Weitet man von hier aus den ko(n)textuellen Blick, ist darüber hinaus in der Frühphase der Textproduktion der Überlieferungsverbund mit Steinhöwels Griseldis auffällig,⁴⁹¹ zumal diese Stoffzusammenstellung auch im Leipziger Kodex zu finden ist. Schon die frühe, autornahe Handschrift D kombiniert beide Texte; motivische Parallelen liegen, so Terrahe, „im moraldidaktischen Bereich, der Liebesthematik sowie in ihrer Exempel-Funktion“, „[d]ie belehrenden Züge im ‚Apollonius‘ korrespondieren bestens mit der ‚Griseldis‘, in der die Protagonistin ebenfalls als eindrucksvolles Ideal unerschütterlicher Duldsamkeit und Beständigkeit präsentiert wird.“⁴⁹² Dem lässt sich hinzufügen, dass die Parallelen zum Teil bis in den Wortlaut reichen. Auch Griseldis gebar ain über schöne tochter (Z. 155); Walther nimmt ihr die Tochter zwungenlich (Z. 183; „gezwungenermaßen“); als Griseldis darauf kein Murren von sich gibt, kommentiert der Erzähler, von einer Amme hätte man Tränen gesehen und Seufzer gehört, ich geschwig ainer můter (Z. 193); als sie auch den Sohn weggeben muss, wirft er ein, wie aber das gemüt were, wais ich nit (Z. 243); just als die Tochter manbar (Z. 289) ist, holt sie der Vater. Eine direkte thematische Überschneidung besteht im Vater-Tochter-Inzest, einmal initial vollzogen, einmal vorgetäuscht als ultimative Prüfung, so dass die Handschrift mit einer Inzestepisode beginnt und endet. Im Vergleich zum Leipziger Kodex sticht die Inzestthematik so stärker hervor und bildet eine Sinnachse, die beide Texte verbindet. Dabei ist die Rolle der jeweiligen Mütter bezeichnend. Vgl. ebd., S. 38; Archibald, Incest, S. 95. Im Folgenden im Fließtext zitiert nach der Ausgabe Heinrich Steinhöwels Griseldis. Studien zur Text- und Überlieferungsgeschichte einer frühhumanistischen Prosanovelle, München 1975 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 43), S. 171– 239. Terrahe, Apollonius, S. 54 und 27.
8.3 Heinrich Steinhöwel: Appolonius
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Ohne den Vater-Tochter-Inzest wissentlich zu intendieren, steht in Steinhöwels Appolonius der Wunsch, in seiner Griseldis gar das Einverständnis der Mutter im Raum. Man muss nicht mit der Psychoanalyse gehen, die „den allzumenschlichen Wunsch des Vaters, seine alte und für ihn reizlos gewordene Frau gegen seine hübsche blühende Tochter einzutauschen“⁴⁹³, verarbeitet sieht, um die Implikationen dieser Konstellation zu bemessen. Zwar weiß Griseldis nicht, dass es sich bei der neuen Braut um die totgeglaubte Tochter handelt, gerade diese Konstellation aber ermöglicht es, im Experimentalraum der bloß fingierten Prüfung das Phantasma einer gesellschaftlich akzeptierten Vater-Tochter-Ehe zu entwerfen, zu der nicht nur Papst und Landsleute, sondern selbst die verstoßene Ehefrau in persona die Mutter ihre Zustimmung gibt. Dabei steht Steinhöwels Variante der Leipziger Griseldis fast näher als Petrarca. Die Handlung wird, wie Bertelsmeier-Kirst konstatiert, ihrer märtyrerhaften Eigenschaften mit religiösem Gleichnischarakter entkleidet und bruchlos in ein Eheexempel überführt; wo Petrarca eine virtus insignis schafft, steht bei Steinhöwel das Ideal einer guten Ehefrau mit Dulderinnenzügen, die irreal, „ja beinahe schon grotesk“⁴⁹⁴ wirken. So empfängt Griseldis bei Steinhöwel die falsche Braut ebenso mit Freude, wie sie zuvor ihre Tochter mit frölichen geberden (Z. 193; vgl. a. 370 – 376) weggibt. Was Grysildis im Leipziger Kodex unbekümmert und ohne Zeichen der Trauer hinnimmt, dem begegnet Steinhöwels Griseldis mit Freude. Anhand der Provenienzen und personellen Verflechtungen rund um Steinhöwel und die Besitzer der Handschrift D macht Terrahe plausibel, dass „[d]ie gemeinsame Tradierung […] aufgrund der vorherrschenden Liebes- und Ehethematik am ehesten an eine weibliche Benutzerin der Handschrift denken [läßt].“⁴⁹⁵ In diesem Fall spannen sich die den Rezipientinnen zum Vorbild gemachten weiblichen Rollenentwürfe zwischen den aktiven Geschlechterentwürfen Tarsias und Cleopatras im Appolonius und der demütig ihrem Mann folgenden, ihn dabei in puncto Tugendhaftigkeit aber noch übertreffenden Ehefrau in der Griseldis auf. Übereinstimmend wird Keuschheit als Ziel setzt, die sich auf ganz unterschiedlichen Wegen bewährt, womit alle drei Figuren in Kontrast zu Antiochas Tochter stehen, die eben jene nicht bewahren kann. Die Kombination beider Texte findet sich ebenso in der Handschrift W, was in der Forschung als Hinweis dafür gedeutet wird, dass die beiden Erzählungen von
Otto Rank: Der Sinn der Griseldafabel. In: Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung. Gesammelte Studien aus den Jahren 1912 bis 1914, Leipzig, Wien 1919 (Internationale psychoanalytische Bibliothek 4), S. 40 – 58, hier S. 49. Bertelsmeier-Kierst, Griseldis, S. 155; vgl. a. S. 155 ff. Terrahe, Apollonius, S. 35.
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den Zeitgenossen als zusammenhängendes Œuvre wahrgenommen werden.⁴⁹⁶ Hinzu kommen hier mit Guiscard und Sigismunda von Niklas von Wyle und dem Ackermann von Böhmen von Johannes von Tepl zwei Werke, die ebenfalls um die Liebes- und Ehethematik kreisen.⁴⁹⁷ In der Handschrift T hingegen findet sich Steinhöwels Appolonius mit Thürings von Ringoltingen Melusine vereint. Beide Erzählungen sind durch das Thema der Genealogie verbunden, was dem Appolonius mehr historischen denn exemplarischen Charakter verleiht: Auch wenn weder bei der Melusine noch beim Apollonius eine konkrete genealogische Herleitung intendiert gewesen sein mag, konnten doch ‚die wunderbaren Ursprünge einer Adelswelt insgesamt, die bis in die Gegenwart fortdauert‘, eine Faszination ausüben, aus der heraus sich ein Rezeptionsinteresse durchaus gespeist haben könnte. Diese These wird durch einige Erwähnungen in Reiseberichten und Kreuzzugsgeschichten erhärtet, die sehr anschaulich belegen, dass Apollonius von Tyrus im ausgehenden Mittelalter als eine historische Figur betrachtet […] wurde.⁴⁹⁸
Dabei erzählt die Melusine nicht nur von der Begründung, Vermehrung und Ausweitung eines Herrschaftsgeschlechts, seine rätselhaften Ursprünge kollabieren zum Ende des Romans hin im Inzesttabu, die „exogame[.] Logik ritterlichen Herrschaftserwerbs […] wird […] ad absurdum geführt.“⁴⁹⁹ Gys bricht zur Sperber-âventiure auf, die folgende Regeln kennt: Ein adliger Ritter aus dem Geschlecht Lusignan muss auf einer Burg drei Tage über einen Sperber wachen, dann darf er sich wünschen, was immer er möchte, außer der Burgherrin selbst.⁵⁰⁰ Damit aber ist im Prinzip ein Inzesttabu chiffriert,⁵⁰¹ denn bei der Burgherrin handelt es sich um niemand anderen als die Fee Meliur, ihres Zeichens eine Schwester Melusines, die wiederum nicht nur Gys’ Großmutter, sondern vor allem die Begründerin des Geschlechts derer zu Lusignan ist. Weil Melusine als Spitzenahnin den Nullpunkt des Geschlechts bildet,⁵⁰² ist also faktisch jeder, der zur
Vgl. ebd., S. 54; Ursula Hess: Heinrich Steinhöwels Griseldis. Studien zur Text- und Überlieferungsgeschichte einer frühhumanistischen Prosanovelle, München 1975 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 43), S. 89 f. Vgl. Terrahe, Apollonius, S. 55. Ebd., S. 47. Das Zitat im Zitat stammt von Jan-Dirk Müller: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 1029. Klinger, Gespenstische Verwandtschaft, S. 62. Vgl. Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/ 74. Hrsg. von André Schnyder/Ursula Rautenberg, Bd. 1, Wiesbaden 2006, Z. 2939 – 2943. Vgl. Kellner, Ursprung, S. 436. Vgl. ebd., S. 434– 437.
