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German Pages 303 [304] Year 2004
'Jiheatron
Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele
Band 43
Mischa Delbrouck
Verehrte Körper, verführte Körper Die Olympischen Spiele der Neuzeit und die Tradition des Dionysischen
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-66043-0
ISSN 0934-6252
© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gesamtherstellung: A Z Druck und Datentechnik G m b H , Kempten
Danksagung
Die vorliegende Studie wurde während ihrer Entstehung durch ein Promotionsstipendium der Graduiertenforderung des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert. Ohne diese finanzielle Beihilfe wäre mir die Realisation des Projekts nicht möglich gewesen. Die Idee zu Verehrte Körper, verführte Körper ist in zahlreichen Gesprächen mit Prof. Dr. Guido Hiß gewachsen, der das Buch maßgeblich mitinitiiert hat. Durch seine Betreuung als Erstgutachter und freundschaftliche Beratung begleitete er die Entstehungsgeschichte vom Anfang bis zur Drucklegung und wirkte sowohl als Inspirator wie fachliches Korrektiv befruchtend auf die Arbeit ein. Weitere wissenschaftliche und organistorische Unterstützung erhielt ich bei Prof. Dr. Franz R. Stuke sowie dem Team des Instituts fiir Deutschlandforschung an der RuhrUniversität Bochum (Prof. Dr. Paul Gerhard Klussmann, Dr. Frank Hoffmann und Silke Flegel). Als hilfreich erwies sich zudem das kooperative Verhalten von Manfred Seeger, Nationales Olympisches Komitee Deutschland, der mir u.a. diverse Videomitschnitte Olympischer Eröffnungsfeiern zur Verfugung stellte. Zahlreiche weitere Menschen haben mir durch Aufmunterungen, offen gezeigtes Interesse am Gegenstand meiner Studie, technischen Support bei PC-Problemen oder die Bereitstellung von Materialien jeder auf seine Weise sehr geholfen. Robin Schmaler, Jutta Velten und Günter Delbrouck erwiesen sich nicht nur als fleißige und aufmerksame Korrekturleser, sondern haben durch ihre Diskussionsbereitschaft auch inhaltlich die Studie bereichert. Danken möchte ich meinen Eltem für die langjährige Unterstützung und das in mich gesetzte Vertrauen sowie vor allem Mirjam, Ronja und Jannis, die mit ihrer weit reichenden Liebe und Geduld wesentlich dazu beigetragen haben, das Buch zu vollenden.
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1
1.1. Olympia und die Theaterwissenschaft 1.2. Vorgehensweise 1.3. Materiallage
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2. Körper, Sport und das dionysische Prinzip. Theorien zum Verständnis des Themas
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2.1. 2.1.1. 2.1.1.1. 2.1.1.2. 2.1.1.3. 2.1.2. 2.1.2.1. 2.1.2.2. 2.1.2.3. 2.1.3. 2.1.3.1. 2.1.3.2. 2.1.3.3. 2.1.4. 2.1.4.1. 2.1.4.2. 2.1.4.3. 2.1.4.4. 2.2. 2.2.1. 2.2.2.
Warum Körper? Die Verehrung der Körper in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen Körper haben, Körper sein. Der Körper als Thema von Soziologie und Philosophie Von Descartes zur Freikörperkultur. Abriss einer neuzeitlichen Körpergeschichte Denken über Körper. Merleau-Ponty, Bourdieu, Foucault „Die somatische Gesellschaft". Körperverehrung und - Verführung in der populären Kultur Zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Die Bedeutung des Körpers für das Theater und die Theaterwissenschaft „Der tatsächlich daseiende Mensch" - Körper auf der Bühne Die Materialität der theatralischen Kommunikation Postdiamatisches Theater und die Kultur des Präsenz Somatische Medientheorien Zwischen Eliminierung und Fetischisierung - Körper im Medienzeitalter . Physiologische Reize The interplay of senses - Multimedialität und taktile Wahrnehmung . . . . Körperspiele. Aktuelle Tendenzen der Sportphilosophie Inszenierungen. Athletenkörper als „social bodies" Körperkult. Die Bedeutung des Sports für die „somatische Gesellschaft" . Emotionen. Anteilnahme an Sport und Femsehsport Sport und seine Bedeutung für Theater-und Medientheorie
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Berührungspunkte: Sport in der Theaterwissenschaft und die sportwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Kunstbegriff 40 Erweiterungen. Theatralitätsforschung und ihre Felder 41 Ritus, Spiel und Performanz. Der Sport als Theatennodell 42
VII
2.2.3. 2.2.3.1. 2.2.3.2. 2.2.3.3.
Sport und Theater. Der Sport als Kunst Schönheit und Ästhetik im Sport. Kunsttheorien in der Sportwissenschaft. Olympische Spiele - ein „Gesamtkunstwerk"? Sport und das Erbe des Dionysischen
44 45 SO 52
2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.4.
Das dionysische Prinzip Nietzsches Geburt der Tragödie Nietzsche als Bezugspunkt. Entwicklungslinien des dionysischen Prinzips Mythos, Masse, machtvolle Musik - Merkmale dionysischer Kunst Dionysos in Olympia. Berührungspunkte von den Ursprüngen bis zur Gegenwart
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3. Von Bayreuth nach Olympia. Vergleich von Wagners und Coubertins Programmen 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.4. 3.1.5. 3.1.6.
Das „rein menschliche" Gesamtkunstwerk. Wagners Kunstprogramm aus den Züricher Schriften Luxus, Mode, Künstlichkeit. Wagners Weltsicht Das Vorbild: Das Theater des antiken Griechenlands Mythos, Festspiel, Kunstreligion. Die bindende Kraft des Kunstwerks der Zukunft Die Totalität sinnlicher Wirkungen. Das Theater als Ort der Kunstsynthese Die Materialität des Gesamtkunstweiks. Nietzsches Wagnerkritik Schönheit und Liebe - Wagners Traum vom Menschen der Zukunft . . . .
Olympia als „Gesamtkunstwerk". Der Olympismus Pierre de Coubertins 3.2.1. Sport im 19. Jahrhundert. Der Kampf gegen die Vernachlässigung des Körpers 3.2.2. Olympia als Lebensaufgabe - Coubertins Biographie 3.2.3. Krankheiten und Zerfall. Coubertins Weltsicht 3.2.4. Der Kampf gegen die Dekadenz. Sport als Therapie 3.2.5. Die Eurythmie des Lebens. Harmonisierung von Körper und Geist im Sport 3.2.6. Sport - Kunst - Religion. Das Vorbild der antiken Olympischen Spiele . . 3.2.7. Olympias Wiedergeburt 3.2.8. Gottesdienste am olympischen Feuer. Mythen, Kult und gemeinschaftliche Werte in Coubertins „religio athletae" 3.2.9. Sinnliche Arrangements. Die Beteiligung der Künste am Olympischen Fest 3.2.10. Ο Sport, du bist die Schönheit! Olympische Körper- und MenschheitsVerehrung
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73
73 74 77 80 85 90 92
3.2.
VIII
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4. Olympia und die Geschichte des dionysischen Theaters. Das Beispiel der Eröffnungsfeier von Barcelona 1992 4.1. 4.1.1. 4.1.2.
4.1.3. 4.1.4. 4.1.5. 4.1.6.
Formen dionysischer Theaterkunst Das Zeitalter der politischen, sozialen und künstlerischen Massenbewegungen Beispiele des Massentheaters: Reinhardts „Theater der Fünftausend", Massenschauspiele der Russischen Revolution, nationalsozialistisches Thingspiel Das Spiel mit den Massen. Funktion und Wirkung der Massen für die Theateiprojekte Inszenierungsmeikmale im Massentheater Das „Unglaublichste glauben". Mythos und Mythisches im Massenschauspiel Der Mensch in der Masse - Anmerkungen zur Massenpsychologie
.friends for life". Die Olympische Eröffnungsfeier von Barcelona 1992 4.2.1. PR-Arbeit und Initiationsriten. Die Bedeutung der Zeremonien für das Olympische Fest 4.2.2. Organisation und Ablauf der Eröffnungsfeier von Barcelona 4.2.3. „Don't argue. Just believe". Symbolische, rituelle und legendäre Momente in der Präsentation der Olympischen Idee 4.2.4. Bewegte Massen. Kollektivbildungen auf der Bühne und im Zuschauerraum 4.2.5. Einheit durch Freude. Das Musikkonzept in Barcelona 4.2.6. Olympic Sea / Mediterranean Sea. Darstellung des Herkules-Mythos in Barcelona 4.2.6.1. Herkules als katalanischer und olympischer Mythos 4.2.6.2. „Leute mit Emotionen und Energie". Das Theaterkonzept von „La Fura dels Baus" 4.2.6.3. Bilderfluten im Olympiastadion. Der Inszenierungsstil des Herkules-Mythos 4.2.7. Opfer und Massen. Körperbilder während der Eröffnungsfeier 4.2.8. Dionysisches Barcelona. Zusammenfassung der Ergebnisse
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126 128 132 136 138
4.2.
5. Olympia als Paradies. Riefenstahls Olympia-Filme und ihre Bedeutung für das NS-Regime 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.5.1. 5.5.2.
Film als „Gesamtkunstwerk" Ästhetisierungstendenzen im Dritten Reich Symbiose faschistischer und olympischer Träume Nationalsozialistischer Körperkult Begehrenswerte Schönheit. Körperbilder im Berliner Olympia-Film Die filmische Karriere Leni Riefenstahls Entstehung, Einordnung und Zusammenfassung des Olympia-Films . . . .
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IX
5.5.3. 5.5.3.1. 5.5.3.2. 5.5.3.3. 5.5.3.4. 5.5.3.5. 5.5.3.6.
Synthese von Körperattiaktionen. Künstlerische Strategien in Riefenstahls Filmen Entzauberung in Fleisch und Blut - Antike und Gegenwart im Prolog . . . Zeremonielle Wiederholungen - Sport als Ritual Gemeinschaftsgefühle im Berliner Olympiastadion Fest der Schönheit Der Marathonlauf-Triumph des Willens Begehrte Körper
6. „Spektakel der Gefühle". Die Inszenierung Olympischer Spieleim Fernsehen
194 194 201 204 207 210 214
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6.1. 6.1.1. 6.1.2.
,.Dabei sein ist alles". Femsehen am Ende der Gutenberg-Galaxis. „Lava der Bilderströme" - die Welt der Neuen Medien TV-Kollektive - die „Kommunikationsgemeinschaft der Fernseher" . . . .
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6.2. 6.2.1. 6.2.2. 6.2.3.
Dionysos in der Maschine. Berauschender Fernsehsport „Media events" Medienprodukt Femsehsport Emotionen und Mythen - TV Gestaltung von Sportereignissen
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6.3. 6.3.1. 6.3.2. 6.3.3. 6.3.4.
,Magic Everywhere". Die Femsehinszenierung von Sydney 2000. Fernsehspiele. Olympia und TV Olympiarekord. Der Aufwand der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. . Ereignisse über Ereignisse - Live-Übertragungen rund um die Uhr Heile Olympische Welt - die Botschaft des IOCund die Geschlossenheit der TV-Spiele Nachrichten, Helden, Erinnerungen. Regelmäßige Rubriken der Olympiaübertiagungen Massen im Stadion und Massen vor den Bildschirmen. Die Eröffnungsfeier im TV Der Mythos der Versöhnung im Zeichen Olympias. Die Inszenierung von Cathy Freemans Goldlauf über 400 m Deutsche und Doping. Die Erzeugung nationaler Identität The best games ever
241 242 244 245
6.3.5. 6.3.6. 6.3.7. 6.3.8. 6.3.9.
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7. Resümee
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Literatur- und Filmverzeichnis
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X
1.
Einleitung
1.1. Olympia und die Theaterwissenschaft Noch vor gut einem Jahrzehnt wäre eine theaterwissenschaftliche Dissertation, die sich mit den modernen Olympischen Spielen auseinandersetzt, kaum denkbar gewesen. Dass ein solcher Ansatz mittlerweile möglich ist und ihm, wie ich in verschiedenen Diskussionen festgestellt habe, durchaus wohlwollende Sympathie entgegengebracht wird, hat zwei Ursachen: zum einen die von der Theatralitätsforschung inspirierte Öffnung der Theaterwissenschaft zu neuen Feldern, zum anderen ein generell erwachtes - auch geisteswissenschaftliches - Interesse am Sport. Bis weit in die 80er Jahre hinein erschien der Sport den Intellektuellen im deutschsprachigen Raum verdächtig. Lange war die Sicht auf den Sport von einer Ideologiekritik wie der Adornos gekennzeichnet:1 Sport gehörte ins „Reich der Unfreiheit",2 verführte die Massen und vergrößerte die „Kluft zwischen dem Volk und den mahnenden Intellektuellen".3 Diese Skepsis ist in den letzten Jahren einer zunehmenden Aufmerksamkeit gewichen. Während Heinrich Boll noch vom „verfluchten, stundenlangen Fußballspielen"4 schrieb, lässt sich Günter Grass heute mit Fanschal auf der Tribüne des Freiburger Dreisamstadions ablichten. Das Verhältnis der beiden letzten Literatumobelpreisträger Deutschlands zum Fußballspiel steht paradigmatisch für die Entwicklung des Sports im öffentlichen Bewusstsein vom nutzlos erscheinenden Volksspektakel zum allgemein anerkannten Kulturgut. Die neue Aufwertung des Sports durch die Intellektuellen lässt Zusammenhänge zur postmodemen Diagnose von der Krise des Sinns erahnen. Dort, wo den Hermeneutikem der Sport suspekt erscheinen musste, da er allenfalls auf einer Meta-Ebene als Symbol der leistungsorientierten Konkurrenzgesellschaft gelesen wurde, sich ansonsten aber dem interpretatorischen Zugriff weitestgehend entzog, wird er nun, gerade weil er die Antwort auf die Sinnfrage verweigert, zum Modell gegenwärtiger westlicher Kultur.5
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Vgl. Harry Nutt: Hauptsache Sport. Zwischen Ideologiekritik und Rezeptionsästhetik. In: „Merkur", 1989, H. 3, S. 242-245. Theodor W. Adorno: Prismen. Zitiert nach Nutt, Hauptsache Sport, S. 242. Helmut Böttiger: Kein Mann, kein Schuft, kein Tor: das Drama des deutschen Fußballs. München 1993, S. 9f. Heinrich Boll: Ansichten eines Clowns. Zitiert nach Böttiger, Kein Mann, S. 10. Vgl. dazu Sven Güldenpfennig: Sport: Kunst oder Leben? Sportsoziologie als Kulturwissenschaft. St. Augustin 1996 bzw. Hans-Ulrich Gumbrecht: Die Schönheit des Mannschaftssports. American Football - im Stadion und am Femsehen. In: Gianni Vattimo u. Wolfgang Welsch (Hg.): Medien - Welten - Wirklichkeiten. München 1998, S. 201-228.
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Der Sport hat mittlerweile in den heiligen Hallen der Kultur Aufnahme gefunden, denn die Kultur selbst ist sportlich geworden. 6
Diese Entwicklung hat das Selbstbewusstsein all derer, die sich mit dem Sport befassen - Funktionärinnen und Funktionäre, Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler - erheblich verstärkt. Mit Begriffen wie Ritual, Spiel oder Volkskunst wird der Sport aufgewertet - und auch, dass der Sport die sozialen Funktionen der großen Religionen in unserer Zeit übernommen haben soll, ist beinahe schon eine Binsenweisheit. Wo die Religionen an Bedeutung fürs gemeinschaftliche Leberi verlieren, kann der Sport zu einem Surrogat werden. Er beantwortet keine Fragen nach dem Sinn des Lebens oder der Genesis von Welt und Mensch, aber er durchbricht die Alltäglichkeit des Seins und er führt Menschen zu einem gemeinsamen Erleben zusammen. Die Parallelen sind deutlich und werden in Werbespots und Mediendarstellungen aufgegriffen: Statt des sonntäglichen Kirchgangs wird der Besuch im Fußballstadion am Samstag zum obligatorischen Familienprogramm, Sportstars werden ikonenhaft wie Heilige verehrt, ihre sportlichen Taten sind Mirakel, ihre Autogramme werden zu Reliquien. Nicht zuletzt strukturieren die sportlichen Großereignisse den Jahreskalender wie religiöse Feste. Europameisterschaften und Weltmeisterschaften werden zu Hochämtern der Sportkultur. Das gilt um so mehr für die Olympischen Spiele, in der Antike selbst kultischen Ursprungs und mit einem zeremoniellen Rahmen versehen, der dem religiösen Kontext unmittelbar entliehen ist. Entscheidend ist jedoch vor allem: Sport veranlasst Menschen, etwas gemeinsam zu tun, und die Grenze zwischen Akteuren und Zuschauern verwischt mit steigender emotionaler Anteilnahme des Publikum. Das Publikum wird zum Teil des Ereignisses und feiert auch die eigene Geschlossenheit. Darin ähneln Sportspektakel Messen. Diese gemeinschaftsbindende Art der .Auffuhrung" moderner Sportereignisse verspricht interessante Erkenntnisse für eine theaterwissenschaftliche Aufarbeitung, denn sie erinnert in ihrer Form und Funktion an dionysisches Theater. Nachdem die idealistisch überfrachteten Massentheaterexperimente der 10er, 20er und 30er Jahre ebenso scheiterten wie die großen politischen Massenbewegungen jener Zeit, sind es solche Events wie Love Parade, Rock-Konzerte, Karnevalsumzüge oder eben Sportereignisse, die ihre Funktion übernommen haben. Hier wie dort werden Individuen zu „Ornamenten der Massen"7 geformt, unter dem Versprechen, sich für kurze Zeit von der Last des Ichs befreien zu können. Hier wie dort werden große Gemeinschaften errichtet, die im Sinne einer übergeordneten Idee zusammengeschlossen werden, ganz gleich ob diese Idee die Weltherrschaft des Sozialismus, die Verachtung der Juden, die Freude am Tanzen, die Verehrung eines Popstars oder der Sieg der „eigenen" Mannschaft heißt. Hier wie dort ist das Erlebnis wichtiger als das Verständnis, zählt das Dabei-Sein mehr als die Interpretation des Erlebten. Es geht nicht primär darum, Sinn zu vermitteln, sondern Sinnlichkeit zu erfahren. All diesen Veranstaltungen ist gemeinsam, dass die Fülle von Reizen Emotionen wecken soll, die sich
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Nutt, Hauptsache Sport, S. 245. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main 1963.
zum Rausch steigern können. Massenevents setzen am Körper ihrer Rezipientinnen und Rezipienten an. In dieser .Materialität der Kommunikation",8 die von aktuellen Tendenzen der Theaterwissenschaft beleuchtet wird, liegt der Schnittpunkt zwischen Theater und Sport. Seit einigen Jahren beherrscht der Diskurs über die Körper die Disziplin. Hans-Thies Lehmann hat einen Paradigmenwechsel ausgemacht, nach dem das Theater nicht mehr länger ausschließlich der mimetischen Tradition verhaftet sei, sondern durch seine Sinnlichkeit und Dinglichkeit wirke und dabei den Körper des Schauspielers in das Zentrum rücke.9 Was Lehmann als kennzeichnend für das „postdramatische Theater" bestimmt, ist einerseits das Erbe der Avantgarden, gilt andererseits aber auch für den Sport. Körper haben im Sport die größtmögliche Bedeutung, denn Sport wird in erster Linie als Bewegung von Körpern wahrgenommen. Sport ist ein Schauspiel von Körpern, die wegen ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer Schönheit bewundert und „verehrt" werden, aber Sport ist auch ein Schauspiel für Körper, denn das bekannte Arsenal synästhetischer Reizüberflutung - die den Zuschauer umgebende Masse, rhythmische Stimulation, bombastische Gesänge, Muster sich bewegender Körper im Raum, so genannte „lebende Bilder" aus Menschengruppen, alles dramatisch zugespitzt durch den archetypischen Kampf, den die Sportlerinnen und Sportler ausfechten - nimmt die Zuschauerinnen und Zuschauer gefangen und „verführt" sie, am Sportereignis teilzuhaben.10 Die ,JLa-01a-Welle" im Sportstadion ist die Erfüllung einer Sehnsucht, die auch die Experimente dionysischer Theaterkunst bestimmte: Rhythmisch bewegte Massen als gemeinschaftlicher Ausdruck eines begeisterten Publikums - davon träumten auch Wagner und Nietzsche. Gemessen an Zuschauerzahlen und Anteilnahme des Publikums, aber auch bezogen auf die Lebensdauer und die Häufigkeit seiner Veranstaltungen ist der Sport im Vergleich zu den mit großen Ambitionen gestarteten politischen Massentheaterbewegungen außerordentlich erfolgreich. Das hat seinen Grund möglicherweise darin, dass er anders als das Theater sich nicht erst von seiner Zeichenhaftigkeit befreien und gegen die Übermacht der Sprache rebellieren musste. Im Gegensatz zum traditionellen dramatischen Theater gilt Sport nicht notwendigerweise als etwas zu Interpretierendes. Zwar sind alle sportlichen Handlungen auch Weiterentwicklungen des archetypischen Kampfes des Menschen gegen sich selbst und andere, aber das darstellende Moment im Sport ist eher gering. Das bedeutet
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9 10
Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt am Main, 2. Aufl., 1995. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main 1999. Wenn ich an dieser Stelle von „verführten Massen" spreche, so möchte ich das abheben von der eingangs zitierten Ideologiekritik der Frankfurter Schule. Es soll nicht heißen, dass der Sport Opium fürs Volk ist, das von den wahren Problemen ablenkt, oder - wie in jüngerer Zeit aufgrund der zunehmenden Kommerzialisierung oft zu lesen - dass der Sport lediglich eine gigantische Wiitschaftsmaschinerie in Gang hält, die die Begeisterung nur inszeniert, um den Fan zum Käufer zu machen. Vielmehr ist hier gemeint, dass der Sport aufgrund der starken Gefühle, die er evoziert, jedem Zuschauer zahlreiche Anknüpfungspunkte bietet, sich dem sportlichen Ereignis in vollster Konzentration zuzuwenden und die Außenwelt dabei zu vergessen. Allerdings ist es diese Eigenart des Sports, die ihn anfallig dafür macht, von politischen oder wirtschaftlichen Interessen vereinnahmt zu werden.
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nicht notwendigerweise, dass die Körper der Spitzensportlerinnen und -sportier „agents provacateurs einer sinnfreien Erfahrung" 11 sind, wie überhaupt die Sinnlichkeit nicht zwangsläufig gegen den Sinn ausgespielt werden muss. Dass sportliche Handlungen sinnvolle Handlungen sein können, arbeiten die verschiedenen Ansätze der Sportphilosophie heraus. Wie immer man den Sinn jedoch bestimmen mag: Er ist nicht entscheidend bei der Betrachtung von sportlichen Wettkämpfen und Abläufen, weder zum Verständnis noch zum Genuss. Sport erklärt sich selbst und repräsentiert nicht - zumindest nicht primär - die Außenwelt. Zwar ist es möglich, den Sport als Zeichensystem zu verstehen und bestimmte Sportarten als Allegorien zu interpretieren, aber in der Entschlüsselung liegt kaum die Faszination begründet, die der Sport auf weite Teile der Weltbevölkerung ausübt.12 Wenngleich auch die kognitive Wahrnehmung beim Sport nicht zu vernachlässigen ist - zum Beispiel bei der Antizipation von Spielzügen - , so sind es doch eher die emotionalen Momente, die die „Lust der Betrachtung" 13 wecken und den Zuschauer ekstatisch stimmen: die Ungewissheit des Ausgangs, das Leiden der Athleten und ihr Jubel, die Schönheit der Bewegungen und der Körper, die Anfeuerungsrufe und das rhythmische Klatschen der umgebenden Zuschauermasse. Die Gegnerschaft der sportlichen Kontrahenten und die Parteinahme des Publikums schaffen Identifikation und Partizipation und ermöglichen so jene Gemeinschaft von Spielenden und Schauenden, auf die auch die dionysischen Theaterprojekte abzielen. Im Sport drückt sich beispielhaft das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft aus. Während die Sportstars zu Helden erhoben werden, werden die Zuschauer in große Kollektive zusammengefasst, räumlich im Stadion und imaginär durch das gemeinsame Anbeten eines Stars oder einer Mannschaft vor den Fernsehgeräten. Der Sportheld erscheint mit der Aura eines Heiligen, seine Gemeinde sind die Fans: Allein ist der Held nichts. Neben den Mythenmachem braucht er die Zuschauer. [...] Ihre Emotionen werden von den Medien auf Hochtouren gebracht: alle Gefühle und Wünsche sind auf Empfang gestellt: „Fiebern Sie mit!" So werden die Zuschauer zu Fans gemacht: Fans für die Mythen, für alle Mythen, die im Spiel sind - die der Sportler, der Werbung, des TV-Senders und der Fans von sich selbst.14
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Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 366. So charakterisiert Lehmann die Körper der Performer in einem Theater, das sich aus der Tradition der Repräsentation befreit hat. Vgl. dazu Gumbrecht, Schönheit des Mannschaftssports, S. 203. „Es gibt eine [...] Tradition, verschiedene Mannschaftssportarten als Allegorien zu verstehen. Baseball soll die Nostalgie ftlr ein ländliches Amerika ausdrucken, [...] American Football wird interpretiert als eine Inszenierung des kapitalistischen [...} Expansionsdrangs. [...] [Ich frage] mich, ob irgendjemand, der bei Sinnen ist, (vor allem von berufstätigen Personen mit vollen Terminkalendern) mehrere Stunden opfern und Eintrittskarten vom Preis bis zu mehreren hundert Dollars bezahlen wurde, nur um eine Allegorie des ländlichen Amerikas oder des habgierigen Kapitalismus zu sehen" (ebd). Martin Seel: Die Zelebration des Unvermögens. Zur Ästhetik des Sports. In: .Merkur" Nr. 2/1993, S. 91-100. Gunter Gebauer: Die Mythen-Maschine. In: Volker Caysa (Hg.): Sportphilosophie. Leipzig 1997, S. 305.
Fans und Sportstars sind voneinander abhängig und bilden eine ideelle Einheit, die durch Körperverehrung und Körperverführung möglich gemacht wird. Dass ich die Olympischen Spiele der Neuzeit zum Gegenstand meiner Studie gemacht habe, liegt auch an der Bedeutung der von Baron Pierre de Coubertin ins Leben gerufenen Spiele, die das Bild vom modernen Sport bis heute maßgeblich geprägt haben. In der Formel „all games, all nations" drückt sich ein Ganzheitsanspruch aus, vergleichbar dem, der in der Vokabel vom Gesamtkunstwerk steckt. Dabei sind Olympische Spiele mehr als reine Sportveranstaltungen. Sie sind von Coubertin mit einem Wertekanon und ideologischem Überbau versehen worden, gelten als Feste der Jugend und des Friedens, werden durch ihre Symbolik und das Eröffnungs- und Abschlusszeremoniell in die Sphäre des Kulturellen, ja Rituellen gehoben. Von Beginn an sollten nicht nur die Sportarten, sondern auch die Künste im modernen Olympia vereint werden und Körper und Geist zu einer harmonischen Einheit zusammenfinden: Die Olympische Idee ist [...] der Inbegriff einer stark ausgeprägten Kultur des Leibes, die einerseits auf dem Geist der Ritterlichkeit basiert, und zum anderen auf dem ästhetischen Grundsatz des Kultes der Schönheit und der Anmut.15 Der Kult der Schönheit ist nicht nur in den Kunstwettbewerben und Zeremonien der Spiele wieder zu finden, sondern im gesamten Olympischen Fest. Es ist der sportlich ausgebildete Körper, der zum Kunstwerk wird, welches im Glanz der anderen Künste neu erstrahlt: Stellen Sie ihn [den Athleten, d. Vf.] sich im Sonnenglanz vor, durch Musik erhöht und eingefügt in den Bau von Säulenhallen. So wurde einstmals an den Ufern des Alphäus der schillernde Traum des antiken Olympismus geboren.16
Der Traum, schöne - und gesunde - Körper zu formen, ist als ästhetisch überhöhter Ausdruck einer bestimmten Idee vom Menschsein auch der übergeordnete Gedanke, der die olympische Veranstaltung zusammenhält. Die Attraktivität der Körper macht ein hohes Maß der Attraktivität Olympias aus und vermittelt letztlich die gemeinschaftsbindenden Werte wie Frieden, Völkerverständigung oder National stolz. Anders ausgedrückt: Die Schönheit des Sports lässt die über den Sport vermittelten Ideale erstrebenswert erscheinen. Die Taten des Sports sind gute Taten. Interessant ist, dass das Publikum die Botschaft über Körper, die der Sport bereithält, am eigenen Leib erfährt, nämlich durch die vom olympischen Zeichensystem reichlich beanspruchten (und manchmal überforderten) Sinne. Körper stehen daher in vielfältigen Aspekten im Mittelpunkt des Olympischen Festes und dementsprechend auch im Mittelpunkt dieses Buches. Zu fragen ist auch nach Körperkonzeptionen: nach der politischen und ästhetischen Idealisierung des Sportlerkörpers im jeweiligen historischen Kontext; dem Verschwinden des individuellen Körpers im Ornament der Masse; der Überwältigung des Intellekts im Rausch der Sinne. In diesen Punkten ist das dionysische Erbe des modernen Olympia erkennbar. Auch der Vergleich zu Bayreuth ist nahe liegend, zumal deutlich ist, wie sehr der Olympia15
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Pierre de Coubertin: Der Olympische Gedanke. Reden und Aufsätze. Hg. vom Carl-DiemInstitut an der Deutschen Sporthochschule Köln, Schorndorf bei Stuttgart 1967, S. 21. Ebd., S. 86f.
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gründer Coubertin von den Ideen und den Werken Wagners inspiriert wurde. Ganzheitsanspruch, synthetisches Denken, ästhetischer Rahmen, Festspielcharakter, mythisches Erscheinungsbild und Kollektivideale prägen die neuzeitlichen Spiele vom Beginn ihrer Entstehung an. Am Olympischen Feuer wird nicht das Nibelungenlied gesungen, aber Geschichten vom antiken Griechenland erzählt und neue Mythen um Sportstars gesponnen. Die Gemeinde, die diese Mythen zelebriert, ist keine geringere als die im Zeichen der Ringe versammelte Jugend der Welt. Auch in der historischen Weiterentwicklung der Olympischen Spiele lassen sich Parallelen zur Geschichte der synthetischen Werkidee und der dionysischen Kunst des 19./20. und 21. Jahrhunderts erkennen. Die Olympische Bewegung beginnt ihren Siegeszug als Reaktion auf eine als dekadent empfundene Umwelt zum Ende des 19. Jahrhunderts. Sie blickt auf denselben mythischen Horizont eines verklärten Griechentums zurück, wie ihn auch Wagner gezeichnet hat. Sie entwickelt sich zu einer - politisch instrumentalisierten - Massenbewegung und geht die unheilvolle Symbiose mit dem Faschismus ein, dessen totalitärem Sport- und Kunstverständnis sie die nötigen Mittel bereithält. Seit den 80er Jahren ist aus dem Schauspiel Olympia ein „media event" 17 geworden. Die Olympischen Spiele von Sydney waren das bis dahin weltweit größte Fernsehspektakel. 18 Das Femsehen produziert einen Bilderrausch, der modernen Medientheorien von Kittler oder Bolz zu entsprechen scheint, die die Überwältigungsstrategien gegenwärtiger Medientechnologie in der Tradition von Wagner und Nietzsche zu interpretieren versuchen. 19 Das bietet die Möglichkeit, die medientheoretischen Positionen durch eine Analyse der Fernsehinszenierungen von Sydney zu überprüfen. Denn, wenn die technischen Medien der Gegenwart dionysische Züge in sich tragen, dann werden diese gerade in einem „media event" wie den rauschhaftsinnlichen, körperbetonten und gemeinschaftsfeiernden Olympischen Spielen deutlich sichtbar werden.
1.2. Vorgehensweise Bei meiner Studie, die sich mit vier Stationen der olympischen Geschichte von den Anfängen unter Coubertin bis zum modernen Medienereignis beschäftigt, geht es nicht um historische Rekonstruktion, sondern um den Versuch, eine Entwicklung aufzuzeigen, die die zahlreichen Berührungspunkte Olympias zu synthetischen und dionysischen Kunstkonzepten verdeutlicht. Verschiedene Leitfragen dienen dabei zur Orientierung:
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Die Begrifflichkeit folgt: Daniel Dayan und Elihu Katz: Media Events. The Live Broadcasting of History. Cambridge, Massachusetts, London, 2. Aufl. 1994. 3,7 Milliarden Zuschauerinnen und Zuschauer weltweit sollen 40 Milliarden Stunden Olympia im TV konsumiert haben (vgl. Rudi Ceme: Medienereignis Sydney 2000. Vom Quotenrekord der 3.7 Milliarden und die deutschen Fernseh-Spiele. In: Ders. (Hg.): Sydney 2000. Die Spiele der XXVJI. Olympiade 15. September bis 1. Oktober 2000. Berlin 2000, S. 152). Vgl. entsprechende Literaturhinweise im Kapitel 2.1.3.2.
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Worin bestehen die formalen Gemeinsamkeiten zwischen dionysischer Kunst und den verschiedenen Olympiainszenierungen? Welche inszenatorischen Mittel werden angewandt, um den Zuschauer in den , 3 a n n " der Olympischen Spiele zu ziehen? - Stehen die unter dem Zeichen des Mythos verwirklichten Gemeinschaften in enger Beziehung zu den jeweiligen historisch geprägten Kollektividealen? Welches Bild vom Körper wird dabei vermittelt? Wird der Körper politisiert? - Gibt es eine medienspezifische Wahl der Mittel? Kompensieren etwa die technischen Medien wie Film und Fernsehen die Immaterialität ihrer Kommunikation dadurch, dass sie verstärkt solche Mittel einsetzen, die die Sinne der Zuschauer beanspruchen und attackieren? Ist eines dieser Mittel die Schönheit der Athletenkörper, die das Medienprodukt Olympia so attraktiv macht? Das Buch gliedert sich grob in zwei Teile: Der erste Abschnitt stellt den theoretischen Bezugsrahmen her, indem zunächst die wichtigsten Positionen körperorientierter Kulturwissenschaft vorgestellt werden. Anschließend wird mit dem Verweis auf Nietzsches Geburt der Tragödie20 das Prinzip des Dionysischen erläutert. Eine vergleichende Untersuchung zwischen Wagners Programm zu einem „Kunstwerk der Zukunft" und Coubertins ästhetischem und mythischem Traum einer „religio athletae" im Zeichen der fünf Olympischen Ringe schließt sich daran an und bildet die Grundlage für die Analysen des zweiten Teils. Dieser teilt sich in drei Kapitel auf: - die Olympische Eröffnungsfeier von Barcelona 1992 als Fortführung historischer Massentheaterformen - Leni Riefenstahls filmische Adaption der Spiele von Berlin 1936 - die Fernsehinszenierung der Olympischen Spiele von Sydney 2000 in ARD und ZDF Der Text folgt damit nicht der historisch vorgegebenen Linie, sondern ordnet die verschiedenen Inszenierungsformen nach der Größe der Menge, in der sich die Zuschauerschaft räumlich zusammenschließt, vom Stadion- Uber das Kinopublikum bis hin zum vereinzelten TV-Konsumenten. 21 Dieser Ansatz ermöglicht einen medienvergleichenden Blick. Es wird deutlich, wie verschiedene Medien - die LiveAuffuhrung im Stadion, der Sportfilm und das heutige Fernsehen - mit demselben Gegenstand umgehen, wenn auch die jeweiligen historischen Kontexte berücksichtigt werden müssen. So lassen sich einerseits Konstanten erkennen - z.B. die Betonung des Sinnlichen oder der Versuch, den Einzelnen in eine Gemeinschaft zu überführen - , andererseits aber auch die medienspezifischen Besonderheiten heraus arbeiten. Jeder Medienanalyse ist ein Theorie-Abschnitt vorgeschaltet. Da die Eröffnungsfeiern als moderne dionysische Theaterformen charakterisiert werden, bezieht sich
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Friedrich Nietzsche: Die Geburl der Tragödie oder Griechentum und Pessimismus. In: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta, 9. Aufl., München 1982 Natürlich waren auch die Olympischen Spiele von Barcelona bereits Femsehspiele, aber im Mittelpunkt der Analyse steht das Live-Erlebnis der Olympischen Eröffnungsfeier im Olympia-Stadion und der damit verbundene Bezug zu Theaterformen.
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dort der einleitende Text auf verschiedene Formen der historischen Massenschauspiele: neben dem von Experimentierlust und Ästhetizismus getragenen „Theater der Fünftausend" Max Reinhardts vor allem die Massenschauspiele der Russischen Revolution sowie das Thingspiel der Nationalsozialisten. In diesen Beispielen lassen sich theoretische und formale Gemeinsamkeiten erkennen, die das Wesen der dionysischen Theaterformen ausmachen, etwa die Massenhaftigkeit der Choreographien, die rauschhafte Überwältigung durch Musik, starke Symbolik, die Anknüpfung an die Verbindlichkeit von Mythen und Religionen oder die Reduzierung des gesprochenen Textes zugunsten von Bühneneffekten. Die theaterhistorische Betrachtung dient der Arbeit also dazu, den Stil des Massentheaters zu definieren und unter diesen Gesichtspunkten die Eigenheiten olympischer Eröffnungsfeiern herauszuarbeiten. 22 Die Analyse der Eröffnungsfeier geht in zweifacher Hinsicht nach dem Prinzip des „pars pro toto" vor. Zum einen versucht sie nicht, eine ganze Eröffnungsfeier zu beschreiben, sondern nimmt einzelne Teile heraus, um sie als typisch für die gesamte Veranstaltung zu charakterisieren, zum anderen behandelt sie nur eine Eröffnungsfeier, nämlich die von Barcelona 1992. Die Entscheidung für Barcelona hat u.a. den Grund, dass dort zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren Olympische Spiele weitestgehend ohne politische Konflikte im Vorfeld oder im Verlauf der Wettkämpfe ausgetragen werden konnten. Die Inszenierungen von Barcelona lassen sich daher als Wiederentdeckung des Olympischen Geists interpretieren und markieren den Beginn einer erneuten Ideologisierung der Olympischen Idee, wie es an offiziellen Stellungnahmen nachzuvollziehen ist. Nicht zuletzt markieren die Spiele von Barcelona aufgrund ihres erfolgreichen Verlaufs einen Wendepunkt in der Geschichte der Olympischen Bewegung, die in den Jahrzehnten zuvor stark an Popularität und Überzeugungskraft eingebüßt hatte. 23 Obwohl im wesentlichen fürs Fernsehen konzipiert, ermöglichen die Eröffnungsfeiern vor Ort den direkten Kontakt zwischen Spielenden und Schauenden, wohingegen die Filme zu den Spielen von 1936 nicht nur eine räumliche Trennung vom Ort des Geschehens bedeuteten,
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Diese Methodik ähnelt in etwa dem aus der Sozialforschung bekannten Modell der Strukturierenden Inhaltsanalyse (vgl. dazu Phillip Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. In: Uwe Flick u.a. (Hg.): Handbuch qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen. München 1991, S. 209-213). Im Unterschied zu zahlreichen Arbeiten der Sozialwissenschaft geht es hier jedoch nicht um eine Auswertung von verschieden geartetem Textmaterial, sondern um komplexe BUhnendarstellungen, die sich aus zahlreichen „multimedialen" Bedeutungsfaktoren zusammensetzen. Zur Problematik theaterwissenschaftlicher Methodik vgl. daher u.a. Guido Hiß: Freiräume für die Phantasie! Neue Tendenzen in der Methodendiskussion. In: „TheaterZeitSchrift", Nr. 35/1996, S. 19-35 sowie Ders.: Zur AuffUhrungsanalyse. In: Renate Möhrmann: Theaterwissenschaft heute. Eine Einfuhrung. Berlin 1990, S. 65-80. Gründe für den Popularitätsverlust sind gleichermaßen politisch bedingte Katastrophen wie eigenes Mißmanagement. Hatten die Spiele von 1972 in München den Schock des Attentats zu verkraften, war Montreal 1976 aufgrund mangelhafter Organisation ein Reinfall. Moskau 1980 und Los Angeles 1984 konnten die Olympische Idee vom Zusammentreffen der Nationen aufgrund des Boykotts nicht erfüllen. Hinzu kamen Machtintrigen und Korruptionsvorwürfe im IOC, die nicht ungewöhnlich sind, aber in schlechten Zeiten zusätzlich die negative Stimmung verstärken.
sondern auch eine zeitliche, denn sie wurden erst fast zwei Jahre nach der Beendigung der Spiele dem Kinopublikum vorgeführt. Die Filmaufführung war jedoch eingebettet in die ästhetische Selbstinszenierung des Nationalsozialismus, die ihrerseits Züge eines „Gesamtkunstwerks" aufweist. Die Diskussion über die These vom „Dritten Reich als Gesamtkunstwerk" und die Nähe zwischen Olympismus und Faschismus, die sich zum Beispiel in gemeinsamen ästhetischen Sehsüchten äußert, bestimmen den Theorie-Part des Kapitels. Medientheoretisch wird zuvor der Idee vom Film als Gesamtkunstwerk nachgegangen. Leni Riefenstahls zweiteiliger Olympia-Film erhebt Uber die mythische Rückkopplung an die griechische Klassik und den gezielten Einsatz filmkünstlerischer Mittel das Deutschland der NS-Zeit zum Vollender der Olympischen Idee. Auffallend ist die Ästhetisierung der Körper und die Ritualisierung des Sports in den beiden Filmen. Die filmische Umsetzung entzieht dem Sport einen Teil seiner dionysischen Wirkung, da sie ihm das Unmittelbare, Zeitnahe und Dramatische nimmt. Andererseits fugt sie dem olympischen „Gesamtkunstwerk" eine weitere Komponente hinzu, die auch die heutigen TV-Übertragungen noch beeinflusst: die Stilisierung der Körper durch die Sportfotografie. Dies ist auch insofern von großer Bedeutung, da die Schönheit der Athletenkörper und die Schönheit der Massen im Kontext des Faschismus selbst politische Bedeutung hat und den politischen Implikationen des Olympia-Films - die Darstellung arischer Körperpolitik sowie die Verherrlichung der Volksgemeinschaft - entspricht. Das letzte Kapitel widmet sich den Olympischen Spielen als Fernsehereignis. Zunächst wird die Welt der technischen Medien so beschrieben, wie Kittler und Bolz sie gezeichnet haben: als eine Welt, die von den Urvätern Wagner und Nietzsche abstammt und mittlerweile jenseits der Gutenberg-Galaxis anzusiedeln ist. Diesen Befund bestätigt indirekt der Sportphilosoph Gunter Gebauer, der den „vom Fernsehen sakralisierten neuen Sporthelden" als „Abgesandten des Dionysos"24 charakterisiert. Die Texte von Bolz und Gebauer bilden daher die Grundlage, auf der die Fernsehanalyse aufgebaut ist. Diese kann aufgrund der riesigen Fülle des Materials, das durch die Live-Übertragungen von ARD, ZDF und 3sat zusammengekommen ist, nur wenige Ausschnitte des gesamten Ereignisses Olympia 2000 behandeln. Als Schlüsselfigur der Spiele von Sydney kann die australische Läuferin Cathy Freeman angesehen werden, die als Aborigine symbolträchtig das Olympische Feuer entzünden durfte und mit dem Sieg Uber 400 Meter die hochgesteckten Erwartungen ihrer Nation erfüllte. Die Art, wie ihre Geschichte als Mythos inszeniert und gleichzeitig zum Leitmotiv der Veranstaltung erhoben wird, steht daher im Mittelpunkt der Untersuchung. Die Spiele von Sydney wurden wirkungsvoll zu den „besten Spielen aller Zeiten" erklärt. Schon das Dabei-Sein als Zuschauer sollte Glücksgefühle vermitteln. Mit Hilfe von Live-Bildern in zahlreichen Kameraperspektiven, der Art der Kommentierung, Vor- und Nachberichten, Interviews, Trailern, Bildern des Tages und Gewinnspielen versuchten die TV-Sender die Begeisterung zu wecken, obwohl es dem Medium zu eigen ist, keinen unmittelbaren Kontakt zu seinen Zuschauerinnen 24
Gebauer, Mythen-Maschine, S. 316f.
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und Zuschauern aufbauen zu können. Die Mittel, die das Fernsehen anwendet, um dennoch olympische Euphorie zu entfachen, sind ebenso interessant wie die Gemeinschaften, die beschworen werden, denn schließlich ist im Zuge der Kommerzialisierung der Olympischen Spiele jede Fangemeinde auch eine potenzielle Schar von Käufern, und die Femsehübertragungen interagieren mit den Botschaften der Werbung. Die Analyse der TV-Übertragung eignet sich auch deshalb gut als resümierendes Kapitel, weil hier die Fäden zusammenlaufen, die bereits vorher entsponnen worden sind: der Versuch, Olympia als Totalität zu inszenieren und die Einheit der Spiele mit übergreifenden Werten zu sichern; die Bedeutung der ästhetisch überhöhten Körper für das olympische Gesamtkunstwerk; der dionysische Charakter des Sports, der rauschhafte Erfahrungen zulässt; die Gleichzeitigkeit von internationalistischem Anspruch und nationalem Pathos. Alle Analysen verstehen sich als Inszenierungs- bzw. Medienanalysen, die anhand von Videomitschnitten vorgenommen werden. Die Eröffnungsfeier von Barcelona habe ich anhand der Live-Übertragungen von ARD und Eurosport vom 25.7.1992 nachvollzogen. 25 Die offiziellen Filme zu den Berliner Spielen 1936 gibt es in mehreren Versionen. Meiner Untersuchung liegt eine von Leni Riefenstahl in Absprache mit der FSK 1958 leicht gekürzte Fassung zugrunde. 26 In dieser Fassung sind einige Szenen des Ursprungsfilms geschnitten worden, die Hakenkreuzflaggen und hohe Offizielle des NS-Regimes 27 zeigen, Szenen, die für den hier untersuchten Zusammenhang unbedeutend sind. Die Analyse der TV-Inszenierung von Sydney basiert auf diversen LiveMitschnitten und zwei längeren Dokumentationen zu den Spielen, denen zwar der Charakter der Live-Berichterstattung fehlt, die aber einen Eindruck von Olympia als Gesamtsystem vermitteln, der in den einzelnen Ausschnitten weitestgehend verloren geht. 28 Da die Filme von der ARD bzw. vom ZDF, also von den Sendern, die auch die Senderechte für die Spiele hatten, produziert und ausgestrahlt worden sind, repräsentieren sie auch die Sichtweise des Fernsehens auf die 14 Tage von Sydney.
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Die Titel der Fernsehsendungen lauten: Eröffnungsfeier der XXV. Olympischen Sommerspiele in Barcelona 1992. ARD, 25.07.1992, Kommentar: Heribert Faßbender und Gerhard Meier-Röhn, 240 min. und Eröffnungsfeier der XXV. Olympischen Sommerspiele in Barcelona 1992. Eurosport, 25.07.1992, Kommentar: Wolfgang Ley und Jens-Peter Bemdt, 240 min. Der genaue Titel des Films lautet: Olympia. Der Film von den XL Olympischen Spielen Berlin 1936. Teil 1: Fest der Völker, Teil 2: Fest der Schönheit. Leni Riefenstahl, s/w, Deutschland 1936-1938,198 min. Vgl. Daniel Wildmann: Begehrte Körper. Konstruktion und Inszenierung des „arischen " Männerkörpers im „Dritten Reich". Wiiizburg 1998, S. 16f., 32. Wildmanns Studie zeigt, daß der Füm damit nicht „entpolitisiert" worden ist und dennoch als Verstärker der nationalsozialistischen Ideologie gelesen werden kann. Die Daten der Filme lauten: Das war Olympia. Sydney 2000. The best games ever. Wolfgang Biereichel und Michael Dittrich, ARD, 30.12.2000, Deutschland 2000, 90 min; Die Spiele von Sydney. Ein fast abschließender Film von Jochen Bouhs. Jochen Bouhs, ZDF, 1.10.2000, Deutschland 2000,60 min.
Zudem greifen auch diese beiden Dokumentationen überwiegend auf Live-Material zurück.
1.3. Materiallage Sich mit dem Komplex der modernen Olympischen Spiele aus theaterwissenschaftlicher Sicht zu beschäftigen, bedeutet, wissenschaftliches Neuland zu betreten. Allerdings ist die Arbeit eingebettet in einen breiten theoretischen Diskurs über den menschlichen Körper, der seit einigen Jahren von allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen geführt wird. Die wichtigsten Tendenzen der Erforschung von Körperlichkeit sind im direkt anschließenden Kapitel überblickartig zusammengefasst. Ebenso gehören die verschiedenen Entwürfe zum dionysischen Theater und Gesamtkunst, insbesondere das Programm Richard Wagners und die hier vorgestellten theoretischen Positionen von Nietzsche bis Bolz zum Kanon theater- und kulturwissenschaftlicher Forschung. Entsprechende Literaturhinweise befinden sich an den jeweiligen Stellen im Text. Allerdings besteht ein Defizit, die jüngeren Medientheorien mit empirischem Material zu bestätigen oder zu widerlegen. Trotz der anfänglich beschriebenen Öffnung der kulturellen Eliten gegenüber dem Sport muss auch das moderne Olympia von den verschiedenen Kunst- und Medienwissenschaften erst noch entdeckt werden. Mit Ausnahme meiner eigenen Magisterarbeit über Olympische Eröffnungsfeiern: Olympia und die Geschichte des „dionysischen Theaters". Das Beispiel der Eröffnungsfeier von Barcelona 1992 ist mir keine Studie bekannt, die sich aus theaterwissenschaftlicher Sicht umfassend mit dem Thema Olympischer Spiele auseinandersetzt. Intensive Forschungen gibt es allerdings in der Sportwissenschaft und vor allem der Sportphilosophie, die verschiedentlich auch schon einen Zusammenhang zum Kunstprogramm Wagners oder Nietzsches dionysischen Kult erkennen. Insbesondere Thomas Alkemeyer liefert ernst zu nehmende Hinweise auf die Wiedergeburt des modernen Olympia aus dem Geiste Bayreuths. Alkemeyers Texte ordnen Coubertin in ein historisches Umfeld ein, welches die Entstehung der Olympischen Spiele im Kontext von Wagners Schaffen, den Krisenszenarien des „Fin de siecle" und der soziologischen Suche nach modernen Zivilreligionen beleuchtet.29 Was Alkemeyers Ansatz von meinem grundlegend unterscheidet, ist die eindeutige historische Verortung in die Anfangszeit des neuzeitlichen Olympia bis hin zu den „Spielen der Gewalt"30 1936 einerseits und eine Beschränkung auf den ideengeschichtlichen Kontext andererseits, während
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Thomas Alkemeyer: Die Wiederbegründung der Olympischen Spiele als Fest einer Bürgerreligion. In: Gunter Gebauer (Hg.): Olympische Spiele - die andere Utopie der Moderne. Olympia zwischen Kult und Droge. Frankfurt am Main 1993, S. 65-100; Thomas Alkemeyer: Körper, Kult und Politik. Von der „Muskelreligion" Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936. Frankfurt am Main, New York 1996. Gunter Gebauer u. Christoph Wulf: Die Spiele der Gewalt. Ein Bildessay. In: Gunter Gebauer (Hg.): Körper- und Einbildungskraft. Inszenierungen des Helden im Sport. Berlin 1988, S. 11-30.
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meine Arbeit aus der Sicht des Theaterwissenschaftlers die verschiedenen Formen olympischer Inszenierungen bis heute im Auge behält. Die Spiele von Berlin 1936 sind von Sporthistorikern wie Hans Joachim Teichler ausführlich aufgearbeitet worden. 31 Ebenso waren Leni Riefenstahls Filme häufiger Gegenstand umfangreicher Studien wie kurzer Analysen. Von diesen ist Daniel Wildmanns Monographie Begehrte Körper32 die für meinen Zusammenhang wichtigste, da sie den Körperkult der Nationalsozialisten erläutert, die Körperideale vorstellt und ihre filmische Umsetzung anhand ausgewählter Sequenzen des Films beschreibt. Hilmar Hoffmanns Mythos Olympia3i und Susan Sontags Faszinierender Faschismus34 liefern weitere wichtige Hinweise zur Ästhetik des Faschismus in den Olympiafilmen. Dagegen findet sich wenig Material zum Komplex olympischer Eröffnungsfeiern. Erwähnenswert ist der anlässlich eines IOC-Symposiums herausgegebene Sammelband Olympic Ceremonies,35 der neben theoretischen und programmatischen Beiträgen sowie kurzen Analysen bedingt durch die zeitliche Nähe seines Erscheinens zu den Spielen von Barcelona auch einige aufschlussreiche Kapitel Uber die Organisation der Eröffnungszeremonie von 1992, die Absichten der Regisseure und die Medienreaktionen enthält. Zur Fernsehinszenierung der Spiele von Sydney 2000 gibt es keine Sekundärliteratur außer den jeweiligen TV-Kritiken in den Tageszeitungen. Allerdings gibt es eine Reihe publizistischer und kommunikationswissenschaftlicher Texte, die sich mit dem Femsehsport und der Übertragung Olympischer Spiele im Allgemeinen beschäftigen. 36
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Vgl. u.a. Richard Mandel: The Nazi Olympics. New York 1971; Reinhard Rilrup: 1936 die Olympischen Spiele und der Nationalsozialismus. Berlin 1996; Hans Joachim Teichler: 1936 - ein olympisches Trauma. Als die Spiele ihre Unschuld verloren. In: Manfred Blödom (Hg.): Sport und Olympische Spiele. Reinbek 1984, S. 47-76; Hans Joachim Teichler: Internationale Sportpolitik im Dritten Reich. Schorndorf 1991. Daniel Wildmann: Begehrte Körper. Konstruktion und Inszenierung des „arischen" Männerkörpers im „Dritten Reich". Würzburg 1998. Hilmar Hoffmann: Mythos Olympia. Autonomie und Unterwerfung von Sport und Kultur. Berlin 1993, S. 95-160. Susan Sontag: Faszinierender Faschismus. In: Dies: Im Zeichen des Saturn. München, Wien 1981, S. 95-124. Miquel de Moragas i Spä, John MacAloon und Montserrat Llinis (Hg.): Olympic Ceremonies: Historical Continuity and Cultural Exchange. Lausanne 1996. Vgl. z.B. Neil Blain, Raymond Boyle & Hugh O'Donnell: Sport and National Identity in the European Media. Leicester, London, New York 1993; Fritz Hattig: Femseh-Sport. Im Spannungsfeld von Information und Unterhaltung. Butzbach-Griedel 1994; Miquel de Moragas i Spä, Nancy Rivenburgh u. James Larson: Television in the Olympics. London 1995; Eric W. Rothenbuhler: The Living room celebration of the Olympic Games. In: .Journal of communication", Nr. 38/1988, S. 61-81.
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Körper, Sport und das dionysische Prinzip. Theorien zum Verständnis des Themas
2.1. Warum Körper? Die Verehrung der Körper in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen 2.1.1. Körper haben, Körper sein. Der Körper als Thema von Soziologie und Philosophie There is an obvious and prominent fact about human beings: they have bodies and they are bodies. More lucidly, human beings are embodied, just as they are enselved. Our everyday life is dominated by the details of our corporeal existence, involving us in a constant labour of eating, washing, grooming, dressing and sleeping.'
Bryan Turners Bemerkung über die Bedeutung des Körpers für den Menschen mutet so offensichtlich an, dass man sich wundert, warum der Körper lange Zeit aus dem Blickfeld der Soziologie und Philosophie verschwinden konnte. Vermutlich waren die verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen viel zu sehr selbst Produkt des Rationalismus und historischen Fortschritts, um ein Verschwinden des Körpers im Abstraktionsprozess der Moderne als Problem zu begreifen. Erst nachdem in den 70er Jahren viele Menschen sich wieder ihrem Körper zuwandten, sich sexuell emanzipierten und alternative Therapiemodelle ausprobierten, um ein neues Gefühl fur ihren Körper zu entwickeln, konnten Kamper und Wulf 1982 zunächst zaghaft von einer „Wiederkehr des Körpers"2 sprechen. Bereits zehn Jahre später charakterisierte Turner die westliche Gesellschaft als somatic society, namely a society within which major political and personal problems are both problematized in the body and expressed through it".3 Die „somatische Gesellschaft" reflektierend, haben die Wissenschaften den menschlichen Körper nun als wesentlichen Forschungsgegenstand entdeckt. Während Anthropologen nach kulturellen Mustern der Körperwahmehmung suchen, um den natürlichen Körper jenseits seiner kulturellen Prägung freizulegen,4 interpretiert die Soziologie körperliche Handlungen und Darstellungsweisen, etwa die Art sich
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Bryan S. Turner: The Body and Society. Explorations in Social Theory. 2nd Edition, London, Thousand Oaks, New Delhi 1996, S. 37. Dietmar Kamper und Christoph Wulf (Hg.): Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main 1982. Turner, Body and Society, S. 1. Vgl. dazu u.a. Eugen König: Körper, Wissen, Macht. Studien zur historischen Anthropologie des Körpers. Berlin 1989; Claudia Öhlschläger und Birgit Wiens (Hg.): Körper - Gedächtnis - Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung. Berlin 1997.
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zu bewegen oder sich zu kleiden, als soziale Praktiken. Der Körper wird damit z u m . A u s d r u c k kultureller Überformung", zum diskursiv erzeugten „Text". Auf dieser A n n a h m e basieren auch weite Teile der feministischen Theorie, deren Grundlage damit, wie N a o m i Scheman feststellt, „Körperpolitik" 5 ist. Im Z u g e der GenderForschung erfahren Frauengeschichte und Alltagsgeschichte als bislang vernachlässigte Bereiche der historischen Forschung eine Aufwertung, die wiederum a m Körper ansetzt, d a dieser den Zugriff zur Kultur erst ermöglicht. Daher entstehen in zahlreichen Arbeiten Bausteine zu einer Körpergeschichte, 6 die die historischen und gesellschaftlichen Prägungen des Körpers untersuchen und bestimmte Leitbilder von Körperverhalten soziologisch deuten. 7 Diese Forschungen wiederum erhalten Einfluss auf die Arbeiten innerhalb der Psychologie, d a die Ich-Konstruktion des Menschen im großen M a ß e abhängig ist von Körperempfindungen und gesellschaftlich existenten Körperidealen. 2.1.1.1. V o n Descartes zur Freikörperkultur. Abriss einer neuzeitlichen Körpergeschichte Die entscheidende W e n d e im Verhältnis des Menschen zu seinem Körper wird zumeist in der Schwelle v o m Mittelalter zur Neuzeit gesehen. 8 Repräsentierte der Körper im Mittelalter vor allem den Platz des Individuums in der christlichen Weltordnung und damit im Staat,' steht das Descartsche Diktum des „cogito ergo s u m "
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Naomi Scheman: Der Körper des Gemeinwesens/Der unpolitische Körper/Körperpolitik. In: Gumbrecht/Pfeiffer, Materialität der Kommunikation, S. 846-858. Die größte Aufmerksamkeit in der feministischen Körperforschung haben sicherlich Judith Butlers Arbeiten erreicht: Vgl. dazu Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main 1991; vgl. aber auch: Farideh Akashe-Böhme (Hg.): Von der Auffälligkeit des Leibes. Frankfurt am Main 1995; Irene Dölling u. Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt am Main 1996; Nancy Fräser: Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht, Gender Studies. Vom Unterschied der Geschlechter. Frankfurt am Main 1994. Vgl. etwa Barbara Duden: Ausgangspunkte einer Körpergeschichte. In: Dies.: Geschichten unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart 1987; König, Körper, Wissen, Macht·, Richard von Dülmen: Körpergeschichten. Studien zur historischen Kulturforschung. Frankfurt am Main 1996. Vgl. etwa Michel Bernard: Der menschliche Körper und seine gesellschaftliche Bedeutung. Phänomen, Phantasma, Mythos. Frankfurt am Main 1980; Bemd Guggenberger: Einfach schön. Schönheit als soziale Macht. Hamburg 1995; Elisabeth List und Erwin Fiala (Hg.): Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmodeme. Wien 1997. Der extrem verkürzte Abriss über die Körpergeschichte folgt im wesentlichen Turner, Body and Society, S. 1 -43 sowie Gertrud Pfister: Zur Geschichte des Körpers und seiner Kultur Gymmastik und Turnen im gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß. In: Irene Diekmann und Joachim H. Teichler: Körper, Kultur und Ideologie. Sport und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert. Bodenheim bei Mainz 1997, S. 11-47. Vgl. Scheman, Körper des Gemeinwesens, S. 847. So wird vor allem die Diskrepanz zwischen Souverän und Untertan körperlich ausgedrückt. Das „Machtplus" des Königs wird in Krönungs- sowie Unterwerfungszeremonien zementiert und erhält seinen letzten Beweis in einer prachtvollen Bestattungszeremonie, wohingegen die Körper der „Verurteil-
für das Prinzip der Vernunft, dem sich die Bedürfnisse des Körpers unterzuordnen haben. Der Rationalitätsmythos der Aufklärung verbannt die körperlichen Affekte aus dem öffentlichen Leben, indem er sie starken Regulierungen unterwirft. Ernährungsweise, Hygienedenken und sexuelles Verhalten werden zu Fragen der bürgerlichen Moral. Entscheidendes Kriterium für das Ansehen eines Bürgers ist nicht mehr seine Abkunft, sondern sein Verhalten, insbesondere seine Leistungsfähigkeit. Zwar sind alle Menschen von Geburt an gleich, aber sie erhalten ihre Rechte nur dadurch, dass sie produktiv sind. Ort der Leistungskraft ist der Körper, den es von schädlichen Einflüssen freizuhalten gilt.10 So emanzipiert sich das Bürgertum von dem Standesdünkel der mittelalterlichen Gesellschaft auf Kosten einer Disziplinierung körperlicher Sinne und Triebe, die den Körper zum Objekt macht. Im industrialisierten 19. Jahrhundert wird der Körper weiter funktionalisiert und den Rhythmen der Arbeitswelt unterworfen. Insbesondere der Taylorismus steht für eine effiziente Ausnutzung der Arbeitskraft, die nicht an den menschlichen Bedürfnissen, sondern an den Bedürfnissen der Produktionsmaschinerie ausgerichtet ist. Gegen diese Ausbeutung der Körperressourcen protestieren die verschiedenen Lebensreformbewegungen des beginnenden 20. Jahrhunderts. Unter der Formel „Zurück zur Natur" soll der Körper wieder einem urtümlichen Zustand anverwandelt werden, wie es vor allem die FKK-Bewegung fordert. Dabei ist die Nacktheit der Körper nicht nur Protest gegen eine Kleiderordnung, die Frauen in Korsette presst und keine Luft an die Haut lässt, sondern auch gegen überkommene Gesellschaftsnormen, bürgerliche Moral und konventionelle Zwänge. Während die Aufklärung den Wunsch nach Freiheit rational legitimierte, werden nun die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft an den Körper geknüpft. Damit wird der befreite Körper allerdings auch wieder operationalisiert und instrumentalisiert. Er ist nicht allein nackt wegen der Freude an der Nacktheit, sondern als nackter Körper auch Werkzeug für eine bessere Welt.11 Für die Lebensreformer bietet vielfach Friedrich Nietzsches Denken einen entscheidenden Bezugspunkt. Nietzsche gilt als der Philosoph des Leibes, da er die Hierarchie von Körper und Geist, ausgedrückt im Verhältnis vom Dionysischen zum
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ten" gefoltert und verbrannt werden. Vgl. dazu: Michel Foucault. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main, 8. Aufl., 1989, S. 40-43. Vgl. Gunter Gebauer: Ausdruck und Einbildung. Zur symbolischen Funktion des Körpers. In: Kamper/Wulf, Wiederkehr des Körpers, S. 313-329. Gerade am Beispiel des Sports lässt sich nachvollziehen, wie die Befreiung der Körper von der Vormachtstellung des Geistes in eine Körperinstrumentalisierung umschlägt. So startete z.B. Friedrich Ludwig Jahn seine Tumbewegung mit dem Programm, die verlorengegangene körperliche Bildung neu zu stärken, allerdings mit dem klaren Ziel, die deutsche Jugend für den militärischen Einsatz zu ertüchtigen. Dabei spielte die Unterdrückung körperlicher Triebe eine entscheidende Rolle. Sexuelles Verlangen sollte ebenso heldenhaft abgewehrt werden wie z.B. Müdigkeit. Als Maßstab für den Erfolg bei Märschen oder Läufen zählte nicht die Schnelligkeit, sondern der Grad der Erschöpfung. Das ist im Sinne Jahns auch logisch: „Was nutzt es dem Soldaten, wenn er als erster auf dem Schlachtfeld ankommt, aber zu erschöpft ist, um zu kämpfen?" (Pfister, Geschichte des Körpers, S. 32).
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Apollinischen, umdreht.12 Der Körper ist demnach der Herr, die Seele der Diener, „alle Tugenden sind physiologische Zustände".13 Da die Sensorik des Körpers der Außenwelt viel näher ist als das Bewusstsein, liefert sie die grundlegende Perspektive des Menschen. Auch die körperlichen Triebe sind wichtig, da sie den Menschen nicht nur am Leben erhalten, sondern auch auf eine Verbesserung des Lebens drängen. Unser „Ich", so Nietzsche, sitzt im Körper, der die grundlegenden Erfahrungen menschlicher Existenz ermöglicht, welche dem Intellekt verschlossen bleiben.14 Aus einer solchen Betrachtungsweise nähren sich die vitalistischen Lebensformen des 20. Jahrhunderts, etwa der Futurismus, dessen Anhänger Mut, Leidenschaft, Risiko, Geschwindigkeit und Rausch leben und erleben wollen. Die politischen Massenbewegungen führen einerseits den Anti-Intellektualismus fort, leiten andererseits aber aus dem im Körper verankerten Ich-Gefühl des Individuums ein Wir-Gefühl des Volkskörpers ab und stellen so die Authentizität des Subjekts und die Verschiedenheit seiner Erfahrungen in Frage.15 Insbesondere die Rassentheorie des Nationalsozialismus erniedrigt den Körper zum biologistischen Objekt, indem physiognomische Unterschiede stigmatisiert werden und eine hierarchische Ordnung begründen. 2.1.1.2. Denken über Körper. Merleau-Ponty, Bourdieu, Foucault In klarer Abgrenzung zu dem wissenschaftlichen Bild eines objektiv bestimmbaren Körpers entwickelt Maurice Merleau-Ponty 1945 seine Idee vom „phänomenalen" Körper, also dem Körper, wie er sich uns „in seiner gelebten Erfahrung, seinem kinästhetischen Gefühl von sich selbst"16 vermittelt. Die Wahrnehmung ist nicht der Anfang der Wissenschaft; in Wahrheit ist die klassische Wissenschaft eine Weise der Wahrnehmung, die ihren eigenen Ursprung vergessen hat und sich für vollendet hält. Zur ersten Aufgabe der Philosophie wird so der Rückgang auf die diesseits der objektiven Welt gelegene Lebenswelt, um aus ihr Recht und Grenzen der Vorstellung einer objektiven Welt zu verstehen, den Dingen ihre konkrete Physiognomie wiederzugeben, das eigentümliche Weltverhältnis eines Organismus und die Geschichtlichkeit der Subjektivität zu begreifen; um Zugang zu gewinnen zum phänomenalen Feld der lebendigen Erfahrung, in dem Andere und Dinge uns anfänglich begegnen, zum Ursprung der Konstellation von Ich, Anderen und Dingen; [...]"
Der Schlüssel zu unserer Identität und zu unserer Weltsicht, so Merleau-Ponty, liegt in unserer Körpererfahrung. Andererseits bedingen sich Weltsicht und Ich-Erfah12
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Vgl. z.B. Rudolf Malter: „Eurythmie des Lebens" als Ideal menschlicher Existenz• Bemerkungen zu Coubertins geschichtsphilosophischer Anthropologie. In: Norbert Müller und Manfred Messing (Hg.): Auf der Suche nach der Olympischen Idee. Facetten der Forschung von Athen bis Atlanta. Kassel 1996. Friedrich Nietzsche: Werke. Bd. 4, hg. von Karl Schlechta. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1977, S. 913. Zitiert nach Richard Shusterman: Sorna und Medien. In: Vattimo/Welsch, Medien, S. 118. Vgl. Shusterman, Sorna, S. 118f. Zur Körperpolitik und zum Körperkult des Nationalsozialismus vgl. Kapitel 5.4. Shusterman, Soma, S. 120. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, S. 80f.
rung gegenseitig, da der Körper eine Perspektive zur Außenwelt nur aufbauen kann, indem er sich in sie hineinprojiziert. Insofern verliert auch unser Körpergefühl den Charakter der Ursprünglichkeit. Es ist von historischen und sozialen Bedingungen geprägt. Dies haben vor allem Pierre Bourdieu und Michel Foucault herausgearbeitet. Bourdieu macht deutlich, dass sich die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer sozialen Gruppe im Körperverhalten niederschlägt.18 Er benutzt dafür den Begriff des „Habitus", der sich in Abhängigkeit von den Lebensbedingungen entwickelt, Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen vorbestimmt und somit spezifische kulturelle Praktiken hervorbringt. Dieser Habitus ist durch vielfache körperliche Tätigkeiten, wie Essen, Gehen, Sitzen oder Arbeiten einverleibt. Somit wird der Körper zum Träger kulturellen Kapitals. An ihm ist abzulesen, aus welchen sozialen Verhältnissen das Individuum stammt, er drückt gesellschaftliche Unterschiede aus und wird von seinem Träger dementsprechend inszeniert: Der Körper als Darstellungsmittel von Distinktionen wird durch die Art seiner Inszenierung geformt; durch die Mitwirkung des Geschmacks wird er ein „produit social", ein soziales Produkt. Gesellschaftlich geformt gilt er als „natürlichster Ausdruck der Tiefen-natur" einer Person. Seine Bestandteile werden „unmittelbar als Indikationen einer .moralischen' Physiognomie gelesen.""
Rassen- und Geschlechterdiskriminierung sind die deutlichsten Beispiele für eine soziale Hierarchie, die auf der Differenz körperlicher Merkmale aufgebaut ist. Michel Foucaults Arbeiten aus den 60er und 70er Jahren sind für einen Großteil der körperorientierten Wissenschaft ein wichtiger Bezugspunkt, da sie die politischen Dimensionen von Körperpraktiken und Körperkontrolle betonen. Macht und Diskurs, untrennbar miteinander verbunden, manifestieren sich im durch Wohn- und Arbeitsbedingungen geformten und von Sexual itäts- und Emährungsnormen geprägten Körper. In Überwachen und Strafen zeigt Foucault, wie sich die französische Strafpraxis innerhalb eines Jahrhunderts von der direkten körperlichen Züchtigung durch Folter und Hinrichtungen zur Aufbewahrung der Straffälligen in „Zuchthäusern" gewandelt hat. Das Gefängnis wird dabei zum Symbol eines Überwachungsund Disziplinierungssystems: Der Körper fungiert hier als Instrument oder Vermittler: Durch Einsperrung oder Zwangsarbeit greift man in ihn ein, um das Individuum einer Freiheit zu berauben, die sowohl als ein Recht wie als ein Besitz betrachtet wird. Durch dieses Strafsystem wird der Körper in ein System von Zwang und Beraubung, von Verpflichtungen und Verboten gesteckt.20
Aus der direkten physischen Gewaltanwendung ist eine physische Kontrolle geworden, die das bestraft, was von den Normen des Diskurses abweicht. Die Kreise der Kommunikation sind die Stützpunkte einer Anhäufung und Zentralisierung des Wissens. Das Spiel der Zeichen definiert die Verankerungen der Macht. Die schöne
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Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1998. Gebauer, Ausdruck und Einbildung, S. 326. Zitate aus Pierre Bourdieu: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979, S. 214. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 18.
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Totalität des Individuums wird von unserer Gesellschaftsordnung nicht verstümmelt, unterdrückt, entstellt; vielmehr wird das Individuum darin dank einer Taktik der Kräfte und der Körper sorgfältig fabriziert.21 Für Foucault ist es der gesellschaftliche Diskurs, der durch unsere Körper unser Verhalten und damit unsere Individualität formt. Judith Butler hat Foucaults Ansatz übernommen und weiterentwickelt, indem sie auch die natürliche Gegebenheit des Geschlechts in Frage stellt und die binäre Unterscheidung in männlich und weiblich als „fiktive Konstruktion" entlarven will.22 Butlers Texte machen deutlich, dass die anatomische Realität des Körpers nur eine vermeintliche ist, da sie auf kollektiven Wahrnehmungen beruht, die historisch und kulturell geprägt sind. Wir sehen den Körper so, wie wir es gewohnt sind, ihn zu sehen, nicht so wie er ist. Allerdings übersehen die dekonstruktivistischen Ansätze die Bedeutung der Körpererfahrung für die Ich-Konstitution. 23 Selbst wenn die Geschlechtsidentität nur eine sozial erzeugte ist, wird sie vom Subjekt doch als eigene Wirklichkeit erfahren. Primär existiert der Körper in seiner materiellen Form als Leib, der elementare Nöte wie Hunger, Durst und Müdigkeit verspürt, der sich freut und erregt, der leidet und schwitzt, der lüstern ist und schmerzempfindlich; nur sekundär existiert er auch als Text. Insofern gibt es eine dauerhafte Wechselwirkung zwischen subjektiver Erfahrung und gesellschaftlichen Diskurs, aus der sich Körperempfindung und Körperbild beständig neu entwickeln. Die Wissenschaft befindet sich daher auch gut 350 Jahre nach Descartes noch immer in der Falle der Vernunft, wenn sie den Körper einseitig intellektuell zu analysieren versucht und nicht auch nach der Bedeutung des Körpergefuhls fragt. Die Erfahrung von Körperzuständen mag uns als ein verwirrend vager Bereich erscheinen, aber deren weitgehende Vernachlässigung durch die moderne westliche Philosophie mit ihrem Logozentrismus und Lingozentrismus ist zu einem guten Teil daran schuld. [...] Gefühl ist schließlich auch das Fundament der Empathie, die gemeinsames Leben und den Fortschritt sozialen Handelns fester und zufriedenstellender begründen kann als bloßes rationales Selbstinteresse. Wenn die Erfahrung von Körperzuständen Techniken für die Entwicklung, Verfeinerung und Steuerung von Gefühlen bereitstellt, dann wird sie auch ein soziopolitisches Potential besitzen, das man nicht außer acht lassen sollte.24 In Anknüpfung an John Deweys Pragmatismus beschreibt Richard Shusterman daher ein Philosophieverständnis, das die nicht-sprachlich vermittelte, unmittelbare
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Ebd., S. 279. Vgl. Butler, Unbehagen der Geschlechter, S. 10. Foucaults Leben, das von exzessiven Experimenten mit seinem Körper, von Drogenerfahrungen und sadomasochistischen Praktiken geprägt war, ist allerdings ein hervorragendes Gegenbeispiel für diese These (vgl Richard Shusterman: Vor der Interpretation. Sprache und Erfahrung in Hermeneutik, Dekonstruktion und Pragmatismus. Wien 1996, S. 132). Shusterman, Soma, S. 125. Shusterman sieht die Aufgabe der Philosophie nicht darin, die „Vorrangstellung des lebendigen Körpers theoretisch zu beweisen", sondern „konkrete Vorschläge für dessen Verbesserung zu machen" (ebd., S. 124), womit Praktiken wie die Feldenkrais-Methode, Tai Chi oder Meditation gemeint sind.
Körpererfahrung in die westliche Philosophie integrieren will, indem die Bedeutung des Somatischen erkundet und selbst gelebt wird. 25
2.1.1.3. „ D i e somatische Gesellschaft". Körperverehrung und -verfuhrung in der populären Kultur Shustermans Hinwendung zum Somatischen ist durchaus zu verstehen als Auseinandersetzung mit der populären Kultur, in der ein intensives Interesse am Körper zu beobachten ist.26 Dies ist insofern paradox, da der Körper in seiner authentischen und ursprünglichen Form in unseren alltäglichen Beziehungen immer weniger gefragt ist. Im elektronischen Datenfluss des „information highways" funktioniert Kommunikation weitestgehend unpersönlich; der Anteil der körperlichen Arbeit an der Gesamtproduktion westlicher Industrien geht immer weiter zurück; die Schönheitschirurgie ermöglicht die Korrektur von vermeintlichen körperlichen Makeln; die Gentechnik stellt die Verschiedenheit körperlicher Erscheinungen und damit die Echtheit des Körpers an sich in Frage. Während also auf der einen Seite in konsequenter Fortfuhrung des Rationalitätsmythos Descartes' der Körper immer weniger gebraucht wird, um am Leben teilzuhaben, scheint andererseits „unsere Kultur immer mehr v o m Soma in Bann geschlagen zu werden, dem sie mit jener anbetenden Ergebenheit dient, die man einst den geheiligten Trugbildern entgegengebracht hat". 27 Es liegt nahe, bei Shustermans „geheiligten Trugbildern" an die Darstellungen und Inszenierungen menschlicher Körper in den Massenmedien zu denken, die die Schönheits- und Gesundheitsideale unserer Gesellschaft prägen. W e i t verbreitet sind die Bilder der Models, Sport- und Popstars in Glamour-, Werbe- und Modeaufnahmen. Demgegenüber stehen Aufklärungskampagnen über Epidemien und Krankheiten, die einerseits das Bewusstsein für die Anfälligkeit des Körpers, den es zu schützen gilt, schärfen, andererseits aber auch - w i e im Fall von A i d s - Sexualitätsnormen oder - wie im Fall der BSE-Krise - Ernährungsweisen nachhaltig mit beeinflussen. Selten zuvor wurde soviel öffentlich über den Körper geredet und diskutiert, tagtäglich bringen Zeitschriften neue Fitnessprogramme, Modetrends und Kosmetiktipps heraus. There is obviously a strong commercial and consumerist interest in the body as a sign of the good life and an indicator of cultural capital. In addition to this theme of consumption there is a specific focus on the body beautiful, on the denial of the ageing body, on the rejection of death, on the importance of sport and on the general moral value of keeping fit.28 In der konsumorientierten Pop-Kultur westlicher Gesellschaften hat sich in den letzten drei Jahrzehnten eine große Industrie rund um Produkte des so genannten
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Shusterman, Vor der Interpretation, S. 130f. Die Ausführungen zur Bedeutung des Körpers in unserer gegenwärtigen Kultur folgen im Wesentlichen den genannten Aufsätzen von Richard Shusterman und dem ebenfalls schon zitierten Buch von Biyan Turner: Body and Society. Shusterman, Sorna und Medien, S. 113. Turner, Body and Society, S. 3.
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Lifestyles aufgebaut, die versprechen, den Körper in der ein oder anderen Art attraktiver zu machen. „Unter dem sprechenden Titel Fit for Fun" hat die florierende Körperkultur ihr „publizistisches Zentralorgan" gefunden.29 Um die Produkte verkaufen zu können, bedarf es der Werbung, deren Leitidee es ist, Genuss sinnlich erfahrbar zu machen, um potenzielle Kunden zu Käufern zu machen. Daher ist die Werbung ein gutes Beispiel für die Klammer, die zwischen der Körperverehrung einerseits und der Körperverführung andererseits besteht. Die Schönheit junger Menschen auf einer Palmeninsel animiert zum Kauf einer bestimmten Rumsorte, steht andererseits aber auch für ein bestimmtes, von Party-Musik untermaltes Lebensgefuhl. Werbung erfüllt einen zivilisatorischen Auftrag. Ihre Allgegenwart stiftet das Gemeinschaftsgefühl einer Teilhabe am Schönen. [...] Der latente Werbezweck besteht darin, das Konsumklima als Trancezustand gesellschaftlich aufrecht zu erhalten.30
Hand in Hand mit dem Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft verschieben sich auch die Werte: Konsum wird wichtiger als Produktion, anders ausgedrückt: The labouring body has become a desiring body.31
Gearbeitet wird, um sich einen bestimmten Lebensstandard erfüllen zu können und das körperliche Wohlbefinden zu steigern. Die Körper selbst sind das Ziel der Anstrengungen. Für die Menschen bedeutet das auch, dass sie nicht nur anhand ihrer Leistungsfähigkeit gemessen werden, sondern vielmehr an ihrer Genussfähigkeit. In der vielfach als hedonistisch bezeichneten postindustriellen Gesellschaft wird die Art zu wohnen, zu reisen oder sich zu kleiden zum Ausdruck der Persönlichkeit. Der Körper ist demnach im Bourdieuschen Sinne Träger kulturellen Kapitals - allerdings verrät er nicht nur die soziale Stellung des Subjekts, sondern wird zum wesentlichen Part der Ich-Konstruktion, zu einem - veränderbaren - Projekt. Das erklärt die Bedeutung, die gegenwärtige Philosophen und Soziologen dem Schaffen von Nietzsche beimessen. Wenn sich das Ich durch seinen Körper definiert, tragen somatische Erfahrungen - Gefühle, Sinnesfreuden, Rauscherlebnisse, kurz: das Dionysische maßgeblich zur Persönlichkeitsbildung bei. Die Möglichkeiten des körperlichen Erlebens reichen vom Extremsport bis hin zu meditativen Entspannungsübungen, vom Drogenkonsum bis hin zu den populären Massenveranstaltungen wie RockKonzerten, Karnevals-Umzügen, Techno-Paraden oder Sport-Events. Der Sport ist daher ein Synonym für die körperorientierte postindustrielle Kultur der Gegenwart. Großereignisse wie Fußball-Weltmeisterschaften, der Super Bowl oder Olympische Spiele verdanken ihre Bedeutung einem Körperkult, der durch sie immer wieder neue Nahrung erhält. Zugleich bieten sie den Zuschauern, insbesonde-
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Torsten Schmidt-Millard: Leiblichkeit und ästhetische Erfahrung. In: Jürgen Court (Hg.): Sport im Brennpunkt philosophischer Analysen. St. Augustin 1996, S. 183. Beat Wyss: Die Welt als T-Shirt: Zur Ästhetik und Geschichte der Medien. Köln 1997, S. 114f. Turner, Body and Society, S. 2.
re den Fans,32 körperlich gelebte Ich-Erfahrungen an: Ekstase, Spannung, Jubel, Trauer, Identifikation, Gegnerschaft. Der Sport in seiner heutigen Form als populärer Leistungssport verehrt die Körper der Sportler und verfuhrt die Fans, sich der Körperverehrung anzuschließen. 2.1.2.
Zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Die Bedeutung des Körpers für das Theater und die Theaterwissenschaft
2.1.2.1. ,J)er tatsächlich daseiende Mensch" - Körper auf der Bühne In dem Maße wie die Körperthematik zu einem zentralen Paradigma der Soziologie geworden ist, beherrscht der Diskurs über die Körper die gegenwärtige Ausrichtung der Theaterwissenschaft. Gerade in Abgrenzung zu den elektronischen Medien rekurriert die Theaterforschung der 90er Jahre auf den menschlichen Körper als Ursprung des Theaterspiels. Es ist die „Wirkung des tatsächlich daseienden Menschen",33 die die Besonderheit der Bühnenkunst ausmacht. So wird die physische Präsenz von Spielenden und Schauenden zur conditio sine qua non erklärt, ohne die Theater nicht denkbar ist. Der Verweis auf die „ontologische und phänomenologische Eigenart"34 des Theaters gewinnt durch den Körperdiskurs an Selbstbewusstsein. Dabei bedingen sich die „Emanzipation des Theaters als einer eigenen Dimension der Kunst"35 und die Befreiung des Körpers von seiner Zeichenhaftigkeit auf der Bühne gegenseitig. Einerseits erlangen die Performer ein anderes Körperbewusstsein, da ihre Körper nicht als „Träger von Sinn"36 fungieren, sondern vornehmlich durch ihre bloße Gegenwart Wirkungen erzielen. Andererseits ermöglicht die (Wieder-)Entdeckung des Körpers neue theatrale Spielformen, die ihrerseits wieder dazu beitragen, dem Theater im Feld der Künste einen eigenen Rang zu verleihen, denn:
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Fußballfans sind ein gutes Beispiel, um die Bedeutung körperlicher Erfahrungen für die Ich-Konstruktion zu illustrieren. Das Zugehörigkeitsgefühl zu bestimmten Vereinen ist nicht als Resultat eines rationalen Entscheidungsprozesses zu verstehen, sondern auf vielfältige Umstände zurückzuführen, z.B.: der Besuch eines Spiels, die Vorlieben der Familie und Freunde oder die heimatliche Verbundenheit. Dennoch ist die Identifikation so groß, dass sie oft ein Leben lang andauert, teilweise hohe finanzielle Opfer fordert und die Freizeitplanung des Fans wesentlich bestimmt. Woche für Woche wird die Anhängerschaft zum Verein durch vielfaltige rituelle Praktiken vor und während des Spiels - durch Gesänge, Anfeuerungsrufe, das Schwenken von Fahnen, durch gemeinsamen Jubel und strapaziöse Reisen - bewiesen. Daher kann es nicht wundern, wenn es für den Fan einen Teil des Ich-Gefühls ausmacht, Angehöriger eines bestimmten Vereins zu sein.
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Georg Lukäcs: Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos. In: A. Kaes (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929, Tübingen 1978, S. 112-117. Hier zitiert nach Erika Fischer-Lichte: Die Verklärung des Körpers. Theater im Medienzeitalter. In: Dies. u. H. Xander (Hg.): Welttheater Lokaltheater Nationaltheater? Europäisches Theater am Ende des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1993, S. 101. Fischer-Lichte, Verklärung des Körpers, S. 102. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main 1999, S. 366. Ebd., S. 163.
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In keiner anderen Kunstform steht der menschliche Köiper, seine verletzliche, gewalttätige, erotische oder „heilige" Wirklichkeit so sehr im Zentrum wie im Theater.37 Waren die 50er und 60er Jahre - bedingt durch die Katastrophenerfahrung des Zweiten Weltkriegs - noch von einem Rückzug auf das „principium individuationis" bestimmt und hatten so einen psychologischen und realistischen Theaterstil hervorgebracht, bildet sich seit den 70er Jahren die Performancekultur heraus, die - in zeitlicher Übereinstimmung mit Phänomenen wie der sexuellen Revolution - für ein allgemein erwachendes Interesse am Körper steht. Die Idee, neue Spiel- und Bühnenformen zu kreieren, ist eng verbunden mit dem Versuch, die Körper der Schauspieler von ihrer Rollenhaftigkeit zu befreien. 38 Die Ansätze der Künstler reichen in den letzten dreißig Jahren vom ,Armen Theater" Grotowskis, bei dem die Körper der Performer zum Ort der Erlösung werden sollen, über die Projekte Robert Wilsons oder Sasha Waltz', die die Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler zum eigentlichen Kunstwerk der Aufführung machen, bis hin zu den vitalistischen Spektakeln der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus. Es ist diese Körperorientierung, die die verschiedenen Tendenzen der aktuellen Theaterszene miteinander verbindet. Folgerichtig rückt der Körper auch in den Fokus der diversen Forschungsfelder theaterwissenschaftlicher Studien. 39 So untersucht die Theatergeschichte verstärkt solche Traditionen, die - wie die Avantgardebewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts - in bewusster Abkehr von dem sprachlich dominierten bürgerlichen Theater die sinnlichen Dimensionen des Theaterspiels stark machen. 40 Kulturwissenschaftlich geprägte Ansätze zeigen die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen und theatralischen Körperkonzepten, oft im Zuge einer anthropologisch am Körper der Performer ausgerichteten Wissenschaft. 41 Intermediale Forschungen schließlich heben in der Auseinandersetzung mit den von Femsehen, Werbung oder Musik-
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Ebd. S. 101. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Die semiotische Differenz. Körper und Sprache auf dem Theater - Von der Avantgarde zur Postmodeme. In: Herta Schmid und Jurij Striedter (Hg.): Dramatische und theatralische Kommunikation. Beiträge zur Geschichte und Theorie des Dramas und Theaters im 20. Jahrhundert. Tübingen 1992, S. 132f. Die Geschichte der Theaterwissenschaft ist geprägt von Versuchen der Selbstvergewisserung und theoretischen Reflexionen über Sinn und Nutzen theaterwissenschaftlicher Forschung (vgl. dazu Theo Girshausen: Zur Geschichte des Fachs. In: Möhrmann, Theaterwissenschaft, S. 21-37). Indem sie nun die Körper der Performer und die Materialität der Bühne als ihre ureigenen Gegenstände entdeckt hat, scheint sie sich auch eine etwas stabilere Identität im Feld der Wissenschaftsdisziplinen zu sichern. Vgl. u.a. Erika Fischer-Lichte (Hg.): TheaterAvantgarde. Wahrnehmung Körper Sprache. Tübingen, Basel 1995; Ralph J. Poole: Performing bodies. Überschreitungen der Geschlechtergrenzen im Theater der Avantgarde. Frankfurt am Main et al. 1996. Vgl. etwa Andreas Bahr: Imagination und Körpererleben. In: Gumbrecht/Pfeiffer, Materialität der Kommunikation, S. 680-702; Walter Pfaff, Erika Keil und Beat Schläpfer (Hg.): Der sprechende Körper. Texte zur Theateranthropologie. Zürich, Berlin 1996; Paul Zumthor: Körper und Performanz. In: Gumbrecht/Pfeiffer, Materialität der Kommunikation, S. 703-713.
Video-Clips produzierten Körperbildern die Materialität der Bühne und die „extreme Körperorientierung"42 der Performance Art heraus. 2.1.2.2. Die Materialität der theatralischen Kommunikation Doch auch bei solchen Theaterformen, in denen die menschlichen Körper nicht im Zentrum des Bühnenspiels stehen - etwa im Puppentheater oder in der abstrakten Bühnensynthese Wassily Kandinskys - ist es die Sinnlichkeit des Theaterspiels, die seinen speziellen Reiz ausmacht.43 Das Interesse verschiebt sich von den Körpern der Performer zu den Körpern der Zuschauer. Die Möglichkeit, alle Sinne gleichzeitig anzusprechen, das Live-Erlebnis der Auffuhrung sowie die räumliche Nähe zwischen Bühne und Zuschauerrängen machen die „Materialität der theatralischen Kommunikation"44 aus. Dabei ist die Anwesenheit des Publikums ein elementarer Bestandteil eben jener theatralischen Kommunikation, ohne den Theater gar nicht möglich wäre. Die Theaterzuschauer wohnen anders als Kino- oder Fernsehzuschauer dem Produktionsprozess bei und beeinflussen ihrerseits durch ihre „Wirkung als tatsächlich daseiende Menschen" das Bühnengeschehen. Sie können die Rolle der passiven Beobachter ablegen und zu aktiv - das heißt körperlich - Handelnden werden, indem sie klatschen, dazwischenrufen oder im Extremfall sogar die Bühne stürmen.45 Das Theater ist damit per se ein Medium der Interaktivität. Auch wenn sie teilnahmslos verharren, sind die Zuschauer durch ihre bloße körperliche Präsenz Teil der Auffuhrung. Das Publikum weiß um seine Wichtigkeit und verspürt, auch aufgrund der transitorischen Eigenart der Theaterkunst, nur in einem
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Barbara Büscher: Theater und elektronische Medien. Intermediale Praktiken in den 70er und 80er Jahren. Zeitgenössische Fragestellungen für die Theaterwissenschaft. In: Erika Fischer-Lichte, Wolfgang Grünegger und Hans-Thies Lehmann (Hg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft. (= „Forum Modernes Theater", Bd. 15), Tübingen 1994, S. 198; vgl. auch Fischer-Lichte, Verklärung des Körpers', Manfred Pfister: Meta-Theater und Materialität. Zu Robert Wilsons "the CIVIL warS". In: Gumbrecht/Pfeiffer, Materialität der Kommunikation, S. 454-473. Ohnehin ist das Puppentheater kein nicht-körperliches Theater. So soll in Edward Gordon Craigs Theorie der Schauspieler nur deshalb durch die Übermarionette ersetzt werden, da seine Persönlichkeit, nicht aber seine Körperlichkeit, schädlichen Einfluss auf seine Darbietungen ausübt. Die Übermarionette ist daher in der Tat kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern „der körper [sic!] in trance" (Craig, zitiert nach Jean Grädel: Der Körper als Werkzeug der Erinnerung. In: Pfaff u.a., Der sprechende Körper, S. 15). Begrifflichkeit von Erika Fischer-Lichte: Materialität der theatralischen Kommunikation. In: Dies.: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen 1993. Die Fähigkeit des Theaters, spontane Reaktionen hervorzurufen, nutzte vor allem die Agitprop-Dramatik für ihre Belange, die mit direkter Publikumsansprache und argumentativem Schlagabtausch ihre Zuschauer dafür gewinnen wollte, möglichst direkt im Anschluss an den Theaterbesuch für politische Zwecke auf die Straße zu gehen. Auch die verschiedenen Richtungen des Avantgardetheaters bewerteten die Rolle des Publikums grundlegend neu und verschoben die Handlung immer mehr in den Zuschauerraum. So legten es die futuristischen Varietikünstler darauf an, Tumulte unter den Besuchern zu provozieren, indem sie die Stühle mit Leim beschmierten oder bewusst falsche Eintrittskarten verteilten, nach denen ein und derselbe Platz von sieben Leuten besetzt werden sollte, so dass sich die Zuschauer um diesen Platz streiten mussten.
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bestimmten Augenblick vorhanden zu sein, die Qualität „unmittelbarer" - vom eigenen Körper mitgestalteter - Kunsterfahrung. Richard Shusterman weist darauf hin, dass bereits die Annahme, der Körper sei ein Ort der Unmittelbarkeit, kritisch bewertet werden muss. Piatons Ausführungen zufolge ist der Körper selbst ein Medium, das uns den Zugang zur Außenwelt zwar ermöglicht, diese aber bedingt durch die Unzulänglichkeiten der Wahrnehmung nur verzerrt reproduziert bzw. konstruiert. 44 Dieser Hinweis ist sicher wertvoll, um deutlich zu machen, dass unsere Wahrnehmung keinen Blick auf die absolute Wahrheit einer Sache ermöglicht. Dennoch liefert uns der Körper den ersten und unmittelbarsten Zugang zur Welt. Shusterman selbst weist darauf hin, dass wir uns von den Erfahrungen des Körpers zu keinem Augenblick lösen können und unsere Position zur Umwelt letztlich von ihm bestimmt ist.47 Insofern sind auch diejenigen Künste unmittelbar zu nennen, die sich wie etwa die Musik direkt ins Feld der menschlichen Sinne projizieren und nicht den Umweg über den Verstand und die Phantasie nehmen, wie es beispielsweise die Literatur macht. Das bedeutet aber auch, dass die Materialität des Theaters gerade dort zum Vorschein kommt, wo es sich von seinem Symbolcharakter, seiner Zeichenhaftigkeit und seinem Repräsentationszwang löst. Erst wenn die Dinge auf der Bühne nichts anderes darstellen als sich selbst, wenn sie sich aus dem „Universum der Mimesis" 48 gelöst haben und vom Publikum nicht mehr interpretiert werden müssen, vermittelt das Theater tatsächlich unmittelbare Erfahrung. Die Sinnlichkeit der Bühne ist von Hause aus dem Sinn nicht wohlgesonnen.49 Hans-Thies Lehmann setzt mit dieser Dichotomie von Sinn und Sinnlichkeit einen Diskurs fort, der bereits für die Bewegung der Theaterreformer zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmend war. So lassen sich die verschiedenen Richtungen der Avantgarde alle als Revolte des Körpers gegen die Dominanz der Sprache und der Schriftkultur lesen. Das Schlagwort von der „Retheatralisierung des Theaters" meinte die Befreiung des Theaters aus den „Fesseln der Literatur" 50 . Dies ist nicht nur als Versuch zu verstehen, das Theater aus seinen erstarrten Konventionen zu retten, sondern auch als Reaktion auf die veränderten Lebensbedingungen in einer zunehmend technisierten und funktionalisierten Umwelt. Weder konnte es der Literatur gelingen, der Simultaneität der Wahrnehmungen gerecht zu werden, noch schien die Sprache überhaupt ein geeignetes Medium zu sein, die veränderten Bedürfnisse und Gefühle der Menschen auszudrücken. Sie war „zur billigen Münze der Konversation degeneriert" 51 . Somit war auch ein vorwiegend auf der Dominanz der Spräche beruhendes logozentrisches Weltbild ins Wanken geraten: Der Körper wurde damit ebenso zum Gegenspieler des Intellekts wie die reformierte Bühne zum Gegenspie-
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Vgl. Shusterman, Soma und Medien, S. 117. Vgl. ebd., S. 123. Gumbrecht, Schönheit des Mannschaftssports, S. 205. Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 366. Grädel, Körper als Werkzeug der Erinnerung, S . l l . Guido Hiß: Die metaphysische Maschine. Aspekte der symbolistischen Theaterreform. In: „Forum Modernes Theater", 1996, H.2., S. 137.
ler der Literatur. Daraus resultiert die anti-aufklärerische Tendenz zahlreicher, politisch völlig unterschiedlich gelagerter, avantgardistischer Projekte. Am deutlichsten spiegeln die Massentheaterexperimente der zehner, zwanziger und dreißiger Jahre den Wunsch wider, Theateraufführungen so zu gestalten, dass sie emotional-taktil rezipiert werden und nicht kognitiv. Mächtiges Wirkungsinstrument ist dabei die Masse, die den Einzelnen umgibt. In diesen Massenspielen wird neben Körper und Geist ein weiteres Gegensatzpaar offensichtlich, das bestimmend fur den Unterschied zwischen Bühne und Literatur sein sollte: das zwischen Gemeinschaft und Individuum. In dem Versuch, Menschen zu einer großen Gemeinschaft zusammenzuführen, verschränken sich schließlich die theatralen Experimente mit den politischen Massenbewegungen der Zeit. 2.1.2.3. Postdramatisches Theater und die Kultur des Präsenz Lehmann sieht das „postdramatische Theater" der Gegenwart als Weiterentwicklung der Avantgardebestrebungen an, wenn er beschreibt, dass sich das Theater seit der Moderne auf einer Bahn befinde, „die von der Abstraktion zur Attraktion fuhrt".52 Damit macht er deutlich, dass das literarisch-dramatische Moment der Theateraufführung nachgelassen hat zugunsten der Wirkung des physisch Realen. Daher ist das „postdramatische Theater" Lehmanns in der Terminologie von Hans-Ulrich Gumbrecht ein Teil der Prörenz-Kultur.53 Gumbrecht versteht unter der Produktion von Präsenz, „Dinge in Reichweite zu rücken, so daß sie berührt werden können".54 Dieser Akt ist zu unterscheiden von anderen Formen kultureller Darstellung, die auf die Produktion von Bedeutung und deren Interpretation ausgerichtet sind. Als Beispiel für den Begriff der Präsenz fungiert das katholische Verständnis der Eucharistie, in der Brot und Wein nicht Zeichen für Christi Leib und Blut sein sollen, sondern es durch den Akt der Wandlung wirklich geworden sind. Brot und Wein sind daher keine Signifikanten, sondern lediglich die Form, in der sich Christi Leib und Christi Blut materialisieren. Der Opfergang Christi wird nicht nachgespielt, sondern in der rituellen Zeremonie nachvollzogen. Präsenz selbst ist Geburt, das Kommen, welches sich selbst auslöscht und sich selbst zurückbringt. [...] Nur diese Geburt, diese .Gebürtigkeit', die nicht eine Signifikation ist,
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Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 362. Vgl. zum Begriff des Präsenz: Gumbrecht, Mannschaftssport, S. 207-215. Gumbrecht selbst sieht die moderne Bühne - im Gegensatz zur mittelalterlichen - keineswegs als Produzenten von Präsenz an: Vielmehr repräsentiere der Vorhang die Trennung zwischen Schauspielern und Publikum und verpflichte die Zuschauer dazu, die „Effekte ihrer eigenen körperlichen Präsenz zu unterdrücken" (ebd., S. 209). Auch die Schauspieler wirken nicht durch ihre eigene Präsenz, sondern nur als materielle Signifikanten von abwesenden Charakteren. Dieses Verständnis von Theater ist genauso modellhaft wie das von Lehmann. Jede Theaterauffuhrung bewegt sich im Spannungsfeld von Mimesis und Materialität, und es bedarf einer vergleichenden Forschung, um festzustellen, in welche Richtung die Inszenierung stärker tendiert. Richtig ist aber wohl die Annahme, dass etwa das mittelalterliche Mysterientheater weniger von mimetischen Zügen geprägt war als beispielsweise das bürgerliche Trauerspiel. Ebd., S. 208.
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sondern ein Zur-Welt-Kommen der Welt. Hin Augenblick tritt ein, wenn man nichts anderes mehr als Wut fühlen kann, eine absolute Wut gegen so viele Diskurse, so viele Texte, die keine andere Sorge haben, als etwas mehr Sinn zu machen, delikate Signifikationsarbeiten zu verbessern oder zu perfektionieren. Wenn ich hier von Geburt spreche, werde ich deshalb nicht versuchen, sie in einen weiteren Sinnzuwachs zu Uberfuhren. Ich werde sie eher, falls dies möglich ist, als den Mangel an .Bedeutung', der sie ,ist' belassen.55 Gumbrechts These zufolge hat sich in unserer Gesellschaft der Wandel vom Hermeneutischen zum Dinglichen bereits vollzogen, da die verschiedenen Spielarten der Präsenzproduktion bestimmend für unser kulturelles Umfeld geworden sind, während solche Phänomene, die der Interpretation bedürfen, an Bedeutung verloren haben. 56 Lehmann Ubernimmt Gumbrechts Deutung, dass Präsenz das typische Muster gegenwärtiger Kultur darstellt, und überträgt sie auf die Situation des Theaters. Insbesondere den Körper der Schauspieler sieht er vom Signifikantendienst befreit: Es bedurfte der Emanzipation des Theaters als einer eigenen Dimension der Kunst, um zu erfassen, daB der Körper, ohne ein Dasein als Signifikant zu fristen, agent provacateur einer sinnfreien Erfahrung sein kann, die nicht auf Gegenwärtigung eines Realen und einer Bedeutung geht, sondern Erfahrung des Potentiellen ist.57 Der Körper, losgelöst von seiner Aufgabe zu repräsentieren, wird in seiner Physis, seinen Gesten und Bewegungen zum Zentrum des Theaters, zum „einzigen Thema" 58 . Lehmann beschreibt mehrere „postdramatische" Körperkonzeptionen, von denen in diesem Zusammenhang vor allem die des „sportlichen Körpers" interessiert. Er nennt Inszenierungen von Einar Schleef oder „LaLaLa Human Steps" als Beispiele, in denen Schauspielerinnen und Schauspieler teilweise zu körperlichen Höchstleistungen getrieben werden, die denen des Sports gleichen. Gleichzeitig wird der sportlich durchtrainierte Körper der Akteure zum Blickfang und optischen Mittelpunkt des Theaterspiels. Darin spiegelt sich die Tatsache, dass in einer stets weniger vqn Sinnangeboten strukturierten Lebenswelt der Körper, seine Leistung, seine Kraft und Schönheit zu einem veritablen Fetisch, zur letzten scheinbar sicheren Wahrheit wird.59 Diese These führt den Sport und das moderne Theater zusammen, indem beiden eine Körperfetischisierung zugeschrieben wird, die alte Muster von sinnorientiertem Denken und Handeln ablöst.
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Jean-Luc Nancy: The Birth to Presence. Stanford 1993, S. 5. Zitiert nach Gumbrecht, Mannschaftssport, S. 214. Gumbrecht selbst schränkt allerdings ein, dass „unser Wunsch nach Präsenz nie ganz erfüllt werden wird" (ebd., S. 214). Das gilt umso mehr, wenn die Ereignisse, die Präsenz herstellen, massenmedial vermittelt werden, so dass „die .Beteiligung' und die .Präsenz' der Fernsehzuschauer mit einem Gefühl von Distanz durchzogene .Beteiligung' und .Präsenz' sind. Diese .gemischte' Umwelt ist ohne Zweifel jene Modalität von Präsenz, die in unserem jetzigen kulturellen Moment bestimmend ist" (ebd., S. 227). Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 366. Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 164f. Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 381.
Interessanterweise entwickelte auch Gumbrecht seinen Begriff der Präsenz am Vorbild des Sports, der ein Paradebeispiel für die Seite des Nicht-Darstellenden ist, da die Handlungen der Sportler - zumindest in erster Linie - auf nichts anderes verweisen als sich selbst. Die Spielzüge bei einer Mannschaftssportart wie dem American Football, die damit verbundenen Bewegungen der Menschen und des Balles haben ihren Sinn nur im Hinblick auf das Ziel des Spiels: mehr Touchdowns zu erreichen als der Gegner. Das Spiel selbst ist das Ereignis. Jeder Spielzug aber hat den Charakter der Einzigartigkeit, da er nur in einem bestimmten Augenblick vorhanden ist und zudem niemand vorhersehen kann, wie er ausgehen wird.60 Das erfordert vom Zuschauer eine besonders intensive Konzentration auf das Spielgeschehen und lässt ihn das Spiel mit einer leidenschaftlichen Spannung verfolgen, bis er aktiv und emotional als Teil der Masse mitgeht. Diese Art, ein Sportereignis zu erleben, vergleicht Gumbrecht mit dem dionysischen Rausch Nietzsches.61 Der Sport ist was die Rezeption betrifft somit ein Verwandter des Massentheaters und gleichzeitig aufgrund seiner Körperorientierung und der räumlich-zeitlichen Gebundenheit von Präsentation und Rezeption ein Bruder der Performancekunst. 2.1.3.
Somatische Medientheorien
2.1.3.1. Zwischen Eliminierung und Fetischisierung - Körper im Medienzeitalter Kennzeichnend für das Verhältnis von audiovisuellen elektronischen Medien62 zum menschlichen Körper ist eine Paradoxie: Einerseits sind Femsehen, Video oder Computer Meilensteine einer mehr als 2000 Jahre dauernden Mediengeschichte, die gekennzeichnet ist von der „Trennung der Botschaft vom Körper des Boten".63 Sie
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Vgl. Gumbrecht, Mannschaftssport, S. 219-223. Vgl. ebd., S. 224. .Medium" ist ein diffuser und vieldeutiger Begriff. Im Rahmen dieser Arbeit wird der Begriff .Medien", sofern es nicht ausdrücklich anders benannt wird, in dem hier vorgestellten Sinn verwendet, also als Bezeichnung für diejenigen audiovisuellen und elektronischen Medien, die der Massenkommunikation dienen. Das bedeutet nicht, dass die Phänomene, die im Verlauf der Arbeit beschrieben werden, nicht auch für einen allgemeineren Medienbegriff gelten könnten. Dies wird allerdings nicht untersucht. Siegfried Zielinski: Von Nachrichtenkörpern und Körpemachrichten. Ein eiliger Beutezug durch zwei Jahrtausende Mediengeschichte. In: Edith Decker u. Peter Weibel (Hg.): Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst. Köln 1990, S. 246. Am eindrucksvollsten illustriert die Legende des Läufers von Marathon, dass im antiken Griechenland das Übermitteln einer Botschaft immer ein körperlicher Akt war. Der Läufer soll die Strecke zwischen Marathon und Athen gelaufen sein, um die Meldung vom Sieg über die Perser zu verkünden, und dann bei seiner Ankunft tot zusammengebrochen sein. Er hatte also den größtmöglichen körperlichen Aufwand betrieben, nur um die Nachricht zu übermitteln. Gut 2000 Jahre später hätte derselbe Bote ein Handy bei sich und könnte eine SMS verschicken. Im Zeitalter elektronischer Datenübermittlung ist der persönliche Aufwand der Kommunikation so gering, dass auch die Nachricht selbst an Wichtigkeit verliert und der Kommunikationsakt selbst wichtiger ist als die Botschaft. (Zu letzterem vgl. Friedrich Kittler: Signal - Rausch - Abstand. In: Gumbrecht/Pfeiffer, Materialität der Kommunikation, S. 342-359).
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forcieren die „Entwicklung vom Materiellen zum Immateriellen in den Verkehrsverhältnissen",64 da Kommunikation immer weniger von Mensch zu Mensch verläuft als über den Austausch elektronischer Daten.65 Mehr denn je hat der Mensch die Möglichkeit, informiert zu werden und informieren zu können, ohne „leibhaftig" anwesend sein zu müssen,66 nimmt seine Umwelt wahr, ohne sich in sie hineinzubegeben. Medienforscher Siegfried Zielinski konstatiert daher eine „zunehmende Eliminierung der sinnlich-körperlichen Erfahrung"67 aus unserem Alltag. Jochen Hörisch drückt es noch schärfer aus: Seit der Erfindung der neuen Medien sind Menschen so antiquiert wie Bücher.68 Während die Körper also zur technischen Übermittlung von Botschaften im massenmedialen Kommunikationsprozess nicht mehr benötigt werden, verschwinden sie andererseits jedoch keineswegs von Leinwand und Monitoren, da gerade die elektronischen Medien eine Fülle von Körperbildem produzieren. Mehr noch als im „postdramatischen Theater" erscheint der Körper in Medieninszenierungen wie Sportsendungen, Fitnessvideos, Pornos,69 gewalttätig aktionistischen B-Movies oder Videoclips zu Popsongs als Fetisch, auf den die Zoomtechnik den voyeuristischen und detaillierten Blick ermöglicht. So wie die Medien den Körper aus dem menschlichen Kontakt verdrängen, rücken sie ihn als Bild, als Botschaft wieder in das Bewusstsein der Rezipienten. Zielinski versteht dies als Reaktion auf die fehlende Sinnlichkeitserfahrung des Alltags, „die wiederum eine gesteigerte Sehnsucht nach Körpererlebnissen im Imaginären freisetzt bzw. nach sich zieht, Körperliches in seinen archaischsten Formen zum gegenwärtig beliebtesten Objekt audiovisueller Konstruktionen von Realität werden läßt".70
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Zielinski, Körpemachrichten, S. 246. Kommunikation ist hier nicht nur als Übermitteln von Nachrichten zu verstehen, sondern in seiner Gesamtheit als Verkehr von Menschen untereinander. Ein gutes Beispiel für eine zunehmende Entmaterialisierung des menschlichen Kontakts ist die Entwicklung der Zahlungsmittel vom aus Kleidern und Nahrung bestehenden Nutzgeld über das Münz- und Papiergeld bis zum heutigen elektronischen Geldverkehr. Anstelle von sinnlich wahrnehmbaren Materialien stehen nun abstrakte Zahlen fur den jeweiligen persönlichen Reichtum. Die Möglichkeit zu kommunizieren ohne den Ort verändern zu müssen ist auch ein immer wiedekehrendes Argument, um die Faszination des Internets zu erläutern. Zielinski, Körpernachrichten, S. 229f. Jochen Hörisch: Non plus ultra. Paul Virilios rasende Thesen vom rasenden Stillstand. In: ,Merkur", 1993, H. 9, S. 792. Zielinski unterscheidet 1990 noch zwischen gesellschaftlich und kulturell sanktionierten Körperinszenierungen (wie den Aerobic-Kassetten) und „anrüchigen" wie den Pornos. Zehn Jahre später ist auch der Porno gesellschaftsfähig geworden. Dafür spricht, dass ehemalige Pomodarstellerinnen wie Dolly Buster oder Gina Wild eine ähnliche Popularität genießen wie Musik-, Film- oder Sportstars oder dass Fernsehformate wie „Wahre Liebe" oder .Liebe Sünde" den Pornobetrieb einem breiten Femsehpublikum vorstellen. Zielinski, Körpemachrichten, S. 230. Der Boom von Extrem- und Abenteuersportarten z.B. der Erfolg des Bungee-Jumpings - in den 90er Jahren zeigt, dass die Sehnsucht nach Körpererlebnissen nicht im Imaginären verhaftet bleibt. Viele Menschen haben anscheinend das Bedürfnis, ein Gefühl für ihren Körper zu entwickeln (vgl. dazu Derrick de Kerckhove: Touch versus Vision: Ästhetik neuer Technologien. In: Wolfgang Welsch (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München 1993, S. 137-168).
Die Inszenierung des Körpers gehört zu den umfassendsten Bereichen der optischen Medien. Für Film oder Femsehen gilt, dass zumeist menschliche Handlungen - die in optischen Medien als Bewegungen von Körpern wahrgenommen werden den dominanten Bezugspunkt darstellen, um den herum sich die anderen filmischen Mittel gruppieren. Insofern ist der Körper als Objekt fiir die Medienwissenschaft von Bedeutung, zumal da, wo gesellschaftliche Körperbilder mit medialen Körperinszenierungen kongruieren. So ist die Kehrseite der vermeintlichen Freizügigkeit von Stars, die ihre nackte Haut auf Leinwänden und Bildschirmen zur Schau stellen, eine Körperdisziplinierung. Die Kamera erlaubt keine Abweichung von einem vorgegebenen Körperideal, da alle Mängel sofort offenbart werden. 71 Die Körper sind überwachbar, was Auswirkungen auf alle hat. Nie zuvor war es so wichtig, gut auszusehen. 2.1.3.2. Physiologische Reize Da die Körper auf Leinwand und Bildschirm weiter als Bilder existieren, befinden sie sich auch in der „Sphäre sinnlicher Vernehmbarkeit". 72 Auch wenn die Übermittlung der Nachricht nicht mehr an die Bedingungen des menschlichen Körpers geknüpft ist, müssen Filme und andere audiovisuelle Medien durch Auge und Ohr wahrgenommen werden, um für den Menschen überhaupt existent zu sein. Wir können unsere äußeren Formen durch computerisierte Hologramme oder Bilder ersetzen, wir können sogar Maschinen entwickeln, die fur uns auf die Tastaturen einhämmern und die Bildschirme ansehen, aber wir können uns nicht vom erfahrbaren Körper mit seinen Gefühlen, Freuden und Erregungen lösen. Er ist selbst in den höchsten Flügen der Medientechnologie immer da. Virtuelle Realität wird durch unsere Augen, durch unser Gehirn, durch unsere Drüsen und durch unser Nervensystem erfahren.73 Daher sind jüngere Medientheorien daran interessiert, die sinnlichen Dimensionen der technischen Medien aufzudecken. Aufgrund der synästhetischen Grundierung von Film, Fernsehen, Video und Computer spannen Forscher wie Friedrich A. Kittler oder Norbert W. Bolz den Bogen von der elektronischen Gegenwart zum Gesamtkunstprojekt Richard Wagners und dem dionysischen Kult Friedrich Nietzsches.74 Bolz beschreibt - ähnlich dualistisch zwischen Verstand und Körper unterscheidend, wie das schon für den Bereich der Theaterwissenschaft festgestellt wurde 71
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Typisch in diesem Zusammenhang ist die im Film weit verbreitete Methode „Body Doubles" einzusetzen, um eventuelle Makel von Stars bei Nacktszenen oder körpernahen Aufnahmen vertuschen zu können. Martin Seel: Vor dem Schein kommt das Erscheinen. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Medien. In: .Merkur", 1993, H. 9, S. 773. Shusterman, Sorna und Medien, S. 125. Vgl. Norbert Bolz: Abschied von der Gutenberg-Galaxis. Medienästhetik nach Nietzsche, Benjamin und McLuhan. In: Jochen Hörisch/Michael Wetzel (Hg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870-1920. München 1990, S. 139-157; Ders: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse. München 1993; Ders.: Die Theorie der Neuen Medien. München 1990; Friedrich A. Kittler: Weltatem. Über Wagners Medientechnologie. In: Friedrich A. Kittler, Manfred Schneider und Samuel Weber (Hg.): Diskursanalysen. Bd. 1: Medien, Opladen 1987, S. 94-107.
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- die Wirkung der Massenmedien als „physiologisch", 75 da sinnliche Reize über inhaltliche Aussagen dominierten. Den Erfolg der Massenmedien sieht er als Erfolg der Bild- über die Schriftkultur und vollzieht den Abschied von der „GutenbergGalaxis", wie McLuhan sie in den 60er Jahren propagierte. McLuhan selbst hat den Gebrauch der Massenmedien, der „extensions of man", 76 als eine Erweiterung der menschlichen Sinne bezeichnet und damit eine Vorstellung über den Charakter der Medien etabliert, die deutlich macht, dass eine Wechselbeziehung zwischen der Wahrnehmung des Menschen und seiner Mediennutzung besteht. Bereits Freud hat in Das Unbehagen in der Kultur die technischen Errungenschaften des Menschen als Verbesserung seiner körperlichen Fähigkeiten analysiert: Mit all seinen Werkzeugen vervollkommnet der Mensch seine Organe - die motorischen wie die sensorischen - oder räumt die Schranken für ihre Leistung weg. [...] In der photographischen Kamera hat er ein Instrument geschaffen, das die fluchtigen Seheindriicke festhält, was ihm die Grammophonplatte für die ebenso vergänglichen Schalleindrücke leisten muß, beides im Grunde Materialisationen des ihm gegebenen Vermögens der Erinnerung, seines Gedächtnisses. Mit Hilfe des Telephons hört er aus Entfernungen, die selbst das Märchen als unerreichbar respektieren würde; die Schrift ist ursprünglich die Sprache des Abwesenden. [...] Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er all seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch zu schaffen. Er hat übrigens ein Recht, sich damit zu trösten, daß diese Entwicklung nicht gerade mit dem Jahr 1930 A.D. abgeschlossen sein wird. Feme Zeiten weiden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiet der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit wird sich noch weiter steigern.77 In der kulturpessimistischen Sicht Paul Virilios ist Freuds Prothesengott dagegen dem Untergang geweiht. 78 Virilio sieht den alten Traum der Futuristen vom Maschinen-Menschen erfüllt und beklagt die „Eroberung der Körper" durch Transplantationstechnik, Chirurgie und mikrophysikalische Stimulation. Von der „Ersetzbarkeit der Körper" 79 schließt er auf die .Austauschbarkeit des Menschen" 80 und den Verlust der Individualität. Im Zeitalter der Biotechnologie geht der Körper als Funda-
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Bolz, Abschied, S. 139. Wenn die Medien als Werkzeuge des menschlichen Körpers begriffen werden, zeigt das schon, dass ihr Gebrauch niemals zum Verschwinden des Körpers führen kann, da eben der Körper nötig ist, um sie überhaupt nutzen zu können. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt 1989, S. 86f. Zitiert nach Peter Weibel: Vom Verschwinden der Feme. Telekommunikation und Kunst. In: Decker/Weibel, Vom Verschwinden der Ferne, S. 36. Vgl. Paul Virilio: Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. In: Ders.: Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. MUnchen, Wien 1994, S. 108-145. Ebd., S. 140. Virilio schließt oft von der Austauschbarkeit einzelner Organe auf die Austauschbarkeit des menschlichen Körpers. Dies negiert jedoch, dass der Mensch ein ganzheitliches Körpergefühl hat. Der Körper „erinnert" sich an seine alten „Teile" und muss die neuen in einem langwierigen Prozess psychisch und physisch in sein funktionierendes Köipersystem integrieren. Insofern verändert sich der Körper zwar beim Austausch einzelner Organe, wird aber keineswegs ersetzt (vgl. Merleau-Ponty, Phänomeneologie der Wahrnehmung, S. 100). Merleau-Ponty erklärt dieses Phänomen am Phantomschmerz. Virilio, Vom Übermenschen, S. 140.
ment der Selbstvergewisserung verloren, die Sinne werden verwirrt und überreizt. An diesem Prozess, den Virilio auch die „allgemeine Mobilmachung der Affekte" nennt, haben die Medien einen beträchtlichen Anteil. Sie vernichten den Raum, indem sie auch mehrere tausend Kilometer weit entfernte Ereignisse sichtbar machen, und sie vernichten das Zeitgefühl, da sie in rasender Geschwindigkeit laufend neue Informationen verbreiten: Da die Geschwindigkeit das Geheimnis und damit den Wert der Information gewährleistet, bedeutet die Freisetzung des Leistungspotentials der Medien nicht nur die Vernichtung der Dauer der Information, des Bildes und seiner Übermitüung, sondern die Vernichtung all dessen, was von Dauer ist und Bestand hat.81
Virilio sieht die Medien als Aufrüstung der Sinne an und beschreibt sie als Produkt der Militärindustrie. Indem er Erfindungen wie die Kamera mit der des Maschinengewehrs parallelisiert, zeigt er das kriegerische Potenzial auf, das in den Massenmedien steckt, und deutet das Verschwinden des Körpers im Telekommunikationsprozess als Vorboten für den Tod des Körpers auf dem Schlachtfeld.82 Eliminiert man die apokalyptische Tendenz aus Virilios Texten, so wird doch deutlich, dass der Gebrauch der technischen Medien nicht folgenlos für den menschlichen Körper bleibt. Weniger ist hier von Augen- oder Haltungsschäden, die von zu lange andauernden Sitzungen vor Femseh- oder Computerbildschirmen herrühren können, die Rede, als vielmehr von einer „Umcodierung der Sinne".83 Medien erregen die Sinne nicht nur, sie wirken auch auf sie ein. Moderne Forschungen untersuchen daher das Verhältnis von medialen Reizen, veränderter Wahrnehmung und gesellschaftlichen Körperbildern. Historischer Bezugspunkt ist vielfach die Zeit des frühen Films, die zusammenfällt mit den künstlerischen Avantgardebestrebungen von denen vor allem der Futurismus mit seinem Technikrausch die Medien für die Kunst entdeckt.84 Die Simultaneität von Sinneseindrücken und die Beschleunigung der Lebensumwelt sind kennzeichnende Merkmale des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, neue Verkehrsmittel wie Eisenbahn oder Automobil verändern die Körperwahrnehmung ähnlich wie Telekommunikationsmittel und audiovisuelle Medien. In der Mobilisierung und Enervierung der Körper haben die Kunst der Avantgarden, die Entwicklung der Medien und die großen politischen Massenbewegungen dieser Zeit ihren gemeinsamen Schnittpunkt. 2.1.3.3. The interplay of senses - Multimedialität und taktile Wahrnehmung Von den historischen Beispielen lassen sich insofern Parallelen zur Gegenwart ziehen, da rasant geschnittene Musikvideos, virtuelle Cyberspacewelten, ausgefeilter Dolby-Sound oder die Kultur des „Zappens" die Hör- und Sehgewohnheiten des
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Paul Virilio: Schrumpfeffekt. In: Ders., Eroberung des Körpers, S. 62f. Vgl. ebd., S. 63-70. Bolz, Abschied, S. 146. Vgl. etwa Weibel, Vom Verschwinden der Feme, S. 19-78; Friedemann Malsch: Eine letzte Antizipation. Die Entdeckung des Fernsehens durch die italienischen Futuristen. In: Decker/Weibel, Vom Verschwinden der Ferne, S. 209-228.
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Menschen immer wieder aufs Neue verändern. Die Frage, wie sich die Wahrnehmung im Zeitalter des massenhaften Zugangs zu Informations- und Unterhaltungselektronik umorganisiert, ist zu einem zentralen postmodernen Diskurs geworden. 85 Die Umcodierung der Sinne geschieht zwar zunächst auf der Ebene des Optischen, da immer mehr Bilder in immer schnellerer Folge zu sehen sind, verlagert sich aber auch auf das taktile Erleben, zum Beispiel dann, wenn die visuelle Zeichenfolge des Films oder des Femsehens Schockwirkungen hervorruft. Durch die Verknüpfung akustischer Ebenen, visueller Erscheinungen und vor allem von Bewegungen und Einstellungen, die eine propriozeptive Interpretation wecken, verhält sich das Femsehen sehr ähnlich wie wirkliche, lebendige Ereignisse im zwischenmenschlichen Bereich, mit dem ganzheitlichen Ziel, multisensorische Antworten hervorzubringen. [...] Wir verstehen, was wir sehen, indem wir den Handlungen mit unseren neuromuskulären Antworten nacheifern oder sie mimen. Dies kann einfach nachgewiesen werden. Koordinierte und simultane Veränderungen in Pulsschlag, Blutdruck, Hautspannung [...] zeigen an, daß wir das, was wir beobachten [...] nicht nur mit unseren Augen, sondern mit dem ganzen Körper sehen.86 Entscheidende technische Erneuerung der Gegenwart ist die elektronisch-digitale Bilderzeugung, die das analoge Verfahren der Fotografie und des Films ablöst, und den „interplay of senses" 87 erst ermöglicht. Fernseher, Videos, PCs, Bibliotheken, CDs, DVDs oder Telefone können zu einem System, einer eigenen Welt, zusammengeschlossen werden. Wer in dieser Meta-Welt - weit von allen Bezügen zu einer „wirklichen" Welt - lebt, der fühlt sich zunächst von der geistigen und physischen Schwere der letzteren entlastet. Die elektronische Technik digitalisiert Dauer und Situation, so daB Gestalthaftigkeit des Sinns, Geschichte und Körpererleben als Bezugspunkte aufgelöst und Uber ein System verteilt werden, welches Zeitlichkeit nicht mehr als Fließen bewußler Erfahrung, sondern als Übertragung von .random information' konstituiert.8" Trotz der Bedeutung der elektronischen Datenübertragung für weite Teile der Gesellschaft darf nicht übersehen werden, dass allen Nutzem jederzeit die Möglichkeit offen steht, aus der „Meta-Welt" der Medien auszusteigen und in materielleren Welten - etwa der des Theaters - miteinander zu kommunizieren. 89 Daher erscheint es verfehlt, den „Tod des Körpers" im Medienzeitalter auszurufen, zumal es „unser Körper sein wird, der die Grenzen zwischen den verschiedenen Erfahrungstypen
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Vgl. Büscher, Thealer und elektronische Medien, S. 194. De Kerckhove, Touch versus Vision, S. 147. Vgl. Bolz, Abschied, S. 154. Vivian Sobchack: The Scene of the Screen. Beitrag zu einer Phänomenologie der „Gegenwärtigkeit" im Film und in den elektronischen Medien. In: Gumbrecht/Pfeiffer, Materialität der Kommunikation, S. 425. Tatsächlich existiert das Mediensystem auch nicht völlig abgekoppelt, sondern in ständigen Wechselbeziehungen zu zahlreichen anderen Systemen. So haben Sportveranstaltungen wie Fußball ein Doppelleben: als Femsehinszenierung in der Meta-Welt der Medien wie auch als Live-Erlebnis im Stadion. Beides sind voneinander getrennte Ereignisse, die sich allerdings gegenseitig beeinflussen. Das Fernsehen regelt aufgrund finanzieller Einflüsse beispielsweise die Anstoßzeiten, andererseits ist die Stimmung im Stadion entscheidend für den Genuss des Femsehfußballabends.
