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German Pages 603 [604] Year 2005
Frhe Neuzeit Band 102 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frhen Neuzeit“ an der Universitt Osnabrck Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Klaus Garber, Wilhelm Khlmann, Jan-Dirk Mller und Friedrich Vollhardt
Daniel Fulda
Schau-Spiele des Geldes Die Kom+die und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing
Max Niemeyer Verlag Tbingen 2005
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-36602-8
ISSN 0934-5531
: Max Niemeyer Verlag GmbH, Tbingen 2005 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, ?bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Satz: Daniel Fulda, K+ln Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Prolog Ökonomisch zu handeln heißt in der westlichen Moderne, den eigenen Vorteil zu verfolgen, aber – so das übliche Vertrauen in eine produktive Eigendynamik des Marktes – mit dem Ergebnis eines indirekten Nutzens für alle. Die Schau-Spiele des Geldes analysieren, wie sich ein solches Marktvertrauen in der ‚späten Frühen Neuzeit‘ herausbildete. Den literarischen Bezugspunkt bildet die Komödie, deren Geldaffinität nicht nur motivisch hervorsticht. Vielmehr lassen sich ihre Handlungsstrukturen als Modelle marktwirtschaftlichen Verhaltens und der entsprechenden Weltverlaufserwartungen interpretieren, denn die Komödie basiert auf Lizenzen zu normwidrigem Verhalten, vermittelt trotzdem aber das Vertrauen in einen guten Ausgang. Methodisch setzt die Studie mit einer gattungstheoretischen Explikation der Strukturhomologie von Komödie und Geldwesen an. Historisch verfolgt werden beider Interferenzen in mehreren Wissens- und Sozialbereichen: in der Wirtschaftstheorie bis zu Adam Smith, im Konzept des kaufmännischstrategischen Politicus sowie in verschiedenen Typen des Spiels, die Wagemut mit Providenzvertrauen verbinden. Besondere Berücksichtigung finden die (Denk-)Formen sozialer Theatralität sowie die Marktsituation des Theaters. Einzelanalysen von The Merchant of Venice bis Minna von Barnhelm fächern die Vielfalt der Komödientypen im Schul- und Wandertruppentheater, unter moraldidaktischer Zwecksetzung oder in der Commedia dell’ arte-Tradition, im Dienste höfischer Repräsentation oder bürgerlicher Sozialprogrammatik exemplarisch auf, zentriert auf das Reich, aber unter Einbezug französischer und englischer Vorlagen. Anhand der Komödie des Barocks und der Aufklärung wird damit zugleich die Möglichkeit einer post-sozialgeschichtlichen Gattungsgeschichtsschreibung erprobt. Die Philosophische Fakultät der Universität zu Köln hat die Schau-Spiele des Geldes im Sommersemester 2003 als Habilitationsschrift angenommen.1 Gutachten übernahmen die Professoren Peter J. Brenner, Erich Kleinschmidt und Walter Pape für die Germanistik, Wolfram Nitsch für die Romanistik und Hubert Wurmbach für die Anglistik. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. 1 Danach erschienene Forschungsliteratur wurde im September 2004 eingearbeitet.
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Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die Gewährung eines Habilitationsstipendiums, den Herausgebern der Frühen Neuzeit für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Ohne die vielfältigen Anregungen und die großzügige Unterstützung Walter Papes hätte ich diese Studie weder begonnen noch sie abschließen können. Mit ihm zu arbeiten ist mir seit Jahren eine große Freude. Walter Pape sind die Schau-Spiele des Geldes gewidmet.
Inhalt 1. Geld in/und Literatur – Forschung, Theorie, Methoden . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Nathan der Reiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1.1 „als ob / Die Wahrheit Münze wäre!“ Ökonomisch-literarische Interferenzen zwischen Tradition und Moderne (3); 1.1.2 Die Bedeutung der Form (10)
1.2 Geld und Komödie: Möglichkeiten ihrer theoretischen Relationierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.2.1 Bewegung und Stabilität. Zur Strukturhomologie von Komödienhandlung und Geldfunktion (22); 1.2.2 Repräsentation und Performanz: Tausch und Täuschung als Konstituenten des Geldwesens wie der Komödie (26)
1.3 Das „Verknüpfungsproblem“ in der post-sozialgeschichtlichen Literaturgeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.3.1 Systemtheoretische Ansätze (35); 1.3.2 Eine kulturgeschichtliche Alternative: Theatralität als Interferent zwischen sozialen Praktiken und Komödie (39); 1.3.3 Mentalitäten und der Eigensinn der Gattung (47)
1.4 Historische Fokussierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1.4.1 Epochale Eingrenzungen; wie geschichtlich ist die Gattung Komödie? (51); 1.4.2 Textauswahl, Gliederung (57); 1.4.3 Die Entstehung der Marktwirtschaft (62)
2. Agent des Geldes: der Kaufmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2.1 Eingang: Worlds Apart ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.1.1 Geldbedarf und Handelswachstum in der frühen Neuzeit (71); 2.1.2 Motivische und normative Merkantilreflexion der Komödie (75)
2.2 Ethik der Gabe: Shakespeares Merchant of Venice . . . . . . . . . . . 81 2.2.1 Seehandel und ‚Wucher‘ (84); 2.2.2 Die Gabe als Principium von Ökonomie, Liebe, Erkenntnis und Recht (88); 2.2.3 Opfer, Gnade, Markt: religiöse Implikationen, wirtschaftliche Folgen und dramaturgische Spiegelungen der Gabe (97)
2.3 Verkleidung, Täuschung, Betrug: Blümels Jude von Venetien . . 105 2.3.1 Ausschlußmechanismen: Dramaturgische Konfiguration und Judenfeindschaft (108); 2.3.2 Verstellung als höfische Verhaltensnorm (113)
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2.4 Stände(neu)ordnung in Gryphius’ Horribilicribrifax . . . . . . . . . 121 2.4.1 Die Dynamik der Tugend (127); 2.4.2 Statisches Geld (133); 2.4.3 Theatrum mundi vs. merkantile Inszenierungen (141)
2.5 Gelehrtes Amt statt Händel: Schochs Comoedia Vom Studenten-Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2.6 Die Sächsische Reformkomödie zwischen merkantilen Leitbildern und gelehrter Marktfeindschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2.6.1 Handel als Sozialmodell (163); 2.6.2 Der Kaufmann als Leerstelle der Komödie (Der Witzling) (171); 2.6.3 Markt und Theater oder Streit um Gottscheds Bühnenreform (178)
2.7 Sozialgruppenformierung und Gesellschaftsdifferenzierung auf dem Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2.7.1 Performativität und Normativität von Bürgerlichkeit (189); 2.7.2 Geschäftsfähigkeit als Kriterium sozialen Wertes: Luise Gottscheds Die Ungleiche Heirath (195)
2.8 Ausgang: Gebende Kaufleute, Verausgabung der Komödie . . . 207 2.8.1 Pfeffels Kaufmann oder Die vergoltene Wohlthat als Retablierung der Gabe (209); 2.8.2 Überlagerung der Komödie durch das Schauspiel (218)
3. Das Laster des Geldes: Geiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3.1 Eingang: Komödie als Lasterkritik und Gesellschaftsordnung . 229 3.1.1 Ein polyfunktionales Problem: religiös, moralisch, ökonomisch und ästhetisch (229); 3.1.2 Verstört: Das ‚Haus‘ der Ökonomik (235); 3.1.3 Zirkulation oder Zentralisierung? Die Komödie im Widerstreit epochaler Prinzipien (238); 3.1.4 Plautus’ Aulularia als Archetext (243)
3.2 Irdische und himmlische Schätze im Jesuitendrama . . . . . . . . . 247 3.2.1 Lastertherapie und Komödienform (248); 3.2.2 Zwischen heilsamer Ökonomie und Heilsökonomie (255)
3.3 Molières L’Avare zwischen Merkantilismus und monarchischer Zentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 3.3.1 Komische Wirtschaftspolitik (267); 3.3.2 Rückkehr des Vaters als Auftritt des Herrschers (273); 3.3.3 Monarchische Vermittlung zwischen Gottes- und Geldnorm (283)
3.4 Unberechenbarer Geiz, unbegreifliche Geschenke: Der Geitzige der Wanderbühne und die (geld)historischen Hindernisse eines französisch-deutschen Komödientransfers . . . . . . . . . . . . 289 3.5 Komische Bewegung und monetäre Stabilität in Weises Betrogenem Betrug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 3.5.1 Rhetorischer Realismus? Zum sozialen Gehalt des Schultheaters (304); 3.5.2 Frauenherrschaft im Haus (312); 3.5.3 Dynamische Komik als Abschied von der oeconomia divina (319)
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3.6 Borkensteins Bookesbeutel: Heiratsmarkt mit Sinnlichkeitsverknappung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 3.6.1 Die Währung der guten Lebensart (328); 3.6.2 Autonomisierung des Markthandel(n)s (333); 3.6.3 Rationalisierung von dramatischer wie ökonomischer Aktion (339)
3.7 Ausgang: Komik wird knapp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 3.7.1 Der Reichtum des Wiener Volkstheaters: Hafners Neues Zauberlustspiel, betitelt: Mägera, die förchterliche Hexe (351); 3.7.2 Dramaturgie des Geizes oder Der Mißerfolg der Reformkomödie auf dem Theatermarkt (361); 3.7.3 Gespartes Jenseits, verarmte Welt – ein erstes Resümee (366)
4. Spiele ums Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 4.1 Eingang: Spiel und Komödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 4.1.1 Weltdeutung, Handlungsmodell, Willkür – Typen des Spiels (377); 4.1.2 Zur soziomentalen Funktion komödischer Spiele (385)
4.2 Christian Reuters Dramatisierungen lebensweltlicher Spiele . . . 393 4.2.1 Studentisches Aggressionsspiel: Die Ehrliche Frau zu Plißine (393); 4.2.2 Höfisches Narrenspiel: Graf Ehrenfried (400)
4.3 Providentielle Garantien strategischer Selbstermächtigung . . . . 409 4.3.1 Affektanthropologie, Unsicherheit von Normen, Lohn und Strafe (410); 4.3.2 ‚Politisches‘ Kalkül und wirtschaftliche Interessen im Dienste des Gemeinwohls (416); 4.3.3 Erzieherische ‚Privatpolitik‘: Luise Gottscheds Verschwender (425); 4.3.4 Strategisches Spiel in der Gottesrolle (435); 4.3.5 Moralisches vs. ökonomisches Vorsehungsvertrauen: Gellerts Loos in der Lotterie (439)
4.4 Marktwirtschaft und Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 4.4.1 Ökonomische Selbstregulierung (J. G. Krüger, A. Smith)? (451); 4.4.2 Ökonomie als theatralische Fiktion von providentieller finaler Harmonie (457); 4.4.3 Ökonomisches vs. ethisches vs. ästhetisches Interesse (465)
4.5 Die Merkantilität des komischen Spiels: Krügers Candidaten Mit einem Überblick zum Verhältnis gelehrter und ludischer Komödientypen zum Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 4.6 Rettung der Komödie als Reflexionsspiel: Lessings Minna von Barnhelm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 4.6.1 Dramaturgie der Ambiguität: Exposition und Verkennung finanzjuristischer Handlungsbedingungen (482); 4.6.2 Rückblicke auf Handlungswie Komödienkonzepte (490); 4.6.3 Vorausblicke I: Die Autonomie des scheinhaften Spiels (496); 4.6.4 Komödienspiel als Kombination von Mutwillen und Providenzvertrauen (500); 4.6.5 Vorausblicke II: Von der Komödie zur ‚Geschichte‘ (505)
5. Komödie und Marktwirtschaft: Das erwartete Soziale . . . . . . . . . . . 511
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen Texte (dramatisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontexte (historisch, ökonomisch, philosophisch, poetologisch) Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
1. Geld in/und Literatur – Forschung, Theorie, Methoden
1.1 Nathan der Reiche Obschon keine Komödie im engeren Sinne, könnte Nathan der Weise in einer Geschichte dieser Gattung ‚von Shakespeare bis Lessing‘ gut den Schlußpunkt setzen. In der vorliegenden Untersuchung steht das Drama ganz am Anfang, vor der systematischen Explikation von Absichten, Theoriereferenzen1 und Methode,2 denn es ermöglicht eine exemplarische Erläuterung der theoretischen wie historischen Relevanz des Geldfokus sowie der Forschungsperspektiven, die er eröffnet. Das erste Unterkapitel verortet die Schau-Spiele des Geldes zwischen den Diskursen bzw. Sozialbereichen Ökonomie und Literatur sowie zwischen alteuropäischer und moderner Gesellschaft; das zweite setzt bei der dramatischen Form sowie, spezifischer, der Gattungsstruktur an und exponiert sie als maßgeblich für die literarische Modellierung von Handlungsmustern wie Geschehenserwartungen – und damit für die schau-spielerischen Interferenzen der Komödie mit der entstehenden Marktgesellschaft.
1.1.1 „als ob / Die Wahrheit Münze wäre!“ Ökonomisch-literarische Interferenzen zwischen Tradition und Moderne Seit seinem Erscheinen 1779 wird Nathan der Weise bevorzugt auf seine ‚Lehre‘ hin gelesen.3 Im Mittelpunkt des Interesses stand und steht dabei die Ringparabel, mit der die Titelfigur auf die Frage des Sultans Saladin nach der „wahren“ Religion antwortet (III,5, 329):4 Von drei Brüdern glaubt jeder sich am meisten vom Vater geliebt und einen Ring erhalten zu haben, der seinen Vorrang beweise. Da jedoch keiner der Ringe die verheißene „Wunderkraft“ 1 Vgl. Kap. 1.2 u. 1.4.3. 2 Vgl. 1.3 u. 1.4.1/2. 3 Als Überblick über die erste Rezeption wie über die neuere Forschung zum Nathan
vgl. Fick: Lessing-Handbuch, S. 403–424, bes. S. 406f. u. 421–424. Ficks eigene Analyse, das sei betont, unterliegt nicht jener Verengung. 4 Zitiert wird, unter Angabe von Akt, Szene und (aktweise gezählten) Versen, nach der Ausgabe von Herbert G. Göpfert in Lessing: Werke Bd. 2, S. 205–347. Das Titelzitat steht dort in III,6, 352f.
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zeigt, „vor Gott und Menschen angenehm“ zu machen, stellt sich heraus, daß „alle drei nicht echt“ sind (III,7, 399f./500f., 509). Der Richter, vor den die Brüder ihren Streit bringen, kann daher keine Entscheidung fällen – wie auch Nathan nicht hinsichtlich der wahren Religion. Was wahr ist, müsse sich vielmehr im friedlichen Wettstreit der Brüder und ihrer Nachkommen erweisen: [...] Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, Mit innigster Ergebenheit in Gott, Zu Hülf’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern: So lad’ ich über tausend tausend Jahre, Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen, Als ich; und sprechen. (524–537)
Ganz im Sinne von Lessings ebenfalls vielzitierter „Duplik“ im Goeze-Streit kann Wahrheit also nur Gegenstand eines Strebens sein, auf unabsehbare Zeit aber kein „Besitz“.5 Wahrheit wird mithin historisiert, pragmatisiert und sozialisiert, denn in der Praxis und immer wieder neu muß sich die Berechtigung von Wahrheitsansprüchen erweisen, und zwar durch das erzielte Wohlgefallen bei „Gott und Menschen“. Aber nicht nur den Abschied von einem substantialistischen Wahrheitsbegriff (als Entsprechung zum „echten Ring“) zugunsten eines performanztheoretischen hat die Germanistik der neunziger Jahre in Nathans Erzählung ausgemacht.6 Daß der Richter „einen ethischen Leistungswettbewerb“ als „Methode der Glaubensverifikation“ empfiehlt, weist nach Lothar Bornscheuer auf ein spezifisches „Realitätsmodell“, nämlich auf „das des marktwirtschaftlichen Vorteilsdenkens, Erwerbsstrebens und Konkurrenzverhaltens“.7 Noch konkretere Transferenzen vermutet Heiner Weidmann, der im eben Zitierten „den Widerhall eines anderen, gleichzeitigen und ebenso epochemachenden Werks“ vernimmt, nämlich des „Wealth of Nations von Adam Smith“.8 Smith’ wirtschafts- und gesellschaftstheoretisch epochales Anliegen 5 Lessing: Werke Bd. 8, S. 30–101, hier S. 32f. 6 Vgl. Goetschel: Negotiating Truth, S. 108. Einzuschränken ist, daß die Erzählung die
ursprüngliche Existenz eines echten Ringes voraussetzt, also nicht dem Modell ‚Kopien ohne Original‘ folgt, das ‚postmodernen‘ Performanztheorien zugrunde liegt. 7 Bornscheuer: Zur Geltung des ‚Mythos Geld‘, S. 80. 8 Weidmann: Ökonomie der ‚Großmuth‘, S. 449. Ähnlich metaphorisch formuliert Goet-
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war es bekanntlich, das Gemeinwohl nicht mehr auf obrigkeitliche Lenkung und individuell-altruistisches „Wohltun“ zu gründen, sondern als Ergebnis einer freien Konkurrenz egoistischer Interessen auszuweisen.9 Der Zweck der Gesellschaft, ein möglichst allgemeiner Nutzen, wird in seinem Modell ähnlich prozessual erreicht wie, der Ringparabel zufolge, das Ziel der Theologie, die wahre Religion. „Nur indem jeder Besitzer eines Rings ganz eigensüchtig den seinigen für den echten hält, leistet er seinen Beitrag zum allgemeinen Projekt“, überblendet Weidmann in diesem Sinne Lessing und Smith.10 Gibt Nathan also „eine ganz und gar aus dem Geist der Marktwirtschaft heraus gedachte Antwort auf die Religionsfrage des Sultans“, wie Bornscheuer resümiert?11 Wäre, was der Tempelherr als antijüdisches Vorurteil äußert – nämlich daß Nathan auch „der Reiche“ heißen könnte, weil „seinem Volk [...] reich und weise / Vielleicht das nämliche“ ist (I,6, 740–742) –, als Basistheorem einer qua ökonomische Konkurrenz dynamisierten Gesellschaft zu bestätigen? Solche Fragen betreffen nicht nur Lessings Kaufmannsdrama. Zur Debatte steht vielmehr eine epochentypische, für die moderne Gesellschaft wie Literatur insgesamt konstitutive Durchsetzung eines „‚marktwirtschaftlichen‘ Verhaltenshabitus“.12 Gerade in jüngster Zeit haben mehrere Studien es unternommen, literarische Texte des 18. Jahrhunderts auf den gleichzeitigen fundamentalen Wandel der Wirtschaftsformen und -prinzipien zu beziehen. Traditionell der ‚schönen‘ Literatur gegenüberstellt, wird das Materielle, Nützliche, Interessenbehaftete in solchen Arbeiten – und ebenso in der vorliegenden – eng an diese herangerückt oder sogar in sie hineingeholt. Die materialistischen Reduktionen der siebziger Jahre13 hat man dabei hinter sich
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schel: Negotiating Truth, S. 114: „Nathan’s new economics announces circulation and exchange as the new paradigm for the epistemological process of truth production“; ebd. S. 111 ein allgemeiner Hinweis auf Adam Smith’ zeitlich benachbarten Wealth of Nations. – Mit Smith’ Theory of Moral Sentiments von 1759 war Lessing vertraut und argumentierte er gelegentlich (vgl. Heidsieck: Adam Smith’s Influence on Lessing’s View of Man and Society; Slessarev: Nathan der Weise und Adam Smith); ob er das spätere Werk ebenfalls kannte, ist nicht belegt. Ausführlicher dazu unten Kap. 4.4.1. Weidmann: Ökonomie der ‚Großmuth‘, S. 450. Bornscheuer: Zur Geltung des ‚Mythos Geld‘, S. 80. Ebd., S. 81. Mit ‚Moderne‘ ist hier die ‚kulturelle Moderne‘ gemeint, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts – der ‚Sattelzeit‘ (Koselleck) oder ‚um 1800‘ – herausbildet. Vgl. die Auslegung der Ringparabel durch Heinz Schlaffer: „Zweifellos haben diesem Modell, das von Religion und Toleranz der Religionen zu sprechen scheint, die Gesetze des Marktes zur Vorlage gedient [...]. Das Bildmaterial der Ringparabel führt ihren ideologischen Inhalt: religiöse Toleranz, auf den ökonomischen Ursprung: den Markt, der Toleranz notwendig involviert“ (Der Bürger als Held, S. 109).
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gelassen. Häufigerer Ausgangspunkt ist die systemtheoretische Annahme, daß eine funktionale Gesellschaftsdifferenzierung (mit dominantem Wirtschaftssystem) die stratifikatorisch, ‚ständisch‘ gegliederte Gesellschaft der Vormoderne abgelöst habe14 Als von der Literatur ‚bearbeiteter‘ Problempunkt dieses Wandels wird zumeist das Subjekt ausgemacht, dessen moderne Auffassung als Produkt der sich ausweitenden Geldwirtschaft zu gelten habe.15 Literatur dient in dieser Perspektive der Vermittlung von Individualisierungsmodellen.16 Eben hier droht indessen eine erneute, doppelte Verkürzung: die Aussparung sozialer Interaktion als Gegenstand literarischer Modellierungen sowie eine Nachordnung der Literatur, insofern diese lediglich als reagierendes Medium erscheint (dazu neigen auch die auf Smith rekurrierenden Deutungen der Ringparabel). Beides vermeidet Joseph Vogl, der die Entstehung des ‚ökonomischen Menschen‘ sowohl in der Staatstheorie, der Kameralistik oder eben bei Adam Smith als auch in Romanen und Dramen von Schnabels Insel Felsenburg bis zu Faust II verfolgt. Vogl interessiert sich für den Austausch zwischen faktualen und fiktionalen Diskursen und betont, indem er „das Wissenssubstrat poetischer Gattungen und die poetische Durchdringung von Wissenformen“ aufeinander bezieht, deren wechselseitige Stützung, konkret z. B. hinsichtlich theatralischer Denkmuster der Smithschen Sozialtheorie sowie sozialtheoretischer Implikationen von Lessings auf Mitleid und Rührung abgestellter Theaterästhetik.17 Den Akzent legt er dabei auf die Herausbildung der Annahme, daß ökonomische und überhaupt gesellschaftliche Prozesse sich selbst regulieren, mithin auf „die Genese modernen system-
14 Als jüngste Studie dieser Richtung vgl. Thomas Wegmanns Tauschverhältnisse. Zur
Ökonomie des Literarischen und zum Ökonomischen in der Literatur. ‚Tausch‘ meint dort nicht nur die Marktsituation, in welche die Literatur immer mehr gerät und in der sie sich etwa durch die Einführung eines ‚geistigen Eigentums‘ zu behaupten versucht. Als ‚ökonomisch‘ versteht Wegmann vielmehr auch das Innovationsprinzip der ‚modernen‘ Kunst bzw. Literatur (vgl. S. 31f. u. 26 Anm. 64). Ob es den Tauschbegriff überstrapaziert, solche Innovation als ‚Austausch‘ alter ästhetischer Normen gegen neue zu begreifen, mag hier offenbleiben. An literarischen Quellentexten liegen Wegmanns Studie durchweg Romane zugrunde, von Gellerts Schwedischer Gräfin bis zu Goethes Wahlverwandtschaften. 15 Vgl. ebd., S. 29f. mit einem Zitat aus Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 231: „Menschen haben sich einfach nicht zu allen Zeiten und an allen Orten als selbstbewußte transzendentale Subjekte beschrieben. Sondern eben nur dort und in dem Maße, wo und in dem sich ‚rationale‘ = äquivalenzfixierte Formen der Geldwirtschaft durchgesetzt haben.“ 16 Vgl. Wegmann: Tauschverhältnisse, S. 29 sowie unten S. 464 Anm. 50 und die dort angeführten Studien. 17 Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 87–107, das Zitat S. 14.
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theoretischen Wissens“18 oder, von der oben eröffneten Diskussion her gesehen, jenes Performanzprinzips, das auch die Ringparabel zu inaugurieren scheint. So perspektiven- wie einsichtsreich Vogls Buch ist – vom Nathan her ist eine grundsätzliche Frage an die dort rekonstruierte Genese ‚moderner‘ Performanzmodelle zu stellen: Was sicherte oder plausibilisierte wenigstens die in sie gesetzte Erwartung, daß aus den unüberschaubar komplexen und gegenläufigen Einzelkräften und -interessen ein (selbst)reguliertes Ganzes hervorgehe und eine „Selbstoptimierung“19 sich ergebe? Es stellt sich mithin eine zentrale Frage des Übergangs von der vormodernen ‚Ordnungsgesellschaft‘ zum „autopoietischen Sozialkörper“ der Moderne: die Frage nach den Annahmen über die (Selbst-)Steuerung der Gesellschaft, zugespitzt nach der Motivation der Annahme, daß sie sinnvoll gesteuert sei, nämlich sich selbst optimiere.20 In der Ringparabel wird die Annahme einer ‚Selbstoptimierung‘ durch die Prämisse gestützt, daß alle drei Söhne ihre Ringe vom Vater erhalten haben und dessen voller Liebe gewiß sein können (vgl. III,7, 515–524). Der Richter empfiehlt, diese Prämisse weiterhin vorauszusetzen, und Lessings Drama approbiert diesen Providenzglauben, indem es vorführt, daß es für Nathan tatsächlich stets die „innigste Ergebenheit in Gott“ – den Vater – war, die ihn rettete (nämlich aus seiner Verzweiflung nach der Ermordung seiner gesamten Familie; vgl. IV,7, 674–688).21 Die Entscheidung über den rechten Ring der Praxis und der Geschichte zu überlassen gründet demnach in einem (nicht mehr spezifisch christlichen) Vertrauen in die Fürsorge Gottes. Und der Verzicht auf ausschließliche Wahrheitsansprüche für eine Religion („der echte Ring / Vermutlich ging verloren“, III,7, 509f.) hebt dieses Vertrauen nicht 18 Vgl. ebd., S. 246–255, das Zitat S. 255. 19 Ebd., S. 255. 20 Steuerungsmodelle vor allem der Literatur um 1800, aber auch anderer Diskurse stellt
jetzt der Band Kontingenz und Steuerung vor; zur historischen und gesellschaftsstrukturellen Problemlage vgl. die Einleitung von Torsten Hahn und Nicolas Pethes (S. 7–12, das Zitat S. 11). 21 Ausführlich hat Ingrid Strohschneider-Kohrs dies dargelegt: Vernunft als Weisheit, S. 70–90. Welchem Vorsehungsglauben – einem theistischen, einem spinozistischen oder einem deistisch-rationalistischen – dieser Providenzgedanke am nächsten steht, kann hier übergangen werden; als Überblick vgl. Hendrik Birus: Das Rätsel der Namen in Lessings ‚Nathan der Weise‘. – In: Lessings ‚Nathan der Weise‘, S. 290– 327, hier S. 317–324. Daß der „handelsbürgerliche Pragmatismus“, den die Ringparabel propagiert, auf religiöse Voraussetzungen baut, betont in anderer Weise – „daß Gott ein gerechter Händler sei“ – auch Wucherpfennig: Nathan, der weise Händler, S. 60f. Bernhard Greiner schreibt dagegen: „Die Erzählung führt nur einen Bürgen an, sich selbst: die ‚gut erzählte‘ Geschichte“ („Ob Ihr mir Wahrheit gabt? O scharfgeprägte“, S. 64) – was bezogen auf die parabelinterne Beglaubigung ihrer Lehre korrekt ist, jedoch den dramatischen Kontext und dessen Approbationsfunktion übergeht.
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auf, sondern universalisiert es („Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / Zu legen!“). Ob eine derartige Providenzprämisse mit ihrer Koppelung von „Zuversicht“ (III,7, 401) und ‚Vorsicht‘22 auch das Performanzvertrauen der vom Anspruch her selbstregulativen Ökonomie eines Adam Smith grundierte, wird zu erörtern sein – ebenso wie die Frage, ob gattungsspezifische Strukturen des Dramas dabei Übertragungshilfe geleistet haben könnten, bildet das Drama im 18. Jahrhundert doch ein Speichermedium für Providenzannahmen.23 Was damit aber prinzipiell zur Debatte steht, ist die Stellung literarischer Texte zu anderen Diskursen und Praktiken, hier insbesondere ökonomischen. Statt literarische Texte vor allem in ihren Reaktionen auf jene ‚Umwelten‘ zu beschreiben, sieht die vorliegende Studie, ähnlich wie Vogl, sie immer auch als Modellierungen, und zwar von ihre Sphäre übergreifender Relevanz. Der ökonomische Spieß, mit dem die eingangs zitierten Forscher den Nathan angehen, wäre zumindest probeweise einmal umzudrehen. Den Rat des Richters als Ausfluß eines „‚marktwirtschaftlichen‘ Verhaltenshabitus“ (Bornscheuer) zu verstehen wird der Ringparabel schon deshalb nicht ganz gerecht, weil der empfohlene Wettbewerb einer des Altruismus und keineswegs der egoistischen Interessen ist. Die Aktivität des einzelnen wird für unabdingbar erklärt, zugleich aber durch moralische und religiöse Normen reguliert.24 Nimmt man den „Wohltun“-Imperativ mit dem in Aussicht gestellten Lohn zusammen, daß der Ring seine „Kraft, vor Gott / und Menschen angenehm zu machen,“ (399f.) erweist – was man mit Blick auf die Nathan-Figur auch als geschäftlichen Erfolg verstehen darf25 –, so zeigt sich die Ethik der Ringparabel als traditionell christlich geprägt. Denn wie noch darzulegen sein wird, zielte die christliche Geldethik keineswegs nur auf Besitzverzicht; als bei aller Gabebereitschaft erfolgreicher Kaufmann hätte Nathan vielmehr auch in einer Komödie des Jesuiten Jacob Masen (1606– 1681) auftreten können.26 22 ‚Vorsicht‘ hier als ältere, im 18. Jahrhundert noch übliche Wortform von ‚Vorsehung‘,
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bei Lessing vgl. Minna von Barnhelm I,6 – Werke Bd. 1, S. 614; Nathan der Weise IV,7, 699 – Werke Bd. 2, S. 317. Vgl. Memmolo: Strategen der Subjektivität, S. 125–128. Die eingangs zitierte Passage der Ringerzählung enthält drei Aufrufe, jeweils durch Ausrufezeichen abgeschlossen. Der erste (Vv. 525f.) und dritte Aufruf (Vv. 529–532) halten ausdrücklich zur Tugendaktivität an. Der zweite – „es strebe von euch jeder um die Wette“ – verzichtet auf diese Spezifizierung. Darin eine Freisetzung von Moralbindungen zu sehen schiene mir angesichts jener Einhegung jedoch wenig plausibel. Explizit zusammengerückt werden Nathans Toleranz und sein Geschäftserfolg von Sittah, vgl. II,3, 329–338. Vgl. Kap. 3.2 Als Jude dagegen wäre er dort nicht toleriert worden. Die „Zuversicht gegen Gott“ nennt Masen in seinem Aurum sapientium (lat. 1661, dt. 1666), einer
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Erneut ist damit eine prinzipielle methodische Entscheidung berührt, nämlich ob man allein das Innovative und Zukunftsweisende eines Gedankens herausstellt – in der Lehre der Ringparabel: das Performanzprinzip – oder ob man auch an dessen Herkunft interessiert ist. Dabei geht es zum einen darum, undifferenzierte Modernitätszuschreibungen zu vermeiden – in unserem Beispiel: indem der ethische Altruismus des Nathan nicht übersehen wird. Zu berücksichtigen ist zum anderen die Ermöglichungsfunktion von lange Eingeübtem – wie eben dem Providenzvertrauen christlicher Provenienz –, das der weiteren Entwicklung die gedankliche, praktische oder institutionelle Grundlage bot. Eine solche Bedingtheit des Modernen durch das Traditionelle wird in der Ringerzählung nicht zuletzt dort deutlich, wo Nathan das Problem der wahren Religion auf die Geltung des Geldes bezieht. Denn nicht mit der „neuen Münze, / Die nur der Stempel macht“ (III,6, 355f.), die also qua Vereinbarung – obrigkeitlicher Deklaration und deren allgemeiner Akzeptanz – gilt, lasse sich die Wahrheit vergleichen, sondern allenfalls mit der „Uralten Münze, die gewogen ward!“ (354) Das Abwägen von Wahrheitsansprüchen aufgrund der ethischen Leistungen derer, die sie vertreten, wird damit in Parallele zur Geltung des Geldes aufgrund seines Materialwertes, den man durch Wiegen ermitteln kann, gesetzt, nicht zu den entsubstantialisierten Geldformen, die für die ökonomische Moderne charakteristisch sind.27 Ein weiteres Paradigma, das bereits ‚alteuropäisch‘ ist, gleichwohl aber in die ‚Moderne‘ führte, stellt der strategisch planende und taktisch geschickte ‚Politicus‘ dar. Als Politicus erweist sich Nathan sowohl generell als Kaufmann wie auch, in der akuten Dramensituation, gegenüber den Bedrohungen durch Saladin und den Patriarchen, wobei er das in der ‚politischen‘ Tradition stets prekäre Verhältnis von ‚Klugheit‘ und ‚Tugend‘ bzw. Weisheit sogar in Harmonie zu bringen vermag.28 Auf die Epoche bezogen heißt das, daß die Handelslehre und Kaufmannsethik, als erstes und wichtigstes Mittel, „ohne Sünde Reichthumben zu erwerben / vnd nützlich anzuwenden“ (S. a4v u. a3r). – Nahezuliegen scheint es, in diesem Zusammenhang auf Max Webers bekannte These zu verweisen, daß die „protestantische Ethik“ entscheidend zum Wettbewerbs-„Geist des Kapitalismus“ beigetragen habe (vgl. Paul Hernadi: Nathan der Bürger. Lessings Mythos vom aufgeklärten Kaufmann. – In: Lessings ‚Nathan der Weise‘, S. 341–349, hier S. 346). Für das lutherisch geprägte Deutschland ist mit Webers These – die auf den Calvinismus zielt – aber nicht viel gewonnen (während sie für die angelsächsischen Verhältnisse durchaus manches zu erklären vermag; vgl. dazu das Kapitel zu Shakespeares Merchant of Venice). 27 Vgl. Gernalzick: Kredit und Kultur, S. 161–167. 28 Sehr deutlich ist der Bezug auf das Normenproblem und Handlungsleitbild des Politicus in folgendem, Saladins Religionsfrage und Nathans Ringerzählung vorbereitendem Dialog: „Saladin. [...] Ich habe längst gewünscht, den Mann zu kennen, / Den es [das Volk] den Weisen nennt. Nathan. Und wenn es ihn / Zum Spott so nennte? Wenn dem Volke weise / Nichts weiter wär’ als klug? und klug nur der, / Der sich auf seinen
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Aufklärung und ihre Literatur zunächst einmal als Teil der Frühen Neuzeit zu sehen sind.29 Die vorliegende Untersuchung sucht dem Rechnung zu tragen, indem sie hinter die meist nur von ‚Barockspezialisten‘ überschrittene Zeitgrenze 1700 zurückgeht und sowohl das ‚Progressive‘ davor als auch das Traditionelle danach berücksichtigt.30
1.1.2 Die Bedeutung der Form Die Hoffnung auf einen Geschäftserfolg verband sich mit dem Nathan auch für dessen Autor.31 Den bekannteren Anlaß zur Abfassung des Dramas stellt freilich der Fragmenten-Streit mit Johann Melchior Goeze dar, den Lessing abbrechen mußte, weil sein Herzog ihm die Zensurfreiheit entzog. In einem Brief an Elise Reimarus begründete Lessing sein dramatisches Vorhaben: Vorteil gut versteht? / Saladin. Auf seinen wahren Vorteil, meinst du doch? / Nathan. Dann freilich wär’ der Eigennützigste / Der Klügste. Dann wär’ freilich klug und weise / Nur eins. Saladin. Ich höre dich erweisen, was / Du widersprechen willst. – Des Menschen wahre / Vorteile, die das Volk nicht kennt, kennst du. / Hast du zu kennen wenigstens gesucht; / Hast drüber nachgedacht: das auch allein / Macht schon den Weisen.“ (III,5, 287–300). Explizit auf Nathans Geschäfte wird seine Klugkeit von Sittah bezogen (vgl. II,3, 334). Resümierend könnte man Nathan als klug in Geschäften und weise in der Anwendung der erzielten Gewinne – mit Ausnahmen wie dem wenig tugendhaften Schweigegeld für Daja (vgl. I,1, 53) – bezeichnen (vgl. auch I,3, 442f.). Näheres zur Konkurrenz von Klugheit und Tugend unten in Kap. 4.3.3. 29 Zur historiographischen Modellierung, Abgrenzung und Perspektivierung der Frühen Neuzeit – die hier als Zeit von etwa 1500 bis zur ‚Sattelzeit‘ um 1800 verstanden wird – vgl. die Einleitung von Wolfgang Reinhard zu den Frühneuzeit-Bänden des neuen Gebhardt (Probleme deutscher Geschichte 1495–1806, S. 1–107). Die Neigung zum „Finalismus“ – zum überwiegenden Interesse am Wohin –, die Reinhard registriert und kritisiert (S. 60), dürfte der historischen Rekonstruktion prinzipiell inhärent sein, da diese stets retrospektiv verfährt, also von einem späteren Zeit- und Standpunkt aus urteilt (vgl. unten S. 64). Gleichwohl warnt Reinhard zu Recht davor, „Geschichte der Frühen Neuzeit einseitig als Modernisierungsgeschichte zu betreiben“ (S. 107). Aus literaturwissenschaftlicher Sicht betont Wolfgang Harms ebenfalls, „daß sich die historischen und literarischen Veränderungen [der Frühen Neuzeit; D. F.] nicht linear auf ein geheim vorgegebenes Ziel ‚Aufklärung‘ oder ‚19. Jahrhundert‘ zubewegten“ (Zur Kulturwissenschaft auf dem Gebiet der Frühen Neuzeit und zur Identität der germanistischen Literaturwissenschaft. – In: Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung, S. 169-181, hier S. 174). 30 Die Entscheidung, 17. und 18. Jahrhundert gemeinsam zu behandeln, hat kürzlich auch Ingo Stöckmann getroffen, vgl. seine Vor der Literatur (gemeint ist: Vor der Ausdifferenzierung des modernen Literatursystems) betitelte Studie über das vormodernalteuropäische ‚Wissen‘ von der Poesie. Sowohl von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch von der Poetik her geht Stöckmann von der relativen Einheitlichkeit des Zeitraums aus. 31 Vgl. Fick: Lessing-Handbuch, S. 402.
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„ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen“.32 Auf der Bühne aber wird, auch im Nathan, nicht allein ‚gepredigt‘, sondern primär gehandelt bzw. werden, im analytischen Drama, vorangegangene Handlungen aufgedeckt. Und die Handlung bildet, verglichen mit den Aussagen der Figuren, die maßgeblichere Instanz, da sie exemplarisch die Weltstrukturen des jeweiligen Dramas vorführt.33 Dagegen sind die Figuren diesen Strukturen unterworfen und können nur mehr oder weniger treffende Meinungen dazu haben, ohne aber Macht über die strukturellen Bedingungen ihres Handelns zu besitzen. So stellt die Lehre der Ringparabel zunächst einmal nur eine (zudem bloß indirekt geäußerte) Meinung der Titelfigur dar, nicht die Aussage des Dramas. Zumal die praxisorientierte Lehre der Ringparabel erfordert es vielmehr, sie an der Handlung des Nathan als dessen Praxisbereich zu messen.34 Dabei sind zwei Komplexe von besonderem Interesse: zunächst die Kohärenzmuster der Handlung. Die (Figuren-)Konstellation, wie sie zu Anfang vorliegt, verdankt sich drei religionsüberschreitenden Rettungstaten: Nathans Annahme eines christlichen Waisenkindes, das er mit der Liebe eines Vaters aufzieht, der Freilassung des gefangenen Tempelritters durch Saladin sowie der Rettung Rechas, der inzwischen herangewachsenen Waise, durch den Tempelritter aus ihrem brennenden Hause. Die drei Retter haben damit Proben gegeben, was es heißen kann, „seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach[zueifern]“. Alle drei konnten zudem erfahren, daß die Bereitschaft, etwas zu leisten oder zu geben,35 Gegen- und weitere Gaben provoziert: Nathan gewinnt, indem er Recha annimmt, wieder ein Kind (nachdem ihm sieben Söhne ermordet wurden); Saladin gewinnt einen Neffen und indirekt eine Nichte; der Tempelherr scheint zunächst eine Braut gewonnen zu haben, die sich aber als Schwester entpuppt (was ihm, wie er gegenüber Nathan erklärt, als noch mehr gilt: „Ihr gebt / Mir mehr, als Ihr mir nehmt! unendlich mehr!“ V,8, 653f.). Der gesteigerte Gewinn, den die eine gute Tat erbringt, indem sie andere zeugt, wird dabei mehrfach in merkantile Metaphern gefaßt,36 doch weisen die Verwandtschaftsbande, deren Entdeckung 32 6. 9. 1778, Lessing: Werke Bd. 2, S. 719. 33 Zum hier angelegten Konzept von dramatischer Handlung vgl. Unger: Handeln im
Drama, S. 9–16. 34 Ausführlich dazu Strohschneider-Kohrs: Vernunft als Weisheit, S. 102–107. 35 Ob die Handlung impulsiv (wie bei Saladin und dem Tempelherrn) oder aufgrund
moralischer Prinzipien erfolgte, spielt keine Rolle. 36 So heißt es über den Tempelritter, daß er, von Saladin am Leben gelassen, „seinen
unvermuteten Gewinst / Frisch wieder wagte“ (I,1, 90f.). Ebenfalls auf Rechas Rettung spielt an: „Tempelherr. [...] Das Leben, das / Ich leb’, ist sein Geschenk. Nathan. Durch das er mir / Ein doppelt, dreifach Leben schenkte“ (II,7, 560–562). Wie es sich für einen Kaufmann gehört, reklamiert Nathan hier den größten Gewinn für sich. Aber
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letztlich den allgemeinen Gewinn ausmacht, zugleich darauf, daß es sich nicht um materielle „Vorteile“ handelt.37 Die Produktivität des „Wohltuns“ derartig familiär zu codieren heißt ebenso aber, die Dynamik der propagierten wie gelebten Gabe-Ethik38 zurückzunehmen, denn es wird keine neue Bindung geschaffen, vielmehr unterbindet die Entdeckung der Geschwisterschaft Rechas und des Tempelherrn die Hervorbringung von Neuem. So sehr Nathan die Notwendigkeit menschlicher Aktivität und Mitwirkung an der göttlichen Schöpfung betont:39 was herauskommt (im doppelten Sinne von Ergebnis und Aufdeckung), ist letztlich ‚nur‘ das, was von Beginn an – des Stücks und, in exemplarischer Hinsicht, der Welt, also vermöge der Vorsehung – festliegt.40 Nathan der Weise betreibt damit eine dreifache Engführung, die als typisch für das spätere 18. Jahrhundert – im Drama wie überhaupt hinsichtlich von Geschehenserwartungen – gelten kann und uns weiterhin beschäftigen wird: Am offensichtlichsten ist die Verengung des dramatisch exponierten Handlungsbereichs ins Familiäre, das aber als Muster gesellschaftlicher Beziehungen ausgegeben wird. Weltbildlich von noch größerer Tragweite dürfte sodann die Verkürzung des zeitlichen und existentiellen Abstandes zwischen guter Tat und religiös verheißenem Lohn sein, will sagen die Verlegung dieses Lohns vom Jenseits ins Diesseits (vgl. I,2, 358f.: „Gott lohnt Gutes, hier / Getan, auch hier noch“).41 Denn diese Reduktion der Transzendenz auf eine Begründungsfunktion (bei Verzicht auf ihre traditionelle Funktion, durch Eröffnung einer anderen Welt die Unvollkommenheit der gegebenen zu kompensieren) zieht drittens nach sich, daß von der Welt allgemein verlangt wird – zunächst von der dramatisch dargestellten Welt, dann aber auch darüber hinaus –, daß Faktum und Norm zusammenfallen.
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auch Daja soll von der sich anbahnenden Verbindung Rechas mit ihrem Retter ‚profitieren‘: „Dein Gewissen selbst / Soll seine Rechnung dabei finden“, stellt Nathan ihr in Aussicht (II,8, 626f.). III,5, 291 u. ö. Nathan muß sogar eigens lernen, daß ein Familienglied kein „Eigentum“ (so noch I,1, 35) sein kann, selbst wenn es, wie Recha, durch „Tugend“ (ebd.) erworben wurde. Als Vater aus moralischem Recht hat er seinen Platz jedoch auch in der familiären Schlußkonstellation; es gibt keinen Grund, ihn aus den „allseitigen Umarmungen“, über die der Vorhang fällt, ausgeschlossen zu denken. Zum vormodernen Charakter des Gabeprinzips vgl. die Kap. 2.2.3 sowie 2.8.1 Vgl. Strohschneider-Kohrs: Vernunft als Weisheit, S. 56 u. 61, mit Bezug auf Lessings Ankündigung des Nathan: „die Welt, wie ich mir sie denke, ist eine eben so natürliche Welt, und es mag an der Vorsehung wohl nicht allein liegen [zu ergänzen ist: sondern auch an den Menschen; D. F.], daß sie nicht ebenso wirklich ist.“ (Werke Bd. 2, S. 749) Vgl. Fick: Lessing-Handbuch, S. 412–414. Die orthodoxe Gegenposition ist dem Patriarchen zugewiesen (und in dieser Zuweisung zugleich denunziert), der dem Klosterbruder in Aussicht stellt, seine Dienste würde „einst im Himmel Gott / Mit einer ganz besondern Krone lohnen.“ (I,5, 615f.)
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Eine Belohnung schon hienieden ist aber auch – und damit komme ich zum zweiten dramaturgischen Komplex – das Kennzeichen einer bestimmten dramatischen Gattung: der Komödie. Mit dem Untertitel „Ein dramatisches Gedicht“ vermeidet Lessing eine enge Gattungszuordnung, und tatsächlich setzt Nathan der Weise die Aufweichung der alteuropäischen TragödieKomödie-Dichotomie und die Ausbildung des rührend-ernsten Familienschauspiels mit ‚gutem‘ Ausgang seit Mitte des 18. Jahrhunderts voraus.42 Trotzdem macht sich die Komödientradition in einer ganzen Reihe von Zügen bemerkbar, und zwar sowohl atmosphärisch – der laufende Bezug auf Geldfragen, das Motiv der jungen Liebenden, der reiche Dialogwitz43 – als auch handlungsstrukturell mit dem Wechsel von Identitäten, mit Intrigen sowie mit der Wiedererkennung von Verwandten. Ebenso sind manche Figuren aus der Komödientradition heraus entwickelt, etwa der Patriarch, der die Rolle des lebensfeindlich versteiften Widersachers besetzt und darin dem Verlachen preisgegeben wird,44 aber auch Nathan, insofern er als Gegenentwurf zu zwei berühmten Reichen der europäischen Komödie gezeichnet ist: Als Jude korrigiert die Figur das durch Shylock geprägte Klischee vom geldgierigen, verschlagenen und unbarmherzigen jüdischen Wucherer; als ehrlicher, ja großzügiger Kaufmann und fürsorglicher ‚Vater‘ antwortet sie auf die komödiengeschichtlich gängige Zuweisung des Geldthemas an einen geizigen Alten, wie Molière ihn mit Harpagon auf die Bühne gebracht hat.45 42 Zur Zugehörigkeit des Nathan zu dieser dramengeschichtlichen Entwicklung vgl. Peter
Demetz: Lessings ‚Nathan der Weise‘. Wirklichkeiten und Wirklichkeit. – In: Lessings ‚Nathan der Weise‘, S. 168–218, hier S. 174f. Weiteres zum Verhältnis von Komödie und ‚Schauspiel‘ in Kap. 2.8.2. 43 Wie Komik vor allem in „Sprache und Dialogstruktur“ des Nathan Niederschlag gefunden bzw. sich darein „zurückgezogen“ hat – gemessen an den sinnlicheren Komikformen der traditionellen Komödie –, arbeitet Frank Schlossbauer heraus (Literatur als Gegenwelt, S. 185). 44 Vgl. seine stereotype Wiederholung des (Vor-)Urteils „Tut nichts! der Jude wird verbrannt“ in IV,2. Zum Klosterbruder und zum Derwisch Al-Hafi als Komödienfiguren vgl. Demetz: ebd., S. 176f. 45 Sowohl zum Merchant of Venice als auch zu L’Avare lassen sich darüber hinaus einzelne Motivparallelen benennen: dort der Besitzanspruch auf eine Tochter (Jessica bzw. Recha), die von einem Christen (Lorenzo bzw. dem Tempelherrn) geliebt wird, hier das Motiv des wiedergefundenen Onkels (Anselme bzw. Saladin) und der familiären Anagnorisis (zu Lessings Kenntnis des Merchant of Venice vgl. Och: Imago judaica, S. 159–162, zu Molière unten Kap. 3.3.2). Auf Shakespeares Kaufmannskomödie ist Nathan zudem insofern bezogen, als ihn exakt die guten Eigenschaften der dortigen Titelfigur Antonio auszeichnen: Großzügigkeit, Freundschafts- und Liebesfähigkeit, geschäftliche Ehrlichkeit sowie Gottvertrauen (vgl. unten Kap. 2.2.1). Eine komödische Konstellation liegt überdies vor, wo Saladin als das Haushalten verachtender Verschwender gezeichnet wird, dem in Sittah aber eine weibliche Figur zugeordnet ist, die seine Ausgaben soweit möglich kontrolliert und gar wieder einsammelt (vgl. II,1–2). Ausgearbeitet ist diese Konstellation z. B. im Verschwender,
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Was die genannten Handlungsbausteine angeht, so finden sie sich ebenso in der Tragödie, nicht jedoch in der komödiencharakteristischen Ausprägung, daß schlußendlich alles zum Guten ausschlägt. Zwar sind die Intrigen Dajas und des Tempelherrn, die Recha ihrem Pflegevater entreißen wollen, von ethisch zweifelhaften Motiven getragen, doch führen sie letztlich – indem sie den Klosterbruder zu weiteren Nachforschungen bei Nathan antreiben – zur Aufhebung aller Bedrohungen und Auflösung aller Rätsel, und zwar über das Beabsichtigte hinaus.46 Die Sicherheit des guten Ausgangs, die wir eben als Providenzvertrauen diskutiert haben, ist der Komödienform immer schon eingeschrieben, ja die Komödie sichert es noch zusätzlich, indem sie nicht nur altruistische, sondern auch eigennützige oder verwerfliche Taten zum Guten ausschlagen läßt. Welches Modell vom Weltgeschehen ein Drama gibt, hängt demnach nicht allein von ideologischen Voreinstellungen des Autors und den ihn durchkreuzenden Diskursen ab, sondern ebenso von der gewählten Gattung (wobei Form und Gehalt sich zusätzlich wechselseitig bedingen). „In den einzelnen Textsorten und Gattungen schlagen sich Wirklichkeitsperspektiven nieder, in ihnen spiegeln sich, wie gebrochen auch immer, Einstellungen gegenüber Phänomenen der Wirklichkeit der Welt“, faßt Horst Steinmetz diese ‚Bedeutung der Form‘ zusammen.47 Gattungen fungieren nicht nur als formale Regeln, „sondern auch als sehr konkrete semantische Konzentrate, als wahrnehmungs- und handlungsdirigierende Schemata“. Die Analyse der jeweiligen Gattungsform ist folglich unabdingbar, zumal wo literarischen Texten eine modellierende Bedeutung zugemessen wird. Nathan der Weise wiederum gibt ein Beispiel dafür, wie auch und gerade ökonomische Prozesse und Verhaltensnormen derartig modelliert werden, denn wenn Lessings Drama sich in irgendeiner Weise dem marktwirtschaftlichen Prinzip annähert, daß die Verfolgung eigennütziger Interessen den Motor des allgemeinen Besten bilde, dann in seiner komödischen Handlungsstruktur. Als Drama in der Tradition der Komödie illustriert Nathan der Weise schließlich noch einen letzten, geschichtlichen Aspekt der Gattung, der nacheiner Destouches-Übersetzung der Gottschedin (vgl. unten Kap. 4.3.3). Selbst aus der Ringparabel kann man eine Komödienallusion herauslesen, wo der Richter die drei Brüder „Betrogene Betrieger“ nennt (III,7, 508), war die Reflexivierung Betrogener Betrug doch ein mehrfach gebrauchter Komödientitel, u. a. Christian Weises (vgl. Kap. 3.5; zum Buch „Von den drei Betrügern“ als Quelle der Ringparabel vgl. Fick: Lessing-Handbuch, S. 404). 46 Denn nun erst erinnert sich der Klosterbruder eines alten Breviers, das nicht allein Rechas Identität bezeugt, sondern darüber hinaus den Tempelherrn als ihren Bruder ausweist; vgl. IV,7, 723–725, V,4, V,5, 311 sowie Schlossbauer: Literatur als Gegenwelt, S. 190. 47 Steinmetz: Historisch-strukturelle Rekurrenz als Gattungs-/Textsortenkriterium, S. 73. Das folgende Zitat ebd., S. 74.
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folgend zur Untersuchung ansteht: die mit Gottscheds Bühnenreform einsetzende, im ‚rührenden Lustspiel‘ gesteigerte Reduzierung ihrer Komik. Sie hob das bisherige Gattungsprinzip auf, übers Lachen eine moralische Wirkung zu erzielen, und ließ die (literarische) Komödie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entweder ins Schauspiel übergehen oder zum stereotypen Formrepertoire nachrangiger Autoren absinken. Die weitgehende Verdrängung bzw. Sublimierung des Komischen ergab sich folgerichtig aus der bereits angesprochenen Tendenz, die Dramenhandlung ein Modell der Wirklichkeit geben zu lassen, wie sie sein soll.48 Wo Fakten und Norm lebenspraktisch wie ästhetisch zusammenfallen sollten, konnte es keine komische Gegenwelt mehr geben.49 Was hingegen, dem Nathan nach zu schließen, weiterlebte, war die providenzanaloge, zukunftsgewisse Versöhnungsstruktur der Komödie. Wenn aber die Ringparabel, die solch einen providenzgestützten Harmonisierungsprozeß in Aussicht stellt, von Nathan selbst als bloßes „Märchen“ eingestuft wird (III,6, 374), markiert dann nicht auch die Komödienform, daß sie lediglich einen literarisch-unverbindlichen Versuch über die Welt inszeniert? Was zweierlei hieße: zum einen, daß das perturbierende Spiel der Komödie hier in ein ästhetisches Spiel der Literatur übergegangen ist,50 zum anderen, daß sich das Providenzvertrauen nicht nur des Nathan auf dem dünnen Eis der Fiktion bewegte. Oder trägt in der beginnenden ‚Moderne‘ gerade die ästhetische Form, was als Glaubenssatz nicht mehr formulierbar, als Glaubensinhalt – nämlich als Vertrauen in einen bestimmten Geschehensverlauf – aber keineswegs entbehrlich geworden war?51
48 Ausführlicher dazu Neuhuber: Das Lustspiel macht Ernst sowie Kap. 3.7.3. 49 Vgl. Schlossbauer: Literatur als Gegenwelt, S. 168, ebenfalls mit Bezug auf Lessing.
Zum Konzept der „komischen Gegenwelten“ vgl. Kap. 4.1.2. 50 Die Zeitgenossen verstanden den Nathan dementsprechend – also nicht nur aus
inhaltlichen Gründen – als Lesedrama, das für die Bühne ungeeignet sei. Erst die Bearbeitung durch Schiller sowie die Gewöhnung des Weimarer Publikums an einen aktionsreduzierten, reflektionsträchtigen Dramenstil machte die dortige erfolgreiche Aufführung von 1803 möglich (vgl. Wessels: Lessings „Nathan der Weise“, S. 243– 250). Allgemein zum Wandel des Komödienspiels vgl. unten Kap. 4.6.3. 51 In dieselbe Richtung argumentiert Arno Schilson, der allerdings, ausgehend von Goezes Schmähwort, Lessing habe nur eine „Theaterlogik“ zu bieten (Lessing: Werke Bd. 8, S. 170 u. ö.), das Theater im allgemeinen und nicht speziell die Komödie als aussagefähigeres Medium als das thetische Wort begreift. Zudem schaut Schilson weniger auf das Providenzproblem der Epoche als auf die im Streit mit Goeze aufgeworfene Frage nach religiöser Wahrheit: „Nur in der Logik des Theaters, nur in dichterisch-dramatischer Gestaltung läßt sich nun noch aussprechen und darstellen, was er zur Wahrheit der christlichen Religion [...] zu sagen hat.“ („...auf meiner alten Kanzel, dem Theater“, S. 8).
1.2 Geld und Komödie: Möglichkeiten ihrer theoretischen Relationierung Obwohl die typischen Strukturen einer Gattung erhebliche Auswirkungen auf die in ihren Texten entworfenen Welten, Handlungsspielräume und Normordnungen zeigen, haben sie in den vorliegenden Studien zur Korrelation von Literatur und Ökonomie oder Geld selten Beachtung gefunden.1 Als übliche Zugänge lassen sich vielmehr ein thematologischer, ein literatur- oder medientheoretischer, ein repräsentationsgeschichtlicher sowie ein funktionsgeschichtlicher unterscheiden. In thematologischer Perspektive gilt das Geld etwa als Brücke zwischen dem literarischen Durchspielen von personalen Verhaltensweisen einerseits und ökonomisch-sozialen Verhältnissen und Konventionen andererseits2 oder als Fokus, der diskursgeschichtliche Wandlungen in literarische Texte hineinspiegelt.3 Bei stärker literatur- oder medientheoretischer Ausrichtung 1 Hinsichtlich des eben anvisierten 18. Jahrhunderts ist vor allem die Studie von James
Thompson über den englischen Roman und die neu entstehende Politische Ökonomie zu nennen, die er als Komplementärdiskurse begreift. Der Roman wird dabei als ‚weibliches‘, ‚häusliches‘ und auf Erfahrung basierendes Wissen kenntlich, sofern er in thematischer Parallele zur ‚männlichen‘, ‚geschäftlichen‘ und auf abstrakte Wahrheit zielenden Ökonomie steht (vgl. Models of Value?, S. 2–4, 10). In Thomas Wegmanns Tauschverhältnissen (vgl. oben S. 6 Anm. 14) spielen Gattungsfragen keine Rolle; dabei liegt die Vermutung nahe, daß sich die Individualisierungsanstrengungen angesichts des gleichmachenden Geldes, die Wegmann verfolgt, präziser als Thema speziell des Romans fassen lassen denn als Thema der Literatur im allgemeinen (und etwa der Komödie im besonderen). Margrit Fiederer (vgl. Geld und Besitz, S. 17) zieht Poetologisches fast ausschließlich zur Abgrenzung ihres Textkorpus heran, obwohl sie neben den Bürgerlichen Trauerspielen, deren Geldmotivik ihre Untersuchung in erster Linie gewidmet ist, vergleichsweise auch Komödien und ‚Schauspiele‘ berücksichtigt. 2 Vgl. Bahr: Geld und Liebe bei Thomas Mann und Bertolt Brecht, oder – bar jeder Reflexion auf das semantisch-semiotische Potential von Geldmotiv und -metaphorik im literarischen Text – Stotz: Das Motiv des Geldes in der Prosa Gottfried Kellers. In diese Gruppe gehört auch Kim: Glückssäckel und Gesellschaft. Der Untertitel Vergleichende Untersuchungen zu Bearbeitungen des unversiegbaren Geld-Motivs ist im Sinne von ‚Motiv des unversiegbaren Geldes‘ zu lesen. 3 Vgl. Eder: „Beati possidentes“? Zur Rolle des Geldes bei der Konstituierung bürgerlicher Tugend. – In: Bürgerlichkeit im Umbruch, S. 1–51; als literarische Bezugstexte zieht Eder Tragödien der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts heran, als Kon-Texte
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interessiert es sodann als mediales Analogon der Sprache, als ‚Weltsymbol‘ im Sinne Georg Simmels oder generell als Musterfall einer nicht mehr hermeneutischen, vielmehr funktionsanalytischen Lektüre, die vorzugsweise den Paradoxien und Aporien monetärer wie literarischer Geltungsansprüche nachspürt.4 Nimmt die Frage nach der Selbstbegründung von Geld und Literatur eine historische Perspektive ein, kommt darüber hinaus eine – so die übliche These – parallele Abfolge verschiedener Repräsentationstypen in den Blick: Im Übergang einerseits vom Metall- über das Papier- zum bloßen Giralgeld, andererseits von metaphysischen Bezügen über einen empiristischen ‚Realismus‘ zum selbstbezüglichen Sprachspiel lösen sich die Wertversprechen beider Medien zunehmend von einem substantiellen Referenten.5 Auf systemtheoretischer Grundlage läßt sich die funktionale Parallele von Geld und Literatur schließlich in den Rahmen eines gesellschaftsstrukturellen Wandels stellen: So profiliert Philipp Wolf Geld und Literatur als Ersatzmedien für die in der Frühen Neuzeit zerfallende „gesellschaftliche, theologische und epistemologische Einheit“, weil beide eine neue ‚Einheit‘ kommunizieren, sei es als Referenzmedium aller wirtschaftlichen Prozesse, sei es als artifiziellsprachliche und dabei „sinn-sinnliche“ Rekonstruktion des Weltganzen.6 fungieren populärphilosophische und kameralistische Abhandlungen. Gleichermaßen auf die Narrativität ökonomischer Texte wie auf die Darstellungsfunktion der Literatur in bezug auf ökonomische Verhältnisse hebt Cedric Watts ab: Literature and Money. Financial Myth and Literary Truth (mit englischer Literatur von Chaucer bis ins 19. Jahrhundert). 4 Alle drei Hinsichten verfolgt vor allem Jochen Hörisch, vgl. die Zusammenstellung diverser Essays der neunziger Jahre in: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes; zur letztgenannten Hinsicht vgl. auch Derrida: Falschgeld, S. 128–130. Theoretisch weniger anspruchsvoll zu den literarische Korrelationen von Geld und Sprache: Wenzel: Changing Notions of Money and Language in German Literature from 1509 to 1956. 5 Dieser Ansatz ist zunächst in der französischen und angelsächsischen Forschung entwickelt worden, vgl. Vernon: Money and Fiction (Papiergeld und die ‚realistische‘ Literatur des 19. Jahrhunderts als Parallelphänomene); Goux: Les Monnayeurs du langage (Papiergeld und nicht mehr mimetische Literatur der ‚Moderne‘ als Parallelphänomene); Barry: Paper Money and English Romanticism sieht die dem Papiergeld entsprechende Hinwendung zu einem arbiträren Zeichenmodell dagegen bereits in der literarischen Romantik. Alle drei Autoren heben demnach auf eine Parallele zwischen literarischer Repräsentationskrise und der Einführung oder Durchsetzung von Papiergeld ab. Da letztere sich über einen Zeitraum von mehr als 200 Jahren hinzog (von der ersten Ausgabe von Banknoten bis zur endgültigen Aufgabe des Golddeckungsprinzips im Ersten Weltkrieg, vgl. Weimer: Geschichte des Geldes, S. 212, 216), taugt die große zeitliche Spannweite jener literarhistorischen Parallelisierungen nicht unbedingt als Einwand, doch warnt sie vor deren Überschätzung. – Als deutsche Beiträge sind zu nennen Hamacher: Faust, Geld; Pross: Falschnamenmünzer, über Jean Pauls reflexive Verschränkung von Münzprägung, Handel und Kredit einerseits sowie Autorschaft, Erzählen und Bedeutung des literarischen Zeichens andererseits, welche beide in eine Krise treibt (vgl. S. 37–47, 64–75, 109–121). 6 Wolf: Einheit, Abstraktion und literarisches Bewußtsein, S. 15, 17.