8.3 Heinrich Steinhöwel: Appolonius
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Probe zugelassen wird, automatisch ein Blutsverwandter der Burgherrin. In der Stoffkombination mit dem Appolonius tritt nun stärker das verbindende Thema der Genealogie statt der Keuschheit hervor, Emotionen kommen jedoch auch bei diesem Inzest innerhalb der weiteren Blutsverwandtschaft zur Sprache. Gys wünscht sich, als er die Probe besteht, das verbotene Gut, eine dorechte begirde, ⁵⁰³ die kumber ⁵⁰⁴, vngeuelle ⁵⁰⁵, liden ⁵⁰⁶ und iomer ⁵⁰⁷ bedeutet. Meliur entbrennt in Zorn,⁵⁰⁸ prügelt Gys als Gespenst windelweich und vertreibt ihn vom Schloss, wie prophezeit legt sich ein Fluch über sein Geschlecht, dem über neun Generationen hinweg der Untergang bereitet wird.⁵⁰⁹ So liegen einerseits Gemeinsamkeiten zum Appolonius vor, da die Inzestthematik sowohl auf der Ebene der näheren als auch der weiteren Blutsverwandtschaft als Objekt von Trauer und Leid evaluiert wird, andererseits gibt der Zorn der Fee ein Differenzkriterium, er motiviert als legitim in der drohenden Überschreitung des Inzesttabus verankerter Aggressionsaffekt, dass Meliur sich erfolgreich zur Wehr setzt. In den Drucken ist die Kombination mit der Melusine eher selten, mit Steinhöwels Griseldis hingegen häufig, eine „ursprüngliche bibliographische Einheit der beiden Erstdrucke ist für fünf […] Sammelbände belegt“⁵¹⁰, in einem Basler Sammelband kommen alle drei Texte (mit weiteren) zusammen.⁵¹¹ Neben der Sonderposition der Griseldis lassen sich mit Terrahe zwei Stoßrichtungen beschreiben, die die Textzusammenstellungen charakterisieren: Unterhaltende und belehrende Erzählliteratur, die sich primär auf Moral- und Ehedidaxe bezieht und Motivparallelen aufweist „im Bereich der Herrschafts- und Ehethematik, Geduld und Leidensbereitschaft der Ehefrauen sowie der gestörten Mahrtenehe“, und ein Sammelsurium „populäre[r] Wissensliteratur, praktische[r] Handbücher und Gebrauchstexte“⁵¹². Darüber hinaus finden sich stärker historiographisch ausgerichtete und geistlich-erbauliche Sammlungen.⁵¹³ Damit ist abschließend die Frage nach der (gattungsmäßigen) Rezeptionsweise aufzugreifen. In den Überlieferungsverbünden zeichnen sich Pluralität und
Vgl. Thüring von Ringoltingen, Melusine, Z. 2979; „törichte Begierde“. Ebd., Z. 3026; 3044; „Bedrängnis, Sorge“; Götze, Glossar, S. 143. Thüring von Ringoltingen, Melusine, Z. 3026; 3031; 3044 und 3064; „Unglück“; „Ärgernis“; vgl. Baufeld, S. 235. Thüring von Ringoltingen, Melusine, Z. 3044; 3064 und 3065. Ebd., Z. 3065; „Zustand des Elends“; FWB 8, Sp. 280. Vgl. Thüring von Ringoltingen, Melusine, Z. 3017; 3022; 3080 – 3085. Vgl. ebd., Z. 3109 – 3117. Terrahe, Apollonius, S. 56. Vgl. ebd., S. 112 f. Für weitere Überlieferungsverbünde vgl. S. 111– 126 und 56 f. Ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 56 f.
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Vielseitigkeit ab, die ebenfalls in Steinhöwels Konzeption des Appolonius widerklingen. In der älteren Forschung „durch die Etikettierung […] als ‚Unterhaltungsroman‘ verkannt“, ist mit Terrahe vielmehr anzunehmen, dass Steinhöwel „den Stoff als belehrendes exempel, als unterhaltende Erzählung und als historisch verbürgte Herrschervita“⁵¹⁴ versteht und bearbeitet. Dieser Befund betrifft auch die mutmaßliche Rezeptionsweise der Inzestgeschichte in Antiochia, die als historische Begebenheit erscheint, aus der exemplarisch Lehren gezogen werden können und die doch zugleich zum Gegenstand literarischer Formung wird und unterhalten soll. Im Resümee zeigt sich, dass Steinhöwel in seinem Appolonius Emotionen im Vergleich zu seinen Vorlagen mehr Gewicht verleiht. In der Konsequenz wird das Erzählsyntagma dichter, wobei insbesondere der Schluss der Vorgeschichte emotionalisiert wird, was die Fluchtszene dynamisiert. Dabei steht der VaterTochter-Inzest als größte Sünde an der Spitze eines textintern entworfenen Normgerüsts, das transgressive Moment inzestuösen Begehrens wird über wertende Adjektive markiert, die es als ordnungswidrig und -störend, unväterlich und falsch deklarieren. Neben diesen normativen Detaillierungen werden einzelne Handlungselemente genauer geschildert und ‚vor Augen gestellt‘, so das Sterben der Mutter und das Leiden der Tochter. Die anschauliche Darstellungsweise erhöht die Möglichkeit einer affektiven Partizipation der Rezipierenden, gerade im Blick auf die traurige Königstochter. Das in Adjektiven, Hinzufügungen und Kommentar präsent gehaltene Normgefüge gibt gleichsam einen textexternen Richtwert vor, wie der Vater-Tochter-Inzest zu bewerten ist. Er besitzt im Gesamtkontext des Appolonius die Funktion einer Spiegel- und Kontrastfolie, von der sich männliche wie weibliche Figurenentwürfe positiv absetzen, was in den Überlieferungsverbünden noch verstärkt wird, die Kombination mit Griseldis prononciert das Prüfungsthema, Liebe und Ehe, die Kombination mit der Melusine Genealogie und Herrschaft, beide greifen das Inzestthema auf. Steinhöwels Erzählweise trifft „offenbar genau den Geschmack des Publikums“⁵¹⁵, seiner Apollonius-Bearbeitung ist im Vergleich zu anderen „mit Abstand der meiste Erfolg beschieden“⁵¹⁶, wobei der sich neu etablierende Buchdruck zu seiner Popularisierung beiträgt. Auch intertextuell findet Steinhöwels Bearbeitung im Vergleich den größten Anklang, sein Appolonius inspiriert die Nürnberger Meistersinger Hans Sachs und Michael Vogel zu Adaptionen.⁵¹⁷ Bei beiden gibt allerdings offensichtlich nicht die Inzestthematik, sondern das Schicksal des
Ebd., S. 96 und 94. Melzer, Nachwort, S. III; vgl. a. S. IX. Terrahe, Apollonius, S. 2. Vgl. Melzer, Nachwort, S. VI.
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Helden den Anlass zur eigenen Bearbeitung. Vogel behandelt den Stoff in insgesamt neun Bar à drei bis fünf Strophen, wobei die Vorgeschichte in nur einem Bar à drei Strophen abgehandelt wird, die zudem noch die hinzugefügte Inthronisierung in Tyrus sowie die Episode in Tarsus enthalten, in der Apolonius die Bevölkerung von einer Hungersnot befreit. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Helden, wie schon das Incipit nahelegt: Da Apolonius zum könig wardt erwehlt ⁵¹⁸. Sachs geht noch einen Schritt weiter und spart die Vorgeschichte ganz aus.⁵¹⁹ Zwar wird kurz erwähnt, dass Apollonius vor Anthiochus flieht, warum er dies tut, wird jedoch nicht präzisiert, der Vater-Tochter-Inzest ausgeblendet. Damit aber ist Sachs’ Variante die einzige hier zu besprechende, die den Vater-Tochter auslässt, insgesamt gehört er zum festen Erzählbestand der Apollonius-Tradition vom 12. bis zum 16. Jahrhundert.