(real, fiktiv oder simuliert) bestimmen wird".90 Vielmehr gibt es den Ausführungen von Zielinski und Bolz zufolge Tendenzen innerhalb des Mediensystems, die Immaterialität des Kommunikationsprozesses zu kompensieren, etwa in der Form, dass der Körper als Fetisch präsentiert wird, aber auch dadurch, dass verstärkt solche Mittel entwickelt werden, die es möglich machen, die Sinne der Rezipienten zu attackieren. Diese theoretischen Beobachtungen gilt es anhand eines Beispiels wie den Olympischen Spielen - einer extrem körperorientierten und in sich abgeschlossenen Veranstaltung - zu überprüfen. Es stellt sich daher zum einen die Frage, inwiefern die Körper der Sportstars in den Medien als Kultobjekte präsentiert werden. Zum anderen ist von Interesse, ob der Versuch unternommen wird, dem Fernsehzuschauer mit Spannungsdramaturgie, Bilderrausch und dem Beschwören des LiveErlebnisses so „auf den Leib zu rücken", dass der Mangel an körperlicher Authentizität gegenüber dem Besucher im Stadion wettgemacht werden kann. 2.1.4.
Körperspiele. Aktuelle Tendenzen der Sportphilosophie
Im Mittelpunkt jeder sportwissenschaftlichen Disziplin, ob Sportgeschichte, Soziologie oder -pädagogik, Sportmedizin, Biomechanik, Trainingslehre oder Rehabilitation, steht der menschliche Körper, sein Aufbau und seine Leistungsfähigkeit, seine Ästhetik, seine historischen und gesellschaftlichen Formungen. Das hat seine banale Ursache darin, dass Sport in erster Linie „ein Spiel mit den Techniken des Körpers"91 ist. Der sportwissenschaftliche Blick auf den Körper ist daher verbunden mit einem Blick auf die Sportpraxis, der Körper wird analysiert als Instrument des Sporttreibenden. 2.1.4.1. Inszenierungen. Athletenkörper als „social bodies" In Zusammenhang der Fragestellung dieser Arbeit interessiert jedoch ein komplexeres Verhältnis zwischen Sport und Körper, das zurückgeführt wird auf ein Verständnis von Sport als Show oder Spektakel: Der Sport, einst aus wirklichen Spielen des Volkes hervorgegangen, vom Volk geschaffen, kehrt nun - analog zur folk music - zum Volk zurück in Gestalt des fiirs Volk geschaffenen Spektakel.92
Bourdieus Bemerkung veranschaulicht den performativen Charakter des modernen Sports, der bereits seinen Anfängen zum Ende des 19. Jahrhunderts innewohnt, in
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Siegfried J. Schmidt: Modernisierung, Kontingenz, Medien: Hybride Beobachtungen. In: Vattimo/Welsch, Medien - Welten - Wirklichkeiten, S. 175. Gunter Gebauer und Horst Lenk: Der erzählte Sport - Homo ludens und auctor ludens. In: Gunter Gebauer (Hg.): Körper- und Einbildungskraft. Inszenierungen des Helden im Sport. Berlin 1988, S. 151. Zitiert nach Volker Caysa: Körpertechnik als Grund der Selbstmächtigkeit im Sport. In: Ders. (Hg.): Sportphilosophie. Leipzig 1997, S. 258. Pierre Bourdieu: Historische und soziale Voraussetzungen des Sports. In: Caysa, Sportphilosophie, Leipzig 1997, S. 113.
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der heutigen massenmedialen Präsentation des Sports aber immer mehr an Bedeutung gewinnt. Zumindest populärer Spitzensport findet stets vor Zuschauern und wie Bourdieu heraushebt - überwiegend für die Zuschauer statt. Die eigentliche Leistung des Sportstars besteht nicht darin, einen sportlichen Bewegungsablauf möglichst perfekt zu beherrschen, sondern dies einem Publikum zu präsentieren.53 Das bedeutet aber auch, dass die leibhaftigen Körper der Sportindividuen zum Teil einer - wie auch immer gearteten - Vorführung geworden sind. Sie werden „zur Schau gestellt", und zwar nicht nur in solchen Sportarten, in denen Leistung anhand ästhetischer Kategorien von Wertungsrichtern bestimmt wird wie im Eiskunstlaufen, Tumen, Turm- oder Skispringen, sondern in allen Disziplinen. Im Kommunikationssystem Spitzensport gibt es jeden Athletenkörper daher zumindest dreimal: den Körper des Sportlers mit seinen individuellen Eigenschaften, seiner Leistungsbereitschaft, seinem Bewegungstalent oder seiner Verletzungsanfälligkeit; den Körper als Handlungsträger des performativen Sportevents vor Ort; schließlich den Körper als Bild in einer Fernsehübertragung.94 Der individuelle schmerz- und glücksempfindliche Leib des Spitzensportlers mutiert auf seinem Weg der Mediatisierung zu einem „social body".95 Folgerichtig fragen daher Sportsoziologie und -philosophie verstärkt nach der Verbindung von sportlichen und gesellschaftlichen Körperidealen, sei es, dass der Sport in das Blickfeld von historischen Untersuchungen zur Körperpolitik gerät,96 sei es, dass sportliche Körperideale in Hinblick auf eine feministische Theorie abgeklopft werden,97 oder sei es, dass der Sport, anknüpfend an Foucault, im Spannungsfeld zwischen biopolitischer Fremdbestimmung und autonomer Selbstfindung des Individuums angesiedelt wird.98 2.1.4.2. Körperkult. Die Bedeutung des Sports für die „somatische Gesellschaft" Durch die zunehmende Rezeption des Spitzensports über die elektronischen Medien erhält er eine immer größere Verbreitung und infolgedessen auch eine steigende gesellschaftliche Relevanz:
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So werden Sportler, die ihre hervorragenden Trainingsleistungen im Wettkampf nicht gleichermaßen umsetzen können, in der Öffentlichkeit abschätzend als „Trainingsweltmeister" bezeichnet. Das impliziert, dass zwischen Training und Wettkampf ein ähnlich manifester Unterschied besteht, wie zwischen einer Theaterprobe und einer Auffuhrung. Betrachtet man die intermediale Vermarktung der Sportstars, so taucht ein und derselbe Leib noch in vielen anderen Zusammenhängen als Körper auf: im Zentrum der Sportfotografie, auf Werbeplakaten, in Femsehspots, in Vor- oder Abspännen zu Sportsendungen, als Vorlage für künstlerische Plastiken, etc. Michael Klein: „Social body", persönlicher Leib und der Körper im Sport. In: Ders. (Hg.): Sport und Körper. Reinbek bei Hamburg 1984, S. 7-20. Vgl. etwa die Aufsatzsammlung Diekmann/Teichler, Körper, Kultur und Ideologie. Vgl. etwa Birgit Palzkill, Heidi Scheffel und Gabriele Sobiech (Hg.): Bewegungs(t)räume. Frauen - Körper - Sport. München 1991. Vgl. Volker Caysa: Körpertechnik als Grund der Selbstmächtigkeit im Sport. In: Ders., Sportphilosophie, S. 257-274.
[...] obwohl wir zu der Annahme neigen, daß Sport (oder ein Äquivalent) seit dem Beginn menschlicher Geselligkeit existierte, stellt unsere gegenwärtige Epoche ohne Zweifel einen Kulminationspunkt dar, sowohl was die Zeit betrifft, die darauf verwendet wird, Sportveranstaltungen anzusehen, als auch in Bezug auf die finanziellen Aspekte des Sports."
Der Sport verstärkt somit das Interesse am Körper in einer somatischen Kultur, deren Angehörige in einer breiten Öffentlichkeit über ihr Aussehen wie ihre Ess-, Schlaf- und Liebesgewohnheiten diskutieren und sich folgerichtig vornehmlich über ihren Körper definieren. In einer auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft ist der Sport besonders attraktiv, da er Ruhm und Reichtum ermöglicht. Er [der Sport, d. Vf.] hat das Skurrile verloren, er ist Teil des Fortschritts der Gesellschaft geworden, ein besonderer Teil zwar, aber ein immer stärker beachteter, nämlich ein Feld des Fortschritts des Körpers.100
Der Sport liefert nachmessbare Beweise wie Weiten und Zeiten dafür, dass der Fortschritt nicht aufzuhalten ist und dass es eine Zukunft gibt, die besser ist als die Gegenwart. In diesem Sinne interagiert er mit der Werbung, die dem Konsumenten ein besseres Leben verspricht. Dieses Leben liegt in der Hand jedes Einzelnen, „die Zukunft beginnt am eigenen Körper".101 Darin, so der Sportphilosoph Gunter Gebauer, liegt die Utopie des Sports,102 die sich von den großen Utopien vergangener Zeiten zwar unterscheidet, aber dennoch zeigt, dass der Sport auch dort, wo er nicht politisch instrumentalisiert wird, eine politische Bedeutung hat. Er verkörpert die Fortschrittsideologie der Moderne und macht sie glaubhaft. Innerhalb der „somatischen Kultur" wird der durchtrainierte Körper somit zu einem Ideal, denn der sportliche Erfolg ist letztlich abhängig von den körperlichen Fähigkeiten der Spitzenathletinnen und -athleten, die es weit mehr als noch in den 80er Jahren gewöhnt sind, ihren Körper zu präsentieren und zu vermarkten. Die hautenge und bauchfreie Sportlerkleidung, die den unverhüllten Kamerazoom auf das Muskelspiel ermöglicht, illustriert, wie sehr es mittlerweile zum Selbstverständnis der Sportstars gehört, ihren Körper zur Schau zu stellen. Der Sport prägt seit der Antike nicht nur ein Leistungsideal, sondern auch das Schönheitsideal vom athletischen Körper, wie es sich in der Bilder- und Statuenproduktion der Kunst niederschlug und heute über Werbung oder Fitnessvideos verbreitet wird. Richard Shusterman warnt vor der zunehmenden Verbreitung von Produkten, die den sportlichen Körper feiern, da sie ein normiertes Verständnis von Schönheit formen:
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Gumbrecht, Schönheit des Mannschaftssports, S. 202. Die gewachsene gesellschaftliche Bedeutung des Sports wird auch am Verhalten von Politikern deutlich. So versucht die EU Einfluss auf die Transferbestimmungen im FuBball zu nehmen, und in Deutschland wurden bestehende Steuergesetze geändert, um die Austragung der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 zu ermöglichen (vgl.: http://www.ok-deutschland2006.de/archiv/index.html). Gunter Gebauer: Von der Körpertechnologisierung zur Körpershow. In: Caysa, Sportphilosophie, S. 277. Ebd., S. 283. Vgl. dazu auch Gunter Gebauer: Olympia als Utopie. In: Ders. (HgJ: Olympische Spiele die andere Utopie der Moderne. Olympia zwischen Kult und Droge. Frankfurt am Main 1993, S. 9-26.
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[...] sie (geben) ein uniformes, künstlich gestyltes Modell der Form vor [...], die der trainierende Körper unter Abstraktion der Vielfalt an Körpertypen, des erlebten Leistungsausmaßes und der inneren Anpassung an den Körper einnehmen sollte. Neben dem moralischen und sozialen Problem, Schmerzen zu verursachen und Menschen zu stigmatisieren, deren Körper anders aussehen, gibt es auch ein potentielles ästhetisches Problem: eine langweilige Gleichförmigkeit standardisierten Aussehens, das durch Chirurgie dann hergestellt wird, wenn es durch Kosmetik und Bodybuilding nicht erreicht werden kann.103 Was die Körper der Sportlerinnen und Sportler so anziehend macht, dass sie als Idealbilder fungieren, ist ihre Sinnlichkeit, die in den Femsehiibertragungen durch Nahaufnahmen noch verstärkt wird. Lothar Mikos sieht daher den Femsehsport als sublime Form der Erotik an: Körperliche Sinnlichkeit als Triebquelle der Erotik, die zwar körperliches Begehren weckt, sich aber nicht allein sexuell erfüllt, sondern bereits im Akt des Schauens eine Befriedigung erfährt, ist Bestandteil jeder Sportart.'04 Die Athletinnen und Athleten werden für ihre Leiber bewundert. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist der der ständigen Beobachtung. Die Zoomtechnik der Kameras ermöglicht den Blick auf jedes Detail, so dass nicht nur die Leistung überwachbar ist, sondern auch der Körper, der die Leistung hervorbringt. Für die Sportlerinnen und Sportler heißt das, dass sie mit ihrem Aussehen Rechenschaft Uber ihr Tun ablegen, da von sichtbar mangelnder Fitness auf unprofessionelles Trainingsverhalten geschlossen wird.105 Somit ist es die via Femsehen zugeschaltete Öffentlichkeit,
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Shusterman, Sorna und Medien, S. 123. Lothar Mikos: Körper-Bewegungen. Die Erotik inszenierter Körper beim Sport im Fernsehen. In: Margrit Lenssen und Elke Stolzenburg (Hg.): Schaulust. Erotik und Pornographie in den Medien. Opladen 1997, S. 38; vgl. dazu auch Manfred Schneider: Die Erotik des Fernsehsports. Beobachtungen zur Liturgie all0glicher, heroischer Ereignisse. In: „Merkur", 1993, H. 10, S. 864-874. Einen besonders plumpen Versuch, die erotische Wirkung des Sports nutzbar zu machen, unternahm vor einigen Jahren der Volleyballweltverband. Angesichts schwindenden Zuschauerinteresses für die Sportart wurde den Frauen vorgeschrieben hautenge Trikots und knappe Höschen zu tragen. Das sollte gerade die männliche Bevölkerung dazu veranlassen bei Damen-Volleybaüspielen zuzuschauen. Der Plan ist zwar gescheitert, dafür etabliert sich mit Beachvolleyball ein Ableger, bei dem die Kleidung an Strandatmosphäre erinnern soll. Dass wird auch von den Journalisten so verstanden und weitergetragen. Die Sport-Bild brachte z.B. nach den Olympischen Spielen einen Bericht über Beachvolleyballerinnen, die mit ihrem Sport ihren eigenen Körper in Szene setzten, und untertitelte die Fotos mit „die große Nabel- und Popo-Show" (in: „Sport-Bild", Nr. 39/2000, S. 5). Genau das wurde Franziska von Almsick bei den Olympischen Spielen in Sydney vorgeworfen. Nachdem sie weder die erhofften Platzierungen noch die erhofften Zeiten erschwamm, brachte die Berliner Zeitung Fotos, die verdeutlichen sollten, dass von Almsick übergewichtig an den Start gegangen sei und dementsprechend nicht ihre Leistung habe bringen können. Untertitelt waren die Bilder mit „Franziska von Speck" und „Als Molch holt man keine Medaillen" (vgl. Kim Bönte: Enttäuschte Liebe. In: .Jungle World", Nr. 40/2000, o.S.). Eigentümlich ist die implizite Empörung und Enttäuschung, die aus von Almsicks persönlichem Scheitern eine öffentliche Tragödie macht. Die Schwimmerin ist vor allem bei Olympia - nicht nur für sich selbst verantwortlich, sondern auch gegenüber ihrer Nation. Letztendlich lautet der Vorwurf, dass von Almsicks mangelnde Selbstdisziplin beim Essen uns allen den Spass an Olympia teilweise verdorben hat. Von Almsick muss also nicht nur in Kauf nehmen, dass ihr Körper observiert und an ihm herumgemäkelt wird,
die die Körperdisziplinierung im Sport auf die Spitze treibt, während umgekehrt die Attraktivität der Spitzensportler die freiwillige Unterwerfung des Körpers unter die Trainingsdisziplin scheinbar rechtfertigt. Philosophen wie Dietmar Kamper machen darauf aufmerksam, dass bei manchen der Stars trotz der langwierigen Körperertüchtigung eine Entfremdung zu den Bedürfnissen des eigenen Körpers zu beobachten ist, vor allem insofern, da das Überwinden von Schmerzen zum Trainingsalltag gehört, Verletzungen nicht richtig auskuriert werden oder Dopingpraktiken angewandt werden, die gesundheitsschädliche Folgen haben.106 Zudem wird die Leistungsfähigkeit der Sportler in Zahlen - in die Anzahl der erzielten Tore, in Stundenkilometer oder Zentimeter - übertragen, die mit dem körperlichen Empfinden in keinen Zusammenhang stehen müssen und ähnlich wie im Arbeitsprozess dazu führen, dass die Körper nach abstrakten Kriterien bemessen und beurteilt werden. Der Sport belegt damit gleichermaßen die These von der Wiederkehr des Körpers, wie auch die Antithese, dass der Mensch in den modernen Kommunikationsverhältnissen den Bezug zu seinem eigenen Leib bereits verloren hat und ihn durch exzessive Körperbetätigung nicht wieder zurückgewinnt. Letzteres gilt scheinbar für den Sport umso mehr, da er sich immer mehr zu einem Ereignis entwickelt, das vornehmlich in den Medien stattfindet und von den Bedingungen des Femsehens diktiert wird. Für die Sportlerinnen und Sportler bedeutet das, dass Femsehpräsenz und professionelle Medienarbeit mit zu ihren Aufgabengebieten gehören. Sie werden nicht nur nach ihren Leistungen beurteilt, sondern danach, wie die Leistungen auf dem Bildschirm wirken. Entscheidend sind nicht allein ihre Handlungen, sondern ihre Erscheinungen. Wahrgenommen werden nicht ihre Körper, sondern Bilder von Körpern. Insofern müssen die Spitzensportler mit einem Leib zwei Körperkonstruktionen erfüllen: ihre eigene und diejenige, die das Fernsehen inszeniert. Allerdings sind die Fernsehinszenierungen abhängig vom Sportgeschehen, wie es außerhalb des Fernsehens stattfindet, denn die Kameras können die rennenden Athleten nur einfangen und in Szene setzen, wenn tatsächlich Athleten da sind, die rennen. Auch der Femsehsport beruht auf dem Vorhandensein und dem Einsatz menschlicher Körper, lediglich der körperliche Aufwand, der betrieben werden muss, um ein Sportereignis in voller Länge und Synchronizität beobachten zu können, ist - ebenso wie der damit verbundene Gewinn an körperlichen Erfahrungen - für den TV-Konsumenten geringer als fur den Stadionbesucher.
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sie hat auch die individuelle Freiheit, mit ihrem Körper tun und lassen zu können, was ihr gefällt, verloren. Vgl. Dietmar Kamper: Keine Chance für die Geistesgegenwart. Wie der Körper ah Bild im Sport sein Dasein fristet. In: Gebauer, Utopie der Moderne, S. 256-263. Kamper sieht die „Grenze von Scheu, Scham und Schande in Rücksicht auf den menschlichen Körper" überschritten. Dies verdeutlicht er anhand eines Berichts zum Schwangerschaftsdoping, einer Praxis, nach der „Frauen sich mit der Absicht der Leistungssteigerung schwängern lassen und dann zum für die gesteigerte Leistung günstigsten Zeitpunkt abtreiben" (ebd., S. 261).
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2.1.4.3. Emotionen. Anteilnahme an Sport und Femsehsport Es ist die Doppelexistenz des Sports als Live-Erlebnis vor Ort und als Live-Erlebnis im Fernsehen, die ihn sowohl für die Theater- als auch für die Medienwissenschaft interessant macht. Bereits im Abschnitt 2.1.2 über die Körperdiskurse der Theaterwissenschaft habe ich darauf hingewiesen, dass der Sport als performatives Ereignis beinahe eine Idealform von Gumbrechts Präsenz-Begriff darstellt, da er dem Stadionbesucher unmittelbare Erlebnisse verspricht. Die Authentizität des Dabei-Seins ist sogar deutlich höher als bei Theateraufführungen, da der Ausgang des Spiels ungewiss ist - worin ein besonderer Reiz des Sports liegt - und Sieg bzw. Niederlage der Sportstars als reale Ereignisse verstanden werden.107 Der Wettkampf ist kein Abbild, sondern unmittelbar Verwirklichung einer gleichsam „mythischen" Ursituation [...] Das Drama erzählt einen Mythos, der Wettkampf „realisiert" (besser: instantiiert) ihn im typischen Einzelfall.' 08
Während der institutionelle Rahmen einer Theateraufführung dafür sorgt, dass das Publikum die Ereignisse auf der Bühne als fiktive begreift,109 ist die Identifikation mit den Sportstars dagegen teilweise so hoch, dass deren Erfolge und Misserfolge von den Fans so gedeutet werden, als seien es die eigenen. Aus diesem Grund ist es in der oft rau anmutenden Fanlandschaft akzeptiert Gefühle zu zeigen und sogar in Tränen auszubrechen, wenn der Lieblingsverein verloren hat. Dagegen wäre dasselbe Verhalten eines Theaterbesuchers, der Hamlet auf der Bühne sterben sieht, ungewöhnlich. Aufgrund dieser vom Publikum erbrachten und auch eingeforderten Bereitschaft emotional mitzugehen und der daraus resultierenden Gemeinschaft zwischen Akteuren und Publikum haben verschiedene Theaterregisseuren wie Peter Zadek den Sport als vorbildlich für das Theater bezeichnet. Der Wettbewerbscharakter des Sports fordert Parteinahme, welche die Bindungen zwischen Publikum und Sportlern stärkt, und ermöglicht eine aktive Rezeption, die so weit geht, dass die Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer Einfluss auf den Ausgang des Sportgeschehens haben. Für den Zuschauer im Stadion ist es, gerade weil es ihm nicht erlaubt ist, sich aufs Spielfeld zu begeben (dies ist der partielle Bildschirmeffekt des Stadions), wichtig zu wissen, daß die Spieler den Lärm, den die Menge erzeugt, wahrnehmen und sich oft auf ihn verlassen. In der Tat ermuntern Football-Spieler die Menge häufig dazu, vor Beginn eines wich107
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Hier ist Gumbrecht zu widersprechen, der für den Zuschauer keine Möglichkeit sieht, „den Sieg außerhalb des Stadions in etwas Gewinnbringendes zu verwandeln" (Gumbrecht, Mannschaftssport, S. 223). Abgesehen von durchaus üblichen Sportwetten reicht die Identifikation von Fußballfans mit ihren Vereinen oft so weit, dass mit den Erfolgen der eigenen Mannschaft auch soziales Prestige und eine Steigerung der Ich-Wertigkeit erreicht werden kann. Darin liegt auch ein besonderer Reiz von Lokalderbys, da sich die Anhänger beider Mannschaften oft außerhalb des Stadions - etwa bei der Arbeit - Wiedersehen und den Triumph als persönlichen Triumph auskosten. Hans Lenk: Die achte Kunst. Leistungssport - Breitensport. Zürich 1985, S. 21f. Performancegruppen wie La Fura dels Baus müssen daher einen hohen Aufwand betreiben, um die Wand in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuschauer, die zwischen fiktivem Bühnengeschehen und realer Außenwelt unterscheiden, zumindest für Augenblicke einzureißen.
tigen Spielzugs „Lärm zu machen". Aus relativ komplizierten technischen Gründen hat dies - im besonderen Fall des American Football - manchmal einen beachtlichen Einfluß auf die Spielentwicklung." 0
Dagegen ist es für den Zuschauer am TV-Gerät nicht möglich, aktiv Einfluss auszuüben. Seine emotionale Anteilnahme und Parteiergreifung wird jedoch von einer Übertragungsweise erleichtert, die das Sportgeschehen nach fiktionalen Mustern strukturiert, indem sie den Sportlerinnen und Sportlern Rollen zuschreibt und Boxkämpfe zu einer „Frage der Ehre"111 hochstilisiert. Die Berichterstattung der Sportereignisse selbst ist mit Hilfe von Medientechniken emotionalisiert worden, die bisher Mafiafilmen, Detektivserien und Musicals vorbehalten waren. Ein Wettkampf ist nicht mehr nur ein Wettkampf, sondern eine Geschichte, mit Vorspann, eigener Hymne, Studiogästen, Persönlichkeitsporträts, Rückblenden." 2
Neben diesen fernsehdramaturgischen Mitteln sind es vor allem die Sportstars selbst, die die Fernsehbilder mit Emotionen beseelen. So fangen die Kameras den Jubel und das Leiden der Sportler, die Tränen und die Anspannung, den Kuss des Eherings und das Gebet zu Gott ein und präsentieren dem Millionenpublikum an den Femsehbildschirmen ein „Spektakel der Gefühle",113 das durch die euphorisierten Zuschauermassen im Stadion zusätzlich verstärkt wird. Die Fernsehanstalten versuchen ihr Sportpublikum über die Sinne zu erreichen. Sie rücken die Schönheit, die Stärke und die Schmerzen menschlicher Körper in beinahe „greifbare" Nähe. Sie versuchen, soweit wie möglich, mit Aufnahmen der umgebenden Architektur und Natur den Eindruck der Gewaltigkeit zu erzielen. Sie dramatisieren das Geschehen durch Vorberichte und spannungsgeladene Kommentare, sie untermalen die visuellen Eindrücke mit Musikeinspielungen oder Showeinlagen und sie vermitteln über die Gesänge, die Pfiffe, die Buh- und Anfeuerungsrufe der Fans das Gefühl einer großartigen Stimmung. Indem das Fernsehen im Sport Bilder menschlicher Leidenschaft präsentiert, überdeckt es den Technikapparat, der zu ihrer Erzeugung notwendig ist. Die Maschinerie des Fernsehens, aber auch die Maschinerie des Sport- und Trainingsbetriebs erhalten menschliche Züge oder treten ganz in den Hintergrund. Wurde bisher die Maschine als seelenlos dargestellt, stattet der Sportheld die Technik mit Gefühlen und Affekten aus. Was er den Menschen zugunsten der Maschine nimmt, ist das „Generell-Menschliche", „das Spiel mit dem Rausch" (Nietzsche). [...] Dieses ist nach griechischer Mythologie [...] göttlichen Ursprungs; es ist das Dionysische.1"1
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Gumbrecht, Mannschaftssport, S. 226. Die Bedeutung der Zuschauerkulisse wird bereits bei einem Blick auf eine Fußballtabelle deutlich, da beinahe alle Mannschaften zu Hause, wo sie angefeuert werden, mehr Punkte holen als auswärts, wo ihre Gegner unterstützt werden. Auch in der Leichtathletik ist es gerade bei Sprungwettbewerben üblich geworden, dass der Athlet die Zuschauerunterstützung durch rhythmisches Klatschen einfordert. So nannte RTL einen WM-Boxkampf zwischen Graciano Rocchigiani und Henry Maske: Eine Frage der Ehre. Boxen Extra. Henry Maske vs. Graciano Rocchigiani. RTL, 27.05.95, 180 min. Gebauer, Körpershow, S. 282. Gebauer, Mythen-Maschine, S. 313. Ebd., S. 316f.
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Gunter Gebauer exemplifiziert damit Bolz' allgemein gehaltene These von der dionysischen Beschaffenheit der technischen Medien. Wie in Nietzsches dionysischem Theater überträgt sich der Rauschzustand vom Künstler, bzw. Sportler auf das TVPublikum, bis es mitfiebert und mitjubelt." 3 Bedingt durch die Emotionalisierung des Fernsehsports wird seine Rezeption zu einem somatischen Akt. 2.1.4.4. Sport und seine Bedeutung für Theater- und Medientheorie Im Sport laufen die verschiedenen hier vorgestellten Fragestellungen und Reflexionen zum menschlichen Körper zusammen. Der Sport bietet einerseits Möglichkeiten zur authentischen Körpererfahrung, schafft andererseits aber auch ein Körperideal, das durch seine verklärende Darstellung in den Medien als Fetisch verehrt wird und somit eine Distanz schafft, die den individuellen Zugang zum eigenen Körper erschwert. Gleichermaßen ein performatives Ereignis wie ein Medienprodukt steht der Sport zwischen der Wiederkehr des Körpers in der Kultur des Präsenz und dem Verschwinden des Körpers im Telekommunikationsprozess. Die auf Leidenschaft und Emotionen ausgerichteten SportUbertragungen machen Fernsehen zu einem körperlichen Erlebnis und ermöglichen rauschhafte Erfahrungen. Aus diesem Grund ist der Sport ein für Theaterwissenschaft und Medientheorie gleichermaßen bedeutsamer Gegenstand, vor allem dann, wenn man der Linie folgt, die Bolz von Friedrich Nietzsche zu den elektronischen Medien der Gegenwart führte, also den Mediensport in einen Zusammenhang stellt mit dem künstlerischen Prinzip des Dionysischen.
2.2.
Berührungspunkte: Sport in der Theaterwissenschaft und die sportwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Kunstbegriff
Kapitel 2.1 zeigte, wie der Diskurs über den menschlichen Körper die verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen beherrscht. Das Interesse an dem Körper sowohl an seiner äußeren Form als auch an seiner sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit - bildet den Schnittpunkt für interdisziplinäre Forschungen. Gerade Sport- und Theaterwissenschaft verbindet die notwendige Fokussierung auf den menschlichen Körper als tragendem Element sowohl des sportlichen Wettkampfs wie der Theateraufführung. Das folgende Kapitel erläutert, welche Ansätze es von beiden Seiten gibt, die Grenzen der Disziplinen zu überschreiten und die Verwandtschaft von Theater und Sport als zwei performativen Tätigkeiten aufzuzeigen.
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Zum dionysischen Theatererlebnis gehört jedoch zwingend die die Zuschauer umgebende Masse. Körperliche Reaktionen auf die Masse, negative wie Klaustrophobie oder positive wie die Umarmung durch den Nachbarn, kann das Femsehen nicht ersetzen. Andererseits werden zunehmend gerade Sportübertragungen im Femsehen wieder gemeinschaftlich verfolgt, oft vor Riesenleinwänden. Dort erleben die Zuschauer aufgrund der Nähe zu den Umstehenden erneut das Gefühl, zu einer Masse zu gehören.
2.2.1. Erweiterungen. Theatralitätsforschung und ihre Felder 1990 schrieb Joachim Fiebach zu Aufgabe und Wesen der Theaterwissenschaft: Heute meine ich, daß Theaterhistoriographie Uberhaupt nur eine sinnvolle Aufgabe hätte, daher für die an Kunst interessierten Öffentlichkeiten nützlich wäre, als eine der vielen möglichen Kulturgeschichten, als Kulturgeschichte unter einem besonderen Aspekt.116 Weiter heißt es: Wenn ich andeute, kulturgeschichtliche Aspekte seien zunehmend wichtig geworden, so betrifft das nicht nur Theatergeschichtsschreibung. Es dürfte vielmehr darum gehen, daB sich die Felder, die Theaterwissenschaft zu betrachten hätte, erweitert haben oder sich erweitern (müssen)." 7 Was Fiebach noch prozesshaft als Forderung formuliert, ist mittlerweile unter dem Begriff der Theatralitätsforschung zu einem status quo der Theaterwissenschaft geworden. Mit Ausweitung des Theaterbegriffs hat die Theaterwissenschaft den eng abgesteckten Bereich der Bühne verlassen und beschäftigt sich mit vielfältigen Formen darstellenden Handelns wie Happenings, Zirkusdarbietungen oder rituellen und religiösen Zeremonien. Kommunikationswissenschaftlich orientiert überschreitet sie die Grenzen zu den audiovisuellen Medien und forscht nach theatralen Techniken im alltäglichen," 8 sozialen 119 oder politischen Bereich. 120 Vier Felder der Theatralitätsforschung hat Gottfried Fischbom ausgemacht. 121 Im einzelnen sind das neben der Semiotik: eine historisch-anthropologische Richtung,
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Joachim Fiebach: Zur Geschichtlichkeit der Dinge und der Perspektiven. Bewegungen des historisch materialistischen Blicks. In: Möhrmann, Theaterwissenschaft, S. 373. Ebd., S. 376. Theatralität im Alltag erläutert auch Brechts Straßenszene. Der wesentliche Grundzug des Theaters, das Vorspielen und Übernehmen von Rollen, kommt demnach auch im Bericht eines Augenzeugen zum Vorschein, der einer umstehenden Menge demonstriert, wie sich ein Unfall abgespielt hat. Vgl. dazu Fiebach, Zur Geschichtlichkeit, S. 378. Nach Gottfried Fischborn (Theatralität - Dramaturgie - Dramatisierung, S. 128) hat der von Bourdieu (Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main 1983) bestimmte Bereich der symbolischen Kommunikation dramaturgische Qualität. Die soziale Welt ist demnach ein Schauspiel, das durch das vom Habitus geprägte Rollenverhalten aller Beteiligten bestimmt wird. Dramatisierungstendenzen finden sich in allen politischen Bereichen, angefangen bei Parlamentsdebatten - in denen sich die Redner auch nicht „authentisch" geben können, sondern innerhalb einer festgelegten Rede-, Tages- und Sitzordnung nach bestimmtem taktischen Kalkül und gemäß ihrer Parteizugehörigkeit agieren - bis hin zur Wahlwerbung. Besondere Aufmerksamkeit wird den Ästhetisierungstendenzen diktatorischer Systeme gewidmet, die wie der Nationalsozialismus in Deutschland u.a. mit Masseninszenierungen, Aufmärschen, Fahnenweihen und bombastischer Architektur einen Führerkult theatralisch begründen. Vielfach wird das faschistische Dritte Reich daher auch als Gesamtkunstwerk bezeichnet. Vgl dazu das Kapitel 5.2 sowie die konträren Aufsätze von: Hans Günther: Erzwungene Harmonie. Ästhetische Aspekte des totalitären Staats. In: Ders. (Hg.): Gesamtkunstwerk. Zwischen Synästhesie und Mythos. Bielefeld 1994, S. 259-272 sowie Norbert Hopster: Das „Dritte Reich". Gesamtkunstwerk oder ästhetisch inszenierte Ganzheit? In: Günther, Gesamtkunstwerk, S. 241-258. Vgl. Fischbom, Theatralität, S. 126.
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wie sie von Rudolf Münz vertreten wird,122 eine kommunikations- und medienorientierte im Sinne Fiebachs 123 und die vor allem von Helmar Schramm entwickelte Methodologie, die Theater-Begrifflichkeiten als Diskurselemente zu analysieren versucht. 124 Schramm macht darauf aufmerksam, dass die Eingrenzung des Theaterbegriffs auf das Kunsttheater ein historisch gewachsenes Resultat ist: Das Wort .Theatrum', also Schauplatz, wurde noch anfangs des 17. Jahrhunderts für jeden erhabenen Ort, auf dem sich etwas des Zeigens Würdiges ereignete, gebraucht.123 Unter dem Stichwort der Retheatralisierung des Theaters knüpften die Bühnenreformer Anfang des 20. Jahrhunderts an diesen originären Theaterbegriff an. Mit dem Rückgriff auf Techniken des mittelalterlichen oder antiken Theaters wurde versucht tradierte Grenzen neuzeitlicher Schauspielkunst aufzuweichen und zu überwinden. Als Beispiel sei nur der allen Konzepten gemeinsame Versuch genannt, die von der Guckkastenbühne institutionalisierte Rampe zwischen Spielenden und Zuschauenden zu durchbrechen. 126 Die Destruktion von Grenzen jeglicher Art - so auch die von Grenzen zwischen den verschiedenen Kunstformen - wurde zum Gestus der Avantgarde und hat sich in der Performancekultur der 70er Jahre weiter fortgesetzt. Es ist Helmar Schramm daher zuzustimmen, wenn er fordert: Als Kunstwissenschaft muß sie [die Theaterwissenschaft, d. Vf.] [...] die Geste der radikalen Infragestellung tradierter Grenzen von Theaterkunst aufgreifen. Würde sie ihren institutionalisierten Bestimmungsort in Bezug auf das institutionalisierte Theater festigen, käme das einem Verrat an ihrem Gegenstand gleich.127
2.2.2. Ritus, Spiel und Performanz. Der Sport als Theatermodell Wenn im Zuge der Theatralitätsforschung von einer Öffnung der Theaterwissenschaft zu ihren Nachbarwissenschaften gesprochen wird, ist selten der Sport gemeint. Dabei hat der Sport in seiner Wettkampfform zumindest den Auffiihrungscharakter mit dem Theater gemeinsam. Der Besuch eines Fußballspiels im Stadion ähnelt dem Besuch einer Hamlet-Inszenierung im Stadttheater insofern, da in beiden Fällen der Zuschauer räumlich und zeitlich gebunden ist, um dem Ereignis beiwoh-
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Vgl. Rudolf Münz: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von TheatralitätsgefUgen. Mit einem einführenden Beitrag von Gerda Baumbach. Hg. von Gisbert Amm, Berlin 1998. Vgl. Fiebach, Zur Geschichtlichkeit. Vgl. Helmar Schramm: Die Vermessung der Hölle: Über den Zusammenhang von Theatralität und Denkstil. In: „Forum Modernes Theater", 1995, H. 2, S. 119-125. Peter Rusterholz: Theatrum vitae humane. Berlin 1970, S. 15. Zitiert nach Schramm, Vermessung der Hölle, S. 121. Folgt man den Ausführungen von Jacques Derrida zu Artauds Theater der Grausamkeit, steht die BUhnenrampe paradigmatisch für die Grenzziehung zwischen Text und Interpretation oder zwischen Kunst und Leben (vgl. dazu Schramm, Vermessung, S. 122). Eine Aufweichung der Grenzen bedeutet daher eine Abkehr vom „Ordnungsprinzip der mimetischen Repräsentation" (ebd., S. 122) oder um es mit Gumbrecht positiv zu formulieren eine Hinwendung zur Präsenz. Ebd., S. 122.
nen zu können. Es handelt sich beim Sport, wenn man ihn nicht als Fernsehsport betrachtet, um eine dreidimensionale Vorführung spielender Menschen in einem klar umgrenzten Raum - einer Art Bühne. Die Vorführung besteht aus einer Reihe von Handlungen, die zeitlich nacheinander abfolgen: Für den Zuschauer bedeutet das, dass er im Augenblick der sportlichen „Vorführung" präsent sein muss: Wer das „Golden Goal" des EM-Endspiels 2000 verpasst hat, kann es nur noch im Fernsehen oder auf Video verfolgen. Das Ereignis selbst kann sich nicht wiederholen. Nick Hornby bezeichnet das als die „Jetzt-oder-nie-Wirkung eines Fußballspiels".128 So wie Lessing das Theater eine transitorische Kunst genannt hat, sind auch die sportlichen Darbietungen transitorische Ereignisse, „flüchtige Kunstwerke des Augenblicks".129 Die Analogie erscheint stichhaltig. Anders als das Theater ist der Sport jedoch ergebnisorientiert und die Platzierungen und Leistungen der Sportlerinnen und Sportler werden seit der Antike in unterschiedlichen Formen aufgezeichnet. Oft scheint sich die sportliche Darbietung erst in den Ergebnissen zu manifestieren, so dass - anders als im transitorischen Theater - immer „etwas bleibt" von der „Aufführung". Allerdings handelt es sich bei Sieger- und Bestenlisten bereits um mediale Darstellungen des Sports - beispielsweise im Medium Tabelle. Das sportliche Ereignis selbst ist ähnlich „flüchtig" wie die Theateraufführung, nur ist das Bestreben im Sport, die Ergebnisse in anderen Medien dauerhaft zu verewigen, deutlich höher.130 In seiner Präsentationsform jedenfalls ist der Sport dem Theater näher als die Literatur oder die Bildende Kunst.131 Wie alle anderen „öffentlichen Aufführungsaktivitäten"132 unterliegt der Sport einer gewissen Dramatisierung. Teilweise ist dies von den Regeln vorbestimmt -
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Nick Hornby: Ballfieber. Die Geschichte eines Fans. Hamburg 1997, S. 271. Christoph Bausenwein: Geheimnis Fußball. Auf den Spuren eines Phänomens. Göttingen 1995, S. 64. Mit Ergebnis ist hier etwas anderes gemeint als Resultat. Das Resultat der sportlichen Trainingsleistungen ist die Darbietung im sportlichen Wettkampf, wie das Resultat der Theaterpioben die Auffuhrung ist oder allgemeiner, das Resultat von Kunst das CEuvre des Künstlers. Als Ergebnis ist hier die mathematische Zusammenfassung des Resultats zu verstehen, also die Anzahl der erzielten Tore, die Platzierung in der Tabelle, die höchste erreichte Weite, etc. Diese Nähe zeigt sich auch in umgangssprachlichen Wendungen, wenn der Spielmacher im Fußball als „Regisseur" oder der Ablauf eines Spiels aufgrund seiner besonderen „Dramaturgie" gerühmt wird. Andererseits wird an der Verachtung für „Schauspieler", also Spieler, die versuchen, ein Foul des Gegenspielers vorzutäuschen, der grundlegende Unterschied zwischen Fußball und Theater deutlich: Fußball wird zwar durch den institutionalisierten Rahmen zu einem Spiel außerhalb des Alltagsgeschehens, aber dennoch wird den Spielern nicht gestattet innerhalb des Spiels nur „so zu tun, als ob". Das Regelwerk und der Ehrenkodex verlangen von ihnen größtmögliche Authentizität. Fischbora, Theatralität, S. 131. Fischborn übernimmt die Begrifflichkeit von Richard Schechner. Fischborn führt die Olympischen Spiele als Beispiel dafür an, dass dramaturgische Qualitäten auch in anderen Feldern als dem Theater benötigt werden. Anders als Fischbom anno 1995 vermutet, werden jedoch nicht erst die „Organisatoren der (spätestens) übernächsten Olympiade" (ebd., S. 127) professionellen Beistand von Theaterdramaturgen beanspruchen, sondern dies ist längst üblich. Es wird eine Aufgabe der Arbeit sein, zu zeigen, dass sich bereits Baron Pierre de Coubertin in seinen bis heute gültigen Vorga-
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etwa in der Form, dass sich längere Wettkämpfe immer auf das so genannte Finale hin zuspitzen - , teilweise abhängig vom Verhalten der Sportlerinnen und Sportler, teilweise projizieren Zuschauerinnen und Zuschauer ein „Mehr an Bedeutung" in die sportlichen Abläufe hinein, die sie im Sinne des Spiels gar nicht haben. Die Dramatisierung des Wettekampfs wird noch deutlicher, betrachtet man sich das Drumherum: So gehören zum Fußballspiel nicht nur die 90 Minuten auf dem Rasen, sondern auch Training, Pressekonferenzen, Aufwärmphasen, Einstimmung auf das Spiel durch den Stadionsprecher, musikalische Untermalung, Halbzeitpause, Verabschiedung vom Publikum und die Aufbereitung in den Medien. 133 Eine weitere Verbindung zwischen Theater und Sport lässt sich Uber anthropologische Betrachtungen ziehen. Theateranthropologen wie Victor Turner und Richard Schechner haben Ähnlichkeiten zwischen Ritualen und Performances ausgemacht und damit das Theater als eine besondere Ausprägung des menschlichen Bedürfnisses zu spielen charakterisiert. In eben dieses Feld gehört auch der Sport, der genau wie religiöse Zeremonien oder Theateraufführungen eine kulturell konstruierte Form des Spiels darstellt. Schechner sieht durch die gegenwärtig gewachsene Bedeutung von Ritualen, Performancekunst und Sport eine generelle Tendenz in westlichen Gesellschaften bestätigt den Spieltrieb des Menschen wieder stärker zu akzeptieren. Wo Gumbrecht die industrialisierte westliche Gesellschaft von Präsenz bestimmt sieht, erkennt Schechner eine Genese des homo sapiens zum „homo ludens". 134 Gemeinsam ist beiden Konzepten eine generelle Skepsis gegenüber jenen kulturellen Formen, die der Interpretation bedürfen. Der nonverbale Sportdient daher in manchen theoretischen Reflexionen über das Theater als Modell. Seine performative Struktur, sein ritueller Charakter, seine physische Präsentationsweise und seine unmittelbare Wirkung machen ihn auf jeden Fall zu einem interessanten Gegenstand der Theaterwissenschaft, zumal die Inszenierungen von Großveranstaltungen als Massenevents einerseits und Medienprodukte andererseits zum klassischen Bereich der Theatralitätsforschung gehören. 2.2.3
Sport und Theater. Der Sport als Kunst
Das vergangene Kapitel zeigte, dass sich die Theaterwissenschaft zum Sport hin öffnen kann, wenn der Theaterbegriff erweitert wird und auch Formen von Performance, Spiel oder Ritual umfasst. Nun werden Ansätze vorgestellt, die die Grenzen von der anderen Seite, also vom Sport aus, überschreiten, indem sie den Sport als Kunstform beschreiben und ihn so in das Feld ästhetischer Prozesse integrieren.
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ben zur künstlerischen Gestaltung der Olympischen Spiele an den Ideen eines bekannten Theatermanns orientierte: nämlich an denen Richard Wagners. Richard Schechner plädiert dafür, diese Bereiche des Sports auch auf die Analyse von Performances und Theaterinszenierungen zu übertragen, um sich dem Gesamtprozess einer Aufführung anzunähern (vgl. Richard Schechner: Formen der Annäherung zwischen anthropologischem und theatralischem Denken. In: Ders: Theateranthropologie - Spiel und Ritual im Kulturvergleich, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 7-47). Ebd., S. 45.
2.2.3.1. Schönheit und Ästhetik im Sport. Kunsttheorien in der Sportwissenschaft In seinem bereits mehrfach zitierten Aufsatz Die Schönheit des Mannschaftssports nennt Hans-Ulrich Gumbrecht die .Anziehungskraft des Sports" ein „ästhetisches Phänomen": [...] erstens weil sie normalerweise nicht von einer offensichtlichen und bewußten Absicht geleitet wird. In der Tat ist die Anziehung „interesselos", ganz in dem Sinn, den Kant diesem Begriff in der Kritik der Urteilskraft gibt. Zweitens und gleichfalls im Geist von Kants kanonischer Beschreibung der ästhetischen Erfahrung: Es ist typisch, daß das Zuschauen bei Sportveranstaltungen nicht zu irgendwelchen Einsichten führt.135
Als weiteres Argument für die Einordnung des Sports als Kunst wird seine Isolation von unserer Alltagswelt angeführt, die sich räumlich in der Begrenzung auf ein Spielfeld, zeitlich in der vorher festgelegten Dauer (ein Fußballspiel dauert 90 Minuten, ein 100-Meter-Lauf ist zu Ende, sobald die 100-Meter-Marke erreicht wird) ausdrückt. Gumbrecht wählt ausdrücklich American Football als Beispiel, da sich Ballsportarten ihres ästhetischen Wertes weniger bewusst sind als die so genannten „Kunstsportarten" wie Geräteturnen oder Eiskunstlaufen. Obwohl Sieg und Niederlage die letztlich entscheidenden Kriterien für die Bewertung sportlicher Leistungen sind, gibt es, so Gumbrecht, „wahrscheinlich keine Sportart, in der Eleganz und Grazie keinen Einfluss auf die Anerkennung der Zuschauer haben."136 Schön können im Mannschaftssport nicht nur die Bewegungen der Sportlerinnen und Sportler sein, sondern vor allem die Spielzüge. Versteht man American Football als Kunstart, so sind die Spielzüge die spezielle Form, in der die Idee der Kunst Gestalt annimmt. Diese Form nehmen die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer als reine „Oberflächenphänomene",137 als sich bewegende Muster wahr. Anders als die Trainerinnen und Trainer, die die Bewegungsabläufe einstudiert haben, analysieren die Zuschauerinnen und Zuschauer die Spielzüge nicht, sondern genießen die für sie „unberechenbare Einzigartigkeit."138 Anknüpfend an Heideggers Definition von ästhetischer Erfahrung stellt Gumbrecht daher fest, dass der ästhetische Reiz im Sport darin liege dem Prozess der Formgebung selbst beizuwohnen.13® Dies erfordert im Vergleich zur Rezeption anderer Kunstarten höchste Konzentration, da sich die endgültige Gestalt der Form nie vorherbestimmen lässt. Ob ein Spielzug gelingt oder sogar mit einem Touchdown abgeschlossen werden kann, ist ja nicht nur von der ballführenden Mannschaft, sondern auch von ihren Gegnern abhängig. Dieses Un-
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Gumbrecht, Schönheit des Mannschaftssports, S. 204. Ebd., S. 20S. Dass in der Tat nicht nur das Ergebnis, sondern die Art, wie es erzielt wird, Auswirkung auf die Bewertung haben, zeigen die in den letzten Jahren anhaltenden Diskussionen über die Leistungen deutscher Fußballnationalmannschaften. Zunehmend äußerte sich in der Öffentlichkeit Kritik an den spielerischen Unzulänglichkeiten der deutschen Spieler im Vergleich zu anderen Nationen, selbst dann, wenn als Ergebnis ein Unentschieden oder sogar ein Sieg zu verzeichnen war. 137 Ebd., S. 221. ,3 ' Ebd. Vgl. ebd., S. 222. 136
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gewisse der Form erzeugt ständig neue Spannung, die aufgrund ihrer Intensität „berauschende Wirkung auf die Zuschauer" hat, „sehr im Sinne von Nietzsches berühmter Beschreibung des dionysischen Prinzips in der Geburt der Tragödie",140 Gumbrecht ist als Literatur- und Kulturwissenschaftler am Sport interessiert, um sein Präsenz-Modell zu erläutern. Sein Versuch Sport als ästhetisches Phänomen zu fassen, kann daher auch missverstanden werden als etwas, das von außen, nämlich von der Kunstwissenschaft, an den Sport herangetragen wird, nicht aber dem Wesen des Sports selbst entspricht. Doch auch in der Sportwissenschaft wird von verschiedenen Autoren im Zuge einer philosophischen und soziologischen Standortbestimmung der Sport in die Nähe der Künste gerückt oder als eine besondere Form von Kunst interpretiert. Einige dieser Ansätze sollen hier kurz vorgestellt werden. So bezeichnete Hans Lenk anknüpfend an einen Essay von Pierre Frayssinet 14 ' den Sport als „achte Kunst". Frayssinet hatte auf die Ursprünge des Sports verwiesen und ihn gleichberechtigt neben die klassischen Künste der antiken Griechen, also Dichtung, Bildhauerei, Malerei, Architektur, Musik, Tanz und Schauspielkunst, gestellt. In Abgrenzung zu Arbeit und Spiel wird der Sport zur Kunst, weil er erstens zweckfrei ist und zweitens mit einer großen Ernsthaftigkeit betrieben wird. Der Sportler wird zu einem Schöpfer; das Werk, an dem er arbeitet, ist je nach Sportart der Lauf, der Sprung, die Turnübung oder das Ballspiel; die Welt des Sports ist eine Illusionswelt, die sich vom Alltag unterscheidet, die die Realität im Sinne der klassischen Künste jedoch nachahmt. Mit dieser Auffassung bleibt Frayssinet einem traditionellen Ästhetikverständnis verhaftet und sieht im Sport - ähnlich wie Coubertin - ein Bild des Lebens. Der Sport wird als Reflexion der Außenwelt gesehen und bekommt durch den Verweis auf kultische und religiöse Ursprünge des Sports sogar transzendentalen Charakter. Dieses überholte Verständnis von Kunst, das weit hinter die Errungenschaften von Kunstformen wie der abstrakten Malerei zurückfällt, wird von Lenk in Übereinstimmung mit Gunter Gebauer kritisiert. Lenk plädiert dafür die Ästhetik des Sports als Perspektive zu bestimmen, die dem Sport gegenüber eingenommen werden kann, aber nicht muss.142 Für das Einnehmen dieser ästhetischen Perspektive sprechen mehrere Analogien zwischen Kunst und Sport: Erstens werden Sportereignisse wie künstlerische Aufführungen durch einen speziellen Rahmen und eine eigene ZeitRaum-Struktur als nicht alltägliche Handlungen wahrgenommen. Zweitens finden ästhetische Kategorien wie Spannung, Dramatik oder Dynamik ihre Entsprechung im Wettkampfcharakter des Sports. Und drittens produziert der Sport ähnlich wie alle ästhetischen Systeme eine Fülle von Zeichen, die zusammengenommen eine eigene Sprache bilden. Zum Zeichensystem Sport gehören die Bewegungen der Sportlerinnen und Sportler wie des Spielgerätes, die Laufwege und Spielzüge im Mannschaftssport, das Mimik- und Gestenspiel vor und nach dem Start, die Markierungen des Spielfeldes, die speziellen Zeichen der Schiedsrichter, der Abdruck in
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Ebd., S. 223. Vgl. Piene Frayssinet: Le sport parmis lex beaux arts. O.O. 1968. Die Ausführungen zu Frayssinet folgen Lenk, Achte Kunst, S. 86-95. Vgl. Lenk, Achte Kunst, S. 97-100.
der Weitsprunggrube, die Physiognomie aller Beteiligten, die Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer - einzeln und als Masse - , die oft codierten Zurufe der Aktiven, der für bestimmte Sportarten typische Geruch - etwa Chlorwasser im Schwimmstadion oder Zigarettenqualm am Boxring - oder die spezielle Stadionbzw. Hallenarchitektur. Der Kanon ließe sich beinahe beliebig erweitern. Großveranstaltungen wie Olympische Spiele fügen dem sportlichen Zeichensystem noch ihre eigene Symbolik hinzu, indem sie beispielsweise Medaillen für die Erst-, Zweitund Drittplatzierten verleihen. Insofern ist der Sport ein Ort, an dem es zu jener „Zeichenexplosion" kommen kann, die Norbert Bolz als charakteristische Wahrnehmung ästhetisch erregter Menschen beschrieb.143 Herbert Haags Ausführungen zu „Ästhetik und Sport"144 setzen bei den so genannten Kunstsportarten wie Tanz, Gymnastik oder Turmspringen an, gehen aber insofern darüber hinaus, als Haag auch die allgemeine Fähigkeit Bewegungen zu strukturieren, zu variieren und ihnen einen präzisen Ausdruck zu verleihen unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet. Da er aus der Wahrnehmungsperspektive nur die Schönheit der Körper und ihrer Bewegungen als ästhetische Erscheinungen deutet, finden sich bei ihm keine Ansatzpunkte den Sport umfassend als Kunstform zu analysieren. Interessant ist jedoch, dass Haag den Rhythmus als eigentliche ästhetische Kategorie des Sports ansieht. Dies gilt nicht nur dort, wo die sportlichen Aktionen zu bestimmter Musik verlaufen, wie im Eiskunstlaufen, sondern für alle Sportarten: Der gleichmäßige Takt beim Rudern, der Anlauf eines Weitspringers, Tempowechsel in Ballsportarten, die Muster, die Mannschaften auf dem Spielfeld bilden, - all das sind rhythmische Erscheinungsformen im Sport: „harmonische Wechselbeziehungen von Zeit, Raum und Kraft".' 4S Für die Theaterreformer der Avantgarde z.B. war der Rhythmus ein entscheidendes Gestaltungselement, durch den sich die Aufführung strukturieren ließ. Genau das geschieht im Sport: Der Rhythmus strukturiert den Ablauf der Sportlerinnen und Sportler und die Wahrnehmung der Zuschauerinnen und Zuschauer. Über den Rhythmus findet das Publikum so zu einem Gleichtakt untereinander und mit den Sporttreibenden. Das ist leicht nachzuvollziehen, wenn Leichtathletikstars die Fans dazu auffordern ihren Anlauf mit rhythmischem Klatschen zu unterstützen. Mit der ästhetischen Erfahrung der Athletinnen und Athleten beim Ausüben ihres Sports hat sich Thorsten Schmidt-Millard beschäftigt.146 Anknüpfend an die anthropologische Unterscheidung zwischen Körper und Leib, stellt Schmidt-Millard fest, dass die Dichotomie zwischen „Leib-Sein" und „Körper-Haben" nicht aufhebbar ist und nur punktuell überwunden werden kann, z.B. im Sport, wenn sich der trainierte Körper für den Augenblick des Gelingens einer sportlichen Übung in einen
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Vgl. Bolz, Ende der Gutenberg-Galaxis, S. 27. Vgl. Herbert Haag: Sportphilosophie. Frankfurt am Main, Aarau, Salzburg 1995, S. 112-127. Ebd., S. 117. Vgl. Thorsten Schmidt-Millard: Leiblichkeit und ästhetische Erziehung. In: Jürgen Court (Hg.): Sport im Brennpunkt philosophischer Analysen. St. Augustin 1996, S. 183-194.
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„selbständig operierenden Leib" verwandelt. 147 Diese Aussöhnung zwischen dem wahrgenommenen und dem gefühlten Körper sei ästhetischer Natur, ihr „traditioneller Name lautet Anmut".1** Anmut ist demnach eine Harmonisierung von unterschiedlichen Prinzipien: von Natürlichkeit und Kunstfertigkeit oder in Schillers Worten von Sinnlichkeit und Vernunft bzw. Pflicht und Neigung. Am Beispiel des Mädchentumens zeigt Schmidt-Millard, dass die zweckgebundene Körperinstrumentalisierung im Sport oft beherrschend ist. Es werde, wie Anke Abraham, die ehemalige Deutsche Meisterin in der Rhythmischen Sportgymnastik, feststellt, „nur soviel Körper geduldet, wie zum Erbringen der sportlichen Leistung unabdingbar ist."149 Diesem extrem leistungsorientierten Sportverständnis hält Schmidt-Millard einen Sportbegriff entgegen, der auf den Körpererfahrungen der Athletinnen und Athleten basiert und damit die ganze Persönlichkeit des Sportlers zum Ausdruck bringt. Darin liegt die ästhetische Kraft des Sports, sowohl auf Seite der Aktiven wie auf der der Zuschauerinnen und Zuschauer, die die von „innen heraus bewegten Körper" 150 als anmutig empfinden. Ein solches Ästhetikverständnis ist von dem postmodernen „Generalbefund von Ästhetisierung" 151 strikt zu unterscheiden. Sport wird da zur Kunst, wo er die Zweckgerichtetheit des Muskelspiels mit einem natürlichen Bewegungsgefühl verbindet, Subjekt und Objekt des Sportlers miteinander versöhnt und die Zuschauer in ihrem Urteil über die Schönheit der Bewegungen untereinander vereint. Dies ist ein idealistisches Konzept, das mit dem aktuellen Erscheinungsbild des Hochleistungssports nicht viel zu tun haben mag, sich aber in die Harmonisierungsbestrebungen von Wagner und Coubertin, in ihr BemUhen um Synthese gut eingliedern lässt. Sehr ausfuhrlich hat sich Sven Güldenpfennig auf der Suche nach einer neuen Begriffsbestimmung für den Sport und die Sportsoziologie mit dem Thema Sport als Kunst auseinandergesetzt. 152 Güldenpfennig schlägt eine konstruktivistische Sichtweise vor. 153 Es geht ihm nicht darum, ob der Sport Kunst ist oder nicht ist, sondern ob es unter bestimmten Voraussetzungen Sinn macht den Sport als Kunst zu betrachten. Denn Dinge können, wie das Beispiel der Architektur zeige, sowohl Kunst sein als auch etwas anderes. 154 Für die These vom Sport als Kunst spreche - so 147 148 149 150 131 152 153 1:4
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Ebd., S. 186. Ebd., S. 187. Anke Abraham: Anmut und Angst. In: Michael Klein (Hg.): Sport und Körper. Reinbek bei Hamburg 1984, S. 79. Zitiert nach Schmidt-Millard, Leiblichkeit, S. 191. Abraham, Anmut und Angst, S. 83. Zitiert nach Schmidt-Millard, Leiblichkeit, S. 192. Schmidt-Millard, Leiblichkeit, S. 188. Vgl. die beiden Bände: Giildenpfennig, Sport: Kunst oder Leben bzw. Ders.: Sport: Autonomie und Krise. Soziologie der Texte und Kontexte des Sports. St. Augustin 1996. Vgl. Giildenpfennig, Autonomie und Krise, S. 59. Eingefleischte Fußballfans etwa werden den Sieg oder die Niederlage ihres Vereins über den eventuellen ästhetischen Genuss stellen. Dieses Phänomen beschreibt Nick Hornby: „1969 erlebte ich, wie George Best in Highbury für Manchester United [gegen Arsenal London, Hornbys Lieblings verein, d.Vf.] spielte und zwei Tore erzielte. Das Erlebnis hätte einen tiefen Eindruck hinterlassen sollen, so als ob man Nijinski tanzen gesehen oder Maria Callas singen gehört hätte [...) Ich haßte jenen Nachmittag. Jedes mal, wenn er den Ball erhielt, jagte er mir Angst ein, und ich wünschte [...], daß er verletzt gewesen wäre. [...] Wer würde eine teure Karte fürs Theater kaufen und hoffen, daß der Star des Stücks unpäß-
Güldenpfennig - , dass er als Form des Spiels losgelöst von der Alltagswelt existiere und damit weitgehend fiktiv und autonom sei. Alle Aktionen im Sport haben in erster Linie ihren Zweck in der Aufgabe des Spiels (z.B. ein Tor zu erzielen) und nur sekundär Bedeutung für das Leben außerhalb des Sports (z.B. als Torjäger viel Geld verdienen zu können). Güldenpfennig interpretiert den Sport daher als „offenes Kunstwerk" im Sinne Ecos, als eigene Welt, nicht als Abbildung von anderen Welten.155 Die Zeichen, die der Sport produziert, haben daher auch keine - zumindest unmittelbare - externe Relation, sondern beziehen sich intern aufeinander. Ihre Funktion ist nicht die der Mimesis. Zwar erzählt der Sport in gewisser Form Geschichten, doch sind dies keine Geschichten aus dem „wirklichen Leben", sondern eher Rudimente einer mythischen Ursituation des Menschen im Streit mit sich selbst, mit der Natur oder mit anderen Menschen. Diese Geschichten sind spontan zu beobachten, leicht zu verstehen und beziehen ihre Spannung aus der Frage, ob der Athlet seine Aufgabe bewältigen kann oder nicht.156 Demnach läßt sich der Sport als eine Form von Kunst verstehen, in der Geschichten vom künstlichen Streit um selbstgesetzte und verabredete Herausforderungen im Medium körperakzentuierter Bewegung erzählt werden.157
Der Körper ist also nur das Medium des Sports, nicht der Sinn selbst. Güldenpfennig erklärt daher Sportkonzepte, die lediglich auf die Verbesserung körperlicher Eigenschaften abzielen, für obsolet. Der eigentliche Sinn des Sports liege in dem faustischen Streben nach Vollkommenheit.158 Dem Sinn des Sports nachzuspüren ist Aufgabe der Sportphilosophie und sollte ihr überlassen bleiben. Er ist sicher auch nur kontextuell zu bestimmen. Wichtig scheint mir, dass die Körper für den Sport eine ähnliche Bedeutung haben wie etwa die Stimme einer Sängerin für die Musik. Erst durch die Materialisierung in den Körpern der Athletinnen und Athleten entfaltet der Sport seine ästhetische Wirkung. Das ist der Grund, warum der sportliche Körper verehrt wird. Ein weiterer interessanter Aspekt, der gerade in Mannschaftssportarten wie Fußball deutlich wird, ist der Gedanke an eine gemeinschaftliche Schöpfung aller Beteiligten. Fußball z.B. ist in den Worten von Norbert Elias ein „kollektives Kunstwerk".159 Jeder Spieler einer Mannschaft ist daran beteiligt wie auch jeder Spieler der gegnerischen Mannschaft, das Schiedsgericht und das Publikum. Alle Anwesenden sind zugleich Zeichen wie auch Interpreten der Zeichen. Auch wenn es mittlerweile eine stärkere Trennung zwischen Akteuren und Zuschauern gibt, lassen sich darin doch Strukturen der religiösen Riten und orgiastisch-dionysischen Feste er-
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lich ist? [...] Ich fiir meinen Teil, bin in erster Linie Arsenalfan und erst in zweiter Linie Fußballfan. [...] Über langweiligen Fußball zu klagen ist ein wenig so, wie über das traurige Ende von King Lear zu klagen: Man begreift irgendwie nicht das Wesentliche." In: Hornby, Ballfieber, S. 181-184. Vgl. Güldenpfennig, Kunst oder Leben, S. 34-39. Güldenpfennig, Kunst oder Leben, S. 59f. Ebd., S. 98. Vgl. Güldenpfennig, Autonomie und Krise, S. 62. Bausenwein, Geheimnis Fußball, S. 23.
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kennen, aus denen der Sport entstanden ist. Sport, als Kunst betrachtet, ist das Werk von vielen. Als sinnliches Ereignis hat er eine Wirkung, die sich nicht auf andere Künste oder Medien übertragen lässt, und viele verführt, an ihm teilzuhaben. Die Dramaturgie eines Spiels skandiert ihre eigene Sprache. Wir können ein Fußballspiel, dieses selbstorganisierte Zeichensystem auf grünem Grund, laut mitlesen wie ein Gedicht. [...] Sperrige Texte aus unsinnlichen Buchstaben sind zu schwach, dieses Gesamtkunstwerk zu fassen. Über Fußball kann man nicht schreiben. Fußball ist selbst Literatur. Alle, die sich mit Fußball befassen - Spieler, Funktionäre, Schiedsrichter, Trainer, Fans, Journalisten - , schreiben gemeinsam an einem großen Text und versuchen immer aufs neue vergeblich, ihn zu entziffern.160
2.2.3.2. Olympische Spiele - ein „Gesamtkunstwerk"? Vom „kollektiven Kunstwerk" ist der Schritt zum „Gesamtkunstwerk" nahe liegend. „Gesamtkunstwerk" ist eine Modevokabel geworden, die Einzug erhalten hat in die Sportberichterstattung. Alles, was im System des Sports irgendwie Bedeutung hat, wird teils augenzwinkernd, teils ohne kritische Distanz als „Gesamtkunstwerk" deklariert: das Münchener Olympiastadion, 161 das Leverkusener Trainerkollektiv, 162 die 34 Spieltage einer Bundesligasaison 163 oder die Fouls von Abwehrspielern. 164 Mehr Beachtung verdient die Idee, Olympische Spiele, bei denen es zu Aufführung nahezu aller „Sport-Kunstarten" kommt und die mit einem zeremoniellen Rahmen versehen sind, als „Gesamtkunstwerk" zu bezeichnen. Der Formel von Olympia als Gesamtkunstwerk ist Sven Güldenpfennig nachgegangen. 165 Sein Ausgangspunkt ist das Defizit an einer theoretischen Grundlagenforschung zur Olympischen Idee, für die eine Kanonisierung von Coubertins Gedankengut nicht ausreichend ist. Daher ist die Einordnung Olympischer Spiele als Gesamtkunstwerk eng verknüpft mit der Frage nach dem Sinn des weltweit größten Sportereignisses. Nach Güldenpfennig sind es drei Kriterien, die gleichermaßen die Bayreuther Festspielidee wie das Olympische Fest auszeichnen: Zum einen ein „hoher Grad von außeralltäglicher Eigenweltlichkeit", zum zweiten die „Integrationsbereitschaft von „allen und allem unter einen Dach" und als drittes die „ H e g e m o n i e und Pluralität
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Dirk Schiimer: Gott ist rund. Die Kultur des Fußballs. Berlin 1996, S. 241f. Zitiert nach Giildenpfennig, Kunst oder Leben, S. 156. Vgl. Hanno Rauterberg: Wahnwitz. Wer rettet das Münchener Olympiastadion. In: „Die Zeit", Nr. 38/2000, S. 49 Vgl. Andreas Burkert: Im Gesamtkunstwerk klaffen tiefe Risse. In: „Kölner Stadt-Anzeiger", 6.3.2001, o.S. Vgl. Frank Nägele: Finaler Rettungsschuss ins blau-weiße Herz. In: „Kölner StadtAnzeiger", 21.5.2001, o.S. Vgl. N.N.: Die Spieler sind immer die Verlierer. In: „Express", 12.3.2001, o.S. Ich beziehe mich dabei auf einen Vortrag des Autors bei der Tagung der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft, Sektion Sportphilosophie am 15. Mai 2000 im Deutschen Olympischen Institut Berlin: Sven Güldenpfennig: Gesamtkunstwerk Olympische Spiele? (Unveröffentlichtes Manuskript).
ästhetischer Ansprüche".166 Letzteres gilt vor allem deshalb, weil neben dem Sport auch nahezu alle anderen bekannten Kunstformen an der Gestaltung Olympischer Spiele beteiligt sind: angefangen vom Design der Plakate, Medaillen und Briefmarken über die Architektur aller Sportstätten und Stadien bis hin zu der Aufnahme der Olympia-Songs, Olympia-Filme und Sportfotografien. Zusätzlich richten die Organisatorinnen und Organisatoren Olympischer Spiele Kunst-Wettbewerbe aus und haben die Pflicht den Spielen einen kulturellen Rahmen zu verleihen.167 Güldenpfennig sieht den Sport in diesem vielfältigen „Konzert der Künste" als „gleichberechtigten Mitspieler"168 an, der anlässlich der Olympischen Spiele eine Art Einladung an alle Kunstformen ausspricht. Anders als in Wagners „Kunstwerk der Zukunft" sollen die Künste im Olympischen Fest nach Auffassung Güldenpfennigs jedoch nicht miteinander verschmelzen, sondern ihre Eigenständigkeit bewahren, denn wie zahlreiche Beispiele belegten, ließe sich der Anspruch einer Gleichrangigkeit der Künste in der Praxis ohnehin nicht verwirklichen. Programmatisch erklärt der Autor Wagners Utopie für gescheitert und verkündet das „Ende der unbegründeten Illusion vom synästhetischintegrativen Gesamtkunstwerk".169 Dennoch hält Güldenpfennig an dem Begriff eines „Gesamtkunstwerks" fest, allerdings eines von ihm so genannten „additiven Gesamtkunstwerks", das durch ein Nebeneinander der Künste gekennzeichnet ist. Damit schließt er jedoch das synthetische Moment, das in der Nachfolge Wagners kennzeichnend für die Bestimmung eines Gesamtkunstwerks war, aus. Insofern ist die Wortwahl eher verwirrend. Bezogen auf Olympia hat das von Güldenpfennig bestimmte „additive Gesamtkunstwerk" folgendes Aussehen: Dieses um den Sport als Dreh- und Angelpunkt herum zu gestaltende additive Gesamtkunstwerk sollte insbesondere die Beiträge der wichtigsten Kunstgattungen in ihren zur jeweiligen Zeit möglichst anspruchsvollsten Varianten und als Repräsentanten der jeweils typischen modernen kulturtechnischen K u n s t s p r a c h e n " in ihrer pluralen Vielfalt umfassen, zusammentragen und soweit möglich aufeinander ein- und abstimmen. Und zwar auf einem Niveau, das mit dem sportlich-ästhetischen Höchstleistungsanspruch, wie er in der Olympischen Idee verkörpert ist, mithalten, kommunizieren und gleichsam korrespondierend wetteifern kann.170
Der Sinn Olympischer Spiele liegt demnach in Feier und Demonstration der ausdifferenzierten menschlichen Kultur. Sport spielt bei Olympischen Spiele zwar die Hauptrolle, aber vor allem als Gastgeber, der alle anderen Künste einlädt, teilzunehmen. Den Sport rechnet der Autor zur Hochkultur: Gute Kunst könne man im Fußballstadion wie auf der Opernbühne finden, ohne dass der Besuch der einen
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Ebd., S. S. In Sydney beispielsweise dauerte das arts festival vom 18. August bis zum 30. September. 3000 Künstlerinnen und Künsder nahmen daran teil, darunter die Bell Shakespeare Company, Pina Bauschs Tanztheater, die Musicalsängerin Barbara Cook oder die australische Artistengruppe The flying fruit fly circus. Güldenpfennig, Gesamtkunstwerk Olmypische Spiele, S. 2. Ebd., S. 15. Ebd., S. 17.
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Veranstaltung die andere überflüssig mache. Güldenpfennig beschreibt die Vision einer „arbeitsteiligen Kooperation einer Vielzahl von kulturell höchstleistungsfähigen Einzelkompetenzen" 171 und verwirft alle emphatischen Ansprüche, die mit Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk, aber auch mit den Olympischen Spielen verbunden sind; er verwirft alle Versuche, Kunst und Kunst, Kunst und Leben, Körper und Geist oder Menschen untereinander vereinigen zu wollen. Am „Ende der großen Erzählungen" angelangt, geht es ihm nicht um eine neue große Erzählung, sondern um viele kleine, die alle ihre Existenzberechtigung und alle ihre kulturelle Bedeutung haben. Möglichst viele dieser Erzählungen vorzutragen wäre in Güldenpfennigs Augen die Aufgabe Olympias, 172 das er von jeglichem religiösen oder quasi-religiösen Denken befreit wissen will. Daher lehnt er auch die kultische Orientierung olympischer Symbolik ab, wie sie die Eröffnungsfeiern in Anlehnung an Coubertins Vorgaben durchzieht. Als nicht-religiöse und nicht-synthetische Veranstaltung soll Olympia auch eine nicht-kollektive Massenveranstaltung sein: Aktives Mitgehen von Zuschauern mit dem Sportgeschehen ist tatsächlich nur dann und nur insoweit verträglich mit dem kulturellen Sinn des Sports, wenn und soweit es sich als Identifikation mit dem sportlichen Geschehen insgesamt als einem Kulturereignis, nicht aber mit einer der beiden am sportlichen Geschehen beteiligten Parteien als einem Sozialverbund darstellt.™ Massenbildungen und Gemeinschaftsgefühle haben demnach keine Bedeutung für das Verständnis vom Sport als Kunst, das „additive Gesamtkunstwerk" Güldenpfennig verwirklicht sich durch eine phantasiegeleitete und intellektuelle Leistung des Individuums im Kopf des Rezipienten. Hier übersieht Güldenpfennig die affektiven und emotionalen Effekte, die synästhetische Ereignisse - zu denen Sportveranstaltungen sicherlich gehören - erzielen, sowie die von der Massenpsychologie bestätigte kolossale Wirkung des Kollektivs auf den Einzelnen. 2.2.3.3 Sport und das Erbe des Dionysischen Aus Güldenpfennigs Idealvorstellung vom Kunstereignis Olympia ist all das eliminiert worden, was für viele „Gesamtkunstprojekte" gerade charakteristisch ist: die Verschmelzung von Kunstgattungen, die Bedeutung von Gemeinschaftsgefühlen, das emotionale und taktile Erleben von Kunst und die übergeordnete Idee, die „große Erzählung", die die Veranstaltung zusammenhält und Menschen aneinander bindet. Güldenpfennigs Vision vom „olympischen Gesamtkunstwerk" erscheint der synthetischen Werkidee Wagners nahezu diametral entgegengesetzt. Insofern ist die Wortwahl eher irreführend und zeigt ein allgemeines Problem beim Umgang mit der Begrifflichkeit vom „Gesamtkunstwerk". Die Vokabel ist viel strapaziert, wird auf eine Fülle unterschiedlicher Projekte angewandt und ist zur viel gebrauchten, oft
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Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 24. Ebd., S. 21.
aber leeren Worthülse geworden. Alle Systeme, bei denen unterschiedliche Faktoren zusammenspielen, werden z.B. gern und oft als „Gesamtkunstwerk" bezeichnet. Auch heute noch hat daher Hans Szeemanns' Replik von 1983 zur inflationären Verwendung des Modeworts ihre Berechtigung: Der Begriff Gesamtkunstwerk [...] wurde theoretisch nie definiert und ist nicht nur in der Kunstliteratur zu einer beliebig verwendbaren Begriffshülse geworden. Ein mythischer Begriff in Erzählungen am Kaminfeuer, ein gem gesehener Gast im „Verlust der Mitte", Epitheton omans für Diversestes: der Wiener Ring, das Palais Stoclet in Brüssel, der Jugendstil, das Meisteratelier im Bauhaus, die Aubette in Straßburg; das Panoptikum von Valentin; das weiße Blatt fur den Künstler, das Geschehen in den Hirnwindungen, der Mensch als Mikrokosmos, die Frau als biologisches Wesen; alle Gesamtsysteme der postindustriellen Gesellschaft. Gesamtkunstwerke, wo man hingeht und hinguckt. Uferlos.174
Szeemann selbst hat dazu beigetragen die Charakteristika eines Gesamtkunstwerks näher zu bestimmen und dabei ein weites Feld abgesteckt: vom spätromantischen Maler Runge über das formal-experimentelle Bauhaus und dem Dadaismus bis zur Kinolandschaft der Zwanziger Jahre. Kunst- und Stilrichtungen, deren formelle geschweige denn ideelle - Gemeinsamkeiten zum Teil gegen Null tendieren. Es ist nahezu unmöglich, einen großen gemeinsamen Nenner auszumachen für die unterschiedlichen Projekte, denen das Etikett der Gesamtkunst anheftet. Verwendet man den Begriff vom Gesamtkunstwerk zu inflationär, läuft man Gefahr ins Beliebige abzurutschen, zumal auch die populäre Meinung, Wagner sei der Vater des Gesamtkunstwerks bekanntermaßen der Revision bedarf: Wagner selbst hat das Wort zwar geprägt, nie aber im Sinne einer expliziten Bezeichnung für sein Kunstideal, das er selbst im Verlauf seines Lebens immer wieder modulierte. Insofern erscheint es sinnvoller wie Guido Hiß von der synthetischen Werkidee statt vom „Gesamtkunstwerk" zu sprechen, wobei die Geschichte dieser synthetischen Werkidee weit vor Wagner beginnt und sich in zahllose Stränge verästelt, zu denen Wagnerianer und Antiwagnerianer gehören, totalitäre Kunstentwürfe ebenso wie radikal-destruktive, die ihren Impuls gerade aus der Negierung des Ganzen und Gesamten ziehen. Aufgrund ihres Gesamtheitsanspruchs und ihres zeremoniellen Rahmens mit der Beteiligung etlicher Künste lassen sich sicher auch Olympische Spiele unproblematisch in den Kanon synthetischer Werke mit eingliedern. Eine schlichte Einordnung von Olympischen Spielen als „Gesamtkunstwerk" bleibt dennoch unbefriedigend die Vagheit und Vieldeutigkeit des Begriffs behindert eine wissenschaftlich zugespitzte Analyse eher, als zur Klärung beizutragen. Dennoch ist der olympische Anspruch ein integrativer: Schon in den prägenden Symbolen der Olympischen Bewegung, den Ringen und dem Feuer, lassen sich das gemeinschaftsstiftende sowie das kultische Moment Olympias ablesen, und die hochgehaltenen Ideale wie Frieden und Völkerverständigung sorgen für ein übergeordnetes Leitbild, dem sich alle anschließen können. Zudem ist die sinnliche Wirklichkeit Olympias eine synästhetische, die sich dem Menschen, das heißt seinem
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Harald Szeemann: Vorbereitungen. In: Ders. u.a. (Hg.): Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800. Aarau, Frankfurt am Main, 2. Aufl. 1983, S. 17.
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Körper, als Gleichzeitigkeit von optischen, akustischen und taktilen Reizen vermittelt. Insofern erscheint der Vergleich zur synthetischen Werkidee doch fruchtbar, zumindest dann, wenn man das Feld weiter eingrenzt und sich auf einen Strang innerhalb der Geschichte der synthetischen Werkidee bezieht, der von Wagner und Nietzsche zu den entgrenzten Massentheaterformen des 20. Jahrhunderts und dem exzessivem-rauschhaftem Gebrauch der modernen elektronischen Massenmedien führt - der Strang dionysischer Kunst. Das dionysische Moment Olympias wird deutlicher, fuhrt man sich vor Augen, dass Olympische Spiele auch ein „Gesamtsportwerk" sind, das Emotionen putscht und Ekstasezustände ebenso kultiviert wie das Aufgehen des Einzelnen in der Masse. Auffallend ist, dass alle vorgestellten Ansätze, die den Sport als eine Form von Kunst definieren, den Sport auch in die Nähe der dionysischen Künste rücken. Der Sport,realisiert" mythische Situationen, 175 er ist einfach zu verstehen - beinahe im Sinne einer Volkskunst - , erfordert aber doch höchste Konzentration und Aufmerksamkeit, die sich in rauschhafter Begeisterung entlädt. Erkennen von Form ist beim Sport wichtiger als Interpretation von Inhalt; die Struktur des Sports ist von rhythmischer Bewegung bestimmt, die die Wahrnehmung des Zuschauer lenkt und die Zuschauer untereinander harmonisiert, Kunstfertigkeit und Natürlichkeit sollen im Körper der Sportler miteinander verschmelzen und zu einer verloren gegangenen Einheit zurückfinden. Deutlich wird: Das dionysische Element ist für den Sport charakteristisch und erst recht fiir den gern als „Hochfest des Sports" bezeichneten „Mega-Event" Olympische Spiele. Bevor die Olympischen Spiele - ihre theoretische Fundierung durch Coubertin und ihre verschiedenen medialen Darstellungsformen - in den Fokus rücken, sollte definiert werden, was unter dem dionysischen Prinzip zu verstehen ist. Dazu ist ein Rückgriff auf Friedrich Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik erforderlich, der im nächsten Kapitel erfolgt.
2.3. Das dionysische Prinzip In der griechischen Mythologie ist Dionysos der Gott der Fruchtbarkeit, der Ekstase und des Weins, der in vielen orgiastischen Kulten gefeiert wurde. Sein Vater ist niemand geringer als Göttervater Zeus. Als modernen Vater des wieder entdeckten Dionysos kann man Friedrich Nietzsche bezeichnen. Denn der .Philosoph des Körpers" erhebt in seinen frühen Schriften Dionysos zur Symbolgestalt des ekstatischen, selbstvergessenen Rausches, zur Versinnbildlichung von Kraft und Lebenslust, der den Menschen zurück zur Natur führt und sie zu einem gemeinschaftlichen Bund zusammenschließt. Nietzsche - und noch mehr seine Nachfolger und Adepten - kultivieren das dionysische Prinzip in der Kunst als Rettung aus einem vernunftgeleiteten, abstrakten, gezügelten Zeitalter, das sich von den wahren Bedürfnissen des Menschen entfernt habe. Die Fokussierung auf den Körper, die emotionale Überwältigung durch sinnliche Kunst, der 175
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Lenk, Achte Kunst, S. 21f.
Zusammenschluss von Menschen zu einer Masse, die Überwindung von Grenzen aller Art wird charakteristisch für eine ganze Reihe von Kunstentwürfen von der Jahrhundertwende bis zu den 30er Jahren. Für Nietzsche, später selbst sein schärfster Kritiker, resultiert die Entdeckung des Dionysischen aus seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem - damals noch als Kunstgenie verehrten - Richard Wagner. Nietzsches erste große Schrift: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik ist zugleich Huldigung an den väterlichen Freund wie eine altphilologische Abhandlung über das Theater der Griechen. Erst in seiner Rezeption wird die Schrift auch zu einer Programmatik für eine neue Kunst. 2.3.1. Nietzsches Geburt der Tragödie Das ist das Buch, was ich mir ersehnt habe. 17 '
Mit diesen Worten soll Richard Wagner die Lektüre von Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie gewürdigt haben. Hier schien ihn endlich jemand restlos verstanden und seine Kunstvision in die Sprache der Gelehrten übersetzt zu haben. In der Tat ist die Geburt der Tragödie unter dem Eindruck des TristanErlebnisses und der freundschaftlichen Begegnungen des jungen Professors mit dem „Mystagogen" Wagner177 in Tribschen entstanden. Nietzsche zeigt sich begeistert von der Musik Wagners und begreift die Mythen über Wotan, Siegfried oder Brunhilde als deutsche Mythen, mit denen eine Kultur zu einer Einheit gelangen könnte.178 Den Bezug zu Wagner hebt Nietzsche im Vorwort des Buches deutlich heraus - was ihn in Gelehrtenkreisen ins Abseits stellt - und widmet seinem „erhabenen Vorkämpfer"179 die Schrift. Dennoch ist die Geburt der Tragödie mehr als nur eine Huldigung auf das Schaffen des väterlichen Freundes. Nietzsches Erstlingswerk ist dem Sinn nach eine altphilologische Abhandlung über das Wesen der attischen Tragödie. Entgegen der klassischen Rezeption vom heiteren Volk der Hellenen sieht Nietzsche die Griechen in einer tiefen Sinnkrise verwurzelt, die mit Kunst bekämpft wird. Die Entstehung der Tragödie sei zu verstehen als Reaktion auf die Verzweiflung der Menschen.180 Damit gibt die Schrift auch eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn synthetischer Kunst, die sich insbesondere stellt, nachdem Schopenhauer die Musik - und zwar die reine Musik - als Schnittstelle zum göttlichen Wesen beschrieben hat.181 Der spekulative Blick in die Historie liefert zudem Einsichten über die Beschaffenheit der Kunst der Gegenwart und beschreibt ein Ideal für die Kunst der Zukunft. Insbesondere knüpfen die zahlreichen dionysischen Theaterexperimente des begin-
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Ausspruch Richard Wagners aus den Tagebuchaufzeichnungen von Cosima Wagner. Zitiert nach Nietzsche, Der Fall Wagner, S. 553. So lautet eine Bezeichnung für Wagner im Untertitel des Buches von Dietrich FischerDieskau: Wagner und Nietzsche. Der Mystagoge und sein Abtrünniger. Vgl. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 132. Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 48. Vgl. Hiß, Metaphysische Maschine, S. 140.
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nenden 20. Jahrhunderts in der Identität von Kunst und Leben, dem Zerbrechen des Individuums in der Masse und dem Steigern der Kunsterfahrung in den ekstatischen Rausch an Beschreibungen aus der Geburt der Tragödie an. Nietzsche hat damit auch wenn das nicht unbedingt beabsichtigt gewesen sein mag - der dionysischen Gesamtkunst die Türen geöffnet und sie herausgeführt aus den Festspielhäusern in die Freilichtbühnen, in die Stadien und auf die Straße. Die Öffnung gelingt auch deshalb, da die Schrift das Allgemeine im Speziellen sucht. Wo Wagner Musik und Dichtung, bzw. Oper und Drama gegenüberstellt, sieht Nietzsche zwei „Triebe" wirksam werden: das „Apollinische" und das „Dionysische". 182 Diese beiden ästhetischen Prinzipien bestimmen nach Nietzsche jede Kunstform, weisen aber noch über die Kunst hinaus und können als elementare Lebensbedürfnisse verstanden werden. Das Apollinische repräsentiert bei Nietzsche die Traumwelt, die Phantasie, den „schönen Schein". 183 Vor allem die nachahmenden Künste sind dem Apollinischen verpflichtet, also bildende Kunst, Schauspiel oder Dichtkunst. Apollinisch steht für maßvolle Begrenzung, für Ruhe, für das Schopenhauersche „principium individuationis": Apollo aber tritt uns wiederum als die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen, in dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Erlösung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit erhabenen Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nötig ist, damit durch sie der einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde und dann, ins Anschauen derselben versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten des Meeres, sitze.184 Das Apollinische ist der Kunsttrieb des innehaltenden und sich selbst vergewissernden Subjekts, das in seiner schöpferischen Tätigkeit die Welt als Objekt abbildet. Mit strengen formalen Gesetzen bemüht es sich darum, Klarheit und Distanz zu schaffen. Nietzsche beschreibt die Bilderwelt des Apollinischen als Visionen; die so entstandenen Kunstwerke sind Produkte der Einbildungskraft, Leistungen des Verstandes. Dagegen ist das Dionysische dem Feld des körperlichen Erlebens zuzurechnen. Es ist der barbarische Trieb des Menschen, in dem Lust und Leid erfahrbar werden. Im Dionysischen wird der Mensch zurück zur Natur geführt. Er schafft sich die Welt nicht als Objekt, sondern wird eins mit ihr: [...] die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit dem verlorenen Sohne.1,5 Grenzen werden niedergerissen, die Individuen geben ihre Ich-Bezogenheit auf und bilden einen neuen „Bund zwischen Mensch und Mensch". 186 Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen 182 183 184 185 186
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Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 21. Ebd., S. 22. Ebd., S. 33. Ebd., S. 24. Ebd., S. 24
wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnisvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Weg, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.187
Das Subjekt kennt keine Zügelung mehr, es lässt sich vom Übermaß der Gefühle treiben, löst sich in der Masse auf und steigert sich in einen selbstvergessenen Rausch. Ganz im Sinne Schopenhauers ist es vor allem die Musik, die diese Wirkungen hervorbringen kann. Sie ist die am wenigsten abbildende aller Künste und nichts außer ihr selbst - schon gar nicht die Sprache - kann ihren „tiefsten Sinn" transportieren.188 Ihr nahe stehen die Künste, die den ganzen Körper mit einbeziehen, insbesondere der Tanz, aber es ist allein die Musik, die ,.nicht an die Erscheinung der Dinge rührt", sondern an ihre „innerste Seele".189 Musik lässt den Menschen die Wahrheit erblicken, da sie ihn zum Urgrund des Daseins fuhrt. Diese Wahrheit ist jedoch eine tragische; sie führt den Menschen zum Abgrund seiner Existenz, wo ihn das Grausen vor der Größe der Welt und der Kraft von Schopenhauers blind wütendem Weltwillen packt und er schauernd erstarrt. Reine Musik ist daher nicht zu ertragen, der ästhetische Zuhörer müsste an ihr zerbrechen. Es ist die Traumwelt des Apollinischen, die den Künstler und den Zuschauer vor der Vernichtung bewahrt und die „fundamentalen Schrecken des Dionysischen"190 bannt. Das ist die Funktion synthetischer Kunst: die Energien des Dionysischen in apollinische Formen umzuwandeln, um überhaupt leben zu können. Die Griechen brauchten nach Nietzsche die Tragödie, nicht weil sie sich mit sich und der Welt in Harmonie befanden, wie es das klassizistisch idealistisch verzerrte Griechenbild behauptete, sondern weil sie „Versöhnung und Trost"191 notwendig hatten, da sie von der Mangelhaftigkeit ihrer Existenz und der Abgeschiedenheit von dem Weltganzen wussten.192 Dionysisches und Apollinisches bedingen sich in der Tragödie gegenseitig. Ohne die dionysische Erschütterung wären ihre Bilder, Worte und Figuren sinnlos, da ihre Wirkung harmlos wäre. Aber ohne den „schönen Schein" würde sich das Individuum im Rausch der Selbstvergessenheit vernichten. Bezogen auf Wagners Kunst ist es der Mythos, der den Menschen vor der „heraklesmäßigen Kraft"193 der Musik
1,7 188 189 190 191 192
193
Ebd., S. 25. Ebd., S. 44. Ebd., S. 90. Hiß, Metaphysische Maschine, S. 141. Ebd., S. 140. Nietzsche erwähnt die Sage des Midas, der von Silen, dem Begleiter Dionysos, Aufschluss erbittet über die Frage, was das beste für den Menschen sei. Silen antwortet ihm: „Das Allerbeste ist für dich gänzlich uneneichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist fur dich - bald zu sterben." In: Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 30. Ebd., S. 63.
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rettet. Das Mitleid, das der „ästhetische Zuhörer" für Isolde aufbringen kann, bewahrt ihn vor dem „Urleiden der Welt". 194 Der Mythus schützt uns vor der Musik, wie er ihr andererseits erst die höchste Freiheit gibt. Dafür verleiht die Musik, als Gegengeschenk, dem tragischen Mythus eine so eindringliche und überzeugende metaphysische Bedeutsamkeit, wie sie Wort und Bild, ohne jene einzige Hilfe, nie zu erreichen vermögen; und insbesondere überkommt durch sie den tragischen Zuschauer gerade jenes sichere Vorgefühl einer höchsten Lust, zu der der Weg durch Untergang und Verneinung führt, so daß er zu hören meint, als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm vernehmlich spräche.195 Anders als viele seiner Exegeten, die lediglich die dionysische Wirkung der Theaterkunst steigern möchten, strebt Nietzsche nach der Verschmelzung von Dionysischem und Apollinischem. Erst wenn sich die dionysischen Kräfte in eine Vision entladen, die als Mythos an die Grenzen zum Kult stößt, ist das „Drama" 196 vollständig. Allerdings soll sich alle Kunst aus einem ursprünglich dionysischen Gefühl herleiten.197 Je tiefer die Erschütterung des Künstlers war, desto klarer und schöner wirkt die Bilderwelt des Apollinischen, desto bedeutender ist das Kunstwerk. 198 Und auch in der Gesamtwirkung der Tragödie behält das Dionysische letztlich Oberhand: Und damit erweist sich die apollinische Täuschung als das, was sie ist, als die während der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der eigentlichen dionysischen Wirkung: die doch so mächtig ist, am Schluß das apollinische Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit dionysischer Weisheit zu reden beginnt [...]199 Auch wenn der dionysische Rausch fatale Folgen für jeden Einzelnen haben kann, ist doch das Fehlen dieses Triebes für die Kunst und damit für die Gesellschaft noch viel schädlicher. Nietzsche bemängelt - dabei ganz ein gelehriger Wagner-Schüler dass die Erscheinung der Oper der Musik ihren dionysischen Charakter genommen hätte.200 Nietzsche benennt zwei Strömungen, die dazu beigetragen haben, der Kunst ihren eigentlichen Wert auszutreiben: Christentum und Rationalismus. Freilich datiert er den Beginn des Verfalls auch schon in der Antike: Mit den Dramen Euripides habe - so Nietzsche - der kulturelle Abschwung der Tragödie begonnen, denn dort sei nicht die Musik die Keimzelle des „Dramas" gewesen, sondern das dramatisierte Epos. Anstelle von mythischen Figuren brachte Euripides den Bürger auf die Bühne, und er nahm die Handlung in Prologen vome weg, so dass die Spannung des Dramas dem Pathos einzelner lyrischer Szenen gewichen ist. Der kühle, rationale Plan, so Nietzsche, habe das Dionysische aus der Theaterkunst vertrieben und damit den
194 195 196 197 1911 199 200
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Ebd., S. 116f. Ebd., S. 115. „Drama" ist hier in dem Wortsinn gebraucht, wie Wagner den Begriff versteht, also als die Gesamtheit der Theaterauffuhrung. Nietzsche nennt das Beispiel Schillers, dessen Werke aus einer „musikalischen Stimmung" entstanden seien. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 36f. Vgl. Walter F. Otto: Mythos und Welt. Stuttgart 1962, S. 165. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 120. Vgl. ebd., S. 108.
Anfang vom Ende der griechischen Kultur eingeleitet - auch dafür kennt Nietzsche einen beinahe mythischen Namen: Sokrates, der Nicht-Mystiker, wird zum „dämonischen"201 Gegenspieler des dionysisch erregten Künstlers. Die optimistische Dialektik treibt mit der Geißel ihrer Syllogismen die Musik aus der Tragödie: das heißt, sie zerstört das Wesen der Tragödie, welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustände, als sichtbare Symbolisierung der Musik, als die Traumwelt eines dionysischen Rauschs interpretieren Iäßt.202
Nietzsches Haltung ist demnach eine antiaufklärerische. Während Sokrates glaubte, mit dem Denken an den Urgrund des Seins zu gelangen, behauptet Nietzsche, das mit Wissen allein keine Befriedigung erzielt werden kann. Bereits der Faust zeige, dass wissenschaftliche Erkenntnis immer an ihre Grenzen stoße und dem Verstand alleine, gewisse Dinge immer verschlossen bleiben müssten.203 So wird der Mensch durch Denken immer nur an seine Unvollkommenheit erinnert, die Form der Erkenntnis muss daher eine tragische sein. Es gibt nur ein Heilmittel, das diesen Mangel erträglich macht: die Kunst.204 Das Leiden an der Existenz verlangt nach metaphysischen Trost. So sieht Kurt Hildebrandt die Erstellung der Geburt der Tragödie auch als die Suche nach einem Gott an.205 Auch wenn er das Bonmot noch nicht ausgesprochen hat, zeigt sich Nietzsche doch schon vom „Tod Gottes" überzeugt. Und da auch der Verstand die Lücke zur Transzendenz nicht schließen kann, sondern immer nur noch deutlicher vor Augen fuhrt, ist es allein die Kunst, mit der die tragische Sinnlosigkeit des Seins überwunden werden kann, weil nur sie den Menschen das Gefühl vermittelt, dass „das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll"206 ist. Walter F. Otto sieht darin Nietzsches Überwindung des Schopenhauerschen Pessimismus.207 Aus dieser Grundhaltung lassen sich auch Nietzsches Geniekult und Künstlerverehrung erklären, die - wie er in seiner später angefertigten Selbstkritik eingesteht - in einer „Artistenmetaphysik"208 münden. Dass Kunst zu dem Urgrund des Lebens führt und über das menschliche Leiden hinwegtröstet, bedeutet letztlich, dass Kunst und Leben nicht mehr voneinander geschieden sind, mehr noch:
201 202 203
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Ebd., S. 80. Ebd., S. 81. Angesichts dieser wissenschaftskritischen Haltung kann es nicht verwundern, dass Nietzsche sich mit der Veröffentlichung seiner Schrift in Akademikerkreisen isoliert. Es ist nicht allein die Huldigung des umstrittenen Wagners, die seine Stellung als Philologe und Professor beeinträchtigen, sondern auch der fundamentale Zweifel an dem Sinn von Wissenschaft überhaupt, der aus seinem Erstlingswerk spricht. Seine Niederlage als Wissenschaftler scheint zumindest besiegelt, als sich die kritischen Stellungnahmen häufen und sich kein Student für das kommende Wintersemester bei ihm einträgt. Vgl. Fischer-Dieskau, Wagner und Nietzsche, S. 83f. Vgl. ebd., S. 87. Vgl. Kurt Hildebrandt: Wagner und Nietzsche. Ihr Kampf gegen das 19. Jahrhundert. Breslau 1924, S. 203. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 47. Vgl. Otto, Mythos und Welt, S. 166. Vgl. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 11.
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Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.20® Nietzsche, zu diesem Zeitpunkt noch idealistisch eingestellt, findet in der Kunst eine Ersatzreligion. Wie Kunst, Leben und religiöse Anschauung eins werden, illustriert ebenfalls das Beispiel der attischen Tragödie. Im Zusammenspiel von Chor und tragischem Held drückt sich das Miteinander von Dionysischem und Apollinischem aus. Der Chor hat die Aufgabe den „Zuschauer dionysisch zu entzücken", bis dieser den Schauspieler des Helden nicht mehr als Schauspieler erkennt, sondern als Gestalt seiner Visionen. 210 Das Geschehen auf der Bühne soll nicht als Fiktion wahrgenommen werden, sondern als wahrhaftes Grieben. Da es sich bei den Gestalten der attischen Tragödie um Figuren aus der griechischen Götterwelt handelt, ist somit auch der Schritt zur religiösen Handlung vollzogen. Die eigentlich religiöse Tat der Kunst besteht jedoch nicht darin, Götter auf der Bühne darzustellen, sondern den Menschen zu göttlichen Empfindungen zu fuhren. Die Zuschauer - und ebenso die Schauspieler - sollen durch Kunst das Leiden des dionysischen Gottes am eigenen Leib erfahren. [...] auch aus ihm [dem menschlichen Zuschauer, d. Vf.] [tönt] etwas Übernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Träume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauem des Rausches.211 Eins zu werden mit den Göttern, der Natur, den Mitmenschen, mit der Welt - das ist der metaphysische Trost, den die Kunst im Sinne Nietzsches spenden kann. 2.3.2. Nietzsche als Bezugspunkt. Entwicklungslinien des dionysischen Prinzips Auch wenn das von Nietzsche beschriebene Ideal die Synthese der beiden antagonistischen Prinzipien vorsieht und er mehrfach vor den Gefahren einer ausschließlich dionysischen Kunst warnt, so ist er doch vielfach als Erneuerer des Dionysischen verstanden worden. Nietzsches Schilderungen vom Rausch-Erlebnis der Kunst haben befruchtend auf die Arbeit zahlreicher Theaterregisseure und theoretiker gewirkt. Für die vorliegende Studie sind vor allem drei Entwicklungslinien bedeutsam: Zum einen steigert Nietzsche die ästhetische Gemeinschaftserfahrung, auf die bereits romantische Kunsttheorien verweisen und die ein zentrales Moment von Wagners Festspielidee ist, zum Massenerlebnis. „Die dionysische Erregung ist imstande, einer ganzen Masse diese künstlerische Begabung mitzuteilen", 212 heißt es, und es ist die Rede von „Millionen", die „schauervoll in den Staub sinken". 213 Nietzsche, dem 20. Jahrhundert näher als dem 19. Jahrhundert, 214 antizipiert bereits 209 210 211 212 213 214
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Ebd., S. 40 (Hervorhebungen im Original). Vgl. ebd., S. 54. Ebd., S. 25. Ebd., S. 52. Ebd., S. 25. Vgl. Fischer-Dieskau, Wagner und Nietzsche, S. 228.
die großen Massenbewegungen der kommenden Jahrzehnte. Kunst, die sich an Millionen wendet, wird zum Massenmedium, zumal es keinen bestimmten Bildungsgrad braucht, um sie - antisokratisch wie sie ist - zu verstehen. 215 Und auch der Gedanke, die Massen in die Kunstproduktion einzubinden, ist bereits ausformuliert: Im griechischen Chor sieht Nietzsche eine symbolische Verkörperung der „dionysisch erregten Masse". 216 Die Geburt der Tragödie wird zum Ausgangspunkt einer breiten und einschneidenden Theaterreform, zu der sowohl das völkische Festspiel Georg Fuchs' wie Max Reinhardts „Theater der Fünftausend" gehören und das in den staatlich gelenkten Massenschauspielen der Zwanziger und Dreißiger Jahre - den Leipziger Gewerkschaftsfestspielen, den Massenschauspielen der Russischen Revolution und dem nationalsozialistischen Thingspiel - mündete. Vorbildfunktion für die dionysischen Schauspiele des beginnenden 20. Jahrhunderts hat der Festspielcharakter Bayreuths. Dem Theater soll das .festliche, Feiertägliche, Einmalige" 217 der antiken und mittelalterlichen öffentlichen Kunst zurückgegeben werden, und es wird eingebunden in eine Festkultur, mit der die idealistische Gefuhlsbildung der Bevölkerung gesteigert und geformt werden soll. Dies gilt in gleichem Maße für die Kulturarbeit der Russischen Revolution wie für die des Dritten Reiches. Goebbels etwa nennt Feste die „Vereinigung von Regierung und Volk". 218 Dort ist es dem Individuum gestattet, die Verbote, die ihm für gewöhnlich auferlegt sind, zu durchbrechen. Feste sind erlaubte Exzesse.219 Sie befreien das Subjekt von den auferlegten moralischen Sanktionen und erlauben ihm, von der Stimmung der Masse angesteckt, seine bis zum Extrem gesteigerten Gefühle zu äußern. Die Grenzen zwischen Volkskunst und Volksfest verlaufen fließend, die entfesselte Kraft des Dionysischen verlässt bereits zu Ende des 19. Jahrhunderts den rein ästhetischen Rahmen. Der zweite für die Theaterbewegung interessante Aspekt betrifft die veränderte Kunstrezeption. Nietzsche fordert, Kunstwerke nicht kontemplativ zu betrachten, sondern körperlich mitzuerleben. Die Geburt der Tragödie ist voll von Beschreibungen physiologischer Wirkungen des Kunsterlebnisses: Zwischen „Verzückung" und „Ekel" liegen die Reaktionen, zwischen „Qual" und „Lust", zwischen „Rausch" und „orgiastischer Selbstvemichtung". 220 Schmerzhaft ist die Kunsterfahrung im Sinne Nietzsches und voller Schrecken, dem Zuschauer bleibt als letzte Äußerung, in der sich alle Anspannung entlädt, nur noch der „durchdringende Schrei". 221 Solche Kunst teilt nichts mit. Sie ist einfach da und wirkt, ihre Botschaft ist sie selbst,
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Vgl. Bolz, Theorie der Neuen Medien, S. 26. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 53. Max Reinhardt: Ausgewählte Briefe, Reden, Schriften und Szenen aus Regiebüchern. Hg. von Franz Hadamowsky, Wien 1963, S. 81. Vgl. Rainer Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die „Thing-Bewegung" im Dritten Reich. Marburg 1985, S. 44. Vgl. dazu Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. 2. Aufl. Leipzig, Wien, Zürich 1923, S. 100. Ebd., S. 25,33,48, 118. Ebd., S. 34. 61
und sie ist daher nicht mit moralischen Begriffen zu messen. Ihre metaphysische Wahrheit liegt in der Erfahrung göttlicher Zustände. So verstanden ist die Geburt der Tragödie, obwohl nicht als ästhetisches Programm gedacht, eine Inspirationsquelle für die Theaterreformbewegung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geworden. Verschiedene, politisch unterschiedlich gelagerte Projekte entstehen in dieser Zeit, die mit Massen auf der Bühne und im Zuschauerraum experimentieren. Fast immer wird in solchen Modellen der Theaterbesuch als rauschhaftes, ekstatisches Erlebnis gesehen, das die Menschen untereinander und mit der Natur vereint: [...] und dies ist die nächste Wirkung der dionysischen Tragödie, daß der Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem Ubermächtigen Einheitsgefiihl weichen, welches an das Herz der Natur zurückfuhrt.222 Einheits- und Gemeinschaftsideale sowie das Zerbrechen des Individuums in der Masse sind gemeinsame Ziele der dionysischen Theaterprojekte. Die Kreation und Darstellung neuer oder alter Mythen sowie die Integration kultischer Handlungen haben die Funktion, die Kunst zur Religion zu erheben. Musik, Tanz, Rhythmus und die Betonung der Körperlichkeit lösen die Vorherrschaft der Sprache ab. Damit verbunden ist der Appell an die Emotionen, Urgefühle wie Lust und Schmerz sollen die Zuschauerinnen und Zuschauer befallen, der Intellekt spielt für die Theaterrezeption keine Rolle. Drittens hat Nietzsche bereits die attische Tragödie, die Vorbild für Richard Wagners Musikdrama war, als ein „auf eine dunkle Wand geworfenes Lichtbild" 223 assoziiert und damit die Möglichkeiten der Filmtechnik vorweggenommen. Der Film ist oft als Erfüllung des „Traums vom Gesamtkunstwerk" 224 bezeichnet worden oder umgekehrt „Bayreuth als ein Hollywood avant la lettre".225 Tatsächlich erfüllt die Kunst der Kinematographie viele Vorgaben Wagners: ein dunkler Zuschauerraum, ein unsichtbares Orchester und ein optimales Zusammenspiel von Wort, Musik und Bild. Kino und in seiner Nachfolge andere technische audiovisuelle Medien wie Femsehen, Video oder Computer bringen in einem technischen Arbeitsgang optische und akustische Reize zusammen und vereinen so beispielhaft die verschiedenen Künste. Es sind synthetische Medien, die auf elektronischem Weg das verwirklichen, was Wagner mit Sängern, Schauspielern, einem Orchester und der Appia verhassten - Dekorationsmalerei erzielen wollte. Friedrich Kittler hat darauf hingewiesen, dass Wagners Technik, auf der Klaviatur der Sinnesreize zu spielen, durchaus schon Züge moderner Medientechnik hat:
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Ebd., S. 47. Friedrich Nietzsche: Werke. Hg. von Karl Schlechta, München 1954-56, Bd. 1, S. 55. Zitiert nach Kittler, Weltatem, S. 107. Theodor W. Adomo und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. In: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, S. 148. Zitiert nach Dieter Borchmeyer: Gesamtkunstwerk: In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Begründet von Friedrich Blume, 2. neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Kassel, Stuttgart, u.a. 1995. Sachteil, Bd. 3, S. 1288. Kittler, Weltatem, S. 94.
Das Musikdrama ist eine Maschine, die auf drei Ebenen oder Datenfeldern arbeitet: erstens die verbale Information, zweitens das unsichtbare Bayreuther Orchester, drittens die szenische Visualität mit ihren Kamerafahrten und Nebelscheinwerfern avant la lettre. Der Text wird eingespeist in eine Sängerkehle, der Output dieser Kehle in einen Verstärker namens Orchester, der Output dieses Orchesters in eine Lightshow und das Ganze schließlich ins Nervensystem des Publikums.226
Elektronische Medien schalten Output der Sängerkehle und der Lightshow gleich und können ihn nach Belieben verstärken. Darin liegt der Vorteil gegenüber dem Bühnengesamtkunstwerk: Es lassen sich ganz andere synästhetische Wirkungen erzielen. Der enorme finanzielle und technische Aufwand, den Hollywoodproduktionen wie Titanic betreiben, um die Zuschauerinnen und Zuschauer mit bombastischer Musik in „Dolby Digital Ex"-Sound und packenden Bildern des untergehenden Schiffes zu fesseln, zeigt, dass der Wunsch nach dem perfekten, sinnlich überwältigenden synästhetischen Produkt die Filmindustrie beherrscht. Der Aufwand, der betrieben werden muss, illustriert auch, wie sehr sich die Hör- und Sehgewohnheiten der Menschen in den letzten 100 Jahren geändert haben. Technisch manipulierter Nervenreiz verlangt nach immer neuen Innovationen.227 Die ständig zunehmende Präsenz der technischen Medien gewöhnt die Menschen an den Verbund von Bildern und Tönen und die Aufnahme bestimmter Reize. Gleichzeitig sorgt sie dafür, dass die Umwelt zunehmend ästhetisiert wird, zumindest nach einem postmodernen Ästhetik-Verständnis. Ein gutes Beispiel für die Verschränkung von kommerziellen Interessen mit synästhetischen Kunstansprüchen ist die in den 80er Jahren entstandene Kultur der Musik-Videoclips. Diese stellen eine Symbiose aus Pop-Musik und Video-Art dar, tragen aber wesentlich zur Verbreitung der Musik bei, da sie ihr einen festen Platz im Fernsehen, dem Leitmedium der 80er und 90er Jahre, sichern. Insofern sind die Musikvideos Teile einer Werbestrategie. Interessant ist zudem, dass Popstars wie Madonna, sich auch außerhalb der Videos mit einer mythischen Aura, etwa der des Vamps umgeben, die auch das Wesen der Clips bestimmt. Madonnas Video-Clips sind jedoch keine Offenbarungen von etwas Höherem, sondern bekennen sich als Werbung; ihr Sound und Image sind Teil eines marktgängigen Polytheismus. Das Gesamtkunstwerk erreicht hier seine entzauberte Dekonstruktion.228
Auch wenn im „marktgängigen Polytheismus" der modernen Medienlandschaft die mythischen Versatzstücke keine Verbindlichkeit mehr beanspruchen können, erfüllen sie doch eine ähnliche Funktion wie der Mythos in der attischen Tragödie nach der Beschreibung Nietzsches. Sie bieten Rettungsanker in einer permanenten, medialen Reizüberflutung, dem dionysisch durch alle Sinne erregten Medienkonsumenten kleine Inseln des Sinns.
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Ebd., S. 103. In dem Versuch, die eigene Wirkung ständig zu übertreffen, liegt das Suchtpotenzial synthetischer Kunst. In eben diesen Punkt entzündet sich Nietzsches Wagner-Kritik (vgl. Kap. 3.1.5.). Günther, Gesamtkunstwerk, S. 9.
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2.3.3. Mythos, Masse, machtvolle Musik - Merkmale dionysischer Kunst Dass Nietzsche selbst sich später von der .Artistenmetaphysik" seines Frühwerks distanzierte und - wie in der Ablehnung des späten Wagners deutlich wird - überhaupt eine Skepsis gegenüber allen metaphysischen Wahrheiten äußerte, änderte nichts daran, dass er auch einer Mythisierung der Kunst den Weg ebnete. Die Suche nach einer sinnstiftenden und alles zusammenfassenden Einheit ist typisch für das 19. Jahrhundert, da sich das gesellschaftliche immer mehr in seine unterschiedlichen Bereiche wie Politik, Religion, Kunst oder Wirtschaft ausdifferenziert hatte. In der darstellenden Kunst ging der Blick vielfach zurück zu den Aufführungsformen der Antike, des Mittelalters oder des Barocks, die durch religiöse Weltanschauung geprägt waren. Vorbildlich erschienen z.B. die mittelalterlichen Mysterienspiele, die sich aus der christlichen Liturgie entwickelt hatten und als sinnliche Verkörperung von heilsgeschichtlichen Motiven kultische Gemeinschaftserlebnisse waren,229 sowie die Festspiele des Barock, bei denen sich Musik und Tanz, prunkvolle Architektur, schmuckvolle Kostümierung, Feuerwerke oder Wasserspiele miteinander verbanden, um feudale Strukturen zu feiern und zu repräsentieren. Trotz formaler Ähnlichkeiten besteht ein erheblicher Unterschied zwischen den historisch weiter zurückliegenden Theaterformen und den dionysischen Experimenten nach Nietzsche, da erstere eine bereits bestehende Ordnung ästhetisch nachvollziehen, während letztere ihre Motivation gerade aus der Verlusterfahrung einer solchen übergreifenden und bindenden Ordnung zogen und versuchen, die alles umfassende und bestimmende Instanz ästhetisch zu begründen. Das Bestreben vieler Nietzsche-Rezipienten ging in die Richtung, mit Hilfe der Kunst die verloren gegangene Einheit der Gesellschaft - und damit verbunden die Gemeinschaft zwischen den Menschen - wieder herzustellen. Insofern konnte zwar die griechische Tragödie aus dem Geist der Musik wiedergeboren werden, nicht aber die dionysische Kunst, denn die entstand, nachdem der Glaube an die Kraft der Religionen und Revolutionen erschüttert war. Dann erst konnte die Kunst jene überragende Bedeutung gewinnen, die ihr Nietzsche zuschreibt: Einheit zu schaffen und Sinn zu stiften. Die Sehnsucht nach einer erneuerten dionysischen Kunst entsteht als Reaktion auf ein Szenario, das die Gesellschaft in einer fundamentalen Krise wähnt. Die
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Wie sehr das Bühnengeschehen im mittelalterlichen Theater von der christlichen Lehre bestimmt wird, zeigt sich anhand von Beschreibungen zum Adamsspiel. Die Bühne ist aufgeteilt in die drei Bereiche Erde, Paradies und Hölle, wobei jeder Figur klar umrissene Spielflächen zugewiesen sind. Der religiöse Wert einer Figur ist an der räumlichen Nähe ihres Darstellers zu dem Schauspieler, der Gott verkörpert, abzulesen. Viele Gesten deuten zurück auf das Paradies, um den Ursprung allen Seins zu verdeutlichen. Der Gottesdarsteller stößt immer wieder zur Erde vor, aber erst nachdem der Messias gekommen ist, ist es ihm auch möglich, die Hölle zu betreten und zu besiegen. Somit haben Gestik, Choreographie und Raumaufteilung symbolische Funktionen, die den theologischen Sinn verdeutlichen und nachvollziehen. Das Spiel ist gänzlich eingebunden in den Zusammenhang christlichen Denkens, das alle Bereiche der mittelalterlichen Gesellschaft bestimmte. Vgl. dazu Thomas Kirchner: Raumerfahrung im geistlichen Spiel des Mittelalters. Frankfurt am Main, Bern, New York 1985.
Bindungen zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen und den Individuen, die sich im 19. Jahrhundert gelockert hatten, sollten wieder gestärkt, die vereinsamten Subjekte durch die Kunst wieder zu großen Gemeinschaften zusammengeführt werden. Solchermaßen als Krisenmanagement verstandene Kunst hat immer politische Implikationen, da sie versucht, eine allgemeingültige Weltsicht erfahrbar zu machen. Schon der Gedanke, dass sich nur in der Kunst das „wahre Leben" ausdrücken lässt, verrät die politische Bedeutung, die der Kunst zugeschrieben wird. Nicht zuletzt ist die Selbstermächtigung der Künstler auch als Fluchtbewegung vor der als unerträglich empfundenen Realität zu verstehen. „Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt,230 schreibt Nietzsche und vollzieht damit anknüpfend an Schopenhauer die „Identität von Kunst und Leben".231 Nur unter dieser Voraussetzung lässt sich nachvollziehen, warum Kunst dazu befähigt sein sollte, die Gesellschaft zu heilen, denn nur in der Kunst war das eigentliche Leben, von dem sich die Gesellschaft zu ihrem eigenen Schaden entfernt hatte, zu erfahren. An eine solche „grenzenlose" Kunst wurden grenzenlose Hoffnungen geknüpft: [...] Hoffnungen, den Abgrund zwischen Subjekt und Objekt zu überbrücken, einen Abgrund, den aufgerissen hatte, was Nietzsche den „Tod Gottes" nannte, einen Abgrund, den auch ausgefeilte transzendentale Denksysteme nicht mehr schließen konnten.232
Kunst sollte die Funktionen von Religionen übernehmen. Das Gesamtkunstwerk wird zum Gottesdienst [...] [eines] endsüchtigen Gottes, die „lebendig dargestellte Religion", der Kult der „neuen Religion", der „Religion der Zukunft". 233
Da, wo dieser „endsüchtige Gott" bereits erlöst und beerdigt wurde, tritt Schopenhauers blinder Weltwille an seine Stelle. Es ist charakteristisch für den religiösen Kern der dionysischen Kunst nach Nietzsche, dass sich die Urgewalt der Musik in mythische Geschichten entlädt. Im Mythos agieren ideale Helden statt Figuren, wird Geschichte in einen natürlichen, oft zyklischen Ablauf von Geschehnissen transferiert, die ihren Fluchtpunkt in der Ewigkeit haben.234 Mythen sind - zumindest ihrem Anspruch nach - menschen- und zeitenumspannend. Sie leben von der kollektiven Erinnerung und bedürfen keiner intellektuellen Auslegung, sie müssen nur allgemein bekannt sein. Um allgemein bekannt zu sein, müssen Mythen jedoch erst wachsen, sie werden in den kollektiven Performances der Aufführungen ständig neu geschaffen, und sie bedürfen immer wiederkehrender Rituale, um am Leben zu bleiben.235
230 231 232
233 234
235
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, S. 40. Hiß, Metaphysische Maschine, S. 141. Hiß: Das Gesamte, S. 115. Zur Bedeutung des Mythischen in der entzauberten Welt vgl. auch Jan Röhls: Der Mythos nach dem Tode Gottes. In: Borchmeyer, Wege des Mythos, S. 75-95. Marquard, Gesamtkunstwerk und Identitätssystem, S. 45. Vgl. Petra Hildegard Wilberg: Richard Wagners mythische Welt. Versuche wider den Historismus. Freiburg im Breisgau 1996, S. 72f. Vgl. Heiz, Satz zum Gesamtkunstwerk, S. 461 f.
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Im Ritus verbindet sich der Einzelne mit der Gesamtheit, um die Erfahrung des Unendlichen im Sinnlichen einzuüben. Leib und Blut Christi werden in der Kommunion zu Brot und Wein. Dionysische Gesamtkunst will das nachvollziehen: Wo die Bühne zum Tempel eines ästhetischen Traums wird und der Künstler zum Priester, wird die Handlung zu einem Ritual, an dem alle teilhaben können. Wie einst die Religionen versprechen die in der Kunst wieder auferstandenen oder neu geschaffenen Mythen „Heilung und Erlösung" 236 und schaffen so kollektive Identitäten. Dass ausgerechnet der Kunst - und speziell der synthetisch-dionysischen Kunst - die Funktion beschieden wurde, „neue Ordnungen und Heimaten zu schaffen", 237 bedeutete auch eine Abkehr von der Dominanz des Verstandes. Die intellektuelle Orientierung der Aufklärung mochte die Menschen aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit" 238 herausgeführt haben, die Sehnsucht nach metaphysischem Trost konnte sie nicht stillen. Im Sinne des jungen Nietzsches vermag das nur die Kunst, denn diese vermittelt unserer Wahrnehmung die übergeordnete Idee, sie macht transzendentale Erkenntnis mit Hilfe ihrer emotionalen und sinnlichen Qualitäten erfahrbar. In den von Nietzsche inspirierten Entwürfen ist es nicht die Sprache, die die Theaterkunst zu ihren außerordentlichen Wirkungen befähigen soll, sondern andere Bühnenmittel: Licht etwa (wie bei Appia), Choreographie und Bewegung, Rhythmus, Tanz und vor allem Musik: „Singend und tanzend äußert sich der Mensch" in der Gesamtkunst, das „Gehen und das Sprechen" hat er verlernt.239 Zentrale Bedeutung erhalten die synästhetischen Verfahren: „Düfte, Farben und Klänge antworten sich", zumindest in der Imagination. Solchermaßen werden die Sinne beansprucht, dass dem Verstand kaum Gelegenheit bleibt, sich einzuschalten: Synästhesie führt zum „Traum", ja zum „Delirium" 240 . Wo die Aufklärung kritische Distanz fordert, rückt die dionysische Kunst ihrem Publikum auf den Leib. Darüber hinaus rücken sich die Zuschauerinnen und Zuschauer gegenseitig auf den Leib. Die Gemeinschaft der weihevollen Festspiele entwickelt sich immer mehr zur Masse, die es nicht zulässt, dass sich Einzelne zurückziehen. Hatte Descartes die Trennung von Ich und Welt postuliert, so steht das Prinzip Dionysos für das Gegenteil ein: Im Mythos wird die Einheit von Subjekt und Welt zur Anschauung gebracht, im künstlerisch gestalteten Ritual wird sie körperlich nachvollzogen und durch die Masse manifestiert. Die Abkehr vom Rationalitätsprinzip in der Kunst mündet in dem Bestreben mit Hilfe von Kunst, körperliche Extremzustände zu erzeugen: vom „dionysischen Rausch" 241 ist die Rede, vom „Schleudern durch das
236 237 238
239 240 241
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Werner Hofmann: Gesamtkunstwerk Wien. In: Szeemann, Hang zum Gesamtkunstwerk, S. 85. Hiß, Das Gesamte, S. 117. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main, Wiesbaden 19561964, Bd. 6, S. 53. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 25. Vgl. E.T.A. Hoffmann: Kreislerania. In: Ders. Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 60. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 81.