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Im Gegensatz zur sozialgeschichtlich und mehr oder weniger ‚materialistisch‘ orientierten Forschung der siebziger und frühen achtziger Jahre spielt das Bestreben, der literarischen Interpretation das (vermeintlich) feste Fundament einer historisch-ökonomischen Einbettung zu verschaffen, dagegen so gut wie keine Rolle. Der Annahme folgend, daß Geld wie Ökonomie ihrerseits „keine reale, sondern eine symbolische Ordnung“ bilden,7 werden Geld und Literatur nicht mehr als ökonomisches Konkretum und imaginäres Spiel, gar als Basis und Überbau gegenübergestellt. Eher ist eine Tendenz zur literaturwissenschaftlichen Selbstbespiegelung zu beobachten: Von prominenten Denkern seit dem 17. Jahrhundert immer wieder auf das Gelten des Wortes bzw. die Täuschungen der Sprache bezogen, interessiert das Geld nicht zuletzt wegen seiner Analogien zum paradoxen Funktionieren des eigentlichen Gegenstands – und zudem Werkzeugs – des Philologen: der Sprache.8 Es fasziniert als Wertmaßstab, der die Vergleichbarkeit dessen, was er mißt, erst schafft – und darin geschaffen wird – und somit die Theorietendenz des späten 20. Jahrhunderts bestätigt, daß alle Werte nur im unendlichen Tausch, rein funktional und relativ, nicht etwa im Bezug auf eine Substanz konstituiert werden.9 Geld als Tor zur sozioökonomischen ‚Realität‘ oder zum diskursiven Kontext, denen literarische Texte entwachsen sind; als Repräsentationsanalogon von Sprache und Literatur; als Paradigma von Geltung bzw. Simulation oder als Modell für das Verhältnis von Medium und ‚Realität‘, welch letztere immer mehr verloren gehe;10 schließlich als paradigmatisches Medium der modernen, ‚ausdifferenzierten‘ Gesellschaft – das Spektrum von Hinsichten, in denen Geld und Literatur in ein untersuchenswertes Verhältnis treten, ist sowohl zu breit wie auch zu widersprüchlich, als daß ein totalisierender Zugriff zu denken wäre. Wenig ertragreich wäre aber auch, eine Untersuchung historischer Texte auf jene Aspekte zu beschränken, unter denen Geld als 7 Lauer: Literarischer Monetarismus, S. 8. Lauers Buch diskutiert eine Reihe von
Theoretikern von Simmel bis Luhmann, die zu einer nicht reduktionistischen Theorie des Verhältnisses von Geld und Literatur beigetragen haben. 8 Vgl. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 72–95 und vor allem Derrida: Falschgeld; zum sprach- und wirtschaftstheoretischen Kontext Gernalzick: Kredit und Kultur. Als historische Rekonstruktionen des Verhältnisses von Geld- und Sprachtheorie Pape: Heiliges Wort und weltlicher Rechenpfennig, Gray: Buying into Signs sowie Achermann: Worte und Werte (über Geld- und Sprachtheorie bei Leibniz, Hamann und Adam Müller). 9 Dieser relativistische Grundgedanke bildet den philosophischen Kern bereits von Georg Simmels Philosophie des Geldes (vgl. die zugespitzte Formulierung ebd., S. 136); neuerdings aufgenommen findet er sich z. B. bei Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 13. Vgl. auch Shell: The Economy of Literature, der sowohl Geld als auch (literarische) Sprache als Medien begreift, die aus ‚Tausch‘ Werte bilden. 10 Vgl. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 82.
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Modell erscheint, das gegenwärtige Theorieprobleme durchzuspielen ermöglicht. Nicht der Totalität, aber der Spannweite der Relevanzen von Geld in der Literatur oder in bezug auf dieselbe möchte die vorliegende Studie gerecht werden: der literarischen Gestaltung konkreter, historisch bedingter Geldverhältnisse und Handlungsmuster ebenso wie den symbolischen und metaphorischen Besetzungen des Geldes und damit den von ihm aufgeworfenen Fragen nach Repräsentation und Wertbildung, nach Transzendenz und Immanenz oder nach der Kontigenz der Ungleichverteilung des Geldes und dessen gesamtgesellschaftlicher Steuerungsfunktion. Vor allem aber scheint es in der gegenwärtigen Forschungssituation geboten, die spezifische Leistung der Literatur im Gelddiskurs nicht zu vernachlässigen. Literarische Texte sollten weder als beliebiges Medium der Erörterung von Geld- oder allgemein ökonomischen Fragen11 noch als eine andere Form der Theorie betrachtet werden, weder als bloßes ‚Gefäß‘ ohne diskursive Eigengesetzlichkeit noch als Diskurs nur über den eigenen Status als Diskurs. Die Eigenförmigkeit literarischer Texte aber ist vor allem gattungsbedingt.12 Welches monetäre (und generell sozial-ökonomische) Konzept ein literarisches Werk artikuliert oder impliziert, hängt maßgeblich von den Strukturen der Gattung ab, der es sich anschließt. Denn die ‚Struktur‘, deren Analogien, Parallelen oder Divergenzen hinsichtlich von Geld und Literatur man verfolgen kann, besteht nicht allein in beider Verhältnis zu ihrem gesellschaftlichen Kontext, auf den einen medienspezifischen Blick zu richten sie ermöglichen; strukturell vergleichbar sind Geld und Literatur nicht bloß im Rahmen einer stark generalisierenden ‚Systemtheorie‘, die auf die gemeinsame Funktion, sinnhafte Kommunikation zu ermöglichen, abhebt.13 Vielfältiger und insofern interessanter sind zum einen die gewissermaßen quer dazu stehenden internen Strukturen, welche das Handlungsgeschehen literarischer Texte und damit die Interaktionsnormen und -muster derer Figuren ebenso bestimmen wie den Einsatz von Geld im ökonomischen Prozeß (vgl. das folgende Unterkapitel 1.2.1).14 Zum anderen ist es erst unter Bezug auf die 11 So die Tendenz bei Knobloch: Die Spekulation als Drahtseilakt. Vitalität und Kom-
merz im Werk Frank Wedekinds. 12 Sowohl rezeptionsästhetisch-hermeneutisch als auch systemtheoretisch begründet dies
Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, S. 30; ähnlich Willems: Form/Struktur/Gattung, S. 692–702. Daß Eigenförmigkeit durch Gattungsbezug erzeugt wird, gilt auch noch bei dessen Negation durch die Gattungsmischungen oder -verweigerungen zumal des 20. Jahrhunderts, auf die Willems als Infragestellung generischer Kategorien verweist. Weiteres dazu unten S. 55. 13 Mit Rückgriff auf den systemtheoretischen Begriff des ‚symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums‘ erläutert Lauer diese Strukturparallele (vgl. Literarischer Monetarismus, S. 192f.). 14 Die weiteste Annäherung an diesen Ansatz, zudem eine handlungstheoretische Begrün-
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spezifische Medialität einer bestimmten Gattung möglich, die Repräsentationsverfahren literarischer Texte hinreichend präzise mit jenen der Geldsphäre zu vergleichen (1.2.2). So ist es für die Beglaubigungsstrategien von Sprachkunstwerken keineswegs unerheblich, ob es sich um eine Erzählung oder um ein auf theatrale Aufführung angelegtes Drama handelt; ähnliches gilt für das Geld, das seinen Wert entweder auf das gemünzte Material (Edelmetall) oder auf eine ‚bloß‘ gedruckte Garantie (Papiergeld) stützen kann.15 Im Fall der hier gewählten Gattung, der Komödie, fällt eine besondere Affinität zur Geldsphäre bereits auf der motivisch-thematischen Ebene auf: Herkömmlich von niedriggestellten Figuren getragen und mit den ‚Lastern‘ der Menschen beschäftigt, hat sich die Komödie seit der Antike weit stärker auf die von materiellen Interessen geprägte Lebensrealität eingelassen als das tragische Drama.16 Was literarische Texte an wirtschafts- und sozialhistorischer Darstellungs- oder Kommentarleistung bieten, genügt allerdings nicht, um ‚Geld‘ und ‚Literatur‘ prinzipiell ‚gleichberechtigt‘ zu behandeln. ‚Gleichberechtigt‘ meint dabei kein Quantitätsverhältnis, sondern daß das eine Medium nicht nur in der Optik des anderen erscheint. Die nachfolgende Untersuchung beschränkt ihre historische Rekonstruktion daher nicht auf die von den Komödien vorgegebenen Perspektiven. Für den theoretischen Aufriß dieser dung findet sich bei Gerhard Gerhardi: Geld und Gesellschaft im Ancien Régime, S. 13, 39: beides, Geld und Drama, bezieht sich auf die Vergesellschaftung von Individuen durch Interaktion und stellt diese dar. Allerdings erörtert Gerhardi das Verhältnis von Geld und dramatischer Literatur im allgemeinen – obwohl er ausschließlich Komödien behandelt. Spezifika der Geldkomödie bleiben deshalb unaufgedeckt oder kommen nur beiläufig zur Sprache (vgl. S. 38, 247). Den Nutzen des Strukturbegriffs für die Gattungstheorie hat vor allem Klaus Hempfer herausgearbeitet (vgl. Gattungstheorie, S. 140). Trotz Kritik an Hempfers Annahme von „generischen Invarianten“, die „mehr oder weniger ‚universal‘“ seien (ebd., S. 223), hat die Gattungsforschung den Strukturbegriff weithin übernommen. Durch Betonung der je spezifischen Kommunikationssituationen, in der Gattungsstrukturen Erfahrungen mit Erwartungen an Literatur sowie Weltbilder und -bezüge und literarische Formen wechselseitig vermitteln, wurde er zugleich allerdings historisiert. 15 Zu leichthändig parallelisiert dagegen Hörisch die Medialität von Literatur und (Papier-)Geld; vgl. Kopf oder Zahl, S. 95: „Beide sind nicht gedeckt, beide sind scheinhaft, [...] beide simulieren (bzw. fingieren), beide sind Elemente der Gutenberggalaxis, und beide werden im Medienzeitalter zu anachronistischen Epiphänomenen“. Trotz des ‚medialen‘ Ansatzes bleiben Gattungsfragen hier unberücksichtigt, wobei der fiktionale Erzähltext unausgesprochen das Paradigma abgibt. 16 Vgl. Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 4: Die Komödie lasse sich „weit mehr als Tragödie und Schauspiel [...] in den Zusammenhang des sozialen Lebens der jeweiligen Epoche ein.“ Daß thematische Präferenzen gattungskennzeichnend sein können, macht Dieter Lamping gegen ein ausschließlich formstrukturbezogenes Gattungskonzept geltend (vgl. Probleme der neueren Gattungstheorie. – In: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, S. 9–43, hier S. 22).
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Einleitung folgt daraus, daß nicht maßgeblich ist, wie und welche Geldphänomene in den Komödien erscheinen (was in den Textanalysen durchaus eine Rolle spielt), sondern wie Geld und Komödie in ihrer Struktur, Wirkungsund Geltungsweise korreliert werden können, und zwar mit Hilfe eines theoretischen Wissens, das den Horizont der historischen Texte übersteigt.17
1.2.1 Bewegung und Stabilität: Zur Strukturhomologie von Komödienhandlung und Geldfunktion In der Komödie als dramatischer Gattung rechnen zu dieser Struktur vorzüglich Zuschnitt und typischer Verlauf der dargestellten Handlung. In einer stichwortartigen Charakteristik ließe sich konkret auf die Tendenz der Komödie zu schnellen Glückswechseln, die Umverteilung von Gütern und, am guten Schluß, auf den Ausgleich von Interessen verweisen.18 Die Komödienhandlung, so scheint es, bewirkt ähnliches wie das Geld, denn das Geld zeichnet sich im Vergleich mit anderen ‚symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien‘ durch ein besonders hohes Tempo der von ihm vermittelten Transaktionen aus, welche die Kommunikanten einerseits präzise aneinander binden, andererseits gleich wieder zu Anschlußkommunikationen, sprich neuem Geldeinsatz freigeben.19 Zumal im Vergleich mit der Tragödie fällt die strukturelle Parallele auf: Nicht allein, daß das komische Drama viel häufiger Geld zum Motiv und Gegenstand der Handlung erhebt; es ist bereits der tragische Handlungsverlauf, der auf einem amonetären Weltbild basiert: selbst Glückswechsel werden von langer Hand motiviert20 (nicht etwa durch den 17 Hier kommt die Differenzierung des Strukturbegriffs zum Tragen, die Andreas Reck-
witz kürzlich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive vorgenommen hat: die Unterscheidung zwischen ‚Regeln‘ als im Horizont der Handelnden liegenden Sozialbedingungen und kulturellen Normen sowie ‚Regelmäßigkeiten‘ als erst retrospektiv einsehbaren handlungsleitenden Strukturen (vgl. Reckwitz: Struktur, S. 70 u. 145). In diesem Sinne suchen die Schau-Spiele des Geldes sowohl historisch gewußte Normen und Bedingungen des Umgangs mit dem Geld herauszuarbeiten als auch moderne Modelle zur Beschreibung der marktgesellschaftlichen Entwicklung heranzuziehen. An die allgemeine Gattungstheorie läßt sich Reckwitz’ Unterscheidung ebenfalls anschließen: Auf der Regel-Ebene ist das jeweils zeitgenössische poetologische Wissen (Genre im Sinne Harald Frickes) anzusiedeln, auf der Ebene der Regelmäßigkeiten operiert dagegen die literaturwissenschaftliche Modellierung von Gattungen (bei Fricke: Textsorten). Zur terminologischen Differenzierung des Gattungsbegriffs vgl. Klaus W. Hempfer: Gattung – RLW 1, S. 651–655, hier S. 651. 18 Vgl. Pape: Symbol des Sozialen, S. 51. 19 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 350f. 20 Vgl. Aristoteles: De arte poetica, 1445a17f.; Rainer Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. – In: Das Komische, S. 279–333, hier S. 285–287; Karlheinz Stierle: Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie. – In:
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Zufall eines Lotteriegewinns herbeigeführt), der Held bleibt bei seinem höchsten Gut, nämlich seiner Überzeugung oder seinem Lebensprinzip, wechselt sie nicht, und statt des ausgleichenden Handels gibt es Händel. Die situativen Effekte des Geldes sind darüber hinaus in besonderem Maße geeignet, die charakteristische Wirkung der Komödie, das Lachen des Zuschauers, zu erzeugen. So bergen die raschen Wechsel, die das Geld ermöglicht, ein enormes Komikpotential. Dasselbe gilt für den Kontrast zwischen Haben und Sein, den das Geld wie nichts anderes zu verdeutlichen vermag, nämlich indem sein Verlust das Sein durch Abzug des Habens auf die Probe stellt. Ausgangs- und Leitthese unserer Untersuchung sei daher eine Strukturhomologie von Geldfunktion und Komödienhandlung (die auch die komische Wirkung betrifft). Die Frage nach dem Verhältnis von Geld und Literatur im allgemeinen scheint demgegenüber zu pauschal gestellt, die nach dem Geld im Einzelwerk zu kurz zu greifen. Zusammenfassen lassen sich die bisher genannten Strukturmerkmale einerseits der Komödie, andererseits des Geldwesens unter dem Prinzip Bewegung. Komplementär tritt in beiden Sphären ein Stabilisierungsmoment hinzu. Was das Geld angeht, kontrastiert Georg Simmel seine Bewegung im konkreten Gebrauch mit seiner Stabilisierungsfunktion für das gesamte Wirtschaftsleben, die freilich auf seiner infinitiven Bewegung beruhe: Während es als greifbare Einzelheit das flüchtigste Ding der äußerlich-praktischen Welt ist, ist es seinem Inhalte nach das beständigste, es steht als der Indifferenzund Ausgleichspunkt zwischen all ihren sonstigen Inhalten, sein ideeller Sinn ist, wie der des Gesetzes [das sich aber nicht in concreto bewegt], allen Dingen ihr Maß zu geben, ohne sich selbst an ihnen zu messen, ein Sinn, dessen totale Realisierung freilich erst in einer unendlichen Entwicklung gelänge.21
Auch auf der Seite des konkreten Gebrauchs befindet sich Geld nicht durchweg in Bewegung; neben seiner Tauschmittelfunktion steht vielmehr seine Wertaufbewahrungsfunktion.22 Zumindest in Epochen ohne die modernen Möglichkeiten der Kapitalisierung durch Aktienemission oder Kreditnahme im großen Stil gilt zudem: Ohne die Ansammlung und Speicherung von wirtschaftlicher Verfügungsmacht im Gelde wäre ökonomische Expansion – die Investitionen erfordert – nicht möglich.23 ebd., S. 237–268, hier S. 261. Zur pragmatischen Antithetik von Komödie und Tragödie vgl. auch Verf.: Über episches und dramatisches Vergessen. Amnestische Motive und Strukturen nicht nur literarischer Gattungen zwischen spätem 17. und frühem 20. Jahrhundert, S. 200–206. Als Parodie der Tragödie wird die Komödie bei Roche: Tragedy and Comedy, S. 154–156 beschrieben. 21 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 714. 22 Vgl. Jarchow: Theorie und Politik des Geldes I, S. 15–17. 23 Vgl. Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital, S. 160 über die Akkumulation des Handelskapitals als Voraussetzung der Industrialisierung.
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Als Charakteristika der Komödie hat man ebenfalls Bewegung und Stabilisierung herausgestellt: Vom Wechselspiel der Prinzipien „riot“ und „deadlock“ sieht Zvi Jagendorf sowohl die Lustspielhandlung als auch deren Auflösung geprägt. Dabei bestimmt sie ‚deadlock‘ als „the principle in the play that plots against all movement and change“, als „the denial of fulfillment, usually to the natural and legitimate desires of central characters such as young lovers“, ‚riot‘ hingegen als „the wild violent, amoral, and anarchic core out of which much comic action grows“.24 In seinem strukturalistischen Gattungsmodell nimmt Rainer Warning dieselbe Dichotomie auf und bezieht sie auf das Zusammenspiel von syntagmatischer Bewegung der ‚anderweitigen Handlung‘ und ihrer ‚paradigmatischen‘ Stillstellung in komischen Momenten, die sich durch Wiederholung bzw. Redundanz auszeichnen.25 Was die Bewegung angeht, darf man zudem die charakteristische Wirkung der Gattung darunter verbuchen: Als „einen Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“ erklärt Kant das Lachen.26 Das ‚Überraschungsprinzip‘ bildet zugleich eine „zentrale Bauform“ der Komödie, denn es liegt nicht nur dem plötzlichen Eintreffen des Komischen, der Witzpointe und der Schlagfertigkeit zugrunde, sondern bestimmt auch [...] den Handlungsgang in umfassenderem Sinn. Häufig läßt die Komödie gerade das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung eintreten, was sich unter Vervielfachung zu einem ganzen ‚Schneeballsystem‘ unerwünschter Ereignisse ausweiten kann.27
Als Stabilisierung sowohl in dramaturgischem als auch in einem sozialen und ethischen Sinne macht sich hingegen der typische Komödienschluß mit einer oder mehreren Heirat(en) geltend.28 Formal kommt die Bewegung der Komik
24 Jagendorf: The Happy End of Comedy, S. 19f., vgl. S. 24, 30. 25 Vgl. Rainer Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. – In: Das Ko-
mische, S. 279–333, hier S. 283–297. 26 Kant: Kritik der Urteilskraft § 54 – Werke Bd. 5, S. 437. 27 Trautwein: Komödientheorien, S. 107. Trautweins Begriff der Überraschung ist inso-
fern mißverständlich, als häufig etwas belacht wird, dessen ‚plötzliches‘ Eintreten durchaus erwartet wurde (vgl. Kants Erklärung des Lachens). 28 Der matrimoniale Schluß bildet kein notwendiges Handlungselement, wohl aber ein typisches Strukturelement der Komödie; vgl. Peter von Matt: Das letzte Lachen. Zur finalen Szene in der Komödie. – In: Theorie der Komödie, S. 127–140, hier S. 134: „Was nun die Komödie betrifft, ist das historisch dominante Schlußritual bis ins 20. Jahrhundert hinein der Segen des Vaters über das nach vielen Turbulenzen vereinigte Paar. Vater meint hier den leiblichen Vater oder den König oder beides zugleich oder eine wie auch immer analoge Figur. [...] Beide, das Paar und der Segen, sind symbolische Zeremonien der Weltversöhnung. [...] Alle Komödie läuft auf Rituale der Weltversöhnung hinaus, und wo Weltversöhnung nicht möglich ist, muß auch diese Unmöglichkeit ritualisiert werden.“
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wie der Handlung hier zur Ruhe.29 ‚Inhaltlich‘ setzt sich in ihnen zwar die Jugend durch, doch findet sie ihre Erfüllung in einer von den Vätern übernommenen Ordnung. Dem gattungstypischen Zusammenspiel von Bewegung und Stillstellung entsprechend, ist die Ordnung, die der Komödienschluß stiftet, jedoch weniger endgültig als die Katastrophe der Tragödie: So wie die Hochzeit auf die Ehe, jeder Geldeinsatz auf den nächsten (nämlich durch den Entlohnten) verweist, so verkündet das komische Spiel nach Heinz Kindermann stets „mit dem milden oder dem sarkastischen Lächeln des Unabwendbaren: Fortsetzung folgt!“30 Daß die Handlung zu einem guten Ende komme, wird in der Komik des Vorangegangenen sogar von vornherein verheißen. Denn das Komische verweist implizit auf die „Gattungskonvention, daß die Konflikte letztendlich doch harmloser Art bleiben werden, was im Lachen vorab zum Ausdruck kommt und im glücklichen Ende eingelöst wird.“31 Wolfgang Trautwein bezeichnet diesen gattungsspezifischen Zusammenhang von affektiver Wirkung und Handlungsverlauf als „Komödienzirkel“. In die hier herangezogenen Begriffe gefaßt, läßt sich diese Verweisstruktur auch als Koinzidenz von Bewegung und Stabilität charakterisieren, denn die ‚bewegte‘ Handlung führt nicht fort, sondern erreicht ein bereits feststehendes Ziel. Der Begriff Strukturhomologie ist in der sozialgeschichtlichen ebenso wie in der medientheoretischen Literaturwissenschaft nicht neu, erfordert gerade deswegen aber eine klärende Bemerkung. ‚Homologie‘ bezeichnet die Parallelität von Relationen, meint also nicht nur eine punktuelle Vergleichbarkeit.32 Im Fall der Komödie geht es um ein Ensemble von Gattungseigentümlichkeiten, die eine Bewegung erzeugen, die mit jener vergleichbar ist, die dem Geld zugeschrieben wird. Homologie liegt hier vor, insofern Komödienform und Geld äquivalente Relationen herstellen. Eine sachlich, z. B. ethisch begründete und von Autor und ursprünglichen Rezipienten einsehbare Ähnlichkeit beispielsweise zwischen den Versöhnungen des Komödienschlusses und der Verbindlichkeit eines Kaufvertrags ist dabei prinzipiell nicht erforderlich (es handelt sich also um Strukturen des Typs ‚Regelmäßigkeiten‘). Entscheidend ist vielmehr, daß das, was als homolog anzusehen ist, die spezifische Struktur sowohl der Komödie als auch des Geldwesens konstituiert.33 29 Vgl. Jagendorf: The Happy End of Comedy, S. 42. 30 Heinz Kindermann: Grundformen des komischen Theaters. – In: Wesen und Formen
des Komischen, S. 93–126, hier S. 99. Vgl. Aikin: Happily Ever After, S. 62 über die komödienschlußtypische Hochzeit: „its province lies at the very heart of the comic world view, for marriage is a universal symbol of union of opposites and of resolution, as well as of the onset of a new life and the preparation for a new generation.“ 31 Vgl. Trautwein: Komödientheorien und Komödie, S. 105. Das folgende Zitat ebd. 32 Vgl. Titzmann: Homologie – RLW 2, S. 88f. 33 Über die Anwendung des Homologie-Begriffs bei Lucien Goldmann geht die hier entworfene in einem entscheidenden Punkt hinaus, denn Goldmann parallelisiert bloß,
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1.2.2 Repräsentation und Performanz: Tausch und Täuschung als Konstituenten des Geldwesens wie der Komödie Wie stichwortartig bereits genannt, steht der Repräsentationsstatus der Komödie – einschließlich typischer in ihr dargestellter Handlungen – ebenfalls in einer auffälligen Homologiebeziehung zum Geldwesen.34 Um mit der anschaulichen Erscheinungsform dieser Homologie zu beginnen: Wie der möglichst effektive Gelderwerb sich in kalkuliertem bis listigem Handeln vollzieht (das beginnt beim Feilschen auf dem Markt und reicht bis zur Börsenspekulation), so werden Handlungsstruktur wie komische Wirkung der Komödie wesentlich von scheinhaften und täuschenden Aktionen – Verkleidung, List, Intrige – getragen.35 Darüber hinaus tritt die Komödie insgesamt als scheinhaftes Spiel auf, so wie auch dem Geld und den durchs Geld vermittelten Gütern häufig Scheinhaftigkeit attestiert wird, teils unter religiösem oder moralischen Blickwinkel als Vorwurf, teils in positiver, simulationstheoretischer Wertung wie neuerdings bei Baudrillard.36 Während die Gattungsskizze des ersten Unterkapitels als idealtypisches Modell angelegt ist, das auf historische Differenzierung verzichtet, läßt sich die Homologie von Geldwesen und Komödie hinsichtlich beider ‚täuschender‘ Repräsentation treffender in ihren historischen Konkretionen beschreiben, denn es handelt sich um Strukturen vom Typ ‚Regeln‘,37 also auf der Ebene der Normen oder des sozialen Wissens der Handelnden. In moralisch abwertender Perspektive bezieht Tomaso Garzonis späthumanistische Berufsenzyklopädie Piazza vniversale38 Geldsphäre und Komödie aufeinander, ein Werk, das schon im Titel „Schauwplatz“ (Luthers Übersetzung für ‚Thea-
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was er letztlich ohnehin in ein Abbildverhältnis stellt: zum einen (nämlich in seinem Buch über die Tragödien Racines, die Pensées Pascals und den Amtsadel zur Zeit Ludwigs XIV.) „die Strukturen der imaginären Welt des Werkes mit den Denkstrukturen bestimmter sozialer Gruppen“, zum anderen (in der Soziologie des modernen Romans) den Status von „authentischen Werten“ einerseits in der warentauschenden Gesellschaft, andererseits in den Romanen dieser Gesellschaft (Goldmann: Soziologie des modernen Romans, S. 240 [die zitierte Stelle ist mit Rückblick auf die einige Jahre zuvor erschienene Studie Le Dieu caché formuliert], 27; ders.: Der verborgene Gott, S. 9). Die Strukturen des literarischen Textes kommen hier nur sekundär in den Blick. Repräsentation meint hier die Dualität zwischen einem offenbaren Phänomen (gewissermaßen dem Signifikanten) und dem Sachverhalt (Signifikat), auf den jenes Phänomen für den aufmerksamen Beobachter verweist. Vgl. Martini: Lustspiele – und das Lustspiel, S. 21. Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 41–43. Vgl. Reckwitz: Struktur, S. 122 u. 129. Piazza vniversale, das ist: Allgemeiner Schauwplatz / oder Marckt / vnd Zusammenkunfft aller Professionen / Künsten / Geschäfften / Händlen vnd Handtwercken (1619; it. 1585).
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ter‘39) und „Marckt“ zusammenrückt. Geschäftliches Kalkül gilt dort als unerlaubte List. Unter moralischen Vorbehalt ist nicht allein das unbegrenzte Geldstreben gestellt, sondern jeder Geldverkehr, der nicht nur der Befriedigung ‚natürlicher‘ Bedürfnisse dient. Das Mißtrauen gegen den Markt als ‚Schauplatz‘ des Geldes geht so weit, daß die Preisermittlung über Angebot und Nachfrage nicht im Kapitel über die „Kauffleuthe“, sondern im Kapitel über den Spekulanten zur Sprache kommt. Wer aber Waren planvoll billig einkauft, um sie bei erhöhter Nachfrage teuer zu verkaufen, gilt als „Gauckeler“, sein Handel als „Liegen / betriegen“.40 Diejenigen, die ‚schlechte‘ Ware teuer verkaufen, brauchen Schauspielertalent, um „jre Wahren / vnd auch die Leute dermassen [zu] bezaubern / daß jnen [den Leuten] alles / was sie [solche Händler] haben vnd anschlagen / gemeinlich / ob es schon alt vnnd verlegen / mehr gilt / als wann es frisch / new / vnnd bey rechtschaffenen Kauffleuten gekaufft were.“ Das schauspielerische Prinzip, etwas – sich – für etwas anderes auszugeben, liegt dem Handel generell zugrunde. Orientiert sich der Kaufmann an der maximalen Zahlungsbereitschaft seines Kunden, so wird der vorausgesetzte ‚innere Wert‘ der Ware verdeckt, ‚verkleidet‘ oder, in Garzonis Worten, ‚vermummt‘: DEr erste Mummer / vnd die erste Mummerey / so jemals in der Welt gewesen / ist ohne allen zweiffel der leidige Teuffel / so vnter der Verkleidung vnd gestallt der listigen vnnd boßhafftigen Schlangen / vnsere erste Mutter dahin gebracht vnnd verführet [...] Derselbige gehet auch noch vmmher verkleidet wie ein Engel deß Liechts / vnd versucht / als ein Lügner vnd Mörder von anfang / wie er die Menschen mög betriegen / vnd jhnen seinen todten Kram / allerhand Lügen / Schand / Sünd vnd Laster / vnter dem Schein der Warheit / Gerechtigkeit / Glücks vnd Wolfahrt möge auffsattelen. [...] Derselbe hat sich auch in alle Handthierungen / Kauffmanschafften vnd Handwercken eyngemengt / vnd gezeigt / wie man alles auffs zierlichste soll verfälschen. Daher dann auch dieses entstanden / das sie alle mit einander mit Betrug vnnd List erfüllet / vnnd keine Trew / Glauben oder Auffrichtigkeit mehr bey denselben zu finden ist.41
Komödiantisch ist hier zunächst das Verfahren: eine Täuschung mit Hilfe von Verkleidung und List. Die Klage über „Sünd und Laster“ verweist darüber hinaus auf den Stoffkatalog der Komödie; sie findet sich bis ins 18. Jahrhundert in Angriffen gegen deren sittenverderbende Wirkung, die sich unter dem 39 Vgl. Kirchner: Der Theaterbegriff des Barocks, S. 132 Anm. 7. 40 Garzoni: Piazza vniversale, S. 663: Der Hundert acht vnd dreyssigste Discurs / Von
Vor vnd Vnterkauffern (das folgende Zitat ebd.); vgl. ebd., S. 419–426: Der Vier und sechtzigste Discurs. Von Kauffleuthen / Banckirern / Wucherern / Verkauffern / vnd Krämern. 41 Ebd., S. 495f.: Der Drey vnd achtzigste Discurs / Von Mummen vnd Vermummungen.
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Schein des lustigen Spiels verberge.42 Die Annahme, daß Betrug und Schauspielerei konvergieren, ist in der Theaterdiskussion ebenfalls geläufig: Noch Schiller verteidigt die dramatische Illusion gegen den Verdacht, bloß ein „armseliger Gauklerbetrug“ zu sein.43 Nun gehört zur ‚Verkleidung‘, die Garzoni angreift, nur in den seltensten Fällen ein wirkliches Kleidungsstück. Das komödiantische Kostüm ist vielmehr Metapher für ein ontologisches Problem: das Verhältnis von wahrem, ‚innerem‘ Wert und äußerer Erscheinung, die jenen nicht täuschend verdekken dürfe. Damit ist die Repräsentativität des Geldwesens prinzipiell problematisiert: Garzoni weist darauf, daß Bezahlung und Gegenwert sich häufig nicht entsprechen, beklagt also ein Mißverhältnis zwischen Repräsentant und Repräsentiertem. Anzuschließen ist die Frage, wie das Verhältnis zwischen Repräsentant und Repräsentiertem überhaupt zu messen sei: Wie läßt sich der Wert einer Geldeinheit festsetzen, und wie wird er garantiert? Von grundlegender Relevanz ist die Konstitution des Geldwerts sowohl praktisch als auch theoretisch: praktisch, weil Inflationen katastrophale Folgen für die Kaufkraft und damit Subsistenzfähigkeit der Marktteilnehmer haben, theoretisch, weil sie sich ‚nur‘ aus der Relation von Angebot und Nachfrage ergibt und damit auf die Relativität aller ökonomischen Werte einschließlich des Geldes weist. Weitergedacht ist die repräsentationstheoretische Relevanz des Geldes drei Jahrhunderte später bei Georg Simmel. Im Handel sieht Simmel nicht das Vehikel der Entwertung aller wahren Werte, sondern das Paradigma jeglicher Wertbildung. Für den ökonomischen Bereich ist das um 1900 nicht mehr brisant; Simmel geht jedoch entschieden weiter: Anders als die topischen Dichotomien von Geld und Liebe, Geld und Geist oder Geld und Gott vermuten lassen, bilde die Wirtschaft lediglich „einen Spezialfall der allgemeinen Lebensform des Tausches, der Hingabe gegen einen Gewinn“.44 Selbst die auf Wahrheit zielende Erkenntnis sei davon betroffen:45 Was uns wahr scheint, sei das Ergebnis von (intellektuellem) Tausch und Handel, seiner Konstituierung nach also eine Art Ware. Deutlichstes „Symbol“ für die Kon42 Zum Vorwurf gegen die Komödie, in ihren ‚sündlichen‘ Verkleidungen und ihrer Pu-
blikumstäuschung trete eine „greuliche List des Satans“ zutage, vgl. den publizistischen Streit zwischen einem Geistlichen und Catharina Elisabeth Velten, der Prinzipalin einer Wandertruppe (ediert in Niessen: Frau Magister Velten verteidigt die Schaubühne; das Zitat aus: Johann Joseph Winckler: Des Heil. Vaters Chrisostomi Zeugnis der Warheit wieder die Schau-Spiele oder Comödien. 1701, S. B2r; s. a. die Verteidigung des „Kleider-Wechsels“ [= Bühnenkostüms] in der Antwort von C. E. Velthem: Zeugnis der Warheit Vor Die Schau-Spiele oder Comödien. 1701, n. pag.). 43 Friedrich Schiller: Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie – NA 10, S. 7–16, hier S. 10. 44 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 67. 45 Vgl. ebd., S. 95–106.
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stituierung und das Funktionieren auch der „letzten Werte und Bedeutsamkeiten alles Menschlichen“ im Tausch aber sei das Geld: Dies ist die philosophische Bedeutung des Geldes: daß es innerhalb der praktischen Welt die entschiedenste Sichtbarkeit, die deutlichste Wirklichkeit der Formel des allgemeinen Seins ist, nach der die Dinge ihren Sinn aneinander finden und die Gegenseitigkeit der Verhältnisse, in denen sie schweben, ihr Sein und Sosein ausmacht.46
In der von Simmel formulierten Sicht der ‚Moderne‘ repräsentiert das Geld nicht einen ‚wahren‘ Wert, der ihm voranginge, sondern verweist auf die Gesamtheit aller Werte, deren Wert sich aber erst aus ihrer geldvermittelten Relation bestimmt.47 Repräsentation im Sinne von Stellvertreterschaft für etwas anderes, das selbständig oder gar ursprünglich wäre, wird hier nicht (mehr) erwartet. Zwar greift auch Simmel die Verkleidungsmetapher auf. Doch indiziert sie keinen Betrug, verweist nicht auf etwas ‚Eigentliches‘, das sträflich verhüllt werde. Selbst den gegenstandstypischen Dualismus von Hülle und Verhülltem löst Simmels paradoxe Formulierung auf: „als sichtbarer Gegenstand ist es [das Geld] der Körper, mit dem der von den wertvollen Gegenständen abstrahierte wirtschaftliche Wert sich bekleidet hat“.48 Wenn Kleid und Körper aber zusammenfallen, kann jenes nicht täuschen und ist Repräsentation als Performanz zu begreifen, als Erzeugung nämlich des Repräsentierten erst im Repräsentationsakt. Fragt man auch hier nach einer literarischen Parallelerscheinung, so bietet sich die Autonomie der literarischen Fiktion an, die ihre Legitimität im Verlauf der Neuzeit zunehmend von Fremdreferenzen unabhängig machte.49 Den historischen Wandel auch in diesem Punkt einmal beiseite gelassen, kann man sodann über die Komödie sagen, daß sie diese prinzipielle Performativität der Literatur potenziert, zum einen indem sie wie jedes Drama Handlungen in46 Ebd., S. 12, 136. 47 „Als der abstrakte Vermögenswert“ drückt es zum einen nichts anderes aus „als die
Relativität der Dinge, die eben den Wert ausmacht“; als Wertmesser für diese oder jene konkrete Ware, Dienstleistung usw. erscheint es zum anderen „als der ruhende Pol“, der „den ewigen Bewegungen, Schwankungen, Ausgleichungen derselben gegenübersteht“ (ebd., S. 124f.). Tatsächlich liegt aber auch der Wert des Geldes nicht fest: Geldwert und Warenwert bestimmen sich vielmehr gegenseitig; zudem schwankt das Wertverhältnis zwischen verschiedenen Formen des Geldes (Bargeld, Wertpapiere usw.) oder Währungen. „Das Geld gehört also zu denjenigen normierenden Vorstellungen, die sich selbst unter die Norm beugen, die sie selbst sind“, zieht Simmel daraus einen Schluß (S. 126), der keinen transzendenten Fixpunkt – jedenfalls keinen erkennbaren (vgl. S. 96) – mehr zuläßt. 48 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 122. 49 Vgl. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 20. Zur Anwendung des Performanzbegriffs auf die solche Repräsentationen von ‚Wirklichkeit‘, die diese erst konstituieren, vgl. Maassen: Text und/als/in der Performanz, S. 290.
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szeniert und den Schauspieler die Figur erst erschaffen läßt, die er darstellt,50 zum anderen indem sie sich für den Zuschauer durchschaubare Performanzen – Intrigen, Verkleidungen – als typische Bauformen aneignet.51 „Das Spielim-Spiel gehört bei der Komödie zu den gattungskonstitutiven Komponenten“, und wo es nicht manifest auftritt, müßte sich, so Ralf Simon, die Handlung ohne Plotänderung „umschreiben lassen“.52 Insofern sieht der Zuschauer auf der Lustspielbühne dasselbe Performanzprinzip walten, das teils kritisch, teils affirmativ dem Markt bzw. Geldwesen zugeschrieben wird. Eine Dramentheorie, die dieses Repräsentationsproblem ins Zentrum stellt, hat Dietrich Schwanitz entwickelt. Auf systemtheoretischer Grundlage erklärt er die Entstehung des frühneuzeitlichen Dramas mit der seit dem Ausgang des Mittelalters beschleunigten gesellschaftlichen Differenzierung, die Interaktion und Gesellschaft (als das Ensemble aller anderen Kommunikationen einschließlich anderer Interaktion) so weit auseinandertreten [ließ], daß mit der Wahrnehmung beider Seiten die Interaktionsgrenzen selbst beobachtbar werden. Das ermöglicht die Abschließung der inszenierten Interaktion bei gleichzeitiger Virtualisierung des Publikums und macht die Beobachtung der durch die Situation limitierten Beobachtungsperspektiven der dramatischen Figuren überhaupt erst beobachtbar.53
Lebensweltlich entsprochen habe dem ein neu entstandenes Wissen um die Inszenierbarkeit von Handlungsabläufen, um die „Unabhängigkeit der Interaktion gegenüber der Identität der Teilnehmer“.54 Denn Selbstbehauptung erreiche das neuzeitliche Individuum weniger durch ‚Aufrichtigkeit‘ als durch Verstellung, List, Intrige oder, freundlicher ausgedrückt, jene Höflichkeit, die nun den Weltmann ausmachte. ‚Theater‘ zu spielen erschien damit als unhintergehbare Form des menschlichen Lebens, personale Identität nur performativ in der gewählten ‚Rolle‘ erreichbar. Das Drama machte sich diesen souveränen, spielerischen Umgang mit der Interaktion einerseits zunutze, indem es selbst Illusionen schuf, machte ihn andererseits aber auch durchschaubar: „Der Zuschauer kann sehen, daß der Betrogene eine andere Wirk50 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer
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performativen Kultur. – In: Performanz, S. 277–300, hier S. 279, 291. Vom Tausch, auf den der Titel verweist, ist in Fischer-Lichtes Aufsatz leider nicht weiter die Rede. Das gilt für die komische Handlung – Verkleiden begünstigt die Wiederholung/ Verdopplung, das Aneinander-Vorbei, die Interferenz bzw. Doppeldeutigkeit sowie die Überraschung – ebenso wie für die ‚anderweitige Handlung‘, der die Intrigen zuzurechnen sind (vgl. Kurth: Kleidung und Verkleidung in der deutschen Komödie, S. 15f.). Ralf Simon: Theorie der Komödie. – In: Theorie der Komödie, S. 47–66, S. 53. Schwanitz, Schwalm, Weiszflog: Drama, Bauformen und Theorie, S. 412. Schwanitz: Zeit und Geschichte im Roman – Interaktion und Gesellschaft im Drama, S. 200.
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lichkeit wahrnimmt als der Betrüger und partizipiert mit dieser stereoskopischen Optik an diskrepanten Wirklichkeiten“.55 Schwanitz zufolge vermittelt das Theater die Erfahrung einer unaufhebbaren Relativität der Wahrheit. Die moralischen und theologischen Täuschungsverdikte vieler Zeitgenossen in kulturtheoretische Einsichten wendend, würde es demnach Simmels geldphilosophische Einsichten vorbereiten, denn auch das Tauschprinzip führt auf einen „Relativismus in Hinsicht der Erkenntnisprinzipien“, wenn „die konstitutiven, das Wesen der Dinge ein- für allemal ausdrückenden Grundsätze in regulative übergehen, die nur Augenpunkte für das fortschreitende Erkennen sind.“56 Schwanitz’ Theorie des Dramas und seiner frühneuzeitlichen Entstehung differenziert nicht zwischen den verschiedenen dramatischen Gattungen. Bei näherer Betrachtung läßt sich sein Modell indessen weit besser auf die Komödie anwenden als auf das tragische Drama, denn die Komödie ist deutlich umfassender von den Prinzipien der Verstellung und der doppelten Optik geprägt.57 Sie ergänzt die dramatische Illusion weit häufiger als die auf Affekterregung ausgerichtete Tragödie durch Illusionsdurchbrechungen und das Spiel mit der Illusion, sei es in Gestalt der komischen Figur, die auf der Rampe agiert, das Publikum unmittelbar anspricht und Distanz zur ‚anderweitigen‘ Handlung schafft, sei es durch die komödientypische Bauform des Spiels im Spiel.58 Deutlich wird die reflexive Doppelung, die die Komödie auszeichnet, nicht zuletzt an ihrem Umgang mit dem materiellen Ausdruck von Verstellung wie Darstellung: der Verkleidung. Die handlungsinterne 55 Vgl. Schwanitz: ebd., S. 204. Das Zitat bei dems. u. a.: Drama, S. 413. 56 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 106 (Hervorh. D. F.). – Der Anglist Schwanitz
hatte bei der Formulierung der hier skizzierten Dramentheorie das Elisabethanische Theater und besonders Shakespeare vor Augen. Läßt sich sein Modell überhaupt auf die theaterhistorisch ‚verspäteten‘ Verhältnisse in Deutschland übertragen? Was die weltbildlichen Konsequenzen angeht, die ‚das‘ deutsche Barockdrama aus dem von Schwanitz herausgearbeiteten Perspektivenrelativismus zieht, werde ich in Kap. 2.4.3. Differenzierungen vorschlagen. Die Problemlage scheint freilich durchaus vergleichbar: Was der Shakespeare-Interpret Schwanitz beobachtungstheoretisch zuspitzt, ist der ideengeschichtlichen Barockforschung gutenteils seit längerem bekannt (vgl. Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, S. 43–70, 88–119, 207–213) und wurde mit Bezug auf das deutsche Barockdrama auch von der Theaterwissenschaft beschrieben (Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters Bd. 2, S. 11–28). 57 Ausführlicher zum Verhältnis von Komödie und Tragödie: Ralf Simon: Theorie der Komödie. – In: Theorie der Komödie, S. 47–66, S. 51–55; vgl. auch Simons Hinweis auf die „vielen Beobachtungsverhältnisse“, die die Komödie inszeniert (Vorwort. – In: ebd., S. 7–12, hier S. 8). 58 Vgl. Trautwein: Komödientheorien und Komödie, S. 90f. Zur komödischen Reflexion auf die eigene Illusionshaftigkeit vgl. Pape: Comic Illusion and Illusion in Comedy. Pape verallgemeinert seinen Befund wie folgt: „Comedy thus shows itself always being more or less self-referential, being theater on theater.“ (S. 236)
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Verkleidung potenziert das theatertypische Kostüm der Schauspieler, das ihnen bestimmte Rollen zuweist. Versteht man das komödische Verkleidungsspiel „als Parodie auf die Erkennungs- und Wiedererkennungsprozesse in der Tragödie“,59 so tritt sein reflexiver Bezug auf den (eigenen) Status dramatischer Repräsentation vollends hervor.60 Verkleidungsszenen stellen zudem einen Musterfall für den Wissensvorsprung des Zuschauers dar, der Voraussetzung des Verlachens ist.61 Das überlegene Lachen wiederum basiert (über seine Homologie zum Bewegungsprinzip des Geldes wie der Komödie hinaus) auf einer weiteren Strukturparallele zum Funktionieren und Repräsentationsmodus des Geldes: Eine Handlung lächerlich zu finden, die nur der distanzierte Betrachter als der Situation unangemessen erkennt, setzt nach Jean Pauls Komiktheorie voraus, daß die Phantasie zwischen dem überlegenen Wissen des Zuschauers und dem beschränkten Bewußtsein der Bühnenfigur vermittelt bzw. dieses durch jenes austauscht.62 Das Komische als spezifischer Wert der Komödie ist demnach ebensowenig wie der Wert, den das Geld mißt, objektiv gegeben, sondern entsteht in jener Vermittlung, deren Tauschprinzip das Geld symbolisiert.63 Insofern läßt sich das Komödientheater als Markt begreifen, auf dem gelacht wird, wenn Zuschauer (als Abnehmer) und Schauspieler (als Anbieter von Komik) handelseinig werden.
59 Kurth: Kleidung und Verkleiden in der deutschen Komödie, S. 22. 60 Zur Beliebtheit von Verstellungs- und Verkleidungshandlungen in der Komödie (des
spanischen Barocks) sowie zu deren Funktion ästhetischer Selbstreferenz vgl. auch Nitsch: Theatralische Mimesis und barockes Welttheater, bes. S. 578f. 61 Vgl. Kurth: ebd., S. 31f. 62 Jean Paul: Werke. T. 7: Vorschule der Ästhetik, S. 104: „Wenn Sancho eine Nacht hindurch sich über einem seichten Graben in der Schwebe erhielt, weil er voraussetzte, ein Abgrund gaffe unter ihm, so ist bei dieser Voraussetzung seine Anstrengung recht verständig; und er wäre gerade erst toll, wenn er die Zerschmetterung wagte. Warum lachen wir gleichwohl? Hier kommt der Hauptpunkt: wir leihen seinem Bestreben unsere Einsicht und Ansicht und erzeugen durch einen solchen Widerspruch die unendliche Ungereimtheit; zu dieser Übertragung wird unsere Phantasie, die hier [...] der Mittler zwischen Innern und Äußern ist, [...] nur durch die sinnliche Anschaulichkeit des Irrtums vermocht.“ 63 Das postsubstantialistische Funktionieren des Geldwesens und seine Mißachtung von Hierarchien ließe sich auch mit jener anderen Richtung von Komiktheorien parallelisieren, die auf die karnevalistische Grenzverwischung, Vereinigung von Widersprüchlichem und Verweigerung fester Identitäten abhebt; vgl. Greiner: Die Komödie, S. 110–114.
1.3 Das „Verknüpfungsproblem“ in der post-sozialgeschichtlichen Literaturgeschichtsschreibung Die Strukturhomologie zwischen der Repräsentationsspezifik einerseits der Literatur, besonders der dramatischen Gattung Komödie, andererseits des Geldes zeigt der vorstehenden Skizze zufolge einen erheblichen Wandel ihrer inhaltlichen Füllung. Nach der Entscheidung für die Konzentration auf eine einzelne Gattung lenkt das den Blick darauf, daß eine weitere Entscheidung zugunsten einer diachronisch orientierten Analyse zu fällen ist. Zusammengenommen ergibt sich daraus ein gattungsgeschichtliches Vorgehen. Themenwahl und Anlage der vorliegenden Studie reagieren zugleich auf die in den letzten Jahren wiederaufgenommene Diskussion um sozial- oder kulturhistorische Kontextualisierungen literarischer Texte. Ihrerseits Reaktion auf die enthistorisierenden Theorietendenzen der Dekonstruktion, treffen Forderungen nach kontextualisierenden Lektüren zwar auf wachsende Zustimmung; umstritten und häufig auch unklar ist hingegen, in welchem theoretischen und methodischen Rahmen dies geschehen soll und kann. An welche Kontexte bzw. soziale und kulturelle Praktiken ist zu denken? Wie bezieht sich die Literatur, beziehen sich literarische Texte auf ihre Umwelt(en) und auf welche Teile davon? Welche Funktion erfüllen sie ihrerseits in diesem oder jenem Kontext? An solche Fragen zur systematischen Stellung in einem komplexen gesellschaftlichen Ganzen schließen sich weitere zur diachronischen Ordnung der zu beschreibenden Text-Kontext-Relationen. Zunächst: mit welchem Recht kann von einer ‚Geschichte‘ der Literatur, besonderer, jeweils abzugrenzender literarischer Phänomene (z. B. von Gattungen), der Gesellschaft oder eines Teilbereichs derselben die Rede sein? Wie in synchronisch-systematischer Perspektive stellen sich auch in diachronischer Hinsicht drei Grundfragen: Wie ist einerseits die Literatursphäre beschaffen (nun: hinsichtlich ihres Wandels in der Zeit)? Was zeichnet andererseits die Entwicklung der nicht-literarischen Diskurse und Praktiken der Gesellschaft aus? Und welche Relation zwischen diesen (mindestens) zwei ‚Geschichten‘ ist anzusetzen bzw. läßt sich feststellen? Damit ist das „Verknüpfungsproblem“ angesprochen, das spätestens seit Gervinus’ Geschichte der poetischen National-Litteratur der Deutschen (1835–
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1842) ein Zentralproblem der Literaturwissenschaft und zumal der Literaturgeschichtsschreibung darstellt: Wie sind – zum Beispiel Strukturen des literarischen Textes [...] mit Organisationsmustern des gesellschaftlich bedeutsamen Wissens und mit Konstellationen politischer Macht zu verbinden? Die Übereinkunft, daß zwischen diesen unterschiedlichen Erfahrungsbereichen Wechselwirkungen bestehen, ist rasch zu erreichen. Aber wie sind diese Korrelationen zu beschreiben (und zu benennen): als Interferenzen, als Interdependenzen usf.? Und lassen sie sich in einem theoriefähigen und für die Literaturgeschichtsschreibung praktikablen Analyseprogramm entwickeln?1
Jürgen Fohrmann hat in seiner Analyse literaturgeschichtlicher Schreibverfahren zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß der Literarhistoriker die Einheiten, die er zu beschreiben vorgibt, immer erst konstruieren muß. Er erkennt darin eine „transzendentale Unvollkommenheit“, zieht daraus aber keinen resignativen Schluß. Vielmehr verlangt er ein Bekenntnis zum und Reflexion auf den „konstruktiven Status“ der eigenen Tätigkeit:2 Nichts ist vielleicht in der Disziplin strittiger als die Bestimmung und dann Relationierung von Gattungen oder Epochen; nie ist etwa ein wirklicher Konsens über den historischen Gegenstand der Wissenschaft erzielt worden, nie hat das Fach als Ganzes sein Objekt also wirklich randscharf definiert [...] – und dennoch sind alles dies Funktionen, die man in Anspruch nehmen muß, um Anschlußoperationen möglich zu machen, um weitere Operationen durchführen zu können. Die Funktion der Literaturgeschichte gibt sich gleichsam vor, aber dies tut ihrer Leistung keinen Abbruch.
Aus dieser unhintergehbaren Vorläufigkeit literaturwissenschaftlichen und speziell -geschichtlichen Arbeitens folgt, daß die eben exponierten Fragen in dieser Einleitung nur diskutiert, keinesfalls gültig beantwortet werden können; letzteres hieße, apriorische Entscheidungen an die Stelle der philologisch-historischen Analyse zu setzen. Zu klären ist hier gleichwohl, welche theoretische Rahmenannahmen geeignet sind, jene Analyse begründet anzuleiten.
1 Jörg Schönert: Möglichkeiten und Probleme einer Integration von Literaturgeschichte
in Gesellschafts- und Kulturgeschichte. – In: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, S. 337–348, hier S. 337f.. Daß es ein Verknüpfungsproblem gibt, setzt voraus, daß Literatur innerhalb der gesellschaftlichen Kommunikation etwas Spezifisches darstellt. Die Literaturwissenschaft geht in der Regel von einer solchen Prämisse aus, macht sie aber nur selten explizit. Die vorliegende Studie verortet jene Spezifität vor allem in der Gattungsgebundenheit literarischer Texte. Und sie mißt der historischen Entfaltung sowie interpretativen Plausibilisierung dieser Prämisse mehr Gewicht bei als deren theoretischer Exposition. 2 Fohrmann: Über das Schreiben von Literaturgeschichte, S. 192, 195; das folgende Zitat S. 197.
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1.3.1 Systemtheoretische Ansätze Antworten auf die genannten Fragen werden derzeit vor allem bei der Systemtheorie gesucht.3 Auch und gerade für die hier anstehende Untersuchung, die so funktionsdifferente und, trotz aller Homologien, eigengesetzliche Sphären wie Literatur und Geldwesen in den Blick nimmt, scheint sie eine erste Adresse. Zumeist über Niklas Luhmann rezipiert, hat die Systemtheorie die Foucaultsche Diskursanalyse als dominanten Theoriebezug der literarhistorischen Methodendiskussion abgelöst.4 Solche relativ kurzfristigen Konjunkturen gründen freilich zum wenigsten darin, daß die eine Zeitlang diskutierten Theorien stets so rasche Anwendungserfolge erzielten, daß die Grundlagenreflexion sich erledigt hätte. Vielmehr gestaltet sich die Anwendung in Textinterpretation und Literaturgeschichtsschreibung regelmäßig schwieriger als erhofft, mit der Folge, daß das Interesse sich dem nächsten Theoriefavoriten zuwendet. Soll die Verwirklichung eines literaturgeschichtlichen Vorhabens nicht ad infinitum hinausgeschoben werden, so empfiehlt sich daher ein auf heuristischen Nutzen ausgerichteter Gebrauch von Theorieangeboten. Das ist kein Plädoyer dafür, die Anforderungen an Begründungssorgfalt und argumentative Kohärenz herabzusetzen. Geht es um Textanalyse und die Profilierung von historischen Textreihen, so ist jedoch nicht die Perfektion einer Theoriearchitektur als entscheidendes Kriterium für die Erfüllung dieser Sorgfaltspflicht anzusehen, sondern jene Prüfung und ggf. Validierung von Theorieangeboten, die in deren Konfrontation mit den Quellen möglich wird. Überspitzt formuliert: Daß die Vermittlung von Theorie und Praxis der Literaturgeschichtsschreibung in den letzten Jahrzehnten kaum gelungen ist,5 3 Vgl. die Forschungsberichte im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deut-
schen Literatur von Georg Jäger: Systemtheorie und Literatur. Teil I: Der Systembegriff der Empirischen Literaturwissenschaft (In: IASL 19,1 [1994], S. 95–125), Claus-Michael Ort: dass. Teil II: Der literarische Text in der Systemtheorie (In: IASL 20,1 [1995], S. 161–178), sowie Jahraus und Schmidt: dass. Teil III (1998), oder die Einleitung und eine Reihe von Beiträgen in dem 2000 erschienenen, Wolfgang Frühwald und Georg Jäger gewidmeten Band Nach der Sozialgeschichte. 4 Die Vorherrschaft des Diskursbegriffs in den achtziger Jahren, auch in der Diskussion um den theoretischen Rahmen einer Sozialgeschichte der Literatur, dokumentiert der Sektionsbericht von Jörg Schönert: Möglichkeiten und Probleme einer Integration von Literaturgeschichte in Gesellschafts- und Kulturgeschichte. – In: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte, S. 337–348. 5 Vgl. die (Auseinandersetzung um die) neueren Bände von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. In der Gliederung von Bd. 3 (hrsg. von Albert Meier, 1999) erkennt Claus-Michael Ort ein gewisses literatursystemanalytisches Potential, das aber nicht aktualisiert worden sei (‚Sozialgeschichte‘ als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Zur Aktualität eines Projekts. – In: Nach der Sozialgeschichte, S. 113–128, hier S. 122f.); Bd. 6 (hrsg. von Edward McInnes und Gerhard Plumpe, 1996) ist kritisiert worden, da er gar keine Sozialgeschichte der Literatur (gemeint: der literarischen
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legt es nahe, die Perspektive einmal umzukehren und vom Gegenstand her zu argumentieren – selbstverständlich in dem gut hermeneutischen Bewußtsein, daß dieser Gegenstand sich nicht unabhängig von (theoretisch zu explizierenden) Vorausannahmen darstellt. Wenn aber Literaturwissenschaft sich nur in einem Zirkel von historischer Interpretation und theoretischer Reflexion vollziehen kann, ist ein kombinatorischer Gebrauch von Theorie(n) wissenschaftlich weniger problematisch als der Verzicht auf deren Überprüfung durch Anwendung bzw. als die bloß illustrierende Ergänzung durch Fallanalysen. Ausdauernden Theorieanstrengungen stehen auch und gerade in der systemtheoretisch inspirierten Germanistik relativ geringe Erträge für die Analyse von literarischen Texten und Textgruppen gegenüber; die in der vorliegenden Studie aufgegriffenen Arbeiten des Anglisten Schwanitz bilden durchaus eine Ausnahme. Soweit systemtheoretische Ansätze überhaupt gesellschaftlich-historisch arbeiten, nehmen sie Literatur zunächst als geschlossenes Ganzes wahr: als System in seinem ‚beobachtenden‘ Bezug auf andere gesellschaftliche Systeme, in seiner ‚Leistung‘ für dieselben, in seiner gesamtkulturellen Funktion sowie in seiner Selbstreferenz.6 Die semiotischsemantische Dimension sowohl der Literatur als auch anderer Sozialsysteme ist demgegenüber, wie Claus-Michael Ort (selbst)kritisch anmerkt, vernachlässigt worden, ebenso die Korrelation von Sozial- und Symbolsystem (dem literarische Texte zugerechnet werden), und zwar sowohl synchronisch als auch diachronisch.7 Mit anderen Worten: ein praxistaugliches Modell, das Textanalysen zunächst im historischen Kontext anleiten könnte, um sodann Kriterien für die Rekonstruktion einer historischen Entwicklung von Textgruppen und anderen Sozialsystemen in einer näher zu bestimmenden Korrelation zur Verfügung zu stellen, liegt bislang nicht vor. Vergegenwärtigt man sich einige Basisannahmen sowie die aktuellen Theorievorschläge der systemtheoretischen Literaturwissenschaft, so können sich darüber hinaus prinzipielle Bedenken einstellen: Zu eng scheinen bereits einige Prämissen formuliert, so die Funktionsbestimmung für das Literatursystem als ‚Unterhaltung‘ mit der Leitunterscheidung ‚interessant/uninteres-
Institutionen) biete (vgl. Oliver Bruck [u. a.]: Eine Sozialgeschichte, die keine mehr sein will. – In: IASL 24,1 [1999], S. 106–131), während Bd. 7 (hrsg. von YorkGothart Mix, 2000) programmatisch auf eine Leittheorie verzichtet (vgl. die Vorbemerkung des Hrsg.). 6 Vgl. (paradigmatisch) Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Plumpe: Epochen moderner Literatur, oder (skizzenhaft): Beobachtungen der Literatur, S. 7f. 7 Claus-Michael Ort: ‚Sozialgeschichte‘ als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Zur Aktualität eines Projekts. – In: Nach der Sozialgeschichte, S. 113–128, hier S. 118f.