8.4 Zwischenfazit Alle drei der hier ausführlich besprochenen Apollonius-Fassungen haben trotz der ganz unterschiedlichen Gattungskontexte und Erzählstile eines gemeinsam: Sie emotionalisieren den Stoff, das heißt sie interpretieren die in ihrem jeweiligen Prätext aufgefundene Handlung als Anlass für bestimmte Emotionen, die sie in ihren Fassungen hinzufügen. So erweitert Heinrich von Neustadt das Panorama an mit dem Inzesttabu verknüpften Emotionen um Scham und Ekel als Emotionsnormen, ergänzt die in der Historia vorformulierte inzestuöse Liebe um Trauer, Furcht, Scham und Zorn, die bei ihm entgegen der primär paradigmatischen Prägung des Romans als Kausalmotivationen wirken und Handlungen dynamisieren. Minne, die das inzestuöse Begehren qualifiziert, wird dabei ausführlichen Reflexionen unterzogen, die eine Bewertung vor-, aber kein kohärentes Wertesystem ergeben. Schon im Prolog wird das Thema der Affektkontrolle aufgerufen, das von hier ausgehend das Werk durchdringt – auch in der Causa Anthiochus sind ungezügelte Emotionen das punctum saliens, das den König zu Fall bringt. Rezeptionsästhetisch eignet Heinrichs Apollonius eine spezifische Intensität, die im schnellen Wechsel emotional gegensätzlich gefärbter Szenen, Vorausdeutungen, Hinauszögerungen, in der häufigen Verwendung von Interjektionen sowie in
Zitiert nach Horst Brunner u. a. (Hrsg.): Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, Bd. 12, Tübingen 1989, S. 313; vgl. a. S. 313 ff. Vgl. Hans Sachs: Der könig Apollonius im bad. Im vergeßnen ton Frauenlobs. In: Dichtungen von Hans Sachs. Ersther Teil: Geistliche und weltliche Lieder. Hrsg. von Karl Goedeke. Leipzig 1870 (Deutsche Dichter des sechzehnten Jahrhunderts 4), S. 303 – 305; vgl. hierzu a. Archibald, Apollonius, S. 187.
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der Hinzufügung und Dramatisierung von Motiven wie dem Teufel, dem Tod der Mutter oder auch dem Selbstmordversuch angelegt ist. Auf textexterner Ebene kann als Spezifikum des Textes gelten, dass die Liebesexkurse auch auf Vergnügen und komische Effekte in der Rezeption zielen. Der Leipziger Apollonius hingegen arbeitet primär mit wertenden Adjektiven, die die Erzählung affektiv färben und sowohl die Inzestthematik als auch mit ihr verknüpfte Emotionen qualifizieren. Transparent wird eine biblisch geprägte Redeweise von Reinheit und Befleckung, die mit Furcht und Schrecken, in Grundzügen auch Ekel einhergeht. So wird im Leipziger Apollonius eine normativ und emotional aufgeladene Position zum Vater-Tochter-Inzest greifbar, obgleich sich der Erzähler expliziter Bewertungen und Moralisierungen enthält. Steinhöwels Prosa-Variante schließlich hat etwas von beiden Zugriffsoptionen. Die Erzählung operiert ebenfalls mit wertenden Adjektiven, wobei der Unterschied zwischen normativer Verwandtschaftsliebe und faktischer Inzestliebe betont wird. Zwar finden sich keine längeren Exkurse wie bei Heinrich, aber einer der seltenen ‚Ich-Kommentare‘, der die Handlung dramatisiert. Letzteres wird daneben erreicht, indem einzelne Motive und Emotionen so geschildert werden, dass die Handlung lebendig und anschaulich wirkt, Steinhöwel teilt mit Heinrichs Apollonius die Tendenz, überlieferte Motive zu narrativieren oder hinzuzufügen, denen ein emotionaler Impetus innewohnt. Der Tabucharakter der Inzestthematik äußert sich rhetorisch und narrativ, wenn Heinrich von Neustadt auf einen metaphorischen Sprachgebrauch zurückgreift, um den Inzestakt zu beschreiben, oder Steinhöwel selbigen als Ellipse ausspart. In allen drei Bearbeitungen kommen Zwang und Gewalt deutlich zum Ausdruck, wobei die Sympathien einseitig auf die Königstochter entfallen, während Antiochus durchweg als Antiheld erscheint. In der ikonographischen Tradition bildet die Inzestthematik bei Heinrich eine auffällige Leerstelle in den Handschriften, während das Bild vom fliehenden Vater und der verzweifelten Tochter in Steinhöwels Appolonius ab der zweiten Drucklegung emblematisch wird. Auf einer breiten Text- und Handschriftenbasis konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass das Inzesträtsel im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit das Faszinosum des Stoffes bereitstellt. Heinrich von Neustadt multipliziert die in ihm angelegte Verwandtschaftsverwirrung in anderen Erzählzusammenhängen, in allen drei Apollonius-Bearbeitungen wird die Aufmerksamkeit der Rezipierenden in Handschriften und Drucken auf das Rätsel gelenkt, indem es formal hervorgehoben wird. Ebenfalls in allen drei Bearbeitungen wird in der produktiven Aneignung manifest, wie der jeweilige Dichter versucht, einen kongruenten und kohärenten Sinn in das Rätsel hineinzutragen. In der Konsequenz sind die adaptierten Fassungen in der Regel leichter zu entschüsseln, auch geben alle, an-
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ders als die Historia, im Text eine explizite Antwort auf das Rätsel. Diese Tendenz zur Vereindeutigung und Vereinfachung findet sich in anderen Zeitdokumenten weiter vorangetrieben, so etwa in einer von Karl Bartsch mitgeteilten Adaption der Rätselsequenz, die eine Hand des 16. Jahrhunderts ans Ende der Nürnberger Handschrift Cod. Cent. VI, 89 einträgt: Ich weiß mir eyn feßlin fein dez muter ist eyn junckfrawlein: is sey foll oder ler, so yst is allewege gleich swer. Sund vnd boßhait hat mich beßessen, wann muterlich fleisch bin ich essen: ich soche myn bruder, myner muter son, vnd bekenne nicht myner frawen man. Der mein vater waß, des bin ich worden muter: ich zouch mir eyn schen son auß dem man meiner muter. ⁵²⁰ Ich kenne ein kleines feines Gefäß, dessen Mutter ist eine Jungfrau, sei es voll oder leer, so ist es [doch] immer gleich schwer. Sünde und Bosheit haben mich besessen, denn ich habe mütterliches Fleisch gegessen: Ich suche meinen Bruder, meiner Mutter Sohn, und kenne den Gatten meiner Gemahlin nicht. Der mein Vater war, dessen Mutter bin ich geworden: Ich erzog mir einen schönen Sohn, aus dem Mann meiner Mutter.
Der Begriff feßlin kann als Diminutiv zu vaz in der Redewendung das feszlîn an stechen die Entjungferung meinen,⁵²¹ so dass der Geschlechtsakt zwar metaphorisiert, doch einfach zu dechiffrieren ist. Sünde und Bosheit bewerten den Inzest, der auf die Geburt eines Sohnes beziehungsweise Bruders zielt. Die Verwandtschaftsverschiebung verkehrt Deszendenz und Aszendenz, wobei die jeweiligen Verschiebungen nicht selbst erschlossen werden müssen, sondern direkt erklärt werden, das Rätsel ist kaum noch rätselhaft. Diese Tendenz wird im Volksbuch von Karl Simrock aus dem 19. Jahrhundert, das eine Adaption von Steinhöwels Appolonius gibt,⁵²² weiter forciert:
Zitiert nach Karl Bartsch: Zur Räthselliteratur. In: Germania 4 (1859), S. 308 – 315, hier S. 314 f.: Vgl. hierzu a. Tomasek, Rätsel, Fn 138, S. 204; Schneider: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften. Beschreibung des Buchschmucks Heinz Zirnbauer, Wiesbaden 1965 (Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg 1), S. 240. Vgl. Lexer 3, Sp. 332. Vgl. Melzer, Nachwort, S. VI.
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Vom Fleisch der Mutter speis ich mich Mir selber Mutter sicherlich; Mein Vater ist zugleich mein Sohn Und buhlt um meinen Minnelohn. Ich bin ihm Mutter, Tochter, Weib; Doch wie er kose meinen Leib, Noch stellt sich nicht der Bruder ein, Der Sohn mir würd’ und Enkel sein.⁵²³
Das Rätsel, das jene, die mit ihm konfrontiert waren, über Jahrhunderte hat rätseln lassen, ist ent-rätselt.
Apollonius von Tyrus. In: Die deutschen Volksbücher. Gesammelt und in ihrer ursprünglichen Echtheit wiederhergestellt. Hrsg. von Karl Simrock, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1846, S. 209 – 268, hier S. 214.