Labyrinth der Sinnes Wahrnehmungen",242 von „religiöser Ekstase",243 vom „Freisetzen magischer Kräfte bis zur ekstatischen Selbstauflösung des Kollektivs".244 Überall steht der Körper im Zentrum der synästhetischen Attacken: „Die Metaphysik via Haut wieder in die Gemüter einziehen lassen"245 lautet der Kernsatz von Artauds Theaterprogramm, mit dem auch ein Grundzug des dionysischen Theaters gut beschrieben ist. Auch die Kehrseite des Projekts wird durch Artaud deutlich: Sein Theater ist das „der Grausamkeit". Zusammenfassend lassen sich vier Charakteristika des dionysischen Theaters festhalten, die auch im Verlauf meiner Studie die Grundlage für den Vergleich zum Komplex der Olympischen Spiele bilden. - Über den Mythos oder mythische Versatzstücke als sinngebende Einheiten wird ein Konzept von Einheit und Ganzheit vermittelt, das auf den vermeintlichen gesellschaftlichen Zerfall nach dem „Tod Gottes" und dem Verlust großer politischer Ordnungen bzw. Utopien reagiert. - Der Vereinsamung von Individuen begegnet dionysische Kunst mit dem Versprechen, große Gemeinschaften wieder zusammenzufuhren und Kollektive neu zu errichten. Das Individuum soll ideell im Gemeinschaftsgefühl und körperlich in der Masse aufgehen. Die Masse wird zum symbolischen Ausdruck des kollektiven Zusammenhalts und zum wirkungsvollsten Instrument der auf sinnliche Überwältigung abzielenden Kunst. - Mit der Wiederentdeckung ihrer emotionalen und sinnlichen Qualitäten (etwa der stimulierenden Wirkung von Musik und Rhythmus) wird Kunst zu einem Medium, das überwiegend körperlich erlebt wird und damit neue Erfahrungen in einer wenig sinnenfreudigen, abstrakten und sich industrialisierenden Umwelt ermöglicht. Das körperliche Erleben kann zum zügellosen Rausch führen. - Der Anspruch Grenzen zu überwinden und Kunst ins Leben zu überführen wird sinnfällig deutlich gemacht durch die Überwindung der Bühnenrampe. Bühne und Zuschauerraum sollen miteinander verschmelzen, Realität und Fiktion nähern sich aneinander an. 2.3.4 Dionysos in Olympia. Berührungspunkte von den Ursprüngen bis zur Gegenwart Wie in Kapitel 2.2 geschildert verfügt der moderne Sport über ein Potenzial, das Funktionen der dionysischen Kunst nach Nietzsche erfüllen kann. Das gilt um so
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Marinetti/Settimelli/Cona: Das futuristische synthetische Theater. In: Manfred Brauneck (Hg.): Theater im 20. Jahrhundert. Reinbek 1982, S. 92. Charles Baudelaire: Brief an Wagner, Paris, 17. Februar 1860, Ubersetzt von Franz von Rexroth. In: „Neue Zeitschrift fiir Musik", Mainz 1963, S. 171. Zitiert nach Hiß, Metaphysische Maschine, S. 141. So beschreibt Toni Stooss Alexander Skrjabins Kunstkonzept (Toni Stooss: Alexander N. Skrjabin. In: Szeemann, Hang zum Gesamtkunstwerk, S. 279). Antonin Artaud: Das Theater der Grausamkeit. Erstes Manifest·. In: Das Theater und sein Double, Frankfurt am Main 1969, S. 95f. Zitiert nach Hiß, Das Gesamte, S. 133.
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mehr für die Olympischen Spiele als weltweit größtem Sportspektakel, dessen Wurzeln ebenso wie des Theaters bekanntermaßen in die Antike reichen. In seinem Buch Ursprungszeiten des Theaters weist Theo Girshausen auf eine interessante Beziehung zwischen dem antiken Olympia und der Urform des griechischen Theaters hin: Nach Harrison346 bestehen direkte Verbindungen zwischen diesem Friihlingsritual und den olympischen Spielen einerseits, andererseits dem Dithyrambos und, Uber ihn, der Tragödie. Streben und Neuerstehen der Natur werden hier als Kampf feindlicher Mächte gegen den Jahresgeist dargestellt, der seinen Tod und seine Wiedergeburt umfaßt. Es ist dieser Kampf, der „agon", Uber den sich der athletische Wettkampf einerseits, der dramatische Konflikt andererseits entwickeln.247 Die besondere Entstehungsgeschichte Olympias und der griechischen Tragödie belegt die allgemeine Behauptung vom rituellen Ursprung des Sports wie des Theaterspiels. Auch wenn der technokratische Hochleistungssport nicht mehr an den Kampf gegen die feindlichen Mächte der Natur erinnert, so wiederholt doch jeder Wettkampf das mythische Erzählmuster vom Helden, der eine Aufgabe zu erfüllen hat, aus der er nur als Sieger oder Besiegter hervorgehen kann.248 Die neuzeitlichen Olympischen Spiele, von ihrem Gründer Baron Pierre de Coubertin auf dem geistigen Fundament der antiken Spiele errichtet, sind voll von Symbolen, die daran erinnern sollen, dass Sport mehr Mythos ist als bloßes Spiel: Olympisches Feuer, Olympischer Eid, Fahnen, Hymnen, Zeremonien und Siegerehrungen sorgen für einen Rahmen, der die Religiosität der antiken Spiele wieder beleben soll. Das erste und wesentliche Merkmal des alten wie des modernen Olympismus ist: eine Religion zu sein. Ich glaube daher recht gehabt zu haben, wenn ich mit der Erneuerung des Olympismus von Anfang an versuchte, ein religiöses Empfinden wieder zu erwecken, [...]. Daraus entstanden sind alle die Formen des Kults, aus denen sich das Zeremoniell der modernen Olympischen Spiele zusammensetzt.24® Wie für Coubertin, war auch für Richard Wagner das hellenische Erbe entscheidend. Das „Kunstwerk der Zukunft"250 sollte wie die griechische Tragödie eine zum „Kunstwerk gewordene religiöse Feier"251 sein. Demnach entstehen die Olympi-
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Gemeint ist die Antikenforscherin Jane Harrison. Vgl. auch ihr Buch: Themis. Α Study of the social origins of Greek Religion. London 1912/1927, Repr. London 1963. Theo Girshausen: Ursprungszeiten des Theaters. Das Theater der Antike. Berlin 1999, S. 208. Das Deutungsmuster vom Sport als mythischer Erzählung ist durchaus populär. Roland Barthes etwa beschrieb die Tour de France wie ein Epos, ein der griechischen Tragödie ähnliches mythisches Drama. Die Radfahrer sind Helden, die gegen Naturgewalten, feindliche Kräfte und die eigene Schwäche kämpfen und dabei von Gefährten und Helfern unterstutzt werden. Ihre Charaktere werden auf die wenigen Züge, die für das Epos wichtig sind, beschränkt (vgl. dazu Lenk, Achte Kunst, S. 14-22). Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 150. So der Titel von Wagners zweitem Teil der so genannten Züricher Schriften, in denen er die Theorie vom Gesamtkunstwerk niederlegt (vgl. Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. In: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 3, Leipzig, 3. Aufl., 1897, S. 42-178). Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 13 lf.
sehen Spiele der Neuzeit und das Wagnersche Gesamtkunstwerk aus demselben mythischen Bedürfnis. Der religiöse Charakter, den Wagner und Coubertin so hervorheben, ist entscheidend: Es war die Eingebundenheit des Sports und der Kunst in die rituellen Feste der Antike, die beiden so vorbildlich erschien. Dionysos ist der These Harrison folgend nicht nur der Urahn von Bayreuth, sondern auch vom modernen Olympia. Das dionysische Erbe macht das Ereignis Olympische Spiele für die Theaterwissenschaft interessant, zumal da die Geschichte der neuzeitlichen Olympischen Spiele ungewöhnlich erfolgreich ist. Während Massentheaterformen wie die Massenschauspiele der Russischen Revolution oder das Thingspiel Erscheinungen von wenigen Jahren waren, sind die neuzeitlichen Olympischen Spiele mehr als hundert Jahre alt und haben verschiedene Katastrophen, angefangen von schlechten Organisationen über Weltkriege bis hin zu finanziellen Verlusten und politischen Boykotten, überlebt. Auch bezogen auf Zuschauer- und Teilnehmerzahlen ist Olympia rekordverdächtig: Allein an der Eröffnungsfeier von Sydney 2000 nahmen 12.600 Darstellerinnen und Darsteller teil, die vor 110.000 Zuschauerinnen und Zuschauem im Stadion spielten. Vom Abschneiden der 10.500 Athletinnen und Athleten berichteten 21.000 Journalistinnen und Journalisten. 300.000 Zuschauerinnen und Zuschauer säumten die Strecke bei der Einzelentscheidung im Triathlon der Männer und insgesamt 3,7 Milliarden Menschen sollen die Ereignisse Olympias über den Femsehbildschirm verfolgt haben. 252 Auch John MacAloon, der die Richtigkeit der geschätzten TV-Einschaltquoten grundsätzlich bezweifelt, 253 kommt zu dem Schluss, dass etwa „die Hälfte der Weltbevölkerung mehr oder minder intensiv zumindest Bruchstücken der Sommerspiele beiwohnt". 254 Selbst in den Vereinigten Staaten, wo ein Olympiabewußtsein im Sinne einer sozialen Bewegung in der öffentlichen Kultur kaum in Erscheinung tritt und wo bestimmte, von Profis und Schulen betriebene Sportarten die Wahrnehmung und die Sprache beherrschen, bringen die Femsehübertragungen von den Olympischen Spielen die einzige je bei normalen Programmen gemessene Zuschauerschaft zusammen, die erwiesenermaßen genau der amerikanischen Demographie entspricht.255 Der Erfolg Olympischer Spiele macht sie auch zum weltweit größten Femsehspektakel. 1,3 Milliarden Dollar nahm das IOC durch den Verkauf der TV-Übertragungsrechte für die Spiele von Sydney ein, über 700 Kameras waren an den Schauplätzen aufgestellt; allein in Deutschland wurde 420 Stunden lang aus Sydney gesendet.256 Zusätzlich berichtete die Presse in sehr großem Umfang über Olympia, wurden Olympia-CDs und Olympia-Bücher verkauft, Olympia-Filme gedreht und zahlreiche Web-Seiten ins Internet gestellt, auf denen sich der User über die Wettkämpfe in-
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Alle Zahlen aus Ceme, Sydney 2000, S. 28,50, 152,162. Vgl. John MacAloon: Olympic Ceremonies as a Setting for Intercultural Exchange. In: Miquel de Moragas i Spä, John MacAloon und Montserrat Llin6s (Hg.): Olympic Ceremonies: Historical Continuity and Cultural Exchange. Lausanne, 1996, S. 32. John MacAloon: Intervalltraining. Haben die Olympischen Spiele universale Bedeutung? In: Gebauer, Utopie der Moderne, S. 158. Ebd. Vgl. Ceme, Sydney 2000, S. 152-155.
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formieren konnte. Intermedial vermarktet produzierten die Spiele von Sydney - wie alle Olympischen Spiele, spätestens seit Los Angeles 1984 - einen Bilderrausch, der an die „Lava der Bilderströme" erinnert, die Norbert W. Bolz als Folge der „neuen Kommunikationsverhältnisse" ausmachte. 257 Um Bolz' These von der dionysischen Beschaffenheit der technischen Medien zu überprüfen, eignen sich die Olympischen Spiele daher in zweifacher Hinsicht: Sie sind ein modernes „media event" und sie sind selbst dionysischen Ursprungs. Folgt man den Ausführungen von Bolz, so ist es kennzeichnend für die modernen Medien, dass Kommunikation nicht mehr über das herkömmliche SenderEmpfänger-Modell verläuft, da es nicht darum geht, Gedanken zu übermitteln. 258 In der dionysisch erregten Welt „am Ende der Gutenberg-Galaxis" sind die Bilder nicht als Symbole zu verstehen, sie sind keine Signifikanten mehr, sondern sie treten ein in die „reale Welt des Rauschens". 259 Diese physiologische Deutung des „MedienGesamtkunstwerks" deckt sich mit der bereits erwähnten These von Gumbrecht über das Wesen des modernen Sports: Sport produziert Präsenz, nicht Bedeutung. Sport ist auf der Seite des „Nicht-Darstellenden", „Nicht-Hermeneutischen", Sport ist kein Planet im „Universum der Mimesis". 260 Demnach müssten Olympische Spiele rauschhafte Ereignisse sein, die Emotionen produzieren und die Sinne der Zuschauer attackieren, Ereignisse die nicht darauf ausgelegt sind, verstanden zu werden, da ihr Bedeutungsgehalt gegen Null tendiert. Dies ist allerdings nur bedingt richtig. Gegen dieses einseitige Verständnis vom Wesen Olympischer Spiele - das ja selbst bereits wieder eine Interpretation ist und Olympia zu einem Symbol stigmatisiert - sprechen eine Reihe von Gründen: Zunächst hat Coubertin, wie im nächsten Kapitel ausführlich dargestellt wird, die Spiele mit einem Wertekanon versehen. Sport in seinem Denken war nicht spektakuläres Spiel oder reine Körperertüchtigung, sondern es sollte den Individuen neue Sinnzusammenhänge eröffnen. Sport sollte eine Praxis sein, die auf das Leben in der Moderne vorbereitete, indem sie die Bedeutung des Konkurrenzprinzips, der selbständig erbrachten Leistung, des fairen Umgangs miteinander und des Glaubens an den Fortschritt exemplarisch vorführte. Insofern waren Olympische Spiele gedacht als „Mimesis der sozialen Praxis der Moderne". 261 Zweitens zeugen gerade die „schwarzen Flecke" in der olympischen Geschichte - die Propagandaspiele in Berlin 1936, die Geiselnahme der israelischen Sportlerinnen und Sportler in München 1972, die Boykottspiele 1980 und 1984 - welche immense politische Bedeutung den Olympischen Spielen beigemessen wird. Die vermeintlichen olympischen Ideale wie Frieden und Völkerverständigung sind zwar vage formuliert und haben für die olympische Praxis auch keine unmittelbare Bedeutung, sie schaffen aber doch einen ideologischen Überbau, der es zumindest ermöglicht einen jenseits der olympischen Welt gelagerten Sinn anzunehmen. 257 258 259 260 241
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Bolz, Ende der Gutenberg-Galaxis, S. 163. Vgl. ebd.. S. 27. Bolz, Abschied von der Gutenberg-Galaxis, S. 142. Gumbrecht, Schönheit des Mannschaftssports, S. 205f. Thomas Alkemeyer: Die Wiederbegründung der Olympischen Spiele als Fest einer Bürgerreligion. In: Gebauer: Utopie der Moderne, S. 72.
Drittens sind es gerade die sehr sprechenden Symbole wie die Olympischen Ringe oder das Olympische Feuer, die zur weltweiten Verbreitung Olympischer Spiele beigetragen haben. Diese Symbole sind durch ihren häufigen Gebrauch unmittelbar verständlich. Sie müssen nicht interpretiert werden, sie selbst sind Olympia. Viertens schaffen die Eröffnungs- und Schlussfeiem einen institutionellen Rahmen, der voll von darstellenden Momenten ist, die es zu entschlüsseln gilt. Damit sind weniger die rituellen Bestandteile wie das Entzünden des Olympischen Feuers, der Schwur des Eides oder der Einmarsch der Nationen gemeint, sondern der jeder Eröffnungsfeier eigene „künstlerische Teil", der die kulturellen Eigenarten der Gastgebemation vorstellt und das Motto der Spiele präsentiert. Daher ist es für das Gelingen der olympischen Veranstaltung von großer Bedeutung, dass die Metaphern der Eröffnungsfeiern richtig verstanden werden.262 Folgerichtig sind die Zeremonien durchaus im Universum der „Mimesis" anzusiedeln, und gerade sie haben zentrale Bedeutung für die olympische Bewegung, denn sie machen aus dem Sport-Event Olympia ein kulturelles Fest, das Olympia von einer bloßen Aneinanderreihung von Weltmeisterschaften unterscheidet. Darin liegt der Erfolg der olympischen Bewegung begründet, was sich auch in der Tatsache widerspiegelt, dass die Eröffnungsfeiern mit Abstand größere Zuschauerzahlen im Femsehen erreichen als jeder der Olympischen Wettkämpfe.263 Dem Anspruch nach will Olympia mehr sein als ein rauschhafter Bildersturm. Demnach ist auch das synästhetisch-überwältigende Arsenal von Inszenierungsmethoden der Medienübertragungen und Eröffnungsfeiern Olympischer Spiele nur ein Aspekt bei der Betrachtung des „dionysischen Olympia". Ein weiterer betrifft die mythischen Wurzeln, den ideologischen Überbau, den Coubertin den Olympischen Spielen verlieh analog zur Kunst- und Gesellschaftsutopie Richard Wagners: Individuen beinahe therapeutisch über gemeinsame sinnliche Erfahrungen zu Kollektiven zusammenzuschließen. Es gibt eine Vielschichtigkeit an Berührungspunkten, die sich in den ausgewählten vier Analysebeispielen - Coubertins Idee, Olympische Eröffnungsfeier, Riefenstahls Olympiafilm, moderne Fernsehinszenierungen wieder finden. Olympia lässt die Tradition des Dionysischen in verschiedenen medialen Ausprägungen erkennen und nachvollziehen.
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Das Beispiel der Eröffnungsfeier von Seoul 1988 illustriert die Bemühungen um Verständlichkeit: „Das gute Hundert koreanischer Akademiker, Kulturspezialisten und Künstler, die diese Zeremonien geschaffen hatten", suchten „in ihren fünf Jahren hitziger Beratungen nach der einen, die ganze Herausforderung in sich beschließenden Metapher. Sie wählten Die Mauer. [...] Die Produzenten waren sich in höchstem Maße der Tatsache bewußt, daß es ihre Aufgabe war, die koreanische Kultur auf eine Weise zu verkörpern, die sie international vermittelbar machte, ohne doch dem westlichen Orientalismus Vorschub zu leisten, im Inland plausibel und doch auf einer höchst untraditionellen, spektakulären High-Techund Massenmedienbühne aufführbar. Ihre interkulturell heroischen Anstrengungen trugen ihnen eine allgemein positive öffentliche Kommentierung im Westen ein, konnten jedoch nicht verhindern, daß ein Kausalbezug zu bunter Folklore und östlichem Mystizismus hergestellt wurde" (MacAloon, Intervalltraining, S. 163f.).
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MacAloon, Olympic Ceremonies, S. 30.
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3. Von Bayreuth nach Olympia. Vergleich von Wagners und Coubertins Programmen
Die Wiedereinführung der modernen Olympischen Spiele am Ende des 19. Jahrhunderts ist zwar Ausdruck eines erwachten Körperinteresses der Epoche, vor allem aber das Werk Pierre de Coubertins. Coubertin war nicht nur ein geschickter Organisator, sondern auch ein Idealist. Er verlieh den Spielen einen Wertekanon, der die Spiele bis heute prägt, und entwarf - inspiriert von seiner Bayreuth-Erfahrung - ein ästhetisch-bombastisches Zeremoniell, um seiner Olympischen Idee zu Aufmerksamkeit und Wirksamkeit zu verhelfen. Das folgende Kapitel zeigt die ideelle und formelle Nähe zwischen dem Sportprogramm Coubertins und dem Kunstprogramm Richard Wagners und beginnt mit einer Analyse von Wagners Züricher Schriften.
3.1. Das „rein menschliche" Gesamtkunstwerk. Wagners Kunstprogramm aus den Züricher Schriften In jenem Sommer hörte ich in Bayreuth Wagners tief ergreifende Klänge und hatte die Möglichkeit, meine Eindrücke zu sammeln und in Ruhe den olympischen Horizont zu untersuchen. Musik und Sport sind für mich immer die vollkommensten „Isolatoren" gewesen. Sie wirkten befruchtend auf Verstand und Phantasie [...], waren richtige „Willensmassagen".'
Der Schatten Wagners ist lang. Beeindruckt von der Wirkung seiner Werke zeigte sich nicht nur die dekadente KUnstleijugend, wie man angesichts von Nietzsches Wagner-Kritik meinen könnte, sondern auch pädagogisch orientierte Aristokraten wie der französische Baron Pierre de Coubertin. Coubertin bewunderte Wagners Werk aufgrund der mächtigen Wirkung, die er auf Olympia übertragen wollte, und die Erneuerung, die es für die Kunst bedeutete. Was ihn jedoch darüber hinaus mit Wagner verbindet, ist die Ähnlichkeit der Programme, die dem verhassten Leben in der Moderne entgegengesetzt werden. Im Folgenden soll daher Wagners Kunstprogramm, wie er es in den Züricher Schriften niedergelegt hat, dargestellt werden. Die Kunst und die Revolution, Das Kunstwerk der Zukunft sowie Oper und Drama lassen sich verstehen als thematische Begleittexte zu Wagners Bühnenwerken,2 insbesondere den im Anschluss entstanPierre de Coubertin: Olympische Erinnerungen. Hg. und eingeleitet von Carl Diem, 2. Aufl. Berlin 1959, S. 70. Vgl. Michael Lingner: Der Ursprung des Gesamtkunstwerks aus der Unmöglichkeit absoluter Kunst. Zur Typologisierung von Philipp Otto Runges Universalkunstwerk und Richard Wagners Totalkunstwerk. In: Szeemann: Hang zum Gesamtkunstwerk, S. 52.
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denen Ring. Sie sind somit grundlegend für das Verständnis eines „Gesamtkunstwerk"-Begriffs, wie er mit Wagners Namen assoziiert wird. Allerdings muss einschränkend festgestellt werden, dass Wagner selbst nicht bei der frühen Programmatik stehen geblieben ist. Der Beethoven-Aufsatz etwa ist ein Beispiel dafür, wie durch die Schopenhauer-Rezeption eine Neubewertung der Musik erfolgt, durch die sich die alte Wagnersche Forderung der Gleichrangigkeit aller Kunstformen nicht weiter aufrecht erhalten lässt. Im Vordergrund der Betrachtung steht jedoch das Programm der Züricher Schriften, da es nicht darum geht, eine umfassende Analyse oder Neuinterpretation von Wagners Schaffen vorzunehmen, sondern seine Bedeutung, die er für die Geschichte des Gesamtkunstwerks und vor allem für die Ausgestaltung der Olympischen Spiele hat, zu skizzieren. 3.1.1. Luxus, Mode, Künstlichkeit. Wagners Weltsicht Als Ende Juli 1849 Wagner in Zürich seine Abhandlung Die Kunst der Revolution niederschreibt, ist es gerade zwei Monate her, dass er aus Dresden fliehen musste. Er hatte sich als Flugblattverteiler und Bote aktiv am Dresdener Maiaufstand beteiligt und gehörte zu den steckbrieflich gesuchten Revolutionären. 3 Mit der Arbeit an seinen Schriften verlagert sich der Wirkungskreis endgültig von der Straße auf die Kunst. Nach dem Scheitern der Revolution ruhen nun alle Hoffnungen auf der Kunst als „sozialem Produkt". 4 Kunst ist weder abgeschieden vom Leben, noch dient sie zur Unterhaltung oder Zerstreuung, sondern Kunst ist der Ort, an dem die Gesellschaft beginnen kann, sich zu regenerieren, um sich schließlich ganz zu revolutionieren. Dass die Gesellschaft, in der er lebte, therapiebedürftig war, daran ließ der .Polemiker Wagner" 5 keinen Zweifel. Angewidert zeigt er sich von Geldgier, .jüdischem" Utilarismus, 6 der „lächerlichen Mode" 7 seiner Zeit und dem Luxus, der ihn umgibt. Unser Gott ist das Geld, unsere Religion der Gelderwerb [...]' schreibt der notorisch verschuldete Musikdramatiker und bemerkt, dass der Mensch, von „Bankiers und Fabrikbesitzern" 9 dazu gezwungen, den Sinn des Daseins in der
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Martin Gregor-Dellin: Richard Wagner - die Revolution als Oper. München 1973, S. 32. Man kann das Argument auch umdrehen. Wagner war solange Revolutionär, wie er hoffen konnte, durch die Revolution Zustände zu schaffen, unter denen sich die „wahre Kunst" verwirklichen ließ. Dafür spricht, dass nicht nur die Revolution, sondern genauso auch „ein einziger vernünftiger Entschluß des Königs von Preußen für sein Operntheater", alles wieder „in Ordnung" bringen kann (vgl. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 47f.). Barry Millington (Hg.): Das Wagner Kompendium: Sein Leben - seine Musik. München 1996, S. 111. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 127. Ebd., S. 57. Richard Wagner: Die Kunst und die Revolution. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 28. Ebd., S. 27.
Suche nach dem täglichen Brot zu sehen, unfrei ist.10 Industrie und Nützlichkeitsdenken haben nicht nur den Arbeiter entfremdet, sondern den Menschen an sich. Ausdruck dieser Entfremdung sei die Lust, „unnöthige Bedürfnisse" zu befriedigen, kurz der Luxus. Und dieser Teufel, dies wahnsinnige Bedürfnis ohne Bedürfnis, dies Bedürfnis des Bedürfnisses, - dies Bedürfnis des Luxus, welches der Luxus selbst ist, - regiert die Welt; es ist die Seele dieser Industrie, die den Menschen tödtet, um ihn als Maschine zu verwenden; die Seele unseres Staates, der den Menschen ehrlos erklärt, um ihn als Unterthan wieder zu Gnaden anzunehmen; die Seele unsere deistischen Wissenschaft, welche einem unsinnigen Gotte, als dem Ausflusse alles geistigen Luxus, den Menschen zur Verzehrung vorwirft; er ist - ach! - die Seele, die Bedingung unserer - Kunstl -" Wo das Streben nach Geld und Besitz Selbstzweck wird und nicht dazu dient, die elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, ist es unnatürlich und egoistisch, wie die Gesellschaft, in der Wagner sich wähnt. Was „das Leben der Gegenwart" darüber hinaus auszeichnet, ist die „Herrschaft der Abstraktion",12 durch die die Kunst in ihrer Entfaltung gehindert wird. Insbesondere das Christentum, so Wagner, habe die Kunst zerstört, da es die Sinnlichkeit aus dem öffentlichen Leben vertrieben habe, denn nach der christlichen Lehre sei die Welt der Sinne der Bereich des Teufels. 13 Das Christenthum ist rein geistigen, ja übergeistigen Gehaltes; es predigt Demuth, Entsagung, Verachtung alles Irdischen und in dieser Verachtung - Bruderliebe.14 Ebenso suspekt wie die Sinnenfeindlichkeit des Christentums ist ihm die Überbewertung des Geistes durch Philosophie und Wissenschaft, schon allein deshalb, weil jede gedankliche Abstraktion zunächst auf sinnlicher Wahrnehmung beruht.15 Das „Lebensfeindlichste überhaupt"16 ist demnach die Wissenschaft, der er vorwirft, sich an Begriffen und nicht an der natürlichen Erscheinung der Dinge zu orientieren. Absolut gegen den Rationalitätsmythos Descartes' gerichtet ist beispielsweise folgende Replik: Ist der Geist an sich die Notwendigkeit, so ist das Leben das Willkürliche, ein phantastisches Maskenspiel, ein müssiger Zeitvertreib, eine frivole Laune, ein „car tel est notre plaisir" des Geistes; so ist alle rein menschliche Tugend, vor Allem die Liebe, etwas nach Gutbefinden Deutbares und gelegentlich zu Verneinendes; [...], so ist der Reichtum der Natur das Unnöthige, die Auswüchse der Kultur aber sind das Nöthige, so ist das Glück der Men-
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Wagners Sozialismus erscheint nicht ganz uneigennützig, bedenkt man seine Lage als Künstler. Wo Menschen ihre Lebensaufgabe in der Arbeit sehen müssen, bleibt wenig Zeit und Geld, sich mit Kunst zu beschäftigen. Dementsprechend schlecht ist auch die Stellung der Künstler in der Gesellschaft. Schließlich mündet Wagners Sozialismus auch in einem elitären Sozialismus, in die Idee einer „Gesellschaft von Gleichen, unter denen die Intellektuellen und Künstler immer noch etwas gleicher sind." In: Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 38. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 49. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 55. Vgl. Wagner, Kunst und Revolution, S. 14f. Ebd., S. 36. Vgl. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 55. Hiß, Das Gesamte, S. 119.
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sehen Nebensache, der abstrakte Staat aber Hauptsache; das Volk der zufällige Stoff, der Fürst und der Intelligente aber der nothwendige Verzehrer dieses Stoffes."
Deutlich werden die Gegensatzpaare, mit denen Wagner operiert: Geist und Sinnlichkeit, Kultur und Natur, Fürst und Volk, Luxus und Bedürfnis, Mode und künstlerische Wahrheit. Allerdings steht die Kunst seiner Zeit eben nicht im Gegensatz zur Künstlichkeit der Gesellschaft. Genau darunter leidet Wagner. Er sieht das Theater als Spiegelbild der Öffentlichkeit. Als solches hat es sich der Industrie unterworfen und ist eine unglückliche Liaison mit dem Kapital eingegangen. Vom Großteil der zeitgenössischen Künstler hält Wagner wenig: Sie seien zu sehr auf Ruhm und Geld aus und könnten nicht die Nachfolge von Genies wie Shakespeare oder Beethoven antreten. Was daher auf der Bühne zu sehen ist, nennt Wagner die „Blüthe der Fäulnis".18 Der modernen Teilung der Arbeit, dem Zerfall der humanistischen Universalbildung und der verloren gegangenen Totalität des Menschen entspricht das Spezialistentum der Künstler." Der Egoismus der Gesellschaft hat auch die Kunst ergriffen, sinnbildlich nachzuvollziehen in der Zersplitterung der Künste, insbesondere in der Trennung von Oper und Schauspiel. Wesen und Erscheinungsbild der zeitgenössischen Oper sind daher Zielscheibe Wagners heftiger Kritik. In Wagners Schilderungen erscheint die Oper als degeneriertes Kunstprodukt. Trotz der polemischen Pointierungen geben die Attacken auch ein realistisches Bild von der Oper des 19. Jahrhundert wieder. Der Opernbesuch war zu einem gesellschaftlichen Ereignis der Elite geworden, in dem der künstlerische Gehalt eine untergeordnete Rolle spielte. Die Welt der Oper stand paradigmatisch für „die Welt der Philister und ihre Verehrung von Luxus und Mode".20 Die Aufführung kreist nicht um das künstlerische Werk als Ganzes, sondern um das Virtuosentum der Sänger, das in komplizierten Arien erprobt und vorgeführt wurde. Was Wagner der modernen Oper vorwarf, war [...] die „Hohlheit und Nichtigkeit" der „dramatischen Absicht", die ihr zugrunde lag [...]. Die Wahl eines historischen statt eines mythischen Stoffs, einer Staatsaktion statt eines „rein menschlichen Dramas" hat zur Konsequenz [...], daß die Gefühle der handelnden Personen verarmt und in Konvention befangen erscheinen, statt zu natürlichem, unverstelltem Ausdruck zu kommen. Dadurch aber ist die Musik - die primär Gefühlsausdruck ist - ihrer Begründung und ihres ästhetischen Daseinsrechts beraubt; und sie muß durch „dramatisches" Gebaren, gleichsam durch Gestikulieren, ersetzen, was ihr an dramatischer Motivierung fehlt.21
Effekthascherei bestimmte die Wahl der Bühnenmittel. Das wirkte sich auf die Hörund Sehgewohnheiten aus, wie Wagner befand:
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Ebd., S. 56. Wagner, Kunst und Revolution, S. 20. Vgl. Dieter Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners. Idee - Dichtung - Wirkung. Stuttgart 1982, S. 13. Millington, Wagner-Kompendium, S. 163. Carl Dahlhaus: Wagners Konzeption des musikalischen Dramas. München, Kassel, Basel, London, New York, 1990, S. 16f.
Das Publikum unserer Theater hat kein Bediirfniß nach dem Kunstwerke; es will sich vor der Bühne zerstreuen, nicht aber sammeln und dem Zerstreungssüchtigen sind künstlerische Einzelheiten, nicht aber die künstlerische Einheit Bediirfniß.22
Während sich die meisten Komponisten seiner Zeit auf den Publikumsgeschmack eingerichtet hatten und dementsprechend schrieben, wollte Wagner die Oper reformieren und suchte in bewusstem Gegensatz nach einem Programm fur die Ewigkeit, für das echte Leben, das auch der Natur huldigt. Dieses Programm fand er zunächst im antiken Griechenland, in der Kunst und Feier der attischen Tragödie. 3.1.2. Das Vorbild: Das Theater des antiken Griechenlands Idealistisch verklärt Wagner das antike Theater und hebt es von dem Bühnenleben seiner Zeit ab: Die öffentliche Kunst der Griechen, wie sie in der Tragödie ihren Höhepunkt erreichte, war der Ausdruck des Tiefsten und Edelsten des Volksbewußtseins: das Tiefste und Edelste unseres menschlichen Bewußtseins ist der reine Gegensatz, die Verneinung unserer öffentlichen Kunst. Dem Griechen war die Aufführung einer Tragödie eine religiöse Feier, auf ihrer Bühne bewegten sich Götter und spendeten den Menschen ihre Weisheit: unser schlechtes Gewissen stellt unser Theater selbst so tief in der öffentlichen Achtung, daß es die Angelegenheit der Polizei sein darf, dem Theater alles Befassen mit religiösen Gegenständen zu verbieten, was gleich charakteristisch ist für unsere Religion wie für unsere Kunst. In den weiten Räumen des griechischen Amphitheaters wohnte das ganze Volk den Vorstellungen bei; in unseren vornehmen Theatern faulenzt nur der vermögende Theil desselben.23
Was Wagner so am griechischen Theater fasziniert, ist der hohe Stellenwert, den es in der antiken Gesellschaft besaß. Es mag mit dem Wunschdenken des beim Verfassen der Schriften noch gescheiterten Künstlers zusammenhängen, dass Wagners Bild der Antike teilweise vom erträumten Ideal seines Kunstwerks der Zukunft bestimmt wird. Er projiziert seine ästhetische Utopie rückblickend auf die attische Tragödie und sieht sie darin verwirklicht. Entscheidend ist jedoch nicht die absolute historische Stimmigkeit seiner „Geschichtsspekulationen",24 sondern das daraus resultierende Kunstmodell, dem Wagner nacheifert. Er sieht das Schauspiel der Griechen als „religiösen Akt" oder genauer als zum „Kunstwerk gewordene religiöse Feier".25 Die ernst genommene Religiosität der Dramen bündelte alle Kräfte des Theaters zur Darstellung des metaphysischen Gehalts, sie schafft die Einheit, die in der modernen, auf Effekte zielenden Oper nicht möglich ist. Der ideale Ausdruck des göttlichen Wesens sollte dargestellt werden, der Geist des „schönen, aber starken" Apollo wurde in der Kunst wiedergeboren, [...] wenn die Stimme, voll und tönend, zum Chorgesang sich erhob, um zugleich des Gottes Thaten zu singen und den Tänzern den schwungvollen Takt zu dem Tanze zu geben,
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Richard Wagner: Oper und Drama. In: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 1. Teil, Bd. 3, 3. Aufl. Leipzig 1897, S. 222-320; 2. u. 3. Teil, Bd. 4, 3. Aufl. Leipzig 1898, S. 1-229. Hier: Bd. 4, S. 225 (Hervorhebungen im Original). Wagner, Kunst und Revolution, S. 23f. Hiß, Das Gesamte, S. 119. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 131 f.
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der in anmuthiger und kühner Bewegung jene Thaten selbst darstellte; wenn er (der Athener, d. Vf.) auf harmonisch geordneten Säulen das edle Dach wölbte, die weiten Halbkreise des Amphitheaters über einander reihte, und die sinnigen Anordnungen der Schaubühne entwarf. Und so sah ihn, den herrlichen Gott, der von Dionysos begeisterte tragische Dichter, wenn er allen Elementen der üppig aus dem schönsten menschlichen Leben, ohne Geheiß, von selbst und aus innerer Naturnotwendigkeit aufgesproßten Künste, das kühne, bindende Wort, die erhabene dichterische Ansicht zuwies, die sie alle wie in einen Brennpunkt vereinigte, um das höchste erdenkliche Kunstwerk, das Drama, hervorzubringen.26 Alle Kunstformen kamen im griechischen Drama zusammen, mit dem Ziel Apollo zu feiern und ihn zu erhöhen. Da sie sich alle dem Gesamtzweck des Dramas unterordneten, waren „Tanz-, Ton- und Dichtkunst" in der musike noch die „dreieinigen Schwestern". 27 Aufgrund der Verbindlichkeit des religiösen Überbaus versteht Wagner die griechische Tragödie als Volkskunst. In Gestalt des Chores hatte das Volk seinen metaphorischen Platz auf der Bühne 28 und im Publikum sollte es sich vollständig versammeln, um den Schauspielen beizuwohnen. Trotz der Größe der griechischen Amphitheater blieb der letzte Punkt wohl nur eine Idealvorstellung. Allerdings beinhaltet sie einen realistischen Kem, da der Besuch der Aufführungen zugleich politisches Recht und moralische Pflicht der Bürger war und zudem die künstlerische Erziehung der Griechen das Volk für die Kunst der Tragödie begeisterte. Wagner gibt an, es sei den Griechen „höchster Genuß" 29 gewesen, am Schauspiel selbst mitzuwirken. Ohnehin war das Volk Mitschöpfer der Tragödien, denn die mythischen Inhalte, die in den Dramen zur Anschauung gebracht wurden, entstanden - wie alle Mythen und Märchen - aus dem Volk: Das Volk, das im Anfange sein Staunen Uber die weithin wirkenden Wunder der Natur in den Ausrufen lyrischer Ergriffenheit äußert, verdichtet, um den staunenerregenden Gegenstand zu bewältigen, die weitverzweigte Naturerscheinung zum Gott, und den Gott endlich zum Helden.30 Wenn der Kern der Tragödien also dem Volk zuzuschreiben ist, dann ist auch die Annahme berechtigt, dass die Tragödien dem Volksempfinden entsprachen, zumindest so lange wie die griechische Polis die ideale Gemeinschaftsordnung darstellte, als die sie von Wagner gern gesehen wurde, eine Gesellschaft in der sich die Individuen selbstverständlich und uneigennützig dem Gemeinwesen und dem gemeinschaftlichen Sinn unterordneten. Volkskunst kann nur dort gedeihen, wo ein kollektiver Zusammenhalt des Volkes existiert. Zerbricht dieser Zusammenhalt, so zerbricht zwangsläufig auch die Kunst. Demnach verlor das antike Theater seine Bedeutung, als sich der „Gemeingeist in tausend egoistische Richtungen zersplitter-
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Wagner, Kunst und Revolution, S. 10. Wagner meint mit der Vokabel Drama immer die Theaterauffilhrung, nicht das niedergeschriebene Stück. In diesem Sinne wird der Begriff auch während des gesamten Wagnerkapitels benutzt. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 102. Wagner, Oper und Drama, 1. Teil, S. 268. Wagner, Kunst und Revolution, S. 24. Wagner, Oper und Drama, 1. Teil, S. 268.
te".31 So lautet Wagners Diagnose im Abstand von mehr als 2000 Jahren zum Verfall der attischen Tragödie. Die Bliithe der Tragödie dauerte genau so lange, als sie aus dem Geiste des Volkes heraus gedichtet wurde, und dieser Geist eben ein wirklicher Volksgeist, nämlich ein gemeinsamer war. Als die nationale Volksgenossenschaft sich selbst zersplitterte, als das gemeinsame Band ihrer Religion und ureigenen Sitte von den sophistischen Nadelstichen des egoistisch sich zersetzenden athenischen Geistes zerstochen und zerstückt wurde, - da hörte auch das Volkskunstweric auf [.. ,]32
Und wo die Künste vorher durch den gemeinschaftlichen Sinn gebunden waren, löst sich nun das Drama in seine Bestandteile auf: [...] Rhetorik, Bildhauerei, Malerei, Musik usw. verließen den Reigen, in dem sie vereint sich bewegt hatten, um nun jede ihren Weg für sich zu gehen, sich selbständig, aber einsam, egoistisch fortzubilden.33
Wagner fand in der Antike all das, was er in der Gegenwart vermisste und richtete den Blick auf das Kunstwerk der Zukunft, in welchem die Kunst der Griechen „von Neuem geboren"34 werden sollte. Zwar knüpft das Kunstwerk der Zukunft am griechischen Vorbild an, aber es geht noch darüber hinaus, indem es aus der hellenischen Kunst eine „allmenschliche Kunst"35 machen will. Umfaßte das griechische Kunstwerk den Geist einer schönen Nation, so soll das Kunstwerk der Zukunft den Geist der freien Menschheit über alle Schranken der Nationalitäten hinaus umfassen. 36
Wagner will den Kern des antiken „Gesammtkunstwerks"37 retten und für die Menschheit nutzbar machen. Im Vergleich zum von ihm selbst gewählten historischen Vorbild geht er jedoch den umgekehrten Weg. Hatte sich die attische Tragödie aus einer funktionierenden Gesellschaft entwickelt, soll nun das Kunstwerk der Zukunft den Gemeinsinn unter den Menschen wieder herstellen und eine in sich intakte Gesellschaft formen. Kunst ist in der Lage, einen „Volksstaat des Glücks und der Gerechtigkeit"38 zu formen, einen Staat, der durch Kunst seinen inneren Zusammenhalt erhält, eine Republik, in welcher der kostenlose Theaterbesuch zum Zeichen für die Erlösung des Volkes wird. Alle künstlerischen Bemühungen kumulieren darin, das Volk, welches Wagner nur sehr vage beschreibt, zu seinem Recht zu führen. Es ist die höchstmögliche Aufgabe, die Wagner an die Kunst stellt: „Das Kunstwerk ist die lebendig dargestellte Religion".39 Und es ist die höchstmögliche Selbstermächtigung, die darin zum Ausdruck kommt: Der Künstler wird zum Priester.
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Wagner, Kunst und Revolution, S. 12. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 105. Wagner, Kunst und Revolution, S. 29. Ebd., S. 29. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 62. Wagner, Kunst und Revolution, S. 30. Ebd., S. 12. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 50. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 63.
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Fest beharrt Wagner auf den Wirkungsanspruch von Kunst. 40 Dieses idealistische Kunstverständnis paart sich jedoch mit positivistischem Gedankengut. Viele Überlegungen in den Züricher Schriften kreisen darum, wie Kunst ihren Wirkungsanspruch behaupten, wie sie die höchstmögliche Wirkung erzielen kann. Anders ausgedrückt: Für Wagner war „Metaphysik ohne empirisches Korrelat nichtssagend". 41 3.1.3. Mythos, Festspiel, Kunstreligion. Die bindende Kraft des Kunstwerks der Zukunft Der Zweiseitigkeit von Wagners Kunsttheorie entsprechend ist auch seine Vorstellung vom Kunstwerk der Zukunft als „Religion der Allgemeinsamkeit" 42 doppeldeutig zu verstehen. Zum einen unterstreicht sie den Absolutheitsanspruch, der der Kunst auferlegt wird. Im Zeichen des religiösen Verfalls und der „Entzauberung der Welt" durch den technischen Fortschritt soll Kunst die Funktion der Religion übernehmen: Ihr ist es vorbehalten, [...] den Kem der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche die erstere im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werthe nach erfaßt, um durch ideale Darstellung derselben, die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen.43 Nicht Exegese, sondern sinnlich-lebendige Darstellung bringt die Wahrheit des Mythos hervor. So verstanden rücken die Theateraufführungen in die Nähe ritueller Handlungen. Das Drama ist die künstlerische Vollendung des Mythos, nur durch das Drama ist der Mythos sinnlich erfahrbar. Kunst ist ideale Religion. Sie weckt - im Gegensatz zur Praxis des Christentums - echte religiöse Empfindungen und bewahrt die Gesellschaft so vor dem Auseinanderfallen. Zum anderen hat die Gleichsetzung der Kunst mit Religion auch eine pragmatische Seite, da sie das Konzept eines gesellschaftlich wirkungsvollen Gesamtkunstwerks umsetzt: Die entscheidende Frage für die Entwicklung eines solchen Gesamtkunstwerks versuchte Wagner auf folgende Weise zu beantworten: Wenn das künstlerische Tun durch das Gesamtkunstwerk vor der Auflösung in nichtssagendes, technisch leeres Virtuosentum bewahrt werden sollte, indem es dem Publikum gegenüber wieder einen umfassenden Anspruch von Wirkung erhob, konnte diese Wirkung nur erzwungen werden, insoweit das Publikum als Publikum eine Rolle im Konzept des Gesamtkunstwerks übernahm. Das Publikum mußte auf die gleiche Weise zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen werden, wie die spezialisierten Künsüer für das Gesamtkunstwerk zu vereinigen waren. Die Gemeinschaft der als Publikum am Gesaratkunstwerk Beteiligten konnte nur erreicht werden, wenn das Publikum wie die Künstler einem verpflichtenden Weltbild unterworfen würden.44
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Vgl. Brock, Hang zum Gesamtkunstwerk, S. 25. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 150. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 63. Richard Wagner: Religion und Kunst. In: Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 10, 3. Aufl., Leipzig 1897, S. 211. Brock, Hang zum Gesamtkunstwerk, S. 25f.
Um ein verpflichtendes Weltbild in die Kunst zu integrieren, greift Wagner auf den Mythos zuriick. Der Sinn des Mythos liegt in seinem überindividuellen Gehalt und seiner kollektiven Verständlichkeit. Wagner betrachtet Mythen als „Werke der Volksphantasie", als „kommunistische Kräfte". 45 Obwohl alleiniger Schöpfer seiner Musikdramen sieht er programmatisch das Kunstwerk der Zukunft als gemeinsame Tat der Menschen an: Keiner war ein Genie, weil es alle waren.46 Zum Ausdruck kommt der utopische Gedanke eines Schöpfer-Kollektivs. Vielfach redet Wagner von einer „Genossenschaft der Künstler", 47 womit er einerseits die Aufhebung des Spezialistentums einfordert, andererseits aber schlicht das Volk meint. Alle großen Erfindungen, sagt Wagner, seien die „Thaten des Volkes", nicht der „Intelligenten": 48 Staat, Sprache, Religion. Und so soll auch das Kunstwerk der Zukunft nicht die „willkürlich mögliche That des einzelnen" sein, sondern das „nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft". 49 Wagner wird geahnt haben, dass eine solche Forderung Utopie bleiben muss und sich nicht in die Praxis umsetzen lässt. Volkskunst entsteht nicht, wenn die Massen 50 die Theaterbühne stürmen, sondern wenn der Künstler sich der Mythen bedient, die aus dem Volk entstanden sind, und auf solche Weise das Volksempfinden künstlerisch umsetzt. Wie bei Shakespeare, dessen Werke aus seiner Zugehörigkeit zur Schauspielergruppe entstanden sind, muss der „Drang des Dichters" aus einem „gemeinschaftlichen Drang" 51 hervorgehen. Für das Publikum bedeutet das, dass es sich im Mythos selbst anschaut und sich als Volk erkennt. Durch das gemeinsame Kunsterlebnis wird somit ein kollektiver Volkszusammenhalt geschaffen, „denn von der Fülle des Volkes kann man nicht wissen, ohne an ihr teilzuhaben". 52 Das Theaterpublikum in seiner gemeinschaftlichen Teilnahme am mythischen Bühnengeschehen wird zur Keimzelle des Volkes. Der Gedanke, der dahinter steckt, ist einfach: Um eine Gemeinschaft zu schaffen, die Kunst erleben kann, braucht es eine räumliche und eine zeitliche Bindung. Die Zuschauerinnen und Zuschauer müssen zusammen kommen und sie müssen zeitgleich anwesend sein, um dem Kunstwerk beizuwohnen. Daher ist der Ort der höchsten Kunst das Theater. Der Mythos braucht die künstlerische Vollendung im Drama. Das Drama wiederum gibt dem Mythos eine feste Handlungs- und Zeitstruk-
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Röhls, Mythos nach dem Tode Gottes, S. 88. Richard Wagner: Eine Mittheilung an meine Freunde. Zitiert nach Röhls, Mythos nach dem Tode Gottes, S. 88. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 161f. Ebd., S. 53. Ebd., S. 53 Wagner unterscheidet auch das Volk von der Masse. Er äußert sich kritisch gegenüber der „emanzipirten Masse", die in „Soldatenuniformen bataillonweise aufmarschieren" (Wagner, Oper und Drama, Teü 1, S. 270f.). Zum Volk gehören nur diejenigen, die eine „gemeinschaftliche Noth" empfinden, also nur jene, die den Weg zum ideellen Kommunismus Wagners bereits verinnerlicht haben. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 108. Ebd., S. 174.
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tur und macht ihn sinnlich erfahrbar. Dies entspricht den Bedürfnissen des Volkes, bei dem „alles Wirklichkeit und That" 33 ist, das handelt und fühlt, Kunst macht und erlebt, die Suche nach dem metaphysischen Grund „aber der kopfzerbrecherischen Spekulation unserer heutigen Hoftheaterdramaturgen" 54 überlässt. Das Volkstümliche steht bei Wagner für Vitalität und Natürlichkeit; es ist frei von jeglicher Reflexion - die ihm adäquate Kunst ist die sinnlichste: das Theater. Eng verknüpft mit dem Ziel, Volkskunst auf der Theaterbühne zu restaurieren, ist die Idee der Festspiele, die das Verhältnis von Theater und Nation, bzw. Theater und Publikum neu definiert. Feste sind Ausdruck der Volkskultur und so sollten die Festspiele Ausdruck der neuen deutschen Kultur sein. Im Festspiel kommt das Publikum zu seinem Recht, denn zu einem Fest gehören Feiernde elementar dazu, noch mehr als das Publikum zur Kunst. Zudem drückt sich in der Bezeichnung Festspiel das Weihevolle und Besondere aus, das das Gesamtkunstwerk kennzeichnet. Es wird räumlich, zeitlich und ideell vom Alltagsgeschehen, aber auch von allen anderen Kunstformen abgehoben. Die Festspiele fordern das Versinken des Zuschauers in die mythische Handlung und bieten zugleich die Möglichkeit zur Eingliederung in die Festgemeinde: Geläutert soll er [der Zuschauer, d.Vf.] das Festspielhaus verlassen, Teil einer Gemeinschaft von Eingeweihten.55 Theater kann jedoch nur dann einen Anspruch erheben, religiöses Fest zu sein, wenn ein institutioneller Rahmen gegeben ist. Dazu bedarf es zunächst einmal eines entsprechenden Raumes. Der Bau eines Festspielhauses ist daher zentraler Bestandteil des Festspielkonzepts, das Wagner erst ein Vierteljahrhundert nach der Arbeit an Oper und Drama realisieren wird. Bewusst schmucklos ist das Bayreuther Festspielhaus gehalten. Wagner weist den Entwurf Sempers zu einem Festspieltheater in München zurück, da dieser das Architektonische zu sehr in den Vordergrund rücke. Der Zuschauer soll sich jedoch nicht von dem Schmuck des Gebäudes ablenken lassen. Seine volle Konzentration hat dem Drama zu gelten. Ähnlich ist die Neuerung zu werten, das Orchester in einen Graben zu positionieren und so unsichtbar zu machen. Das Publikum, das den Dirigenten nicht erblicken kann, klebt mit dem Auge an der Szene und nicht am
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Ebd., S. 104f. Ebd., S. 105. Szeemann, Hang zum Gesamtkunstwerk, S. 165. Der Eindruck einer „Gemeinschaft von Eingeweihten" verstärkt sich gegenwärtig noch durch die Schwierigkeit, Karten für die Festspiele zu bekommen. Insofern ist auf dem grünen Hügel zwar nicht das Volk, aber doch das Volk der Wagnerianer versammelt. Ironischerweise wird Bayreuth auf diese Weise zu einem ähnlichen gesellschaftlichen Ereignis wie es die Oper des 19. Jahrhunderts war. „Dabei sein ist beinahe alles" heißt es z.B. treffend in einem Zeitungsbericht über die Eröffnung der Festspiele 2001. In: Michael Stenger: Der wahre Wagnerianer ist ein Asket. In: „WAZ", N. 172, 27.7.2001, S. 4. Auch die rekordverdächtigen Beifallsbekundungen am Ende der Aufführungen mit einer Dauer von mehr als einer Stunde stärken das Gemeinschaftsgefühl der Anwesenden. Klatschend fügt sich jeder Besucher in die Festspielgemeinde ein.
Taktstock. Von der Musik nimmt es nur die Substanz war, die Töne und Klänge, nicht den Prozess, der die Musik hervorbringt. Ebenfalls neu ist die Verdunkelung des Zuschauerraums. Dadurch wird zum einen der ablenkende Blick auf die Kleidung des Nachbarn unmöglich, zum anderen werden die Unterschiede zwischen den Gästen eliminiert. Während andere Theaterbauten den Kaisern und Königen einen besonderen Rang einräumten und diesen architektonisch repräsentierten, wird nun das Kunstpublikum zu einer anonymen, aber homogenen Gruppe, die zumindest dadurch vereint ist, dass alle sich voll und ganz auf die Bühne konzentrieren. Unsichtbarmachung des Orchesters und die Anordnung der Bühne dienen nicht nur der Konzentration auf das Bühnengeschehen, sondern auch dem Formgesetz Wagners „die Produktion durch die Erscheinung des Produkts zu verdecken". Indem die ästhetische Erscheinung keinen Blick mehr durchläßt auf Kräfte und Bedingungen ihres realen Produziertseins, erhebt ihr Schein als lückenloser den Anspruch des Seins. Die Vollendung des Scheins ist zugleich die Vollendung des illusionären Charakters des Kunstwerks als eines Wirklichen sui generis, das im Bereich der absoluten Erscheinung sich konstituiert f...]54 Durch die AuffUhrungspraxis Bayreuths erlebt der Zuschauer Kunst nicht mehr als Kunst, sondern als Ereignis, das sich vor seinen Augen und Ohren abspielt. Wagners Ästhetik erscheint als das Gegenteil von Brechts Verfremdungseffekt. Es gibt keine Instanz, die daran erinnert, dass das Gesamtkunstwerk nur Kunst ist. Kunst und Leben durchdringen sich und werden eins. Das Festspiel wird zum Volksfest. Auf solche Weise können die Festspiele das einüben, was die Gesellschaft nachvollziehen soll: die Bande zwischen den Menschen zu knüpfen. Gemeinsam werden wir aber auch den Bund der heiligen Nothwendigkeit schließen, und der Bruderkuß, der diesen Bund besiegelt, wird das gemeinsame Kunstwerk der Zukunft sein. In ihm wird auch unser großer Wohlthäter und Erlöser, der Vertreter der Nothwendigkeit in Fleisch und Blut - das Volk, kein Unterschiedenes, Besonderes mehr sein; denn im Kunstwerk werden wir Eins sein - Träger und Weiser der Nothwendigkeit, Wissende des Unbewußten, Wollende des Unwillkürlichen, Zeugen der Natur, - glückliche Menschen." Um glücklich zu sein, muss der Mensch sich von den Fesseln des Egoismus befreien und im Kommunismus aufgehen; er muss lernen zu geben, statt nur zu nehmen, er soll sein Liebesbedürfhis äußern und sich selbst zum Wohle der Gemeinschaft aufgeben. Der Einsame ist unfrei, der Gemeinsame frei.58 Wagner hat den Ton eines Predigers, wenn er sich zur Gesellschaft der Zukunft äußert. Am Horizont seiner Kunsttheorie erscheint die Utopie eines einigen Menschengeschlechts. Gemeinschaften zu schaffen und Gemeinschaftsgefühle zu wecken, das ist die Aufgabe seiner Kunstreligion. Die Verbindlichkeit der Mythen
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Theodor W. Adorno: Versuch über Wagner. Frankfurt am Main, 2. Aufl. 1981, S. 80. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 50. Ebd., S. 68. 83
schafft die Voraussetzung, dass sich das Volk für die Kunst interessiert und lockt es ins Theater, wo es sich in Gestalt des Publikums als Volk erfährt. So wird der Zusammenschluss der Menschen im zum Drama gewordenen Mythos vollzogen. Der Mythos hat also für Wagners Konzeption vom Kunstwerk der Zukunft wie für sein Biihnenwerk - dort in Gestalt der germanischen Götter- und Heldensagen zentrale Bedeutung. Wagner, der die Mythosferne seiner Ära, in der Mythen nur als eigene Welten abgeschieden von der Realität der Menschen existieren, beklagt, 59 sieht im Mythos Mensch und Natur, Natur und Geschichte aufeinander treffen. Als urheberlose und ahistorische Erzählungen schaffen Mythen Verbindlichkeit. Sie sind jenseits der sozial bedingten Realität, denn sie sind .Anfang und Ende der Geschichte". 60 Der Rückgriff in eine mythische Vergangenheit ist zugleich ein Vorgriff in eine utopische Zukunft. Der entlegene Ursprung, den der musikalisch vergegenwärtigte Mythos aufdeckt, ist nichts anderes als das Ziel der Geschichte. Am Ende steht die Aufhebung von Gewalt und Gesetz durch Versöhnung und Liebe - ein modernes Mythologem, das nach dem Tode Gottes die Erwartung einer neuen Welt und eines neuen Menschen offenläßt.61 Mythisch verklärt der Schöpfer des Rings auch seine Idee vom Kunstwerk der Zukunft, indem er es einerseits als Restauration der Antike, andererseits als Hoffnung für die Zukunft beschreibt. Wagner sucht zwar nach Mythen, die der modernen Welterfahrung entsprechen, aber zugleich will er im Mythos das ewig Wahre finden, eine „Urerfahrung von Welt". 62 Er tritt die Flucht an vor den „undurchschaubar gewordenen Verhältnissen der Geschichte in die reinere Welt der Mythologie". 63 Dort findet er das rein Menschliche, einen Stoff, der unabhängig von sozialen oder politischen Verhältnissen ist, Figuren, die keine Charaktere darstellen, sondern in Szene gesetzte Ideale von Menschheitsvorstellungen. Brünhilde verkörpert das ,.Evangelium der Liebe", Siegfried den „natürlichen Menschen jenseits der korrupten Zivilisation" und Wotan den nach Erlösung strebenden Gott. Sein Tod ist der „Mythos von der Emanzipation der Menschheit, vom Menschen der Zukunft". 64 Die Handlung des Mythos muss der „Wahrheit des Lebens" 65 entsprechen, um allgemeingültig zu sein. Eine Handlung ist im Sinne von Wagner dann „wahrhaft", wenn die handelnde Figur ihre ganze Kraft daran setzt, in der Handlung aufzugehen, und auch den persönlichen Untergang in Kauf nimmt. Der Tod, möglichst als Opfertod, ist für Wagner daher der einzig befriedigende Schluss mythischer Erzählungen. Der Topos vom Tod als dem wahren Leben erinnert an die zentrale Botschaft des
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Vgl. Petra-Hildegard Wilberg: Richard Wagners mythische Welt. Versuche wider den Historismus. Freiburg im Breisgau 1996, S. 63. Wagner, Oper und Drama, Teil 2, S. 91. Diesem Geschichtsverständnis entspricht die zyklische Form des Rings. Dieter Bremer: Vom Mythos zum Musikdrama. Wagner, Nietzsche und die griechische Tragödie. In: Borchmeyer, Wege des Mythos in die Moderne, S. 59. Wilberg, Wagners mythische Welt, S. 277. Gregor-Dellin, Richard Wagner, S. 42. Röhls, Mythos nach dem Tode Gottes, S. 92f. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 162.
Christentums, die insbesondere auch im Parsifal Wagners zu finden ist. Erst durch den Untergang gelangen die Helden zum Triumph, durch Selbstzerstörung gelangen sie zur Auferstehung.66 Dies ist ein zentrales Denkmotiv bei Wagner. Was für Menschen gilt, die Erlöser sein wollen, gilt auch für Kunst, die danach strebt, Religion zu sein: Die verschiedenen Kunstformen müssen vernichtet werden, um im Gesamtkunstwerk des Dramas vereint mit größerer Wirkung wieder aufzuerstehen. 3.1.4. Die Totalität sinnlicher Wirkungen. Das Theater als Ort der Kunstsynthese Wagners Konzept beruht auf der Synthese der Gattungen und Künste. Die griechische Einheit der Künste spiegelt in seinem Denken die Einheit des Kunstwerks, der Aufführung, des Volks und des griechischen Staats wider. Sein Bemühen, ein Kunstwerk zu schaffen, das eine ähnlich bindende Kraft haben soll wie die attische Tragödie, ist daher getragen von der Idee die Künste wieder zu vereinen. In der Oper seiner Zeit treffen Dichtkunst, Musik und Tanz zwar aufeinander, aber sie gehen keine Verbindung ein. Wagner beschreibt die Kunstformen wie eifersüchtige Schwestern, die alle danach trachten, die Szene zu bestimmen. Sie können „nur nehmen, nicht geben".67 Alle Theater- und Operformen der Moderne werden daher von einer Kunstform beherrscht. So besteht der „Irrthum in dem Kunstgenre der Oper" darin: [...] daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war.68
Damit ist nicht gemeint, dass die Wort-Ton-Relation umgedreht werden sollte, sondern dass sich Musik, Dichtung, Schauspielkunst, Tanz und Bühnenbild dem Gesamtzweck, der Darstellung des Mythos im Drama - oder besser in der Theateraufführung - , unterordnen und in diesem Sinne miteinander verschmelzen sollen. Das wahre Drama ist nur denkbar als aus dem gemeinsamen Drange aller Künste zur unmittelbarsten Mittheilung an eine gemeinsame Öffentlichkeit hervorgehend: jede einzelne Kunstart vermag der gemeinsamen Öffentlichkeit zum vollen Verständnisse nur durch gemeinsame Mittheilung mit den übrigen Kunstarten im Drama sich zu erschließen, denn die Absicht jeder einzelnen Kunstart wird nur im gegenseitig sich verständigenden und verständnißgebenden Zusammenwirken aller Kunstarten vollständig erreicht.69
Das bedeutet, dass die Kunstarten nicht beschnitten werden durch ihre Selbstaufgabe, sondern zu ihrem eigentlichen Ziel gelangen. Erst in der synthetischen Verschmelzung der Künste erreicht jede Kunstform ihr Ziel. Wagner bemüht das Beispiel Beethovens: Die „absolute Musik" sei von Beethoven in dessen Neunter Symphonie an den Endpunkt ihrer Möglichkeiten geführt
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Vgl. Brock, Hang zum Gesamtkunstwerk, S. 36. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 80. Wagner, Oper und Drama, TeU 1, S. 231. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 150.
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worden. Um nicht in ihrem „unendlichen Sehnen" 70 zu versinken, brauche es einen Anker, und dieser Anker sei das Wort. Die Musik drängt zu ihrer Erlösung in den Versen von Freude schöner Götterfunken. Dass der abschließende Chor „Millionen" zuruft: „Seid umschlungen!", entspricht wiederum Wagners Ansinnen, die Menschen zu vereinen. So wird Beethovens Neunte zum „menschlichen Evangelium der Kunst der Zukunft". 71 Evangelium ist wörtlich zu verstehen als . f r o h e Botschaft". Beethovens Musik kündigt zwar das Kunstwerk der Zukunft an, sie ist aber selbst noch keins, da ihr die theatralische Komponente fehlt. Das Kunstwerk der Zukunft aber hat seinen Platz auf der Theater- und Opernbühne, nicht im Konzertsaal. Weder leitet die Sprache die Musik, noch umgekehrt - beide Kunstformen werden von dem Gang der Handlung, von der Absicht der Aufführung bestimmt: Wir wissen, daß nicht die Verse des Textedichters, und wären es die Goethes und Schillers, die Musik bestimmen können; dies vermag allein das Drama, und zwar nicht das dramatische Gedicht, sondern das wirklich vor unseren Augen sich bewegende Drama, als sichtbar gewordenes Gegenbild der Musik, wo dann das Wort und die Rede einzig der Handlung, nicht aber dem dichterischen Gedanken mehr angehören.73 Es liegt im Wesen jeder Kunstart laut Wagner, sich selbst zu überwinden und in der Gemeinschaft der Künste aufzugehen. Diese Idee ist die konsequente Weiterentwicklung romantischer Experimente mit ästhetischen Grenzüberschreitungen. Und genau wie für die Romantiker gilt auch für Wagner, dass die Synthese der Künste einem allgemeinen Impuls entspricht, Vereinzeltes und Isoliertes wieder zu einer Ganzheit zusammenzuführen. So verbindet in Wagners Denken eine der griechischen musike nachempfundene Kunstform auch die verschiedenen Sphären des Menschen. Symbolisch steht die Tanzkunst für den Leib, während Musik mit dem Gefühl und die Sprache der Dichtung mit dem Verstand assoziiert werden. 73 Musik ist „das Herz", das „Kopf und Glieder verbindet". 74 Dem natürlichen Zusammenspiel der Kunstformen entspricht der mit sich im Einklang befindliche Mensch. Beispielhaft demonstriert vor allem Oper und Drama das Prinzip der Synthese, indem im ersten Teil die Musik als gebärende, weibliche Kunstform beschrieben wird, während im zweiten Teil die dramatische Dichtkunst als zeugender, männlicher Organismus erscheint, und der dritte Teil der Vereinigung von Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft gewidmet ist. Das Kunstwerk der Zukunft führt zusammen, was voneinander geschieden ist. Kunst und Leben, Geist und Natur durchdringen sich gegenseitig, Wahrheit, Schönheit und Güte - oder anders ausgedrückt: Wissenschaft, Kunst und Religion - werden eins. Gemeinschaft wird zur „Chef-Vokabel". 75 Der innere Gehalt der Weihe-
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Ebd., S. 92. Ebd., S. 96. Richard Wagner: Beethoven. In: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 9, Leipzig, 3. Aufl., 1899, S. l l l f . Vgl. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 78. Ebd., S. 97. Hiß, Das Gesamte, S. 119.
festspiele verlangt nach der formalen Gestaltung als Gesamtkunstwerke, da nur die Gesamtheit der Künste der Gemeinschaftsideologie gerecht wird.76 Die Synthese der Kunstformen entspricht dem Ideal Wagners, der Kunst den höchsten Rang zu geben. Zugleich ist Synästhesie ein Mittel, um bestmögliche Wirkungen erzielen zu können. Wenn die Künste sich nicht spezialisieren, sondern kooperieren, bedeutet dies auch, dass Wahrnehmungen gleichzeitig aktiviert werden. Je mehr Sinne synchron angesprochen werden, desto geringer ist die Möglichkeit für die Zuschauer, dem Bühnengeschehen zu entfliehen, da sie ihre Wahrnehmungsleistungen auf die Darstellung des Dramas konzentrieren müssen. Über das Zusammenspiel von physiologischen Reizen und psychologischen Empfindungen wecken Musik, Dichtung und Schauspiel zusätzliche Assoziationen, so dass auch die Sinne, die nicht unmittelbar angesprochen werden, einbezogen werden. Leitmotivisch eingesetzte Melodien etwa beschwören Figuren, Stimmungen, Gerüche, Bilder, Gedanken und Erinnerungen herauf. Die Leitmotivtechnik hat daher eine zentrale Bedeutung für Wagners Kunstkonzept. Sie fügt der Musik selbst sprachliche Strukturen zu, so dass die übermächtige Sprache des Dramas reduziert werden kann; sie weckt synästhetische Empfindungen und sie schafft Verbindungen zwischen den einzelnen Szenen. Dadurch entsteht zum einen ein Gefühl für die Einheit des Werkes, zum anderen wird die absolute Präsenz der Aufführung gebrochen. Einzelne, isolierte Szenen werden nicht nur in ihrer Gegenwärtigkeit erfahren, sondern mit Hilfe der musikalischen Erinnerungstechniken in den Gesamtzusammenhang des dargestellten Dramas gestellt. Jede leitmotivisch unterlegte Szene hat eine Vergangenheit und deutet auf etwas Zukünftiges; sie vermittelt so eine Ahnung von Größe und Weite jenseits der unmittelbaren Bühnenwirklichkeit. 77 Bazon Brock nennt diesen Aufruf von Wahrnehmungsassoziationen,.Pathosformeln". 78 Leitmotive - oder Pathosformeln - verlangen vom Publikum die Fähigkeit, die Einzelheiten zum Gesamtbild zusammen zu denken. Das Interesse verschiebt sich daher von der Produktion zur Rezeption. Nachdem Kunst ausgetreten aus der klassischen Regelästhetik nicht mehr objektiv fixierte Emotionen produziert, verfolgt Wagner die Intention, im Rezipienten bestimmte Wirkungsmomente zu erzielen.7® Leitmotive setzen dies beispielhaft um. Melodien müssen nur anklingen, um Bedeutungen zu transportieren. Die ständigen Wiederholungen des musikalischen Materials prägen sich ein und erleichtem dem unkonzentrierten und - laut Wagner - der wahren Kunst entwöhnten Zuschauer das Zuhören und das Verständnis des Dramas. Darin kommt der Kem einer Demokratisierung von Kunst zum Ausdruck. Wagners Kunst richtet sich an das Volk, nicht an eine Bildungselite. Alle sollen teilhaben können an Wagners „segensreichem" „Gesamtkunstwerk", um sich den Gehalt des mythischen Dramas zu vergegenwärtigen. Dies geschieht jedoch nicht auf dem Weg intellektueller Einsichten, sondern über physiologische Reize, die alle Anwesenden
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Vgl. Friedrich Oberkogler: Richard Wagner. Vom Ring zum Gral. Wiedergewinnung seines Werkes aus Musik und Mythos. Stuttgart 1978, S. 21. Vgl. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 23. 7 ' Brock, Hang zum Gesamtkunstwerk, S. 26. 7 ® Vgl. Lingner, Ursprung des Gesamtkunstwerks, S. 64. 77
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gleichermaßen wahrnehmen können und müssen. Gedanken können schweifen, wohingegen „Ohren am schwersten zu schließen" sind.80 Zwar ist die Leitmotivtechnik einerseits Kommentar zum Bühnengeschehen Wagner vergleicht die Orchestermelodie mit der Funktion des Chores in der antiken Tragödie - und schafft so Distanz zur szenischen Unmittelbarkeit. Allerdings ist Musik, auch dann wenn sie aufgrund ihrer sprachlichen Semantisierung bestimmte Bedeutungen transportiert, immer noch .Affektausdruck". 81 Leitmotive vermitteln Ahnungen und Antizipationen, und sie beschwören die Sehnsucht nach der Vergangenheit herauf. Sie schaffen Raum für Reflexionen, da sie die aufeinander folgende Zeitstruktur des Dramas durchbrechen, aber sie verlagern die Reflexion auf die Ebene des musikalischen Hörens. Somit wird Musik, im Gegensatz zur motiv- und zwecklosen „absoluten Musik" verständlich, ohne dass sich der Verstand einschalten müsste und das Kunsterlebnis stören würde. Kunst hört da auf, wo sie als Kunst in unser reflektierendes BewuBtsein tritt.12 Das Wagnersche Gesamtkunstwerk versucht das zu verhindern. Durch das Weiterschreiten der „unendlichen Melodie" strömen immer neue Reize auf das Publikum ein, der Rausch gehört zum Stil, denn „ein Augenblick der Selbstbesinnung würde genügen", um den Schein der ideellen Einheit des Kunstwerks zu zersprengen. 83 Auch wenn in Wagners Kunstkonzept die intellektuelle Rezeption eine untergeordnete Rolle spielt, wäre es zu einfach, in Wagner schlicht die Verkörperung des Antirationalistischen zu sehen. Dem Programm nach strebt er nach einer Versöhnung von Geist und Sinnlichkeit, Intellekt und Emotion. Allein die Niederschrift seiner Theorien spricht dafür, dass er die Ebene der Reflexion zumindest als Ergänzung zur sinnlichen Erfahrung ansah. Zentral ist jedoch der Gedanke, dass Kunst erlebt werden muss. Nicht die abstrakte Idee von Kunst ist daher entscheidend, sondern die materielle Gestalt des Kunstwerks: Das wirkliche Kunstwerk, d. h. das unmittelbar sinnlich dargestellte, in dem Momente seiner leiblichen Erscheinung, ist daher auch erst die Erlösung des Künstlers, die Vertilgung der letzten Spuren der schaffenden Willkür, die unzweifelhafte Bestimmtheit des bis dahin nur Vorgestellten, die Befreiung des Gedankens in der Sinnlichkeit, die Befriedigung des Lebensbedürfnisses im Leben.84 Wagner will die unmittelbare Theater-Wirkung: Der wirkliche gesunde Mensch, wie er in seiner vollen leiblichen Gestalt vor uns steht, beschreibt nicht, was er will und wen er liebt, sondern er will und liebt, und theilt uns durch seine künstlerischen Organe die Freude an seinem Wollen und Lieben mit [... ]8S
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Kittler, Weltatem, S. 97. Für Kittler liegt in der Demokratisierung der Wagnerschen Kunst auch ein Ansatzpunkt, sein Musikdrama nicht dem Feld der Kunst zuzurechnen, sondern als erstes Massenmedium zu bezeichnen. Vgl. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 26. Richard Wagner: Über Schauspieler und Sänger. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 9, S. 161. Zitiert nach Lingner, S. 65. Adorno, Versuch über Wagner, S. 98. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 46. Ebd., S. 106.
Kunst soll nicht vermitteln, sondern Kunst soll teilhaben lassen. Wagner vertritt die Auffassung, dass die gedankliche Reflexion immer erst später ansetze und dann wieder zur Empfindung zurück führe, ebenso wie sich die Idee der Kunst aus der Kunst entwickelt habe und nicht umgekehrt. Wagner ist, wie Carl Dahlhaus festgestellt hat, „primär Theatraliker". 86 Der Sprache misstrauend, die er zur bloßen Konvention erstarrt sah, ist ihm das szenischmimische Moment des Dramas wichtiger als das textliche. Lesedramen lehnt er völlig ab, das Drama muss vollständig den Sinnen mitgeteilt werden. Der Tradition des Volkstheaters folgend werden gerade die besonders effektreichen Szenen auf die Bühne gestellt, der Kampf Siegfrieds mit dem Drachen etwa, die Morde, die Überlistungen. „Sex and Crime" 87 auf der Theaterbühne, die allerdings durch seine mythische Bedeutung allegorisch zu deuten sind. Entlegen Abstraktes schlägt um in aufdringlich Konkretes.88 Wie im Mittelpunkt der dramatischen Handlung der Held steht, steht im Mittelpunkt des Kunstwerks der Darsteller, in dessen Körper sich die Dicht-, Ton- und Tanzkunst manifestieren und vereinigen. Die realste Kunstform ist daher die Tanzkunst, unter der die gesamte Schauspielkunst zu verstehen ist, da ihr Stoff der „wirkliche leibliche Mensch, und zwar nicht ein Theil desselben, sondern der ganze" 89 ist. Es lässt sich - trotz der wiederholt proklamierten Gleichrangigkeit der Künste - eine Hierarchie der Gattungen ausmachen und zwar in einer Richtung, die vom Unmittelbaren zum Vermittelten führt. Oben an der Spitze stehen Tanz und Schauspiel des Leibesmenschen, in der Mitte die Musik des Gefühlsmenschen und am untersten Ende Dichtung und Sprache des Verstandesmenschen. 90 Die Ästhetik des Theatralikers stellt das Gegenbild zu der des Philosophen dar.91 Die Gedankenwelt des Philosophen zählt nichts ohne ihre sinnliche Verwirklichung im Kunstwerk. Aufgabe des Theaters ist „Mimesis im griechischen Sinne: nicht Nachahmung, sondern Darstellung" 92 - die Vergegenwärtigung von Ideen zu „wahrnehmbaren Empfindungen" 93 mit Hilfe von Schauspielern, Bühneneffekten und Musik. Sprache, gefangen in Abstraktionen, leistet dies nicht. Gerade Wagners Beharren auf der dramatischen Unzulänglichkeit der Sprache macht ihn zu einem Gewährsmann der Theaterreformer und Avantgardisten der Jahrhundertwende. 94 Das Konzept sieht eine Stärkung der nichtsprachlichen Theaterkomponenten vor, ist
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Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 12. Klaus Umbach: Das heilige Narrenfest. In: „Der Spiegel", Nr. 31/2001, S. 137. Ebd., S. 38. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 71. Die Hierarchie drückt sich auch darin aus, dass die Länge eines Satzes in Wagners Opern nicht von dem Sinn oder dem Gedankengut abhängen soll, sondern vom Atem, Vgl. Jurij Murasov: Das Auge des Gehöres. Gesamtkunstwerk und Schriftlichkeit. Zu Richard Wagners Oper und Drama, In: Günther, Gesamtkunstwerk, S. 32. Dahlhaus, Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, S. 14. Bremer, Vom Mythos zum Musikdrama, S. 44. Wagner, Oper und Drama, Teil 3, S. 183. Vgl. Bayerdörfer, Wege des Mythos ins „Theater der Zukunft", S. 188f.
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sozusagen die Keimzelle der „Retheatralisierung des Theaters". Das Kunstwerk der Zukunft will die mythische Wahrheit über die „Totalität sinnlicher Wirkung" 95 erfahrbar machen und nicht über sie predigen. Erfahrungen aber gehören zum wirklichen Leben und so wird der Mythos in Wagners Kunstkonzept zu einem in die Realität eingeschriebenen Text, [...] ein Text allerdings, der frei von aller sprachlichen Bedingtheit [...] sich unmittelbar in der Geschichte der abendländischen Kultur selbst realisiert und die Idee der Fiktionalität und Mimesis sowie das damit verbundene traditionelle Repräsentationskonzept aufhebt. Insofern bildet auch das Gesamtkunstwerk nicht den Mythos ab, sondern es realisiert ihn und schreibt ihn in den Text der Geschichte selbst ein.96 3.1.5. Die Materialität des Gesamtkunstwerks. Nietzsches Wagnerkritik Mit der Kunst in die Sphäre des Sinnlichen abzutauchen erschien vielen als Befreiung und Bereicherung, wie die schnell wachsende Zahl von Wagnerianern im 19. Jahrhundert belegt. Dass in solch einem Konzept auch Gefahren liegen, hat - ausgerechnet - Friedrich Nietzsche erkannt. Nietzsche, zunächst großer Bewunderer und enger Freund Richard Wagners, 97 wandte sich später von ihm ab und führte einen sechs Jahre dauernden Kampf gegen den Mann, den er einst „verehrt und geliebt" 98 hatte. In seiner Spätschrift Der Fall Wagner und in der zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Polemik Nietzsche contra Wagner bezeichnet er Wagner als einen typischen d&adent, der „uns die Gesundheit verdirbt", 99 und Wagners Kunst als krankhaft: Die Probleme, die er auf die Bühne bringt - lauter Hysteriker-Probleme, das Convulsivische seines Affekts, seine überreizte Sensibilität, sein Geschmack, der nach immer schärfern Würzen verlangt, seine Instabilität, die er zu Principien verkleidet, nicht am wenigsten die Wahl seiner Helden und Heldinnen, [...] alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen Zweifel läßt: Wagner est une nivrose.100 Der „Theatraliker" Wagner mit seiner Faszination für Bühneneffekte lässt Nietzsche schaudern und wird zur „Chiffre der decadence". 101 Es ist die Musik, die die Wirkung von Wagners Werken ausmacht, eine Musik, die sich von den harmonischen Gesetzmäßigkeiten früherer Musik entfernt hat. Die „unendliche Melodie" schreitet immer weiter fort, sie will „alle Zeit- und KraftEbenmäßigkeit brechen" und fuhrt den Zuhörer nicht zum Tanz, sondern hinein in ein grundloses Meer, dem er sich „auf Gnade und Ungnade" ausliefert. Diese Musik,
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Lingner, Ursprung des Gesamtkunstkwerks, S. 65. Murasov, Auge des Gehöres, S. 45f. Vgl. dazu wie überhaupt zum Verhältnis von Wagner und Nietzsche: Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Schriften und Aufzeichnungen über Richard Wagner. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Dieter Borchmeyer, Frankfurt am Main 1983. Nietzsche, Der Fall Wagner, S. 609. Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. In: Ders., Der Fall Wagner, S. 102. Ebd., S. 103f. Bremer, Vom Mythos zum Musikdrama, S. 46.
„die den Hörer bis in seine Gedärme hinein schüttelt", will vornehmlich Wirkung erzielen, das „espressivo um jeden Preis".102 Wagner hat beinahe entdeckt, welche Magie selbst noch mit einer aufgelösten und gleichsam elementarisch gemachten Musik ausgeübt werden kann. [...] Das Elementarische genügt - Klang, Bewegung, Farbe, kurz die Sinnlichkeit der Musik. Wagner rechnet nie als Musiker, von irgendeinem Musiker-Gewissen aus: er will die Wirkung, er will nichts als die Wirkung.103
Die Kritik setzt an der Materialität der Wagnerschen Werke an, nicht an ihrer Ästhetik. Kunst, die immer wieder versucht, ihre eigene sinnliche Wirkung zu übertreffen, macht süchtig - sie „wirkt wie ein fortgesetzter Gebrauch von Alkohol".104 Und wie jede Droge setzt sie am Körper an: Bayreuth bezeichnet Nietzsche als „Kaltwasserheilanstalt",105 in der Jünglinge - Bewunderer Wagners, zu denen Nietzsche auch früher zählte - von der Macht der Musik umgeworfen werden: Was [...] das Umwerfen angeht, so gehört dies zum Teil schon in die Physiologie. Studieren wir vor allem die Instrumente. Einige von ihnen überreden selbst noch die Eingeweide [...], andere bezaubem das Rückenmark. Die Farbe des Klangs entscheidet hier; was erklingt, ist beinahe gleichgültig. [...] Agazieren wir die Nerven, schlagen wir sie tot, handhaben wir Blitz und Donner - das wirft um. Vor allem aber wirft die Leidenschqft um. [...] Leidenschaft - oder die Gymnastik des Häßlichen auf dem Seile der Enharmonik. Wagen wir es [...] häßlich zu sein! Wagner hat es gewagt! Wälzen wir unverzagt den Schlamm der widrigsten Harmonien vor uns her.106
Die Polemik offenbart wesentliche Charakteristika von Wagners Musik. Wagners „Hässlichkeit" ist auf das Ausbrechen des Komponisten aus den Gesetzmäßigkeiten der Harmonielehre bezogen. Das musikalische Material, das auf den Regeln zum Aufbau von Melodien und Akkorden beruht, scheint Wagner ausgeschöpft zu sein. Er sucht nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten und findet den Orchesterklang. Fortan bestimmt die Farbe der Instrumente, der Sound, das Wesen seiner Musik. Dem neuen Zuhörer der neuen Musik wird alles leichter gemacht: Er denkt keine Melodien zu Ende, er muss keinen polyphonen Satz erkennen, er soll Musik nicht verstehen. Alles, worauf es ankommt, ist: wahrzunehmen. Dafür braucht es kein musikalisches Gehör, sondern lediglich überhaupt ein Gehör. Analoges gilt für die Dichtkunst. Sprache als Träger von Sinn ist Wagner hoch verdächtig. Stattdessen geht Sprache - strukturiert nach Atemzügen - ein in den Klang des Gesamtkunstwerks. Wortspiele, Anagramme, Stabreime und Alliterationen bestimmen die Verse der Musikdramen. Auf akustische Effekte zielt Wagner ab; Menschenstimmen vermischen sich mit Naturgeräuschen und werden zum „Rauschen".107 Die überwältigende Wirkung von Wagners Kunst hat Nietzsche am eigenen Leib erfahren. Bayreuth wird für ihn zum Inbegriff der Verführung; es „verdirbt die 102 103 104 105 106 107
Friedrich Nietzsche: Nietzsche contra Wagner. In: Ders., Der Fall Wagner, S. 133-135. Nietzsche, Der Fall Wagner, S. 111. Ebd., 122. Ebd., S. 123. Ebd., S. 106. Vgl. Kittler, Weltatem, S. 100.
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Nerven" und die „Begriffe". 108 Insbesondere der ideologische Überbau des Weihefestspiels ist es, der stört: die „ganze Falschmünzerei der Transzendenz und des Jenseits", die Wagner ins Leben gerufen hatte.109 Es qualmt um ihn von Weihrauch [...] Ich habe Lust, ein wenig das Fenster aufzumachen. Luft! Mehr Luft!" 0 Nietzsche ringt „um die Befreiung der Musik aus den Fesseln der Ideologie". 1 " Er erkennt, dass die Stimulanz der Musik und Effekte die „Nerven überredet", 112 an das Erhabene in Wagners Werken zu glauben. Das beschworene Ideal wird durch höhere Massagen den Körpern eingeschrieben, das Materielle gerät zum Anwalt des Immateriellen."3 Die Kritik Nietzsches an seinem einstigen Idol trifft ein Kernproblem dionysischer Kunst. Um die Funktion von Religionen zu übernehmen, bedarf es nicht nur eines dem späten Nietzsche ohnehin verdächtigen - metaphysischen Weltbildes, sondern auch einer Technik, die das Weltbild im Dinglichen abbildet: Es ist die Technik des Nervenreizes, Musik [...] als hypnotisches Gift, die synthetische Kunst als Instrument einer kollektiven Überwältigung [...]'14 Gerade im postaufklärerischen Zeitalter, da die Menschen gelernt hatten, dem Kern jeder Metaphysik intellektuell zu misstrauen, konnte eine neue Metaphysik nur über die Körper vermittelt werden. Wenn jedoch nur die Wirkung zählt, nicht der Inhalt, hat das zur Folge, dass über die künstlerische Attackierung der Sinne letztlich jede Ideologie vermittelt werden kann. In diesem Sinne sind die Körper der süchtigen Wagnerianer in der Tat „verführte Körper". 3.1.6 Schönheit und Liebe - Wagners Traum vom Menschen der Zukunft Auch Wagner wollte eine Ideologie vermitteln, wobei die Interpretation seiner Musikdramen in eine bestimmte ideologische Richtung schwer fällt, weil sich sein Gesellschafts- und Menschenbild diffus aus vielen Versatzstücken zusammensetzt und im Laufe seines Lebens auch vielen Schwankungen unterworfen war. Dass Wagner in seiner Revolutionszeit Bakunin kennen und schätzen gelernt hat, ist hinlänglich bekannt, ebenso wie seine Feuerbachrezeption. Sein scharfer und ausgeprägter Judenhass, seine Ressentiments gegenüber Frankreich und die Suche nach
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Nietzsche, Der Fall Wagner, S. 123. Allerdings hat Nietzsche selbst die Kunst in der Geburt der Tragödie mit metaphysischen Formeln aufgewertet und damit die theoretische Legitimation von Wagners Kunst-Praxis geliefert. Insofern ist Nietzsches Wagner-Kritik immer auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Ebd., S. 122. Ebd., S. 102. Dietrich Fischer-Dieskau: Wagner und Nietzsche. Der Mystagoge und sein Abtrünniger. Im Text ungekürzte, vom Autor überarbeitete Ausgabe, München 1979, S. 230. Nietzsche, Der Fall Wagner, S. 109. Hiß, Metaphysische Maschine, S. 145. Ebd., S. 145
einer kulturell legitimierten deutsch-nationalen Identität haben dazu beigetragen, dass seine Kulturutopie in die Ecke politisch rechten Gedankenguts gestellt worden ist. Allerdings zeigt sich, dass diese Einflüsse, so bestimmend sie für Wagners Handeln gewesen sein mögen, seine Kunsttheorie nur peripher berühren. Diese ist vielmehr geprägt von dem Drang, den Menschen losgelöst von Konvention und Etikette zu zeigen. Wiederhergestellt werden soll der Ursprung, die wahre - nicht durch soziale Umstände verzerrte - Natur des Menschen. Die Feier der Menschlichkeit ist Thema der Wagnerschen Musikdramen, das Aufgehen des Individuums in das Allgemeine der Gattung das Ziel. Die Tragödien sollen . f e s t e der Menschheit sein", in denen die Menschen im Bruderbund vereint die „Wonnen und Schmerzen"" 3 ihrer Liebe feiern. In seiner Fähigkeit zu lieben, steht der Mensch an der Spitze der Natur, er wird wie in der Kunst der Griechen zum Vorbild der Götter. Erst den Hellenen war es vorbehalten, das rein menschliche Kunstwerk an sich zu entwickeln, und von sich aus es zur Darstellung der Natur auszudehnen. Zu dem menschlichen Kunstwerke konnten sie aber gerade nicht eher reif sein, als bis sie die Natur [...] überwunden, und den Menschen in so weit an die Spitze der Natur gestellt hatten, als sie jene persönlichen Naturmächte als vollkommen menschlich schön gestaltete und gebahrende Götter sich vorstellten." 6
Der Kem von Wagners Kunstreligion ist, analog zu seinem Griechenbild, der von den Göttern emanzipierte Mensch, der selbstbewusst genug ist, seine eigene Schönheit und Erhabenheit im Kunstwerk zu erkennen. Kunst ist daher die höchste Tätigkeit, da sie dem Menschen Augen und Ohren für sein eigentliches Wesen öffnet und zugleich zurück zur Sinnlichkeit und damit zur Natur und zum Leben führt. Und somit ist das Theater die höchste Kunst, weil es die menschlichste ist, die lebendigste, die körperlichste. Wagner verehrt den Menschen aufgrund seiner Schönheit und Stärke. Das sind Eigenschaften, die sich zumindest im Körper niederschlagen. Die Schönheit des menschlichen Leibes war die Grundlage aller hellenischen Kunst, ja sogar des natürlichen Staates gewesen; wir wissen, daß bei dem adligsten der hellenischen Stämme, bei den spartanischen Doriern, die Gesundheit und unentstellte Schönheit des neugeborenen Kindes die Bedingungen ausmachten, unter denen ihm allein das Leben gestattet war, während Häßlichen und Mißgeborenen das Recht zu leben abgesprochen wurde. Dieser schöne nackte Mensch ist der Kem alles Spartanerthumes: aus der wirklichen Freude an der Schönheit des vollkommensten menschlichen, des männlichen Leibes, stammte die, alles spartanische Staatswesen druchdringende und gestaltende, Männerliebe her." 7
Die Freude an der Schönheit bringt die Fähigkeit zu lieben hervor. Kunst gebiert Liebe. Schönheit ist daher der eigentliche Lebensmotor und wird zur Bürgerpflicht, ohne die Erlösung nicht denkbar ist. Das Gefühl für die Schönheit eines Menschen lässt sich am Körper ablesen, einem Körper, der als Schauspielerkörper im Kunstwerk der Zukunft die Menschen bezaubert.
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Wagner, Kunst und Revolution, S. 35. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 124. Ebd., S. 134.
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Huldigt der Mensch im vollen Leben dem Prinzipe der Schönheit, bildet er seinen eigenen lebendigen Leib schön, und freut er sich dieser an ihm selbst kundgegebenen Schönheit, so ist Gegenstand und künstlerischer Stoff der Darstellung dieser Schönheit und der Freude an ihr unzweifelhaft der vollkommene, warme, lebendige Mensch selbst; sein Kunstwerk ist das Drama; und die Erlösung der Plastik ist genau die der Entzauberung des Steines in das Fleisch und Blut des Menschen, aus dem Bewegungslosen in die Bewegung aus dem Monumentalen in das Gegenwärtige."8 „Die Entzauberung aus dem Bewegungslosen in die Bewegung" - dieses Programm der Körperverehrung suchte Wagner in der Kunst zu verwirklichen. Er konnte noch nicht ahnen, dass nach seinem Tode in Europa eine Bewegung rasend schnell an Bedeutung gewinnen würde, die sich eben diese Formel auf die Fahne geschrieben hatte: der Sport.
3.2. Olympia als „Gesamtkunstwerk". Der Olympismus Pierre de Coubertins 3.2.1. Sport im 19. Jahrhundert. Der Kampf gegen die Vernachlässigung des Körpers Der neuzeitliche Olympismus ist eine Schöpfung Pierre de Coubertins."9 So lautet das erste von acht „Grundlegenden Prinzipien" der Olympischen Charta. Damit drückt das IOC die Bedeutung aus, die der französische Baron auch heute noch fur die olympische Bewegung hat. Ohne die Beharrlichkeit und das Verhandlungsgeschick Coubertins wäre die Idee einer Wiederbegründung der Olympischen Spiele wie viele ähnliche Projekte vorher wohl gescheitert. Und es ist vor allem seinem - auch finanziellen - Einsatz zu verdanken, dass die Olympische Idee die ersten weniger erfolgreichen Veranstaltungen überlebte, bevor es in den zehner und zwanziger Jahren zu den ersten großen Spielen kam, die weltweit Beachtung fanden und die Olympische Idee etablierten. Coubertin hat das theoretische Fundament der Olympischen Spiele gelegt, er hat als IOC-Präsident die Organisation der Spiele vorangetrieben und wichtige sportpolitische Entscheidungen gefällt, und er hat wesentlich an der Gestaltung des modernen Olympias mitgewirkt. Der Olympische Eid, die Olympischen Ringe, der Ablauf der Eröffnungsfeier, die Einteilung der Sportler in Nationen oder die Verteilung von Medaillen an die drei Erstplatzierten sind allesamt Errungenschaften, die auf ihn zurückzuführen sind. Coubertin wird daher auch heute noch als Gründervater der olympischen Bewegung gefeiert. Dennoch wäre es falsch, die Wiederbelebung Olympias als die Idee eines einzelnen Mannes anzusehen. Coubertin selbst legte großen Wert darauf, dass die Einfuhrung neuzeitlicher Olympischer Spiele lediglich die logische Konsequenz einer
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Ebd., S. 140. Vgl. NOK (Hg.) Olympische Charta. Regelwerk für die Schiedsgerichtbarkeit in Sportsachen. Übersetzt und eingeleitet von Christoph Vedder und Manfred Lämmer, Frankfurt am Main 1996, S. 2.
großen, weltumspannenden Bewegung war, die sich der Eingliederung des modernen Sports ins gesellschaftliche Leben verschrieben hatte.120 Selbst der Plan Coubertins, neuzeitliche Olympische Spiele zu begründen, war nicht so neu: Allerdings waren die früheren Versuche der Wiederbelebung meist als regionale Sportfeste gedacht worden, die letztendlich nur wenige Jahre überdauerten. Das 19. Jahrhundert hatte - soweit man dies vereinheitlichen kann - ein neues Interesse am Körper hervorgebracht.121 Die beginnende Industrialisierung bedurfte des menschlichen Körpers aufgrund seiner Arbeitskraft. Untätigkeit und Muße, vorher noch positiv konnotiert als Zeichen einer überlegenen Lebensführung, galten als Ursache für die Verweichlichung der Gesellschaft. Es gab daher nicht nur ein individuelles, sondern auch ein ökonomisches Interesse, den Körper vor schädlichen Einflüssen zu schützen und ihn zu stärken. Medizinische und anatomische Forschungen gewannen an Bedeutung, Hygienedenken setzte ein und wurde schließlich zur Bürgerpflicht. Der Wunsch, Seuchen und Krankheiten einzudämmen, verlangte von jedem Individuum ein aufmerksames und selbstbeherrschtes Umgehen mit seinem Leib. Die Eindämmung der Triebe, insbesondere der Sexualität, und eine Körperdisziplinierung, die sich auch in der Korrektheit von Haltungen und Bewegungen niederschlug, waren die Voraussetzungen, unter denen sich die bürgerliche Gesellschaft ihre Freiräume erkämpfte. Aus dieser Grundstimmung heraus und auf dem Boden einer „nicht weiter biologisch tragbaren Gehirnüberlastung und Leibesvernachlässigung"122 entstanden die ersten Gehversuche des modernen Sports. In Deutschland waren Leibesübungen bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts vereinzelt in das Erziehungsprogramm bestimmter Bildungsanstalten, den so genannten Philanthropien, aufgenommen worden. Johann Christoph Friedrich GutsMuths verfolgte das Ziel, den Geist über die Abhärtung des Körpers zu beleben und integrierte Gymnastik, Laufen, Klettern, Schwimmen und Schlittschuhlaufen in den Schulunterricht an den Philanthropien. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es dann Friedrich Ludwig Jahn, der mit dem ,.Deutschen Turnen" nicht nur eine neue Form der Leibesübungen kreierte, sondern auch eine nationale Bewegung in Gang setzte. Jahns Programm einer Volkserziehung wollte die Wehrhaftigkeit der männlichen Bevölkerung stärken und war auch in der Art der Übungen sehr auf den Drill zur soldatischen Härte bezogen. Demgegenüber hatte die von Per Henrik Ling in Schweden begründete Ling-Gymnastik das Ziel einer harmonischen Körperformung zur Stabilisation der Gesundheit. Um die Mitte des Jahrhunderts fanden sportliche Betätigungen in ganz Europa von Spanien bis Russland Anklang: Neben Gymnastik- und Turnvereinen entstanden Ruder-, Fecht- und Läuferklubs. Während die Zugehörigkeit zu solchen Klubs
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Vgl. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 9f. Allerdings gibt Coubertin an gleicher Stelle auch zu, dass er den Plan der Einführung Olympischer Spiele in Gesprächen oft hinten angestellt habe, aus Angst, er könne verhöhnt werden. Dies zeigt, dass einige Sportarten zwar immer mehr praktiziert wurden, die gesellschaftliche Anerkennung des Sports aber keineswegs gesichert war. Der folgende stark verkürzte Abriss der Körper- und Sportgeschichte des 19. Jahrhunderts orientiert sich an Pfister, Geschichte des Körpers, S. 11 -47. Max Scheler: Resublimierung und Sport. In: Caysa, Sportphilosophie, S. 29.
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noch mehr den Adligen oder den Studenten vorbehalten war, begeisterte sich die Schicht der Arbeiter immer mehr für das Fußballspiel.123 Der „Siegeszug"124 des modernen Sports begann nicht auf dem Kontinent, sondern in England. Dort hatte sich unter dem Einfluss von Thomas Arnold, dem Headmaster des College von Rugby, Sport als Mittel der Erziehung flächendeckend durchgesetzt. Der englische Sport des 19. Jahrhunderts hat das Bild des modernen Sports auch auf dem Kontinent daher maßgeblich beeinflusst. Zu den wesentlichsten Charakteristika gehören die Chancengleichheit aller - symbolisch ausgedrückt im Fair Play-Gedanken - , Amateurideal - als Gegensatz zum amerikanischen Profisport - und das Streben nach Rekorden. Gerade der Versuch, die eigene Leistung immer weiter zu steigern, um die Leistung des anderen zu übertreffen, hat maßgebliche Folgen für den Sport: Spezialisierung, Ausweitung des Trainings, Verwissenschaftlichung und letztlich eben doch Professionalisierung und Kommerzialisierung sind nur einige der Schlagwörter, die damit verbunden sind. Zugleich erfordert das Konkurrenzprinzip die Gründung von Verbänden, die einheitliche Nonnen und Standadisierungen schaffen, um die Leistungen der Athleten überhaupt vergleichen zu können. Es ist Aufgabe der Verbände, Rekordlisten zu führen und Wettkämpfe zu organisieren, denn die Wettkampfpraxis, die Ermittlung des Besten in unmittelbarer Konkurrenz, ist das eigentliche Merkmal des modernen Sports. Zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten viele dieser Wettkämpfe immer mehr internationalen Charakter angenommen. Die Möglichkeit, mit der Eisenbahn längere Reisen zu unternehmen, hatte diesen Umstand genauso begünstigt, wie das Erwachen nationalstaatlichen Selbstbewusstseins in Europa. So war es in verschiedenen Sportarten bereits zu Ländervergleichen oder Weltmeisterschaften gekommen. Einen Weltverband des Sports zu schaffen, um die internationalen Bemühungen zu vereinheitlichen, schien nahe liegend. Der entscheidende Impuls kam aus Frankreich, genauer von der „Union des Sociötes franfaises de Sports athletiques", deren Generalsekretär Pierre de Coubertin war. Ziel der Union war die Vereinheitlichung der sportlichen Regeln und die Wiedereinführung der Olympischen Spiele. Dort - im modernen, ideellen Olympia fand der neue, weltumfassende Sport schließlich seine Heimat - ein Umstand, der durch die archäologischen Ausgrabungen des antiken Olympia in den 70er Jahren des 19. Jahrhundert begünstigt wurde, die das Interesse am Sport der Antike neu entfacht hatten. 3.2.2. Olympia als Lebensaufgabe - Coubertins Biographie 1894 wurde die Einführung der modernen Olympischen Spiele auf einem Kongress in Paris beschlossen. Federführend zeichnete Coubertin verantwortlich,125 der mit
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Dennoch wird Sport im 19. Jahrhundert fast ausschließlich von finanziell besser gestellten, reichen Jugendlichen getrieben. Es ist eines der erklärten Ziele der Olympischen Spiele, den Sport allen Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Pfister, Geschichte des Körpers, S. 40. Vgl. NOK, Olympische Charta, S. IV.
der Wiederbelebung der Olympischen Idee seinen Traum nach einer wirkungsvollen Umsetzung seines sportpädagogischen Konzepts realisierte. Coubertin wurde am 1. Januar 1863 in Paris geboren und entstammte einem alten Adelsgeschlecht. 126 Den väterlichen Wunsch nach einer Offizierslaufbahn schlug er aus und begann stattdessen Kunst, Philologie und Jura zu studieren. Inspiriert von Besuchen in englischen Colleges und Universitäten widmete er sich bald pädagogischen Forschungen vor allem mit dem Ziel, den Sport zu einem festen Bestandteil der humanistischen Erziehung zu machen, und bemühte sich erfolgreich um die Aufnahme der Leibesübungen in den Lehrplan an Schulen und Universitäten. Nach dem Beschluss von 1894 sah Coubertin, der sich im Boxen, Fechten, Rüdem und Reiten selbst sportlich betätigte, seine Lebensaufgabe in der Gründung einer olympischen Bewegung, der Organisation der olympischen Feiern und der theoretischen Begründung des Olympismus als Geisteshaltung. 1896 übernahm er das Amt des IOC-Präsidenten von Demetrios Bikelas und blieb bis 1925 an der Spitze der olympischen Bewegung. In zahlreichen Reden, Briefen und Aufsätzen hat er im Laufe der Jahre immer wieder Bruchstücke seiner Olympischen Idee vorgestellt, allerdings nie in einem zusammenhängenden Text. 127 Er steckte einen Großteil seines Privatvermögens in seine Idee, musste Schulden aufnehmen und war 1934 als 72-jähriger aufgrund seiner finanziellen Notlage zum ersten Mal auf der Suche nach einer bezahlten Arbeit. Drei Jahre später starb er während eines Spaziergangs an Herzversagen und hinterließ seine Frau und zwei Kinder beinahe mittellos. Sein Herz wurde auf eigenen Wunsch von seinem Leichnam getrennt und in einer weißen Schatulle
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Zur Biographie Coubertins vgl. Marie Therüse Eyquem: Pierre de Coubertin. Ein Leben für die Jugend der Welt. Dortmund 1972; Klaus Ullrich: Coubertin. Leben, Denken und Schaffen eines Humanisten. Berlin 1982; mit den frühen Jahren bis 1900 beschäftigt sich intensiv John J. MacAloon: This Great Symbol. Pierre de Coubertin and the Origins of the Modem Olympic Games, Chicago, London 1981. Dies entspricht zum einen der Coubertinschen Einschätzung, beim Olympismus handele es sich um eine Haltung zum Leben, nicht um eine Lehre, hat zum anderen aber seinen Grund vermutlich darin, dass er aufgrund seiner Verpflichtungen als Organisator und Sportfunktionär keine Zeit für eine längere Abhandlung hatte. Das in einzelnen Abschnitten entstandene Werte Coubertins ist dennoch ungemein groß. Ullrich beziffert es auf 60.000 Seiten, von denen nur die wenigsten zur Verfügung stehen (vgl. Ullrich, Coubertin, S. 11). Bei einer Coubertin-Lektüre muss man sich daher auf die Herausgabe diverser Schriften von Dritten beschränken. Standardwerte in Deutschland ist der bereits zitierte Band: Der Olympische Gedanke, der vom Carl-Diem-Institut herausgegeben wurde. Es lässt sich anhand der Auswahl der Texte nicht nachvollziehen, ob wesentliche Punkte von Coubertins Theorie, die er woanders niedergelegt haben könnte, ausgespart bleiben. Gravierende inhaltliche Abweichungen zu anderen Textauswahlen - beispielsweise zu Norbert Müller (Hg.): Pierre de Coubertin: textes choisis. Zürich, Weidmann 1986 - sind jedoch nicht zu bemerken. Selbst für den Fall, dass Coubertins Intention in Nuancen von der Interpretation, die die Auswahl des Bandes nahelegt, abweichen sollte, entspräche die Textauswahl zumindest noch dem Bild, das sich die Olympische Bewegung von ihrem Gründervater gemacht hat und ist allein schon deshalb wertvoll für die Aufarbeitung der Olympischen Idee. Coubertin in Gänze gerecht zu weiden, ist schon allein deshalb schwierig, weil sich seine Schriften, die im Zeitraum von 40 Jahren entstanden sind, teilweise selbst widersprechen. So gilt für Coubertin entsprechend dem bekannten Satz für Wagner: Coubertin lässt sich stets mit Coubertin widerlegen.
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am Hain von Olympia begraben. Jedes Mal beim Entzünden des Olympischen Feuers findet dort auch ein Gedenkgottesdienst zu Ehren Coubertins statt. 3.2.3. Krankheiten und Zerfall. Coubertins Weltsicht Coubertins Verhältnis zu seiner Zeit ist ähnlich zerrissen wie das Wagners. Er beklagt sich über den „widerlichen Snobismus", das „Mandarinentum mit Knöpfen", die „Gewohnheit der Lüge" und den „Geist der Gewinnsucht". 128 Die Gesellschaft des „Fin de siecle" erlebt er als dekadent und sieht die Wurzeln dieser Dekadenz in einer Überbewertung des Geistes, die Hand in Hand gehe mit einer Missachtung der Körper. Die leibliche Erscheinung sei genauso vernachlässigt worden wie die Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung. Coubertin nennt dieselben geistigen Strömungen als Verursacher, die Wagner schon für den Zerfall der Kunst verantwortlich gemacht hat: das asketische und körperfeindliche Christentum sowie die Aufklärung. Als Gegengewicht setzt Coubertin nun auf den Sport, um die Jugend zurück zum Leben zu fuhren: Ich will durch den Sport eine schlaffe Jugend von Stubenhockern körperlich und charakterlich wieder in Form bringen, sie „fit" machen.129 Von Beginn an ist mit der körperlichen Erziehung auch eine charakterliche verbunden. Körperübungen formen den modernen Menschen, sie sind die „wahre Schule moralischer Vervollkommnung". 130 Der Sport soll nicht nur eine bessere körperliche Ausbildung ermöglichen, sondern die Sporttreibenden auch zu Mut, Risikobereitschaft, Selbstüberwindung und Willensstärke fuhren. Dass eine Erneuerung des Erziehungswesens in seinem Heimatland dringend nötig ist, davon ist Coubertin fest überzeugt. Insbesondere der männlichen Jugend fehle es an Schwung und Begeisterung. So erklärt sich der Olympiapionier auch die Niederlage Frankreichs im Krieg von 1870/71 gegen Deutschland. Erschüttert und in seinem Patriotismus getroffen sinnt Coubertin auf ein Programm, mit dem er die nationale Stärke wieder herstellen kann. „Rebronzer la France" 131 ist das Ziel der körperlichen und moralischen Aufrüstung, die in der Idee der Olympischen Spiele mündet. Die ursprünglich nationalen und militärischen Erwägungen Coubertins tauchen in seinen späteren Texten nur noch peripher auf, da Olympia als Symbol des Friedens und der Völkerverständigung vermarktet wird. Konstant hält Coubertin jedoch an einem Gesellschaftsbild fest, in dem der Sport ein Mittel zur Therapie darstellt. In Übereinstimmung mit den gängigen Krisenszenarien des „Fin de siecle" empfand er die Gesellschaft in einer „moralischen Unordnung". 132
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Coubertin, Olympischer Gedanke, S. VII. Zitiert nach Eyquem, Pierre de Coubertin, S. 67. Coubertin, Olympischer Oedanke, S. 17. Zitiert nach Amd Krüger: WO Jahre und kein Ende? - Postmoderne Anmerkungen zu den Olympischen Spielen In: Diekmann/Teichler: Körper, Kultur und Ideologie. S. 290. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 8.
[...] die Völker [...] wissen nicht, woran sie sich halten sollen, denn alles um sie herum ist in Bewegung und einem ständigen Wechsel unterworfen [.. .]133 In den Umwälzungen des 19. Jahrhunderts sieht Coubertin den geistigen Zusammenhalt und die moralische Mitte der Gesellschaft verloren gehen und zeichnet fatale Folgen f ü r die Menschen: Da die philosophische Grundlage fehle, regiere das Kapital, und die Bevölkerung der Industrienationen werde in den „Schmutz" der „Geschäftemacherei"' 3 4 hineingezogen. „Unersättliche plutokratische Gelüste" und eine „bis zum W a h n sich steigernde Herrschsucht" 1 3 5 bestimmten das private und öffentliche Leben einer Zeit, die Coubertin als egoistisch charakterisiert und der er eine „altruistische Zukunft" 1 3 6 entgegensetzt. Die Gegenwart sieht jedoch anders aus: M a n g e l s eines übergeordneten, quasireligiösen Zusammenhalts ist die Gesellschaft in ihre Einzelteile zerfallen. Die Auflösung sozialer Bindungen und die veränderten Arbeitsbedingungen haben eine „gefährliche Spezialisierung" 1 3 7 in allen Bereichen zur Folge. Der Partikularismus bedroht nicht nur die Einigkeit von Nationen und Völkern, sondern auch die des Individuums: Charakter, Geist, Gewissen und Körper bilden keine Einheit mehr: Jede Kraft arbeitet für sich, ohne Verbindung und Kontakt zu der ihr benachbarten Kraft. Handelt es sich um Muskeln, will man nur das animalische Funktionieren dabei ins Auge fassen. Handelt es sich um das Gehirn, geht man daran, es auszufüllen, als bestünde es aus kleinen, hermetisch abgeschlossenen Abteilungen. Das Gewissen hängt ausschließlich von der konfessionellen Schulung ab. Um den Charakter schließlich will sich niemand bekümmern. Noch ein Weilchen, und der wohlerzogene Mensch würde vollends jenen primitiven Mosaiken gleichen, deren nicht zusammenpassende Bruchstücke ein plump und steif aussehendes Ganzes bildeten.138 Insbesondere die jahrhundertelange „Indifferenz in Dingen, die den Körper angingen" 1 3 9 habe den Menschen u m das „köstliche Gleichgewicht von Seele und Körper" 1 4 0 gebracht, christliche und kapitalistische , A s k e s e " die Trennung von Geist 133
Ebd., S. 8 Ebd.,S.ll. Ebd., S. 61. 136 Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 142. 137 Ebd., S. 101. Allerdings hat Coubertin mit seinem dem englischem Vorbild entsprechenden leistungsorientierten Sport ein Instrument geschaffen, das die Spezialisierung noch weiter vorantreibt. Zwar ist sein Ideal der vielfältig begabte Sportler, die Maxime vom „citius, altius, fortius" und das Streben nach Rekorden fordern jedoch die ausschließliche Konzentration auf eine Sportart, um darin die Leistung immer weiter voranzutreiben. Coubertin begründet das mit einer Werbestrategie. Um Hunderte von Menschen für den Sport zu begeistern, müssen sich einige wenige spezialisieren, deren Höchstleistungen in ihren Disziplinen die Masse zur Nachahmung bewegt. 138 Ebd., S. 64. 139 Ebd., S. 92. 140 Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 6. Ähnlich argumentiert auch Nietzsche, der das ' Bedauern teilt, „daß die alte marathonische Tüchtigkeit an Leib und Seele immer mehr einer zweifelhaften Aufklärung" zum Opfer gefallen ist (Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 75). Mit dieser Auffassung steht Coubertin zudem in der rhetorischen Tradition der Pioniere des modernen europäischen Sports. Der patriotisch eingestellte, deutsche „Turnvater Jahn" formuliert als Ziel seiner Bemühungen um das Turnen, „die verlorengegangene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wiederherzustellen, der bloß einseitigen Ver134
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und Körper bewirkt. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Körper hat psychische und physische Symptome: Passivität und Resignation glaubt Coubertin zu erkennen, „gekünstelte Mentalität", „den Hang zu krankhaftem Grübeln und Extravaganzen", 141 Tuberkulose 142 und den „Kult der Flasche". 143 Die Vernachlässigung der Körper schreibt sich im verfallenden Körper ein, der wiederum sinnbildlich für den Verfall der Kultur steht. Die Menschen werden krank und mit ihnen die Gesellschaft. Die Zivilisationskritik Coubertins entwirft das Bild einer Degeneration. Sie deutet die kulturelle Krise anhand eines biologisch-medizinischen Modells, wie es im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss von Sozialdarwinismus und Vererbungslehre üblich war.144 Die pathologische Zustandsbeschreibung seiner Gesellschaft klingt harsch und unversöhnlich; dennoch lässt sie Raum für optimistische Hoffnungen. Das Ende des 19. Jahrhunderts ist auch das Zeitalter der ersten großen medizinischen Erfolge und damit eines veränderten Bewusstseins. Krankheiten können geheilt werden, auch die der Gesellschaft. Es bedarf nur der richtigen Therapie. 3.2.4. Der Kampf gegen die Dekadenz. Sport als Therapie Coubertins Diagnose vom kranken 19. Jahrhundert ähnelt der Wagners, nur sind die Behandlungsmethoden auf den ersten Blick andere. Während Wagner mit Kunst die Gesellschaft retten will, entwickelt Coubertin ein Konzept moderner sportlicher Pädagogik, um die Krise bewältigen zu können. Der Sport spielt in Coubertins Bestandsaufnahme die Rolle des „mächtigen Blitzableiters für alle schlechten Instinkte". Ihm wird eine doppelte Heilkraft zugeschrieben: Er gilt als „ein bisher einzig dastehender Vermittler physischer und moralischer Hygiene" 145 - physisch, da die körperliche Betätigung positiv auf den menschlichen Organismus einwirken soll und somit Teil eines umfangreichen Gesundheitsprogramms ist,146 moralisch, da Coubertin mit Hilfe des Sports die Menschen als Teile eines sozialen Organismus für das Leben in der Moderne rüsten will. Sport soll die Gesundheit retten und sozia-
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geistigung die wahre Leibhaftigkeit zuzuordnen [...] und im jugendlichen Zusammenleben den ganzen Menschen zu umfassen und zu ergreifen." Zitiert nach Wolfgang Weber: Von Jahn zu Hitler. Politik- und Organisationsgeschichte des deutschen Tumens in Vorarlberg 1847-1938. Konstanz 1995, S. 38. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 115. Ebd., S. 89. Ebd., S. 67. Im Alkohol sieht Coubertin einen der mächtigsten Gegenspieler des Sports und personifiziert ihn zum Feindbild. Coubertin versteht den Alkoholismus als „Geißel der Modemen Zeiten" und wundert sich, warum die Antialkoholikerverbände sein Bemühen um die Einführung des Sports nichts unterstutzen. Vgl ebd., S. 60f. Der Sieg über den Alkohol ist Voraussetzung für den sozialen Frieden. Vgl. ebd., S. 93. Zum gesamten Komplex von Coubertins Bestandsauihahme einer „degenerierten Gesellschaft" und der Idee, mit Hilfe des Sports diese therapieren zu wollen, vgl. Alkemeyer, Wiederbegründung der Olympischen Spiele, S. 67-70. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 83. Coubertin begrüßt nachdrücklich die sich über Europa ausbreitende Hygiene-Kultur und fordert die Errichtung von Duschbädern in jeder einigermaßen bedeutenden Gemeinde. Vgl. Olympischer Gedanke, S. 59f.
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len Frieden stiften.147 Die Verbesserung der individuellen Leistungsfähigkeit dient stets dem Allgemeinwohl; „die Energien des Individuums zu pflegen" ist die Aufgabe, um die „Kraft der Nation" zu erhöhen.148 Der Champion wird aufgrund seiner herausragenden Leistungen verehrt, aber nur deshalb, weil seine Taten die Bevölkerung zum Nachahmen anspornen und somit der Gesellschaft nützlich sind. Umgekehrt bedeutet das, dass die Hierarchie der Gesellschaft auf den erbrachten Leistungen beruht, nicht auf dem per Geburt erworbenen Standesrecht. Ziel des Aristokraten Coubertin ist es, die Massen mit dem Sport zu erreichen: Wahrhaftig, auf Grund welcher Vollmacht sollten die Massen vom Olympismus ausgeschlossen sein?149
Städte, Gewerkschaften, Gemeinden, der Staat, politische Verbände und andere Institutionen sollen dafür Sorge tragen, dass niemand vom Sport ausgeschlossen bleibt. Die Möglichkeit Sport zu treiben soll kostenlos sein wie der Theaterbesuch in einem von Wagner erträumten Staat. Bewusst grenzt sich Coubertin von den bestehenden Formen der Körperertüchtigung ab, die lediglich darauf aus seien, die physische Konstitution zu verbessern. Was ihnen fehle, sei „die philosophische Grundlage, das gesteckte Ziel, dieser ganze patriotische und religiöse Apparat".150 Coubertins Sportpädagogik verfolgt dagegen zwei Ziele: aus dem Mosaikmenschen wieder einen ganzheitlichen zu machen und jungen Männern151 jene Eigenschaften zu vermitteln, die im Gefüge moderner Gesellschaften von Bedeutung sind. Orientiert am englischen Beispiel erscheint der Wettkampfcharakter des Sports als Abbild der Lebensbedingungen einer industriekapitalistischen Ökonomie. Zahlreiche Übereinstimmungen prägen das Bild, wie Thomas Alkemeyer festgestellt hat: [...] formale Chancengleichheit; das zum „struggle for life" naturalisierte Konkurrenzprinzip; das Prinzip des Verdienstes, d.h. einer allgemeinen, auf die Eigenleistung sich gründenden Gerechtigkeit, den Grundsatz der Progressivität und Maximierung der Leistung (citius, altius, fortius); die Kontrolle der Gefühle; das Handlungsmuster des „Ich im Widerstand" [...] gegen die Konkurrenten, die natürliche und dingliche Umwelt sowie die schwachen Teile des eigenen Selbst; Momente des Risikos, des Zufalls und der Kooperation.132
Sport nimmt die Rolle des Erziehers ein, er soll die Jugendlichen für die Anforderungen des Lebens wappnen. Das hat zur Folge, dass der Sport moderne Gesellschaftsformen nicht nur nachahmt, sondern sie auch beeinflusst. In diesem Sinne ist der Sport Coubertins, sind die Körper der frühen Olympioniken ungeheuer politisch: Wer verstanden hat, dass im sportlichen Wettkampf alle Teilnehmer dieselben Chancen erhalten, kann nicht nach überkommenen Hierarchien und Standesprivile-
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Vgl. ebd., S. 93. Ebd., S. 52. Ebd., S. 87. Ebd., S. 9. Coubertin spricht zwar oft von der Jugend, meint damit aber junge männliche Erwachsene, keine Kinder oder Jugendliche. Alkemeyer, Wiederbegründung der Olympischen Spiele, S. 73.
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gien verlangen. 153 Genauso gilt aber auch: Wer das olympische Motto des „citius, altius, fortius" verinnerlicht hat, strebt auch in anderen Bereichen nach gesellschaftlichem Fortschritt. Wer die Platzierungsprinzipien des Sports nach Zeiten, Weiten und Noten akzeptiert, akzeptiert auch andere rein auf die Vergleichbarkeit von Zahlen ausgerichtete Bewertungskriterien. Schließlich: Wer daran glaubt, dass sich durch den Sport Eliten bilden, kann kein Egalitarist sein. Leistungsmaximierung umschreibt den Kern von Coubertins Sportverständnis. Darin liegt auch der Hauptgrund, warum Coubertin das Vorbild des britischen Sports favorisiert und das in Deutschland bevorzugte paramilitärische Turnen genauso ablehnt wie die in Schweden praktizierte Massengymnastik oder die ersten Versuche um die Etablierung der Leibesübungen in Frankreich. Coubertin erkennt, dass die Optimierung der Leistungsfähigkeit nach Charakterzügen wie Eigeninitiative oder die Fähigkeit zur Selbstbestimmung verlangt und vermutet, dass die nichtenglischen Formen des Sports allesamt eher durch disziplinatorische Züge bestimmt sind, die die Sportler an der Entfaltung hindern und sie zu fremdbestimmten Wesen machen. Streben nach Leistungsmaximierung beinhaltet eine Anpassung an das kapitalistische System, die auf dem ersten Blick in Widerspruch zur Klage des Olympiagründers über den „Geist der Gewinnsucht" und die Spezialisierung der Gesellschaft steht. Allerdings zeigt schon das Festhalten Coubertins am Amateurstatus der Olympioniken, dass das olympische Diktum des „höher, schneller, weiter" weniger für die stetige Verbesserung der sportlichen Rekorde steht - was in letzter Konsequenz immer erfordern würde, dass der Sport berufsmäßig ausgeübt wird. Vielmehr geht es ihm um das allgemeine „Ziel der menschlichen Selbstvollendung". 154 Sport als Charakterschulung ist ein Ideal, das vom Gedanken ans Geldverdienen angefressen wird. Der Athlet soll sinnbildlich zum Gipfel streben, zum „ewigen Tempel", dem Zirkusgladiator bleibt nur die „Ebene, in der der gemeine Markt errichtet wird".155 3.2.5. Die Eurythmie des Lebens. Harmonisierung von Körper und Geist im Sport Coubertin sieht sich selbst nicht als Philosoph des Leibes. Zwar setzt er das Prinzip „Körper" dem Prinzip „Geist" dialektisch gegenüber, drängt aber nach einer Harmonisierung von Körper und Geist. Das Gegensätzliche soll durch den Sport wieder zu einer Einheit gefuhrt werden; zentral ist der Begriff der „Eurythmie des Lebens". 156 Dass Coubertin als Sportfunktionär hauptsächlich darum bemüht ist, dem Leib zu seinem Recht zu verhelfen, begründet er mit der historischen Situation einer
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Obwohl selbst adlig, sucht Coubertin durchaus den Kontakt zu anderen Bevölkerungsschichten und hält nicht viel vom Standesdünkel. Ommo Grupe: Die Olympische Idee ist pädagogisch. Zum Problem einer olympischen Erziehung. In: Müller/Messing: Suche nach der Olympischen Idee, S. 26 Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 115. Malter, Eurythmie des Lebens, S. 9-16.
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jahrhundertelangen Körpervernachlässigung.157 Er beschreibt Geschichte als ein Pendel, das zwischen den Extremen der Dominanz des Körpers und der des Geistes hin- und herschwingt. Als utopischen Fluchtpunkt sieht er die endgültige Harmonie zwischen Körper und Geist, der Wagnerschen Synthese von sinnlicher Musik und intellektgeleiteter Dichtung im Musikdrama vergleichbar. Die olympische Bewegung entspricht einer geistigen Haltung, die einer doppelten Verehrung entsprungen ist: der für die körperliche Anstrengung und der für die Harmonie. 158
Gemäß der Vorgabe, körperliche Erziehung nicht „zu einer rein physiologischen Angelegenheit zu machen",159 entfalten sich im Sport, wie ihn Coubertin bevorzugt, auch keine zügellosen Kräfte. Zwar soll der Sport Lebensfreude vermitteln und den „Rausch des Blutes"160 spüren lassen, aber gleichzeitig enthält er auch ein Moment der Askese, denn sportliche Höchstleistungen kann nur der Athlet erreichen, der sich eiserner Trainingsdisziplin unterwirft. Selbst beim Boxen kommt es Coubertin zur Folge weniger auf Kraft und tierische Instinkte an, als vielmehr auf Taktik und Strategie. Demnach zeichnet das Wechselspiel von „Übermaß" und „Maß", von „ungestümen Elan" und „lächelnder Ruhe und Selbstbeherrschung"161 den Sport aus - oder, um es in Nietzsches Vokabular auszudrücken, das Wechselspiel von Dionysischem und Apollinischem. Coubertin nennt als Ziel die „Harmonisierung der Maschine Mensch".162 Muskeln, Urteilskraft, Charakter und Gewissen sollen zu einer Verbindung gebracht werden. Folgerichtig ist das Prinzip der Synthese bestimmend für Coubertins Bild vom modernen Sport und für seine Vorschläge zur Gestaltung des olympischen Fests: Die olympische Bewegung stößt Scheidewände um. Sie fordert Luft und Licht für alle, sie befürwortet eine allgemeine und allen zugängliche sportliche Erziehung, die gesäumt von männlichem Schneid und ritterlichem Geist, vermischt mit ästhetisch und literarisch orientierten Veranstaltungen, der Motor für das Leben der Nation und der Mittelpunkt im Leben der Staatsbürger sein soll. Das ist ihr Programm. 163
Um die Prinzipien Körper und Geist auch sinnbildlich zu vereinen, richtet Coubertin Kunstwettbewerbe im Rahmen der Olympischen Spiele ein und schlägt vor, Sportereignisse durch Kunstformen wie Umzüge, Rhythmische Tänze, Orchestermusik oder Chorgesang zu bereichern. Coubertin, der den Geist des Sports durch Spezialisierung in den Einzelsportarten gefährdet sieht, versucht mit der Wiederbegründung der Olympischen Spiele
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Coubertins Sportbegeisterung hatte im Übrigen durchaus ihre Grenzen. Er verzichtete beispielsweise auf den Besuch der Olympischen Spiele 1904 in St. Louis und lauschte stattdessen den Klängen von Lohengrin in Bayreuth. Vgl. Eyquem, Pierre de Coubertin, S. 179-181. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 65. Ebd., S. 64. Ebd., S. 6. Ebd., S. 65. Ebd., S. 7. Ebd., S. 64f.