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sant‘,8 so die dem Autopoiesis-Axiom Niklas Luhmanns9 geschuldete Annahme, daß die selektive Beobachtung anderer Systeme durch Literatur primär dem Kriterium gehorche, „ob die aus der Umwelt ins System der Literatur importierten Themen interessante oder langweilige Unterhaltung versprechen“.10 Dank ihrem differenzlogischen Ansatz – demzufolge ein Text, eine Handlung, ein kommunikatives Ereignis nicht zugleich literarisch und politisch, religiös usw. sein kann – kämpfen systemtheoretische Entwürfe vor allem mit den Übergängen, Interferenzen oder Schnittstellen, die zwischen Literatur und anderen sozialen Systemen bestehen. Deren Ermittlung bildet aber den Kern jeder historischen Kontextualisierung von Literatur. Von Claus-Michael Ort stammt ein Lösungsvorschlag, der ein besonderes Medium der genannten Vermittlungen ansetzt, das „sozio-kulturelle Wissen“, das als Gesamtheit sowohl der bewußten, reflektierten Handlungsregeln einer Gesellschaft als auch der als solche nicht bewußten Konventionen zu verstehen ist.11 Das hebt manche Restriktionen auf, doch bedeutet dieser Gewinn für die Systemtheorie zugleich einen gravierenden Verlust, wird doch deren Prämisse negiert, wenn mit einem nicht immer schon systemisch spezifizierten ‚Wissen‘ zu rechnen ist. Den Preis theoretischer Widersprüchlichkeit zahlt nicht nur diese Adaption der Systemtheorie: Dem Referenzautor Luhmann wohl terminologisch, in einem entscheidenden Punkt aber nicht mehr theoriearchitektonisch verpflichtet ist auch die (Wieder-)Einführung des „psychischen Systems“ – vulgo ‚Subjekts‘ – in die problematische Konstellation von Literatur und Gesellschaft durch den Anglisten Christoph Reinfandt.12 Überdies verschiebt sich damit die Stellung der Literatur, denn sie rückt in die Position 8 Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, S. 28f. mit Bezug auf Plumpe:
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Ästhetische Kommunikation Bd. 2, S. 304, wo die Unterhaltungsfunktion noch insofern eingeschränkt erscheint, als damit vor allem die literarische Kommunikation der Gegenwart charakterisiert wird. – Wo vom ‚Sozialsystem Literatur‘ gesprochen wird, ist unter systemtheoretischen Prämissen die ‚Moderne‘ seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gemeint; beispielsweise die politische Lyrik des 19. oder 20. Jahrhunderts oder auch geistliche Dichtung werden dann großzügig übersehen. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 65–69. Plumpe, Werber: Beobachtungen der Literatur, S. 7. Die Möglichkeit eines religiösen, politischen oder ethischen Interesses der literarischen Kommunikation wird von Plumpe und Werber zwar nicht geleugnet, rückt theoriebedingt jedoch ins Sekundäre. Vgl. Ort: Sozialsystem ‚Literatur‘ – Symbolsystem ‚Literatur‘. Anmerkungen zu einer wissenssoziologischen Theorieoption für die Literaturwissenschaft. – In: Literaturwissenschaft und Systemtheorie, S. 269–294, hier S. 275. Die Leitfrage, die daraus folgt, ist die nach den „gesellschaftlichen Funktionen von Literatur als sozial institutionalisiertem semiotischen Konstruktionsmittel sozio-kulturellen Wissens“ (ebd.). Vgl. Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten, S. 31–41. Ebenfalls problematisch sind die „Querläufer“ in Gestalt „sozialer Bewegungen“, die Holl ins Zentrum ihrer „integrativen Systemtheorie“ rückt, um Literaturgeschichte „über die Systemgrenzen hinweg“ schreiben zu können (Semantik und soziales Gedächtnis, S.33, 41f.).
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des Vermittlers („sie macht Privatheit öffentlich und erlaubt die Privatisierung von Öffentlichkeit“).13 Obwohl an einschlägigem Ort als Durchbruch aufgenommen,14 stellt dieser Vorschlag weder eine umwälzende Einsicht dar noch die Lösung des Vermittlungsproblems zwischen ‚Literatur‘ und ‚Gesellschaft‘, von dem wir ausgegangen sind. Dies zur Problematik systemtheoretischer Ansätze in systematischer Hinsicht. Ebenso schwer wiegt eine historische Schwäche: die ganz überwiegende Beschränkung auf die literarische Kommunikation seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, denn erst dort hat sich ein funktional differenziertes und – gutenteils – autonomes Sozialsystem Literatur herausgebildet. Im Fall der Gesellschaften der Frühen Neuzeit, die politische, religiöse, wirtschaftliche oder literarische Gesichtspunkte (noch) nicht trennten, können die bislang ausgearbeiteten Modelle dagegen nicht greifen.15 Die nötige Differenzierung hat Luhmann insofern selbst begonnen, indem er zwischen der funktionssystemisch ausdifferenzierten Gesellschaft der ‚Moderne‘ und ihrer funktionsintegrierenden ‚Vorgeschichte‘ unterschied. An diese Unterscheidung kann die vorliegende Studie anknüpfen, unbeschadet der eben geäußerten Bedenken, denn sie bietet einen praktikablen Ansatz, um der Spezifik der frühneuzeitlichen Gesellschaft und Literatur gerecht zu werden. Um Vereinseitigungen auch in diachronischer Hinsicht zu vermeiden, muß allerdings hinzugefügt werden, daß nicht apriorisch nur mit „irreversibel fortschreitender Differenzierung“ der sozialen Systeme einschließlich des literarischen zu rechnen ist, sondern immer wieder auch mit Reintegrationsprozessen.16 (Weiteres zu den diachronischen Rahmenannahmen dieser Studie in Kap. 1.4.3.) 13 Jahraus, Schmidt: Systemtheorie und Literatur, S. 104; vgl. Reinfandt: ebd., S. 40f. 14 Vgl. Jahraus, Schmidt: ebd., S. 103–105. 15 Selbstkritisch bemerkt dies Claus-Michael Ort: ‚Sozialgeschichte‘ als Herausforde-
rung der Literaturwissenschaft. Zur Aktualität eines Projekts. – In: Nach der Sozialgeschichte, S. 113–128, hier S. 121–126. Als Beitrag, dieses Manko zu tilgen, tritt Orts kürzlich erschienene Habilitationsschrift über die Schuldramatik Christian Weises an (Medienwechsel und Selbstreferenz). Hier wird in innovativer Weise vor die Ausdifferenzierung eines autonomen Literatursystems zurückgegriffen. Das Vordringen des gedruckten Buches als Distributionsmediums von Weises Dramatik deutet Ort überzeugend als Indikator einer kommunikativen Umstellung. Sozialhistorische Schlüsse werden daraus im Sinne des systemtheoretischen Axiom sozialsystemischer Ausdifferenzierung gezogen. Damit freilich wird die sozialgeschichtliche Teleologie, die der Systemtheorie inhärent ist (vgl. unten S. 67), eher bestätigt als einer Differenzierung unterzogen. – Ebenfalls mit einer Kritik an der bisherigen Praxis der eigenen Theorie beginnt Stöckmann: Vor der Literatur, S. 3. Da Stöckmann die Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts rekonstruiert, bleibt allerdings auch sein Versuch, der historischen Kurzsichtigkeit der Systemtheorie abzuhelfen, ‚vor der Literatur‘ stecken. 16 Denselben Vorbehalt äußert Claus-Michael Ort: ‚Sozialgeschichte‘ als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Zur Aktualität eines Projekts. – In: Nach der Sozialgeschichte, S. 113–128, hier S. 122.
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1.3.2 Eine kulturgeschichtliche Alternative: Theatralität als Interferent zwischen sozialen Praktiken und Komödie Der Verlauf der Theoriediskussion in Sachen Literaturgeschichtsschreibung legt es nahe, eine Lösung des angesprochenen „Verknüpfungsproblems“ weniger auf generalisierender theoretischer Ebene zu suchen als in der jeweiligen kulturellen Situation, in der ein Textkorpus entstanden ist und rezipiert wurde. Sucht man die Stellung des Dramas in seinem gesellschaftlichen Umfeld historisch präziser zu bestimmen, so fällt beim Blick auf die Frühe Neuzeit sofort auf, daß nicht nur die Schauspiel-Bühne als ‚Schauplatz‘, Theater, begriffen wurde. Theatralisch vollzog sich die Repräsentation fürstlicher Macht an den Höfen, auf Festen, bei Empfängen, politischen Handlungen und sogar vielen Verrichtungen des ‚täglichen Lebens‘.17 Theatralisch wurden auch Justizurteile vollzogen; die Gerüste, auf denen Hinrichtungen inszeniert wurden, waren Bühnen der Gerechtigkeit.18 Der Markt stellte dabei den Inbegriff der Öffentlichkeit dar, der Schuld wie Buße zur Kenntnis zu bringen waren.19 Davon, daß das im engeren Sinne merkantile Marktgeschehen ebenfalls theatralisch gedeutet werden konnte, war bereits die Rede. Über seine Repräsentation strukturierende Funktion in einzelnen Lebensbereichen hinaus diente das Theatermodell zudem einer allgemeinen theologischen oder philosophisch-moralistischen Daseinsdeutung: Die Stellung des Menschen im Kosmos und die Rolle, die jeder einzelne zu spielen hat, wurden im Medium der theatrum mundi-Metapher erörtert.20 Was die Theaterbühne im engeren Sinne angeht, so machte es die technische Entwicklung des 17. Jahrhunderts möglich, illusionistisch tatsächlich ‚die ganze Welt‘ auftreten zu lassen.21 Zumal vom „Barock als theatralisierter Gesellschaft“ zu sprechen22 erscheint angesichts all dessen nicht übertrieben. 17 Vgl. Alewyn: Das große Welttheater; neuerdings Vec: Zeremonialwissenschaft, wo
auch der Übergang ins 18. Jahrhundert erörtert wird. 18 Vgl. Dülmen: Theater des Scheckens. 19 Eine komische Nachwirkung davon finden wir in der Warnung einer Figur aus Luise
Gottscheds Verschwender an ihren untreuen Verwalter, „daß er [der Graf von Grundfalsch; D. F.] ihn auf dem Markte ein paar mal will herum tanzen lassen; wofern er ihm von seiner Haushaltung nicht Rechenschaft geben wird.“ (Der Verschwender, oder die ehrliche Betrügerinn. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. – In: Johann Christoph Gottsched [Hrsg.]: Die deutsche Schaubühne Bd. 3, S. 63–194, hier S. 119 [III,2]) 20 Vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 86–131. Die Ausbildung von im weitesten Sinne theatralischen Denkweisen durch die frühneuzeitliche Philosophie rekonstruiert Schramm: Karneval des Denkens. 21 Grundlegend: Baur-Heinhold: Theater des Barock sowie Brauneck: Die Welt als Bühne Bd. 2, S. 13–43. 22 González García: Zwischen Literatur, Philosophie und Soziologie. Die Metapher des ‚Theatrum mundi‘, S. 92.
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Schwanitz’ Dramentheorie schließt daran unmittelbar – vielleicht zu unmittelbar – an: Ihm zufolge konstituierte sich das Drama „über die Vorführung lebensweltlicher Theatralik, es bündelt sozusagen die lebensweltliche Theatralik und überhöht sie nach Maßgabe eigener Stilisierungsmöglichkeiten.“23 Das künstlerisch anspruchsvolle Theater von Shakespeare bis Molière orientierte sich dabei am Hof und dessen Ritualen wie Intrigen; es „lebt davon, daß in einer hierarchisch organisierten Kultur die Interaktion der obersten Schichten die ganze Gesellschaft repräsentiert“.24 Die deutschen Theaterverhältnisse sind – wie in den folgenden Kapiteln verschiedentlich zu skizzieren – etwas disparater; insgesamt dürfte der Kunstcharakter und damit die ‚ästhetische Autonomie‘ von dramatischen Vorstellungen hierzulande schwächer als in Westeuropa gewesen sein. Ein kleinstädtisches Beispiel für die sozial-kulturelle Einbettung des frühneuzeitlichen Theaters hat kürzlich Erich Kleinschmidt vorgestellt:25 Von der lokalen Obrigkeit veranstaltet, einen bereits bekannten, ‚wahren‘ Stoff aufgreifend und auf dem Kirch- oder Marktplatz von einheimischen Laiendarstellern aufgeführt, konstituiert ein Stück wie das Endinger ‚Judenspiel‘ von 1616 keinen eigengesetzlichen fiktionalen Raum. Ein solches Drama hat „repräsentierende Funktion“ nicht für einen verhältnismäßig kleinen Rezipientenkreis ‚literarisch‘ Interessierter, sondern für eine „umfassende Öffentlichkeit“, die sich in der beruflichen und amtlichen Gliederung der dramatis personae wiedererkennt:26 „Die Bürger spielen im Ereignis der Theateraufführung ihre urbane Gesellschaftlichkeit nach, d. h. sie nehmen sich weniger als Rolleninhaber denn als ‚wirkliche‘ Akteure auf ihrer Stadtbühne wahr.“ Das Rezeptionsverhalten des Publikums gestaltete sich, darf man ergänzen, vermutlich entsprechend. Im Fall des Endinger ‚Judenspiels‘ um einen im Ortsgedächtnis über Jahrhunderte präsenten Mord stellen jüdische Riten, das rächende Gericht sowie die schlußendliche Verbrennung der Mörder27 Elemente lebensweltlicher Theatralität dar, die scheinbar unverändert auf die Bühne transferiert werden. Wo – wie in manchen der nachfolgend analysierten Dramen – betrügerische Händler von allerlei Waren, listige Geldwechsler oder versteckte Kuppeleien dramatisch dargestellt werden, muß der Literarhistoriker damit rechnen, daß die Grenze zwischen sozia23 Schwanitz: Systemtheorie und Literatur, S. 123. 24 Ebd., S. 125. 25 Vgl. Kleinschmidt: Repräsentation und Identität. Mit dem Hinweis auf ein weiteres
Beispiel aus der Schuldramatik verbunden, setzt Kleinschmidt dieses „gesellschaftlich konkrete Konzept von Theatralität“ als typisch für das volkssprachliche Theater um 1600 an (vgl. ebd., S. 114–116, das Zitat S. 113). 26 Ebd., S. 104, 112. Das folgende Zitat ebd., S. 116. 27 Daß die theatrale Darstellung die Verbrennung einschloß, deutet der überlieferte Text lediglich an (vgl. Amira [Hrsg.]: Das Endiger Judenspiel, S. 90f.); sie wird jedoch durch einen Bericht über die Aufführung von 1616 bezeugt (vgl. ebd., S. 3).
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ler und dramatischer Theatralität für die historischen Rezipienten in ähnlicher Weise verwischte.28 Von daher scheint es methodisch wenig sinnvoll, soziale und literarische Sphäre a priori zu trennen, um sich dann an ihrer theoretischen Vermittlung abzumühen. Theatralische Verfahren stellen in der Frühen Neuzeit (und nicht nur dort, was hier aber unerörtert bleiben kann) ein Handlungs- und Deutungsmuster dar, dem auch in der politischen, juristischen oder ökonomischen Sphäre eine zentrale Funktion zukam. Wo die Bühne es aktualisiert, ereignet sich die Vermittlung von ‚Kunst‘ und ‚Gesellschaft‘ quasi von selbst. Nun stellt das Endinger ‚Judenspiel‘ einen extremen Fall der Koinzidenz von Dramatik und Sozialfunktion dar, für den die Bedingungen weder allerorts – das Städtewesen Südwestdeutschlands bot besonders günstige Bedingungen für eine soziale Selbstdarstellung der Bürgerschaft im Theater – noch in der gesamten Frühen Neuzeit gegeben waren. Bereits durch die zunehmende Errichtung fester Theaterbauten (mit dem Kasseler Ottoneum 1603/06 beginnend)29 veränderte sich sowohl der ästhetische als auch der soziale Charakter des dramatischen Spiels. Die illusionistische, durch einen Vorhang von der Lebenswelt unterschiedene Bühne trennte Schauspieler und Publikum, und die ästhetischen Verfahren von Stücken und Spiel (von den Kulissen und Kostümen über die musikalische Begleitung bis zu Gestik und Mimik der professionellen Schauspieler) konstituierte einen offensichtlich fiktionalen Raum von artifizieller Eigengesetzlichkeit.30 Die Analogie zwischen einerseits der dramatischen Repräsentation im ganzen sowie typischer Handlungsele28 Ob der Theatralitätsbegriff lediglich auf Schauspiele mit Fiktionscharakter oder auch
auf soziale Praktiken vor Publikum angewandt wird, wechselt in der – disziplinär breit gefächerten – Forschung. Operiert man wie in den vorstehenden Absätzen mit einem weiten Theatralitätsbegriff, so ist die geläufige Bestimmung „A agiert, als ob er B wäre, vor dem zuschauenden C“ zu eng, da die im Als-Ob implizite Fiktionalität der Situation auf lebensweltliche Theatralität in der Regel nicht zutrifft (vgl. Kotte: Theatralität im Mittelalter, S. 188–191). Kottes Vorschlag, „die Spezifik des theatralen Vorgangs als konkret historisch hervorgehobenes und zugleich konsequenzvermindertes interaktives Handeln“ zu begreifen (ebd., S. 191), vermag indessen ebensowenig zu überzeugen, da öffentliche Herrscherauftritte oder Hinrichtungen keineswegs in ihren Konsequenzen vermindert sind. Günstiger scheint es, sich an den Gebrauch des Theaterbegriffs in der Frühen Neuzeit anzuschließen, also Theatralität (im weitesten Sinne) an Sichtbarkeit bzw. Beobachtetwerden, Künstlichkeit (was Fiktionalität einschließen kann, aber nicht muß) sowie Herausgehobenheit zu binden (vgl. Kirchner: Der Theaterbegriff des Barocks, S. 131). Umgangen wird das Fiktionsproblem in Erika Fischer-Lichtes Definition ‚A repräsentiert X, während S zuschaut‘ (Semiotik des Theaters Bd. 1, S. 16). 29 Vgl. Brauneck: Die Welt als Bühne Bd. 2, S. 416. 30 Vgl. ebd., S. 46–53; Kleinschmidt: Stadt und Literatur, S. 222–225. Die Ausrichtung der Schlesischen Barockdramatik auf die neue Bühnensituation belegt Dietrich-Bader: Wandlungen der dramatischen Bauform, S. 115–134.
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mente im einzelnen31 und andererseits den theatralischen Praktiken der ‚Umwelt‘ wurde durch diese Entwicklung jedoch keineswegs aufgehoben, zumal Theateraufführungen sich weiterhin nur im Rahmen heteronomer sozialer Zwecke ereigneten: im Dienste fürstlicher Selbstdarstellung im Fall des höfischen Theaters, im Dienst der Glaubenspropaganda oder des schulischen Unterrichts oder unter geschäftlichen Zwecken im Fall der Wandertruppen (die mit der Artifizialisierung der Hofbühne ohnehin nicht Schritt hielten).32 Für unsere Untersuchung ist das, was das Barockdrama und -theater von einem eher sozial-kulturellen als künstlerischen Ereignis wie dem Endinger ‚Judenspiel‘ trennt, sogar entscheidend, denn erst solche Künstlichkeit schuf die Distanz zwischen Darstellendem und Dargestelltem und das Bewußtsein davon, wie es zusammen die Eigenheit der barocken Repräsentation ausmacht.33 Sämtliche hier behandelte Komödien stellen exponierte (= Bühnen-) Interaktionen dar, auf die auch ein engerer Begriff von Theatralität zutrifft, der – mit der Formel ‚A agiert vor C, als ob er B wäre‘ – das Vorhandensein eines schauspielerischen Rollenbewußtseins verlangt. Enorm gesteigert wurden dadurch die Darstellungsmöglichkeiten gerade im Hinblick auf Geldprobleme, denn die bewußte Modellhaftigkeit des Bühnenspiels eröffnete die Chance einer Repräsentation über das konkret Vorgespielte hinaus, so daß sich Bezüge etwa auf das Geldwesen nicht auf die relativ wenigen Situationen beschränken mußten, in denen dessen Praktiken als Elemente einer Bühnenhandlung taugen. Indem das frühneuzeitliche Drama einerseits lebensweltliche Theatralität (im weiteren Sinne) ‚importierte‘, andererseits sich zur (im engeren Sinne) theatralischen Repräsentation von eigener Verweisungskraft ausbildete, blieb es anderen sozialen Praktiken verbunden und überschritt sie zugleich. Ebendieser Ambivalenz versucht die Methode unserer Untersuchung gerecht zu werden, indem sie nicht nur dramatische Handlungen um das Geld und äquivalente Werte analysiert, sondern Homologien zwischen dramatischen und ökonomisch-sozialen Strukturen aufdeckt. 31 Vgl. Schwanitz: Zeit und Geschichte, S. 203–207 über eine Reihe von typischen Hand-
lungselementen, die sich durch bereits lebensweltliche Theatralität auszeichnen. 32 Vgl. Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, S. 54–66. 33 Vgl. ebd., S. 42f. Zu den epistemischen Voraussetzungen des neuzeitlichen Theaters –
dem Gültigkeitsverlust der „Lehre von den Ähnlichkeiten“ – vgl. Erika Fischer-Lichtes Einleitung in den DFG-Symposien-Band Theatralität und die Krisen der Repräsentation, S. 1–18, hier S. 5–9, das Zitat S. 5. Fischer-Lichte geht (wie Schwanitz) von den englischen, genauer: den Londoner Verhältnissen aus. Bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts ist das deutsche Drama dagegen durch analogische Semiose gekennzeichnet (vgl. dazu unten S. 137 u. 146f.), freilich im Rahmen einer Theatersituation, die durchaus ‚repräsentativ‘ (im Sinne Foucaults) war. Zur frühneuzeitlichen Ausdifferenzierung von ästhetischer Theatralität aus lebensweltlicher Theatralität vgl. Gumbrecht: Für eine Erfindung des mittelalterlichen Theaters aus der Perspektive der frühen Neuzeit, bes. S. 832f.
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Gleichfalls ambivalent, wenngleich mit schwächeren Bezügen zu lebensweltlichen Theatralitätsformen präsentiert sich die Theatralität der Aufklärungskomödie. Eine autonome, auf sich selbst bezogene Kunstform Theater bildet sich erst allmählich heraus. Vielmehr finden wir bis Mitte des 18. Jahrhunderts immer wieder Aktualisierungen des theatrum mundi-Gedankens, der einerseits die ganze Welt als göttliches Theaterspiel deutet, andererseits das Theater auf moralisch-religiöse Perspektiven verpflichtet.34 „Über das Theatralische des Jahrmarckts“ macht sich noch Novalis eine Notiz.35 Speziell mit dem Begriff Komödie lassen sich weiterhin Schaustellungen aller Art bezeichnen, zumal im katholischen Süden: „Unter den Komödien begreife ich alle weltliche und geistliche Schauspiele. Dazu gehören Gaukler, Taschenspieler, Seiltänzer, Marionetten, Komödien, Tragödien, Charfreitagsprozessionen, Fronleichnamsprozessionen, Mirakelwirkereien etc. etc. etc.“36 Freilich ist dieser extensive Begriffsgebrauch kritisch gemeint, so daß als semantischer Normalfall ‚bloßes Spiel‘ und ‚unernste Inszenierung‘ durchscheint. Mit ähnlicher Tendenz bemerken Die Vernünftigen Tadlerinnen, daß auch auf dem Kirchplatz „Comödien“ aufgeführt werden – nämlich wenn „junge Manns-Personen und Frauenzimmer [...] ihre Rolle spielen“, d. h. ihre „Eitelkeiten“ vorführen.37 Kräftig schwingt hier moralische Mißbilligung mit. Das institutionalisierte Schauspiel wird dementsprechend nicht als Verlängerung von der Scheinhaftigkeit verdächtigen performativen Interaktionsformen der Lebenswelt gedacht, sondern als deren Korrektur. Es bleibt auf seine Umwelt ausgerichtet,38 tritt deren Rollenspielen und Repräsentationen jedoch prinzipiell kritisch gegenüber, zumal dem ‚Theaterspiel‘ des Publikums, dessen „Sich-selber-inSzene-Setzen“ und dem „Spektakel, das die Zuschauer in den Theaterräumlichkeiten für sich selber veranstalten“.39 Um moralische Autorität beanspruchen zu können, sucht das Gottschedsche Reformtheater seine eigene Theatralität wiederum so weit wie möglich zu verbergen und seine Spielkunst als 34 Vgl. Neiner: Curioser Tändel-Marckt Bd. 2, S. 234. Langlebiger noch waren die
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staatstheoretischen Modellierungen politischer Repräsentation, die sich, bis hin zu Kant und den Revolutionären von 1789, am Theater orientierten, in diesem Fall besonders an der ‚Persona‘ als der Maske, in welcher der Schauspieler als Repräsentant einer Figur auftritt; vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 20–32. Das Allgemeine Brouillon [1798/99], Nr. 963 – Werke Bd. 2, S. 694. Johann Pezzl: Reise durch den Baierschen Kreis. Faks. d. 2., erw. Aufl. von 1784 [EA ebenfalls 1784]. Hrsg. von Josef Pfennigmann. München 1973, S. 227, zit. nach Theater, Repräsention, konfessionelle Polemik, S. 16f. Vgl. Die Vernünftigen Tadlerinnen Bd. 1, S. 134f. (17. Stück vom 25. 4. 1725). Kurt Wölfel sieht im „Zusammenhang zwischen Schauspiel und Lebenspraxis“ das Hauptanliegen der aufklärerischen Dramentheorie (Moralische Anstalt, S. 112). Vgl. Velten: Theater und Publikum, S. 97.
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Natur erscheinen zu lassen.40 Eben diese Scheu vor theatralischer Künstlichkeit im Leben wie in der Kunst steigerte letztlich allerdings den besonderen theatralen Charakter des Komödienspiels, denn die immer sorgfältigere Inszenierung von ‚Natur‘ autonomisierte das Bühnengeschehen und schloß es immer strenger gegen die Umwelt ab. Der Geld- und Wirtschaftssphäre wurde die Komödie durch diese Autonomisierung gleichwohl angenähert – nämlich in struktureller Hinsicht. Gegen die Gattungstradition zwingt ihr die Gottschedsche Reform jene eigengesetzliche Geschlossenheit auf, die wir auf ökonomischem Gebiet in der im 18. Jahrhundert wei tgehend durchgesetzten Marktwirtschaft finden. Zwei interdependente dramaturgische Tendenzen – der Abschluß des Bühnengeschehens gegen seine Aufführungsumwelt sowie der Konsequenzgewinn der ‚anderweitigen Handlung‘ oder Fabel gegenüber ‚enthobener‘, diskontinuierlicher Komik41 – tragen diese Annäherung an die Struktur jener Systeme, die als charakteristisch für die funktional differenzierte Gesellschaft der Moderne gelten.42 Besonders aufschlußreich für den Abschluß des Bühnengeschehens gegen seine Aufführungsumwelt ist der Stellungswandel der komischen Figur: Als Harlekin, Pickelhäring oder Hanswurst sprengte sie die interne Logik der dramatischen Handlung, indem sie die Rede- und Handlungskonventionen ihrer ständisch und moralisch gebundenen Mitspieler überschritt, ihre ‚dionysische‘ Komik ganz auf den Augenblick setzte und sogar Kontakt zum Publikum aufnahm. Als Diener fügt sie sich hingegen mehr und mehr in den Spielhorizont der übrigen Figuren ein.43 Indem ihre dramaturgische Konsequenz zunimmt, gewinnt im Gegenzug die ‚anderweitige Handlung‘ an Gewicht. Vor allem nachdem das Bühnengeschehen nicht mehr als Illustration eines moralischen Satzes dient – wie es Gottsched vorsah –, plausibilisiert sich das dramatische Spiel primär über die Konsequenz seiner Handlung,44 die dadurch eine gegenüber ihrer Umwelt abgeschlossene Sphäre ausbildet. Illusionsdurchbrechungen finden dann nicht mehr statt bzw. werden, wie im romantischen Lustspiel, zum Mittel literarischer Selbstreflexion. Beide Tendenzen stärken die ‚vierte Wand‘ zwischen Bühne und Zuschauerraum als Abschluß des literarischen Systems und Analogon einer ausdifferenzierten Wirtschaftssphäre. Beginnend mit Gottscheds Verpflichtung des Schauspie-
40 Umfassend dazu jetzt Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. 41 Vgl. Rainer Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. – In: Das Ko-
mische, S. 279–333, hier S. 295, 328f. 42 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 92–97. 43 Vgl. Eckehard Catholy: Die deutsche Komödie vor Lessing. – In: Die deutsche Komö-
die, S. 32–48, hier S. 44f. 44 Vgl. Greiner: Die Komödie, S. 153.
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lers auf den geschriebenen Text,45 gipfelnd in der romantischen Illusionsreflexion, wird die Komödie gespielte Literatur – und koppelt sich von lebensweltlicher Komik und Theatralität ab.46 Wie sich der Import lebensweltlicher Theatralität ins Drama zu dessen theatralischem Eigensinn verhält, steht im Zentrum auch der international wohl meistdiskutierten Arbeiten der literaturwissenschaftlichen Frühneuzeitforschung, Stephen Greenblatts Studien zu Shakespeares Theater und dessen sozial-kulturellen Kontexten. Greenblatt beantwortet die Frage nach der Verknüpfung oder Vermittlung von Drama und sozialen Umwelten im eben erläuterten Sinne mit der These eines „whole spectrum of representational exchanges“ zwischen diesen Sphären.47 Gemeint ist vor allem eine ‚symbolische Aneignung‘ sozialer Praktiken oder eines anderen „mode of social energy“ durch das Theater. Dabei unterscheidet er die dramatische Simulation einer Praktik „what is already understood to be a theatrical representation“ (also z. B. des Hofzeremoniells oder einer Gerichtsverhandlung) von der ‚metaphorischen Aneignung‘ „[which] works by teasing out latent homologies, similitudes, systems of likeness“.48 Was die zweite Variante angeht, denkt Greenblatt an Homologien zwischen den Funktionsweisen einerseits des Theaters, andererseits anderer sozialer Institutionen. Eine solche Homologie fanden wir zwischen den konstitutiven Funktionen von Tausch und Täuschung einerseits in der Komödie, andererseits im Geldwesen (vgl. Kap. 1.2.2). Eine dritte Variante nennt Greenblatt „acquisition through synecdoche or metonymy. Here the theater acquires cultural energy by isolating and performing one part or attribute of a practice, which then stands for the whole (often a whole that cannot be represented).“49 In diesem Sinne wurde oben das Wechselverhältnis von Bewegung und Stabilität in Handlung und Wirkungsweise der Komödie als strukturhomolog zur Geldfunktion vorgestellt, denn Bewegung und Stabilität in der Komödie stehen in einem metonymischen Verhältnis zu den ökonomischen Funktionen des Geldes. Was Greenblatt als Modi der symbolischen Aneignung von sozialer Energie durch das Theater auffächert, stellt demnach eine erstaunlich kongruente Typologisierung der hier vorgenommenen Relationierungen von Geld und Komödie dar. Eine theoretisch hinreichende Lösung für das eben diskutierte 45 Vgl. ebd., S. 144. 46 Zum Wandel der Gebrauchsfunktion der Komödie, die sie den ‚Sinnsystemen‘, in de-
nen sie bisher ihren ‚Sitz‘ hatte, reflektierend gegenübertreten läßt, vgl. Warning: ebd., S. 327–329. 47 Stephen Greenblatt: The Circulation of Social Energy. – In: ders.: Shakespearean Negotiations, S. 1–20, hier S. 8. Das folgende Zitat ebd., S. 10. 48 Ebd., S. 10f. 49 Ebd., S. 11.
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Verknüpfungsproblem liefert er – dort wo es auftritt, also jenseits der simulierenden Aneignung vorgeprägter Theatralität – aber nicht. Denn die Frage, wie die Metaphorisierungen oder Metonymisierungen zustande kommen, in denen Drama und Theater ‚soziale Energie‘ repräsentieren, findet lediglich eine ihrerseits metaphorische Antwort. Einen geniehaften Autor als „origin“ der genannten Repräsentationen lehnt Greenblatt prinzipiell ab50 – und mit Recht, denn wir haben es mit Homologien zu tun, die von den Zeitgenossen, soweit Zeugnisse vorliegen, lediglich ansatzweise erkannt worden sind. ‚Erklärt‘ wird die theatralische ‚Aneignung‘ von „collective beliefs and experiences“ sowie „social practices“ bzw. deren intermedialer Transport51 schließlich durch Vokabeln diplomatischer (negotiations) oder, häufiger noch, merkantiler und finanztheoretischer Provenienz (exchange, circulation). Solch metaphorische Redeweise ist jedoch gefährlich, denn Greenblatt interessiert sich nicht zuletzt für die wirtschaftlichen Bedingungen, in deren Rahmen Shakespeares Dramen entstanden sind; seine ökonomistische Begrifflichkeit zur technischen Charakterisierung der untersuchten sozial-literarischen Transfers suggeriert damit einen unmittelbaren sachlichen und insofern nicht weiter erklärungsbedürftigen Zusammenhang zwischen jenen Bedingungen und den literarischen Verfahren, die zu erklären waren.52 Gewiß, jede Beschreibung schon ist konstruktiv – und wenn man mit Nietzsche so will,53 metaphorisch. Um so stärker ist in Untersuchungen wie Greenblatts (oder der vorliegenden) darauf zu achten, daß sich Aussage- und Gegenstandsebene nicht vermischen.54 Andernfalls kann – zweite Gefahr – die Signifikationsleistung der 50 Ebd., S. 12. 51 Ebd., S. 5. 52 Als Kritik an den analytischen Verlusten, die eine bloß metaphorische Ökonomisie-
rung beispielsweise der sprachlichen Kommunikation nach sich zieht, vgl. Lauer: Literarischer Monetarismus, S. 74–80, der im Schlußkapitel seines Buches jedoch seinerseits die ‚kapitalistische‘ Metaphorisierung des literarischen Feldes übernimmt, die er bei Goethe gefunden hat (vgl. ebd., S. 285–296). 53 Vgl. Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne – KSA 1, S. 873–890. 54 Dieses Vermischungsproblem würde auch eine Adaption von Pierre Bourdieus (Literatur-)Soziologie belasten. Bourdieu dehnt den Begriff des Kapitals über dessen konventionelle ökonomische Bedeutung aus und spricht von sozialem Kapital (Verwandtschaft, Beziehungen), kulturellem Kapital (Bildung, Titel, Sprachkompetenz) und symbolischem Kapital (z. B. guter Ruf, Kleidung, Manieren). Solche Übertragungen finden wir mitunter schon in den Quellen; so konzipierten die Geldkomödien der Jesuiten selbst die ewige Seligkeit in Kapitalmetaphern (s. unten S. 257f.). Die Besonderheit einer solchen Interferenz läßt sich jedoch nur fassen, wenn sie nicht von metaphorischen Begriffen des Forschers vorweggenommen wird. Einen Primat der Ökonomie möchte Bourdieu mit seiner Terminologie übrigens nicht verbunden wissen. Doch impliziert die Kapitalmetapher die Auffassung, daß jegliches soziales Handeln „auf die Maximierung materiellen oder symbolischen Gewinns ausgerichtet“ ist (Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 357, vgl. ebd., S. 345). Auch das ist eine
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gewählten Terminologie völlig verloren gehen: „In place of a blazing genesis [des literarischen Textes], one begins to glimpse something that seems at first far less spectacular: a subtle, elusive set of exchanges, a network of trades and trade-offs, a jostling of competing representations, a negotiation between joint-stock companies [...], ceaseless borrowings and lendings“.55 Hier haben sich die Metaphern verselbständigt, und niemand weiß mehr, wovon die Rede ist.
1.3.3 Mentalitäten und der Eigensinn der Gattung Aus den beiden vorstehenden Unterkapiteln läßt sich der Schluß ziehen, daß sich die Vielgestaltigkeit der zu vermutenden Korrelationen zwischen Komödie und Geldwesen weder mit Hilfe einer Methode, die beides prinzipiell trennt, noch durch einen Ansatz, der allein auf nicht näher bestimmte Transferenzen sozialer Praktiken ins Drama schaut, hinreichend erfassen lassen. An den skizzierten Theatralitätsphänomenen sowohl im Drama als auch außerhalb ließ sich ablesen, wie eng der Bezug beider Sphären, der sozialen und der literarisch-theatralen, sein konnte. Offen blieb dagegen, wie sich komplexere, indirektere Interferenzen – insbesondere auf dem Feld der oben beschriebenen ‚abstrakten‘ Strukturhomologie (Bewegung vs. Stabilität) – theoretisch fassen lassen. In der Geschichtswissenschaft wird das, was solche Vermittlungen leistet, seit einiger Zeit als ‚Mentalität‘ diskutiert. ‚Mentalität‘ dient dabei als Sammelbegriff für „Kollektivvorstellungen, Denkstrukturen, Gefühle und Weltbilder, handlungsleitende Werte und Normen, verinnerlichte Grundüberzeugungen, kognitiv-affektive Dispositionen und Wissensformen, die die Wirklichkeitsauffassung und das Selbstbild von Menschen in einer bestimmten Epoche prägen“, umfaßt also vor allem die Regeln des Reckwitzschen Strukturbegriffs, reicht aber auch in den Bereich der Regelmäßigkeiten.56 Mentalitäten haben die Funktion, „die Wahrnehmung der diffusen Wirklichkeit zu strukturieren und somit die unterschiedlichsten Bereiche der Wirklichkeit miteinander zu verknüpfen“.57 Es ist demnach die Mentalität einer Gruppe, in der Verkürzung, denn altruistisches, lustiges oder auch selbstzerstörerisches Handeln hat in diesem Modell keinen Platz. 55 Greenblatt: ebd., S. 7. 56 Nünning: Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis, S. 183f. (kollationiert). 57 Röcke: Mentalitätsgeschichte – ‚New Historicism‘, S. 24. – Anwendungen des seit längerem diskutierten Mentalitätskonzepts sind in der Neugermanistik nach wie vor selten. Konzeptionelle Schwierigkeiten bereitet vor allem das Problem der qualitativen Differenz zwischen (literarischem) Text und (‚mentalem‘) Kontext; vgl. dazu die breite
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die prima vista bloße Parallelität der abstrakten Prinzipien von Bewegung und Stabilität einerseits in der Komödienstruktur, andererseits in ihrer Bedeutung für die Funktion des Geldes sich als ursächlich bedingter Zusammenhang darstellt. Ebenso ist es die Mentalität einer Gruppe oder, mit Vorsicht, einer Zeit, in welcher der jeweils angenommene Repräsentationsstatus der Komödie mit jenem des Geldes zusammenschießt. Da es in beiden Dimensionen um Relationen zum Geldwesen geht und die Komödie ihre Figuren vorzüglich in einen Konflikt um Geldeswerte stürzt, seien jene Mentalitäten abbreviatorisch als ökonomisch-soziale bezeichnet. Mentalitäten können die genannten Verknüpfungsleistungen erbringen, müssen dies aber nicht; sie können vielmehr auch ausblenden oder Phänomene trennen, die unter anderen mentalen Bedingungen in einem Zusammenhang wahrgenommen würden. Daraus folgt zweierlei: Theoretisch mit einer ‚ökonomisch-sozialen Mentalität‘ zu rechnen erübrigt keineswegs deren rekonstruktive Plausibilisierung aus den Quellen heraus. Nach sphären- und diskursübergreifenden Mentalitäten zu fragen heißt zudem nicht, einen „gemeinsamen Nenner der Politik, des Rechts, der Künste oder des Wissens einer Epoche“ ausfindig machen zu wollen.58 Erschwert wird die Rekonstruktion von Mentalitäten noch aus einem weiteren Grund: Da es zum Konzept ‚Mentalitäten‘ gehört, daß sie explikativen Diskursen vorgelagert sind (wenngleich sie von diesen umgekehrt auch beeinflußt werden), sind sie hermeneutisch schwieriger zu fassen als deren Aussagen.59 Um so aufschlußreicher (z. B. hinsichtlich der mentalen Bedingungen des Umgangs mit dem Geld) kann die Analyse von literarischen Inszenierungen sein, welche die Reflexion dem Spiel nachordnen und sich dabei einer inexplizit-strukturalen Semantik bedienen, wie es gerade in der Komödie der Fall ist60. Als historische Quelle für die Beschaffenheit des Geldwesens zu seiner Entstehungszeit gelesen, wäre der dramatische Text recht unergiebig, doch gestattet er „Rückschlüsse auf
Erörterung mentalitätshistorischer Ansätze in Holger Dauers Studie über den Erfolgsdramatiker Ludwig Fulda, die allerdings kein Spezifikum literarischer Mentalitäts‚Darstellung‘ angibt (S. 105–140; als Lösungvorschlag vgl. unten S. 50). Zur neueren Diskussion vgl. Jörg Schönert: Mentalitäten, Wissensformationen, Diskurse und Medien als dritte Ebene einer Sozialgeschichte der Literatur. Zur Vermittlung zwischen Handlungen und symbolischen Formen. – In: Nach der Sozialgeschichte, S. 95–103. 58 So auch Röcke: ebd., S. 27. Auch Nünning rechnet mit pluralen Mentalitäten einer Gesellschaft, während geschichtswissenschaftliche Begriffsbestimmungen wie die von Hagen Schulze (Mentalitätsgeschichte, S. 259) von einer gesamtgesellschaftlichen Mentalität ausgehen. Dann käme dem Mentalitätskonzept jene Totalisierungsfunktion zu, die in der Kritik materialistischer Ansätze erst unlängst überwunden worden ist. 59 Vgl. Nünning: Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis, S. 184. 60 Vgl. Rainer Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. – In: Das Komische, S. 279–333, hier S. 332.
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die psychosoziale Verfassung eines Zeitalters“.61 Prämisse ist dabei, daß die „structure mentale“, welche die dramatische Handlung ums Geld sowie die jeweilige Theatralität impliziert, mit jener korrespondiert, welche die zeitgenössischen Produzenten und Rezipienten mitbringen.62 Gehen literarische Texte also in den Mentalitäten, die sie ‚darstellen‘, auf? Zu den Grundüberzeugungen vieler Literaturwissenschaftler gehört es, daß ‚ihre‘ Texte den Äußerungen anderer Diskurse stets voraus sind, wobei das ‚ästhetische Surplus‘ häufig als Befähigung zu Distanznahme und Kritik verstanden wird.63 Komödien, so lautete die Anwendung dieses Gedankens auf unseren Fall, reproduzierten nicht bloß die Mentalitäten ihrer Zeit, sondern reflektierten, interpretierten, subvertierten sie, trieben die (mentalitäts)historische Entwicklung weiter oder deckten auf, was den Zeitgenossen (noch) nicht bewußt war: Widersprüche, verdrängte Vorbedingungen, unliebsame Konsequenzen. Was aber könnte die Literatur zu dieser kritischen Leistung befähigen? Günter Saße, einem der besten Kenner des Aufklärungsdramas, zufolge verleiht die eigentümliche Konkretheit fiktionaler Literatur ihr eine Überlegenheit an Intensität und Komplexität gegenüber diskursiven Texten. Denn diese blenden um der Stringenz der Gedankenführung und der Wirksamkeit ihrer Appelle willen eine Fülle tiefgreifender Schwierigkeiten ab, die mit den Konzept Liebesheirat [Saßes thematischem Fokus] verbunden sind.64
Mentalitäten im literarischen Praxistest also – während man überall sonst bei der grauen bzw. schönen Theorie stehengeblieben wäre? Das kann noch nicht völlig überzeugen, zumal die Komplexität mancher Geldkomödien nicht eben in den Himmel gewachsen ist. Weiter führt Saßes Verweis er auf die Eigen61 Gerhardi: Geld und Gesellschaft im Theater des Ancien Régime, S. 28. Mehr Reso-
nanz als in der (Neu-)Germanistik hat der mentalitätshistorische Ansatz in der Romanistik gefunden; als einen weiteren Versuch, Drama und Theater als Experimentierfeld für neue Werte – ethische und ökonomische – zu verstehen, vgl. Apostolidès: Molière and the Sociology of Exchange, S. 477–480. 62 Bourdieu: Les Règles de l’art, S. 230. 63 Vgl. Gerhardi: Geld und Gesellschaft, S. 28f. (mit Berufung auf Wolfgang Iser und Roland Barthes). Einerseits distanziert als Meinung anderer, andererseits übernommen wird die Privilegierung des ‚Kunstwerks‘ selbst im kulturrelativistischen New Historicism Stephen Greenblatts: „Die Wissenschaftler unserer Zeit behalten ihre höchste Bewunderung denn ja auch solchen Werken vor, die sich an den Grenzen dessen bewegen, was zu einer gegebenen Zeit an einem gegebenen Ort sagbar ist, die gegen die Beschränkungen ihrer eigenen Kultur wüten“ (Kultur. – In: Baßler [Hrsg.]: New Historicism, S. 48–59, hier S. 57). 64 Saße: Die Ordnung der Gefühle, S. 1f. Ähnlich, d. h. als Aktivierung von „kulturellen Mustern in situationsspezifischen individuellen Anpassungen und Variationen“, bestimmt Marianne Willems die Funktion von (literarischen) Kunstwerken in ihrer Revision der ‚sozialgeschichtlich‘ einschlägigen Theorieangebote Greenblatts und Bourdieus: Sozialgeschichte als Analyse kultureller Muster: Stephen Greenblatt im Kontext der Kultursoziologie. – In: Nach der Sozialgeschichte, S. 423–444, hier S. 434.
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förmigkeit der dramatischen Repräsentation: „In der Komplexität ihrer Bauform und Handlungsstruktur, im Widerspiel der Protagonisten und in der dialogischen Entfaltung ihrer Charaktere“ müsse „die problematisierende Potenz der Literatur [...] analysiert werden – vor dem Hintergrund der normensetzenden Kontexte der Zeit, die die einzelnen Werke aufgreifen und zum Bestandteil ihres Bedeutungsaufbaus machen.“65 Beinahe getan, fehlt hier gleichwohl noch der entscheidende Schritt: hin zur Gattung als jenem Normensystem, das Handlungsstruktur und ‚dialogische Entfaltung der Charaktere‘ regelt. Denn der Gattungscharakter literarischer Texte dürfte es sein, der ihre Distanz gegenüber allen Kontexten und damit ihre kritische Potenz verbürgt. Betonten wir bislang die Analogien zwischen Geld und Literatur und wiesen wir besonders auf den Anteil, den eine Gattungsform wie die Komödie daran hat – für die reflektierende Haltung, die Literatur gegenüber den von ihr dargestellten Mentalitäten einnimmt, kommt es umgekehrt auf die Reibung zwischen Gattungsform und ökonomischem Medium – hier: zwischen Komik und Komödie sowie Geld und ökonomischer Mentalität – an. Das Geld, das die Komödie einerseits ins dramatische Spiel bringt, unterwirft sie andererseits ihren eigenen Regeln. Die Logik ihrer Handlung geht nicht in monetär-ökonomischen Gesetzen oder Postulaten auf, ebensowenig wie in den christlichen, hausväterlichen oder Tugend-Normen, die durchaus auch für ihre Figuren gelten. Ihre Komik vermag vielmehr von gesellschaftlichen Normen zu befreien.66 Eigengesetzlich quasi in die andere Richtung, lockert die Komödie freilich nicht nur Normen, sondern kann sie auch verschärfen, etwa infolge pädagogischer Intentionen. Um des komischen wie um des pädagogischen Effekts willen entwickelt die Gattung zudem ‚unwahrscheinliche‘ Handlungsmuster, welche die lebensweltliche Rationalität und Erfahrung in Frage stellen bzw. idealisieren sollen. Dabei können Reibungen auch zwischen dramatisch-theatralischer Form und ‚inhaltlich‘-expliziter Stellungnahme entstehen. Was eine Komödie zum Thema Geld aussagt, unterscheidet sich häufig erheblich von den semantischen Implikationen der komödienstrukturellen Weise, wie sie das tut. So weist die dramatische Form, indem sie zirkulative Strukturen ausbildet, mitunter auch dort auf eine ‚moderne‘ Auffassung des Geldwesens und der Wirtschaftssphäre, wo die ‚Moral‘ des Stücks traditionellen Geldauffassungen folgt (Geld als Wertaufbewahrungsmittel; Geld allenfalls als Tugendlohn und Gottesgeschenk, nicht aber als legitimes Erwerbsziel usw.) – was noch einmal bestätigt, daß die Analyse von Gattungsstrukturen auch unter semantischem und mentalitätsgeschichtlichem Aspekt unabdingbar ist. 65 Saße: ebd., S. 11. 66 Vgl. Greiner: Die Komödie, S. 103–121.
1.4 Historische Fokussierungen 1.4.1 Epochale Eingrenzungen; wie geschichtlich ist die Gattung Komödie? Der Strukturhomologie von Geld und Komödie geht die vorliegende Studie in der Phase der Herausbildung jener Marktgesellschaft nach, in der das Funktionssystem Wirtschaft zum Leitsystem aufgestiegen und das Geld unumgängliches ‚Kommunikationsmedium‘ für jedermann geworden ist (mehr dazu in Unterkapitel 1.4.3). Literaturgeschichtlich wird dieser Zeitraum vom frühen 17. bis zum späten 18. Jahrhundert in der Regel mit den Epochenbegriffen ‚Barock‘ und ‚Aufklärung‘ belegt. Für die (literar)historische Charakterisierung von Komödientexten läßt sich vor allem der zweite Epochenbegriff gut nutzen, entsprach die Sächsische Reformkomödie von Gottsched bis Lessing dem optimistisch-vernunftchristlichen Weltbild der frühen und mittleren Aufklärung doch ebenso vorzüglich wie deren moraldidaktischen und kritischen Intentionen.1 Der in der Germanistik gängige Barockbegriff 2 leistet dagegen weit weniger für die Erfassung der Eigenart sowie Problematik der nachfolgend analysierten Komödien des 17. Jahrhunderts. Dabei kommt mehreres zusammen: Den Vorgaben der Regelpoetik, deren Normierungsanstrengung als Kennzeichen der deutschen Barockliteratur gilt, das diese mit der soziopolitischen Tendenz zum Absolutismus verbindet,3 fügen sich die Stücke nur mit mehr oder weniger großen Abstrichen. Das gilt zumal für die Spektakel der Wandertruppen. Sie standen außerhalb der humanistischen Tradition und Gelehrtenkommunikation, als deren Teil die deutsche Barockliteratur begrif1 Vgl. Pütz: Die Leistung der Form, S. 60–63. 2 Zusammenfassend dazu Niefanger: Barock, S. 8–11. Als Erneuerung des Barockbe-
griffs tritt der von Peter J. Burgard herausgegebene Tagungsband Barock. Neue Sichtweisen der Epoche von 2001 auf. Sowohl in der Unentschiedenheit zwischen einem epochenbezogenen und einem transhistorischen Barockbegriff als auch in der Disparatheit seiner Beiträge vermag er diesen Anspruch jedoch kaum einzulösen. Aus vorwiegend romanistischer Perspektive vgl. Dubois: Le Baroque, der einen stiltypologischen Barockbegriff als Antitypus zu jenem Klassizismus profiliert, der im Frankreich Ludwigs XIV. vorherrschte. 3 Vgl. Wiedemann: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität; Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat, S. 242–244; Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte, S. 25.
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fen wird.4 Auch deren Kennzeichnung als „höfische Literatur“5 läßt sich auf die Komödie zwar in Einzelaspekten anwenden – hinsichtlich der monarchischen Orientierung mancher Figurenensembles oder aufgrund eines höfischen Entstehungs- oder Aufführungskontextes –; sie taugt jedoch kaum zur zusammenfassenden Charakterisierung der formal wie funktional uneinheitlichen Gattung. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies zum einen, daß sie einen relativ wenig beachteten Bereich der ‚Barockliteratur‘ beleuchtet.6 Zum anderen fällt die hier umrissene Gattungsgeschichte für das 17. Jahrhundert erheblich weniger kohärent aus als für die Zeit seit Gottsched. Die Komödien der Aufklärung verfolgten die retrospektiv als epochentypisch erkannten Anliegen (Lebensreform, Verhaltensrationalisierung, Moral- und Erkenntnisvermittlung) gutenteils bereits als eigenes Programm.7 Das schloß unterschiedliche anthropologische, sozialtheoretische oder ästhetische Optionen nicht aus. Diese Verschiedenheit von Standpunkten läßt sich indessen in deren Auseinandersetzung miteinander und daher als kontinuierliche Entwicklung rekonstruieren. Das Spektrum der ‚barocken‘ Komödienformen stellt sich dagegen viel heterogener dar. Die hier besprochenen Stücke vor der Gottschedschen Reform lassen sich daher zwar geschichtlich verorten bzw. indizieren in ihren Spannungen historischen Wandel. Trotz mancher Traditionsbeziehungen im einzelnen stehen sie jedoch nicht in einem kontinuierlichen gattungsgeschichtlichen Zusammenhang. Die Heterogenität der Komödienformen des 17. Jahrhunderts entzieht sich sowohl dem vereinheitlichenden Epochenbegriff als auch einer historiographischen Reihung. In eine bereits antike, am Ende unseres Zeitraums wieder beliebte8 Metapher gefaßt: die ‚Fäden‘ oder auch nur Fadenstücke der verschiedenen Komödientraditionen verdichten sich erst mit der Gottschedschen Reform zu einem ‚Gewebe‘ (textum), das bereits als Geschehenskontinuität jene Textqualität hat, die ‚Geschichte‘ konstituiert. (Geschichtstheoretische Prämisse dieser 4 Zur Legitimationsfunktion des Gelehrsamkeitsparadigmas für die Literatur des
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17. Jahrhunderts vgl. Stöckmann: Vor der Literatur, S. 109–132; grundlegend ist Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Vgl. Brenner: ebd. So vermerkt Peter J. Brenner: Das Drama. – In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts, S. 539–574, hier S. 562, daß der „Siegeszug der Komödie“ im 17. Jahrhundert „von der Literaturgeschichtsschreibung gern zurückgedrängt“ worden sei. Dementsprechend entstand der Epochenbegriff Aufklärung aus einem Leitbegriff bereits der damit belegten Zeit (vgl. Alt: Aufklärung, S. 1–7). Der Barockbegriff entstammt dagegen keinem Selbstverständigungsdiskurs und nahm in seiner Anwendung auf das 17. Jahrhundert zudem wechselnde Bedeutungen an (vgl. Niefanger: Barock, S. 8f.). Vgl. Demandt: Metaphern für Geschichte, S. 315f.
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These ist, daß historisches Geschehen dann als ‚Geschichte‘ wahrgenommen wird, wenn ihm plausibel die Struktur eines Erzähltextes mit einem Plot unterlegt werden kann.)9 Daß die Komödie erst im 18. Jahrhundert eine Gattungskontinuität im Sinne von fortlaufender, auf Innovation zielender Arbeit an ihr gewann,10 ist wiederum kein historischer Zufall, sondern koinzidiert mit der Herausbildung des neuen, Entwicklung und Kontinuität behauptenden Geschichtsbegriffs. Dessen erstem Auftreten um 1750 ging die Kontinuierung der deutschen Komödienproduktion sogar um einige Jahre voraus, so daß diese als ein Muster jenes veränderten Bezugs sozialen Handelns auf die vergehende Zeit gelten kann, dem der neue Geschichtsbegriff dann Ausdruck gab. Für den Einsatzpunkt dieser Studie folgt aus alldem, daß die Benennung eines Anfangs, wie die ältere Barockforschung ihn mit Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey von 1624 gesetzt sah,11 nicht möglich ist. Auf Opitz hin lassen sich weder das (lateinische) Schuldrama noch Gryphius’ Horribilicribrifax, noch die von den englischen Wanderkomödianten ausgehenden Impulse12 zentrieren. Zu profilieren ist vielmehr die Heterogenität dieser Gattungsanfänge. Zudem muß man sich hüten, der Zäsursuggestion der Jahrhundertwenden zu erliegen: Sowohl in ihren gelehrt-humanistischen als auch in ihren volksnahen Ausprägungen baut die Komödie des 17. Jahrhunderts auf Renaissancetraditionen auf.13 Die gleichwohl unvermeidliche Grenzziehung habe ich so vorgenommen, daß auf die durchaus geldmotivträchtigen Moralitäten des 16. Jahrhunderts sowie auf die 1593/94 erschienenen Dramen Heinrich Julius’ von Braunschweig lediglich Seitenblicke geworfen werden.14 Was an seinem Hof neu hervortrat – nämlich das aus England kommende Wander9 Vgl. Verf.: Die Texte der Geschichte. 10 In dieser Hinsicht entspricht der vor-gottschedische Umgang mit der Gattung Komödie
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dem noch nicht progressistischen Historizitätsbewußtsein, das für ‚Alteuropa‘ generell kennzeichnend ist; vgl. Reinhard: Probleme deutscher Geschichte 1495–1806, S. 105: „Vor den Aufklärern wollte nämlich niemand modernisieren“. Wieder betont wird die diskursprägende Rolle von Opitz’ Poetologie durch Kaminski: Ex bello ars. Vgl. Brenner: ebd., S. 564. Vgl. Niefanger: Barock, S. 167. Zu den Komödienformen des 16. Jahrhunderts vgl. Catholy: Das deutsche Lustspiel Bd. 1, S. 49–112 sowie Schade: Studies in Early German Comedy. Willi Flemming sieht Heinrich Julius zwar am „Anfang einer Geschichte der deutschen Barockkomödie“, ordnet ihn dramaturgisch jedoch Hans Sachs und dem ablaufenden Jahrhundert zu (Einführung. – In: Flemming [Hrsg.]: Die deutsche Barockkomödie, S. 5–58, hier S. 37 u. 40). Auch seine geringe Nachwirkung (vgl. Alexander: Das deutsche Barockdrama, S. 112) spricht eher gegen als für seine Berücksichtigung. – Zum dramaturgischen Typus ‚Moralität‘ vgl. Kap. 3.2.2 sowie S. 247 Anm. 4, zu Geldmotiven in Heinrich Julius’ Komödien S. 76 Anm. 24 sowie S. 77 Anm. 31.
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truppenspiel –,15 wird dagegen berücksichtigt, wenngleich in einer späteren, zur deutschen Sprache übergegangenen Ausprägung. Einen Anfang bei der Komödie der Wandertruppen zu machen scheint auch deshalb sinnvoll, weil diese über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg einen Hauptträger der Gattung bildeten. Die Frage, wo und aus welchen gattungshistorischen Gründen eine epochale Grenze zu ziehen ist, stellt sich ebenso in bezug auf das Ende einer Geschichtsdarstellung. Hinsichtlich der Komödie machen die nachfolgenden Studien für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts drei Wandlungen aus, die sich zu einer gattungsgeschichtlichen Zäsur summieren: Wurde die Komödie bisher in Opposition zur Tragödie definiert, so vermischen sich nun beide Gattungen im ‚Schauspiel‘ (vgl. Kap. 2.8.2); war Komödie bisher stets ein komisches Drama mit normativen Lizenzen, so verliert sie nun ihre belustigende Wirkung ebenso wie ihre Gegenweltlichkeit (3.7.2/3); verfolgten Komödienaufführungen bisher einen pragmatischen Zweck (Theatergeschäft, festliche Repräsentation, rhetorische Übung, Moralvermittlung), so treten sie nun in den Bereich des ästhetischen Spiels über (4.6.3). Zunehmend zur Buchliteratur geworden, verliert die Komödie jene Parallelität mit theatralischen Handlungsmustern in Gesellschaft und Lebenswelt, die unseren postsozialgeschichtlichen Ansatz fundiert. Zwar wird das ‚alte‘ Komödienparadigma über die 1770er Jahre hinaus genutzt, doch sinkt es dabei – was im nun angebrochenen Zeitalter ‚bewegter‘ (Literatur-)Geschichte16 erst auffällt – in die Sphäre der Epigonen, während die gattungsgeschichtlich bedeutsamen, weil innovativen Komödien eines Lenz oder Tieck neue Paradigmen schaffen.17 Der problematischen Geschichtlichkeit der Komödie in der Frühen Neuzeit entspricht die Forschungslage. Lediglich die Entwicklung seit bzw. weg von Gottsched findet traditionell stärkere Beachtung, hatte die Gattung um die Mitte des 18. Jahrhunderts doch die herausgehobene Funktion eines „dramatischen Experimentierfeldes“.18 Die beste Erschließung und dramenge15 Vgl. Catholy: Das deutsche Lustspiel Bd. 1, S. 116. 16 Zu den begriffs- und mentalitätshistorischen Komponenten dieser Bewegung vgl.
Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. – In: ders.: Vergangene Zukunft, S. 38–66. 17 Zur Komödie des späten 18. Jahrhunderts vgl. Arntzen: Die erste Komödie. Arntzen begreift vor allem Tiecks Komödien des „bloßen [...] Spiels“ als „Auflösung“ der Gattung (S. 141); den Gestiefelten Kater von 1797 nennt er „das erste Beispiel einer Un-Komödie“ (S. 138). Diese Wertungen bezeugen gewiß einen zu engen Gattungsbegriff, ebenso aber die komödiengeschichtliche Zäsur, vor der die vorliegende Studie haltmacht. 18 Vgl. Koopmann: Drama der Aufklärung, S. 100 mit Bezug auf die 1740er und 50er Jahre. Als neueste Monographie vgl. Neuhuber: Das Lustspiel macht Ernst.