9 Fazit Die vorliegende Studie hat sich am Beispiel des Vater-Tochter-Inzests dem Nexus von Inzesttabu und Emotionen in der literarischen Rezeption antiker und biblischer Stoffe im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gewidmet. Sie konnte an neuere Ansätze der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung anknüpfen und sich zugleich auf wichtige Vorarbeiten zu den emotional hoch besetzten Themen Inzest und Tabu stützen, um eine Leerstelle in der altgermanistischen Forschung zu schließen, welche die skizzierte Konfiguration bislang nicht untersucht hat. Dies konnte selbstverständlich nur exemplarisch geschehen. Die Inzestthematik gilt tabuisierten sexuellen Beziehungen innerhalb der Verwandtschaft, die damit als gesellschaftliches Ordnungsmuster in den zentralen Fokus rückt. Als tabuisiertes Thema wirft der Inzest schon für sich allein – nicht nur in der hier gewählten Konstellation zwischen Vater und Tochter – die Frage auf, von welchen Emotionen er in der literarischen Gestaltung geprägt wird. Der Tabubegriff fordert eine literaturwissenschaftliche Perspektivierung geradezu heraus, da er untrennbar mit sprachlichen Vermeidungsstrategien verknüpft ist, die darauf verweisen, was nicht gesagt werden darf, sondern verschwiegen, umschrieben oder verrätselt werden muss. Damit ist er einer literaturwissenschaftlichen Analyse zugänglich. Ebenso wie der Begriff der Verwandtschaft und der der Sexualität wird der Tabubegriff in der vorliegenden Studie gleichermaßen offen wie auch eng genug gefasst, um kulturell und historisch spezifische Konfigurationen zu bezeichnen. Es erscheint nur auf den ersten Blick paradox, dass Tabus in doppelter Hinsicht produktiv wirksam werden, indem die Überschreitung einer gesellschaftlichen Norm nicht nur sanktioniert wird, sondern zugleich eine gesellschaftliche Ordnung bestätigt oder neu hervorbringt. Daraus lässt sich zunächst nur ableiten, dass ein Verwandtschaftssystem, dass ein Dispositiv zwischenmenschlicher Bindungen, dass ein Normgefüge erwünschter und unerwünschter Emotionen generiert wird, nicht aber, wie sich diese Ordnungsstrukturen in verschiedenen historischen Kontexten konkret ausgestalten. Um diese historische Dimension zu erfassen, konnte die Studie an die Forschungsdebatte über die Alterität von Moderne und Mittelalter anknüpfen, in deren Verlauf zwar nachdrücklich betont wurde, dass diese Andersheit nicht als radikales Gegensatzverhältnis zu denken ist, aber auch, dass moderne Vorstellungen nicht unbesehen auf das Mittelalter übertragen werden können, vielmehr sind relationale Bezüge herzustellen. So gilt es zum einen, nach historischen Konzepten von Emotionen zu fragen, und zum anderen – und nicht zuletzt – der Eigenlogik von Emotionsgestaltungen in literarischen Texten auf die Spur zu kommen. Hierüber besteht in der mediävistischen Emotionsforschung inzwihttps://doi.org/10.1515/9783110618440-010
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schen weitgehend Konsens. Grundsätzlich gilt, dass Emotionen in der Kultur des Mittelalters deutlicher von moralischen Wertungen beeinflusst sind als in der Moderne, sie werden vielfach mit Tugenden oder Lastern assoziiert und mit einem stark normativen Anspruch verbunden. Die Notwendigkeit einer Historisierung besteht auch für den Inzestbegriff. So hat sich erwiesen, dass der Nukleus moderner Definitionen von Inzest, die sogenannte Kernfamilie, für das Mittelalter nicht anzulegen ist.Vielmehr wird durch die kirchlichen Inzestverbote ein weitgespannter Verwandtschaftsbegriff entworfen, der neben der engen auch die weitere Blutsverwandtschaft und darüber hinaus Schwägerschaft und geistliche Verwandtschaft umfasst. Zudem dient das Inzesttabu im Mittelalter primär der Regulierung von Ehen und Allianzen, nicht wie in der Moderne der Regulierung von Sexualität. Auffällig ist, dass die Verknüpfung von Tabu und Emotion in kirchlichen Schriften sowie in anderen historischen Quellen in der Regel verschleiert wird. Nur punktuell – etwa in der biblischen Redeweise von Reinheit und Befleckung, die auf die Erregung der Furcht der Gläubigen vor dem Zorn Gottes zielt – werden Emotionen manifest. Mit Blick auf den Vater-Tochter-Inzest vergrößert sich dieser blinde Fleck noch, denn im kirchlichen Diskurs spielen inzestuöse Verbindungen innerhalb der näheren Verwandtschaft kaum eine Rolle, stattdessen findet sich eine rege Auseinandersetzung mit dem Umfang der kanonischen Eheverbote. In literarischen Texten dagegen wird dieser doppelt blinde Fleck ausgefüllt. Sie bieten daher willkommenes Material, um die Kenntnisse über die Inzestthematik im Mittelalter zu erweitern. Hierzu wurden Ansätze nicht allein der mediävistischen, sondern auch der Emotionsforschung anderer Disziplinen kritisch auf ihre Brauchbarkeit für dieses Vorhaben überprüft und mit einem dem jeweiligen Gegenstandsbereich angepassten, spezifisch literaturwissenschaftlichen Zugriff verknüpft. Mediävistische Studien, die das ‚Projekt historische Emotionsforschung‘ in den vergangenen Jahrzehnten als Untersuchungsgegenstand neu etabliert haben, sind im Fach zum Teil mit produktiver Kritik aufgenommen worden, zum Teil aber auch auf Unverständnis gestoßen. Dieses Unverständnis beruht freilich auf einem Missverständnis, denn die Kritik unterstellt der historischen Emotionsforschung zu Unrecht ein von individualpsychologischen Ansätzen geleitetes Erkenntnisinteresse, das darin bestehe herauszufinden, wie die Menschen vor hunderten von Jahren tatsächlich gedacht, was sie, konfrontiert etwa mit einem Tabubruch wie dem Inzest, wirklich empfunden haben. Dies aber ist mitnichten der Fall. Die neuere Emotionsforschung geht selbstverständlich davon aus, dass individuelle historische Empfindungen unhintergehbar sind. Doch mangelt es für ältere Epochen wie dem Mittelalter an Zeugnissen, die Auskunft über diese Erfahrungen geben könnten, wie sie der modernen Forschung in Form von Berichten, Ge-
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richtsdokumenten, Interviews und empirischen Studien zur Verfügung stehen mögen. Es kommt hinzu, dass die Kategorie des Individuums im modernen Sinn der Kultur des Mittelalters gänzlich fremd ist. Doch dies bedeutet eben nicht, dass in literarischen Texten dieser Zeit thematisierte Emotionen keine Aussagekraft über die sie hervorbringende Kultur besitzen. Im Gegenteil: Würde die Mediävistik auf die Erforschung dieses Themenfeldes verzichten, würde sie ihre Erkenntnismöglichkeiten um eine wesentliche Dimension verkürzen. Ähnlich wie die mediävistische Emotionsforschung individualpsychologische Kategorien für die Analyse ihrer Gegenstände für ungeeignet hält, versteht die Tabuforschung Tabus primär als kulturelle Konfigurationen. Die mit einem Tabu aufs Engste verwobenen Emotionen sind gesellschaftlich, nicht personal geprägt. Insofern boten beide Forschungsfelder eine wertvolle gemeinsame Grundlage für diese Studie. Theoretische Anleihen konnten außerdem insbesondere bei der Philosophie und Soziologie, zum Teil auch bei der Ethnologie und Psychologie gemacht werden. Es ist bezeichnend, dass nicht primär textbasierte Disziplinen den hohen Stellenwert von Literatur für die emotionale Sozialisation hervorheben, während einige Vertreter der Altgermanistik die wenig produktive Mimesis- und Referenzfrage zum Kernproblem der Emotionsforschung erheben möchten. Die Bedeutung von Literatur ist zwar mit Blick auf die sozialen und medialen Verhältnisse und Bedingungen im Mittelalter einzuschränken, doch grundlegend gilt hier wie dort, dass Emotionen gefühlte Wertungen sind, die intersubjektiv ausgebildet werden. Sie besitzen grundsätzlich eine evaluative Funktion, die das Objekt der Emotion in einer spezifischen Weise bewertet. Literatur eröffnet damit jenseits einer zu Recht umstrittenen Figurenpsychologie einen Blick auf kulturelle Konfigurationen und damit auf Emotionen, die in der Gesellschaft, die diese Literatur hervorbringt, als angemessen oder auch unangemessen galten. Gerade der im Vergleich zur Moderne starke Normbezug im Mittelalter lässt sich hier methodisch fest verankern. Um historisch spezifische Konfigurationen von Tabu und Emotion in Narrativen des Vater-Tochter-Inzests herauszuarbeiten, hat sich die Studie eines komparatistischen Zugriffs bedient. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Fassungen überlieferter Stoffe wurden mit ihren biblischen und antiken Prätexten verglichen, so dass in Abweichungen und Übereinstimmungen zeitspezifische Tendenzen greifbar gemacht werden. Dieser Zugriff ist genuin literaturwissenschaftlich, doch löst er noch nicht das in der mediävistischen Emotionsforschung mitunter virulente Ebenenproblem. Diesem wird mit einer theoretisch-methodisch differenzierenden Terminologie begegnet, die zwischen textinternen Emotionen, die Handlung und Figuren betreffen, und textexternen Emotionen als in den Text eingeschriebene Rezeptions-Stimuli unterscheidet.