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auch die einzelnen Sportverbände zusammenzuschweißen. 164 „Sportlichen Eklektizismus" 165 nennt der Olympiapionier seine Forderung, dass alle Formen körperlicher Betätigungen im olympischen Wettkampfprogramm enthalten sein sollen. „All games, all nations" lautet eine berühmte Formel, die den umfassenden Anspruch der olympischen Bewegung, Menschen aus allen Ländern und Kulturen zusammenfuhren zu können, verdeutlicht. Universalismus und Harmonisierung durchziehen die Olympischen Spiele, optisch umgesetzt im prägenden Symbol Olympias, den fünf ineinander verschlungenen Ringen, einer Idee Coubertins. Der Gründer des neuzeitlichen Olympias nennt die Spiele „Feiern der Einheit des Menschen". 166 Propagiert werden sie zusätzlich als Feiern der Einheit der Menschen. 3.2.6. Sport - Kunst - Religion. Das Vorbild der antiken Olympischen Spiele Wie Richard Wagner setzt Pierre de Coubertin der kritisch beäugten Moderne das positive Gegenbild der griechischen Antike entgegen, nicht ohne das Zeitalter der Hellenen zu verklären. In seinen Ausführungen verleiht Coubertin den Spielen der Antike den Nimbus der Erhabenheit und strickt die Legende vom griechischen Athleten, der nur auf der Suche nach Größe und Ruhm war, um dieses Ideal dem verachteten Profisportler entgegenzusetzen. 167 Griechenland wird einmal mehr zum Arkadien, zum Ausdruck vollendeter Kultur. Das griechische Volk habe im harmonischen Gleichgewicht der Kräfte gelebt und - mit sich selbst zufrieden - das Glück im Diesseits gesucht. So lautet ein Topos des 18. und 19. Jahrhunderts, den Coubertin übernimmt. [...] für eine festgegrtindete Polis und eine unangetastete Religion vermochte man [im griechischen Staat, d. Vf.] ohne Furcht zu leben und ohne Bedauern zu sterben, was wir leider nicht mehr können.168 Coubertin fordert wiederholt fur seine Zeit den Neuaufbau der griechischen Gymnasien, deren gleichmäßige Unterrichtung in körperlichen und geistigen Fähigkeiten
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Coubertin bevorzugt auch im Sport den Allrounder gegenüber dem Spezialisten. Das Ideal des Athleten ist der Moderne Fünfkämpfer, eine Sportart, die von Coubertin selbst ins Leben gerufen wurde und aus den Disziplinen Fechten, Reiten, Schießen, Laufen und Schwimmen besteht. Vgl. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 69f. Ebd., S. 81. Ebd., S. 101. Die Athleten des alten Griechenlands waren keineswegs puristische Sportler. Vielmehr waren einige von ihnen die ersten Vermarktungsgenies. Zwar erhielten sie keine materiellen Preise vom Veranstalter der Spiele, aber ihnen winkten Geldgeschenke, Befreiung von Steuern oder Freitische in den Heimatgemeinden, die sich dafür damit schmücken konnten, einen Olympiasieger in ihren Reihen zu wissen. Einige der Sportler haben ihre Heimatgemeinde, unter der sie antraten, sogar verkauft. Außerdem mehrten die Athleten durch den Sieg bei den Olympischen Spielen ihre eigene Popularität, so dass sie bei anderen Agonen entsprechend höhere Startgelder verlangen konnten, ein Verfahren, dass bei heutigen Grand Prix-Veranstaltungen der Leichtathletik immer noch gang und gäbe ist. Vgl. KarlWilhelm Weeber: Die unheiligen Spiele - Das antike Olympia zwischen Legende und Wirklichkeit. Zürich, München 1991, S. 136-149. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 8.
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die menschliche Ausgeglichenheit gefördert habe.169 Das Gymnasium wird zum Spiegelbild der ideal gedachten Polis, da die verschiedenen Lebensbereiche und die verschiedenen Bevölkerungsschichten zusammengeführt werden. Wir stellen hier [im Gymnasium, d. Vf.] ein dreifach geartetes Zusammenwirken fest [...]. Einmal haben wir das Zusammenwirken der Gegenstände; Sport, Hygiene, Wissenschaft, Kunst verquicken sich miteinander. Zweitens, ein Zusammenwirken der Lebensalter; drei Generationen sind anwesend: der Jugendliche, der Erwachsene, der Alte. Und drittens ein Zusammenwirken der Berufe; der Praktiker, der Theoretiker, der Natur- und der Geisteswissenschaftler, der Politiker und der Privatmann, der Organisierte und Unabhängige stehen in einer Art wohltuender Mischung nebeneinander.' 70
Während das Gymnasium den Ort der harmonischen Erziehung darstellte, waren die Olympischen Spiele schließlich der zeremonielle Anlass, an dem die Früchte der Erziehung sinnlich zur Anschauung gebracht wurden. Dort wurde das Gleichgewicht zwischen Körper und Geist besonders augenfällig, denn in Olympia fanden neben den sportlichen Wettkämpfen auch Kunstdarbietungen und philosophische Debatten statt. Zudem waren die zyklisch wiederkehrenden Feiern religiöse Handlungen, die zu Ehren der griechischen Götterwelt abgehalten wurden und bei denen Opferriten zum festen Bestandteil gehörten.171 Der religiöse Überbau sicherte die Anerkennung Olympias als Kulturereignis und bewegte eine große Menge Menschen, zu den Spielen zu kommen. In den Berichten griechischer Schriftsteller aus der Antike heißt es übereinstimmend, dass „alle Griechen" bei den Spielen anwesend waren.172 Olympia wurde so auch zu einem Versammlungsort des Volks. An der Wertschätzung, die den Spielen entgegengebracht wurde - abzulesen an der Tatsache, dass während der Dauer der Spiele ein Burgfrieden zwischen allen griechischen Staaten eingehalten wurde - misst Coubertin den Stellenwert des Sports für den griechischen Staat. Als Teil der Kultur gehörte der Sport nicht nur in den Bereich der militärischen Ausbildung, sondern wurde von den Griechen zu einer bürgerlichen Betätigung weiterentwickelt. Die Motive, Sport zu treiben, waren vielfaltig: Lebensfreude auszuleben und darzustellen, den Körper schön zu gestalten, gesund zu leben oder sich für die Verteidigung des Vaterlandes vorzubereiten. Was den Sport der Griechen von dem anderer antiker Völker unterscheidet, ist die Ernsthaftigkeit, mit der er ausgeübt wurde. Im Faustkampf kamen nicht wenige der Athleten ums Leben, Boxhandschuhe wurden mit Blei beschwert, um sie gefährlicher zu machen, den Tod im Wettkampf empfanden manche Athleten ehrenvoller als die sportliche Niederlage.173 Heute mag ein solches Sportverständnis martialisch anmuten, Coubertin glaubte jedoch, dass vom Sport eine Ehre und Würde ausgegangen war, die die gesamte Stadt Olympia ergriffen hatte. Die antiken Spiele seien
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Vgl. ebd., S. 60. Ebd., S. 58f. Vgl. Paul Veyne: Was faszinierte die Griechen an den Olympischen Spielen. In: Gebauer, Utopie der Moderne, S. 41. Ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 47.
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daher auch in der Hauptsache Sportveranstaltungen gewesen und erst in der Folge dann auch Stätten der Kunst und des Gebets. Der heilige und ästhetische Charakter Olympias waren die Folge seiner muskelbestimmten Rolle.174 Dieser Anschauung nach hat der Sport selbst im Kem schon künstlerische und religiöse Züge. 175 Die griechische „Religion ohne Bücher" 176 sei auch eine Religion des Athletentums gewesen, in der die „reinrassigen" und moralisch untadeligen Teilnehmer der Spiele die Götter durch ihre „gestählten und ausgeglichenen Körper" 177 geehrt hätten. Aufgrund ihres religiösen Charakters erreichten die Spiele die ganze Bevölkerung und waren so Ausdruck einer Kultur, die noch im Stande war, einen übergeordneten Zusammenhang zu vermitteln. Gleichzeitig begeisterte das Spektakel der Spiele auch die Bevölkerung. 178 Wie alle religiösen Feste wurden die Olympischen Spiele vom Volk vornehmlich als Feiern verstanden. Die Griechen strömten zu den Wettkämpfen mindestens ebenso sehr aus Neugier und aus der Lust etwas zu erleben wie aus dem Verlangen nach religiöser Besinnung. Beide Möglichkeiten hielten die Olympischen Spiele aufgrund ihres Charakters offen und gerade das bewundert Coubertin an ihnen. Der christliche Kaiser Theodosius schaffte die antiken Spiele per Edikt ab, so dass die Tradition im Jahre 393 n. Chr. zum Erliegen kam. Coubertin misst der Olympischen Idee jedoch mythische Bedeutung bei. Die zyklische Wiederkehr der Feiern im antiken Griechenland birgt schon den Gedanken der Unendlichkeit. Wie die Jahreszeiten kehrt Olympia immer wieder. Gut 1500 Jahre nach dem Ende der Spiele ist der ideelle Kern der Feiern für Coubertin nach wie vor lebendig: Ich erhebe mein Glas auf die Olympische Idee, die gleich einem allmächtigen Sonnenstrahl die Nebel der Zeiten durchquert hat und nun an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts wiederaufleuchtet als ein Widerschein fröhlicher Hoffnung.179
3.2.7. Olympias Wiedergeburt Mit der Wiederbegründung der Olympischen Spiele am Ende des 19. Jahrhunderts verfolgt Coubertin gleich mehrere Ziele. Zunächst sucht er nach einer Möglichkeit,
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Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 26. Eine ähnliche Verbindung zeigt Jane Harrison auf (vgl. Harrison, Themis), da sie Sport und Theater auf den Ursprung der dionysischen Riten zurückführt. Das legt nahe, Sport, Kunst und Religion als drei verschiedene Ausprägungen eines Ur-Bedürfhisses des Menschen zu sehen, was zu der Annahme ihrer gegenseitigen Verwandtschaft berechtigt. Albert Thibaudet. Zitiert nach Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 127. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 126. Während der Wettkämpfe wurde in Olympia auch ein Jahrmarkt abgehalten. Zusätzlich gab es noch zahlreiche weitere profane Vergnügungen, die genauso zum Bild der Olympischen Spiele gehörten wie der feierliche Emst. Vgl. Veyne, Was faszinierte die Griechen, S. 56. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 7.
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den Sport in Frankreich populär zu machen. Er erkennt, dass sich das Ziel der nationalen Stärkung nur erreichen lässt, wenn der Sport nicht das Privileg einiger weniger bleibt, sondern breite Bevölkerungsschichten sich sportlich betätigen. Um aber die Massen für den Sport zu begeistern, braucht es Vorbilder, nämlich die Sieger der großen Wettkämpfe. Als Höhepunkt der Wettkampfkultur konzipiert heben die Olympischen Spiele den wahren Champion hervor und bieten zudem den Athleten ein Ziel, für das es sich lohnt, zu trainieren. Weiterhin ist Coubertin überzeugt, dass die Nationen ihre eigene Stärke im Vergleich mit anderen messen müssen und richtet die Spiele daher als internationale Großereignisse aus. Der kosmopolitische Charakter180 macht Olympia zu einem Weltereignis. Dabei sichern der Wechsel des Austragungsorts und der 4-Jahres-Zyklus den dauerhaften Bestand der Spiele. Gerade diese Konstanz braucht die noch junge Sportbewegung, um nicht als modische Erscheinung wieder einzugehen. Noch steht Coubertins Sportpädagogik auf tönernen Füßen, und er will durch die Begründung eines neuen Weltsportfest die Kräfte bündeln, alle Sportarten - und somit alle Sportbegeisterten - unter einem Dach vereinen. Die Olympischen Spiele sollen zu einem „sinnfälligen Werbemittel für die sportliche Erziehung"181 werden. Aber das ist nur der bescheidenere Teil des Projekts. Schließlich geht es Coubertin nie um den Sport allein, sondern immer um die Menschen. Die sieht er in der Moderne zweifach leiden: am Mangel sinnlicher Erfahrungen in einer immer abstrakter werdenden Umwelt sowie an der fehlenden Integration in der Gesellschaft. Beides soll durch die Teilhabe an den Olympischen Spielen kompensiert werden. Das Olympische Fest soll die „Sinnlichkeitsdefizite moderner Politik beheben"182 und es soll allen Menschen, nicht nur den Sportlern, eine neue Heimat geben. In dem Versuch, diese beiden Punkte zu erfüllen, wird Olympia ebenso sehr zum „Gesamtkunstwerk" im Wagnerschen Sinne wie eine RingAuffuhrung in Bayreuth. 3.2.8. Gottesdienste am olympischen Feuer. Mythen, Kult und gemeinschaftliche Werte in Coubertins „religio athletae" Coubertin verspricht die „(Wieder)-Herstellung von Einheit, Ganzheit und Sinn"183 und bezeichnet den Olympismus als Religion. Für mich bedeutete Sport eine Religion mit Kirche, Dogmen, Kultus ... aber besonders mit einem religiösen Gefühl." 4
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Coubertin selbst steht dem Kosmopolitismus zwar keineswegs offen gegenüber und bezeichnet ihn sogar als Gefahr (Olympischer Gedanke, S. 133), aber er nimmt ihn als unumstößliche Zeiterscheinung hin und versucht die internationalistische Stimmung - ganz pragmatisch - für seine Zwecke zu gebrauchen. Alkemeyer, Wiederbegründung der Olympischen Spiele, S. 75. Ebd., S. 77. Ebd., S. 82. Pierre de Coubertin: Olympische Erinnerungen. Hg. und eingeleitet von Prof. Dr. Carl Diem, Berlin 1936, S. 107. Diese Auffassung steht im krassen Gegensatz zu einer anderen
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Die Religiosität seines Sportprogramms zieht sich wie ein Leitfaden durch Coubertins Reden und Schriften. Er möchte die Olympischen Spiele von einer Serie von Weltmeisterschaftsentscheidungen abheben, mystifiziert seine eigene Idee und überhöht diese zur „religio athletae".185 Es ist wohl auf diesen Anspruch zurückzuführen, dass Coubertin das historische Olympia zum Vorbild der neuzeitlichen Olympischen Spiele wählt. Der hoch angesiedelte ideelle Charakter, das Vermischen des Sports mit religiösen Praktiken bildeten ein deutliches Gegenbild zu der Profanität der Moderne. Zugleich verschafft er mit dem Anknüpfen an die legendäre Vergangenheit seiner Neuschöpfung eine mehr als zweitausendjährige Tradition. Allerdings strebt er keine Wiederholung der Antike an, sondern will einen der Gesellschaft der Moderne angemessenen Mythos entfachen. An die Stelle der griechischen Götter tritt daher der Begriff der Nation: [Es] bot sich uns auch in unserem verweltlichten Jahrhundert eine Religion an; die zum Lohn für den siegreichen Athleten am Mast emporsteigende Nationalflagge - Symbol des modernen Patriotismus - das sollte die Fortsetzung des Gottesdienstes am wieder aufleuchtenden Olympischen Feuer sein."6 Trotz der olympischen Rhetorik von Frieden und Völkerverständigung zeigt sich Coubertin angesteckt vom Nationalismus, der sich in Europa im 19. Jahrhundert ausbreitet und im Ersten Weltkrieg gipfelt. Er verherrlicht die einzelnen Nationen, wünscht sie sich stark und als Ersatz für verloren geglaubte Ideale. Daher treten die Sportlerinnen und Sportler bei Olympischen Spielen nicht für sich selbst an, sondern für ihre Nation. Sie können dessen versichert sein, daß ein Einsatz für ein sportliches Werk ein Einsatz für ihr Vaterland ist.1®7 Aus der ganzen Welt sollen die jugendlichen Massen zur Feier der Olympischen Idee zusammenkommen, doch das Ziel bleibt die Stärkung nationaler Bindungen. Diese doppelte Ausrichtung scheint modellhaft für den historischen Prozess in der Moderne zu stehen, der trotz der Möglichkeiten einer weltweiten Kommunikation
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Aussage Coubertins, der Olympismus sei kein System, sondern lediglich eine geistige Grundhaltung (Olympischer Gedanke, S. 65). Letztere Behauptung wird allerdings schon durch die Gründung des IOC widerlegt. Eine weltumspannende Bewegung bedarf auch einer straffen Organisation, um erfolgreich zusammengehalten werden zu können. An anderer Stelle bezeichnet Coubertin das IOC auch als Priesterkollegium. Vgl. ebd., S. 98. Insofern erscheint der Olympismus eher als System von Ideen, Zeichen, Regeln, Personen und Organisationen, dessen Strukturen die von religiösen Systemen nachahmen. Die Hochämter der Sportreligion sind die Olympischen Spiele, ihre Liturgie ist im Eröffhungszeremoniell festgeschrieben, die Tempel sind die Sportstadien der Welt, und Coubertin selbst wird so zu nichts geringerem als einen Religionsgriinder. Liegt die Betonung auf dem Religiösen lässt sich auch der Widerspruch zwischen Amateurgedanken und profihafter Spezialisierung im Leistungssport auflösen. Letztlich ist es egal, ob jemand Geld für seinen Sport bekommt - schließlich werden auch die Kirchendiener und Priester bezahlt - , es kommt nur darauf an, den Sport mit Hingabe und einer Art innerer Versunkenheit auszuführen, wie man es ebenfalls vom Priester erwarten kann. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 150. Ebd., S. 133. Ebd., S. 10.
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und Annäherung unter den Staaten, nationalistische Abgrenzungsbemühungen zur Folge hat.188 Sport soll Nationalgeflihle wecken und so den Zusammenhalt jedes Volkes stärken. Die Bewunderung für den Olympiasieger schlägt um in Stolz auf den Triumph aus den eigenen Reihen. Über den Sport werden so emotionale Bindungen an eine Gemeinschaft geschaffen, die Coubertin Ende des 19. Jahrhunderts vermisste. Die verherrlichte Nation wird zum Inbegriff sozialer Integration. Coubertins Nationalismus schlägt sich im Protokoll der Eröffnungszeremonien nieder. Blockweise marschieren die Athletinnen und Athleten uniformiert in den Farben ihres Heimatlandes und hinter der Nationalflagge ein. Die Nationalhymne des Gastgeberlandes wird gespielt und das jeweilige Staatsoberhaupt eröffnet die Spiele.189 Zum olympischen Selbstverständnis gehört neben der Stärkung nationaler Bindungen auch der Wille, ein Band zwischen allen Menschen zu knüpfen. Dazu bedarf es eines allgemeinmenschlichen Wertekanons, dem alle zustimmen können. Der Olympismus selbst ist zu vage und ungenau formuliert, als dass er einen solchen allumfassenden Überbau leisten könnte. Seine Grundaussage, dass Menschen Sport treiben sollen, um zu einer harmonischen Ausgeglichenheit ihres Wesens zu gelangen, erklärt noch nicht, warum sie sich dafür alle vier Jahre zu Olympischen Spielen versammeln müssen. Dieses Vakuum der Olympischen Idee füllt ein Wort aus: Frieden. So heißt es in der Olympischen Charta, dass Ziel des Olympismus sei, „der Schaffung einer friedliebenden Gesellschaft forderlich zu sein, die sich der Bewahrung der Menschenwürde verpflichtet fühlt".190 Olympia wird als friedenstiftendes Fest vermarktet, wobei sein Beitrag zum Weltfrieden nach Vorstellung des Olympiagründers darin liegt, die Völker untereinander bekannt zu machen. Von den Völkern zu verlangen sich gegenseitig zu lieben, ist eine Art Kinderei; sie aufzufordern, sich zu achten, ist keine Utopie; aber um sich zu achten, muß man sich zunächst kennen.191
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Vgl. Alkemeyer, Wiederbegründung der Olympischen Spiele, S. 95. Vgl. NOK, Olympische Charta, S. 56-59. Die Präsentation des Gastgeberlandes ist im Protokoll zwingend vorgeschrieben. Angesichts solcher Vorgaben ist es auch leicht verständlich, warum es beispielsweise den Nationalsozialisten so leicht fiel, die olympischen Symbole mit ihren eigenen Emblemen zu verschmelzen, und Olympische Spiele im Laufe ihrer Geschichte immer wieder zu Propagandazwecken ,anissbraucht" worden sind. Der Begriff des Missbrauchs trifft allerdings nicht den Kem, da die Selbstdarstellung des Gastgeberlandes - und damit eben die Propaganda - vom IOC so vorgesehen ist. NOK, Olympische Charta, S. 2. Gunter Gebauer merkt dazu an, dass es ein offenes Geheimnis sei, dass die Funktionäre des IOC sich selbst gerne mit dem Friedensnobelpreis dekoriert sehen würden. Coubertin ist 1936für den Nobelpreis vorgeschlagen worden, wurde aber nicht gewählt. Der Vorschlag kam übrigens vom nationalsozialistischen Deutschland. Vgl. Gunter Gebauer: Krieg und Spiele. Was bewirkte der Olympische Frieden? In: Ders., Utopie der Moderne, S. 282. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 154. Dieser Ansatz ist in der heutigen Zeit natürlich überholt. Es häufen sich daher die symbolischen Gesten, in denen das sportliche Miteinander die Basis für politische Konfliktlösungen bieten soll: Bei der Eröffnungsfeier in Sydney
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Ursprünglich geht die Verbindung von Olympia und Frieden auf die antike Tradition zurück, die besagt, dass während der Olympischen Spiele im gesamten griechischen Raum die Waffen ruhen sollten. Was zunächst als reiner Selbstzweck gedacht war es ging den Griechen vor allem um die Durchführbarkeit ihrer Olympischen Spiele192 - wird nun als hehres Ideal auf die Fahnen der olympischen Bewegung geschrieben. Über die kollektive Sehnsucht nach Frieden versucht Coubertin die Olympische Idee in die Herzen der Menschen zu verpflanzen. Frieden ist stets positiv konnotiert und dabei gleichzeitig ein so dehnbarer Begriff, dass keine Gruppierung der Welt von der Teilhabe am Olympischen Fest ausgeschlossen wird.193 Dies entspricht einem grundlegenden Selbstverständnis der olympischen Bewegung: Schließlich gehören die Olympischen Spiele „der ganzen Welt".194 Der tatsächliche Beitrag, den Olympia - oder stellvertretend das IOC - für den Weltfrieden leistet, ist allerdings eher gering einzuschätzen. Weder gibt es eine verbindliche „heilige Waffenruhe" während der Spiele, noch übernimmt das IOC auch nur eine symbolische Vermittlerrolle in politischen Konflikten. Vielmehr hält es sich mit Stellungnahmen zurück. Insbesondere in den 30er Jahren weisen etliche der IOC-Mitglieder zudem Affinitäten zu antisemitischen und rassistischen Einstellungen auf oder zeigen ihre militärische Gesinnung.195 Coubertin selbst meldet sich als 51-jähriger während des Ersten
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2000 liefen zum Beispiel Nord- und Südkorea gemeinsam hinter einer Flagge ins Stadion ein. 1994 besuchte zudem IOC-Präsident Samaranch während der Winterspiele von Lillehammer den ehemaligen Olympiaort Sarajewo, zu der Zeit Schauplatz des bosnischen Bürgerkriegs. Solche Gesten bleiben unverbindlich, aber sie liefern Ansatzpunkte, um in der Weltöffentlichkeit Olympia als Fest des Friedens darzustellen. Vgl. Gebauer, Krieg und Spiele, S. 283. Es ist auch fraglich, ob der Friede im antiken Griechenland tatsächlich eingehalten wurde. Vieles deutet daraufhin, dass die Waffenruhe auch bei den antiken Spielen eher Wunschvorstellung als Regel gewesen ist. Vgl. ebd. Wie dehnbar der Friedensbegriff ist, zeigt die Einleitung zum offiziellen Olympia-Album der Spiele von 1936. Dort wird das nationalsozialistische Gastgeberland Deutschland als „Insel des Friedens" bezeichnet. In: W. Richter: Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin und Garmisch-Partenkirchen. Hg. vom Cigaretten-Bilderdienst Hamburg-Bahrenfeld 1936. Unveränderter Nachdruck des März-Verlages. Frankfurt am Main 1972, S. 5. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 114. So begründet Coubertin den Wechsel der Austragungsorte. Allerdings hat auch das einen praktischen Nutzen. Zum einen sichert er das Interesse möglichst vieler Nationen (wie man heute an den harten Ausscheidungskämpfen bei der Vergabe der Olympischen Spiele sehen kann), zum anderen weiß Coubertin um die finanziellen Mittel und das organisatorische Geschick, das eine solche Veranstaltung braucht und befürchtet, dass dies nicht dauerhaft von einem Land geleistet werden kann. Vgl. Olympische Erinnerungen, S. 45. Zu Beginn hat sich Coubertin Mühe gegeben, dem pazifistischen Anspruch der Bewegung auch durch die Besetzung des IOC Rechnung zu tragen. Mehrere Friedensnobelpreisträger sind daher in den weiteren Kreis des „Priesterkollegiums" gewählt worden. Vgl. Gebauer, Krieg und Spiele, S. 281. In den 30er Jahren ist davon nichts mehr zu spüren. Nur einer der IOC-Mitglieder, US-Politiker Ernest Lee Jahncke, kritisiert öffentlich die NS-Diktatur und setzt sich für die Gleichheit der Rassen ein. Er wird 1936 vom IOC ausgeschlossen. Als sein Nachfolger wird Avery Brundage gewählt, von 1952-1972 IOC-Präsident und prodeutsch sowie profaschistisch eingestellt. Auch der faschistische General Vaccarao und der Sohn des ungarischen Reichsverwesers, N.D. Horthy, werden in das Gremium gewählt. Vgl. Teichler, Sportpolitik im Dritten Reich, S. 256.
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Weltkriegs freiwillig zum Kriegsdienst.196 Bezeichnenderweise verlangt er erst in den Jahren nach 1919 immer wieder, dass für die Dauer der Spiele ein Burgfrieden eingehalten werden soll - also erst nachdem die Katastrophenerfahrung die Einstellung der Menschen zum Krieg verändert hatte und die Olympischen Spiele 1916 ausfallen mussten. Zu Beginn seines Schaffens hat er den Internationalismus des 19. Jahrhunderts noch hingenommen wie schlechtes Wetter, ohne allerdings zu verkennen, welche Sogkraft von ihm ausging: Es handelt sich [beim Internationalismus, d. Vf.] um eine Strömung, die aus dem großen, aus den Tiefen des Menschenherzens emporsteigenden Friedens- und Brüderlichkeitsbedürfnis herausfließt. Der Friede ist zu einer Art Religion geworden, um deren Altäre sich Tag für Tag eine wachsende Menge von Gläubigen scharen wird.197
Diese neue „Religion" will Coubertin nutzen, um sein Olympisches Fest populärer zu machen. Der olympische Frieden ist kein politisches Ziel, sondern eine mythische Metapher, mit der religiöse Gefühle bedient werden sollen. Religionen interessieren Coubertin nicht aufgrund ihrer theologischen Aussagen oder wegen des Glaubens, den sie vermitteln, sondern weil sich auf ihnen eine kulturelle und soziale Einheit gründet. Religionen beinhalten einen verbindlichen Verhaltenskodex, weisen dem Individuum einen festen Platz im Universum zu, geben den Menschen das Gefühl zu einer großen Gruppe zu gehören und schenken über ihre Festkultur den Gläubigen unvergessliche Erlebnisse.198 Sport wird zur Zivilreligion: Es gibt nur einen Kult, der heute eine dauerhafte Bindung der Staatsbürger untereinander bewirken kann, das ist der, der um die sportlichen Übungen der Jugend, dem Symbol des unbeschränkten Fortbestandes der Rasse und der Hoffnung der Nation, entstehen wird.199
Coubertin geht davon aus, dass sich religiöse Gefühle nur über den praktizierten Kult vermitteln lassen. In der „religio athletae" sind die Wettkämpfe die kultischen Versammlungen, da sie als öffentliche Veranstaltung - ähnlich wie das Theater große Menschenmengen zu bestimmten Anlässen zusammenfuhren. Symbolisch steht das Olympiastadion als „Zentrum für gemeinschaftliche Aufführungen und Vergnügungen".200 Im Stadion aber ist - und das überrascht angesichts des den Spielen übergestülpten religiösen Modells - das Publikum, die Festgemeinde nur bedingt willkommen. Zwar weiß Coubertin, dass er die Zuschauermassen benötigt, um der Olympischen Idee das nötige Gewicht zu verleihen, fürchtet aber gleichzeitig um die Würde der Veranstaltungen, da die Massen von bis zu 80.000 Zuschauern
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Er wird allerdings nicht eingezogen. Vgl. Ullrich, Coubertin, S. 125. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 10. Vgl. Kurt Weis: Die Priester der Muskelkraft. Über die Olympischen Spiele als Religionsersatz. In: Caysa, Sportphilosophie, S. 325. Indem Coubertin die bindende Kraft von Religionen als Antwort auf die Zersetzungserscheinungen des 19. Jahrhunderts beschwört, steht er in direkter Nähe zur französischen Soziologie um Emil Dürkheim. Vgl. Alkemeyer, Wiederbegründung der Olympischen Spiele, S. 82-88. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 67. Ebd.
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die Tragweite der Feiern nicht verstünden 201 und mit lautem Geschrei und Jubel den mystischen Charakter des Sports zerstörten. Er wünscht sich Sportveranstaltungen, in denen nur andere Athletinnen und Athleten im Publikum sitzen, Wettrennen ohne Beifallsbekundungen, Boxkämpfe ohne einen Zuschauer. Coubertin Ubersieht, welch enorme Bedeutung die Zuschauermassen für die angestrebte Gemeinschaftserfahrung im Sport haben. Das Spektakel, das die Zuschauerinnen und Zuschauer veranstalten, gibt ihnen das Gefühl selbst an Verlauf und Ausgang des sportlichen Dramas mitzuwirken. Das Publikum agiert als eine organische Masse, bietet aber auch dem Sportler eine virtuelle Heimat. Seine Anstrengungen lohnen sich, denn seine Taten vollbringt er nicht nur für sich, sondern für begeisterte Fans, für ein Volk. Coubertin verkennt diesen Punkt, teils weil ihn den Lärm der Zuschauer zu sehr an den Profisport erinnert, teils weil er auch im Zuschauer nicht den Fan sehen will, sondern den zukünftigen Athleten. Nur als solchem gewährt ihm das idealisierte Sportverständnis Coubertins Zutritt ins Olympiastadion, ist er zugelassen für den Bereich, der dem allerheiligsten Bezirk im antiken Olympia entspricht, der Altis. Hier finden die Messen von Coubertins Muskelreligion statt, in denen die Athleten der Einzelsportarten, namentlich die „Turner, Läufer, Reiter, Schwimmer und Ruderer, Fechter und Ringkämpfer", 202 zu Priestern werden. Ihre Handlungen sind nachvollzogene mythische Kämpfe gegen sich selbst und andere, gegen die Kräfte der Natur. Zahlreiche Autoren haben darauf hingewiesen, dass der Sport mythische Grundzüge besitzt, die zudem von Sportfunktionären wie Coubertin und von den Medien permanent herausgestellt werden. Zu Roland Barthes' Beschreibungen von den „Mythen des Alltags" 203 gehört auch die Tour de France, Gunter Gebauer nennt den Sport eine .Mythen-Maschine" 204 und Hans Lenk sieht Sportler als mythische Zwittergestalten an, ausgestattet mit Zügen von Herkules und Prometheus. 205 Lenk bezeichnet den sportlichen Wettkampf als symbolisches Rollendrama, in dem die Rollen in sichtbarer Dynamik und Dramatik holzschnittartig auf einfachste Konfrontationen zusammengeschnitzt sind.206 Die Faszination des Sports erklärt sich aus seiner mythischen Kraft. An Herakles erinnert der Aufstieg aus den widrigen Umständen über körperlichen Einsatz zur „Weltmeisterschaft" - ein Begriff, der auch beinhaltet, das eigene Leben zu meistern. An Prometheus erinnern der schöpferische Drang, Grenzen - Rekorde - immer weiter auszuweiten, die Lust am Neuen, Noch-nie-Dagewesenen, aber auch die „Zusammengehörigkeit von Können und Qual", 207 wobei das Leiden durch die hohe 201 202 203 204 205 206 207
Vgl. ebd., S. 101. Ebd., S. 153. Titel von: Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964. Titel von: Gebauer, Mythen-Maschine. Vgl. Hans Lenk: Mythisches im Sport. In: Das andere Olympiabuch. Albertville - Barcelona 1992. Hg. von der Deutschen Sportjugend, Schorndorf 1992, S. 41. Ebd. Michael Schefczyk: Athleten und Asketen. Von der kynischen Wiederkehr des Körpers. In: Jürgen Court (Hg.): Sport im Brennpunkt - philosophische Analysen. Sankt Augustin 1996, S. 131.
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Fertigkeit der Körperbeherrschung, die spielerische Leichtigkeit der Bewegungen, zumeist optisch überdeckt wird. Das sportliche Universum ist voll von mythischen Erzählungen und Figuren: Die Boxer sind die Heroen der Unterwelt. In der schreckenerregenden Gestalt von Mike Tyson scheint zumal neben der unbezwinglichen Kraft etwas von herakleischem Jähzorn lebendig zu sein. Aber auch Pele, ein Halbgott des Fußballs, erzählt eine Geschichte vom Hinauswachsen des Menschen über sich selbst. Den Leistungen der herausragenden Sportler muß etwas Unglaubliches, Undenkbares, Naturwidriges eignen, um zu faszinieren. Mythisch war Bob Beamons mexikanischer Satz zur Widerlegung der Schwerkraft, den man ungläubig mehrfach nachmaß. Mythisch sind auch die Rennwagenlenker mit ihren röhrenden Maschinen und ihrer haarfeinen Nähe zum Sterben. Ist der Erfolg im Wettkampf lediglich der verdiente Lohn für die Mühe der Vorbereitung und das wohlberechnete Ergebnis der Trainingsprogramme, so verliert der Sport mit seiner mythischen Dimension auch die Faszinationskrafit. Wird der Sport völlig übersetzt in eine disziplinierte Tätigkeit ohne Inspiration und Witz, ohne die Hochgefühle des mythischen Helden, dem durch Glück und Geschick etwas Unwahrscheinliches gelingt, dann findet er kein Interesse mehr.20« Die mythische Aura verleiht dem Sport etwas Entrücktes und Unangreifbares, wie Roland Barthes erklärt: Die Funktion des Mythos besteht darin, das Reale zu Entleeren. [...] Der Mythos leugnet nicht die Dinge [...] Er reinigt sie nur einfach, er macht sie unschuldig, er gründet sie als Natur und Ewigkeit, er gibt ihnen eine Klarheit, die nicht die der Erklärung ist, sondern die der Feststellung.209 Mythologie bedeutet „Zustimmung zur Welt". 210 Zustimmung zur olympischen Welt will Coubertin erreichen, der um die mythische Kraft des Sports weiß und alles daran setzt, Olympische Spiele als mythische Ereignisse zu präsentieren. Typisch ist die Aufnahme des Marathonlaufs in das Programm der ersten Olympischen Spiele 1896 in Athen. Niemand verfügte Ende des 19. Jahrhunderts über das Wissen oder die Erfahrung, ob Menschen überhaupt in der Lage sind, solche Strecken zu laufen die längste andere Laufstrecke in Athen ging über 1.500 Meter. Dennoch wurde der Wettbewerb eingeführt, um an die Legende des Boten von Marathon zu erinnern, der nach Überbringung der Nachricht vom Sieg Athens tot zusammengebrochen sein soll. 211 Der Marathonlauf beschwört die legendäre Vergangenheit herauf und gibt aufgrund der extrem hohen Anforderungen, die er an die Strapazierfähigkeit des menschlichen Körpers und an den Willen des Athleten stellt, Anlass zur Hoffnung auf neue mythische Heldentaten.
208 209 210 211
Ebd., S. 129. Barthes, Mythen des Alltags, S. 131. Ebd., S. 148. Die Legende basiert nicht auf historisch belegten Fakten. Im Vorfeld der Olympischen Spiele wird sie aber so propagiert, als handele es sich um einen realen Vorgang. Selbst bei Kritikern der Olympischen Spiele oder griechischen Altphilologen ist kein Zweifel an der Echtheit der Marathon-Legende spürbar. Vgl. Mac Aloon, Great Symbol, S. 225. Mac Aloon gibt einen ausführlichen Überblick über Entstehungsgeschichte und Ablauf des ers-ten olympischen Marathonwettbewerbs. Vgl. ebd. S. 225-241.
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[... ] no one knew in advance whether the Marathon was an athletic contest or a semireligious ordeal, and few were entirely certain after it.212
Coubertins Beschreibung vom Sieger des ersten Marathon-Wettbewerbs, dem Griechen Spiridion Louys, zeigt, dass er den Sport gerne als Gegenbild zur wissenschaftlich-technokratischen Welt betrachtet: Spiridion Louys war ein wundervoller Hirte im volkstümlichen Schäfergewand, der keine Ahnung von praktischem Training auf wissenschaftlicher Grundlage hatte. Er bereitete sich durch Fasten und Beten vor und verbrachte, wie es hieß, die letzte Nacht vor den Heiligenbildern, inmitten heller, angezündeter Kerzen. Sein Sieg war herrlich in seiner Kraft und Einfachheit. Beim Einlauf ins Stadion, in dem sich mehr als sechzigtausend Zuschauer drängten, zeigte er keine Spur von Erschöpfung, und als die Prinzen Konstantin und Georg ihn spontan auf die Anne nahmen und ihm zum König trugen, der vor seinem Marmorthron stand, schien es, als ob das ganze hellenische Altertum mit ihm einträte. Unerhörter Beifall erhob sich 213
Mehr noch als die sportlichen Wettkämpfe übernehmen die Eröffnungsfeiern die Funktion, das Mythische der Olympischen Spiele zu manifestieren. Coubertin legt daher von Beginn an großen Wert auf die Gestaltung der Eröffnungszeremonien und bemüht sich, kultische Momente in sie zu integrieren, denn erst in den Symbolen und Ritualen, in der gemeinsamen Anbetung von Reliquien oder in Prozessionen wird „einer ansonsten abstrakten Gemeinschaft eine greifbare Wirklichkeit verliehen".214 1908 und 1912 werden daher christliche Gottesdienste im Eröffnungsprogramm abgehalten, die danach allerdings wieder abgeschafft werden, um die nichtchristlichen Völker nicht vom Besuch der Spiele abzuschrecken.215 So ritualisieren Elemente aus weniger kulturell gebundenen Kontexten die Feiern: das Hissen der Olympischen Fahne, das Entzünden des Olympischen Feuers und der Schwur des Olympischen Eids - Momente, die die Symbolik anderer Kulte und Religionen wiederholen. Die Eröffnungszeremonien sind nach den Coubertinschen Vorgaben wie Initiationsriten zu einem sakralen Fest. Solange das Olympische Feuer brennt, ist alles, was es sinnbildlich erleuchtet, heilig. Olympia selbst wird zu einem Mythos, der in die Vergangenheit schaut und in die Zukunft blickt. Olympia ist dem Ablauf der Zeit entronnen. Wie in anderen Religionen soll sogar der Tod überwunden werden: Schließlich werden wir uns der Hoffnung erinnern, denn unter dem symbolträchtigen Zeichen der Flagge mit den fünf Ringen ist in der Freude an körperlicher Betätigung ein gegenseitiges Verstehen geboren worden, das stärker ist als selbst der Tod.216
Dieses gegenseitige Verstehen, so vage es in den Ausführungen Coubertins bleibt, macht den olympischen Geist aus, welcher zunächst im Zeremoniell und später dann in den Wettkämpfen erfahrbar wird. Der olympische Geist verlagert sich in die Welt
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Ebd., S. 270. Coubertin, Olympische Erinnerungen, S. 48. Alkemeyer, Wiederbegründung der Olympischen Spiele, S. 84. Henning Eichberg: Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel Zeremoniell. Stuttgart - Bad Canstatt 1977, S. 147. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 156.
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und
olympisches
der Sinne und löst sich schließlich ganz in ihnen auf. Es gibt keine bedeutsame Botschaft, die im Entzünden des Feuers liegt, und selbst beim Eid ist es weniger wichtig, was die Athleten schwören, als dass sie es Uberhaupt tun. Das Interessante [...] ist, daß niemand an die Wirksamkeit der rituellen Akte, Beschwörungen, Zauberworte dieses Kults glaubt, daß ihn kaum jemand richtig zur Kenntnis nimmt [...]. Es kommt auf den Inhalt kaum an. Er besitzt keine Botschaft, sondern er ist selbst die Botschaft. Wichtig an ihm ist allein, daß er vollzogen und übermittelt wird, daß die Zuschauer direkt von ihm angesprochen und an ihm beteiligt werden, daß sie sich dabei mit allen anderen Beteiligten verbunden fühlen. Die Olympischen Spiele sind auf Stimmungserzeugung ausgerichtet [...]217
Das entspricht ganz dem Denken Coubertins. Es geht ihm darum, religiöse Bräuche und gemeinschaftliche Riten zu erneuern, um Kollektivgefiihle zu wecken. Der Sinn liegt im Vollzug des Rituals, nicht in einer dahinter stehenden Lehrmeinung, da er die unmittelbare Wirkung des Mythos für stärker einschätzt als die spätere argumentative Auseinandersetzung mit seiner Botschaft.219 Das ist ziemlich sportlich gedacht, denn die Idee des Sports lässt sich nicht beschreiben, sondern nur im sportlichen Handeln erfahren. 3.2.9. Sinnliche Arrangements. Die Beteiligung der Künste am Olympischen Fest Ein Konzept, das darauf aufbaut den Kult selbst zur Botschaft zu machen, ist vornehmlich an der Kommunikationswirkung des Zeremoniells interessiert. Auch das ist charakteristisch für Zivilreligionen: Sie versuchen nicht Überzeugungen zu vermitteln, sondern das Zusammengehörigkeitsgefühl mit Hilfe von religiösen Bräuchen zu stärken. Wer eine Religion wirklich praktiziert hat, weiß genau, daß es der Kult ist, der die Freude, die innere Ruhe, den Frieden, die Begeisterung erregt, die fur den Gläubigen der Erfahrungsbeweis für seinen Glauben ist.219
Nicht das Wesen einer Religion ist entscheidend, sondern ihre Form. Diese Einsicht hat auch Coubertin. Auratische Symbole, kollektive Gesten, sinnliche Momente und die Einbeziehung der Künste prägen daher das Bild vom modernen Olympia. Um wirklich ein „Frühlingsfest der Menschheit"220 zu sein, brauchen Olympische Spiele nicht nur eine perfekte Organisation der Sportwettbewerbe. Daneben „tut etwas anderes not": [...] die Gegenwart des Geistes der jeweiligen Völker, die Mitarbeit der Musen, der Kult des Schönen, kurz, die ganze Pracht, die der machtvollen Symbolik der antiken Olympischen Spiele entspricht und sich auch heute darin wieder finden muß.221
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220 221
Gebauer, Krieg und Spiele, S. 286f. Vgl. Barthes, Mythen des Alltags, S. 114. Emil Dürkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Übersetzt von Ludwig Schmidts, Frankfurt am Main 1981, S. 559. Zitiert nach Alkemeyer, Wiederbegründung der Olympischen Spiele, S. 84f. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 106. Ebd.
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D i e Beteiligung der Künste steht einerseits f ü r die sinnbildliche Vereinigung von Körper und Geist, dient andererseits aber dazu, die Wirkung des Olympischen Fests zu vergrößern. Coubertin, großer Bewunderer der Bayreuther Festspiele, hält an den D o g m e n der Wagnerschen Ästhetik fest und sieht vor, alle Kunstformen u m das Olympische Feuer zu versammeln, damit sie sich gegenseitig befruchten. Mit Begriffen wie „Eurythmie" und „harmonischer Eklektizismus" 2 2 2 umschreibt Coubertin die dahinter stehende Idee eines Gesamtkunstwerks, dessen Erfolgsaussichten er allerdings aufgrund der Rezeptionsgewohnheiten der M a s s e noch skeptisch beurteilt: Im Hinblick auf den Zusammenschluß von Athleten, Künstlern und Zuschauern jedoch wäre es unklug, allzu viel davon zu erwarten. Hier ist noch alles zu tun, denn die Eurhythmie ist in Vergessenheit geraten. Die Menge ist heutzutage unfähig, verschiedene Arten von Kunstgenuß miteinander zu verbinden. Sie hat sich daran gewöhnt, solche Genüsse aufzuteilen, zu klassifizieren und zu spezialisieren. Zwar läßt sie sich von schöner Musik ergreifen, aber die Frage, ob diese auch in einem vornehmen Gebäude erklingt, läßt sie kalt. Anscheinend nimmt sie die armselige, routinemäßige Ausstattung, die lächerlichen Umzüge und die abscheulichen Mißklänge und all das Drum und Dran ohne weiteres hin, aus dem heutzutage ein Volksfest besteht; bei solchen Festen fehlt immer ein einziger Gast: der Geschmack.223 Coubertins Gegenbild einer echten „volkstümlichen" Kunst sieht er in einem Fest verwirklicht, dass 1911 v o m I O C zu Ehren der Sieger eines Architekturwettbewerbs veranstaltet wird: Es fand nachts im Hof der Sorbonne statt, den trotz des bedrohlichen Wetters zweitausend Gäste füllten. Hinter künstlichem Gebüsch verbargen sich Chöre und Orchester. Der Hof war in Dunkelheit gehüllt. Wundervolle Lichtspiele bewirkten unter dem Säulengang abwechselnde Farbenzusammenstellungen von bezauberndem Reichtum. Das musikalische Programm, die Bewegungen von hundert Fackeln und Palmen tragenden Turnern, [...] und von sechzehn halbnackten Jünglingen, die lautlos über den vor der Richelieu-Kapelle liegenden Platz glitten, all das war eine ständige Harmonie von Tönen, Licht, Schweigen, Silhouetten. Die architektonische Schönheit des äußeren Rahmens trug viel zu diesem unvergeßlich herrlichen Bilde bei. Das Intermezzo eines mittelalterlichen und zugleich modernen Fechtkampfs, ein kleiner Zug von Leier- und Dudelsackspielern, die den „Pas d'armes du roi Jean" von Saint Saens begleiteten, hellenische Reigen, die von Frauen getanzt wurden, und schließlich die Vorführung eines reizenden kleinen Gelegenheitsstücks von Maurice Pottecher: „Der Philosoph und die Ahtleten", in das man einen richtigen Ringkampf eingeschoben hatte, folgten einander bis zu dem Augenblick, da in der Domkuppel bengalische Hammen aufleuchteten, während Chöre von Rameau und Palestrina ihre wunderbaren Harmonien über eine begeisterte, doch zugleich gesammelte Menge ausströmten.224 Diesen ästhetischen T r a u m will er in Olympia verwirklichen, das demnach auch zu einem Ort der ästhetischen Erziehung des Volkes wird. Kunstwettbewerbe in den Disziplinen Architektur, Bildhauerei, Malerei, Musik und Literatur werden ins P r o g r a m m mit einbezogen. Z u d e m gibt Coubertin Impulse, Olympische Spiele mit verschiedenen ästhetischen Formen auszuschmücken und zu bereichem: Vorbeimärsche, rhythmische Tänze, Bildung von Menschengruppen nach Art der „lebenden
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Ebd., S. 28. Ebd., S. 18. Coubertin, Olympische Erinnerungen, S. 119
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Bilder", Orchester und Chöre unter freiem Himmel, Fanfaren sowie Fotografien, gemalte Bilder und Plastiken von athletischen Haltungen und Bewegungen. Girlanden, Fahnen, Masten und Blumen sollen die Sportanlagen und die ganze Stadt dekorieren, Medaillen, Pokale, Briefmarken oder Gedenkmünzen werden ebenfalls von Künstlerinnen und Künstlern gestaltet, nächtliche Veranstaltungen im Fackelschein sorgen für die besondere Atmosphäre, die Auswahl der Sportlerkleidung beim Einmarsch der Nationen gehorcht bestimmten modischen und folkloristischen Kriterien; eigens komponierte Hymnen erklingen im Stadion, aus Siegerehrungen werden feierliche Zeremonien. Auch Architektur und Natur gehören zum „Gesamtkunstwerk" Olympia: Stellen Sie ihn [den Athleten, d. Vf.] sich im Sonnenglanz vor, durch Musik erhöht und eingefügt in den Bau von Säulenhallen. So wurde einstmals an den Ufern des Alphäus der schillernde Traum des antiken Olympismus geboren.225
So sind neben allen Sportarten, auch alle Kunstarten im Olympischen Fest versammelt, vorzugsweise jedoch solche, die Emotionen wecken und die Sinne beanspruchen. Die olympischen Wettkämpfe werden zur „opemhaft-bombastischen Kulturschau"226 aufgebauscht. Beeindruckende Wirkung verspricht sich Coubertin von massenhaften Choreographien, von sprechenden und bewegten Bildern wie dem Aufsteigenlassen der Tauben in jeder Eröffnungszeremonie, von Geschützdonner und von der Musik - Grundlage für die olympischen Symphonien, die er für die Zukunft erträumt, sind „gewaltige Chöre, die mit entfernten Fanfaren alternieren".227 Coubertin kümmert sich bedeutend mehr um die künstlerische Ausgestaltung der Spiele als um die Organisation der sportlichen Wettkämpfe. Mit zunehmender Dauer der olympischen Bewegung sieht er sich seinem Ideal immer näher kommen. Schon bei den Spielen 1912 in Stockholm zeigt er sich angetan von der „funkelnden Sonne im Seewind", dem „vielfarbigen Flaggenschmuck", dem gotischen Stadion „mit seiner technischen Vollkommenheit und der guten Anordnung" und den .festen, die auf Feste folgten".228 Überschwängliches Lob hat er dann für die Gestaltung der Olympischen Spiele von Berlin 1936 parat: Mit der Einführung des Fackellaufs und der Aufführung des großen Massenschauspiels Olympische Jugend am ersten Abend der Spiele habe Berlin der Symbiose des Olympismus mit den „Äußerungen des Geistes" „für alle Zeit die Weihe gegeben".229 Insbesondere ist Coubertin darüber begeistert, dass während der Eröffnung der Spiele ein Massenchor das berühmte Finale Freude schöner Götterfunken von Beethovens Neunter Symphonie intonierte. Nichts konnte mir im voraus mehr Freude bereiten, denn dieser Schlußgesang hat mich seit meiner Kindheit begeistert und Uber mich selbst hinausgehoben. Durch seine Harmonien scheint er mir mit dem Göttlichen verbunden zu sein.230
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Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 86f. Rudolf Malter: Der, Olympismus' Pierre de Coubertin 's. Eine kritische Studie zu Idee und Ideologie der modernen Olympischen Spiele und des Sports, Köln 1969, S. 18. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 42. Ebd., S. 113. Ebd., S. 156. Ebd., S. 154.
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Dass Coubertin dieselben ästhetischen Vorlieben hat wie sein künstlerisches Vorbild Richard Wagner, kann nicht weiter verwundem. Die emphatische Begeisterung für die Feierlichkeiten der Spiele im faschistischen Deutschland zeigt jedoch auch, dass ihm Wirkung wichtiger ist als die politische Aussage. Er versucht mit Hilfe der Kunst, die Zuschauerinnen und Zuschauer zu überwältigen, um die Begeisterung für die Olympische Idee zu wecken und zu schüren. Die Teilhabe an der „religio athletae", die Verbundenheit mit dem Göttlichen und das tröstliche Einfinden in eine Gemeinschaft erfolgen daher nicht über den Verstand, sondern über die Sinne. Im Einklang mit Erkenntnissen der zeitgenössischen Massenpsycbologie war er [Coubertin, d. Vf.] der Ansicht, daß die emotionalen und unbewußten Kräfte im Menschen, die das Bindemittel jeder Gemeinschaftlichkeit bilden, viel eher Uber nicht-diskursive, vorrationale Elemente - Uber Bilder, Musik und sinnliche Arrangements - angesprochen, mobilisiert und kanalisiert werden könnten, als über Worte und Reden.331 Der künstlerische Apparat dient der unmittelbaren Ansprache der Olympia-Gäste unter Vermeidung reflektierender Umwege. Interessant ist, dass Coubertins Olympia Wagnersche Kunsttechniken mit der Entstehung des modernen Sports zusammenfuhrt. Beide sind entstanden als Reaktion auf eine vergeistigte Gesellschaft ohne inneren Zusammenhalt, der die Freude an sinnlichen Erfahrungen abhanden gekommen ist. Der Körper ist komplett aus dem öffentlichen Leben verbannt worden, einmal in seiner äußeren Form, die es zu pflegen gilt, zum anderen als sensitives Organ, das in der Lage ist, wahrzunehmen und zu erleben. So wie die Kunst vermittelt auch der Sport die Qualität des Erlebens. Sport im Sinne Coubertins muss mit Leidenschaft gepaart sein, Elemente des Risikos beinhalten und ohne Zaghaftigkeit ausgeübt werden. Dann kann er den Kontakt mit dem „Rausch der Geschwindigkeit" bringen, „sinnliche Freuden", „intensive körperliche Lust" und „körperliche Hochgefühle" verursachen. 232 Auf den Körper einwirkende Kunst und den Körper verherrlichender Sport sind daher zwei Ausprägungen desselben Impulses. Lediglich diese beiden Ansätze synthetisiert Coubertins Olympia, nicht etwa Körper und Geist, obwohl das der offiziellen Rhetorik zufolge der Wunsch des olympischen Gründervaters war. Durch die Beteiligung des Sports erhält das „Gesamtkunstwerk" Olympia gegenüber dem Wagnerschen Modell besondere Wirkungskraft. Sport übernimmt die Funktion des mythischen Dramas und verdichtet es extrem: Zehn Sekunden eines 100-Meter-Laufes stehen einer Abende füllenden Tetralogie gegenüber. Sport ist zudem noch unmittelbarer als jedes Bühnenstück. Aufgrund seiner Einfachheit verlangt er nicht nach Interpretation und bringt die mythischen Konstellationen nicht als Zeichen zur Welt, sondern in einer greifbaren und „vollends gegenwärtigen 231 232
Alkemeyer, Wiederbegründung der Olympischen Spiele, S. 78. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 76, 78, 93, 98, 112. Dennoch sieht Coubertin den Sport nicht als Mittel der Triebbefiiedigimg. Der Rausch enthält sofort eine ZUgelung in der philosophischen und pädagogischen Zweckbestimmung des Sports. Klassizistisch versucht er der unmittelbaren Wirkung des Sports regulierende Kräfte entgegenzuhalten. Der Athlet soll sich an die Vergangenheit erinnern und in eine bessere Welt hineinprojizieren. So entflieht er mit Hilfe der Einbildungskraft dem direkten körperlichen, gegenwartsbezogenen Genuss. Vgl. dazu Malter, Olympismus Coubertins, S. 11-15.
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Wirklichkeit".233 Der Zuschauer schenkt den sportlichen Darbietungen seine volle Konzentration, ergreift Partei, ist so emotional voll dabei und genießt das olympische Spektakel aus Kunst und Sport in höchster Intensität. Während Wagner noch von einem „gemeinsamen Genie" nur träumen konnte, gehören die Zuschauermassen und ihre Aufteilung in gegnerische Fanlager zum Gelingen des Sportfestes dazu. Das Publikum ist eingebunden in den Gesamtzusammenhang, es gestaltet die Wettkämpfe - und oft auch die Feierlichkeiten - mit. So wird der Sport zu einer Idealform dionysischen Theaters. Nietzsches Wagnerkritik büßt jedoch im Zeichen der Olympischen Ringe nichts von ihrer Berechtigung ein: Auch die „religio athletae" wird über die Technik des Nervenreizes einverleibt. Und da die Effekte so groß sind, die Botschaft aber schmal und undefinierbar, bietet Coubertins Muskelreligion zudem eine breite Angriffsfläche für jede ideologische Vereinnahmung. Nicht zuletzt darin liegt ein Grund für die Erfolgsstory der neuzeitlichen Olympischen Spiele. 3.2.10. Ο Sport, du bist die Schönheit! Olympische Körper- und Menschheitsverehrung Dass die Olympische Idee über Körper vermittelt wird, stimmt im doppelten Wortsinn. Zum einen wirken Sport und Kunst auf die Körper der Zuschauerinnen und Zuschauer ein, zum anderen sind es Körper, nämlich die der Athletinnen und Athleten, die als Träger der sportlichen Handlung im Zentrum des Olympischen Fests stehen. Als wichtigster Bestandteil des dionysischen „Gesamtkunstwerks" Olympia sind die schwitzenden Leiber der Sportstars auch ästhetisch erzeugte Produkte. Im Coubertinschen Verständnis werden sie das nicht erst durch die Beteiligung der Künste, sondern bereits durch den Sport selbst. In der zweiten Strophe seiner Ode an den Sport, mit der sich Coubertin unter Pseudonym am Literaturwettbewerb der Spiele von Stockholm 1912 beteiligte und den ersten Preis gewann, heißt es: Ο Sport, du bist die Schönheit! Du formst den Körper zu edler Gestalt, Hältst fem von ihm zerstörende Leidenschaft Und stählst ihn durch dauernde Übung, Gibst schöne Harmonie seinen Gliedern Und gefalligen Rhythmus seinen Bewegungen. Du verbindest Grazie mit Kraft Und Geschmeidigkeit mit Stärke.234
Schon in der zweiten Strophe seiner Ode setzt Coubertin den Sport mit Schönheit gleich, noch bevor er ihn auch mit Gerechtigkeit, Mut, Fortschritt und Frieden in Verbindung bringt. Das unterstreicht die Bedeutung, die der Autor der ästhetischen Kraft des Sports zuschreibt, die zumindest zwei Kunstprodukte hervorbringt: den wohlgeformten Körper des Athleten und die harmonische sportliche Bewegung.
233 234
Alkemeyer, Wiederbegründung der Olympischen Spiele, S. 81. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. Alf.
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Auch wenn Coubertin es nie zu einer These verdichtet, als Tendenz ist seinem Olympismus immer ein ästhetizistischer Zug eigen, wie auch Rudolf Malter meint: [... ] das sich in seiner Leiblichkeit erlebende Subjekt wird sich selbst in seiner Leiblichkeit Gegenstand der Anschauung, einer Anschauung, die weder eikennen will, noch Handlung intendiert, die vielmehr weiter nichts sein will als reine, durch kein Interesse gestörte Kontemplation, in welcher das leibliche Subjekt den Leib - den eigenen wie den fremden - als „schönen" Gegenstand einbildend genießt.235 Zum „schönen" Gegenstand gesellt sich das ästhetische Gefühl. Den Sportler begleitet beim Ausüben seiner Sportart ein künstlerisches Empfinden. Coubertin, selbst begeisterter Ruderer, sieht das Vergnügen im Rudern in der Freude an dem mechanisierten und „musikalisch rhythmisierten" 236 Ablauf und verlangt vom Athleten seinen Körper so zu formen „wie der Bildhauer seine Statue". 237 Ein solches künstlerisches Verständnis vom Sport erklärt, warum dem olympischen Motto gemäß die Teilnahme an den Spielen wichtiger sein soll als der Sieg. Mehr als auf das Resultat kommt es auf die Darstellung an, die gestoppte Zeit ist weniger bedeutend als der Lauf an sich. Wo Zeiten, Weiten und Platzierungen letztlich abstrakte Zahlen bleiben, deren Bedeutung erst durch die Zeremonien der Siegerehrung versinnbildlicht wird, ist die sportliche Tat eine sinnliche. Nur als solche kann sie ästhetischen Ansprüchen genügen, wobei auch in einem Verständnis von Sport als Kunst der Gedanke der menschlichen Vervollkommnung noch zu finden ist. Der ideale Lauf ist nicht nur der schnellste, sondern auch der schönste. Coubertins Vorstellung von wohlgeformten Körpern ist eine Nachahmung des klassischen griechischen Schönheitsideals, sowohl von der Idee als auch von der äußeren Gestalt. Die Griechen betrieben einen durchaus ernsten Kult um das Aussehen der Athleten. Als Vorbild für die menschlichen Erscheinungen der Götter nahmen die griechischen Bildhauer die vollkommensten menschlichen Gestalten ihrer Zeit, die Olympiasieger. Das Bild der Götter wurde nach dem Bild der Helden des Sports entworfen. Die Religion integrierte so die Züge des Athletischen, und umgekehrt galt die köiperliche Perfektion der Athleten als ein Merkmal des Göttlichen. Die Kraft und Schönheit der Sporthelden wurde Gestaltungsprinzip der Religion und erhielt selbst religiöse Züge.238 Coubertin greift die religiöse Körperverehrung auf und versucht, sie in die Neuzeit zu transportieren. Klassizistisch geschult hält er an einem statischen und überholten Schönheitsbegriff fest,239 bewundert Harmonie und Ebenmaß und will darin menschliche Größe zum Ausdruck bringen. Wie im antiken Griechenland ist es ausschließlich die männliche Schönheit, die er bewundert. Er wehrt sich zeitlebens - jedoch erfolglos - gegen die Partizipation der Frauen an Olympischen Spielen: Ich persönlich billige die Teilnahme von Frauen an öffentlichen Wettkämpfen nicht, was nicht bedeuten soll, daß sie eine Reihe von Sportarten nicht treiben sollen, nur nicht in öf-
235 236 237 238 239
Malter, Olympismus Coubertins, S. 16. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 79. Ebd., S. 150. Gebauer, Mythen-Maschine, S. 292. Vgl. Malter, Olympismus Coubertins, S. 18.
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fentlicher Schaustellung. Bei den Olympischen Spielen sollte ihre Rolle vornehmlich - wie bei den alten Turnieren - die sein, die Sieger zu bekränzen.2,10
Diese Einschätzung des Barons enthüllt sein stark konservatives Frauenbild, das den Frauen in der Gesellschaft lediglich einen Platz als Gefährtin des Mannes und zukünftige Familienmutter zubilligt,241 und kann zudem als Replik auf die beginnende Emanzipationsbewegung verstanden werden. Zugleich unterstreicht das Verbot „öffentlicher Schaustellung" von Sportlerinnen, dass Coubertin ein ausgenommen ästhetisches Interesse am menschlichen Körper - aber eben nicht an dem weiblichen Körper - hat. Er lehnt die Teilnahme der Frauen auch ab, weil er fürchtet, Männer würden dann nur deshalb zu den Spielen kommen, um halbnackte Frauenleiber zu sehen.242 Als handele es sich um anstößige pornographische Darbietungen, wenn sportlich bekleidete Frauen sich in der Öffentlichkeit zeigen, strebt er auch ein Verbot für Jugendliche unter 16 Jahren an, Sportveranstaltungen besuchen zu dürfen.243 Coubertin fürchtet um den Ernst und die Würde seiner Veranstaltungen, wenn das Publikum die Körper der Athletinnen und Athleten als Lustobjekte betrachtet und nicht - so wie er - als Kunstobjekte. Nicht nur den Frauen versagt er die Zugehörigkeit zur Gemeinde der „religio athletae", sondern ausdrücklich auch Kindern und Jugendlichen, die von Geburt an krank oder behindert sind.244 Das offenbart ein eigentümliches Verständnis von der Beziehung zwischen Sport und Gesundheit. Nur derjenige soll Sport treiben, der ohnehin schon gesund ist. Sport ist demnach weniger ein Mittel, das Krankheiten kuriert - zumindest nicht individuelle, sondern nur die der Gesellschaft - als vielmehr ein Demonstrationsobjekt. Derjenige der Sport treibt, zeigt mit der Schönheit seines Körpers, dass er gesund ist. Und da Gesundheit in der auf Leistung ausgerichteten Moderne zum höchsten Gut des Menschen wird, lässt sich am Körper der soziale Status seines Trägers ablesen. Auch über die Einstellung des Menschen gibt sein Körper Aufschluss: Ein sportlicher Geist kann unmöglich in einem unsportlichen Körper sitzen.243
Das Aussehen verdeutlicht die inneren Werte. Das ideale Schöne vermischt sich dem Guten und Wahren.246 Da sich in Coubertins Weltbild nur über den Sport kranke Gesellschaft zu einer moralisch integren Gemeinschaft führen lässt, weist sportlich wohlgeformte Körper auf die Stärke des Charakters hin. Wer schön kann nicht schlecht sein.
240 241 242 243 244
245
246
mit die der ist,
Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 153. Vgl. Ullrich, Coubertin, S. 63. Vgl. ebd., S. 155f. Vgl. ebd., S. 155f. Vgl. Pierre de Coubertin: Textes Choisis. Hg. vom Comitd International Olympique, Zürich, Hildesheim, New York 1986, Bd. 3, S. 487f. Zitiert nach Alkemeyer, Wiederbegründung der Olympischen Spiele, S. 89. Gunter Gebauer: Von der Körpertechnologisierung zur Körpershow. In: Caysa, Sportphilosophie, S. 284f. Vgl. Malter, Olympismus Coubertins, S. 18.
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Im muskelbepackten Athletenleib nimmt die „religio athletae" Gestalt an. Coubertins Sportreligion und alle mit ihr verbundenen Ziele - Erziehung zur Leistungsfähigkeit, Stärkung der Nationen, friedvolles Zusammenleben der Völker - wirken so ungeheuer attraktiv. Es fällt leicht an diese Religion zu glauben, weil sie Schönheit verspricht, Stärke, Kraft, Eleganz und Körperbeherrschung. Und es fällt leicht an die Richtigkeit der Olympischen Idee zu glauben, weil die Schönheit der Körper und die Schönheit der Künste begeistern. Die negativen Seiten des Spektakels werden so überdeckt. Olympia und der Leistungssport in all seinen Facetten erhalten ihre ästhetische, und damit auch - im Sinne des hier vorgestellten Schönheitsbegriffs - ihre moralische Legitimation. 247 Somit ist das Körperkunstwerk des Athleten Zentrum des „olympischen Gesamtkunstwerks", um das sich alle anderen Kunstformen gruppieren. Als menschlichste der versammelten Künste entfaltet die sportliche Kunst, den Körper zu formen und zu bewegen, die größtmögliche Wirkung auf die Zuschauerinnen und Zuschauer und weckt den Wunsch zur Nachahmung. Ästhetische Erziehung bedarf des lebendigen Menschen als Vorbild. So banal es ist: Menschen können versuchen so zu werden wie Sportstars, sie können nicht hoffen die architektonische Schönheit eines Olympiastadions zu erlangen. Der Sportler nimmt daher die Funktion des lebendigen Schauspielers in den mythischen Musikdramen Wagners ein. Bei seinen Siegen oder Niederlagen kann mitgelitten werden wie bei den Schicksalsschlägen der Gestalten aus dem Ring. Die Schönheit der sportlichen Aktion - des Laufs, des Spiels mit dem Ball, des Boxkampfs - betört wie der Gesang der Brünhilde-Darstellerin und weist zudem auf ein dahinter stehendes Ideal. Carl Diem - langjähriger deutscher Olympia-Funktionär, Organisator der BerlinOlympiade und Freund Coubertins - hat den Gedanken Coubertins aufgenommen: Sport ist demnach „der Anfang des Weges zur Schönheit, der von der leiblichen Schönheit zur geistigen und seelischen fuhren soll".248 Schönheit wird zum allumfassenden Begriff, zu einem Kulturideal. Der ganze Mensch soll sich vervollkommnen und mit ihm die ganze Menschheit. Erreicht er dieses Ideal braucht er keine Götter als höhere Wesen mehr, sondern feiert sich selbst in der „religio athletae". Es gibt ein Heidentum [...] von dem die Menschheit sich nie befreien wird [...] ich meine den Kult des Wesens .Mensch', des menschlichen Körpers, des Geistes und des Fleisches, des Empfindens und des Wollens, des Triebes und des Bewußtseins.249
347
248 249
Das gilt auch fiir solche Sportarten, die keineswegs dem Sportideal von Coubertin entsprechen, da sie absolut nicht fiir junge, erwachsene Männer gedacht sind. Ich meine z.B. das Mädchentumen, das zwar wegen der bekannten negativen Auswirkungen auf den Körperbau der jungen Mädchen oft kritisiert wird, allerdings durch die Brillanz der Bewegungen dennoch kontemplatives Wohlgefallen auslöst. Insbesondere in Femsehiibertragungen dient die Ästhetik der Übungen zur Rechtfertigung. Vgl. Schmidt-Millard, Leiblichkeit und ästhetische Erziehung, S. 190. Schönheit ist ein dehnbarer Begriff. Carl Diem: Der Olympische Gedanke. Reden und Aufsätze. Hg. vom Carl-Diem-Institut, o.O, o.J„ S. 11. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 127.
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Den „Kult der Menschheit" und den „Kult des gegenwärtigen Lebens"250 zu praktizieren, ist Aufgabe der olympischen Religion, die nach Schönheit strebt, um dem Ziel der Selbstverherrlichung des Menschen nahe zu kommen. Nirgends wird dies so anschaulich wie in der olympischen Verehrung für die Körper der sportlichen Helden.
250
Pierre de Coubertin: Le respect mutuel. Paris 1915, S. 37. Zitiert nach Malter, Olympismus Coubertins, S. 19.
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4.
Olympia und die Geschichte des dionysischen Theaters. Das Beispiel der Eröffnungsfeier von Barcelona 19921
Bewegte sich die Arbeit bislang überwiegend auf theoretischem Grund, geht es nachfolgend nun um Aufführungs- bzw. Medienanalysen. Dass der Sport im Allgemeinen und die Olympischen Spiele im Speziellen performativen Charakter haben, wurde schon mehrfach angesprochen. Der Analyseteil beginnt jedoch mit jenem Part Olympischer Spiele, der auch einem klassischen Theaterbegriff am ehesten entspricht: der Eröffnungsfeier. Die modernen Olympischen Eröffnungsfeiern werden wie das Beispiel Barcelona illustriert - als Weiterentwicklungen der Massentheaterexperimente zu Beginn des Jahrhunderts gesehen. Diese frühen Formen dionysischen Theaters weisen in Bezug auf die angestrebten Ziele und ihre ideologische Fundierung erhebliche Unterschiede auf - sind aber auf formaler Ebene beinahe identisch. Es lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen, die das dionysische Theater charakterisieren und die die Grundlage bilden für die Analyse der Eröffnungsfeier von Barcelona 1992 als moderne Form des dionysischen Theaters.
4.1. Formen dionysischer Theaterkunst 4.1.1. Das Zeitalter der politischen, sozialen und künstlerischen Massenbewegungen Erste Experimente mit Massentheaterformen in der Moderne lassen sich auf den Beginn des 20. Jahrhunderts datieren. Sie verlaufen parallel zu den einsetzenden politischen, sozialen und kulturellen Massenbewegungen. Industrialisierung und Verstädterung haben zur Folge, dass Menschen auf engem Raum zusammen leben und arbeiten. Aufgrund dieser veränderten Lebensbedingungen nehmen sich die Menschen selbst als Masse wahr, und es fällt daher leichter als zuvor, Massen zu bewegen und zu organisieren. Die Revolutionen des 19. Jahrhunderts und die Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft für den Industrialisierungsprozess haben zudem dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse und die Fähigkeiten der sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten zu lenken. Alle großen politischen Bewegungen von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs - Nationalismus, Demokratiebewegung, Faschismus oder Kommunismus machen daher die Volksmassen zum Ziel ihrer Aktivitäten.
So lautet auch der Titel meiner (unveröffentlichten) Magisterarbeit, die den Anstoß für den hier vorliegenden Text gegeben hat und aus der einige Passagen mit eingeflossen sind.
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Dies wirkt sich auch auf die Theaterkunst aus. Immer mehr drängt es die Regisseure dazu, die Masse auf der Bühne darzustellen und andererseits Massen von Zuschauerinnen und Zuschauern mit ihren Aufführungen anzusprechen und zu begeistern. Eine Erweiterung des Raums, weg von der Guckkastenbühne, hin zu alternativen Spielstätten wie Zirkuszelten, Ausstellungshallen, Straßen oder Freilichtbühnen ist die logische Folge. Im folgenden werden einige Züge der Massentheaterbewegung dieser Zeit skizziert, wobei der Schwerpunkt auf Max Reinhardts Masseninszenierungen, dem Massenschauspiel der Russischen Revolution und dem Thingspiel liegt. Ohne die gesamte Massentheaterbewegung vereinheitlichen zu wollen, lassen sich aus diesen drei Beispielen die wesentlichsten Charakteristika des Massentheaters zwischen 1900 und 1940 herauslesen. Zumindest auf formaler Ebene unterscheiden sie sich nur gering von anderen Formen des Massenschauspiels, etwa dem „Münchener Künstlertheater" des Nietzsche-Apologeten Georg Fuchs, den Riesenrevuen Erwin Piscators oder den Leipziger Gewerkschaftsfestspielen. 4.1.2. Beispiele des Massentheaters: Reinhardts „Theater der Fünftausend", Massenschauspiele der Russischen Revolution, nationalsozialistisches Thingspiel 1910 findet im Zirkus Schumann eine Inszenierung des König Ödipus vor 3.000 Zuschauerinnen und Zuschauern statt, die als das erste von Max Reinhardts Massenschauspielen 2 gilt. Sie ist Ausdruck von Reinhardts Experimentierlust mit verschiedenen Theaterformen und seinem Wunsch, die Dimensionen der antiken Stücke in der heutigen Zeit wieder aufleben zu lassen. Ebenfalls an die Antike angelehnt ist der Versuch, Theater als Volkskunst zu etablieren und solche Zuschauerschichten für das Theater zu gewinnen, denen bislang aus „wirtschaftlichen Gründen der Eintritt versperrt war". 3 Dass Reinhardt mit seinen Masseninszenierungen den Geschmack der Zeit trifft, zeigt der Erfolg der Vollmoeller-Pantomime Miracle, die nach ihrer Uraufführung 1911 an den verschiedensten Orten gezeigt wird. Während Reinhardts Ansatz eine Nähe zum Ästhetizismus offenbart, ist die Kulturarbeit der Russischen Revolution politisch orientiert. Hier nimmt das Massenthea-
2
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Zu Max Reinhardts Massenimzenierungen vgl. seine eigenen Schriften, z.B. die Textauswahlen: Max Reinhardt: Ausgewählte Briefe, Reden, Schriften und Szenen aus den Regiebüchem. Hg. von Franz Hadamowsky, Wien 1963; Max Reinhardt: Schriften. Briefe, Reden, Aufsätze, Interviews, Gespräche, Auszüge aus den Regiebüchem. Hg. v. Hugo Fetting, Berlin 1974; darüberhinaus enthalten auch die meisten Monographien Uber Reinhardt wichtige Hinweise zu seinen Masseninszenierungen. Vgl. daher auch: Heinrich Braulich: Max Reinhardt. Theater zwischen Traum und Wirklichkeit. Berlin 1966; Heinz Kindermann: Max Reinhardts Weltwirkung. Ursachen, Erscheinungsformen und Grenzen. In: Österreichs Akademie der Wissenschaften. Sitzungsberichte, Bd. 261, Wien 1969; J. L.. Styan: Max Reinhardt. Cambridge, London, New York, New Rochelle, Melbourne, Sydney 1982. Reinhardt, Schriften, S. 330f.
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ter einen besonderen Platz ein, um dem Grundbedürfnis eines Volkes, das sich von der Unterdrückung befreit hat und auf die Straße strömt, Rechnung zu tragen.4 Die Massenschauspiele der Russischen Revolution finden im Jahr 1920 an den Festtagen des Roten Kalenders in Petrograd statt und gelten als künstlerische Höhepunkte der Revolutionsfeierlichkeiten. Im Allgemeinen werden die drei Auffuhrungen Mysterium der befreiten Arbeit, Zur Welt-Kommune und Die Erstürmung des Winterpalais als Massenschauspiele bezeichnet, wobei das letzte als das bedeutendste gilt. Es handelt sich um eine theatralische Nachstellung des wichtigen Revolutionsereignisses, bei dem der historische Schauplatz und der fiktive Spielort übereinstimmen. Vorgedacht wird die Form der russischen Massenschauspiele im Proletkult. Ihr wichtigster Theoretiker ist Piaton M. Kerschenzew. Die Regie zur Erstürmung des Winterpalais liegt in den Händen von Nicolas N. Evreinov. Auch die nationalsozialistische Variante des Massentheaters, das so genannte Thingspiel, ist ein Instrument des Staates zur politischen Einflussnahme auf das Volk.5 Vom Namen her an die altgermanische Gerichts- und Kultversammlung anknüpfend wird das Thingspiel 1933 von verschiedenen offiziellen Seiten gefordert. 1937 entzieht der Staat der Thing-Bewegung die öffentliche Unterstützung, nachdem bis dahin ein immenser Aufwand betrieben worden ist, um FreilichtStadien zu errichten, die Infrastruktur für solche Veranstaltungen zu schaffen und die Bevölkerung auf das Thingspiel einzuschwören. Das abrupte Ende öffentlicher Förderung fuhrt zwar nicht zu einem ebenso abrupten Ende der Thing-Bewegung, aber doch dazu, dass sie ihre Bedeutung für die Kunstpolitik und -praxis des Dritten Reichs verliert. Die Gründe für den Niedergang sind vielfältig und teilweise banal: Schlechtes Wetter spielt ebenso eine Rolle wie die mangelnde Qualität der ThingStücke. Der Entzug der öffentlichen Gelder hat auch etwas damit zu tun, dass das NS-Regime vier Jahre nach der Machtergreifung die Aufgabe der Kunst anders
4
5
Vgl. Joachim Paech: Das Theater der russischen Revolution. Theorie und Praxis des proletarisch-kulturrevolutionären Theaters in Rußland 1917-1924. Ein Beitrag zur politischen Geschichte des Theaters. Kionberg Ts. 1974, S. 323; zum revolutionären Massentheater in Russland vgl. auch: Arthur Holitscher: Das Theater im revolutionären Rußland. Berlin 1924; Hannelore Wolff: Volksabstimmung auf der Bühne. Das Massentheater als politische Agitation. Frankfurt am Main, Bern, New York 1985; zu den Primärtexten zählen: Nicolas N. Evreinov: The theatre in Life. London 1927; Piaton M. Kerschenzew: Das schöpferische Theater. Reprint der deutschen Ausgabe von 1922, Köln 1992. Obwohl theaterästhetisch von geringer Bedeutung ist das Thingspiel - aufgrund seiner politischen Implikationen - die am besten dokumentierte Form des Massentheaters. Vgl. u.a.: Eichberg, Massenspiele; Johannes M. Reichl: Das Thingspiel. Über den Versuch eines nationalsozialistischen Lehrstück-Theaters (Euringer - Heynicke - Möller). Mit einem Anhang über Bert Brecht. Frankfurt am Main 1988; Rainer Stommer: Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die „Thing-Bewegung" im Dritten Reich. Marburg 1985; Wolff, Volksabstimmung auf der Bühne\ zu den Absichten der Machthaber und Organisatoren des Thingspiels vgl. Wolf BraumUller: Freilicht- und Thingspiel. Rückschau und Forderungen. Berlin 1935; Rainer Schlösser: Das Volk und seine Bühne. Bemerkungen zum Aufbau des deutschen Theaters. Berlin 1935; vgl. auch folgende Stückvorlagen: Kurt Eggers: Annaberg. Jugendspiel. - Spiele der Erhebung der deutschen Jugend. Berlin 1933 bzw. Eberhard Wolfgang Möller: Das Frankenburger Würfelspiel. Berlin 1940.
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bewertet: Sie ist nicht hauptsächlich Propaganda - der neue Staat scheint seine Position im In- und Ausland, auch dank des Erfolgs der Olympischen Spiele von 1936, gefestigt zu haben - , sondern vielmehr Unterhaltung. Hinzu kommt, dass andere Massendarbietungen im Dritten Reich wie die Reichsparteitage weit wirkungsvoller erscheinen und daher besser für die Zwecke der Regierung geeignet sind als die Thing-Aufführungen. 6 4.1.3. Das Spiel mit den Massen. Funktion und Wirkung der Massen für die Theaterprojekte Theater als Massenkunst fordert ein Denken in neuen Dimensionen. Die Größenordnungen liegen zwischen Reinhardts vergleichsweise bescheidenem Wunsch nach einem „Theater der Fünftausend" 7 und Goebbels Forderung nach einem „Theater der Hunderttausend", 8 wobei die Angaben eher symbolisch dafür stehen, dass die Massen auf der Bühne bombastische Wirkung erzielen sollen und die Schar der Zuschauerinnen und Zuschauer so groß ist, dass sie das ganze Volk repräsentieren können. Einige Zahlen verdeutlichen allerdings, dass die Realität den Ansprüchen bezogen auf die Teilnehmer- und Zuschauerzahl beinahe gerecht wird. 1911 in London sind bei einer Miracle-Pantomime Reinhardts 2.000 Darstellerinnen und Darsteller, ein 500 Mitglieder starker Chor und ein mit 200 Musikerinnen und Musikern besetztes Orchester beteiligt. 9 Bei den russischen Revolutionsspielen ist in der Forschung die Rede von bis zu 10.000 Mitwirkenden und 45.000 Zuschauerinnen und Zuschauern, wobei die Zahlen schwanken, 10 und den 17.000 Akteurinnen und Akteuren des nationalsozialistischen Stadionspiels Aufbricht Deutschland sehen etwa 60.000 Menschen zu." Unzweifelhaft ist die Wirkung der Masse auf der Bühne für den Einzelnen enorm: Alfred Roller, Bühnenbildner bei Max Reinhardt, beschreibt den Beginn der CMipuj-Inszenierung wie folgt: [...] jetzt jagen durch den Eingang dem Tempelhaus gegenüber hunderte von Menschen herein, wie von Furien getrieben, voran Fackeln, und hinter ihnen her, nochmals ein Schub. „Ödipus" brüllen, rufen, wimmern, stöhnen alle, weifen sich auf den Boden, wälzen sich, heulen, beten: ein schauerlicher Knäuel von nackten Oberkörpern, Armen, Beinen, schmierigen Fetzen und Mützen. [...] Allen fünftausend ist der Spaß vergangen. Von fiebernder Spannung gebeutelt, sitzen sie lautlos da und verharren so ohne jede Pause geschlagene zwei Stunden. [...] Also, gesprochen wurde bis jetzt bloß das Wort „Ödipus", aber die Gewalt der Massenbewegung ist so groß, daß mir das Herz bis in die Kehle schlägt und Trä-
6 7
' '
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Vgl. Stommer, Inszenierte Volksgemeinschaft, S. 158f. Vgl. Reinhardt, Schriften, S. 330. Vgl. Stommer, Inszenierte Volksgemeinschaft, S. 31. Vgl. Sty an: Max Reinhardt, S. 330f. Vgl. u.a. Paech, Theater der Russischen Revolution, S. 330-332. Vgl. Stommer, Inszenierte Volksgemeinschaft, S. 47f. Allerdings handelt es sich bei Aufbricht Deutschland streng genommen nicht um ein Thingspiel. Die ingesamt 400 geplanten Thingplätze fassen nur jeweils bis zu 10.000 Zuschauerinnen und Zuschauer.
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nen nahe sind. Nichts während der folgenden zwei Stunden kommt dieser Wirkung nahe. Und doch kommen noch große, schöne Momente.12 Insbesondere im politisch motivierten Schauspiel kommt es den Verantwortlichen jedoch nicht nur auf die Wirkung der Masse an. Die Massen sind auch Ausdruck eines gemeinschaftlichen Ziels: Dem Sieg des Weltkommunismus im Theater der Russischen Revolution, dem Errichten einer Volksgemeinschaft im Thingspiel der Nationalsozialisten oder dem Kampf gegen den Faschismus im 1934 in der Schweiz aufgeführten Schauspiel Flammen der Freiheit,13 Die zuschauenden und darstellenden Menschenmengen werden somit zum vermeintlichen Symbol eines ganzen, einheitlich denkenden und agierenden Volkes, dessen Wille durch die Handlungen auf der Bühne, bzw. im Zuschauerraum repräsentiert wird. Der Einzelne soll nicht nur in dem gemeinsamen Glauben an die „große Sache" gestärkt werden, sondern sich auch als Teil einer Gemeinschaft fühlen. Hitlers Vorstellungen über Massenversammlungen sind paradigmatisch für die angestrebte Wirkung des Thingspiels: Die Gemeinschaft der großen Kundgebung stärkt nicht nur den einzelnen, sondern sie verbindet auch und hilft mit, Korpsgeist zu erzeugen. [...] Wenn er zum ersten Male in die Massenversammlung hineintritt und nun Tausende und Tausende von Menschen gleicher Gesinnung um sich hat, wenn er als Suchender in die gewaltige Wirkung des suggestiven Rausches und der Begeisterung von drei- bis viertausend anderen mitgerissen wird, wenn der sichtbare Erfolg und die Zustimmung von Tausenden ihm die Richtigkeit der neuen Lehre bestätigen [...], dann unterliegt er selbst dem zauberhaften Eindruck dessen, was wir mit dem Worte Massensuggestion bezeichnen. [...] Der Mann, der zweifelnd und schwankend eine solche Versammlung betritt, verläßt sie innerlich gefestigt; er ist zum Glied der neuen Gemeinschaft geworden.14 In den Überlegungen zum Theater der Russischen Revolution wird die Masse, bzw. das Volk zum entscheidenden Initiator der Theaterprojekte, ist Theater erst durch die Beteiligung der Masse möglich. Theater soll nicht mehr das Produkt einiger weniger sein, sondern von der Masse selbst gestaltet werden. Um ein Wort Wagners zu wiederholen: Keiner war ein Genie, weil es alle waren.15 Damit ist die Theaterwerkstatt der Ort für die schöpferische Betätigung der ganzen Bevölkerung. Der Begriff des „Kollektiven Schaffens" steht daher auch im Mittelpunkt der Theorie Kerschenzews: Das kollektive Schaffen darf keinesfalls mit künstlerischen Massenhandlungen verwechselt werden, z.B. mit einer vielstimmigen Deklamation, mit dem Auftreten des Chors in der Oper, mit Massenszenen in einem Schauspiel. Das kollektive Schaffen beim Theater wird charakterisiert: a) durch das Bestreben seiner Teilnehmer, in szenischen Gestalten höhere Interessen des Kollektivs zu verkörpern (d.h. das kommunistische Ideal in all seiner Vielfältigkeit), b) durch die kameradschaftliche Organisierung der damit verknüpften Arbeit, 12 13 14 15
Zitiert nach Kindermann, Reinhardts Weltwirkung, S. 18. Vgl. Wolff, Volksabstimmung, S. 147-153. Zitiert nach Wolff, Volksabstimmung, S. 180. Richard Wagner: Eine Mittheilung an meine Freunde. Zitiert nach Röhls, Mythos nach dem Tode Gottes, S. 88.
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die das Prinzip der Autorität ablehnt und der Kritik weitesten Spielraum läBt, c) durch die bewußte Stellung jedes Mitwirkenden zu den allgemeinen Aufgaben dieses Schaffens." In der Forderung nach der künstlerischen und schöpferischen Selbstbetätigung der Massen liegt der größte Widerspruch zwischen dem Theatermodell Kerschenzews und dem der Nationalsozialisten, die auch in der Kunst das „Führerprinzip" verwirklicht wissen wollen. Goebbels konstatiert zwar, dass das „Zeitalter der Masse" angebrochen sei, aber: [...] nicht der Masse gehört die Zukunft, sondern dem, der die Masse mit organischem Leben füllt. Dem Treiber, dem Former, dem König der Masse gehört das neue Jahrhundert. Auch am Ende der Massenbewegungen unserer Zeit steht die Diktatur.17 Dennoch wird das Thingspiel öffentlich als Spiel des „Volkes im Volke" propagiert, als ästhetische Inszenierung des Volkes selbst. Als wesentlichstes Ziel gilt daher das Errichten einer Volksgemeinschaft: Nicht der einzelne soll entscheidend sein als Besucher, sondern die Lebens- und Arbeitsgemeinschaften innerhalb unseres Volkes; die ganze Volksgemeinschaft in ihrer organisatorischen Gliederung soll und wird zu diesem gewaltigen, großen Spiel auf den Thingplätzen zusammenströmen.18 Diese Volksgemeinschaft, deren Basis eine nationale, völkische und rassische ist, kommt somit erst im Thingspiel zusammen. Hier wird sie kreiert, um sich gleichzeitig selbst zu feiern. Die errichteten Gemeinden im Zuschauerraum haben ihre Entsprechung in verschiedenen Kollektiven, die auf der Bühne dargestellt werden, meistens in Form von Chören und Sprechchören. Anders als in den antiken Tragödien besitzt der Chor im Thingspiel nicht die Aufgabe, das Geschehen zu kommentieren, sondern es besteht im Gegenteil eine völlige Einheit zwischen dem Chor und den handelnden Figuren." Die Chöre im Thingspiel heben das Prinzip der Vereinzelung auf. Sie sind die massenhafte Zusammenfassung diverser Typen wie Mütter, Kinder oder Arbeiter. Dadurch, dass sie nicht kommentieren, sondern affirmativ unterstreichen, was die Einzelnen sagen, ist ihre Funktion eine verstärkende; aufgrund ihrer Massenhaftigkeit betonen sie die „monströse, optische Breitenwirkung" 20 und verstärken den akustischen Überwältigungsreiz. Darüber hinaus sollen auch die Mitglieder des Chores von der massenhaften Wirkung des großen Chorkörpers erfasst werden. Die Beteiligung am Chor ist dazu gedacht, die Protagonisten selbst von der Sache zu begeistern, sie zu Mitstreitern der nationalsozialistischen Idee zu machen. 21 Kollektivbildung ist ein zentrales Motiv bei allen dionysischen Theaterexperimenten, egal ob es sich um ästhetische, kommunistische oder faschistische Projekte handelt. Eine emotionale Bindung des Einzelnen an die Gemeinschaft aller Anwe16
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Kerschenzew, Das schöpferische Theater, S. 103. Zitiert nach Wolff, Volksabstimmung, S. 164. Otto Laubinger: Theater der Nation. Zitiert nach Wolff, Volksabstimmung, S. 179f.; Laubinger war der Präsident der Reichstheaterkammer. Vgl. Wolff, Volksabstimmung, S. 216. Reichl, Thing spiel, S. 51f. Vgl. ebd., S. 75.
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senden soll im Verlauf der Aufführung geschaffen werden. Dazu gehört auch, dass die Grenze zwischen Publikum und Akteuren niedergerissen wird und Zuschauerinnen und Zuschauer sich als Teil der Handlung fühlen sollen. Die Überwindung der Bühnenrampe wird daher zum Schlagwort, das sich in allen theoretischen Theaterentwürfen wieder findet. So gilt auch für Reinhardt: The ambitious purpose behind this kind of work [die Arbeit an den Massenschauspielen, d. Vf.] was to encourage the participation of audiences.22
Daher verzichtet Reinhardt auf Dekorationen, so dass die Akteure inmitten des Publikums stehen, und lässt den Chor durch den Mittelgang des Zuschauerraums auftreten. Bei imaginären Gerichtsverhandlungen auf der Bühne platziert er Darstellerinnen und Darsteller ins Publikum, die mit Zwischenrufen auf die Handlung Einfluss nehmen, um die emotionale Teilnahme jedes Einzelnen durch die scheinbar aufgebrachte Menge um ihn herum zu steigern. In Kerschenzews Theorie vom „Kollektiven Schaffen" gibt es in letzter Konsequenz keinen reinen Zuschauer mehr, da alle Anwesenden gemeinsam an der Entstehung des Kunstwerks schöpferisch beteiligt sein sollen. Daher gehen Kerschenzews Forderungen weit über die Reinhardts hinaus. Das Publikum soll nicht nur in die Handlung auf der Bühne miteinbezogen werden, es soll sie selbst mitbestimmen, soll mit dem Bühnenensemble zu einer Einheit verschmelzen. Die Bedeutung der Bühnenhandlung schwindet, dafür nimmt die Handlung des Publikums zu. Alles ist darauf ausgerichtet, die Passivität der Zuschauerinnen und Zuschauer, wie sie im bürgerlichen Theater vorherrscht, zu durchbrechen. Wenn der Zuschauer künftiger Zeiten sich ins Theater begibt, wird er nicht sagen: ,ich gehe mir dieses und dieses Stück anschauen', er wird sich anders ausdrücken: ,ich gehe, an diesem und diesem Stück mitzuwirken', denn er wird wirklich .mitspielen', wird nicht ein beobachtender und klatschender Zuschauer sein, sondern ein Mit-Schauspieler, der an dem Stück aktiv teilnimmt.23
Dabei reicht es Kerschenzew nicht aus, dass das Publikum spontan in eingestimmte Lieder mit einfällt, wenn er auch darin schon einen Anfang zur Verwirklichung seiner Ideen sieht. Der abschließende von Mitwirkenden wie Zuschauenden gemeinsam angestimmte Gesang von Revolutionsliedern wie der Internationalen gerät zum obligatorischen Ende einer jeden Massentheaterveranstaltung.24 Das gilt für alle politischen Massenspiele: Auch die Sprechchorwerke der KPD schließen mit einem gemeinsam dargebotenen bekannten Revolutionslied, und ebenso animieren die Macher im Thingspiel das Publikum zum Mitsingen bei Volksweisen, der Nationalhymne oder dem HorstWessel-Lied. Die Zuschauergemeinschaft des Thingspiels, mythisch aufgeladen durch den Begriff der „Volksgemeinschaft", kann nur errichtet werden, indem das Publikum aus seiner reinen Betrachterrolle herausgeholt wird:
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Sty an, Max Reinhardt, S. 86. Kerschenzew, Das schöpferische Theater, S. 58. Vgl. Wolff, Volksabstimmung, S. 117.
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Erst wenn also die rein kontemplative Theaterhaltung des .Publikums" aufgegeben ist, und sich jeder mit dem Geschehen identifiziert und mitmacht, wenn jene Trennung von Schauspieler und Zuschauer aufgehoben ist, wird das Thingspiel mit seiner Bestimmung identisch.25 Im Thingspiel haben die Zuschauer daher zu stehen, um nicht Gefahr zu laufen, in einer bequemen Sitzposition verharrend, Distanz zu den Bühnenereignissen aufbauen zu können. 26 In dem Einsatz von Chören, in wie bei Reinhardt geregelten Aufund Abtritten und in der architektonischen Anlage der Thingplätze erkennt man den Versuch der Verantwortlichen, mit entsprechenden Theatermitteln das Band zwischen Bühnenpersonal und Publikum zu stärken. Das Publikum der Thingbewegung wie das anderer Massenschauspiele wird weniger als Theaterpublikum verstanden, als vielmehr als eine Art einheitlich denkende und fühlende Gemeinde. 4.1.4. Inszenierungsmerkmale im Massentheater Zur idealistischen Gefuhlsbildung trägt ein bestimmter Inszenierungsstil bei, der den dionysischen Charakter des Theaterspiels betont. Es ist vor allem Max Reinhardt, der - von dem Gedanken an eine übergeordnete Idee befreit und allein auf die Theaterwirksamkeit konzentriert - mit seinen Masseninszenierungen einen Stil kreiert, an den sich alle Regisseure der verschiedenen Massenspielvarianten bewusst oder unbewusst anschließen. Allgemein konstatiert Kindermann bei Reinhardt eine Abwendung vom Statuarisch-Naturalistischen zum Dynamisch-Impressioniblen. Reinhardt arbeite mit einer „rasanten Aufeinanderfolge solcher Augenblicks-Eindrücke". 27 Im Widerstand gegen den Naturalismus ist sich Reinhardt mit sämtlichen Protagonisten des Massentheaters einig. Entscheidend für eine Theaterwirkung im Reinhardtschen Sinn ist nicht die akribisch genaue, beinahe laborhafte Nachahmung der Wirklichkeit auf der Bühne, sondern vielmehr das Bemühen um visuell und akustisch beeindruckende Momente. Die Sprache wird reduziert, die Bedeutung der gesprochenen Worte von der semantischen auf die sinnliche Ebene verlagert. Nicht was gesagt wird ist wichtig, sondern wie es gesagt wird: Die Stimme des Schauspielers wird zum Instrument, das je nach Bedarf die Klangfarbe wechselt - vom Flüstern zum Schluchzen, vom Kreischen zum Brummen - und die Lautstärke verändert. Reinhardt gliedert die Monologe der Schauspielerinnen und Schauspieler nach musikalischen Kriterien. Wiederholungen, Pausen, unterschiedliche Klangfarbe, Tempi und Dynamik ordnen den Spannungsverlauf der Reden. 28 An Stelle von Dialogen und Monologen werden die verschiedenen theatralischen Ausdrucksmittel zu Bedeutungsträgern. Auf rhythmischen und musikalischen Strukturen aufbauend bestimmen Choreographie, Raumre25 26 27 21
Reichl, Thingspiel, S. 38. Stommer, Inszenierte Volksgemeinschaft, S. 174. Kindermann, Reinhardts Weltwirkung, S. 6. Zum Inszenierungsstil Reinhaidts vgl. Wilfried Passow: Max Reinhardts Regiebuch zu Faust l. Untersuchungen zum Inszenierungsstil auf der Grundlage einer kritischen Edition. 2 Bde., München 1971. Hier: Bd. 2, S. 135-141.
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gie und das Zusammenspiel von Färb- und Formelementen das Bühnengeschehen. Die körperlichen Folgen seines Theaters, die dionysische Rauschwirkung, erkennt Reinhardt selbst: Alle, die im Theater sind, - ob auf der Bühne oder im Zuschauerraum - bemühen sich, bewußt oder unbewußt, sich selbst zu überwinden, sich zu vergessen, über sich hinauszuwachsen. Sie suchen die Ekstase, den Rausch, den ihnen sonst nur die Droge geben kann.29
Bei einem Theater, wie es Max Reinhardt vorschwebt, ist die Beherrschung des Technikapparats von besonderer Bedeutung. Für eine Mirakel-1 nszenierung in Wien fordert er die Organisation daher auf, eine riesige Orgel und beeindruckend große Glocken zu beschaffen, um das Publikum durch lautstarken Einsatz von Musik- und Geräuschinstrumenten zu beeindrucken: Man komme mir ja nicht mit lächerlichen Eisenstangen, Tamtam, Kochtöpfen und Käseglocken. Das kenne ich nun wirklich hinreichend und das Publikum auch.30
Ähnlich beeindruckend wollen auch die Massenschauspiele der Russischen Revolution sein. Die Inszenierungen zu den Festtagen des Roten Kalenders sind eine Ansammlung der verschiedensten Theaterstile: Pantomime, Chorgesang, Zirkusdarbietungen, pyrotechnische Einlagen, Demonstrationen und Militärparaden vermischen sich zu einem Werk synästhetischer Prägung, das fast ausschließlich eine emotionale und affektive Wirkung auf die Rezipienten ausübt.31 Für die Handlung der Stücke fordert Kerschenzew eine Reduktion des Geschehens. Genau wie in Reinhardts Theater wünscht der russische Proletkult-Theoretiker weniger Text und wenig Dialoge, die zwischen Gruppen ausgetragen werden sollen. Der Stil hat konzentriert zu sein, die Effekte machtvoll. All diese Forderungen Kerschenzews sind jedoch nicht nur inspiriert von seinem Theaterideal, sondern auch schlichte Notwendigkeiten, um den weiten Raum vor einer großen Zuschauerkulisse überhaupt eindrucksvoll bespielen zu können. Die affektiven Merkmale des Theaters der russischen Revolution sind daher nicht wie viele andere synästhetische Kunstkonzepte unbedingt als Gegenentwurf zu aufklärerischen Idealen zu verstehen - das Medium Massentheater braucht solche Elemente. Bunt zusammengestellte Musik, viele Simultanszenen wie in den Mysterienspielen, Fackelzüge, dynamische Lichtregie, Volkslieder und farbenprächtig in Szene gesetzte politische Symbole32 markieren eine Inszenierungsweise, die an die sinnliche Wahrnehmung der Zuschauerinnen und Zuschauer appelliert. Plötzliche Lichteffekte reizen die Augen, lautstarke Musik und Geräusche gehen durch Mark und Bein und animieren die umstehende Masse zum Mitmachen. Dass viele Aufführungen, wie das SPD-nahe Massenschauspiel Flammende Zeit von 1928 diesen „Farben- und Formenrausch"33 noch mit einem Feuerwerk abschließen, erscheint nur konsequent.
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Reinhardt, Schriften, S. 334. Reinhardt, Ausgewählte Briefe, S. 52. Vgl. Wolff, Volksabstimmung, S. 54. Vgl. ebd., S. 55. Ebd., S. 145f.
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Ebenso ist im Thingspiel, wie in der ganzen faschistischen Öffentlichkeitsarbeit, das Erzeugen von Emotionen das Maß aller Dinge. Der Nationalsozialismus bedient sich dazu sowohl reaktionärer, als auch beinahe aller zeitgenössischer Kunstkonzepte,34 deren Wirkung auf ein großes Publikum erprobt sind, stellt aber das aus diesen Mischformen entstandene Produkt, das Thingspiel, als ureigene Kreation dar. Formale Unterschiede zum politisch links gerichteten Massenschauspiel liegen dabei allenfalls in einer größeren Orientierung an statuarisch-militärischen Elementen in Form von Aufmärschen33 und darin, dass die Handlung entscheidend von einem einzelnen Held und nicht von Kollektiven getragen wird.36 Dieser Held trägt allerdings keine individuellen Züge, sondern ist die Verkörperung eines Weltprinzips, er erscheint daher als mythische Figur. Typisch für die faschistische Ästhetik ist der Einbezug ganzheitlich-körperhafter Darstellungsformen, wie Tanz oder Gymnastik, die auch das Bild der Sportfeste des Dritten Reichs bestimmen. Eine herausragende Rolle im faschistischen Kunst- und Öffentlichkeitskonzept spielt die Architektur. Die Thingstätten sind amphitheatralisch angeordnet und sollen das Einheitsgefühl der Masse widerspiegeln und überhöhen: Mensch und Architektur sollten so zu einer Einheit finden, die jedem Beteiligten vermittelt, Baustein einer großen nach einheitlichem gemeinsamen Willen ausgerichteten Masse zu sein.37
Auf Dialoge und Monologe wird im Thingspiel nicht völlig verzichtet, aber ihre Bedeutung für den Fortgang des Spiels ist eher bescheiden. Sie erschöpft sich im Herunterbeten griffiger Parolen und politischer Reden nationalsozialistischen Inhalts. So gibt der Bergwerksdirektor im Spiel Neurode die Weisung aus: „Glauben! Hoffen! Weiter arbeiten!"38 Die Texte sind von vielen einhämmernden Wiederholungen durchsetzt, die sich ins Gedächtnis einprägen sollen. Im selben Stück brüllt zu Beginn der Chor mehrfach nur „Deutschland, Deutschland, Deutschland".39 Ahnlich wiederholenden und einprägsamen Charakter haben die aus der christlichen Liturgie verwendeten Formen wie Gebete, Sprüche, Choräle, Psalmen oder Hymnen. Die Verwendung der Sprache zeigt, dass es nicht darum geht, die Besucherinnen und Besucher von der nationalsozialistischen Ideologie zu überzeugen, sondern ein Publikum, das mit den angestrebten Idealen übereinstimmt, im Glauben an die Ideale durch permanente Suggestion zu bestärken. Auffallend an dem Aufbau politischer Massenschauspiele ist die Zuspitzung der Handlung auf den Kampf zwischen „guten" und „bösen" Mächten. Während sich im linken Massenschauspiel dieser Dualismus in dem Verhältnis von Herrschenden und Sklaven manifestiert,''0 zeigt er sich in den Thingspielen im Sieg der nationalen
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'
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Vgl. Stommer, Inszenierte Volksgemeinschaft, S. 10. Vgl. ebd., S. 158. Vgl. Wolff, Volksabstimmung, S. 211. Stommer, Inszenierte Volksgemeinschaft, S. 184. Vgl. Reichl, Thingspiel, S. 76. Vgl. Stommer, Inszenierte Volksgemeinschaft, S. 71. Vgl. Wolff, Volksabstimmung, S. 51.
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Revolution über das Weimarer System.41 Dieser dargestellte Konflikt, das Ringen von Figuren zwischen den antagonistischen Kräften - verschiedentlich durch die Nachstellung von Gerichtsverhandlungen in Szene gesetzt - unterscheidet das Thingspiel vom Weihespiel oder Aufmarschspiel. Dennoch kommt hier keine dramatische Spannung auf, da der Ausgang gemäß der Ideologie der Machthaber vorbestimmt ist.42 Sowohl im Massentheater der Russischen Revolution als auch im Thingspiel findet sich das Gut-Böse-Schema in der Darstellung der Zeitebenen wieder, da der schlechten Vergangenheit die glorreiche Zukunft nach dem Sieg der Revolution entgegengesetzt wird.43 Dabei geht es jedoch nie um eine argumentative Auseinandersetzung mit den vor- oder postrevolutionären Verhältnissen. Die Motivationen der Handelnden vermitteln sich eher liber eine suggestive Ebene, mit Hilfe der für das Massentheater so typischen Mittel wie Kollektivgesten, Musikeinblendungen oder einer symbolischen BUhneneinteilung in Oben und Unten. Nicht unbedingt Tragödien, aber in jedem Fall aus dem „Geist der Musik" geboren sind die Massenschauspiele des beginnenden 20. Jahrhunderts. Dafür spricht neben der speziellen Verwendung der Musik - oft erklingen Wagners Melodien auf den Massenbühnen - auch eine neuartige Inszenierungsweise: Musik und Rhythmus werden zu Gestaltungsmitteln, dienen nicht zur Untermalung, sondern bestimmen und strukturieren die Aufführung, indem sie die entscheidenden Akzente setzen. Wie andere Regisseure seiner Zeit, etwa Gordon Edward Craig oder Adolphe Appia, schafft Reinhardt in seinen Inszenierungen „rhythmische Räume".44 Theater und Musik sind für Reinhardt artverwandte Künste: Das Theater ist seiner Natur nach eine orchestrale Kunst 45
Reinhardt schreibt der Musik zwar keine schrecklichen dionysischen Kräfte zu, sieht aber auch eine Verbindung zum Göttlichen: Musik und Tanz sollen eingesetzt werden, um „die Erdenschwere zu überwinden".46 Seine Musikregie ist daher ungemein wichtig für sein Schaffen; auf den Rhythmus des Bühnenkollektivs kommt es an, der sich auf das Zuschauerkollektiv übertragen soll. Reinhardts Art, mit Musik zu arbeiten, ähnelt der anderer Massentheaterformen. In vielen Thingspielen beispielsweise ist die Musik jenes verbindende Element, das die Verknüpfung von Einzeldarstellern mit Chören, Tänzern und Bewegungschören bewirkt, und als szenisches Element auch die Funktion von Vorhang und Licht übernimmt.47 Gleichzeitig hat die Musik, wie auch im Massenschauspiel der Russischen Revolution, einen appellierenden Charakter, vor allem durch die Verwendung von Volks- und Kampfliedern, bei denen Zuschauerinnen und Zuschauer mitzusingen haben. Um sich von der Oper abzusetzen, bauen die Thingspielverantwortlichen auf scharf akzentuierte Geräuschmusik, die mehr durch Rhythmik als durch Melo-
41 42 43 44 45 46 47
Vgl. Stommer, Inszenierte Volksgemeinschaft, S. 14. Vgl. Reichl, Thingspiel, S. 12. Vgl. Eichberg, Massenspiele, S. 92. Kindermann, Reinhardts Weltwirkung, S. 10. Reinhardt, Ausgewählte Briefe, S. 111. Kindermann, Reinhardts Weltwirkung, S. 24. Vgl. Stommer, Inszenierte Volksgemeinschaft, S. 42.
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diefuhrung besticht. Über den Takt werden so alle Anwesenden gleichgeschaltet. Musik wird wie alle Bühnenmittel zur Stimulanz, die den Körper des Individuums in den Körper der Masse eingliedert. 4.1.5. Das „Unglaublichste glauben". Mythos und Mythisches im Massenschauspiel Nietzsche und Wagner haben die Kunst als modernes Feld religiöser Betätigung gesehen. In den Massentheaterprojekten - so unterschiedlich ihre Zielsetzung ist taucht dieser Gedanke wieder auf. Der Hang zur Mystifizierung der Bühnenereignisse kennzeichnet alle dionysischen Schauspiele der Neuzeit. Vielfach werden alte Mythen aufgegriffen oder neue versucht zu etablieren. Das Geschehen ist mit kultischen Handlungen durchsetzt und bewusst mit Stoffen aus einer legendären Vergangenheit verknüpft. Besonders deutlich wird der Versuch der Mythenbildung im Thingspiel, aber selbst das dezidiert antireligiöse Massentheaterprojekt im Russland der Zwanziger Jahre trägt mythische Züge. Das Massenschauspiel der Russischen Revolution mystifiziert die jüngste russische Geschichte. Die eindrucksvolle Darstellung revolutionärer Ereignisse wie der „Erstürmung des Winterpalais" etabliert den Mythos von der Revolution, vom Sieg des Sozialismus und von der Befreiung der Knechte. Durch die künstlerisch überhöhte Wiederholung des Siegs der revolutionären Kräfte wird eben jener Sieg, der in der Realität relativ undramatisch abgelaufen sein soll, zur Legende. Das Massentheater setzt daher „die Revolution nicht fort, sondern ist deren Apotheose." Auf jeden Fall kehrt die Revolution in den Petrograder Aufführungen zu ihrem Ursprung zurück, um dort immer wieder magisch erneuert zu werden.48 Die jeweiligen Mythen der dionysischen Theaterspektakel werden produziert für eine Gemeinde, die an sie glaubt. Der Mythos wird von den Anwesenden für wahr gehalten, somit hebt er die theatralischen Phänomene der Fiktionalität und der Mimesis auf. Die reale Ebene vermischt sich im Dionysischen mit der ästhetischen Ebene. Dies zeigt sich im Massenschauspiel der Russischen Revolution schon in der Wahl des Sujets. Die künstlerisch überhöhte Wiederholung wichtiger revolutionärer Ereignisse erinnert die Zuschauerinnen und Zuschauer an das historische Geschehen und lässt sie zusätzlich glauben, die Handlung auf der Bühne sei eine reale, nur eben zeitversetzt von den tatsächlichen Vorgängen zu sehen. Im Thingspiel werden die Bemühungen, dem Bühnengeschehen einen mythischen Charakter zu verleihen, noch viel weiter getrieben. Die Verantwortlichen versuchen, der im Namen bereits verankerten Beziehung zu den altgermanischen Opferstätten gerecht zu werden, indem sie die Thingplätze, wie „Brandberge" in Halle, angeblich dort errichten, wo früher auch der altgermanische Thing abgehalten wurde, zumindest aber in der Nähe solcher altgermanischer Kulturstätten. 49 Auf derart geheiligtem Boden - im Dritten Reich eine Metapher für Heimat - entstehen
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Paech, Theater der russischen Revolution, S. 326. Vgl. Stommer, Inszenierte Volksgemeinschaft, S. 64.
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die weihevollen Thingstätten. Über den kultischen Verweis soll der Volksgemeinschaft so ein räumlicher, kultureller und ideeller Bezug zur eigenen Geschichte offenbart werden. Wichtig ist daher auch der Blick auf die Natur, den die offenen, nicht von Mauern begrenzten Thingstätten ermöglichen. Die umliegende Landschaft gilt als deutsch und weckt Heimatgefühle. Zu ihr sollen die Menschen sich hingezogen fühlen und in Einheit mit der Natur, die Einheit der Volksgemeinschaft erfahren.50 Goebbels bezeichnet die Thingstätte als „politische Kirche des Nationalsozialismus".51 Das Verhalten des Publikums soll daher dem von Kirchengängern entsprechen - es besteht das Verbot, während der Aufführung zu klatschen oder laut zu reden, um die andächtige Stimmung nicht zu stören.52 Eklektizistisch entlehnen die Verantwortlichen kultische Symbolik aus den verschiedensten Kontexten, angefangen vom Feuer, das auf altarähnlichen Podesten während der Thingspiele entzündet wird,53 bis zu Euringers Deutscher Passion, die voll ist von ursprünglich christlichen Motiven.54 Das Thingspiel dient dazu, die NS-Ideologie religiös zu fundieren, die Volksgemeinschaft zu feiern und mit diesem Begriff der Volkgemeinschaft den nationalsozialistischen Staat mythisch aufzuladen, so dass er selber zum „Ersatzmythos" wird.55 Nachdem sich Hitler 1938 davon distanziert, den Nationalsozialismus weiter als eine Art Ersatzreligion zu betrachten,56 wird dieser Art des Massentheaters ein wesentlicher Eckpfeiler seiner Berechtigung im Dritten Reich genommen: Sein Sinn liegt gerade in der kultischen Vergegenwärtigung nationalsozialistischer Heilslehre. Ist es durch die dilettantischen Anfänge ohnehin weitestgehend bedeutungslos geblieben, so ist das Thingspiel nun auch noch nutzlos für das NS-Regime. Obwohl Reinhardt keine ideologische Botschaft vermitteln will, weckt auch er mit seinen Massenaufführungen religiöse Gefühle. Zu der Wirkung einer Aufführung des Miracle mit Schauspiel Schülerinnen und -Schülern 1938 in den USA schreibt er selbst: Aber alle schauspielerischen und technischen Wunder früherer Aufführungen verblaßten vor dem schlichten Wunder, das hier 1 1/2 Dutzend Girls mit ihrer Ekstase vollbrachten. Ihre Schreie, ihr Lachen, ihr Weinen haben die Heiligen wirklich zum Leben erweckt und alle Himmel geöffnet. Wir haben das Wunder geglaubt. Und wenn sie uns gesagt hätten, daß Frieden auf Erden ist, so hätten wir in dem Augenblick auch dieses Unglaublichste geglaubt.57
Dass der Jude Reinhardt die christliche Botschaft des Miracle so eindrucksvoll umsetzt, dass er selbst bereit ist, an sie zu glauben, zeigt, wie wenig die Theaterwir-
50 51 52 53 54 55 56 51
Vgl. Wolff, Volksabstimmung, S. 189. Vgl. Stommer, Inszenierte Volksgemeinschaft, S. 154. Vgl. ebd., S. 110. Vgl. ebd., S. 67. Vgl. Reichl, Thingspiel, S. 42. Hopster, Das „Dritte Reich". Inszenierte Ganzheit, S. 245f. Vgl. Eichberg, Massenspiele, S. 36. Reinhardt, Ausgewählte Briefe, S. 105.
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kung von der Ideologie ihrer Schöpfer abhängig ist. Religiöse Entrückung und Entzückung sind im Massentheater eine Frage der Technik, nicht der Überzeugung. 4.1.6. Der Mensch in der Masse - Anmerkungen zur Massenpsychologie Im Spiel mit der Masse zeigt sich das Potenzial des Theaters, Kollektive räumlich und ideell zu binden. Wie Nietzsche die Auswirkungen der dionysischen Tragödie geschildert hat, scheint sich das Individuum im Rausch der Sinne selbst aufzugeben, um sich dem Kollektiv der Masse anzuschließen. Fraglich ist, ob die Preisgabe der Individualität vom Subjekt überhaupt als solche wahrgenommen wird. Schließlich erweitert es durch die Gemeinschaftserfahrung auch seinen eigenen Erlebnishorizont und feiert sich als Teil der Masse auch selbst. Schon die frühen Formen der Massenpsychologie haben darauf hingewiesen, dass sich die Seele des Individuums von der Kollektivseele der Masse erheblich unterscheidet. 38 Gustave Le Bon hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Masse nicht etwa als Durchschnitt der versammelten Menschen zu verstehen sei, sondern dass ihre Wirkung im Subjekt ganz neue Reaktionen auslöse. Die Menge verleiht demnach das Gefühl von Macht verbunden mit einer Anonymität, die vor Verantwortung schützt. Die Massenseele unterliegt heftigen Impulsen und steigert Gefühlsregungen zum Extrem, fühlt sich aber andererseits auch nur von Extremen angesprochen. Der Mensch in der Masse ist ein Triebwesen, ein Barbar, dem das Bewusstsein für seine Handlungen ebenso abhanden gekommen ist wie das für seine Persönlichkeit. Die Urteilsfähigkeit des Subjekts geht verloren; dementsprechend leicht ist es, die emotional aufgebrachte Masse zu beeinflussen. 39 Angesichts der Attraktivität von Massenbewegungen stellt sich die Frage, warum so viele Menschen dazu bereit sind, ihre eigene Persönlichkeit aufzugeben, um sich einer Masse anzuschließen. Die Antwort liefert Sigmund Freud, und sie ist ebenso schlicht wie nachvollziehbar: Menschen legen ihre Individualität ab, weil sie es wollen. Es ist eine Wohltat, sich zumindest vorübergehend von seinem Ich zu befreien. Freud sieht in dem Führer der Massen eine Verkörperung des Übervaters, auf den jedes Mitglied der Menschenmenge libidinös sein Ich-Ideal projiziert. Die überwiegend hilf- und machtlosen Menschen aus der Gruppe identifizieren sich mit ihrem Führer, der auch ein Sportstar sein kann oder abstrakter ein Ideal, ein Wunsch, ein gemeinsames Ziel. Für Momente werden Ich und Ich-Ideal eins. Für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Masse bedeutet das eine enorme Stärkung, denn sie sind verbunden durch die Liebe zur selben Person oder gemeinsame Wünsche:
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Vgl. Walter Hagemann: Vom Mythos der Masse. Ein Beitrag zur Psychologie der Öffentlichkeit, Heidelberg 1951, S. 108. Eine Zusammenfassung von Le Bons Thesen findet sich in Freuds Abhandlung: Massenpsychologie und Ich-Analyse (S. 5-19), die Grundlage fiir diesen Abschnitt meiner Arbeit ist.
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Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein- und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.40
Ebenso verursacht das Phänomen der Massenbildung eine Steigerung der Affektivität. Das Ich, das seine Verantwortung abgelegt hat, kann sich nun schrankenlos seinen Leidenschaften hingeben, die normalerweise ausgesperrte triebhafte Seite seines Wesens genießen.61 Unter den hohen Anforderungen, die Menschen an sich stellen, Ideale zu verkörpern und entsprechend gesellschaftlichen Normen zu leben, leidet zumeist das Selbstbewusstsein. Die Individuen zumindest für Augenblicke, wenn möglich sogar dauerhaft, von dieser Not zu befreien ist das Versprechen der Massenbewegungen. Solche Erfahrungen lassen sich am Beispiel des Sports gut nachvollziehen. So beschreibt Nick Hornby in seinem Fußballroman Ballfieber die tröstende Wirkung, die der Verlust des eigenen Ichs haben kann: Ich befand mich in vollständiger Sicherheit, beschützt [...] durch meine Mitanhänger und war frei [...] bei den Drohgesängen der anderen mitzugrölen. [...] Diejenigen aber, die über den Identitätsverlust, den Fußballfans erleiden müssen, grummein, liegen daneben. Dieser Identitätsverlust kann ein auf paradoxe Weise bereichernder Vorgang sein. Wer will schon die ganze Zeit an seinem eigenen Selbst festkleben? Ich zum Beispiel wollte gelegentlich mal [...] keine Vorstadtbrillenschlange mit Segelohren sein. [...] Ich war ein Teil von uns, ein Organ im Hooligankörper. Die Tatsache, daß ich der Blinddarm war - klein, nutzlos, gut versteckt irgendwo in der Mitte spielte nicht die geringste Rolle.62
Wagner und Coubertin fanden die Gesellschaft krank und kreierten Zivilreligionen, um dem sozialen Verfall entgegen zu wirken. Die Attraktivität, die ästhetische und sportliche Massenbewegungen auf zahllose Menschen ausüben, macht deutlich, dass es nicht die Gesellschaften sind, die Heilung und Trost bedürfen, sondern die Individuen.
4.2. „Friends for life". Die Olympische Eröffnungsfeier von Barcelona 1992 4.2.1. PR-Arbeit und Initiationsriten. Die Bedeutung der Zeremonien für das Olympische Fest Der moderne Sport als Massenereignis übernimmt viele Formen und Funktionen des dionysischen Theaters: Zu den Gemeinsamkeiten gehören die Massenversammlungen im Zuschauerraum, die Ich-Aufgabe der Fans, die Emotionalität und die Sinnlichkeit der Veranstaltungen. Am deutlichsten sind die Parallelen jedoch vom Massentheater zu den Eröffnungsfeiern von sportlichen Großveranstaltungen, insbeson-
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Freud, Massenpsychologie, S. 76. Vgl. dazu Freud: Massenpsychologie. Hornby, Ballfieber, S. 72.
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dere zu denen Olympischer Spiele, da die künstlerische Gestaltung der Zeremonien ähnlichen Gesetzen folgt wie die der Massenschauspiele. Ausfuhrlich beschäftigte sich Coubertin mit der Gestaltung der Eröffnungsfeierlichkeiten und forderte feierliche und Uberwältigende Zeremonien, die den religiösen Charakter seiner olympischen Idee betonen und aus der reinen Sportveranstaltung ein olympisches Fest machen. 63 Daher sind die Eröffnungsfeierlichkeiten der offensichtlichste Ausdruck von Coubertins Idee vom olympischen „Gesamtkunstwerk". MacAloon bezeichnet die Eröffnungsfeiern als „rites of passage" im Sinne Turners und van Genneps. 64 Die Zeremonien trennen die Spiele vom Alltag ab, betonen somit die Festlichkeit und Besonderheit der olympischen Wochen und markieren einen eindrucksvollen Beginn. Ihre Aussage ist einfach: Jetzt geht's los. Genauso gut kann man die Funktion olympischer Eröffnungsfeiern als PR-Arbeit bezeichnen, wie es Messing und Jüngermann getan haben. 65 In den Eröffnungsfeiern wirbt das IOC für die Olympische Idee und demonstriert seine Macht mit einer Überfülle an olympischen Symbolen, während das Gastgeberland seine kulturelle Identität vorstellt. Zum ersten Mal trifft sich die Masse der Sportlerinnen und Sportler, zum ersten Mal erleben die Olympiatouristinnen und -touristen die Gemeinschaftserfahrung im Stadion. Die Eröffnungsfeiern wecken Lust auf mehr, und das Interesse, das ihnen entgegengebracht wird, ist dementsprechend groß; sie sind die olympischen Ereignisse mit der höchsten weltweiten Fernseheinschaltquote. 66 Ihr Gelingen ist von großer Bedeutung für die gesamte olympische Veranstaltung. Das olympische Fest bedarf eines berauschenden Beginns, um die Feiertagsstimmung anzukurbeln. Am Beispiel der Eröffnungsfeier von 1992 in Barcelona soll nun das Phänomen des „Dionysischen" in den olympischen Zeremonien näher analysiert werden. 4.2.2. Organisation und Ablauf der Eröffnungsfeier von Barcelona Eröffnungsfeiern von Olympischen Spielen sind ein solch komplexes Unterfangen, dass schwer zu klären ist, wer genau und in welchem Umfang daran beteiligt ist. Sie lassen sich weder einer Person noch einer einzigen homogenen Gruppe eindeutig zuordnen und werden von internen Kompetenzstreitigkeiten und Interessenskonflikten beeinflusst. In Barcelona zeigt sich letztlich die COOB'92, eine eigens für die Organisation der Spiele gegründete Gesellschaft, für die Auswahl der Künstlerinnen und Künstler verantwortlich. Die COOB'92 bemüht sich, verschiedene kulturelle Kräfte teils aus Barcelonas Einzugsgebiet, teils aus der ganzen Welt zu bündeln. Als Chefregisseur wird Manuel Huerga benannt. Der berühmte Operntenor Jos6 Carreras übernimmt die musikalische Gesamtleitung. Eine besondere Rolle kommt auch der katalanischen Theater-
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Vgl. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 150. Vgl. MacAloon, This great symbol, S. 270. Vgl. Manfred Messing und Martin Jüngermann: Zur Strukturanalyse der Eröffnungsfeier von Barcelona 1992. In: Müller/Messing, Auf der Suche nach der Olympischen Idee, S. 212. Vgl. MacAloon, Setting for Intercultural Exchange, S. 32.