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schichtliche Verortung des Stoffs bietet nach wie vor Walter Hincks Studie über die Einflüsse der Commedia dell’arte von 1965, während Bernhard Greiners vor allem theaterästhetisch interessiertes Komödienbuch von 1992 seinen Schwerpunkt in der Goethezeit sowie im 20. Jahrhundert hat19. Bis in die 1960er Jahre dürfte die traditionelle Nachrangigkeit der Komödie im Gattungssystem zu dieser geringen Forschungsintensität besonders im ‚barocken‘ Bereich beigetragen haben, seit den 1980er Jahren hingegen die verbreitete Ablehnung gattungsbezogener Ordnungen des literarischen Feldes. Nachrangig oder gar obsolet erscheinen Gattungsfragen aus dem Blickwinkel poetologischer Programme der Frühromantik oder der Emphatischen Moderne.20 Allerdings droht hier ein doppelter Kurzschluß: zum einen die Mißachtung der historischen Relativität nicht nur generischer Ordnungen, sondern auch von gattungsskeptischen Positionen, zum anderen die Ableitung des literaturwissenschaftlichen Verfahrens aus dessen Gegenstand. Wissenschaft aber hat ihre Perspektiven selbst zu wählen – selbstverständlich dem Gegenstand angemessen (deswegen ist diese Studie nicht als kontinuierliche Geschichtserzählung angelegt), nicht jedoch als dessen Reproduktion.21 Über die literarhistorische Legitimität von Gattungskategorien läßt sich mit Verweis auf deren Ablehnung im Objektdiskurs daher nicht entscheiden.22 Umgekehrt reicht der Verweis, daß generische Kategorien eine im betrachteten Zeitraum vorrangige Kontextbedingung der Produktion wie Rezeption literarischer Texte und daher deren Kommunikationshorizont bildeten, 19 Vor Minna von Barnhelm berücksichtigt Greiner an deutschen Stücken nur Gryphius’
Verlibtes Gespenste/Die gelibte Dornrose sowie Johann Elias Schlegels Stumme Schönheit. Daneben ist noch Eckehard Catholys Deutsches Lustspiel zu nennen, dessen erster Band (von 1968) den Anfang und dessen zweiter Band (1982) das Ende unseres Zeitraums abdeckt. Catholys Studie ist relativ schwach perspektiviert und erbringt daher vergleichsweise wenig prägnante Ergebnisse. 20 Eine Maßgabe auch für die Forschung leitet daraus beispielsweise Frederic Jameson ab: Das politische Unbewußte, S. 106. 21 Zur notwendigen Trennung von Gegenstands- und Wissenschaftsdiskurs vgl. Japp: Beziehungssinn, S. 62: „Die mimetische Strategie [...] suggeriert Einsicht aus Ähnlichkeit. Aber Intimität impliziert nicht notwendig Erkenntnis. Im Gegenteil, die Verwischung der Differenz zwischen literarischem und historischem Diskurs verhindert die Einsicht in die Eigenart beider.“ 22 Das gilt auch für eine Epoche, die hier allenfalls in prinzipieller methodischer Hinsicht interessiert: die meist als gattungssprengend verstandene ‚Moderne‘ um 1900. Zum einen setzt Negation das Negierte in einer für die Zeitgenossen erkennbaren Erscheinungsform voraus (vgl. Klaus W. Hempfer: Gattung – RLW 1, S. 651–655, hier S. 654); zum anderen läßt sich selbst für eine als traditionell verrufene Gattung wie die Tragödie nachweisen, daß ihre Gattungsstrukturen nicht nur einen beträchtlichen Teil des ‚modernen‘ Dramas, sondern auch des Epochenbewußtseins zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägten (vgl. Verf.: Dialektik der Dialektik). Zur Komödie nach 1900 vgl. Alt: Die soziale Botschaft der Komödie.
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nicht aus, um das hier eingeschlagene gattungsgeschichtliche Vorgehen zu begründen.23 Das leitet sich vielmehr aus den oben angestellten Überlegungen her, über welche Strukturen Literatur- und Sozialgeschichte am besten, d. h. in einer sowohl die Gesellschaftlichkeit wie die Eigenförmigkeit literarischer Texte berücksichtigenden Weise zu vermitteln seien. Auf ihre strukturelle Beziehung zum sozialen Kontext befragt, geraten die Komödie und ihre Geschichte unter den spezifischen Aspekt der Geldaffinität. Ob sich aus einem solchen Blickwinkel zugleich eine Geschichte der deutschen Komödie von ihren ‚barocken‘ Anfängen bis Lessing umreißen läßt, muß sich im folgenden erweisen. Grundsätzlich verspricht eine solch ‚starke‘ Perspektivierung jedenfalls prägnantere Ergebnisse als der Verzicht darauf, wie die Komödiengeschichten von Hinck und Greiner belegen. Von der Geschichtlichkeit der einzelnen Gattungsvertreter als deren Verankerung in jeweils synchronisch zu beschreibenden Produktions- wie Rezeptionskontexten ist jene Geschichtlichkeit zu unterscheiden, die sich als diachroner Prozeß der Gattungsentwicklung konstituiert. Jene betrifft die Stellung von literarischen Texten im historischen Prozeß, diese die eigene Geschichte einer Gattung (in ihrem sozialen und kulturellen – und seinerseits geschichtlichen – Kontext). Der Literarhistoriker hat, nimmt man Grund- und Bestimmungswort des Kompositums ernst, letztlich das zweite anzupeilen.24 Unabdingbar ist ein derartig historisches Vorgehen, wenn eine Gattung seinen literarischen Gegenstand bildet, denn Gattungen sind, wie Hans Robert Jauß herausgestellt hat, nicht als Konkretisationen „unveränderlicher Wesensmerkmale“ zu begreifen, sondern als Produkte eines prozessualen Wechselspiels von „Horizontstiftung und Horizonterwartung“.25 Das gilt zumal für die Komödie, wie Ulrich Profitlich unlängst in einer Zusammenschau der wichtigsten komödientheoretischen wie -geschichtlichen Arbeiten seit den 60er Jahren resümiert hat: „Prüfstein, ob ein Werk ‚Komödie‘ genannt werden darf, ist allein, ob es einen Platz in einem Kontinuum von Veränderungen hat, 23 Die genannte Gattungsbedingtheit stellt Forderungen lediglich an die Beschreibung
jeder einzelnen Komödie, vgl. Janik: Die heuristische Funktion und der Erklärungswert der Gattungsvorstellung für die Literaturgeschichte, S. 104: „nur das Gattungsbewußtsein als eine das Produktions- und Rezeptionsverhalten steuernde kommunikative Konvention einerseits und die Gattungsvorstellung als heuristische Kategorie der Forschung andererseits eröffnen den vollen Zugang zur spezifischen Geschichtlichkeit der einzelnen Werke“. 24 Anders formuliert, besteht das Problem darin, welches „Signifikat“ man der Literaturgeschichte zuweist: eine von dieser unabhängige National-, Sozial- oder anderweitige Geschichte (zu diesem Ansatz vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, das Zitat S. 290) oder den Wandel (von Teilen oder Ordnungsformen) der Literatur selbst. 25 Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters, S. 134 u. 124.
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durch die der ursprüngliche historische Typus immer weiter abgewandelt werden kann.“26 Wie Profitlich weiter ausführt, nimmt der literarhistorische Prozeß dem Literaturwissenschaftler die Definitionsarbeit keineswegs völlig ab, sind doch immer wieder Entscheidungen zu fällen, ob eine neu entwickelte Form der Gattung noch zuzurechnen ist oder nicht (hinsichtlich etwa des komikreduzierten ‚rührenden Lustspiels‘ entscheidet sich die vorliegende Studie mit ja, hinsichtlich des daraus hervorgegangenen ‚Schauspiels‘ mit nein).27 Ohne gattungsgeschichtliche Arbeit scheint indessen überhaupt keine plausible Gattungsbestimmung möglich. Daher liegt auch dieser Studie der Jaußsche Begriff von Gattungen als „historischen Familien“28 zugrunde. Ihn überfordern selbst die diskontinuierlichen Komödienverhältnisse unseres Zeitraums nicht, können Generationenfolgen doch zeitweise eher locker und Verwandtschaften weitläufig sein, um sich dann wieder zu verdichten.
1.4.2 Textauswahl, Gliederung Literatur und Geschichte zu korrelieren erfordert im Fall der Komödie, die Entwicklung sowohl von Wirtschaftssphäre und -mentalität als auch des komischen Schauspiels zu verfolgen. Hier wiederum ist, wie stets, eine exemplarische Auswahl der zu analysierenden Dramen unabdingbar. Dabei kann man sich die Offensichtlichkeit der Affinität der Gattung zum Geldwesen zunutze machen: Wie erwähnt, stellt Geld bereits ein bevorzugtes Motiv der Komödie dar; in zahlreichen Gattungsvertretern, darunter nicht wenigen kanonischen, haben die konzeptionellen Interferenzen, denen es nachzuspüren gilt, zumindest partiell motivischen Ausdruck gefunden. Aus ihnen setzt sich das Textkorpus der vorliegenden Untersuchung zusammen. ‚Geldkomödien‘ stellen das, womit wir ihre Strukturen vergleichen möchten, bereits dar: Als Form vertreten unsere Texte den Pol ‚Komödienstruktur‘, als gespielte Handlung und explizierte oder implizite Normen dagegen repräsentieren sie deren ökonomisch-soziales Gegenüber. Droht angesichts dieser Rekursivität aber nicht die Gefahr von Zirkelschlüssen? Wie aussagekräftig sind die festzustel26 Profitlich: „Geschichte der Komödie“, S. 204. 27 Bei diesen Entscheidungen spielt die Struktur, die einer Gattung zugemessen wird,
eine entscheidende Rolle. Zum strukturalistischen Ansatz der Gattungstheorie, dem unsere Überlegungen in Kap. 1.2.1 verpflichtet sind, steht der gattungshistorische also nicht im Widerspruch, sondern er setzt ihn voraus. Zur gattungspoetologischen Angewiesenheit von ‚Struktur‘ wie ‚Geschichte‘ auf das jeweils andere vgl. Dieter Lamping: Probleme der neueren Gattungstheorie. – In: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, S. 9–43, hier S. 24–33. 28 Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters, S. 110 (im Orig. hervorgehoben).
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lenden Strukturinterferenzen zwischen Komödie und Geldwesen, wenn sie an Texten abgelesen werden, die Geld zum Gegenstand schon der dramatischen Handlung machen? Die Repräsentativität der vorgenommenen Analysen ist demnach in zwei Richtungen zu sichern: hinsichtlich der jeweiligen monetären und soziomentalen Verhältnisse – dem dient die Beiziehung von weiterem histori(ographi)schen Material –, ebenso wie hinsichtlich der Gattung Komödie als ganzer (wobei es sich um ein Ganzes ohne klar umrissene Ränder handelt). In diesem zweiten Punkt legitimiert sich die Beschränkung auf geldmotivisch ‚verdichtete‘ Gattungsvertreter dadurch, daß Bewegung und Stabilisierung nicht allein deren Handlungs- und Wirkungsstruktur prägen. Wie dargelegt, kennzeichnen die genannten Prinzipien die Gattung vielmehr generell. Die vorliegende Studie baut sich aus relativ geschlossenen Einzelinterpretationen auf, denn die Ermittlung dramatischer Strukturen und deren Interpretation als normativ besetzte Analoga von Handlungsmodellen erfordert intensive Textanalysen und also ein überschaubares Textkorpus.29 Die Auswahl der interpretierten Komödien erfolgte nach zwei Gesichtspunkten: zum einen nach der Aussagekraft eines Stücks hinsichtlich der bzw. einer ökonomisch-sozialen Mentalität seiner Zeit, zum anderen nach seiner Eignung, eine der für die Komödiengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts relevanten Gattungsausprägungen zu repräsentieren. Zu berücksichtigen waren daher Wandertruppentexte oder höfische und studentische Belustigungen ebenso wie das schlesische Kunstdrama oder das protestantische Schultheater, die Gottschedsche Reformkomödie ebenso wie die auf den Wiener Vorstadtbühnen fortlebende Tradition der Commedia dell’arte. Wird eine gewisse komödiengeschichtliche Repräsentativität angestrebt, so reichen deutschsprachige Texte jedoch nicht aus, auch wenn ein Stück Literatur- und Sozialgeschichte Deutschlands (d. h. für unseren Zeitraums: des ‚Reiches‘) zur Rekonstruktion ansteht. Sowohl das Theaterleben des 17. als auch die Spielpläne des 18. Jahrhunderts wurden vielmehr von ‚Importen‘ geprägt, jenes von den zunächst meist englischen, später auch italienischen 29 Soll dagegen ein möglichst breites Material berücksichtigt werden, so ist lediglich eine
schematische Analyse möglich. Wie die ähnlich fokussierte Studie von Margrit Fiederer demonstriert, droht ein solcher Ansatz sich in der Katalogisierung von Motivischem zu erschöpfen – wie häufig geschieht dies? wozu führt das? – (vgl. die motivische Gliederung: Verschwendung, Habgier und Geiz, Wohltätigkeit, Heirat, Erbschaft, Arbeit, Bestechung, Armut bei Fiederer: Geld und Besitz im bürgerlichen Trauerspiel), während das eigentlich Dramatische ausgeblendet wird, zumal das Spezifische – an reflexiver Leistung oder literatur- und mentalitätsgeschichtlich interpretierbaren Brüchen – einzelner Texte. Dagegen baut sich Bernhard Greiners Komödienbuch – eine Gattungsgeschichte, die neue Maßstäbe in der theoretisch angeleiteten Durchdringung ihres Textkorpus setzt – aus Einzelinterpretationen auf.
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Wandertruppen, diese von einer Fülle französischer, italienischer, englischer und dänischer (Holberg) Komödien, zunehmend in Übersetzungen, im Fall der romanischen Sprachen aber auch im Original (auf den Hofbühnen).30 Den ausländischen Truppen wie Texten kam bis ins späte 18. Jahrhundert durchaus maßgebliche Bedeutung zu, so daß sich eine Geschichte bloß autochthoner Komödien für unseren Zeitraum gar nicht schreiben ließe. Fremdsprachig, wenngleich kein ‚Import‘ waren auch die lateinischen Stücke des Jesuitentheaters, das ebenfalls nicht übergangen werden darf. Doch ist auch auf diesem Feld eine Auswahl vonnöten: Der Theatergeschichte des 17. Jahrhunderts entsprechend, setzt unsere Untersuchung mit einem ‚englischen‘ Komplex ein, nämlich mit einer ursprünglich wohl von Wandertruppen nach Deutschland gebrachten Fassung des Merchant of Venice sowie, vorgeschaltet, einer Analyse des Shakespeareschen Originals. Obwohl das Original hierzulande erst spät rezipiert wurde,31 empfiehlt sich seine Berücksichtigung sowohl aus historischen (dort sichtbare Herausbildung einer Marktwirtschaft und -gesellschaft) als auch aus motivgeschichtlichen Gründen (Lessings Nathan läßt sich geradezu als Gegenentwurf lesen). Ihrer immer wieder erneuerten Vorbildlichkeit entsprechend, ist die französische Komödie gleich fünffach präsent: als motivgeschichtlich zentrales und qualitativ überragendes Original (Molières L’Avare), als dessen Wanderbühnenfassung, in Gestalt einer sozialpolitisch motivierten Bearbeitung (Die Ungleiche Heirath der Gottschedin nach Molières George Dandin), als Musterstück (Destouches’ Le Dissipateur in der Übersetzung ebenfalls der Gottschedin) sowie als Spielplanbereicherung, an der sich zugleich komödienästhetische Verschiebungen ablesen lassen (Pfeffels Kaufmann nach Dampierre de La Salles Le Bienfait rendu). Die neuerdings von Michel Grimberg rekonstruierte Funktionsgeschichte der deutschen Rezeption französischer Komödien32 illustriert diese Textreihe wenn nicht in allen Stationen, so immerhin in charakteristischer Weise. Dagegen erscheint, unter dem Aspekt unserer Fragestellung, der italienische Einfluß weniger leicht greifbar. Von gattungsstruktureller Bedeutung ist die dominante Paradigmatik, mit der die Commedia dell’arte immer wieder in 30 Als Überblick vgl. Meyer: Das französische Theater in Deutschland. 31 Die erste Aufführung erfolgte, in deutscher Sprache und bearbeitet, 1777 in Prag (vgl.
Och: Imago judaica, S. 185). Eine Prosaübersetzung hatte wenig zuvor Wieland angefertigt. 32 Vgl. Grimberg: La Réception de la comédie française dans les pays de langue allemande (1694–1799). Grimberg betreibt Rezeptionsgeschichte in neuartiger Weise weniger unter der Kategorie des ‚Einflusses‘ der gebenden Seite als des ästhetischen usw. Interesses der nehmenden Seite und hat dazu einen sehr nützlichen Nachdruck der Vorreden deutscher Übersetzungen französischer Komödien herausgegeben (vgl. Grimberg: Die Rezeption der französischen Komödie. Ein Korpus von Übersetzervorreden).
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den Norden ausstrahlte (z. T. via Paris und das Théâtre de la foire).33 Ungeachtet der starken Bühnenpräsenz besonders Goldonis,34 berücksichtige ich einzelne Stücke jedoch nur en passant. Denn die ökonomisch-sozialen Normen der italienischen Komödie sind konservativ und unspezifisch, stand doch nicht die Problematisierung der ‚Umwelt‘, sondern das autonome komische Spiel im Vordergrund.35 Und als dieses um 1750 der gemeineuropäischen Tendenz zum ‚rührenden Lustspiel‘ erlag, wurde die in der Figur des Pantalone seit jeher beteiligte Kaufmannssphäre weiterhin nicht ökonomisch oder sozial, sondern familiär-moralisch betrachtet (so in Goldonis Mercatanti).36 In einer auf die Herausbildung mentaler Dispositionen für die moderne Marktgesellschaft fokussierten Komödiengeschichte kann die italienische Komödie daher keinen prominenten Platz einnehmen. Geordnet werden die interpretierten Texte zunächst nach dominanten Motiven: dem Kaufmann (Kapitelgruppe 2), dem Geiz (Kapitelgruppe 3) sowie dem Spiel (Kapitelgruppe 4), innerhalb der drei Kapitelgruppen dann historisch. Diese Gliederung orientiert sich an der Trias Figur, verlachte lasterhafte Eigenschaft sowie pragmatischer und/oder theatraler Handlungsmodus als Konstituenten der Komödie und besetzt diese jeweils mit einem Phänomen der Geldsphäre, das für den betrachteten Zeitraum typisch ist. Aus den unterschiedlichen Ansatzpunkten im Gefüge der Gattung ergeben sich zudem thematische Schwerpunkte der drei Kapitelgruppen. So steht mit dem Kaufmann als ‚Agenten des Geldes‘ zum einen der Markt zur Debatte. Normativ geht es dabei um marktförmige, d. h. performative Wertbildungsmechanismen, während die Herausbildung des (abstrakten) ‚einen‘ Marktes der ökonomischen Moderne den wirtschaftshistorischen Hintergrund bildet (vgl. das nachfolgende Unterkap. 1.4.3). Eng damit verbunden sind das Problem der gesellschaftlichen Reichweite von Normen und Handlungsmustern sowie die Konkurrenz des Tausches als Prinzips von Geschäften mit der sozialsphärenintegrativen Gabe. Als ‚beruflich‘ profilierte Figur ist der Kaufmann, zum anderen, Angehöriger eines Standes, womit Fragen der gesellschaftlichen Hierarchie – prin33 Vgl. dazu die gründliche Studie von Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und
18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. 34 Vgl. Maurer: Goldoni. 35 Vgl. Hinck: ebd., S. 45f. Plakative Szenen wie in Goldonis Eyfersüchtigem Geizigen
(Il geloso avaro 1753), wo die Titelfigur „an einem Tische mit Goldwagen und verschiedenen Münzsorten“ gezeigt wird (Sämmtliche Lustspiele Bd. 11, S. 3–141, hier S. 20, vgl. ebd., S. 25), ändern daran nichts, denn sie komisieren die Geschäftssphäre in einer Weise, die allenfalls auf individualethischer Ebene zugleich eine Problematisierung bedeutet. 36 Vgl. Maurer: Goldoni, S. 174–176. Zur zentralen Stellung der als tugendhafter Familienvater auftretenden Kaufmannsfigur Pantalone in Goldonis Reformtheater vgl. Sanna: Lessing und Goldoni, S. 250.
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zipielle ebenso wie, im 18. Jahrhundert, der Konkurrenz von Adel und Bürgertum – aufgeworfen sind. Der Geiz wiederum fokussiert ökonomisch-soziale Normen in einem engeren Bereich, nämlich innerhalb des Hauses, das durchaus aber eine gesellschaftliche Modellfunktion übernehmen kann. Im komödientypischen Laster des Geizes wird zunächst vor allem das Verhältnis monetärer Orientierungen und Institutionen zur göttlichen Weltordnung diskutiert. Später hingegen erscheint der Geizige als Störfaktor eines auf den Monarchen ausgerichteten Merkantilismus sowie galanter Lebensart. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wird die Askese, die der Geiz übertreibt, zunehmend aber auch zum komödienästhetischen Faktor: Komik und überhaupt die Sinnlichkeit der theatralen Repräsentation werden der aufklärerischen Reform verdächtig und so weit zurückgedrängt, daß die Komödie als Gattung gefährdet ist. Das auf der Handlungsebene erörterte Problem erhält hier eine generische und theatrale Dimension. Diese Verwobenheit von thematischer und theatraler Dimension prägt unsere Schau-Spiele ums Geld generell. Denn einen Geizigen auf die Bühne zu bringen heißt, ihn dem Verlachen des Publikums darzubieten, also das Theater als modellhafte Sanktionierung von Normverletzungen zu instrumentalisieren. Unter merkantilem Aspekt stellt sich – um dies nachzutragen – jene Verwobenheit zum einen in dem Markt dar, der als Bühne begriffen wird, auf der Werte ausgehandelt werden. Zum anderen standen Autoren und Theaterleute vor der Frage, in welchem Maße das komödische Spiel sich auf den Markt begeben – und ihm anbequemen – dürfe bzw. müsse. Da der Auftritt der Menschen auf dem theatrum mundi nach Ständen erfolgte,37 war schließlich auch das Ständethema mit dem Theater verflochten. Spiel sind – um das Thema der dritten Kapitelgruppe zu umreißen – sowohl ein guter Teil der Aktionen in der fiktionalen Welt der Komödie als auch die Aktionen des Schauspielers, die den Komödientext zum Bühnenleben erwecken.38 In beiden Hinsichten können die Spiele der Komödie entweder mehr der Belustigung oder mehr pragmatischen Zwecken (vom Gewinninteresse bis zur moralischen Belehrung) verpflichtet sein. Ebenfalls in beiden
37 So noch in dem bei Hansen: Formen der Commedia dell’Arte in Deutschland,
S. 262–265, abgedruckten „Gespräch von Comödien“ von 1731 (hier S. 262). 38 Hinsichtlich der Bühnenaktionen des 17. Jahrhunderts ist die Qualifizierung als Spiel
weniger selbstverständlich, als man annehmen könnte. Denn im Bereich des mit Kunstanspruch betriebenen Theaters waren „Theatervorstellungen bebilderte rhetorische Aktionen und noch nicht szenisches Spiel“ (Schleier: Die Vollendung des Schauspielers zum Emblem, S. 538). Eine Ausnahme bildete allerdings die Gattung Komödie, deren Aufführungspraxis sich am „Spielstil der Commedia dell’arte“ orientierte (ebd., S. 540).
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Hinsichten unterstehen sie dem Gattungsgesetz des ‚guten Ausgangs‘.39 Wie aber tragen Spiele dazu bei? Durch ihre strategische Lenkungsmacht, wie sie der Politicus instrumentalisiert, durch die Dynamik ihrer Zufälligkeit oder durch providentielle Absicherung? Dieselbe Spannung zwischen Zweckbindung und Autonomiepotential prägt – die oben erläuterte Parallelität von Komödienstruktur und Geldwesen noch einmal bestätigend – den Umgang mit dem Geld, und auch in seiner Sphäre stellt sich die Frage, von welchem Handlungsfaktor ein guter Ausgang zu erwarten ist. In den Antworten wiederum, die unsere Bühnenspiele ums Geld geben, wird einmal mehr die theatralische und generische Verfassung der Komödie mit den Geschehensstrukturen der dargestellten Welt verwoben: entweder indem der erfolgreiche, weil sich verstellende Spieler ums Geld nach dem Muster des Schauspielers gezeichnet ist oder weil der komödientypische ‚gute Ausgang‘ (trotz überwiegend normwidrigen Verhaltens) als Erwartung auch an die monetäre Sphäre propagiert wird. In historischer Perspektive verschiebt sich dabei die Modellfunktion des Spieles in prägnanter Weise: Als typischer Handlungs- wie Repräsentationsmodus der Komödie modelliert es zunächst vor allem die pragmatischen wie moralischen Spielräume des einzelnen oder in gesellschaftlichen Nischen, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hingegen einerseits die makrostrukturellen Mechanismen der Marktgesellschaft, andererseits die Scheinhaftigkeit literarischer Fiktionalität.
1.4.3 Die Entstehung der Marktwirtschaft Was das Geld sei, bestimmten wir dahingehend, daß es zum einen als Ausgleich, Zugleich und Wechsel von Bewegung und Stabilisierung funktioniere (Kap. 1.2.1), zum anderen ein Muster jener Repräsentation darstelle, mit der sich Substanzhoffnungen verbinden, die jedoch auf Performanz basiert (1.2.2). Vorsicht ist dagegen vor totalisierenden Theorien geboten, die das Geld und seine Funktionen entweder im Rahmen einer geschlossenen Gesamttheorie der Gesellschaft und ihrer Entwicklung bestimmen oder, umgekehrt, das Geld zum Paradigma ihrer Weltdeutung erheben. Diesem Theorietyp sind alle vier Theorien zuzurechnen, auf die sich die neuere ‚Geld-undLiteratur‘-Forschung zumeist berufen hat: sowohl die Politische Ökonomie eines Karl Marx oder die als Gegenstück konzipierte Geldphilosophie Georg 39 Zu diesem Gattungsmerkmal vgl. Hinck: Vom Ausgang der Komödie. Selbst die
Komödien des 20. Jahrhunderts, die Versöhnung ostentativ verweigern, beziehen sich noch auf die von ihnen konterkarierte Gattungstradition, sei es um die Wucht ihrer satirischen Kritik zu steigern, sei es um Versöhnung wenigstens als utopische Hoffnung zu bewahren (vgl. ebd., S. 34–47).
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Simmels als auch der soziologische Geldbegriff Niklas Luhmanns oder das dekonstruktive Geldverständnis Jacques Derridas.40 Mit dem totalisierenden Deutungsanspruch geht dort – nur scheinbar paradoxerweise – eine Verengung des Blicks auf das Geld(wesen) einher: Alle jene Theorien heben einen Aspekt der Geldfunktion hervor, sei es die Verdrängung des ‚eigentlichen‘ Gebrauchswerts einer Ware durch deren fetischisierten Tauschwert,41 sei es die Konstituierung von Werten qua universaler Vermittlung von Waren,42 sei es die Zumutung von Eigentum als eine Variante der Ermöglichung von Kommunikation43 oder die permanente Verschiebung der Einlösung des pekuniären Wertversprechens, insofern der Gebrauch von Geld auf dem Vertrauen in seine auch künftige Geltung basiert.44 Selbst zusammengenommen engen diese Theorieangebote das Spektrum möglicher Geldfunktionen unziemlich ein. Denn sie alle sind Theorien der modernen Funktion des Geldes, d. h. sie setzen entweder bei seiner Tauschmittelfunktion an (so Marx und Simmel); das aber rückt den Markt in eine Zentralstellung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns, die dieser erst im Prozeß der Neuzeit gewann, wie besonders bei Derrida deutlich wird, der die dynamische différance des Geldes, wie er es versteht, ausdrücklich gegen noch nicht auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftsmodelle abgrenzt.45 Oder sie definieren das Geld als Medium speziell des Wirtschaftssystems (so Luhmann und wieder Marx, der in der Wirtschaft freilich keinen Teilbereich, sondern die maßgebliche Basis der Gesellschaft sah), was keinen Raum für religiöse und andere soziokulturelle Funktionen von Geld läßt, die nicht dem Prinzip der Besitzmaximierung unterliegen. Geld und geldwerter Besitz als geschenkter Liebesbeweis, als Ausweis von Tugendhaftigkeit, als göttlicher Lohn oder Symbol fürstlicher Macht – all dies finden wir in den Geldkomödien des 17. und 18. Jahrhunderts, nicht aber in den einseitig entweder auf Tausch oder auf Ökonomie abhebenden Geldtheorien der Moderne. Der frühneuzeitlichen Geldauffassung noch am nächsten steht die stark wertende Geldtheorie des Marxismus, insofern sie bis in die Antike zurück40 Als knappen, aber dichten Überblick über weitere kulturwissenschaftliche Geldtheo-
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rien vgl. Hörisch: Geld; als Forschungsbericht aus soziologischer Sicht – die inzwischen ebenfalls ihren ‚cultural turn‘ erlebt hat – Müller: Geld und Kultur. Vgl. Marx: Das Kapital – MEGA II, 5,1, S. 59 u. 66. Vgl. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 121f. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 348. Vgl. Derrida: Falschgeld, S. 162. – Trotz ihres plural-deskriptiven Anspruchs nicht weniger einseitig, nämlich einseitig volkswirtschaftlich, sind wirtschaftswissenschaftliche Beschreibungen der Geldfunktion, die mit der klassischen Trias ‚Tauschmittelfunktion‘, ‚Recheneinheit‘ und ‚Wertaufbewahrungsfunktion‘ auskommen (vgl. Jarchow: Theorie und Politik des Geldes I, S. 15–17). Vgl. Gernalzick: Kredit und Kultur, S. 142f.
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reichende Traditionen moralistischer und theologischer Geldkritik fortsetzt, so daß Geld als sozioökonomisch erzeugtes „Blendwerk“ erscheint, das die ‚wahren‘ Werte verfälscht.46 Im Bereich wirtschaftlichen Handelns wird dem Geld zudem durchweg eine unbedingte Regelungsleistung zugesprochen, die es selbst am Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht durchgängig besaß, wenn beispielsweise marktgerechte Brotpreise nicht akzeptiert wurden und wegen Unruhen herabgesetzt werden mußten.47 Wer sich die Blickverengungen theoretisch gesteuerter Zugänge zum Thema ‚Geld und/in Literatur‘ bewußt macht, muß die verschiedenen Theorieangebote jedoch nicht gänzlich ausschlagen. Ihre beobachtungsschärfende Kraft können sie vielmehr auch in einer Doppelperspektive entfalten, die sowohl auf solche Geldfunktionen achtet, die unter modernen Bedingungen an den Rand gerückt oder ganz verschwunden sind, als auch die Herausbildung jener modernen Verhältnisse verfolgt, die durch Marktherrschaft und Ausdifferenzierung einer autonomen Wirtschaftssphäre gekennzeichnet sind. Geboten ist demnach eine historisierende Nutzung des skizzierten Theorieangebots, die zudem kombinatorisch verfährt, insofern nicht eine einzelne Theorie absolut gesetzt wird. Die genannte Doppelperspektive impliziert zugleich die Annahme, daß unsere Komödien sich in einen historischen Prozeß einordnen lassen, der, auch wenn er nicht linear und stetig verlief, eine bestimmte Entwicklungsrichtung zeigt. Diese Prozessualisierung rührt nicht von der Annahme einer entelechialen oder teleologischen Entwicklung (in) der Geschichte her; sie entsteht vielmehr notwendig im ebenso notwendig retrospektiven Blick des Forschers auf die (literarischen) Ereignisse vor 400, 300, 200 Jahren. Historische Kontinuität und Richtung bilden keine ‚metaphysische‘ Erblast der Geschichtstheorie, sondern sind ‚automatisch‘-immanente Konstruktionen der (literar)historischen Forschung.48 Insofern beinhaltet die Feststellung – relativer – Modernität keinerlei Wertzuschreibung, auch wenn das Fortleben naiv-aufklärerischer Hoffnungen dies immer wieder ver46 Vgl. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte – MEGA I, 2,1, S. 318–322;
Das Kapital – MEGA II, 5,1, S. 89–91; ebd. Bd. 2 – MEW 24, S. 359; Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 113. In einen normativen Ökonomismus umgeschrieben, ist dem Marxismus diese Traditionalität seiner Geldkritik jedoch nicht bewußt – was auch seinen Gebrauch durch einen modernen Forscher belasten würde. 47 Vgl. Schultz: Handwerker, Kaufleute, Bankiers, S. 92; Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapitalismus, S. 184. 48 Auf der Grundlage der an Arthur C. Danto anknüpfenden narrativistischen Geschichtstheorie erläutert Ferdinand Fellmann die Unumgänglichkeit dieser Konstruktion einer zukunftsgerichteten Geschichte in der Retrospektive des Historikers, vgl. Fellmann: Das Ende des Laplaceschen Dämons, S. 131. Als Kritik an der Foucaultschen Kritik vermeintlich teleologischer Geschichtskonstruktionen vgl. Verf.: HistoriographieGeschichte!
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meinen läßt. Über Gewinn und Verlust im Sinne einer Wertung kann allenfalls in einem zweiten Schritt diskutiert werden. ‚Objektive‘ Entscheidungen scheinen dort wiederum nicht möglich, weil der Richter, die historische Wissenschaft, selbst Partei ist, nämlich eines jener ausdifferenzierten Systeme, deren Ausbildung er im Bereich von Wirtschaft (und Literatur bzw. Kunst) beschreibt. Die Option für Modernität liegt der modernen Wissenschaft demnach ebenso nahe, wie sie durch diese Nähe zugleich problematisiert wird. In der rekonstruierenden Perspektive des Forschers geht die Tendenz des wirtschaftshistorischen Prozesses des 17. und 18. Jahrhunderts vor allem auf die Ausbildung eines umfassenden, homogenen Marktes. Zum einen unterscheidet sich dieser Markt dadurch von allen Märkten, die seit frühester Zeit dem Austausch und der Distribution von Waren dienten, daß (nahezu) alle Produzenten und Konsumenten an ihm teilnehmen. Im Zuge der seit Beginn der Neuzeit fortschreitenden Arbeitsteilung und Professionalisierung wurden immer mehr Alltagsgüter in die Warenwirtschaft einbezogen.49 Den Markt – und das für ihn benötigte Geld – umgehende Selbstversorgung, wie weite Bevölkerungsteile, Bauernwirtschaften, Adelshöfe wie Handwerksmeisterhaushalte, sie zu Beginn der Neuzeit noch betrieben, kommt unter diesen Bedingungen nur zur Ergänzung einer Marktbeziehung vor: Die Zahl der Haushalte, die vom Markt abhängig waren, nahm mit der einsetzenden Kommerzialisierung der Landwirtschaft, dem Fortgang der Proto-Industrialisierung und dem überproportionalen Wachstum der großen Städte überaus schnell zu. Die Haushalte, für die das Marktprinzip ‚peripher‘ war, traten allmählich zurück. Der Binnenmarkt weitete sich.50
Zum anderen integiert dieser abstrakt zu denkende Markt alle konkreten Märkte, die nun nicht mehr mit beschränktem Radius nebeneinander existieren, sondern sämtlich Glieder des einen (europazentrierten) Weltmarktes sind: „Um 1800 umspannten Warenwirtschaft und Marktbeziehungen mit dichten Netzen die Regionen Europas und verflochten sie erstmals zu einem wirtschaftlichen Ganzen.“51 Systemtheoretisch wird dieser Prozeß als Ausdifferenzierung eines autonomen Wirtschaftssystems verstanden:52 Der Markt und sein Medium, das Geld, regeln alle Angelegenheiten materieller Bedürfnisbefriedigung, Produktion wie Distribution, nach ihren eigenen Gesetzen. In der Tat betrachtet die Fachliteratur nun Handel und Produktion jeder Art nicht mehr primär unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens für die fürstliche Kasse, während der 49 50 51 52
Vgl. Schultz: Handwerker, Kaufleute, Bankiers, S. 10. Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital, S. 145. Schultz: ebd. Vgl. Luhmann: Wirtschaft als soziales System, S. 209f.
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Politik empfohlen wird, die Wirtschaft weniger durch dirigistische Eingriffe als durch juristische Sicherstellung einer autonomen Entwicklung des Marktes zu fördern. Klassisch hat Adam Smith’ Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) diese Position formuliert.53 Der Markt weist damit ‚fremde‘, politische oder auch ethisch-religiöse, Ansprüche ab; seine systemische Geschlossenheit aber gewinnt er erst durch die Reflexivität, mit der seine Prozesse sich vollziehen: Das Gemeinwohl und die Ordnung, die Smith zufolge aus dem eigennützigen Gewinnstreben der vielen einzelnen hervorgehen, entständen nicht, wenn die Verfolgung der eigenen Interessen nicht Aufmerksamkeit für die der anderen erforderte.54 Aus systemtheoretischer Perspektive ist solche operative Geschlossenheit generell konstitutiv für die Systeme, aus denen die moderne Gesellschaft sich zusammensetzt. Ausgezeichnet wird das Wirtschaftssystem gleichwohl durch sein Medium – das Geld –, denn die leichte Handhabbarkeit und hohe Konventionalität des Geldes sichern dem Wirtschaftssystem besondere Flexibilität und Dynamik, so daß es in der modernen Gesellschaft den funktionellen Primat übernehmen konnte.55 Innerhalb des Wirtschaftssystems wird Geld damit zum unbedingt geltenden Medium56 (was auf den Märkten der Frühen Neuzeit so nicht gegeben war, weil manche Waren nur bestimmten Ständen zukamen).57 Komplementär zu diesem Geltungsgewinn verliert das Geld aber, so die Systemtheorie, seine Geltung außerhalb des Wirtschaftssystems.58 Anders noch in den Gesellschaften 53 Vgl. Smith: Eine Untersuchung über Wesen und Ursachen des Volkswohlstandes
Bd. 2, S. 282 (4. Buch, 3. Kap., 2. Abt.). 54 Vgl. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur, S. 165, 151, sowie
unten S. 455. 55 Vgl. Luhmann: Wirtschaft als soziales System, S. 225–227. 56 Vgl. Luhmann: Knappheit, Geld und bürgerliche Gesellschaft, S. 192f. 57 Vgl. Maurer: Die Biographie des Bürger, S. 367f. (mit einem Beleg aus der Biographie
eines 1772 gestorbenen Kaufmanns). Ein anschauliches Beispiel für die sowohl ethische als auch ständische Besetztheit aller Güter stellt der ‚Warenkatalog‘ dar, als der die unterhaltsamen Sittenpredigen Johann Valentin Neiners in dessen Neu Ausgelegtem Curiosen Tändel-Marckt der jetzigen Welt in allerhand Waaren und Wahrheiten vorgestellet von 1734/1749 daherkommen. 58 Ein überall vorrangiges Medium stellt das Geld also weder in der Frühen Neuzeit noch in der ‚Moderne‘ dar, entweder weil es nicht unbedingt oder weil es nicht überall gilt. Das aber setzt ein Fragezeichen hinter Jochen Hörischs These, Geld sei das – suprasystematische – „ontosemiologische Leitmedium“ der Neuzeit (Kopf oder Zahl, S. 27). Hörischs These mißachtet die im Vergleich zur Gegenwart ‚system‘-strukturell andere Art des frühneuzeitlichen Umgangs mit dem Geld. Viele Dinge, die Menschen des 17. Jahrhunderts ganz legitimerweise kaufen konnten, sind seitdem dem pekuniären Zugriff entzogen worden, obwohl das Geldwesen immer weiter gewachsen ist. Diese wichtige Differenzierung verwischt eine vage Formulierung wie „Geld spielt in alle Bereiche hinein“ (ebd., S. 18). Bildung etwa muß man zwar bezahlen, kann sie aber
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Alteuropas: ‚Heil‘ beispielsweise war bis zum Ende des Mittelalters regelrecht käuflich, mit Fortwirkungen in der jesuitischen oder calvinistischen Geschäftsethik noch im 17. Jahrhundert.59 Zur Herrschaft gehörte der Ämterhandel, sie funktioniert also z. T. auf der Basis von Kauf und Verkauf;60 selbst Liebe, insbesondere Heirat blieb häufig, und zwar ohne moralische Einbußen, ein Handel.61 In einer Übergangsphase, die Luhmann zwischen 1600 und 1800 ansiedelt, wandelte sich das Geld hingegen zum Medium ausschließlich des Wirtschaftssystems, während andere Sozialsysteme wie Staat, Familie, Wissenschaft oder Kunst sich mit Hilfe anderer ‚symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien‘, Macht bzw. Recht, Liebe, Wahrheit und Schönheit, konstituierten.62 Die Autonomie, wenngleich nicht Autarkie der verschiedenen Sozialsysteme oder Wertsphären, die daraus folge, kennzeichne schließlich die funktional ausdifferenzierten Gesellschaften der Moderne. Die vorliegende Studie greift das systemtheoretische Angebot, gesellschaftliche Evolution und Komplexität zu konzipieren, auf, jedoch unter einem doppelten Vorbehalt: Bewußt zu halten ist, daß es sich um ein hoch konstruktives, spezifisch soziologisches Modell handelt und nicht um einen Historiographieersatz, als der es in manchen literaturwissenschaftlichen Arbeiten dient. Das systemtheoretische Evolutionsmodell als handlichen Zugriff auf Grundlinien der Geschichte zu gebrauchen hieße zu verwechseln, was die verschiedenen Disziplinen, Soziologie und Geschichtswissenschaft, leisten können, und eine Theorie- als Sachaussage zu reifizieren. Zudem droht das Leittheorem der Ausdifferenzierung nicht minder Wichtiges auszublenden: zum einen fortbestehende Interferenzen zwischen den verschiedenen Sozialbereichen – die Luhmann zu einer theoretischen Inkonsequenz, der Annahme ‚struktureller Kopplungen‘, zwingen63 –, zum anderen den Beitrag, den gerade solche Interferenzen zu den Ausdifferenzierungsprozessen der ‚späten Frühen Neuzeit‘ leisteten. Um dies für unser Thema gleich zu konkretisieren: Die moderne Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystem setzt mentalitätsgeschichtlich ein Vertrauen in ökonomische Gesetzmäßigkeiten, insbesondere in den Markt, voraus, das sich ohne moralische, gesellschaftstheoretische und
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nicht kaufen. – Historisch differenzierter und theoretisch komplexer ist die Studie von Philipp Wolf angelegt, die, noch entschiedener auf systemtheoretischer Grundlage, die funktionalen Korrespondenzen zwischen Geld und Literatur im frühneuzeitlichen England herausarbeitet (Einheit, Abstraktion und literatisches Bewußtsein). Vgl. unten Kap. 2.2.2 sowie S. 101. Vgl. Duchhardt: Das Zeitalter des Absolutismus, S. 168. Vgl. noch Walch: Philosophisches Lexikon (1726), Sp. 1149, s. v. Geld-Kunst sowie unten S. 83, 91 zu den Thematisierungen von Liebe als Geschäft in The Merchant of Venice, S. 275 im Avare sowie S. 317f. in Weises Betrogenem Betrug. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 332–358, 963–980. Vgl. ebd., S. 100–120, 778–788.
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religiöse Projektionen (der tugendhafte Kaufmann als ideales Glied der Gesellschaft, die ‚unsichtbare Hand‘ des Marktes, welche die Konkurrenz der Einzelinteressen zum Besten aller ausschlagen läßt) nicht herausgebildet hätte.
2. Agent des Geldes: der Kaufmann
2.1 Eingang: Worlds Apart ? 2.1.1 Geldbedarf und Handelswachstum in der frühen Neuzeit Pecunia nervus rerum – diese schon in der Antike geläufige Sentenz erlebte zu Beginn der Neuzeit weit mehr als eine Renaissance.1 Erasmus bediente sich ihrer ebenso wie Machiavelli, Justus Lipsius und Jean Bodin; sie wurde Gemeingut jener Schriftsteller, die moralisierend oder resignativ auf eine Welt weisen, die vom Gelde regiert werde, ebenso wie der Theoretiker des militärisch gestützten neuzeitlichen Staates. Tatsächlich rückte das Geld im 16. Jahrhundert in den Vordergrund des öffentlichen Lebens. Am spürbarsten für die fürstliche Kasse und ihre praktischen oder theoretischen Bewirtschafter geschah dies auf militärischem Gebiete, wo die Ablösung der lehnsrechtlichen Heeresverfassung des Mittelalters zu einem sprunghaften Anstieg des Finanzbedarfs geführt hatte. Die ersten Spuren eines Wiederauftauchens der antiken Sentenz bzw. ihrer einschlägigen Abwandlung „pecunia nervus belli“ zeigen sich „im Kriegswesen der Renaissance, und zwar in Italien, wo sich die Verdrängung der traditionellen Ritterheere durch Söldnertruppen am frühesten entwickelt hatte“.2 Das Militärische blieb im 17. Jahrhundert ein wesentlicher Antrieb für die Entwicklung des Finanzwesens, insbesondere für die staatliche Regulierung und Monopolisierung öffentlicher Einnahmen und Ausgaben: Das von dem ‚privaten‘ Kriegsunternehmer und kaiserlichen Heerführer Wallenstein für den Unterhalt seiner riesigen Armee errichtete Kontributionssystem sowie der zur Finanzierung seiner Expansionspolitik notwendige Aufbau einer königlichen Finanzverwaltung unter Ludwig XIV. bildeten die Meilensteine der weiteren Entwicklung.3 Ebenso nachdrücklich richtete der wirtschaftliche Wandel die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf das Geld. Das 16. Jahrhundert gilt als Epoche 1 Vgl. Stolleis: Pecunia nervus rerum, S. 63–68 mit einer Fülle von Belegen aus dem 16.
und 17. Jahrhundert. Jean Bodin wies auf Cicero als Urheber der Wendung, Machiavelli auf Curtius Rufus; weitere antike Autoren wurden mit ähnlichen Sentenzen zitiert. 2 Ebd., S. 64. 3 Vgl. Kunisch: Absolutismus, S. 84–86; Duchhardt: Das Zeitalter des Absolutismus, S. 43f.
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einer säkularen Preisrevolution.4 Sie betraf vor allem landwirtschaftliche Güter, deutlich weniger gewerbliche Produkte, so daß die städtische und, nach Verlagerung von Produktionsstätten auf das Land, auch die ländliche Handwerksbevölkerung erhebliche Einkommenseinbußen hinzunehmen hatte. Die adeligen (oder auch eingekauften bürgerlichen) Grundherren wiederum versuchten, die gestiegene Grundrente der bäuerlichen Produzenten durch Erhöhung der Feudallasten abzuschöpfen. Zuerst 1568 von Jean Bodin und seitdem immer wieder wurde die spürbare Teuerung monetaristisch erklärt: als Folge des Einströmens südamerikanischen Silbers und Goldes nach Europa.5 Wichtiger als ein Überangebot von Edelmetall scheint freilich das starke Bevölkerungswachstum seit der Mitte des 15. Jahrhunderts gewesen zu sein, wohingegen ertragreiche landwirtschaftliche Flächen nicht in demselben Maße erschlossen werden konnten.6 Soweit rekonstruiert werden kann, ist speziell Deutschland von spanischem Silber nicht eben überschwemmt worden; wegen unzureichender Edelmetallversorgung ging der Konjunkturaufschwung vielmehr mit einer Erhöhung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes einher.7 Die Ausweitung des Kreditverkehrs ebenso wie die „verstärkte Abnutzung der Münzen im Geldumlauf“ weisen jedenfalls auf einen erhöhten Monetarisierungsgrad der Gesellschaft: Geld wurde verdient und wieder ausgegeben und nicht länger in der Erde gehortet. Im Gegenteil, der von dem allgemeinen Preisanstieg begleitete Konjunkturaufschwung führte in der Bevölkerung zur Mobilisierung aller Geldreserven, die angesammelten Schätze wurden aufgelöst und die Münzen wieder in die Zirkulation gebracht.8
Dem Zirkulationsprinzip am unmittelbarsten verpflichtet, setzte sich der Handel an die Spitze der ökonomischen Entwicklung. „Der Handel nahm im 16. Jahrhundert überall in Europa zu, ob nun zu Lande oder zu Wasser, im Mittelmeergebiet, im Ostseeraum, in Zentraleuropa oder an den Atlantikküsten. Der Überseehandel mit Amerika und Asien trat hinzu.“9 Zwar hat die marxistische These von der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“ im Überseehandel der wirtschaftshistorischen Überprüfung nicht standgehalten – zu bescheiden waren seine Dimensionen, und dauerhafte Gewinne vermochten nur Briten und Holländer zu erzielen.10 In den Seehandelsländern jedoch wurden dem Fernhandelskaufmann nun adlige Würden zugesprochen: 4 5 6 7 8 9 10
Vgl. Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital, S. 63–78. Vgl. North: Das Geld und seine Geschichte, S. 93. Vgl. Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital, S. 28–31, 64–66. Vgl. North: Das Geld und seine Geschichte, S. 84, 95. Das folgende Zitat ebd. Ebd.; vgl. auch Braudel: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts Bd. 1, S. 11. Vgl. Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital, S. 19, 54 (Zitat). Vgl. Schultz: Handwerker, Kaufleute, Bankiers, S. 138–143.
73 the merchant adventurer is and maye be taken for a lordes fellow in dignitie, aswell for hys hardye adventurynge upon the seas, to carrye out our plentye, as for his royall and noble whole sales, that he makes to dyvers men upon hys retourne, when he bryngeth in our want11.
Selbst in der Wahrnehmung mancher Theologen wandelte sich der Kaufmann von einem Dieb am Gut seines Nächsten, der nicht auf den ‚wahren‘, soll heißen Gebrauchs-Wert der Ware, sondern habsüchtig auf seinen Profit sehe (so noch bei Luther), zum nützlichen Glied des Gemeinwesens; wegen der Gefahren, die er auf sich nimmt, sei er ebenso zu ehren wie der Soldatenstand.12 Merkantilistische Schriftsteller und Beamte wie Johann Joachim Becher (1636–82) erhoben den Kaufmann vollends zum, abgesehen von den natürlichen Bedingungen, entscheidenden Faktor des Wohlergehens aller: es ist gewiß / daß allein die Kauffleut diejenige seynd / welche heimlich ein Land verderben / und auffbringen können: die Kauffmannschafft[,] aber nur die jenige / von welcher der Staat an Geld und Nahrung gemehret wird / ist nechst der Natur die jenige Säuge-Mutter / welche das noch junge Auffnehmen auch der desertesten Länder zum Sprossen / zur Blüt / und endlich herrlichen Früchten bringet [...].13
Die großen Handelshäuser beherrschten zugleich den Kapitalmarkt. Der enorme und nicht aus eigenen Kräften zu befriedigende Geldbedarf der Fürsten bildete die zweite Wurzel ihrer Blüte: Allein die Fugger konnten Karl V. die Mittel für seine Kaiserwahl zur Verfügung stellen. Die Kreditwirtschaft der Fugger basierte auf einem großen Eigenkapital – worüber die Entwicklung der Geldtechnik allerdings bald hinwegging. Mit dem Genuesischen AsientoSystem (der immer neuen Ausgabe von Wechseln auf dieselbe Zahlungsverpflichtung), dem in Amsterdam durchgesetzten Indossament (der Weitergabe eines Schuldscheins an einen anderen Gläubiger) und der Diskontierung (dem vorzeitigen Verkauf von Schuldscheinen mit Rabatt für den Schuldner) setzte sich im internationalen Handel der bargeldlose Zahlungsverkehr sowie der Handel mit Kreditpapieren durch.14 Die zentrale Bedeutung Amsterdams für Handel und Kreditwesen des 17. Jahrhunderts dokumentierte die Gründung der „Wisselbank“ 1609; deren Girogeschäft überholte wiederum die 1694 gegründete „Bank of England“, der mit der Ausgabe von Banknoten zum
11 Wilson: A Discourse upon Usury (1572), S. 203, nach Nerlich: Abenteuer-Ideologie,
S. 177. 12 Vgl. Martin Luther: Von Kaufshandlung und Wucher. 1524. – WA 15, S. 293–322,
hier S. 293–295; Seils: Die Staatslehre des Jesuiten Adam Contzen, S. 141. Erschöpfend zur theologischen Verurteilung des Besitzstrebens bei Luther jetzt Rieth: „Habsucht“ bei Martin Luther; vgl. auch Van Cleve: The Problem of Wealth, S. 111–135: Martin Luther and the Ideal of the Christian Merchant. 13 Becher: Politische Diskurs, S. 107. 14 Vgl. ebd., S. 87–91.
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ersten Mal eine nennenswerte Geldschöpfung gelang.15 In allen diesen Praktiken begann sich ein immaterielles Verständnis des Geldes und eine Wirtschaftsgesinnung auszubilden, die sich weit entfernte von den Ansichten der nur mit ‚kleinen‘ oder gar nicht mit Geldgeschäften befaßten Bevölkerungsmehrheit. In der ethisch sensiblen – und deshalb immer wieder auch literarisch erörterten – Frage des Zinsnehmens blieb es während des 16. Jahrhunderts auf Reichsebene beim Verbot, obwohl England und einzelne deutsche Territorien wie Zürich und Brandenburg bereits zu Gesetzen übergegangen waren, die lediglich die Höhe des erlaubten Zinssatzes regelten (zwischen 5 und 10 %). Auseinander gingen in der Wucherfrage auch die Ansichten über den Konsumtivkredit für ‚jedermann‘ – der dem kanonischen Zinsverbot gemäß nach wie vor als anrüchig galt – und die praktische Regelung der Verzinsung von Darlehen im Handelsverkehr.16 Die Steigerung des Handels sowie die Ausweitung der Markt- und Geldwirtschaft sind gemeineuropäische Phänome, allerdings mit beträchtlichen Intensitätsunterschieden zwischen den verschiedenen Ländern. Deutschland hatte am expandierenden Seehandel nur wenig Anteil und übernahm die finanztechnischen Neuerungen der führenden Gebiete verzögert. Statt dessen blieb die „ursprüngliche Handelsfremdheit der alteuropäischen Kultur“17 hierzulande länger normprägend, und stärker als in Westeuropa wurde das Vordringen der Geldwirtschaft von einer breiten Handels- und Kaufmannskritik begleitet.18 Einen Abbruch der ohnehin bescheideneren deutschen Handelsexpansion bedeutete dann der Dreißigjährige Krieg (ohne größeren Schaden blieben nur wenige Gebiete wie Hamburg). Im Wiederaufbau wurden die ‚Commerzien‘ zu einer Angelegenheit des Staates.19 Zwar stellte der Merkantilismus als die bis weit ins 18. Jahrhundert herrschende ökonomische Theorie mit dem fürstlichen Schatz zugleich den auswärtigen Handel in den Mittelpunkt (im Jesuitenkapitel 3.2 wird darauf zurückzukommen sein), jenen als intendierten Ziel- oder wenigstens Angelpunkt aller Geldbewegung, diesen als bestes Mittel, Geld ins Land zu bringen.20 Die deutsche Kameralistik 15 Vgl. Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital, S. 111–114; Weimer: Geschichte
des Geldes, S. 115. 16 Vgl. Peschke: Wucher, S. 1087f., 1090; Seils: Die Staatslehre des Jesuiten Adam
Contzen, S. 143. 17 Johannes Burkhardt: Die Entdeckung des Handels. Die kommerzielle Welt in der
Wissensordnung der frühen Neuzeit. – In: Wirtschaft in Wissenschaft und Literatur, S. 5–28, hier S. 6. 18 Vgl. ebd., S. 12f., sowie ders.: Wirtschaft – GG 7, S. 511–594, hier S. 560f. 19 Vgl. Burkhardt: Die Entdeckung des Handels, S. 13f. 20 Vgl. Heckscher: Merkantilismus (grundlegend); Gömmel: Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus (als kürzlich erschienenes Kompendium); Henning: Handbuch Bd. 1, S. 750–786 (zur ersten Information).
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nahm innerhalb des europäischen Merkantilismus jedoch eine Sonderstellung ein, da sie weit länger an der aristotelischen Tradition einer integralen Staatslehre festhielt, die Ethik, Ökonomie und Politik als die drei Teilbereiche der praktischen Philosophie umschloß.21 Der „Wachstumsgedanke“, den die ratio status-Lehre in das politische und ökonomische Denken gebracht hatte („potentia est semper augenda“), konnte sich dadurch nicht voll entfalten.22 Selbst die ‚politischen Ökonomie‘ des 18. Jahrhunderts bewahrt als legitimierenden Gesichtspunkt die Gemeinnützigkeit der ‚Commerzien‘, wie schon das Zitat aus Bechers Politischer Diskurs sie herausstellte.23 Die Ökonomische Dynamik, als deren Agent der Kaufmann imaginiert wurde, war demnach doppelt beschränkt: einerseits durch die generelle Verpflichtung wirtschaftlichen Handelns auf Gemeinnützigkeit, andererseits durch den Primat der fürstlichen Kasse, der alle Gewinne als Steuereinnahmen zugedacht waren.
2.1.2 Motivische und normative Merkantilreflexion der Komödie Den Mitlebenden forderte die frühneuzeitliche Ausweitung der Geldwirtschaft eine ganze Reihe von mentalen Umstellungen ab, vor allem die Gewöhnung an ein quantifiziertes, vielfältig einsetzbares, aber knappes Regulativ für immer mehr individuelle Bedürfnisse wie soziale Beziehungen. Die Handlungsmöglichkeiten, welche die zunehmende Monetarisierung eröffnete, machten neue normative Regelungen nötig. Die Einhegung des Geldgebrauchs durch moralische, religiöse oder soziale (ständische) Normen war indessen dadurch erschwert, daß das Geld selbst als Wertbildungsinstrument funktionierte, also nicht nur in seinen Folgen, sondern an sich einen Konkurrenten der traditionellen Ordnungen darstellte. Zudem steigerte die Geldwirtschaft die gesellschaftliche Vernetzung und provozierte dadurch neue Überlegungen zum Verhältnis des einzelnen und seines Verhaltens zu überindividuellen Ordnungen und Prozessen. Sucht man Kommentaren der Komödie zu diesen und ähnlichen Problemen, so scheint es zunächst gar nicht so leicht, fündig zu werden. Der Agent der frühneuzeitlichen Handelsexpansion, der Kaufmann, stand nicht derartig im Mittelpunkt des Figurenensembles, wie man das von den ökonomischen Voraussetzungen her vermuten könnte. Die im 16. Jahrhundert recht starke 21 Vgl. Seils: Die Staatslehre Adam Contzens, S. 195f. 22 Umfassend zum Widerstreit zwischen geldfordendem Machtstaatsprinzip und weit
weniger dynamischer ‚guter Policey‘ jetzt Simon: „Gute Policey“, das Zitat S. 564. 23 Vgl. Burkhardt: Wirtschaft – GG 7, S. 511–594, hier S. 563. Als historisch breit gefä-
cherte Überblicke vgl. die Beiträge in dem von Münkler und Bluhm herausgegebenen Band Gemeinsinn und Gemeinwohl. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe.
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Tradition von Moralitäten, die einen reichen, mitunter als Kaufmann gekennzeichneten Mann in dessen Todesstunde zeigen, um dessen irreguläre Geschäftspraktiken zu rekapitulieren und allegorische Figuren der Tugenden und Laster oder aus Himmel und Hölle um seine Seele kämpfen zu lassen,24 setzte sich lediglich im konfessionellen Theater fort,25 nicht zuletzt aus formgeschichtlichen Gründen, denn das barocke Drama trennte zunehmend zwischen von ‚menschlichen‘ Figuren bestrittenen Akten und dazwischen eingestreuten ‚Reyen‘ mit allegorischen Figuren, welche die Handlung deuten.26 Die typische Rolle des Kaufmanns im Jesuitentheater ist lediglich die des Nachrichtenüberbringers.27 Darüber hinaus hat er dort seinen Platz, wo die Komödie ein Ständepanorama entfaltet.28 Wohl kann der Geizige, dessen Laster ein 24 Hier sind vor allem die zahlreichen Bearbeitungen des Jedermannstoffes (bzw. Über-
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setzungen fremdsprachiger Jedermanndramen wie Macropedius’ Hecastus von 1539) sowie der Geschichte vom Reichen Mann und armen Lazarus (z. B. Georg Rollenhagen 1590) zu nennen. Wesentlich von allegorischen Figuren werden auch die lateinischen oder deutschen Plutus-Nachdichtungen getragen (am bekanntesten die des Hans Sachs von 1531, der die Allegorien von Reichtum und Armut zudem in weiteren Dichtungen hat auftreten lassen; vgl. Hertel: Die Allegorie von Reichtum und Armut, S. 116–140). Als Textausgabe vgl. Bolte (Hrsg.): Drei Schauspiele vom strebenden Menschen. 1. Das Münchener Spiel von 1510. 2. Macropedius, Hecastus 1539. 3. Naogeorgus, Mercator 1540; als Ausgabe zeitgenössischer deutschsprachiger Adaptionen bzw. Übersetzungen Wiemken (Hrsg.): Vom Sterben des reichen Mannes. Die Dramen von Everyman, Homulus [Jaspar von Gennep], Hecastus [Hans Sachs] und dem Kauffmann [= Übers. des Mercator durch Jakob Rulich]. In dieser Tradition der Inszenierung des göttlichen Gerichts steht auch noch Heinrich Julius’ von Braunschweig Tragica Comoedia Von einem Wirthe oder Gastgeber von 1594, obwohl das Stück formal schon unter dem Einfluß der Englischen Komödianten steht. Ein betrügerischer Wirt wird dort am Ende vom Teufel – bei dem er stets die Richtigkeit seiner falschen Rechnungen beschworen hatte – geholt. Typisch für die gelehrte, neulateinische Komödie des 16. Jahrhunderts dürfte die Abwertung des Handels als eines Geschäftsberufs sein, die der poeta laureatus Jacob Rosefeldt 1599 in seinem Moschus zum Ausdruck bringt. Anhand einer an den Merchant of Venice erinnernden (wiewohl nicht daran angelehnten) Kreditgeschichte wird dort die Weisheit eines Studenten Musophilus gegen die Gewinnsucht ausgespielt, der Vater und Bruder, Mercator und Polyharpax, erlegen sind. Während Lucrum ihren Bräutigam Polyharpax nicht aus der Gewalt des Wucherers zu retten vermag, weiß Musophilus der mörderischen Absicht mit den von Shakespeare her bekannten Spitzfindigkeiten zu begegnen. Er, nicht der Kaufmann, wird deshalb am Ende mit einer Braut – Sophia – belohnt (vgl. Bolte: Jacob Rosefeldt’s Moschus). Beispielsweise in einem Jesuitenspiel mit dem Titel Geld regiert die Welt (Jülich 1693), vgl. den Periochenzettel bei Szarota: Jesuitendrama Bd. 3,2, S. 1907f. (Text III, x, 12). Poetologisch gefaßt z. B. bei Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst, S. 326f. Vgl. Szarota: ebd. Bd. 1,2, S. 1246; Bd. 3,2, S. 1213 u. 1625f. Selbst in der Wanderbühnenbearbeitung des Merchant of Venice tritt ein Kaufmann lediglich als Bote auf, vgl. unten S. 108. Vgl. neben dem nachfolgend besprochenen Stück von Johann Georg Schoch das
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Stück wie Masens Ollaria geißelt, ein Kaufmann sein. Handelsförmiger Erwerb als der ‚Normalfall‘ kaufmännischer Geschäfte deutet sich dort aber allenfalls als virtuelles Ideal an, von dessen Standpunkt aus die Hortung von Reichtümern – Geiz – verlacht wird.29 Selbst als die Gottschedsche Reformkomödie den Handel erheblich aufwertet, zieht sie es vor, retirierte, von ihrem Vermögen lebende Kaufleute oder deren Söhne auf die Bühne zu bringen.30 Den Kaufmann als wirtschaftendes Subjekt hat die deutsche Komödie zwischen Reformation und mittlerer Aufklärung kaum je, und dann stets in distanzierender Absicht, auf die Bühne gestellt.31 Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts treten einigermaßen signifikant gezeichnete Kaufleute als positive Figuren in tragenden Rollen auf. Als Handeltreibende, also in ihrer Geschäftstätigkeit werden bis dahin allenfalls Kupplerinnen oder jüdische Trödler vorgeführt (so in Gryphius’ Horribilicribrifax). Es liegt nahe, das geringe Interesse insbesondere der barocken Komödie für kaufmännische Figuren mit der trotz Aufwertung lediglich dienenden Stellung des Handels in der fürstlich dominierten Ständegesellschaft zu parallelisieren. Ein autonomer Bereich war der Handel in der Frühen Neuzeit nirgends, stets stand er in Interdependenz mit Politik und Staat. In den Seehandelsländern konnte das bedeuten, daß die bedeutendsten Handelsgesellschaften, so die 1600 gegründete East India Company oder ihr holländisches Pendant von 1602, neben dem Handelsmonopol für bestimmte überseeische Gebiete sogar Souveränitätsrechte für dieselben eingeräumt erhielten.32 In Deutschland hingegen ordnete sich der fürstliche Staat den Handel unter, besonders im Zuge der Wirtschaftsförderung sowie der monarchischen Prachtentfaltung zu Repräsentationszwecken seit der Mitte des 17. Jahrhunderts (auf eine ähnliche Tendenz im absolutistischen Frankreich wird das Kapitel zu Molières L’Avare näher eingehen).