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In Weiterentwicklung etablierter literatur- und sprachwissenschaftlicher Forschungsansätze wurden dabei auch Interjektionen als Mittel emotionaler Kommunikation sowie Intensität als Graduierung affektiver Teilhabe der Rezipierenden in den Analysen berücksichtigt. Um ein weiteres bislang kaum beachtetes Phänomen der Emotionsgestaltung im Kontext von Inzestnarrativen präzise zu bezeichnen, nämlich das Faktum, dass in den Texten einige Emotionen sprachlich ausdifferenziert, andere dagegen kaum repräsentiert sind, wurde zudem das Konzept der Hyper- und Hypokognition aus der ethnologischen Emotionsforschung aufgegriffen. Erstmals in der Forschung zum Vater-Tochter-Inzest wurden darüber hinaus konkrete Rezeptions-Spuren in den überlieferten Handschriften und Drucken auf Tabuisierungstendenzen hin befragt und damit ein philologischer Zugriff in Anschlag gebracht. Das auf diesem Weg gewonnene Instrumentarium hat sich in den Analysen als fruchtbar erwiesen. Zwar sind die Begrifflichkeiten und Zugriffsoptionen in zukünftigen Publikationen weiterzuentwickeln und dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand anzupassen, doch die literaturwissenschaftliche Analyse der hier behandelten Texte hat offenbar gemacht, dass und mit welchen Emotionen der Vater-Tochter-Inzest im 12. bis 16. Jahrhundert verknüpft worden ist; eine Erkenntnis, welche die geschichtswissenschaftliche Inzestforschung allein auf der Grundlage kirchenrechtlicher und weltpolitischer Schriften nicht gewinnen konnte. Die in vorliegender Studie entwickelte Methodik eröffnet einen Blick auf damalige Denkmuster, in denen der Vater-Tochter-Inzest als (il)legitimer Stimulus von Liebe und Freude, Scham und Ekel, Trauer und Furcht, Zorn und Reue erscheint. Trotz der historischen Distanz und medialen Spezifik lassen sich dabei in der textlichen Ausgestaltung Gemeinsamkeiten mit einem modernen Verständnis von Emotionen erkennen, die insbesondere die motivationale und die evaluative Ebene betreffen. So findet sich der motivationale Aspekt von Emotionen in der textinternen Handlungsdynamik wieder. Emotionen fungieren hier häufig als kausale Schnittstellen, die das Figurenhandeln plausibilisieren. Scham und Trauer führen zu autoaggressiven Handlungen; Wut und Zorn zu Vertreibung; Liebe dort, wo sie die Grenzen sanktionierter Verwandtenliebe überschreitet, zu Inzest. Selbst auf der Ebene konkreter Rezeptions-Spuren wird der motivationale Impetus von Emotionen evident. Zwar lassen sich hier kaum Einzelemotionen spezifizieren, doch ist von einem erheblichen Erregungspotential auszugehen, wenn die Benutzer von drei der insgesamt neun überlieferten WeltchronikHandschriften von Jans Enikel ausgerechnet die Miniatur von Lots Beischlaf mit seinen Töchtern mutwillig unkenntlich machen. Dass den Vater-Tochter-Inzest auch eine gewisse Faszinationskraft ausgezeichnet haben muss, ließ sich auf einer breiten Materialbasis anhand von In-
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zesträtseln nachweisen. So veranschaulichen zum einen die konkreten Rätselfassungen, dass sich die Dichter im (auf der Basis des Prätextes gar nicht so einfachen) Bemühen, das Rätsel sinnhaft auf die Handlung zu beziehen, intensiv mit der Thematik beschäftigten. Zum anderen werden die Rätsel durch farbliche und formale Markierungen visuell hervorgehoben, das Augenmerk der Rezipierenden also gezielt auf die Rätsel gerichtet. Das Skandalon, dass ein Vater seiner Tochter zugleich ein Mann, sie ihm eine Frau sein soll, wird auch in jenen Texten ausgestellt, in denen der Prätext keinen Anlass dazu gibt, Quellentreue also nicht ausschlaggebend gewesen sein kann. Vielmehr scheint das Motiv der durch den Inzest aus den Fugen geratenen Verwandtschaft eine Faszinationskraft auf die späteren Bearbeiter ausgeübt zu haben, die sie dazu anleitet, ihrerseits Szenarien verworrener Verwandtschaft zu entwerfen. Was in den Prätexten als (drohende) Folge des Vater-Tochter-Inzests imaginiert wird, dient nun als direkter Beschreibungsparameter des inzestuösen Aktes. So zeigt sich, dass insbesondere die mit dem Inzest einhergehende Transgression der verwandtschaftlichen Ordnung die Dichter umtrieb – sie ist, so viel lässt sich auf der Grundlage der Studienergebnisse gesichert sagen, das Faszinosum mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Erzählungen vom Vater-Tochter-Inzest. Noch deutlicher ergaben sich Überschneidungen im modernen und mittelalterlichen Verständnis von Emotionen auf evaluativer Ebene. Den meisten auf den Vater-Tochter-Inzest reagierenden texinternen Emotionen ist gemein, dass sie das transgressive Potential des Tabubruchs bewusst machen, seine gravierenden Konsequenzen mit nonverbalen Zeichen plastisch vor Augen führen und den Tabubruch in spezifischer Weise bewerten. Der Vater-Tochter-Inzest bedeutet einen Verlust des Vaters als Vater und der Tochter als Tochter (Trauer), er gefährdet das Ansehen und die soziale Zugehörigkeit zu Adel und Geschlecht (Scham), setzt Welt- und Seelenheil aufs Spiel (Furcht), öffentliche Schande droht (Scham) – kurzum, das Fundament der gesamten Gesellschaft gerät ins Wanken. Dabei legen die Untersuchungsergebnisse nahe, den evaluativen Aspekt von Emotionen für das Mittelalter noch zu schärfen. Exemplarisch lässt sich dies anhand jener Erzählungen illustrieren, in denen der Inzest mit minne respektive liebe motiviert wird. Sie inszenieren das Objekt der Emotion zunächst als liebensund begehrenswert, was jedoch so gut wie nie ungebrochen bestehen bleibt, sondern Normierung und Reflexion geradezu provoziert. So ist etwa ein antithetischer Bezug bezeichnend, nämlich die Vorstellung, inzestuöse Liebe sei âne sin („ohne Verstand“), die inzestuös Liebenden sinnelôs („nicht bei Verstand“). Der starke Normdruck, den der Vater-Tochter-Inzest als Tabubruch ausstrahlt, wird so nachdrücklich betont. Besonders deutlich zeigt sich dieser Normbezug in den zahlreichen (meist kurzen) Erzählerkommentaren, welche die Inzestepisoden flankieren, in denen
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sich die Erzähler von dem, was sie zu erzählen haben, distanzieren. Hervorzuheben sind hier die beiden Minneexkurse Heinrichs von Neustadt. Zwei Formen von minne werden unterschieden, eine gesellschaftlich sanktionierte, natürliche und gottgewollte minne und eine davon abweichende, inzestuöse minne. Das transgressive Moment wird über Umwege und Erläuterungen markiert, nur in der Negation gewinnt inzestuöse Liebe Kontur und ist damit stets auf die Norm, die sie negiert, zurückgeworfen. Dabei nimmt der normative Aspekt nicht immer Exkursdimension an. Die Textanalysen haben ans Licht gebracht, dass das transgressive Moment inzestuöser Liebe häufig schlicht dadurch präsent gehalten wird, dass negativierende Adjektive attribuiert werden wie nicht raine mynne, ungestume lieb, vnordeliche liebi, unmessige lieb, mitunter ostentativ, boße hitczige falsche libe, unnatrlich lieb on scham, verbreitet auch valsche libe. Mithilfe der Adjektive wird eine wertende Ebene eingezogen, die inzestuöse Liebe über ethische Begriffe normativ abqualifiziert. In diesem Rahmen konnte die Studie ein verbindendes Muster rekonstruieren: Unabhängig davon, ob von minne oder liebe die Rede ist, ob die Norm reflexiv oder adjektivisch aufgerufen wird, den primären Maßstab bildet hier wie dort Verwandtschaft. Innerhalb des semantischen Feldes von minne/liebe werden Begehren und Verlangen mit der Zuneigung unter Verwandten kontrastiert, Verwandtschaft ist es, die den Maßstab für die Liebe bildet, ‚zu viel‘ oder ‚falsch‘ zu sein. Als anhängige ordnungsstiftende Bezugssysteme scheinen daneben die Ideale mâze, êre, kiusche und tugent auf sowie eine Werteordnung, in der der Vater-Tochter-Inzest Sünde und Schande bedeutet. Wiederholt hat sich in der Studie bestätigt, dass darüber hinaus Emotionen selbst als gesellschaftsrelevante Normen wirksam werden. Wenn inzestuöse Liebe als Liebe ohne Scham definiert wird, wird Scham zugleich implizit als Emotionsnorm entworfen; als gesellschaftlich geforderte Emotion, die das Tabu schützen soll. Daneben ist es vor allem Furcht, die als Emotionsnorm aufgerufen wird, wie in der biblisch geprägten Redeweise von Reinheit und Befleckung, welche Furcht und Schrecken vor sündhaften Taten schüren soll. Vor allem in der Auslegungstätigkeit geistlich geschulter Gelehrter des 15. und 16. Jahrhunderts ergeben sich somit partielle Überschneidungen mit dem kirchlichen Inzestdiskurs in Form eines religiös geprägten ‚Emotionsregiments‘, in dem eine durch Gott gebotene Furcht das Inzesttabu schützt. Es ist kein Zufall, dass sich in diesem Rahmen textintern weitreichende Überschneidungen ergeben haben zwischen jenen Emotionen, die mit normativem Anspruch formuliert werden, und jenen, die in Reaktion auf einen drohenden oder vollzogenen Inzest entstehen. Vielmehr machen die in der Literatur mit dem Inzesttabu verknüpften Emotionen kulturelle Klassifikationsprozesse transparent – der Vater-Tochter-Inzest ist betrauernswert, furchterregend, beschämend.