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gruppe La Fura dels Baus zu, die mit der künstlerischen Ausgestaltung der Herkules-Sage betraut ist. Dieser etwa 20-minütige Part, um den die anderen künstlerischen Darbietungen gruppiert werden, nimmt im Konzept der Eröffnungsfeier eine zentrale Funktion ein.67 Angesichts der Vielzahl von Mitwirkenden - insgesamt sind über 10.000 Menschen an der Eröffnungsfeier beteiligt - ist eine straffe dramaturgische Gliederung vonnöten, damit der dreieinhalbstündige Abend nicht in Einzelteile zerfällt. Daher benennt der Direktor der Zeremonien, Josep Roca, neben der Präsentation der Olympischen Idee die Vorstellung von Barcelona, Katalonien, Spanien und Europa als strukturierende Themenschwerpunkte.68 Insbesondere der autonomen Region Katalonien soll ein besonderer Platz in der Eröffnungsfeier eingeräumt werden, da sie in der Welt weit weniger bekannt ist als Spanien oder Barcelona." Am Abend des 25. Juli 1992 findet die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele von Barcelona statt. Sie stellt eine Aneinanderreihung verschiedener Programmpunkte dar, wobei jeder Teil seine Aussagekraft hat und gleichzeitig in Beziehung zu den anderen Teilen stehen soll.70 Schauplatz der Veranstaltung ist das 65.000 Gästen Platz bietende Olympiastadion, dessen Rasenfläche und Tartanbahn die eigentliche Spielfläche darstellen, die mit blauem Tuch ausgelegt ist. Auf der antiken Fassade des Stadions ist der Chor platziert, unter dem eine kreisförmige weiße Bühne in die Spielfläche hineinragt. Diese Bühne ist Ort der Auftritte verschiedener Opernstars. Die Eröffnungsfeier beginnt mit einigen tänzerischen Darbietungen, meist in Form von Massenchoreographien, die von verschiedenen musikalischen Einlagen aus dem Bereich der Oper, dem Einzug des spanischen Königs in das Stadion und spektakulären Programmpunkten wie einer Flugzeugstaffel unterbrochen werden. Mit Hilfe dieser Choreographien wird so ein bekanntes Bild Barcelonas gezeichnet die Blumenstraße „Rambla de les Flors" - und die Kultur Kataloniens und Spaniens durch typische Tänze wie der Sardana oder dem Flamenco vorgestellt. Am Ende des ersten künstlerischen Teils steht dann die um den Mythos des Herkules kreisende Performance von La Fura dels Baus mit dem Titel Olympic Sea / Mediterranean Sea. Es folgt der zum Protokoll gehörende offizielle Teil des Programms mit dem Einmarsch der Nationen, den Reden und Schwüren sowie der Eröffnung der Spiele durch den spanischen König. Andere zum olympischen Ritual gehörende Elemente, vor allem das Entzünden des Olympischen Feuers, werden in hohem Maße inszeniert. Ein künstlerischer Teil, der das Thema Europa in den Vordergrund rückt, beschließt den Abend. Es bilden sich zwölf Menschenpyramiden, und in das dann 67
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Vgl. Josep Roca: Ceremonies in the Organisation of the Games. The Experience of COOB'92. In: Moragas i Spä, Olympic Ceremonies, S. 232. Vgl. Roca, Ceremonies in the Organisation, S. 228. Vgl. Lluis Bassat: The Creativity of the Barcelona'92 Olympic Ceremonies. In: Moragas i Spä, Olympic Ceremonies, S. 243. Lluis Bassat fungiert für die Eröffnungsfeier von Barcelona als eine Art Impressario. Vgl. ebd., S. 242.
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erklingende Opernmedley ist die von einem dreizehnjährigen Jungen dargebrachte Europäische Hymne, das Schlusslied aus Beethovens 9. Symphonie, integriert. Im letzten Programmpunkt, dem Abschlussfeuerwerk, soll der allgemeinen Freude Ausdruck verliehen werden. 4.2.3. „Don't argue. Just believe". Symbolische, rituelle und legendäre Momente in der Präsentation der Olympischen Idee Coubertins Gemeinschaftsideal zielte darauf ab, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern, sie aus ihrer Isolation zu führen und an religiösen Gefühlen teilhaben zu lassen. Knapp 100 Jahre später scheint sich auf dem ersten Blick nicht viel geändert zu haben. Immer noch gelten Coubertins Ideale als die eigentlich olympischen. Eine intellektuelle Neuorientierung hat nicht stattgefunden. Traditionsbewusst folgt die olympische Bewegung den Spuren ihres Gründervaters und zeigt sich, wie Barcelonas Bürgermeister Pasqual Maragall in seiner Ansprache betont, stolz, den Coubertinschen Geist repräsentieren zu dürfen. 11 Die Feier der Olympischen Idee steht daher im Mittelpunkt jeder Eröffnungszeremonie. Die - schon von Coubertin angeregten - Rituale wie der Einmarsch der Nationen, die Eröffnungserklärung durch das Staatsoberhaupt, das Hissen der Olympischen Flagge zu den Klängen der Olympischen Hymne, das Schwören des Olympischen Eids und vor allem das Entzünden des Olympischen Feuers 72 gehören zum obligatorischen Protokoll der Eröffnungsfeiern. Jeder Veranstalter muss sich an diese Vorgaben halten, so dass ihr Fortbestand gesichert ist. Dass diese kultischen oder feierlichen Momente heute in den Fernsehübertragungen eher „kitschig, unecht und gezwungen" 73 wirken, hat nicht dazu geführt, sie aus dem Programm zu entfernen. Sie sind mittlerweile olympische Tradition. Ihre Funktion ist dieselbe wie die anderer Rituale: Als kulturell standardisierte Handlungen mit symbolischer Bedeutung vermitteln sie Zusammengehörigkeitsgefühle und evozieren Feiertagsstimmung. Zudem stellen sie geschichtliche Kontinuität her und vermitteln so den Anwesenden und Teilnehmenden das Gefühl in einer langen und bedeutenden historischen Tradition zu stehen. 74 Indem die Rituale vollzogen werden, bestätigen sie die Existenz eines Olympischen Geists, der die gesamte olympische Veranstaltung beseelen und zusammen-
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Indem Coubertin in den heutigen Spielen gefeiert und gehuldigt wird, erhält Olympia eine zweite Traditionslinie neben der Antike. Mit Gottesdiensten am Olympischen Feuer gedenkt die Bewegung ihrem Schöpfer und verklärt so auch die eigene Vergangenheit zur Legende. Wie groß die Personenverehrung für Coubertin ist, zeigt auch das Beispiel von Atlanta 1996. Bei der Eröffnungsfeier der so genannten Jahrhundertspiele wurde ein überdimensional großer Schattenriss Coubertins auf eine kastenförmige Leinwand projiziert. Kurz davor hatte es auf derselben Leinwand Nachstellungen von Sportarten der antiken Olympischen Spiele gegeben. Vgl. NOK, Olympische Charta, S. 56-58. Eichberg, Massenspiele, S. 149. Vgl. Kurt Weis: Religion and sport. The social connection. In: F. Landry u.a. (Hg.): Sport. The third millenium. International Symposium. Quebec 1990, S. 207-220.
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halten soll. Dabei ist es unwichtig, was die Botschaft dieses Geistes ist. Olympia, mit Frieden und Völkerverständigung verbunden, ist schlicht das Symbol „einer besseren Welt". 75 Neu in Barcelona ist der erkennbare Versuch, diese Elemente zu dramatisieren und zu ästhetisieren, um sie für das Publikum im Stadion und vor den Bildschirmen wieder attraktiver zu machen. Das heißt, im Gegensatz zu früheren Olympischen Spielen, wird noch mehr Augenmerk auf die Inszenierung der „Olympischen Idee" gelegt. So findet zum ersten Mal die Eröffnungsfeier am Abend statt, auch um mit der Hilfe von Licht und Pyrotechnik besondere Effekte erzielen zu können, die nur am Nachthimmel möglich sind.76 Insbesondere gilt dies für das Hereintragen und das Anzünden des Olympischen Feuers, das im dunklen Stadion weithin sichtbar für alle leuchtet. Das Olympische Feuer wird mit Hilfe eines Bogenschützen, der einen brennenden Pfeil in Richtung der Feuerschale abschießt, entflammt. Bewusst setzen die Gastgeber auf die Dramatisierung des Ereignisses, um dem Abend einen Höhepunkt zu verleihen, der sich in das Gedächtnis der Zuschauerinnen und Zuschauer eingraben soll.77 Die olympische Gemeinschaft symbolisiert sich am deutlichsten im Anschluss an die Entzündung des Feuers. Einige Helfer tragen eine riesige Fahne mit den fünf Ringen ins Stadion, die über die mittlerweile im Innenraum stehenden Sportlerinnen und Sportler ausgebreitet wird. Die angestrebte Gemeinschaftserfahrung der Sportstars aus aller Welt, die repräsentativ für die Jugend der Welt stehen sollen, wird so nicht nur symbolisch in Szene gesetzt, sondern für einige Sekunden sogar vollzogen. Wegen der Enge unter dem Tuch wirken die Sportlerinnen und Sportler tatsächlich wie ein zusammenhängender Körper. Gleichzeitig ist diese Fahne aber auch Repräsentant für ein weiteres offensichtliches Phänomen Olympias, dem Gigantismus, der sich in dem Anspruch widerspiegelt, eine möglichst hohe Zahl von Menschen unter dem symbolischen Dach Olympias, den fünf Olympischen Ringen, zu vereinigen. Ästhetisch unterstützt wird die Feier der Sportler-Gemeinde von den Klängen eines einhundertfünfzig Sängerinnen und Sänger zählenden, ganz in weiß gekleideten Chores, der den von Andrew Lloyd Webber komponierten Titel song Friends for life interpretiert.78 Der Song hat, obwohl als Popsong komponiert, durchaus hymnischen Charakter. Die Olympische Idee wird jedoch nicht nur in den festgeschriebenen Elementen des olympischen Protokolls thematisiert. Auch in dem freien Teil der Eröffnungsfeier, der im wesentlichen dazu dient, den europäischen Charakter der Stadt Barcelona, die mediterrane Lebensfreude und Freundlichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner 75
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Hans Lenk: Auf der Suche nach dem verlorenen Olympischen Geist. In: Gebauer, Utopie der Moderne, S. 104. Ein weiterer Grund für die Verlegung in den Abend könnten die Zeiten der Femsehübertragung sein. In Europa ist die Eröffnungsfeier zur Prime-Time zu sehen, in Nord- und Südamerika immerhin noch mittags oder nachmittags. Vgl. MacAloon, Setting for Intercultural Exchange, S. 33. Vgl. COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 4, The Games, S. 71.
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der Olympiastadt sowie die präzise organisatorische Arbeit vorzustellen,79 tauchen immer wieder Bezüge zur Olympischen Idee auf. Barcelona, Katalonien und Spanien werden wiederholt mit dem Wesen Olympias in Verbindung gebracht. So demonstrieren die Gastgeber, dass sie sich ihrer Verantwortung für die olympische Bewegung durchaus bewusst sind und präsentieren sich als würdige Veranstalter der Olympischen Spiele. Vor allem aber wird der Gast immer wieder darauf aufmerksam gemacht, wo er sich befindet: auf den ideellen Mauern des antiken Olympia. Dass diese derzeit in Barcelona stehen, ist nur von zweitrangiger Bedeutung. Um den Charakter einer Eröffnungsfeier von dem einer Femsehshow zu unterscheiden und einen Bezug zum Gesamtzusammenhang der Spiele aufzuzeigen, ist es wichtig, die Olympische Idee in den Zeremonien erfahrbar zu machen. Alle Menschen aus allen Erdteilen sollen sich von ihr angesprochen fühlen. Ihre Botschaft muss daher so einfach wie möglich sein: The contents of the message must be simple. If possible, it should be of such nature that it is neither to be discussed nor challenged during the ceremony. The typical example here again is the religious ceremony. They are usually recognised as being by far the most meaningful and the most impressive. Believe in God. Do not argue, do not discuss, do not enter into arguments. Just believe. That is the message. And that is how the ceremony can convey its message very powerfully. The general principle should be that ceremonies should never convey message of doubt or interrogation but messages of conviction.80
IOC-Generaldirektor Carrard knüpft auch in der Wortwahl eng an die Vorstellungen Coubertins an. Der religiös konnotierte Glaube an die Olympische Idee soll vermittelt werden, wobei die Botschaft einfach sein muss, um eine breite Identifikation und Verständlichkeit in der Welt zu erreichen. In Barcelona wird die olympische Botschaft daher zusammengefasst in einem Slogan:,.friends for life".81 Ähnlich griffig ist die optische Umsetzung der Olympischen Idee. Da sie nicht diskutiert werden soll, reduziert sich ihre Darstellung auf wenige markante, visuelle Symbole. Dies sind die Olympischen Ringe, deren Farben auch unabhängig von dem Emblem leitmotivisch auftauchen, das Olympische Feuer, das Logo der Spiele von Barcelona und die Friedenstauben. Innerhalb der gesamten Eröffnungsfeier treten weithin sichtbare Symbole als Bedeutungsträger an die Stelle der Sprache und beherrschen die Szenerie. Ihre: Verwendung entspricht der Feststellung von Le Bon, dass die Massenseele in Bildern denke und nur von deutlichen Bildern angesprochen werde. Symbole sind von unmittelbarer Wirkung. Sie sollen die Zuschauerinnen und Zuschauer ohne Umweg über den Intellekt erreichen.82 Um universal und in den verschiedenen Kulturkreisen
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Vgl. ebd., S. 53. Francois Carrard: The Olympic Message in Ceremonies. The Vision of the IOC. In: Moragas i Spä, Olympic Ceremonies, S. 24. Vgl. COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 4, The Games, S. 51. Allerdings halten es düe Organisatoren doch fur nötig, dem Publikum 85-seitige Programmhefte auszuhändigen, um ihre Absichten zu erläutern. Die Befürchtungen sind nicht ganz unberechtigt. 33 % von 579 befragten Olympia-Touristen geben an, sie hätten die Darbietungen ohne Erklärungen nicht verstanden. Vgl. Messing/Jüngermann, Strukturanalyse der Eröffnungsfeier, S. 214.
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verständlich zu bleiben, sind die wichtigsten von ihnen daher recht einfacher Natur. Aus diesem Grund wirken sie oft nicht sehr innovativ. So bilden kurz nach Beginn der Veranstaltung weiß gekleidete Sardana-Tänzerinnen zuerst die Olympischen Ringe, um dann zu einem Herz zu verschmelzen, das im Rhythmus der Musik schlägt, bis letztendlich die seit 1896 zwingend vorgeschriebenen Friedenstauben in den Himmel entlassen werden. Die Tauben, die im 20. Jahrhundert zum markantesten Symbol für den Frieden geworden sind, erzielen durch ihre Vielzahl und ihre aufsteigende Bewegung auch emotionale Wirkung.83 Die Produktion von Zeichen bestimmt den Charakter der Eröffnungsfeier von Barcelona, wobei die verschiedenen Zeichen alle miteinander in Verbindung gebracht werden. Alles was auf der Bühne zu sehen ist, verweist auf etwas Jenseitiges. 25 Models stehen für 25 vergangene Olympische Spiele, zwölf Menschenpyramiden sind gleichbedeutend mit den zwölf Staaten der EU und die Segel eines Schiffes gelten als „Waffen der Intelligenz und Kultur".®4 Eine solche „Symbolisierungswut"85 ist typisch für die Formen dionysischer Theaterkunst, da sie ein dialogfreies Schauspiel mit Bedeutung anfüllt. Gleichzeitig offenbart sich ein Problem: Die Olympische Idee wird mit den wenigen Symbolen, insbesondere mit den Ringen gleichgesetzt, sie ist damit selbst zum Symbol geworden. Da sich die Olympische Idee hauptsächlich in den Eröffnungsfeiern vermitteln soll, dort aber auf die visuelle Präsentation der Olympischen Ringe beschränkt wird, verbindet insbesondere das weltweite Femsehpublikum mit Olympia eben nur dieses Zeichen der fünf ineinander verschlungenen Ringe, aber keine tiefer gehenden Inhalte. Eine Überfülle von Zeichen ist auch charakteristisch für die heutige Medien- und Werbelandschaft. Dort beherrschen Markenzeichen wie der Mercedes-Stern die visuellen Welten.86 Die fünf ineinander verschlungenen Ringe Olympias gelten als das bekannteste Symbol der Welt.87 Erinnert man sich an den PR-Charakter der Eröffnungsfeier und an die kommerziellen Interessen, die mit den Spielen verbunden sind, ließe sich auch sagen: Die Olympischen Ringe sind die bekannteste Marke der Welt. 83
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Der Umgang mit den Tauben als Symbol des olympischen Friedens zeigt, wie sich Symbole auch abnutzen, bis sie eher lächerlich wirken. Die Tauben wurden 1936 bei den „NaziSpielen" in Berlin ebenso selbstverständlich in die Luft entlassen wie 1980 in Moskau oder 1984 in Los Angeles, also bei jenen Olympischen Spielen, die im Zeichen des Kalten Krieges standen. Anhand einer Panne, die den Organisatorinnen und Organisatoren der Eröffnungsfeier von Seoul 1988 unterlief, wird offensichtlich, wie wenig Beachtung die Verantwortlichen selbst diesem Friedenssymbol schenken. Dort wurde unmittelbar nach dem Aufsteigenlassen der Tauben das Olympische Feuer entzündet. Zahlreiche Vögel hatten das Stadion noch nicht verlassen und sich auf der Feuerschale niedergelassen, so dass sie, als Symbole Friedens, von den Flammen, dem Symbol der Olympischen Idee, verbrannt wurden. Vgl. COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 4, The Games, S. 59, 65 u. 72. Gunter Gebauer und Christoph Wulf: Die Berliner Olympiade 1936. Spiele der Gewalt. In: Gebauer, Utopie der Moderne, S. 253. Vgl. Eichberg, Massenspiele, S. 160. Vgl. A. Höfer: Der Olympische Friede: Anspruch und Wirklichkeit einer Idee. St. Augustin 1994, S. 108.
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Da F r a n c i s Carrard der Botschaft der Spiele religiösen Charakter einräumt, ist ihre Vermittlung eine Kulthandlung und ihre Darstellung mythischer Natur. Am Ausgeprägtesten findet sich diese Forderung im Teil Olympic Sea verwirklicht, auf den in einem gesonderten Kapitel eingegangen wird. Aber auch innerhalb des offiziellen Protokolls gibt es zahlreiche mythische Momente. Von großer ritueller und dramaturgischer Bedeutung fur Olympia ist etwa das Entzünden des Olympischen Feuers. Seit 1936 wird ein Fackellauf veranstaltet, der das Gesamtkunstwerkkonzept Olympias aus den Mauern des Stadions hinaus trägt, die Bevölkerung Spaniens bereits im Vorfeld auf das Ereignis einstimmt und zugleich eine mythische Atmosphäre schafft. 88 Das Olympische Feuer ist neben den Friedenstauben ein Beispiel, wie die olympische Bewegung allgemein verständliche Symbole aus anderen Ideenzusammenhängen entlehnt, um sie für ihre eigenen Ziele einzusetzen und umzudeuten. Mit dem Feuer wird an alte heidnische Bräuche angeknüpft, es weckt Assoziationen zu Licht, Sonne und Geist, aber auch zum Herdfeuer und damit zu Gemeinschaftserfahrungen. 89 Als zentrales Motiv des PrometheusMythos ist das Feuer zudem einerseits Bild für die Verbindung des Menschen zu übernatürlichen Mächten, aber andererseits auch Zeichen für die Emanzipation des Menschen von den Göttern. Um diese Feier der Menschheit kreisten auch Coubertins Überlegungen zur Gestaltung des olympischen Fests. An religiöse Bräuche erinnert auch der Olympische Eid und das langsame Hineintragen der Olympischen Flagge. Messing und Jüngermann vergleichen die Flagge mit einer geweihten Hostie und sehen im Einmarsch der Nationen Züge der christlichen Prozession. Zur Heiligen Stätte wird das Stadion; die Symbole ersetzen die Reliquien. Die Teilnehmenden selbst verhalten sich diszipliniert, so dass der Einmarsch auch sinnbildlich für eine kooperative Einheit steht, die auf einer geordneten Segmentierung beruht. 90 Zudem wird ähnlich wie im russischen Massenschauspiel die eigene Vergangenheit legendär verklärt. So tragen, eingebettet zwischen dem Hissen der Olympischen Flagge und dem Entzünden des Feuers, 25 junge Männer 25 Olympische Raggen im Laufschritt durch das Spalier der Sportlerinnen und Sportler. Ästhetisch überhöht wird dieser Part wiederum durch begleitende Musik. Spots, die die Fahnenträger verfolgen, lenken die Blicke des Publikums. Die Fahnenträger sind Repräsentanten der bisherigen Olympischen Spiele, von Athen 1896 bis Barcelona 1992. Jeder Fahnenträger muss in dem Ort, den er repräsentiert, geboren sein.91 Durch solch eine
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Die Inszenierung des Fackellaufs von Barcelona ist ein eigenes dionysisches Spektakel: Zunächst wird die Flamme am Olymp durch Sonnenstrahlen entzündet und dann in einem Staffellauf zur Olympiastadt gebracht. In Olympia wird vor 10.000 Zuschauerinnen und Zuschauern eine altgriechische liturgische Feier abgehalten. Die Zuschauerzahl steigt auf 70.000 bei einer Veranstaltung vor der Akropolis, die die Darstellung altgriechischer Wettkämpfe, eine Flaggenparade sowie die Darbietung griechischer Volkstänze beinhaltet. Als das Feuer schließlich in Spanien ankommt, wird am Mittelmeerufer eine Performance veranstaltet, die griechische Klassik mit katalanischer Kunst in Verbindung bringen soll. Vgl.: COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 4, The Games, S. 38-41. Vgl. Messing/Jüngermann, Strukturanalyse der Eröffnungsfeier, S. 198f. Vgl. ebd. Vgl. COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 4, The Games, S. 65.
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Auswahl wird deutlich, dass die Eröffnungsfeier nicht zu einer rein theatralischen Darbietung werden soll, sondern dass sie Reste eines „realen Lebens" in sich trägt. Die Symbolik soll sich auf das Leben übertragen, wie umgekehrt auch das Leben die Symbolik bestimmt. Andererseits macht das gewählte Beispiel auch deutlich, dass sich der Sinn der Symbole optisch oder akustisch nicht vermittelt. Um wesentliche Aussagen der Inszenierung zu verstehen, bedarf es des Begleitheftes. Das spricht wiederum dafür, dass es den Verantwortlichen in erster Linie um die Wirkung ihrer Programmpunkte geht und erst in zweiter Linie auch um deren Bedeutung. Während des Fahnenlaufs verkündet der Stadionsprecher die jeweiligen Stationen der Olympischen Spiele, und auf den Bildschirmleinwänden im Stadion werden die einprägsamsten Momente und einmalige sportliche Leistungen der vergangenen Spiele wiederholt, etwa Bob Beamons .Jahrhundertweitsprung" über 8,90 m bei den Olympischen Spielen von Mexiko. Neben der einprägsamen Wirkung und dem Gefühl, die Geschichte dieses Jahrhunderts im Zeitraffer zu erleben, rufen diese Bilder Erinnerungen an Sportgrößen hervor. Sportstars vergangener Zeiten werden oft zu Legenden hochstilisiert, sie sind in der Sportberichterstattung so etwas wie die mythischen Figuren der Gegenwart. In Muhammad Ali eine moderne Verkörperung von Herkules zu sehen, fällt umso leichter, da auch der Sport archetypische, und damit letztlich mythische Kämpfe wiederholt. So produziert Olympia seine eigenen Mythen, die den Vorteil gegenüber anderen Religionen haben, dass sie nicht an einen bestimmten kulturellen Kontext gebunden und daher universal verständlich sind. Zugleich glorifiziert sich die olympische Gegenwart selbst, indem sie ihre eigene Vergangenheit mystifiziert. 4.2.4. Bewegte Massen. Kollektivbildungen auf der Bühne und im Zuschauerraum Coubertin wollte mit dem Olympischen Fest eine Zivilreligion schaffen, um über die religiösen Gefühle den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken. So ist auch die Eröffnungsfeier von Barcelona voller Kollektivbildungen, bei denen allerdings offen bleibt, ob sie lediglich bombastische Wirkung erzielen sollen, ob sie den Anspruch des IOC, alle Menschen unter dem olympischen Dach zu vereinen, zu verdeutlichen haben, oder ob sie den Menschen tatsächlich neue Heimaten anbieten wollen. Optisch setzen die so genannten „lebenden Bilder" die olympische Kollektivbildung um. Immer wieder formen sich bis zu tausend Performer zu den Olympischen Ringen, zu einem Herz, oder zu den Buchstaben des spanischen Begrüßungsrufs „Hola". Kollektivgesten lassen die Bewegungen der so entstandenen Symbole einheitlich erscheinen, so dass der Eindruck entsteht, ein einziger großer Körper habe seine Stellung verändert. Das Bild einer organischen Masse, die aus einer Vielzahl von Einzeldarstellerinnen und -darstellern besteht, ist nicht nur von bombastischer Wirkung, sondern auch Spiegel des olympischen Gemeinschaftsideals. Jeder Performer für sich wäre wirkungslos, erst in der Errichtung der übergeordneten Symbole, erst in der Gemeinschaft hat ihr theatralisches Dasein einen Sinn. Angesprochen worden ist bereits die Flagge, die über die Athletinnen und Athleten ausgebreitet wird und die Topstars auch körperlich eng zusammenführt. Ebenfalls zeigen die errichteten zwölf Menschenpyramiden gegen Ende der Veranstaltung den Sinn gemeinschaftlicher Arbeit und Leistungen. Die obersten Spitzen 147
können nur durch den Zusammenhalt der Basis vom Sturz bewahrt werden. In diesem Fall ist die Aussage noch deutlicher politisch ausgerichtet, da die Pyramiden symbolisch flir die zwölf Staaten der EU stehen sollen.92 Weniger wird hier ein Zusammenhalt zwischen den europäischen Staaten gefordert - die Pyramiden stehen schließlich jede für sich - als vielmehr ein Zusammenhalt innerhalb der jeweiligen Nation. Auch im Einmarsch der Nationen und der anschließenden Anordnung der Sportlerinnen und Sportler im Innenraum zeigt sich, dass trotz der internationalen Zusammenkunft im Zeichen der Olympischen Ringe die „Vaterländer" geachtet werden, ganz wie es Coubertin gefordert hat. 93 Die Athletinnen und Athleten vermischen sich nicht untereinander, sondern bleiben in den Blöcken ihrer Nation stehen, getrennt durch die jeweilige Kostümierung. Bei allem rhetorischen Bemühen, den weltumspannenden Charakter des olympischen Fests zu verdeutlichen, verweist die Optik der Eröffnungsfeier ausschließlich auf den Zusammenhalt jeder Nation. Für die Dauer der Olympischen Spiele werden jedem Einzelnen verschiedene Gemeinschaften angeboten, an denen er teilhaben kann: die Gemeinschaft der aktiv Sporttreibenden, die des olympischen Publikums, der Nation oder eben jener friedlichen Weltgemeinschaft, die sich unter den fünf Ringen zusammengeschlossen haben soll. Dennoch verherrlicht die olympische Realität die Individuen, die Stars, die Olympiasiegerinnen und -sieger. Die Öffentlichkeit verehrt sie, weil ihre Leistungen aus denen der Masse herausragen. In Coubertins Modell sind sie so etwas wie Hohepriester, denn sie bringen den gewöhnlichen Menschen die göttliche Sphäre näher. In der profaneren Gegenwart verkörpern sie schlicht die Helden, zu denen die Masse emporschaut und die den Zusammenhalt der Gemeinschaft stärken. Dieses Verhältnis vom Helden zum gewöhnlichen Volk ist es, das in der Eröffnungsfeier von Barcelona repräsentiert wird, wenn einzelne Darstellerinnen und Darsteller - wie Placido Domingo auf der Opembühne, die Flamencotänzerin Christina Hoyos bei ihrem Auftritt auf einem Pferd oder der Fackelträger - die sie umgebende Menschenmenge - den Chor, die anderen Tänzer, die im Innenraum versammelten Sportlerinnen und Sportler - zu einem Spalier teilen. Verdeutlicht wird so ein Führerprinzip, dass das Gemeinschaftsgefühl im anwesenden Publikum nicht schmälert, wie Freud gezeigt hat.94 Die gefühlsmächtige Wirkung der Menschenmenge auf den einzelnen Zuschauer wird noch dadurch vergrößert, dass auch das Publikum eine Rolle in der Ausgestaltung der Spiele übernimmt. Gegen Ende des Herkules-Parts bildet eine große Gruppe von etwa zehntausend Zuschauerinnen und Zuschauern mit Papptafeln zwei Mosaike des katalanischen Künstlers Miraida, die von den Sehenswürdigkeiten Barcelonas und dem Werk Gaudis inspiriert sind.95 Es herrscht dasselbe Prinzip vor wie bei der Darstellung der Sonne: Jeder einzelne mit seiner separaten Papptafel wäre wirkungslos, nur in der zusammenhängenden Fläche erhalten die Einzelteile ihren sinnvollen Platz.
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Vgl. ebd., S. 71f. Vgl. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 9. Vgl. Kapitel 4.1.6.:,.Der Mensch in der Masse". Vgl. COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 4, The Games, S. 61.
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Inspiriert von den sie umgebenden Nachbarn werden die Zuschauerinnen und Zuschauer in Barcelona zu einem Teil der Handlung. Ihr Einheitsgefuhl untereinander wird größer, und sie nehmen größeren Anteil am Geschehen im Stadion, da sie selber zu einem wichtigen Faktor der Inszenierung geworden sind. Das verstärkt wiederum die Gemeinschaft zwischen Performern und Publikum, was in der La F«ra-Performance auch symbolisch widergespiegelt wird: Dort tragen die Zuschauerinnen und Zuschauer zu Beginn dieselben antiken Masken wie die Aktiven, die die Sonne darstellen, und der Bühnenraum wird - so weit es die Stadionarchitektur und die Sicherheitsbestimmungen zulassen - in den Zuschauerraum hinein erweitert. Der Auftritt der „Wellen" geschieht in Reinhardtscher Manier durch die Treppen der Zuschauerränge hindurch. Bühnen- und Zuschauerraum sollen weitestmöglich miteinander verschmelzen. Das Stadion wird zum einheitlichen Ort einer olympischen Erfahrungswelt. Nach den Vorstellungen von IOC-Generalsekretär Franfoise Zweifel kommt dem Publikum einer Eröffnungsfeier eine ähnliche Rolle zu wie dem in den „LivingTheatre"-Performances in den 70'er Jahren.' 6 Es ist demnach ein wichtiger Bestandteil der Show. 97 Die äußeren Bedingungen im Olympiastadion lassen jedoch eine solche Vermischung von Publikum und Aktiven nicht zu. Die Besucherinnen und Besucher bleiben auf ihren Plätzen und bleiben somit in einer traditionellen Zuschauerrolle, was von den Verantwortlichen sicher auch gewollt ist, da eine nicht vorhersehbare Reaktion aus dem Publikum den perfekten Charakter der Show stören könnte. Deutlich sichtbar ist aber der Versuch, das Publikum zu animieren, wenigstens teil- bzw. zeitweise einen Beitrag zum Geschehen zu leisten, und somit die emotionale Verankerung der Zuschauerinnen und Zuschauer mit den Zielen der Veranstaltung zu steigern. Gleich zu Beginn der Feier, als Hunderte von Darstellerinnen und Darsteilem mit ihren Körpern das spanische Begrüßungswort „Hola" auf dem grünen Rasen formen, skandieren die Zuschauerinnen und Zuschauer im Stadion mehrfach eben jenes „Hola". So werden sie gewissermaßen von Anfang an in Stimmung gebracht, und die Bereitschaft der Bevölkerung Barcelonas, die .Jugend der Welt" willkommen zu heißen, deutlich in Szene gesetzt. Die skandierenden Rufe des Publikums finden ihre Fortsetzung in den Rhythmen einer 360-köpfigen Trommelformation aus Bajo Aragön, deren Auftritt durch die Zuschauermassen hindurch erfolgt. Zu Beginn der Veranstaltung werden die Zuschauerinnen und Zuschauer im Stadion also mit Hilfe rhythmischer Einlagen, die den ganzen Körper ansprechen, auf das Geschehen eingeschworen, bevor sie dann auch deutlicher gestaltend in die Szenerie eingebunden werden.
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Fran(oise Zweifel: The Worth and the Uniqueness of Olympic Ceremonies. In: Moragas i Spä, Olympic Ceremonies, S. 12. Zu den Techniken des „Living Theatres" gehört insbesondere die „physische Einbeziehung des Publikums" (Grädel, Körper als Werkzeug der Erinnerung, S. 31), die zur Folge hat, dass die Grenzen von Fiktion und Realität, Theater und Leben, Ästhetik und Politik verschwinden. 149
Zu den gängigen Praktiken olympischer Eröffnungsfeiern seit Moskau 1980 gehört das Bilden „lebender Mosaike" auf den Zuschauerrängen. 98 Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit der zunehmenden Bedeutung des Fernsehens und der damit verbundenen Ausrichtung der Eröffnungsfeier als Fernsehaufführung, denn nur für ein Femsehpublikum können die so entstehenden Bilder interessant sein, da die Anwesenden im Stadion selbst hinter ihren Tafeln das gemeinschaftliche Bild kaum betrachten können. Einige dieser „lebenden Mosaike" im Verlauf des Abends sind die Kunstwerke Miraidas, 99 ein anderes bildet das Publikum zu Beethovens Klängen der Ode an die Freude. Jeder der Anwesenden hält einen Leuchtstab hoch, so dass sich im ganzen Stadionrund die Europäische Flagge abzeichnet, diesmal sogar auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer im Olympiastadion selbst sichtbar. Die Aussage dieses Effekts liegt auf der Hand. Jedoch ist seine Wirkung nicht so stark, wie erhofft, denn das Publikum hat aus lauter Begeisterung die Lampen bereits beim Hineintragen des Olympischen Feuers in den Innenraum des Stadions entzündet. Bei der Darbietung der Europäischen Hymne ist das Mosaik daher bereits zum zweiten Mal zu sehen, was die vorgesehene Akzentuierung des europäischen Aspekts der Eröffnungsinszenierung schmälert. 100 Dies zeigt, dass die Spontaneität des Publikums eingeschränkt bleiben muss, damit ein „reibungsloser" Ablauf der Veranstaltung als perfekte Fernseh-Show garantiert werden kann. Das gilt um so mehr, da die Eröffnungsfeier von 1992 in erster Linie als Fernsehübertragung konzipiert worden ist,101 um den Bedürfnissen des wichtigsten Geldgebers - der Preis für die Fernsehübertragungsrechte deckt etwa die Hälfte des gesamten Budgets ab - zu entsprechen. 102 In Bezug auf die Femsehzuschauerinnen und -zuschauer übernimmt das Stadionpublikum daher vor allem dieselbe Funktion, die die Fans bei TV-Übertragungen von Sportevents haben. Die im Stadionrund inszenierte Atmosphäre soll auf das Fernsehpublikum überspringen. Wenn die olympische Begeisterung die Fernsehrezipienten einmal gepackt hat, werden sie sich auch während der Olympischen Wettkämpfe wieder vor den Bildschirm begeben. Zudem ist die Stimmung im Stadion von enormer Bedeutung, um der Weltöffentlichkeit einmal mehr demonstrieren zu können, wie groß die olympische Begeisterung in Barcelona ist. So sind auch die stimmungserzeugenden Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer - ihr spontaner Beifall, ihr Raunen oder auch ihre insbesondere beim Einmarsch Spaniens durch Jubel und Tränen zum Ausdruck gebrachte nationale Begeisterung - höher für das Gelingen der Eröffnungsfeier
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Vgl. Jean-Loup Chappelet: From Moscow (1980) to Lillehammer (1994). Ceremonies and Televised Spectacle. In: Moragas i Spä, Olympic Ceremonies, S. 154. Vgl. COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 4, The Games, S. 61. Vgl. Roca, Ceremonies in the Organisation, S. 238. Daher müsste sich ein Kapitel auch mit der Eröffnungsfeier als Fernsehinszenierung auseinandersetzen. Darauf wird hier verzichtet, da olympischen Femsehübertragungen - mit der Analyse des TV-Ereignisses Sydney 2000 ein eigener Part in der Arbeit gewidmet ist. Hier geht es vor allem um den Charakter der Eröffnungsfeier als Masseninszenierung. Vgl. Michael Payne: Audience of the Games and Audience of the Ceremonies. In: Moragas i Spä, Olympic Ceremonies, S. 306.
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einzuschätzen als die wenigen darstellerischen Szenen. Indem das Publikum als Masse seine emotionale Beteiligung demonstriert, wird der dionysische Charakter des Spektakels offenbar. Angesichts des Mottos „friends for life" ist dieser Rausch naturgemäß positiv konnotiert. Ebenso verdeutlicht das Publikum die Feierlichkeit der Veranstaltung. An christliche Gottesdienste erinnert das Verhalten, das von plötzlichen und andächtigen Schweigemomenten bis hin zum Aufstehen bei besonders ehrwürdigen Augenblicken reicht. Solche gemeinschaftlichen Handlungen zwingen die Teilnehmenden wie bei einer katholischen Messe „in den Rhythmus gemeinsamen Erlebens" und „fördern das Einswerden der anwesenden Gemeinde."103 Inwiefern die Begeisterung des Stadionpublikums echt ist, lässt sich nur schwer aus der Distanz und anhand einer Videoaufzeichnung nachvollziehen. Immerhin geben bei einer Umfrage nach der öffentlichen Generalprobe 91% der Zuschauerinnen und Zuschauer an, sie hätten die Darbietungen „überwältigend" gefunden.104 Während der Eröffnungsfeier selbst sieht Evi Simeoni „zu Tränen gerührte" und „zu JubelstUrmen hingerissene 70.000", die sich einig gewesen sein sollen in der Feststellung, „so müssten Eröffnungsfeiern sein."105 Solche Aussagen sind jedoch eher als journalistische Übertreibung zu werten. Die lautstark demonstrierte Anwesenheit und Teilnahme des Publikums macht die Inszenierung von Barcelona zu einem einmaligen und damit transitorischen Theater- oder Sportereignis, das zwar über das Fernsehen weitervermittelt wird, sich aber nach Aussagen von IOC-Generaldirektor Carrard niemals zu einer Femsehshow, die beliebig reproduziert werden könnte, verändern darf. [...] it is a sports stadium. It must not be transformed into a show business stage. There is nothing more boring or hollow than an unoccupied stadium with something taking place in a corner, even if screens display the performers.106
Die durch das Stadionpublikum vermittelte Stimmung trägt dazu bei, die Eröffnungsfeier als einen wahrhaft bedeutenden historischen Moment zu interpretieren.101 Für die TV-Konsumenten muss es daher bedauernswert erscheinen, nicht selbst am Orte des Geschehens zu sein. Dieses Gefühl wird durch die enorme Schwierigkeit, an Karten für die Eröffnungsfeier zu kommen, noch verstärkt. Gleichzeitig wirkt es sich jedoch vermutlich positiv auf die Fernseheinschaltquoten aus, denn die einzige
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Hagemann, Mythos der Masse, S. 207. Vgl. Axel Hacke: Blitze, gelbe Vögel und Flamenco. In: „Süddeutsche Zeitung", 27.7.1992, S. 3. Simeoni, Größter Werbespot der Welt, S. 22. Carrard, Olympic Message, S. 28. Die Besonderheit des Ereignisses wird auch durch die Kartensituation ins Bewusstsein gerufen. Angesichts vieler vergebener Eintrittskalten für Journalistinnen und Journalisten wie für Mitglieder der Olympischen Bewegung ist es enorm schwer, an Karten zu kommen. Auf dem Schwarzmarkt werden daher für Tickets Preise bis zu umgerechnet 2.000 Euro bezahlt. Vgl. dazu auch MacAloon, Setting for Intercultural Exchange, S. 30 bzw. Evi Simeoni: Die Gastgeber nutzen den größten Werbespot der Welt gründlich. In: „FAZ", 27.7.1992, S. 22.
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Möglichkeit den Mangel des „Erlebens vor Ort" einigermaßen zu kompensieren, ist das Mitverfolgen des olympischen Festes vor dem Bildschirm. 4.2.5. Einheit durch Freude. Das Musikkonzept in Barcelona Um Gemeinschaftsgefühle zu wecken und die Stimmung zu fördern, ist es notwendig, die Gefühlswelt der Zuschauerinnen und Zuschauer anzusprechen. Daher treten sprachliche und argumentative Momente innerhalb der Inszenierung zurück zugunsten von Musik, deren emotionaler Charakter von der Olympischen Bewegung bei der Konzeption von Feiern stets mit berücksichtigt wurde. Schon der Wagner-Fan Coubertin sah Fanfaren, das Abspielen von verschiedenen Hymnen und begleitende Musik zum Einmarsch der Nationen vor. In Barcelona ist die Stellung der Musik geradezu überragend im Vergleich zu den anderen Kunstformen. Längere musikalische Pausen gibt es nur während der Reden und der Olympischen Eide, ansonsten spielt fortwährend das Orchester, singen der Chor oder einzelne Stars. Musikalischer Gesamtleiter in Barcelona ist der berühmte Opern-Tenor Jose Carreras, der diese Aufgabe vor allem übernommen hat, weil „Musik und Sport, die besten Medien sind, um die Völker zusammenzubringen."108 Musik spricht wegen ihres universellen Charakters alle Völker gleichermaßen an. So lautet die Botschaft, die Carreras vermitteln will, und auf die sich auch Josep Roca, Direktor der Eröffnungsfeier, bezieht, wenn er feststellt: Music, an easily understood universal language with clear emotional values, had to be the pivot of the ceremonies. And to emphasise its universality it became absolutely clear that we had ensure that international artists would participate in its composition.109
An anderer Stelle erhebt Roca die Musik zum „wahren Leitmotiv" für die Veranstaltung und sieht in der Auswahl der Musikerinnen und Musiker von lokalen Größen wie Carlos Santos oder Josep Pons und spanischen Opernstars mit Weltruhm bis hin zu international bekannten Komponisten wie Ryuichi Sakamoto, Andrew Lloyd Webber oder Mikis Theodorakis eine ideale Mischung, um den Dialog zwischen den Kulturen zu fördern.110 Wegen jener unterstellten, allgemeinverständlichen Wirkung, die Musik bei ihrer Zuhörerschaft erzielen kann, soll sie auch in Barcelona die Show zusammenhalten, und zwar: as a unifying element which makes it possible for authors of different origins to speak to one another in a common language.111
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So äußert sich zumindest Heribert Faßbender während der Live-Ubertragung in der ARD Uber die Motivationen Carreras. Roca, Ceremonies in the Organisation of the Games, S. 231. Vgl. ebd., S. 232. COOB'92, S.A.: Official Report of the Games of the XXV Olympiad Barcelona 1992. Bd. 3: The Organisation. The preparation of the Games. Barcelona 1992, S. 42.
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Bei einer solchen Musikauffassung wird leicht übersehen, dass verschiedene Hörgewohnheiten den Musikgeschmack und damit die Musikrezeption einzelner Bevölkerungsgruppen entscheidend beeinflussen, was jenen Mythos von der universellen Sprache, die die Musik spricht, deutlich abschwächen muss.112 Allerdings versucht die Auswahl der musikalischen Künstlerinnen und Künstler, einen möglichst breiten Musikgeschmack zumindest in der westlichen Welt zu berücksichtigen. Daher treffen die Opernstars auf Epigonen der Popmusik. Die Fernsehinszenierungen von sportlichen Großereignissen forderten zunächst die Popmusiker heraus, hitverdächtige und gleichzeitig erhabene Songs - etwa Giorgio Moroders Titel für die Olympischen Spiele von Seoul Hand in Hand aufzunehmen. Nun ziehen die Vertreterinnen und Vertreter der „klassischen" Musik nach und treffen sich über den Sport mit den Stars der Rock- und Popkultur. Montserrat Caballet spielt zusammen mit Freddy Mercury den „Barcelona"-Song ein, der im Vorfeld der Olympischen Spiele oft im Rundfunk zu hören ist und der im Anschluss an das Schlussfeuerwerk das Publikum auf dem Weg aus dem Stadion begleitet. Wie auch in anderen Beispielen113 zielt der Song auf eine erhabene, feierliche, hymnische Wirkung ab, die aber auf Grund der Mischung aus Pop- und Klassikelementen nicht veraltet, sondern bombastisch wirkt. Der „umnebelnde Effekt, den Nietzsche von der Musik Wagners befürchtete",114 stellt sich hier ähnlich wie bei Webbers Titelsong Friends for life ein. Solche Olympia-Lieder kommen ohne die sonst für Popmusik übliche starke Betonung des Rhythmus aus. Sie laden nicht zum Tanzen ein; gerade deshalb aber haben sie rauschhaften „Drogencharakter", da die in der Zuhörerschaft aufgewühlten Emotionen nicht im Tanz entladen werden können.115 Die Funktion der Olympialieder liegt darin, die Stimmung der jeweiligen Wettkämpfe zum einen zu verstärken, zum anderen aber auch außerhalb der Femsehübertragungszeiten in der Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Oftmals werden sie bereits im Vorfeld verbreitet, um auf die Olympischen Spiele oder auf ein anderes sportliches Großereignis einzustimmen. Unter der Zuhörerschaft baut sich daher eine weitere Gemeinschaft auf, die in der Gemeinde der Fans der Musikstars besteht." 6
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Mehrere Moderatorinnen und Moderatoren verschiedener nicht europäischer Fernsehanstalten äußern ihren Unmut über die viel zu langen Operadarbietungen in Barcelona. In ihren Kulturkreisen gilt die Oper nicht als Ausdruck einer allgemein verständlichen Musik, sondern wird - ganz im Sinne Wagners - vielmehr mit Reichtum, Opulenz und Affektivität einer westlichen Industriewelt in Verbindung gebracht (vgl. Nancy K. Rivenburgh: Television and the Construction of Identy. Barcelona and Catalonia as Olympic Host. In: Moragas i Spä, Olympic Ceremonies, S. 339). Das spricht sehr dafür, dass die Idee der Musik als „common language" in diesem Fall gescheitert ist. Bombastische Songs begleiten mittlerweile jede sportliche Großveranstaltung, so auch in Lillehammer, als Placido Domingo zusammen mit Norwegens Pop- und Jazzsängerin Sissel das Olympia-Lied Fire in my heart auihahm. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen. Frankfurt am Main 1980, S. 45. Bolz, Neue Medien, S. 43. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, S. 42.
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In Form von Videoclips, die vielfach Bilder des Sports mit denen der Interpretinnen und Interpreten vermischen, erlangen die Titelsongs die „telegene Gestalt eines Gesamtkunstwerks." 117 Über die kommerzielle Verwertung treffen sich so Popmusik und Klassik bei verschiedenen Sportevents. Die Olympia-Songs gehören zum Konzept des Gesamtkunstwerks Olympische Spiele, aber auch im „Gesamtkunstwerk Eröffnungsfeier" ist es die stimulierende Wirkung der Musik, die den ästhetischen Charakter der Zeremonie bestimmt. Erstaunlich an dem Konzept von Barcelona ist, dass sportliche Darstellungen fast völlig fehlen. An der Stelle des Sports werden dafür die musikalischen Darbietungen zum Leitmotiv der Veranstaltung. Während die Opernstars wie Placido Domingo oder Montserrat Cabal let - gerechtfertigt oder nicht - für Spitzenleistungen im Gesang stehen, repräsentieren Chor und Orchester einmal mehr die olympische Kollektivbildung. Die Funktion des Chors in Barcelona ist im Gegensatz zu den antiken Tragödien keine kommentierende, sondern eine deutlich harmonisierende. Immer dann, wenn Gemeinschaften errichtet werden oder wenn Gefahren überstanden sind, erhält der Chor seine Einsätze, so wenn die Flagge Uber die Sportlerinnen und Sportler ausgebreitet wird oder wenn das Schiff aus der Herkules-Sage die Meeresungeheuer hinter sich lässt und endlich Land erreicht. Die Musik wirkt dann bombastisch, wie es der Titelsong Friends for life verdeutlicht; sie zielt ab auf ein Massengefühl, da sie von Massen dargeboten wird. Der Gesamtchor setzt sich aus drei verschiedenen Chören der Umgebung zusammen und besteht aus 150 Mitgliedern. 118 Verglichen etwa mit den „1200 Mündern, die 1952 in London Händeis Hallelujah schmetterten", 119 nimmt sich der Umfang des Chores in Barcelona eher bescheiden aus, ohne jedoch seine massenhafte Wirkung zu verlieren. Die Lautstärke der Musik ist ohnehin nur von der elektronischen Wiedergabe abhängig, denn Orchester und Chor agieren in Barcelona nur als „Playback", um den perfekten Ablauf der Show nicht zu gefährden. 120 Neben dieser erhabenen Chormusik tritt die Musik am deutlichsten in Form der vorgebrachten klassischen Nummern in Erscheinung, die zum Ende der Veranstaltung in einem Opernmedley gipfeln, an dem alle Opemstars beteiligt sind. Überschrieben ist dieser Part mit dem Titel: Music for the universe,121 Die Opemarien sollen Freude vermitteln, sie sind die Instanz, die den Menschen mit dem Universum verbindet. Die Form des Medleys zeigt, dass hier eine beliebige Auswahl musikalischer Nummern aneinandergereiht wird, bei denen der Text oder der Zusammenhang mit dem eigentlichen Stück, aus dem sie stammen, keine Rolle mehr spielt. Abschließend sollen Musik und Feuerwerk die anwesenden Gäste und das Femsehpublikum nur noch berauschen und in Feierlaune versetzen.
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Wolfgang Lange: Gesamtkunstwerk Madonna. In: Günther, Gesamtkunstwerk, S. 279. ' " Vgl. COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 3, The Organisation, S. 45. Konrad Esser: Euterpes zarter Kuß. Sport und Musik. In: „Olympisches Feuer", Nr. 3/1997, S. 47. 120 Vgl. COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 3, The Organisation, S. 45. 121 Vgl. COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 4, The Games, S. 72. 154
Während das Opernmedley am Schluss für abstrakte Werte wie Lebensfreude oder spanische Lebensart stehen soll, sind die zum Protokoll gehörenden Hymnen Repräsentanten politischer Gemeinschaften. Neben der spanischen und der katalanischen Hymne ist die Olympische Hymne zu hören, die als ritueller Bestandteil jeder olympischen Eröffnungsfeier auf die Tradition der neuzeitlichen olympischen Geschichte verweist. Zudem ist ein 13-jähriger Junge ausgesucht worden, um die von Wagner, Coubertin und Nietzsche gleichermaßen geschätzte Ode an die Freude aus Beethovens Neunter zu intonieren. In diesem Fall ist der Gesang eindeutig als Europäische Hymne deklariert, aber er hat auch seit der Eröffnungsfeier von 1936 eine breite Tradition im olympischen Programm. Die Ziele europäischer Politik werden über dieses Lied eins mit der olympischen Heilsbeschwörung. Darin zeigt sich sehr deutlich, dass auch die Olympischen Spiele von Barcelona, obwohl sie frei von den Konflikten des „Kalten Krieges" ausgetragen werden können, keineswegs unpolitische Spiele sind, wie auch das gesamte Konzept Olympias kein unpolitisches ist.122 Die emotionale Beeinflussung durch die Musik trägt dazu bei, die politischen Ideale zu festigen. Die Wahl eines Kindes als Interpret der Europäischen Hymne bei Anwesenheit zahlreicher Opernstars illustriert zwei besondere Merkmale des Inszenierungsstils in Barcelona: Zum einen wird versucht, im Zuschauer das politische Bekenntnis zu Europa auf der Gefuhlsebene zu erreichen: durch klassische Musik und aufgrund einer positiven Voreingenommenheit gegenüber dem singenden Kind. Zum anderen wird Olympia als Fest der Jugend und als auf die Zukunft ausgerichtete Veranstaltung123 präsentiert. Das Jugendideal Olympias wird in diesem Fall auf ein junges Europa projiziert, das noch zusammenwachsen soll. Die Musik, die das Geschehen im Stadion begleitet und illustriert, wirkt anders als die Hymnen eher unterbewusst. Da sämtliche Szenen ohne Text auskommen, schweigt die Musik nie. Sie steigert sich mit der Dramatik des Geschehens und untermauert so die Illusion, einen Film zu sehen, was wiederum den Charakter der Eröffnungsfeier als TV-Inszenierung unterstreicht. Die Begleitmusik hat dieselbe Funktion wie Filmmusik: Zwischen sich und dem Subjekt läßt sie [die Filmmusik, d. Vf.] keiner begrifflichen Reflexion Raum. Damit schafft sie die Illusion von Unmittelbarkeit in der total vermittelten Welt, von Nähe zwischen den Fremden, von Wärme für die, welche die Kälte des ungemilderten Kampfs aller gegen alle zu spüren bekommen.124
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Vgl. dazu auch Lenk, Olympischer Geist, S. 103f.; Lenk attestiert den Olympischen Spielen politische Bedeutung auf einer Metaebene, als „Symbol einer besseren Welt". Gleichzeitig erkennt er im Handeln des IOC ebenfalls eine politische Rolle, aber stets mit dem eigentlichen Ziel unpolitisch, übernational und überparteilich zu sein. Der Anspruch der Überparteilichkeit löst sich in Barcelona in keiner Weise ein. Die Eröffnungsfeier nimmt durchaus konkret Stellung zu verschiedenen politischen Themen, wie etwa zum Zusammenwachsen Europas oder auch zum Konflikt zwischen Spanien und seinen autonomen Regionen, in dem die besondere Stellung und die eigenständige Kultur Kataloniens deutlich während der Eröffnungsfeier herausgestrichen werden. Vgl. Gebauer, Olympia als Utopie, S. 13. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, S. 63.
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In der Komposition des Japaners Ryuichi Sakamoto, der den von der Gruppe La Fura dels Baus inszenierten Part Olympic Sea / Mediterranean Sea vertont hat, lässt sich die begleitende Funktion der Musik am deutlichsten nachvollziehen. Zu Beginn ist die von Sakamoto und dem Orchester produzierte Klangebene noch fast ausschließlich perkussiv und peitscht die Akteure und das Publikum auf einen gewissen Rhythmus ein, bis sie dann im Verlauf der Inszenierung das Geschehen als Orchestermusik begleitet und jene an Filmmusik erinnernde Rolle einnimmt. Das langsame Abklingen der Musik zum Schluss, als die Handlung im Bühnenraum bereits beendet ist, holt die Zuschauenden langsam in die „Wirklichkeit" zurück und erinnert so an die Musik im Abspann eines Films. Sakamotos Kniff, die Melodie des Virolai, eines katalanischen Volksliedes, zu verwenden, als letztendlich das Schiff den Hafen erreicht und der Tempel errichtet wird,125 zeigt, dass die Musik eine weitere Funktion hat, die über bloße Begleitmusik hinausgeht. Ähnlich wie in Wagners Leitmotivtechnik wird die Musik zum Bedeutungsträger, tritt also an die Stelle von Sprache. Durch den musikalischen Verweis an dieser Stelle der Performance auf ein in Barcelona allgemein bekanntes Lied wird dem katalanischen Volk eine besondere Befähigung zur Bewahrung der olympischen Ideale zugeschrieben. Der Rückgriff auf bekannte, noch dazu volkstümliche Vorlagen lädt die einheimischen Betrachterinnen und Betrachter zur ausdrücklichen Identifikation mit dem Geschehen ein. Neben einigen folkloristischen Einlagen aus der gastgebenden Region fallen im Musikkonzept der Eröffnungsfeier zudem jene signalartigen, von katalanischen tenoras geblasenen Fanfaren auf. Sie setzen zu verschiedenen Momenten der Inszenierung geradezu leitmotivisch ein, und zwar immer dann, wenn jemand „willkommen" geheißen wird. So sind sie ganz zu Beginn der Veranstaltung zu hören, als gewissermaßen die ganze Welt begrüßt wird, dann als der König in das Stadion einzieht, und schließlich beim „Einmarsch der Nationen". Während der Eröffnungsfeier dominiert der emotionale Charakter der Musik. Sie soll vor allem Stimmungen erzeugen, überwältigend wirken, in die Gefühlswelt der Zuschauerinnen und Zuschauer eingreifen und ihnen keine Zeit zum Nachdenken lassen. Wie in der Filmmusik oder auch in den Werken Wagners überwindet die Musik die kritische Distanz des Publikums. 126 Zudem bildet sie den Rahmen für die Zeremonien, hält die einzelnen Teile zusammen. Die Art und Weise, wie sie in Barcelona eingesetzt wird, trägt dazu bei, dass die Eröffnungsfeier von Barcelona in der Tradition der synthetischen Werkidee steht.127
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Vgl. COOB'92, S.A., Bd. 4, The Games, S. 61. Vgl. Bolz, Neue Medien, S. 25. Dass der Einsatz der Musik während der Eröffnungsfeier der Filmmusik gleicht, hat auch damit zu tun, dass die Musik eigentlich nie schweigt. Zudem haben fast alle an der Eröffnungsfeier beteiligten Komponisten Filmmusiken geschrieben: Sakamoto zu Der letzte Kaiser, Mikis Theodoraikis zu Alexis Sorbas und Angelo Badalamenti zu Twin Peaks und Blue Velvet. Demgegenüber stellt beispielsweise die Eröffnungsfeier von Atlanta 1996 mehr eine Aneinanderreihung unterschiedlicher musikalischer Show-Einlagen dar. Während sich der Abend von Barcelona durch die Verwendung der Musik als etwas Einheitliches präsentiert, hat das Musikkonzept von Atlanta eher „Nummerncharakter".
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4.2.6.
Olympic Sea / Mediterranean Sea. Darstellung des Herkules-Mythos in Barcelona
Zahlreiche Momente in der Inszenierung belegen, dass die Eröffnungsfeier die Prinzipien des Massentheaters verwirklicht. Ein Part innerhalb der Zeremonie macht dies besonders deutlich, da er eine Ästhetik der körperlichen Reizüberflutung verfolgt und gleichzeitig eine mythische Geschichte erzählt. Gemeint ist die bereits mehrfach angesprochene Darstellung des Herkules-Mythos, der von La Fura dels Baus in Szene gesetzte Abschnitt Olympic Sea / Mediterranean Sea - eine Art dionysischen Spiels im dionysischen Spiel. 4.2.6.1. Herkules als katalanischer und olympischer Mythos Schon der Titel deutet an, dass in ihm die beiden Leitthemen der Eröffnungsfeier 128 - die Feier der Olympischen Idee und die Präsentation spanischer Lebensart, Kultur und Geschichte - miteinander verschmolzen werden. Dieser Abschnitt ist der einzige der Eröffnungsfeier, der so etwas wie einen Handlungsfaden hat, eine Geschichte in sich trägt. Erzählt wird die Legende des Herkules, dessen Figur in zweifacher Weise für die Veranstaltung von Bedeutung ist. Zum einen ist er den Oden von Pindar zu Folge der Begründer der Olympischen Spiele,129 zum anderen soll er der Sage nach Barcelona entdeckt und Spanien von Nordafrika getrennt haben.130 In der Gestalt des Herkules vermischen sich hier griechische, römische und lokale Mythen, die von der olympischen Bewegung der Neuzeit aufgegriffen werden. Auf diese Weise wird der Mythos Olympia bestärkt und genährt. Zwar kann nach Nietzsche die Übersiedelung eines fremden Mythos in eine andere Kultur nicht funktionieren, 131 doch existiert die olympische Welt ja keineswegs losgelöst von dem europäischen Kulturkreis, sie ist ihm vielmehr entsprungen. Die Anknüpfung an die altgriechische Mythenwelt erscheint auf Olympia bezogen nur konsequent. Der doppelte Mythos des Herkules setzt den Ursprung Barcelonas mit dem Ursprung der olympischen Geschichte in Verbindung, gerade so, als wollten die Veranstalter beweisen, dass das „utopische Olympia der Moderne" nicht „nirgendwo" 132 ist, sondern in Barcelona. Das Beschwören lokaler Mythen gehört zu den gängigsten Methoden von Eröffnungsfeiern, aber bei anderen Olympischen Spielen ist es selten gelungen, die jeweilige Olympiastadt so mit den olympischen Legenden in Einklang zu bringen. Die olympische Welt, die hier durchaus als repräsentativ für die Sportwelt im Allgemeinen gelten kann, bedient sich dreier Formen der mythologischen Erneuerung. Neben dem Gebrauch alter Mythen, wie der Herkules-Sage, sind dies die Kreation von Sportstars als Legenden und die mystische Aufbereitung der eige-
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Vgl. Roca, Ceremonies in the Organisation, S. 236. Vgl. COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 4, The Games, S. 56. Vgl. Bassat, Creativity, S. 244. Vgl. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 128. Gebauer, Olympia als Utopie, S. 13.
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nen Geschichte. Dabei ist die Suche nach einer olympischen Mythologie durchaus im Sinne einer Festigung der - an sich recht vagen - Olympischen Idee zu sehen. Mythen erklären nichts, sie stellen nur fest, ohne zu hinterfragen. 4.2.6.2. „Leute mit Emotionen und Energie". Das Theaterkonzept von „La Fura dels Baus" Umgesetzt wird der Teil Olympic Sea / Mediterranean Sea von der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus. Diese in der europäischen Theaterwelt anerkannte Gruppe ist mit der Gestaltung der Herkuleslegende beauftragt worden, da sie Erfahrungen in der Massenregie hat und ihr Inszenierungsstil eine Darstellung verspricht, die sich von den Massenchoreographien totalitärer Staaten abhebt. Diesbezüglich gab es allerdings im Vorfeld Bedenken, weil kollektive Massendarbietungen in der spanischen Öffentlichkeit wegen der Erinnerung an die Franco-Diktatur auf Ablehnung stoßen könnten.133 Die Art von La Fura dels Baus, mit den Massen zu arbeiten, ist jedoch eine grundlegend andere. Ihre Wurzeln liegen nach eigener Aussage im Stil der spanischen Fiestas, Feuerund Volksfeste, im Straßentheater oder im Stierkampf.134 Ihre Ästhetik wird oft in Bezug auf die Anlehnung an Riten und Volksfeste, auf die Betonung der Körper, das Finden einer eigenen Theatersprache oder die Arbeit mit dem Publikum in der Nachfolge Antonin Artauds gesehen.135 Wie im Theater Artauds wird der Mensch zu seinen Ursprüngen zurückgeführt: „Suz/O/Suz" [d. i. eine der Performances von La Fura dels Baus, d. Vf.] setzt Zeichen auf der Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation - und das Nachspielen scheinbar atavistischer Rituale und Stammeskämpfe verwandelt sich allmählich in eine für Zuschauer und Akteure gemeinsame Expedition ins Reich des werdenden Menschen.136
Die Performances von La Fura dels Baus stellen eine Mischung der verschiedensten performativen Mittel dar: Zirkuselemente und Artistikdarbietungen sorgen fur Dramatik, und Videoinstellationen bewirken Bilderfluten. Mit Hilfe von TechnoRhythmen und lauten Sound-Effekten wird das akustische Nervensystem der Zuschauerinnen und Zuschauer gereizt, ihre Körper werden bisweilen mit Wasser oder roter Farbe besudelt. In der Performance Noun rasen kleine Mini-Autos durch die Zuschauermassen, vor denen jeder Einzelne ausweichen muss. All das zielt auf die Stimulation der Zuschauerkörper, macht die Trennung von Fiktion und Realität
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Vgl. Miquel de Moragas und Nancy Rivenburgh: Television and Olympic Ceremonies. A summary of results from a 25-nation comparative content analysis of Opening Ceremony broadcast of the Barcelona 1992 Olympics. In: Moragas i Spä, Olympic Ceremonies, S. 311. Vgl. Sabine Reich: Die Geburt der Fura aus dem Geiste der Musik. In: „Nachspiel. Zeitschrift für Theater und Wissenschaft", Nr. 3/1991, S. 33. Vgl. ebd, S. 38. Peter von Becker: In der Zirkusmanege und in der Tempelhalle. Theater der Grausamkeit und Grazie. Über „Suz/O/Suz" der Fura dels Baus und „Kispotlatsch" des SerapionEnsembles. In: „Theater Heute", Nr. 8/1990, S. 6f.
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immer schwieriger, denn die körperlichen Erfahrungen sind für die Anwesenden durchaus reale.137 Die Akteure von La Fura dels Baus widmen den Körpern ihre volle Aufmerksamkeit. Bekannt für ihre „präzise Körperarbeit"138 ist ihr Ansatz ein vitalistischer, gegen Passivität gerichteter. Jene Aktivität, die die Schauspielerinnen und Schauspieler versprühen, soll sich auch auf das Publikum Ubertragen, das zu einem wesentlichen Faktor der Inszenierung wird. Neben der Betonung der Körper ist ein zweiter Strang, aus dem sich die Ästhetik der katalanischen Theatergruppe herleiten lässt, die Beherrschung eines gewaltigen Technikapparats.139 Gerade im Widerspruch zwischen perfekt funktionierender Bühnenmaschinerie einerseits und der Reduktion auf das körperliche Element andererseits liegt ein Reiz der Theaterspektakel von La Fura dels Baus. Der traditionelle Bühnenraum wird in den Aufführungen der Fura aufgegeben, meist spielen sie unter freiem Himmel oder in riesigen Hallen, in denen es keine Trennung von Bühne und Zuschauerraum mehr gibt. Als Masse wird das Publikum zu einer Spielfigur. Der grundlegende Unterschied ist, daß das Publikum auf der Bühne ist. Das Publikum ist wie der Chor im griechischen Theater: es gibt Momente, da stehst du plötzlich im Scheinwerferlicht und du wirst zum Darsteller [...]. Im klassischen 2-D-Theater sieht der Zuschauer, jetzt machen wir 3-D-Theater [...]""
La Fura dels Baus nimmt Errungenschaften verschiedener Theateravantgarden der 20er Jahre auf und verbindet sie mit den ästhetischen Gepflogenheiten der Gegenwart. Wie im „dionysischen Theater" in der Nachfolge Nietzsches zielen die Performances der katalanischen Formation auf die Produktion von Emotionen ab: Wir sind keine Intellektuellen, wir brauchen Leute mit Emotionen und Energie. [...] Während unserer Performances soll man nicht nachdenken, man soll nur fühlen. Darum geht es uns, nicht um irgendwelche intellektuellen Einsichten. Das kann man zu Hause nachholen. Es geht um dieses Paradoxon der vorgetäuschten Realität. [...] Diese eigene Art der Darbietung gibt unseren Performances eine universale Gültigkeit. Mit unseren Aufbauten und der Art und Weise zu spielen können wir überall auftreten, ob nun in Japan oder in Europa, und erreichen trotzdem das gleiche. Das ist doch wichtig und nicht, was die Leute in die Stücke hineininterpretieren.141
In dem Ziel, eine universelle Sprache zu sprechen, und der Verwendung künstlerischer Mittel, die die Nerven attackieren und Emotionen aufbauen, trifft sich der Ansatz von La Fura dels Baus mit dem des Olympiapioniers Coubertin. Der Unterschied liegt jedoch in der Ausrichtung: Während Coubertin in der Tradition des
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Vgl. Reich, Geburt der Fura, S. 41. Wolfgang Kralicek: Die Toten und die Nackten. Entdeckungen und Enttäuschungen beim „steirischen herbst" in Graz. In: „Theater Heute", Nr. 12/1991, S. 22. Vgl. Wolfgang Kralicek: Katastrophe Liebe Chaos. „M T.M." - die neue Show der Fura dels Baus. In: „Theater Heute", Nr. 7/1994, S. 49. Pressekonferenz der Fura dels Baus am 29.5.91 in Recklinghausen. Zitiert nach Reich, Geburt der Fura, S. 35. Miki Espuma, Mitglied der Gruppe. Zitiert nach Zipo (Kürzel): La Fura dels Baus. In: „Auf Abwegen", Dezember 1995, o.S.
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Klassizismus vor allem nach Schönheit, Glanz oder Heldenverehrung strebt, sind die Bilder von La Fura dels Baus eher schockierend, ihre Rhythmen einhämmernd, ihre Ästhetik ausgerichtet an der „Faszination des Abgründigen, Furcht- und Ekelerregenden". 142 Im Gegensatz zu vielen historischen Beispielen dionysischer Theaterkunst heben sich die Produktionen dieser Theatergruppe insofern ab, als sie nicht auf die Vermittlung einer beherrschenden Ideologie zielen. Aufgrund dieses fehlenden Überbaus und einer gleichzeitig angestrebten universalen Gültigkeit lässt sich die Ästhetik einer Gruppe wie La Fura dels Baus jedoch in viele verschiedene Konzepte eingliedern, was auch ihre zahlreichen unterschiedlichen Projekte beweisen. Gerade darum waren sie auch prädestiniert für die Aufgabe der Gestaltung des HerkulesMythos innerhalb der olympischen Eröffnungsfeier. 143 4.2.6.3. Bilderfluten im Olympiastadion. Der Inszenierungsstil des Herkules-Mythos Die Präsentation der Herkules-Legende reduziert sich notwendigerweise auf einige symbolhafte Stationen, von denen die wichtigsten die folgenden sind: Zu Beginn bildet sich eine Sonne aus zahlreichen Performern, die jeder für sich allein eine Flamme darstellen. Eine Uberlebensgroße, metallen wirkende Gestalt, die einer Figur Dalis nachempfunden ist,144 verkörpert Herkules, wie er die Sonne durchschreitet, die Grenze zwischen Himmel und Erde, Göttern und Menschheit, Leben und Tod. 145 Schließlich erreicht er die Bühne, die im weiteren Verlauf symbolisch für Barcelona steht, vor allem aber stets das zu erreichende Ziel repräsentiert. Während er - als erster Olympiasieger - einen Olivenzweig überreicht bekommt, füllt sich hinter ihm der Innenraum mit Darstellerinnen und Darstellern in glitzernden blau-grün-silbernen Kostümen, die in Bewegung wie Wellen aussehen, und die zusammen mit dem blauen Untergrund das Mittelmeer verkörpern. 146 Anschließend wird ein monumentaler Silberbarren in das Mittelmeer gezogen, der sich schließlich als ein nahezu naturgetreu großer Viermaster entpuppt. Auf dem Schiff befinden sich zahlreiche kaum bekleidete Männer und Frauen, die mit starkem körperlichen Einsatz Masten aufrichten und Segel hissen, um sich den aufkommenden Stürmen widersetzen zu können. Jenes Schiff aber, das zugleich die
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Reich, Geburt der Fura, S. 42. Nach Aussagen von Espuma waren viele Mitglieder der Gruppe aufgrund der kommerziellen Ausrichtung der Olympischen Spiele anfangs skeptisch, willigten aber schließlich ein und waren Uber die erzielten Emotionen während der Zeremonie begeistert (Vgl. Zipo, o.S.). Zuletzt scheint es so, als hielte die Gruppe die Zusammenarbeit mit kommerziellen Unternehmen für weniger bedenklich: La Fura dels Baus inszenierte auch die Performance anlässlich der Vorstellung der neuen Α-Klasse von Mercedes Benz auf dem Dortmunder Hansaplatz. Vgl. Messing/Jüngermann, Strukturanalyse der Eröffnungsfeier, S. 190. Vgl. COOB'92, Official Report, Bd. 4, The Games, S. 56. Vgl. ebd., S. 56f.
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legendäre barca nona wie auch den olympischen Geist verkörpert,147 sieht sich großen Gefahren ausgesetzt, bildlich umgesetzt in Form verschiedener Ungeheuer aus der griechischen Mythologie wie der Neunköpfigen Hydra. Auch hier findet also eine Vermischung unterschiedlicher Mythen statt. Der Kampf der Menschen auf der barca nona gegen die Ungeheuer aus dem Meer ist ein archetypischer Kampf, ein Kampf Gut gegen Böse, Zivilisation gegen Naturgewalten. Die Ungeheuer stehen symbolisch für die großen Katastrophen der Menschheit, fur Hunger, Krankheit und Kriege,148 unter denen auch die Olympische Idee litt. Das Schiff zerfällt in drei Teile, die Menschen auf dem Schiff rufen um Hilfe, und der Geist des Herkules sendet Blitze, um sie zu leiten. Schließlich wird die Ordnung wieder hergestellt, die drei Teile des Schiffs vereinigen sich wieder, die Besatzung erreicht sicheres Land: Barcelona. Barcelona stellt sich somit nicht nur als Retter der Schiffsbesatzung dar, sondern auch als Retter für die Olympische Idee, die im Laufe der Geschichte ins Wanken geraten ist. All of this was put on to represent the exit of the Olympic spirit from Greece 700 years BC and its arrival in Barcelona in the year 1992. The number had a tremendous symbolism: the Olympic spirit 700 BC left Greece in certain ships, it came across a whole range of difficulties like storms, swells and monsters along the way, a path similar to that of the Olympic Games which have come across many problems up to the year 1992 when they became the responsibility of Barcelona. And that is what the Mediterranean Sea number was meant to depict.149
Lluis Bassat zeigt in dieser Interpretation einen Anspruch auf, den Barcelona einzulösen gedenkt, nämlich als Retter der Olympischen Idee so etwas wie die idealen Olympischen Spiele zu präsentieren. Nachdem das Schiff die Gefahren des Meeres überstanden und das Ufer erreicht hat, wird dort ein Tempel errichtet, so dass erneut der Bezug zum Kultischen gesucht wird. Die griechischen Götter sind durchaus präsent im „olympischen Meer", auch losgelöst vom unmittelbaren Kontext der Olympischen Idee wird versucht, dem Coubertinschen Anspruch auf Religiosität und Mythenhaftigkeit gerecht zu werden. Am Ende des Segments Olympic Sea stimmen die Akteure das von Sakamoto umgeschriebene katalanisches Volkslied an, formen Zehntausend aus dem Stadionpublikum die beiden Mosaike Miraidas und erhellen Blitze den Himmel, bis das Geschehen im Innenraum abstirbt und nur noch die Musik sehr langsam ausklingt. Auffallend ist ein Inszenierungsstil, der die Sinne gefangen nimmt, und sich so in die Tradition dionysischer Theaterkunst stellt. La Fura dels Baus gelingt es mit Hilfe modernster Bühnentechnik, eine Reihe imposanter Bilder zu kreieren. Es geht nicht darum, Wirklichkeit auf der Bühne detailgenau umzusetzen, sondern eine Bilderflut zu produzieren, um die Menschenmasse in die Dynamik der Veranstal-
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Vgl. ebd., S. 59. Vgl. ebd. Bassat, Creativity, S. 244.
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tung hineinzuziehen. Das „Bildtheater überwiegt das Texttheater",' 50 wenn auf Massenwirksamkeit gezielt wird. Dementsprechend setzt La Fura dels Baus den Mythos des Herkules gänzlich ohne Text, jedoch sehr detailreich in Szene, dem Einfallsreichtum sind kaum Grenzen gesetzt. Bereits die Darstellung der Sonne und des Meeres durch zahlreiche gleich gekleidete Performer wirkt beeindruckend. Dann sind es die Bewegungen, die Effekte erzielen. Die Sonne bewegt sich rhythmisch auf und ab, wie um die Explosionen auf diesem Stern zu verdeutlichen. Das Meer, das aus den verschiedensten Ecken des Stadions durch die Zuschauerränge in den Innenraum „sprudelt", 131 füllt diesen nach und nach aus. Die weiten Kostüme der Akteure - die Darstellerinnen und Darsteller tragen auf ihren Schultern eine Uberdimensionale, glitzernde „Halskrause", die die Spannweite ihrer Arme überragt - ermöglichen dabei eine illusionsechte Nachbildung des Meeres. Kleine Bewegungen verursachen kleine Wellen, große Bewegungen zeigen ein Meer im Aufruhr. Das Schaffen perfekter Bilder bestimmt auch weiterhin den Stil dieses Parts. Ruderschläge, die in das vermeintliche Meer eintauchen, wirbeln Rauch auf wie Wasserschaum, Ambossschläge sprühen Funken und am Himmel sind Feuerkränze zu sehen. Äußerst phantasievoll ist die Ausgestaltung der Ungeheuer: Beispielsweise befinden sich in monströsen silberfarbenen Kugeln Menschen, die erst auf dem zweiten Blick zu erkennen sind, da sie in derselben Farbe wie die Kugel geschminkt und gekleidet sind. Ihre Gliedmaßen stecken in riesigen Stacheln, so dass letztendlich der Eindruck entsteht, die Kugel könne ihre Stacheln verschiedenartig bewegen. Eine Menge visueller Eindrücke wird auf solche oder ähnliche Weise den Zuschauerinnen und Zuschauern im Stadion präsentiert und durch die Leinwände in der Arena verdoppelt, so dass sich, anders als beim Femsehrezipienten, dessen Blick von der Kamera gelenkt wird, der Eindruck einer bildhaften Überschwemmung einstellt, denn die visuelle Präsentation ist nicht etwa apollinisch klar, sondern fuhrt zu einem Rausch, zu einem Rausch des Auges.152 Alles zielt darauf ab, das Publikum im Stadion und vor den Fernsehbildschirmen in Staunen zu versetzen, damit gar keine Gelegenheit bleibt, an der Echtheit des Gespielten zu zweifeln. Die Distanz zum Geschehen wird in der Vielfalt der Farben und der Kraft der Bilder aufgelöst. Der Effekt ist der, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer an die Mythen glauben, so wie Reinhardts Schauspielschulerinnen an das Wunder in Miracle glaubten. Auch auf der akustischen Ebene wird das Publikum rein emotional angesprochen. In der völlig textfrei gehaltenen Performance bestimmen neben der emotionalen, bewegten Musik Sakamotos zum Mitmachen animierende Anfeuerungsrufe der Schiffsbesatzung beim Segelhissen, laute, oftmals erschütternde Geräusche und Schockeffekte wie Bollerschüsse sowie Rhythmen, die sich auf den ganzen Körper übertragen.
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Oller, Vom Blitz getroffen, S. 16. COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 4, The Games, S. 56. Vgl. auch Hüdebrandt, Wagner und Nietzsche, S. 499.
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Deutlich erkennbar ist der Versuch der Verantwortlichen, ein von der Ästhetik begünstigtes „rauschhaftes" Erleben der Herkulessage auszulösen. Dieser Rausch kann sich jedoch nur entfalten, wenn die ästhetische Schau unreflektiert von den Zuschauerinnen und Zuschauern aufgenommen wird. Daher werden dem Publikum recht einfache Identifikationsmuster in Form von archetypischen Kämpfen zwischen Gut und Böse angeboten. Aus diesem Grund ist die Darstellung solcher Kämpfe, die oft ohne direkten Bezug zur Olympischen Idee stehen, mittlerweile zu einem festen Bestandteil olympischer Eröffnungsfeiern geworden. So stellen in Atlanta die Verantwortlichen Naturkatastrophen nach, die die Städte des Südens heimgesucht haben, und in Lillehammer kämpfen gute Waldgeister gegen böse Trolle. Die olympische Bewegung schlägt sich dabei gemäß ihres Anspruchs jeweils auf die Seite der Guten. Deren Sieg ist automatisch der Sieg der Olympischen Idee. 4.2.7. Opfer und Massen. Körperbilder während der Eröffnungsfeier Auffallend ist, dass sich kein Part der Eröffnungsfeier von Barcelona explizit mit dem Sport beschäftigt. Seine agonale Struktur findet sich zwar in den archetypischen Kämpfen und mythischen Geschichten wieder, aber sportliche Handlungen sucht man im Laufe des Abends vergebens. Die bindende Kraft, die eigentlich dem Sport zugeschrieben wird, soll die Musik erfüllen. Noch stehen auch die Athletinnen und Athleten nicht im Rampenlicht. Ihre Körper sind anders als in den Wettkämpfen weder Handlungsträger, noch Gegenstand ästhetischer Betrachtung. So ist die von La Fura inszenierte Präsentation des Herkules-Mythos die einzige längere Passage der Eröffnungsfeier, die Körper und Körperlichkeit thematisiert. Herkules ist in der Performance eine bronzen gefärbte Darstellung eines menschlichen, auf Muskeln und Knochen reduzierten Körpers. Sie wird von einem Performer auf dem Kopf getragen, so dass sie als lebensgroße Abbildung aus der Menge herausragt. Die Figur ist so konstruiert, dass ihre Gliedmaßen mit dem Vorwärtskommen in weite Laufbewegungen auspendeln. Die Reichweite der Bewegungen soll zwar imposant wirken, 153 aber durch ihre Gleichförmigkeit wirkt die Darstellung der Herkulesfigur auch leicht ironisch. Dirk Schömer erinnerte sie dann auch mehr an den „Tiroler Gletschermann"." 4 Herkules gilt aufgrund seiner ihm zugeschriebenen Fähigkeiten und Taten in der griechischen Sage als Ideal von Stärke und Kraft. Trotz seiner göttlichen Abstammung ist er somit zum Inbegriff des Körperwesens Mensch geworden, zum Gegenpol der prometheischen Intelligenz. So ist auch seine Bedeutung für die olympische Bewegung zu erklären, weniger als legendärer Gründer der antiken Spiele, sondern viel mehr als mythische Verkörperung jenes Prinzips, auf das sich die olympische Bewegung in der Nachfolge Coubertins stützt - der Erziehung und Verehrung des
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Vgl. COOB'92, S.A., Official Report, Bd. 4, The Games, S. 56. Die Verantwortlichen beschreiben sie kurz als „imposing metal figure". Dirk Schömer: Liebe Kinder, das ist alles nur gespielt. In: „FAZ", 27.7.1992, S. 22.
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menschlichen Körpers. 155 Kraft und Beherrschung der physikalischen Eigenschaften des Körpers sind grundlegende Eckpfeiler der olympischen Theorie. Eine ironisierende Darstellung der Herkulesfigur zieht somit auch eine Kritik an den olympischen Prinzipien nach sich. Fraglich ist jedoch, ob die Ironie tatsächlich von der katalanischen Theatergruppe beabsichtigt worden ist, oder ob sie sich erst nach mehrmaligem Betrachten in räumlicher und zeitlicher Distanz zu dem Live-Ereignis einstellt. Aufschlussreich sind daher die anderen Bilder, in denen die Körperlichkeit zum Ausdruck kommt. Auch das Bild der Schiffsbesatzung ist geprägt von der körperlichen Erscheinung jedes Einzelnen, denn die Frauen und Männer tragen an die Antike erinnernde Lederbekleidung, die einen Großteil der Körper unbedeckt lässt. Nahaufnahmen zeigen, wie sehr sich diese Körper im Kampf gegen die Ungeheuer anstrengen müssen, wie sehr sie Gefahren ausgesetzt sind. Sie bilden einen Gegenpol zu der scheinbaren Leichtigkeit mit der die wenigen anderen an Sport erinnernden Aktivitäten - Tänze, Einlagen Rhythmische Sportgymnastinnen oder auch der Fackellauf - an diesem Abend vonstatten gehen. Die Ästhetik von La Fura dels Baus, oft auf Schrecken und Grausamkeit ausgerichtet, stört für kurze Augenblicke die olympische Harmonie. Zweimal ist im Fernsehbild eine blutüberströmte Frau zu sehen, die von den anderen Besatzungsmitgliedern hoch über den Köpfen getragen wird. Trotz dieser Geste, die den Körper der Frau zu einem Opfer macht, ist es möglich, dass dieses Detail der Inszenierung den meisten der Zuschauerinnen und Zuschauer im Stadion entgeht, wenn sie nicht gerade ihren Blick auf die Leinwände richten, auf denen die Fernsehbilder zu sehen sind. Dennoch ist das via TV in die Welt transportierte Bild jener blutenden Frau von Bedeutung, denn es ist der einzige Moment des gesamten Abends, in dem von einer ausschließlich positiven Grundstimmung abgewichen wird.156 Das wesentlichste Motiv der Eröffnungsfeier, das Erzeugen von Harmonie, wird für Augenblicke durchbrochen. Umso wichtiger scheint die Aussage dieser Passage den Verantwortlichen zu sein. Die Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler auf dem Schiff werden zwar nicht in ihrer Schönheit erfasst und von „Sonnenglanz" und „Musik erhöht", 157 aber sie repräsentieren die andere Seite von Coubertins Körperideal, die der „körperlichen Anstrengung". 158 Die Figuren auf dem Schiff sind
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Dieser Mythos von Herkules als Körperwesen, das durch seine Stärke und seine göttliche Abstammung zugleich zum Übermenschen tendiert, veranlasste auch die nationalsozialistischen Machthaber bei der Ausrichtung der Spiele von Berlin eine Darstellung des Herkules-Mythos auf der Dietrich-Eckart-Bühne in das Programm mit aufzunehmen. Auch dass Herkules eine vom Schicksal und den Göttern geplagte Figur ist, die sich durch eigenen Stärke aus der misslichen Lage befreit, entspricht dem Selbstbild des nationalsozialistischen Deutschlands. Dass das Fernsehen Olympia lieber als fried- und freudvolles Spektakel präsentiert, verdeutlicht eine Bemerkung von ARD-Kommentator Heribert Faßbender zu den Bildern der blutenden Frau: Er versichert den zuschauenden Kindern, dass diese Aktionen selbstverständlich nur gespielt seien. Eine Kommentierung, die die olympische Harmonie betont, allerdings wesentliche Ideen der Inszenierung übersieht. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 86f. Ebd., S. 65.
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das Gegenbild zur dekadenten Stubenhocker-Gesellschaft, die Coubertin zeichnete. Sie kämpfen leidenschaftlich und gemeinsam für das Erreichen ihres Ziels, das identisch ist mit Herkules' Ziel. Daran wird deutlich, dass die Herkulesfigur nicht als ironische Kommentierung zum olympischen Körperkult gedacht ist. Die Taten des Halbgottes werden zum Vorbild für die Frauen und Männer auf der barca nona, die ihren Körper einsetzen und Schmerzen in Kauf nehmen, um das imaginäre Land zu erreichen. Aufgrund der lauernden Gefahren müssen sie bereit sein, ein hohes Risiko einzugehen. Ihr Weg erfordert Mut und Selbstüberwindung. Dass letztere bis zur Selbstaufopferung getrieben wird, ist einerseits Ausdruck der mythischen Erzählweise und der speziellen Ästhetik der katalanischen Theatergruppe. Allerdings zeigt sich darin auch die Attraktivität der olympischen Philosophie für politische Systeme, die von ihren Bürgern ebenfalls Opfer verlangen. Die Eröffnungsfeier von Berlin 1936 ist voll von Anspielungen auf Opferkult und Opferbereitschaft.159 Dem klassizistischen Schönheitsideal von Coubertins Körperideologie wird dagegen in Barcelonas Eröffnungsfeier nicht gehuldigt. Die Schönheit menschlicher Individuen kommt nicht in ihrer leiblichen Erscheinung, sondern in ihrem Gesang zum Ausdruck. Dafür fügt die Inszenierung dem ästhetischen Gesamtkonzept Olympias eine Komponente hinzu, die in Coubertins Überlegungen keine Rolle spielte, vor der er sogar ausdrücklich warnte, weil sie ihm zu wenig weihevoll erschien: die ästhetische Wucht bewegter Massen. Im Publikum, in den Kollektivbildem der Performer oder in der unter einem Tuch vereinigten Sportjugend der ganzen Welt löst sich der Körper des Subjekts auf. So wird das Individuum dem Zeremoniell unterwiesen - es wird zum organisierten Teil des Spektakels, selbst wenn es nur unbeteiligt in der Menschenmenge auf den Zuschauerrängen sitzt. Seine individuelle Schönheit spielt keine Rolle mehr, sie löst sich in der Schönheit des Massenkörpers auf. 4.2.8. Dionysisches Barcelona. Zusammenfassung der Ergebnisse Wenn Seoul 1988 eine Mischung aus olympischer und asiatischer Kultur war und Atlanta 1996 die amerikanische Show-Version des größten Sportfests der Welt, so gestaltet Barcelona eine europäische Variante Olympias. Die Eröffnungsfeier von 1992 weist alle wesentlichen Merkmale des dionysischen Theaters auf. Sie erhebt die - mittlerweile inhaltsleere - Olympische Idee zu einer pseudoreligiösen Weltanschauung, die es mit einem künstlerisch ausgestalteten Ritual zu feiern gilt. Sie benutzt alte griechische Mythen, beschwört Sportlegenden und macht Olympia und seine Geschichte selbst zu einem Mythos. Musik - nicht Sport - wird zum Leitmotiv des Abends, das die Veranstaltung vor dem Auseinanderfallen in verschiedene Teile bewahrt. Nur so kann die Eröffnungsfeier den Anspruch einer Ganzheit aufrecht erhalten. Zugleich ist die Musik das Moment, das zusammen mit der Farbenvielfalt, der Massenhaftigkeit der Choreographien und den bombastisch in Szene gesetzten
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Vgl. Thomas Alkemeyer: Gewalt und Opfer im Ritual der Olympischen Spiele 1936. In: Gunter Gebauer (Hg.): Körper- und Einbildungskraft. Inszenierungen des Helden im Sport. Berlin 1988, S. 44-79.
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Symbolen jenen Apparat der künstlerischen Überwältigung bildet, dem sich alle Gesamtkunstwerke verpflichtet sehen. Freude, Emotionen, Dramatik und auch die Verbindung zum Göttlichen sind angedacht. Barcelona 1992 wird als Gesamtkunstwerk präsentiert, das Sport- und Musikstars, Performer, Funktionäre, Zuschauerinnen und Zuschauer miteinander vereint. Die Eröffnungsfeier beschwört die Wirkung der Masse, der Masse der 65.000 im Stadion, die wie ein einziger zusammenhängender Körper agiert, und zugleich der anonymen Masse der angeblich 3,5 Mrd. Menschen, die zeitgleich vor denselben Bildern des Fernsehens sitzen sollen.160 Mit der Art der künstlerisch überhöhenden Gestaltung eines festen Rituals hat sich die Eröffnungsfeier von Barcelona an die Vorgaben des Olympia-Pioniers Coubertin gehalten. Zwar ist das feierliche, religiöse Moment zurückgegangen, manifestiert sich das Erhabene der Zeremonie in der bombastischen Darbietung und ertönen keine sakralen Lieder, sondern Popsongs, aber all das sind Fragen des Zeitgeschmacks, keine Revolte gegen das Ideal Coubertins. Dass die besondere Ästhetik der sportlichen Körper noch nicht zur Anschauung kommt entspricht dem Charakter der mehr an klassischer Kunst orientierten Veranstaltung und ist zugleich ein Vertrösten auf die Wochen der olympischen Wettkämpfe. Fehlen die Körper auf der Ebene der Darstellung, so ist es doch wichtig, dass Zuschauerinnen und Zuschauer körperlich anwesend sind. Ihre Sinne sind es, die in erster Linie beansprucht werden, dafür sind Wirkung und Charakter des LiveErlebnisses auch ganz andere als die vor dem Femsehbildschirm: Und wir schwören, daß es [die Eröffnungsfeier von Barcelona, d. Vf.] im Stadion ganz anders war als im Fernsehen, nämlich aufregend und großartig. Am Video [...] wirkte es wie „Spiele ohne Grenzen".161 Alle Bühnenmittel dienen dazu, die Distanz des Publikums zum Geschehen aufzubrechen und es ganz in den Bann zu ziehen. Unter dem Eindruck des ästhetischen Bombardements soll es sich zur begeisterten Menge von Olympiafans zusammenschließen. Als „dionysisch erregte Masse" 162 ist es dann selbst wieder Teil der Femsehinszenierung. Die Eröffnungsfeier hat PR-Charakter für die Olympischen Spiele von Barcelona und die olympische Bewegung insgesamt. Sie hat ihre Aufgabe erfüllt, wenn das Resümee ähnlich lautet wie das von Eurosport-Kommentator Wolfgang Ley: Der olympische Funken ist sicherlich Ubergesprungen. Auch bei Ihnen zu Hause.163 Allerdings: der Weg vom Olympiastadion ins Wohnzimmer oder auch nur in den Kinosaal ist weit. Das Feuer könnte leicht erlöschen. Die Frage ist, wie die techni160
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Diese Zahl wird zumindest von den Medien immer wieder transportiert. MacAloon weist darauf hin, dass Schätzungen zu Folge, während der Eröffnungsfeier 1992 nur etwa 2,3 Mrd. Menschen überhaupt einen Zugang zu einem Fernsehgerät haben und taxiert die gesamte Zuschauerschaft der Zeremonien auf eine Größe von ca. 1 Mrd. Vgl. MacAloon, Olympic Ceremonies, S. 32. Hacke, Blitze, S 3. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 53. Mit diesen Worten verabschiedet sich Ley von der Live-Übertragung der Eröffnungsfeier.
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sehen Medien Film und Fernsehen, versuchen können, die Distanz zum Zuschauer zu überbrücken, da sie zumindest die körperlich spürbare Nähe des Theaterzuschauers zur Bühne, zur Masse und damit zur Olympischen Idee auf andere Art ersetzen müssen. Es ist eine Aufgabe der nächsten beiden Kapitel, diesen Zusammenhang zu untersuchen.
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5. Olympia als Paradies. Riefenstahls Olympia-Filme und ihre Bedeutung für das NS-Regime
Durch die Möglichkeit der Live-Übertragung von Sportereignissen im Massenmedium Fernsehen haben die bei jeden Olympischen Spielen im Auftrag der Organisatoren angefertigten künstlerischen offiziellen Olympiafilme an Bedeutung verloren. Obwohl für die Filme teilweise renommierte Regisseure wie z.B. Carlos Saura verantwortlich zeigen, erreichen die Olympiafilme kein Millionenpublikum, sondern eher einen Insiderkreis bestehend aus Cineasten und Anhängern der Olympischen Bewegung. Bei den Olympischen Spielen 1936 war das anders. Zwar wurden Bilder der Olympischen Spiele von Berlin erstmals mit großem Aufwand in so genannte Femsehstuben übertragen, aber nur wenige Privilegierte hatten damals die Möglichkeit dort dem Ereignis Olympia beizuwohnen - das audiovisuelle Massenmedium dieser Zeit war das Kino. Als 1938 die offiziellen Filme der Olympischen Spiele 1936: Olympia - Fest der Völker und Olympia - Fest der Schönheit von Leni Riefenstahl1 in das Programm der deutschen und internationalen Lichtspielhäuser aufgenommen wurden, konnten viele, die zwei Jahre zuvor nicht vor Ort „dabei" waren, noch nachträglich einen wenn auch nicht mehr ganz aktuellen, künstlerisch überhöhten und propagandistisch gefärbten - Eindruck vom Erlebnis Olympia bekommen. In einer Abhandlung über das dionysische Olympia sollten die Filme Riefenstahls nicht fehlen: Zum einen, weil die handwerkliche Perfektion ihrer Filme einen Standard für die Übertragungsweise von Sportereignissen schuf, der auch noch die Art der gegenwärtigen Fernsehinszenierungen und damit auch das Bild des sportlichen Körpers bis heute bestimmt.2 Zum zweiten, da zu zeigen ist, wie der Film mit seiner speziellen Technik künstlerische Überwältigungsstrategien koppelt und verstärkt. Drittens, weil in den Spielen 1936 olympische und faschistische Ästhetisierungstendenzen und Machtphantasien miteinander verschmelzen und sich gegenseitig potenzieren. Der im Zeichen des Olympischen Feuers entfesselte Dionysos geht auf in der Idee von der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft.
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Zu den Aufgaben des jeweiligen Gastgebers von Olympischen Spielen gehört die Anfertigung eines offiziellen Films. Mit Riefenstahls zweigeteiltem Olympia-Film kommt das Organisationskomitee von 1936 dieser Verpflichtung nach. Über den Auftraggeber gibt es verschiedene Aussagen. Vgl. dazu und zur Entstehungsgeschichte des Films die Angaben in Kap. 4.5.2. Vgl. Claudia Lenssen: Leben und Werk. In: Filmmuseum Potsdam (Hg.): Leni Riefenstahl. Berlin 1999, S. 72.
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5.1. Film als „Gesamtkunstwerk" Dass der Film den „Traum vom Gesamtkunstwerk" verwirklicht habe, ist eine der bekannten Thesen der Dialektik der Aufklärung.3 So reizvoll und nahe liegend der Gedanke ist, so „befremdlich" muss er wirken, wenn man bedenkt, dass „ein zentrales Moment des Films die technisch bedingte Nichtiiberwindbarkeit von Objektraum (Leinwand) und Rezipientenraum (Vorführsaal usw.) ist". 4 Bernd Uhlenbruch schlägt daher vor, den Film eher als „synkretistische Kunst", 5 statt als Gesamtkunstwerk zu bezeichnen, denn die angestrebte Ineinswerdung vom Künstlerkollektiv mit dem Publikum ist eines der wesentlichen Merkmale der Gesamtkunst nach Wagner. Dies kann der Film schon allein aufgrund der zeitlichen Verschiebung zwischen Produktion und Rezeption niemals erreichen. 6 Allerdings inszenieren gerade totalitäre Staaten den Kinobesuch als kollektives Massenerlebnis. Über die Inhalte des Films und die Reaktionen des Publikums soll der Zuschauer emotional an die Ideen des Staates herangeführt werden, um sich mit ihm zu identifizieren. Auch in der Sowjetunion der dreißiger Jahre gilt das Massenmedium Film aufgrund seiner weiten Verbreitungsmöglichkeiten als ideales Mittel, um das Volk zum Sozialismus zu erziehen: Film, die massenhafteste [...] der Künste, gestattet es einem Publikum von Millionen und Zehnmillionen das Gefühl des revolutionären Heroismus der Vergangenheit zu spüren und davon zutiefst inspiriert zu werden. Jeder, der sieht, wie die ältere Generation in der Vergangenheit für den Sieg der Revolution kämpfte, wird erkennen, wie nötig es ist, jetzt für ihren endgültigen Triumph zu kämpfen.7 Die Methode, Bürgerinnen und Bürger mit Hilfe von Filmen auf die Parteilinie einzuschwören, nutzen auch die faschistischen Machthaber des Dritten Reiches. Zu den Propagandafilmen zählen Werke wie Jud Süß, Kolberg, Der große König, Der ewige Jude sowie der Film Riefenstahls über die Reichsparteitage: Triumph des Willens. Gezielte Werbefeldzüge und das Einbinden von Filmaufführungen in das Festkonzept des NS-Regimes - die Premiere des Olympiafilms beispielsweise bedeutet den Höhepunkt der Feierlichkeiten zu Hitlers Geburtstag 8 - machen den Kinobesuch zu einem Massenerlebnis. 9
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Max Horkheimer u. Thedor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, S. 148. Zitiert nach Borchmeyer, Gesamtkunstwerk, S. 1288. Bernd Uhlenbruch: Film als Gesamtkunstwerk? In: Günther, Gesamtkunstwerk, S. 185. Ebd. Die Leinwand zu überbrücken ist allerdings Traum vieler Filmemacher. Was in der Realität unmöglich bleibt, ereignet sich zumindest im Film, etwa in Woody Allens Werk The purple rose of Cairo. „Pravda", 21. Nov. 1934. Zitiert nach Uhlenbruch, Film als Gesamtkunstwerk? S. 187. Vgl. Susan Sontag: Faszinierender Faschismus. In: Dies: Im Zeichen des Saturn. München, Wien 1981, S. 101. Auch in anderen Kontexten wird der Kinobesuch zu einem alle Sinne ansprechenden ästhetischen Erlebnis. In Amerikas Kinopalästen der 20er Jahre war der Film lediglich ein Teil der Gesamtinszenienmg: Die bombastischen Repräsentationsbauten enthielten Kulissenmalereien, die den Eindruck von Amphitheatern, ägyptischen Tempelvierteln oder ita-
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Der Film hat gegenüber der Theaterkunst den Nachteil, das Publikum nicht unmittelbar ansprechen zu können; dafür lassen sich die Bilder des Films schnell und flächendeckend verbreiten, so dass ihn Millionen von Menschen zwar nicht simultan, aber doch innerhalb weniger Wochen anschauen können. Die Wirkungen, die das Kino erzielt, stellen in vielen Bereichen die des Massentheaters in den Schatten. Während sich auf den Bühnen immer nur eine begrenzte Zahl von Darstellerinnen und Darstellern zusammenfügen kann, lässt ein Kameraschwenk über eine Menschenmenge diese unendlich groß erscheinen. Räume jenseits der unmittelbaren Gegenwart des Kinosaals werden Uber Schnitt, Montagetechnik und Kamerabewegungen plastisch erfahrbar, Naturbilder und Landschaftsaufnahmen lassen sich konstruktiv in die „polyphone Struktur von synästhetisch wahrgenommenen Reizerregern"10 einbeziehen. Zu den Reizerregern des Films gehören Bilder, die ineinander fließen und daher ihre Isolation aufgeben, sowie Musik, die mit den Bildern verschmilzt. Abstrakte Gefühlsregungen mischen sich mit konkreter Visualisierung. In einem Text von 1940 mit dem Titel Gordost beschreibt der russische Filmkünstler Sergej Eisenstein den Film daher als ideale synthetische Kunst: Von allen Künsten [...] ist das Kino, die wirkliche, grundlegende und endgültige Synthese ihrer Erscheinungen, jene Synthese, welche nach den Griechen zerfiel und welche Diderot in der Oper, Wagner im Musikdrama, Skijabin in den Farbkonzeiten vergeblich zu finden versuchten."
Bewusst an Wagners Griechenbild anknüpfend sieht Eisenstein den Film als Retter des griechischen Erbes an. Film ist für Eisenstein daher „mehr als die Synthese der Künste", wie Bernd Uhlenbruch feststellt. Film ist: [...] die Rekonstruktion eines Urzustandes, eines Zustandes „in der Morgenröte der Kultur", in dem noch eine Harmonie visueller Elemente herrschte. Film vermittelt als einzige Kunstgattung der „Masse" das Empfinden von ,.Masse", vermittelt das Empfinden, als Individuum in der Masse geborgen zu sein [.. .]' 2
Wenn schon kein direkter Kontakt zwischen Spielenden und Schauenden besteht, so soll sich der Kinobesucher doch einer Gemeinschaft zugehörig fühlen. Er empfindet sich als Teil einer Masse, die in der kommunistischen Sowjetunion wie in anderen totalitären Systemen nicht nur das im dunklen Zuschauerraum vereinte Kinopubli-
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lienischen Gärten vermittelten. Ans Dach wurden Sternenhimmel oder Sonnenuntergänge projiziert, die Platzanweiser trugen Kostüme, die mit dem Filminhalt übereinstimmten, Foyer und Toiletten waren mit Düften besprüht, die ebenfalls mit dem Geschehen auf der Leinwand korrespondierten. Musik wurde live eingespielt und auch Tänzer und Artisten hatten ihre Auftritte. Selbst Modenschauen und auf Kronleuchtern tanzende Revuegirls waren Bestandteil der Filmvorführungen. Vgl. dazu Dominik Keller: „Gesamtkunstwerke" in der amerikanischen Kinolandschaft der zwanziger Jahre. In: Szeemann, Hang zum Gesamtkunstwerk, S. 395-400. Uhlenbruch, Film als Gesamtkunstwerk, S. 196. Sergej Ejzenstein: Gordost'. In: Ders.: Izbrannye proizvedenija ν sesti tomach. Bd. 5. Moskau 1963, S. 86. Zitiert nach Uhlenbruch, Film als Gesamtkunstwerk, S. 194. Uhlenbruch, Film als Gesamtkunstwerk, S. 195.
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kum meint, sondern die Gesamtheit des Staates. Eisensteins Filmkonzept13 durchbricht schließlich sogar die vierte Wand, indem er die subjektive Kamera einfuhrt, mit der sich der Zuschauer als handelnde Figur in den Film hinein imaginieren kann. Wo der Körper die Distanz zur Leinwand nicht überwinden kann, ermöglicht die Leistung der Phantasie die Partizipation des Zuschauers am künstlerischen Geschehen. Vier Jahre vor Eisensteins Gordost-^ss&y stellt Walter Benjamin seinen ungleich bekannteren Text, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 14 fertig. Benjamin hebt den Film, der flir ihn das Kunstwerk der Zukunft ist, vollkommen vom romantischen Kunstideal ab. Die fundamentalen Änderungen gegenüber traditionellen Kunstformen liegen in der Reproduktionstechnik begründet. Der Film ist daher im doppelten Wortsinn eine Massenkunst, da er von Massen rezipiert werden kann, und er selbst nicht einmalig ist, sondern in Form von zahlreichen Kopien existiert. Anders als etwa in der Malerei gibt es keine Unterscheidungsmöglichkeit mehr zwischen Original und Kopie.13 So verlieren Begriffe, die für das romantische Kunstverständnis zentral sind, an Bedeutung: „Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis".16 Angesichts der vielfachen Verbreitung der Filme ist Filmrezeption nicht mehr an das „Hier und Jetzt"17 gebunden, sondern kann zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten stattfinden. Der Ursprung des technisch reproduzierten Kunstgegenstands verliert an Bedeutung. Das Kunstwerk selbst löst sich aus dem Bereich der Tradition ab. Es büßt seine Aura ein, denn die Tendenz der Massen ist es, den Dingen auf den Grund zu gehen, sie näher zu betrachten und sie immer wieder zu betrachten, um sie zu testen.18 Benjamin empfindet dies nicht als Verlust, sondern als Befreiung. Auratische Kunstwerke werden nur nach ihrem Kultcharakter bewertet. Die ursprüngliche Funktion, Teil eines Rituals zu sein, haftet diesen Kunstwerken noch an, selbst da, wo das Ritual nur noch ein „profaner Schönheitsdienst" ist, der
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Eisenstein selbst hat ein wesentlich differenzierteres Kunstverständnis, als es hier dargelegt wird, und ist keineswegs immer auf einer Linie mit der Kunstpolitik der Machthaber. Sein Film Die Bezin-Wiese wird Opfer der Zensur, und Eisenstein wird gezwungen, sich öffentlich für seinen Fehlgriff zu kritisieren. Bereits 1930 hatte Eisenstein zudem die Filmkunst als polyphone Kunst beschrieben, letzlich also als vieldeutiges Werk, was die Führungsriege eines totalitär geführten Staates als Provokation auffassen musste. Zentraler Punkt, um den alle Überlegungen Eisensteins kreisen, ist das Verhältnis des Künstlers zum Publikum. Er beschreibt Filmkommunikation als dynamischen Vorgang, in dem das Publikum eine Leistung erbringen muss, um Film verstehen zu können. Sein Ziel ist es eher, in einen filmsprachlichen Dialog mit Zuschauerinnen und Zuschauern zu treten, als sie durch gezielten Einsatz von Emotionen zu Uberwältigen, wie es die offizielle Kunstpolitik des Stalinismus vorsieht. Vgl. Uhlenbruch, Film als Gesamtkunstwerk, S. 190-193.
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Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main, 7. Aufl., 1974. Vgl. Benjamin, Kunstwerk, S. 14. Ebd., S. 10. Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 18.
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letztlich in der „Theologie der Kunst", der „Lehre vom Γ art pour Γ art" mündet.19 Nun hat die Technik den Kiinstlerkult abgelöst: [...] die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes emanzipiert dieses zum erstenmal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual.20
Das bietet der Kunst neue Chancen: An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundiemng auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.21
Darin sieht Benjamin eine kommunistische Antwort auf das Gebahren des Faschismus, die Politik zu ästhetisieren. Während Hitler sich als Staatsmann zum größten Künstler Deutschlands erkürt, entzieht Benjamin jedweder ideologischen Verklärung des Künstlerbegriffs die Grundlage. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ist der Künstler unwichtig geworden, zumal im Film, der ohnehin nicht das Werk eines Einzelnen ist. Hinzu kommt: Was immer auch das Künstlerkollektiv schafft - es kann hundert- und tausendfach wiederholt werden. Wichtig ist daher nicht die Produktion, sondern die Rezeption. Das Publikum entscheidet über die Wertigkeit des Kunstwerks, nicht das Genie, der Führer oder eine Elite von Gebildeten. Kunst, im Sinne Benjamins, befindet sich auf dem Weg von der Magie zur Demokratie. Ebenso muss die Bedeutung des Schauspielers fur die Gesamtproduktion relativiert werden. Da er nur als Bilderfolge präsent ist, nicht aber leibhaftig, verliert sich seine Aura in der Apparatur. Seine Leistung ist nur eine von vielen und sein Erscheinungsbild wiederum abhängig von zahlreichen Elementen: Beleuchtung, Kameraperspektive, Montage, Kostümierung oder Maske. Der Körper des Filmschauspielers ist ein fragmentierter, der in zahlreiche Aufnahmen zerlegt wird. So verfährt der Film allerdings mit all seinen Gegenständen. Während der Maler ein totales Abbild einer Realität produziert, ist das Bild des Kameramanns ein „vielfach zerstückeltes",22 das nach einem neuen Gesetz, dem der Montage, zusammengefügt wird. Kunst als das Zusammensetzen zerstückelter Bilder zu beschreiben offenbart ein Kunstverständnis, das jeglicher Verwandtschaft zu Gesamtkunstprojekten gänzlich unverdächtig ist, da es den Ganzheitsanspruch von Kunst überhaupt negiert. Dennoch zieht Norbert Bolz in seinem Aufsatz Abschied von der Gutenberg-Galaxis23 eine Linie, die von Wagner und Nietzsche über Benjamin zur Gegenwart der elektronischen Medien fuhrt. Was Bolz an Benjamins Filmtheorie interessiert, ist die Umcodierung der Sinne, die als Folge der Gewöhnung an das filmische Sehen von Benjamin beschrieben und angestrebt wird. Mechanisierung von Wahrnehmung und Kommunikation ist demnach das Signum der Medienmoderne, die mit Wagner beginnt. Bolz sieht im Projekt des Gesamtkunstwerks den Aufbruch aus dem Zeitalter der Schriftkultur. Ästhetisches
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Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 21. Ebd., S. 37. Bolz: Abschied, S. 139-156.
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Verständnis nach Wagner ist eine Frage der Wahrnehmung. Die „endogen erregten Sinne"24 des Rezipienten richten sich auf die Hör- und Schauwelt der Musikdramen ein und gewöhnen sich daran, sich gegenseitig die auf sie einströmenden Informationen zu übersetzen. Genauso beschreibt Benjamin die Funktionsweise des Films, der ebenso synästhetisch auf den Rezipienten einwirkt wie Wagners Opern. Im Verständnis des Autors vermittelt er nicht nur optische und akustische Reize, sondern auch taktile. Dies begründet er mit der raschen Bilderfolge des Films, die dem Zuschauer keine Gelegenheit lässt seinen Assoziationsketten freien Lauf zu lassen. Darauf, so Benjamin, beruhe „die Chokwirkung des Films".25 Und Schocks sind körperliche Reaktionen. Auch die Leistung des Schauspieler kann allein auf das körperliche ReizHandlungsschema reduziert werden. Aufgrund der Montagetechnik muss sich der Darsteller nicht länger in eine Rolle einfühlen, um ein bestimmtes Verhalten zu spielen. Benjamin macht als Beispiel den Vorschlag, einen Schauspieler, der eine Figur nachahmen soll, die sich erschreckt, durch einen plötzlichen Schuss hinter seinem Rücken tatsächlich zu erschrecken und diese körperliche Reaktion dann in den Film einzusetzen. Nichts, so Benjamin, zeige „drastischer, daß die Kunst aus dem Reich des schönen Scheins entwichen ist".26 Der Film wird zur Quelle physiologischer Reize. Nietzsche hatte die Ästhetik schon in den Bereich der Naturwissenschaften eingeordnet, Benjamin wählt nun Bilder aus der Medizin und vergleicht den Kameramann mit einem Chirurgen am Operationstisch.27 Der Chirurg dringt tief in das Innere seines Patienten ein; er verringert die Distanz zum Gegenstand seiner Behandlung, wie es auch dem Film zu eigen ist. Kameras schaffen eine greifbare Nähe zu den Dingen, die sie abbilden. Auch darin lassen sich taktile Qualitäten des Films begriinden. Bolz nennt das Kino daher die „Schule der neuen taktilen Apperzeption". Es setzt die schockhafte Nähe, das Prinzip der Sensation, in Funktion. Sensation: also das rabiate Der-Welt-auf-den-Leib-rücken, der hautnahe Kontakt von Auge und Bildfläcbe ist das technische Prinzip des kinematographischen Aufnahmeapparats.2'
Aufgrund der mangelnden Distanz zu den Dingen glaubt Bolz, der Kritik habe „ihre letzte Stunde geschlagen".29 Dem ist nur zuzustimmen, wenn damit die Institution der Kritik gemeint ist und nicht die Haltung. Im Sinne Benjamins ist es nun das Publikum, welches die Filmkunst neu bewertet. Haben sich erst einmal die Massen an die neuen Bedingungen der Wahrnehmung gewöhnt, ist es allen gleichermaßen
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Ebd., S. 141. Benjamin, Kunstwerk, S. 44. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 36. Bolz, Abschied, S. 147. Der Begriff der Schule ist gut gewählt, denn für Benjamin hat der Film die Aufgabe, die technische Apparatur seiner Zeit den Menschen anzutrainieren, so dass sie lernen, mit den technischen Erweiterungen umzugehen. Vgl. ebd., S. 146.
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möglich ein Urteil zu fällen. Darin liegt der demokratische Grund von Benjamins Filmtheorie. Der Zuschauer soll gleichermaßen genießen und kritisieren. Individuelle Ansichten vermischen sich mit den kollektiven Empfindungen des Kinopublikums: [...] nirgends mehr als im Kino erweisen sich die Reaktionen der einzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikums ausmacht, von vornherein durch ihre unmittelbar bevorstehende Massierung bedingt.30
Das Publikum als einheitlich reagierende Masse, Synästhesie der Wirkungen, körperliche Apperzeption des Kunstwerks, Schockeffekte, Verringern der Distanz - all das sind Momente, die auch die dionysischen Künste kennzeichnen. Im Vergleich zur Bühne gelingen dem Film sogar oft die stärkeren Effekte, etwa was die Synchronisierung von Musik und Bild oder die Formierung der Massen angeht. Unmöglich ist jedoch, dem Film die Hier-und-Jetzt-Wirkung des Theaters zu verleihen. Körperlich können Publikum und Produzenten nicht zueinander finden. In filmischen Gesamtkunstwerken wird daher versucht werden müssen, die emotionale Bindung an ein verpflichtendes, im Film verkörpertes Weltbild zu stärken, um so die angestrebte Gemeinschaftserfahrung noch zu ermöglichen.
5.2. Ästhetisierungstendenzen im Dritten Reich Eisensteins und Benjamins Filmtheorien entstehen in der Zeit der Diktaturen und sind als Kunstkonzepte auch Reaktionen auf eine Politik, die sich immer stärker selbst theatralisiert. Die Kunst erhält Einzug in die Selbstdarstellung von Staaten, wie sich an den Großkundgebungen der totalitären Regimes ablesen lässt: Dort verbinden sich Symbole, Licht, Bild, Musik und die Choreographie von Menschenmassen zu „einem alle Sinne ansprechenden Gesamtkunstwerk der Macht."31 Die Ästhetisierung der Politik im Dritten Reich hat Benjamin als einer der ersten benannt. Sie konkretisiert sich in den zahlreichen Massenaufmärschen und Kundgebungen, in exorbitanten Repräsentationsbauten, in Fahnenweihen, Fackelzügen, offiziellen Ehrungen und einem über Plastiken, Statuen oder Postkarten verbreiteten Schönheitskult. Insbesondere die Gestaltung der Reichsparteitage folgt den Gesetzen monumentaler Ästhetik: Die gesamte achttägige Riesenveranstaltung, zu der man Hunderttausende mit Wagen und Extrazügen aus ganz Deutschland zusammenzog, stand von der ersten bis zur letzten Stunde im Zeichen einer sorgsamen Regie wie ein überdimensionales Theaterstück. [...] [Es ist ein] Appell an Emotionen und Instinkte: Der Farbenrausch der Uniformen, Flaggen und Transparente, der Rhythmus der Märsche, die Klänge der Nationalhymnen, die blinkenden Spaten und der Strahlendom der Scheinwerfer.32
30 31 32
Benjamin, Kunstwerk, S. 38f. Günther, Erzwungene Harmonie, S. 260. Hagemann, Mythos der Masse, S. 172.
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Benjamin sieht in diesen Masseninszenierungen die „Massen zu ihrem Ausdruck, beileibe nicht zu ihrem Recht" 33 kommen. Funktion solcher kollektiven Kundgebungen ist es, das Aktionsbedürfnis der Massen zu stillen, ohne sie politisch aktiv werden zu lassen, wie es jedes diktatorische Regime zu verhindern versucht. 34 Gefeiert werden daher nicht die Massen, sondern der Staat als Verkörperung der nationalsozialistischen Ideologie. Versatzstücke wie Führerkult, Volksgemeinschaftsidee, Nationalismus, der Kampf gegen die bolschewistische Weltverschwörung, der Rassismus und das daraus abgeleitete Verständnis der „substantiellen Überlegenheit des Deutschtums" paaren sich mit „modischer Zivilisationskritik, einem diffusen Streben nach Natur und Erdverbundenheit" sowie militaristischem Gedankengut zu der „eklektizistischen Heilslehre des Nationalsozialismus". 35 Die Kunst soll veranschaulichen, dass die Hitler-Regierung diese Vorgaben alle verwirklicht.36 Sie dient daher dem Staat nicht allein zu Repräsentationszwecken, sondern vor allem dazu, die Mythen, die im Spiel sind, am Leben zu erhalten und so die Volksgemeinschaft beständig zu erneuern und zu bestärken. Über die Psyche soll der Einzelne angesprochen werden, sich für die „gemeinsame Sache" zu engagieren.37 Seine Heimat ist Deutschland, aber mehr noch der NS-Staat, der zu einem Ersatz-Mythos wird. Die Individuen sollen sich vom Staat, einem an sich abstrakten und von ihnen weit entfernten Gebilde, angezogen fühlen. Die Schönheit der faschistischen Selbstinszenierung und das Anknüpfen an Jahrtausende alte Ideale - in der Kunst durch zahlreiche Archaismen zum Ausdruck gebracht - sollen die Kluft vom Bürger zum Staatsgebilde überbrücken und die institutionalisierte Staatsgewalt natürlich erscheinen lassen.38 Zum Mythos verklärt repräsentiert das Dritte Reich den idealen Ort der Gegenwart, in dem sich Zukünftiges und Vergangenes vereinen. Das zeigt sich am deutlichsten im Baustil: Während die offizielle Architektur griechische Tendenzen - ins Überdimensionale vergrößert - aufleben lässt und damit die arische Kultur als Nachfolgerin der dorischen kennzeichnet, werden die funktionalen Bauten wie die Autobahnen als rasend modern empfunden. So feiert sich der NS-Staat gleichzeitig als Erneuerer und als Bewahrer von traditionellen Werten. 39 Wesentliches Kennzeichen der offiziellen Architektur ist ihre Monumentalität, in der sich Machtfülle und Größe des Staates ausdrücken, „dem gegenüber alles Individuelle, Partikuläre zurückzutre-
33
Benjamin, Kunstwerk, S. 48. Vgl. Stommer, Inszenierte Volksgemeinschaft, S. 12. 35 Vgl. Teichler, Sportpolitik im Dritten Reich, S. 43. 36 Dass die Kunst im Nationalsozialismus vornehmlich propagandistischen Zwecken dient, ist offenkundig. Deutlich wird dies schon bei der Ämterverteilung. So wird die von der NSDAP vertriebene Künstzeitschrift Die Kunst im Dritten Reich vom „Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP' herausgegeben, wie es im Untertitel heißt. 37 Vgl. Jean Clair: Das Dritte Reich als Gesamtkunstwerk des pervertierten Abendlandes. In: Szeemann, Hang zum Gesamtkunstwerk, S. 95f. 3 ® Vgl. Hopster, Das „Dritte Reich ", S. 246. 39 Vgl. Clair, Drittes Reich als Gesamtkunstwerk, S. 100. 34
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ten hat". 40 Die Gebäude repräsentieren zudem die Überzeitlichkeit der Idee. Sie sollen ewig stehen wie das „Tausendjährige Reich". 41 Am Beispiel der Architektur wird deutlich, dass die Ästhetisierung der Politik alle Lebensbereiche durchwirkt. Es gibt keinen Ort, wohin sich das Individuum zurückziehen kann, ohne an die Idee des Staats, den Führer und an seine eigenen Pflichten für die Volksgemeinschaft erinnert zu werden. Die eigentliche Aufgabe der Kunst liegt darin, den Bürgerinnen und Bürger diese totale „In-Dienst-Nahme" 42 ihrer Person attraktiv erscheinen zu lassen. Die Selbstinszenierung des Dritten Reichs unter Einbeziehung aller Künste erinnert stark an Überwältigungsstrategien der synthetischen Kunst: Die Mittel des totalitären Staats erschöpfen sich nicht in Indoktrination und Gewaltherrschaft. Die besondere Überzeugungskraft der ästhetisierten Politik liegt darin, dass sie dem Individuum ein ideales Ziel offenbart - die aktive Zugehörigkeit zum mythisch verklärten NS-Staat - , eine virtuelle Heimat - die der Volksgemeinschaft - zu einer vermeintlich erfahrbaren macht und die Richtigkeit dieses Ansatzes behauptet, indem sie ihn in überwältigender Schönheit präsentiert. Demzufolge ist das Dritte Reich - wie andere totalitäre Staaten auch - oft als „Gesamtkunstwerk" bezeichnet worden, wobei Hitlers leidenschaftliche WagnerVerehrung allenfalls eine Spur weist und in dem Zusammenhang nicht überbewertet werden sollte. Dass Wagners Musik auch noch in den Trümmern Deutschlands gespielt wurde oder dass Hitler Ehrengast in Bayreuth war und von Wagners Schwiegertochter Winifred umworben wurde, sagt noch nichts darüber aus, ob eine Auseinandersetzung mit Wagners Kunsttheorie stattfand. Der Begriff des „Gesamtkunstwerks" wurde im Dritten Reich kaum diskutiert. 43 Norbert Hopster distanziert sich daher von den Versuchen, die Ästhetisierungstendenzen des Faschismus mit der Metapher „Gesamtkunstwerk" zu umschreiben. Hopster sieht die „ästhetische Zurichtung des einzelnen als Glied eines Ganzen" 44 als Komplettierung des ganzheitlichen Zugriffs, den der NS-Staat auf den Bürger ausübt, und zu dem nicht nur Kunst, sondern auch Wissenschaft, Politik und Erziehung gehören. Die Ästhetisierung des öffentlichen und privaten Lebens nimmt den Menschen allerdings die letzte Fluchtmöglichkeit. Inszeniert werde, so Hopster, daher kein Gesamtkunstwerk, sondern eine „Gesamt-Realität". 45 Dem ist zuzustimmen, zumal die andere Seite des „schönen Scheins" das System der Unterdrückung ist, welches von Teilen der Bevölkerung als brutale Realität erfahren wird. Andererseits fuhrt gerade die totale Ästhetisierung des Lebens dazu, dass Kunst und Wirk-
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42 43 44 45
Günther, Erzwungene Harmonie, S. 265. Allerdings scheinen die Machthaber zu ahnen, dass weder ihr Staat noch ihre Gebäude die Zeiten überdauern werden. Bei der Planung der Architektur spielen daher Überlegungen eine Rolle, die Repräsentationsbauten so zu konstruieren, dass sie in 1000 Jahren ähnlich prachtvolle Ruinen abgeben werden wie die Überreste der griechischen Baukunst. Vgl. Clair, Drittes Reich als Gesamtkunstwerk, S. 97f. Hopster, Das „ Dritte Reich S. 254. Vgl. ebd., S. 249. Ebd., S. 254. Ebd., S. 255.
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lichkeit ununterscheidbar werden. Letztlich ist es das Ziel der totalitären ästhetischen Selbstinszenierung „Gesamt-Realität" zu gestalten und herzustellen. Das Volk soll sich an dem Mythos NS-Staat nicht nur ergötzen, es soll an ihn als übergreifende Wahrheit glauben.
5.3. Symbiose faschistischer und olympischer Träume Im Bestreben der faschistischen Regierung auch , f l a c h t über die Herzen" 46 der Massen zu erlangen, markiert die Ausrichtung der Olympischen Spiele von 1936 einen Höhepunkt der Selbstinszenierung. Nach anfänglichen Bedenken wegen des vermeintlichen Pazifismus und Internationalismus der Spiele entscheidet sich Hitler, an der 1931 vom IOC getroffenen Entscheidung, Berlin als Austragungsort der Spiele von 1936 zu benennen, festzuhalten. 47 Er erhofft sich davon Propagandawirkungen im In- und Ausland. Dem deutschen Volk soll eine wieder erstarkte Nation vor Augen geführt werden, um das Selbstbewusstsein und das Vertrauen in die Stärke des neuen Staats zu festigen. Gleichzeitig ist die Präsentation eines friedliebenden Gastgeberlandes während der Dauer der Olympischen Spiele Teil der Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Ausland, die die Außenpolitik der ersten Jahre prägt. Entsprechende Maßnahmen greifen für die Dauer der Spiele, um den anderen Staaten, insbesondere deren Presse, das Bild eines harmonischen Deutschlands zu präsentieren: Die Regierung lässt antijüdische Hetzpropaganda, einschließlich des „Stürmers", entfernen, hält die Gastwirte in den Olympiaorten dazu an auch Juden zu bedienen und verbietet der SA öffentlich Kampflieder zu singen. Der Maßnahmekatalog betrifft vor allem die verschiedenen Formen journalistischer Berichterstattung. Schlechte Nachrichten wie die Ausbürgerung Thomas Manns dürfen nicht veröffentlicht werden, ausländische Mannschaften sollen nicht als „Exoten" bezeichnet werden und dem Rundfunk wird aufgetragen, Unterhaltung statt politischer Propaganda zu senden. Umfangreiche Kontrollen sichern den Erfolg der Maßnahmen. Das Olympische Dorf ist weitgehend abgeschirmt und ausländische Journalistinnen und Journalisten werden mit Ausflügen, Studienreisen und ähnlichen Aktionen davon abgehalten auf eigene Faust zu recherchieren. Ihnen wird das gezeigt, was sie sehen sollen.48 Auch das IOC ändert seinen Beschluss von 1931 nicht, obwohl die aggressive Einstellung der deutschen Politik ab 1933 schon früh zu erkennen ist. Rigoros geht die Regierung gegen unerwünschte Gruppierungen im eigenen Land vor. Davon betroffen sind auch konfessionelle, jüdische oder Arbeiter-Sportverbände, die im Zuge der Gleichschaltung systematisch aufgelöst werden 49 Obwohl Stützpfeiler der 44 47 48
49
Ein Ausspruch Goebbels. Zitiert nach Alkemeyer, Gewalt und Opfer, S. 44. Vgl. Teichler, Sportpolitik im Dritten Reich, S. 49. Der Versuch, ein freundliches Bild Deutschlands zu zeichnen, fxihrt allerdings nicht zu einer vorübergehenden Entspannung der innenpolitischen Situation. Gerade im Sommer 1936 füllen sich die KZs, weil Obdachlose, Sinti und Roma sowie Homosexuelle verhaftet werden, die angeblich das Stadtbild stören. Vgl. ebd., S. 165-169. Vgl. ebd., S. 55-57.