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Jesuitendrama Arcumenus Sive sua quisque sorte contentus. Vergnügen mit seinem Stand (1696; Periochenzettel bei Szarota: ebd. Bd. 3,2, S. 1899–1904). Vgl. dazu unten S. 263. Mit dem Forschungstopos, der Kaufmann sei eine bevorzugte Figur der Aufklärungskomödie, setzt sich Kap. 2.6.2 näherhin auseinander. Präzise Angaben sind wegen der Unübersichtlichkeit des Materials schwierig. Vgl. Hartmanns figurensoziologische Aufschlüsselung des deutschen Lustspielbestands der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts: Wandlung des gesellschaftlichen Ideals, S. 7f. Rieck: Das deutsche Lustspiel, nennt für den anschließenden Zeitraum bis 1736 kein einziges Stück, das einen Kaufmann in tragender Rolle hätte. Bezeichnend ist die Rolle des Thomas Mercator in Heinrich Julius’ von Braunschweig Comoedia Von Einem Weibe / Wie dasselbige ihre Hurerey für jhrem Ehemann verborgen (1593), wo der Kaufmannsberuf des betrogenen Ehemanns lediglich dazu dient, die häufige Abwesenheit von daheim zu motivieren – ist der Mann außer Haus, so kann seine Frau ihn betrügen (vgl. H. J. v. Br.: Schauspiele, S. 261–295). Vgl. Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital, S. 108.
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Ebenso berücksichtigen muß man indessen die Selektionswirkung poetologischer Vorgaben, auch wenn die Theaterpraxis sich keineswegs durchgängig daran orientierte. Die Komödie bot dem Geldmotiv seit jeher Raum; die Barockpoetik stufte sie jedoch als zweitrangig ein und ordnete ihr „schlechtes wesen vnnd personen“ zu.33 Definiert wurde die Komödie von den lächerlichen Situationen her („est imitatio actionis ridiculae“), in denen gesellschaftlich randständige Figuren ein irreguläres Verhalten zeigen.34 Gemeint sind hexenhafte alte Frauen, Phantasten, verwirrte Gelehrte, Lehrer irrsinniger Meinungen, Prahler, Bauernflegel, Tölpel, Schmarotzer, Geizige, Bramarbase, Diebe, Betrunkene, Listige, um ihr Geld betrogene Greise und Jünglinge, die es ihnen rauben.35 Harsdörffer gibt einen ähnlichen Katalog: einen alten Geitzhals einen jungen Buhler / eine freche Dirne / einen listigen Knechte / einen betrüglichen Kupler / unverschämten Fremdling / schwetzhaffte Frauen / verliebte Jungfrauen / geschäfftige Mägde und dergleichen Leute / die in gemeinem Burgerlichen Leben zu finden.36
Geldmotive sind hinter einer ganzen Reihe dieser Figuren zu vermuten, doch folgt ihre Zusammenstellung offensichtlich nicht einer Beobachtung des zeitgenössischen Geschäftslebens. (Methodisch unzulässig ist es daher, den Figurenanteil der verschiedenen Gesellschaftsschichten und Berufe wie Horst Hartmann schlicht von den Produktionsverhältnissen der Zeit determiniert zu sehen.)37 Maßgeblich war vielmehr die antike Komödienüberlieferung, besonders die römische Palliata.38 Für den Geizigen kann der jesuitische Poetiker 33 Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, S. 27. Bezeichnend für die Nachordnung der
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Komödie ist, daß die Poetiken sie in der Regel in einem Vergleich mit der Tragödie als einer Art Muster des Dramas behandeln, vgl. Masen: Palaestra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica Bd. 3, S. 10. Vgl. auch die Überschrift des einschlägigen Kapitels in Harsdörffers Poetischem Trichter (T. 2, Kap. 11): Von den Schauspielen ins gemein / und absonderlich von den Trauerspielen. Masen: Palaestra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica Bd. 3, S. 10. Zur Konzentration auf die Zentralfigur, nicht auf die Fabel vgl. auch die Vorbildrolle, die Plautus’ Komödien in Masens Poetik spielen (dazu unten S. 246). Dies als Auszug aus dem Katalog bei Masen: ebd.: „Strabae, rugosae, edentulae anus, phrenetici ac phantastici, in officiis munere ut Doctor aliorum insanus, absurdarum opinionum magistri, immoderati artium viriumque jactatores in quibus contrarium eminet. Denique in personis sunt agrestes, Agasones, Parasiti, Eucliones, Thrasones, fures, ebrii, callidi, senes emuncti auro, delusi à juvenibus.“ Harsdörffer: Poetischer Trichter, Zweyter Theil, S. 96. Vgl. Hartmann: Wandlungen des gesellschaftlichen Ideals, S. 7: „Wie genau das deutsche Lustspiel die Entwicklung des Bürgertums registriert, zeigt eine Untersuchung des Lustspiels im Hinblick auf die Schichten des Bürgertums, die in ihm zur Darstellung gelangen. Der Unternehmer fehlt vollständig, weil die wenigen Manufakturen Mitteldeutschlands im Verhältnis zur gesamten Wirtschaft noch kaum ins Gewicht fallen.“ Vgl. den Katalog von Typen der römischen Komödie bei Albrecht: Geschichte der
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Jacob Masen daher den Namen des Protagonisten der Plautinischen Aulularia, Euclio, setzen.39 Zudem führen die Kataloge der Poetiker vor allem solche Figuren an, die unabhängig von ‚individueller‘ Untugend am Rande der Gesellschaft stehen; die möglicherweise geldbedingten Laster des „gemeinen Burgerlichen Lebens“ bleiben dagegen ungenannt. All dies schließt den Protagonisten der Geldwirtschaft, den Kaufmann, aus dem Figurenspektrum nahezu aus oder läßt ihn lediglich als Nebenfigur zu. Muß man im Fall der frühneuzeitlichen deutschen Komödie und ihrer Bezüge zur Welt des Handels also von Worlds Apart sprechen? Worlds Apart hat Jean-Christophe Agnew seine Studie über Theater und Wirtschaft(stheorie) im frühneuzeitlichen England betitelt – um das damit evozierte Vorverständnis zu revidieren, denn Agnew legt die wechselseitige Abhängigkeit und das Verweisen der beiden vermeintlich ‚abgesonderten Welten‘ von- bzw. aufeinander dar. Im gleichzeitigen Reich scheinen für solche Interferenzen sowohl die ökonomischen – weniger allgemeine Merkantilisierung – als auch die literarischen Voraussetzungen deutlich weniger günstig gewesen zu sein. Ein Vorverständnis zu revidieren könnte freilich auch heißen – und dafür möchte ich plädieren –, den Fokus der Suche nach komödischen Bezugnahmen auf Geld- und Marktwirtschaft nicht nur auf eine bestimmte Bühnenfigur zu richten. Gewiß spielen die Kaufmannsfigur und überhaupt das Geldmotiv in der deutschen Barockliteratur eine untergeordnete Rolle, wenn man ihr Auftreten entweder an den politischen und ökonomischen Voraussetzungen mißt oder mit der gleichzeitigen Literatur der westeuropäischen Länder sowie der deutschen Literatur des vorangehenden wie des folgenden Jahrhunderts vergleicht. Gleichfalls einzuschränken ist, daß persönliche Moralität durchgängig den intentionalen Fokus der Darstellung und Erörterung von Geldproblemen darstellte. Doch sind die Normen für den Umgang mit Geld, welche die Komödie anhand mikrosozialer Konflikte durchspielt, auch für die makroökonomischen und politischen Räume des großen Geldes von Belang. Exponiert werden Handlungsmodelle, die auch für den Handel (und andere wirtschaftliche Aktivitäten) gelten sollen. Wie zumal an Gryphius’ Horribilicribrifax zu zeigen ist, vermag die Komödie durchaus eine Diskussion um römischen Literatur Bd. 1, S. 147: „der verliebte Jüngling, der strenge Vater, das zänkische Eheweib, der prahlerische Soldat, die raffgierige Hetäre, der gewissenlose Kuppler, die Kupplerin, der schlaue Sklave, der Parasit, der Geldverleiher, der Koch, der Arzt“. Zur maßgeblichen Bedeutung der Palliata speziell für die Geizkomödie des 17. Jahrhunderts vgl. unten Kap. 3.1.4). 39 Als Plautinisches Stück, das zumindest seinem Titel nach einschlägig scheint, ist der Mercator zu nennen, doch handelt es – und das ist bereits alles, was einem Kenner wie Lessing zu dem wenig rezipierten Stück einfiel – „von einem alten verliebten Narren [...], der seinem Sohne seine Liebste vor dem Maule wegnehmen will“ (Werke Bd. 3, S. 390; zur neuzeitlichen Rezeption vgl. Reinhartstoettner: Plautus, S. 684–689).
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ökonomisch-soziale Werte und merkantile Prinzipien zu inszenieren, ausgehend von spezifischen Geldproblemen der Zeit und bezogen nicht bloß auf individuelle Moralität – schon gar nicht nur als Faktor von Komik –, sondern auf ein gesamtgesellschaftliches Ordnungsmodell. Wie die religiösen Bezüge des Horribilicribrifax unterstreichen, werden der Wertehierarchie, die frühneuzeitliche Komödien etablieren, sowie den Wertbildungsmodellen, die sie erproben, grundlegende Bedeutung für das menschliche Leben insgesamt zugemessen (d. h. sogar über das Diesseits hinaus). Die poetologischen Vorgaben mögen die unmittelbar motivische Aufnahme von merkantilen Themen restringiert haben, sollten jedoch nicht als theoretische Entsprechung der poetischen Praxis mißverstanden werden.40 Die von Conrad Wiedemann formulierte communis opinio, daß der „schmale und konzentrierte“ Themenkatalog der deutschen Barockliteratur „Geld- und Handelsprobleme“ ausgespart habe,41 bedarf bereits auf motivischer Ebene der Korrektur, vor allem aber auf problemgeschichtlicher.42
40 Das ist die generelle Krux der auf die Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts konzen-
trierten Studie von Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. 41 Wiedemann: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität, S. 26. 42 Bezeichnend für den derzeit sich vollziehenden Forschungswandel, räumen jetzt auch
Kathrin Stegbauer, Herfried Vögel und Michael Waltenberger dem Thema Geld einen zentralen Platz in ihrer Einführung in aktuelle Tendenzen und Möglichkeiten der germanistischen Frühneuzeitforschung ein (vgl. Zur Einführung. – In: Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung, S. 7–28, hier S. 22–24). Es scheint eine Ironie der Fachgeschichte, daß das Geld unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen mehr Interesse findet als in der Sozialgeschichte der 1970er Jahre. Allerdings führt der kulturwissenschaftliche Blickwinkel eine Vervielfältigung der Perspektiven auf das Geld mit sich, das nun nicht bloß als Vehikel der Ökonomie, sondern als Projektionsobjekt für soziale Normen, religiöse Erwartungen, poetische Strukturen usw. gesehen wird. Insofern ist der Anstieg des literaturwissenschaftlichen Interesses nur konsequent.
2.2 Ethik der Gabe: Shakespeares Merchant of Venice Die Präsenz des Geldes in einer Komödie kann sehr verschiedene Ausprägungen annehmen. Geld kann das Begehrensobjekt der Figuren bilden: konkret als Schatz, abstrakter als Gegenwert getätigter Geschäfte oder rein projektiv als erwarteter materieller Gewinn eines bestimmten Handelns. Solche Handlung ums Geld, gleich welchen Typs, kann, in unterschiedlicher Präzision, zudem bestimmten historischen Wirtschaftsweisen nachgebildet sein. Dabei geht es nie nur darum, zeitgenössische oder imaginäre Sozial- und Wirtschaftspraktiken darzustellen, denn Erfolg oder Mißerfolg ihrer Vertreter sprechen, vom Ausgang der Komödie zugemessen, immer auch ein normatives Urteil über die Handelnden. Dieses Urteil wiederum bemißt sich nie allein nach dem wirtschaftlichen Erfolg, sondern wird, in wechselnder Akzentuierung, mindestens ebenso sehr nach ethischen, rechtlichen, politischen oder religiösen Kriterien gefällt. Eine weitere, indirekte Thematisierung von Geld trägt ebenfalls dazu bei, den Umgang mit demselben nicht allein als ökonomisches Problem zu erörtern: die Monetarisierung – oder allgemeiner Ökonomisierung – der Metaphorik, welche die Figurenrede prägt. Auf metaphorische Weise häufig mit dem Geldproblem verknüpft wird vor allem der (nahezu komödienobligatorische) Bereich der Liebe. Zur Kontaminierung bzw. Integration verschiedener Sozialsphären tendiert die Sprache der Komödie generell, auch wenn jene Sphären üblicherweise normativ getrennt werden. Die metaphorisch angeregte Erhellung der beteiligten Sphären erfolgt dabei wechselseitig: Liebe beispielsweise kann ebenso als Geschäft lesbar werden wie ihre Normen in den ökonomischen Bereich tragen. Unbestritten ist, daß Shakespeares The Merchant of Venice (entstanden zwischen 1596 und 1598) in beiden Hinsichten – der ‚realgeschichtlichen‘ wie der ‚metaphorischen‘ – außerordentlich elaboriert ist. Alles weitere ist Gegenstand andauernd lebhafter Kontroversen. Beginnen wir mit der ‚objektiven‘ Seite möglicher Geldpräsenz. Antonio, die Titelfigur, entspricht in einer Reihe von Merkmalen dem Typus des „erfolgreichen [Londoner, D. F.] City-Kaufmanns des späten 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts“, den der Wirtschaftshistoriker George D. Ramsay wie folgt charakterisiert: Dieser Kaufmann
82 war in der Regel seßhaft; vorübergehend oder für längere Zeit schloß er sich mit anderen Teilhabern zu einer Gesellschaft zusammen, reiste aber selbst nicht mehr umher, sondern bediente sich seiner „Faktoren“, die er in verschiedenen Ländern anstellte; sein Geschäftskapital konnte er durch Beteiligungen oder durch Anleihen von Rentenbeziehern [...] vergrößern. [...] darüber hinaus war er jederzeit bereit, Geld zu günstigen Bedingungen auszuleihen.1
Mit der Vermutung, daß Antonio sich um seine Schiffe auf dem weiten Ozean sorge, beginnt das Stück (I,1, 8–40).2 Begleitet der Kaufmann nicht mehr seine Waren, wie es der bis Mitte des 16. Jahrhunderts vorherrschende Typ des Merchant Adventurers getan hatte,3 so erhält die unvermeidbare Unsicherheit geschäftlicher Erfolge eine zusätzliche Dimension: der Kaufmann muß abwarten, kann unvermutet auftretenden Gefahren nicht mehr zu begegnen suchen, sondern nur noch das Resultat entgegennehmen. Die Zeitschere zwischen eigenem Beitrag zum erhofften Erfolg und dem Ertrag seiner Bemühungen öffnet sich. Ein weiteres Merkmal des neuen Kaufmannstyps bildet die Erhöhung des Geschäftskapitals durch Beteiligung, und auch Antonio wirtschaftet mit fremdem Kapital (III,1, 103). Das letzte und für das Drama zugleich wichtigste Kriterium ist die Kreditvergabe zu günstigen Konditionen – sie bildet den Ansatzpunkt für den primären Plot des Merchant of Venice. Wirtschaftshistorische Exaktheit zeichnet demnach nicht bloß das Porträt der Titelfigur aus. Deren kaufmännische Verhältnisse sind vielmehr auch für die Handlung maßgeblich, die sich aus Antonios Bereitschaft, seinem Freund Bassanio einen zinslosen Kredit zu gewähren, entwickelt: Die Kapitalschwäche, die in der Beteiligung fremder Geldgeber zum Ausdruck kommt, nötigt Antonio, seinerseits einen Kredit aufzunehmen, und zwar bei Shylock, dem Außenseiter der venezianischen Handelsgesellschaft und nun letzten möglichen Kreditgeber. Daß es fast zur Katastrophe kommt, setzt wiederum die beschriebene Öffnung der Zeitschere voraus: Weil Antonio mit ihr zu rechnen gelernt hat, geht er die ungedeckte Verpflichtung gegenüber Shylock ein (I,3, 152–155); daß sie sich gleichwohl nicht mit Sicherheit berechnen läßt – seine Schiffe treffen mehr als einen Monat später ein als erwartet –, liefert den „royal merchant“ (III,2, 238) an das Messer des ‚jüdischen Wucherers‘. Kurz-
1 Ramsay: Britische Inseln 1350–1650. – In: Handbuch der europäischen Wirtschafts-
und Sozialgeschichte Bd. 3, S. 502–563, hier S. 550. 2 Nachweise (von Akt, Szene und Vers) beziehen sich auf die zweisprachige Ausgabe
von Barbara Puschmann-Nalenz; ihr englischer Text folgt der Arden-Ausgabe von John Russell Brown. 3 Vgl. Ramsay: ebd. – Daß der Merchant of Venice nicht auf italienische, sondern auf englische Verhältnisse des späten 16. Jahrhunderts referiert, haben die ‚sozialgeschichtlichen‘ Interpretationen der 1970er Jahre überzeugend dargelegt; vgl. Nerlich: Abenteuer-Ideologie, S. 193f.
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um: Es ist die spezifische Wirtschaftsweise des von Antonio verkörperten Kaufmannstyps, die den berühmtesten Konflikt des Dramas generiert. Der zweite Handlungsstrang, Bassanios Werbung um die ebenso reiche wie schöne Portia, ist auf gleich vierfache Weise mit dieser Beinahe-Katastrophe eines prototypischen Kaufmanns verbunden. Vom ihm geht der Anstoß zu Antonios riskantem Geldverleih aus, ebenso wie er dann umgekehrt Antonios Rettung aus seiner karnalen Haftungsverpflichtung durch die als Jurist verkleidete Portia ermöglicht. Verknüpft sind die beiden Handlungen überdies nicht nur pragmatisch, sondern auch metaphorisch: Die Brautwerbungsfahrt – nicht zufällig übers Meer – ist ebenso „venture“ oder „business“ wie Antonios Handelsunternehmen (III,2, 10; I,1, 15; II,8, 39). Bassanio taxiert Portia mit Begriffen wie ‚value‘, „worth“ oder „thrift“ (I,1, 165, 167, 175), während sie ihn, in Liebe entbrannt, ihren „owner“ nennt (III,2, 19). Metaphorik oder explizite Zuschreibungen dieser Art ziehen nicht allein die Liebe (als intensivste Form persönlicher Beziehungen) ins Geschäftliche. Denn umgekehrt können sie auch das Geschäftliche auf die Person gründen: „Go presently inquire, [...] / Where money is, and I no question make / To have it of my trust, or for my sake“, sichert Antonio seinem Freund einen Kredit zu, der ihm, dem Schuldner, allein wegen seines persönlichen Ansehens gewährt werde (I,1, 183–185). Schulden „in money and in love“, „purse“ und „person“ fallen hier zusammen (I,1, 131, 138). Möglich ist das, weil dem Stück eine der Geschäfts- und der Liebessphäre gemeinsame Handlungsnorm zugrunde liegt – das vierte Verbindungselement zwischen Kredit- und Werbungshandlung. In den meisten sozialgeschichtlichen Interpretationen des Merchant of Venice wird diese Norm durch materialistisch-geschichtsphilosophische Deutungsmuster überdeckt. Besonders der primäre Konflikt zwischen Antonio und Shylock wird gerne mit anachronistischen Makroantagonismen wie ‚kapitalistisch vs. feudal‘ gedeutet. Dagegen rekonstruiert das folgende Unterkapitel das von der Titelfigur vertretene Wucherverbot als ein Ideal des Seehandels, das sich dieser Alternative entzieht (2.2.1). Ebensowenig kommt einem der berührten Sozialbereiche normative Zentralität zu, weder dem geschäftlichen, wie materialistische Interpreten voraussetzen, noch dem erotischen, wozu idealistische Interpreten neigen (Sieg der ‚schenkenden Liebe‘ auf der ganzen Linie), weder dem Handel (Antonios) noch dem Haus (Portias). Durchgängige Geltung gewinnt vielmehr die ‚Gabe‘ als ein die Bereiche von Geschäft, Liebe, Erkenntnis sowie Recht übergreifendes Prinzip des Handelns (2.2.2). In Beziehung zu setzen ist diese Gabe-Ethik sowohl zu den christlichen Normen und Glaubenssätzen, zu denen sie in Parallele steht (ohne darin aufzugehen), als auch zur ökonomischen Mentalität des frühneuzeitlichen England – die sich dadurch auszeichnet, daß das Religiöse wirt-
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schaftlicher Dynamik nicht widerstrebte, sondern dazu beitrug, sie zu erzeugen (2.2.3). Was in den deutschen Komödien des 17. Jahrhunderts regelmäßig in Konflikt gerät – Ethik und Liebe auf der einen, ökonomisches Handeln auf der anderen Seite –, dem zeigt Shakespeares Stück eine Möglichkeit harmonischer Parallelität auf. Konsequenterweise prägt die Strukturformel dieser Harmoniemöglichkeit, die Gabe, auch die Zirkulation, in die es die Figuren bringt.
2.2.1 Seehandel und ‚Wucher‘ Der zitierten Verquickung von Persönlichem und Geschäftlichem wegen hat Christian Enzensberger Antonio die „reine Verkörperung“ des Seehandels genannt.4 Nach dieser Lesart liegt der Primat eindeutig bei der Ökonomie. Enzensberger fordert denn auch eine „materialistische Reduktion“ als Prinzip der Interpretation. Seine und die ähnlich begründete Deutung des Merchant of Venice von Michael Nerlich unterliegt aber auch insofern einem Reduktionsprinzip, als sie die Figurenkonstellation auf den Antagonismus zwischen Antonio und Shylock zentriert.5 Die übrigen Figuren werden lediglich als Kombattanten bzw. als Preis für den Sieger berücksichtigt6 – gemeint ist Portia, die immerhin beide Schlüsselszenen des Stücks, Kästchenwahl wie Gerichtsszene, beherrscht. Nun geht Antonio auf dem Heiratsmarkt leer aus – als ‚Sieger‘ gilt daher seine ‚Partei‘. Man sieht: Die Reduktion auf der einen Seite muß durch eine ebenso starke Totalisierung auf der anderen ausgeglichen werden. Nach Nerlich ebenso wie Enzensberger verhandelt der Konflikt zwischen Antonio und Shylock nicht weniger als den epochalen Antagonismus „zwischen Seehandel und Wucher“7 oder, noch weiter gefaßt, zwischen „kapitalistischer Produktionsweise“ oder „feudaler“. Die komplexe Handlung eines elisabethanischen Dramas – zwei Haupt- und drei Nebenhandlungen zählt man im Merchant of Venice – ist damit auf einen universalhistorischen
4 Enzensberger: Literatur und Interesse Bd. 2, S. 30. Vorbild war dabei wohl Marx’
Charakterisierung des Kapitalisten als „personificirtes Kapital“ (Das Kapital – MEGA II, 5,1, S. 476). – An Untersuchungen jüngeren Datums, die auf die Verschränkung von Geld, Liebe und Leben abheben, ohne in einen reduktiven Ökonomismus zu verfallen, seien genannt: Engle: „Thrift is Blessing“; Shell: The Wether and the Ewe. 5 Vgl. Enzensberger: ebd., S. 29–32; Nerlich: Abenteuer-Ideologie, S. 195. 6 Vgl. Nerlich: ebd., S. 231. 7 Enzensberger: ebd., S. 21; vgl. Nerlich: ebd., S. 195, das folgende Zitat ebd., S. 210. Ähnlich noch 1990 Horst Meller: Verpfändetes Fleisch und die Ökonomie der Gnade. Shakespeares Kaufmann von Venedig als Ärgernis. – In: Europäische Komödie, S. 38–72, hier S. 51.
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Rahmen mit vorgegebener Entwicklungsrichtung, also festliegendem ‚Sieger‘ gespannt.8 Da sie Ideologie vor Philologie stellen, sind solche Lektüren inakzeptabel. Stellung und Leistung eines Textes im Horizont seiner Zeit vermögen ihre geschichtsphilosophisch aufgeladenen Makrobegriffe nicht zu erfassen. Zudem kann jede Textinterpretation nur in dem Maße historisch präzise sein, wie sie philologisch akkurat verfährt. Wie also war die ‚venezianische‘ Rechts- und Normenlage in Wucherdingen, dem Dissenspunkt, von dem Shakespeares Drama seinen Ausgang nimmt? So grundsätzlich Antonio den Geldverleih „upon advantage“ verurteilt (I,3, 65) – verboten ist er nicht, und zwar nicht bloß für Juden (denen das kanonische Recht auch in Zeiten des absoluten Zinsverbots einen Freiraum ließ).9 Von der lokalen Rechtssprechung hat Shylock sogar Unterstützung seiner Vertragsansprüche zu erwarten (vgl. III,3, 26–31). Gleichwohl scheint der ‚Wucher‘ bestimmten Beschränkungen zu unterliegen. Es fällt auf, mit welchem Nachdruck Shylock auf dem Unterschied zwischen direkten Zinsen („interest“, I,3, 46, 71) und indirekten beharrt. Das läßt vermuten, daß sein Geschäft auf einem jener Tricks beruht, die vor der gesetzlichen Zulassung des Zinsnehmens üblich waren, z. B. der vertraglichen Vereinbarung einer Art Verleihgebühr. Gebühren dieses Typs verbergen sich wahrscheinlich hinter den „forfeitures“, die Shylock nach Ablauf der Frist von seinen Schuldnern fordert (III, 3, 22).10 Shylock kalkuliert den auf diese Weise erzielten Gewinn zwar im Modus von Zinssätzen („rate“, I,3, 40, 99), doch scheint er Geld nicht offen gegen Zinsen verleihen zu dürfen. Mit der wucherrechtlichen Situation im England des späten 16. Jahrhunderts hat das strukturell eine wichtige Gemeinsamkeit, wenngleich die Bestimmungen im einzelnen stark abweichen, ja geradezu verkehrt sind: Dort 8 Die Dualität von Wucherkapital und Kaufmannskapital haben Enzensberger und
Nerlich von Marx übernommen (vgl. Marx: Das Kapital – MEGA II, 5,1, S. 600f.). Enzensberger deutet den Wucher „als rückwärtsgewandte, feudale Erscheinung“, weil im englischen 16. Jahrhundert insbesondere der Adel Kredite aufnahm bzw. Einfluß auf die Krone gewann durch die Beleihung zukünftiger Steuereinnahmen (Erkenntnis und Interesse Bd. 2, S. 25). Noch weniger Begründungsaufwand treibt Nerlich, wenn er die Mittelalterlichkeit des Wuchers dadurch zu plausibilisieren versucht, daß er Shylock mit dem „Feudaladel (Marokko, Arragon usw.)“ parallelisiert und diesen drei Figuren „Antonio/Bassanio“ gegenüberstellt (Abenteuer-Ideologie, S. 204, vgl. S. 209). Der „Handelskapitalismus“ wiederum wird utopisch nach ‚vorne‘ verlängert, denn er erhält „menschheitsbefreiende Macht“ zugesprochen (ebd.; ähnlich Enzensberger: ebd., S. 25, 29). 9 Vgl. Peschke: Wucher, S. 1087. 10 Dieser Zinstyp ist seit dem späten Mittelalter gängig, vgl. Tawney: Religion und Frühkapitalismus, S. 57. Nur er ermöglicht es Antonio, Schuldner Shylocks freizukaufen (und diesem dadurch jeden Gewinn zu nehmen, vgl. III,3, 22f.).
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hatte der Act against Usury von 1571 eine direkte Zinsnahme von bis zu zehn Prozent erlaubt, eine prinzipielle Anerkennung des Geldverleihs gegen Zinsen jedoch vermieden.11 Da eine Rückgabe nur des geliehenen Betrags, nicht aber der Zinsen einklagbar war, wäre die gerichtliche Legalisierung eines Mords, wie sie Shylock zu erreichen versucht, nach englischem Recht von vornherein nicht möglich gewesen.12 Gleichwohl taugt das Szenario des Merchant of Venice zur Reflexion der englischen Verhältnisse, denn in beiden Fällen steht die rechtliche Regelung der ‚Wucher‘-Praxis in mehr oder weniger offenem Widerstreit mit der ethischen Norm. Den Möglichkeiten dramatischer Darstellung entsprechend, verteilen sich die beiden Varianten des Umgangs mit dem Wucherproblem bei Shakespeare auf zwei Figuren, so daß die Norm zunächst einmal bloß als persönliche Überzeugung erscheint. Zumal die Ausgangslage des Konflikts ähnelt den englischen Verhältnissen: die Norm setzt sich nur ausnahmsweise, nämlich wenn es zu Streitfällen kommt, gegen den geregelten Wucher durch (III,3, 22–24), muß ihn üblicherweise jedoch gewähren lassen, d. h. Antonio kann seinen Gegner lediglich beschimpfen (vgl. I,2, 101–104). Die Antonio-Shylock-Handlung läßt sich auf dieser Grundlage als ein Versuch interpretieren, den Konflikt zwischen Recht und ethischer Norm beispielhaft so weit zuzuspitzen, daß eine Entscheidung fällt:13 Der rechtlich geschützte ‚Wucher‘ ergreift die Gelegenheit, seine Leistung bei der Befriedigung des gesellschaftlichen Bedürfnisses nach Krediten unabhängig von Freundesliebe und -vermögen vom Gericht der Öffentlichkeit anerkennen zu lassen, und zwar mit dem Nachdruck des Ein-für-allemal, damit das personifizierte Wucherverbot daran sterbe. Die von Antonio in der Wucherfrage vertretene ethische Norm ist dagegen, so meine These, in einem umfassenden Sinne auch die Norm des Stükkes, die es durch Verlauf und Ausgang bestätigt.14 Sie bedarf deshalb einer eingehenderen Beschreibung. Antonio stempelt Shylock zum Wucherer, nicht weil der besonders hohe Zinsen nähme, sondern weil er den Geldverleih überhaupt als Geschäft betreibt.15 Von einem Eintreten „für moderne Handelskredite“ mit niedrigen Zinssätzen, wie Nerlich schreibt,16 kann keine Rede 11 Vgl. Richard A. Tawney: Introduction. – In: Wilson: A Discourse upon Usury,
S. 1–172, hier S. 160–169. 12 Vgl. ebd., S. 154. 13 Daß Shakespeare bewußt die zeitgenössische Wucherdiskussion aufgreift, läßt sich aus
den Abweichungen von seiner Quelle (Il Pecorone) schließen: die Frage der Legitimität des Wuchers wird dort nicht gestellt (vgl. Engehausen: Shylock, S. 155). 14 Zum Prinzip ‚poetischer Gerechtigkeit‘ als Prämisse einer historischen Interpretation vgl. Wolpers: Shakespeares „The Merchant of Venice“, S. 181–185. 15 Um anzuzeigen, daß es sich um einen durchaus bestreitbaren Tatbestand handelt, setze ich Shylocks ‚Wucher‘ in Anführungszeichen. 16 Abenteuer-Ideologie, S. 209.
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sein. Antonio mißt Shylocks Geschäfte nicht am ‚handelskapitalistischen‘ Ideal billiger Kredite,17 sondern begegnet ihnen mit der Forderung, Darlehen aus Freundschaft und deshalb zinslos zu gewähren (vgl. I,1, 154; I,3, 127f.). Er scheint damit auf die mosaische Unterscheidung zwischen dem Geldverleih an Volksgenossen und dem an Fremde zu rekurrieren.18 Gegenüber Shylock ist dieses Argument prekär, weil der Jude ja als Fremder gilt (und, historisch gesehen, ihm deshalb das Zinsnehmen erlaubt war). Antonios entscheidendes Argument gegen das Zinsnehmen vermeidet denn auch diese Schwäche: Shylock sucht seinen ‚Wucher‘ mit der biblischen Geschichte von Jakob zu rechtfertigen, der seinen Lohn dafür, die Herde seines Onkels Laban gehütet zu haben, durch eine List erheblich steigerte (Gen 30, 25–43). Da ihm die gescheckten unter den neugeborenen Lämmern zufallen sollten, veranlaßte Jakob, daß die Schafe sich vor ‚gescheckten‘ Ruten paaren. „This was a way to thrive, and he was blest: / And thrift is blessing if men steal it not“ (I,3, 84f.). Antonio akzeptiert dieses Gewinnmuster, nicht jedoch dessen Anwendung auf das Zinsnehmen: „is your gold and silver ewes and rams?“ (90). Warum aber ist die Vermehrung ‚toten‘ oder unfruchtbaren – diese Attribute impliziert der Vergleich – Metalls (vgl. 129: „barren metal“) nicht legitim, wenn sie doch offensichtlich möglich ist? Weil sie, ganz auf menschlichen Vertrag gegründet, der „hand of heaven“ (88) nicht bedarf, ja deren unvermutetes Eingreifen auszuschließen sucht. Gott anheimgestellt ist dagegen die Fellfarbe neugeborener Lämmer, geschnitzte Stecken vor den Augen der begatteten Muttertiere hin oder her: This was a venture, sir, that Jacob serv’d for, A thing not in his power to bring to pass, But sway’d and fashion’d by the hand of heaven. (I,3, 86–88)
Antonios Ablehnung des Wuchers leitet sich demnach aus einer religiösen Überlegung her, doch ist sie darum nicht spezifisch „mittelalterlich“.19 Ohne nur ökonomisch begründet zu sein, ist sein Wucherverbot eines aus dem Geist des Seehandels:20 Indem Antonio über Jakobs Zuchterfolge als einen „venture“ 17 Zum Kapitalbedarf des elisabethanischen Seehandels, der wegen geldwirtschaftlicher
Beschränkungen nicht befriedigt werden konnte, vgl. Engehausen: Shylock, S. 149. 18 Ex 22, 25; Dtn 23, 20f. Auf sie hebt u. a. Schwanitz: Systemtheorie, S. 247 ab. 19 So Engehausen: Shylock, S. 157. Carson hat nachgewiesen, daß Antonios Auslegung
der Jakob-Laban-Geschichte reformierten Bibelkommentaren der Zeit entspricht (vgl. Hazarding and Cozening, S. 174). 20 Dieses Gemenge entspricht recht präzise der Diskussionslage im elisabethanischen England, denn die erste Schrift in englischer Sprache, die die Wucherdiskussion von theologischen Vorgaben auf ökonomische, d. h. Nützlichkeits-Überlegungen umzustellen versuchte – Bacons Essay Of Usury –, erschien erst 1625, fast dreißig Jahre nach dem Merchant of Venice (vgl. Engehausen: Shylock, S. 154). Als Nachdruck des Essays, im Vergleich mit dem Merchant of Venice, vgl. Ahrends: Wucher.
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spricht, schlägt er die Brücke zu seinem eigenen Geschäft (vgl. I,1, 15). Tatsächlich zeichnet sich das Geschäft des Fernhändlers durch eine Lücke zwischen menschlichem Einsatz und geschäftlichem Ertrag aus. Der ‚Wucher‘ sucht die daraus folgende Unsicherheit durch vertragliche Festlegung zu schließen. Jegliches Geschäft aber muß dem göttlichen Weltenlenker eine Lücke lassen, um den erstrebten Gewinn als Segen begreifen zu können.21 Diese eigentümliche Dialektik zwischen Risikobereitschaft und Gewinnberechtigung ist biblisch vorgegeben: „And yf ye lende vnto them, of whom ye hope to receaue, what thanke haue ye there fore? For synners also lende vnto synners, that they maye receaue as moch agayne. But rather loue youre enemies, do good, and lende, lokynge for nothing thereof agayne: so shal youre rewarde be greate,“ heißt es bei Lukas 6[,34f.].22 Shylocks Kalkulation hingegen läßt göttlichen Segen nicht zu, ja sie versucht, ein Stück Welt(zeit) der göttlichen Allmacht zu entziehen.23 Daß er als Jude gezeichnet ist, reproduziert insofern nicht bloß ein abschätziges Völkerstereotyp,24 sondern hat einen präzisen theologischen Sinn. Kein geschäftliches Risiko auf sich nehmen zu wollen heißt, kein Gottvertrauen zu haben. Nicht allein die Ablehnung des Wuchers durch Antonio, auch seine Handelstätigkeit beruht hingegen auf einer christlich gefärbten Deutung der Zeitstruktur menschlichen Handelns.
2.2.2 Die Gabe als Principium von Ökonomie, Liebe, Erkenntnis und Recht An dieser Stelle gewinnt die Tatsache Bedeutung, daß Antonio kein Merchant Adventurer im Sinne des wirtschaftshistorischen Begriffs ist, wie es in der Forschung nahezu durchgängig heißt. Denn erst dem seßhaften Kaufmann entkoppeln sich Investition und Ertrag in der Weise, daß er jene nicht mehr durch eigenen Einsatz in diesen überführen kann. Auf die Rückkehr seiner Schiffe warten zu müssen – in einer Untätigkeit, welche Antonios vieldisku21 Wo Antonio „the hand of heaven“ sagt, hört Nerlich nur „Zufall“ – seiner Prämisse
folgend, daß die religiöse Basis von Antonios Argumenten gegen den Wucher nichts als Tarnung des eigenen Geschäftsinteresses sei (vgl. Abenteuer-Ideologie, S. 208f., 214 [Zitat]). Den entscheidenden Punkt – der göttlichen Vorsehung nicht vorzugreifen – übersehen auch viele nicht-materialistische Interpreten, obwohl Neil Carson bereits 1972 auf ihn aufmerksam gemacht hat, vgl. Hazarding and Cozening, S. 175f. 22 (The Holy Scriptures 1535) Freilich ist damit kaum irdischer Gewinn gemeint, denn die Stelle geht weiter: „and ye shalbe the children of the Hyest“. 23 Dementsprechend wurde Wucher auch als Zeit-Diebstahl an Gott gedeutet, vgl. Tawney: Religion und Frühkapitalismus, S. 58. 24 Obwohl es Ende des 16. Jahrhunderts keine jüdischen Wucherer in England gab, gehört die Zuordnung von Judentum und Wucher zum Denkrepertoire der Zeit (vgl. Engehausen: Shylock, S. 160f.).
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tierte Melancholie gebiert25 – verdeutlicht dem Kaufmann, daß seine venture auf Gottes Hilfe angewiesen ist. Diese Entkoppelung von Investition und Ertrag aber verlangt vom Kaufmann, sein Geschäft nicht nach Modell des unmittelbaren Tausches von Gütern zu verstehen, sondern nach dem der Gabe.26 Spezifikum der Gabe ist die Auflösung jener Wechselseitigkeit hier und jetzt, die den Tausch auszeichnet. Anders als dem Tausch eignet ihr ein Moment jener Absichtslosigkeit, nach welcher der vom modernen Kalkül – nicht allein in der Wirtschaft – erfaßte Mensch sich zurücksehnen wird (und das er in Komödien wieder hervorzulocken sucht, auf daß sie eine andere Gesellschaft inszenieren).27 Allerdings ist jene Auflösung nicht vollkommen: Ohne einen rechtlich externalisierten Anspruch darauf zu haben, impliziert die Gabe die Erwartung einer Gegengabe. In den primitiven Gesellschaften, die Marcel Mauss untersucht hat, schließt sich der Kreis auf diese Weise doch wieder und konstituiert so das Soziale.28 Flexibel ist das Verhältnis von Gabe und Gegengabe aufgrund der 25 Wie Antonio selbst bekundet, ist es also nicht die Sorge um seine Schiffe, die ihn
melancholisch stimmt (I,1, 41–45), sondern – schlage ich vor zu ergänzen – die Unmöglichkeit, selbst für ihre gute Rückkehr zu sorgen. 26 Diesen entscheidenden Punkt übergeht die gleichfalls auf Modelle wirtschaftlichen Handelns fokussierte Studie von Christiane Damlos-Kinzel, die sowohl Shylock als auch Antonio dem „chrematistic principle“ zuordnet (vgl. The Tension between Oeconomics and Chrematistics in William Shakespeare’s The Merchant of Venice, S. 110, zum chrematistischen, d. h. gewinnorientierten Handel vgl. unten S. 236f.). Wie die vorliegende Interpretation (vgl. unten S. 102) sieht Damlos-Kinzel in The Merchant of Venice eine vor-marktwirtschaftliche Wirtschaftsethik ausgedrückt, die sie aber allein in Portias Verhalten ausmacht (vgl. The Tension, S. 130, 126). 27 Vgl. insbesondere Hugo von Hofmannsthals Komödienkonzept und -praxis (Der Schwierige 1921); dazu Greiner: Die Komödie, S. 351. Bereits in manchen Komödien des späten 18. Jahrhunderts zeichnet sich diese Konstellation ab; vgl. den Schluß dieser Kapitelgruppe über Pfeffels Kaufmann. 28 Vgl. Mauss: Die Gabe, S. 18f. Mauss betont, daß Moral und Ökonomie der Gabe „unterschwellig auch noch in unseren Gesellschaften wirken“ (ebd., S. 19, vgl. S. 173). – Wohl in Reaktion auf die Vorherrschaft der ‚instrumentellen Vernunft‘ haben Begriff und Konzept der Gabe seit einiger Zeit wieder Konjunktur in den Kulturwissenschaften (zur Forschungsdiskussion und zur ideologischen Ausbeutbarkeit des Gabemodells vgl. Wagner-Hasel: Der Stoff der Gaben, S. 27–52). Einen der ausgreifendsten Beiträge hat Jacques Derrida geliefert, bindet er an die Gabe doch nicht allein eine Theorie der (An-)Ökonomie, sondern auch der Zeit und des Erzählens. Sein Ausgangspunkt ist Marcel Mauss’ Essai sur le don, doch mißhagt ihm die Ambivalenz des dort entwickelten Begriffs der Gabe, nämlich daß diese, obwohl ‚Geschenk‘ und deshalb nicht berechnend, im systemischen Verbund mit einer Gegengabe steht. Derrida vereindeutigt ihn deshalb so – „Die Gabe darf nicht zirkulieren“ –, daß er zur Bezeichnung von etwas „Unmöglichem“ wird (Falschgeld, S. 17, vgl. S. 24: „damit es Gabe gibt, darf die Gabe nicht erscheinen, sie darf nicht als Gabe wahrgenommen werden“). Als Begriff der soziologischen, ökonomischen oder auch erotologischen Analyse ist die Gabe damit wertlos; Derridas umgebogener Gabebegriff transzendiert
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Zeit, die zwischen ihnen liegt.29 Sie zieht der Kalkulation Grenzen, weil sie das Unvorhersehbare einläßt. Der Herrschaft eines Unkalkulierbaren – Gottes – Rechnung zu tragen erfordert es geradezu, den Tausch als Paradigma des Geschäftes durch die Gabe zu ersetzen. ‚Wucher‘ wird dagegen als in sich widersprüchliche Form des Tausches offenbar, denn er versucht, den Zeitraum, über den ein Vertrag geschlossen wird, durch diesen Vertrag zugleich zu vernichten, indem der Vertrag die Unsicherheit jedes zeitlichen Fortschreitens für den Gläubiger eliminiert.30 Zwischen Gabe und Tausch zu unterscheiden heißt, Antonios Geschäft nicht in einem geschlossenen Kreis zu denken. The Merchant of Venice nimmt deshalb auch nicht „eindeutig Partei für die Zirkulation des Geldes durch Investition, Handel und Konsum“, wie es unter Verwischung der entscheidenden Grenze, die zum vertraglich festgesetzten Geld-Tausch (‚Wucher‘) gezogen wird, bei Dietrich Schwanitz heißt.31 Wie die Häufigkeit des Ringmotivs andeutet und in der Wanderung des Ringes, den Portia Bassanio schenkt, deutlich wird,32 ist Shakespeares Drama zwar durch und durch „a play about circularity and circulation“,33 doch gilt das Zirkulationsprinzip nur unter einem bestimmten Vorbehalt. The Merchant of Venice steht erst an der Schwelle zur ökonomischen Durchsetzung dieses Prinzips: Zirkulation ist hier noch ein Effekt der Gabe. Nicht weniger bedeutsam ist ein zweiter Punkt: Das Prinzip der Gabe bestimmt nicht allein Antonios Geschäftshandeln. Es kann dem Interpreten vielmehr dazu dienen, die ausdauernd gesuchte, nie aber überzeugend gefundene normative Einheit der verschiedenen Sphären,
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soziale Beziehungen und hat ‚nur‘ noch theologische Bedeutung, denn er paßt auf nichts anderes als auf Christi Opfertod am Kreuz (als die einzige Gabe, für die ein Lohn schlechterdings nicht erwartbar ist). Konsequenterweise belegt er die Gabe mit Gottesattributen: „Was ist die Gabe als Erster Beweger des Kreises?“ (S. 46). Gerade die Gaben des Merchant of Venice lassen sich, wie noch zu erläutern ist, mit einem solchen Gabebegriff aber nicht fassen. Vgl. Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 163. Die Zeit, genauer: den Gedanken ihrer fundamentalen Ambivalenz, stellt auch Sarah Kofman ins Zentrum ihrer Studie über den Merchant of Venice. Sie weist dabei zu Recht auf die Bedeutung des Zeit- und damit Unsicherheitsfaktors für Antonios Handel hin (vgl. Konversionen, S. 50), sieht jedoch nicht den Widerspruch zwischen unvermeidlicher Offenheit der Zukunft und vertraglicher Bindung in Shylocks Wucherpraxis, wenn sie ihn dafür lobt, daß er „im Gegensatz zu Antonio die schöpferische Seite der Zeit sehr wohl kennt und weiß, daß ‚Zeit Geld‘ ist“ (S. 56). Der Basiskonflikt des Dramas kann aus diesem anachronistischen Blickwinkel nur verkannt werden. Vgl. Systemtheorie und Literatur, S. 243. Außer der unten (S. 103) erörterten Handlung um Portias Ring: IV,2, 13; V,1, 142ff. (Nerissa spielt dasselbe Spiel mit Gratiano), sowie III,1, 107–112 (Shylocks Klage über einen Ring seiner verstorbenen Frau, den seine flüchtige Tochter Jessica ihm entwendet und versetzt hat). Burckhardt: Shakesperean Meanings, S. 210.
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die das Stück berührt,34 zu definieren. Das Modell der Gabe bildet die systematische Grundlage für die zahlreichen metaphorischen Interferenzen zwischen ökonomischer und amikaler/erotischer Sphäre, ohne Liebe auf Tausch oder Geschäft im Marktsinn zu reduzieren. Seine Funktion in verschiedenen Sozialbereichen bekräftigt vielmehr die vormoderne Unablösbarkeit wirtschaftlichen Handelns von anderen Sozialbereichen wie Recht, Liebe, Glaube oder Wissen.35 Ein einheitliches Handlungs- bzw. Denkmuster in all diesen Bereichen begründet die Gabe, indem sie eine Grenze zieht – nämlich zum ‚Tausch‘ –, die in ihrer werkimmanenten wie historischen Bedeutung bisher allenfalls abschnittsweise Beachtung gefunden hat.36 Sphärenübergreifende Bedeutung kommt dem Gabemodell nicht zuletzt deshalb zu, weil auch Portia nach ihm handelt. Zunächst geht es um die Liebe: Tauschen die Liebenden sie, oder schenkt sie einer dem anderen, so daß sich Wechselseitigkeit, wenn überhaupt, nur indirekt herstellt? „I come by note to give, and to receive“, tritt Bassanio Portia entgegen, nachdem er sie durch die Wahl des richtigen Kästchens gewonnen hat (III,2, 140). Er geht mithin von einem Tauschmodell der Liebe aus, gar von einer Geldschuld, wenn man die kommerzielle Bedeutung von ‚to come by note‘ mithört (‚eine Abmachung über eine geschuldete Geldsumme präsentieren‘).37 Immerhin vermag er die Liebe, die ihm zugefallen ist, erst dann zu fassen, als Portia sie ihm gleichsam rechtskräftig bestätigt („confirm’d, sign’d, ratified by you“, 148). Alle drei Merkmale modernen Wirtschaftens, Tauschförmigkeit, Rechenhaftigkeit wie Rechtlichkeit, lehnt Portia jedoch ab. Den Anspruch, den Bassanio auf sie hat, beseite schiebend,38 schenkt sie sich mit allem, was sie 34 Auf Unstimmigkeiten in den herkömmlichen Ansätzen bei der Suche nach einem „uni-
fying theme“ weist u. a. Carson: Hazarding and Cozening, S. 168f. 35 Vgl. die Spannweite des Gabemodells nach Mauss: es kann neben dem Gütertausch
auch das Verhältnis zu den Göttern (vgl. Die Gabe, S. 39), den Bereich der Ehre (S. 84–89) und des Rechts (S. 121–148) ordnen. 36 Die, wie es scheint, erste Interpretation des Merchant of Venice unter dem Leitbegriff der Gabe hat 1986 Ronald A. Sharp vorgelegt. Sharp gelangt auf diesem Wege insbesondere zu originellen Einsichten in das Dreiecksverhältnis Antonio–Bassanio–Portia. Kurz berührt wird auch der Gabe-Charakter der Gnade, die Portia in der Gerichtsverhandlung fordert, ausgeschlossen jedoch Antonios Auffassung des Handels als Folge von Gaben unter der Aufsicht Gottes (vgl. Gift Exchange and the Economies of Spirit, S. 261f., 265). Anstatt in der Gabe die Norm zu erkennen, die Geschäfts- und Liebessphäre gemeinsam ist, unterstreicht Sharp damit die üblicherweise gezogene Grenze zwischen beiden. Ganz auf eine Szene – Portias Unterwerfung unter Bassanio, als dieser das richtige Kästchen gewählt hat – konzentriert sich die Anwendung des Gabebegriffs bei Weigel, vgl. „Shylock“ und „Das Motiv der Kästchenwahl“, S. 116–120. 37 Vgl. den Stellenkommentar in der Ausgabe von Puschmann-Nalenz, S. 188. 38 Den Anspruch, daß sie sich bis unmittelbar vor diesem Geschenk selbst gehörte – also nicht schon durch die Wahl des richtigen Kästchens übereignet zu sein –, erheben Portias Verse III,2, 167–171.
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ist und hat, dem Geliebten: „Myself, and what is mine, to you and yours / Is now converted“ (166f.). Damit gelingt es Portia, ihre rechtlich begründete, vom Bräutigam merkantil gedeutete Verpflichtung einerseits zu durchbrechen, andererseits trotzdem Wechselseitigkeit (der Liebe) zu initiieren. Das Zirkulationsprinzip ist für den Bereich der Liebe also derselben Modifikation unterworfen wie in der Handelssphäre.39 Was eine Unterwerfung zu sein scheint, bedeutet für Portia, der eigentümlichen Struktur der Gabe wegen, Gewinn und Befreiung: Zum einen wirkt ihre Gabe, sobald sie angenommen wird (und das tut Bassanio trotz oder wegen erheblicher „confusion“ sofort),40 als Verpflichtung des Beschenkten. Als Ausdruck dieser Verpflichtung zur Gegengabe/liebe überreicht Portia dem Geliebten einen Ring (171–174). Indem sie sich als Gabe annehmen läßt, durchbricht sie zum anderen den ‚Vertrag‘, den ihr Vater durch das Institut der Kästchenwahl mit allen Freiern abschloß.41 In ihm war sie bloßes Objekt (I,2, 21–24). Objekt, nämlich Geschenk, ist sie auch in ihrer Schenkung – schließlich kann sie Bassanios Anspruch nicht einfach ablehnen –, zugleich aber Subjekt, da Schenkende. Die Gabe ihrer selbst ist Portias erfolgreicher Versuch, sich als Subjekt wiederzugewinnen und zugleich ihrer Liebe zu Bassanio Ausdruck zu geben. Im Rahmen des Vertrags- bzw. Tauschmodells wäre dagegen keines von beidem möglich. Die genannte Doppelfunktion kann die Gabe freilich nur im Bereich der Liebe haben, wo Gebendes und Gegebenes identisch sind. Allerdings scheint sie auch nur unter den Bedingungen patriarchalischer Degradierung der Braut zum Objekt notwendig. Für Portia leistet die Gabe noch mehr, als Antonio im Wirtschaftsbereich von ihr erwartet, denn der royal merchant unterliegt keiner Fremdbestimmung, von der er sich gabeweise befreien müßte. Freiheit gewährleistet die Gabe gleichwohl auch in Antonios Anwendung, denn als Gabe durchbricht sein Handel jenen Vertrag, durch den der ‚Wucher‘ die Zeit zum ihres Eigensinns beraubten Objekt machen möchte. Selbst die Liebe hat auch in Antonios Sphäre ihren 39 Portias Sphäre ist demnach nicht von ganz anderen Normen bestimmt als Antonios
Venedig, wie bis in die jüngste Zeit immer wieder behauptet; so mißt Meyer: Business in The Merchant of Venice, S. 104, Antonio und Shylock dieselben „commercial values“ zu, die Shakespeare insgesamt verwerfe, um „Portia’s anti-business perspective“ zu affirmieren. Ähnlich dichotomisch fällt die Gegenüberstellung von venezianischer Kaufmannschaft (einschließlich Shylocks) und der Großzügigkeit in Belmont in der soeben erschienenen Studie Phyllis Rackins aus (The Impact of Global Trade in The Merchant of Venice). 40 Vgl. III, 2, 175–185, Zitat 177. 41 Vgl. Weigel: „Shylock“, S. 115f., mit Bezug auf Newman: Portia’s Ring. Hier von einem „Frauentausch“ zu sprechen (Weigel, S. 115; vgl. Newman, S. 21: „exchange of Portia from her father via the casket to Bassanio“) scheint mir den Tauschbegriff etwas zu sehr zu strapazieren; festzuhalten sind jedoch die Rechtlichkeit und die Entmündigung der Braut, die das Verfahren enthält.
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Platz: er schenkt sie, wenn er aus Freundschaft leiht, und er erhält sie, da eventueller Gewinn ihm als Gabe des Herrn, der die Liebe ist, erscheint. Kommt dem Gabeprinzip der Rang einer allgemeinen Norm vorbildlicher Entscheidungen in den verschiedenen Problemsphären des Merchant of Venice zu, so muß es auch in den Schüsselszenen des Stücks, der Kästchenwahl und der Gerichtsszene, zur Geltung kommen. Sie führen, nachdem es bisher um Wirtschaft sowie um Liebe ging, zwei weitere Sozialbereiche vor, ‚Erkenntnis‘ und Recht.42 Ganz im Sinne des über die Unterbrechung der Zirkulation durch die Gabe Gesagten fallen Morocco und Arragon als Freier durch, weil sie den materiellen Wert des Kästchens mit dem ‚inneren‘ Wert eines Menschen kurzschließen, also eine unmittelbare Beziehung zwischen beidem herstellen. Ihre als unzulässig verurteilten Schlüsse variieren lediglich darin, daß jener das Gold des Kästchens auf die Braut (II,7, 38: „that’s the lady“), dieser dessen Silber als Zeichen des Verdienstes auf sich selbst bezieht (II,9, 51). Beide versäumen es, die Differenz zwischen – präsentem – Schein und – erst später sich enthüllendem – Sein in Rechnung zu stellen, obwohl er konstitutiv ist für die Wahlsituation. Deshalb jede Berechnung aufzugeben zugunsten des Wagnisses, ‚alles‘ zu geben, wie es auf dem bleiernen Kästchen heißt (II,7, 9: „‚Who chooseth me, must give and hazard all he hath‘“), diese Konsequenz zieht nur Bassanio. Man hat sich oft über die geringe moralische Würde dieses Siegers gewundert, der sich bisher vor allem als Verschwender zeigte (I,1, 122–139).43 Besondere Moralität setzt seine Wahl freilich gar nicht voraus, denn sie folgt konsequent aus der inneren Struktur der Kästchenwahl. Fähig, die geforderte Unterscheidung zu machen, ist Bassanio aufgrund seiner im Ökonomischen schon bekundeten und mit der Werbung um Portia unter Beweis gestellten Bereitschaft, persönlichen Ein42 Diese Tetrade läßt an Luhmanns Aufriß von sozialen Systemen bzw. ihrer ‚symbolisch
generalisierten Kommunikationsmedien‘ denken, vgl. Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 336. Den Versuch einer Analyse des Merchant of Venice auf systemtheoretischer Grundlage hat Dietrich Schwanitz vorgelegt. Er besticht wegen der Vielzahl der Interpretationsperspektiven, die er zumindest anreißt bzw. systematisch zu ordnen weiß (vgl. Schwanitz: Möglichkeiten). Im Hinblick auf den theologischen Vorbehalt gegen das Zirkularitätsprinzip zeigt er, theoriebedingt, jedoch einen blinden Fleck: Luhmanns Systemtheorie kennt nur Wahrheit, Liebe, Geld und Macht/Recht als ‚symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien‘, schließt den Glauben hingegen aus, da sich die Differenzierung jener Medien an ihm „vorbeientwickelt“ habe (Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 988). Die Steuerung unterschiedlicher Sozialbereiche durch ein Prinzip in vormodernen Gesellschaften kann auf dieser Grundlage nicht in den Blick genommen werden. Da er die Rolle religiöser Vorstellungen für die Konfliktkonstellation von Shakespeares Drama kennt, fügt Schwanitz an einer Stelle seines Aufsatzes trotzdem eine Rubrik ‚Theologie‘ ein (Möglichkeiten, S. 341), sprengt damit aber sein System. 43 Vgl. Rabkin: Shakespeare and the Problem of Meaning, S. 15f.
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satz – jetzt – nicht von der Gewißheit eines guten Ausgangs – in der Zukunft – abhängig zu machen (I,1, 146–152). In Bassanios rechter Wahl den Erfolg der „auf die Spitze getriebenen Seehandelsmaxime“ zu sehen44 brächte gleichwohl eine unangemessene Zentrierung in das Wertsystem des Stücks. Ökonomische Präferenzen als Entscheidungshilfe lehnt er mit Blick auf das Silber als Geldmetall ab, wohingegen seine gescheiterten Konkurrenten jeweils das Metall gewählt hatten, das sie mit einer Geldmünze in Verbindung bringen konnten.45 Die Kästchenwahl stellt demnach nicht einfach die Durchführung des in der ersten Szene gefaßten Entschlusses dar. Dem ökonomischen Wagnis folgt jetzt vielmehr ein kognitives. Beide haben es mit einer nicht aufzuhebenden Zeitdifferenz zu tun. Die Zeit zwingt dem Denken die Unterscheidung von Schein und Sein auf – weil im Fortgang der Zeit sich alles auch anders darstellen kann, so daß eine zu revidierende frühere Erkenntnis dann als dem Schein erlegen gälte –, ebenso wie sie von der Wirtschaft fordert, in ihren Kalkulationen eine Leerstelle offenzuhalten. Auch jede Erkenntnis ist also ein Wagnis. Bassanio folgt nicht der von Shakespeares Quelle vorgegebenen christlichen Scheinkritik,46 wenn er das bleierne Kästchen wählt, doch die logische Substanz seiner Wahl ist dieselbe wie die von Antonios Reklamation einer göttlichen Weltlenkung. Nun ist, als ein weiterer Einwand gegen die Konsequenz von Shakespeares dramatischem Arrangement, darauf hingewiesen worden, daß Portia sehr wohl innere und äußere Werte in sich vereine, sich in ihr also keine Kluft zwischen Sein und Schein auftue.47 So ist es; eben dadurch aber wird das Handlungsmodell der Gabe erst erfüllt. Denn mit Gaben zu operieren heißt nicht, von vornherein auf die Gegengabe zu verzichten. Was sich nicht berechnen läßt, kann sich, ja soll sich doch erfüllen. Wer sich der Differenz bewußt ist, darf durchaus auf Identität hoffen. Das jedenfalls verheißt das Schicksal Bassanios – und Antonios, wenn er am Ende des Stücks die Nachricht vom Eintreffen dreier seiner verloren geglaubten Schiffe erhält (V,1, 276f.). Bei diesem Happy-End ist die Handlung mit Bassanios erfolgreicher Werbung jedoch noch nicht angelangt. Des sekundären Schuldners venture kommt zu spät zum Erfolg, um den primären aus den Fängen des Gläubigers 44 Enzensberger: Literatur und Interesse Bd. 2, S. 63 (im Orig. hervorgeh.). 45 Morocco sagt über das Gold: „They have in England / A coin that bears the figure of
an angel / Stamp’d in gold“ (II,7, 55–57). Arragon bewegt sich bei seinen Reflexionen über das silberne Kästchen in derselben Terminologie („stamp of merit“, II,9, 39). Bassanio dagegen verachtet das Silber als „pale and common drudge / ’Tween man and man“, also weil es zu Geld geschlagen wird (III,2, 103f.). 46 So Carson: Hazarding and Cozening, S. 169f. 47 Vgl. Rabkin: Shakespeare and the Problem of Meaning, S. 16.