9 Fazit
331
Es sind genau diese normativen Klassifikationen, die ein historisch adäquates Bild entwerfen, das in notwendiger Ergänzung zum kirchenrechtlichen Diskurs zeigt, wie stark das Inzesttabu in Mittelalter und Früher Neuzeit emotional besetzt ist. Trotz partieller Übereinstimmungen im mittelalterlichen und modernen Verständnis von Emotionen ist mit Blick auf die Zukunft vor dem Hintergrund der zentralen Untersuchungsergebnisse vor allem das Projekt einer Historisierung von Emotionen weiter voranzutreiben. Die vorliegende Studie konnte hier nur einen kleinen Teilbereich bearbeiten. Für das Inzesttabu ist der Rahmen klar gesteckt: Als Tabubruch generiert der Vater-Tochter-Inzest sprachliche Vermeidungsstrategien und so zugleich rhetorische Umgehungsstrategien, die sich als Ellipsen, Metaphorisierungen, Personifikationen u. ä. literaturwissenschaftlich beschreiben und für die Analyse fruchtbar machen lassen. So hat die Studie nicht zuletzt bestätigt, dass der Inzest zwar so gut wie nie gänzlich ausgespart, jedoch ebenfalls so gut wie nie konkret benannt wird (außer bei Lorichius). Dieser Konnex ergibt sich aber allein für die Tabu- und verwandte Thematiken. Analog verhält es sich mit Emotionen. Als Tabubruch ist der Vater-Tochter-Inzest mit starken Emotionen verknüpft, so dass davon auszugehen war, in seinem Kontext vermehrt auf die Thematisierung von Emotionen zu treffen, die mit dem Inzest einen feststehenden Bezugspunkt, ein gemeinsames emotionsauslösendes Objekt besitzen. Hier sind allgemeingültige Aussagen leichter zu treffen als zum Beispiel bei Emotionsgestaltungen, die kein gesamtgesellschaftlich relevantes Problemfeld betreffen, das zudem aufgrund seines Tabucharakters per se emotional besetzt ist. Die Studie hat Emotionen also allein von ihrem Objekt, dem VaterTochter-Inzest, her untersucht und es muss weiteren Forschungen vorbehalten bleiben, die Tragweite der vorgeschlagenen Terminologie anhand anderer Kontexte zu überprüfen. Prinzipiell sind Konzepte wie textinterne und textexterne Emotionen sowie Rezeptions-Spuren ausreichend offen, um auch in anderen Arbeiten der mediävistischen Emotionsforschung Anwendung zu finden. Hierbei kann sich der kritische Gestus dieser Forschungsrichtung als vorteilhaft erweisen, der die Begrifflichkeiten weiter reflektiert und konturiert. Das vergleichsweise junge Forschungsfeld verfügt über das Potential, neue Perspektiven für alte Texte zu entwickeln und den noch lange nicht ausgeschöpften Erkenntniswert auszuweiten, den diese Texte in sich bergen. Warum sollte sich die Forschung darauf beschränken, Augustinus oder van Galen zu studieren, um die Alterität von Emotionen in Mittelalter und Moderne zu beschreiben? Ihr steht mit literarischen Texten eine Fülle an Möglichkeiten offen, welche die historische Forschung auf vielfältige Weise bereichern und Einsichten in die kulturelle und historische Bedingtheit auch der heutigen Kultur vertiefen kann.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 – Rudolf von Ems: Weltchronik Hochschul- und Landesbibliothek Fulda, Cod. Aa 88, fol. 47v.
Abb. 2 – Jans Enikel: Weltchronik Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 11, fol. 21r.
https://doi.org/10.1515/9783110618440-011
Abbildungsverzeichnis
Abb. 3 – Jans Enikel: Weltchronik Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 250, fol. 30r.
Abb. 4 – Jans Enikel: Weltchronik Regensburg, Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek, Ms. Perg. III, fol. 26v.
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 5 – Jans Enikel: Weltchronik ÖNB/Wien Cod. 2921, fol. 48v.
Abb. 6 – Weltchronikkompilation aus Christherre-Chronik und Jans Enikel: Weltchronik Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Hdschr. 389, fol. 35r.
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15, 17, 47, 90 f.