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nationalen Sportbewegung zerschlagen werden, verschließt das IOC beide Augen gegenüber den Absichten und Praktiken des Nationalsozialismus. Entscheidend dazu beigetragen haben neben dem Versprechen Deutschlands, mit hohen finanziellen Zuwendungen des Staates die Spiele perfekt zu organisieren,50 auch gewisse ideologische Gemeinsamkeiten zwischen Mitgliedern des IOC und dem Hitler-Regime, vor allem in Bezug auf antisemitische und noch mehr antibolschewistische Einstellungen. Die ambivalente Haltung des IOC wird deutlich anhand der Reaktionen auf den Beschluss der deutschen Regierung, keine Juden in die eigene Olympiamannschaft aufnehmen zu wollen. Zunächst zeigt sich IOC-Präsident Henri de Baillet-Latour eher uninteressiert und verkündet, sich in innerdeutsche Angelegenheiten nicht einmischen zu wollen. Auf Druck des Auslandes führt er dann Unterredungen mit den Organisatoren der Spiele und dem Reichsinnenministerium, worauf sich die deutsche Regierung bereit erklärt, alle olympischen Vorschriften, einschließlich der Teilnahme deutscher Juden, einzuhalten. Bei den Spielen starten dann Rudi Ball und Helene Mayer für das deutsche Olympiateam, die öffentlich als Juden vorgestellt werden. Tatsächlich sind beide eher ,Alibijuden", 51 da sie zwar einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter haben und daher weder nach eigenem Verständnis, noch nach den Regeln der jüdischen Religion und auch nicht nach den Bestimmungen der Nürnberger Rassengesetze Juden sind. Dagegen wird die echte Jüdin, Gretel Bergmann, Deutsche Rekordhalterin im Hochsprung, unter fadenscheinigen Gründen wegen mangelnder Qualifikationskriterien von der Olympiateilnahme ausgeschlossen. Den Vorschlag, ,Alibijuden" einzusetzen, soll ausgerechnet IOCPräsident Baillet-Latour unterbreitet haben.52 Die Allianz zwischen dem internationalen Olympismus und dem deutschen Faschismus gründet jedoch nur zu einem geringen Teil auf den Übereinstimmungen in politischen Fragen. Tiefer gehende Gemeinsamkeiten finden sich auf der Ebene der Ästhetik. Wie Thomas Alkemeyer erklärt, hat der Nationalsozialismus „über Symbole und Rituale eine innere Verbindung mit dem Olympismus"53 herstellen können. Mühelos gelingt es den Verantwortlichen der Spiele von Berlin die Synthese herbeizuführen, denn die Symbolik des Dritten Reichs ist der der Olympischen Spiele teilweise zum Verwechseln ähnlich. Beide Bewegungen setzen beispielsweise Feuer als kultische Zeichen oder Fahnen als Repräsentanten einer höheren Idee ein. Besonders deutlich wird die Nähe beim olympischen bzw. faschistischen Gruß, die sich nur darin unterscheiden, ob der Arm seitlich oder nach vome vom Körper weggestreckt wird. So kommt es zum Missverständnis, als Frankreichs Olympiamannschaft während der Eröffnungsfeier ins Stadion einmarschiert. Die Franzosen heben den Arm, um olympisch zu grüßen. Das Publikum interpretiert diese Geste jedoch
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Hitler beschließt 1933, den Etat der Spiele um das Achtzehnfache zu erhöhen. Statt den vorgesehenen 5,5 Millionen Reichsmark, sollen nun 100 Millionen Reichsmark bereitgestellt werden. Damit werden insbesondere die Kosten für die gigantischen Bauvorhaben gedeckt. Vgl. Wildmann, Begehrte Körper, S. 19. Teichler, Sportpolitik im Dritten Reich, S. 88. Vgl. ebd., S. 88f. Alkemeyer, Gewalt und Opfer, S. 44.
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als deutschen Gruß und jubelt den französischen Sportlerinnen und Sportlern wegen dieser vermeintlichen Höflichkeit gegenüber dem Gastgeberland zu.54 Der olympische Kult schafft dem Dritten Reich die „heiligen Räume", die es braucht, um sich selbst zu überhöhen. Der heiligste und wichtigste Raum ist das Olympiastadion, das mit seiner für damalige Verhältnisse modernen Architektur beeindruckt. Hitlers Aufmerksamkeit gilt stets mehr der Kunst, insbesondere der Architektur, als dem Sport, dem er abseits von Autorennen und seinem Dienst für die Politik nichts abgewinnt. 55 So verwundert es nicht, dass er sich für die Planung der Spiele erst interessiert, als es darum geht die Olympiabauten zu entwerfen. Die Architektonik des Stadions ist darauf ausgerichtet, Geschlossenheit zu vermitteln. Nur das Marathontor durchbricht die ovale Form. Als Ort gehobener Festkultur vermittelt das Stadion bei aller Monumentalität den Eindruck von Würde und lädt die Menschen zur Besinnung ein: Die Autorität des Stadions läßt alles zum Theater werden, das seinerseits keine andere Form annehmen kann als die des Dramas, das die Lust der Zuschauer hervorruft, darin zu verschmelzen. [...] Das Weite, das Geordnete, die Steinmassen, der tiefe Einschnitt des Marathontores mit der feierlichen Treppe, dann weit hinten jenseits des Maifeldes, der Glockentunn; alles stellt eine Weihe her, unterdrückt das Alltägliche und befiehlt dem Besucher eine Sammlung seiner Gefühle.56 Die wuchtigen Steinmassen müssen mit Menschen gefüllt werden, damit sie ihren Sinn erfüllen. Das olympische Fest mit der Eröffnungsfeier und den Leichtathletikwettbewerben bietet dazu den angemessenen Rahmen. Während der Spiele strömen jeden Tag Hunderttausend ins Stadion und ordnen sich diszipliniert in Reihen. Stehen muss keiner, da auf Stehplätzen die Menschenmenge ungeordnet wirkt und die Form des Gesamtbilds beeinflusst. Auch die Zahlen bekommen eine eigene Symbolik. Würde man alle Sitze des Stadions aneinanderreihen, so erhielte man eine Länge von ungefähr 42 km, der Strecke eines Marathonlaufs. 57 Einen Theatereffekt ermöglicht die Konzeption der Anlage bei den Auftritten Hitlers. Er betritt das Stadion durch einen unterirdischen Gang und taucht urplötzlich in der Führerloge auf, zwar abgehoben, aber dennoch symbolisch mitten unter seinem Volk - „ein als Volksgenosse verkleideter deus ex machina ",58 Die Anlage rund um das Olympiastadion auf dem ehemaligen Reichssportfeld ist ein Ensemble von Bauten, Plätzen und großen Verbindungsachsen, das dem nationalsozialistischen Bedürfnis nach Massenaufmärschen und -Choreographien gerecht wird und zugleich voll von sprechender Symbolik ist. Markant ist die Ausrichtung der Gesamtkonzeption auf den „Führerturm" als Zeichen der Macht. In dessen Sockel befindet sich die Langemarckhalle. Sie stellt eine Gedenkstätte fur die Toten des Ersten Weltkriegs dar, die hier nachträglich gefeiert und verehrt werden. Das
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Vgl. Eichberg, Massenspiele, S. 149. Vgl. Ulrich Popplow: Adolf Hitler - der Nichtsportier und der Sport. In: Heinz Nattkämper (Hg.): Sportwissenschaft im Aufriß. Saarbrücken 1974, S. 39-55. Gebauer/Wulf, Berliner Olympiade 1936, S. 248. Vgl. dazu eine Beschreibung des Berliner Olympiastadions auf: http://www.stadionweltstadien.de. Gebauer/Wulf, Berliner Olympiade 1936, S. 248.
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Totenmal heißt „templon", so dass ein Bezug zum Opferkult der antiken Spiele hergestellt wird.59 Bedeutung hat es für das NS-Regime vor allem als Symbol, um die Bevölkerung zu einer heroischen Lebenseinstellung zu verpflichten, die Opfer im Kampf für das Vaterland akzeptiert.60 Schon Coubertin deutete die sportliche Tat als „Einsatz für das Vaterland".61 Im nationalsozialistischen Kontext wird der Einsatz zum höchstmöglichen: zum Opfertod. So besetzen die nationalsozialistischen Machthaber die Symbolik und die Idee der Spiele mit ihren eigenen Inhalten, ohne dabei die olympischen Aussagen zu zerstören. Es finden nur Verschiebungen statt: Der olympische Heroenmythos wird zum Führerkult, der Elitismus Coubertins zum Rassismus, die Wiedergebuitsidee Olympias zu einer nationalsozialistischen Erlöserreligion, die Dramatik des Wettkampfes zur Tragik, das Sportfest zum Weihefest, aus Zeus wird Hitler. [...] Es gibt im Stadion kaum ein Zeichen, das nicht zweideutig wäre; die Bewegungen der Athleten sind davon nicht ausgenommen: Die friedlichen Kämpfe, zu denen sie gerufen worden sind, machen später dem wirklichen Kampf Platz.62
Für die nationalsozialistische Auslegung der olympischen Botschaft gibt das von Carl Diem organisierte Festspiel Olympische Jugend ein sprechendes Beispiel. Es wird am Eröffnungsabend der Spiele aufgeführt und stimmt auf die olympischen Wochen ein. Unter Einbezug von namhaften Künstlerinnen und Künstlern aus der Tanz- und Gymnastikbewegung wie Mary Wigman werden hier in chorischen, massenhaften Bewegungsspielen archaische Bilder vorgeführt. Die „rhythmisch scharf akzentuierte Musik"63 Carl Orffs und Werner Egks begleitet die Darbietungen, die den MenschheitsfrUhling von der Kindheit über die Jugend bis zur Aufopferung des jungen Erwachsenen im Kampf beschreiben. Im sportlichen Zweikampf finden zwei Protagonisten den Tod. Die agonale Struktur des Sports wird nicht benutzt, um Gewalt zu kanalisieren, sondern um sie zu verherrlichen. Dass die „Apotheose des Todes"64 von den Klängen des Liedes an die Freude begleitet wird, klingt aus heutiger Sicht wie blanker Zynismus, war den Verantwortlichen des NSRegimes aber blutiger Ernst. Symbolische Gewalt, die in reale umschlägt: Darin liegt nach Thomas Alkemeyer das Spezifikum der Spiele von Berlin. Die Schönheit der Inszenierungen war mit Tod und Krieg im Bunde.65
Das Hitler-Regime profitiert in seiner Selbstdarstellung von der Symbolik der Olympischen Spiele, und es profitiert vom Charakter des Sports, der Massen zu versammeln und zu begeistern vermag. Im Sport wird die emotionale Bindung beson-
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Dieser Bezug ist allerdings falsch, denn die antiken Spiele kannten keine Selbstopfer, sondern nur Tieropfer. Vgl. Walter Buikert: Das Opferritual in Olympia. In: Gebauer, Utopie der Moderne, S. 27-38. Vgl. Alkemeyer, Gewalt und Opfer, S. 49. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 10. Gebauer/Wulf, Spiele der Gewalt. Bildessay, S. 19. Alkemeyer, Gewalt und Opfer, S. 54. Der gesamte Abschnitt über das Festspiel Olympische Jugend folgt den entsprechenden Ausführungen Alkemeyers. Vgl. ebd., S. 54-57. Vgl. ebd., S. 56. Ebd., S. 71.
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ders gestärkt, denn im „Unterschied zum Publikum bürgerlicher Theater-Tempel fiebert das Sportpublikum mit seinen Idolen mit". 66 Die Anteilnahme der Masse, manchmal bis hin zu einer „libidinösen Beziehung" 67 zum Sporthelden gesteigert, ist Teil eines Gemeinschaftskults, der auf nationalen Gefühlen basiert. In der Erhebung der Nation zur Religion des 20. Jahrhunderts wissen sich die nationalsozialistischen Machthaber einig mit Coubertin und sehen Sport als ein Mittel, die Volksgemeinschaft zu stärken. Ausdruck des inneren Zusammenhalts der Nation sind die zahlreichen „Ornamente der Masse" 68 : die ganz in Weiß einmarschierende Olympiamannschaft Deutschlands, das streng geordnete und dennoch begeisterte Publikum, die kollektiven Gymnastikdarbietungen auf dem Maifeld, der Aufmarsch zehntausender Jugendlicher der Hitler-Jugend und des Bundes Deutscher Mädel im Berliner Lustgarten beim Empfang des Olympischen Feuers, die gewaltigen Menschenmengen, die sich unter Hakenkreuz- und Olympiaflaggen durch Berlins Straßen drängen. In der Forschung zum Nationalsozialismus wird immer wieder die Frage aufgeworfen, inwiefern die deutsche Bevölkerung bereit gewesen ist, das Regime zu unterstützen. 69 Die Bilder der Massen, in denen die Subjekte ihrer eigenen Entrechtung gewissermaßen Form verleihen, scheinen die Bereitschaft des Volkes sich unterzuordnen und eine breite Faszination für die Person des Führers und die Ideale des NS-Staates zu bestätigen. Allerdings sind dies eben auch Bilder, die von der Führung der NSDAP so inszeniert worden sind. Ob sich große Teile des deutschen Volkes im Dritten Reich faktisch und emotional tatsächlich mit den Absichten der Regierung identifizieren, kann hier nicht beantwortet werden. Deutlich wird jedoch an der Art der ästhetischen Selbstdarstellung, dass der Nationalsozialismus die bedingungslose Unterordnung der Menschen unter die Ziele des Staates nicht nur über repressive Gewalt verwirklichen will, sondern auch, indem er den Individuen positive Gefühle vermittelt, die die Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft attraktiv erscheinen lassen. Olympische Spiele mit ihrem Wertekanon verleihen einen zusätzlichen Zauber. Im Zeichen der Synthese von faschistischen und olympischen Sehnsüchten beruht die Faszination der Bewegung daher auf einem doppelten Versprechen fur das Individuum: der Partizipation an nationalsozialistischer Macht und Stärke und der Partizipation an olympischer Größe und Reinheit. Olympia verleiht der Selbstinszenierung des NS-Regimes etwas Überzeitliches und Übermenschliches. Die olympische Idee schafft einen mythischen Rahmen allgemein menschlicher Werte, die der Nationalsozialismus mit seinen Inhalten konkret besetzt. Allerdings zieht nicht nur das Hitler-Regime Gewinn aus der Ausrichtung der Olympischen Spiele, sondern auch die Olympische Bewegung. Für Gründervater 66 67 68 69
Ebd., Gewalt und Opfer, S. 69. Ebd. So der Titel des berühmten Kracauer-Buches: Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main 1963. Eine heftige Diskussion zu diesem Thema haben vor einigen Jahren die Thesen Goldhagens über „Hitlers willige Helfer" hervorgerufen. Vgl. dazu. Wildmann, Begehrte Körper, S. 14f.
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Coubertin bedeuten die Spiele von Berlin die Erfüllung seiner ästhetischen Träume. Insbesondere die Idee des Fackellaufs und das Massenschauspiel Olympische Jugend am ersten Abend der Spiele - beides Erfindungen seines „genialen und begeisterungsfähigen"70 Freundes Carl Diem - haben es ihm angetan. Die ästhetische Gewalt der Bilder, der Musik und der Massen drückt sich im Abschlussbild des Festspiels aus: [...] der letzte Satz der Neunten Symphonie und Schillers Lied der Freude rufen noch einmal sämtliche Mitwirkenden in den Raum. Hoch in den Himmel ragen die Strahlen riesiger Scheinwerfer und wölben sich wie ein Lichtdom Uber der Kampfbahn. Leuchtfeuer umsäumen den Rand des Stadions, der mit Tausenden von Fahnenschwingern erfüllt ist, und der Chor singt das „Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt! Freude schöner Götterfunken!" 71
Die Organisatoren der Spiele von 1936 haben Vorgaben für die Ausrichter aller künftigen Spiele geschaffen. Beethovens Lied, von Coubertin sehr geschätzt, wird bei zahlreichen der Nachkriegsolympiaden wieder aufgeführt werden, und der Fackellauf gehört seit Berlin zum obligatorischen Bestandteil der Spiele. Der Fackellauf ist ein eigenes System kultischer Zeichen und Bedeutungen. Am Olymp wird das Feuer mit Hilfe eines Brennspiegels durch die Hitze der Sonnenstrahlen entzündet. Damit wird die Verbindung zu den Kräften der Natur thematisiert und das moderne Olympia an seine antiken, ja rituellen Ursprünge zurückgeführt. Die Fackel ist nicht nur für Olympia, sondern auch für den Nationalsozialismus ein besonderes Symbol. Sie gilt als „antiintellektuelles Emblem", verkörpert „die kosmologischen Akte Leben-Spenden und Leben-Emeuern"72 und sakralisiert die zahlreichen Weihen, Feiern und nächtlichen Aufmärsche im Dritten Reich. Den Transport der Flamme von Olympia nach Berlin als Staffellauf zu inszenieren, hat mehrere Gründe: Neben dem profanen Ziel, schon im Vorfeld der Spiele möglichst viele für das Olympische Fest zu begeistern, wird auch der Ursprung des sportlichen Laufens thematisiert. Läufer sind Boten, die Mitteilungen oder Gegenstände überbringen, so wie der legendäre Läufer von Marathon. Sie geben in Gestalt der Fackel die olympische Botschaft weiter. Symbolisch reichen sie sie von Hand zu Hand, so dass der Staffellauf auch Ausdruck dafür ist, wie aus individuellen Leistungen eine große Tat wird, wenn man sie gemeinschaftlich zusammenfügt. Somit stehen die Fackelträger für das Gemeinschaftsideal des Olympismus. Der Lauf führt durch eine Reihe von Ländern und unterstreicht damit den internationalen Charakter der Spiele. Schließlich erreicht die Flamme mit dem Austragungsort Berlin ihr eigentliches Ziel. Mit der Inszenierung des Fackellaufs zeigte sich Deutschland selbst als Hüter und Bewahrer der Olympischen Idee, als Vollender einer Bewegung, die vor tausenden von Jahren am Fuße des Olymps begann. 70 71
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Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 156. Friedrich Richter: XI. Olympiade Berlin 1936. Amtlicher Bericht. Berlin, Bd. 1, S. 579. Zitiert nach Eichberg, Massenspiele, S. 145. Auch Assoziationen zur militärischen Gewalt sind in diesem Abschlussbild enthalten: Der „Lichtdom" Uber den Stadion wird mit Hilfe von Flakscheinwerfern erzeugt. Vgl. Alkemeyer, Gewalt und Opfer, S. 56. Wildmann, Begehrte Körper, S. 48.
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Eine ähnliche Botschaft übermittelte Spiridion Louys, der erste Olympiasieger des Marathonwettbewerbs. Louys, jener „wundervolle Hirte im volkstümlichen Schäfergewand", 73 der sich inmitten von Heiligenbildern betend auf seinen Sieg vorbereitet haben soll, überreichte Hitler während der Eröffnungsfeier einen Olivenzweig aus dem heiligen Hain von Olympia. Der Hirte machte den Führer zum Nachfahren der antiken Halbgötter. So schließt sich der Sagenkreis aus antiken griechischen, neuzeitlich olympischen, christlichen und nationalsozialistischen Mythen.
5.4. Nationalsozialistischer Körperkult Nicht nur die Ähnlichkeit der Symbole, die Suche nach mythischen Inhalten und die Erhöhung der Nation zu einer Religion rücken den Olympismus der ersten vierzig Jahre in eine „gefährliche Nähe zum Faschismus",74 sondern vor allem der beiderseitig betriebene Körperkult. Coubertins religio athletae zielte auf eine Verbesserung der körperlichen Konstitution als Mittel gegen die Dekadenz. Schönheit und Gesundheit sind die zentralen Merkmale seines Körperideals. Erziehung zu Selbstüberwindung, Disziplin und Risikobereitschaft, mit dem Ziel, sich selbst zu vervollkommnen, lautet das Programm seiner den Männern vorbehaltenen Sportpädagogik. Auch im Dritten Reich entwickelt sich ein enormes Interesse am menschlichen Körper. Das ist im Sinne der Ideologie auch konsequent, denn eines der bestimmenden Merkmale des Nationalsozialismus ist der Rassismus. Rassistische Theorien versuchen Hierarchien zwischen Bevölkerungsgruppen auf biologisch-anthropologische Ursachen zurückzuführen und so zu legitimieren. Visuell lassen sich die Differenzen am Körper ablesen. Die qualitative Bewertung dieser Unterschiede und Merkmale erfolgt mittels ästhetischer Kategorien [...]. Ästhetische Urteile werden mit moralischen und politischen Aussagen kombiniert: krumme Beine oder platte Füße bedeuten Ungutes; Freund und Feind werden sichtbar.75
In der nationalsozialistischen Rassentheorie sind es Reinheit und Gesundheit, die die Überlegenheit des Ariers gegenüber dem Juden ausmachen. Wie auch schon in Coubertins Gesellschaftsbild wird der Begriff der Gesundheit auf Volk und Nation übertragen. Die Geschichte Deutschlands wird als Geschichte eines Verfalls gelesen, die erst durch die Stärke des Dritten Reichs wieder aufgefangen wird. Um die Nation gesunden zu lassen, bedarf es einer Volksgesundheit, die nur dadurch erreicht werden kann, dass jeder einzelne gesund ist.76 In diesem Konstrukt ist Sport ein Mittel des Staates, um kontrollierenden Zugriff auf die Körper des Individuums zu haben. Vor Machtantritt hatte die NSDAP sport-
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Coubertin, Olympische Erinnerungen, S. 48. Alex Natan: Sport und Gesellschaft oder die Erbsünden des Sports. In: Ders.: Sport kritisch. Bern, Stuttgart 1972, S. 19. Wildmann, Begehrte Körper, S . l l . Vgl. ebd., S. 18. In diesem Sinne sind auch die Euthanisieprogramme zu verstehen: als „Säuberung" des Volkskörpers von „schadhaften Elementen".
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liehe Ertüchtigungen vor allem als Ersatz für den Wehrdienst gefordert, dabei durchaus übereinstimmend mit den größten bürgerlichen Sportverbänden in der Weimarer Republik. 77 Auch 1936 hat die Wehrhaftigkeit des Sportlerkörpers in den Theorien noch oberste Priorität.78 Alfred Baeumler, der führende Sporttheoretiker des Dritten Reichs, sieht den Sportler als politischen Soldaten, dessen Daseinsberechtigung nur im Hinblick auf das Funktionieren des „völkischen Gesamtleibes" gegeben sei. 79 Das Sportlerindividuum hat sich unter die Idee unterzuordnen und gegebenenfalls für die Gemeinschaft aufzuopfern, ein Anspruch, den auch der Text des Olympia-Gelöbnisses von 1934 deutlicht macht - ein von den Mitgliedern des damals provisorischen deutschen Olympiateams geleisteter Eid, der mit großem propagandistischem Aufwand übertragen wurde. Dort heißt es: Meine Lebenshaltung wird allen mir bekannten Anforderungen an einen deutschen Olympia-Kämpfer gerecht werden. Für die Zeit des Trainings entsage ich allen Lebensgenüssen - nur das eine Ziel im Auge, meinen Willen und meinen Körper zu schulen und zu härten, mich ganz hinzugeben für das große Ziel, würdig zu sein, fur mein Vaterland zu kämpfen.«0 Eingeleitet wird dieser Eid durch den Spruch: Fahne und Glocke, rausche und läute! Reißet die Herzen alle zur Beute. Denn mehr ist dies als ein markiges Spiel. Deutschland, nur Deutschland ist das Ziel!81 Das Gelöbnis beinhaltet das Versprechen, Opfer zu bringen, hart zu sein gegen sich selbst, heroisch die eigenen Triebe zu unterdrücken, um Deutschland zu dienen. Es sind dieselben Themen, die auch im Verlauf der Spiele von Berlin, insbesondere im Festspiel Olympische Jugend, auftauchen und das Verständnis der Machthaber von
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Die bürgerlichen Sportverbände der Weimarer Republik weisen auch in zahlreichen anderen Punkten eine ideologische Nähe zur nationalsozialistischen Theorie auf. Nur der Deutsche Tumerbund gibt sich zwar militant antisemitisch, aber Glorifizierung von Militär und Staat, Sport als Gegenstück zum intellektuellen Bürgertum, Ablehnung marxistischer Ideen, Führerkult, Gemeinschaftsideale, heroischer Vitalismus und Opferbereitschaft finden sich in beinahe allen Sportvereinen der Zwanziger und Dreißiger Jahre. Insofern ist dem nationalsozialistischen Sportverständnis das Feld schon bereitet, als Hitler an die Macht kommt. Vgl. Teichler, Sportpolitik im Dritten Reich, S. 43. Daraus erklärt sich die ablehnende Haltung gegenüber dem Frauensport. Der Frauensport wird erst offiziell gefördert, als die Sportfunktionäre erkennen, dass auch die Erfolge deutscher Frauen zum Prestigegewinn des Dritten Reichs beitragen können. Die nationalsozialistischen Sporttheorien beziehen sich jedoch ausschließlich auf den Mann. Das soll nicht verschleiern, dass einige Frauen sich durch den Sport Freiheiten erkämpfen können, die ihnen das offizielle Frauenbild des Dritten Reichs nicht zugesteht. Vgl. Klaus Wolbert: Die Nackten und die Toten des Dritten Reiches. Folgen einer politischen Geschichte des Körpers in der Plastik des deutschen Faschismus. Glessen 1982, S. 48. Vgl. Wildmann, Begehrte Körper, S. 121. Zitiert nach Wildmann, Begehrte Körper, S. 122. Die Entsagung aller Lebensgenüsse schlägt sich im Verhaltenskodex nieder, den die Sportlerinnen und Sportler bei Wettkämpfen im Ausland zu befolgen haben. Rauchen und Trinken ist ebenso tabu, wie es den Frauen untersagt wird, sich zu schminken. Vgl. Teichler, Sportpolitik im Dritten Reich, S. 112. Zitiert nach Wildmann, Begehrte Körper, S. 120.
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der Funktion des Sports als Trainingsgelände für den Einsatz auf dem Schlachtfeld illustrieren. Im Text des Gelöbnisses drückt sich daher vor allem das männliche Körperideal des Nationalsozialismus aus. Dieses ist bestimmt von einer Haltung des „SichZusammennehmens" 82 und definiert sich über Attribute wie „stählern-funktional, unverwundbar-arisch, zu allem entschlossen-kämpferisch". 83 Ziel der Anstrengungen des Sportlers ist gleichzeitig sein Lohn: die Zugehörigkeit zu einer schönen und gesunden Nation. In der Wortwahl mit Coubertin übereinstimmend, streben die Sporttheoretiker des Dritten Reichs nach einer Vereinigung von Körper und „Geist", wobei der ganzheitliche Zustand des Menschen Bedingung dafür ist, auch der Zersplitterung der Nation entgegenzuwirken. „Geist" meint allerdings in diesem Jargon etwas gänzlich anderes als „Intellekt", nämlich Zuschreibungen wie Charakter, Wille oder schlichtweg „deutsch". Hatte sich die deutsche Politik und Kultur bislang damit begnügt, führend auf dem Gebiet des Intellekts zu sein, soll sie nun auch ihre körperliche Überlegenheit beweisen. 84 Der sportliche Vergleich mit anderen Ländern, insbesondere bei den Olympischen Spielen von 1936, wird somit zum Prüfstein für die Nation. Die Dominanz der arischen Rasse soll sich in sportlichen Erfolgen niederschlagen und vor allem der Jugend ein Überlegenheitsgefühl vermitteln. Massenpsychologisch werden nationale Siege und Triumphe höher eingeschätzt als die politischen Botschaften, die sich an den Sport knüpfen lassen, so dass im Vorfeld der Spiele von Berlin mehr Wert auf den Leistungssport gelegt wird als auf die militärische Ausbildung im Sport. Ein Großteil des Olympiaetats fließt daher in umfangreiche Förderprogramme für deutsche Athletinnen und Athleten. 85 Das bedeutet nicht, dass die politischen Implikationen schwinden, denn der Erfolg der Volksgemeinschaft, auch auf der Ebene des Sports, bedarf der Tüchtigkeit der arischen Bevölkerung. Zur Volksgemeinschaft kann nur der Arier gehören, aber auch dieser muss sich die Zugehörigkeit erst verdienen, indem er Opfer bringt, hart
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Siegfried Kaltenecker: Weil aber die Vergessenste Fremde unser Körper ist. Über MännerKörper-Repräsentationen und Faschismus. In: Marie-Luise Angerer (Hg.): The Body of Gender. Geschlechter und Identitäten. Wien 1995, S. 91f. Kaltenecker, Vergessenste Fremde, S. 100. Vgl. Wildmann, Begehrte Körper, S. 120. Wildmann bezieht sich auf einen Text von Goebbels, Innenminister Frick und Reichssportführer von Tschammer und Osten, der 1934 veröffentlicht wird. Vgl. Hajo Bemett: Nationalsozialistische Leibeserziehung. Eine Dokumentation ihrer Theorie und Organisation. Schorndorf 1966, S. 201f. Vgl. Teichler, Sportpolitik im Dritten Reich, S. 100. Das Konzept der sporttreibenden Staatsamateure trägt in Berlin seine Früchte. Mit 33 Gold-, 26 Silber- und 30 Bronzemedaillen holt die deutsche Mannschaft mit Abstand die meisten Medaillen vor den USA, die 24 erste, 20 zweite und 12 dritte Plätze belegen. Vgl. Peter Arnold und HansjUrgen Jendral: Olympische Spiele. Geschichte und Höhepunkte von 1896 bis heute. München 1983, S. 71. Allerdings ist dank der Unberechenbarkeit des Sports ein Erfolg nicht fest einzuplanen, was Hitler und Goebbels verärgert. Immer wieder muss das deutsche Regime überraschende Niederlagen auf Sportplätzen einstecken. Gerade im Volkssport Fußball gelingt es nicht, den Großmachtsanspruch zu behaupten. Die deutsche Mannschaft scheitert beim OlympiaTurnier in der zweiten Runde an Norwegen vor den Augen Hitlers. Vgl. Cooper C. Graham: Leni Riefenstahl and Olympia. Metuchen, New Jersey, London 1986, S. 98.
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gegen sich selbst ist und wiliensstark. Dank des Sports lassen sich diese inneren Werte an seinem Äußeren ablesen. Die Gestalt des Körpers gibt Aufschluss darüber, ob sein Besitzer seine Pflicht als Arier erfüllt, ob er als gesundes Mitglied der Bevölkerung einen Beitrag zur Volksgesundheit leisten kann. Sport erfüllt somit zwei Aufgaben im Bereich der Körperdisziplinierung: Zum einen schreibt er gesellschaftliche Normen in den Körper ein, etwa hart zu sein, zum anderen macht er die Normen überprüfbar, in dem er ihnen eine äußere Form verleiht. Die Schönheit der Körper wird zum Gradmesser der Tüchtigkeit der Individuen:86 „Unbarmherzig" zeigt der Körper „die Linientreue an".87 Verpflichtende Aufgabe für alle Sportler ist es, dem offiziellen Schönheitsideal nachzukommen, und selbst als gutes Beispiel das Schönheitsideal zu verkörpern, um die Jugend zur Nachahmung zu bewegen.88 Die Begeisterung für den Sport soll über die Schönheit der Körper geweckt werden. Wie ein schöner Körper auszusehen hat, ist allerorten zu sehen, denn es gehört zu den Auffälligkeiten des Dritten Reiches, das vorgesehene Körperideal in unterschiedlichen Medien immer wieder zu visualisieren. Es zirkulieren Postkarten mit Frauenakten, die an griechische Statuen erinnern, und es werden zahlreiche Plastiken und Statuen von Körperdarstellungen aufgestellt. Das Reichssportfeld rund um das Olympiastadion ist angefüllt mit den Sportlerfiguren von Künstlern wie Arno Breker und Joseph Thorak. Ohne ihren Kunststil gleichzusetzen, lassen sich in den Werken der offiziell anerkannten Bildhauer doch markante Parallelen feststellen, die das öffentlich propagierte Schönheitsideal kennzeichnen: Auffallend sind die glatten und haarlosen Oberflächen, eine angespannte und deutlich sichtbare Muskulatur, die Kraft und Vitalität verheißt, eine aufrechte, stolze Körperhaltung sowie ein ausdrucksloses Gesicht, welches verdeutlicht, dass die Figuren als Körper Ausdruck einer Idee sind und keine Individuen. Vorherrschend ist das Prinzip der Starre, das Selbstkontrolle verspricht und in der Lage ist, Gefahren am „Muskelpanzer" abprallen zu lassen, aber auch „die heroische Unterdrückung der Triebhaftigkeit formuliert".89 In ihrer Unpersönlichkeit bilden die Nachstellungen von Athleten den Übergang zu den Abbildungen mythischer Gestalten und elementarer Kräfte, die es in großer Zahl im deutschen Faschismus gibt.90 Das „kultisch-auratische Ambiente",91 das die Figuren ausstrahlen, schafft eine Verbindung zum Göttlichen. Dargestellt wird ein im „Überirdischen beheimatetes Heroengeschlecht".92
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Dies betrifft mehr die Männer als die Frauen. Die Tüchtigkeit der Frauen misst das Regime an ihrer Fähigkeit, gesunde Kinder zur Welt zu bringen. Daher ist im nachfolgenden Satz auch nur von Sportlern und nicht von Sportlerinnen die Rede. Wildmann, Begehrte Körper, S. 71. Auch Leni Riefenstahl möchte mit ihrem Film, der Jugend „Ansporn und Symbol" geben, „noch schöner und noch vollkommener zu werden." Vgl. Wildmann, Begehrte Körper, S. 16. Alkemeyer, Gewalt und Opfer, S. 52. Vgl. Wolbert, Die Nackten und die Toten, S. 53. Brekers Skulptur Die Partei stellt beispielsweise einen nackten Mann dar, der eine Fackel trägt. Der griechische Gott Prometheus oder der olympische Fackelträger wären vermutlich genau auf dieselbe Weise dargestellt worden. Wolbert, Die Nackten und die Toten, S. 65 Ebd., S. 55.
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Alle Plastiken stellen nackte Menschen dar. Diese Nacktheit steht im strengen Gegensatz zur sinnlichen Erotik, 93 ist stattdessen eine Reminiszenz an die Antike die Griechen gelten als die Urahnen der arischen Rasse 94 - und damit Sinnbild für die zeitlose Schönheit der Körper, für das Zusammenspiel von Nacktheit, Schönheit und Ewigkeit. Lebensreform- und FKK-Bewegungen subsumierend wird diese edle Nacktheit auch zum Symbol fur Natürlichkeit und Gesundheit. Die Plastiken sind Beispiele für den Kampf gegen die Dekadenz und gegen die Kunst der Avantgarde, den sich das Terrorregime des Dritten Reichs auf die Fahnen geschrieben hat. Gegen die .Entartungen' suirealistischer, kubistischer oder dadaistischer Kunst auf eine idealistische Abbildtheorie und klassizistische Formen zurückgreifend ist auch die faschistische Köiperästhetik stets von einer befehlsförmig organisierten Unterordnung geprägt. Deren Gewalt verschwindet im triumphalen Schein von Kämpferehre und nationalem Stolz, der die reale, individual- wie gesellschaftshistorische Krisenerfahrung entrückt und stattdessen ,neue Stimmungslagen' entwickelt.95 Die Schönheit der Körper steht der „Häßlichkeit des gewöhnlichen Lebens" 96 gegenüber und verbreitet Aufbnichstimmung. Kanalisiert wird das - auch vom Sport hervorgerufene - aktivistische Potenzial durch das Ziel nationalsozialistischer Körperpolitik: der Abwehr alles Kranken, Schwachen und Hässlichen. In diesem Kampf weiß sich, wenn auch aus aristokratischer Gesinnung, die Spitze der olympischen Bewegung mit Hitler einig.97 Im Nationalsozialismus ist der Jude das personifizierte Negativbild. Sein Körper wird von der offiziellen NS-Rhetorik bewusst pathologisiert und mit Krankheiten besetzt, wie der Propagandafilm Der ewige Jude98 verdeutlicht. Der historische Zynismus dieses Modells liegt darin, dass das Dritte Reich das propagierte körperliche Ideal nicht in der Bevölkerung umsetzen kann, wohl aber den Negativentwurf realisiert, indem es den Juden in den Ghettos Lebensbedingungen aufzwingt, die die Bewohner tatsächlich krank machen. 99 Da die leibhaftigen Körper der deutschen Bevölkerung im Dritten Reich dem irdischen verhaftet bleiben und nicht zum göttlichen tendieren, bedarf es zur Überhöhung des Ariers der Erniedrigung des Juden. 100 Nationalsozialistische Körperverehrung kann daher nicht ohne ihre dunkle Seite gedacht werden: der massiven und massenhaften Körpervernichtung in den KZs.
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Es ist nach Wolbert strikt zu trennen zwischen Nacktheit und .Ausgezogen sein". Seit der Jahrhundertwende steht Nacktheit im öffentlichen Kunstdiskurs für „Idealität, Kunstwerk und Kritikenthobenheit" und ,Ausgezogen sein" für Pornographie. Vgl. ebd., S. 36. Wolbert erkennt in manchen Frauenakten des Dritten Reichs durchaus erotische Züge, da oftmals das Ausziehen noch thematisiert werde, und sieht auch prostituierende Momente, in denen sich die Herrschaft der Männer über die Frau visualisiert. Vgl. ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 96-100. Kaltenecker, Vergessenste Fremde, S. 98. Wolbeit, Die Nackten und die Toten, S. 18. Gebauer/Wulf, Spiele der Gewalt. Bildessay, S. 24. Der ewige Jude. Fritz Hippler, s/w, 69 Min., Deutschland 1940. Vgl. Wildmann, S. 107. Vgl. Kaltenecker, Vergessenste Fremde, S. 104.
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5.5. Begehrenswerte Schönheit. Körperbilder im Berliner Olympia-Film Kaum eine Filmemacherin ist so umstritten wie Leni Riefenstahl. Die Urteile schwanken zwischen Verurteilung für ihren Beitrag zur Nazi-Propaganda und Bewunderung für ihr filmkünstlerisches und fotografisches Geschick. D i e Diskussion, ob Riefenstahls Filme Kunst seien oder eher „peinliche" Versuche das Dritte Reich zu überhöhen, 101 beherrscht noch immer die Auseinandersetzung mit der Regisseurin. Dabei ist der Schritt v o m „Genie der Kinematographie" 102 bis zur „mächtigsten Frau des deutschen Faschismus" 103 nicht unbedingt ein Widerspruch. Susan Sontag hat gezeigt, dass faschistische Sehnsüchte sehr wohl mit ästhetischen korrespondieren können und das in den vier Werken Riefenstahls, die in Zusammenarbeit mit Gremien der N S D A P entstanden sind - Sieg des Glaubens-, Triumph Tag der Freiheit
sowie Olympia,
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Der filmanalytische Teil wird sich daher nicht damit beschäftigen, ob der OlympiaFilm 105 Propaganda für das Hitler-Regime ist und w i e die Regisseurin selbst ihn intendiert haben mag, 106 sondern mit welchen filmischen Mitteln die Synthese faschistischer und olympischer (Körper-)Ideale umgesetzt wird.
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Aus einer Filmbesprechung von Wilhelm Roth im Kölner Stadt-Anzeiger vom 21.1.1966. Zitiert nach Jürgen Brüning u.a. (Hg.): Sport, Körper, Bewegung. Filmretrospektive. Internationale Sportfilmtage Berlin '93. Berlin 1993, S. 158. Ein Ausspruch Jean Cocteaus. Zitiert nach Hoffmann, Mythos Olympia, S. 153. Gisela Wysocki: Die Fröste der Freiheit. Außruchsphantasien. Frankfurt am Main 1980, S. 80. Zitiert nach Wildmann, Begehrte Körper, S. 7. Susan Sontag: Faszinierender Faschismus. In: Dies: im Zeichen des Saturn. München, Wien 1981, S. 95-124. So nenne ich im folgenden den zweiteiligen Film Riefenstahls zu den Spielen 1936. Offiziell trägt der Film folgenden Titel: Olympia. Der Film von den XI. Olympischen Spielen Berlin 1936. Teil 1: Fest der Völker, Teil 2: Fest der Schönheit, Leni Riefenstahl, s/w, Deutschland 1936-1938, 198 min. Es steht für mich außer Frage, dass der Film Riefenstahls auch durch den zeithistorischen Kontext, in dem er entstanden ist, faschistische Sichtweisen verkörpert und von der Parteiführung um Hitler und Goebbels als WerbebUd für das NS-Regime verstanden worden ist. Es liegt nahe, die Regisseurin dafür zumindest teilweise verantwortlich zu machen. Dies ist jedoch nicht Gegenstand der Arbeit, ebenso wenig wie die Frage, ob das Publikum die Filme im Sinne der Machthaber „richtig" verstanden hat. Riefenstahl selbst leugnet jeden politischen Charakter ihres Schaffens und zieht sich auf die Position zurück, sie habe nur das abgebildet, was ohnehin für alle zu sehen gewesen sei. Diese vorgebliche Naivität Uber das Filmemachen ist eine Strategie der Regisseurin, sich vom Vorwurf der nationalsozialistischen Paiteigängerschaft zu befreien. Dazu gehören auch Täuschungen über die Entstehungsgeschichte der Filme oder ihre angebliche Feindschaft zu Goebbels. Riefenstahl wird nach dem Krieg in Kitzbühel verhaftet und als führende Propagandistin des Dritten Reichs angeklagt. Sie wird mit dem Urteil: „Keine politische Betätigung zugunsten des NaziRegimes, die eine Bestrafung rechtfertigen würde" freigesprochen. Vgl. Sontag, Faszinierender Faschismus, S. 101.
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5.5.1. Die filmische Karriere Leni Riefenstahls Leni Riefenstahl wurde am 22. August 1902 geboren 107 und begann ihre künstlerische Laufbahn als Tänzerin. Wegen einer Knieverletzung musste sie nach ersten großen Erfolgen 1924 diesen Weg abbrechen und erhielt ein Engagement fur den Film. Sie übernahm eine Rolle in Arnold Fancks Der heilige Berg und spielte anschließend bis 1933 in fünf der Bergfilmen Fancks die weibliche Hauptfigur. In diesen „popig-wagnerianischen Werken" 108 wird die Natur zur Metapher für eine gleichermaßen furchterregende wie schöne Macht, die es zu bezwingen gilt. Riefenstahl, die meist das bergbesessene und unzivilisierte Mädchen verkörperte, bekam bei den Dreharbeiten Einblicke in die Filmtechnik und realisierte 1932 ihre erste eigene Regiearbeit. Das blaue Licht, ebenfalls ein mythischer Bergfilm, wurde zum Welterfolg. 109 Dank ihres Renommees und der persönlichen Bekanntschaft mit Adolf Hitler110 gelang ihr im Dritten Reich der Aufstieg zur führenden Filmkünstlerin. Sie erhielt von 1933-35 drei Auftragsarbeiten der NSDAP, zwei Filme über die Reichsparteitage und einen über die Wehrmacht. Triumph des Willens, der zweite der Parteitagsfilme, wurde mit hohem Aufwand produziert, entsprechend in der Presse angekündigt und geriet zum großen Propagandaerfolg. Für ihre Regiearbeit erhielt sie 1935 den Nationalen Filmpreis des Dritten Reichs. Damit endete ihre direkte Tätigkeit für die NSDAP, wenngleich der Olympia-Film ebenfalls von der Partei bezahlt wurde. 111 Ihr letzter Film, wieder ein Spielfilm, trägt den Titel Tiefland. Sie begann ihn 1941 und konnte ihn erst 13 Jahre später fertig stellen. Nach dem Krieg machte sie mit ihren Foto-Arbeiten Uber die afrikanischen Nuba und mit ihren Aufnahmen der Unterwasserwelt als Foto-Künstlerin auf sich aufmerksam. Ihre Stellung als herausragende Künstlerin und Propagandistin des Dritten Reiches haben die Diskussionen um ihre Person, um Schuld und Verstrickung nie abreißen lassen. Im September 2003 starb Leni Riefenstahl im Alter von 101 Jahren. 5.5.2. Entstehung, Einordnung und Zusammenfassung des Olympia-Films Seit 1912 gehört es zu den vom IOC auferlegten Pflichten jedes olympischen Gastgebers, einen Dokumentarfilm über die Spiele zu drehen. Nach dem Erfolg der
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Zur Biographie Riefenstahls vgl. Renata Berg-Pan: Leni Riefenstahl. Boston 1980; Glenn B. Infield: The Fallen Film Goddess. New York 1976. Sontag. S. 97. Riefenstahl erhielt für den Film z.B. 1932 die Goldene Medaille vom Filmfestival in Venedig. Vgl. dazu Infield, Fallen Film Goddess, S. 34. Es ist klar, dass Riefenstahl Hitler bereits 1932 kennenlernt, die Umstände und das Datum ihres ersten Treffens bleiben jedoch im Dunklen. Hitler bewundert Riefenstahls schauspielerische Fähigkeiten, die sie als Darstellerin der Junta in ihrem eigenen Regiedebiit zeigt. Ebenso soll Riefenstahl den Kontakt zu Hitler nach dessen Sportpalastrede im Februar 1932 gesucht haben. Bis in die späten Kriegsjahre hinein kommt es noch zu gelegentlichen Treffen auf privater Ebene zwischen Hitler und Riefenstahls. Dass die „Gunst des Führers" Riefenstahls Filmkaniere im Dritten Reich genutzt hat, steht außer Frage. Zur Beziehung von Riefenstahl und Hitler vgl. Infield, Fallen Film Goddess. Vgl. ebd., S. 115f.
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Reichsparteitagfilme wird 1935 Leni Riefenstahl mit dieser Aufgabe betraut."2 Obwohl der Olympia-Film nicht direkt von der N S D A P angefertigt worden ist, wird er doch von Goebbels' Ministerium bezahlt." 3 Um die Beteiligung der Partei zu verschleiern, wird eine Olympia-Film GmbH gegründet, deren Gesellschafterin Leni Riefenstahl ist." 4 Dem Film werden hohe finanzielle Zuwendungen bewilligt, und er verschlingt letztendlich Produktionskosten in Höhe von 2,75 Millionen Reichsmark." 5 Die verfügbaren Geldmittel ermöglichen die Beteiligung einer großen Crew und den Einsatz der neuesten Technik. Riefenstahl benutzt spezielle Kameras und Objektive und fordert bauliche Veränderungen in den Stadien. Gruben und Podeste sollen die Sicht auf die sportlichen Ereignisse verbessern. 45 Kameraleute fangen die Ereignisse der 16 Olympia-Tage ein, wobei je nach Bedarf auch Hand- und Unterwasserkameras sowie - entlang der Ruderstrecke - fahrbare Kameras zum Einsatz kommen. 116 Insgesamt werden 400 km Negativ aufgenommen, aus denen Riefenstahl zusammen mit der Cutterin Erna Peters in anderthalb Jahren die beiden Teile Olympia. Fest der Völker bzw. Olympia. Fest der Schönheit formt. Die Gesamtspielzeit des Schwarz-Weiß-Films beträgt am Ende 222 Minuten. Der Olympia-Film wird im Rahmen der Feierlichkeiten zu Hitlers 49. Geburtstag am 20. April 1938 uraufgeführt und findet großen Anklang im In- und Ausland." 7 Die Presse feiert den Olympia-Film als „epochales Meisterwerk", 118 der griechische Kronprinz lässt der Regisseurin einen Ölzweig aus dem heiligen Hain von Olympia überreichen. Zahlreiche Preise werden Riefenstahl fur Fest der Völker und Fest der
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Hoffmann, Mythos Olympia, S. 96. Ob der Auftrag direkt von der Parteispitze, von Hitler selbst oder vom Organisationskomitee der Spiele kam, ist ungeklärt. Vgl. Felix Moeller: Die Einzige von all den Stars, die uns versteht. In: Filmmuseum Potsdam, Leni Riefenstahl, S. 153. 114 Vgl. Infield, Fallen Film Goddess, S. 114-118. Die Regisseurin gibt daher in Nachkriegsinterviews stets an, sie habe den Film unabhänig von der Parteiführung und im Auftrag des IOC gedreht. Das ist schlicht falsch, denn nachdem das IOC einmal die Spiele an einen Austragungsort vergeben hat, sind die einzelnen organisatorischen Details, zu denen auch die Produktion des Films gehört, Aufgabe des jeweiligen Organisationskomitees der Spiele. Möglich ist daher, dass Carl Diem Riefenstahl als Regisseurin vorgeschlagen hat. Dem Berliner OK gehören, da 1931 gegründet, zwar keine Parteimitglieder an, aber es untersteht doch dem direkten Einfluss von Reichssportfuhrer Hans von Tschammer und Osten und Joseph Goebbels. In einem Begleittext Riefenstahls zur Uraufführung des Films ist auch die Rede davon, dass sie von Reichsminister Goebbels den Auftrag für die Olympiafilme bekommen habe. Vgl. Brüning, Filmretrospektive, S. 153. Zur Vorgeschichte des OlympiaFilms vgl. auch Graham, Leni Riefenstahl and Olympia, S. 1-26. 115 Vgl. Hoffmann, Mythos Olympia, S. 132. 116 Vgl. Lenssen, Leben und Werk, S. 70. 117 Zur Premiere kommen die gesamte Parteispitze, kulturelle Prominenz, Botschafter aus zahlreichen Ländern sowie Vertreter des Militärs. Die Leibstandarte Hitlers spielt die Olympische Fanfare, während ein Feuer auf der Theaterbühne lodert, und die Berliner Philharmoniker geben ein Werk namens Marathonlauf 1936, bevor der Film beginnt. Einen ausführlichen Premierenbericht liefert Graham, Riefenstahl and Olympia, S. 186-189; zu den Reaktionen im In- und Ausland vgl. ebd., S. 194-244. "* Günther Schwerk, in „Film-Kurier", Berlin, Nr. 12, 21.4.1938. Zitiert nach Brüning, Filmretrospektive, S. 154. 113
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Schönheit zugesprochen, darunter der erste Preis auf der Biennale 1938 in Venedig und das vom IOC verliehene Olympische Diplom. Der lange Abstand zwischen dem Ereignis der Spiele und der Uraufführung des Films macht deutlich, dass der Film, auch von Riefenstahl selbst, nicht als Reportage gedacht ist. Im Geleitwort zum Olympiafilm beschreibt sie ihre Aufgabe wie folgt: Als ich den Auftrag erhielt [...] ist mir sofort klar geworden, daß ich über die realistischen Vorgänge hinaus die geistige Idee der Olympischen Spiele zum Ausdruck bringen müßte, die erst den sportlichen Kämpfen ihre Größe und ihren Wert geben. Die ewige Sehnsucht im Menschen nach Vollkommenheit und Schönheit, der Kampf und die völkerverbindende olympische Idee waren die Hauptmotive, die ich in meiner Aufgabe sah.119 Der dokumentarische Charakter der Filme tritt gegenüber diesem künstlerischen Gesamtanspruch zurück. Die Idee bestimmt die Form des Films. Dramatische Ereignisse sind mit der für diese Zeit typischen Filmmusik untermalt, Szenen werden vorweg eingespielt, um bessere Aufnahmen in die Wettkämpfe einblenden zu können, andere werden nachgestellt, da die Originalaufnahmen missraten sind.120 Riefenstahl hält sich auch nicht an die Chronologie innerhalb der Wettbewerbe und verschiebt die Abläufe, um entscheidende Aktionen dramaturgisch wirksam am Ende zeigen zu können.121 Sportarten wie Turnen oder Turmspringen der Männer kommen ganz ohne Kommentare aus. Musik begleitet die aneinander gereihten Sprünge der Athleten, deren Namen und Platzierungen unerwähnt bleiben. Die Art der Präsentation nimmt den Wettbewerben die dramatische Struktur von LiveEreignissen und lässt sie eher wie Rituale wirken.122 Offiziell besteht der Film aus den beiden Teilen Fest der Völker und Fest der Schönheit, aber es erscheint ratsam, dem Vorschlag Hilmar Hoffmanns zu folgen und Fest der Völker nochmals zu unterteilen in „Prolog" und „1. Teil", 123 denn es geht den Aufnahmen von den olympischen Wettkämpfen eine etwa 24-minütige Passage voraus, die beispielhaft eine Lesart des Films nahe legt und die wichtigsten Themen einführt, indem sie die olympische und nationalsozialistische Gegenwart an die griechische Antike koppelt: Zu Beginn des Films sieht man die Ruinen der antiken Tempel in Griechenland, bevor von der Statue des Diskuswerfers von Myron auf einen lebenden Sportler übergeblendet wird, der in freier Natur leichtathletische Übungen vorfuhrt. An diese Aufnahmen schließen sich Aktbilder Gymnastik treibender Frauen an, die dann abgelöst werden von der Darstellung des Fackellaufs, der aus den Ruinen des antiken Olympia ins fahnengeschmückte Olympiastadion von Berlin führt. Anschließend folgen die wichtigsten Momente der Eröffnungsfeier mit dem Einmarsch der Nationen, dem Entzünden des Olympischen Feuers und dem Chor, der die Olympia-
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Zitiert nach Brüning, Sport, Körper, Bewegung, S. 153. Vgl. Graham, Riefenstahl and Olympia, S. 135-143. Vgl. Hoffmann, Mythos Olympia, S. 133. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. ebd., S. 135.
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Hymne Richard Strauss' singt. Bis zu diesem Punkt sind auf der Tonspur nur die Musik Herbert Windts oder Originalaufnahmen aus dem Stadion zu hören. Dann beginnt der „1. Teil", der Wettkampfteil. Fest der Völker widmet sich ausschließlich den verschiedenen Leichtathletik-Disziplinen. Er beginnt mit dem Diskuswerfen der Männer und endet mit dem Marathonlauf, der eine Schlüsselstellung in der Filmkonzeption einnimmt. Radio-Sportkommentatoren geben Auskunft Uber die Ergebnisse der Wettkämpfe. Die Aufzeichnungen erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Manche Entscheidungen tauchen gar nicht auf, nicht alle Rekorde sind aufgeführt, teilweise wird von den Vorkämpfen berichtet, teilweise nicht. Nachdem der Marathonlauf abgeschlossen ist, endet Fest der Völker mit einer Zusammenstellung von Bildern aus der Abschlussfeier und olympischen Symbolen, angefangen von Fahnen über die Olympia-Glocke bis hin zum Olympischen Feuer. Fest der Schönheit beschäftigt sich mit dem leichtathletischen Zehnkampf und allen anderen Sportarten. Wie der erste Teil beginnt auch der zweite Teil mit einem Prolog, der aber deutlich kürzer ist und Aufnahmen aus dem Olympischen Dorf von Sportlern beim Training in der Natur und bei der Erholung zeigt. Spielen sich die Ereignisse des ersten Teils alle im Olympiastadion ab, führt der zweite Teil nun auch zu den anderen Olympiastätten, zur Ruderstrecke in Berlin-Grünau, zum Olympiahafen nach Kiel oder zum Avusring, dem Ziel des olympischen Straßenradrennens. Im Unterschied zum Fest der Völker ist in Fest der Schönheit das Verlangen der Regisseurin, die Filme künstlerisch zu gestalten, noch stärker zu spüren. Die Bedeutung des gesprochenen Wortes tritt zurück, der Anteil der Kommentare wird geringer, die Musik dafür stärker eingesetzt. Dem Titel des zweiten Teils gemäß bilden zwei der so genannten künstlerischen Sportarten den Rahmen der filmischen Berichterstattung über die Wettbewerbe: das Tumen und das Turmspringen der Männer, das Riefenstahl als ästhetischen Höhepunkt des Olympia-Films inszeniert. Zum Finale von Fest der Schönheit werden dann Eindrücke aus der Schlussfeier zusammengeschnitten. Im letzten Bild führt die Kamera den Blick des Zuschauers gen Himmel die Strahlen des Lichtdoms entlang, der über dem Stadion ausgebreitet ist, bis schließlich ein heller Lichtfleck das Bild ganz ausfüllt. Zeitgenössische Pressestimmen spiegeln wider, dass der Film zu den Spielen von Berlin ganz im Sinne seiner Regisseurin mehr als „Hymne auf die Kraft und Schönheit der Menschen",124 denn als Reportage aufgefasst worden ist. Beeindruckt von der Wirkung der Bilder suchen viele den Vergleich zu anderen Künsten. Von einem „Gedicht der Bilder, des Lichtes und des Lebens" ist die Rede, vom „Epos der reinen und edlen Kultur von Leib und Seele", vom „schönsten Liebeslied, das der Film dem Sport bieten kann", von einer „Symphonie für's Auge" oder schlicht von einem „Sportgedicht".125
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Ein Vorwort Leni Riefenstahls. Zitiert nach Brüning, Filmretrospektive, S. 154. Alle Zitate entstammen dem Fotoband Leni Riefenstahl: Schönheit im Olympischen Kampf. Dokumentation zum Olympia-Film. Mit zahlreichen Aufnahmen von den Olympischen Spielen 1936. Neuausgabe des unter der Leitung von Cyril Soschka hergestellten und 1937 im Deutschen Verlag AG Berlin erschienenen gleichnamigen Werkes. München, MahnertLueg, 1988, S. 283-296.
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Die Kommentare betonen die Musikalität und die Poesie der Filmsprache, was einerseits ein noch wenig entwickeltes Gespür der Rezensenten für die Fähigkeiten der Filmkunst offenbart, andererseits aber auch verdeutlicht, dass synästhetische Wahrnehmungen und Assoziationen durch den Olympia-Film aktiviert werden. Im gesamten Film gibt es eine Reihe von Passagen, die einer solchen Betrachtungsweise Raum geben, wobei aber besonders der Prolog so angelegt ist, dass verschiedene Kunstformen miteinander kooperieren können. Der Prolog nimmt auch deshalb im Film eine Sonderstellung ein, weil Riefenstahl hier völlig frei von den Vorgaben der tatsächlichen Ereignisse im Berliner Olympiastadion agieren konnte. In dieser Passage drückt sich daher am deutlichsten die Idee aus, die der Film verkörpern soll. Entsprechend setzt auch meine Analyse zunächst am Prolog an und versucht, ihn als zusammenhängenden Part zu beschreiben sowie die wichtigsten Themen - arisches Körperbild, das Stadion als Ort der Volksgemeinschaft, das Schwelgen in Schönheit - aufzuzeigen. Diese Themen werden dann anhand Riefenstahls Darstellung der olympischen Wettkämpfe vertieft. 5.5.3.
Synthese von Körperattraktionen. Künstlerische Strategien in Riefenstahls Filmen
5.5.3.1. Entzauberung in Fleisch und Blut - Antike und Gegenwart im Prolog In den ersten Einstellungen des Films subsumiert Riefenstahl die Wirkung verschiedener Kunstformen dem Gesamtzweck des Films, schafft eine mystische Stimmung und fuhrt den Kinobesucher zur Natur. Nach einer in Stein gemeißelten Widmung fiir Coubertin sind dunkle Wolken zu sehen, aus denen allmählich die Ruinen der antiken griechischen Bauten zu wachsen scheinen. Mit langsamen Schwenks und durch Aufnahmen in Untersicht wird deren monumentaler Charakter zusätzlich betont. Von den Mauerresten blendet Riefenstahl zu den Statuen mythischer und göttlicher Gestalten wie Aphrodite, Apoll oder Alexander dem Großen über. Die Nähe der Kamera und die Nacktheit der Figuren führen das Körperideal des antiken Griechentums vor Augen. Dennoch bleibt aufgrund des düsteren Lichts eine Unnahbarkeit vorhanden, die den Figuren ihre mythische Aura lässt.126 Diese Impressionen, die mehrere Minuten lang dauern, werden von der Filmmusik Windts begleitet, die wenig rhythmische Schwerpunkte setzt, deren Melodie aber ähnlich unaufhörlich voranschreitet wie die „unendliche Melodie" Wagners. Als letzte der Statuen kommt der berühmte Diskuswerfer von Myron ins Bild. Durch langsame Kamerafahrten wird das Kunstobjekt von mehreren Seiten vorgeführt. Schließlich wird eine Position fixiert, und das Standbild der Statue verwandelt sich in einer langsamen - und deutlich sichtbaren - Überblendung in einen leibhaftigen Menschen, der Körperbau und Körperhaltung des antiken Kunstwerks exakt nachahmt und den begonnenen Diskuswurf vollendet. Die Kamera folgt der Bewegung des vom deutschen Zehnkämpfer Erwin Huber dargestellten Athleten in Zeitlupe und fängt den Diskus am Himmel über einem Ostseestrand ein. Vollzogen wird 126
Vgl. Berg-Pan, Riefenstahl, S. 153.
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neben dem Orts- auch ein Zeitenwechsel: von der griechischen, entrückten Vergangenheit zur deutschen, schärfer konturierten Gegenwart. Die Überblendung steht allerdings nicht nur fur die verstrichene Zeit, sondern mehr noch fur die Verbindung, die zwischen dem antiken Kunstwerk und dem Zehnkämpfer der Gegenwart besteht. Mit einem einzigen filmischen „Special Effect" führt Riefenstahl vor Augen, dass der Neu-Olympismus seine Wurzeln in der Antike hat. Ebenso visualisiert die Sequenz die nationalsozialistische Propaganda, das Dritte Reich als modernen Hüter des griechischen Kulturerbes zu feiern. Schließlich wird nicht zu einem Wurf eines Olympiateilnehmers im Olympiastadion, sondern zu einem Athleten am Ostseestrand Ubergeblendet: Und der Darsteller des Athleten, der Vorbild-Körper, die „lebendige Verwirklichung des Kämpfers", ist ein Deutscher, Erwin Huber, der „beste Europäer des olympischen Zehnkampfs", wie Riefenstahl ihn später im Film nennen wird. Die Gleichsetzung der Antike mit Deutschland und Deutschlands mit der Antike läuft als mimetischer Akt über seinen Körper [...] 127
Auch die nationalsozialistische Baukunst oder der eigens inszenierte Fackellauf verdeutlichen, dass sich Deutschland als Nachfolger des antiken Griechenlands inszeniert, wobei der Gedanke mitschwingt, dass Deutschland eine ähnlich kulturell und politisch herausgehobene Stellung im Weltgefüge beansprucht, wie sie dem athenischen Staat zukam. Bezogen auf den Sport geht Riefenstahl über diesen Anspruch noch einen Schritt hinaus und zeigt den deutschen Sport als Vollender des antiken olympischen Sports. Die Bewegung, die der Diskuswerfer von Myron nur andeutet, wird von Huber fort- und zu Ende geführt. Was im antiken Griechenland nur eine Idee war, wird im modernen Deutschland zur Tat. Zum Ausdruck kommt die Lebendigkeit der nationalsozialistischen Bewegung, ihr aktivistisches Potenzial und ein dynamisches Geschichtsverständnis, in dem Deutschland eine treibende Kraft spielt. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, da Huber im Anschluss an den Diskuswurf direkt mit Kugelstoßen und Speerwerfen fortfährt und sich, so lange er im Bild ist, ununterbrochen bewegt.128 Die filmische Anbindung von Hubers Übungen an die Antike ist konsequent, da sich sowohl Nationalsozialismus als auch Olympismus auf die griechischen Wurzeln berufen. Hier erfüllt sie aber noch einen weiteren Zweck: die Nobilitierung des arischen Körperideals. Daniel Wildmann bezeichnet die Überblendung als „erste Geburt" des arischen Männerkörpers im Film.129 Hubers Körper entspricht exakt dem vorgestellten männlichen Schönheitsideal des Nationalsozialismus. Bis auf einen körperfarbenen String ist er nackt und repräsentiert so ewig-vitale Schönheit. Seine Haut ist haarlos und glatt, der durchtrainierter Körper eines Zehnkämpfers mit
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Wildmann, Begehrte Körper, S. 41. Huber zählt zu der Zeit der Filmaufführungen, insbesondere nach seinem 4. Platz bei den Olympischen Spielen, zu den populärsten deutschen Sportlern, so dass man erwarten kann, dass das Publikum ihn erkennt und als „deutsch" identifiziert. Vgl. ebd., S. 36. Ebd., S. 35.
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Muskeln gepanzert, 130 die meist angespannt sind und in ihrer Plastizität gut zur Geltung kommen. Riefenstahl filmt Huber aus der Froschperspektive, so dass er gewaltig wirkt und das ganze Bild einnimmt. Durch die optische Verbindung zum Diskobol und den anderen Statuen griechischer Gottheiten wird das arische Körperideal als zeitloser Begriff von menschlicher Schönheit legitimiert. Zudem Uberträgt sich die mythische Aura der abgebildeten griechischen Figuren auf den Körper Hubers. Wie seine antiken Vorfahren wird er zum Halbgott. Der Sportler ahmt die Statue nach und macht durch diese Geste deutlich, dass er sie zum Vorbild nimmt. Das betrifft nicht nur das Äußere seiner Gestalt, sondern auch den Charakter. So wie der Diskuswerfer von Myron ein Kunstwerk ist, wird auch der Körper des Zehnkämpfers Huber zu einem Kunstwerk und zwar erst im realen Leben und dann auch im Film. Beispielhaft setzt Riefenstahl den Coubertinschen Satz um, der Sportler möge seinen Körper so formen „wie der Bildhauer die Statue". 131 Kunstwerk zu sein bedeutet die Bereitschaft zur öffentlichen Schaustellung und Pose, die im Film durch die Zeitlupe herausgestellt wird. Huber stellt seinen Körper als Anschauungsobjekt zur Verfügung, er lässt die taxierenden Blicke der Kamera zu, die gleichzeitig überprüfen, ob Huber dem Ideal des Ariers gerecht wird. Ästhetische Befriedigung und Test werden durch die Zeitlupe eins. Sport gerät zur Kunst am eigenen Körper und zur Einlösung der Verpflichtung, den eigenen Körper schön zu formen und schön zu erhalten. Hubers Erscheinung macht so auch das Sportverständnis des gesamten Films transparent: Sport ist das „Fest der Schönheit". Überblendungen sind prägnante optische Umsetzungen des Prinzips der Synthese, da sie visualisieren, dass Bilder - und die daran anknüpfenden Bedeutungen miteinander verschmelzen. Riefenstahl benutzt zahlreiche Überblendungen während des Olympia-Films, (auf die teilweise noch später eingegangen wird), und verknüpft so Antike mit der Gegenwart oder allgemeiner Symbolisches mit SinnlichKonkretem. Wirkung transportiert Inhalt. Der ästhetisch gestaltete Diskuswurf wird zum Signum nationalsozialistischer Körperpolitik, die sich am griechischen Vorbild orientiert. Die Zeit der Überblendung ist ungewöhnlich lang - der Effekt soll deutlich werden. Indem sie die filmischen Mittel offen legt, gibt Riefenstahl auch einen Kommentar zu den Möglichkeiten des Films. Der Übergang von der Statue zum bewegten Körper steht symbolisch für den Übergang vom Standbild zum bewegten Bild und verdeutlicht damit die Ur-Eigenschaft des Films: die Bilder der Fotografie zu entgrenzen und ineinander fließen zu lassen. Synthese von Einzelbildern ist das Aufbauprinzip jedes Films, in dem so in seiner technischen Struktur als Medium die Tendenz zur synthetischen Kunst bereits angelegt ist. Jene Überblendung von der Skulptur zum lebendigen Athleten bedeutet zugleich, um mit Wagner zu sprechen, „die Entzauberung des Steines in das Fleisch und Blut des Menschen, aus dem Bewegungslosen in die Bewegung aus dem Monumentalen
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Zum Muskelpanzer vgl. auch ebd., S. 77. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 150.
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in das Gegenwärtige".132 Wo der „Theatraliker" Wagner den leibhaftigen Menschen auf der Bühne fordert, will die Filmregisseurin Riefenstahl dessen Wirkung vor der Kamera. Mit den Bildern Hubers zeigt sie, dass sie in der Lage ist, den Menschen in seiner körperlichen, bewegten Erscheinung den Rezipienten so nahe zu bringen wie nie zuvor. Das ist die spezifische Leistung, die nur das Medium Film in dem olympischen Reigen der Künste erbringen kann. Darstellungen der Olympischen Spiele gab es seit der Antike, aber sie produzierten nur stehende Bilder wie die Bildhauerkunst, abstrakte Überlieferungen wie die Oden von Pindar oder Ahnungen von einer vergangenen Größe wie die Ruinen der antiken Bauten. Erst durch den Film aber kann die Schönheit der sportlichen Handlungen auch einem Publikum vermittelt werden, das nicht vor Ort ist. Die Überblendung vom Diskuswerfer von Myron zum Zehnkämpfer an der Ostsee markiert daher auch einen Einschnitt in der olympischen Mediengeschichte. Im weiteren Verlauf des Films gerät die ästhetische Betrachtung des sportlich geformten Körpers zur Hauptsache. Diesen Bildem werden jedoch immer wieder Aufnahmen von Körpergruppen gegenübergestellt. Das antagonistische Prinzip von Individuum und Gemeinschaft bestimmt die Struktur des Olympia-Films.133 Entsprechend verschwindet auch Huber von der Leinwand und macht Platz für eine wenn auch kleine - Gruppe Eurythmie treibender nackter Frauen. Ihre Körper sind in Lichtverhältnissen aufgenommen worden, die sie weich und weniger plastisch wirken lassen als die des Zehnkämpfers. Die Nacktheit der Frauen offenbart ihr Geschlecht, nicht aber ihre Geschlechtlichkeit. Entsprechend dem gängigen Schönheitsideal ist ihr Brustumfang gering und die Konturen verschwommen gezeichnet. Dennoch weist der Film ihnen eine geschlechtsspezifische Rolle zu, die dem Bild der Frau im Dritten Reich entspricht. Während der Zehnkämpfer Huber dynamisch Raum und Zeit durchquert, wirken die Frauen, obwohl sie sich ebenfalls ständig bewegen, wesentlich statischer, da Riefenstahl weitestgehend auf Kamerabewegungen verzichtet. Sie wiegen sich eher wie das sie umgebende Gras im Wind, als dass sie sich fortbewegten. Diese räumliche Gebundenheit spiegelt die Bindung in der Gruppe wider: Am deutlichsten symbolisiert das eine Einstellung, in der die Frauen so hintereinander stehen, dass nur der vorderste Körper zu sehen ist, von allen anderen jedoch nur die Arme, die sich rhythmisch bewegen. Das Bild erinnert an Ikonen der indischen, vielarmigen Göttin Shiva, macht aber deutlich, dass die Frauen wie ein einziger zusammenhängender Körper agieren sollen. So wie Hubers Energien auf Raumgewinn und Expansion gerichtet sind, sorgen die Frauen für den inneren Zusammenhalt des Volkskörpers.134 Darin spiegeln sich nationalsozialisti-
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Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 140. Noch stärker ist der Aufbau des Reichsparteitagfilms Triumph des Willens von den wechselnden Aufnahmen zwischen den Massenomamenten und Hitler als Führer, der die Massen organisiert und bewegt, beheiTScht. Unter anderem deshalb bezeichnet Martin Loiperdinger den Olympia-Film als „Remake des Parteitagsfilms." In: Martin Loiperdinger: Halb Dokument, halb Fälschung. Zur Inszenierung der Eröffnungsfeier in Leni Riefenstahls Olympia-Film „Fest der Völker". In: „medium", Nr. 3/1988, S. 46. Die Geschlechterdifferenz, die Riefenstahl einfuhrt, scheint sich auch noch bis in Arbeiten wie diese hier fortzuführen. Während der Name des männlichen Darstellers - Erwin Huber
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sches Männer- und Frauenbild. Die einen sollen Soldaten werden, die anderen Mütter. Abermals schafft eine Überblendung die Rückkopplung des so exerzierten Gemeinschaftsideals an rituelle Ursprünge wie an die olympische Gegenwart. Während die Frauen hintereinander stehen, wächst eine Flamme im unteren Bildrand und wird immer größer, bis sie schließlich das ganze Bild einnimmt. Die Tänzerinnen sollen griechische Priesterinnen symbolisieren, die das heilige Feuer gehütet haben.135 Die Frauen verschwinden, verbrennen gleichsam als Selbstopfer, und machen Platz für einen nur mit einem Lendenschurz bekleideten jungen Mann, 136 der die olympische Fackel in der Hand hält, so dass der Eindruck entsteht, die Fackel sei von der Flamme entzündet worden. Es beginnt der erstmalig durchgeführte olympische Fackellauf. Mit einer Reihe von Überblendungen schafft Riefenstahl eine optische Verbindung von der antiken Schönheit der Spiele, verkörpert durch die Ruinen und Statuen, zu der olympischen Gegenwart, die dann durch das Entzünden des Feuers am Olymp wiederum an die Wurzeln der Bewegung zurückführt. Indem olympische Geschichte zum Kreislauf der Zeiten gerät, verdeutlicht Riefenstahl das Ahistorische und Allgemeinmenschliche der Bewegung. Eingeschlossen in diesen Kreis sind auf der Ebene des Films das nach Schönheit strebende Körperideal und die Idee vom gemeinsamen Körper, wie sie von den Frauen vorgestellt wird. Körperkult und Kollektivgeist - bestimmende Merkmale des Olympismus wie des Faschismus werden so ebenfalls legitimiert und ihrer sozialhistorischen Bedingtheit enthoben. Der Fackellauf führt vom Fuße des Olymps durch karge Landschaften und Meeresstrände, an Spalier stehenden Menschenmassen vorbei, durch mehrere Länder hindurch - die alle nur mit Flaggen und charakteristischen Wahrzeichen gekennzeichnet sind - , bis er schließlich sein Ziel erreicht: Deutschland. Abermals wird so gezeigt, wie Deutschland das vollendet, was in Olympia begann. Als Hüter des Olympischen Feuers wird der Gastgeber der Spiele auch zum Bewahrer der Olympischen Idee. An den Fackellauf schließt sich eine Sequenz an, die in der Nachkriegsversion des Films geändert worden ist, da die ursprüngliche Fassung einige Symbole des
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- bekannt ist wie auch die Namen der Fackelläufer, gelten die Gymnastik ausübenden Frauen anonym in der kompletten Sekundärliteratur als „die Frauen". In keiner der mir zugänglichen Monographien und Rezensionen sind die Namen der Darstellerinnen erwähnt. Selbst der sehr ausführliche Entstehungsbericht des Films von Graham berichtet zwar darüber, wie Kameimann Willy Zielke die Tänzerinnen aus 300 Schülerinnen der bekannten Tanz- und Gymnastikinstitute von Bode, Laban und Wigman auswählt, nachdem jede Einzelne nackt ein paar Minuten vor ihm auf und abgegangen ist, aber auch Graham verschweigt die Namen der Darstellerinnen. Vgl. Graham, Leni Riefenstahl and Olympia, S. 138f. Zielke bestreitet auch die Wahrheit der Legende, dass Riefenstahl selbst eine der Frauen gewesen sei. Vgl. David B. Hinton: The Films of Uni Riefenstahl. 2. Aufl., Metuchen, New Jersey, London 1991, S. 68. Wildmann deutet diese Sequenz als „zweite Geburt" des arischen Männerköipers (Wildmann, Begehrte Körper, S. 43). Der Film setzt in Bilder um, was die Aufgabe der Frauen im Dritten Reich sein soll: arische Männer zur Welt zu bringen.
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NS-Regimes zu sehr in den Vordergrund rückt.137 Im Original ist zunächst der Schriftzug ,.Deutschland" zu sehen, der über eine Hakenkreuzflagge gelegt wird. Erneut folgt eine Reihe von Überblendungen, die eine ganz bestimmte Lesart des Films nahe legen: Zunächst schneidet Riefenstahl auf Landschaftsbilder um, über die dann das voll besetzte Berliner Olympiastadion - aufgenommen aus der Vogelperspektive - montiert wird. Stehen die Landschaftsaufnahmen für das Territorium Deutschlands, so ist das Stadion der Versammlungsort des Volkes - die Besucherinnen und Besucher der Olympischen Spiele werden zu einer Metapher der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Zwei Doppelbelichtungen verdeutlichen, wie der innere Zusammenhalt dieser Gemeinschaft verwirklicht wird: durch ideale Werte und durch den Führer. Zunächst ist über dem Bild des Stadions, die hin und her schwingende Olympische Glocke zu erkennen, ein Symbol, das die Nationalsozialisten einführen, das sich aber anders als der Fackellauf nicht zu einem charakteristischen Zeichen der olympischen Bewegung entwickelt hat. Glocken werden für magische und kultische Zwecke verwendet, sie sollen Unheil abwehren, beschwören Gottheiten und markieren einen bestimmten Abschnitt innerhalb der Liturgie. Aufgrund ihrer religiösen Konnotationen stehen sie für einen verpflichtenden Werteüberbau. Da auf der olympischen Glocke sowohl die Olympischen Ringe als auch der Reichsadler abgebildet sind,138 verkörpert sie gleichermaßen olympische wie deutsche - und damit historisch bedingt nationalsozialistische - Werte. Mehr noch: Sie ist das Zeichen, durch das beide untrennbar miteinander verbunden sind, woran der Zuschauer des Films immer wieder erinnert wird, denn die Glocke ist im Verlauf des Films oft zu sehen und zu hören. Das akustische Signal - eigentlich eine Art Weckruf - verbindet sich mit den optischen Symbolen zu einem Appell, den Zielen der olympischen und nationalsozialistischen Bewegung zu folgen. Schließlich geht das Bild der Glocke in das Profil Adolf Hitlers über, das ebenfalls über das Stadion gelegt ist. Massenpsychologie und nationalsozialistisches Selbstverständnis sind in dieser filmischen Einstellung zusammengefasst: Der „Führer" eint das Volk. Zusätzlich baut die Sequenz eine Identität auf, die zwischen Hitler und dem Symbol der Glocke bestehen soll, aus der deutlich wird, dass Hitler die Verkörperung der olympischen Ideale ist. Diese Einstellungsfolge markiert vier grundlegende Bestandteile des modernen Staats, als da sind: Raum, Volk, höhere Werte und politische Führung. Abgesehen vom Konterfei des „Führers" liegt die faschistische Spezifizierung in den Uberblendungen und Doppelbelichtungen: als untrügliches Kennzeichen des nationalsozialistischen Deutschland wird mit dieser Darstellungstechnik die unverbrüchliche Einheit der vier gezeigten Elementarbestandteile hervorgehoben.13®
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Zu den verschiedenen Fassungen der Filme vgl. Wüdmann, Begehrte Körper, S. 17. Die Analyse der Originalsequenz folgt Loiperdinger, Halb Dokument, S. 42-46. Diese beiden Symbole lassen sich zumindest auf der Glocke ausmachen. Nach Hajo Berne« sind auch Hakenkreuz, das Brandenburger Tor und der Satz: „Ich rufe die Jugend der Welt" in die Glocke eingegossen. Vgl. Hajo Bemett: Symbolik und Zeremoniell der XI. Olympischen Spiele in Berlin 1936. In: „Sportwissenschaft", 1986, H. 4, S. 384f. Loiperdinger, Halb Dokument, S. 43 (Hervorhebungen im Original).
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Die synthetischen Mittel des Films schaffen ein Gefühl für die Geschlossenheit des Dritten Reichs, wie sie die NS-Regierung propagiert. Der filmische Weg führt vom Hakenkreuz geradewegs zu Hitler und transportiert auf diese Weise unübersehbar nationalsozialistisches Ideengut. Die 1958 in Absprache mit der FSK vorgenommenen Kürzungen des Films haben daher sowohl das Hakenkreuz als auch das Hitlerbild entfernt. Dadurch verschiebt sich die Bedeutung, ohne sich völlig zu verändern. Das Publikum im Olympiastadion ist auch ohne den filmischen Bezug zum Führer nach wie vor ein geordnetes Kollektiv, das sich durch gemeinsame Ziele definiert. Wo im Original Hitlers Konterfei das Bild ausfüllt, sind nun die Fahnen verschiedener Länder und schließlich Olympiafahnen zu sehen. In diesem Augenblick wird die Lautstärke hochgefahren, und man hört die Begeisterung und den Jubel des Publikums. Die Energien der Massen richten sich nun nicht mehr auf den Führer, aber dafür - ganz im Sinne Coubertins - auf ihre Nation. Auch die Folge der Fahnen entspricht dem Denken des Olympiagründers. Starke Nationen gewährleisten den olympischen Zusammenhalt. Doch selbst in der vermeintlich „entnazifizierten" Nachkriegsfassung des Films ist Hitler stets präsent, selbst dann, wenn er nicht im Bild ist. So ist die erste ins Bild gebrachte Aktion des Publikums der gemeinschaftliche Hitlergruß. Erst danach ist Hitler auch im Stadion zu sehen. Riefenstahl verkürzt die nun folgende Eröffnungszeremonie auf den Einmarsch der Nationen, die von Hitler gesprochene Eröffnungsformel, Böllerschüsse, das Aufsteigen der Tauben, die Entzündung des Olympischen Feuers und den Olympischen Eid. Beim Einmarsch der Nationen würfelt sie die Reihenfolge durcheinander und stellt sie so um, dass sich die Stimmung des Publikums mit den einlaufenden Nationen steigert, bis sie den Höhepunkt erreicht, als die deutschen Sportlerinnen und Sportler einmarschieren.' 40 Die komplett weiße Kleidung der deutschen Mannschaft erinnert an ein „Kleid der Reinheit und Läuterung", 141 das die Nation nach ihrer Gesundung angezogen hat. Dreimal ist Hitler ins Bild geschnitten, so dass auch hier immer wieder die besondere Verbundenheit zwischen Nation und Staatsoberhaupt vor Augen geführt wird. Auf zweifache Weise weckt der Einzug der Deutschen ins Olympiastadion militärische Assoziationen, zum einen durch eine Gruppe uniformierter Wehrmachtsangehöriger, die als Olympiateilnehmer mit einmarschieren, zum anderen durch den Badenweilermarsch, der die Deutschen begleitet. Im Unterschied dazu kommen alle anderen Nationen zu Polka-Weisen ins Stadion. Das ist eine Heraushebung des Films. In der Realität spielt während des gesamten Einmarschs der Nationen Marschmusik. 142 Um die Ankunft der olympischen Fackel zeigen zu können, verlässt die Kamera zum letzten Mal bis zu den Bildern vom Marathonlauf am Ende von Fest der Völker 140
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Im Protokoll der Eröffnungszeremonien ist der Ablauf durch das Alphabet der Ländernamen vorgeschrieben, mit zwei Ausnahmen: Als erste Nation läuft immer Griechenland ein und als letzte das Gastgeberland. Wenn auch Riefenstahl die Dramatisierung weiter zuspitzt, so ist sie doch schon vom IOC vorgegeben. Ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 45.
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das Oval des Olympiastadions und nimmt die Läufer am Brandenburger Tor in Empfang. Als das Feuer durch das Marathontor ins Stadion getragen wird, steigern sich Musik und der lautstarke Jubel des Publikums. Um so stärker wirkt die plötzlich einsetzende Stille, als das Feuer entzündet wird. Die Regisseurin inszeniert diesen Moment als besinnlichen Höhepunkt einer kultischen Feier. Die Spannung entlädt sich beim Einsatz des Massenchores, der die Olympische Hymne von Richard Strauss singt. Dieser „mächtige Choral" steigert sich zusammen mit den Bildern der Menschenmassen im Stadion, die anstelle des Chores zu sehen sind, zu einem „vereinnehmenden Gefühlspegel".143 Zudem suggeriert das Zusammenspiel von Gesang und Bild eine gemeinschaftliche Tat des Publikums. Nachdem die Eröffnungszeremonie beendet ist, verweilt die Kamera noch für eine Weile auf dem Feuer, und schließlich endet der Prolog in „kosmischer Stimmung": Der Sonnenball versinkt mit mythischem Geflimmer im olympischen Feuer.144
Über mythische Symbolik - Feuer, Sonne, Glocke - und eine Brücke zur Antike schafft der Prolog die Verbindung zwischen Olympismus und Nationalsozialismus. Gemeinschaftssinn und die Schönheit der Körper werden als Eckpfeiler beider Theorien beschworen. Zum Ausdruck kommt bereits der Gedanke an den Sportlersoldaten und die Bereitschaft zur Aufopferung. Filmisch realisiert das Riefenstahl über eine sehr dichte Folge von Zeichen, in der die verschiedenen Elemente und Bedeutungen durch Überblendungen, aber auch durch die fortwährend klingende Musik zusammengeführt werden. Schon im Prolog wird deutlich, dass die Schönheit des lebendigen Menschen der Gegenstand des Films ist, allerdings bezieht sich Riefenstahls ästhetisches Gefühl auch auf eine ganze Reihe anderer Elemente: Massenaufmärsche, Architektur, Bildhauerkunst und die Natur. Vom .filigran des Grashalmes" bis zur Weite des Himmels feiert das Naturschöne „in triftigen Bildern Hochzeit"145 mit dem Kunstschönen. Die optischen Reize der Kunst und der Natur fließen in den Bildern des Films zu einer Gesamtwirkung zusammen - eine eindringliche „Ode an die Schönheit",146 die die politische Semantik en passant mittransportiert. 5.5.3.2. Zeremonielle Wiederholungen - Sport als Ritual Mit dem Prolog ist der Bezug zur Antike hergestellt, so dass nun im weiteren Verlauf des Films die olympische Gegenwart zum Ausdruck kommt. Allerdings sind die sportlichen Wettkämpfe zum Zeitpunkt der Aufführung des Films schon wieder olympische Geschichte. Sie werden daher auch nicht wie Live-Ereignisse präsentiert, was ihnen den Charakter des Unvorhersehbaren, des Zufälligen und des Dramatischen nimmt.
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Hoffmann, Mythos Olympia, S. 147. Ebd., S. 148. Ebd., S. 135. Hinton, Films ofLeni Riefenstahl, S. 147.
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Nun idealisiert Leni Riefenstahl gerade die Wettbewerbe, also die nicht völlig kontrollierbaren Momente zu Ritualen. Sie tilgt auf filmischer Ebene den Spielraum und die Ereignishaftigkeit des Sports. Nicht nur Eröffnung und Schluß der Spiele, alles soll olympisches Zeremoniell werden.147 Im immer selben Schema werden daher die Wettbewerbe, insbesondere in den Wurf- und Sprungdisziplinen der Leichtathletik präsentiert. Zuerst benennen die Kommentatoren die Favoriten, dann folgen einige der Versuche der Kontrahenten in Normalzeit. Anschließend sind Zeitlupenaufnahmen von weiteren Durchgängen zu sehen und schließlich wird der entscheidende Wurf oder Sprung - meistens in extremer Zeitlupe - gezeigt und anschließend der Sieger bekannt gegeben. Die in der Realität besten Aktionen werden vom Film auch zu den schönsten gemacht, denn die Zeitlupe lenkt den Blick auf das Besondere und ästhetisiert die sportlichen Abläufe, indem sie sie verlängert und zu anmutigen Bewegungen umdeutet. Anmut bewirkt die Verlangsamung der Bilderfolge, weil sie die Körper von ihrer physischen Gesetzmäßigkeit befreit und zu scheinbar schwerelosen Objekten stilisiert. So Uberfuhrt der Film das Natürliche des Sports ins Übernatürliche. Auch die Laufwettbewerbe sind einer bestimmten Erzählstruktur unterworfen. Auch hier zählen die Kommentatoren die Favoriten auf und nennen abschließend Sieger und Zeiten. Die Kamera folgt den Läuferinnen und Läufern vor dem Start, Vorbereitungen werden gezeigt und Nahaufnahmen von Gesichtern und angespannten Muskeln illustrieren die Anspannung und Konzentration aller Teilnehmenden. Zunächst sind Bilder in Normalzeit zu sehen, die dann, wenn der Lauf kurz genug ist, noch einmal in Zeitlupe wiederholt werden. Bei keinem Wettbewerb kommen die eigentlichen Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller des olympischen Fests zu Wort, es gibt weder Interviews noch Voroder Nachberichte, die eine Entwicklung andeuten könnten. Die Sportlerinnen und Sportler werden ihrer privaten Geschichte und damit auch ihrer Individualität und Eigentümlichkeit beraubt. Sie erhalten - ebenfalls im Unterschied zur TVBerichterstattung am Ende des 20. und Beginn des 21. Jahrhunderts - keine neue Identität als mythische Figuren oder Popstars. Sie sind untereinander beliebig austauschbar. Jeder der Springer, Werfer, Läufer, Turner oder Ballspieler verkörpert dasselbe olympische Ideal vom Streben nach Vollkommenheit und Schönheit. Da im Prolog schon deutlich gemacht worden ist, dass sich das Dritte Reich als modernes Olympia begreift, werden die Sportlerinnen und Sportler auf der Ebene des Films alle zu Mitstreitern der nationalsozialistischen Idee. Einverleibt werden auch schwarze Athleten wie Jesse Owens, die als „primitive Naturkraft", als „das Unzivilisierte" bewundert werden. 148 Der Film schafft einen Bezugsrahmen, in dem jeder Teilnehmer der Spiele auf die ein oder andere Weise zum ideellen Fackelträger für Deutschland wird. Daher braucht Riefenstahl auch die Erfolge der Mannschaft nicht herauszuheben. Jeder, der im Verlauf der Wettkämpfe siegt, ist ein Erfolg für die Bewegung. Insofern bekommt der Olympia-Film große Bedeutung für das Dritte Reich, da Riefenstahl die Unberechenbarkeiten des Sports tilgt bzw. in einen ande-
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Hoffmann, Mythos Olympia, S. 114. " Gebauer/Wulf, Spiele der Gewalt. Bildessay, S. 23.
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ren Zusammenhang Uberfuhrt. Machtfülle wird nicht über Siege, sondern über Schönheit transportiert. Daher sind nicht die Personen der Sportlerinnen und Sportler interessant, sondern die Bilder ihrer Körper. Und die Körper oder zumindest ihre Bewegungen gleichen sich. Das liegt auch daran, dass die Kommentare nicht auf die Differenzen hinweisen: Unterschiedliche Lauf-, Sprung- oder Schwimmstile werden ebenso wenig erläutert, wie es Erklärungen dazu gibt, warum der eine Wurf weiter ist als der andere. [...] der medienunterstützte Reporter [nimmt] die prophetische Rolle des permanent ritualisierenden Siegverkünders ein [...] - mitten im Wettkampfgeschehen, das unanalysiert bleibt und deshalb zum dunklen Substrat von Kampf, Krieg und Sieg mythisiert wird.' 49
Es gibt keinen Grund, keine Ursache, kein Vorgeschichte für das, was zu sehen ist. Alles ist so, wie es ist. Nach dem Prolog entwickelt sich nichts mehr: Die Geschehnisse sind einfach da und werden immer wiederholt. Das Olympische Fest ist ein Zustand; seitdem das Feuer angezündet worden ist, stehen die Uhren still.150 In Riefenstahls Film endet der Wettkampf in der Regel nicht mit dem Augenblick, da die Ziellinie überschritten wird. In zahlreichen Fällen bilden Ausschnitte von der Siegerehrung und die „zum Lohn fur den siegreichen Athleten am Mast emporsteigende Nationalflagge",151 unterlegt mit einigen Takten der jeweiligen Nationalhymne, den Abschluss. So wird das Sportliche direkt in das Zeremonielle überführt. Da sich die Abläufe untereinander gleichen, sind für den Zuschauer jedoch kaum Überraschungen mehr möglich. Dem Sport werden in Riefenstahls Filmen die emotionalen Qualitäten entzogen, dafür werden ihm auratische Qualitäten verliehen - nämlich Schönheit zu erzeugen und Ritual zu sein. Aus heutiger Sicht wirkt eine solche Ritualisierung des Sports eher langweilig, da der Fernsehkonsument an die Bildmächtigkeit, die Riefenstahls Filme auszeichnet, mittlerweile längst gewöhnt ist. Die Femsehanstalten setzen daher eher auf persönliche Geschichten, spitzen die Wettkämpfe dramatisch zu, und bauen auf die Spannung des LiveEreignisses, bei dem jederzeit Überraschungen möglich sind und der „Pokal seine eigenen Gesetze hat". Für das Fernsehen in seiner gegenwärtigen Form ist es daher eher der „Realitätskick"152 des Sports, der seine Faszinationskraft ausmacht. Sowohl das IOC der 30er Jahre als auch die Machthaber des Dritten Reiches finden dagegen Gefallen an Riefenstahls „totalisierendem Ritual",153 da es Planungssicherheit verspricht, vor unliebsamen Überraschungen schützt und den Idealismus beider Bewegungen in ewigen Wiederholungen zur Anschauung bringt.
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Hoffmann, Mythos Olympia, S. 151. Eine Ausnahme bildet die Berichterstattung zum Stabhochsprungwettbewerb. Da der Wettkampf vom Nachmittag bis in die späten Abendstunden reicht, ist der Himmel bei den entscheidenden Sprüngen bereits dunkel. Diese Sequenz inszeniert geradezu den Ablauf der Zeit, allerdings auch mit dem Ziel, die Sprünge als die Wiederholung des ewig Gleichen zu kennzeichnen. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 133. Gebauer, Mythen-Maschine, S. 305. Hoffmann, Mythos Olympia, S. 114.
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5.5.3.3. Gemeinschaftsgefühle im Berliner Olympiastadion Viele Interpretationen des Olympia-Films weisen darauf hin, dass das voll besetzte Olympiastadion als Metapher der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft gedeutet werden kann. 154 Eine solche Lesart gründet sich auf die zahlreichen visuellen Hinweise, dass die Spiele zur Zeit der Nazi-Diktatur in Berlin stattfinden. Das lässt sich schon mit der Überblendung vom Schriftzug Deutschland ins Berliner Stadion am Ende des Fackellaufs und mit dem während des Einmarschs der Nationen häufig zu sehenden Hitler-Gruß belegen. Hinzu kommt, dass die filmische Berichterstattung der Leichtathletikwettbewerbe mehrfach vorführt, wie Hitler auf die sportlichen Leistungen reagiert. So hat es - auch noch in der „entnazifizierten" Fassung der Filme aus den 50er Jahren - den Anschein, als wäre Hitler immer da, inmitten der Menschenmenge auf den Sitzen des Stadions, und es liegt daher nahe, diese Menschenmenge als Volksgemeinschaft zu identifizieren. Geordnet in den Sitzreihen des Stadions strahlt das olympische Publikum die Geschlossenheit aus, die auch den Bau kennzeichnet. Das Oval des Stadions wird meist aus der Luft fotografiert, eine Perspektive in der die klar umgrenzte, geometrische Form besonders gut zur Geltung kommt. Da die Kamera während Fest der Völker das Stadion nur verlässt, um die Marathonläufer und Fackelträger auf ihrem Weg ins Stadion zu begleiten, entsteht der Eindruck einer in sich geschlossenen Welt. Das Olympiastadion erscheint als künstliches Paradies des Nationalsozialismus. Es ist der Ort, an dem der volksgemeinschaftliche Zusammenhalt vorbildlich verwirklicht ist, an dem sportliche Soldaten vor den Augen ihres Führers und ihres Volkes versuchen, sich zu vervollkommnen und den Gegner zu besiegen. In eine solche Gemeinschaft können Schwarze wie Jesse Owens noch eingegliedert werden, wenn sie durch ihre besonderen Leistungen und die Schönheit ihrer Körper zu gefallen wissen, nicht aber der größte Feind des Ariers: der Jude. Das ist im Sinne des Nationalsozialismus allein schon deshalb konsequent, da das Jüdische im Dritten Reich als Metapher für Schriftkultur und Intellektualismus verachtet wird, den Juden, in dieser Logik, also kein Körper zugestanden wird, zumindest aber kein attraktiver. Folgerichtig dürfen sie auch in Filmen, die von der Schönheit der Körper handeln, die Harmonie der Bilder nicht stören. Auf der Ebene des Films ist das vorweggenommen, was gesellschaftlich vorbereitet wird: die Elimination der Juden aus der Gemeinschaft. Sie [Leni Riefenstahl, d.Vf.] schließt die bei den Olympischen Spielen anwesenden jüdischen Athleten und Athletinnen kategorisch aus ihrer Bilderwelt aus; sie spricht ihnen einen olympischen Status ab, so wie das „Dritte Reich" Juden und Jüdinnen aus der „Volksgemeinschaft" hinauswirft [...] Gleichzeitig verschweigt sie das Ausschließen, sie zeigt nur das Resultat, den Ausschluß, das vollendete Projekt.155 Das Volk wohnt den Wettkämpfen nicht in kontemplativer Betrachtung, sondern mit innerer Anteilnahme bei. In die Abfolge aller sportlichen Wettbewerbe werden
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Vgl. z.B. Loiperdinger, Halb Dokument, S. 43 oder Wildmann, Begehrte Körper, S. 53. Wildmann, Begehrte Körper, S. 139.
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Bilder von Zuschauerinnen und Zuschauern geschnitten, die heftig klatschen, anfeuern, angespannt auf die Laufbahn blicken und lauthals die Namen ihrer Lieblinge bzw. ihrer Nationen skandieren. Die Sprechchöre sind sehr gut zu verstehen, akzentuiert und im Gleichtakt gesprochen. Das liegt daran, dass sie wie die gesamte Tonspur erst nachträglich aufgenommen - die Originaltonaufnahmen aus dem Stadion erweisen sich als unbrauchbar - und mit den sonstigen Hintergrundgeräuschen gemischt worden sind.156 Angesichts der undramatischen Erzählstruktur der Wettkämpfe wirkt die Stimmung jedoch nicht ansteckend. Es gibt für das Filmpublikum keinen Grund in die Anfeuerungsrufe einzustimmen, da die Ereignisse geschehen und die Ergebnisse bekannt sind. Daher wirkt die eingeschnittene Begeisterung der Zuschauerinnen und Zuschauer vor Ort eher so, als sollte sie eine Botschaft vermitteln. Diese Botschaft richtet sich nicht an potenzielle Stadionbesucherinnen und besucher, sondern an potenzielle Sportlerinnen und Sportler und teilt diesen mit: „Ihr seid nicht allein." Sportstars vollbringen ihre Taten fur eine Nation, die mit ihren Helden mitfiebert und Anteil nimmt an ihrem Schicksal. Die Aufmerksamkeit des eigenen Volkes ist Lohn für die Mühen und Opfer der Sportlerinnen und Sportler, bedeutet aber zugleich auch Kontrolle. Alle, die mit ihren Leistungen enttäuschen, erweisen sich im nationalsozialistischen Sportverständnis als untüchtig. Im Paradies ist für diese Gefallenen kein Platz, sie sind daher in Wort und Bild der Olympiafilme nicht anwesend. Es gibt kein buhendes Publikum und nur wenig Enttäuschte zu sehen,157 denn der Film handelt nur von Siegern. Dass die Sportlerinnen und Sportler nicht für sich, sondern für ihre Nation starten, wird nicht nur durch die Vielzahl der Fahnen und Siegerehrungen deutlich, sondern vor allem auch durch die Art der Kommentierung. Fast durchgängig bekommt jeder Sportlername die zugehörige Nation angehangen. Der Favorit im Marathonlauf heißt ,Zabala, Argentinien' 158 und hat einen .gefährlichen Gegner': .Japan, stärker denn je'. Ähnlich werden die finnischen Langstreckenläufer, weil sie aufgrund ihrer Teamstärke meist zusammen laufen, nur .Finnlands Streitmacht' genannt. Als auch bei der Hälfte des Marathonlaufs noch drei Finnen gleichauf liegen, drückt der Kommentar die nationalsozialistische Interpretation ihres sporttaktischen Verhaltens aus: ,Drei Läufer, ein Land, ein Wille!' Bereits zu Beginn des Marathonlaufes verdeutlicht der gesprochene Text, dass die Sportler Strapazen auf sich nehmen, um ihre Nation zu überhöhen. Denn gerade in der .härtesten Entscheidung' der Olympischen Spiele kommen die .Kämpfer aller Erdteile' zusammen, um ihr .Letztes für den Sieg ihres Landes' zu geben. Beinahe schon tragische Ironie ist
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Vgl. Graham, Leni Riefenstahl, S. 171. Riefenstahl heuert eigens amerikanische Studenten an, die die „USA"-Sprechchöre nachahmen. Ähnlich verfährt sie bei Anfeueiungsrufen anderer Nationen. Die einzige Ausnahme ist das Scheitern der deutschen 4xl00m-Staffel der Frauen, die ihrem Status als Favoritinnen nicht gerecht werden, da sie den Stab verlieren. Diese Niederlage ist zu bekannt, als dass Riefenstahl sie in einem offiziellen Film über die Olympischen Spiele hätte verschweigen können. Originalzitate aus dem Film sind im Fließtext mit einfachen An- und Abführungszeichen gekennzeichnet.
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daher die Tatsache, dass der Olympiasieger Kitei Son nicht für sein Land, Korea, antritt, sondern für die Besatzungsmacht Japan. 159 Coubertin gründete die olympische Bewegung nicht nur auf der Einheit der Nationen, sondern auch auf der Gemeinschaft der Athletinnen und Athleten. Folgerichtig heißt der erste Teil des Olympia-Films auch Fest der Völker. Allerdings ist von einem Miteinander wenig zu spüren: Der Kontakt der Sportlerinnen und Sportler untereinander fällt dürftig aus. Kaum sieht man sie im Gespräch untereinander, in gegenseitiger Umarmung oder auch nur mit anerkennendem Händedruck. Auch die Olympischen Ringe als Symbol der Völkerverständigung sind nur selten im Bild. Die dennoch bestehende gegenseitige Verwandtschaft der Olympiateilnehmerinnen und -teilnehmer zeigt sich in den Ähnlichkeiten des Körperbaus und der Bewegungen, in ihrem Streben nach dem Sieg und ihrer Zugehörigkeit zu ihrer jeweiligen Nation. Das macht die Teilnehmenden zu einer anonymen Gruppe, aus der nur die Olympiasieger herausragen, ohne dass diese sich zu starken Individuen entwickeln würden. Diesen Ansatz visualisiert eine Sequenz aus dem Marathonlauf, als vorübergehend die Kamera keine ganzen Körper mehr einfängt, sondern nur noch Körperteile, die keinem bestimmten Sportler zuzuordnen sind. Da alle dieselben, gleichgerichteten Bewegungen machen, entsteht der Eindruck, dass die Arme und Beine nicht bestimmten Personen gehören, sondern allen gemeinsam. 160 Zusätzlich wird die Ununterscheidbarkeit der Sportler dadurch betont, dass die Kamera die Schatten der Athleten einfängt und nicht ihre Physiognomie. 161 Riefenstahl nutzt die wenigen Momente, die Athletinnen und Athleten als bewegte Masse zu zeigen, wenn ihr die Begebenheiten das ermöglichen. Der Marathonlauf beginnt als Massenstart, und die Kamera fängt zunächst nur die vorbeilaufenden Beine ein, bevor sich dann im weiteren Verlauf aus der Schar der Teilnehmenden die Figuren herausschälen, die das Rennen prägen, und die Kamera bei den späteren Medaillengewinnern bleibt. Ähnlich funktioniert die Berichterstattung des Straßenradrennens im 2. Teil des Olympia-Films. Immer wieder rast die Gruppe der Radfahrer an der Kamera vorbei, wobei ähnlich wie beim Marathonlauf bewegte Musik die Szenen begleitet. Ununterscheidbar, aber als Masse von ästhetischer Wucht, sind sowohl die Läufer wie die Radfahrer. Das gilt noch mehr für die keulenschwingenden Frauen auf dem Maifeld, die im zweiten Teil für einen Übergang zwischen dem modernen Fünfkampf und dem leichtathletischen Zehnkampf sorgen. Die Sequenz beginnt mit einer Nahaufnahme einer Frau und wechselt in mehreren Schritten in eine Halbtotale. Mit wachsender Distanz kommen immer mehr Frauen 159
160 161
Vgl. Wildmann, Begehrte Körper, S. 91. Eigentlich heißt Kitai Son auch Kee Chung Sohn, aber er muss seinen Namen ändern, um an den Olympischen Spielen teilnehmen zu können. Vgl. ebd., S. 66. Auch beim Radrennen oder bei den anderen Leichtathletikwettbewerben sind immer wieder nur Körperteile, meist die muskelbepackten Beine, zu sehen. Mit Schattenbildern arbeitet der Film auch beim Fechten, wo zu Beginn nur das Schattenspiel der Fechter auf der Planche zu sehen ist und nur das Klingen der sich berührenden Waffen zu hören ist. Der Schatten als Metapher weckt viele Assoziationen, z.B. zum Geisterreich. Während er beim Fechten die Leichtigkeit des Kampfes verdeutlicht, hat er beim Marathonlauf auch den Sinn die Hitze zu verdeutlichen. In beiden Fällen nimmt er den Sportlern aber ihr individuelles Äußeres.
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ins Bild. Auch die nicht immer im selben Rhythmus ausgeführten Bewegungen wirken aus dieser Entfernung nun so, als wären sie im Gleichtakt. Schließlich wechselt die Kameraeinstellung zu Luftaufnahmen. Selbst in der Totalen sind die Reihen der Frauen, deren Zahl unendlich groß scheint, nicht auszumessen, sondern setzen sich immer weiter fort, wie ein Kameraschwenk verdeutlicht. Ein einziges Filmbild kann die Masse der keulenschwingenden Frauen gar nicht fassen. Auch das ist ein Bild von Symbolkraft: Die Wirkung der Masse sprengt den Rahmen des Films. 5.5.3.4. Fest der Schönheit In einem Interview mit der französischen Fachzeitschrift Cahiers du Cin6ma betont Riefenstahl, dass sie immer eine „große Liebe für die Schönheit" 162 empfunden habe. Bei den Olympischen Spielen von Berlin 1936 ist diese Liebe beständig neu entfacht und befriedigt worden, wie die Regisseurin im Vorwort des erstmals 1937 erschienenen Fotobandes Schönheit im Olympischen A'amp/bekundet: Alles war schön: die Olympische Idee, der Fackelläufer, das Stadion - und die Athleten. Die Besessenheit eines Glenn Morris, der Lauf von Jesse Owens, die gebändigte Kraft unseres Karl Hein: Oder die Japaner in ihrer inneren Versunkenheit und fast religiöser Hingabe - die Lockerheit der amerikanischen Athleten und die eisernen Willensmenschen die Finnen. Als die Finnen im 10.000-Meter-Lauf den Japaner Murakuso zermürbten, als sie wie eine zu einem Block geschmolzene Mannschaft in unheimlichem Rhythmus Mann für Mann übenundeten, waren sie das vollendete Symbol einer ebenso stark geistigen wie körperlichen Schönheit.163 Die Regisseurin bewertet alles - vom kleinsten Detail bis zur Masse der anwesenden Menschen mit ästhetischen Kriterien. Alles wird zur Kunst: Die Nähe zur Gesamtkunst ist unleugbar. Allerdings: Gesamtkunstprojekte wie das Wagners wollen die Wirkung der Künste durch ihre Wiedervereinigung erhöhen, um das gesellschaftspolitisch oder religiös motivierte Ziel zu realisieren, Menschen zu einer Gemeinschaft zusammenzuführen. Riefenstahl dagegen sieht Olympia als Fest, in dem das Ziel der Kollektivbildung bereits verwirklicht ist, und erfreut sich nur noch an dem ästhetischen Genuss. In ihrem Verständnis spiegelt die äußere Schönheit die innere eines Menschen, einer Sache oder einer Idee.164 Die Olympische Idee materialisiert sich im Fackelläufer, religiöse Hingabe findet ihren Ausdruck im konzentrierten Gesicht des Sportlers vor dem Start, Rhythmus steht für mannschaftliche Geschlossenheit und die Fähigkeit Gegner zu „zermürben". Die inneren Werte des Menschen, scheint Riefenstahl sagen zu wollen, lassen sich an seinem Laufstil ablesen. Dass sich Menschlichkeit und Schönheit in ihrem Film verbinden, liegt - so die Regisseurin - in der Natur der olympischen Wettkämpfe. 165 Allerdings ist es erst der Film, der eine ausschließlich ästhetische Perspektive auf die Geschehnisse im und um das Berliner Olympiastadion aufbaut. Mit zahlreichen filmischen Tricks und 162
163 164 165
Michel Delahaye: Lern et la loup. Entretien avec Leni Riefenstahl. In. „Cahiers du Cinema", Nr .170, 1965, S. 44. Riefenstahl, Schönheit im Olympischen Kampf, S. 9. Vgl. Delahaye, Leni et la loup, S. 46. Vgl. ebd., S. 50.
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unter hohem technischen Aufwand überhöht Riefenstahl die realen Abläufe und schreibt ihnen künstlerische Qualitäten zu, die sich dem Betrachter im Stadion gar nicht oder nur teilweise erschließen. Wo die Realität zusätzlich ästhetisch erhöht werden kann, wird nachgeholfen: So werden die Sprünge vom Turm der Schwimmer durch verdoppelte und dann rückwärts eingeschnittene Bilder verlängert. Bei der Gestaltung ihres Films hat Riefenstahl die freie Auswahl aus zahlreichen Kameraperspektiven, die während der Wettkämpfe eingenommen werden. Diese ermöglichen ihr auch den Blick auf Details. Der Hammer, der in Zeitlupe im Rasen einschlägt und das Gras aufschleudert, gehört genauso zu ihren Motiven wie die sich immer rascher drehenden Speichen der Fahrräder oder das in der Morgensonne glitzernde Spinnennetz. Zwar ist nach eigenem Bekunden alles schön, aber die ehemalige Tänzerin interessiert sich vor allem für die menschlichen Körper in Bewegung, die ihr vertraut sind und die auch im Olympischen Fest im Zentrum stehen. Mit Zoomtechnik und Zeitlupe rückt sie den Sportstars auf den Leib und produziert so Bilder von äußerster Nähe, die ihren zusätzlichen Reiz für das Kinopublikum der 30er Jahre haben, da es bis zur Uraufführung von Olympia keine wirklich erfolgreichen Sportfilme gab, man also wenig an die Übertragungsweise gewohnt ist. So entfaltet jedes Bild doppelte Wirkung: Es ist nicht nur schön, sondern auch überraschend schön.166 Da der Akzent des Films mehr auf dem Rituellen liegt, als auf dem Dokumentarischen, ist es Riefenstahl möglich, relativ oft die Einstellung der Totalen zu verlassen und alternative Kameraperspektiven anzubieten. Bei Ballsportarten wie Fußball fällt auf, dass Spielzüge unterbrochen und dann aus einer anderen Perspektive weitergeführt werden, in denen der spieltechnische Zusammenhang völlig verloren geht. Die Bilderfolgen richten sich nicht nach den sportlichen Abläufen, sondern nach dem Gestaltungswillen Riefenstahls, sie gehorchen ästhetischen Kriterien und wirken wie „rhythmische Kompositionen". 167 Das gilt für alle Disziplinen, fällt aber besonders in den Wettbewerben auf, wo Riefenstahl etwa mehrere Versuche hintereinander schneidet. Beim Hochsprung und Stabhochsprung hat sie eine Kamera hinter der Latte postiert, die die Springerinnen und Springer aus der Froschperspektive aufzeichnet. Ein Sprung folgt nun auf den anderen, wobei der Anlauf wegfällt und nur noch das Überqueren der Latte zu sehen ist. Die Kommentatoren schweigen, so dass unklar ist, wer gerade springt, dafür sind die Szenen mit Musik unterlegt. Für zusätzliche Effekte sorgt der Blick beim Stabhochsprung auf das Marathontor und das olympische Feuer: Der weit offene Himmel, die Architektur des Stadions
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Damit soll nicht der Eindruck entstehen, Riefenstahl hätte in den Olympiafilmen eine ureigene Filmsprache geschaffen. Selbstverständlich bedient auch sie sich aus dem Fundus des ihr Bekannten und gerade ihre Körperbilder sind nicht wirklich originär wie bereits das Kapitel 4.4 Uber die Köiperpolitik des Dritten Reichs gezeigt hat. So hatte der faschistische Sportfilm Wege zu Kraft und Schönheit (Nicholas Kaufmann, Wilhelm Prager, s/w, 89 Min., Deutschland 1925) mit ähnlichen Aufnahmen schon in den Zwanziger Jahren den Weg in die Kinos gefunden. Neu am Olympiafilm ist jedoch die Bebilderung von Wettbewerben. Claudia Lenssen: Leben und Werk. In: Filmmuseum Potsdam, Riefenstahl, S. 72.
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und die brennende Flamme erhöhen die Wirkung der auf die Matte fallenden Männer. Ahnlich ist das Recktumen der Männer aufgebaut: Während der gesamten TurnSequenz ist kein Kommentar, sondern ausschließlich Musik zu hören, was um so erstaunlicher ist, da die deutsche Mannschaft im Turnen sechs Gold-, eine Silberund sechs Bronzemedaillen erringt. Am Reck werden die Übungen erneut in Untersicht aufgenommen und die Flugphasen der Turner bei ihrem Abgang aneinander geschnitten. Die Männer fliegen aus dem Bild und sind erst nach einem Schnitt wieder zu sehen, wenn sie bereits gelandet sind. Der Endpunkt und das Ergebnis der Übung interessieren nicht, sondern nur der ästhetische Flug. Wer fliegt, befreit sich von der Last der Erdenschwere. Den Sportarten, bei denen der Flug durch die Luft Teil der sportlichen Leistung ist, gehört daher Riefenstahls besonderes Augenmerk, und sie inszeniert in ihnen den Kontakt des Menschen zum Himmlischen und Göttlich-Leichten. Entzückt ist sie von den Kunstsprungwettbewerben im Schwimmstadion, wo sie in der „Symphonie der Schönheit" „fliegende Menschen" entdeckt, die „wie Vögel" über den Köpfen schweben.168 Die Springer werden von drei Kameras eingefangen, eine von oben, eine von unten und eine von der Seite, welche die Zeitlupenaufnahmen produziert. SpiegellinsenFernobjektive ermöglichen extreme Blickwinkel. So entstehen Aufnahmen von weit unten, in denen der Eindruck entsteht, dass der Springer weit oberhalb der Zuschauerränge durch die Luft fliegt. Das Wasser ist nicht zu erkennen, allerdings die schwarzen Absprungbretter der Anlage, von denen sich der Athlet im Bild - bedingt durch die Perspektive - ebenfalls unnatürlich weit entfernt hat. Solche Bilder wecken die Illusion des freien Falls. Zusätzlich wird erstmals eine Unterwasserkamera eingesetzt, um die Springer auch nach dem Eintauchen verfolgen zu können. Dass der Abschnitt wirkt wie „ein Paradestück des schwerelosen Balletts",169 liegt an der geschickten Verwendung der Tempi. Die Sprünge, die in Normalzeit beginnen, werden mit Zeitlupenverfahren immer langsamer, dafür gerät die Abfolge der Springer immer schneller. Teilweise kopiert Riefenstahl Flugphasen rückwärts und montiert diese Versatzstücke wieder in den Ablauf, um die Bewegungen zu verlängern und zu verschönern.170 Zum Schluss wartet die Regisseurin die Eintauchphase der Sprünge gar nicht mehr ab, sondern schneidet Salto an Salto. Auch der Absprung ist nicht mehr zu erkennen. Die Männer haben ihre Bodenhaftung gänzlich verloren. Das Licht lässt ihre Körper schattenhaft wirken und betont so das Flüchtige, Schwerelose und Unwirkliche ihrer Erscheinung. Wechselnde Wolken und ein endlos scheinender Himmel werden wie im gesamten Film - alle Wettbewerbe finden draußen statt - als stimmungsvolle Naturaufnahmen eingesetzt und geben zudem eine Ahnung von der unendlichen Größe des olympischen Universums der Schönheit.
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Riefenstahl, Schönheit im Olympischen Kampf, S. 9. Hoffmann, Mythos Olympia, S. 151. Vgl. dazu ein Interview Leni Riefenstahls mit Ray Müller in dessen Portiätfilm Macht der Bilder. Deutschland 1994.
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Bereits im Prolog hat Riefenstahl vorgestellt, was im Sinne des Nationalsozialismus und Olympismus ein schöner männlicher Körper ist, indem sie die Gestalt des Zehnkämpfers Huber symbolisch mit einem antiken Kunstprodukt verband. Nachdem Hubers Körper das Ideal vorgegeben hat, wird es in den Dokumentationen der olympischen Wettkämpfe immer wieder bestätigt. Die „formvollendet gestählten jungen Körper" spielen die Hauptrolle in Riefenstahls „Evangelium der Wohlgestalt".171 Das wird um so deutlicher, da das Gegenbild im Film ausgespart bleibt. [...] die Dramaturgie [zieht] das weniger schöne Alte, das Häßliche, das Gebrechliche sowohl zum Wettbewerb auf der Aschenbahn als auch für den Jubel auf den Stadionrängen gar nicht erst in Betracht. [...] Aber wenn das Schöne das Häßliche ausschließt, dann ist Schönheit kein Maßstab für den ästhetischen Wert.172 Die Regisseurin will nicht ihr Verständnis von Schönheit diskutieren, sondern einen Bilderrausch entfalten, der die Zuschauer gefangen nimmt. Die Kamera führt die Körper der Athleten mit Teleobjektiven und Zooms nah vor's Auge. Präzise richtet sich der Blick auf einzelne Körperteile und Muskelpartien. Die Kamera geht dicht auf die Haut und lenkt die Blicke der Zuschauerinnen und Zuschauer auf die klar proportionierten Muskeln, die rotierenden Arme und Beine, die bei Kraftanstrengung heraustretenden Adern. Die Sportlerinnen und Sportler sind zum „Greifen nahe": Die Close-ups vermitteln das Gefühl einer tatsächlichen, körperlichen Nähe zum gefilmten Objekt. Sie durchbrechen Grenzen des Privaten, denn sie suggerieren dem Betrachter ein intimes Verhältnis zu den Körpern [...]173 Intimität schafft Vertrautheit und damit Gefallen. Insbesondere die männlichen Athleten werden zu Modellathleten, zu Vorbildern, denen es nachzueifern gilt. Schönheit ist so keineswegs mehr ein „Gegenstand des interesselosen Wohlgefallens" im Sinne Kants, sondern ein politisches Erziehungsinstrument. 5.5.3.5. Der Marathonlauf - Triumph des Willens Da sich äußere und innere Schönheit im Riefenstahlschen Verständnis gegenseitig bedingen, entspricht das Aussehen der Körper dem Charakter. Ähnlich bewertet der nationalsozialistische Körperkult die Physiognomie des Mannes als Ausdruck seiner Tüchtigkeit, Zähigkeit und Härte. Das Verhältnis von physischer und psychischer Verfassung bzw. zwischen körperlicher und geistiger Haltung, spiegelt die Marathonsequenz aus Fest der Völker wider, in der sich somit auch das vom Film propagierte Körperideal am besten ablesen lässt. Der Marathonlauf ließe sich auch mit einem anderen Filmtitel Riefenstahls Uberschreiben: Triumph des Willens,™ denn die Anordnung der Bilder und der Musik
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Hoffmann, Mythos Olympia, S. 116. Ebd. Wildmann, Begehrte Körper, S. 65f. Vgl. Sontag, Faszinierender Faschismus, S. 107.
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kreist um den Versuch, das Durchhalten der Marathonläufer als Sieg der Willenskraft über die Erschöpfung des Körpers zu zeichnen. Da habe ich [Leni Riefenstahl, d. Vf.] die Idee gehabt, [...] zu zeigen, was der Marathonläufer fühlt, wenn er müde wird, und daB man das dadurch ausdrückt, daß man seine Beine zeigt, wie sie schwerer laufen und seine Bewegung wie die einer Maschine wird, [...] und daß er dann wie im Traum und mit letzter Kraft gerade noch den Laim aus dem Stadion hört, das zieht ihn an und stützt seinen Willen. [...] Den Willen, den er zum Laufen benötigt, konnte ich ja nicht nur bildlich ausdrücken, und das hat dann der Windt mit der Musik unterstützt, daß während er fast Zeitlupe läuft, die Musik ganz peitschend ist. Dieser Gegensatz: Die Musik bringt den Willen, und die Bilder zeigen seine Erschöpfung, dadurch erlebt man unbewußt die Mühen des Marathonläufers mit.175
Die „Willen-Sequenz",176 die Riefenstahl anspricht, setzt ein, kurz nachdem die Läufer die 35 km-Marke hinter sich gelassen haben, einem auch in der Realität neuralgischen Punkt, da sich die Erschöpfung nach dieser Strecke schon deutlich bemerkbar macht, das Ziel aber noch vergleichsweise weit entfernt ist. Bis dahin haben die Kommentare der Sprecher das Filmpublikum schon auf eine bestimmte Interpretation der Szenen hingeführt. Zunächst bezeichnen sie beim Start den Marathonlauf als .gigantischste Probe der Athleten'. Zur Hälfte des Rennens wird deutlich gemacht, dass das Erreichen des Ziels von der Willenskraft der Athleten abhängt: ,Drei Läufer, ein Land, ein Wille' heißt es stellvertretend für alle Läufer, als die drei Teilnehmer Finnlands zusammen die Wendemarke ansteuern. Unmittelbar vor der „Willen-Sequenz" erfährt der Zuschauer dann, dass selbst ehemalige Olympiasieger der Probe nicht gewachsen sind. Titelverteidiger Juan Carlos Zabala muss aussteigen, nachdem ihn das schnelle Anfangstempo .zermürbt' hat. Schon vorher hat es bei der Verpflegungsstation Bilder von Läufern gegeben, die offensichtlich die Anstrengungen nicht bewältigen können. Ausnahmsweise zeigt der Film die Schwachen und Gescheiterten, um so die Leistung derer, die ins Ziel zu kommen, zu unterstreichen. Nach der Bemerkung über das Scheitern des Favoriten schweigt der Kommentar und bis zum Erreichen des Stadions ist nur die drängende Musik zu hören, die den Willen darstellen soll, während auf der Bildebene das Leiden und die Erschöpfung der Sportler deutlich wird. Allerdings zeigt sich das nicht am Körper selbst, sondern in der Zusammenstellung der Bilder. Nahaufnahmen von Brust, Kopf und Beinen der führenden Läufer werden hintereinander geschnitten, dazwischen Bilder von einer rasch vorbeiziehenden Landschaft und Schattenrisse auf der Straße. Aufnahmen, die im Vorfeld der Spiele gemacht worden sind, zeigen Arme, die in ihren rhythmischen Bewegungen an die „Pleuelstangen einer Lokomotive"177 erinnern. Der Lauf hat etwas Maschinelles, der Körper wird von einer fremden Macht bewegt, die hier eindeutig als Wille gekennzeichnet wird, aber zugleich auch mit anderen Begriffen und Idealen belegt werden kann. Riefenstahl steigert die Dynamik der Sequenz, indem sie in immer schnellerer Abfolge Bilder „von Armen, Beinen, Ge-
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Herman Weigel: Interview mit Uni Riefenstahl. In: „Filmkritik", 1972, H. 8, S. 404f. Ich folge damit der Begrifflichkeit von Wildmann, Begehrte Körper, S. 62. Ebd., S. 63.