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zu retten. Daß es eine Frist ist, die Antonio überschreitet, weist noch einmal auf die Maßgeblichkeit der Zeitdimension hin; daß sie überschritten wird, schafft wiederum die dramatische Möglichkeit, den Wucherkonflikt nicht bloß ‚glücklich‘ zu beenden, sondern ein Urteil über ihn zu fällen. Ein Urteil in mehrfachem Sinne: entschieden werden soll über Antonios Schicksal, entschieden wird jedoch über Shylock sowie – für den beobachtenden Zuschauer – über den ‚Wucher‘ und das ihm zugrunde liegende Modell von Zirkulation. Die Gerichtsszene fügt der Reihe von Wirtschaft, Liebe und Erkenntnis das Recht als vierten Bereich sozialen Handelns hinzu. Wieder stehen sich zwei Prinzipien gegenüber: Gnade und Rechtlichkeit (mercy vs. justice, IV,1, 180–201). Rechtlichkeit resultiert, wie Shylock fordert, aus einer exakten, vertragsanalogen Auslegung von Gesetzen (202f.). Sie funktioniert wie der Tausch: was der eine erhält (sein Recht), muß der andere geben (die Buße). Ansprüche und Verpflichtungen sind verrechenbar und berechenbar: auch in die Zukunft, weil das Recht bei jeder Tat schon die künftige Bestrafung festgelegt hat. Die Gnade dagegen entzieht sich sowohl dem Prinzip der Kalkulierbarkeit wie dem der Verrechnung, wie Portia erläutert: The quality of mercy is not strain’d, It droppeth as the gentle rain from heaven, Upon the place beneath: it is twice blest, It blesseth him that gives, and him that takes (180–183).
Ähnlich wie in Antonios Geschäftsethik erscheint auch hier wieder Gott als Garant der rechten Wahl: It [mercy] is an attribute to God himself; And earthly power doth then show likest God’s When mercy seasons justice: therefore, Jew, Though justice be thy plea, consider this, That in the course of justice, none of us Should see salvation: we do pray for mercy, And that same prayer, doth teach us all to render The deeds of mercy. (191–198)
Im Vergleich mit ‚justice‘ fällt ins Auge, daß ‚mercy‘ nicht ‚getauscht‘ werden kann. Theodor Wolpers definiert sie daher als „schenkende Liebe“, in Analogie zu Portias Verhalten gegenüber Bassanio.48 Ähnlich wie Portias Selbstübergabe Erwartungen impliziert, ist jedoch auch die Gnade nicht ‚reines‘ Geschenk. Wer sie gibt, erwartet vielmehr, sie umgekehrt auch zu erhalten. Es ist ein Rechtsmodell nach Maßgabe der Gabe, das Portia hier empfiehlt.
48 Wolpers: Shakespeares „The Merchant of Venice“, S. 171, vgl. ebd., S. 160.
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Solche Unschärfe lehnt Shylock jedoch ab, nicht nur im Hinblick auf Antonio, sondern auch mit Rücksicht auf sein eigenes Schuldkonto vor Gott.49 Wohin diese Blasphemie führt, wird ihm von der irdischen Richterin sogleich nachgewiesen: „For as thou urgest justice, be assur’d / Thou shalt have justice more than thou desir’st.“ (311f.) Es ist unerheblich, ob Portias Vorgehen dem juristischen „Billigkeitsprinzip“ entspricht und „Regelkonformität“ zeigt;50 auffällig ist vielmehr, daß – ähnlich wie bei der Kästchenwahl – die umkämpften Werte nicht an externen Vorgaben, sondern an sich selbst gemessen werden. Shylocks Vertragsanspruch wird nicht gebeugt (214f.), sondern zerbricht an seiner eigenen Unnachgiebigkeit. Diese Selbstdestruktion buchstäblicher Rechtlichkeit – kein Fleisch ohne Blutvergießen – führt exakterweise bis an eben den Punkt, wo Shylock nur noch das fordert, was wirtschaftsethisch gerechtfertigt gewesen wäre: die Verleihsumme (332). Seine Mordabsicht ist damit aufgegeben, nicht jedoch aus der Welt geschafft. Warum aber greift Portia jetzt erst den Vertrag zwischen Shylock und Antonio an, obwohl bereits länger offenbar ist, daß der Vertrag letztlich einen Mord zu legalisieren bezweckte (342–352, 258)? Hätte Portia dies früher getan, wäre nicht die immanente Unmöglichkeit der Durchsetzung von Shylocks Rechtlichkeitsprinzip offensichtlich geworden. Darauf, sie demonstriert zu haben, scheint es sogar anzukommen. Shylock scheitert nicht an anderen Gesetzen, die prinzipiell nicht weniger willkürlich sind als sein Vertrag mit Antonio, sondern an der Insuffizienz seines Prinzips: Das Recht bedarf stets der Gnade. Dementsprechend sieht das Recht, das Portia ihm abschließend spricht, die Möglichkeit einer Appellation an die Gnade des Herzogs ausdrücklich vor (351f.). Die Gnade des Herzogs wie Antonios beläßt Shylock schließlich sowohl das Leben als auch einen Großteil seines Besitzes.51 Die Bedingung, „that for this favour / He presently become a Christian“ (382f.), darf man dabei nicht an modernen Idealen religiöser Selbstbestimmung messen; da Shylocks ökonomisches wie rechtliches Fehlverhalten unverkennbar mit einer Verstockung gegenüber (dem christlichen) Gott einherging, ist seine geistliche Bekehrung vielmehr unabdingbar.52 49 „My deeds upon my head!“ ist eine blasphemische Anspielung auf jene Juden, die von
Pilatus die Verurteilung Jesu forderten (Mt 27,25). 50 So Wolpers: ebd., S. 169. 51 Reichert: Fortuna, S. 95 erblickt in der von Antonio vorgeschlagenen Regelung eine
Erniedrigung Shylocks, wie sie tiefer kaum denkbar sei, liest die Bestimmungen jedoch nicht richtig: Shylock bleibt im Besitz seines Vermögens, muß lediglich eine Hälfte Antonio zur Nutzung („use“) überlassen und später alles an seine Tochter vererben (d. h. sich damit abfinden, daß sie durch die Heirat mit Lorenzo Christin wird); vgl. IV,1, 376–386. 52 Vgl. Cooper: Shylock’s Humanity, S. 121. Shylocks Taufe stellt eine konsequente literarische Inversion des sozialhistorischen Faktums dar, daß die anglikanische Kirche
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2.2.3 Opfer, Gnade, Markt: religiöse Implikationen, wirtschaftliche Folgen und dramaturgische Spiegelungen der Gabe Shylocks Judentum wird an dieser Stelle erneut als Chiffre nicht bloß seines Wuchergeschäfts53 kenntlich. Christen- und Judentum fungieren im Merchant of Venice ebenso als religiöse Verkörperungen einerseits des Gnaden-, andererseits des Gesetzesprinzips. In diesem Punkte konnte Skakespeare auf eine weit verbreitete, tendenziell antijudaistische Interpretation des Verhältnisses von Neuem und Altem Testament bauen.54 Verstärkt wird die religiöse Codierung des Konflikts über die Christus-Attribute, die Antonio als Opfer(tier: „wether“, IV,1, 114) des Juden erhält.55 Die Brust schon entblößt, sagt Antonio über sich zu Bassanio: „he repents not that he pays your debt“ (275). „For des sonne of man also came not to be serued, but to seruyce, and to geue his life to a redempcion for many“, heißt es bei Markus 10[,45] über die Freiwilligkeit von Christi Opfer.56 Stellt die Kreditverpflichtung Antonios und Bassanios also nur die motivische Ausführung einer pekuniären Metaphorik dar, welche bereits die Bibel auf das eine entscheidende Opfer anwandte? Jedenfalls entspricht die Konstellation der Gerichtsszene einer geläufigen christlichen Metaphorik: Das Lamm, schreibt Origenes,57 ergab „sich, der Menschenliebe des Vaters entsprechend, dem Tode und kaufte uns, die wir unter der Sünde verkauft waren, mit seinem eigenen Blute von dem zurück, der uns in seiner Gewalt hatte“. Von der Liebe des Vaters spricht Portia in ihrer Gnadenrede, und zwar gleichfalls in einem biblischem Bild,58 während Shylock die Rolle des Satans59 zu spielen hätte. Solche Vergleiche zu ziehen zielt nicht darauf, Shakespeares Drama als christologische Allegorie zu lesen. Welche Verbindung aber besteht zwischen dem allgemeinen Gabe-Modell sozialen Verhaltens und dem von Antonio in bezug auf sein Verhältnis zu Bassanio vertretenen, christlich eingefärbten
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noch Ende des 16. Jahrhunderts Wucherer exkommunizierte (vgl. Tawney: Religion und Frühkapitalismus, S. 168). So Enzensberger: Literatur und Interesse Bd. 2, S. 30. Vgl. Karl Kertelge: Gesetz und Evangelium – LThK 4, Sp. 589–591. Vgl. Wolpers: Shakespeares „The Merchant of Venice“, S. 166f. Zur biblischen Deutung von Christi Kreuzestod als ‚Opfer‘ vgl. Opfer – TRE 25, S. 272 (Frances M. Young). (The Holy Scriptures 1535). In der King James Version von 1611 lautet die entscheidende Vokabel, ebenfalls mit ‚Lösegeld‘ zu übersetzen, „ransom“. Comm. in Joh. VI, 35; zit. in: Opfer – TRE 25, S. 274. Einen ähnlichen Beleg aus einer Moralität des 16. Jahrhunderts zitiere ich unten S. 257. Vgl. VI,1, 181; Dtn 32,2, Jes 55,10. Sie kommt ihm auch zu, wenn man den Merchant of Venice mit dem mittelalterlichen Processus Belial parallelisiert (so Wolpers: Shakespeares „The Merchant of Venice“, S. 164, 171 Anm. 54).
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Opferdenken? (Bereits I,1, 138f. verspricht eine Totalaufopferung.) Zwei Punkte sprechen dafür, daß das Drama hier eine Abgrenzung vornimmt, sowohl analytisch als auch normativ.60 Zum einen fehlt dem totalen Opfer der Aspekt, eine Gegenleistung wenn nicht kalkulieren, so doch erwarten zu können. Zum anderen steht Antonio in der Schlußszene ganz allein unter drei Paaren da. Während seine Schiffe unvermutet zurückgekehrt sind, hat ihm seine Bereitschaft zum totalen Opfer für Bassanio keinen (menschlichen) Gewinn gebracht. Erfolg bzw. Mißerfolg sprechen hier zugleich ein wertbegründetes Urteil, denn Antonios Geschäftsverhalten ist keineswegs auf ein Opfer, sondern – wie Portias Liebe – auf die Gabe ausgerichtet.61 Auch das Gabeprinzip scheint indes theologisch gebunden zu sein. Seine Kongruenz mit der christlichen Ethik ist offensichtlich – nicht umsonst bildet Jesu Aufforderung, dem Nächsten jederzeit zu geben, wenn er darum bittet,
60 Sharp dagegen begreift Antonios wiederholtes Selbstopfer für Bassanio als eine
unproblematische Form von Gabe – und sieht in der Schlußkonstellation des Dramas dementsprechend vollkommene Harmonie erreicht (vgl. Gift Exchange and the Economies of Spirit, S. 262f.). 61 Novy: Giving, Taking, and the Role of Portia in The Merchant of Venice, Zitat S. 137, macht ebenfalls darauf aufmerksam, daß in den Figuren Portia und Antonio „two kinds of giving“ kontrastiert werden. Daß Portia am Schluß „her absolute mastery of the system of exchange“ zu etablieren vermag, betont auch Engle: „Thrift is Blessing“, S. 37, ohne jedoch die normative Logik ihres Erfolgs freizulegen. – Indem ich ebendies versuche, wende ich mich nicht zuletzt gegen die Interpretationstendenz der einläßlichsten deutschen Studie zum Merchant of Venice, Klaus Reicherts brillante ikonographische Deutung Portias und ihrer Mitspieler als Figuren eines Fortunaspiels. Reichert rekonstruiert eine Fülle von Bezügen zur Fortunamythologie der Renaissance. Damit macht er insbesondere die reiche (Sprach-)Bildwelt des Stücks durchsichtig. Interpretatorisch kommt Reichert zu dem Schluß, in der Aufnahme des Fortunamotivs artikuliere sich die „Überzeugung von der Kontingenz [...] als Weltgesetz“ (Fortuna, S. 123). Das von Portia proklamierte Prinzip der göttlichen Gnade (IV,1, 191) kann er dementsprechend nur als „Weltgesetz der Wechselfälle“ verstehen (ebd., S. 127). Von der Willkür, die er Portia als Verkörperung der Fortuna zuschreibt, ist jedoch allein Shylocks Verhalten getragen (IV,1, 43). Ebenso ist die Kästchenwahl keineswegs von, wie Reichert schreibt, fortunatischer „Willkür und Blindheit“ bestimmt (ebd., S. 66). Als „blind Fortune“ (II,1, 36) erscheint Portia nur dem, der das Prinzip ihres Handelns nicht (er)kennt. Im Stück trifft das z. B. für Morocco zu, es gilt aber auch für Reichert, der alles ‚Überraschende‘ auf Willkür statt auf den Wertbezug dramatischer Entscheidungen zurückführt, gleich ob dieser expliziert wird (wie in der Gerichtsszene) oder interpretatorisch aufzudecken ist (wie bei der Kästchenwahl). Vor allem christlichen Maßstäben werde jede Geltung entzogen (vgl. ebd., S. 96). Dem aber widerspricht nicht bloß der Text, sondern auch die nachgeordnete Stellung, in der sich Fortuna nach Reicherts eigener Angabe gegenüber Gott befindet: Seit Boethius repräsentiert sie die Undurchsichtigkeit der göttlichen Ratschlüsse für den Menschen (vgl. ebd., S. 66f.). Daß diese Konstellation im Merchant of Venice nach wie vor gilt, macht gerade die Kästchenwahl deutlich: Von einem unerreichbaren (weil verstorbenen) Vater arrangiert, zeigt sie Portia in eben jener ambivalenten Stellung der Fortuna.
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ein typisches Argument der christlichen Wucherkritik.62 Deutlicher noch als Antonios Handelsethik hat Portias Forderung nach Gnade Gott als Begründungszentrum. Gnade walten zu lassen betreffe unmittelbar zwar die Mitmenschen, sei letztlich aber auf Gott bezogen, dessen Gnade vor allem erhofft wird (vgl., wie oben zitiert, IV,1, 189–198). Dem Gabemodell entspricht demnach nicht allein die ideale Rechtsausübung unter Menschen, sondern auch deren Rechtfertigung vor Gott. Heißt das, daß es letztlich religiös begründet ist? Anders gefragt: Stellt Portias eigenwillige Ökonomie des göttlichen Heils – als des weitesten Rahmens, in dem der Mensch lebt – lediglich eine weitere Codierung des Gabemodells dar oder bildet sie dessen konzeptionellen Ursprung? D. h. zugleich: Ist das Gabe-Modell sozialer Beziehungen im Merchant of Venice genuin christlich begründet, oder werden zentrale christliche Glaubensinhalte lediglich aufgenommen, um ein säkulares Modell besser ausdrücken und vermitteln zu können? Für die zweite Lesart spricht, daß sich das Gabeprinzip aus einer notwendigen Problematisierung des Zeitfaktors menschlichen Lebens herleiten läßt. Von der Bedeutung des Zeitfaktors für Antonios Handelsethik ging unsere Analyse aus. Seine Geltung im Bereich der Erkenntnis haben wir ebenfalls aufgewiesen. Ähnlich verhält es sich im Bereich der Liebe, denn die kann sich nicht anders als in einer Präsumtion ihrer Erwiderung durch den anderen artikulieren.63 Für den Rechtsbereich ließe sich geltend machen, daß die fortschreitende Zeit zumindest die Möglichkeit birgt, daß, wer jetzt Kläger oder Richter ist, in die Position des Angeklagten gerät. Portia jedoch greift nicht zu diesem Argument; Gnade ist für sie kein Gaben-Tausch zwischen Menschen, sondern ist geboten, weil wir alle von der göttlichen Gnade abhängig sind. Erst hier kommt der Zeitfaktor zum Tragen: in Form der (vorläufigen) Unerkennbarkeit des persönlichen Gnadenstandes. Im Rechtsbereich hat die säkulare Begründung des Gabe-Modells mithin eine Lücke. Das schließt es aus, die Fülle der explizit oder metaphorisch-implizit christlichen Begründungen der Gabe-Norm lediglich als rhetorische Einkleidung aufzufassen. Schwächer ist die christliche Begründung der Gabe-Norm in den Bereichen von Erkenntnis und Liebe: Während Arragons Vertrauen auf das eigene Verdienst (II,9, 37f., 51, 57) sich als der reformierten Gnadenlehre widerstreitend deuten läßt,64 folgt Bassanios Entscheidung für das bleierne Kästchen keiner christlichen Scheinkritik, denn nichts liegt ihm ferner als eine prinzipielle Weltverneinung. Ebenso sprengt Portias Selbst-Gabe das christli62 Vgl. Luther: (Großer) Sermon von dem Wucher [1520] – WA 6, S. 36–60, hier S. 41,
47. 63 Vgl. Schwanitz: Möglichkeiten, S. 349f. Das Gefühl ungewisser Hoffnung aufeinander
zeigen sowohl Bassanio als auch Portia, vgl. I,1, 173–176; II,9, 99f. 64 Dies tut Carson: Hazarding and Cozening in The Merchant of Venice, S. 171f.
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che Eheverständnis; zudem sind die Paare, die am Schluß des Stücks über den alsbaldigen Vollzug ihrer Ehe scherzen, nie getraut worden. Ebensowenig wie sie übergangen werden darf, organisiert die theologische Begründung demnach das im Merchant of Venice entfaltete Gabe-Modell in der Fülle seiner Anwendungen.65 Der in der Figur des Shylock abgewehrten Herrschaft des Geldes (als des Ausdrucks der unpersönlichen Rechenhaftigkeit des ‚Tausches‘) wird nicht die universale Herrschaft Gottes gegenübergestellt. Das bewegende, aber selbst unbewegte Zentrum ist in Shakespeares Modell schwächer als die Zirkulation von Geld, Liebe, Gnade, obschon deren Geschlossenheit durch den Gabe-Vorbehalt ebenfalls geschwächt ist. Die religiöse Wurzel des Gabemodells lebt noch, vermag jedoch nicht mehr sämtliche Bereiche der Gesellschaft zu kontrollieren. Vielmehr erkennen wir eine Art Arbeitsteilung: Christliche Prinzipien bleiben in den weiträumig sozialen Bereichen von Wirtschaft und Recht in Geltung, können diese jedoch verlieren, wo ein oder zwei Individuen nur ihren Überzeugungen bzw. Neigungen zu folgen brauchen. Theologisch ist Portias Auffassung der göttlichen Gnade nach dem Gabemodell ohnehin prekär. Das protestantische Prinzip sola gratia sieht keinerlei, wie auch immer vermittelten, Austausch zwischen Mensch und Gott vor, denn es folgt, ganz im Gegenteil, dem „Gedanken der absoluten Unverfügbarkeit und Alleinwirksamkeit Gottes“.66 Die Hoffnung, sich Gnade verdienen zu können, wird als Werkgerechtigkeit verworfen67 – und damit nicht nur der Gedanke der Berechenbarkeit, sondern auch jegliche Wechselseitigkeit. Gnade als „schenkende Liebe Gottes“ kann weder herausgefordert noch gleichrangig beantwortet werden, denn sie ist dem Menschen von Anbeginn her zugeteilt (Gnadenwahl). Gott läßt nicht mit sich handeln, auch nicht vermittels einer ‚Gabe‘. Ganz anders stellt die reformierte Gnadenlehre sich allerdings dar, wenn man sie religionspsychologisch und -soziologisch betrachtet. Wie Max Weber und, in kritischer Nachfolge, Richard Tawney dargelegt haben, setzt die unhintergehbare Prädestination die angestrengteste Arbeit um das Himmelreich paradoxerweise erst in Gang.68 Menschliche Aktivität hilft nichts zur Erlangung 65 Die Abwertung des von Antonio vertretenen Opfermodells dürfte hingegen kein Argu-
ment gegen die christliche Absicherung des Gabemodells sein, denn sie stimmt mit der reformatorischen Opfertheologie exakt überein: Da mit Christi Kreuzestod alle Erlösung erwirkt ist, bedarf es keiner weiteren Opfer; vgl. Opfer – TRE 25, S. 272f. (Frances M. Young), 286 (Ingolf U. Dalferth). 66 Gnade – TRE 13, S. 490 (Wolf-Dieter Hauschild). 67 Vgl. ebd., S. 491f.; das folgende Zitat ebd., S. 491 (im Orig. hervorgeh.). 68 Vgl. Tawney: Religion und Frühkapitalismus, S. 201–251; zu Tawneys Weber-Kritik ebd., S. 315–317. Die ältere Kritik an Weber monierte vor allem den zu pauschalen Kausalnexus zwischen Puritanismus und Kapitalismus. Zur neueren Kritik vgl. den in
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der Gnade; hat sie Erfolg, gilt dies jedoch als Zeichen der Erwählung.69 Und wenn ein regelrechter Handel mit Gott wegen dessen Entrücktheit unmöglich ist, so nimmt das, was ein Mensch leisten kann, um so mehr den Charakter der Gabe an. Durch sie versucht der Calvinist oder Puritaner nicht allein, sich der göttlichen Gnade würdig zu erweisen, er provoziert sie gewissermaßen – nachträglich!70 Was streng genommen nicht einmal eine Nach-Gabe sein kann – weil die Gnade Gottes keiner Ergänzung bedarf –, erscheint aus menschlicher Perspektive als Vor-Gabe, weil Gottes erste und einzige Gabe erst im nachhinein bekannt wird. Neuere Forschungen zum religiösen Bewußtsein im England des 17. Jahrhunderts haben die Paradoxie dieses Handels ein wenig entschärft, sei an der pastoralen Erbauungsliteratur des elisabethanischen und vor allem des jakobinischen Puritanismus doch eine partielle Rückkehr zur altgläubigen Werkgerechtigkeit abzulesen.71 Der gänzlich entrückte Gott Calvins wandelte sich in der „spirituellen Buchhaltung“ dieser Zeit wieder „into a much more approachable, and ultimately even calculable, father figure“.72 Menschliches Handeln konnte dadurch mehr denn je darauf ausgerichtet werden, „to avoid God’s displeasure and to gain His grace“.73 Die im Merchant of Venice beschlossene Wertordnung wäre demnach wenig später, im ‚puritanischen‘ Frühkapitalismus, mentalitäts- und wirtschaftshistorisch virulent geworden. Das Gabe-Modell, das ewigen und irdischen Gewinn erst zu parallelisieren erlaubte,74 wurde auf dem Weg dorthin allerdings durch das Tausch-Modell verdrängt. Seinen theologischen Ausgangspunkt geradezu negierend, hing das Seelenheil für den Puritaner schließlich „von einer privaten Verrechnung zwischen ihm und seinem Schöpfer ab“.75 Insofern wirtschaftlicher Erfolg als Zeichen der Gnade anzusehen war,76 wurden selbst Geld und Gott miteinander verrechenbar. Gnade als Gabe zu konzipieren – wie im Merchant of Venice – bildete mithin eine kaum mehr als ephemere Station im Übergang von ihrer reformierten Entrük-
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Anm. 72 angegebenen Band; den hier thematischen Handel um die Gnade hat sie sogar noch deutlicher hervortreten lassen. Vgl. Weber: Die protestantische Ethik, S. 131. Vgl. Tawney: ebd., S. 233. Vgl. Greyerz: England im Jahrhundert der Revolutionen, S. 83. Ebd.; Kaspar von Greyerz: Biographical Evidence on Predestination, Covenant, and Special Providence. – In: Weber’s Protestant Ethic, S. 273–284, hier S. 282. Ebd., S. 283. Sobald der himmlische Gewinn nach dem protestantischen Prinzip sola gratia gedacht wird. Zur viel einfacheren Verrechnung von diesseitigen Taten und himmlischem Gewinn nach dem Prinzip der Werkgerechtigkeit vgl. das Kapitel zum jesuitischen Gelddrama (unten S. 257f.). Tawney: Religion und Frühkapitalismus, S. 233. Vgl. ebd., S. 249.
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kung als einem absolut unverfügbaren Geschenk hin zur Annahme ihrer Abrechenbarkeit. Der puritanischen Neigung zur Identifizierung von geschäftlichem Erfolg und göttlicher Erwählung läßt sich Shakespeares Parallelisierung von Ökonomie und Heil deshalb nicht unmittelbar zurechnen. Der mentalitätshistorische Ort seines Stücks um Handel und Gnade (und v. a. m.) ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß die von ihm propagierte Ethik einen Kurzschluß vorbereitete, den es mit der Kontrastierung von Gabe und Tausch doch abzuwehren suchte. Weder Shylock, der für ein Rechnen ohne Gott steht, noch Antonio, der ohne Berechnung auf Gott vertraut, vertreten den künftigen Typus des Frommen, der geschäftlich auf Gott rechnet, ja mit ihm ein Geschäft machen zu können glaubt. Die Entwicklung ‚folgte‘ Shakespeares vollzugsstruktureller Parallelisierung von Handel und Gnade, ging jedoch über die entscheidende Differenzierung hinweg, daß der Mensch mit Gott zu rechnen hat, keinesfalls aber ihn berechnen darf. Es ist nach alldem sein Gabe-Modell sozialen Austauschs, das den Merchant of Venice vor der Schwelle zur ‚modernen‘ Wirtschaft hält. Auf ökonomischem Gebiet kann es Plausibilität nur in Anspruch nehmen, solange der Begriff des Marktes noch nicht alle Teilnahme am Wirtschaftsleben vorgängig synthetisiert, d. h. hier: die Lücke zwischen Gabe und Gegengabe schließt. Joyce O. Appleby hat die Durchsetzung des vom konkreten Handelsplatz abgelösten, makroökonomischen Marktbegriffs in der englischen Wirtschaftspublizistik verfolgt. Sie beginnt mit der Krise der 1620er Jahre.77 Fortan negieren die Gesetze des Marktes die Offenheit des Gabe-Modells, denn es sind mechanische Gesetze.78 Theoretiker wie Edward Misselden (The Circle of Commerce 1623) oder Thomas Mun „separated economic activities from their social context but they joined the discrete acts of buying and selling to a single commercial process“.79 Was hier beginnt, ist die Ausdifferenzierung eines sozialen Systems.80 In eben dem wirtschaftshistorischen Augenblick, in dem der Händler ‚mit Gott‘ zu rechnen wagt, verdichtet sich wirtschaftliches Handeln zu einem eigengesetzlichen Bereich, der in dieser Eigengesetzlichkeit auch erkannt wird. Dieser Umschlag vollzieht sich nicht ohne Logik: Bis zu einem gewissen Punkt kann religiöse Motivation zur Steigerung ökonomischer Aktivität beitragen; je mehr Erfolg sie dabei hat, desto eher verselbständigt sich das Wirtschaftsleben. The Merchant of Venice hingegen reflektiert noch die normativen Interferenzen, die diesem Prozeß seine Dynamik verliehen. 77 Vgl. Appleby: Economic Thought, S. 21f., 48–51. 78 Vgl. die Gegenüberstellung von Gaben-‚Tausch‘ und Mechanik bei Mauss: Die Gabe,
S. 173. 79 Appleby: ebd., S. 48. 80 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 973, 724f.
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Selbst die Handlungsstruktur ist daran beteiligt: Durch wechselseitige Beeinflussung sind die beiden Haupt-Handlungsstränge ‚Antonios Anleihe bei Shylock‘ und ‚Bassanios Werbung um Portia‘ zu einer „zyklischen Handlungsstruktur“ verknüpft.81 Allerdings ist auch dieser Kreis nicht ganz geschlossen;82 die Verknüpfung ist keine kausale oder mechanische. Vielmehr ist es die wechselseitige Bereitschaft zur Gabe, die eine Art Kreislauf konstituiert: Antonio ‚schenkt‘ sich Bassanio, ohne zu ahnen, daß diese Gabe Voraussetzung für seine eigene Rettung ist, die – ganz gegen seine Erwartung, von seinen Schiffen rechtzeitig finanziell entsetzt zu werden – schließlich durch Portia erfolgt. Portia wiederum tritt aus eigenem Entschluß und ohne Wissen um ihre ‚Verpflichtung‘ gegenüber Antonio in diesen Kreis ein: sie schenkt sich (ebenfalls) Bassanio, ohne zu wissen, daß sie dadurch die Möglichkeit erhält, den Ermöglicher ihrer ‚Rettung‘ zu retten. Daß sie ihre eigene Rettung durch die Rettung des anderen demnach nicht ganz in derselben Weise zu ermöglichen vermag wie Antonio, liegt nicht in einer Konstruktionsunregelmäßigkeit des Stücks begründet, sondern an der notwendigen Gerichtetheit seiner Zeitdimension: Die schon geschehene eigene Rettung läßt sich nicht mehr ermöglichen, nur noch vergelten. Um so bedeutender, daß Portias Selbst-Gabe aufgrund ihrer Unkenntnis der Vor-Gabe nicht als Gegen-Gabe – und damit der Zwangsläufigkeit des Tauschs angenähert – erfolgt. Die Handlung des Merchant of Venice ist nicht allein präzise aus den Wirtschaftspraktiken des am Ende des 16. Jahrhunderts hervortretenden Kaufmannstyps entwickelt, sie ist darüber hinaus, und zwar konsequenter noch als die Handlung Nathans des Weisen, ein Zirkel aus Gaben – wie es der thematisch vertretenen Norm entspricht. Bleibt das von Portia betriebene Spiel um den Ring, den sie Bassanio als Unterpfand seiner Treue überreicht hat (III,2, 171–174). Er scheint nicht allein den Weg eines vollständigen Kreises zu nehmen (ja mehr als das, weil 81 Schwanitz: Möglichkeiten einer systemtheoretischen Literatur-Analyse, S. 345. Die
Kreisstruktur des Merchant of Venice bildet ein Lieblingsthema der älteren, formanalytischen Shakespeare-Forschung, vgl. Burckhardt: Shakespearean Meaning, S. 210. Dabei hat man vor allem auf die Transformation des „vicious circle of the bond’s law [...] into the ring of love“ abgehoben (ebd.). Insofern ihn Beginnlosigkeit auszeichnet und er nicht weniger geschlossen ist als Shylocks Wucherverträge, ist der Ring jedoch keine angemessene Dingmetapher für das in der Handlungsstruktur niedergelegte Modell ‚kreisförmigen‘ sozialen Handelns, beruht dieses doch auf der Initiative einer Gabe. 82 Zwei Handlungselemente, die Schwanitz (ebd.) ausmacht, halte ich für durch den Kreisgedanken angeregte Überinterpretationen. Weder „setzt Antonios Liebe zu Bassanio Portia der Bedrohung durch die fremden Freier (als Delegierte Shylocks) aus“, noch „führt Portias Rettung zur tödlichen Bedrohung Antonios durch Shylock“ (denn ihre Rettung fügt dieser Bedrohung nichts hinzu, was nicht schon bei Abschluß des Kreditvertrages zu befürchten stand).
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er zweimal von Portia an Bassanio geht); „im Spiel um den Ring, in dem Portia mit sich selbst konkurriert und sich selbst rettet“, verdichtet sich der Handlungszyklus des ganzen Stückes um Bedrohung und Rettung zum tatsächlich geschlossenen Kreis.83 Die Art und Weise, wie das geschieht, widerlegt indessen nicht den Gabe-Vorbehalt gegen die tauschmäßige Zirkulation, sondern bestätigt ihn noch einmal: Zum einen wird der Ring nicht in Tauschsituationen, sondern in Gabeakten weitergegeben, zum anderen kommt es erst durch die fingierte Einführung eines dritten Besitzers, des Richters, zu einer Zirkulation. Den Schein eines Kreislaufs, in dem der Ring zufällig an sie zurückgegangen sei, vermag Portia erst durch die Doppelrolle, die sie spielt, zu erzeugen. Der fingierte Dritte ist zudem das notwendige Medium von Portias moralischer Verletzung durch Bassanio – welche ihr das Recht gibt, mit dem ‚fremden‘ Dritten, der sie selbst ist, zu schlafen (V,1, 258f.). Im fünften Akt zeitigt das Gabemodell demnach eine Komödie in der Komödie: Nachdem alle ernsthaften Gaben die angemessene Gegengabe erhalten haben, wird die Norm auch noch zur Quelle der Komik.
83 Schwanitz: ebd.
2.3 Verkleidung, Täuschung, Betrug: Blümels Jude von Venetien Ein Shakespearestück an den Anfang einer Untersuchung zur deutschen Komödie zu stellen entbehrt nicht jedes gattungsgeschichtlichen Rechts. Immerhin waren es englische Wanderkomödianten, von denen im letzten Jahrzehnt des 16. sowie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die stärksten Einflüsse auf die Entwicklung des deutschen Lustspiels ausgegangen sind.1 Sie lösten seine Ausrichtung nahezu ausschließlich auf den Text, wie sie sowohl von Fastnachtsspielen wie Meistersingerdramen als auch vom Schul- und Humanistendrama gepflegt worden war, indem sie die theatralische Aktion, vom gestischen Spiel über Prügelkomik bis zur Akrobatik, in den Mittelpunkt rückten.2 Das war zunächst ein theaterpraktisches Erfordernis, da die seit 1585 in Deutschland nachgewiesenen englischen Truppen sich allein auf diese Weise verständlich machen konnten. Die starke Stellung der komischen Figur, der vor allem die Ausagierung der Körperkomik übertragen war, ging aber auch dann nicht verloren, als man seit etwa 1600 in deutscher Sprache und später zudem deutsche Stücke zu spielen begann.3 Nahezu ausschließlich mit komischen Handlungen betraut, fallen der Pickelhäring und seine Brüder aus der ‚anderweitigen‘ Handlung heraus. Das kann sich in von der fortschreitenden Handlung gänzlich gelösten komischen Aktionen aller Art äußern,4 beginnt jedoch schon in der eigentümlichen Entsozialisierung der 1 Bereits seit 1568 spielten daneben italienische Truppen in Deutschland, seit 1649 nie-
derländische. Die Commedia dell’arte-Truppen waren zwar dauerhafter in Deutschland präsent – während der Zustrom englischer Komödianten nach dem Dreißigjährigen Krieg versiegte –, doch stellten sie sich weniger auf das deutsch(sprachig)e Publikum ein. In ihrer Wirkung blieben sie daher lange auf die höfische Gesellschaft Süddeutschlands beschränkt (vgl. Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 65–68). Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts und mehr noch im 18. prägten sie den dramatischen und theatralischen Stil besonders der Wandertruppen und erreichten damit ein breites Publikum auch im nördlichen Deutschland. – Detailliert zum dramatischen Typ sowie den Phasen des von den Englischen Komödianten betriebenen Theaters vgl. Baesecke: Die Schauspiele der Englischen Komödianten. 2 Vgl. Catholy: Das deutsche Lustspiel Bd. 1, S. 121f. 3 Vgl. ebd., S. 114f. Eine Aufführung in englischer Sprache ist zuletzt für 1606 bezeugt (vgl. Brennecke: Shakespeare in Germany, S. 5). 4 Auf sie weist noch Schochs Comoedia vom Studenten-Leben von 1657 vielfach hin („Pickelhering agiret“, vgl. S. 35 u. ö.).
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komischen Figur: Obwohl häufig als Diener in die Hierarchie der übrigen Figuren eingefügt, ist sie nicht an die Rede- und Verhaltenszwänge der Gesellschaft gebunden; ihre Fäkalwitze, sexuellen Anspielungen oder Beleidigungen Höherer kann sie äußern, ohne dafür belangt zu werden.5 Wenngleich zunehmend domestiziert, blieb die komische Figur bis zu Gottsched ein konstitutives Element des deutschen Lustspiels. Der Schwerpunkt des Wandertruppenspiels, die szenische und gestische Aktion, ist naturgemäß nicht mehr greifbar. Aber auch die Texte sind nur zu einem kleinen Teil bekannt, obwohl 1620, 1630 und 1670 umfangreiche Sammlungen erschienen.6 Diese Schwierigkeit der Quellenlage zeigt sich auch bei der im folgenden zu besprechenden Wanderbühnenadaption des Merchant of Venice. Überliefert ist sie lediglich in zwei Handschriften der 1660er bzw. 1690er Jahre, betitelt Der Jude von Venetien Componiert von Christoph Blümel bzw. Dass Wohl Gesprochene Uhrtheil Eynes Weiblichen Studenten oder Der Jud Von Venedig.7 Die erste Aufführung scheint bereits für den Rosenmontag 1608 am Grazer Hof bezeugt – da Lessing das Stück noch in den 1760er Jahren sah, bedeutet das eine über hundertfünfzigjährige Aufführungsgeschichte!8 –, denn die Erzherzogin Magdalena berichtet bald darauf in einem Brief an ihren Bruder Ferdinand, den späteren Kaiser, sie habe eine Komödie „von einem khünig von khipern vnd von einem herzog 5 Vgl. Catholy: ebd., S. 124. Vgl. Blümel [Bearb.]: Der Jude von Venetien (vgl.
Anm. 7), S. 211 (I,3). Stellenangaben künftig mit Akt, Szene und ggf. Seitenzahl dieser Ausgabe. 6 Vgl. Brennecke: Shakespeare in Germany, S. 9. Die erste Sammlung (Englische Comedien und Tragedien) erlebte 1624 sogar eine zweite Auflage. Alle drei Sammlungen sind in den von Manfred Brauneck herausgegebenen Spieltexten der Wanderbühne nachgedruckt. Zum Verhältnis dieser Texte zum Repertoire der Englischen Komödianten vgl. Keiler: Rezeptionsproblematik, S. 177. 7 Der im folgenden zitierte Druck bei Flemming (Hrsg.): Das Schauspiel der Wanderbühne, S. 274–276, beruht auf der Karlsruher Handschrift, die Bolte: Der Jude von Venetien, S. 191–201, beschrieben hat. Flemming (ebd., S. 338) setzt ihre Entstehung für die Zeit um 1670 an; die Bearbeitung des alten Wanderbühnenstücks, die ihr zugrunde liegt, vermutet Bolte um 1660 (ebd., S. 198). Blümel, der Bearbeiter, war zunächst Schauspieler in der englischen Truppe des Joris Joliphus – bezeichnenderweise der letzten, die nach Deutschland kam (vgl. Baesecke: Die Englischen Komödianten, S. 114); seit 1656 leitete er ein selbstgegründetes Ensemble. 1659–62 im Sold des Innsbrucker Erzherzogs, könnte er die alte Grazer Fassung bei einem Aufenthalt in der Steiermark bearbeitet haben (vgl. ebd., S. 194). Das Wiener Manuskript ist wahrscheinlich um 1690 für die von Johannes Velten geleiteten kursächsischen Hofkomödianten angefertigt worden (vgl. ebd., S. 189); gedruckt liegt es vor bei Meißner: Die englischen Comödianten, S. 131–189. Die Abweichungen betreffen kaum mehr als zwei derbe Reden des Pickelhäring, welche die Wiener Fassung ausschreibt (vgl. ebd., S. 133f. [I,2], S. 136 [I,3]). Zur Geschichte der Innsbrucker Komödianten vgl. Dusan: Chronologie und Topographie. 8 Vgl. unten S. 350, Anm. 13.
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von venedig“ gesehen.9 Paßt der Titel auch nicht auf Shakespeares Schauspiel,10 so ist die Wanderbühnenadaption damit recht gut bezeichnet, beginnt sie doch im königlichen Rat auf Zypern (I,1–3), um vor dem Herzog von Venedig zu enden, mit dem der Prinz von Zypern eine „alliantz gegen die Türcken“ schließt (V,9, 275).11 Die vorliegenden Fassungen entstammen allerdings erst dem späteren 17. Jahrhundert, wie insbesondere die fortgeschrittene Sprachbehandlung bezeugt.12 Die Repliken zumal der weiblichen Heldin sind scharf gesetzt, und selbst der Pickelhäring schließt seine Scherze, so derb sexuell oder fäkalisch sie sind, mit sprachkomischer Präzision an die Reden der anderen Figuren an. Vom gewissermaßen sprachlosen Ausgangspunkt der Englischen Komödianten hat sich Blümels Stück bzw. Bearbeitung weit entfernt.13 Aus der Feder des Chefdramaturgen des ersten deutschen Hoftheaters (in Innsbruck) stammend, dokumentiert es vielmehr Leistung und Grenzen der deutschen Wanderbühne nach dem Dreißigjährigen Krieg.14 Die Wanderbühnenherkunft des Juden von Venetien ebenso wie seine höfischen Aufführungsorte bringen es mit sich, daß er sowohl in Personal und Handlungsführung als auch hinsichtlich seines ‚Gehaltes‘ anders angelegt ist als Shakespeares ‚Jude von Venedig‘.15 So ist die angedeutete Transponierung aus der merkantilen Sphäre in die große Politik auf den Einfluß der damals meistgespielten Dramengattung, der sog. Haupt- und Staatsaktionen, zurückzuführen. Blümels Stück ist als Text sui generis zu beurteilen; Vergleiche sollen primär dazu 9 Zit. bei Meissner: ebd., S. 78. 10 Der Bezug zu Shakespeare ist möglicherweise so zu denken, daß Angehörige einer
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Wandertruppe den Merchant of Venice in England aufgeführt gesehen und dann den Erfordernissen ihrer Gattung angepaßt haben (vgl. Meißner: ebd., S. 105). Auf drei weitere, jedoch verlorene Stücke als mögliche Quellen weist Brennecke hin (vgl. Shakespeare in Germany, S. 105f.); u. a. die Eröffnungsszene sowie Barrabas als Name des Juden weisen zudem auf Christopher Marlowes The Jew of Malta (1589/90) (vgl. ebd., S. 108). Dafür, daß die beiden genannten Handschriften Bearbeitungen des 1608 zuerst bezeugten Stückes sind, sprechen noch zwei weitere Indizien: die Anspielung auf einen persischen Sieg über die Türken aus dem Jahre 1605 (Jude von Venetien, S. 209) sowie der Spieltag (Rosenmontag), dem ein Stück mit außergewöhlich vielen Verkleidungen in besonderer Weise angemessen war; vgl. Meissner: ebd., S. 110f. Vgl. Bolte: Der Jude von Venetien, S. 190. Die im Vergleich mit den meisten anderen, insbesondere früheren Hervorbringungen der Wanderbühne enorme sprachliche Gewandtheit hat Baesecke: Die Schauspiele der Englischen Komödianten, S. 130–143, zu Recht gewürdigt. Zusammenfassend zum deutschsprachigen Wandertheater vor allem des späteren 17. Jahrhunderts vgl. Rudin: Wanderbühne. Vgl. Rudin: ebd., S. 811. Mit dem Nebentitel The Jewe of Venyce wurde The Merchant of Venice im Stationer’s Register vom 23. Juli 1598 geführt (vgl. Brennecke: Shakespeare in Germany, S. 105).
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dienen, Eigenheiten herauszustellen, nicht, sie herabzusetzen. Ich beginne deshalb mit einem strukturanalytischen Aufriß der Handlung. Deren Konfiguration zeichnet sich dadurch aus, daß sie Paarbildungen unter Ausschluß Dritter prädisponiert. Und dieser Ausschluß richtet sich, anders als bei Shakespeare, in einem sozialgeschichtlich bestimmbaren Sinne gegen ‚die Juden‘ (2.3.1). Als hauptsächliches Mittel der Komödie, die schon bei Shakespeare geführte Diskussion von Sein und Schein fortzusetzen, analysiere ich sodann das reiche Verkleidungsspiel des Stücks. Zahlreiche Verkleidungsszenen dienen dazu, legitime taktische Täuschung von Betrug zu unterscheiden. Nicht allein der ‚Wucher‘ wird indessen verurteilt; vielmehr erfährt die Zirkulationssphäre generell eine Abwertung gegenüber der zentrierenden Fürstenmacht (2.3.2).
2.3.1 Ausschlußmechanismen: Dramaturgische Konfiguration und Judenfeindschaft Haben Blümels Figuren auch wenig gemein mit ihren Shakespeareschen Ahnen, so zeigt die Figurenkonstellation doch Parallelen. Veränderungen im Personalbestand sind vor allem durch die Streichung von Nebenhandlungen und das Zusammenziehen von Figuren entstanden: Gestrichen ist die Handlung um die Tochter des Juden und ihren Geliebten, um den Diener des Juden und seinen Vater sowie – ohne Folgen für den Personalbestand – die Ringepisode. Der Jude erscheint damit noch weit stärker als bei Shakespeare, nämlich von Anfang an, als Außenseiter. Gestrichen sind auch die venezianischen Freunde der Hauptperson, die jetzt von einem Diener, dem Pickelhäring begleitet wird; in ihm vereinigen sich Funktionen Gratianos (Reisegenosse und parallele Liebeshandlung) und Launcelot Gobbos, des Clowns.16 Die wesentlichste Änderung betrifft den Helden selbst: im Prinzen von Zypern haben sich Antonio und Bassanio vereinigt, denn er spielt sowohl den Kreditnehmer als auch den Brautwerber. Daß der Prinz einen Kredit aufnimmt, ist sogar fast alles, was er mit Antonio gemeinsam hat; Verschwendung und Leichtsinnigkeit charakterisieren ihn eher als Nachfahren Bassanios (IV,5, 250; IV,8). Ein Grundsatzstreit über den Geldverleih gegen Zins oder gar konkurrierende Geschäftsmodelle entfällt dementsprechend. Ein Kaufmann tritt im Juden von Venetien lediglich als Nachrichtenüberbringer und Geldbote auf (V,9; vgl. IV,8, 255); mittelbar spielen Kaufleute zudem eine 16 Wenngleich der Pickelhäring weniger den Typ des „melancholisch-weisen Narren der
Shakespeareschen Dramen“ vertritt als einen „gefräßigen und gerissenen Vertreter und Verteidiger der animalisch-vegetativen Sphäre“ darstellt (Catholy: Das deutsche Lustspiel Bd. 1, S. 119).
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kleine Rolle als (in der Figurenrede erwähnte) Supplikanten gegen den ‚jüdischen Wucher‘ (I,2, 206). Erhebliche Auswirkungen hat schließlich die ‚Auferstehung‘ des Vaters der umworbenen Frau. Da die Entscheidung darüber, welchem Bewerber die Braut gehören soll, nicht wie in der Kästchenwahl formalisiert ist, bestimmt der Kampf gegen den Vater Florello die Handlung vom Anfang des zweiten bis zum Ende des fünften (und letzten) Akts. In diesem Aufriß zeichnet sich bereits ab, daß die Liebeshandlung den Schwerpunkt des Stückes bildet. Die Kreditaufnahme des Brautwerbers samt Schuldverschreibung mit Fleischpfand (IV,5–8) sowie seine Befreiung aus den Händen des mordbereiten Juden (V,8) bilden nicht wie bei Shakespeare den Rahmen für die rasch durchgeführte Brautwerbung, sondern bloß eine Episode, die ihrerseits von der Liebeshandlung umschlossen wird. Ihrer Aufwertung entspricht, daß es zwei große Verkleidungsszenen gibt: neben der Gerichtsszene eine Szene, in welcher der als Arzt verkleidete Prinz Zugang zum Haus seiner geliebten Ancilletta gewinnt (IV, 3/4). Selbst den Juden rücken diese Schwerpunktverlagerungen in eine Stellung, die sich vor allem aus seinem Verhältnis zur zentralen Liebeshandlung bestimmt: Er bedroht den Prinzen wie Florello seine Tochter; während seine Fleischforderung dem Prinzen ans Leben will, droht Florello – und zwar ebenfalls verbunden mit einer Frist – mit dem Kloster, also dem erotischen Tod (II,1, 219). Der Jude von Venetien wird demnach von einer symmetrischen Figurenkonstellation organisiert: Das Liebespaar – dem Dienerfiguren beigesellt sind, die sich ebenfalls zum Paar verbinden – hat gegen Widerstände von beiden Seiten sich durchzusetzen. Dieselbe Zweiteilung prägt die Herkunft der Figuren: Dem Prinzen, dem Pickelhäring und dem Juden, die aus Zypern kommen, steht Florellos venezianische Familie gegenüber. Zudem steuert das symmetrische Prinzip den Handlungsverlauf, indem es ihm ein Ziel vorgibt: die Verbindung jeweils der sich gegenüberstehenden Figuren. Dramaturgisch feinsinnig vorgeführt wird dieser Mechanismus in der ersten großen Gesprächsszene mit dem Prinzen und dem Pickelhäring einerseits sowie Ancilletta und ihrer Dienerin Franciscina andererseits (III,2): Herr(in) und Diener(in) treten aus ihrer gleichgeschlechtlichen Bindung heraus, um Paare zu bilden. Die Dialogführung unterstreicht diese Bewegung, denn sie vermeidet konsequent den Wortwechsel zwischen Herr und Dienerin sowie Herrin und Diener.17 Wem die Paarbildung nicht gelingt, muß dagegen zurücktreten: das gilt für Florello, der seine Tochter gegen seinen Willen verheiraten muß, ebenso wie für den Juden, der am Ende „weder gelt noch 17 Dieses Spiel mit der Symmetrie hat bereits Anna Baesecke bemerkt: Das Schauspiel
der englischen Komödianten, S. 141f. Darüber hinaus weist Baesecke auf den Parallelismus in den Redebeiträgen von Herr und Diener als Mittel der Komik hin (II,4).
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fleisch“ bekommt (V,8, 270). Am deutlichsten wird die Belohnungs- bzw. Ausschlußwirkung des symmetrischen Prinzips am Schicksal der beiden abgelehnten Freier: Sie bilden bereits ein Paar – sie treten, anders als bei Shakespeare, stets zusammen auf –, so daß keiner von beiden sich mit Ancilletta zu verbinden vermag.18 In der Paarbildung unter Ausschluß von Dritten liegt am Ende zudem das Moment, das Liebeshandlung und ‚politischen‘ Rahmen verbindet. Der Herzog von Venedig zieht in diesem Sinne das Resümee: Das edle Cyper=land will sich mit uns verbinden. Der Printz mus seine Braut hier in Venedig finden. Die Eintracht wohnt bey uns, die Feinde fürchten sich Der Himmel lacht uns zu, geh Türck und hüte dich. (V,9, 276)19
Daß dieses Schlußtableau den Juden ausschließt, ist gewissermaßen selbstverständlich. Bei Blümel hat das zur Konsequenz, daß der Handel, für den Shakespeares Antonio eine Gabe-Ethik entwickelte, insgesamt ausgeblendet wird. Das Wanderbühnenstück problematisiert nicht ökonomische Normen, sondern entwertet einen ganzen Sozialbereich. Bezeichnend dafür ist die schon in der Eingangsszene angestimmte Verurteilung des jüdischen ‚Wuchers‘. Hier wird nicht eine Debatte eröffnet, wieviel Zins zu nehmen rechtens sei, erkundigt sich der Prinz in Venedig doch ganz selbstverständlich nach dem „gebührlichen interesse“ (IV,8, 253). An die Stelle ethisch-ökonomischer Überlegungen ist vielmehr ein Generalverdacht getreten, der sich in antisemitischer Polemik ausdrückt, in den ‚witzigen‘ Pöbeleien des Pickelhäring ebenso wie in den anklägerischen Reden der vornehmen Figuren. ‚Wucher‘ ist weniger eine sachlich zu kennzeichnende Wirtschaftsweise als das, was „die verächtliche Nation der Juden“ treibt (so der Prinz, I,1, 205). Wucher ist, Juden sind eine Störung der festgefügten Ordnung, sei es des Besitzes oder herrschaftlicher Rechte. „Ihre schelmerey ist gnugsam klar und offenbahr“, stellt der König fest, daher sei nichts gebotener, als daß seine „Königliche Insel von solchem ungeziefer gereiniget“ werde (I,1, 206). Der vor den königlichen Rat zitierte Jude streitet zwar alles ab, versucht im nächsten Augenblick aber, den Pickelhäring zu bestechen; seine Schuld ist damit unzweifelhaft (I,3). In Shakespeares Merchant of Venice fanden wir eine komplexe Auseinandersetzung mit den Handlungsnormen mehrerer Sozialsphären, die ihren 18 Um sich jener Freier zu erwehren, argumentiert Ancilletta explizit so, daß sie nicht
einen der beiden zurückstoßen dürfe (II,1). 19 Ob die Mischung der Figurennamen aus englischen und italienischen Bühnentraditio-
nen zuletzt gar darauf hinweist, daß Blümel auch auf theatralischem Gebiet für Ausgleich und Verbindung eintrat? (Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 415 Anm. 10, nennt den Juden von Venetien als „Beispiel für die Vermischung englischer und italienischer Einflüsse“.)
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historischen Ort in einer die Marktwirtschaft formierenden Phase von Interferenzen zwischen religiösen und geschäftlichen Normen hat. Dagegen bietet Blümel auf wirtschaftsprogrammatischem Gebiet historisch unspezifische Klischees und plakative Schreck- bzw. Schreckensbilder. Trotzdem – und obwohl er seinen Juden noch weit negativer zeichnet als Shylock – ist der historische Gehalt seines Judenbildes größer als der des Shakespeareschen. Dessen Judenfigur steht schon deshalb nicht für eine tatsächliche Situation im damaligen England, weil es dort faktisch keine Juden gab.20 Blümels Stück gibt dagegen recht genau wieder, wie die deutschen Juden gesehen und mit welchen Begründungen sie immer wieder verfolgt wurden, wie es der königliche Rat gleich eingangs fordert (I,1, 205f.). Das gilt zunächst für stereotype Vorwürfe wie „Schacherey“ oder daß „die Juden [...] die güter vieler Edlen undt unedlen durch wucher an sich gebracht“ hätten (205, vgl. I,3, 207). Der Typ des Juden, der hier unter Generalverdacht gestellt wird, ist der des Trödlers und Pfandleihers, der am unteren Rand der Gesellschaft stand, weil er am kaufmännischen Kreditgeschäft nicht teilnehmen durfte,21 dem trotzdem aber große, unrechtmäßig erworbene Reichtümer unterstellt wurden. Der Prinz erhebt darüber hinaus die Klage, „die Juden“ hätten „auch in den Königlichen Regalien, Zöllen undt Einkommen deß Landes [...] ihre Hände miteingemischet“ (I,1, 205). Das zielt auf eine ganz andere Ebene des Finanzwesens im Deutschland des 17. Jahrhunderts: den Staatshaushalt, der sich zumal im kredittechnisch und finanzbürokratisch unterentwickelten Habsburgerstaat nur mit Hilfe jüdischer ‚Hoffaktoren‘ so weit ausdehnen ließ, daß man die Abwehrkriege gegen Ludwig XIV. und die Türken führen konnte. Selbst ein Samuel Oppenheimer (1630–1703), im letzten Jahrhundertdrittel kaiserlicher Faktor, später Oberkriegsfaktor und einer der finanzstärksten und deshalb unverzichtbarsten jüdischen Kreditgeber, war vor Hofintrigen, Ungnade sowie den Übergriffen ressentimentgeladener Volksmengen nicht sicher.22 Blümels Jude von Venetien spielt vermutlich nicht auf eine bestimmte historische Figur an, reproduziert (und affirmiert) jedoch recht genau die zeitgenössischen antisemitischen Ressentiments.23 Daß seine Judenfigur sowohl 20 Vgl. Schuhmann: Juden und Christen in Shylocks Venedig, S. 30–34. Auch The Mer-
chant of Venice bietet Judenklischees, doch hatte das elisabethanische Publikum – anders als Blümels – keinen Anlaß, sie auf Bewohner des Landes zu beziehen. Zu der von Shylocks Situation stark abweichenden tatsächlichen Lage venezianischer Juden im späten 16. Jahrhundert vgl. Marion Steinbach: Jüdische Bankiers im Venedig der Renaissance. Die Symbiose gemäß den Maximen der Staatsräson. – In: Shylock?, S. 81–100. 21 Vgl. Schwanitz: Das Shylock-Syndrom, S. 50. 22 Vgl. Schultz: Handwerker, Kaufleute, Bankiers, S. 190. 23 Blümels antijüdische Polemik entspricht recht genau den Vorwürfen, die einerseits von ‚unten‘ (aufwendige Lebensführung, ‚Blutsaugerei‘), andererseits von ‚oben‘ (Benach-
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als verschlagener kleiner Trödler wie auch als „Vornemster“ seines Volkes (I,2, 206) und Gefahr für den Fiskus gezeichnet ist,24 macht sie in sich unwahrscheinlich – jedoch auf eine Weise, welche die historische Prägnanz der Figur, ihre Akkuratesse als zeittypisches Zerrbild gewissermaßen, eher steigert als mindert. Um sich von der Kluft zwischen der offensichtlichen Armseligkeit des jüdischen Pfandleihgeschäfts und der unterstellten Raffung von Reichtümern nicht irritieren zu lassen, diagnostizierte man überdies gerne ‚jüdische Heuchelei‘, und auch Blümel stellt seinen Juden als jemanden dar, der sich bloß den Schein der Armut zulegt (I,1, 207; I,4, 213; III,3, 235). Im Grunde war die ‚Heuchelei‘ freilich bei denen angesiedelt, die sie ‚den Juden‘ vorwarfen, denn in der Funktion von Hoffaktoren nahm man eben die Finanzkraft und -geschicklichkeit in Anspruch, die im allgemeinen verurteilt wurde. Als Geschäftsleute ‚mittleren Niveaus‘ kommen Juden – bei Blümel und darüber hinaus – nicht in Betracht. Diese Ausblendung aber trifft nicht allein eine diskriminierte Sondergruppe, sondern den Handel generell. Auch in dieser Hinsicht schließt Der Jude von Venetien, indem er Gegensätzliches zusammenfügt – Männer und Frauen, Trödler und Hoffaktor –, Drittes aus. Antonio, könnte man sagen, hat in dem Wanderbühnenstück in keiner Hinsicht Platz: Bereits am Ende des Merchant of Venice als Geschlechtswesen isoliert, ist seine Freundesrolle in der von Blümel akzentuierten Liebeshandlung überflüssig geworden – und ebenso sein Geschäft. Der Jude von Venetien kennt keinen Kaufmann, der sich gegen einen jüdischen Wucherer durchsetzte. In der Niederlage des Wucherers erscheint vielmehr die Geldwirtschaft insgesamt gerichtet.
teiligung des Fiskus) gegen Samuel Oppenheimer erhoben wurden (vgl. Grunwald: Oppenheimer, S. 130–136). Wie schon die Chronologie klarlegt – die Angriffe auf Oppenheimer erfolgten erst 1699/1700 –, liegt dem aber kein spezifischer Bezug zugrunde, sondern die seinerzeitige Ubiquität antijüdischer Stereotypen. (Och: Imago judaica, S. 183f. sieht den Juden von Venetien als Teil der „Hetzkampagne“, die 1669/70 zur Vertreibung der Wiener Juden führte.) Typisch ist Blümel auch darin, daß er alle Juden als „brüder“ der anderen darstellt (so, Barrabas in den Mund gelegt, Der Jude von Venetien, S. 235). Realer Hintergrund dieses Verschwörungsverdachts ist die bei jüdischen Geschäftsleuten besonders enge Bindung von geschäftlicher Aktivität an Familienwerte wie -verbindungen (vgl. Davis: Noch einmal Religion und Kapitalismus?, S. 32). Im Grunde entsprach diese familiäre Rückbindung des Geschäftlichen der ‚christlichen‘ Norm, daß Gewinninteressen hinter ethischen Normen zurückstehen müßten; ‚den Juden‘ wurde sie gleichwohl negativ ausgelegt. 24 Dabei stammt die Anspielung auf die Hoffaktorenfunktion vermutlich nicht schon aus der ältesten Fassung des Stücks von 1608, sondern dürfte erst von Blümel eingefügt worden sein, denn auch sein Jude agiert nur als Trödler und Geldverleiher (III, 5, 237; III,6, 251). Dramaturgisch bleibt das fiskalische Motiv ungenutzt.