Cicero 78 Code 27, 37, 49, 52 – 58, 188 Defloration 182, 224, 252 Degenerationshypothese 30 f., 42 dolor 182 f., 186, 202, 223, 282 Ehe
3, 5 6 f., 9 f., 12 – 17, 20 – 23, 30, 32, 37, 55, 90 f., 101, 104, 113 – 116, 129, 134, 137, 144, 154, 158, 195, 204, 207, 215, 224, 245, 254, 256, 261, 274, 277, 283, 289, 292, 315, 317 – 320, 326 Ehre 68, 133, 162, 177, 182, 193, 199, 220, 243 – 248, 255, 260, 269, 274, 294, 304 Ekel 4, 15, 29, 41, 43, 95, 191 – 194, 197 f., 202, 212, 219, 242 f., 247, 278, 321 f., 328 Emotion 1 f., 4 f., 13 – 18, 23 f., 28 f., 40 – 79, 81 f., 84, 87 f., 92, 94 – 97, 101 f., 106 – 110, 112, 119 – 121, 123, 127, 130 – 137, 143 – 145, 153 – 156, 161 – 163, 165, 168, 171 f., 175 f., 178, 180 – 184, 186 – 188, 191 – 194, 198, 200 – 203, 205 f., 208 – 216, 218 – 224, 228 – 230, 232, 234, 237 – 240, 243, 247, 250 – 253, 262 f., 267, 277 f., 280, 282 – 285, 287, 297 f., 300, 304 f., 307 f., 310, 314 – 316, 319 – 322, 325 – 331 – Emotionsnorm 79, 171, 180, 190, 192, 195, 199 – 201, 213, 215, 243, 251, 253, 287, 321, 330 – evaluativ 45 f., 62 – 64, 79, 130, 137, 171, 174, 180, 189, 212, 278, 319, 327 – 329 – motivational 45 f., 52, 68, 102, 110, 119, 132, 214, 251, 262, 277, 285, 311, 314, 328 – normativ 58, 62 – 64, 79, 114, 137, 143, 154 – 158, 175, 182, 193, 197 f., 206, 215 f., 248, 251, 282, 299, 306 – 308, 322, 326 f., 329 – 331 – textextern 68, 71, 77, 81 f., 87 f., 96 f., 106, 109 f., 122 f., 129, 132, 137, 144, 146, 158, 161 – 163, 169, 172, 179, 193 –
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Register
198, 212, 216, 219, 223 f., 228, 237, 240, 246 f., 249 – 253, 262, 265 – 267, 278, 287, 300, 304, 307 f., 311, 320, 322, 327, 331 – textintern 63, 66 – 68, 71, 77, 81 f., 87 f., 96, 102, 104, 106 – 108, 110, 137, 177, 179 – 181, 193, 198, 213, 216, 220, 223, 228, 243, 247, 249, 278, 287, 297, 300, 305, 308, 313, 320, 327 f., 330 f. emotionalisieren 44, 70 f., 78, 84, 88, 108 – 110, 117, 119, 123, 137, 143 f., 154, 169, 205, 211, 213, 216, 229, 232, 251 – 255, 267, 277 f., 320 f. Emotionsnorm, s. Emotion Endogamie 10, 90 f., 135 Entsetzen 65, 196 – 198, 202, 213 – 216, 219 êre 120 f., 123, 132, 245, 330 Erzähler 79 f., 112, 156 f., 162, 164, 180, 186, 203, 233, 241 – 248, 250, 256 – 258, 269, 273, 306, 316, 322, 330 – Erzählerexkurs 79, 103, 115, 126, 157, 228, 241, 245 – 248, 251, 255 – 257, 306, 322 – Erzählerkommentar 74, 79, 87, 102 – 106, 113 f., 118, 123, 136, 241, 278, 283, 329 evaluativ, s. Emotion Exkurs, s. Erzähler Exogamie 9, 22 – 24, 34, 37, 90 f., 113, 134, 227, 238, 273, 316, 318 Faszination 24, 29, 51, 68, 70, 72, 151, 158 f., 161, 163, 182, 192, 209, 250, 264, 272, 275, 318 Frau Minne 236, 241 – 247, 251, 256, 278 Frau Venus 255 – 257 Freude 52, 64 f., 68 – 70, 78, 117, 120, 123 – 126, 128 – 130, 136 f., 144, 165, 174, 180 f., 188 f., 201 f., 212, 215, 228, 232, 247, 263, 285, 288, 290, 310, 314, 317, 328 Furcht 13, 17, 29, 41 – 43, 45, 47, 62, 68, 72, 77 – 79, 92, 95, 106 – 109, 112, 117 – 119, 121 – 123, 136 f., 143, 145, 165 f., 169, 173, 178 – 181, 190 – 192, 195, 198 – 200, 202, 205, 210, 216 f., 219, 246, 252, 260, 284, 287, 299, 307, 321 f., 326, 328 – 330
Furchthypothese 41 f. furor 145, 173, 182, 210, 223 f., 282 Geistliche Verwandtschaft 8, 11, 17, 326 Gender 5, 18, 22 f., 27 f., 37 – 39, 106, 127, 137, 143, 155, 171, 183, 219, 227, 237, 245, 251, 266, 294 Genealogie 10, 21 – 23, 91 – 93, 97 f., 100 – 102, 106, 112, 123, 128, 130, 135, 137, 140, 144 f., 156, 180, 189, 208, 237, 240, 250, 270 f., 302 f., 315 f., 318 – 320 Geschwisterinzest 4, 7, 14, 16, 20, 24, 30, 90 f., 198 Gottfried von Straßburg 147, 272 Gottfried von Viterbo 228 f., 236, 299, 304, 312, 315 Gratian 8 f., 91 Grauen 131 f., 190 f., 197 f., 214 – 216, 219, 283 Hass
15, 102, 114, 146, 182, 184, 191, 195, 208 f., 267, 277, 297, 299 haz 114, 129, 267, 297 Heiligkeit 1 – 3, 20 – 23, 26, 32 – 34, 42, 91, 113, 190, 240, 265, 294, 296, 298 Heinrich von München 87, 109, 139, 143 f. Heinrich von Neustadt 22, 84, 88, 222 f., 229 – 252, 254 – 259, 264 – 271, 275 – 278, 283, 285 f., 290, 303 f., 306, 308, 311 f., 315, 321 f., 330 Humoralpathologie 48 Hydraulisches Modell 48 Hyper- und Hypokognition 55, 192, 242, 328 Immersion 51, 70, 72, 75, 77, 163, 172, 250 incestus 3, 29, 105, 155, 195 Interjektion 65 – 67, 80, 161 f., 207, 242 f., 253, 285, 308, 321, 328 Inzesträtsel 163, 180, 263 f., 270, 310 f., 322, 329 ira 17 f., 182 jâmer
68, 102, 136, 197, 211, 214, 253
Register
Jans Enikel 87, 92 – 94, 96, 104, 109, 111, 116 – 127, 130, 136 – 138, 140, 143 f., 237, 328, 332 – 334 Justinian 8, 17, 32, 35 Keuschheit 3, 13, 16 f., 37, 154 f., 166 – 168, 178, 182, 197 f., 215, 217, 219, 224, 226, 228, 245, 249, 254, 265, 283, 289, 291, 295, 307 f., 315, 317, 319 Kirchenrecht 2, 8, 10 f., 13 f., 17, 25, 32, 191, 283 f., 330 kiusche 155, 330 Klage 50, 68, 102, 119, 147, 154, 186, 200, 205, 214, 253, 285, 313 Kognitive Dissonanz 262 – 265, 267, 286, 311 Komik 122 f., 163, 208, 246 f., 263, 275, 322 Konsanguinität 15, 31 kumber 136, 319 laster 17, 114, 154, 157, 171, 187, 197, 202, 206, 247, 287, 291, 326 Leid 1, 64, 95 f., 102, 110, 112, 119 f., 123, 132, 134, 136, 145, 160, 162, 172 – 174, 182 f., 186 f., 193 f., 197, 200, 210, 214 – 216, 228, 232, 239, 252 – 255, 258, 267, 277, 283, 285, 292, 299, 308 – 310, 315, 319 f. Lorichius, Gerhard 147, 152, 189 – 198, 207, 212, 214, 219, 299, 331 Lust 5, 15, 29, 45, 47, 68 – 70, 77 f., 190 f., 193 f., 196, 219, 223 f., 228, 241, 243, 248, 250, 256, 263, 275, 288 Mädchen ohne Hände 19 – 23, 126 – 128, 130, 134 f., 236 mâze 121, 155, 330 minne 102, 113, 160, 235 f., 239 – 248, 251 f., 256 f., 260, 273 – 276, 278, 321, 324, 329 f. Mitleid 24, 47, 173, 176, 181, 201, 205, 208, 250, 255, 283 Monogamie 10, 113, 115 f. motivational, s. Emotion Mutter-Sohn-Inzest 4, 14, 19 f. Narration 40, 59 – 61, 63, 78 f., 97 – 101, 103, 106, 111 f., 115, 124, 140, 147, 151 f.,
373
162, 173, 176, 178, 188, 211, 215, 218, 221, 290, 307, 309 f. Narrativ 4, 19, 30, 58 – 60, 63, 90 – 92, 121, 136, 138, 143, 183, 185, 236 f., 271 – 273, 281, 292, 304, 306 – 308, 322, 327 Neid 4, 47, 51, 81, 114, 151, 182, 208 f., 297 f. nît 49, 51, 129, 208 nonverbal 53 f., 63, 78, 102, 132, 137, 166, 169, 171 – 176, 184, 198, 201, 211, 219, 221, 224, 252, 284, 308, 329 Norm 17 f., 27 f., 36 – 39, 50, 74, 78 f., 81 f., 84, 88, 90 f., 98, 101 f., 104, 107, 112 – 116, 126, 129, 133, 145, 152, 155 f., 164 – 168, 170, 175 f., 179, 183, 185, 194 – 198, 209, 212, 219, 248, 253, 260, 274, 282, 285, 299, 303, 310, 320, 325, 327, 329, 330 normativ, s. Emotion Not 90, 95 f., 110, 136, 143, 174, 186 f., 252 Ovid