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sichtern und Oberkörpern verschiedenster Athleten" 178 aneinanderreiht. Die Ganzheit des individuellen Körpers löst sich auf, doch der fragmentarische Körper setzt sich mit den Einzelteilen anderer Körper zu einer neuen Ganzheit zusammen: zum Prinzip des Nicht-Aufgebens. Dass diesem Prinzip nicht nur einzelne, sondern viele Folge leisten, wird so ebenfalls zum Ausdruck gebracht. Alle Körper der Willen-Sequenz demonstrieren die Fähigkeit zur Selbstüberwindung. Trotz der Anstrengungen ist der Oberkörper der Läufer weiterhin aufgerichtet und Erschöpfungssymptome sind nicht zu erkennen. Son, der spätere Sieger, wischt sich nur einmal den Schweiß aus dem Gesicht. Dies ist der einzige Moment an dem der Körper aus seiner Idealität herausgehoben wird und als real existierender - und damit letztlich auch vergänglicher - Leib gezeigt wird. Aber da die Szene einmalig bleibt und der Läufer den Schweiß wegwischt, ist es eher eine Geste des Siegs über die körperlichen Unzulänglichkeiten. In späteren Einstellungen wird das Licht so genutzt, dass der Schweiß der Haut einen zusätzlichen Glanz verleiht und die Körper veredelt. Aus dem Makel der Anstrengung wird zusätzlicher Schmuck. Der Kampf gegen sich selbst wird durch die Schönheit des Körpers belohnt. 179 Mit dem Einsatz einer subjektiven Kamera erreicht die „Willen-Sequenz" ihren dramaturgischen Höhepunkt. Die Aufnahmen imaginieren den Blick eines Läufers, der auf seine eigenen Füße herunterschaut. Im Bild zu sehen sind daher nur die rhythmischen Schritte des Athleten auf ,dem glühenden Asphalt der Avus'. 180 Der Zuschauer wird durch diese Kameraeinstellung dazu animiert, sich in die Verfassung des Läufers hineinzuversetzen und „den Rausch und die Qual des Laufenden" 181 als eigene zu erfahren. Mit dieser Einstellung gelingt es Riefenstahl, die „vierte Wand" für Augenblicke zu durchbrechen und das Filmpublikum noch näher an das Geschehen zu binden. Gleichzeitig bedeutet die Art der Kameraführung eine Aufforderung an alle, es dem Marathonläufer gleich zu tun. Bald zeigt der Film, warum sich Durchhaltevermögen auszahlt. Die Geräuschkulisse des Stadions ist erst leise und dann immer lauter zu hören, bis schließlich von den Beinen des Sportlers in einer langen Kamerafahrt auf das Marathontor des Stadions übergeblendet wird. Der Lärm der Menschen zieht den Läufer an und „stützt seinen Willen". 182 Das Ziel vor Augen gibt es nun keine Aufgabe mehr. Das Stadion wird mit einer Fanfare angekündigt, noch bevor Son es endgültig erreicht. Fanfaren werden im Film leitmotivisch verwendet, um Ankunft und Beginn zu verdeutlichen, so im Vorspann des Films, beim ersten Entzünden des Feuers am Olymp, bei Hitlers Eröffnungsansprache und auch als das Stadion während des Prologs zum ersten Mal ins Bild kommt. Die Fanfaren heben die Feierlichkeit des Augenblicks hervor und zelebrieren die Übergänge. In diesem Fall wird der einsame
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Ebd. Ebd., Begehrte Körper, S. 79f. Technisch bewerkstelligt Riefenstahl diese Szene, indem sie den Marathonläufern beim Training eine kleine Kamera in einem Drahtkorb auf Brusthöhe befestigt, die nach unten gerichtet ist. Vgl. Graham, Riefenstahl and Olympia, S. 157. Bärbel Dalichow: „...verweile doch, du bist so schön ...". In: Filmmuseum Potsdam, Leni Riefenstahl, S. 125. Weigel, Interview, S. 404.
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Läufer wieder zurück in jene Gemeinschaft geführt, die er zu Beginn des Rennens verlassen hat, um seine Prüfung auf der Laufstrecke zu bestehen. Das Publikum klatscht begeistert, als die Läufer ins Stadion einkehren. Kaum sind sie im Ziel, werden sie von Sanitätern in Decken gehüllt. Schutz und Begeisterung, Wärme und Zuneigung spendet die Gemeinschaft dem Helden, der es der Stärke seines Willens verdankt, in die Gemeinschaft wieder aufgenommen zu werden. Der Wille wird zum Relais zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft. Er ist das Instrument, das den individuellen Körper auf den kollektiven ausrichtet und ihm unterordnet; er ftihrt die Körper auf die „Volksgemeinschaft" zu.183
Die Interpretation des Marathonlaufs lässt sich leicht auf nationalsozialistische Körperpolitik übertragen. Körperhaltung und Physiognomie des Siegers Son erinnern trotz seiner asiatischen Abstammung und Herkunft an das im Dritten Reich propagierte Schönheitsideal. Selbstüberwindung und Kampfbereitschaft werden nicht nur von Marathonläufern, sondern von allen arischen Männern als Vorbereitung für ihre soldatischen Aufgaben verlangt. Zudem ist faschistische Ästhetik bestimmt durch das Interesse an Situationen, in denen Beherrschung, außergewöhnliche Anstrengung und das Ertragen von Schmerzen ausgedrückt werden sollen.184 Das Stadion ist zugleich Versammlungsort der olympischen Gemeinschaft wie des deutschen Volkes. Nicht nur das kollektive Gedächtnis, das den Film in eine bestimmte historische Umgebung einordnet, weist darauf hin, dass die Inszenierung des Marathonlaufs auch Werbung für das Sportverständnis des Dritten Reiches ist. Gestiefelte SA-Männer säumen die Strecke, ein uniformierter Bläserchor der Wehrmacht spielt die Fanfaren, Sanitäter mit Hakenkreuzbinden nehmen die Athleten nach ihrem Lauf in Empfang. Zahlreich sind die Zeichen des NS-Regimes zu sehen. Thematisiert wird - wie schon in dem Festspiel Olympische Jugend - auch die über die Opferbereitschaft konstruierte geistige Nähe und Verwandtschaft zwischen den Sportlern und den Soldaten des Dritten Reichs. Am Ende des olympischen Marathonwettbewerbs schneidet Riefenstahl mehrere Zielankünfite hintereinander. Alle Athleten brechen im Ziel zusammen oder fallen erschöpft in die Arme der Sanitäter. Gesichter zeigen die Erschöpfung, Füße müssen gepflegt werden, manche der Läufer werden aus dem Zielbereich getragen. Daniel Wildmann sieht in der Haltung des letzten der ins Ziel fallenden Sportler eine Imitation des gekreuzigten Jesus und deutet die daraufhin folgenden Szenen der Siegerehrung als Zeichen erlangter Transzendenz, gleichsam als Visualisierung der Auferstehung.185 Dieser Interpretation des Opfers als Opfertod muss man nicht folgen - der Bezug vom sich aufopfernden Sportler, der seine Erfolge für seine Nation gewinnt, zum Soldaten, der auf dem Schlachtfeld sein Leben gibt, um seinem Volk zu dienen, wird auch außerhalb des Films auf zahlreichen Ebenen hergestellt. Diems Festspiel Olympische Jugend, die Langemarckhalle oder der Schwur der Olympiateilnehmer haben das
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Wildmann, Begehrte Körper, S. 72. Vgl. Sontag, Faszinierender Faschismus, S. 110. Vgl. Wüdmann, Begehrte Körper, S. 111-113. Nach dieser Theorie sind es gerade die Marathonläufer, die für die Einheit der Gemeinschaft sorgen, so wie Jesus durch seine Auferstehung im Sinne der christlichen Theologie die Menschen vereint hat.
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nationalsozialistische Verständnis vom Sport als geistige und ideelle Vorbereitung auf den Krieg bereits manifestiert. Insofern die Marathonläufer Vorbilder für die sportliche Jugend Deutschlands sind,186 sind sie es 1938 - ein Jahr vor dem deutschen Überfall auf Polen - automatisch auch für die militärischen Kämpfer. 5.5.3.6. Begehrte Körper Eine Regierung, die Krieg führen will, muss ihren Bürgern einen Lohn dafür versprechen, damit diese den eigenen Tod und den der Angehörigen in Kauf nehmen. Der Lohn, den die sich selbst aufopfernden Marathonläufer erhalten, ist ein dreifacher, der sich auf filmischer Ebene in den drei Elementen Körper, Olympiastadion und Siegerehrung ausdrückt. Aufgrund ihres Kampfes gegen eigene Widerstände verfügen die Athleten über einen schönen Körper, der sie attraktiv macht und ihren ebenfalls „schönen Charakter" nach außen trägt. Sie können sich daher als gute Menschen fühlen. Ihre Leistungen werden von der Gemeinschaft anerkannt, so dass sie von dieser Gemeinschaft als Helden verehrt und wieder aufgenommen werden. Den Läufern wird so ein neues Gefühl für ihre Heimat gegeben, die sie verlassen haben, um später triumphal wieder empfangen zu werden. Schließlich verspricht ihnen die Siegerehrung Erhöhung und dauerhafte Erinnerung. Auch nach ihrem Rennen wird den Medaillengewinnern noch gedacht - ähnlich wie den Gefallenen des Krieges nach ihrem Tod. Schönheit, Heimat und Ruhm - so lassen sich die Versprechen des OlympiaFilms zusammenfassen, die aus den verehrten Körpern der Modellathleten „begehrte Körper" 187 machen. Damit die Körper begehrt werden und zur Nachahmung aufrufen, bedarf es jedoch nicht nur ideeller Werte, die mit ihnen verknüpft sind, sondern auch einer sinnlich ansprechenden Darstellung derselben. Die scheinbare Nähe des Auges zum Objekt durch Zoom und Zeitlupe führt das Körperideal vor Augen, die ritualisierenden Wiederholungen der Wettkämpfe hämmern es ein und die subjektive Kamera lässt es für einen kurzen Augenblick erfahrbar machen. Es soll Spaß machen, sich in das olympische Fest hinein zu phantasieren, denn es ist ein Fest der Schönheit und Harmonie, selbst dann, wenn man die Rolle des leidenden Marathonläufers übernimmt. Zwar kann die Leinwand - ebenso wie Lacans Spiegelbild nicht wirklich überwunden werden, aber die Schönheit der gezeigten Bilder strahlt auf den Zuschauer zurück, der versucht so zu werden wie die Athleten im Film.
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Dass sie es sind, hat Riefenstahl selbst betont: Ihr Film soll die Jugend bewegen, „noch schöner, noch vollkommener zu werden". Vgl. Wildmann, Begehrte Körper, S. 132. So der Titel der schon mehrfach zitierten Studie von Daniel Wildmann über Riefenstahls Olympia-Film. Die Begrifflichkeit entspricht der Lacans. Nach Lacans Theorien zum Spiegelstadium entwickelt sich das „Begehren" als Reaktion auf das eigene Spiegelbild. Der Betrachter findet im Spiegelbüd erwünschte Idealvorstellungen seiner selbst verwirklicht und strebt danach, so zu werden, wie er sich im Spiegelbild selbst sieht. Das Ideal kann er nie ganz erreichen, weshalb er fortwährend begehrt. Entscheidend ist, dass die Idealvorstellungen historisch und diskursiv bedingte Konstruktionen sind. So erklärt sich, warum über das „Begehren" Menschen an Ideologien gebunden werden können. Vgl. Wildmann, Begehrte Körper, S. 15.
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6.
„Spektakel der Gefühle". Die Inszenierung Olympischer Spiele im Fernsehen
Als das Massenmedium der Olympischen Bewegung hat sich das Femsehen etabliert, nicht zuletzt, weil es die Femsehgelder sind, die den Löwenanteil der Einnahmen ausmachen. Das folgende Kapitel erläutert den Bolzschen Ansatz, die Welt der technischen Medien als konsequente Weiterentwicklungen des Wagnerschen Gesamtkunstwerks bzw. Nietzsches dionysischen Kult zu deuten, definiert die modernen Olympischen Spiele als Media Event und analysiert das Fernsehereignis Olympische Spiele in Sydney 2000 auf seine dionysischen Züge. Vor allem ist die Frage zu stellen, wie es dem Medium Femsehen gelingt, die räumlich getrennten Individuen zu einer Einheit zusammen zu schweißen und wie es den Mangel direkten körperlichen Erlebens kompensiert.
6.1. „Dabei sein ist alles". Fernsehen am Ende der Gutenberg-Galaxis 6.1.1. „Lava der Bilderströme" - die Welt der Neuen Medien 1993 sieht Norbert Bolz unsere Gesellschaft „am Ende der Gutenberg-Galaxis"1 angelangt, von der er sich bereits drei Jahre vorher verabschiedet hat. „Unser fanatischer Gebrauch der neuen Medien"2 zerbreche eine Tradition, die auf „Lesen, Schreiben und Studium"3 aufgebaut ist, da Radio und Femsehen die Welt als Hörund Schauspiel präsentieren. Begonnen, so Bolz, habe die Reise aus dem Universum der Sprache aber schon vor der Entwicklung des Rundfunks, und zwar mit einem Projekt namens Gesamtkunstwerk: Das Bayreuther Musikdrama ist „die Geburtsstunde der neuen Medien".4 In Übereinstimmung mit Nietzsche sieht Bolz den entscheidenden Unterschied in den Wagnerschen Werken zu anderen Kunstformen darin, dass sie nicht mit zu interpretierenden Zeichen, sondern mit der simultanen Erzeugung von Effekten operieren, die den Rezipienten so beanspruchen, dass es ihm nicht gelingt, sich vom Kunstwerk zu lösen, um eine kritische Distanz aufzubauen. Ohne einen gewissen
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So der Titel seines Buches: Die Ausführungen in diesem Abschnitt ziehen zwei weitere bereits zitierte Texte desselben Autors zu Rate. Bolz, Abschied von der Gutenberg-Galaxis sowie Bolz: Theorie der Neuen Medien. Bolz, Abschied, S. 154. Ebd., S. 139. Ebd., S. 139.
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Abstand ist es jedoch nicht mehr möglich, einen Autorensinn herauszufinden - „der Hermeneutik" hat „ihre letzte Stunde geschlagen". 5 Gesamtkunst erhebt nicht die Forderung Botschaften zu transportieren, sie operiert nicht mit Chiffren, die entschlüsselt werden müssen. Es braucht daher auch keinen bestimmten Bildungsgrad, um sie zu verstehen, sie ist allen gleichermaßen zugänglich. So öffnet Wagners Idee einer Volkskunst den „Raum der neuen Massenmedien", denn sie findet „nicht in der aufgeklärten Öffentlichkeit von Gelehrsamkeit und Wissen statt". 6 Zuwendung, nicht Verständnis, ist das, wonach Gesamtkunst verlangt. Wer sich auf ihre Musik- und Bilderströme einlässt, der hat ihren eigentlichen Sinn bereits begriffen: Sie ist „Stimulans des Lebens". 7 Wagners Gesamtkunstwerk etabliert daher einen neuen Kunstbegriff: Ästhetische Kommunikation ist ein Erregungskreislauf stimulierender Zeichen. Sie hat Erfolg, wenn Körper tanzen.8 Das Gesamtkunstwerk entfaltet seine Wirkung aus dem Zusammenspiel dionysischer und apollinischer Kräfte und ist daher nichts anderes als die erste technische Umsetzung von Traum- oder Rauscherfahrungen des Menschen, der in körperliche Extremzustände versetzt zu phantasieren beginnt. Im Rausch jedoch gehen Orientierung für Zeit und Raum, für Ursache und Wirkung, für die Position des eigenen Ichs verloren. Bolz' Beschreibung des Gesamtkunstwerks lässt Rückschlüsse auf sein Verständnis von den neuen Medien zu. Was die Medien demnach auszeichnet, ist ihr Potenzial, ästhetische Kräfte zu entfesseln, und weniger ihre Fähigkeit, Informationen zu übermitteln. „Concerning with effect rather than meaning"' nennt Marshall McLuhan dieses Phänomen, was sich auch darin ausdrückt, dass die Bedeutung eines Medienereignisses nicht an dem Inhalt zu messen ist, den es transportiert. Die erste Mondlandung etwa hatte weder für die Erforschung des Weltalls noch für das Leben auf der Erde wesentliche Folgen und wurde doch von Millionen von Menschen verfolgt. 10 Ein neueres, ähnlich gelagertes Beispiel für einen ,Medien-Hype", der in keinem Zusammenhang mit der Bedeutung des Ereignisses steht, ist die Berichterstattung im Zuge des Unfalltodes von Lady Diana Spencer aus dem Jahr 1997. Der Nachrichtenwert der Meldung ist angesichts von zahlreichen Verkehrstoten jeden Tag und der nicht gerade überragenden Stellung der englischen Prinzessin für die Weltpolitik eher gering einzuschätzen, dennoch sollen 2,5 Milliarden Menschen aus fast 200 Ländern ihrer Beerdigung zugesehen haben." Wie Massenkom5 6 7 8 9
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Ebd., S. 140. Ebd. Bolz, Am Ende, S. 164f. Ebd., S. 27. Marschall McLuhan: Understanding Media. McGraw-Hill 1965, S. 26. Zitiert nach Bolz, Abschied, S. 142. Vgl. Peter M. Spangenberg: TV, Hören und Sehen. In: Gumbrecht/Pfeiffer, Materialität der Kommunikation, S. 781. Vgl. Gabriele Werner: Das Lächeln der Diana. Vom Verschwinden des Realen im Mythos. In: .Jungle World", Nr. 37/1997, o.S.; es ist allerdings anzunehmen, dass die Zahlen über die Einschaltquote ähnlich übertrieben sind wie die bei Olympischen Eröffnungsfeiern.
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munikation funktioniert, ist daher die eigentliche Frage und nicht, was kommuniziert wird. Medien entgehen dem Maßstab der Erkenntnis; an ihnen zählen nur Materialität, Sende-, Empfangsbedingungen und Frequenz der Zeichen.12 Auch wenn die Qualität der Information gering eingeschätzt wird, bedeutet das nicht, dass die Medienerzeugnisse überhaupt keine Informationen erhalten, im Gegenteil: Tageszeitungen, Radiosender und Fernsehanstalten sind in einen Informationswettbewerb eingetreten, bei dem möglichst viele Nachrichten in möglichst kurzer Zeit und hoher Aktualität übermittelt werden sollen. Allerdings wird angesichts der Vielzahl von Meldungen und des raschen Wechsels, dem sie unterworfen sind, nicht mehr deutlich, warum sie überhaupt relevant für das Leben des Einzelnen sind. Der Informationsüberschuss führt dazu, dass dem Rezipienten die Orientierung ebenso schwer fallen muss wie das Aufbauen einer kritischen Distanz, denn wer weghört oder wegsieht, verpasst etwas. Medienkonsum erfordert daher permanente Aufmerksamkeit, damit die Flut der Zeichen überhaupt registriert werden kann. Die Fesselung ist physischer und psychischer Natur, physisch, da Auge und Ohr beansprucht werden, psychisch, weil die Zugehörigkeit zur Mediengesellschaft soziales Prestige verspricht, zumal die Medien öffentliche Diskussionsthemen vorgeben. 13 Da sie durchgehend das Verlangen stärken noch mehr zu erfahren, funktionieren Medien nicht als Filter zwischen Mensch und Welt, sondern regen die Rezipienten über die Sinne an, sich immer neuen Attraktionen zuzuwenden: Weil wir ohne Bild und Ton nicht mehr leben können, gibt es die Unaufhörlichkeit des sound und des screen.14 Unsere Welt wird von technisch erzeugten Bildern und Tönen beherrscht. Das liegt jedoch nicht allein daran, dass Massenmedien unaufhörlich visuelle und akustische Reize produzieren, sondern vor allem daran, dass sie sie reproduzieren und in weit entfernte Gebiete ausstrahlen. So wird jedes Signal tausend- und millionenfach empfangen, ohne dass sich das Zeichen selbst verändert. Daher lassen sich im System der elektronischen Medien, anders als etwa bei der Bildenden Kunst, Original und Abbild nicht voneinander unterscheiden. Die Kopie hat dieselbe Wirkung und erfüllt dieselben Funktionen wie das Original - sie ist daher auch nicht weniger wertvoll. Kunstwerke, in diesem Fall Medienerzeugnisse, verlieren so ihre Aura, wie Benjamin beschrieben hat.15 Schöpfertum, Genialität oder auch Werkidee sind Begriffe, die im Medienzeitalter obsolet geworden sind, um Medienprodukte zu bewerten. Was zählt, ist allein die Erscheinung, die auf ihren Ursprung weder zurückgeführt werden kann noch soll. Das bedeutet, dass es nicht
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Friedrich Kittler: Nietzsche. In: H. Turk (Hg.): Klassiker der Literaturtheorie. München 1979, S. 195. Zitiert nach Bolz, Neue Medien, S. 33. Dass Medien die Tagesordnung des öffentlichen Diskurses bestimmen, ist der Kem der „agenda setting"-Theorie. Vgl. James W. Dearing und Everett Μ. Rogers: Communication Concepts 6: Agenda-Setting. Thousand Oaks 1996. Bolz, Neue Medien, S. 113. Vgl. Benjamin, Kunstwerk, S. 18.
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mehr möglich ist, eine Differenz zu erkennen zwischen einem ausschließlich vom System erzeugten - demnach fiktiven - Medienprodukt und einer medialen Darstellung der Realität. Das hat Folgen für die Rezeption: Die Echtheit von Aussagen lässt sich nicht innerhalb des Mediensystems überprüfen, sondern nur anhand eigener Erfahrung. Doch deckt sich die Medienwelt selten mit der Alltagswelt und dem Erfahrungshorizont des Medienkonsumenten, denn zum einen stellen Medien bevorzugt das Ungewöhnliche, also das Nicht-Alltägliche, dar, zum anderen dient ihr Gebrauch dem Individuum ja gerade zur Kommunikation mit dem weit Entfernten, welches es sich nicht selbst unmittelbar erschließen kann. Der Zuschauer wird [...] immer mehr zum Konsumenten von Fremderfahrung.' 6
So kommt es, dass nur in Ausnahmefällen eine subjektive Kontrolle erfolgen kann, ob es eine Entsprechung zwischen einem realen Ereignis und seinem medialen Abbild gibt. Zusätzlich muss beachtet werden, dass Menschen sich anders verhalten, wenn sie wissen, dass eine Fernsehkamera, ein Mikrophon oder ein Fotograf in der Nähe ist, so dass bereits von Medien beobachtete Handlungen die „Spur des Mediums"17 in sich tragen, noch bevor sie in mediale Zeichen verwandelt werden. Das ist der Grund, warum es so schwer fällt, in der „Unaufhörlichkeit des sound und des screen"18 zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Wenn aber weder Relevanz noch Realität zur Strukturierung innerhalb der Medienwelt dienen, braucht es andere Anhaltspunkte, damit der Konsument im Rauschen der Datenflüsse nicht untergeht. Die Lava der Bilderströme muß zu Schemata der Existenz erstarren.19
„Schemata der Existenz" ist eine Umschreibung für Idole und Weltbilder, die errichtet werden, um eine Form vorzugeben. Niklas Luhmann spricht davon, dass die Massenmedien eine „neue Mythologie"20 geschaffen haben. Vor allem in den Unterhaltungsformen der Massenmedien sieht Luhmann das Mythische wirksam werden: Unterhaltung zielt wie einst die erzählten Mythen auf die Aktivierung von selbst Erlebtem, Erhofftem, Befürchtetem und Vergessenem. Bolz hat diesen Gedanken auf die Werbung übertragen: Werbung ist demnach deswegen erfolgreich, weil sie gegen die Entzauberung der Welt auf Magie und Totemismus setzt und die alten Werte der Religionen auf die Marken überträgt. Branding schafft so die Mythologie der postmodernen Welt, das große Orientierungsraster.21
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Spangenberg, TV, S. 785. Bolz, Abschied, S. 147. Bolz, Neue Medien, S. 113. Bo\z, Abschied, S. 163. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Opladen, 2. erw. Aufl., 1996, S. 109. Vgl. Norbert Bolz und David Bosshart: Kultmarketing: Düsseldorf 1995. Das Zitat entstammt einem gleichnamigen im Internet veröffentlichten Text. Vgl. http://www.uniessen.de/ikud/bolz/bolz.htm.
Zwei „media events"22 der letzten Jahre zeigen, dass die Dimension des Mythischen auch den Bereich der politischen und gesellschaftlichen Information erfasst hat: die schon erwähnte Berichterstattung nach Lady Dianas Tod am 31. August 1997 und die mediale Aufarbeitung der Terroranschläge in den USA vom September 2001. Figuren innerhalb dieser Mediendarstellungen werden zu Leit- und Feindbildern personifiziert - Diana Spencer erscheint als „Synonym für Menschlichkeit, Zugewandtheit, für soziales Empfinden", 23 und der Terror erhält sein Gesicht in den Fahndungsfotos von Usama Bin Laden.24 Während die zerstörten Gebäude zu Symbolen des amerikanischen Selbstverständnis werden, bekommen die Bilder der Flugzeuge, die zu Waffen umfunktioniert vom Himmel stürzen, metaphorische Bedeutung als Einbruch des Unfassbaren in die Welt des Alltags.25 Zum Teil greifen Medien mythische Konstellationen auf und verstärken sie, zum Teil generieren sie sie selbst. Was Nietzsche für das griechische Theater festgestellt hat, gilt auch im System der Massenmedien: Die Funktion des Mythischen liegt in seiner schützenden Betäubung der Kraft des Dionysischen. Bolz hat das schon 1990 beschrieben, als die Medienwissenschaft noch eine „fröhliche"26 war und er noch nichts vom „schwärzesten Tag in der Geschichte der Massenmedien"27 ahnen konnte. Daran wird deutlich, dass er nicht den Schutz vor dem Schrecken des Lebens meint, sondern vor dem Ansturm massenmedialer Schocks, der unsere Sinne zu überwältigen droht.28 Mythisch nennt McLuhan auch das Leben im „global village".29 Dank des dichten Netzwerks elektronischer Medien ist es möglich, überall gleichzeitig zu sein. Zudem bieten die verschiedenen Archive „ Z u g r i f f auf alle Vergangenheiten".30 Damit ist alles, was je von Medien aufgenommen und gespeichert wurde, jederzeit gegenwärtig. Geschichte als linearen Ablauf von Zeit gibt es im Medienverbund nicht mehr. Medienerzeugnisse sind zeitlos, ebenso wie Mythen es sind. Der Begriff „global village" verdeutlicht zugleich, dass eine Folge der konsequenten Mediennutzung das Schwinden der Feme ist. Die Beschleunigung der Nachrichtenübermittlung hat zu einer neuen Wahrnehmung des Raums geführt: Im Zeitalter der Telekommunikation, da sich jede Distanz in Sekundenschnelle überbrücken lässt, ist alles gleichermaßen präsent und in Reichweite. Medien setzen
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Die Begrifflichkeit folgt: Daniel Dayan und Elihu Katz: Media Events. The Live Broadcasting of History. Cambridge, Massachusetts, London, 2. Aufl. 1994. Zum Verständnis des Begriffs vgl. auch Kapitel '6.2.1. Werner, Lächeln der Diana. Franziska Augstein: Der Feind. Schuld muss ein Gesicht haben: Bin Laden hat eine Rolle. In: „Süddeutsche Zeitung", 20.9.2001, o.S. Vgl. John B. Thompson: Bilder als Komplizen. Im Kampf der Symbole haben Amateurvideos und Endlosschleifen den Terror sichtbar gemacht. In: „Die Zeit", Nr. 39/2001, S. 66. Bolz, Neue Medien, S. 111. Thompson: Bilder als Komplizen, S. 66. Thompson meint den 11. September 2001, den Tag der Terror-Attentate auf New York und Washington, die im Fernsehen beinahe live zu sehen waren und „Tod und Terror sichtbar" (ebda.) gemacht haben. Vgl. Bolz, Neue Medien, S. 122. Vgl. McLuhan, Understanding media, S. 25. Zitiert nach Bolz, Neue Medien, S. 122. Bolz, Neue Medien, S. 122.
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Menschen in die Lage, der Welt auf den Leib zu rücken. 31 Anknüpfend an die Theorien von Benjamin und McLuhan deutet Bolz die Nähe des Rezipienten zu den von Medien übermittelten Dingen als taktile Erfahrung. 32 Taktilität ist hier als Gegensatz zum Optischen zu verstehen und meint nicht die Dominanz des Tastsinns. Während der optische Mensch seine Umwelt betrachtet, sich ihr gegenüberstellt und sich so von ihr distanziert, nimmt sie der taktile Mensch mit allen Sinnen als Körpererfahrung auf. Elektronische Medien legen eine solche taktile Rezeption nahe. Dafür gibt es zwei Anhaltspunkte: Zum einen lassen sie dem Rezipienten aufgrund ihrer raschen Zeichenfolge keine Zeit, Details zu betrachten, wenn er nicht aus dem Kommunikationsprozess vorübergehend oder dauerhaft aussteigt. Zum anderen selektieren die Massenmedien selbst nach dem Prinzip der Sensation und machen „aus Daten Ereignisse mit news value".33 Das heißt, sie versuchen den passiv bleibenden Rezipienten unentwegt zu überraschen. Und überraschte Menschen bleiben nicht ruhig sitzen, um zuzuhören oder zu beobachten - sie zucken zusammen. 6.1.2. TV-Kollektive - die,.Kommunikationsgemeinschaft der Fernseher" Obwohl mittlerweile eher das Internet die Zugehörigkeit zum „global village" verspricht, ist das Fernsehen dennoch ein dominantes Medium geblieben, um an der Welt teilzuhaben. Medienforschung und -theorie sprechen vom „institutionalisierten" 34 oder „automatisierten" 35 Gebrauch des Femsehens. Ob wir autark über den Fernseher verfügen oder ob die Sicht des Fernsehens unsere Weltsicht bestimmt, wie die Metapher vom „angewachsenen Fernseher" 36 nahe legt: Generalisierend lässt sich feststellen, dass Fernsehen in westlichen Gesellschaften im alltäglichen Medienkonsum nach wie vor eine überragende Rolle spielt. Demzufolge muss nach Bolz' Theorie der neuen Medien auch das Fernsehen dionysische Züge in sich tragen. Zumindest spricht das audiovisuelle Fernsehen wie z.B. Wagners Musikdrama zwei Sinne gleichzeitig an und bindet die Aufmerksamkeit. Auge und Ohr sind ständig neuen Reizen ausgesetzt, was den Fernsehzuschauer im Alltag davon entlastet, eine Entscheidung zu treffen, mit welchem Gegenstand er sich befassen soll. Darin liegt der Grund, warum Menschen gerne mit Fernsehen von den Ereignissen und den Anforderungen des nicht-medialen Lebens „abschalten". 37 Auch das ist eine vorübergehende Selbstaufgabe des Ichs, die ebenso freiwillig geschieht und als angenehm erfahren werden kann wie die Selbstaufgabe des Individuums in der
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Vgl. Bolz, Abschied, S. 147. Vgl. Bolz, Neue Medien, S. 122-124. Ebd., Neue Medien, S. 92. Monika Eisner und Thomas Müller: Der angewachsene Fernseher. In: Gumbrecht/Pfeiffer, Materialität der Kommunikation, S. 392. Spangenberg, TV, S. 776. Elsner/Müller, Fernseher, S. 393. Der Begriff des „Abschaltens" in diesem Zusammenhang zeigt, wie sehr der Fernseher tatsächlich „angewachsen" ist. Der Mensch empfindet sich selbst als Apparat, den er ausschalten kann, indem er einen anderen Apparat einschaltet.
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Kollektivseele der Masse, wenn sie auch auf ganz andere Art und Weise bewerkstelligt wird. Um „Fem-Sehen" zu können, muss sich der Zuschauer in der Nähe des Empfangsgeräts aufhalten. Im Gegensatz zum Zeitungsleser ist der TV-Rezipient damit körperlich an einen Ort und terminlich an eine Zeit gebunden. Das garantiert eine intensivere Form der Zuwendung. Der gelenkte Blick wird zusätzlich gefesselt durch die Eigenschaft des Fernsehens, die allgemeine Tendenz von Medien .Abstand an sich zu reduzieren auf die Spitze"38 zu treiben. Im Femsehen kann der Mensch nicht nur weit entfernte Orte und Begebenheiten sehen, er sieht sie dank der für das Fernsehen typischen Nahaufnahmen auch näher und besser, als er es vom alltäglichen Leben her kennt. So gewinnt der Zuschauer intime Einblicke,39 die ihn wiederum im Glauben, etwas Reales zu sehen, bestärken. Zwar ist die „Qualität visueller Erfahrung" 40 geringer als die im Kino, aber dafür sind die Menschen, die es zu sehen gibt, nicht nur Figuren eines Films, sondern Politikerinnen und Politiker, Show- oder Sportstars, die auch noch eine Existenz als reale Personen außerhalb der Medien haben. Der „human touch" lässt die Fernsehstars „erreichbarer"41 wirken und verleiht den Medieninhalten den Anschein von Echtheit. Während der Zuschauer beim Film die Fiktionalität immer mitdenkt, geht er beim Fernsehen - sofern keine Spielfilme gesendet werden - zunächst davon aus, dass es die Realität so gut wie möglich abbildet.42 Auf diese Weise schaffen die Bilder eine Vertrautheit, deren Wirkung man sich nur schwer entziehen kann. Doch das Femsehen operiert nicht nur mit visuellen, sondern auch mit akustischen Zeichen. Neben Musik und der Verwendung von Originaltönen ist dabei ein typisches Femsehelement die kommunikative Verarbeitung der Bildebene durch einen Kommentator, Moderator oder Nachrichtensprecher: Die Transformation von visueller Wahrnehmung zu einem Ereignis, das der Zuschauer wahrnehmen [...] soll, geschieht durch diese parallele sprachliche Kommunikation, die auch den Einsatz von Schrift einschließt, [...] und bewirkt eine intensivierte Semantisierung der Wahrnehmungsgegenstände. [...] Gegen eine solche Semantisierung eigene Differenzen - also Beobachtungen - durchzusetzen, kann sich als schwierig erweisen. Es nicht tun zu
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Samuel Weber: Zur Sprache des Fernsehens: Versuch, einem Medium näher zu kommen. In: Jean-Pierre Dubost (Hg.): Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung. Leipzig 1994, S. 75. Vgl. Elsner/Müller, Fernseher, S. 410f. Spangenberg, TV, S. 786. Elsner/Müller, Fernseher, S. 411. Der beruhigende Spruch von Eltern an ihre Kinder bei nicht-kindgerechten Spielfilmszenen im Femsehen heißt ja auch: „Das ist alles nur ein Film", und nicht: „Das geschieht alles nur im Fernsehen". Während etwa beim Kino- oder Theaterbesuch schon allein dadurch, dass der Zuschauer seine Wohnung verlassen muss, der Übergang in eine andere Welt vollzogen wird, gehört Femsehen zur Alltagserfahrung. Der Bildschirm manifestiert keine eindeutige Grenze zwischen Alltagswirklichkeit und Femsehwirklichkeit, auch weil man permanent zwischen den beiden Realitätssphären hin und her wechseln kann. Daher verwischen sich die Grenzen zunehmend. Vgl. Elsner/Müller, Fernseher, S. 398.
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müssen, kann in einer von gesellschaftlicher Komplexität Uberreichen Umwelt durchaus auch als Erleichterung erfahren werden.43 Insofern es einer Aufladung der Wahrnehmung mit Bedeutung bedarf, wird sie vom Medium selbst vorgenommen. Dadurch fällt es leichter, dem Geschehen zu folgen, der TV-Zuschauer bleibt ein aufmerksamer Zuschauer, weil er nicht über den Sinn von Bildern nachgrübeln muss. Kritische Distanz und individuelle Stellungnahme sind zwar jederzeit möglich, werden aber weder gefordert noch gefördert. Fernsehprodukte liefern ihre eigene Interpretation gleich mit. Eine weitere Eigenart des Fernsehens, die es ansonsten nur mit dem Radio und einigen Veranstaltungsformen im Internet teilt, ist die Gleichzeitigkeit des Empfangs. Wenn auch räumlich voneinander getrennt, verbindet doch alle Zuschauerinnen und Zuschauer, dass sie dasselbe zur selben Zeit tun, nämlich dieselben Bilder betrachten. So können Fernsehsendungen zu Ereignissen werden. Zwar sind angesichts der Vielfältigkeit der Medienlandschaft so genannte „Straßenfeger" selten geworden, aber dennoch ermöglicht das Fernsehen eine Gemeinschaftserfahrung von Menschen, die sich noch nie getroffen haben. Insbesondere bei Sportereignissen wird das deutlich: So titelte die BILD-Zeitung am 25. Juni 1990 in Erwartung eines WM-Fußballspiels: „Ganz Deutschland ist heute ein Wohnzimmer".' 14 Aber auch bei negativ besetzten Ereignissen spielt der Gedanke an eine emotionale Verbrüderung der Zusehenden mit, wie John B. Thompson anhand seiner Eindrucke zu den Anschlägen vom 11. September 2001 auf World Trade Center und Pentagon beschreibt: Wie nie zuvor stiftete das Medium [das Femsehen, d. Vf.] ein weltumspannendes, kollektives Erlebnis von Trauer und Entsetzen. In ihm fanden sich Millionen Menschen wieder, die weit verstreut in unterschiedlichen sozialen und individuellen Kontexten leben, mit verschiedenen Weltsichten, und die vielleicht nur wenige Werte teilen. Was diese Menschen verband, war der Verlust an Vertrauen.45 Der Grund, sich „einzuschalten in die Kommunikationsgemeinschaft der Fernseher" 46 kann genauso freudige Erwartung sein wie Angst vor Katastrophen. Ebenso sind Aktualität von Ereignissen, Flucht vor dem Alltag, der Wunsch mitreden zu können, die Sorge etwas zu versäumen oder die Anpassung des individuellen Tagesablaufs an den Zeitplan des Fernsehprogramms Motive, an einer vom Fernsehen geschaffenen Öffentlichkeit teilhaben zu wollen. Im Gegensatz zu anderen Massenmedien gelingt es dem Fernsehen besonders gut, die emotionale Bindung der Gemeinschaft zu stärken und aufrecht zu erhalten, indem entweder im Fernsehen selbst oder in anderen Medien die Gemeinschaft als Gemeinschaft thematisiert wird. So beweist allein schon die nachträglich veröffentlichte Einschaltquote, dass man die
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Spangenberg, 7V, S. 784. Dass es angenehm sein kann, die Interpretation abgenommen zu bekommen, ist sicher richtig. Allerdings kann es auch besondere Freude bereiten und befreiend wirken, Kommentare gegen den Strich zu interpretieren, um sich dann ironisch von ihnen abzusetzen. Wortwahl und Parteinahme von Sportkommentatorinnen und -kommentatoren etwa bieten dazu reichlich Anlass. Vgl. Neil Blain, Raymond Boyle und Hugh O'Donnell: Sport and National Identity in the European Media. Leicester, London, New York, 1993, S. 51 u. 80f. Thompson, Bilder als Komplizen. Spangenberg, TV, S. 789.
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Sendung nicht allein geschaut hat, sondern zusammen mit vielen - oft Millionen anderen Menschen. Ein Beispiel dafür, dass Fernsehen kollektiven Zusammenhalt stiften kann, der über die synchrone Rezeption hinaus geht, sind Fernsehserien, die bei genügendem Erfolg Fangemeinden an sich binden, deren Mitglieder auch über Zeitschriften, Fanclubs oder Foren im Internet miteinander kommunizieren. Die Gleichzeitigkeit des Empfangs ist ein unschätzbarer Vorteil, um Fernsehen als kollektives Erlebnis zu inszenieren, denn so lässt sich das Gefühl „medialen Dabei-Seins" 47 erzeugen, was sich insbesondere bei Live-Übertragungen verstärkt. Live-Übertragungen sind einmalig und lassen sich nicht wiederholen, zumindest nicht ohne dass sie ihren eigentlichen Charakter verlieren würden. Ihren besonderen Reiz haben Live-Berichte durch ihre Aktualität, die die höchstmögliche ist, die es geben kann, nämlich Gleichzeitigkeit von Ereignis, Übertragung und Empfang. Wer live berichtet, berichtet auch als erster, wer einer Live-Übertragung zuschaut, ist als erster informiert. Da Aktualität ein wichtiges Selektionskriterium innerhalb der Nachrichtenflut auf Seiten der Produzenten wie Rezipienten ist, verliert die zeitversetzte Übertragung an Bedeutung gegenüber der Live-Übertragung. 48 Der amerikanische Fernsehsender NBC berichtete über die Olympischen Spiele von Sydney zwar zur eigenen Prime-Time, aber dafür manchmal bis zu 15 Stunden nach dem Ende der Wettbewerbe auf dem australischen Kontinent. Das führte zu Einschaltquoten, die deutlich unter denen der letzten drei Olympischen Spiele lagen.49 Durch ihre absolute Aktualität und dem für das Fernsehen typischen intimen Blick ermöglichen Live-Berichte ein Gefühl des Miterlebens, das den Mangel an körperlicher Anwesenheit zumindest teilweise auffängt. So kann eine „Illusion des Dabei-Seins" entstehen, die sich im Zuge der Gewöhnung an das Medium Femsehen als „akzeptable Form der Partizipation" 50 etabliert hat. Die Akzeptanz geht so weit, dass Zuschauerinnen und Zuschauer am Fernsehbildschirm Reaktionen zeigen, als befänden sie sich tatsächlich vor Ort. Dafür sind Fußballfans, die vor dem Fernsehgerät ihre Mannschaft anfeuern, genauso ein Beispiel wie religiöse Menschen, die sich angesichts einer im Fernsehen übertragenen Messfeier so verhalten, als wären sie in einer Kirche.51 Drei Momente kompensieren die „verloren gegangenen Effekte" 52 echter körperlicher Partizipation: zum einen die Schnelligkeit des Daten-Transfers, der die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption ermöglicht, zum zweiten die visuelle und intime Nähe zu Personen und Dingen, die den Blick des TV-Rezipienten über47 48
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Elsner/Müller, Fernseher, S. 399. Daher suggerieren zahlreiche TV-Shows, dass die Ausstrahlung live erfolgt, obwohl sie oft schon Tage oder Wochen vorher aufgezeichnet wurden. Siegle, Jochen Α.: Cybercops ßr Samaranch. In: „Spiegel-online", 27.9.2000; gegenüber den Spielen von Atlanta waren die Einschaltquoten von Sydney um 36% geringer. Selbst bei den Spielen von Seoul 1988 konnte NBC um 12% höhere Einschaltquoten erzielen. Es ist anzunehmen, dass sich die Sportinteressierten schon vor der Ausstrahlung auf anderen Medien wie dem Internet über die Ergebnisse informiert haben. Elsner/Müller, Fernseher, S. 400. Vgl. ebd., S. 399. Ebd., S. 412.
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legen erscheinen lässt, zum dritten die „soziale Atmosphäre eines Massen-liveErlebnisses", 53 die die Vereinzelung des Individuums in seinem Wohnzimmer durch emotionale Bindung an die nationale und internationale Gemeinschaft von Femsehzuschauerinnen und -zuschauem aufhebt. Die dionysischen Theaterprojekte zu Beginn des 20. Jahrhunderts propagierten das Niederreißen von Grenzen, insbesondere auch das zwischen Bühnenraum - oder allgemeiner: „Vorfiihr"-Raum - und Zuschauersaal. Das Publikum sollte einen aktiven Part übernehmen und mit den Künstlerinnen und Künstlern interagieren. Der Fernsehzuschauer scheint dagegen eher eine passive Rolle zu haben - Femsehkonsum erfordert nur ein minimales Maß an Aktivität: zur rechten Zeit (zum Programmbeginn) am rechten Ort (zu Hause) zu sein. Dies ist aber mehr vorbereitender Natur. Hat sich der Rezipient erst ins fortwährend laufende Programm eingeschaltet, wird ihm sogar die Aufgabe zur Interpretation und Deutung abgenommen. Dennoch bieten sich dem TV-Konsumenten begrenzte Einflussmöglichkeiten. Das Fernsehen hat Sendeformen etabliert, in denen die aktive Teilnahme des Fernsehpublikums gefordert wird und Bestandteil der Fernsehsendung ist. TedAbstimmungen über den Sieger von Femseh-Shows, die Möglichkeit, am Telefon Fragen zu stellen, die Bitte, bei der Aufklärung von Kriminalfallen zu helfen, oder auch nur der Aufruf, an Gewinnspielen teilzunehmen, holen den TV-Zuschauer aus seiner zurückgezogenen Haltung und geben ihm das Gefühl, eine wichtige Rolle für das Gelingen der Sendung und im Kommunikationssystem des Medienverbunds allgemein einzunehmen. Zudem gibt das Fernsehen seinen Nutzern ein Instrument in die Hand, mit dem sie in die Lage versetzt werden, individuell in die Femsehabläufe einzugreifen: die Fembedienung. 54 Sie suggeriert dem TV-Konsumenten das Gefühl von Macht gegenüber dem Medium, da er die Kopplung ans Fernsehen ständig unterbrechen kann. 55 Darüber hinaus besteht für den Zuschauer die Möglichkeit Bild und Ton zu verändern sowie Programme selbst zu gestalten. Im Hin- und Herschalten zwischen den einzelnen Sendern liegt gewissermaßen eine schöpferische Kraft, da sich jeder Einzelne so sein eigenes TV-Programm zusammenstellt. „Zappen" ist der individuelle, kreative - wenn auch meist zufällige - Umgang mit dem Medium Femsehen. Zugleich demonstriert „Zappen" die Überlegenheit des technischen Apparats gegenüber dem menschlichen Körper: Via zahlreicher TV-Kameras gelangt der Zuschauer nicht nur an einen Ort, sondern an viele Orte, ohne seinen eigenen Körper bewegen zu müssen. 56 Die Einfachheit der Welterfahrung per Knopfdruck weckt das Verlan-
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Ebd., S. 412 Dass die Fernbedienung den Zuschauer in die Lage versetzt, Fernsehen ansatzweise als interaktives Medium zu begreifen, hat Derrick de Kerckhove beschrieben. Vgl. de Kerckhove, Touch versus Vision, S. 153. Vgl. Spangenberg, TV, S. 789. Spangenberg merkt an, dass dies möglicherweise einer der Gründe für die Verfiihrungskraft des Femsehens sein kann. Das Wissen, den Apparat jederzeit ausschalten zu können, entlastet einen von der Verantwortung, es auch zu tun. Vgl. Weber, Sprache des Femsehens, S. 80.
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gen nach mehr, die Lust am Dabei-Sein steigert sich zu einer Lust am „überall Dabei-Sein".57
6.2. Dionysos in der Maschine. Berauschender Fernsehsport 6.2.1. „Media events" Bolz' Medientheorien stellen das Fernsehen in den Kontext der dionysischen Kunsterfahrung seit Wagner. Gegen diese Konstruktion spricht jedoch, dass Femsehen ein Medium des alltäglichen Gebrauchs geworden ist, während Gesamtkunst zum Festlichen und Besonderen, eben Nicht-Alltäglichen, tendiert. Allerdings gibt es Höhepunkte, die sich vom gewöhnlichen Programm abheben, und mit denen der Fernsehzuschauer aus dem Femsehalltag ausbricht. So sind Live-Übertragungen bedeutender politischer und gesellschaftlicher Ereignisse nicht zu vergleichen mit solchen Sendungen, die jeden Tag zu einer bestimmten Sendezeit laufen. Elihu Katz und Daniel Dayan haben diesen massenwirksamen TV-Live-Berichten einen Namen gegeben: „media events".58 Die Bedeutung verschiebt sich: Nicht das Ereignis selbst ist wichtig, sondern die mediale Partizipation daran. „Media events" brechen entweder als das Überraschende in die gewohnten Rezeptionsstrukturen ein - bei Ereignissen, mit denen niemand rechnen konnte - oder aber sie werden schon im Vorfeld so angekündigt, dass sie als etwas Außergewöhnliches erscheinen. Entsprechend groß ist die Zahl der Zuschauerinnen und Zuschauer vor den Bildschirmen, entsprechend hoch ist die Erwartungshaltung des Rezipienten.59 Das Genre der Live-Übertragungen demonstriert den spezifischen Vorzug des Medium Fernsehens: sein Publikum schnellstmöglich in Sichtweite der Orte zu bringen, wo etwas Außergewöhnliches passiert oder passieren soll. Einmalig, unwiederholbar und von großer Anziehungskraft sind „media events" das Besondere im alltäglichen Femsehgebrauch. Katz und Dayan nennen sie daher die „high holidays of mass communication"40 und sehen eine Nähe zu religiösen Festen: Like religious holidays, major media events mean an interruption of routine, days off from work, norms of participation in ceremony and ritual, concentration on some central value, the experience of communitas and equality in one's immediate environment and of integration with a cultural center.61
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Bolz, Neue Medien, S. 124. Dayan/Katz, Media Events, S. 1. Neben den hier besprochenen „media events", die Bezug nehmen auf ein außerhalb des Fernsehen stattfindendes Ereignis, können natürlich auch andere Sendungen und Formate als Höhepunkte des Programms inszeniert werden und dementsprechend ähnliche Funktionen erfüllen. So ist zum Beispiel der TV-Sketch Dinner for one ein Format, das durch seine regelmäßige Ausstrahlung am Silvesterabend zur Festkultur vieler Familien gehört. Dayan/Katz, Media Events, S. 1. Ebd., S. 16.
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„Media events" zeichnen sich dadurch aus, dass sie aufgrund ihres Live-Charakters unvorhersehbar sind und daher eine gewisse Spannung versprechen. Sie finden nicht ausschließlich im oder für das Fernsehen statt, was ihren Inhalten die Bedeutung des Realen verleiht, und sie schaffen es, ein großes Publikum unabhängig von unterschiedlichen sozialen Prägungen oder geschmacklichen Vorlieben zu elektrifizieren. They [die „media events", d. Vf.] are gripping, enthralling. They are charakterized by a norm of viewing in which people tell each other that it is mandatory to view, that they must put all else aside.62
Die Einschaltquoten sind dementsprechend hoch: Der Mondlandung sollen 130 Millionen US-Amerikaner zugeschaut haben, der Beerdigung von John F. Kennedy sogar 190 Millionen, was einem Anteil von 80% der Gesamtbevölkerung der USA entspricht.63 Die Inszenierung von „media events", für deren Ausstrahlung sogar feste Sendeplätze verschoben und Programmstrukturen umgewälzt werden, sind ein Glücksfall für TV-Anstalten, denn sie versprechen Imagegewinn und wirtschaftlichen Erfolg. Mit hohem publizistischen Aufwand berichten die Sender daher von Prinzenhochzeiten, Beerdigungen von Staatsoberhäuptern, Trauerfeiern, Rockkonzerten mit politischen Botschaften, dem Jahrtausendwechsel, der Mondlandung oder der Sonnenfinsternis. So befriedigen sie vorübergehend die Sensationslust des TVKonsumenten, die sie selbst teilweise im Vorfeld entfacht haben. Allerdings liegt es in der Natur der Sache, dass die nächste Sonnenfinsternis in Europa lange auf sich warten lässt, es nicht jedes Jahr einen Jahrtausendwechsel geben kann und Traumhochzeiten in europäischen Königshäusern selten geworden sind, nachdem nur noch wenige Staaten von Monarchen regiert werden. Den Mangel an historisch gewichtigen Momenten, die auch tatsächlich von den Fernsehkameras eingefangen werden,64 kompensieren die Anbieter der wachsenden Zahl von Programmen auf zweifache Weise: Sie kreieren selbst „media events", indem sie etwas Alltägliches zum Bedeutsamen deklarieren, oder aber sie füllen diese Lücke mit Sport. 6.2.2. Medienprodukt Fernsehsport Sport hat für das Fernsehen einen entscheidenden Vorteil: Er produziert Großereignisse in schöner Regelmäßigkeit. Welt-, Europa- oder Deutsche Meisterschaften finden in zahlreichen Sportarten und in wiederkehrenden Ein-, Zwei- oder Vieijahresrhythmen statt. Zudem sind nicht nur die Finalentscheidungen der großen Wettkämpfe interessant - das Einmalige und Besondere, der Rekord, kann sich immer und überall ereignen, auch bei einem kleinen Leichtathletiksportfest. Deswegen
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Ebd., S. 8f. Vgl. ebd., S. 126. Auch wenn das Fernsehen den Gindruck erweckt, Uberall dabei sein zu können, kommen die Kameraleute zum eigentlichen Ereignis oft zu spät und können nur noch Aufnahmen von den Folgen machen. Dennoch vermitteln viele Live-Sendungen das Gefühl, dass das Wichtigste und Aktuellste immer im Bild zu sehen ist.
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stehen die Fernsehkameras Uberall da, wo Spitzenleistungen in publikumswirksamen Sportarten möglich sind. Spitzensport und Fernsehen sind mittlerweile zwei nicht mehr voneinander zu trennende Bereiche mit zahlreichen Berührungspunkten. Beide Seiten profitieren von der Beziehung: Der Sport versorgt das Fernsehen mit Stoff für Nachrichten, Unterhaltung und Werbung - den drei Hauptfunktionen von Massenmedien nach Niklas Luhmann 65 und das Femsehen verschafft dem Sport, und damit den Sportlerinnen und Sportlern, den Funktionären und den Sponsoren, die nötige, bisweilen weltweite Publizität. Fernsehsport verspricht Spannung und Sensationen, aktuelle Nachrichten und ästhetische Schaubefriedigung durch bewegte Körperbilder. Das Interesse, das ihm entgegengebracht wird, ist traditionell hoch. Bei Übertragungen von Sportereignissen erzielen die TV-Sender die höchsten Einschaltquoten - oft auch außerhalb der besten Sendezeit - und verbuchen so hohe Werbeeinnahmen. 66 Seine Attraktivität macht den Sport zu einem bedeutenden Faktor im TV-Business. Um sich die Exklusivität der Berichterstattung zu sichern, zahlen daher die Programmanbieter immens hohe Summen für Senderechte. 67 Durch die finanziellen Zuwendungen wird der Sport immer mehr von seiner Beziehung zum Fernsehen abhängig und damit zu einem Medienprodukt. TV-Sender diktieren Anfangszeiten und Spielpläne, fordern die Bereitschaft zu Interviews und nehmen Einfluss auf Regeln und Rechtsprechung. 68 Der Sport, angewiesen auf
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Vgl. Luhmann, Realität der Massenmedien, S. 51. Aufgrund der höheren Segmentierung im Programmangebot sind die Einschaltquoten allerdings zurückgegangen. Konnten in den 70er Jahren Fußball-Länderspiele noch Quoten von 70 % erreichen, werden heute nur noch in Ausnahmefällen bei Großereignissen wie Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen mehr als SO % erreicht. Das liegt dennoch deutlich über den Schnitt anderer Fernsehsendungen. Vgl. Siegfried Wetschenberg: Annäherungen an den Außenseiter. Theoretische Einsichten und vergleichende empirische Befunde zu Wandlungsprozessen im Sportjoumalismus. In: „Publizistik", 1994, S. 431f. Vgl. Weischenberg, Annäherungen an den Außenseiter, S. 431. Da die Senderechte für Großveranstaltungen jedoch meistens auf Jahre hinaus vergeben sind, müssen die TVAnstalten auf andere, noch weniger bekannte Sportarten zurückgreifen und diese so in den Vordergrund rücken, bis sie ihre Beachtung im Mediensystem finden. RTL hat beispielsweise nach dem Verlust der Übertragungsrechte der Fußball-Bundesliga einen - durchaus erfolgreichen - Versuch unternommen, mit Formel 1, Boxen und Skispringen weitere Sportarten als attraktive Medienereignisse zu vermarkten. Dabei muss, wie besonders das Beispiel Boxen zeigt, das Femseh-Publikum bisweilen für eine Sportart mobilisiert werden, ohne dass vorher eine entscheidende Veränderung im Sportinteresse der Bevölkerung stattgefunden hätte. Daran wird deutlich, dass der Sport primär zu einem Medienereignis geworden ist und die elektronischen Massenmedien den Diskurs über ihn bestimmen. Beispiele für auf Druck des Fernsehens zustande gekommene Regeländerungen sind die Verkürzung des Modernen Fünfkampfs auf einen Wettkampftag (vgl. Dirk Schmidtke: Grenzfall Athlet. Macht und Einflußnahme der Medienmultis. In: Willi Ph. Knecht (Hg.): Mammon statt Mythos. Der deutsche Sport 2000. Berlin 1997, S. 180) oder die Einfuhrung des Tie-Breaks in Rückschlagsportarten wie Tennis oder Volleyball, mit dem Spiel- und Fernsehzeit überschaubarer gemacht werden sollen. Im Fußball gibt es seit einiger Zeit die Überlegung, die Spielzeit in Drittel aufzuteilen, um mehr Werbepausen zu ermöglichen. Aktueller ist dort jedoch derzeit die Diskussion über den Femsehbeweis, der den nach wie vor gültigen Tatsachenentscheid des Schiedsrichters außer Kraft setzen soll. Bereits jetzt
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Fernsehgelder, versucht sich tv-konform zu gestalten. Die „Wirklichkeit passt sich ihrer Reproduktion an".69 Die gegenseitige Abhängigkeit von Sport und Fernsehen ist mittlerweile zu einem Politikum geworden, wie der öffentliche Streit um Übertragungen von sportlichen Großereignissen wie Fußball-Weltmeisterschaften, -Bundesliga oder Olympische Spiele zeigt. Dabei ist es keineswegs ein neues Phänomen, dass sich beide Bereiche gegenseitig beeinflussen, denn in Deutschland haben Sport und Femsehen eine in vielen Punkten zusammenlaufende Geschichte. So fanden die ersten Live-Übertragungen im Fernsehen anlässlich der Olympischen Spiele 1936 statt, die in so genannten Fernsehstuben verfolgt werden konnten.70 Angesichts der mangelhaften Bildqualität etablierte dieser Versuch wohl nur eine Vision vom Fernsehen, die sich dann in Deutschland ab den 50er Jahren zu erfüllen begann. Auch dafür war der Sport eine entscheidende Triebfeder: 1954 sorgte der Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in der Schweiz nicht nur für einen Boom des Fußballsports in Deutschland, sondern auch für einen Boom der Femsehindustrie, da vielen erst anhand der Fußballübertragungen in Gaststätten die Bedeutung und die Vorzüge eines eigenen Fernsehapparats bewusst geworden war.71 Als schließlich 1972 die Olympischen Spiele von München und zwei Jahre später die Fußball-WM in Deutschland in Farbe übertragen wurden, gab es kaum noch deutsche Haushalte ohne Fernsehapparat. Daher gelten diese beiden sportlichen Großereignisse, die als kollektive Fernseherlebnisse der Nation zelebriert wurden, als Höhepunkte der deutschen TV-Geschichte. Die Symbiose von Femsehen und Sport funktioniert auch deswegen so gut, weil sich sportliche Abläufe leicht im Femsehen darstellen lassen. Sport vermittelt sich als System von visuellen Zeichen, das auf Sprache weitestgehend verzichtet und aufgrund klarer Regeln auch dem Laien schnell verständlich ist. Alle Bewegungen sind zielgerichtet und mit dem bloßen Auge zu erfassen, so dass die Kamera dem Spiel-, bzw. Rennverlauf gut folgen kann. 72 Aufgrund zahlreicher Kameraperspektiven ist es dem Bildregisseur möglich, einerseits den Gesamtablauf im Überblick aus
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werden unfaire Verhaltensweisen - wie Tätlichkeiten oder so genannte „Schwalben" die in den Femsehberichten aufgedeckt werden, nachträglich bestraft. In anderen Sportarten ist die Torkamera längst eingeführt. Güldenpfennig, Sport: Autonomie und Krise, S. 266. Vgl. Dirk Schmidtke: Umfeld Massenmedien. Sachverhalte. In: Knecht, Mammon statt Mythos, S. 163. Vgl. ebd. 1954 stieg die Zahl der Fernsehgeräte in Deutschland von 11.658 auf 84.278 an. Dadurch ist auch fiir den TV-Zuschauer zu erkennen, wer in Führung liegt und ob eine sportliche Aktion Erfolg haben wird oder nicht. Olympische Sportarten, bei denen das nicht der Fall ist, sind z.B. die Schießwettbewerbe. Es gibt aufgrund der Geschwindigkeit der Geschosse und des Abstands zwischen Schütze und Ziel keine Möglichkeit, einen Zusammenhang zwischen Schuss und Treffer, also zwischen Ursache und Wirkung, zu zeigen. Der Zuschauer bekommt am Ende nur das Ergebnis, die Löcher in der Zielscheibe oder das Auseinanderbrechen der Tontauben, präsentiert. Im Fernsehen lässt sich dieser Sport nicht adäquat darstellen und wirkt so in hohem Maße zuschauerunfreundlich. Deshalb ist es eigentlich unerklärlich, warum ARD und ZDF im Rahmen ihrer OlympiaÜbertragungen stets vom olympischen Schießen berichten, auch wenn dort deutsche Athletinnen und Athleten traditionell gute Medaillenchancen haben.
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der Totalen festzuhalten, andererseits aber auch Details zu fokussieren. Zoomtechnik und Zeitlupenwiederholungen ermöglichen Einblicke, die dem Stadionbesucher verborgen bleiben. Das Einblenden von Statistiken, der Einsatz digitaler Techniken, mit denen Schwimmbahnen eingefärbt, Siegerweiten eingezeichnet oder Abstände zum Tor berechnet werden, sowie unmittelbar nach dem Wettbewerb eingefangene „O-Töne" versorgen mit zusätzlichen Informationen. Eine Vielzahl von Kameras fängt jede Einzelheit des Events - von der Nervosität der Sportler beim Aufwärmen bis zum versteckten Foulspiel, von der Aufregung der Trainer bis zum Spruchband der Fans - ein. Die Fernsehübertragung besteht aus Bildern, die aus einer Vielzahl von Blickwinkeln aufgenommen werden. Worauf diese Vielzahl von Blickwinkeln vor allem abzielt, das ist der Wert der „vollständigen Abdeckung" des Geschehens. Zuschauer am Bildschirm erwarten, daß ihnen kein wichtiges Detail des Spiels entgeht.73
So hat sich eine Übertragungsart etabliert, die den Fernsehrezipienten gegenüber dem „Augenzeugen" vor Ort überlegen erscheinen lässt.74 Aufgrund ihrer Exaktheit suggerieren die TV-Bilder, Realität nicht nur abzubilden, sondern zu sein. Die Wirklichkeit des Fernsehens wirkt wirklicher als die Wirklichkeit im Stadion. Hinter dieser Annahme verbirgt sich neben einem immensen Vertrauen in den Technikapparat auch die Reduktion von Realitätserfahrung auf visuelle Wahrnehmungen. Daß ein Bild vom Körper nicht der Körper ist, den es abbildet, ist leicht zu behaupten, aber schwer zu beweisen, insbesondere dann, wenn die Bildmedien glaubhaft versichern, alle Welt zu sein.75
Technische Pannen machen allerdings schnell deutlich, dass es eine Welt außerhalb der Kameraperspektive gibt. Das Spiel läuft weiter, auch wenn eine Bildleitung gestört ist oder eine Zeitlupe zu lang gezeigt wird. Der Blick des TV-Zuschauers ist abhängig von funktionierenden Leitungen, Kameraeinstellungen und der Bildauswahl der Regie. Alle sehen dasselbe, was sie vereint, aber zugleich ihre individuellen Möglichkeiten beschneidet. Den freien, ungelenkten Blick genießen nur die Zuschauerinnen und Zuschauer vor Ort, die sich auf die Dinge konzentrieren, die ihnen wichtig erscheinen und somit ganz andere Begebenheiten wahrnehmen können als ihre jeweiligen Nachbarn und das Publikum an den Femsehbildschirmen.76 Die TV-Berichte stellen jedoch die übertragene Sicht als perfekte Sicht auf die Dinge dar. So werden Zeitlupenwiederholungen nicht als alternative Sichtweisen gesehen, sondern als Beweise. Auch der Kommentar bezieht sich fast ausschließlich 73 74
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Gumbrecht, Faszination des Mannschaftssports, S. 225. Vgl. Siegfried Weischenberg: Die Außenseiter der Redaktion. Struktur, Funktion und Bedingungen des Sportjoumalismus. Bochum 1976, S. 184. Kamper, Keine Chance, S. 256. Die Beschneidung der Perspektivenvielfalt ist auch ein Problem bei der Übertragung von Theateraufführungen auf Videos. Gerade in solchen Inszenierungen, die mit einer offeneren BUhnenform als der Guckkastenbühne arbeiten, droht die Übertragung sogar zu scheitern, weil die Videoaufzeichnung der Raumerfahrung im Theater nicht gerecht werden kann. Das TV-Sport-Publikum hat sich jedoch an die Rezeption im Fernsehen so gewöhnt, dass die Sichtweise durch die „einäugigen Kameras" (Kamper, Keine Chance, S. 256) oft nicht mehr als Mangel empfunden wird.
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auf das, was gerade auf dem Monitor zu sehen ist,77 womit deutlich gemacht wird, dass die Bildregie in ihrer Auswahl alles Wesentliche berücksichtigt.78 Die Kommentare schaffen eine „aktive Synthese",79 denn sie ermöglichen die „widerspruchsfreie Integration"80 der aus vielfältigen Perspektiven aufgenommenen Bilder in einen Gesamtzusammenhang. Der Versuch, das sportliche Geschehen auf eine mögliche Interpretation zu reduzieren," entspricht dem Bemühen, die Fernsehrealität hermetisch gegen äußere Einflüsse abzuschirmen. So wird keine Differenz zwischen realem Ablauf und Fernsehbildern spürbar, was den Zuschauer im Gefühl bestärkt, das authentische Sportgeschehen zu verfolgen. Gerade Live-Berichte vermitteln diesen Eindruck, da Spiel, Übertragung und Empfang nahezu synchron verlaufen, was den Sendeanstalten die Gelegenheit nimmt, durch nachträgliche Schnitte oder Montage die sportlichen Ereignisse auf eine beabsichtigte Lesart umzudeuten.82 Obwohl das Femsehen in den Live-Übertragungen als neutrales, nicht gestaltendes Medium erscheint, thematisiert es sich in den Sportsendungen selbst, indem es die eigene Anwesenheit dokumentiert - im Bild zu sehen sind die Köpfe der Kommentatoren im Stadion, die Fernsehkameras und die Mikrofone mit dem Senderlogo, die bei Interviews hochgehalten werden. Diese Bilder sind nötig, um die Zuschauerinnen und Zuschauer darauf aufmerksam zu machen, dass es das Fernsehen ist, welches die Partizipation am Sportereignis ermöglicht. Sie machen nicht deutlich, dass die mediale Partizipation eine grundlegend andere ist als die unmittelbarkörperliche.
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Daher wäre es eigentlich nicht nötig, dass sich der Kommentator tatsächlich während des Spiels im Stadion befindet, zumindest nicht dann, wenn man keinen Bildausfall befürchten müsste. So verfährt beispielsweise der Sender Eurosport größtenteils so, dass alle Berichte aus der Zentrale in Paris kommentiert werden. Die im öffentlich-rechtlichen Femsehen und vielen privaten Sendern mittlerweile übliche Begrüßung, bei der der Kopf des Reporters im Stadion zu sehen ist, soll dagegen die räumliche Nähe der Sprecher zum Geschehen dokumentieren: Sie verschafft dem Kommentator zusätzliche Glaubwürdigkeit. Eine Kritik an der Bildregie wäre auch als Kollegenschelte zu verstehen, die sicher als Kritik in den eigenen Reihen unerwünscht ist. In den seltenen Fällen, wo der Kommentator etwas entdeckt hat, was der Bildregie verborgen geblieben ist, wird das Bild stets nachgeliefert, wofür sich der Sprecher meist überschwänglich bedankt. Dagegen gibt es bisweilen Irritationen bei Sportveranstaltungen im Ausland, wo der übertragende deutsche Sender nicht auf eigens produzierte Bilder zurückgreifen kann. In solchen Fällen erlebt man häufiger, dass sich die Kommentatoren über das Bildmaterial beschweren und sich dafür entschuldigen, dass sie keinen Einfluss auf die Bildauswahl haben. Gumbrecht, Mannschaftssport, S. 225. Ebd., S. 225. Vgl. Neil Blain, Raymond Boyle, Hugh O'Donnell: We are the boys in green: British and Irish television coverage of the 1988 European football championship. In: Dies.: Sport and National Identity, S. 40. Zusammenschnitte vermitteln gegenüber den Live-Übertragungen immer einen anderen Eindruck. Häufig wirken die Spiele und Wettbewerbe dramatischer und ereignisreicher als bei Übertragungen in voller Länge, da immer nur die besten Szenen ausgesucht werden. Der SAT. 1-Fußballshow ran wurde oft vorgeworfen, den deutschen Fußball in den Berichten zu den Bundesliga-Spielen zu positiv darzustellen, um die Attraktivität des eigenen Produkts - Fußball im Fernsehen - nicht zu gefährden.
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6.2.3. Emotionen und Mythen - TV Gestaltung von Sportereignissen Selbstverständlich bildet das Medium Fernsehen die Sportereignisse nicht einfach ab, sondern wandelt sie im Datentransfer automatisch um und gestaltet sie mit.83 Schon die Plätze, an denen die Kameras aufgestellt sind, die Bildauswahl sowie der Einsatz von Zeitlupen und anderen Wiederholungen sind Mittel, mit denen die Fernsehsender Einfluss auf die Art der Präsentation des Sports nehmen. Die größte Macht liegt dabei beim Bildregisseur, der bestimmt, was zu sehen ist. Irrefuhrend ist daher der Begriff von der „Sportberichterstattung", da Fernsehsendungen, selbst in puristischen Formaten, die an der möglichst getreuen Übertragung der sportlichen Abläufe interessiert sind, immer mehr leisten, als nur Bericht zu erstatten. 84 Die wenigsten Sportsendungen im deutschen Fernsehen sind jedoch an der reinen Übermittlung von Informationen interessiert.85 Die ergebnisorientierte, so genannte „1:0-Berichterstattung", die in den Anfängen des Femsehsports vorherrschend war, ist verdrängt worden. Der Markt scheint nach einer „massenwirksame Unterhaltungs-Show" 86 zu verlangen. Daher gilt es, die emotionalen, bewegenden und amüsanten Momente des Sports in der Berichterstattung herauszustreichen. Dafür bedient man sich zahlreicher Femsehmittel. Einer davon ist der Kommentar, der, anders als in der Publizistik üblich, nicht als besondere Form der Kritik zu verstehen ist - der Anteil argumentativer Äußerungen am Gesamttext des Sprechers ist eher zu vernachlässigen. Zwar versorgt der Kommentator sein Publikum mit zahlreichen zusätzlichen Informationen, die aber zum Großteil dazu dienen, die Athletinnen und Athleten persönlich näher zu bringen, und somit das Verlangen nach „ h u m a n touch" befriedigen sollen. Hintergrundinformationen, die den Wettkampf oder die sportliche Leistungsfähigkeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer betreffen - persönliche Jahresbestleistung, Trefferquote beim Freiwurf, Punktestand oder Platzierung - , werden dagegen in Form von Statistiken und Grafiken eingeblendet. Der sportlich interessierte Zuschauer benötigt keinen Kommentar zum Spielverständnis - alle wesentlichen Daten werden visuell übermittelt. Die Rede des Sportkommentators ist demnach keine sokratische, sondern eine dionysische. Indem sie unmittelbar das wiederholt, was für alle zu sehen ist, vermittelt sie den Eindruck direkter emotionaler Teilnahme und betont die Bedeutung des
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Diese Einsicht ist allerdings bei den Sportkommunikatoren selbst nicht sehr weit verbreitet. 78,8 % der deutschen Presse- und Rundfimkjoumalisten aus dem Sportressort gaben 1994 bei einer Umfrage an, dass es Ziel ihrer Arbeit sei, die Realität genauso abzubilden, wie sie ist. Verglichen mit den anderen Ressorts ist dies der absolute Spitzenwert. Selbst bei den Politikjoumalisten fanden nur 71,7 % diese Beschreibung ihrer Funktion zutreffend. Vgl. Weischenberg, Annäherung an den Außenseiler, S. 445. Vgl Güldenpfennig, Sport: Autonomie und Krise, S. 256. Die Einschränkung deutsches Fernsehen bezieht sich darauf, dass hier nur das deutsche Fernsehen als Untersuchungsgegenstand gewählt worden ist, nicht darauf, dass die folgenden Bemerkungen ausschließlich im deutschen Fernsehsystem Gültigkeit hätten. Oskar Beck: Live vom Zapfhahn. Fernsehsport als Quotentheater. In: Knecht, Mammon statt Mythos, S. 172. 231
Gezeigten. Es ist eine aufdringliche Form der Sportkommunikation, wie Filmregisseur Jean Luc Godard feststellt: Das ganze Übel kommt vom Kommentar. Stellen sie sich doch vor, man hörte den Femsehkommentar während der Ballwechsel auf dem Platz ... Wenn also der TV-Zuschauer etwas erträgt, was der Zuschauer im Stadion nicht ertragen würde, dann bedeutet das, dass das Bild des Matches so abwesend ist, dass man ihm einen Anschein von Gegenwart geben muss. Man muss das Bild „dopen".*7 Kommentatorinnen und Kommentatoren binden das TV-Publikum an das Geschehen. Sie erheben die Stimme, wenn etwas Außergewöhnliches passiert, sprechen oft in Superlativen und dramatisieren die Ereignisse so zusätzlich. Mit der Bewertung von Persönlichkeiten und der Fokussierung auf nationale Zugehörigkeiten erleichtern sie es dem Zuschauer, Partei zu ergreifen, da sie Vorentscheidungen treffen. 88 Und ihr Jubel und ihre Empörung über die dargebotenen Leistungen ist Ersatz für die Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer im Stadion. Der lautstarke Ausbruch des Kommentators gibt dem TV-Konsumenten die Gelegenheit, sich mitzufreuen und mitzuärgern, als wäre er inmitten der bewegten Menschenmenge. Live-Übertragungen bedeutender Sportwettkämpfe beginnen zumeist deutlich vor dem Start des eigentlichen Events und stimmen mit Trailern, Vorberichten und Interviews auf das Ereignis ein, wobei in den Vorschauen das gezeigt wird, was die Sendungen als die elementaren Bestandteile des Spektakels definieren. Dazu gehören Bilder jubelnder Fans, die Emotionen der Sportstars, packende Zieleinläufe und actionreiche Sequenzen der jeweiligen Sportart. Dem Zuschauer wird Aufregung, Dramatik und eine gute Show versprochen. 89 Ebenso ist auch mit dem Ende der Sportveranstaltung noch nicht Schluss mit der medialen Aufbereitung im Fernsehen. Interviews von allen Beteiligten unmittelbar nach dem Wettkampf, Expertenmeinungen, Analysen oder die Wiederholungen der so genannten „Highlights" runden den TV-Sportevent ab. Ganz zum Schluss sind meistens die „Bilder des Tages" zu sehen, die nicht besprochen werden, sondern ähnlich wie die Trailer mit Musik untermalt sind. Die Begleitung durch entweder sehr rhythmische oder pathetische englischsprachige Popsongs bzw. durch klassische Melodien nimmt diesen TV-Beiträgen jeden dokumentarischen Charakter und überführt sie in den Bereich der Ästhetik. In den „Bildern des Tages" wird vor Augen geführt, dass die Live-Übertragung das gehalten hat, was in der Vorschau versprochen wurde. Die Nachberichterstattung gehört dazu, um das Ereignis selbst ausklingen zu lassen und die Erinnerung an das gerade Gesehene zu stärken. Allerdings nehmen die Sender damit dem Sport einen Teil seines Ereignischarakters, denn durch die vielen
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Jean Luc Godard: Politik, Kino oder Literatur lügen, der Sport nicht. Interview mit dem Filmregisseur und Sport-Enthusiasten Jean-Luc Godard. Übersetzt von Josef Kelnberger. In: „Süddeutsche Zeitung", 17.5.2001, o.S. Das bedeutet keineswegs, dass sich die Mehrheit des Publikums der Vorliebe des Sprechers anschließt. Wichtig ist allein, dass die Kommentatoren polarisieren, um die Anteilnahme des Publikums zu steigern, vgl. dazu auch Dayan/Katz, Media Events, S. 38. Vgl. Blain/Boyle/Donnell, Boys in green, S. 42.
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Wiederholungen wird das Besondere - das Tor, der Zieleinlauf, die Verletzung - zur rituellen Gewohnheit. Vor- und Nachbericht bei Live-Übertragungen bilden eine Klammer um das eigentliche Sportereignis und ermöglichen eine bestimmte Lesart des sportlichen Geschehens. Jeder Wettkampf erzählt eine eigene Geschichte, die an den Protagonisten festgemacht wird - die Geschichte vom „ewigen Zweiten", vom scheinbar Unbesiegbaren oder vom so genannten „Underdog", der den Kampf gegen den Favoriten aufnimmt. Die Sportlerinnen und Sportler werden, wie die bekannte Eiskunstläuferin Katherina Witt erkannt hat, zu „Kunstfiguren und Kultfiguren".90 Doch es ist nicht der Sport, der die Geschichten schreibt, sondern das Fernsehen, das sie inszeniert. Ein Paradebeispiel für die Emotionalisierung und Fiktionalisierung von Sportevents sind die TV-Inszenierungen der Box-Kämpfe, mit denen der Fernsehsender RTL seit Mitte der 90er Jahre reüssierte. Ein besonderer Höhepunkt in dieser Reihe war der WM-Kampf zwischen Henry Maske und Graciano Rocchigiani vom 27. Mai 1995." Unter dem Titel Eine Frage der Ehre wurden Maske und Rocchigiani in einer gut dreistündigen TV-Show zu Gestalten aus einem modernen Western stilisiert, wobei Titelverteidiger Maske die Rolle des „Gentleman" annahm und Rocchigiani den kampfwütigen Herausforderer aus der Verbrecherszene darstellte. Beide Sportler marschierten zu entsprechender Filmmusik - The conquest of Paradise bzw. Spiel mir das Lied vom Tod - ein. Ein eigens komponierter Song mit dem Titel A question of honour wurde mit einer bombastischen Lasershow unterlegt. Filmische Einlagen mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen in Zeitlupe, das Abbrennen von Feuerwerkskörpern, Interviews zahlreicher anwesender Prominenter aus dem „Show-Biz" und weitere Musikeinspielungen trugen zusätzlich dazu bei, dass der Sport in den Hintergrund gerät und der Boxkampf, unabhängig von seinem Ablauf oder Ausgang, zu einem TV-Ereignis wurde.92 Ein wahres Fest des Sports [...] erzeugt Schauder, Zauber und Erregung mit Hilfe von Dunkelheit, Laser- und Feuerspielen, schwülstiger Musik, Wolkenwabem, Nationalhymnen, Zelebration der Heroen. In dieser dunklen, höhlenartigen Welt mit ihren Ritualen geschieht die Initiierung der Zuschauer in die Verehrung der Sporthelden.93
Ähnlich aufwändig wie in diesem Beispiel werden Sportereignisse im Femsehen selten zelebriert, aber die Tendenz, mit Hilfe von fernsehspezifischen Mitteln den Wettkampf so zu inszenieren, dass er sich in ein mythisches Geschehen verwandelt, das emotional gefangen nimmt, ist auch bei anderen TV-Sport-Events deutlich zu erkennen.
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Vgl. Beck, Live vom Zapfhahn, S. 169. Vgl. Eine Frage der Ehre. Boxen Extra. Henry Maske vs. Graciano Rocchigiani. RTL, 27.05.95,180 min. Gerade bei Boxkämpfen ist es wichtig, dass der Event nicht ausschließlich auf dem Kampf beruht, denn es ist nicht vorhersehbar wie lange ein Kampf dauern wird. Ein K.O.-Schlag in der ersten Runde ist spektakulär, füllt aber kaum genug Sendezeit für die Werbeeinblendungen. Vgl. Schmidtke, Grentfall Athlet, S. 181. Gebauer, Mythen-Maschine, S. 308.
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Meist bekommt der Fernsehzuschauer mehr geboten als der Stadionbesucher, aber er hat auch einen großen Nachteil zu kompensieren: Ihm fehlt die Erfahrung der Masse und das damit verbundene Gemeinschaftsgefühl. Daher zielen die LiveBerichte darauf ab, den Konsumenten aus seiner Isolation herauszuholen und ihn zumindest emotional an bestehenden oder fiktiven Identitäten teilhaben zu lassen. Eine große Rolle spielen dabei die Zuschauermassen vor Ort, die oft im Bild zu sehen sind oder sich als lautstarke Geräuschkulisse bemerkbar machen. Sie vermitteln Stimmung und Begeisterung, aber sie stehen auch für innere und äußere Einheit, wenn sie Sprechchöre und Schlachtgesänge anstimmen, rhythmisch in die Hände klatschen oder sich zur „La-Ola-Welle" formen. Der ideale Zusammenhalt des Sportpublikums oder von Teilen desselben macht dem TV-Rezipienten den Mangel der eigenen, einsamen Existenz bewusst. Um so einfacher ist es ihn zu Uberzeugen, sich gefühlsmäßig in bestehende oder vom Femsehen aufgebaute Kollektive einzugliedern. Solche Identifikationen spielen vor allem bei größeren Sportereignissen, die sich Uber eine längere Zeit erstrecken, eine große Rolle, denn sie garantieren die anhaltende Begeisterung des Fernsehpublikums und sorgen so für hohe Einschaltquoten.94 Es ist nahe liegend, dass sich der einzelne TV-Zuschauer dem gesamten TVPublikum zugehörig fühlt. Dieses setzt sich nicht nur aus Sportfans zusammen; eine Vielzahl von Menschen schaltet sich allein deswegen ein, um an dem „media event" teilzuhaben. Gerade an diese weniger Sportbegeisterten sind die zahlreichen Ankündigungen im Vorfeld des Ereignisses gerichtet, die mit Superlativen die historische Bedeutung des Wettkampfs herausstreichen und den Termin seiner Übertragung genau bekannt geben, damit der potenzielle Zuschauer nicht vergisst einzuschalten. Having promised us action, drama and history in the making all we had to do was keep watching.95
Bei internationalen Großveranstaltungen wird das Außergewöhnliche des Moments durch die globale Verbreitung und die kolportierten TV-Zuschauerzahlen zusätzlich hervorgehoben. Übertragungen zu olympischen Eröffnungsfeiern oder zu Finalspielen um die Fußball-Weltmeisterschaft enthalten stets die Angabe einer geschätzten weltweiten Einschaltquote, die sich meist im Milliardenbereich bewegt. Die Zahlen werden schon im Vorfeld verbreitet, einerseits von den Fernsehsendern selbst in den Vorschauen und andererseits von Zeitungen, die sich so am sportlichen „media event" beteiligen. Den einzelnen Zuschauer im heimatlichen Wohnzimmer bestärkt die imaginäre Masse im Gefühl, das richtige zu tun, wenn er sich einschaltet. Er kann sich verbunden fühlen mit dem größten Teil der Bevölkerung des Planeten. Sport und Femsehen - das ist die immanente Botschaft solch immenser Einschaltquoten - Uberwinden soziale, kulturelle und nationale Grenzen. Das trotz räumlicher Distanzen emotional zusammengeführte TV-Publikum wird zu einem Symbol für die ganze Menschheit.
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Vgl. Blain/Boyle/Donnell, Boys in green, S. 45. Ebd., S. 43.
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Forciert wird zudem in den Medien die Betonung nationaler Identitäten, etwa durch einseitige Berichterstattung über die jeweiligen Athletinnen oder Athleten aus dem eigenen Land oder durch die andauernde Präsentation nationaler Symbole. Das Abspielen der Nationalhymne gehört zum obligatorischen Bestandteil zahlreicher meist internationaler Sportveranstaltungen, sei es vor dem Spiel oder bei der Siegerehrung, und das Femsehen lässt sich diesen Moment der Feierlichkeit selten entgehen. Der Sport ist ein Feld, in dem Nationalgefühle auf scheinbar unproblematische Weise ausgelebt werden können.96 Er vereint .Akteure und Zuschauer im nationalen Siegesstolz oder Verliererschmerz".97 Oft sind es gerade die Fernsehjournalistinnen und -joumalisten, die den Ereignissen nationale Bedeutung zusprechen. Für Kommentatorinnen und Kommentatoren scheint es daher Pflicht zu sein, bei aller gebotenen Objektivität eine gewisse patriotische Grundhaltung an den Tag zu legen und deutlich zu machen, dass sie den Sieg des deutschen Teilnehmers bzw. der deutschen Mannschaft wünschen.98 Allerdings sind die nationalen Gemeinschaftsgefühle oft brüchig und überdies nicht in allen Sportarten vermittelbar, da es auch in manchen publikumswirksamen Sportarten an erstklassigen deutschen Athletinnen und Athleten fehlt. Daher konstruieren die Femsehanstalten im Verbund mit der Werbeindustrie neue Gemeinden, die einen wesentlich größeren Zusammenhalt aufweisen, nämlich die Gemeinde der Fans. Die Fans wählen sich ein Idol, nachdem die Medien einen Sportler zum Idol emporgehoben haben, wobei nicht immer die sportliche Leistung dafür ausschlaggebend sein muss.99 Durch die Verehrung sportlicher Helden wird der Zuschauer empfänglich für die Spannung und das Spektakel des Sports. Er leidet mit dem selbst erwählten Vorbild mit. Die Nähe zu den Hauptpersonen [...] berührt uns; wenn sie uns packt, verlieren wir die Gleichgültigkeit, und wir fühlen uns bis in körperliche Reaktionen hinein mit ihnen verbunden. Auf der Ebene der physiologischen Reaktionen findet weit entfeint von Passivität ein Dialog zwischen Zuschauem und Athleten statt.100
Der aktive Beitrag des Zuschauers besteht darin, sein Idol im Stadion anzufeuern oder zumindest am Fernsehbildschirm mit ihm mitzufiebern.
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Ebd., S. 53. Jürgen Hürther: Fußball, Zuschauer, Gewalt und Medien - Historische und aktuelle Aspekte gegenseitiger Abhängigkeiten. In: Rainer Kübeit u.a.: Fußball, Medien und Gewalt. Medienpädagogische Beiträge zur Fußballfan-Forschung. München 1994, S. 15. Auffallend ist, dass bei innerdeutschen Wettkämpfen oder Spielen der Kommentator gerade nicht Partei ergreifen soll, auch wenn er bekennender Fan eines Sportlers oder einer Mannschaft ist. So gibt es Sportler wie Axel Schulz, die die hoch geschraubten Erwartungen im sportlichen Bereich nie erfüllen konnten, ohne dass sie deshalb ihren Status als Medienstar je eingebüßt hätten. Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen sportlichem Erfolg und Vermarktungschancen. Darüber echauffierte sich auch die Hochspringerin Heike Henkel: .Abartig. Man muss gar keine Leistung mehr bringen, um zum Star gemacht zu werden. Was zählt, sind Äußerlichkeiten." In: Beck, Live vom Zapfliahn, S. 170. Gunter Gebauer: Die Masken und das Glück. Über die Idole des Sports. In: Ders. (Hg.): Körper- und Einbildungskraft. Inszenierungen des Helden im Sport, S. 125.
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Wenn die Sportlerinnen und Sportler zum Wettkampf antreten, dann ziehen sie die volle Konzentration ihrer Fan-Gemeinde auf sich. Der Alltag mitsamt seinen Sorgen ist vergessen, das Ich des Zuschauers bedient sich seines Helden, um für Augenblicke von sich loszukommen. [Die Idole] führen [...] ein unterhaltendes Spiel auf, das unsere rationale Alltagsverfassung in einen von uns gesuchten und genossenen Rausch verwandelt; darin liegt ihre Macht. Alles wird man von dieser imaginären Welt erwarten können, nur nicht Rationalität, Vernunft, Logik, denn sie repräsentiert deren Aufhebung.101 Einmal in diese Festtagsstimmung versetzt, hört der TV-Rezipient auf keine Argumente mehr und ist zu echter Objektivität, schon allein aufgrund der fehlenden Distanz, nicht mehr fähig - insofern ist es konsequent, dass auch der Kommentator auf den Versuch zu argumentieren verzichtet. Was allein zählt, ist der Erfolg des vergötterten Athleten oder der geliebten Mannschaft, ein Erfolg der durch Identifikation auch zum eigenen wird. Sport verspricht märchenhafte Geschichten von unverhofftem Glück. 102 Die Produktion des modernen Sports gehört in die rationale Wissenschaftssphäre, die Rezeption tradiert volkskulturelle Einstellungen, die von Glilckserwartungen geprägt sind.103 Solche alten Erzählstrukturen von Glück und Unglück prägen auch die TVInszenierungen des Sports. Idole sind schon vom Wortbegriff her mediale Darstellungen, und es ist erst die Präsentation im Femsehen und anderen Massenmedien, die aus Spitzensportlerinnen und -Sportlern Idole macht. Das Schema der Erzählung ist meist dasselbe. Eine herausragende sportliche Leistung - ein Weltrekord, eine nicht zu stoppende Siegesserie, der unerwartete Erfolg einer völlig unbekannten Läuferin, das Comeback nach Verletzungen, der Sieg der Jungen über die Alten oder der Alten über die Jungen - zieht die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Im Fernsehjargon wird aus der Überraschung eine Sensation und schließlich ein Wunder. Von nun an ranken sich Legenden um den Sportler, Gegenstände und symbolische Orte erhalten den Status von Reliquien, und jeder neue Wettkampf stellt den Athleten vor die Aufgabe, von neuem wundersame Taten zu vollbringen. 104 Alles, was er macht, ist vom auratischen Flair des Außergewöhnlichen umwoben. Andererseits sind die Helden durch die Fernsehberichterstattung nicht mehr unnahbar, sondern live und in intimer Nähe zu beobachten. Und sie haben menschliche Schwächen, weshalb sie auch scheitern können. Das erhöht die Spannung des Sports und verleiht den Sportgöttern jene Menschlichkeit, in der sich „die Gläubigen wiedererkennen" 105 können. Wichtig ist daher auch, dass den Sportstars eine „längere Lebensdauer" im Fernsehen beschieden ist: Man muss sie und ihre potenziellen Widersacher kennen lernen können, um sie wirklich zu schätzen. Wie in Seifen101 102
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Ebd., S. 132. Dem Fan muss die Erfüllung seiner Wünsche wie ein Wunder vorkommen, denn er selbst hat, zumindest solange er nur am Femsehen sitzt und nicht zur lautstarken Menge des Stadionpublikums gehört, keinen eigenen Beitrag zum Zustandekommen des Erfolgs geleistet. Ebd., S. 138. Vgl. ebd., S. 308. Ebd., S. 299.
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opem tauchen daher immer wieder dieselben Figuren in ähnlichen Konstellationen auf. Die Familie der Radrennfahrer trifft sich alljährlich beim Anstieg zum Alpe d'Huez, die der Skispringer am Holmenkollen und die der 100-m-Läufer bei den verschiedenen Grand-Prix-Meetings. Ihre Mitglieder bekämpfen sich stets aufs Neue, begegnen sich mit Respekt oder Verachtung, unterstützen sich oder intrigieren gegen ihren Lieblingsfeind. So erhalten die Sportstars zugleich etwas Familiäres und etwas Göttliches. Sie stehen unter uns und über uns, an ihnen und ihren Körpern wird die Heiligsprechung des Menschen und die Menschwerdung des Idols vollzogen. Ein besonderer Kick für den TV-Zuschauer besteht darin, dass er dem Sportler dabei zusehen kann, ob und wie er die Schwelle vom Irdischen zum Mythischen überschreitet. Während die griechischen Tragödien oder die Wagnerschen Musikdramen Mythen auf der Bühne aufleben lassen, die sich in der Vorzeit abgespielt haben, ereignen sich die sportlichen Mythen vor den Augen des Fernsehpublikums und zwar im Moment ihrer Betrachtung. Interessanterweise ist die mythische Erzählung oft schon gedichtet, bevor überhaupt der Wettkampf begonnen hat. Das eigentlich Aufsehen Erregende wird schon im Vorfeld immer wieder angekündigt: die erste olympische Goldmedaille einer Aborigine, Michael Johnsons DoppelOlympiasieg über 200 und 400 m bei den Spielen von Atlanta106 oder der Weltrekord in Langstreckenrennen von Leichtathletiksportfesten - immer ist das sportliche Ergebnis nur der Vollzug einer Prophezeiung. Fernsehkommentatoren schlüpfen in die Gewänder der Kassandra und verkünden Orakelsprüche von den unglaublichen Taten der Sportstars. Nach dem alten Heldenschema waren die Ereignisse zuerst da. Wenn sich die Pulverdämpfe gelichtet hatten, wurde das mythische Ereignis gesponnen. Im nachhinein erklärte man das Geschehen zur unerhörten Begebenheit. [...] Das neue Schema kehrt die Reihenfolge um: Am Anfang ist der Mythos. Eine ganze Mythenmaschinerie konfektioniert Mythen von der Stange.107 Gelingt es den Athletinnen und Athleten die Anforderungen zu erfüllen, lautet die Botschaft des TV-Sports: ,.Der Mythos lebt". Gelingt es nicht, die Weissagung zu verwirklichen, so ist das Scheitern das neue Wunder, da keiner mit ihm gerechnet hat. Unabhängig vom Ausgang bestätigt der Wettkampf in jedem Fall die mythische Stimmung, die im Vorfeld aufgebaut wurde. Daher wussten die Verantwortlichen der Olympischen Spiele 1996 noch vor der Eröffnungsfeier, dass das Motto der Spiele heißen würde: „A dream comes true" - einer der am häufigsten zitierten Sprüche während der 16 olympischen Tage von Atlanta.108 Die TV-Sportjournalistinnen und -journalisten haben homerische Funktion. Ihre Aufgabe besteht darin, den sportlichen Ereignissen mythische Dimensionen zu verleihen. Dies ist allein schon deswegen nötig, damit die Gegenwart in ihrer Bedeutung nicht hinter der legendär verklärten Vergangenheit zurückbleibt, denn es gibt
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Tagelang war vor dem Start Johnsons in nahezu allen Medien zu hören und zu lesen, dass noch nie vorher ein Mann über diese beiden Strecken Olympisches Gold gewonnen habe. Gebauer, Mythen-Maschine, S. 304. Vgl. ebd., S. 305.
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kaum einen Bereich, in dem die Helden der Vorzeiten so von ihren nachfolgenden Generationen verehrt werden wie im Sport.109 Es sind die ehemaligen Sportstars, die das Olympische Feuer entzünden dürfen - wie Muhammad Ali 1996 in Atlanta - , nach denen Stadien benannt werden und mit deren Geschichten die Kommentatoren von ARD und Eurosport langwierige Tour-de-France-Etappen überbrücken. Der Sport ist ein dicht gesponnenes, sich immer weiter ausbreitendes Netz von vielen kleinen, schnell wechselnden Heldengeschichten: Heute haben wir Uber die Götter zwar allerlei Dämmerungen gebreitet, doch die Helden stehen noch im hellsten Licht.110 Nachdem religiöse Weltordnungen nicht mehr als verbindlich angesehen werden können, ist die Gesellschaft auf der Suche nach Ersatzmechanismen. Das Konzept der Remythisierung greift nicht nur im 19. Jahrhundert Wagners und Coubertins, sondern auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Erfahrungen der Sinn- bzw. Ereignislosigkeit wecken den Wunsch nach mythischer Geborgenheit. 1 " Femsehsport bedient dieses Verlangen. Allerdings ist die Verehrung der Sporthelden nicht wirklich religiöser Art, da sie kaum dieselbe Verbindlichkeit wie religiöse Systeme erreicht. Dem raschen Wechsel an Trends unterworfen, gleichen die Sportlerinnen und Sportler eher den Stars der Popmusik. Sporthelden mögen für manche Fans Religionsersatz sein, sie sind jedoch vor allem Teil der funktionierenden Maschinerie der Kulturindustrie - „eines marktgängigen Polytheismus, innerhalb dessen Mythen wie Waren produziert und konsumiert werden". 112 Eine solche Mythologie funktioniert wie Lifestyle, 113 was nicht bedeutet, dass sie deswegen an Wirkungskraft einbüßt. Auch die „Instant-Mythen für Wegwerfhelden" 114 des Sports haben soziale Funktion: Sie schaffen es, den einsamen Fernsehzuschauer aus seiner Reserviertheit zu locken, um am „media event" Sport zu partizipieren und so den Schutz einer gleich gesinnten und gleich gestimmten, virtuellen Gemeinschaft zu erfahren. Emotional ist der Fan dabei und gehört dazu, da er wie etliche andere auch sein Sport-Idol verehrt. Der Passionskörper des Sportlers verwandelt sich mystisch in unser aller Körper."5 Wenn die Fans die Gemeinde, die Sportstars die Heiligen und die Rekorde die Wundertaten sind, sind die Körper der Stars die Reliquien, die Kultobjekte. Die Athleten zeigen sich in den TV-Übertragungen als Körperwesen und präsentieren ihre Körper den Kameras. In Nahaufnahmen kann man die Kontraktionen, Schwünge und Anspannung der Muskeln sehen, aber auch den verzerrten Gesichtsausdruck des Boxers beim Kinntreffer, die wippenden Brüste der weiblichen Sprintstars oder das hin- und 109 110 111
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Vgl. Schneider, Erotik des Fernsehsports, S. 869. Ebd., S. 864. So meint auch der Sportsoziologe Volker Rittner: „In einer spannungsarmen Gesellschaft ist der Sport mit seiner Körperlichkeit ein Weg, neue Spannung zu erzeugen und Identifikationen zu erlauben." Zitiert nach Christopher Onkelbach: Olympia lebt von dem Fieber der Fans. Körperkult ersetzt die traditionellen Werte. In: „WAZ", 9.9.2000, o.S. Lange, Gesamtkunstwerk Madonna, S. 287. Vgl. ebd. Gebauer, Mythen-Maschine, S. 304. Schneider, Erotik des Femsehsports, S. 874.
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herschleudemde Geschlecht ihrer männlichen Pendants." 6 Die Kleidung - etwa in der Leichtathletik - ist in den letzten Jahrzehnten immer knapper geworden oder liegt wegen aerodynamischer Vorteile wie eine zweite Haut um den Körper. An den Körpern der Athletinnen und Athleten sollen sich emotionale Prozesse vollziehen, ihre Wirkung ist erotischer Natur: Körperliche Sinnlichkeit als Triebquelle der Erotik, die zwar körperliches Begehren weckt, sich aber nicht allein sexuell erfüllt, sondern bereits im Akt des Schauens eine Befriedigung erfährt, ist Bestandteil jeder Sportart.117
Die Nahaufnahmen des Fernsehens spitzen die Erotisierung der Sportlerkörper zu, die sich in der Werbung und in anderen Medien weiter fortsetzt. Bildbände und Fotoserien mit Aktaufnahmen von Olympiateilnehmerinnen und -teilnehmern erscheinen im Vorfeld Olympischer Spiele,118 Sportlerinnen steigern ihre Popularität durch Foto-Shootings für den Playboy119 und die argentinische Tennisspielerin Gabriela Sabatini nutzt ihren Körper in Fernsehspots als „symbolische Objektivation erotischer Phantasien",120 um für ihr eigenes Parfüm zu werben. Dass sich mit Sportstars gut werben lässt, hat die Industrie schon lange erkannt. Im Beziehungsgeflecht von Femsehen und Sport übernimmt die Werbung betreibende Wirtschaft eine dynamische Funktion, denn sie bezahlt letztlich, teilweise indirekt, beide Seiten. Doch auch umgekehrt ist der Sport mit seinen Stars für die Werbung ein unverzichtbares Instrument geworden. Die Schönheit der athletisch geformten Körper wird genutzt, um Produkte mit Emotionen zu beseelen, was Werbepsychologen zufolge verkaufsfördernder ist, als über die Vorzüge des Artikels zu informieren.121 Um „das Konsumklima als Trancezustand gesellschaftlich aufrechtzuerhalten"122 braucht die Werbung Bilder, die das Leben als ästhetischen, vergnügungsreichen Akt zelebrieren. Werbung erfüllt einen zivilisatorischen Auftrag. Ihre Allgegenwart stiftet das Gemeinschaftsgefühl einer Teilhabe am Schönen. In die Präsentation des konsumierenden Genießens baut die Werbung zugleich die Bremse der Selbststilisiening ein. Bieneklamen zeigen keine Alkoholiker; maßvolle, erfolgreiche und gesunde Menschen prosten sich öffentlich im Weltformat zu.123
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Vgl. Mikos, Körper-Bewegungen, S. 39. Ebd., S. 38. " Vgl. Rüdiger Barth: Foto-Montage. In: „Stern", Nr. 38/2000, S. 106-108. Diese Ausgabe des Stern enthält auch Aufnahmen des Wiener Fotografen Andreas H. Bitesnich, der deutsche Athletinnen und Athleten von Astrid Kumbemuss bis Tim Lobinger nackt und in klassischer Pose ablichtete. Vgl. ebd., S. 93-105. 119 Eine von mehreren ist die Turmspringerin Annika Walter, die trotz vorhergehender sportlicher Erfolge ihren ersten Auftritt im ZDF-Sportstudio den Aufnahmen im Männermagazin verdankte. Vgl. Beck, Live vom Zapfliahn, S. 170. 120 Mikos, Körper-Bewegungen, S. 40. 121 Vgl. Gebauer, Körpershow, S. 279. 122 Beat Wyss: Die Welt als T-Shirt. Zur Ästhetik und Geschichte der Medien. Köln 1997, S. 115. 123 Ebd., S. 114. 117
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Es gibt keinen anderen Bereich, der diesen Spagat zwischen Genuss und Selbstdisziplin so repräsentiert wie der Sport,124 der daher jenes Lebensgefühl verkörpert, welches die Werbung vermitteln will. Was Sport und Werbung zusätzlich verbindet, ist die durch sie assoziierte Gliicksverheißung. Während die Werbung allerdings das bessere Leben nur versprechen kann, löst der Sieg des Idols tatsächlich Glücksgeftlhle aus. Kein auch nur halbwegs erfahrener Fernsehzuschauer glaubt an die Wahrheit von Werbebotschaften. [...] Von diesem Unwahrheitsverdacht wird die Werbung durch den Athleten erlöst. Er verleiht der Utopie vom besseren Menschen Glaubwürdigkeit. Alle Versprechungen der Werbung, die sich auf Selbstschöpfung des Menschen als funktionierendes, starkes und schönes Superlebewesen richten, das uns zudem durch seine Emotionen ähnlich und verständlich ist, weiden in ihm Wirklichkeit.125 Dass der Mensch sich stetig verbessert, belegen die neuen Rekorde und Höchstleistungen des Sports.126 So arbeitet der Sport am Fortschritt der Gesellschaft mit. Er ist Teil des allgemeinen Fortschrittsdenkens, er ist neben der Medizin Symbol für den Fortschritt der Körper. Darin liegt seine Utopie, die sich von den großen Utopien vergangener Zeiten unterscheidet: Die Zukunft beginnt am eigenen Körper.127 In diesem privaten Glücksversprechen sieht der Sportphilosoph Gunter Gebauer auch die eigentliche Botschaft von sportlichen Großveranstaltungen wie den Olympischen Spielen: Die Olympischen Spiele sind im Medium des Fernsehens selbst Werbung - eine hintergründige Werbung für die Ideologie der Verbesserung des Menschen, während sie offen für Produkte der Verschönerung des Lebens werben. Beide Ebenen der Werbung beruhen auf derselben Vorstellung der Überwindung von realen Grenzen des Menschen: Überwindung der Schwäche des natürlichen Körpers, Überwindung der Zeit, insbesondere des Alterns, und Überwindung der Vereinzelung in der imaginären Gemeinschaft, die sich bei den großen olympischen Ereignissen vor den Fernsehapparaten in der ganzen Welt bildet. Je stärker Personen in der Gegenwart diese Grenzen empfinden, um so anziehender wird für sie die Utopie der Olympischen Spiele, egal, ob gedopt wird oder nicht.12' Die im Sport transportierten Werbebotschaften werden vornehmlich über das Fernsehen vermittelt. Das Fernsehen erfüllt daher weniger den Auftrag, seine Zuschauer umfassend zu informieren, als vielmehr den, das Produkt attraktiv zu gestalten. Um 124
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Die Öffentlichkeit erwartet von Sportprofis eine Lebenshaltung, die den Anforderungen des Leistungssports gerecht wird. Wenn sie durch ihre Selbstdisziplin Erfolg haben und Meisterschaften gewinnen, wird allerdings von ihnen erwartet, dass sie sich dem zügellosen Rausch der Siegesfeier hingeben. Zumindest ist es in Femseh-Interviews mittlerweile eine obligatorische Frage an die Medaillengewinner und -gewinnerinnen, auf welche Art, wie lange, wo und mit wie viel Alkohol die Party begangen werden soll. Gunter Gebauer: Olympia als Utopie. In: Ders., Utopie der Moderne, S. 21. In den Fällen, wo alte Rekorde aus den 70er und 80er Jahren, die höchstwahrscheinlich unter Doping-Einfluss entstanden sind, nicht mehr zu überbieten sind, belegen die neuen vermeintlich dopingfreien - Leistungen eine andere Art der Verbesserung des Menschen: nämlich seine moralische. Gebauer, Körpershow, S. 283. Gebauer, Olympia als Utopie, S. 22.
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das TV-Publikum zu fesseln, fokussiert die Berichterstattung auf Elemente wie Spannung und Sensation und überhöht die sportlichen Taten zu mythischen. Gleichzeitig sorgt die familiäre Nähe zu den Hauptfiguren für „human touch". Diese wird einerseits durch den intimen Blick der Nahaufnahme bewerkstelligt, andererseits „mit sentimentalem Storytelling",129 das die Protagonisten der sportlichen Dramen in ein vorgegebenes Rollenmuster presst. Ein „Arsenal feststehender Typen"130 bevölkert die Bildschirme der Sportsendungen, die aber im Gegensatz zu den Darstellern der „daily soaps" ihre Gefühle nicht spielen müssen, sondern offen vor der Kamera ausleben. Jubel und Trauer, Anspannung und Erleichterung der Sportstars sind echt. Diese Authentizität des Gefühlslebens macht den Fernsehsport so menschlich und bisweilen anrührend. Und sie überdeckt die Technik, die nötig ist, um die Bilder der olympischen Werbewelt zu produzieren, die Technik des Fernsehens wie die Technik des Sportlers, die er sich in hartem, teilweise gesundheitsschädlichem Training angeeignet hat. Der sportliche Wettkampf als Emotionslieferant steht im Mittelpunkt der TV-Inszenierungen, nicht die Aufarbeitung seiner Umstände. Das Unwahrscheinliche, das Erstaunliche soll gezeigt werden, nicht die Vorbereitung, die Entstehung, das Wachsen, nicht die Arbeit, die die Leistungen begreiflicher, und nicht die Technik, die die Erzeugung der Bilder durchschaubarer machen könnten.131
Ergriffen, und nicht begreifend - so lässt sich die Haltung des Zuschauers umschreiben, die ihm durch die Präsentationsweise des Sports im Fernsehen nahe gelegt wird. Die Helden des Sports erscheinen als .Abgesandte des Dionysos"132 - sie beleben die Medienmaschinerie „mit Gefühlen und Affekten",133 sie ermöglichen Identifikation und selbstvergessene Partizipation, und sie zeigen, dass „das Spiel mit dem Rausch"134 nicht nur in Amphitheatern, Fußballstadien oder Tempeln stattfindet, sondern auch im Fernsehen.
6.3. „Magic Everywhere". Die Fernsehinszenierung von Sydney 2000 Die nun folgende Analyse untersucht den vorgestellten Zusammenhang - das Dionysische des modernen Fernsehsports - am Beispiel der Olympiasendungen von ARD und ZDF zu den Spielen von Sydney 2000. Im Mittelpunkt stehen die Fragen, wie Olympia als Ganzes und einzelne Wettkämpfe im Speziellen vom Femsehen als „media events" dargestellt werden, die den Fernsehzuschauer in die Lage versetzen, an historisch bedeutenden Ereignissen teilzunehmen, welche Gemeinschaften dem TV-Konsumenten angeboten werden, um sich mit dem Geschehen zu identifizieren, wie Sportstars zu Figuren von bestimmten, allgemein-menschlichen Erzählmustern
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Schmidtke, Grenzfall Athlet, S. 180. Gebauer, Mythen-Maschine, S. 314. Ebd., S. 314. Ebd., S. 317. Ebd., S. 316. Ebd., S. 316.
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werden, und wie über die Gefühlsebene eine einmalige Stimmung aufgebaut wird, die den Zuschauer gefangen nehmen soll. Das untersuchte Material setzt sich zusammen aus Ausschnitten der Live-Übertragungen von ARD und ZDF sowie aus zwei im Anschluss an die Spiele gesendeten Dokumentarfilmen, die ihrerseits ebenfalls Live-Material verwenden. 135 6.3.1. Fernsehspiele. Olympia und TV Hohe, weltweite Einschaltquoten und eine Dauerberichterstattung über 17 Tage machen die Olympischen Spiele zu einem „media event" der besonderen Art. Kein anderes Ereignis des Sports, der Politik oder der Gesellschaft präsentiert in solch einer Dichte und über einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen so viele Bilder bewegender Momente. Und kaum eine andere Veranstaltung überwindet in gleichem Maße soziale und kulturelle Distinktionen wie Olympia mit seinen allgemein gehaltenen Botschaften von Frieden und Völkerverständigung und der Vielzahl von Sportarten. Bei einer Spannbreite, die vom Synchronschwimmen bis zum Boxen und vom Dressurreiten bis zum Hallenhandball reicht, werden Sportfans mit den unterschiedlichsten Geschmäckern angesprochen. Zudem können sich im Gegensatz zu anderen Großveranstaltungen des Sports wie Fußball- oder LeichtathletikWeltmeisterschaften wesentlich mehr Nationen Hoffnungen auf Medaillengewinne machen. 136 Die Australier begeistern sich für Schwimmen, die Kenianer und Äthiopier fur Langstreckenläufe, die Türken für Ringen und die Chinesen für Tischtennis und Badminton. Dass das Fernsehen bei allen Entscheidungen dabei ist und die Bilder der Sieger und Besiegten um die ganze Welt gehen, ist mittlerweile selbstverständlich. Aus heutiger Sicht mutet es daher einigermaßen weltfremd an, dass 1956 der damalige IOC-Präsident Avery Brundage verkündete, Olympia sei 60 Jahre ohne das Femsehen ausgekommen und würde es auch die nächsten 60 Jahre nicht brauchen.137 Die weitere Geschichte der Olympischen Bewegung beweist das Gegenteil. Ihre Bedeutung verdanken die Spiele seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend der weltweiten Publizität, die ihnen das Femsehen beschert.
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Die Sendungen der ARD heißen ARD-Sydney-2000-live, die vom ZDF ZDF Super Sport Olympia. Bei den beiden Dokumentarfilmen handelt es sich um die bereits in der Hinleitungen genannten Filme von Bouhs, Die Spiele von Sydney bzw. Biereichel/Dittrich, Das war Olympia. Originale Wortbeiträge aus den Olympiaübertragungen von ARD und ZDF, seien es Moderatoren-, Kommentatoren- oder Interviewbeiträge werden im Text in einfache AnfUhrungsstriche gesetzt. Bei den Live-Ausschnitten ist als Beleg der Sender, die Rubrik, der Sprecher (sofern möglich) und das Datum angegeben. Vgl. Payne, Audience of the Games, S. 307. Vgl. Schmidtke, Umfeld Massenmedien, S. 163. Brundages Vorbehalte gegen das Fernsehen werden angesichts verschiedener Pannen, die vom Fernsehen verschuldet wurden, verständlicher. So stolperte der Schlussläufer des Fackellaufs bei den Spielen von Cortina d'Ampezzo 1956 über ein Fernsehkabel. Die Flamme, die symbolisch nie ausgehen soll, fiel zu Boden und erlosch. Ein Zuschauer half mit einem Streichholz sie wieder anzuzünden. Vgl. Payne, Audience of the Games, S. 305.
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The growth in the prestige and standing of the Olympic Movement can be directly attributed to the development of television in the twentieth century. With each new technological initiative - satellite coverage, colour broadcasting, slow-motion action replays - the Olympic audience levels have risen as the viewer moves from being a passive observer to experiencing the Olympics as if, at times, he was actually there in the stadium.138
Durch das Medium Fernsehen ist das Olympiapublikum auf ein Milliardenpublikum angewachsen. Die Spiele von Barcelona etwa konnten in 193 Ländern verfolgt werden, insgesamt 2,3 Milliarden Menschen sollen sich irgendwann im Verlauf der Spiele ins olympische Programm eingeschaltet haben und das durchschnittlich elfmal.139 In den USA, Spanien und Großbritannien haben Studien zur Folge 90 Prozent der Bevölkerung in irgendeiner Weise an den TV-Übertragungen der Spiele partizipiert. 140 Das bedeutet, dass die Zuschauerschaft Olympias nicht nur größer, sondern auch breiter gestreut ist als die anderer Sportereignisse, da sich auch Frauen und Menschen mit eher geringem Fernsehkonsum in ungewöhnlicher hoher Zahl am olympischen Geschehen interessiert zeigen. Insbesondere für die Werbung ist das interessant, da sie über Olympia Bevölkerungsschichten erreicht, die ihr sonst schwer zugänglich sind.141 So ist durch die Fernsehübertragungen nicht nur das Prestige der Olympischen Bewegung gewachsen, sondern auch die Möglichkeit zur kommerziellen Nutzung der Spiele. Sponsoren benötigen die Plattform des „media events" Olympia, um ihre Produkte weltweit vermarkten zu können. Dementsprechend ist auch in der Wirtschaft ein Wettbewerb entstanden, bei den Olympischen Spielen mit Werbung dabei zu sein. Das steigert den Preis, der sich in der Höhe der Summe widerspiegelt, die für die Fernsehrechte ausgegeben werden. 1,246 Milliarden US-Dollar zahlten die Fernsehsender in aller Welt für die Senderechte von Sydney und beglichen damit rund 38 Prozent der Gesamtkosten der Spiele 2000. 142 Olympia ist zur „begehrtesten und kostspieligsten Femsehbraut des Planeten" 143 geworden. In Relation zur Kostensteigerung präsentieren die Femsehanstalten die Spiele alle vier Jahre als noch größeres TV-Event und brechen von Olympiade zu Olympiade ihre eigenen Rekorde der übertragenen Sendezeit, der Anzahl der akkreditierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der Produktionskosten. In Sydney beobachten mehr als 20.000 Medienvertreterinnen und -Vertreter die Leistungen der 10.500 138 139 140 141 142
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Payne, Audience of the Games, S. 305. Vgl. ebd., S. 306. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Rudolf Kreitz: Sponsoren, Touristen und Investoren. Roters listet Erfahrungen aus Sydney auf: Einnahmen in Milliardenhöhe errechnet. In: „Kölner Stadt Anzeiger", 9.11.2000, o.S. Das Geschäft ist dennoch ein direktes Gewinngeschäft fur die kommerziellen Fernsehanstalten. Der amerikanische Fernsehsender NBC bezahlte allein 725 Millionen US-$ für die Übertragungsrechte, konnte aber die Werbezeiten auch für 900 Millionen US$ verkaufen. Vgl. Ceme, Medienereignis Sydney 2000, S. 154. Vgl. Schmidtke, Umfeld Massenmedien, S. 164. Zum ersten Mal verkaufte das IOC 1960 die Femsehlizenzen zur Übertragung der olympischen Wettkämpfe. Der Preis betrug damals 668.000 US-$. Dementsprechend lag er bei den Spielen von Sydney um das 1865-fache höher. Vgl. Willi Ph. Knecht: Der Weg nach Sydney. Die Verklärung der Traumzeit und die Ratlosigkeiten der Gegenwart. In: Ceme, Sydney 2000, S. 25.
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Aktiven. 144 Allein dieser Zahlenvergleich zeigt, dass Olympische Spiele in erster Linie ein „media event" sind, und nur in zweiter Linie auch ein Sport-Event. Insgesamt 700 Fernsehkameras 145 sind an den verschiedenen Wettkampforten aufgestellt, um alle 300 Entscheidungen vom ersten Vorkampf bis zur Siegerehrung übertragen zu können. Alles wird aufgezeichnet, da jeden Augenblick etwas passieren könnte, was olympische Geschichte schreibt oder durch seine Kuriosität Aufmerksamkeit erregt. Das steigert die Erwartungshaltung des Zuschauers, vom Femsehen wirklich lückenlos informiert zu werden, und macht ihm die Entscheidung schwer, das olympische Programm auszuschalten, denn auch er weiß, dass sich jederzeit etwas ereignen kann, wofür es sich lohnt, „am Ball" zu bleiben. Bestätigt wird er durch die Randgeschichten der Spiele, wie die vom Schwimmer Eric Moussambani aus Äquatorial Guinea, der sich als einzig übrig gebliebener Starter seines Vorlaufs unter dem Jubel von 17.500 Zuschauerinnen und Zuschauem zum ersten Mal in seinem Leben über die 100 m-Freistil-Strecke mühte.146 „Dabei sein ist alles" - das olympische Motto zählt im Schwimmbecken wie am heimischen Femsehbildschirm. 6.3.2. Olympiarekord. Der Aufwand der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten Ein Fernsehereignis sind die Spiele von Sydney 2000 auch in Deutschland. Täglich alternierend berichten ARD und ZDF über die Wettkämpfe und Geschehnisse der 17 olympischen Tage. Daneben geht auch 3sat jeden Tag auf Sendung, um schwerpunktmäßig Uber Ballsportarten zu informieren. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat Investitionen wie nie getätigt: 110 Millionen Mark kosten die Lizenzen für die Erstverwertung der Bilder, auf weitere 43 Millionen Mark belaufen sich die Produktionskosten. Mehr als 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ARD und ZDF sind in Sydney beschäftigt und gestalten insgesamt 420 Stunden Sendezeit.147 All diese Zahlen sind Rekordzahlen im Vergleich zu früheren Olympia-Übertragungen. Das folgt einer inneren Dynamik: So wie sich die Veranstalter Olympischer Spiele im olympischen Streben nach Rekorden gegenseitig zu übertreffen versuchen, was etwa die Zahl der teilnehmenden Nationen, den Erlös durch die Eintrittskarten oder die Kosten der Eröffnungsfeier angeht, wollen auch die Fernsehsender beweisen, dass das „media event" Sydney 2000 noch größer und umfangreicher ist als Atlanta 96, Barcelona 92 und die anderen Vorgänger. Die TV-Inszenierungen von Sydney sollen „alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen",148 befindet ZDF-Sportchef Wolf-Dieter Poschmann vor Beginn der Spiele.
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Vgl. Cerne, Medienereignis Sydney, S. 152. Vgl. ebd., S. 157. Vgl. Ceme, Sydney 2000, S. 90. Vgl. N.N.: Sieger und Besiegte. In: „Spiegel" Nr. 37/2000, S. 212. 420 Stunden TVUbertragungen bedeuten Weltrekord und übertreffen auch die rund 400 Stunden olympischer Sendezeit des Spartensenders Eurosport, der sein eigenes Programm wegen der Rund-um-die-Uhr-Berichterstattung mit dem olympischen Motto „Dabei sein ist alles" Uberschrieben hat. Cerne, Medienereignis Sydney, S. 154.
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Wie alle Femsehanstalten sind die deutschen Sender abhängig von den Bildem, die die australische TV-Organisation Sydney Olympic Broadcasting Organisation (SOBO) ausstrahlt. Zusätzlich zu dem Weltbild, das entsprechend den eigenen Wünschen und Vorstellungen bearbeitet und zusammengestellt wird, produzieren die Teams von ARD und ZDF auch eigenes Material. Insgesamt 56 Kameras stellen sie an den verschiedenen Wettkampfstätten auf, um den Blick immer auf die deutschen Sportlerinnen und Sportler richten zu können. Dies zeigt, dass das Hauptaugenmerk dem Abschneiden der deutschen Olympiamannschaft gilt. „International bekommt in diesem Zusammenhang eine andere Bedeutung: Es gilt die eigene Nation im Wettkampf mit anderen Nationen zu beobachten. Obwohl jeder Sender auf einen eigenen Stab an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern setzt, greifen ARD und ZDF auf dieselben Ressourcen zurück. So wird auch das Hauptstudio gemeinschaftlich von beiden Redaktionen benutzt, und NDRProgrammdirektor Jürgen Kellermeier fungiert als Teamchef für alle Fernsehschaffenden der Öffentlich-Rechtlichen in Sydney. Daher lassen sich auch, anders als in politischen Formaten wie Wahlsendungen, zwischen ARD und ZDF keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf Umfang, Art und Inhalt der Berichterstattung oder die Bewertung der olympischen Ereignisse ausmachen. Das führt dazu, dass ARD und ZDF auch im Verlauf meiner Analyse als einheitlicher Kommunikator aufgefasst werden, ohne dass sie realiter völlig gleichzusetzen sind, da beide Sender auf ihre bekannten Moderatorinnen und Moderatoren149 sowie Reporterinnen und Reporter setzen, die mit ihrer jeweiligen Persönlichkeit auch einen bestimmten Stil pflegen und ein gewisses Zielpublikum ansprechen.150 6.3.3. Ereignisse über Ereignisse - Live-Übertragungen rund um die Uhr Ein durchschnittlicher Olympia-Tag beginnt auf ARD oder ZDF um 23.00 Uhr abends mit der Live-Übertragung, die bis um 15.00 Uhr andauert. Direkt im Anschluss folgt eine zweistündige Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse des Tages. Nach dann insgesamt 18 Stunden olympischer Sendezeit folgt eine Pause bis
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Auf ARD-Seite moderieren Michael Antwerpes, Reinhold Beckmann, Gerhard Delling, Waldemar Hartmann und Anne Will, ftir das ZDF sind Rudi Ceme, Johannes B. Kemer, Wolf-Dieter Poschmann und Michael Steinbrecher vor den Kameras im Einsatz. Waldemar Hartmann beispielsweise ist bekannt für seinen kumpelhaften Gesprächsstil und gilt als „Duz-Maschine" („Süddeutsche Zeitung". Zitiert nach Bernd MUllender: Fußballfrei in II Spieltagen. Eine Entziehungskur für Süchtige. Frankfurt am Main 1998, S. 69), die „mit Hansi, Klinsi und Berti wie mit Kegelbriidem" schäkert (Beck, Live vom Zapfhahn, S. 172). Zudem steht er im Ruf, auf deutsche Niederlagen verbissen und unmutig zu reagieren, was gerade in den ersten Tagen, als Deutschland noch keine Goldmedaille gewonnen hat, zum Ausdruck kommt (vgl. Bönte, Enttäuschte Liebe). Diese Haltung ist aber personenspezifisch und nicht senderspezifisch. Grimme-Preisträger Gerhard Delling, bekannt durch seine Fußball-Analysen mit Günter Netzer, ist beispielsweise durch einen ganz anderen Stil gekennzeichnet: Er verbreitet stets gute Laune und präsentiert den Sport eher als eine Form der gepflegten Unterhaltung. Im Gegensatz zu Hartmann steht er auch fur die internationale Ausrichtung des Senders, da er die Interviews mit ausländischen Sportstars auf Englisch fuhrt.
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zum ZDF-Olympia-Studio um 19.10 Uhr bzw. zum ARD Sydney 2000 Olympia Boulevard um 20.15 Uhr. Die beiden Sendungen zur Prime-Time liefern in anderthalb bis zwei Stunden Länge einen Rückblick auf den Olympiatag mit Ausschnitten, Analysen, Gesprächsrunden und Einlagen, die der Unterhaltung dienen.151 Da auch noch auf 3sat täglich von 9.00 bis 15.00 Uhr Ballsportarten und andere Entscheidungen, die in den Live-Übertragungen zu kurz kommen, ausfuhrlich zu sehen sind, und Früh- bzw. Mittagsmagazine sowie Nachrichtensendungen in Filmbeiträgen auf das olympische Spektakel eingehen, sendet das öffentlich-rechtliche Femsehen nach eigenen Berechnungen pro Tag zwischen 26 und 28 Stunden aus Sydney. 152 Die Zahl der gesendeten Stunden dokumentiert den olympischen Ausnahmezustand. Wenn man von den Nachrichtensendungen zur Prime-Time - heute bzw. Die Tagesschau - absieht, wird an einem Olympiatag das gesamte Programmschema des übertragenden Senders umgeworfen. So produzieren ARD und ZDF eine olympische Bilderflut, die das Aufnahmevermögen jedes Rezipienten übersteigt, allein weil er irgendwann einmal schlafen muss. 26 Stunden am Tag kann ohnehin niemand fernsehen - es bleibt Utopie, wirklich alles sehen zu können, was das deutsche Fernsehen zu Olympia anbietet. Dem Zuschauer bleiben zwei mögliche Reaktionen auf das Überangebot der Sender. Entweder er beginnt zu selektieren und nach seinen Interessen und Vorlieben das olympische Programm auszuwählen, oder aber er versucht möglichst viel mitzubekommen, um die Größe des „media events", wenn schon nicht zu erfassen, zumindest doch zu erahnen. ,So viel vom Erlebnis Olympia aufsaugen, wie geht' 153 hat Aktivensprecher Arndt Schmidt fiir sich als Devise ausgegeben - dem Fernsehzuschauer wird nahe gelegt, es dem deutschen Degenfechter gleichzutun. Ständig springt die Regie von einem Wettkampfort zum nächsten, „in der irrigen Annahme", das TV-Publikum würde sich nur „für Spots - und nicht für die Dramaturgie von Wettkämpfen - interessieren." 154 Oft werden Zeittafeln eingeblendet, die auf noch ausstehende Entscheidungen des Tages hinweisen, auf deren Einhaltung jedoch wenig Verlass ist, und immer wieder wird verbal der nächste Höhepunkt - eine mögliche Medaille für einen Deutschen, der Auftritt eines Superstars, der dramatische Finalkampf zweier gleichwertiger Gegner - angekündigt. Hinzu kommt die fernsehtypische Art von Sportübertragungen, den einzelnen Wettbewerb durch viele Schnitte zu „beschleunigen". 155 Obwohl die Totale fast immer den besten Überblick gewährleistet, bleibt die Bildregie selten für lange Zeit bei dieser Perspektive. Dem Fernsehzuschauer wird keine Gelegenheit gegeben, auf Distanz zu gehen.