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2.3.2 Verstellung als höfische Verhaltensnorm Hinsichtlich der Liebe, der Erkenntnis und des Rechts weiß Der Jude von Venetien ebenfalls nichts von den normativen Differenzierungen, die Shakespeare mit Hilfe des Gabemodells vornahm (vgl. Kap. 2.2.2). Die Kästchenwahl ist gestrichen; keiner der Freier hat Schwierigkeiten, Sein und Schein zu unterscheiden, denn auch Grimaldi möchte „besitzer d[]es edlen Kleinods“ mit Namen Ancilletta werden (II,1, 214), das „zwar nicht reich an güttern, aber verhoffentlich an tugenden“ sei (so der Vater; V,9, 274). Ebenso verzichtet Ancilletta, als Studiosus iuris verkleidet, darauf, dem Juden die Entscheidung über die Anwendung von Recht oder Gnade vorzulegen (V,8). Und während Portia die Möglichkeit, sich selbst als Gabe darzubringen, nutzt, um sich aus ihrer Unterlegenheit gegenüber Bassanio zu befreien, akzeptiert Ancilletta die untergeordnete Rolle, die der Patientin in ihrem Verkleidungsspiel mit dem prinzlichen Arzt zukommt, qua heimlich-doppeldeutiger Liebessprache als Lebensrolle (IV,4, 247: „ich will mich schon nach seiner lehre zurichten wissen“). Trotzdem thematisieren auch Blümel und sein Vorgänger die Differenz zwischen Schein und Sein, Erwartung und Enthüllung, Betrug und Redlichkeit. Allerdings hat diese Differenz eine gänzlich andere Fassung als im Merchant of Venice erhalten; eine dramaturgische Form nämlich, die den Möglichkeiten der Wanderbühne und ihres Publikums entsprach, in der Komödientradition fest etabliert war und immer komikträchtig ist: die Verkleidung.25 Ihre Mittel nutzen außer Florello alle Hauptpersonen in extensiver Weise.26 Die Übertragung der verschiedenen Rollen an die Figuren ist dabei mit äußerster Präzision erfolgt: Der Prinz, Ancilletta und der Jude haben jeweils eine ‚echte‘ Verkleidungsrolle sowie eine Rolle, in der sie ohne ausdrückliche Verkleidungsanweisung sich als etwas anderes ausgeben, als sie sind. Die beiden Diener haben lediglich eine ‚echte‘ Verkleidungsszene, offensichtlich der Durchführung des Prinzips halber, denn sie nehmen damit keinen Einfluß auf die Handlung.27 Regelrecht verkleidet tritt der Prinz als 25 Grundsätzlich zur Verkleidung in der Komödie vgl. Kurth: „Maskerade, Konfusion,
Komödie!“, S. 13–16, zum Vordringen des Verkleidungsmotivs im (spanischen) Barockdrama Nitsch: Barocktheater als Spielraum, S. 94–96. 26 Von 35 Szenen insgesamt treten in lediglich sechs alle Figuren in ihrer ‚wahren‘ Rolle auf (I,1–3; II,1; III,1; IV,9). Neben fünf Verkleidungsszenen im engeren Sinne (d. h. mit Benutzung eines identitätsverändernden Kleidungsstücks: I,4; III,6; IV,3/4; V,8) stehen 24 weitere, in denen mindestens eine Figur ihre Identität oder ihren wahren Zustand verbirgt: drei Szenen (neben den beiden Arztszenen), in denen sich Ancilletta krank stellt (IV,1/2; V,1), sowie alle venezianischen Szenen, an denen der Jude, der Prinz oder Pickelhäring beteiligt sind. 27 Pickelhäring täuscht im Arztkleid seines Herrn für einen Moment Franciscina (III,6),
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Arzt auf (um sich Zugang zu der von ihrem Vater bewachten Ancilletta zu verschaffen). Eine Rolle, nämlich die eines bloßen Edelmannes, spielt er freilich bereits seit seiner Ankunft in Venedig. Dramenintern wird dieses Inkognito28 als politische Taktik begründet: Der Prinz soll der Gesandtschaft, die das Bündnis zwischen Zypern und Venedig aushandelt, nicht in die Quere kommen (I,3, 210). Schwach wie sie ist, macht diese Begründung vor allem auf das Prinzip – die Verkleidung als taktische Täuschung – aufmerksam. Wie von der Vorlage vorgegeben, ist Ancillettas eigentliche Verkleidungsrolle die eines Paduanischen Juristen (allerdings nur noch eines Studenten). Als vorgeblich Kranke wird sie zudem dem Prinzen zugeordnet. Spätestens hier wird deutlich, daß die dramatische Bestimmung der Figuren die ‚eigentliche‘ Motivation ihrer jeweiligen ‚Verkleidung‘ bildet, denn an ihrer Seele ist Ancilletta tatsächlich krank: vor Liebe.29 Dasselbe gilt für des Prinzen Rolle als Arzt, ist es doch die höchste Bestimmung dieser Figur, eine Frau von ihren Liebesschmerzen zu befreien. Selbst Ancillettas Rolle als Richter bezieht ihre Logik aus der Liebeshandlung: Während eine pragmatische Begründung für ihren plötzlichen Auftritt bei Gericht fehlt,30 ist es von Anfang an ihre Aufgabe, ein Urteil über ihre Freier zu sprechen.31 Die Abwehr des Anspruchs, den der Jude auf des Prinzen Fleisch und Leben erhebt, ist dementsprechend ergänzt durch eine Szene, in der Ancilletta sich von ihrem Vater der Fürsorge des Prinzen übergeben läßt – unter dem Deckmantel des Studenten, der ein Anrecht auf die Dankbarkeit des von ihm Erretteten habe (so der Herzog, V,8, 270). Bis auf des Prinzen ursprüngliches Inkognito sind seine und Ancillettas Verkleidungen demnach Mittel, ihre Hochzeit durchzusetzen. Obwohl damit immerhin der Vater der Braut getäuscht und überlistet wird,
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während diese in der Gerichtsszene als (stumme) Dienerin des vorgeblichen Rechtsstudenten auftritt (V,8). Als Begleiter des Prinzen ist er zudem prinzipiell in dessen Inkognito einbezogen, doch gewinnt dies, der sozialen Unerheblichkeit seiner Person wegen, nirgends an Bedeutung. Zur Abgrenzung von Verkleidung und Inkognito vgl. Lunin: Kleid und Verkleidung, S. 25. In den Arztszenen IV,3/4 wird die medizinische Liebesmetaphorik recht geschickt ausgezogen, sowohl als rollengerechte Sprache wie auch als Mittel, den hinzugetretenen Florello zu täuschen (mit dem komischen Effekt von Doppeldeutigkeiten, die zwar die Zuschauer, nicht aber alle Figuren verstehen). – Die Verkleidung als listiges Mittel, sich einer sonst unerreichbaren Geliebten zu nähern, ist ein verbreitetes Komödienmotiv, vgl. u. a. Molières L’amour médecin (1665/66). Die hierfür notwendige Studentenkleidung hat sie sich besorgt, um in Venedig unauffällig nach ihrem seit Wochen ausbleibenden Geliebten suchen zu können (V,1). Eine Begründung, woher Ancilletta von dem Prozeß gegen den Prinzen erfahren hat, wird nicht gegeben. Auch in diesem Punkt bewährt sich Blümels subtile Sprachbehandlung: Bereits in II,1 drängt Florello seine Tochter, sie solle in der Frage ihrer Heirat einen „außspruch thun, und diese streitsache entscheiden“ (214).
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gelten sie des lobenswerten Zieles wegen nicht als illegitim. Ihr Erfolg läßt den Herzog vielmehr auf „eine wunderliche schickung“ schließen und daß „der himmel willens [sei] durch ihre vereinigung etwas sonderlichs auszurichten“ (V,8, 272). Das Schema der zwei Rollen gilt auch für die Verkleidungen des Juden. Als alter Soldat verkleidet, erschleicht er sich zunächst die Reise nach Venedig auf dem Schiff des Prinzen (I,4). Dort wiederum ändert er seinen Namen (von Barrabas in Josephus) und tritt dem Prinzen als eingesessener Jude gegenüber (III,3, 235). Und auch bei dieser Figur funktioniert die Verkleidung als Enthüllung ihrer eigentlichen Bestimmung: Nun endlich tritt der ‚Wucherer‘ in der seinem Geschäftssinn entsprechenden „Pracht und herrlichkeit“ auf (ebd.), die er in Zypern hinter dem Schein von Armut versteckte. Jude freilich bleibt er, und was das bedeutet, erläutert seine erste Verkleidung: Sie ist nichts als Betrug, denn der Jude ist in keiner Weise – d. h. auch nicht in einem übertragenen Sinne – „ein armer soldat“, der dem König „gute dienste gelaistet“ hat und dies mit einem „Pasport beweisen kan“ (I,4, 212). Zutreffend ist jeweils das Gegenteil. Der Jude überlistet nicht, um einen legitimen Zweck zu erreichen, sondern täuscht in verbrecherischer Absicht (in diesem Fall, um die Ermordung des Prinzen in die Wege zu leiten). Verdeutlicht wird der Unterschied zwischen List und Betrug anhand der Frage, ob die Spieler ihre Rollen schließlich aufdecken oder nicht. Während Ancilletta ihr Richterund des Prinzen Arzt-Spiel enthüllt, sobald der Zweck erreicht ist, und auch das prinzliche Inkognito am Ende gelüftet wird (V,8, 271f.; V,9, 274), bleiben die Rollen des Juden unaufgedeckt. Er hätte für sein Spiel keine Nachsicht zu erwarten, denn der Betrug ist seine ständige Rolle, sein Wesen – bereits sein erster Auftritt ist von dem Versuch gekennzeichnet, die heuchlerische Rolle eines Armen zu spielen (I,3). Betrug ist ihm nicht bloß Mittel, sondern Zweck; sein Geschäft besteht durchgängig aus „betriegereyen“ (208). Das Verkleidungsmotiv im Juden von Venetien dient dazu, dies anschaulich und dem Zuschauer offenbar zu machen32 und diesen ‚totalen‘ Betrug zugleich zu unterscheiden von erlaubten Formen der Täuschung. Damit ist nicht allein ein Stereotyp vormoderner Handelskritik berührt, wie das Einleitungskapitel es anhand von Garzonis Piazza universale erläuterte, sondern darüber hinaus ein Grundproblem der gesamten Frühen Neuzeit. Seine Absichten taktisch zu verbergen gilt als eines der ersten Gesetze für den Umgang in der höfischen Gesellschaft. „Mit offenen Karten zu spielen ist weder nützlich noch angenehm“, schreibt der spanische Jesuit Balthasar Gracián in der drit32 Darüber hinaus machen mehrere Monologe des Juden dessen mörderische Absicht
unmißverständlich klar (I,4, 213; III,3, 235; IV,8, 255). Möglicherweise tritt in dieser wenig subtilen Technik eine ältere Textschicht zutage.
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ten Maxime seines Handorakels, der Hauptquelle des Politicus-Ideals, das sich während des 17. Jahrhunderts in der romanischen Moralistik herausbildete.33 Wer gegen Widerstände etwas erreichen will, muß sich verstellen oder – Gracián benutzt selbst diese Metapher – ‚verkleiden‘.34 Eine der wichtigsten Techniken der Prudentia politica läßt sich denn auch als eine Form des Verkleidens deuten: die Verdeckung der eigentlichen (‚zweiten‘) Absicht durch eine vorgeschobene oder nachrangige (‚erste‘).35 Besonders der Rangniedrigere bzw. aufgrund seines Anliegens Schwächere ist auf diese Kunst angewiesen.36 Durch sein Inkognito sowie als Freier gerät der Prinz gegenüber Florello in eine solche Position; seine und Ancillettas Verkleidungen sind komödiantische Varianten typisch höfischen Verhaltens – legitimer Verstellung wohlgemerkt, welche die Theoretiker des Prudentialismus mit Eifer von arglistiger Verschlagenheit abzugrenzen suchten.37 Nur noch komödiantisch mag die schlußendliche Aufdeckung ihrer Intrigen erscheinen, empfiehlt es sich doch für den Hofmann, seine Verstellung nicht merken zu lassen.38 Man kann die von der Gattung geforderte Aufdeckung der Intrigen allerdings auch als analytischen Spiegel der höfischen Verhaltenslehre lesen: Balanciert werden Taktik und Verstellung bei Blümel wie bei Gracián durch die göttliche Vorsicht, in der Komödie als von allen Beteiligten erkannte Lenkungsinstanz, im Handorakel als das, was der kluge Hofmann ‚nachahmen‘ soll.39 Der Jude von Venetien legt dabei, ohne die religiöse Deutung des guten Gelingens zurückzuweisen, jene irdischen Machinationen offen, die dasselbe ins Werk gesetzt haben.40 Er hebt die Resultate taktischer Verstellung einerseits in die unangreifbare Sphäre des Providentiellen und approbiert andererseits die im ‚politischen‘ Verhalten erstrebte Handlungssouveränität. 33 Gracián: Handorakel, S. 5 (Nr. 3). Das spanische Original erschien zuerst 1647, eine
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französische Übersetzung 1685, danach 1687 die erste deutsche Übertragung (vgl. das Nachwort von Arthur Hübscher, S. 158f.). Vgl. ebd., S. 110 (Nr. 220), 119 (Nr. 240). Vgl. ebd., S. 10 (Nr. 13), 107 (Nr. 215), sowie Jansen: Die Grundbegriffe des Balthasar Gracián, S. 122f. Vgl. Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 164. Vgl. Mulagk: Phänomene des politischen Menschen im 17. Jahrhundert, S. 146–152, 274–276. Biblische Muster- und Legimationsgeschichte der Verstellung ist die Erschleichung des Erstgeburtssegens für Jakob (Gen 27,15f.). Entscheidend war dabei bekanntlich die ‚Verkleidung‘ Jakobs mit einem Ziegenbockfell. Vgl. Gracián: Das Handorakel, S. 109 (Nr. 219). Vgl. ebd., S. 5 (Nr. 3). Zur ethischen Problematik von Täuschung und List in der Barockkomödie vgl. auch unten S. 252. Daß die angenommene göttliche Fügung von dieser Analyse nicht dementiert wird, beruht auf der mangelnden Koordination der Intrigen. Ancillettas entscheidender Auftritt verdankt sich – anders als Portias Richterspiel – nicht einem planenden Bewußtsein, sondern erscheint zufällig, also providentiell.
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Allerdings weder für alle Stände noch für alle Lebens- bzw. Sozialbereiche. Verstellung und (vorübergehende) Täuschung empfehlen sich und sind erlaubt in der Politik und in der Liebe, nicht jedoch im Geschäft. Ordnet man Ancilletta und den Pickelhäring dem Prinzen zu, so kann man geradezu von einem Vorrecht des Fürsten sprechen.41 Vom politisch begründeten Inkognito eines Prinzen geht die Handlung des Juden von Venetien aus, sie entwickelt sich über Liebesintrigen und endet in einer politisch-erotischen Doppelallianz. Pragmatisch und dramaturgisch ist diese Verbindung von Staatsaktion und Liebeshandlung nicht eben gut begründet,42 konzeptionell aber sehr wohl: Auch das höfische Verhalten kann sich nicht auf den jeweiligen sachlichen Zweck begrenzen – als zu Blümels Stück passendes Beispiel nennt Norbert Elias die Unterzeichnung eines Vertrages –, „sondern es ist immer zugleich die Herstellung einer bestimmten Beziehung zwischen den beiden Partnern selbst“.43 Treten Politik und Liebe zueinander, so finden sich Geld und Geschäft hingegen als das ausgeschlossene Dritte wieder. Das dramaturgische Prinzip des Juden von Venetien beweist hier erneut seine ‚inhaltliche‘ Wirkung. Im kaufmännischen Bereich äußern sich Täuschung und Verstellung als Betrug, und diese Kritik richtet sich nicht allein gegen Juden im Geschäftsleben oder gegen besonders ‚räuberische‘ Wirtschaftspraktiken: Die einzige Unterstützung, die Barrabas/Josephus erfährt, erhält er von einem „reichen kauffman von Famagusta, welcher zwar Christ, aber in seiner handlung ein ärger Jude ist, als“ jener selbst (IV,9, 255). In der Tat standen Kaufleute noch Mitte des 17. Jahrhunderts leicht in dem pauschalen Verdacht, Betrüger zu sein: Wann ich auch die Profession eigentlich vnd für sich selbst betrachte / so finde ich sie nit allein von Mühe vnd Arbeit / Sorg vnd Gefahr / sondern auch voller List vnnd Betrug / mit welchen sie / ob schon nicht bey allen (dann man findet auch noch redliche vnd auffrichtige Kauffleute) doch bey dem meisten theil durchspikket vnnd durchdrungen ist.44 41 Die auf den Fürsten beschränkte Lizenz zur Verstellung ist eher von Machiavelli als
von Gracián her gedacht. In diesem Sinne schreibt beispielsweise Garzoni: „Es haben die Mascaren nichts löbliches / nützlichs noch gutes an jnen / als daß Fürsten vnd herrn vnter denselbigen desto sicherer in vnbekandter Kleidung [...] können vmbher gehen“ (Piazza vniversale, S. 497: Der Drey vnd achtzigste Discurs / Von Mummen vnd Vermummungen). 42 Die Kombination von politisch begründetem Inkognito und liebesbegründeten Verkleidungsszenen läßt die Handlung sogar sehr künstlich erscheinen, denn dem Prinzen von Zypern hätte weder Florello seine Tochter verweigert (V,9, 274) noch der Jude bedrohlich werden können (275). 43 Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 166. 44 Garzonus: Piazza vniversale, S. 421 (Der Vier und sechtzigste Diskurs. Von Kauffleuten / Banckirern / Wucherern / Verkauffern / vnd Krämern). Die letzte deutsche Ausgabe der Piazza vniversale erschien 1659. Paul Jacob Marperger, der bedeutendste
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Gemeint war vor allem, daß ‚falsche‘, d. h. nicht am vermeintlichen Gebrauchswert orientierte Preise genommen45 und, damit zusammenhängend, die Kunden beschwatzt und mit falschen Angaben zum Kauf minderwertiger Ware verleitet würden.46 Grundlage des Betrugsverdachts ist ein statisches Wirtschafts- und Gesellschafts-, ja Weltbild: Der Handel habe es lediglich mit der Verteilung von Waren zu tun,47 und wenn dabei Gewinne gemacht werden, so seien dies stets die Verluste anderer. Ein solches Schatzmodell des Reichtums steht Pate – gerade auch in seiner Bildhaftigkeit –, wenn der Prinz die Verarmung seines Landes damit erklärt, daß die Juden ihre „haüser mit güttern, und [ihre] Kisten mit gelt erfüllet“ hätten (I,3, 208). Weil die Juden jedoch nichts „herein ins land gebracht“, sei es nur gerecht, ihr „hab und gut, zusampt [...] hauß und hoff“, zu konfiszieren (ebd.). Darüber zu befinden ist im Juden von Venetien ebensowenig ein Problem wie letztlich die Unterscheidung von Sein und Schein. Was bei Shakespeare schon aufgrund der Zeitstruktur menschlicher Interaktion nie endgültig festzustellen war, wird in Blümels Bearbeitung vollständig offenbar. Die Fronten sind klar; fest steht sowohl der Gegner als auch die Ordnung der eigenen Seite. Daß die Figuren gutenteils als Rollenspieler auftreten, gründet nicht darin, daß ihre Identität und Bestimmung unsicher wäre, sondern ist an einen vorgegebenen Zweck gebunden. Das Spiel um Heil oder Untergang, das die Figuren in ihren Verkleidungen vollführen, steht dem traditionellen Ordnungsmodell eines theatrum mundi demnach weit näher als der im Laufe des 17. Jahrhunderts ausgebildeten Vorstellung vom Menschen als Schauspieler, der sich in seiner Rolle selbst entwirft.48 Die ursprünglich symmetrischen Konstellationen werden im Verlauf des Stücks einer Zentralisierung unterworfen, und zwar auf erotischprivatem ebenso wie auf politischem und ökonomischem Gebiet. Wechselseitige Liebe hat für die Frau zur Folge, sich unter die Herrschaft des Mannes
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deutsche Merkantilschriftsteller des frühen 18. Jahrhunderts, druckt Garzonis 64. Diskurs noch 1715 in der Ersten Fortsetzung Seiner so nothwendig als Nützlichen Fragen Uber die Kauffmannschafft nach (S. 184–209, die zitierte Stelle S. 192f.). Dies illustrieren die Ermahnungen eines geistlichen Autors wie Jacob Masen, vgl. dessen Aurum sapientium (dt. Ausg., S. 351–403). Zu Masens Geldkomödie Ollaria vgl. unten Kap. 3.2.2. Vgl. Garzonus: Piazza vniversale, S. 422: „Auff viel verheissen traw im [dem Kaufmann] nicht / [/] Du wirst so bald betrogen / [/] Vnd wann er sich schon hoch verpflicht / [/] Ist doch das meist erlogen.“ Vgl. ebd., S. 419: „So ist es auch für sich selbst eine rühmliche vnnd nützliche Profession / als dardurch die gantze Welt mit allerhandt frembden Wahren beydes nach Nothdurfft vnnd nach Lusten wirdt versehen / vnnd ohne welche kein Reich / keine Statt / oder Gemeine bestehen kan.“ Zu beiden Varianten der Theatrum-mundi-Metaphorik vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 105–117, 129–131.
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zu begeben.49 Den Mann erhebt die Liebe dagegen „zum könige“ (II,1, 219). Folgerichtig entpuppt sich Ancillettas Erwählter – auf die Wahlmonarchie des Reiches spielt die eben zitierte Metapher explizit an – am Ende als künftiger Landesherrscher. Vor dem Hintergrund dieser Engführung ist „schatz“ mehr als eine abgegriffene Liebesmetapher (III,1, 227; III,2, 230). Ihr korrespondiert die Rolle des Schatzes im ökonomischen Denken des Prinzen. Seine Rede über die Schädlichkeit des jüdischen Wuchers aber meldet zugleich die Präpotenz des Fürsten über die Wirtschaft an: Was als Schatz beschrieben wird, ist bestimmt, in den fürstlichen Schatz zu wandern – ebenso wie es der umworbenen Frau bestimmt ist, in den Besitz des Mannes überzugehen. Dieser Analogie entsprechend ist die Liebe, die Ancilletta und der Prinz sich versprechen, so „fest gegründet“ wie das Herrscheramt des Fürsten oder, anders gesagt, so „unbeweglich“ wie das Geld im fürstlichen Schatz (IV,3, 246). Der Wage-Imperativ des Merchant of Venice ist damit in sein Gegenteil verkehrt. Dem höfischen Rahmen ihrer Aufführung vollkommen entsprechend, stellt die deutsche Adaption sich ökonomisch auf die Seite des fürstlich-fiskalischen Interesses am Geld, wie die zentrierende Handlungsstruktur unterstreicht. Das (durch ein Gabemodell modifizierte) Prinzip der Zirkulation ist der Ausrichtung der politischen, monetären und erotischen Bewegung auf ein fürstliches Zentrum gewichen. Nun bilden zwei Dramen keine hinreichende Basis für mentalitätshistorische Verallgemeinerungen, zumal nicht im internationalen Vergleich. Gleichwohl fällt auf, wie präzise sich einerseits die englische, andererseits die deutsche Variante auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ihres Landes beziehen läßt (bei Shakespeare überdies auf religiöse Eigenheiten). Wohlgemerkt gehen die Handlungsmodelle, die die beiden Stücke favorisieren, nicht in einer Bestätigung des Gegebenen auf, sondern exponieren kontrafaktische Normen: Während die Unmöglichkeit vorherzusehen, ob ein Einsatz ökonomischer, erotischer oder kognitiver Art von einem entsprechenden Erfolg bestätigt werden wird, bei Shakespeare die Notwendigkeit von Gaben begründet, suggeriert die normative Verlaufslogik des Juden von Venetien, daß sich legitime taktische Täuschung eindeutig von bösartigem Betrug trennen lasse. Dem Helden des Stücks freilich gelingt dies nicht ganz, sonst hätte nicht ein Wucherer das Messer gegen ihn wetzen können. Doch meint der Prinz von Zypern noch ein weiteres Mittel gegen den Betrug des Wuchers zu wissen: sein fürstliches Machtwort, den Befehl zur Vertreibung. War es dann aber nicht ein Fehler, nach Venedig reisen wollen, da das Ausgeschlossene 49 Was Ancilletta unter der Redemaske ihrer Patientenrolle bekundet (vgl. oben S. 113),
spricht der Pickelhäring unumwunden aus: „Wolan den Franciscina, Ich bin dein man, du bist mein weib, Ich bin dein Herr, du bist mein underthan. Ich bin die Decke, und du das underbett, du bist das pferd, ich bin der sattel [usw.]“ (V,9, 275).
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doch immer nur verschoben, nie beseitigt wird? Für die Komödie gewiß nicht, denn eine ‚Reise nach Venedig‘ – will sagen die Verfolgung des Lasters – ist ihr Existenzgrund: Vermöchte sie die Laster, gegen die sie sich mit dem Zuschauer zu verbünden sucht, endgültig zu beseitigen, so machte sie sich selbst überflüssig.
2.4 Stände(neu)ordnung in Gryphius’ Horribilicribrifax Die soziale Ordnung auf den Fürsten auszurichten war im Wiederaufbau nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zur herrschenden gesellschaftlichen Tendenz geworden. Stärker als je wurde es dabei fürstliches Anliegen, die Wirtschaftstätigkeit und besonders den Handel zu fördern. Anders als in Blümels Komödie ging in der gubernatorischen und ökonomischen Fachliteratur damit eine epochale Aufwertung der ‚Kaufmannschaft‘ einher.1 Allerdings folgte diese Aufwertung zumeist reinen Nützlichkeitserwägungen, erfolgte also aufgrund der fiskalischen und volkswirtschaftlichen Erträge des Handels. Eine Anerkennung kaufmännischer Kalkulation und Gewinnmaximierung war damit nicht verbunden, vielmehr hielt sich das „traditionelle Mißtrauen gegen die Händler als die Verderber von Moral und Sitte“.2 Indem Blümels Komödie diesem Mißtrauen Ausdruck gibt, steht sie also durchaus im Einklang mit den herrschenden Vorstellungen der Zeit, auch wenn Negativstereotype über den komischen Zweck hinaus verschärft werden.3 Sie reduziert das gängige Kaufmannsbild gleichsam auf dessen Wertzuschreibungen, ohne auf praktische Erfordernisse Rücksicht zu nehmen (die auch Menschen, die den Handel ähnlich mißtrauisch betrachteten, dazu zwangen, sich auf Marktgeschäfte einzulassen). Aufgegeben sind die herkömmlichen moralischen Vorbehalte gegen Kaufleute lediglich in spezialdiskursiven Texten wie Bechers Politischer Diskurs, die den üblichen generellen Betrugsverdacht in die Mahnung wendet, „daß an einem Handelsmann vor allen Dingen ein redliches / und arbeitsames sorgfältiges Gemüth erfordert werde“ (da man sonst „kein credit hätte“).4 1 Als Bibliographie ‚handelswissenschaftlicher‘ Publikationen des 17. Jahrhunderts vgl.
Ars mercatoria Bd. 2. 2 Weber: Prudentia gubernatoria, S. 301. 3 Als Jude ist Barrabas weniger lächerlich als böse gezeichnet, während die Erzeugung
von Komik fast ausschließlich dem Pickelhäring obliegt. Indem die Judenfigur zum Sündenbock stilisiert wird, erscheint sie in einem die Vorgaben der zeitgenössischen Poetik weit übersteigenden Maße als lasterhafte Figur; vgl. Masen: Palæstra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica Bd. 3, S. 10: „Illa igitur turpitudo probatur, quæ sine gravi est scelere, qualis in iis fere reperitur rebus quæ a communi ratione atque ordine deflectunt“. 4 Becher: Politische Diskurs, S. 185.
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Blümels Aufmerksamkeit für Wertzuschreibungen, weniger dagegen für praktische Erfordernisse ist typisch für unsere Komödien, ja für literarische Texte überhaupt: Nicht nur in ihrer eigenen Pragmatik (praktischen Anwendbarkeit auf das ‚Leben‘) reduziert, sondern in der Regel auch wenig an pragmatischen (lebenspraktisch üblichen) Perspektiven interessiert, modelliert Literatur bzw. die Komödie vor allem normative Rahmen. Anders gesagt: weniger die vorgeführte (oder erzählte) Geschichte, sondern der modellierte normative Rahmen ist für den Rezipienten ‚wahr‘ – in dem doppelten Sinne, daß er aus der Welt des Rezipienten einerseits genommen ist und andererseits Geltungsansprüche für sie erhebt. Freilich geschieht dies in literarisch hochwertigen Texten (Texten, die auch deshalb für wertvoll gehalten werden) zumeist nicht so klischeehaft und unkritisch wie bei Blümel. Wie normative Rahmen, die aus dem gesellschaftlichen Umfeld übernommen wurden, durch das Komödienspiel transformiert werden können, soll im folgenden an Gryphius’ Horribilicribrifax erläutert werden. Strukturgebende Norm – und zwar für Komik und Komödienform ebenso wie für die dramatisch modellierte Gesellschaft – ist dort vor allem die Ständeordnung. Eben die Ständeordnung bildete im 17. Jahrhundert aber auch noch den gedanklichen Rahmen der Wirtschaftstheorie. Die Forderung nach ökomischer ‚Bewegung‘, wie sie der Handel sowohl konkret durch die von ihm bewirkten Warenbewegungen wie im metaphorischen Sinne gesteigerter Gewinne in Gang setzen sollte, wurde innerhalb eines gesellschaftlichen Ordnungsmodells erhoben, das seinerseits auf Immobilitität orientiert war. Dieser Antinomie unterlag die ökonomisch-soziale Mentalität der Frühen Neuzeit generell, selbst das merkantilistische Programm eines Becher, der ökonomische Kriterien zwar nicht absolut, doch immerhin als vorrangig setzte5 und der wohl als erster in Deutschland die Wirtschaftssphäre als in sich geschlossenes Ganzes thematisierte (und zwar sowohl in sachlicher Hinsicht – indem er das wechselseitige Angewiesensein von Produktion und Distribution hervorhob – als auch formal, indem er über wirtschaftliche Themen einen ‚Spezialdiskurs‘ führte).6 Darin heißt es: Handlen / wandlen und verkauffen / In der Welt herumher lauffen / Bald zu Wasser / bald zu Lande / Nutzet trefflich jedem Stande / Wo die Kauffmanschaft recht blühet / Und die Nahrung nach sich ziehet / Da kan mancher noch auff Erden / Reich und wol begütert werden. 5 Vgl. Stolleis: Pecunia nervus rerum, S. 96–102. 6 Vgl. Becher: Politische Diskurs, S. 102, 106. Das folgende Zitat ebd., S. 107.
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Die Reimwörter auf ‚handeln‘ und ‚verkaufen‘, ‚wandeln‘ und ‚laufen‘, unterstreichen den Bewegungscharakter, der dem kaufmännischen Geschäft zugemessen wurde. „Bald zu Wasser / bald zu Lande“, greift der Kaufmann in den Raum aus, doch er tut dies im Rahmen einer vorgegebenen sozialen Ordnung, der Ständegesellschaft.7 Die nach dem Dreißigjährigen Krieg einsetzende Förderung des Handels war dementsprechend „stets überwölbt und gezügelt von einem übergeordneten politischen Interesse, das sich, gespeist aus lipsianischem Neostoizismus und christlich-aristotelischem Eudaimonismus, [...] vor allem an Stabilität und Verhinderung, zumindest Verlangsamung von Wandel orientiert.“8 Die Ständeordnung nahm eine stratifikatorische Differenzierung festliegender gesellschaftlicher Positionen vor und bildete die Grundlage der barokken Poetik9 und Theatralität ebenso wie jeden ökonomischen Handelns. Mit ihrer Hilfe sortierten die meisten Poetiker die verschiedenen literarischen Gattungen und ordneten ihnen zulässige Figuren, Plots, Themen sowie eine entsprechende Stilhöhe zu. Das Theater war sowohl als konkrete Institution in standesspezifische Zwecke eingebunden (Repräsentation und Divertissement des Fürsten, gelehrte Moraldidaxe und Redeübung, populäres Vergnügen als zu bezahlende Ware)10 wie auch im Denkmodell des theatrum mundi auf die Einübung von und Bewährung in standesspezifischen Rollen ausgerichtet, während umgekehrt – als dessen reales Spiegelbild gewissermaßen – die ständisch am feinsten differenzierte Welt des Hofes als vollkommenstes Abbild des Welttheaters galt.11 Die Zugehörigkeit zu einem Stand war von größerem Belang dafür, welchen Beruf jemand ausüben konnte oder ob er Steuern zu zahlen hatte, als etwa das persönliche Geldvermögen. Gleicher Besitz stellte in dieser hierarchisch gegliederten Gesellschaft keineswegs alle gleich; Geld zählte gewissermaßen nicht in jedermanns Händen gleich viel, sondern nach Maßgabe der ständischen Position seines Besitzers. So war es „undenkbar“, 7 Dementsprechend gliedert sich der Handel auch selbst wieder in klar unterschiedene
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‚Stände‘ (vgl. Savary: Der vollkommene Kauff- und Handels-Mann, S. 52f.), die verschieden hoch angesehen waren. Grundlegend für die Aufwertung des (Fernhandels-) Kaufmanns war dabei seine Abgrenzung vom Lokalhandel, dem Krämer oder gar dem Hausierer, vgl. Gerhardi: Geld und Gesellschaft, S. 256–260. Weber: Prudentia gubernatoria, S. 302. Vgl. Stöckmann: Vor der Literatur, S. 11–14, 133–143. Als beispielhafte Fallanalyse vgl. Markus Pauls quellengesättigte Typologisierung des Nürnberger Theaterlebens (Reichsstadt und Schauspiel). Die verschiedenen Schauspieltypen waren hier mehr oder weniger das Anliegen je eines Standes; es gab ‚patrizische‘ Ballette, Opern für den zweiten Stand, die nicht-patrizischen Kaufleute, Schultheater, Handwerkertheater; das breiteste Publikum erreichten die Wandertruppen (mit Stücken wie dem Juden von Venetien). Vgl. Barner: Barockrhetorik, S. 113f., 117f.
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daß eine verschuldete adlige Herrschaft von einem bürgerlichen Gläubiger eingezogen wurde.12 Dem Geld eignete noch nicht die „geradezu ‚abartige‘ Indifferenz“, die ihm Luhmann und Hörisch zumessen; die Tauschbeziehungen, die die Menschen laufend eingehen müssen, betrieben noch keine Egalisierung.13 Fragen wir nach den Handlungsmodellen und gesellschaftlichen Ordnungen, die die Komödie mit dramaturgischer und motivischer Hilfe des Geldes entwirft, so sind ständische Voraussetzungen daher unbedingt zu berücksichtigen. Die poetologische Bindung der barocken Komödie an die Ständeordnung der frühen Neuzeit ist bekannt und gängiger Ansatzpunkt literaturgeschichtlicher Aufrisse der Gattung.14 Nimmt man, wie das in der älteren Forschung gerne geschah, die enge Auslegung der Ständeklausel bei Opitz oder Masen als Norm, so hat es die Komödie ausschließlich mit „gemeinen Leuten“ zu tun,15 wobei die beigegebenen Figurenkataloge zum Teil noch unter diesen Stand hinabreichen.16 Gesellschaftliche und literarisch-theatralische Ordnung koinzidieren in diesem Modell mit großer Klarheit und darum, wie es scheint, Unumstößlichkeit: Wie nun dreyerley Haubtstände / also sind auch dreyerley Arten der Gedichte / welche auf den Schauplatz gesehen und gehöret werden. I. Die Trauerspiele / welche der Könige / Fürsten und grosser Herren Geschichte behandeln. II. Die Freudenspiele / so deß gemeinen Burgersmanns Leben außbilden. III. Die Hirten oder Feldspiele / die das Bauerleben vorstellig machen / und Satyrisch genennet werden.17 12 Volker Press: Soziale Folgen des Dreißigjährigen Krieges. – In: Ständische Gesell-
schaft und soziale Mobilität, S. 237–268, hier S. 248. 13 Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 66. Die von Hörisch mit „metallener Herzenskälte“
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assoziierte Indifferenz gehört zu den Topoi der systemtheoretisch inspirierten Geldtheorie, die sich damit erneut als Theorie der Geldfunktion in der ‚Moderne‘ erweist (vgl. Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 248). Vgl. Aikin: German Baroque Drama, S. 93–97; Mannack: Lustspiele, S. 298. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, S. 27 (Kap. V); Masen (Palaestra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica Bd. 3, S. 10) schließt „graves personas“ von der Komödie aus. Vgl. Holl: Geschichte des deutschen Lustspiels, S. 84. Vgl. Kindermann: Deutscher Poet, S. 242: „Die Comœdie stelltetnur auf gemeine Personen / HaußVäter und HaußMütter / Jünglinge und Jungfrauen; Und offtermals auch gar unerbare Leute / als Huren und Huren Wirthe / Fuchsschwäntzer und Tellerlecker / und wie es heutigen Tages gebräuchlich ist / Bauren / Jüden / und solche Personen / die das Volck zum lachen bewegen können“, sowie den oben zitierten Figurenkatalog aus Masens Palaestra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica (Bd. 3, S. 10; s. oben S. 78). Der entsprechende Katalog lasterhafter Typen bei Harsdörffer (s. o. S. 78) fällt, bis auf Dirne und Kuppler, dagegen weniger aus dem bürgerlichen Rahmen, während Opitz bürgerliche Laster und außerbürgerliche Figuren mischt (vgl. Buch von der Deutschen Poeterey, S. 27). Harsdörffer: Poetischer Trichter, T. 2, 11. Kap., S. 71. Zur Vielfalt der Standesbegriffe im 17. Jahrhundert (religiös-ethischer, politischer, soziologischer, ökonomischer) vgl.
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Wie wir an Blümels ‚Haupt- und Staatskomödie‘ beobachten konnten, suchte das berufmäßige Theater seinen Erfolg allerdings ohne Rücksicht auf die poetologische Begrenzung seines – selbstverständlich ständisch gestuften – Figureninventars. Und auch die Literaturkomödie kannte, wie Judith P. Aikin gezeigt hat, nicht bloß das satirisch Verlachen gemäß der Opitzschen Norm mit sozial niedrigen Figuren. Neben dieser, von der lateinischen Tradition her zumeist in den Vordergrund gestellten Form steht vielmehr eine Gattungsvariante italienischer Herkunft, „that treats the virtuous deeds, troubles, and happy outcomes in the lives of admirable persons of any social class, but often from the nobility and royalty“.18 Gryphius’ Horribilicribrifax oder Wehlende Liebhaber, 1663 erschienen, wenngleich wohl bald nach 1648 verfaßt,19 kombiniert beide Gattungsvarianten. Bereits der Doppeltitel dieses „Schertz-Spiels“ weist darauf hin: While the first part – the pompous Latin name of one of the ridiculous capitanofigures – would hint that the play ist a satirical comedy that ridicules a particular comic type all too prevalent in post-war German society, the second part implies that the piece is a romantic comedy involving multiple pairs of lovers that will end happily in multiple marriages.20 Stand, Klasse – GG 6, S. 155–284, hier S. 200–214 (Werner Conze). Die von Harsdörffer angesetzte Trias Adel–Bürger–Bauern bestätigt z. B. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 21 (I,4 § 2). Als Kaufmannskomödie mit einer strukturgebenden Standesgliederung kann allenfalls Nathan der Weise gelten, denn die religiösen Kontrahenten Nathan, der Patriarch und Saladin sind zugleich Vertreter des – nach französischer Unterscheidung – dritten (bürgerlichen), zweiten (geistlichen) und ersten (adligen) Standes. Für Konflikte und Handlung des Dramas ist diese Unterscheidung jedoch nachrangig; sie ist mehr Zitat als Movens. 18 Aikin: The Comedies of Andreas Gryphius and the Two Traditions of European Comedy, S. 114. Als Poetiker, der beide Varianten kennt bzw. die Komödie als Mischung von lächerlichen, zu verlachenden und löblichen Handlungen beschreibt, ist vor allem Albrecht Christian Rotth zu nennen, vgl. Vollständige Deutsche Poetik, T. 3,2, Kap. VII, § 7, S. 130. Selbst Harsdörffer sieht, sein eigenes System durchbrechend, den Fall vor, daß hochgestellte Personen – er spricht von Königen – an der Komödie beteiligt sind (Poetischer Trichter, S. 96f.). 19 Der zweite oder Innen-Titel Wehlende Liebhaber steht nicht – etwa als Untertitel – auf dem Titelblatt, bildet aber die Überschrift des Dramentextes nach dem Personenverzeichnis (vgl. Horribilicribrifax, S. 15). Zu den zahlreichen, jedoch nicht ganz sicheren Indizien für die genannte Datierung vgl. den Kommentar in der Ausgabe von Mannack, S. 1169–73. 20 Aikin: ebd., S. 116. Wieder ganz auf die lächerlichen Figuren – vor allem die großsprecherischen Offiziere, aber auch den übergelehrten Sempronius – konzentriert sich die jüngste Horribilicribrifax-Analyse von Nicola Kaminski (vgl. Ex bello ars, S. 346–382, 386–391). Kaminski weist detailliert nach, daß die beiden Hauptleute „nicht auf zeitlosem Komödienterrain“ agieren (S. 351). Die Darstellung solcher Vertreter der ehemaligen Kriegsparteien sei vielmehr von brisanter Aktualität gewesen, besonders im schwer kriegsgeschädigten Glogau (vgl. unten Anm. 91). Daraus wiederum lasse sich schließen, daß Gryphius’ Heimatort auch der Erstaufführungsort war.
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Das soziale Spektrum der beteiligten Figuren reicht dementsprechend von einer Kupplerin und gewesenen Prostituierten bis zum – natürlich adligen – Statthalter des Fürsten. Doch hebt diese Ausweitung des zulässigen Personals die ständische Differenzierung der Figuren nicht auf. Sensibelste Aufmerksamkeit für die Abstufung der Stände bleibt bzw. wird vielmehr das entscheidende Kriterium für die Entwicklung der Handlung wie für die Ordnung, die aus dieser hervorgeht. Auch der Grad von Komik, den die verschiedenen Figuren zeigen, bemißt sich exakt nach ihrem Stand. Daß Gryphius’ Komödie sich nicht allein durch den verlachenden Bezug auf das Laster eines Standes konstituiert, hat demnach nicht die Verabschiedung des Standeskriteriums für die Dramenpoetik zur Folge, sondern ist als dessen Verfeinerung zu verstehen. Mit der triadischen Stratifikation, auf die Harsdörffer sich bezieht, kommt eine solche Verfeinerung nicht aus. Wie im ersten Unterkapitel zu zeigen, entspricht die ständische Hierarchie, welche die acht Hochzeiten am Ende des Stücks besiegeln, vielmehr dem moralischen Rang der Figuren. Für die meisten bedeutet das eine erhebliche Veränderung der Ausgangsposition. Insofern inszeniert Gryphius’ Scherzspiel, gattungstypisch, durchaus soziale Mobilität. Andererseits bildet die neue, moralische Hierarchie ihrerseits einen ‚Stand‘, nämlich das soziale Gerüst der göttlichen Ordnung der Dinge in der Welt.21 Welche Stellung kann in diesem ordo aber das Geld haben, stellen Geld und Gott nach christlichen Normen doch zwei einander ausschließende Orientierungen dar22 (2.4.2)? Welche Handlungsfunktion, welcher Wert kommt ihm zu in einer Komödie, deren Ständeordnung allegorischen Charakter hat? Vermag es die Bewegung, in die Gryphius’ Tugendkriterium die empirische Ständeordnung bringt, zu unterstützen oder ordnet es sich der statischen Vollkommenheit einer Gesellschaft unter, in der moralischer und sozialer Rang zur Deckung gekommen sind? Wie ein drittes Unterkapitel erläutert, bringt der Horribilicribrifax eine prinzipielle Kritik an der wechselhaften Handelssphäre zum Ausdruck – wenngleich nicht so konsequent, daß eine Welt ganz ohne merkantile Mechanismen vorgeführt würde (2.4.3).
21 Zu diesem Wortgebrauch vgl. Stand, Klasse – GG 6, S. 155–284, hier S. 204 (Werner
Conze). 22 Vgl. Mt 6,24: „Niemand kan zweien Herrn dienen / Entweder er wird den einen hassen
und den andern lieben / Oder wird einem anhangen / vnd den andern verachten. Ir künd nicht Gott dienen / vnd dem Mammon.“ (ebenso Lk 16,13)
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2.4.1 Die Dynamik der Tugend Mit einer Reverenz vor dem adligen Stand der Titelfigur beginnt Gryphius’ Komödie,23 und mit der Beschreibung von sieben ebenso standesbewußten wie sprechenden Wappen unter dem angefügten „Heyraths-Contract“ des Sempronius und der Cyrilla haben die Formeln ständischen Anspruchs auch das letzte Wort (S. 118–120). Nicht weniger achtet das erste ‚Liebespaar‘ des Stücks auf seinen Rang: „Bey meinen adelichen Ehren“, reißt sich der großsprecherische Daradiridatumtarides zusammen, als ihn seine Furcht zu weit von der unerhörten Tapferkeit, derer er sich rühmt, zu entfernen droht (S. 18). Die von ihm umworbene Selene – „eine Dame von Qualität“ (S. 19), aber völlig verarmt – hält sich ebenfalls an den Stand desjenigen, den sie zum Bräutigam erwählt hat: Gelehrte, und seien sie auch reich und bei Hofe gut angeschrieben, will sie nicht, denn „ein Land-Juncker stünde mir besser an“ (S. 20). All das sind natürlich Prätentionen, die komisch wirken sollen. Sie sind lächerlich, weil sie leer im Sinne von illegitim sind: der entlassene Hauptmann Daradiridatumtarides ist „Erbherr / in und zu Windloch“ (S. 11); Sempronius, dem Dorfschulmeister, kommen Adelstitel und Wappen gar nicht zu; und Selene kann weder mit Besitz noch mit Tugend Anspruch auf einen adligen Bräutigam machen. Sie sind aber auch lächerlich, weil sie nicht inhaltsleer, sondern sehr bestimmt sind, d. h. weil sie die bedrohte Integrität der eigenen Person durch die Reklamation eines ständisch festgeschriebenen Ranges zu behaupten suchen. Der zu verlachende Fehler ist demnach ein doppelter: daß ein Anspruch erhoben wird, der nicht gerechtfertigt ist, und daß überhaupt auf eine feste Position gepocht wird. Umgekehrt verhält es sich bei den positiver gezeichneten Gegenspielern. Sie achten nicht auf Stand, sondern auf Tugend, gründen ihre Liebesneigung auf die Erkenntnis eines Guten im anderen.24 Immerhin zeigt sich Coelestina 23 Nämlich mit der formellen Anrede „Dem Hoch- und Groß-Edel-gebohrnen / Erkor-
nen / Gestrengen / Mannfesten Herrn / Herrn Horribilicribrifax, von Donnerkeil / auff Wüsthausen“, die der einleitenden Vorrede des Daradiridatumtarides vorangestellt ist (vgl. Horribilicribrifax, S. 5). Verweise auf die Reclam-Ausgabe von Gerhard Dünnhaupt im folgenden im Text. 24 Vgl. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 410. Liebe wird im Horribilicribrifax nicht als seelisches Ereignis dargestellt, sondern als soziokulturell approbiertes Verhalten; sie basiert auf dem „Erkennen von Tugend“ (Gerhard Kaiser: Horribilicribrifax Teutsch. Wehlende Liebhaber. – In: Die Dramen des Andreas Gryphius, S. 226–255, hier S. 247). So stellt Coelestinas ‚Sprache des Herzens‘ keinen unvermittelten Gefühlsausdruck dar, sondern erwächst aus einer „gesellschaftlichen Kultur der Rede“ (ebd., S. 246). Auch die „Ehe ist nicht im individuellen Gefühl gegründet, sondern Lohn der Tugend, ‚damit dieselbe nach so langem Verdienst prächtiger gekrönet würde‘ [Horribilicribrifax, S. 112]“ (Kaiser: ebd., S. 232). Tugend wiederum ist
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noch so weit dem Denken in Standeskategorien verhaftet, daß sie argwöhnt, Standeserwägungen möchten Palladius dazu bewegen, Eudoxia ihr vorzuziehen.25 Tatsächlich konzipiert Palladius, bevor er zu Coelestina findet, seine erotischen Engagements in Standesrelationen, etwa wenn er seine Ablehnung durch Selene so beschreibt, daß sie seinen Stand nicht achte (S. 55). Dieses standesgefesselte Denken ist wesentlicher Bestandteil der Verblendung, die ihn davon abhält, in Coelestina seine rechte Braut zu erkennen. Dabei geht es nicht um ein konkretes Standesgefälle zwischen den beiden – zumindest bis zu seiner Erhebung zum Marschall wäre Coelestina für Palladius eine hervorragende Partie gewesen (vgl. S. 60) –, sondern um ein Prinzip. Hat er seine Augen einmal für sie geöffnet, so spielen ständische Relationen für sein Selbstwertgefühl keine Rolle mehr: „Mein Stand ist mir um keiner anderen Ursachen willen angenehm / als daß ich vermeine / in und durch denselben meiner Werthen mehr und angenehmere Dienste zu leisten“, leitet Palladius seine schließlich erfolgreiche Werbung ein (S. 83). Das Ideal einer Wertschätzung anderer, die Standesrücksichten in den Hintergrund treten läßt, wird in seiner verzögerten bzw. kurzfristig getrübten Aneignung durch Palladius und Coelestina sowohl ein wenig verdeckt als auch – wenn es endlich verwirklicht wird – besonders hervorgehoben. In dem Figurenpaar Sophia und Cleander tritt es dagegen ungeschmälert auf die Bühne: Sophia stammt zwar „aus einem der berühmtesten Geschlechter“ des Landes (S. 79), bedient sich aber nirgends der Standeskategorie. Anders als ihre Mutter Flacilla klagt sie weder darüber, daß hohe Geburt vor Not nicht schütze (vgl. S. 21), noch zeigt sie Scham und Ehrfurcht vor dem noch höheren Rang des Statthalters Cleander (vgl. S. 77). Denn Perspektivpunkt ihrer Weltwahrnehmung ist die Fürsorge Gottes, auf die man sich unbedingt verlassen könne (vgl. S. 22). Cleander verhält sich dem kongenial, indem er Sophias standesunabhängiges Verdienst (die Bewahrung ihrer Keuschheit) durch eine Prüfung bis knapp vor die Schwelle des Martyriums treibt. An diesem äußersten Punkt wird ständisches Denken allerdings nicht nur ausgelöscht, sondern zugleich restituiert: als Repräsentation jener rechten Ordnung nämlich, die sich nicht nach Geburt und Besitz, sondern nach moralischem Verdienst bemißt: „bringet Kleider und Demante / um meine Schöneste also außzukleiden / wie ihre Tugend und unser Stand erfordert“, „zu verstehen als Bewahrung der persönlichen Integrität, d. h. aber als psychische Disziplin gegenüber inneren und äußeren Einwirkungen, gegenüber den Anfechtungen von Macht und Geld, im tiefsten Sinne stoischer constantia verwandt“ (Kühlmann: ebd., S. 412). 25 „Eudoxiae hohes Geschlecht und vornehme Freundschafft lässet mich nun nichts mehr hoffen!“ (S. 81); „ich habe ihn selbst verlohren / sein höherer Stand hat mir ihn geraubt!“ (S. 83).
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weist Cleander nun seine Diener an (S. 112f.). Die vorbildliche Figur wirft erst dort ihren Stand in die Waagschale, wo er der moralischen, Gott verpflichteten Ordnung entspricht, wo die formelhafte Einheit „GOtt / und Stand“ (S. 23) realisiert ist. Hat der besondere Stand einer Figur die längste Zeit des Stücks als Verblendungsfaktor gewirkt, weil er den Blick vom entscheidenden Maßstab der Tugend ablenkte, so ist in den Hochzeiten des Komödienschlusses ‚Stand‘ wieder gerechtfertigt, weil wiederhergestellt auf der Basis erwiesener Tugend. Den ‚Stand‘ bildet nun die gerechte Ordnung des Ganzen, nachdem die jeweils gezeigte Haltung belohnt oder bestraft wurde.26 Bestrafung und Belohnung: die achtfache Hochzeit am Ende des Horribilicribrifax wirkt als ein Gericht, das sowohl durch die doppelte Sanktion als auch durch das Anlegen religiös verankerter Maßstäbe als Herstellung der rechten, gottnahen Ordnung ausgewiesen wird.27 Die empirische Ständeordnung, wie das Drama sie zunächst aufgegriffen hatte – mit ‚asozialen‘ abgedankten Offizieren, verarmten Adelstöchtern u. a. m. –, wird auf diese Weise korrigiert.28 Dabei sollte man die religiöse Dignität, die jenem schlußendlichen 26 An der Spitze stehen Cleander und Sophia, jener als Statthalter an der Spitze der
gesellschaftlichen Hierarchie, diese als Muster „großmüthiger Keuschheit“ (S. 114). Bonosus und Eudoxia schließen sich an, die als Nebenfiguren allerdings nur mit groben Strichen zwischen das erste und das nächste Paar, Palladius und Coelestina, gestellt werden (vgl. S. 57, 81). Als Marschall hat Palladius ein hohes Hofamt inne, während Coelestina sich durch „beständige Anmuth“, also eine deutlich weltlichere Tugend als Sophia auszeichnet. Soweit die moralisch und sozial hochgestellten bzw. erhöhten Paare. Es folgen – nicht die prätentiösen Narren aus Kriegswesen und ‚Wissenschaft‘, sondern die Dienerpaare, von denen zumindest die bewährten Helfer des Cleander und der Coelestina „befördert“ werden (S. 113). Dagegen enthalten die Hochzeiten des Daradiridatumtarides mit Selene, des Horribilicribrifax mit einer der Vollständigkeit halber rasch herbeigeschafften „Schleußerin“ (S. 114) sowie des Sempronius mit der Kupplerin Cyrilla sämtlich ein Bestrafungsmoment für die Beteiligten; bei den beiden Hauptleuten kommt ihre Ausstattung mit einem Kommando hinzu, das so gering ist, daß sie nun zwar besoldet, aber faktisch degradiert sind. Was die Hierarchie innerhalb dieser Gruppe betrifft, scheint Gryphius eine Differenzierung vorzunehmen, wenn er den bloß großsprecherischen, anders als Daradiridatumtarides aber nicht aus Habgier betrügerischen Horribilicribrifax mit der wahrscheinlich ein wenig größeren Garnison („in der Vorstadt“ gegenüber der „gvarnison in dem nechsten Flekken“, S. 113) ausstattet. Daß der Dorfschulmeister nach wie vor am unteren Ende steht, ließe sich mit der einem Alten unangemessenen Liebesgier sowie seinen Handgreiflichkeiten gegenüber Cyrilla erklären, schließlich auch damit, daß er seine Gelehrsamkeit für niedere Zweck mißbraucht hat (vgl. Schlienger: Das Komische, S. 215). 27 Die Kategorie des verdienten Lohnes wird sowohl auf eine Begünstigte der Schlußkonstellation angewandt (Sophia, vgl. S. 113) als auch von einer Gestraften (der Mutter der Selene, vgl. S. 93) vorgebracht. Bezugspunkt des Belohnungsgedankens ist natürlich das endzeitliche Gericht, das die Bibel verheißt (vgl. Mt 16,27; Röm 2,6). 28 Diesen entscheidenden Punkt verwischt Daniela Toscan, wenn sie schreibt, daß in Gryphius’ Komödien „die Kongruenz von metaphysischer und sozialer Existenz wiederhergestellt“ werde (Form und Funktion des Komischen, S. 74; Hervorh. von
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‚Stand‘ eignet, nicht als intendierten Hinweis auf Irrealität verstehen. An einer gesellschaftlichen Ordnung zu arbeiten, deren Prinzipien göttlicher Stiftung entstammen, beanspruchte auch die habsburgische Herrschaft, unter der Gryphius lebte und dichtete. Dementsprechend wird die moralische Ordnung des guten Endes in seiner Komödie vom Hof garantiert, von einem fürstlichen Statthalter, der Ämter, Dienststellen und Belohnungen, Lebensunterhalt und Sozialprestige verteilt. Diese Ausrichtung entspricht den Machtverhältnissen der Zeit, denn die notwendige Führung beim Wiederaufbau nach dem Dreißigjährigen Krieg stärkte zuallererst die fürstlichen Zentralen.29 Doch pocht der Syndikus der Glogauer Landstände (seit 1650) zugleich auf den ständischen Unterbau der fürstlichen Herrschaft und – vor allem – auf jene moralischen Qualifikationen und Zwecksetzungen, welche die höfisch dominierte Ordnung erst legitimierten. In beiden Hinsichten formuliert der Horribilicribrifax einen Vorbehalt gegen den Entwicklungstrend der Zeit. Realiter stand der Bewahrung ständischer Ansprüche die kriegsbedingte Geldnot und Kreditkrise der ständischen Selbstverwaltung entgegen,30 ein Umstand, der – in den Figuren verarmter Adliger – auch in Gryphius’ Komödie nicht zu übersehen ist. Um so mehr stellt der Horribilicribrifax die moralische Qualifikation der höheren Stände heraus. Auch sie aber galt in den Ständelehren der Zeit keineswegs selbstverständlich, wurde in jener Mehrheit von Adelstheorien, die primär politischjuristisch argumentierten, sogar abgelehnt. Die virtus, auf die der Adel sein Selbstverständnis baute, deckt sich nicht mit jener moralischen Fundierung eines ständischen Vorrangs, wie Gryphius sie am Beispiel Sophias aufweist.31 Die politisch-juristische Adelslehre betonte vielmehr die ‚männliche Bewährung‘ als Tugendbeweis, wobei administrativ verwertbares Fachwissen noch höher geschätzt wurde als kriegerische Fähigkeiten.32 Tugend wurde hier als
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D. F.). Auch wenn Toscan resümiert, „Gryphius akzeptiert die Ständeordnung“ (S. 240), so gilt das in seinen Komödien erst für die schlußendlich hergestellte ideale, d. h. moralfundierte Ständeordnung, nicht schon für die zunächst vorgeführten ‚realen‘ Verhältnisse. Vgl. Volker Press: Soziale Folgen des Dreißigjährigen Krieges. – In: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, S. 237–268, hier S. 244, 266. Den Westfälischen Frieden – der im Horribilicribrifax als Paradefall fürstlicher Machtvollkommenheit erscheint (S. 31) – nennt Press „die Magna Charta des deutschen Fürstenstaates“ (ebd., S. 244). Vgl. Press: ebd., S. 244. Lediglich „eine verschwindende Minderheit“ von Autoren argumentierte mit einer moralphilosophisch verstandenen virtus und leitete die Privilegien des Adels von dessen besonderer Tugendhaftigkeit ab; noch isolierter waren „spiritualisierte Adelskonzepte“, die ihren christlichen Tugendbegriff erst durch eine „meditative Hinwendung zu Gott“ erfüllt sahen (Bleek u. Garber: Nobilitas, S. 66f., vgl. ebd., S. 62). Vgl. ebd., S. 69, 72.
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Funktion des sich festigenden Fürstenstaates konzipiert; wer nicht von Geburt adlig war, konnte es nur durch einen Gnadenakt des Princeps werden.33 Spielte Gott in diesem dominanten Diskurs trotzdem eine Rolle als Legitimationsinstanz des gesellschaftlichen Ordo,34 so wurde die bestehende Ständeordnung damit zusätzlich gerechtfertigt, nicht aber ihre Reformation nach Maßgabe religiöser Normen gefordert. Gryphius hingegen läßt es bei solcher politisch-juristischen Begründung und Absicherung eines ständischen Vorrangs nicht bewenden. Zwar zeigt sich die Tugend seiner vorbildlichen Figuren nicht so durchgängig von christlichstoischer Moralität bestimmt, wie die Heraushebung der Sophia durch die Komödienhandlung suggerieren mag. Denn die Tugend der männlichen Vorbildfiguren ist auch im Horribilicribrifax um einiges ‚politischer‘: Cleander präsentiert sich als Muster an höfischer Gewandtheit und Großzügigkeit (S. 76); Palladius zeichnet sich durch seinen ebenso rational-geschickten wie eleganten Umgang mit Sprache aus. Diese Fähigkeit hindert ihn zunächst, Coelestinas „Sprache des Herzens“35 zu dechiffrieren, befördert aber seinen sozialen Aufstieg, die Erhebung zum Marschall, also in eines der vornehmsten Hofämter (S. 57). Der Fall ist exemplarisch für die zeitgenössisch einzig anerkannte Möglichkeit einer Nobilitierung: Nicht bewiesene Moralität, sondern Palladius’ akademische Ausbildung (S. 19) bildet die Voraussetzung dieser Aufnahme in die „höfische Verwaltungsaristokratie“, und allein dem Fürsten kommt ihr Vollzug zu.36 Die faktisch gültigen Normen ständischer Gliederung gelten demnach auch in Gryphius’ Komödie. Vertreten von den Frauenfiguren, wird ihren Nutznießern jedoch eine ‚moralischere‘ Variante adliger virtus an die Seite gestellt, die in der Schlußszene sogar entschieden in den Vordergrund tritt. Der Horribilicribrifax gibt damit ein Ideal-Modell der existierenden Gesellschaft, das deren christliche Normen trotz des Vordringens fürstenstaatlicher Funktionen geltend macht. Nach Ausweis der Komödienhandlung ist ein Ausgleich beider Prinzipien möglich, führt sie hoforientierte Männer und moralisch-tugendhafte Frauen doch in die Harmonie der Ehe. Wie zentral die zwiefach abgesicherte Hierarchie der Figuren für Gryphius’ Lustspiel ist, macht schließlich auch der Anteil des Komischen an ihrer Modellierung deutlich. Anders als in Molières wenig späterem Avare wird nicht vor allem der eine Lasterhafte Gegenstand komischer Be- bzw. Ver33 Vgl. ebd., S. 75. 34 Vgl. ebd., S. 100f. 35 Gerhard Kaiser: Horribilicribrifax Teutsch. Wehlende Liebhaber. – In: Die Dramen
des Andreas Gryphius, S. 226–255, hier S. 246. 36 Vgl. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 409–411, das Zitat S. 409;
Bleek u. Garber: Nobilitas, S. 75.
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urteilung, sondern nahezu das ganze Ensemble, und zwar in feiner Abstufung. Durchgehend lächerlich erscheinen die drei Großsprecher, die Hauptleute mit ihrem ebenso übertriebenen wie leeren Kriegsruhm und der Schulmeister mit seinem praxisblinden Gelehrtenprunk. Zusammen mit der Kupplerin und lüsternen Alten Cyrille stellen sie die eigentlichen Komödienfiguren dar, deren satirische Zeichnung aus einem internationalen Fundus komischer Typen schöpft.37 Coelestina und Palladius sind dagegen nur leicht komisch in ihrer lange erfolglosen Liebesfixierung bzw. seiner Blindheit dieser gegenüber; aus ihrer Rolle als unglücklich Liebende vermag Coelestina zudem die höhere Komik des Sprachwitzes zu schlagen (vgl. S. 39, 49). Cleander und Sophia sind dem Tadel des Komischen (fast) ganz entrückt, wobei der Frau dadurch ein „Rest von Komik“ bleibt, daß sie bei ihrer Entführung tragisch nimmt, was nur Spiel ist.38 Die Sonderstellung eines von komischer Relativierung ganz freigehaltenen normativen Fixpunktes erhält Cleander zugewiesen. Über Cleanders Herkunft erfahren wir praktisch nichts, über die des Palladius so wenig Bestimmtes, daß die Interpreten sich nicht einig sind, ob er als „akademisch gebildeter, dadurch adelsgleicher Bürger“ zu identifizieren ist oder aus „niederem Adel“ stammt.39 Kaum leichter ist es, die beigeordnete Figur der Coelestina jenseits oder dieseits der für die Sozialstruktur der Zeit maßgeblichen Grenze zwischen Adel und Bürgertum zu verorten.40 Häuft sich ständische Indifferenz aber derart unter den vorbildlichen Figuren, so steht zu vermuten, daß sie Methode hat. Gryphius’ Drama entwirft eine Ständegesellschaft, die weitgehend auf die empirische Ständegliederung verzichtet. Denn das Gegebene soll nicht affirmiert, sondern transzendiert werden.