87, 145 – 152, 156 – 160, 162 – 171, 173 f., 177 – 183, 185 – 188, 190, 199 – 205, 207, 210 – 213, 216, 218 f., 228
Performativität 35 – 38, 51 – 53, 58, 71, 79 f., 157, 190 Petrus Comestor 105, 138 f. Polygamie 113, 274 f. Psychoanalyse 4 f., 18, 29, 39, 127, 131, 191, 226, 270, 317 pudor 145, 173 Rache 81, 102, 112, 159 – 161, 183 – 185, 188, 198, 202, 205, 207 f., 210, 219, 267, 277, 297 f. Rätsel 74, 174, 177, 180, 218, 225 f., 258, 260 – 267, 277 f., 285 – 287, 289, 310 – 314, 318, 322 – 325, 329 Redeweise von Reinheit und Befleckung 13, 17, 32, 79, 191, 212, 214, 284, 289, 299, 322, 326, 330 Reue 21, 29, 33, 136, 186, 195, 197 f., 202, 219, 328 Rezeptionsästhetik 53, 70 f., 74, 81, 235, 237, 262, 321
374
Register
Rezeptions-Spur 82, 87 f., 162, 194, 301, 311, 328, 331 Rezeptions-Stimulus 45 f., 61, 68, 71 f., 75, 78, 80, 82, 87, 146, 162 f., 173, 194, 203, 214, 216, 243, 246 f., 250, 252, 267, 275, 283, 307, 327 f. riuwe 186, 202 Rudolf von Ems 87, 92 – 98, 100 – 107, 110 – 112, 114, 117 f., 123, 125, 137 f., 143 f., 253, 332 Sachs, Hans 87, 148, 203 – 208, 218 f., 229, 320 f. Scham 1, 4, 16 f., 29, 42 f., 45 f., 68, 72, 102, 133 f., 136, 145, 153, 165 f., 169 – 171, 173 – 175, 181 – 184, 190 f., 193, 198, 200, 202, 205, 208, 210 – 212, 219, 224, 242 f., 247, 251, 255, 263, 278, 287, 296, 321, 328 – 330 scham/schame 102, 133, 165, 169, 174, 184, 210, 242, 251, 253 Schande 114, 129, 133 f., 157 f., 162 – 164, 166, 170 f., 174 f., 179, 181, 184 f., 194, 197 f., 200, 202 f., 206, 210 – 215, 217, 220, 224 f., 243, 246, 254, 260, 269, 277, 285, 329 f. Schedel, Hartmut 87, 138 Schmerz 39, 45 f., 65, 68, 95 f., 119 f., 136, 145, 153, 161 f., 168 f., 182, 186 f., 189, 191, 198, 203, 211, 223, 245, 252, 282, 285 Schwägerschaft 6, 8, 30 f., 34 f., 101, 119, 158, 167, 184, 194, 198, 297 f., 326 Schwager-Schwägerin-Inzest 150, 198, 217, 291 Sodomie 37, 140, 191, 196 f., 245 Sorge 42, 91, 107 – 110, 112, 143, 160, 173, 243, 314, 319 Spannung 19, 24, 45, 72, 120, 129 f., 173, 200, 219, 223, 238 f., 247, 252, 255, 260, 272 Spott 65, 199, 246 f., 278 Spreng, Johannes 88, 148, 207 – 221, 299 Steinhöwel, Heinrich 88, 229 f., 254, 278, 299 – 320, 322 f.
Tabu
2, 13, 22, 25 – 30, 32 – 43, 64, 79, 82, 84, 88, 91, 98, 100, 110, 115, 117, 122 f., 137, 141, 163 f., 170, 175 f., 178 – 180, 191, 200, 214, 218, 227, 241, 243, 249, 253, 261, 285, 306, 318 f., 321 f., 325 – 327, 329 – 331 tabuisieren 28 f., 40, 54, 88, 98, 101, 106, 113, 141, 143, 150, 189, 209, 218, 233, 325 textextern, s. Emotion textintern, s. Emotion Thomas von Aquin 14 – 16, 32, 38 f., 44, 68 – 70, 75, 91, 166, 209, 240, 271, 279, 297 Thüring von Ringoltingen 318 f. timor 92, 95, 107, 145, 166 tobeheit 160, 182, 210, 282 Transgression 28, 35, 100 f., 110, 122, 141, 144 f., 150, 155 f., 159, 162, 168, 178, 180, 195, 198, 202, 204 f., 216, 218, 244, 249, 272, 274, 282, 285, 320, 329 f. Trauer 4, 64, 68 f., 78, 95, 119, 130, 132, 136 f., 144, 161, 166, 172, 178, 180 – 183, 188, 198, 200, 202, 205, 208 f., 214 f., 219, 224, 237, 252, 255, 284 f., 288, 298, 305, 308 f., 317, 319 – 321, 328 – 330 Tugend 166, 182, 206, 234, 246 f., 251, 258, 271, 273 f., 283, 291, 315, 317, 326 una caro-Lehre 6, 101, 266, 313 ungemach 118 f., 134, 136, 239, 267 Universalität 1, 56 unmuot 172 Unschuldig verfolgte Frau 127, 135, 292 Verwandtschaft 6 – 11, 13 – 16, 19, 30, 34 – 38, 59, 70, 91, 98, 100, 106, 114 f., 118 f., 154, 163 – 168, 177, 181, 198, 200, 215, 218, 220, 244, 254, 261, 267, 282, 297, 304, 306, 325 f., 329 f. Verwandtschaftsverwirrung 36, 103 f., 163, 180, 249 f., 254, 264, 312, 322 f., 329 Verzweiflung 65, 97, 108, 166, 172, 188, 201, 205, 208, 211, 308 f. Viersäftelehre 48
Register
vorhte 51, 95, 107 f., 284 vreude 120, 130, 181
Wut
Wickram, Georg 87, 148 – 154, 156 – 158, 160 – 164, 167 – 171, 173 f., 176 – 179, 181 – 190, 195, 197 f., 201, 203, 208, 210, 214, 216, 218 – 221, 253 f. Wolfram von Eschenbach 133, 312 Wollust 69, 190, 196 f., 204, 245 wuot 182, 282
Zorn
375
65, 69, 145, 173, 182 f., 188, 202, 205, 210, 214, 219, 282, 298, 307, 328
1, 17 f., 47, 55, 64, 79, 92, 95, 102, 109, 112, 136, 143, 182 f., 188, 198, 202, 208, 214, 220, 233 f., 267, 269, 277 f., 286 f., 297, 299, 310, 313, 315 f., 319, 321, 326, 328 Zweifel 16, 65, 91, 101, 108 f., 116, 143, 171, 205, 219, 247
Verzeichnis der Handschriften und Drucke Handschriften Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Hdschr. 389 100, 140 f., 334 Ms. germ. fol. 480 141 f. Ms. germ. fol. 1108 106 Colmar, Bibliothèque de la Ville, Ms. 305 96, 100, 104 Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 1 142 Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek, Mscr. A 49 142 Mscr. A 50 142 Fulda, Hochschul- und Landesbibliothek, Cod. Aa 88 96, 99, 332 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 79 96 – 99 Cod. Donaueschingen 86 301, 311 Cod. Donaueschingen 150 301, 303, 311 Kassel, Universitätsbibliothek Kassel – Landes- und Murhardsche Bibliothek zu Kassel, Ms. theolog. 2° 4 96 f., 100
Leipzig, Universitätsbibliothek, Ms 1279 279 f., 284, 286, 290 f., 296 Linz, Oberösterreichische Landesbibliothek, Cod. 472 125, 140 f. München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5 109, 111, 134 Cgm 11 124 f., 332 Cgm 250 100, 124, 140 f., 333 Cgm 6406 96, 104 Cgm 7364 139 Regensburg, Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek, Ms. Perg. III 125, 333 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. bibl. 2° 5 96, 99 Cod. HB XIII 6 96 – 98, 104 Wien, ÖNB [Österreichische Nationalbibliothek], Cod. 2921 125, 334 Cod. Ser. nova 2642 125, 140
Drucke GW 2273 Augsburg: Günther Zainer, 1471 311 GW 2274 Augsburg: Johann Bämler, 1476 305, 309, 311 GW 2277 Ulm: Konrad Dinckmut, 1495 305, 309 VD16 A 3135 Straßburg: Matthias Hupfuff, 1516 301, 304 f., 310 VD16 A 3136 Augsburg: Hans Zimmermann, 1552 301, 306
https://doi.org/10.1515/9783110618440-013
VD16 B 8646 Augsburg: Heinrich Steiner, 1541 199 VD16 O 1663 Mainz: Ivo Schöffer, 1545 148 VD16 O 1664 Mainz: Ivo Schöffer, 1551 220 VD16 O 1665 Frankfurt a. M.: Johann und Sigmund Feyerabend, 1581 220 VD16 S 8377 Frankfurt a. M.: Georg Rab, Sigmund Feyerabend und Weigand Han, 1564 207 VD16 ZV 30895 Magdeburg: Johann Francke, um 1600 304