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,ss
So hat das ZDF anstelle des sonst üblichen Torwandschießens seine Gäste zum DidjeriduB lasen aufgefordert und damit ein eigenes Olympia-Ritual geschaffen. Vgl. Ceme, Medienereignis Sydney, S. 154. ARD, Live, Schmidt, 15.9.2000. Jan Feddersen: Obskures Eigenlob aus der ersten Reihe. In: „taz", 2.10.2000, S. 15. Dass teilweise der Überblick verloren geht und wichtige Entscheidungen gar nicht oder nur teilweise Ubertragen werden, entschuldigen die Moderatorinnen und Moderatoren mit der Fülle des Materials, womit sie wieder zum Ausdruck bringen, wie dicht gedrängt Olympia bedeutende Ereignisse produziert. Darauf weist Jean-Luc Godard in einem Interview hin (Politik, Kino oder Literatur lügen).
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Als Schaltstelle zwischen den Wettkampforten fungiert meist - manchmal, wenn es besonders eilig ist, wird auch direkt umgeschaltet - das gemeinsame Hauptstudio von ARD und ZDF, das jeweils in das entsprechende Sender-Design umgewandelt wird, ohne die Grundzüge der Ausstattung und Dekoration zu verändern. Im Studio befindet sich der Moderator. Er sitzt entweder - vor allem bei Interviews - auf einem Sofa vor einer Großbildleinwand, die Eindrücke aus dem Stadtbild von Sydney bereit hält, oder er steht vor einer Plasmamonitorwand mit 16 Bildschirmen, auf denen die parallel laufenden, olympischen Entscheidungen zu sehen sind. Auch diese Bildschirme vermitteln den Eindruck, dass in Sydney an den verschiedenen Wettkampfstätten ständig etwas Aufregendes passiert. Zugleich zeigen sie, dass das Fernsehen seine Zuschauer überall hinfuhrt, wo es etwas zu sehen gibt. Die ansonsten karge Einrichtung des Studios soll dem Charakter eines Workshops gerecht werden. Schnelligkeit und Aktualität zu vermitteln stand bei der optischen Gestaltung des Studios im Vordergrund. 156 Dagegen sind die Lokalitäten der abendlichen Olympia-Studios eher dazu geeignet, sich zurückzulehnen und alles in Ruhe zu betrachten. Insbesondere das ZDFStudio strahlt gediegene Atmosphäre aus. Es ist auf der „MS Deutschland" eingerichtet, dem „Traumschiff" der gleichnamigen ZDF-Serie, das sich zur Zeit der Spiele im Hafen von Sydney befindet. Allerdings kommt es vor, dass die Nachbetrachtung zum Abschluss eines auch für die Moderatoren anstrengenden OlympiaTages eher ermüdend wirkt, dass dort wenig Spannung aufgebaut wird und die Gespräche oft in belanglosem Geplauder enden. Dementsprechend schwach sind die Einschaltquoten. Keine der 17 abendlichen Olympiasendungen in Deutschland kann sich als Marktführer im TV-Programm behaupten, während die nächtlichen LiveÜbertragungen teilweise sogar die 50%-Marke übertreffen. 157 Dass Live-Berichte besser angenommen werden als „Sport aus der Konserve" 158 liegt auf der Hand: Nur sie können absolute Aktualität und Spannung versprechen und nur sie vereinen wirklich die Weltgemeinschaft der Fernseher vor denselben Bildern. Ein Teil dessen, was den Reiz Olympischer Spiele ausmacht, muss daher in der Nachberichterstattung verloren gehen. 6.3.4. Heile Olympische Welt - die Botschaft des IOC und die Geschlossenheit der TV-Spiele Auffallend an der Studiodekoration sind neben dem optischen Verweis auf die Femsehwelt zwei Leuchtstoffröhren, in die das Logo der Spiele von Sydney eingefügt ist. So wird bei jeder Schaltung ins Studio ein optischer Bezug zum Gesamten her156 157
158
Vgl. Ceme, Medienereignis Sydney, S. 155. Vgl. Feddersen, Eigenlob, S. 15. Allerdings sind das für nächtliche Übertragungen auch keine besonders herausragenden Quoten, da das Konkurrenzprogramm nicht dieselbe Attraktivität besitzt wie zur Prime-Time. Die insgesamt durchschnittlichen Quoten erklären sich zum Teil auch aus der Dauer der Übertragungen. Da es wenig feste Olympia-Termine gibt und sich jeder Olympiafan jederzeit ins olympische Programm einschalten kann, verteilen sich die Quoten auch über den Tag. Ebd., S. 15. 247
gestellt. Dieser ist eigentlich nicht nötig, denn die Olympischen Ringe, das Markenzeichen der Olympischen Bewegung, sind ohnehin stets im Bild präsent: direkt unterhalb des Senderlogos. Als bildschirmfiillendes Symbol werden sie außerdem eingeblendet, um eine Zeitlupenwiederholung anzukündigen. So wird dem TVZuschauer auf dem ersten Blick deutlich gemacht, dass er sich in die Übertragung Olympischer Spiele eingeschaltet hat, zumal die fünf Ringe auch an den verschiedenen Wettkampfstätten so angebracht sind, dass sie auffallen müssen. Jede Sportart setzt das Zeichen der Spiele anders in Szene: Fechter und Gewichtheber kämpfen und stemmen vor einem unifarbenen Hintergrund, auf dem die Ringe in überdimensionaler Größe abgebildet sind. Ebenso finden sich die Olympischen Ringe auf dem Boden der Tennisplätze oder dem Rasen der Fußball-, Baseball- oder Leichtathletikstadien, zieren sie Siegerpodeste und Starternummern, Banden, Bälle oder Boote. Auch in jede Femseh-Graphik, die über Starterlisten, Platzierungen oder persönliche Daten der Sportlerinnen und Sportler informiert, ist das Signum Olympias integriert. Die augenfällige und sich stetig wiederholende Präsentation der Ringe ist einerseits PR-Arbeit des IOC, macht andererseits auch deutlich, dass es einen übergeordneten Zusammenhang zwischen allen Sportarten und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern gibt. Optisch verweist jede Schaltung an einen anderen Wettkampfort Sydneys auf das große Ganze und damit auf das Vorhandensein einer Olympischen Idee. In der Fülle der sportlichen Events, der Vielzahl der zu verarbeitenden Informationen und der Flut der Emotionen bleibt wenig Zeit, die Inhalte dieser Idee zu thematisieren. Es muss reichen, dass es sie gibt. Während die Ringe auf den geistigen Überbau der Spiele verweisen und so einen Zusammenhalt zwischen den einzelnen olympischen Events kreieren, schaffen die Fernsehanstalten durch die zeitliche Dichte der Live-Übertragungen eine andere Art der Geschlossenheit: Von der Nacht bis zum Nachmittag senden ARD und ZDF jeweils 16 Stunden lang aus Sydney und unterbrechen die Olympiasendung nur fur die Ausstrahlung der Weltnachrichten und einiger Programmvorschauen. Die Schaltung in die Nachrichtenstudios thematisieren die Moderatorinnen und Moderatoren wiederholt als Rückkehr in die normale Welt. Überleitungen wie ,in der Welt sieht es anders aus' 159 oder ,wir wissen, wir sind nicht ganz allein auf der Welt' 160 machen deutlich, dass man die .traumhafte Stimmung am Bondi-Beach', 161 das Märchen von Sydney 2000 nur ungem verlässt, um sich der Brutalität der Realität zuzuwenden. Tröstlich mutet da das Versprechen an, nach den Nachrichten dort weiter zu machen, wo man gerade aufgehört hat. Die Außenwelt dringt nicht unvorbereitet in das heile Bild der Spiele von Sydney ein, und auch die abermalige Rückkehr in die Fernseh-Traumwelt wird durch das Einspielen eines eigens entworfenen Olympia-Trailers und die Nennung der olympischen Sponsoren als Übergang vollzogen. Der Trailer des ZDF nimmt Bezug auf die olympische Symbolik. Sportlerinnen und Sportler verschiedener Disziplinen bewegen sich vor einem schwarzen Hintergrund und brennen mit einer Fackel
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ZDF, Live, Keiner, 29.9.2000. ZDF, Live, Steinbrecher, 25.9.2000. ZDF, Live, Steinbrecher, 25.9.2000.
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Leuchtspuren in das Bild ein, ehe schließlich ein Aborigine die fünf olympischen Ringe mit der Fackel nachzeichnet und ein Schriftzug aufleuchtet, der verrät, dass die Sendung ZDF Super Sport Olympia heißt. Während die rhythmische Musik einer Instrumentalpassage aus dem U2-Song Beautiful Day und die schnellen Bewegungen wie die rasche Schnittfolge Dynamik versprechen, sind die Bildinhalte dem mystischen Subtext Olympischer Spiele entliehen. Ein hilfloser Versuch, die Besonderheit des „media events" Sydney 2000 herauszustreichen, ist die Wahl des Titels der Sendung. Superlative gehören zur Sprache des Sportjournalismus dazu, um die grandiose Atmosphäre und das historisch Bedeutsame des Ereignisses zu schildern. 162 In Sydney 2000 ist daher alles ,Wahnsinn, Wahnsinn' 163 oder eben einfach super. Auf den .Super Friday' 164 mit Schwimmen und Leichtathletik folgt am nächsten Tag sofort der ,Super Saturday'. 165 Der ARD-Trailer setzt eine Reihe der olympischen Sportarten hintereinander in Szene, unterscheidet sich in der Machart aber nicht sehr von den Trailern anderer Sportsendungen „im Ersten". Dafür zeigen die Programmverantwortlichen einige Male direkt im Anschluss an die Vorstellung der Sponsoren, Werbespots, die das IOC gemacht hat, um den Olympischen Geist zu charakterisieren. Unter dem Titel Celebrate Humanity werden Momente der olympischen Geschichte aufgegriffen, die besonderen Sportsgeist demonstrieren sollen.166 Beispielhaft fur den Aufbau und den Stil dieser Kampagne ist der Spot mit dem Titel Courage, der einen Sprinter in einem Wettkampf über 400 Meter zeigt. Der Lauf wird in Zeitlupe abgespielt und von getragener Instrumentalmusik begleitet. Offensichtlich verletzt sich der Sprinter beim Laufen, denn er verlangsamt plötzlich und fasst sich an den Oberschenkel: Während die anderen Teilnehmer ihn überholen, hört man die Stimme eines Sprechers sagen: ,Kraft misst man in Pfund, Geschwindigkeit in Sekunden'. 167 Der verletzte Sprinter kniet nieder, und fünf Frauen inmitten der Zuschauermenge rücken ins Bild. Ihre Blicke drücken Entsetzen Uber die Verletzung aus, zwei von ihnen halten sich verzweifelt die Hände vor das Gesicht. Plötzlich erhebt sich der Sportler wieder und beginnt humpelnd ins Ziel zu laufen. Eine Frauenstimme beginnt leise zur Musik zu singen,168 und der Sprecher
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Vgl. Blayn, Boys in Green, S. 41. ZDF, Live, Poschmann, 27.9.2000. ARD, Live, Delling, 22.9.2000. Delling entleiht die Wortschöpfung australischen Medienberichten. ZDF, Live, Ceme, 23.9.2000. Die Kampagne wurde während der Dauer der Spiele vorgestellt auf der Internet-Homepage des Olympischen Museums (http://www.museum.olympic.org). Historisch bedeutende und persönlich bewegende Momente werden in den Spots und weiteren flankierenden Werbemaßnahmen aufbereitet: etwa der faire Umgang zwischen den beiden Weitspringern Lutz Long aus Deutschland und Jesse Owens, dem Star der Spiele von 1936, in der belasteten Atmosphäre der Berliner Spiele oder der Kampf gegen das persönliche Schicksal einer Krankheit von Sportlegenden wie Muhammad Ali oder Wilma Rudolph. ARD, IOC-Spot, N.N., 22.9.2000. Die menschliche Stimme ist in der Musik also in dem Augenblick zu hören, wenn der Sportler seinen Lauf fortsetzt, wenn sich also die im Übertragenen Sinne „menschliche Stimme" der Sportlerseele rührt.
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vollendet seinen angefangenen Satz: ,...aber Mut und Tapferkeit kann man nicht messen.' 169 Eingeblendet wird der Schriftzug „Celebrate Humanity", der zum Abschluss in die fünf olympischen Ringe übergeht. Die Botschaften der Spots sind eindeutig und in Schlagworte zu fassen wie alle olympischen Botschaften: Olympia ist ganz im Sinne von Coubertin der „Kult der Menschheit", 170 den die Sportlerinnen und Sportler zelebrieren, wenn sie sich auch über zweite und dritte Plätze freuen, wenn sie sich fair gegenüber ihren Kontrahentinnen und Kontrahenten verhalten oder wenn sie es als persönliche Ehre auffassen, einen Wettkampf zu Ende zu bringen, auch wenn eine Verletzung sie daran hindert erfolgreich zu sein. Charakteristisch an dem aufgeführten Beispiel ist die Art, wie die Reaktionen des Publikums eingebunden sind - sie verdeutlichen, dass die Feier menschlicher Ideale im Sport vor aller Augen und vor mitleidenden Menschen stattfindet. Ebenso fällt auf, dass Menschlichkeit als Wert von unermesslicher Größe dargestellt wird: Der humane Sportler ist zu Taten fähig, die nicht mehr dem Feld des Rationalen zuzurechnen sind, da sie sich dem wissenschaftsgläubigen Instrumentarium von Zahlen und Zeiten entziehen: ,Mut und Tapferkeit kann man nicht messen'. 171 Durch die IOC-Kampagne bekommen die olympischen Ereignisse von Sydney einen anderen Stellenwert. Die Spots schaffen einen Werte-Rahmen, der eine bestimmte Interpretation der Spiele fördert und dazu anregt, die Handlungen der Sportstars unter moralischen Gesichtspunkten zu bewerten. Sie gehören zu den wenigen bedeutungstragenden Momenten der olympischen TV-Inszenierung und korrespondieren mit dem Selbstverständnis der Olympischen Bewegung, Frieden, Völkerverständigung und Versöhnung zu fordern. Die Bilder der Eröffnungsfeier vermitteln diese Botschaften auf äußerst direkte und sprechende Weise: Ein Tuch, das über die im Innenraum stehenden Sportlerinnen und Sportler ausgebreitet wird, worauf zunächst die Friedenstaube und dann die Olympischen Ringe projiziert werden, die symbolische Geste, dass Nord- und Südkorea Hand in Hand und nicht nach Delegationen getrennt einmarschieren oder die Begegnung eines weißen australischen Mädchens mit einem alten Aborigine sind jene Momente der Zeremonie, in denen der Olympische Geist erfahrbar werden soll. Dass Olympische Spiele zu solchen letztlich unverbindlich bleibenden Gesten fähig sind und damit allgemein anerkannte und global gültige Werte transportieren, lassen sie als „Symbol einer besseren Welt" 172 erscheinen. Vom Beginn der Spiele an werden so positive Emotionen erzeugt, in deren Überschwang die Fernsehbilder von Sportlerinnen und Sportlern, die sich umarmen oder beglückwünschen, zu Zeichen der Völkerverständigung werden. Der Sport wird als Feld wahrer menschlicher Leidenschaften dargestellt - nur so erklärt es sich, warum Cathy Freeman zur Symbolfigur der „schmerzfreien Versöhnung von Schwarz und
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ARD, IOC-Spot, N.N., 22.9.2000. Pierre de Coubertin: Le respect mutuel. Paris 1915, S. 37. Zitiert nach Malter, Olympismus Coubertins, S. 19. ARD, IOC-Spot, N.N., 22.9.2000. Lenk, Suche nach dem olympischen Geist, S. 104.
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Weiß"173 hochstilisiert werden kann und warum die 49,11 Sekunden ihres olympischen 400-Meter-Finales einen .großen Moment in der Geschichte Australiens'174 ausmachen sollen. 6.3.5. Nachrichten, Helden, Erinnerungen. Regelmäßige Rubriken der Olympiaübertragungen Es braucht den rudimentären Sinn, der in den IOC-Spots und in der Eröffnungsfeier durchscheint, um als TV-Zuschauer von den olympischen Bilderfluten der LiveÜbertragungen nicht vollends überwältigt zu werden und einen festen Standpunkt einnehmen zu können, ähnlich wie das „Küstenland" des Mythos den Zuhörer vor dem Untergang im Meer der Wagnerschen Musik retten soll.175 Einige Inseln zum Ausruhen haben allerdings auch die Programmverantwortlichen von ARD und ZDF in die 16-stündigen Live-Übertragungen eingebaut. Die absolute Aktualität wird durch verschiedene Rubriken unterbrochen, die zusätzliche Informationen geben, das Tagesgeschehen zusammenfassen, die Ereignisse vertiefen oder auch auf unterhaltsame Weise für eine Atempause im „Dauerstress" der dramatischen Wettkämpfe sorgen. Eine der funktional wichtigsten Rubriken ist die Tageszusammenfassung, die auf ARD Olympia-Telegramm und auf ZDF Olympia kompakt heißt. Ab 6.00 Uhr morgens wird sie stündlich ausgestrahlt und berichtet in einem drei- bis fünfminütigen Nachrichtenblock über die bereits beendeten olympischen Entscheidungen des Tages. Im ZDF informiert zudem noch halbstündig ein Olympia-Ticker über die neuesten Geschehnisse. Olympia, so wird deutlich, produziert nicht nur eine Fülle von Bildern und Emotionen, sondern auch eine Fülle von Nachrichten. Die regelmäßig wiederkehrenden Nachrichtenblöcke verschaffen den OlympiaÜbertragungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine feste Struktur, so wie im alltäglichen Fernsehprogramm die Sendungen um die festen Termine der Weltnachrichten gruppiert werden. Die olympischen Tageszusammenfassungen präsentieren das Fernsehen als Medium der schnellen Information, und geben denjenigen, die nicht rund um die Uhr dabei sein können, die Möglichkeit jederzeit ins olympische Programm einzusteigen. Zugleich vermitteln sie jedoch das Gefühl, etwas Besonderes, zum Beispiel einen überraschenden deutschen Olympiasieg, miterlebt oder verpasst zu haben. Ein wenig erinnern Olympia-Telegramm und Olympia kompakt an die Zusammenfassungen bei Mehrteilern und Serien im Fernsehen. Wenn ARD und ZDF bei ihren Sydney-Übertragungen darüber berichten, „was bisher geschah", dann allerdings nicht, um ein Verständnis fur das Kommende zu übermitteln, denn die einzelnen olympischen Ereignisse stehen ja in der Regel in keiner kausalen Folge. Haupt-
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Klaus Brinkbäumer: Die heilige Hexe. In: „Der Spiegel", Nr. 37/2000, S. 207. ZDF, Live, Poschmann, 25.9.2000. Auf die Inszenierung des 400-m-Endlaufs mit Cathy Freeman gehe ich näher unter Kapitel 6.3.7 ein; zur Femsehübertragung der Eröffnungsfeier vgl. auch Kapitel 6.3.6. Vgl. Wagner, Kunstwerk der Zukunft, S. 85.
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sächlich geht es darum, das Vergangene als Bedeutsames zu adeln, indem ihm ein Nachrichtenwert zugestanden wird, und damit auch schon auf die Besonderheit der künftigen Geschehnisse zu verweisen. Im Vergleich zum Gesamtprogramm liegt der Schwerpunkt der OlympiaNachrichten noch stärker auf dem Abschneiden der deutschen Athletinnen und Athleten. Die erste Meldung gilt - sofem möglich - immer dem Medaillengewinn eines deutschen Olympiateilnehmers. Spektakuläre Entscheidungen, Weltrekorde oder Dopingmeldungen sind weniger wichtig und werden hinten angehängt. Selbst an dem Tag, als Cathy Freeman ihren Olympiasieg holt - ein Ereignis, das auch von den deutschen Fernsehsendern als Höhepunkt der Spiele gefeiert wird - , beginnt das ZDF den Nachrichtenblock mit Lars Riedels Silbermedaille im Diskuswerfen, ,der ersten Leichtathletik-Medaille der deutschen Mannschaft'. 176 Die anderen Rubriken erscheinen weniger regelmäßig und unterbrechen den Ablauf der olympischen Ereignisse seltener. Für Unterhaltung sollen die Sketche mit Mr. Lee sorgen, der sich von Olympischen Superstars einzelne Disziplinen erklären lässt, und die unter By the way zusammengefassten Beiträge von Hennes Gally, der Eindrücke aus Sydney anekdotenhaft verarbeitet. Wonders of Australia - ebenso wie die Bilder des Tages auch als 3D-Version zu sehen177 - bringt die australische Landschaft und Kultur näher, Blackys Sydney verbreitet australisches Lebensgefühl, wie es der deutsche Show-Master Hans Joachim Fuchsberger definiert, und Olympische Augenblicke auf ARD bzw. Yesterday auf ZDF zeigen Bilder vergangener Spiele. Dort wird vor allem auf die prominenten Stars früherer Zeiten und ihre weitgehend bekannten Leistungen, Taten und Schicksale eingegangen. Fortgeführt wird so vor allem die olympische Legendenbildung. Gleichzeitig wird deutlich, dass Olympia eine eigene Geschichte hat, folglich jeder Wettbewerb von Sydney auch wieder Geschichte schreibt. So erhält der TV-Zuschauer ein Bewusstsein dafür, dass auch das, was sich vor seinen Augen ereignet, einmal Stoff für eine olympische Heldenerzählung sein kann. Er darf hoffen, dass er Zeuge von Geschehnissen wird, über die künftige Zeiten noch sprechen werden. Das steigert den Reiz des Dabei-Seins. Wichtig für die Bindung der TV-Konsumenten an die Sponsoren der Sender ist das gemeinsame Gewinnspiel von ARD und ZDF: Heroes. Erraten werden muss der Name eines Sportstars, dessen Inkarnation zum Helden schon vom Titel vorgegeben ist. Der Ablauf der jeweiligen Einspieler bleibt gleich: Ein Kind aus der Heimat des vorgestellten Athleten versucht die Bewegungen seines Idols nachzuahmen. Dann werden die Erfolge des Sportlers in Wort und Bild aufgelistet, und das Kind stellt die abschließende Frage: „Wer ist mein hero?" Illustriert wird die Vorbildfunktion der Sportlerinnen und Sportler, die auch schon Coubertin im Auge hatte. Durch das Gewinnspiel wird versucht den Fernsehzuschauer aus seiner Passivität zu ziehen. Er kann sich wie die Kinder einen Helden auswählen und sich bemühen ihm nachzueifern, und er kann zum Telefonhörer greifen und sich am Gewinnspiel beteiligen. Zumindest ein Ansatz von Interaktivität ist hier erkennbar. Wenn der TV-Zuschauer auch keinen direkten Einfluss auf das Sportgeschehen oder seine Übertragung im
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ZDF, Kompakt, N.N., 25.9.2000. Vgl. Cerne, Medienereignis Sydney 2000 S. 160.
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Fernsehen hat, so zeigt er mit der Teilnahme am Spiel doch öffentlich ein gewisses Interesse an den Olympiaübertragungen und bekundet, dass es ihn gibt. Immer wieder erwähnen die Moderatorinnen und Moderatoren daher, wie beliebt das Spiel ist. Die anonyme Masse derer, die ebenfalls vor dem Fernseher sitzen und die Eindrücke aus Sydney genießen, wird plötzlich für jeden Einzelnen zu einer realen Größe, alle können potenzielle Konkurrenten für den Erfolg beim Gewinnspiel sein.178 Heroes verdeutlicht die internationale Ausrichtung Olympischer Spiele, denn die gesuchten Stars kommen von allen fünf Kontinenten. Auf den ersten Blick vermittelt das Gewinnspiel daher den Eindruck einer interkulturellen Offenheit, die dem völkerverbindenden Moment der Spiele entspricht. Allerdings zeigen die filmischen Einspieler des Gewinnspiels nur wie afrikanische Kinder afrikanische Sportstars verehren oder australische Kinder ihre australischen Helden feiern. Identifikationen finden demnach nicht losgelöst von geographischen und kulturellen Bindungen statt. Auch dieses Format zeigt, dass der Akzent der TV-Inszenierungen mehr darauf liegt, nationale Bindungen zu bestätigen als internationales Verständnis anzuregen. Das entspricht dem Denken des Olympiagründers Coubertin, der internationale Verständigung über den Weg der Stärkung von Nationalgefühlen erreichen wollte. Während die Sportstars im Gewinnspiel als Helden mystifiziert werden, bringen die Rubriken Porträts bzw. Profiles179 die menschliche Seite der Protagonisten näher. Die Beiträge werden - wenn möglich - fünf bis zehn Minuten vor einem Wettkampf als Einstimmung eingespielt und legen so eine bestimmte Interpretation des Wettbewerbs sowie eine Charakterisierung des Athleten nahe, die dann in der Live-Übertragung indirekt oder direkt bestätigt wird. So erscheint der deutsche Überraschungs-Olympiasieger über 800 m, Nils Schumann, im Porträt als lebenslustiger junger Mann, der gerne Fußball spielt, Motorrad fährt und der sich wünscht, das Leben zu genießen, in Urlaub zu fahren, Bier zu trinken und .ausgeflippte Sachen' 180 zu machen. Um erfolgreich an Olympia teilnehmen zu können, hat er diese Dinge jedoch erst einmal verschoben. Durch Selbstdisziplin zum Genuss des Erfolgs - diesen vom Vorbericht entsponnenen Faden nimmt Wolf-Dieter Poschmann in seinem Live-Kommentar auf und thematisiert ihn fortwährend, wenn er von .schmerzlichen Verzichten' des Läufers spricht, seine ,profihafte Einstellung' lobt und ihm nach dem Erfolg gönnt, nicht nur wie vorgesehen eine Woche, sondern sogar ,zwei Wochen' 181 zu feiern. Dass auf die harte Trainingsarbeit der Rausch des Festes als Belohnung folgt, ist auch noch Gegenstand eines Interviews, das Poschmann mit Schumann am letzten Olympiatag führt.
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Wie es bei Gewinnspielen in Sportübertragungen üblich ist, sind die Fragen erschreckend leicht. Auch weniger sportinteressierte Zuschauerinnen und Zuschauer werden sie aus dem Kontext der Übertragungen einfach beantworten können, zumal drei Antwortmöglichkeiten vorgegeben sind. Daher werden wirklich beinahe alle, die Olympia schauen, zu potenziellen Gegnern. Das ZDF gibt allen seinen Rubriken während der Olympia-Tage einen englischen Namen. ZDF, Profile, Schumann, 27.9.2000. ZDF, Live, Poschmann, 27.9.2000.
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Das Profile des späteren 100-m-01ympiasiegers Maurice Greene thematisiert andere olympische Werte: Selbstbewusstsein, Gottvertrauen und Teamspirit. Der .schnellste Mann der Welt' 182 wirkt in dem Film wie ein kleiner Junge, der sich unermesslich auf die Spiele freut. Vor vier Jahren in Atlanta soll er weinend auf der Tribüne gesessen haben, weil er sich nicht für die Spiele qualifizieren konnte. Dann wechselte er zu einem neuen Trainer, der ihn zum Weltmeister und Weltrekordler gemacht hat. In der Lesart des Porträts verdankt Greene die Leistungssteigerung jedoch nicht neuen Trainingsmethoden oder einer technischen Verbesserung seines Laufstils, sondern dem neuen Vertrauen in seine eigene Stärke, dem Glauben an Gott und dem Aufgehobensein im besten Sprinterteam der Welt, zu dem auch Greenes stärkster Konkurrent Ato Bolden gehört. Auf der Bildebene wird der Mannschaftsgeist in der Individualsportart Sprint verdeutlicht, da Greene zusammen mit drei anderen Athleten in enger Umarmung und vornübergebeugt zusammensteht eine Geste, die man aus den Spielvorbereitungen bei Mannschaftssportarten kennt. Als in Sydney Ato Boldon von Greene geschlagen Zweiter wird, kommt er sofort, um dem Sieger zu gratulieren, und hockt sich mit ihm, die Köpfe zusammensteckend, auf die Bahn. Schließlich gesellt sich auch noch der Drittplatzierte Obadele Thompson dazu, so dass die Pose der drei stark an das Bild aus Greenes Porträt erinnert. Der 100-m-Lauf wird zu einem Symbol der Freundschaft von Konkurrenten. Während die Funktion der Porträts und Profiles darin liegt, Emotionen zu erzeugen und in bestimmte Bahnen zu lenken, präsentieren die Bilder des Tages, die den Olympiatag auf ARD und ZDF abschließen, wie die Sportlerinnen und Sportler ihre Gefühle im olympischen Fest ausleben. Die Bilder des Tages sind ästhetisierte Zeitlupenaufnahmen der spektakulärsten, kuriosesten und emotionalsten Szenen aus Sydney, die mit den so genannten Olympia-Songs - Australia von Magic Voices in der ARD und Heather Smalls Proud im ZDF - musikalisch unterlegt werden. Je nach verbleibender Sendezeit sind sie zwischen 30 Sekunden und 3 Minuten lang. Im Anschluss an die letzte Live-Sendung aus Sydney stellt die ARD aus den vermeintlich besten Bildern des Tages das Gesamtwerk Bilder Olympias zusammen. Der letzte der Olympia-Clips auf der ARD beginnt mit verzerrten Klängen und rhythmischen Trommelschlägen, die an die Musik der Aborigines erinnern. Dazu werden die ebenfalls rhythmischen Paddelschläge vom deutschen Viererkajak der Frauen, der Gold geholt hat, gezeigt. Es folgt auf der Bildebene eine Aneinanderreihung zur Genüge bekannter Szenen von Sydney 2000: deutsche Olympiasiegerinnen und -sieger bei der feierlichen Ehrung oder im Freudentaumel, Maurice Greene, Marion Jones, die Leichtathletikstaffeln, Ian Thorpe und natürlich Cathy Freeman im Moment ihrer Siege, Eric Moussambani im Schwimmbecken, tanzende Beachvolleyballerinnen, Impressionen aus der olympischen Eröffnungsfeier, das Anzünden der Fackel, Nils Schumanns Zieleinlauf oder die Harbour Bridge mit dem leuchtenden Symbol der Olympischen Ringe. Bilder des Tages enthalten wenig sportliche Aktionen, dafür viele Gefühlsmomente. Bei den abschließenden Bildern Olympias
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ZDF, Profile, N.N., 23.9.2000.
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etwa zeigen nur 12 Einstellungen sportliche Handlungen, während 32mal Bilder jubelnder Sportlerinnen und Sportler zu sehen sind. Dynamik entsteht, da der Popsong Australia einen pulsierenden Rhythmus beibehält. Gleichzeitig bewirken der mehrstimmige Gesang und die Melodiefiihrung, dass die Musik auch hymnischen Charakter hat und Pathos erzeugt. Der Text des Songs verrät, wie Olympia zu bewerten ist: als Fest des Zaubers und der Magie, der mystischen Träume und ihrer Erfüllungen im Zeichen des Feuers: Making understand mystic history, Magic everywhere, for suspending me. The fire is on, we go to Australia.
[...] Listen to the sound, feel the mistery, Listen to the song of eternity. The fire is on, we go to Australia. In another land, in a former time, People had a dream, and they set a sign. The fire is on, we go to Australia. [Refr.:] People of the world, every nation Coming for the one celebration. It's everyone's win, let the games begin! The fire is on - and it's shining bright! It's everyone's song - and it sounds allright! This sphere is so strong - and the fire is on! Australia, Australia, Oh Australia!
[·..]
Überdeutlich bringen der Refrain und die häufige Wiederholung der Textzeile „The fire is on, we go to Australia" zum Ausdruck, dass Australien der Hüter der Olympischen Idee ist. Ein Besuch Sydneys in diesen Tagen ist eine Pilgerfahrt zum Olympischen Feuer, die gemeinschaftlich begangen wird. Wir gehen nach Australien, und wir wird synonym für alle Menschen gebraucht: „It's everyone's song". Jeder wird vom Geist Olympias berührt, der als „song of eternity" auch den Wandel der Zeiten überdauert.183 Text, Musik, Fernsehmittel und bildliche Kraft des olympischen Sports gehen in den Bildern des Tages eine symbiotische Beziehung ein, mit dem Zweck den olympischen Zauber zu beschwören und die Erinnerung an ihn wach zu halten. Einerseits ästhetisch krönender Abschluss der Olympiatage wie der gesamten olympischen
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Interessanterweise fordert ein Popsong dazu auf, dem „song of eternity" zuzuhören, womit einerseits gemeint ist, dem Olympischen Geist nachzuspüren, andererseits aber auch eine Selbsteinschätzung vorgenommen wird: Der Texter des Liedes sieht offenbar sein eigenes Werk als weit- und zeitenumspannend an. Dass es das nicht ist, beweist allein schon die Tatsache, dass alle zwei Jahre ein neuer Olympiasong auf den Markt kommt. Die modischen Wechsel in der Popmusik zeigen die Flexibilität der Olympischen Bewegung, sich dem Geschmack der Zeit anzupassen. Auch die Olympische Idee selbst ist keineswegs so unwandelbar, wie es ihre Hüter glauben machen wollen: Die Abschaffung des Amateurideals oder die Neufassung des Olympischen Eids, in dem sich die Athletinnen und Athleten zu einem „Sport ohne Doping und ohne Drogen" (Ceme, Sydney 2000, S. 50) verpflichten, zeigen, dass Olympia selbst historischen und gesellschaftlichen Prozessen unterworfen ist.
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Berichterstattung, retten die Bilder des Tages andererseits auch als Brücke zur nichtolympischen Welt einen Teil der positiven Emotionen von Sydney 2000 in den Alltag hinüber. In Erinnerung bleiben sollen Freudentränen, Umarmungen und Begeisterung, nicht die Diskussion um Dopingaffaren, die dem Image der Spiele und damit letztlich auch dem der Fernsehsender schadet. 6.3.6. Massen im Stadion und Massen vor den Bildschirmen. Die Eröffnungsfeier im TV Aufgrund der hohen Summen, die die Fernsehsender in die Übertragung Olympischer Spiele investieren, lassen sich Fernsehanstalten und IOC als Geschäftspartner begreifen, die beide gleichermaßen an einer positiven Außendarstellung Olympias interessiert sind: das IOC, um seine eigene Machtposition im Bereich des Sports zu stärken, die Sender, um ihr erworbenes Produkt entsprechend vermarkten zu können. Für ARD und ZDF als öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten geht es zwar nicht um direkte Refinanzierung durch Werbeeinnahmen, aber um langfristigen Imagegewinn und damit eine stabilere Position im politischen Streit um Rundfunkgebühren. Insgesamt ist zu viel Geld im Spiel, als dass eine objektive und distanzierte Berichterstattung stattfinden könnte. Eine der wichtigsten Aufgaben der TVCrews ist es daher, dem Publikum die positive Olympiastimmung zu übermitteln. Zwar weiß niemand, was genau während der olympischen Wochen passieren wird eine Ungewissheit, die Sportveranstaltungen ihren besonderen Reiz gibt - , aber es steht schon lange vor dem Entzünden des Olympischen Feuers fest, wie die Sender die Spiele bewerten werden. Man will „Olympia schön finden", und man findet es dann „tatsächlich schön". 184 IOC-Präsident Samaranch kann seinem Amt gemäß erst in der Abschlussfeier den Spielen von Sydney das Prädikat ,The best games ever' 185 verleihen, das Fernsehen kommt schon vor Beginn der Eröffnungsfeier zu einer ähnlichen Bewertung. So kündigt Moderator Gerhard Delling am Tage der Eröffnungsfeier die Spiele 2000 als .Olympia der Superlative' 186 an. Die Moderatoren und Kommentatoren der ARD, die die Eröffnungsfeier übertragen und besprechen, verheißen nur Gutes. Bereits der erste Satz, den die ARD im Rahmen ihrer Olympiaübertragungen aus dem „Stadium Australia" 187 sendet, soll die Uberwältigende Wirkung des Orts an dem Olympia stattfindet - das Stadion, die Stadt, das Land Australien - , veranschaulichen: So viele schöne Bilder - man hat das Gefühl, man muss die Kamera nur laufen lassen, und schon hat man wunderbare Impressionen.188
1,4 185 1,6 187 1,8
Matti Lieske: Die überfreundlichen Spiele. In: „taz", 2.10.2000, S. 16. Vgl. Biereichel/Dittrich: Das war Olympia ARD, Uve, Delling, 15.9.2000. So lautet der Name des Olympiastadions von Sydney, in dem Eröffnungs- und Abschlussfeier sowie die Leichtathletikwettbewerbe ausgetragen werden. ARD, Live, Delling, 15.9.2000. Delling nimmt dabei Bezug auf einen Einspieler, der ähnlich wie die Bilder des Tages mit der Musik von Magic Voices unterlegt ist und Impressionen von der australischen Landschaft, dem Fackellauf und der olympischen Kulisse
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Die nächsten beiden Wochen werden auch ohne inszenatorisches Zutun des Fernsehens großartig sein - das ist die Botschaft, die Reinhold Beckmann, Gerhard Delling und Joachim Fuchsberger im Wechselspiel mit Originalbildern aus dem Stadion und eingespielten Beiträgen verkünden. Zuschauerinnen und Zuschauer an den heimischen Femsehbildschirmen sollen die besondere Stimmung mitbekommen, die Freundlichkeit und Sportbegeisterung der Sydneysider schätzen lernen und Australien als „Paradies für Hedonisten"189 begreifen, in dem es sich die nächsten 17 Tage auch virtuell gut leben lässt. Der Vorbericht vor der Eröffnungsfeier hebt darauf ab, die historische Bedeutung Olympias im Allgemeinen und der Zeremonien von Sydney 2000 im Speziellen durch die riesige Anteilnahme der Bevölkerung in Australien und der Welt zu unterstreichen. Mehrfach wird erwähnt, dass 110.000 Zuschauerinnen und Zuschauer im Stadion anwesend sind, die in Stimmung gebracht von verschiedenen Musikeinlagen eine gewaltige Geräuschkulisse darstellen, gegen die Delling und Fuchsberger anreden müssen. Zahlreiche Kameraschwenks über die Reihen des klatschenden Publikums und Bilder von der , 1 a Ola" verdeutlichen die Begeisterung, die herrscht, die .flirrende Aufregung', die .absolute Gänsehautstimmung'. 190 Die Masse vor Ort sorgt für die entsprechende Atmosphäre, die auch vom TV-Publikum wahrgenommen wird. Ebenso wirkungsvoll wie die Bilder von Menschenmengen sind die Bilder fehlender Menschenmengen. Die Innenstadt von Sydney ist, wie eine Schaltung ins Zentrum beweist und wie es Außenreporter Claus Lufen behauptet, wenig besucht, da alle Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt rechtzeitig zu Hause sein wollen, um die Bilder der Eröffnungsfeier am Femsehen ansehen zu können. Angesichts von angeblich zehn Millionen Olympiatouristen, die Delling zuvor angekündigt hat, fällt die Leere noch mehr auf. Die größte Masse stellt das Weltpublikum vor den Fernsehgeräten dar. Delling gibt an, Experten hätten geschätzt, dass 3,7 Milliarden Menschen in nahezu allen Ländern dieser Welt die Bilder der Eröffnungsfeier am Fernsehen verfolgen.191 Dass solche Schätzungen nicht sonderlich seriös sind, haben mehrere Forscher schon herausgestellt,192 zumal Einschaltquoten nicht sinnvoll berechnet werden können,
189 150 191
192
am Hafen von Sydney wie im Stadion zeigt. Die Bemerkung, man müsse nur die Kamera laufen lassen, um wunderschöne Bilder zu bekommen, ist eine maßlose Untertreibung der Inszenierungsmöglichkeiten des Fernsehens und wirkt zudem etwas befremdlich, wenn man bedenkt, dass Unterwasser- und Luftaufnahmen zu sehen sind. Rüdiger Falksohn: Die Kulisse des Glücks. In: „Der Spiegel", Nr. 37/2000, S. 193. ARD, Live, Beckmann, 15.9.2000. Reinhold Beckmann kommentiert die Eröffnungsfeier. Möglicherweise sind die so genannten „Experten" auch die Kollegen der schreibenden Zunft. In Tageszeitungen, Zeitschriften und Nachrichtenmagazinen werden ähnlich hohe Zahlen genannt. Dellings Quelle ist jedoch offensichtlich nicht der „Spiegel". Dort wird beim Ausblick auf Sydney 2000 die Einschaltquote der Eröffnungsfete sogar auf 4,5 Milliarden Zuschauerinnen und Zuschauer geschätzt. Vgl. Falksohn, Kulisse des Glücks, S. 192. Vgl. u.a. MacAloon, Olympic Ceremonies, S. 32. MacAloon hält die angegebenen Größen generell für übertrieben und bezieht sich dabei auf das Beispiel der Eröffnungsfeier von Barcelona 1992. Auch dort ist in den Medien, speziell im Fernsehen, die Rede von einer TV-Zuschauerzahl, die zwischen 3 und 3,5 Milliarden Menschen gelegen haben soll. Tatsächlich hatten aber aufgrund der Verteilung von Fernsehgeräten nur etwa 2 Milliarden Menschen gleichzeitig die Möglichkeit, die Fernsehbilder der Eröffnungsfeier zu schauen,
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bevor überhaupt jemand die Gelegenheit hatte, sich in das entsprechende Programm einzuschalten. Dennoch thematisiert auch Reinhold Beckmann als Live-Kommentator der Eröffnungsfeier die weltweite TV-Zuschauerschaft und gibt deren Größe sogar mit 3,8 Milliarden an. Diese Widersprüchlichkeit der Angaben weckt Zweifel beim aufmerksamen Fernsehzuschauer an der Aussagekraft solcher Schätzungen. Aber die Reporter legen keinen Wert auf Exaktheit, da die Zahlen das Vorstellungsvermögen des Rezipienten ohnehin Ubersteigen. Vielmehr soll zum Ausdruck kommen, dass der Beginn der Olympischen Spiele ein solch bedeutungsvolles Ereignis ist, dass er die Menschheit vor den Femsehbildschirmen vereint. Jeder einzelne Fernsehzuschauer kann sich als Teil einer weltumspannenden Gemeinschaft fühlen, die sich für Olympia interessiert. Aus 199 Nationen kommen die Sportlerinnen und Sportler, und in jedem Land wird man seine Abgesandten beobachten können und wollen. Auch Tonga hat eine Delegation nach Sydney geschickt, wie ein kurzer Filmbeitrag belehrt. Viel beschworen ist das olympische Motto des „Dabei sein ist alles", das während der Eröffnungsfeier im doppelten Sinne zur Geltung kommt: Die Individuen zu Hause am Fernsehapparat können dem olympischen Spektakel beiwohnen, um zu beobachten, wie ihre jeweilige Nation am Weltfest des Sports teilnimmt. Dass die verschiedenen Fernsehanstalten Partizipation als eigentlichen olympischen Wert vermitteln wollen, belegt eine vergleichende Studie zu den Fernsehübertragungen der Eröffnungsfeier von Barcelona 1992. [...] the most prominent Olympic value, and in some cases the only value, expressed across all broadcasts was not , joy from effort" or the „pursuit of excellence". Rather, it was the act and importance of „being there". Participation was the single most referenced Olympic value across all international broadcasts.193 Die Vorberichte zur Eröffnungsfeier machen daher deutlich, was hier und jetzt, aber auch fur alle nachfolgenden Olympiatage gilt: Wer sich einschaltet in das olympische Programm, partizipiert an einem gesellschaftlichen Höhepunkt und gliedert sich ein in die Weltgemeinschaft der,.Fernseher". Olympia und das Femsehen einen mit der Kraft ihrer Bilder die Menschen dieser Welt. Um diese Behauptung belegen zu können, bedarf es allerdings des Griffs in die Trickkiste mit geschätzten Einschaltquoten. Die Eröffnungsfeier selbst wiederholt die aus Barcelona bekannten Mittel der Dramatisierung und Ästhetisierung des olympischen Protokolls und fuhrt sie effektreich weiter fort. Zu einem spektakulären Spiel mit den Elementen gerät die Inszenierung der Entzündung der olympischen Flammenschale. Das Bild von Cathy Freeman, die „wie eine Schaumgeborene in einem Ring aus Feuer und Wasser
193
so dass MacAloon von einer weltweiten TV-Einschaltquote von 1 Milliarde ausgeht. Im Olympiabuch zu Sydney 2000 von Rudi Ceme wird eine Gesamtzuschauerzahl für alle Olympischen Ereignisse vom 15. September bis 1. Oktober von 3,7 Milliarden Menschen angegeben (vgl. Cerne, Medienereignis Sydney, S. 152), die insgesamt 40 Milliarden Stunden Olympia-TV konsumiert haben sollen. Wie exakt diese Zahl ermittelt werden konnte, bleibt jedoch auch hier unklar. Rivenburgh, Construction of Identity, S. 333. Die Studie untersucht die Kommentierung der Eröffnungsfeier von Barcelona anhand ihrer Übertragung in 26 verschiedene Länder.
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steht"194 und die Fackel hochhält, avanciert dank seiner massenhaften Reproduktion im Femsehen, Zeitungen oder Bildbänden und der weltweiten Verbreitung zu einer der populärsten Szenen der Spiele von Sydney 2000. Stilistisch zeigt die Feier der olympischen Zeremonie eine Reihe neuer Einfalle, ohne dabei die ästhetische und formale Struktur von olympischen Eröffnungsveranstaltungen, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat, grundsätzlich umzugestalten. Was die Zeremonien von Sydney jedoch von ihren Vorgängern unterscheidet, ist die Zelebration einer innenpolitisch bedeutsamen Geste vor einem Weltpublikum: Australien, das sich am Tag der Eröffnungsfeier als .Mittelpunkt der Welt'" 5 fühlen kann, hat eine belastete Vergangenheit, da die weiße Bevölkerung beinahe zwei Jahrhunderte lang die Aborigines vertrieben und getötet hat. Das olympische Fest als Symbol der Völkerverständigung scheint ein geeigneter Anlass zu sein, nun ein Zeichen der Versöhnung zu setzen. Beckmanns Kommentar geht auf ähnlich lautende Spekulationen ein, womit er deutlich macht, dass es zu einem für die Geschichte Australiens wirklich bedeutsamen Moment kommen kann. Zwar nutzt die australische Regierung die Bühne, die ihr Olympia bietet, nicht, um sich offiziell und vor den Augen der Welt bei der schwarzen Urbevölkerung des Kontinents zu entschuldigen, aber dennoch kommt es zu einer symbolträchtigen Geste: Das Olympische Feuer wird nicht von einer der zahlreichen australischen, weißen Sportlegenden früherer Zeiten entzündet, sondern mit Cathy Freeman von einer aktiven Sportlerin, die als Aborigine und Symbolfigur der „inneren Einheit der Nation" die Last trägt, „das Land mit sich selbst versöhnen zu müssen". 196 Zwar ist schon im Vorfeld der Spiele Freeman als Kandidatin für den Fackel-Schlusslauf gehandelt worden,197 aber Beckmann, der die Stimme erhebt, als er erkennt, dass Freeman die Schlussläuferin ist, behauptet: ,Das hat keiner gewusst, das hat keiner geahnt'. 198 So wird in der Rede des Kommentators eine Überraschung zu einer Sensation und ein symbolischer Akt zu einem politischen. .Bravo Australia' 199 - dieses Resümee zieht Beckmann, als Freeman die Treppen hochläuft, um die Flamme zu entzünden. Es ist deutlich, dass das auch sein Fazit für die gesamte Eröffnungsfeier ist. 6.3.7. Der Mythos der Versöhnung im Zeichen Olympias. Die Inszenierung von Cathy Freemans Goldlauf über 400 m Nachdem Cathy Freeman das Olympische Feuer entzündet hat, stellt sie endgültig die beherrschende Symbolfigur der Spiele von Sydney dar. Ihr Endlauf über 400 Meter, in dem sie die klare Favoritin auf die Goldmedaille ist, wird daher zum erklärten Höhepunkt der Spiele, da ihrem möglichen Sieg politische Bedeutung beigemessen wird: Sie wäre die erste Aborigine, die olympisches Gold holen könnte,
194 1,5 196 1,7
,M
Dirk Schmidtke. Sydney 2000 - Spiele fiir viele. In: „NOK-Report", Nr. 10/2000, o.S. ARD, Live, Beckmann, 15.9.2000. Siemes Christof: Olympische Spielereien II. In: „www.die-zeit.de", 22.9.2000, o.S. Vgl. Falksohn, Kulissen des Glücks, S. 196. ARD, Live, Beckmann, 15.9.2000. ARD, Uve, Beckmann, 15.9.2000.
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und könnte damit zeigen, dass „die Lage der Aborigines gar nicht so mies ist".200 Politische Gruppierungen aus allen Lagern nutzen Freemans Popularität, um für die eigenen Ziele zu werben. Schon vorher ist klar, was im Falle eines Sieges passieren wird, und was dann auch tatsächlich eintritt: Sie wird mit einer Ausnahmegenehmigung die Flagge der Aborigines im Stadion tragen dürfen, Australiens Premierminister Howard wird erklären, dass „das Land wesentlich versöhnter ist, als viele behaupten" 201 und von vielen Seiten wird ihr dazu geraten werden, in die Politik zu gehen. Symbolträchtig ist zudem Freemans Geschlecht. Keineswegs ist es in der olympischen Geschichte selbstverständlich, dass Frauen, denen Coubertin noch die Teilnahme an den Spielen verbieten wollte, eine so dominante Rolle spielen wie in Sydney. 202 Im Eröffnungszeremoniell 2000 sind es ausschließlich Frauen, die die Fackel innerhalb des Stadions tragen dürfen, und es ist eine von ihnen, die sie schließlich entzündet. Cathy Freeman wird daher zur Repräsentationsfigur von zwei Emanzipationsbewegungen: Sie verkörpert die gleichberechtigte Aborigine und die gleichberechtigte Frau. Die politischen Dimensionen ihres Laufes sind schon lange vor dem Beginn der Spiele in der australischen Öffentlichkeit diskutiert worden. Freeman ist das .meistgezeigte Gesicht' 203 der vorolympischen Zeit: Sie ist auf Plakaten zu sehen, in Femsehspots und auf den Wänden von Wolkenkratzern. Alles, was sie macht, hat nationale Bedeutung und politische Aussagekraft: ihr Start bei Olympia, ihre Trennung von ihrem weißen Trainer, ihre Schulter, auf die sich die Läuferin die Worte „Cos Fm free" hat eintätowieren lassen. Durch Freemans tragende Rolle während der Eröffnungsfeier bekommt der Lauf nun zusätzlich mythische Dimensionen, denn Olympia ist das Symbol des Allgemein-Menschlichen. Freeman steht nicht nur für die Versöhnung von schwarzer und weißer Bevölkerung in ihrem Land, sondern für die Versöhnung aller Menschen unterschiedlicher Herkunft und Abstammung. Ein Olympiasieg demonstriert einerseits ihren persönlichen Aufstieg aus den ärmlichen Verhältnissen einer AborigineFamilie, in der die allein erziehende Mutter als Putzfrau die fünf Kinder ernähren musste, gilt andererseits aber auch als Beweis für das Vorhandensein einer - illusorischen - Chancengleichheit, nach der jeder Mensch durch Vervollkommnung der eigenen Fähigkeiten die Chance hat, sein Leben zu verbessern und über die eigene Zukunft zu bestimmen. Die mythische Interpretation von Freemans Leistungen ist schon lange vollzogen, bevor sie sich zum Starten niederkniet. Ihr Lauf ist die Prüfung, ob der Mensch den Ansprüchen an das Idol gerecht wird. Daraus bezieht der Wettbewerb, der auf-
200 201 202
203
Brinkbäumer, Heilige Hexe, S. 207. In: Lieske, Überfreundliche Spiele, S. 16. Allerdings sind sie, was das olympische Wettkampfgeschehen angeht, noch immer nicht gleichberechtigt. Sportarten wie Frauenringen oder -boxen sind nach wie vor nicht olympisch. In Sydney traten die Heiren zu 168 Entscheidungen an, die Frauen zu 120. Vgl. Scherer, Die verkauften Spiele, S. 85. ZDF, Live, Poschmann, 25.9.2000.
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grand des Fehlens echter Konkurrentinnen204 eigentlich eine klare Angelegenheit ist, seine Spannung. Obwohl es dafür keine innere Notwendigkeit gibt, kann Freeman gemäß der olympischen Logik ihre Prüfung nur bestehen, wenn sie Gold gewinnt, da sie schon in Atlanta 1996 Silber geholt hat. Um sich nicht selbst zu wiederholen, sondern etwas wirklich Einzigartiges zu schaffen, muss sie als erste Aborigine in einem olympischen Einzel Wettbewerb den Sieg holen. Bruchteile von Sekunden, die eigene Form und die der Kontrahentinnen sollen über die Versöhnung einer Nation entscheiden. Auch das deutsche Fernsehen gestaltet den 400-m-Endlauf mit Cathy Freeman als einheitsstiftende Heldenerzählung. Wurde während der Eröffnungsfeier noch die weltumspannende olympische Gemeinschaft beschworen, so steht nun im Vordergrund, einen historischen Moment in der Geschichte Australiens zu erleben. Das wiedervereinigte Deutschland blickt geschlossen nach „down under", um der Versöhnung eines Landes beizuwohnen. Cathy Freemans symbolische Rolle fur die Olympischen Spiele und für Australien ist durch ihre Funktion als Schlussläuferin des Fackellaufs auch dem deutschen Publikum bekannt und in Interviews, Porträts, Vorberichten sowie den Übertragungen der 400-m-Vorläufe immer wieder thematisiert worden. Dass das 400-m-Finale ,der Lauf der Spiele aus der Sicht von knapp 20 Millionen Australiern'205 ist, wie er von Live-Kommentator Poschmann angekündigt wird, ist dem TV-Zuschauer durchaus bewusst. Er ist bereit für den „Moment of Glory".206 Die Programmverantwortlichen des ZDF räumen dem Ereignis beachtlich viele Sendeminuten im Rahmen der Live-Übertragungen ein. 19 Minuten und 40 Sekunden Live-Material beziehen sich direkt auf die Ereignisse um Freemans Goldlauf: Gezeigt wird das Finale selbst, die Stimmung im Stadion nach Freemans Sieg, ein Interview, ein Bericht von der Atmosphäre in der Stadt sowie die Siegerehrung. Zusätzlich gibt es zahlreiche Wiederholungen des Rennens in den Nachrichtenblöcken und in der Tageszusammenfassung um 15 Uhr MEZ sowie einen ausführlichen Nachbericht im Olympia-Studio. Während sonst - gerade auch in der Leichtathletik - durch schnelle Schnitte und Schaltungen der Eindruck entsteht, dass ein Ereignis das nächste jagt, wird im Fernsehen der Aufbereitung der zu Höhepunkten deklarierten Wettbewerben auffallend viel Zeit gelassen, um eine Stimmung einzufangen, die dem einmaligen Augenblick und der Größe des sportlichen Helden gerecht wird. Am Auffallendsten ist der Unterschied zwischen Dauer der sportlichen Leistung und inszenierter Sendezeit im Fernsehen bei den beiden 100-m-Endläufen der Frauen und Männer: 24 Minuten lang berichtet das ZDF live über die knapp 21 Sekunden Rennverlauf der beiden Finals. Schon an diesen Zahlen wird deutlich, dass das Fernsehen den attraktiven Mediensport in erster Linie selbst gestaltet und es nicht reicht, einfach die .Kamera 204
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Der vor den Spielen angekündigte große Zweikampf mit Marie Jose Perec findet nicht statt, da die französische Olympiasiegerin von 1996 entnervt während der Spiele abreist und anschließend untertaucht. ZDF, Live, Poschmann, 25.9.2000. IOC-Vizepräsident Thomas Bach über den Lauf von Freeman in einem Interview mit Wolfgang Uhrig: Goldfiir Sydney. In: „Kicker"; Nr. 80/2000, S. 90.
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laufen zu lassen', um .wunderbare Impressionen' 207 zu bekommen. „Ein wahres Fest des Sports" 208 braucht mehr als schnelle Läufer und spannende Kämpfe: Es braucht Fahnen, Musik, bewegte Zuschauermassen und einen alles Überragenden Star, mit dem sich eine beispielhafte Geschichte erzählen lässt. Dass Cathy Freeman der Star des 400-m-Finales ist, ist offenkundig. Zwar beteuert Poschmann, dass auch die anderen Läuferinnen nicht in Vergessenheit geraten sollen, aber weder sein Kommentar noch die Bildregie gehen näher auf die Kontrahentinnen Freemans ein. Nur bei der obligatorischen Vorstellung der Starterinnen rückt jede einmal kurz ins Bild und wird mit einer kurzen Einschätzung ihrer sportlichen Leistungsfähigkeit bedacht. Erst einige Minuten nach dem Zieleinlauf benennt Poschmann anhand einer Zeitlupeneinspielung die weiteren Medaillengewinnerinnen. Ansonsten gilt seine ganze Aufmerksamkeit Cathy Freeman und den Reaktionen des Publikums. Poschmann zeigt sich während der Übertragung nicht an der Sportlerin Freeman interessiert, sondern an der Person und mehr noch an ihrer Rolle für den Einigungsprozess der australischen Nation. Ganze vier Sätze des Kommentars beziehen sich auf ihre sportlichen Erfolge, ihren Laufstil und ihre Leistungsfähigkeit. 209 Genauso oft bezeichnet Poschmann den Lauf als .historischen' bzw. .großen Moment' 210 für Australien, fur Olympia und für Sportreporter. Emotionen sind in diesem Rennen wichtiger als Informationen 211 - Poschmann hat es, wie sein Kollege Peter Leissl später angeben wird, „fast die Sprache verschlagen", und er spricht „mit bebender Stimme". 212 Auch das Kurzinterview, das Norbert König mit Cathy Freeman führt, bezieht sich nur auf die Gefühlssituation der Athletin: Er will von ihr wissen, wie sie mit dem Druck umgegangen ist und was sie angesichts der gewaltigen Zuschauerkulisse empfunden hat. Das ist kein Einzelfall: Die Frage nach dem emotionalen Zustand der Athletinnen und Athleten steht im Mittelpunkt der meisten TV-Interviews im Sportbereich, wie verschiedene Kritikerinnen und Kritiker bemerkt haben: Besonders gem fragen die mikrofonbewehrten Plagegeister atemlose, blutende, nass geschwitzte Sprinter, Fußballer oder Boxer nach dem Gefühl, das sie im Augenblick ihres grandiosen Siegs - oder ihrer katastrophalen Niederlage - hatten, und die Atemlosen,
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3,1
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ARD, Live, Delling, 15.9.2000. Gebauer, Mythen-Maschine, S. 308. Man erfahrt, dass sie seit 1996 nur ein Rennen verloren hat, den längsten Schritt von allen Teilnehmerinnen im Vergleich zur Körpergröße hat und dass sie die 200 Meter schnell angehen kann, aber auch über Stehvermögen verfügt. Die neue Weltjahresbestleistung von 49,11 Sekunden, die sie im olympischen Endlauf aufgestellt hat, geht beinahe unter. Poschmann bemerkt sie wörtlich nur .ganz nebenbei'. In: ZDF, Live, Poschmann, 25.9.2000. ZDF, Live, Poschmann, 25.9.2000. Das ist auch insofern bemerkenswert, da Poschmann als ehemaliger Leichtathlet und Kenner der Szene über genügend Hintergrundwissen verfugt, um das TV-Publikum mit Informationen zu versorgen, Laufstile einzuschätzen oder Trainingsmethoden zu erläutern. Peter Leissl: Cathy Freeman, Drei „M" und Heike Drechsler. In: Ceme, Sydney 2000, S. 78.
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Nassgeschwitzten, Blutenden antworten: „grandios" oder „katastrophal" (wahlweise „geiles Gefühl" oder „Scheißgefühl"). 213
In der Kommentierung des 400-m-Finales verschiebt sich die eigentliche Leistung von Freeman vom physischen in den psychischen Bereich. Poschmann bewundert nicht, dass die Aborigine schneller läuft als ihre Gegnerinnen, sondern dass sie den öffentlichen Druck standgehalten hat. Die Belastung, einen „nationalen Auftrag"214 erfüllen zu müssen, ist das Thema der TV-Heldensaga rund um Cathy Freeman. Bereits im Halbfinale wollen die Kommentatoren beobachtet haben, dass der Druck, der auf ,die arme Cathy Freeman'215 einwirkt, sich in ihrer Körper- und Gesichtssprache niederschlägt. Poschmann vermutet zu Beginn der Live-Übertragung des Endlaufs sogar, dass sie den grün-gelben einteiligen Rennanzug mit eng anliegender Kapuze nur trage, um das Gesicht zu verstecken.216 Mehrfach spricht er davon, dass sie .einfach Gold holen muss', vermutet eine .Zentnerlast auf ihren vergleichsweise schmalen Schultern' und zählt die hohen Erwartungen auf, die die australische Bevölkerung und das Volk der Aborigines, an sie und ihren Lauf haben, bis er schließlich resümiert: ,Den Druck kann man keinem wünschen'.217 Dabei ist der Druck, dem sie sich ausgesetzt sieht, zum einen wesentlich von den Massenmedien mit aufgebaut worden, zum anderen die Konsequenz aus einem alten olympischen Ideal, das die Athletin verkörpert. Freeman läuft, wie es einst Coubertin gefordert hat, nicht für sich selbst, sondern für ihre Nation: Ihr „Einsatz für ein sportliches Werk" ist „ein Einsatz für ihr Vaterland".218 Die Fernsehbilder zeigen Freeman als Repräsentantin Australiens und stellen eine unverbrüchliche Einheit zwischen der Athletin und dem Volk her. Als sie während der Vorstellung des Starterfeldes ins Bild kommt, wird sofort auf das jubelnde Publikum umgeschnitten und zu sehen sind Massen von Zuschauerinnen und Zuschauern, die mit Nationalfahnen winken und vielfach in den Landesfarben Grün und Gelb gekleidet sind. Dass das Publikum im Stadium Australia wie in allen Olympiastätten Sydneys symbolisch das australische Volk in einer idealen Geschlossenheit verkörpert, steht außer Frage. Dafür sprechen nicht nur Fahnen, Farben und Kleidung, sondern vor allem die lautstarke Begeisterung beim Erscheinen australischer Athletinnen und Athleten sowie die ,Aussie-Aussie"-Rufe zur Anfeuerung, die der Olympiazuschauer am heimischen Fernsehgerät im Laufe der 17 Tage immer wieder zu hören bekommt. Allerdings ist Cathy Freeman nicht irgendeine Australierin, sondern die „Ikone der Nation",219 was auch in der Fernsehinszenierung zum Ausdruck gebracht werden soll. So nutzt die TV-Inszenierung die olympische Kleiderordnung aus, durch die
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Reinhard Mohr: Tyrannei der Geschwätzigkeit. In: „Der Spiegel", Nr. 40/2000, S. 54.; vgl. auch Feddersen, Obskures Eigenlob, S. 15. Brinkbäumer, Heilige Hexe, S. 207. ARD, Live, Gerd Rubenbauer, 24.9.2000. Das ist kein sehr glücklich gewähltes Bild, da das Gesicht das einzige ist, was von ihr zu sehen ist. ZDF, Uve, Poschmann, 25.9.2000. Coubertin, Olympischer Gedanke, S. 10. Brinkbäumer, Heilige Hexe, S. 207.
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alle Athletinnen und Athleten aufgrund ihres Sportler-Dresses einer bestimmten Nation zuzuordnen sind, um zu verdeutlichen, dass Freeman ihr Rennen für Australien bestreitet. Als die Läuferin am Start niederkauert, sieht der Fernsehzuschauer die Hand, die mit Hilfe eines Zooms immer näher ins Bild gerückt wird. Der Handrücken ist von ihrem Rennanzug bedeckt, auf dem die drei Buchstaben AUS für Australien deutlich zu lesen sind. Es hat den Anschein, als würde nicht eine einzelne Athletin starten, sondern ein Land. Nach ihrem Sieg tritt Freeman die obligatorische Ehrenrunde mit australischer Nationalflagge und der Fahne der Aborigines an und sucht den Kontakt zum Volk, indem sie über die Absperrungen hinweg Hände schüttelt und Arme, die sich nach ihr recken, berührt. Seit dem Zieleinlauf ist immer wieder das fahnenschwenkende Publikum im Bild, wobei Kameraschwenks Uber die Zuschauerreihen und Aufnahmen aus der Froschperspektive die gewaltige Wirkung der Masse nachempfinden lassen. Cathy Freemans Sieg eint das Volk - diese schon vor dem Lauf bekannte Botschaft wird durch ein inszenatorisches Mittel deutlich gemacht, bei dem Leni Riefenstahl Pate gestanden haben mag: Insgesamt neunmal wird während der Jubelszenen die Aborigine mit Doppelbelichtungen und Überblendungen in die Bilder von rhythmisch zur Musik klatschenden, begeisterten Zuschauerinnen und Zuschauern hineinprojiziert. Tatsächlich sind es die Diskorhythmen, die das Publikum in den Gleichtakt bringen, aber es hat den Anschein, als wäre es allein die Läuferin. In drei weiteren Einstellungen verbinden sich durch denselben filmischen Trick die Bilder Freemans mit denen vom lodernden Olympischen Feuer. Der Bogen wird zurück zur Eröffnungsfeier geschlagen, Cathy Freeman erscheint einmal mehr als das Symbol der Spiele von Sydney. Sie verkörpert all das, was den viel beschworenen Olympischen Geist ausmacht: „Ich bin für Einigkeit und Harmonie, Einheit und Verschiedenheit", gibt sie im Vorfeld der Spiele zu Protokoll220 und steht damit für die Prinzipien der Olympischen Bewegung ein. Mit ihrer Goldmedaille beweist sie, dass es richtig war, sie zur Schlussläuferin des Fackellaufs zu küren. Ihr Sieg ist der Sieg der Olympischen Idee. Auch bei der Übertragung der Siegerehrung schaffen Überblendungen eine Beziehung und Einheit zwischen den Bildern. Es entstehen Ketten ineinander verschmelzender Motive: Cathy Freeman auf dem Siegerpodest, das Olympische Feuer, Zeitlupenaufnahmen aus ihrem Lauf, die Fahnen, erneut Freeman und schließlich das australische Publikum. Eine deutliche Botschaft lässt sich auch aus einer einfachen Reihe lesen, die erst Freeman zeigt, welche sich im Bild des Olympischen Feuers auflöst, Uber das schließlich eine Aufnahme der Zuschauermassen gelegt wird und zwar so, dass die Flamme inmitten des Publikums brennt. Wie einst Prometheus den Menschen hat Freeman ihrer Nation das Olympische Feuer gebracht und sie so vereint. Als Lohn für diese Tat darf Freeman auf dem Siegertreppchen stehen und zusammen mit ihren Landsleuten lauthals die australische Nationalhymne singen.
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Zitiert nach Ebd., S. 207.
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Auffallend ist, dass das Volk der Aborigines keine besondere Rolle im inszenatorischen Spiel um die Versöhnung der Australier einnimmt, denn es sind den olympischen Spielregeln gemäß die nationalen Symbole, die zu sehen und zu hören sind: die Kleidung der Sportlerinnen und Sportler, der Medaillenspiegel, die Flagge Australiens und die Nationalhymne des Landes. Lediglich die Fahne der Aborigines, die die Olympiasiegerin nur dank einer Ausnahmegenehmigung des IOC bei der Ehrenrunde tragen darf, deutet darauf hin, dass Freeman die unterdrückte Minderheit repräsentiert. Ansatzweise wird es dem Zuschauer auch durch das mehrfache Erscheinen von Freemans Mutter im Bild bewusst, die ihrer Tochter aufgetragen haben soll: .Trag unsere Botschaft in die Welt'. 221 Allerdings hat das Auftauchen von Mutter Cecilia eher den Zweck, das rührend menschliche Moment in das Heldentheater des Sports zu bringen. Sie ist, glaubt man dem Kommentator, immer dabei, wenn Cathy läuft, und zum Dank dafür bekommt sie von ihrer Tochter den Blumenstrauß geschenkt, der Freeman bei der Siegerehrung überreicht worden ist. Damit endet die Live-Berichterstattung des 400-m-Finales, und die Bildregie wendet sich anderen Ereignissen im Leichtathletikstadion zu. Die Inszenierung der ersten olympischen Goldmedaille für eine Aborigine ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie die Femsehanstalten in „media events" ihr Publikum an sich binden. Zunächst machen ARD und ZDF auf die Bedeutung des Rennens schon in den vorgehenden Olympiatagen aufmerksam, was ihnen durch die herausragende Stellung von Freeman im Konzept der Spiele von Sydney erleichtert wird. Dass der 400-m-Lauf ein historisch und gesellschaftspolitisch großer Moment ist, wird von Poschmann behauptet und auf verschiedene Weise durch die optischen Eindrücke bestätigt: zum einen durch die Zuschauermassen im Stadion, zum anderen durch eine ungemein große Medienpräsenz. Letztere zeigt sich in einer Einstellung, in der das ganze Bild aus Objektiven besteht, die auf Freeman gerichtet sind, ebenso wie in der Menge von Fotografen, die vor der Läuferin herlaufen, um eine Porträtaufnahme auf ihrer Ehrenrunde anfertigen zu können. Das Publikum im Stadion dokumentiert einerseits das Interesse der Bevölkerung, sorgt andererseits aber auch fur die nötige Stimmung. Norbert König hat bei einer ersten Schaltung aus dem „Stadium Australia" schon davon gesprochen, dass die 110.000 Zuschauerinnen und Zuschauer mit ihrer Begeisterung die Kälte des Abends vertreiben können. Und Wolf-Dieter Poschmann versucht die Ekstase des Publikums bei Freemans Zieleinlauf in Worte zu fassen: Und jetzt sind 110 [gemeint: 110.000, d.Vf.] aus dem Häuschen, am Ziel aller Träume.222 Die einmalige Atmosphäre im Stadion ist ein weiterer Grund, warum man auch zu Hause den Endlauf keinesfalls verpassen darf. Sie zeigt aber auch, dass der Zuschauer im Stadion privilegiert ist, da er die Stimmung hautnah miterleben kann. Wer allerdings nicht zu den .stolzen Kartenbesitzem' 223 gehört, muss es so machen wie die Australier und das Finale im Fernsehen verfolgen. Mehrfach betont der
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ZDF, Live, Poschmann, 25.9.2000. ZDF, Live, Poschmann, 25.9.2000. ZDF, Live, Poschmann, 25.9.2000.
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Kommentator, dass die gesamte australische Bevölkerung jetzt zuschauen wird, und hält es während der Siegerehrung für aussichtslos, irgendwo im Land ein Taxi oder ein Essen zu bestellen, denn ,20 Millionen werden jetzt vor den Fernsehgeräten stehen'. 224 Ein deutlicher Akzent in der Rede liegt auf dem Verb: Poschmann betont, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer vor den Fernsehgeräten stehen, um so ihre Begeisterung und Anteilnahme zu verdeutlichen, die wiederum vorbildlich für das TV-Publikum in Deutschland sein soll. Für die, die ihre Zweifel an der Richtigkeit dieser Behauptung haben, sendet das ZDF einen Beitrag, der zeigt, wie es Zehntausende vor einer Riesenleinwand im Hafengebiet den Zuschauerinnen und Zuschauern im Stadion nachmachen und gemeinschaftlich den Lauf anschauen, mitfiebern, jubeln, die Fahnen schwenken und teilweise auch die Nationalhymne mitsingen. Auch vor Leinwänden - und damit auch vor Bildschirmen - kann eine Gemeinschaft entstehen. Der deutsche TV-Zuschauer hat dieselbe Sicht auf den Höhepunkt der Spiele wie der Großteil des australischen Volkes, das diesen Lauf zu etwas ganz Besonderem erkoren hat. Er kann nicht vor Ort sein, aber er teilt das Schicksal mit Millionen anderer, die dennoch mit voller Anteilnahme emotional mitgehen. Mit diesen kann er sich verbunden fühlen und sich mit ihnen freuen, denn nun, versprechen die Reporter, wird alles noch besser: .Jetzt geht für Australien Olympia erst so richtig los', 225 nachdem der Ausgang des Rennens, .einen ganzen Kontinent in einen rauschähnlichen Zustand versetzt hat'. 226 .Jetzt', ist sich Poschmann sicher, .werden die Spiele noch ein bisschen fröhlicher werden'. 227 Das ist als Aufforderung an den Olympiafan zu verstehen, sich in den nächsten Tagen erst recht einzuschalten. 6.3.8. Deutsche und Doping. Die Erzeugung nationaler Identität Olympische Spiele werden gefeiert als Fest der Völkerverständigung, und man versteht sie als internationalen Schauplatz des modernen Sports. Doch nach Coubertins Vorgaben basiert der olympische Friedensappell auf dem Zusammenhalt einzelner Nationen. Nicht die internationale Weltgemeinschaft ist die neue Religion des Olympiagründers, sondern die Nation. Von diesem Ursprungsgedanken hat sich die Olympische Bewegung bis heute nicht weit entfernt. Es fallt kaum noch auf, weil es mittlerweile selbstverständlich geworden ist, doch das Zeremoniell der Eröffnungsfeier, der Wettkämpfe und der Siegerehrungen ist gespickt mit den Insignien der Nationen. Fahnen, Hymnen, der Einmarsch der Nationen, der Einheitsdress der Athletinnen und Athleten, nicht zuletzt die Tatsache, dass die Nationalen Olympischen Komitees darüber entscheiden, wer an den Spielen teilnehmen darf, machen
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Ebd.; tatsächlich liegt die Einschaltquote in Australien bei 71%. Das ist die zweithöchste in der Geschichte des australischen Feinsehens. Die absolute Rekordmarke wurde mit 72% bei der Übertragung der Eröffnungsfeier erzielt. Vgl. Christof Siemes: Olympische Spielereien XI. In: „www.die-zeit.de", 29.9.2000, o.S. ZDF, Live, Poschmann, 25.9.2000. ZDF, Kompakt, N.N., 25.9.2000. ZDF, Live, Poschmann, 25.9.2000.
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deutlich, dass keiner der Sportstars für sich selbst antritt, sondern für den Staat, dessen Bürger er ist. Insofern erscheint es verständlich, dass die Fernsehsender bei Olympischen Spielen verstärkt über die Sportlerinnen und Sportler aus dem eigenen Land berichten und, sofern sie über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen, zusätzliche Kameras aufstellen, die vor allem auf die Ereignisse gerichtet sind, die von vermeintlich nationalem Interesse sind. In Deutschland wird das Olympiaprogramm seit den Spielen von Barcelona durch zusätzliches, eigenproduziertes Bildmaterial bereichert. Das hat allerdings zu einer Übertragungsweise geführt, die die Dramaturgie der Ereignisse unberücksichtigt lässt, und von einem deutschen Höhepunkt zum nächsten wechselt. Es ist vorbei mit den drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung: Kaum hat man sich in ein Ereignis eingesehen, die Wettkämpfer identifiziert und ihr Reiuikalkül entschlüsselt, kaum ist man von den Rhythmen des Geschehens erfaßt, meldet sich eine Stimme und kündigt an, daß die Übertragung abgebrochen und an einen ganz anderen Ort, zu einer ganz anderen Sportart umgeschaltet wird - weil dort ein Deutscher gerade Medaillenchancen hat. Es wird rücksichtslos gewechselt, von den Läufern zu den Pferden, dann zu den Gewichthebern und Kanuten, hier fährt ein deutsches Rad als erstes über den Zielstrich, dort boxt oder ringt einer, scheinbar ist alles durcheinander, aber alles geschieht entlang einem roten Faden: für Deutschland. Der am Sport interessierte Zuschauer wird, ob er will oder nicht, zu einem Schlachtenbummler gemacht, er muß mit zum nächsten Schauplatz, zum höheren Nutzen des deutschen Medaillenspiegels.228 Was Gebauer für die Übertragungen von 1992 feststellt, gilt auch vier Jahre später in Atlanta oder 2000 in Sydney. 229 Und es ist keinesfalls ein deutsches Phänomen: In Australien etwa sind die Übertragungen von Channel 7 so stark auf die einheimischen Stars fokussiert, dass wichtige Entscheidungen gar nicht oder nur in absoluten Bruchstücken zu sehen sind. 230 A R D und ZDF tragen dazu bei, nationale, kollektive Identitäten zu errichten. Es geht nicht allein darum, die daheim gebliebenen Zuschauerinnen und Zuschauer bestmöglich Uber die Leistungen des deutschen Teilnehmerfeldes zu informieren, sondern auch darum, ein „Wir-Gefühl" zu schaffen. Die Differenz zwischen Deutschen und Nichtdeutschen wird zum Prinzip der Femsehwahrnehmung. Das Fernsehen ist ein ideales Medium, um Unterschiede zu zeigen; es liefert massenhaft Bilder von Differenzen. Die Sportreportage lebt von Unterschieden aller
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Gunter Gebauer: Der neue Nationalismus im Sport. In: Gebauer, Olympia als Utopie, S. 265. Ähnlich wie Gebauers Anmerkung liest sich Kim Böntes Kritik zu den Übertragungen aus Sydney (vgl. Bönte, Enttäuschte Liebe). Neben dem ständigen Wechsel der Schauplätze findet Bönte auch die Techniken, deutsche Athletinnen und Athleten im Rahmen der Fernsehinszenierung durch Kamerazooms oder eingefarbte Schwimmbahnen besonders augenfällig herauszustreichen, überflüssig: .Auch eine spezielle .Videowall' sorgte vor den Starts für Großaufnahmen der DSV-Aktiven. So verpasste man zwar die offizielle Vorstellung der anderen Athleten, aber was ist das schon gegen die Chance, ausgiebig in aufgeregte deutsche Gesichter zu blicken?" Ebd. Siemes, Olympische Spielereien XI. Zum Phänomen der Nationalisierung im Sport durch die Massenmedien vgl. auch Neil Blain, Raymond Boyle und Hugh O'Donnell: Sport an National Identity in the European Media. Leicester, London, New York, 1993.
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Art, zwischen Siegern und Verlierern, Glück und Enttäuschung, Überlegenheit und Unterlegenheit. Indem sie die Anderen als eine Minderheit ausgrenzt, zeigt sie, was „wir" sind. Das Problem liegt im sinnlich-körperlichen Aufführungscharakter des Sports: Der in Medien der Körperlichkeit dargestellte Sport beglaubigt die [...] Nation.231 Es gibt eine Reihe von Gründen, warum Medien wie das Femsehen in den OlympiaÜbertragungen mit Nationalgefühlen arbeiten. Ein Gedanke ist ein ganz pragmatischer: Während sich in anderen Großereignissen des Sports wie FußballWeltmeisterschaften oder Tennis-Turnieren aufgrund der pyramidischen Struktur die Teilnehmerzahl ständig reduziert und so automatisch der Blick auf die übrig bleibenden Mannschaften, Spielerinnen und Spieler gelenkt wird, sind Olympische Spiele mit ihrer Vielzahl von Sportarten unübersichtlich. Die Orientierung an deutschen Erfolgsaussichten ist daher auch eine Entscheidungshilfe für die Regisseurinnen und Regisseure, die über die Bildauswahl aus dem Riesenangebot zu bestimmen haben. Zudem lassen sich, indem man sportliche Wettkämpfe im Vorfeld als nationale Ereignisse deklariert, auch zusätzliche Zuschauerschichten gewinnen. Nicht nur Radsportfans sollen Jan Ullrich bei seiner Fahrt zum olympischen Gold zuschauen, sondern auch jene, die sich eher für andere Sportarten begeistern, aber doch ein Interesse am Gesamtabschneiden des deutschen Sports haben. Einer der wichtigsten Punkte fur die Nationalisierung des Sports im Fernsehen dürfte jedoch in der zusätzlichen emotionalen Bindung des Zuschauers liegen. Wer sich mit der deutschen Mannschaft so identifiziert, dass der Sieg deutscher Athletinnen und Athleten als eigener empfunden wird, ist leichter empfänglich fur die Bedeutung von Wettkämpfen und schaltet sich gerne ein ins olympische Programm. Je mehr Leidenschaft die Fernsehzuschauerinnen und -Zuschauer für das Olympische Spektakel entwickeln, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie zum Dauergast am tv-gerecht gestylten Olympischen Feuer werden. Das Problem, mit dem sich die Kommunikatoren von ARD und ZDF im Laufe der Spiele von Sydney konfrontiert sehen, ist das Ausbleiben überragender deutscher Erfolge. Obwohl es immerhin 57 deutsche Medaillengewinnerinnen und -gewinner gibt,232 ist die Bilanz im Vergleich zu früheren Spielen etwas schwächer. Die auch vom Fernsehen zur Schau getragene Erwartungshaltung können die Athletinnen und Athleten jedenfalls nicht erfüllen. 233 So verbreiten Moderatoren wie Waldemar Hartmann eine Atmosphäre latenter Unzufriedenheit: Deutsche Siege sind mehr oder weniger selbstverständlich, während zweite, dritte oder gar vierte Plätze in der Regel schon eine Enttäuschung darstellen. Das erklärt, warum der 231 232 233
Gebauer, Nationalismus im Sport, S. 268 (Hervorhebung im Original). Ceme, Sydney 2000, S. 238. In die Zwickmühle aus hoher Erwartungshaltung und ausbleibendem Erfolg haben sich die TV-Teams selbst hineinmanövriert, da sie nahezu jedem deutschen Athleten im Vorfeld Medaillenchancen einräumen, um den TV-Konsumenten am heimischen Bildschirm zum „Dranbleiben" zu animieren. Daher ist es fast zwangsläufig, dass viele Erwartungen enttäuscht werden. Zudem ist es ein Trend im Sport, dass immer mehr Nationen - vor allem auch aus Afrika und Asien - erfolgsversprechende Athletinnen und Athleten ins Medaillenrennen schicken können, so dass sich die Anzahl der zu vergebenden Medaillen auf mehr Nationen verteilt.
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Olympiasieg von Nils Schumann über 800 m groß gefeiert wird: Schumanns Leistungspotenzial - er ist Europameister 1998 und Achter der Weltmeisterschaft 1999 reicht aus, um einerseits Hoffnungen auf einen Erfolg zu hegen, ihn andererseits aber auch zum krassen Außenseiter zu erklären. Vor dem 800-m-Lauf zeigt das ZDF ein Porträt des Läufers, das noch einmal den Überraschungssieg von 1998 zeigt und den enttäuschenden Platz bei der WM vom letzten Jahr mit der lakonischen Bemerkung: .Olympische Spiele sind hier und jetzt' 234 abtut. Live-Kommentator Poschmann dämpft einerseits die Erwartungen, denn Schumanns Kontrahenten sind laut Poschmann ,alles starke Jungs' - ,die Besten der Welt', 235 was in einem Olympiafinale nicht gerade außergewöhnlich ist. Andererseits sieht er aber auch den deutschen Starter ,top in Form' 236 und findet, dass es ihm nicht an Selbstbewusstsein mangele. Anders als der 400-m-Lauf mit Cathy Freeman, bezieht dieses Rennen daher seine Spannung aus der Ungewissheit des Ausgangs. Als Schumann Olympiasieger wird, was zumindest nicht erwarten werden konnte - .vorher hätte ich gesagt, wenn's gut läuft: eine Medaille. Aber Gold? Leute!' 237 - haben auch die deutschen TV-Journalisten ihren Grund zu feiern: .Schumann vome, Schumann vorne, Schumann wird Olympiasieger. Wahnsinn! Wahnsinn!', 238 ruft Poschmann beim Zieleinlauf des Finales, und anschließend wird der Erfurter so in Szene gesetzt wie zwei Tage vorher Cathy Freeman. Er erhält eine schwarz-rotgoldene Fahne umgehängt und begibt sich auf die Ehrenrunde. Auch das Stilmittel der Überblendung kommt wieder zur Anwendung, vom Athleten zur deutschen Anhängerschaft im Olympiastadion, zurück zum Athleten, dessen Bild schließlich in das des Olympischen Feuers übergeht. Während Schumann mit der Fahne um die Schultern seine Ehrenrunde läuft, kommt der deutsche Stabhochspringer Tim Lobinger ins Bild. Er steht mit dem Rücken zur Kamera, so dass deutlich der Schriftzug Deutschland auf seinem Trainingsanzug zu sehen ist. Lobinger umarmt Schumann und hebt ihn hoch. Direkt im Anschluss wird wieder zu der deutschen Fangemeinde auf den Zuschauerrängen geschnitten. Symbolisch schließt das deutsche Volk seinen Überraschungs-Olympiasieger in die Arme. Anschließend beginnt eine Sequenz mit einer ganzen Reihe von Zeitlupen- und „Superzeitlupen"-Einspielungen, die schließlich im Standbild einer Porträtansicht des flaggenumhängten Schumann endet. Nun ist auch er ein Kunstwerk geworden. Das Fernsehbild macht ihn zum ikonenhaften Denkmal und gestattet uns gleichzeitig einen langen Blick in die lebendigen Augen des Siegers, in die je nach Sicht des Betrachters alle Emotionen hineingelesen werden können: Glück, Zufriedenheit, Selbstbewusstsein, Rührung. Das Denkmal lebt und mit ihm die Olympische Idee und der deutsche Sportsgeist.239 Poschmann zumindest erhofft sich vom Sieg eine 234 235 236 237 238 239
ZDF, Profile, N.N., 27.9.2000. ZDF, Live, Poschmann, 27.9.2000. ZDF, Live, Poschmann, 27.9.2000. Poschmann, nachdem Schumann als Olympiasieger feststeht. ZDF, Live, Poschmann, 27.9.2000. Indirekt schwebt in der Art der Kommentierung von Schumanns Sieg eine Huldigung an die „alten deutschen Sporttugenden", nämlich Kampf und Einsatzbereitschaft, mit. Offen-
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,Initialzündung für die deutsche Leichtathletik'. 240 Auch das ist typisch für die olympische Fernsehberichterstattung. Es geht immer weiter, von einem Höhepunkt zum vermeintlich nächsten. Die Initialzündung bleibt allerdings aus, und so gibt der täglich gezeigte Medaillenspiegel nicht so sehr Anlass zu nationaler Euphorie wie noch vor vier und acht Jahren. Anhand der sportlichen Leistungen kann sich kein Überlegenheitsgefuhl gegenüber anderen Nationen einstellen. Auf sportlichem Gebiet unterscheidet sich Deutschland nicht mehr wesentlich von anderen Ländern, aber dafür - das legt zumindest die Art, wie die Dopingdiskussion auf ARD und ZDF geführt wird, nahe - auf dem Feld der Moral. Doping bei Olympischen Spielen ist ein leidiges Thema, weil es die Ideale des „Fair Play" und der Chancengleichheit in Frage stellt und deutlich macht, dass die Athletinnen und Athleten den geschworenen Eid nicht ernst nehmen. Damit stellt sich auch die Frage nach der Verbindlichkeit anderer olympischer Werte. Hinzu kommt, dass die Dopingdiskussion jene Seite des Sports in das Rampenlicht rückt, die normalerweise in den TV-Übertragungen ausgespart bleibt: Alles, was vor dem Wettkampf geschieht und was erklären könnte, wie die außerordentlichen Leistungen der Sportstars zustande kommen, sehen wir selten im Fernsehen: das Krafttraining mit den Hanteln ebenso wenig wie die Einnahme unerlaubter Mittel oder die ärztlich verschriebene Spritzenkur. Doping erinnert immer auch an andere verdrängte Schattenseiten der Olympischen Bewegung: an gesundheitliche Langzeitschäden durch Leistungssport, an Kinderturnen, an Korruption in Funktionärskreisen. Es ist der Einbruch des Unheilvollen in die märchenhafte Welt von Sydney 2000. Um so wichtiger ist es, sich von denen abzusetzen, die des Dopings verdächtig sind. Das ist in den Olympiasendungen von ARD und ZDF deutlich zu spüren. In Interviews mit Aktiven und Funktionären betonen beide Seiten, dass in Deutschland das Netz der Trainingskontrollen besonders dicht ist und die Proben gründlich durchgeführt werden, während andere Staaten, z.B. auch die USA, diesbezüglich nicht denselben Standard erreichten, so dass deren Athletinnen und Athleten kaum oder gar nicht getestet würden. Die Kommentatorinnen und Kommentatoren greifen das auf: Deutsche Athleten gelten grundsätzlich als „sauber". Den deutlichsten Beweis fiir diese - gewagte - These 241 liefert der Gewichtheber Ronny Weller, der
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sichtlich ist Schumann der schwächere Läufer gegenüber einigen seiner Kontrahenten, zumindest was die persönliche Bestzeit angeht. Aber - so zumindest die Botschaft des Porträts und des Live-Kommentars - er hat gelernt sich durchzusetzen und ist dank eiserner Trainingsdisziplin topfit vorbereitet. Auf der Zielgerade gibt er alles, denn nach eigenem Bekunden hätte er keine zehn Meter weiter mehr laufen können. Vgl. Ceme, Sydney 2000, S. 56. Durch Kampfeskraft und taktische Finesse zum Überraschungssieg - dieses Erklärungsmuster fiir deutsche Sporterfolge ist seit einem Ereignis besonders beliebt: dem Gewinn der Fußball-WM 1954. ZDF, Live, Poschmann, 27.9.2000. Der Fall des Ringers Alexander Leipold, dem die Goldmedaille wegen erhöhter Nandrolon-Werte aberkannt wird, zeigt, dass die grundsätzliche „Sauberkeit" der Deutschen eine Fehleinschätzung ist. Leipolds Fall wird jedoch anders bewertet, als Dopingfälle anderer Nationen. So spricht der ARD-Dokumentarfilm Das war Olympia (Biereichel/Dittrich: Das war Olympia) den Fall zwar an, betont aber zugleich, dass Leipold der erste Deutsche ist,
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seine Urinprobe zur Pressekonferenz gleich mitnimmt, um zu zeigen, dass er nichts zu verstecken hat. Es versteht sich, dass dieses sprechende Bild in die Galerie der Bilder des Tages aufgenommen wird, denn es soll auch deutlich machen: Nicht allen kann man so trauen wie den Deutschen. Die Dopingfälle um das bulgarische Gewichtheberteam, um C.J. Hunter und um 22 chinesische Athletinnen und Athleten, die von der Mannschaftsleitung noch vor der Eröffnungsfeier von den Spielen ausgeschlossen werden, beweisen, dass Doping auf der olympischen Tagesordnung steht. Angesichts der bekannt gewordenen Fälle herrscht ein Klima der versteckten Anschuldigungen und öffentlichen Verdächtigungen, das von den Journalistinnen und Journalisten auf ARD und ZDF weiter angeheizt wird: Wenn Marion Jones' Ehemann gedopt ist, ist sie es vielleicht auch, wenn die niederländische Schwimmerin Inge de Bruijn dreimal Weltrekord und dreimal Gold holt, obwohl sie vor einem Jahr kaum jemand kannte, dann kann das nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Das Ziel solcher Argumentationen ist offenkundig: ARD und ZDF können den deutschen Sport nur dann als moralisch hoch stehend feiern, wenn es viele andere gibt, die betrügerisch handeln und sich nicht an die vereinbarten Spielregeln halten. Kollektive Identitätsbildung braucht eine - möglichst Ubermächtig erscheinende - Gegnerschaft. Das haben die Fernsehleute vom Sport gelernt. 6.3.9. The best games ever Doping ist jedoch - auch für diejenigen, die das Gefühl haben, auf der richtigen Seite zu stehen - kein Gegenstand, der geeignet ist, um eine dauerhafte positive Bindung an das Olympische Fest zu bewerkstelligen. Da auch die deutsche Olympiamannschaft nicht so erfolgreich auftritt, wie es mancher Moderator gerne hätte, liegt der Schwerpunkt der TV-Inszenierung darauf, Sydney 2000 als einmaliges olympisches Fest zu zeigen. ,The best games ever' 242 - diesen Spruch Samaranchs hat das Fernsehen von Beginn an in seinen Bildem und Beiträgen umgesetzt. Sydney 2000 soll all die Glücksgefühle liefern, die man von einem Mega-Event erwarten kann: Schönheit, Spaß, Stimmung, Sensation und Spannung, unvergessene Momente sowie die Erfüllung von Träumen. So zumindest sieht die ideale Version aus, die in den Olympiasendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks angestrebt wird. Es gelingt den TV-Teams von ARD und ZDF nicht immer, diesen Anspruch zu erfüllen. Die Intensität des Programms leidet bei 420 Stunden Sendezeit durch einige Längen und Belanglosigkeiten. Dennoch stellt sich ein Gesamtbild ein, dass emotional überwältigen und gefangen nehmen soll: Da ist die architektonische Schönheit der Gastgeberstadt, die -
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der des Dopingmissbrauchs bei Olympia überfuhrt wurde. Während die anderen Dopingsünder wie C.J. Hunter gar nicht oder nur als zerknirschte Gestalten auf der Pressekonferenz im Bild sind, wird Leipold gezeigt, wie er kämpft und anschließend aufgrund des Sieges jubelt und Salti schlägt. Es entsteht der Eindruck, dass es eigentlich traurig ist, dass er die Goldmedaille, über die er sich so freut, abgeben musste. Vgl. ebd. 271
olympische Superlative müssen sein - auch von IOC-Präsident Samaranch als .schönste Stadt der Welt' 243 bezeichnet wird. Einbezogen in die Gesamtinszenierung sind die Bilder der nächtlichen Kulisse mit den leuchtenden Olympischen Ringen an der Harbour Bridge, vom .Fluidum' der Radstrecke, das auch Jan Ullrich .beflügelt', 244 und vom architektonisch auffallenden „Stadium Australia", das Hürdensprinter Florian Schwarthoff an eine .Kathedrale' 245 erinnert. Stimmungsreich wirken die Leichtathletikwettkämpfe, die durchgehend von 110.000 Zuschauerinnen und Zuschauern verfolgt werden und bei denen, .sobald ein australisches Trikot auftaucht, die Hölle los' 246 sein soll. 15.000 Menschen fasst das Beachvolleyball-Stadion am Bondi Beach, Symbol fur die australische „Vermählung von Strand und Sport, die Symbiose von Erholung und Leistung", 247 und daher auch innerhalb der TV-Übertragungen Synonym für den ,Extra-Spaß, den alle Zuschauer haben', 248 die zu Walzer-Musik die Welle durchs Stadion laufen lassen, zu „We will rock you"-Klängen rhythmisch klatschen und trampeln und mit Trompetenstößen zur .Attacke" blasen. Die Utopie vom immer steigerungsfähigen Menschen erhält in Sydney neue Nahrung, denn Höchstleistungen wechseln einander ab, im Schwimmstadion purzeln die Weltrekorde, und der deutsche Bahnradvierer bleibt zum ersten Mal unter der Schallmauer von 4 Minuten auf 4.000 Meter. Seine Mitglieder werden später die Bahn küssen, um mit dieser Geste an den verstorbenen Trainer zu erinnern. „Wettkämpfe sind Spektakel der Gefühle" 249 - dieser allgemeine Satz Gebauers wird durch die Ereignisse von Sydney und ihre mediale Aufbereitung bestätigt. Häufiger als die sportlichen Aktionen werden die ausgelebten Emotionen und die rührenden Momente wiederholt: der Triathlet Stephan Vuckovic, der, obwohl kurz vor dem Ziel noch vom ersten Platz verdrängt, sich springend und hüpfend über seine Silbermedaille freut, die Marathonläuferin Aguida Amaral aus Ost-Timor, die hinter der Ziellinie niederkniet, um ihre Ankunft im Stadion zu feiern und von einem Ordner erfährt, dass sie noch eine Runde zu laufen hat, die Geste des Säbelfechters Wiradech Kothny, der seine Bronzemedaille aus dem Teamwettbewerb dem Ersatzmann vermacht, da er selbst schon eine hat. Zudem befriedigen die Ereignisse von Sydney 2000 die Gier nach Sensationen und Dramatik: 10.000-m-Endläufe, die mit einem Abstand von 9/100 Sek. entschieden werden, Schwimmentscheidungen mit zwei Goldmedaillengewinnern oder Wettkämpfe im Gewichtheben, die dadurch entschieden werden, dass ein Athlet um 18 g weniger wiegt als der andere. Selbst da, wo der Ausgang eigentlich schon völlig klar erscheint wie im 100-m-Endlauf mit Marion Jones, der .Unbesiegbaren', 250 machen uns die Reporter darauf aufmerksam, dass im Sport jederzeit eine
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Vgl. ebd. Vgl. ebd ZDF, Uve, Schwarthoff, 27.9.2000. ARD, Live, Delling, 22.9.2000. Falksohn, Kulisse des Glücks, S. 194. ZDF, Uve, Prinz Albert von Monaco, 25.9.2000. Gebauer, Mythen-Maschine, S. 313. ZDF, Uve, Poschmann, 23.9.2000.
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Überraschung möglich ist: ,Was haben wir nicht alles schon erlebt bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften'. 251 In der Nähe des Olympischen Feuers muss man ständig auf alles gefasst sein und hoch konzentriert bleiben. Die dauerhafte Anspannung kann zum Rausch führen,252 sie kann aber auch irgendwann ein Gefühl der Monotonie erzeugen. Wer sich in den vergangenen zwei Wochen auch nur ein paar Stunden lang den Femsehübertragungen von den Olympischen Spielen in Sydney widmete, dem verschwammen Namen, Daten, Hintergründe zu einem einzigen riesengroßen Schaumteppich aus Spannung des Augenblicks, unüberschaubarer Vielfalt und gähnender Langeweile, Aufregung, Rührung und Monotonie. Der Mega-Event des Sports ist zum medialen Gesamtkunstwerk geworden, das die Sinne strapaziert und, in ruhigen Momenten, die Sinnfrage aufwirft: Was soll uns das, was ist uns das?233
Es soll uns das, was es uns ist. Sydney 2000 ist die Zelebration des Mythos von Sydney 2000. Die Botschaft ist denkbar einfach: Große Gefühle sind möglich. Welcher Art sie sind, und welchen Inhalt sie transportieren, ist nebensächlich. Wichtig ist allein, sie zu erfahren. Sport und Inszenierungsmittel des Fernsehens lassen teilhaben an der Vision eines anderen, sinnlicheren, aufregenderen Lebens. Die .Abgesandten des Dionysos"254 bescheren dem TV-Publikum ein Fest, was jedem, der dabei ist - und sei es nur als Teil einer angeblich 3,7 Milliarden Menschen großen Zuschauerschaft - ebenfalls zu einem Jünger des griechischen Gottes macht. Ach! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, daß, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss!255
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Ebd. Vgl. Gumbrecht, Schönheit des Mannschaftssports, S. 222f. Mohr, Tyrannei der Geschwätzigkeit, S. 50. Gebauer, Mythen-Maschine, S. 317. Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 87.
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7. Resümee
Das dionysische Erbe moderner Olympischer Spiele ist unverkennbar, betrachtet man die ideelle Nähe von Coubertin zu Wagner, die im Rausch des Mitfieberns erregten Zuschauermassen im Zeichen des Olympischen Feuers und den sinnlichüberwältigenden Inszenierungsstil, mit dem audiovisuelle Massenmedien wie Film und Femsehen die Olympischen Spiele einem Weltpublikum nahe bringen. Sport verwirklicht rudimentäre, mythische Konstellationen von Kämpfen, er ermöglicht emotionale Parteinahme und Partizipation, er erfordert wegen seiner Unberechenbarkeit vollste Konzentration, und er ist durch seine sinnliche Erscheinungsform als Spektakel bewegter Körper - allgemein verständlich. Sport hat damit das Potenzial als Volksbewegung Menschen zusammenzuführen und erfüllt beispielhaft einen Teil jener Funktionen, die sich Wagner und Nietzsche von einer erneuerten Kunst versprachen. Olympische Spiele bündeln diese Eigenschaften des modernen Wettkampfsports und versehen sie mit einem ideologischen Überbau. Die vielen kleinen Mythen und Heldenerzählungen des Sports münden in der Feier eines Humanitätsideals, das den Menschen individuell nach Vollkommenheit streben und sich gemeinschaftlich mit allen anderen nach Frieden sehnen sieht. Darin mag ein Grund für die Faszination liegen, die von Olympischen Spielen ausgeht: Sie verheißen gleichermaßen privates wie gesellschaftliches Glück. Ersteres repräsentieren die Sportstars, deren Körper verehrt werden, letzteres die Zuschauermassen vor Ort, die leidenschaftlich mitgehen, sei es in der rituellen Zeremonie der Eröffnungsfeier oder bei dramatischen, sportlichen Entscheidungen. Das olympische Erscheinungsbild ist bestimmt durch die Gegenüberstellung von Subjekt und Masse, sinnfällig zum Ausdruck gebracht in den Siegerehrungen, wo der Einzelne, der „Beste" seiner Disziplin, auf einem Treppchen stehend herausgehoben wird aus der Gleichheit der Sportlerinnen und Sportler, um sich vom Publikum bewundern zu lassen. Beide, der Olympiasieger wie das Publikum, sind Vorbilder: der Athlet wegen seiner Leistungsfähigkeit, die Zuschauerschaft wegen ihres Zusammenhalts. So lassen sich mit Olympischen Spielen sowohl menschliche als auch gesellschaftliche Ideale vermitteln, die je nach zeithistorischem Kontext differieren können. Coubertin etwa war wie Wagner darum bemüht, den Zerfallserscheinungen einer zersplitterten und dekadenten Gesellschaft entgegenzutreten. Er diagnostizierte den Verfall menschlicher Werte in Folge einer jahrhundertelangen Körpervernachlässigung, die den Menschen von seinen eigentlichen Bedürfnissen entfremdet hatte. Als Therapie empfahl er den Sport, um Leidenschaften zu wecken und die männliche Jugend zudem für das Leben in der modernen Konkurrenz- und Leistungsgesell-
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schaft vorzubereiten. Würde den Individuen auf diese Weise geholfen, so glaubte Coubertin, könnte auch die Allgemeinheit davon profitieren. Letztlich mündete sein Konzept zur Wiederbelebung der Olympischen Spiele in der Kreation einer neuen Zivilreligion, mit der das Band der nationalen Zugehörigkeit neu geknüpft werden sollte. Coubertin wünschte sich die Nationen stark und mächtig, da er sie nicht nur als geographische, sondern auch als ideelle Heimaten für die jeweiligen Staatsbürgerinnen und -bürger ansah. Andererseits war die „religio athletae" als Weltreligion gedacht, die alle Menschen aus allen Ländern und Kulturen zu Gläubigen machen wollte. Es ging dem Olympiagründer nicht um die Vermittlung religiöser Inhalte - die Botschaften von Frieden und Völkerverständigung waren zu Beginn eher ein populistischer Trick, um das Interesse an den Spielen und damit den Fortbestand der Bewegung zu sichern - , sondern um die soziale Funktion von Religionen und das Wecken religiöser Gefühle. Die Teilhabe am Kult war das Ziel, nicht die religiöse Erleuchtung. Daher entwarf Coubertin ein Zeremoniell aus Symbolen, Fahnen, Hymnen, Schwüren und Feuerspielen und bemühte sich, ganz gelehriger Schüler Wagners, die verschiedenen Künste von der Architektur über die Malerei bis hin zur Massenchoreographie um die olympischen Wettkämpfe zu gruppieren und so die Wirkung des Sportfestes zu steigern. Olympia wurde konzipiert als ein Fest der Körper für die Sinne. Seine Wiederbegründung am Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich daher wie viele dionysische Kunstprojekte als Rebellion verstehen gegen eine vom Rationalitätsmythos Descartes' beherrschte Gesellschaft, gegen eine technisierte und immer abstrakter werdende Umwelt, in der Körperlichkeit und Sinnlichkeit aus dem öffentlichen Leben weitgehend verbannt worden waren. Paradoxerweise arbeiten die Spiele am gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt in der Nachfolge der Aufklärung mit, indem sie das Prinzip der Leistungssteigerung in Form von sportlichem Rekordstreben legitimieren. Aber es ist gerade dieser Spagat, der die Olympische Idee so attraktiv und bis heute politisch bedeutsam macht. Die Spiele nehmen dem Fortschritt seine bedrohlichen Züge, denn sie benötigen keine Maschinen, sondern lediglich etwas, was den Menschen vertraut erscheint wie nichts anderes: Körper. In den Spielen von Berlin 1936 zeigt sich die ästhetische Nähe von Olympismus und Faschismus sowie die Anfälligkeit des olympischen Konzepts angesichts eigener Inhaltslosigkeit Platzhalter für politische Ideale jeglicher Art zu sein. In Riefenstahls Filmen wird das Begehren, bei Olympia dabei zu sein, umgedeutet in ein Begehren, zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu gehören. Der durchtrainierte Athletenkörper ist die Inkarnation des arischen Schönheitsideals, seine Kraft und Geschicklichkeit sind Symbole für Stärke und Fertigkeiten des arischen Volkes, die angespannten Muskeln demonstrieren Abwehrhaltung und zeigen die sich selbst auferlegte Härte, Selbstüberwindung und Leiden des Sportlers können gelesen werden als Vorbereitung auf den Kampf des Soldaten. Der Nationalsozialismus forderte die bedingungslose Unterwerfung des Individuums unter die Interessen des Staats bis hin zur Selbstaufopferung und nutzte den Sport als Mittel, um die Begeisterung der Bevölkerung für die Ziele des Regimes zu schüren. Erstrebenswert soll die Tüchtigkeit und Opferbereitschaft der Sportlerinnen und Sportler erscheinen, ihr Lohn ist ein begeistertes Publikum und das Lächeln des Führers. 276
Auch heute sind die Spiele nicht unpolitisch: In Verbund mit der Werbung präsentiert Olympia die Utopie vom besseren Leben, das jeder fur sich selbst verwirklichen kann. Sydney 2000 steht für eine Gesellschaft, in der auch den ehemals Unterdrückten wie den Aborigines eine Chance gegeben wird. Die Zukunft fängt am eigenen Körper an. Solche Vorstellungen korrespondieren in der „somatischen Gesellschaft" mit Schönheits- und Fitnessidealen unserer Zeit, die wiederum von kommerziellen Interessen geleitet sind. Die olympischen Helden demonstrieren, was man mit seinem Körper erreichen kann, und die Werbung führt vor, dass Erfolg und Genuss zusammengehören. Sydney 2000 ist aber auch ein Beispiel dafür, dass Olympische Spiele nach wie vor die Gemeinschaft der Menschen feiern. Politische Botschaften der Versöhnung durchziehen das Fest, angefangen von der Eröffnungsfeier mit dem gemeinsamen Einmarsch Nord- und Südkoreas bis zur Schlussfeier, in der die Musiker von Midnight Oil T-Shirts mit der Aufschrift „Sorry" trugen. Es sind solche Symbole - und natürlich die Inszenierung rund um Cathy Freeman - die zeigen, dass die Menschen im Zeichen der Ringe gefühlsmäßig zusammengehören sollen. In diesen Gesten liegt zwar eine Aufforderung politische Einigungsprozesse weiter voranzutreiben, aber mehr noch wecken sie die trügerische Illusion einer heilen, olympischen Welt, in der die Ungerechtigkeiten bereits besiegt sind, so dass die politische Auseinandersetzung demnach gar nicht mehr notwendig ist. Olympische Spiele stellen ein Universum dar, in dem Konflikte auf sportlich faire Weise ausgetragen werden. Sie gerieren sich als eine ideale Welt, eine Art Paradies, in dem es sich gut leben lässt. Das größte Glück, das sie den Individuen versprechen können, ist daher die Zugehörigkeit zur olympischen Gemeinschaft. Dabei sein ist alles. Solche Phantasien über intakte Gemeinschaften scheinen auch in der heutigen Zeit anziehend zu wirken, wie die Massen von Olympiatouristinnen und -touristen in Barcelona, Atlanta, Lillehammer, Nagano oder Sydney, die viel Geld und Zeit opfern, um den Olympischen Geist vor Ort erfahren zu können, belegen. Ebenso greifen die alten Remythisierungskonzepte: Man kommt zusammen, sei es räumlich und körperlich in der Olympiastadt oder nur zeitlich und ideell vor dem Femsehbildschirm, um an einem vom kultischen Feuer erleuchteten Ort eine mehrere tausend Jahre alte Menschheitsidee zu feiern und sich auf eine Weltanschauung einschwören zu lassen. Der Glaube an die Wirksamkeit von Mythen, das gemeinsame Hoffen auf die Erfüllung von Träumen durch die olympische Magie bindet die jeweiligen olympischen Kollektive, die Fangemeinde eines Sportstars, die Nation oder die von den fünf verschlungenen Ringen symbolisierte Weltgemeinschaft. Die olympische Mythologie wird von Werbung, Massenmedien und Kulturindustrie weiter fortgeführt, andererseits aber auch relativiert, da sie dort auf Massen anderer Mythen stößt. Im Zeitalter eines „marktgängigen Polytheismus"1 wechseln Mythen so schnell ab wie sportliche Rekorde, es gibt keine verbindliche Religion mehr. Dennoch übernehmen olympische Mythen - vergleichbar zu anderen zeitgemäßen mythischen Versatzstücken - zumindest vorübergehend die Funktionen des Religiösen. Sie führen das Subjekt aus seiner Einsamkeit in die Gemeinschaft der Gläubigen,
Lange, Gesamtkunstwerk Madonna, S. 287.
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befreien es von sich selbst, indem sie die Alltagssorgen in der Festtagsstimmung vergessen lassen, und geben emotionalen und idealistischen Halt. Sie lassen keinen Zweifel darüber, was „richtiges" Handeln ist. Rituale machen vor, wie Kollektivgefühle geweckt und Individuen in Gemeinschaften eingegliedert werden können: durch Partizipation, Emotion und Imagination. Vorbild für den Gottesdienst am Olympischen Feuer sind andere Messfeiern wie die katholische, in der die Gemeinde betend, kniend, singend und zum Altar schreitend in das Ritual mit einbezogen wird, in der die Bilder des gekreuzigten Jesus zum Mitleiden auffordern, in der Brot und Wein durch Zeremonie und Vorstellungskraft zu Leib und Blut werden sollen. Handelnd, fühlend und phantasierend - so sollen auch die Zuschauerinnen und Zuschauer Olympischer Spiele am mythisch konnotierten Sportfest teilhaben können. Das gilt für das Publikum im Stadion genauso wie das vor den Fernsehbildschirmen oder in den Kinosälen, wobei die Gewichtung der Mittel je nach medienspezifischer Zuschauerschaft unterschiedlich ist. So ist Partizipation im Sinne von aktiver Teilnahme nur dann möglich, wenn das Publikum vor Ort ist. Die Eröffnungsfeier von Barcelona ist wie andere Eröffnungsfeiern ein Beispiel dafür, dass die Wirkung der Zuschauermasse in die Inszenierung mit einbezogen wird. Die Anwesenden gestalten das Bühnengeschehen mit: Sie rufen „Hola", bilden aus Papptafeln lebende Mosaike, schwenken - nicht immer nach Plan - Taschenlampen und formieren sich zur „La Ola". Ihre körperliche Anteilnahme ist vorbildlich für das Sportpublikum der Wettkämpfe, und ihre Begeisterung soll sich auf das Fernsehpublikum übertragen. Gleichzeitig sind Eröffnungsfeiern emotional überwältigend, der Hang zum Spektakulären verursacht eine Flut sinnlicher Eindrücke, in der die besinnlichen Momente der Zeremonie verschwinden. Dagegen versuchen die Filme Riefenstahls die Imagination des Zuschauers zu wecken und ihn in die Lage zu versetzen, sich sowohl in die Rolle des leidenden Sportlers als auch in die Gemeinschaft des Stadionpublikums, das sinnbildlich für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft steht, hineinzudenken. Die personale Kamera lässt die Qualen des Marathonläufers mitfühlen, die Musik demonstriert seine Willenskraft und das Publikum im Olympiastadion nimmt ihn nach bestandener Probe jubelnd wieder in seinen Kreis auf. Die Gestalten des Films sind Vorbilder, denen es nachzueifern gilt. Ihre Schönheit, die filmisch durch Nahaufnahmen und Zeitlupen zur Geltung gebracht wird, weckt das Begehren im Zuschauer, seinen eigenen Körper und Charakter so zu gestalten, wie es das - auch in anderen Medien propagierte - nationalsozialistische Körperideal verlangt. Emotionen und Leidenschaften auf Seiten der Sportlerinnen und Sportler sind weitestgehend ausgeblendet, weil die Filmdramaturgie das rituelle Moment der Wettkämpfe unterstreicht. Und auch Dramatik und Spannung lassen sich aufgrund des zeitlichen Abstands zu den Geschehnissen der Spiele nicht vermitteln. Die olympische Welt im Film erscheint daher nicht als ein reales Abbild der Berliner Wettkämpfe, sondern als eine faschistische Traumwelt voller Schönheit, in der gemäß der nationalsozialistischen Ideologie der Andersdenkende, der Kranke und der Jude keinen Platz haben. Riefenstahl verschmilzt in ihrer Filmsprache Kunst, Natur, Massenornamente und die Ästhetik der bewegten Körper. Die Sinnlichkeit wirkt überwältigend, für die - an Sportübertragungen noch nicht gewöhnte - Bevölkerung der 30er Jahre zum 278
Teil berauschend. Doch soll der Rausch eine Zügelung erfahren durch den Willen, sich der Gemeinschaft und dem Ideal unterzuordnen. Der Riefenstahlfilm ist daher auch ein Beispiel für die Gefahren dionysischer Kunst, wenn sie im Dienste einer Ideologie steht. Bei den heutigen Fernsehinszenierungen Olympischer Spiele tritt an Stelle der ideologischen Orientierung das Prinzip der Gewöhnung an das media-event. Fernsehzuschauer sollen „dran bleiben" - am medial vermittelten Geschehen. Die Übertragungen ritualisieren die Abläufe, einmal durch ein festes Programmschema, zum anderen dadurch, dass sie die Wettkämpfe in einem standardisierten Schema präsentieren, das im übrigen an die Montagetechnik Riefenstahls erinnert. Der geübte Zuschauer weiß daher bereits, wann er welchen Schnitt zu erwarten hat, wenn er in ARD und ZDF die Wettkämpfe aus Sydney 2000 verfolgt. Die Initiierung des TV-Rezipienten in die heile Welt der „besten Spiele aller Zeiten" geschieht auf dem Weg freigesetzter Emotionen. Ganz im Gegensatz zu dem Film Riefenstahls macht die Live-Übertragung aus allem olympischen Geschehen dramatische und sensationelle Ereignisse. Spannung entsteht, die zum Mitfiebern einlädt. Dem Fernsehzuschauer wird die ganze Palette menschlicher Leidenschaften vorgeführt, Szenen der Rührung, Verbrüderung und Versöhnung darf er zu Hause miterleben. Nicht nur die Muskeln sind in den Bildern zum Greifen nahe, sondern auch die Gesichter, die von Schmerzen, Erleichterung, Siegesfreude oder Niedergeschlagenheit gezeichnet sind. Die Intimität der Nahaufnahme, die immer aufdringlicher wird, je mehr die direkte körperliche Erfahrung des Zuschauers im olympischen Kommunikationsprozess ausgeschlossen ist, schafft eine Vertrautheit zu den olympischen Helden, bis deren Gefühle zu den eigenen werden. Emotionen entstehen auch durch die Art der Kommentierung, die Partei ergreift für bestimmte Sportlerinnen und Sportler - meist aus der eigenen Nation - und so polarisiert. Zusätzlich stellt sich beim Gedanken an die Größe des weltweiten Femsehpublikums, das allein dadurch vereint ist, dass alle zur selben Zeit dieselben Bilder betrachten, das Gefühl ein, einem bedeutenden historischen Moment beizuwohnen. Deutlich wurde im Verlauf der Studie: Technische Medien wie Film und Fernsehen steigern mit ihren speziellen Mitteln die ohnehin schon im Ereignis angelegt Emotionalität und attackieren die Sinne des Zuschauers - eine Art Kompensation für den Mangel an authentischer und direkt-körperlicher Live-Erfahrung. Wo für die vereinzelten TV-Rezipienten die Menschenmasse am wenigsten erfahrbar ist, wird sie am häufigsten imaginiert, um sich in ein gedachtes, weit- und zeitenumspannendes - gewissermaßen grenzenloses - Kollektiv einfühlen zu können. Ein Übermaß an Gefühlen und ein Übermaß an ästhetischer Schaubefriedigung weckt das Bedürfnis, sich in die olympische Gemeinschaft einzugliedern. Der Wunsch dabei zu sein und dazu zu gehören wird umso stärker angespielt, wenn beides nur medial vermittelt möglich ist. 3,7 Mrd. Menschen sollen es insgesamt gewesen sein, die via TV an den Olympischen Spielen von Sydney teilgenommen haben, 30 bis 40 Mio. Touristen wurden während der Wettkämpfe in Sydney vermutet, rund eine viertel Mrd. Euro brachte
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der Erlös der Eintrittskarten 2 - Zahlen, die verdeutlichen, dass Olympische Spiele gemessen an ihrem Zuschauerzuspruch ungemein erfolgreich sind. Das unterscheidet sie von den meisten anderen Versuchen, dionysische Kunstformen in der Nachfolge Wagners und Nietzsches zu etablierten. Den meisten Projekten war eine kurze Lebensdauer beschieden, vielen erzielten nicht die gewünschte Wirkung oder blieben - ähnlich wie die Bayreuther Festspiele - einem elitären Kunstverständnis verhaftet, konnten also keineswegs den Status der Volkskunst einnehmen. Dagegen hat sich Olympia als Weltereignis etabliert und dabei hinsichtlich der Gemeinschaftsideale, der Arbeit mit Massen, der mythischen Anbindung und seines sinnlichen Erscheinungsbilds viele der Sehnsüchte aus dem Umkreis synthetischer Werkideen eingelöst. Auf der Suche nach dem Erfolgsgeheimnis Olympischer Spiele stößt man auf viele mögliche Antworten: Zunächst dürfte eine Rolle spielen, dass Olympia als Fest des Sports sich vornehmlich über Körper vermittelt, somit Sprachbarrieren überwindet und sich gut in optischen Massenmedien darstellen lässt. Die Dominanz des Körperlichen sorgt dafür, dass das Sportgeschehen leicht verständlich ist, und involviert den Zuschauer in das olympische Spektakel. Menschliche Körper sind von einer unmittelbaren sinnlichen Wirkung, zumal da die durch den Sport hervorgerufenen Grenzzustände wie Erschöpfung, Schmerz oder Ekstase eine Entsprechung im Körpergedächtnis des Zuschauers haben. Da es sich beim Sport um kulturell sanktionierte Abläufe handelt, besteht zudem eine Sicherheit, dass die Gefahren des Sportlers kalkulierbare bleiben. Der Tod ist anders als im antiken Olympia - nicht zu befurchten, und auch schwere Verletzungen bleiben eher die Ausnahme. Der Rezipient wird in der Regel nur mit einer Art Leiden konfrontiert, die überwunden werden kann, der Körper ist daher eine Imaginationsfläche positiver Assoziationen. Darin liegt wohl auch ein Grund, warum die Paralympics nach wie vor nicht wirklich in das Weltfest des Sports integriert sind: Die Körper der behinderten Sportlerinnen und Sportler würden den Olympiazuschauer an die eigene Verletzlichkeit erinnern. Ein weiterer Grund für die Attraktivität der Spiele liegt in ihrem Festcharakter. Durch den festgelegten Vierjahresrhythmus bei Wechsel des jeweiligen Austragungsorts sind Olympische Spiele seltene, aber nicht unbekannte Ereignisse. Die zyklische Wiederkehr sorgt fur Kontinuität, bewahrt aber vor Übersättigung. Ein geschickter organisatorischer Schachzug Coubertins war es zudem, die Spiele nicht dauerhaft an einen festgelegten Ort, etwa Athen, zu vergeben, sondern jedes Mal aufs Neue den olympischen Gastgeber zu bestimmen. So steigerte sich in den Anfangsjahren das Weltinteresse, und auch heute noch sind Olympische Spiele immer eine Selbstdemonstration des Gastgeberlandes. Dementsprechend hohe finanzielle Mittel werden bereitgestellt, was spektakuläre Inszenierungsformen erlaubt. Um möglichst viele politische Gruppierungen zu gewinnen, ist die Vagheit und Vielverträglichkeit der Olympischen Idee ein Vorteil, 3 wohingegen staatlich gelenkte Masseninszenierungen wie das Thingspiel oder die Massenschauspiele der Russi-
2 3
Kreitz, Sponsoren, Touristen und Investoren, o.S. Vgl. Lenk, Suche nach dem verlorenen Olympischen Geist, S. 104.
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sehen Revolution nur in bestimmten Gesellschaftsformen überhaupt existieren können. Zudem ist die olympische Botschaft so einfach, dass jeder gerne an sie glaubt. Über Frieden und Völkerverständigung muss man - scheinbar - nicht diskutieren. Während viele künstlerische Entwürfe beeinflusst vom Erbe Wagners und Nietzsches - z.B. die Lebensreformbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts - dazu tendieren, antizivilisatorisch zu sein, und den Menschen zurück zu seinen Wurzeln führen wollen, ist der moderne Sport Ausdruck der Versöhnung des Natürlichen mit der Technik. Olympische Spiele sind einerseits zukunftgerichtet, bewahren und pflegen aber andererseits ihre eigene Tradition und erscheinen so wertkonservativ. Es sind die zahlreichen Mythen, die im Spiel sind, die Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit miteinander verbinden. Auch der vom wissenschaftlich getesteten Schwimmanzug begünstigte Weltrekord im Jahr 2000 ist Ausdruck desselben Humanitätsideals wie der Olympiasieg eines nackten Ringkämpfers im antiken Griechenland. Dies zumindest suggerieren die Spiele mit ihrer Symbolik und ihrem Zeremoniell. Olympia ist voller Mythen, wobei der Unterschied zu anderen mythischen Darstellungen in der absoluten Gegenwärtigkeit der Mythen liegt. Die Besonderheit beim Sport liegt darin, dass das Publikum Zeuge ist, wie der Held seine Aufgabe erledigt oder auch an ihr scheitert. In dieser Unberechenbarkeit liegt der Reiz, die Spannung des Sports, die den Kampf um olympisches Edelmetall dramatischer erscheinen lässt als den Raub des Rheingolds, die Disziplinen der Zehnkämpfer bedeutender als die zwölf Arbeiten des Herakles. Sportliche Darbietungen verfügen über etwas, was Kunst nicht hat: Ihre Handlungen werden, obwohl von spielerischer Art, als reale verstanden. Die griechischen Dramen, Wagners Ring, die nachempfundene Darstellung der russischen Revolutionsereignisse - sie alle wiederholen nur Geschehnisse und mythische Erzählungen vergangener Zeiten. Die sportlichen Heldentaten dagegen ereignen sich jetzt, unmittelbar vor aller Augen. Als sich daher vor Jahren das deutsche Fußball-Idol Franz Beckenbauer am grünen Hügel von Bayreuth zeigte, war das wie alles, was ein „Kaiser" macht, auch ein symbolischer Akt. Der Eintritt der bekanntesten Repräsentationsfigur des deutschen Sports in den Saal des Festspielhauses brachte nicht nur die gesellschaftliche Anerkennung des Sports zum Ausdruck, dem die Türen zu den „heiligen Hallen der Kultur"4 nicht länger verschlossen bleiben, sondern verwies die Bayreuther Festspiele gleichzeitig auf ihre Grenzen. Beckenbauer hatte keinen Grund, in Ehrfurcht vor Wagners Werk zu erstarren. Was ist schon die Neuinszenierung der Götterdämmerung gegen die Ausrichtung einer Fußball-Weltmeisterschaft? Oder um es mit dem Publizisten Helmut Böttiger auszudrücken: Was besagt ein Shakespearescher Theatertod gegen das entscheidende Kopfballtor in der 92. Minute?5
4 5
Nutt, Hauptsache Sport, S. 245. Helmut Böttiger. Zitiert nach Rainer Moritz (Hg.): Doppelpaß und Abseitsfalle. Ein Fußball-Lesebuch. Stuttgart 1995, S. 205.
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