37 Vgl. Hinck: Die deutsche Komödie, S. 106–115, 119f. 38 Vgl. Kaiser: ebd., S. 239f., das Zitat S. 240. Die detaillierteste Untersuchung zu den
vielfältigen Formen der Komik enthält Lötscher: Horribilicribrifax, S. 211–294; vgl. daneben Schlienger: Die Komik, S. 214–223. 39 Kaiser: ebd., S. 240 (Bürger); Schiewek: Ein altes Scherzspiel, S. 82 (Adel). Sozialhistorisch wäre beides typisch: für den Bürger bildeten akademische Bildung und Fürstendienst den Königsweg des ständischen Aufstiegs (vgl. Winfried Schulze: Die ständische Gesellschaft des 16./17. Jahrhunderts als Problem von Statik und Dynamik. – In: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, S. 1–17, hier S. 12), doch auch Adlige waren nach dem Dreißigjährigen Krieg verstärkt gezwungen, ihr Auskommen bei Hofe zu suchen (vgl. Volker Press: Soziale Folgen des Dreißigjährigen Krieges. – In: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, S. 237–268, hier S. 248, 267). 40 Kaiser wie Schiewek (vgl. ebd.) ordnen sie dem Bürgertum zu; daß sie Güter besitzt und einen Haushalt mit Pagen unterhält (vgl. Horribilicribrifax, S. 33, 41), weist jedoch eher auf adligen Stand hin.
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2.4.2 Statisches Geld Im Hinblick auf die Antinomie Bewegung oder Stabilität impliziert der Horribilicribrifax demnach ein ambivalentes Programm. Eine stabile Ordnung soll sein, diese ist aber über tugendregulierte Mobilität zu erreichen. Von der Beweglichkeit, die das Geldwesen auszeichnet, ist diese ‚TugendBewegung‘ doppelt abzugrenzen: sowohl in ihren Kriterien (moralische bzw., bei den männlichen Figuren, ‚politische‘ Tugend) als auch in ihrem Ziel, das eben nicht unendliche Bewegung, sondern die Erlangung eines beruhigten Zustandes, einer ‚besseren Statik‘ ist. Wie aber gestaltet der Horribilicribrifax die Beweglichkeit des Geldes, sei es dessen Geltungsunsicherheit, sei es die von ihm vermittelten Handlungspotentiale?41 Unmittelbar Element der Handlung wird Geld lediglich in einer Szene: Cyrilla bietet Coelestina Spitzen an und läßt ihr dabei einen Liebesbrief von Sempronius zukommen. Was die Kupplerin angeht, so macht die Verbindung von Handel und Liebesbotschaft augenfällig, daß sie die Liebe als Geschäft betreibt. Auf den Warenhandel geht Coelestina ein und kauft einige Ellen Spitze mit dem Motiv „gedoppelter Hertzgen“ (S. 42), eingedenk wohl der Hoffnungen, die sie sich auf Palladius macht. Auch sie scheut sich also nicht, Handel und Liebe in eine Verbindung zu bringen. Doch sind ihre Prämissen ganz andere als die ihres Gegenübers. Bezeichnend ist der kurze Wortwechsel, der sich über die Bezahlung der Spitzen entspinnt: Coelest. Hie habt ihr Geld. Cyrilla. Drey / sechs / neun / zwölff / funfftzehn. Jst der Ducaten auch wichtig? Coelest. Es ist abgewogen Gold. Cyrilla. Seht liebes Kind / alte Leute die irren sich leichtlich / achtzen / ein vnd zwantzig / vier und zwantzig / sieben und zwantzig / dreissig / dar mangelt einer. Coelest. zehlet noch einmahl / ich habe recht gezehlet. Cyrilla: Es ist war: Ungrische Gülden sol man zweymal zehlen. Fünffe / 10. 15. 20. 25. 30. 33. 1. Reißthaler / ein halben Reißthaler / ein Gülden. O Hertzes Kind / habt mirs ja nicht vorübel! ich bin so was vergeßlich: ich muß das Gold in die Tasche schliessen. (S. 43).
Während Cyrilla sich hartnäckig mißtrauisch zeigt, kann Coelestina darauf verweisen, daß es mit der Bezahlung sowohl von ihrer Seite aus – sie hat richtig gezählt – als auch hinsichtlich der gegebenen Münzen alles seine Ord41 Daß Geld und Gold ein „Leitmotiv“ des Stücks bilden (so Mannack im Kommentar
seiner Gryphius-Ausgabe, S. 1188), ist in der Forschung Allgemeingut; Kaiser geht unter dem Aspekt des Liebeshandels ausführlich und aufklärend darauf ein (vgl. Gerhard Kaiser: Horribilicribrifax Teutsch. Wehlende Liebhaber. – In: Die Dramen des Andreas Gryphius, S. 226–255, hier S. 233–237). Dagegen mangelt es an einer wechselseitigen Erhellung der Funktionen des Geldes in Gryphius’ Komödie einerseits und deren zeitgenössischem Kontext andererseits.
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nung hat. Verständlich wird Cyrillas Mißtrauen erst von ihren eigenen Betrugsabsichten her: Sie möchte, was Geschäft ist, als Liebe ausgeben und betrügt zudem ihre Kunden, Sempronius und Daradiridatumtarides.42 Coelestinas Liebe hingegen ist ebenso substantiell wie ihr Geld. „Abgewogen Gold“ bedeutet, daß der nominale Wert dem ‚inneren‘, auf den Materialwert des Metalls gegründeten, entspricht.43 In Coelestinas Liebe zu Palladius hat diese Orientierung am inneren Wert ihre genaue Entsprechung: „ich liebe nicht seinen Stand / sein Gut / sein Geschlecht / sondern nur ihn allein! [...] Jch liebe diß an Palladio, was ihm keine Zeit / keines Fürsten Ungenade / keine Kranckheit / kein Zufall nehmen kan / nemlich seine Tugend.“ (S. 81f.) Das Gold bildet gleichsam die Tugend des Geldes: jenen Wertkern, der selbst durch Umprägungen, wie sie gang und gäbe waren und topisch beklagt wurden,44 nicht beschädigt wird. Und dieser Wert einer Münze läßt sich prüfen – das verbindet das Geld mit der Tugend einer Sophia. Bei deren Prüfung kann Cleander daher zu dem Schluß kommen, daß ihre Keuschheit alle Anfechtungen „wie ein lauteres Gold“ bestanden habe (S. 112). Auf den Wesensgehalt, von Geld und Gut wie der Liebe, kommt es demnach an. Zumindest was die ethisch-erotische Seite angeht, kann das nicht überraschen. Bemerkenswert ist jedoch das vom glücklichen Handlungsverlauf des Scherzspiels approbierte Vertrauen, den – stabilen – Referenten einer tugendhaften Haltung oder eines materiellen Wertversprechens erkennen zu können, also den beweglichen Schein, der beides nur sein könnte, zu durchstoßen. Welches religiös abgesicherte Welt- und Erkenntnismodell ihm zugrunde liegt, wird das nachfolgende Unterkapitel darlegen. Dramaturgisch sind es vor allem einige von den Figuren getauschte Requisiten, die Schein und Sein als unterscheidbar ausweisen. Als Geschenke sollen sie Liebe beweisen, doch indem sie sich als falsch herausstellen, decken sie das nur materielle Interesse auf, das der Geber am anderen hat. Am deutlichsten wird dieser Mechanismus an der „güldnen Kette“, die Daradiridatumtarides mit seiner „Göttin“ verbinden soll, sowie dem „Demant“, den Selene „als ein Zeichen meines standhafftigen Gemüths und reinen Herzens“ widerschenkt (S. 53f.). Die Geschenke sind sinnreich ausgewählt: die Kette vom reinsten und edelsten Metall als Zeichen der Verbundenheit, der ebenso harte wie klare Diamant als zeitgenössisch geläufige Pictura der Constantia. Der Zuschauer freilich weiß bereits bzw. bekommt im Laufe der Szene bestätigt, daß diese 42 Weiteres dazu bei Kaiser: ebd., S. 235. 43 Inwiefern die frühneuzeitlichen deutschen Münzverhältnisse eine Kontrolle des Wert-
versprechens einer Münze durch deren Nachwiegen erzwangen, erläutert Kap. 3.4, Abschnitt a. 44 Vgl. Friedtlieb: Prudentia politica christiana, S. 156; Seckendorff: Teutscher FürstenStaat, S. 223 (II, 8, § 9).
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Kostbarkeiten nicht echt sind, da weder Braut noch Bräutigam über die erforderlichen Mittel verfügen. Derartig allegorische Requisiten gibt es viele im Horribilicribrifax, häufig in kontrastiven Konstellationen, die sie leichter lesbar machen:45 Prächtig, aber geborgt sind die Kleider Selenens und Cyrillas, als diese sich zur Übertölpelung des Schulmeisters aufmacht (vgl. S. 18 u. 101). Die einzige Zierde der tugendhaften Sophia ist dagegen ihr eigenes Haar mit „Thränen der Keuschesten“ darin (S. 77), während Selene sich mit – geliehenen – „Perlen und Geschmeide“ schmückt (S. 18). ‚Echt‘ ist hinwieder das Geschmeide, das Coelestina und Palladius tauschen (vgl. S. 87f.). Wie alles Irdische unterliegt solches Repräsentationsgut – denn um nach außen gewendeten Besitz handelt es sich – grundsätzlich dem Vanitas-Verdikt, das, in den hebräischen Urtext verschlüsselt, auch wirklich ausgesprochen wird (vgl. S. 73: „col hefel hefalim“ = Koh/Prediger Salomo 1,2). Dementsprechend versäumt der vorbildliche Liebesdiskurs es nicht, den Ausblick auf die göttliche „Vollkommenheit der Liebe“ im Jenseits zu eröffnen (S. 100). Trotzdem helfen Besitztümer der angeführten Art wesentlich bei der Orientierung auf dieses Endziel hin, weil sie, richtig gelesen, Aufschluß über das (moralische) Wesen ihrer Träger geben.46 Die transzendente Rückbindung des rechten ‚Stands‘, der sich am Ende der Komödie ergeben hat, läßt auch dessen materieller Fassade eine Funktion.47 Der materielle Wert solcher Requisiten wird in deren Verweisfunktion allerdings transzendiert. Die allegorische Weltvernetzung funktioniert ‚vertikal‘. Gegeneinander verhalten jene Requisiten sich nach den Prinzipien von Parallele oder Kontrast, sie stehen aber nicht in einem – gewissermaßen horizontalen – Austausch. Zu einem Handel mit den Repräsentationen von Sein oder Schein, Kleidern oder Schmuck, kommt es nicht, obwohl mit Cyrilla und dem Juden zwei dafür prädestinierte Figuren beteiligt sind; und da, wo er nicht mehr abzuwenden scheint – als Sophia nur noch durch den Verkauf ihres Kopfhaars überleben zu können meint –, schlägt er augenblicklich um in 45 Schiewek: Ein altes Scherzspiel, S. 96 spricht von „emblematischen Requisiten“. Da
Perlen, Ringe oder Diamanten jedoch nicht Abbilder (picturae) von Wirklichkeit, sondern deren Bestandteile sind und sie nicht erst in concettistisch verrätselter Kombination ihre Bedeutung entfalten, ziehe ich den weniger spezifischen Begriff der Allegorie vor. 46 Vgl. Schlienger: Das Komische, S. 203f. 47 Von hier aus ergeben sich erneut Parallelen zur philosophischen Adelstheorie, die dem weltlichen Gut ebenfalls eine instrumentelle Funktion für die Bewährung der virtus zumessen: Adel beruht nicht auf materiellem Besitz, braucht ihn aber, um seine Tugenden in Taten überführen zu können (vgl. Bleek, Garber: Nobilitas, S. 65 Anm. 52; Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 407 Anm. 97; Mauser: Dichtung, S. 271 Anm. 729).
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Interesse an der Person (S. 79: „Cleander. Was treibet euch solchen Handel zu führen?“). Selbst die Funktion des Spitzenverkaufs an Coelestina erschöpft sich darin, auf einerseits die Kuppelabsicht der Cyrilla, andererseits Coelestinas unbeirrbare Liebe zu Palladius zu verweisen (vgl. S. 42). Vollends negativ besetzt ist ‚Handel‘, wo die falsche, weil das Wesen der Liebe verfehlende Eheanbahnung als Geschäft mit „Jungfern Fleisch“ erscheint (S. 19).48 Von vornherein im üblen Licht des betrügerischen Scheins steht das Borgen – mit dem Bassanio seine erfolgreiche Liebeswerbung ganz legitimerweise begann. Am bezeichnendsten aber ist die Funktion, die dem Geld zugewiesen wird: Von Interesse ist allein seine – stets gefährdete – Beständigkeit, nicht seine Zirkulation, derentwegen es als Vermittler von allem mit allem gilt.49 Das Geld im Horribilicribrifax kuppelt noch keineswegs;50 als Instrument und Zweck der Kuppelei macht es sich vielmehr verdächtig. Wer es tatsächlich gebraucht – d. i. vor allem Cleander –, tut dies in einer seiner ‚Tugend‘ und sozialen Stellung angemessenen Weise, zu caritativen oder Repräsentationszwecken nämlich, welche die damit verbundenen Geld-Waren-Zirkulationen in den Hintergrund treten lassen (vgl. S. 76, 79). „Zum beherrschenden Faktor“, wie Jolanda Lötscher schreibt,51 ist das Geld lediglich in der Einbildung jener geworden, die nicht zwischen Sein und Schein zu unterscheiden wissen.52 Von den Eindrücken des sechsjährigen Studienaufenthalts in den Niederlanden, so ließe sich zuspitzend formulieren, ist vor allem die Universität Leiden mit der Constantia-Lehre des Justus Lipsius geblieben,53 nicht aber die Handelsstadt Amsterdam mit ihrer finanztechnisch innovativen, ein immaterielles Geldverständnis vorbereitenden Wisselbank. Geld gilt in Gryphius’ Komödie als Schein; erst das Gold, aus dem es geschlagen wird, gibt Auskunft über seinen wahren Wert, weswegen das Gold, vor allem als Metapher moralischer Werte, im Dramentext viel häufiger ist. Wer nach Geld strebt, droht die wahren Werte selbst auf einem ganz materiellen Gebiet wie der Ernährung zu übersehen; deshalb hat die Frau eines reichen Wucherers Hunger zu leiden (vgl. S. 20). Wirtschaftshistorisch weist dieser Bezug auf einen ‚inneren‘ Wert auf „überwiegend noch auf den Gebrauchswert orientierte Produktionsverhältnisse mit ihrem relativ gering und
48 Vgl. Gerhard Kaiser: Horribilicribrifax Teutsch. Wehlende Liebhaber. – In: Die Dra-
men des Andreas Gryphius, S. 226–255, hier S. 233. 49 So fast gleichzeitig (1651) bei Hobbes: Leviathan, S. 194 (24. Kap.). Molière und 50 51 52 53
Weise führen das später mit komischem Effekt vor. So aber Schiewek: Ein altes Scherzspiel, S. 90. Lötscher: Horribilicribrifax, S. 140. Vgl. S. 90: „Darad. Jch darff nöthig Geld. Cyrilla. Das sagt die gantze Welt.“ Vgl. Kiedron: Gryphius und die Niederlande, S. 182.
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vor allem sehr ungleichmäßig entwickelten Tauschgeflecht“;54 darüber hinaus aber ist er Ausdruck und Folge der transzendenten Verankerung der gesamten gesellschaftlichen Ordnung. Daß realiter auch der Wert des Goldes erst marktförmig ermittelt werden muß, hat in diesem Konzept keinen Platz. Die allegorischen Requisiten – die verschiedenen Ringe und Ketten, selbst die Haarlocken der Sophia – sind mehrheitlich rund. Vor dem Hintergrund der stabilitätsorientierten Zeichen- und Wertordnung des Horribilicribrifax ist dies nicht als Zirkulationsindiz zu lesen, sondern versinnbildlicht den Anspruch auf Vollkommenheit und Geschlossenheit, den das Schlußtableau der Komödie erhebt. Nennenswert bewegt wird lediglich der falsche Diamantring, mit dem Selene dem Bräutigam „ein Zeichen meines standhafftigen Gemüths und reinen Hertzens“ zu geben vorgibt (S. 54). Bezeichnenderweise ist er wertlos,55 was der Nichtigkeit ihrer Worte wie ihrer Liebe aber nur entspricht. Die Konstellation unterstreicht noch einmal die semiotische Prämisse des Horribilicribrifax, daß materielle, erotisch-moralische und auch sprachliche Zeichen sich analogisch widerlegen bzw. beglaubigen. Was der falsche Ring auf seinem Weg bewirkt, bleibt Täuschung: Von Cyrilla als Pfand eines – erst später und faktisch nie – zu zahlenden Darlehens angenommen, wird er von der Kupplerin als ein Liebeszeichen Coelestinens ausgegeben, mit dem diese den Schulmeister zu einem Schäferstündchen einlade, bei welchem Rendezvous Sempronius sich schließlich in den Armen der Alten wiederfindet (vgl. S. 91, 93, 97). Diesem fortgesetzten Verstoß gegen die Normen des Stücks entsprechend, führt die Bewegung des Rings noch weiter nach unten als der soziale Abstieg jener Figur, von der er stammt. Diese Abwertung von ‚Bewegung‘ entspricht der erläuterten Geringschätzung der Tauschmittelfunktion des Geldes zugunsten von dessen statisch gedachtem Materialwert. Unterstrichen wird diese doppelt statische Option durch die syntagmatische Struktur der Komödie.56 Die Kontinuität der Handlung ist gering und durch häufigen Schauplatz- und Personenwechsel geprägt. 54 Schiewek: Ein altes Scherzspiel, S. 192. 55 Wie der Zuschauer voraussetzen muß, da die verarmte Selene sich nur noch mit Er-
borgtem schmücken kann (vgl. S. 18). 56 In der Forschung scheinen die Befunde zur Tektonik weit auseinander zu gehen. Wäh-
rend Kaiser einen „strengen Bauplan“ ausmacht, welcher der „scheinbar kunstloswillkürlichen Fügung der Szenen“ zugrunde liege, betont Schiewek das Fehlen einer „schlüssigen Handlung mit kausalen Verknüpfungen in linear voranschreitender innerer Entwicklung“, was Spahr noch verschärft: „Gryphius’ plot is ragged, consisting often of disconnected and ill-planned, badly motivated scenes in a helter-skelter distribution“ (Gerhard Kaiser: Horribilicribrifax Teutsch. Wehlende Liebhaber. – In: Die Dramen des Andreas Gryphius, S. 226–255, hier S. 241; Schiewek: Ein altes Scherzspiel, S. 82; Spahr: Gryphius, S. 117). Bedenkt man indessen, daß ein strenger Bau nicht notwendig pragmatische Konsequenz bedeutet, so ergänzen zumindest die Befunde von Kaiser und Schiewek sich mehr, als daß sie sich widersprächen.
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Selbst wenn man einzelne Handlungsstränge herauszupräparieren sich bemüht – fünf werden üblicherweise gezählt –,57 stellt sich nirgends der Eindruck ein, eins gehe aus dem anderen hervor nach Maßgabe einer pragmatischen Logik. Vielmehr wären Szenenumstellungen in gewissem Umfange möglich. Ebensowenig gibt es eine Zentralfigur, deren Schicksal vor allem verfolgt würde und deren Beziehungen zu den anderen Figuren diese hinordnen würde auf einen Haupthandlungsstrang, wie dies in der satirischen Verlachkomödie von Plautus bis zur frühen Aufklärung der Fall ist. Gerade die Titelfigur hat kaum Einfluß auf den Gang der Handlung(en). Bauprinzipien sind vielmehr „Parallele und Kontrast“.58 Die einzelne Szene bezieht sich auf frühere und folgende, indem sie dasselbe Grundmotiv – die Bewährung von Tugend gegen die Irrtümer des Scheins – sowie einige wiederkehrende Motive oder Requisitallegorien aufnimmt und auf eine Weise gestaltet, welche die beteiligten Figuren abhebt vom Verhalten der anderen: Der Zuschauer sieht ein Kaleidoskop von Problemsituationen; nicht deren Zustandekommen interessiert, sondern die damit verbundene jeweilige Gedankenkonstellation. Der Ablauf der Ereignisse erscheint nur insofern wichtig, als sich dadurch etwas zeigen läßt. Das Geschehen schiebt sich blockhaft voran von Stufe zu Stufe, seine Einheit liegt im Ideellen, in der thematischen Verklammerung der einzelnen Stationen. Es ist Lehrtheater, nicht unbedingt „episches“ Theater im neueren Sinne, aber in jedem Falle ein „argumentierendes“, um mit Brecht zu sprechen.59
Die Ordnung der Gryphschen Komödie ist primär sinnhaft – nicht anders als die Ständeordnung innerhalb des Stücks –, nicht pragmatisch. Darin steht sie „der metaphysischen Tragödie des Barock“60 näher als ihrem Molièreschen Gattungsnachbarn oder ihren Gattungsnachfahren von Weise bis Lessing. Und sie zeigt eine – gemessen daran, daß es sich um die Verlaufsdimension handelt – erstaunliche Statik. Das betrifft nicht allein den sozialkonservierenden Schluß mit acht Heiraten, sondern bereits die Ausgangslage des Horribilicribrifax. Zwar steigen oder fallen die meisten Figuren im Verlauf des Stücks, doch ist selbst diese Bewegung von Anfang an festgeschrieben: Mit ihren sprechenden Namen nehmen die Dramatis personae die Schlußordnung bereits nahezu vorweg. Palladius ist nach Ausweis seines Namens von Anfang an dem Hof zugeordnet, obwohl er erst im dritten Akt zum Mar57 Vgl. Kaiser: ebd., S. 241. 58 Kaiser: ebd.; vgl. schon Emmerling: Untersuchungen, S. 99–101. 59 Schiewek: ebd. (ähnlich schon Neuß: Strukturprobleme, S. 32). Nicht abwegig scheint
mir die zu Brecht gezogene Linie, wenn man ‚argumentierende Belehrung‘ als Argumentation von einem selbstgewissen, seinerseits nicht zur Disposition gestellten Standpunkt aus versteht. 60 Gerhard Kaiser: Verlibtes Gespenste – Die gelibte Dornrose. – In: Die Dramen des Andreas Gryphius, S. 256–281, hier S. 266.
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schall erhoben wird;61 Selene, die – nach dem Attribut der Mondgöttin – Unbeständige, Coelestina, die Himmlische, Sophia, die Weisheit, Eudoxia, der Ruhm, die Ehre, das Ansehen, oder Bonosus, der an guten Eigenschaften oder/und Gütern Reiche: alle diese Namen kündigen ebenso den ‚wahren‘ und schlußendlichen Stand ihrer Träger an, wie die vollständigen Titel der beiden Offiziere auf die Nichtigkeit des Anspruchs aufmerksam machen, den ihre Hauptnamen großsprecherisch erheben.62 Statik und Vorhersagbarkeit sind die Kehrseite der feinen Kalkulation, welche die Figuren auf die Bühne bringt, auf daß aus ihren Relationen eine Ordnung sichtbar werde. Beides steht in deutlichem Kontrast zum kreditgestützten Wageprinzip, das Bassanio zum Erfolg führt, auch wenn Shakespeares Komödie ebenfalls in die Harmonie dreier Hochzeiten mündet (die zwei Hauptfiguren außen vor lassen), und es liegt nahe, darin eine Parallele zur wirtschaftshistorischen Entwicklungsdifferenz zwischen dem expandierenden Seehandelsreich England und dem schwer kriegsgeschädigten Deutschland zu sehen (vgl. oben S. 77), ähnlich den ökonomisch signifikanten Abweichungen zwischen Shakespeares Kaufmannsstück und dessen fürstenzentrierter Bearbeitung durch Blümel. In den merkantilistischen Wirtschaftslehren beider Länder läßt sich jedenfalls eine parallele Differenz beobachten: Während die englische Wirtschaftstheorie vor allem eine Begünstigung des Außenhandels durch Ausweitung der Geldmenge forderte, sahen die deutschen Kameralisten in der inländischen Produktionssteigerung durch Bevölkerungsvermehrung die ökonomisch entscheidende Aufgabe der Zeit.63 ‚Peuplierung‘ bildete nach den Entvölkerungen des Dreißigjährigen Kriegs regelmäßig den ersten und wichtigsten Ansatzpunkt staatlicher Wirtschaftsförderung.64 Der kameralistische Akzent auf der Vermehrung der wirtschaftlich Tätigen band den Gedanken ökonomischer Steigerung zurück an ein reales Substrat: den einzelnen Bauern, Handwerker usw. Insofern war Wachstum lediglich quantitativ, nicht qualitativ denkbar.65 Die Relation zwischen Produzen61 Vgl. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 408. Der höfische Bezug stellt
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sich über den Anklang an ‚Paladin‘, einen im 17. Jahrhundert aus dem Französischen übernommenen Hofritter, sowie an ‚Palatin‘ = Pfalzgraf her (vgl. DWb 7, Sp. 1409 u. 1411). Aber auch die eigentliche Bedeutung von Palladius = ‚der Pallas Athene zugehörig‘ ist signifikant, läßt sie sich doch als Verweis auf gelehrte Bildung lesen. Horribilicribrifax: „auf Wüsthausen“; Daradiridatumtarides: „Erbherr / in und zu Windloch“ (S. 5 u. 11). Vgl. Klein: Die englischen Wirtschaftstheoretiker des 17. Jahrhunderts, S. 20; Spann: Die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre, S. 16. Vgl. Becher: Politische Diskurs, S. 2; Henning: Handbuch Bd. 1, S. 757. Einer Produktivitätssteigerung setzte der geringe technische Verbesserungsspielraum enge Grenzen; vgl. Henning: ebd., S. 765f.
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ten und Produziertem ist hier ebenso statisch gedacht wie jene zwischen Geld- und Metallwert oder Tugendhaftigkeit und Lohn in Gryphius’ Drama. Eine dynamische Geldauffassung, derzufolge Bewegung zu Wachstum führt („so roulliret das geld im lande und vermehret sich täglich“), kennt das Musterbuch deutscher Territorialstaatlichkeit, der Teutsche Fürsten-Staat Veit Ludwig von Seckendorffs, erst in der Neubearbeitung von 1720.66 Die christlich-korporatistische Staatslehre eines Christian Friedtlieb (1614) erörterte das Geldwesen hingegen noch ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Wertstabilität. Als entscheidend galt dabei die Einhaltung der von den Reichsständen vereinbarten Münzordnung, die Gewicht und Feingehalt der Münzen festsetzte; zu bekämpfen sei ihre „erbärmliche hochschädliche vnordnung vnd verfälschung“.67 Der in der Politica prudentia christiana dokumentierten Geldauffassung fehlt es demnach schon an der konzeptionellen Voraussetzung – dem Bewegungsgedanken68 –, die sie mit der statischen Ständeordnung kollidieren lassen könnte. Vielmehr fügt sie sich in die Ständeordnung ein, ja sucht dem Geldwesen einen spezifisch ständischen Stempel aufzudrücken. Selbst dort, wo die traditionelle Ständetrias verabschiedet und ökonomische Aspekte als modellbildend angesetzt wurden – so bei Becher, der Bauern-, Handwerks- und Kaufmanns-Stand unterscheidet –, bleibt das Prinzip ständischer Gliederung in Kraft69 – homolog mit der Neuordnung der sozialen Hierarchie nach moralischer Qualifikation, die Gryphius’ Komödie vornimmt. Daß zu den Maßnahmen der kameralistischen Peuplierungspolitik auch Eheerleichterungen zählten,70 während der Horribilicribrifax gattungsgerecht aufs Heiraten zielt, mag als zufällige Koinzidenz zu verbuchen sein, doch darf man zumindest aus der Vielzahl jener Heiraten einen Hinweis auf weltbildliche Gemeinsamkeiten lesen: nämlich die Tendenz zum ebenso real wie statisch gedachten Träger, sei es ökonomischer Tätigkeit, sei es tugendhafter Bewährung. 66 Vgl. Seckendorff: Teutscher Fürstenstaat, S. 228 (II,8, §9). 67 Vgl. Friedtlieb: Prudentia politica christiana, S. 154f.; das Zitat S. 155. Manche
Formulierungen wie das Zitat aus einem Reichsabschied „confirmirt, befestiget / vnd steiff vnd fest darob zu halten“ (ebd., S. 158) legen es nahe, nicht nur von einer Stabilitätsoption, sondern einer -obsession zu sprechen. 68 Grammatisch sind zweierlei ‚Bewegungen des Geldes‘ zu unterscheiden: seine eigene (z. B. nach dem Modell des 1624 entdeckten Blutkreislaufs; vgl. dazu unten S. 239f.) und die, die es erregt (Stichwort ‚nervus rerum‘). Letzteres bildet einen Topos seit der Antike, erstere rückt erst im Laufe des 17. Jahrhunderts in den Vordergrund. 69 Vgl. Becher: Politische Diskurs, S. 4–11. Die drei genannten Stände gelten Becher als die eigentlich produktiven; Obrigkeit, Geistliche, Gelehrte, Soldaten usw. sind ihnen hingegen als dienende zugeordnet. Auch hier, wo ökonomische Ordnungsgesichtspunkte die religiös-traditionellen abgelöst haben, bleibt die Ordnung jedoch statisch: „diese drey Ständ soll man nicht untereinander mischen“ (S. 11). 70 Vgl. Gömmel: Merkantilismus, S. 57.
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2.4.3 Theatrum mundi vs. merkantile Inszenierungen Der Horribilicribrifax gilt nicht allein als bedeutendste deutsche Komödie des 17. Jahrhunderts; er erfüllt auch, indem er sich aus Wertfragen, Listen, Verkleidungen sowie Handelssituationen aufbaut und seine Handlungsstruktur zugleich seine Auffassung von Geld und Ökonomie zum Ausdruck bringt, geradezu idealtypisch das eingangs vorgeschlagene Gattungsmodell (vgl. Kap. 1.2). Trotzdem tritt Gryphius’ Stück der Geldsphäre zutiefst mißtrauisch gegenüber. Es bringt eine prinzipielle Kritik am ‚Markt‘ zum Ausdruck – wenngleich nicht so konsequent, daß es eine Welt ganz ohne merkantile Mechanismen der Wertbildung zu präsentieren vermöchte. Wie im folgenden zu zeigen ist, legt selbst der Statthalter Cleander, die Figur an der Spitze der sozialen und moralischen Hierarchie, im entscheidenden Augenblick merkantiles Verhalten an den Tag. Einen sozial geachteten, moralisch untadeligen Kaufmann kennt das breite Figurenspektrum des Horribilicribrifax nicht; Händlerfiguren sind vielmehr ein jüdischer Pfandleiher sowie eine alte Kupplerin. Doch ist nicht nur sie bereit, die Liebe als Geschäft zu betreiben: Selene und Daradiridatumtarides vermuten beide im anderen eine reiche Partie und wissen, daß sie ihrerseits nur dann begehrenswert sind, wenn es ihnen gelingt, sich als vermögend auszugeben. Die Folge ist Schauspielerei als verdecktes Spiel im Spiel. Obwohl Selene nicht mehr als „zwey gantze Hembden“ besitzt, putzt sie sich – mit geliehenen „Kleidern / Perlen und Geschmeide“ – aufwendig heraus (S. 18). Während sie also ein ‚Kostüm‘ wählt, das zu der Rolle, die sie spielen möchte, paßt, bedient Daradiridatumtarides sich signifikanter ‚Requisiten‘, wenn er den Eindruck zu erwecken sucht, er könne mit Geld geradezu um sich werfen: „Selen. Nechst / als er uns in den Garten tractiret / war ja der gantze Tisch mit Gold und Silber besetzet. Er streuete Ducaten aus / als wärens Stroh-Thaler: Die Diamantene Hutschnur und das Gehencke sind allein ein zehn oder zwölfftausend Reichsthaler werth.“ (S. 21) Zumindest den jeweils anderen vermögen diese ‚Verkleidungen‘ tatsächlich zu überzeugen. Der Tausch, auf den die täuschende Inszenierung zielt, besteht zunächst aus den wechselseitigen Heiratsversprechen, die mit der Geste eines Marktgeschäfts gegeben werden: „Selen. Ja / mein Herr Capitain, mit diesem Handschlag versprech ich mich auff ewig die Seine zu seyn“ (S. 53). Getauscht werden zudem Geschenke, die aber, wie der Zuschauer weiß, wertlos sind. Was materieller Beweis sein soll, dient in Wahrheit der Täuschung; das Gabeprinzip konterkarierend, erstreben Selene wie Daradiridatumtarides einen Gewinn ohne angemessenen Einsatz. Wohl ist das Ergebnis nicht nur Täuschung, denn zu einem Tausch kommt es tatsächlich. Der aber nützt niemandem. Verallgemeinert scheint die Diagnose des Stücks zu lauten, daß zum merkantilen Tausch
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immer eine Betrugsabsicht gehört und daß er ebendeshalb nur zu Enttäuschungen führt. Am Beginn des Dramas ebenso arm wie Selene, vermag sich die zweite „Adeliche Jungfrau“ (S. 13) dagegen von allen (Ent-)Täuschungen, letztlich gar von der Tauschsphäre zu befreien. Sophias Lage ist ebenso schlecht wie Selenes, doch legt sie ein gegenteiliges Verhalten an den Tag. „Wir haben nichts / als uns selbst zu versetzen oder zu verkauffen“ (S. 23), sieht auch sie sich zu Handel und Tausch gezwungen. Was sie anzubieten hat, erzielt allerdings einen geringen Preis: „deine Tugenden sind an diesem Orte ungangbare Müntze“, rechnet die Mutter ihr vor (S. 22). Zu den Listen und Verstellungen zu greifen, die üblicherweise zwischen Käufern und Verkäufern statthaben, ist Sophia jedoch nicht bereit. Im Streit mit der Mutter, die in den Bahnen der gängigen Vortäuschungspraktiken denkt, wird das rasch deutlich: Sophia. Wohlan / ich habe noch etwas / daß ich ausser meiner Ehre wagen kan. Flaccilla. Du hast vielleicht einen verborgenen Schatz gefunden / und komst mir für / wie die Goldmacher / die in höchster Armuth von viel Tonnen Goldes zu reden wissen. Sophia. Der Schatz ist offenbahr / ob er wohl nicht viel werth. Schneidet mir diese Haar von dem Haupt / und verkauffet sie irgens einer Hoff Damen. Flaccilla. Der Gewinn von dieser Kauffmanschafft wird so groß nicht seyn. Sophia. Geringe Handelsleuthe müssen nicht gar zu grossen Gewinn hoffen. (S. 23)
Daß Sophia ausgerechnet ihr Haar zum Verkauf anbietet, ist von hohem Zeichenwert: Im Unterschied zu Daradiridatumtarides’ und Selenes Geschenken ist dieses Gut tatsächlich „offenbahr“. Anders als Dukaten, Kette oder Diamant läßt sich der Schatz des eigenen Haares nicht leihen oder durch falsches ersetzen; als Teil ihrer selbst weist er zudem auf Sophias Willen zur Aufrichtigkeit. Allein das Wahre akzeptiert sie als Ware; so zu handeln, wie Garzonis Piazza vniversale es als handelstypisch beschreibt und Gryphius’ Kontrastpaar es praktiziert, nämlich Werte bloß listig vorzugauckeln, ist ihr fremd, wie bereits ihr schäbiges und geflicktes Kleid demonstriert (vgl. S. 22). Aufrichtigkeit und Wahrheit aber passen nicht zum Prinzip des Marktes, der, zeitüblicher Kritik zufolge, von Verstellungen beherrscht wird und, grundsätzlicher noch, Person und Moralität der Handelspartner nicht achtet bei der Wertfestlegung einer Ware.71 Daß es trotz dieser Ausgangslage zu einem guten Ende kommt, liegt wesentlich an Cleander, dem Flaccilla das Haar als erstem anbietet. Einen Kauf lehnt der Statthalter ab; dem zur Ware herabgesunkenen Haar begegnet 71 Als Geschäftspartner begegnen sich die Menschen im Grunde anonym, so daß indivi-
duelle Tugend keine Rolle spielt. Konsequenterweise ist es nicht Sophia in eigener Person, sondern ihre Mutter, die das Haar wenig später zu Markte trägt (vgl. S. 77).
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er mit einem Mißtrauen, das im Wertsystem des Stückes nur zu berechtigt ist. Wie sein hartnäckiges Fragen nach dem Namen der einstigen Besitzerin zeigt (vgl. S. 78f.), weiß er, daß die Person das Entscheidende ist. Die Szene bringt damit eine prinzipielle Kritik am Markt und an den auf ihm gehandelten Werten zum Ausdruck: Sophias Haar ist, in Flaccillas Worten, „keinem Golde der Welt gleich zu schätzen“, d. h. wertvoller als das kostbarste Münzmetall. Der „Marckt der Welt“72 vermag das aber weder zu erfassen noch zu vermitteln, wie die Mutter gleich anschließend beklagt: „und doch geringer geachtet [...] / als Staub / von denen / die ihres grossen Reichthums sich zu eigenem Verderb mißbrauchen.“ (S. 77) Als Cleander jedoch den Namen der angesehenen Familie erfährt, der Sophia entstammt, legt er sofort jedes merkantile Verhalten ab. Statt zu feilschen, gibt er zunächst ein großzügiges Geschenk. Für alles weitere bedarf es noch einer Prüfung: Ein Diener soll Sophias Keuschheit durch verführerische Geldangebote auf die Probe stellen und, wenn das nicht verfängt, sie mit Gewalt zu Cleander führen (vgl. S. 80). Die entscheidende Szene ist dann als Neuauflage der Lucretia-Geschichte gestaltet: Der Statthalter bedrängt Sophia so sehr, daß sie zu einem Messer greift, um sich zu erdolchen (vgl. S. 112). Der Tod aber setzt dem weltimmanent-merkantile Denken eine Grenze. Da Sophia bereit ist, sie zu überschreiten, unterliegen die Werte, die sie beschwört, offensichtlich nicht den Konjunkturen des Marktes, sondern sind im Jenseits verankert. Zugleich erwiesen ist die Übereinstimmung zwischen ihren Reden und ihrem Sein. Cleander wiederum macht wahr, was über den Wert des Haares gesagt wurde, oder genauer: er läßt dessen ‚inneren‘ Wert sichtbar hervortreten, wenn er „Kleider / Perlen und Demante“ bringen läßt, „um meine Schöneste also außzukleiden / wie ihre Tugend“ es erfordert (S. 112f.). Ganz entgegen der Ausgangslage sowohl bei Sophia als auch bei Selene stimmen innerer Wert, materieller Besitz und äußerer Schein in diesem
72 Vgl. Gryphius: Gesamtausgabe Bd. 1, S. 196 (Sonette, 3. Buch, XVII., Vv. 1f.): „Er
Höchste rufft vns von dem Marckt der Welt / [/] In den Weinberg / den sein Sohn mit Schweiß und Blutt genetzet [...].“ Zu einem umfangreichen allegorischen Schauspiel hat Calderón die Metapher vom Markt der Welt ausgestaltet. In seinem ca. 1636–38 entstandenen Auto sacramental (Fronleichnamsspiel) El gran mercado del mundo verkaufen Tugenden und Laster ihre Waren auf dem Markt, den zu besuchen das irdische Leben des Menschen ausmacht. In ihrem Nebeneinander liegt die Gefahr des Marktes für den Menschen, dessen Aufgabe wiederum es ist, zwischen Tugenden und Lastern zu unterscheiden, weil der Markt selbst das nicht leistet. Irgendeine welt- oder menschenbildliche Dynamik geht mit Calderóns Marktallegorie nicht einher, denn die beiden exemplarischen Marktbesucher verhalten sich genauso, wie ihre Namen – buen genio und mal genio – es vorgeben. Als ausführliche Besprechung dieser Gestaltung des Marktmotivs vgl. die Einleitung von Ana Suárez zur kritischen Ausgabe, S. 17–45.
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Schlußtableau präzise überein. Das aber verdankt sich nicht einer Aufhebung ihrer Polarität, wie es dem modernen, relativistischen Geldbegriff Georg Simmels entspräche, sondern dem Eingreifen einer Figur, die Züge des göttlichen Lenkers und Retters trägt. Der Horribilicribrifax endet mit einer Art himmlischen Gerichts, denn während weltliche Gerichte nur zu strafen haben, teilt der Statthalter – wessen Statthalter?, darf man hier über die Angabe des Stücks („unsers gnädigsten Fürsten“, S. 57) hinaus fragen – Strafen und Belohnungen aus. „Verlasset euch auff mich!“, sind seine Worte (S. 79), die die Wende des Stückes einleiten73 und als bestätigende Antwort auf Sophias christliche Zuversicht – „GOtt sorget dennoch für uns / und hat mehr als ein Mittel / die Seinigen zu erhalten“ (S. 22) – zu verstehen sind. Insofern inszeniert Gryphius’ Komödie einen eindeutigen Sieg der Transzendenz über Markt, Mammon und Mummerei. An dieser Stelle liegt ein grundsätzlicher Einwand nahe: Widerspricht ein solcher Befund nicht dem in der jüngsten Barockforschung diskutierten Verlust letzter Gewißheiten bzw. der – wie argumentiert wird – Unmöglichkeit, diese darzustellen? In diesem Sinne versucht eine Reihe von Beiträgen nachzuweisen, daß Gryphius’ Dramen nicht mehr von einem christlichen Weltbild getragen werden.74 Quasi eine epistemologiekritische Basis für diese Thesen legt Waltraut Wiethölter mit ihrer Untersuchung zu den im 17. Jahrhundert explodierenden Schwierigkeiten einer allegorischen Lektüre und Erkenntnis der Welt.75 Wie aber sollte Gryphius eine Lösung der Konflikte, die seine Dramen gestalten, plausibilisieren, wenn „die Entzifferung der heilsgeschichtlich bedeutsamen Zeichen Gottes“ nicht mehr funktionierte,76 wenn die Ordnung der Welt nicht mehr durchschaubar war? 73 Nicht ursächlich, aber zeitlich folgend gelingt die Wende auch in den bisher unseligen
Beziehungen zwischen Palladius und Coelestina (vgl. S. 82f.) sowie zwischen Horribilicribrifax und Daradiridatumtarides (vgl. S. 106f.). 74 Rüdiger Scholz: Dialektik, Parteilichkeit und Tragik, S. 225, 237 liest den Carolus Stuardus dahin, daß „keine hierarchische Auflösung“ des vorgeführten Konfliktes erfolge (Karl also nicht als Märtyrer und Christus-Nachfolger über die Rebellen moralisch triumphiere) und „sich christliche Argumentationen nur noch als wahnhafte Projektionen von Figuren [finden], die die christliche Bild- und Geschichtenwelt für egoistische, politische Ziele oder für ihre stilisierten Selbsttötungen mißbrauchen.“ Durch den „Verlust heilsgeschichtlicher Evidenz im Raum der politischen Realität“ sieht auch Lothar Bornscheuer die Gryphschen Trauerspiele ausgezeichnet; mit von der herkömmlichen Heilsgeschichte gelöster Historiographie einerseits und einer martyrologischen ‚oratio religiosa‘ andererseits entfalteten sie ein „Vexierspiel“, das sich weder auf die Synthese beider Diskurse noch auf deren kontradiktorische Opponierung festlegen lasse (Diskurs-Synkretismus im Zerfall der Politischen Theologie, S. 525). 75 Vgl. Wiethölter: „Schwartz und Weiß auß einer Feder“ oder Allegorische Lektüren im 17. Jahrhundert. Wiethölter bezieht ihre These auch auf Gryphius’ Komödien, wenngleich sie den Horribilicribrifax ausspart (vgl. S. 561–565). 76 Ebd., S. 548.
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Was hier zur Debatte steht, sind nicht weniger als die Episteme der barokken Weltdarstellung und die spezifische Theatralität von Gryphius’ Komödie. Michel Foucault zufolge „hört das Denken“ zu Beginn des 17. Jahrhunderts „auf, sich in dem Element der Ähnlichkeit zu bewegen. Die Ähnlichkeit ist nicht mehr die Form des Wissens, sondern die Gelegenheit des Irrtums“.77 Die Welt werde nun nicht mehr als ein Kosmos von Zeichen verstanden, die qua Analogie aufeinander sowie auf den göttlichen Grund aller Phänomene verweisen. Repräsentation werde vielmehr zum arbiträren Akt, und Bedeutung ergebe sich lediglich aus jener Relation der Zeichen untereinander, die sich in einer quasi prä-saussureschen, „in Termini der Identität und des Unterschiedes erstellten Analyse“ ermitteln lasse.78 Der Bezug auf ein transzendentes Signifikat sei dagegen unsicher geworden, so daß – kann man ergänzen – Semiose in der von Simmel beschriebenen Weise marktförmig verlaufen muß: als ‚horizontale‘ Relationierung.79 Nach wie vor wird verglichen, nun aber zur Festellung von innersystemischen Unterschieden – auf dem Markt: von Waren und Werten – und Identitäten – auf dem Markt: im gemeinsamen Bezug aller Handelsakte auf den einheitlichen Wertmaßstab des Geldes, das (auf dem Markt durch gestaffelte Preise) erst jene „arithmetischen Beziehungen“ zwischen den Dingen herzustellen erlaubt, die Foucaults Ordnung der ‚Repräsentation‘ auszeichnen.80 Erika Fischer-Lichte zufolge verändert der epistemische Übergang vom analogischen zum repräsentationellen Denken auch das Verständnis von theatraler Darstellung in epochaler Weise: Der Theaterbegriff, der sich herausbildet, ordnet die performativen Funktionen den referentiellen unter. Alle Handlungen, die auf der Bühne vollzogen werden, haben die Funktion, Handlungen fiktiver Rollenfiguren zu bedeuten und den Ort, auf dem sie vollzogen werden, als einen fiktiven Ort in einer fiktiven Welt auszuweisen. [...] Die Handlungen werden zu Zeichen, in denen die semantische Funktion überwiegt; allerdings nicht zu Zeichen im Sinne der Signaturen aus der Lehre der Ähnlichkeiten, sondern im Sinne eines neuen binären Zeichenmodells, wie es erst Descartes, die Logique de Port Royal oder Leibniz ausformulieren werden.81
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Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 83. Ebd., S. 87. Vgl. oben S. 29. Foucault: ebd., S. 86. Erika Fischer-Lichte: Einleitung. – In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation, S. 1–18, hier S. 6. Als derzeit wohl konsequentesten Versuch, von der „Erosion des Ähnlichkeitsdenkens“ ausgehend die Dramaturgie und Ästhetik des Barockdramas zu entfalten vgl. die romanistische Studie von Nitsch: Barocktheater als Spielraum (das Zitat S. 66).
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Grundsätzlich zu beachten ist (aber nicht immer hinreichend beachtet wird), daß Foucault sich auf die Verhältnisse in Frankreich bezieht.82 Wohl ist die protestantische Schulbühne, auf der die meisten von Gryphius’ Dramen ihren genuinen Ort haben, kein performatives Theater nach Art des einleitend vorgestellten ‚Endinger Judenspiels‘ mehr (vgl. Kap. 1.3.2), wie es im Jesuitentheater insofern noch erstrebt wurde, als man auf eine religiöse Wirkung zielte, im Idealfall eine Bekehrung, wie sie von einer Aufführung des Cenodoxus berichtet wird, dessen Hauptdarsteller nach der Aufführung in den Orden eingetreten sein soll.83 Aus der praktischen Arbitrarität der Theatersituation darf jedoch nicht ohne weiteres geschlossen werden, daß sich das in einem aufgeführten Stück exponierte Weltmodell ebenfalls vom Analogiedenken und dessen substantialistischen Prämissen verabschiedet hat. Folgt man den einschlägigen Beiträgen in der von Andreas Kablitz koordinierten Sektion des Symposienbandes Theatralität und die Krisen der Repräsentation, so können auch die unverkennbar künstlichen Zeichen des Theaters „just dazu in Anspruch genommen [werden], die Wahrheit jener anderen Ordnung des Symbolischen“ zu erweisen.84 Daß Zeichen nicht eindeutig oder nur undeutlich auf anderes zu verweisen scheinen, ist nicht nur das Kernproblem der Kästchen-Wahl im Merchant of Venice oder der Ringparabel des Nathan, sondern bildet ein Hauptmotiv auch des Horribilicribrifax. So verkennen Selene wie Daradiridatumtarides die Wertlosigkeit des jeweils anderen. Daß sie dabei als komisch erscheinen,85 weist freilich darauf hin, daß nicht eine prinzipielle Unlesbarkeit der Welt – hier: der zur Schau gestellten ‚Kostbarkeiten‘ – das Problem ist, sondern die Verblendung der Figuren. Denn komisch ist ihre Leichtgläubigkeit nur vor dem Hintergrund des besseren Wissens, über das der Zuschauer verfügt. Die spezifische Handlungskonstruktion von Gryphius’ Komödie basiert demnach zwar auf (zeitweiligen) Schwierigkeiten, die ‚allegorischen Requisiten‘ (vgl. oben S. 135f.) der Mitspieler richtig zu deuten, enthält zugleich aber das Versprechen, daß die „sinnorientierte, auch handlungsbefähigende Lektüre“, die Wiethölter „auf der Kippe“ stehen sieht,86 grundsätzlich möglich ist. (Bei 82 Welche Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern zu machen sind, ist weiter
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unten Gegenstand eines Vergleichs von Molières L’Avare und dessen deutscher Wanderbühnenadaption (Kap. 3.4). Vgl. Bidermann: Ludi theatrales Bd. 1, Praemonitio, n. pag. [8v]. Vgl. Andreas Kablitz: Einleitung. – In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation, S. 23–27, hier S. 25 (über den Beitrag von Joachim Küpper). Die Komik des von falschen Zeichen Getäuschten findet sich darüber hinaus in den Szenen zwischen Cyrilla und Sempronius. Dort ist die Täuschung nicht wechselseitig, vielmehr wird der komische Effekt dadurch noch erhöht, daß der Gelehrte auf den falschen Schmuck und das falsche Kleid einer Kuppelhure hereinfällt (vgl. S. 93, 101). Wiethölter: „Schwartz und Weiß auß einer Feder“, S. 544.
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Shakespeare führt Bassanios richtig begründete und daher erfolgreiche Wahl des bleiernen Kästchens dies vor.) Gerade unter den Figuren, die die Deutungsbedürftigkeit der Zeichen betrügerisch zu nutzen versuchen, weiß man: „Wer aber etwas genauer auff uns acht giebet / wird wol erkennen / daß nicht alles Gold / was gleisset“ (so muß sich Selene von ihrer Mutter sagen lassen; S. 18). Im Grunde gesteht Gryphius’ Komödie den Zeichen nicht einmal die Mehrdeutigkeit, weil Arbitrarität und metonymische Struktur zu, der die Allegorie seit jeher unterliegt.87 Die Kostbarkeiten, mit denen Selene und Daradiridatumtarides einander einzufangen versuchen, sind falsch oder nur geliehen; die Ähnlichkeitsbeziehung zu dem, was sie bedeuten, ist eindeutig: Weder Schmuck, Gut und Kleider noch die Reden und die Person ihrer Träger haben die Substanz, die sie vorspiegeln. Im Vergleich mit der Shakespeareschen Wahl zwischen einem goldenen, einem silbernen und einem bleiernen Kästchen stehen Gryphius’ Figuren sogar in einer stark vereinfachten Erkenntnissituation, denn der Materialwert der ‚allegorischen Requisiten‘ ist an sich bezeichnend und bedarf nicht der ‚richtigen‘ Interpretation. Warum mißverstehen manche Figuren trotzdem jene Zeichen? Selene findet sich als Betrogene wieder, weil sie selbst Betrügerin ist. Wem die Welt so erscheint, daß es „weder Treu noch Glauben“ in ihr gebe (S. 74), hat das den eigenen bösen Absichten zuzuschreiben.88 Ob zeichenvermittelte Wesenserkenntnis gelingt, ist demnach eine moralische Frage. Und warum erkennt selbst Cleander nicht auf Anhieb den wahren Wert von Sophias Haar? Weil es ihm auf dem Markt, dem typischen Ort der Täuschung, angeboten wird; weil sein Wert unter einer Ware verborgen ist.89 Wir schließen: Unlesbar hinsichtlich ihres ‚inneren‘ Wertes werden Zeichen, wenn mit ihnen gehandelt wird. Das Schema, daß die Welt jedem so begegnet, wie er sie anschaut, gilt auch im positiven Sinne: Wer wie Sophia auf Gott vertraut, der wird durch Gott erhöht. Gewiß kann man diese Zirkularität dahin deuten, daß jeder Weltentwurf von Voraussetzungen ausgeht, die er nicht beweisen kann. Kein Text kann das christliche (oder ein anderes) Weltbild ‚beglaubigen‘.90 Als gelernte 87 Vgl. ebd., S. 541. 88 Betrogene Betrüger sind auch Daradiridatumtarides, Sempronius und Cyrilla. Bei den
beiden Alten pflanzt sich das Betrugsmotiv bis in ihre Ehe fort: Nachdem sie ihn betrügerisch zur Heirat gezwungen hat, findet sie sich aufgrund des Heiratskontrakts praktisch als seine Aufwärterin wieder. 89 Vgl. dazu, wie Cleander das Haar mit der Wolle räudiger Schafe vergleicht (S. 78). 90 Vgl. Simmels Anwendung seines relativistischen Wahrheitsbegriffs auf Werke der Kunst: Die Philosophie des Geldes, S. 104f.: „Auch in dem, was man die ‚Wahrheit‘ eines Kunstwerkes nennt, dürfte das Verhältnis seiner Elemente untereinander sehr viel bedeutsamer sein, gegenüber dem Verhältnis zu seinem Objekt, als man sich klarzumachen pflegt. [...] Die Wahrheit des Kunstwerkes bedeutet, daß es als Ganzes
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Relativisten mögen wir darin eine Bestätigung für Simmel und Folgende sehen: Bekommt nicht sowohl Selene als auch Sophia am Ende das heraus, was sie investiert hat? In ihrer konkreten Ausformung freilich läßt sich die sinnstiftende Handlungslogik des Horribilicribrifax nicht unter das immanentistische Tauschmodell der modernen Geldwirtschaft subsumieren. Auf jenem Markt, den Simmel zum Weltmodell erhebt, sind moralischer Einsatz einerseits und sozialer und/oder materieller Lohn andererseits nicht miteinander verrechenbar. Gryphius’ Drama dagegen funktioniert, weil es eine Sphäre einbezieht, in der anders gerechnet wird: das Jenseits. Die nach christlichem Verdienst bemessene Ordnung am Ende der Komödie hat dementsprechend die transfaktische Qualität eines „Himmels auff der Erden“, wie es der Hochzeitsgott Hymen im Schlußreyen der Gryphschen Doppelkomödie Verlibtes Gespenste / Die gelibte Dornrose wörtlich ausspricht.91 Das „utopische“92 Datum der dargestellten Handlung – der zwischen Cyrille und dem Schulmeister Sempronius abgeschlossene „Heyraths-Contract“ ist auf den 30. Februar 1648 datiert (S. 115) – weist daher zwar die Künstlichkeit der theatralischen Repräsentation aus, doch schmälert es nicht die Normativität des Komödienschlusses. Zwar ist die ewige jenseitige und künftige diesseitige Geltung der Lösung, die der Horribilicribrifax für die Probledas Versprechen einlöst, das ein Teil seiner uns gleichsam freiwillig gegeben hat – und zwar jeder beliebige, da eben die Gegenseitigkeit des Sichentsprechens jedem einzelnen die Qualität der Wahrheit verschafft. Auch in der besonderen Nüance des Künstlerischen ist also Wahrheit ein Relationsbegriff, sie realisiert sich als ein Verhältnis der Elemente des Kunstwerkes untereinander, und nicht als eine starre Gleichheit zwischen jedem derselben und einem ihm äußeren Objekt, das seine absolute Norm bilde.“ Das Drama macht durch seine spezifische Repräsentationssituation immer schon aufmerksam auf die Beweisunfähigkeit des literarischen Textes hinsichtlich alles außerhalb seiner selbst: ‚Echt‘ oder ‚falsch‘ sind Kleider, Ketten oder Haare nur im Rahmen der theatralischen Konvention; kündigte man diese auf, so erwiesen sich alle jene Attribute als vergleichsweise wertlose Theaterrequisiten. 91 Gryphius: Dramen (ed. Mannack), S. 848. Dagegen spricht Nicola Kaminski: Ex bello ars, S. 360 von einem nur „vermeintlich versöhnlichen Komödienschluß“, dem „unterschwellig ein bedrohliches Potential inne[wohnt]“, weil Horribilicribrifax und Daradiridatumtarides wieder ein Kommando erhalten. Von dem Hintergrund der realen Anwesenheit sowohl schwedischer als auch kaiserlicher Truppen im Glogau des Jahres 1648 – was als Ort der Erstaufführung anzunehmen sei – seien die beiden CapitanoFiguren als Hinweis auf eine nach wie vor drohende militärische Gefahr zu verstehen. Die inner- wie außertextuellen Indizien, die es als möglich erscheinen lassen, daß ein solcher zeitgeschichtlicher Bezug im ursprünglichen Rezeptionshorizont lag, führt Kaminski scharfsinnig zusammen (vgl. S. 351–360). Indem ihre Lektüre fast ausschließlich den Capitano-Figuren gewidmet ist, kann sie dem Schlußtableau, das die vorbildlichen Figuren dominieren, jedoch nicht gerecht werden. Zudem übergeht Kaminski die komödische Depotenzierung des realiter bedrängenden Militärs, die sich aus der Verheiratung der beiden Hauptleute mit wenig reputierlichen Bräuten ergibt. 92 Kaminski: Gryphius, S. 201.
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me von Tausch und Täuschung entwirft, eine Sache des Glaubens. Als Spiel um Verkleidungen, die letztlich aufgedeckt werden bzw. nicht zu täuschen vermögen, aber bekundet die Komödie ihr gut lutherisches Vertrauen, daß hinter der „Larvennatur des Irdischen“ einst die göttliche Ordnung hervortreten wird, die jetzt noch verhüllt ist.93 Gryphius’ Stück bedient sich der Verkleidung, der Täuschung, der Intrige, um all diese Machenschaften aufzudecken und den unendlichen Tausch – der Identitäten, der Rollen, der Güter – zu beenden. Und diese Aufdeckung ist, anders als in Blümels Jude von Venetien, nicht bloß Konvention des Komödienfinales (Anagnorisis);94 sie erschöpft sich nicht im Ausweis legitimer ‚politischer‘ Verstellung, sondern eröffnet eine eschatologische Perspektive. Dem beobachtungstheoretisch begründeten Relativismus des Dramas und besonders der Komödie95 steht die antimerkantile Tendenz des Horribilicribrifax konträr gegenüber. Gleichwohl läßt sie sich folgerichtig aus der Theatersituation herleiten. Schwanitz zufolge setzt das Drama Performanz an die Stelle von Substanz, Perspektiven an die Stelle von Evidenzen, da seine Intrigen und Spiel-im-Spiel-Strukturen dem Zuschauer vor Augen führen, daß jeder die Welt anders sieht.96 Beobachter mit beschränktem Blickwinkel seien nicht nur die Figuren auf der Bühne, sondern auch die Zuschauer. Von den Bühnenfiguren könnten sie lernen, daß jeder Standpunkt nur einer unter vielen ist, so daß es keine einheitliche, gültige Perspektive gibt, die für Evidenz genommen werden könnte. Nimmt man die theatrum-mundi-Metapher ernst, so läßt sich die Frage nach Rolle und Inszenierung jedoch nicht auf den Bereich des Mundan-Menschlichen beschränken: Wenn sich die Zuschauer mit den Figuren auf der Bühne vergleichen (sollen), dann liegt es nahe, daß sie sich auch als ihrerseits beobachtete Schauspieler, ihrer Lebensrolle nämlich, betrachten.97 Ist im Jenseits aber, dem christlichen Monotheismus entsprechend, nur noch mit einem Zuschauer zu rechnen, so hat die Perspektivität und Ungewißheit allen Wissens als spezifisch menschliches Problem zu gelten, das bei Gott aufgehoben ist.98 Das Theatermodell forderte den Rückbezug 93 Vgl. Rusterholz: Theatrum vitae humanae, S. 67: „Die Verhüllung hier und jetzt ist
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Normalform. Die Ahnung Gottes ist nur als vorbeihuschender ‚Vorschmack‘ möglich, die endgültige Offenbarung bleibt eschatologische Hoffnung.“ Zur Anagnorisis als „zentraler Bauform der Komödie“ vgl. Pape: „So hat mich nicht getäuscht die Stimme der Natur“, S. 73f. Vgl. oben S. 30ff. Vgl. Schwanitz: Englische Kulturgeschichte Bd. 1, S. 73f. Vgl. Gryphius’ Mahnung, daß wir Menschen uns in einem „Schau-Spiel“ befänden: „es siehets ja der Oberste Richter der Todten und Lebendigen“, also Gott (Dissertationes funebres, S. 363f.). Vgl. Schwanitz: Englische Kulturgeschichte Bd. 1, S. 75f. Schwanitz sucht sein Modell dadurch zu retten, daß er auch Gott noch einmal beobachtet sieht, vom Teufel
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auf die Transzendenz geradezu heraus99 – und hielt für Gott sogar eine angemessene Rolle bereit: die des Regisseurs.100 Der Markt hingegen kennt keinen überlegenen Regisseur. Wenn seine Rolle bedacht, seine Position sogar stückintern besetzt wird (wie mit Cleander im Horribilicribrifax), sollte sich das Drama gegen die relativistischen Konsequenzen seiner doppelten Optik immunisieren können. Die Theatersituation ermöglicht diese Option selbst im Rahmen einer Gattung, die motivisch wie strukturell an die Geldsphäre gekoppelt und daher laufend mit deren Tendenz zum Relativismus konfrontiert ist. Trotzdem wird die Bedrohung der ‚moralständischen‘ Ordnung durch Käuflichkeit, Händlerlist und falschen Schein nicht so schlüssig abgewiesen, wie der harmonische Schluß glauben machen will. Denn auf dem (Affekt-)Höhepunkt des Horribilicribrifax, Sophias Bedrohung durch eine gespielte Entführung, läßt sich ausgerechnet Cleanders Rolle als die eines feilschenden Händlers lesen, der an den Angaben seines Gegenübers zweifelt, um zu einem günstigen Geschäft zu kommen: „Meinet ihr“, bedrängt er die um ihre Keuschheit besorgte Sophia, „daß wir euren verstelleten Thränen und falschen Geberden so viel Glauben geben? Wir kennen der Weibs Personen Art und wissen / wie heilig sie sich stellen / wenn sie ihre Wahre hoch außbringen wollen.“ (S. 112) Gewiß, es geht hier um die Ermittlung eines moralischen Wertes, doch die bedient sich einer Taktik, deren merkantile Herkunft Cleanders Wortwahl selbst offenbart. Selbst und gerade die tugendhafte Vorbildfigur folgt Graciáns Maxime, der kluge Mann müsse „etwas vom Kaufmann an sich [...] haben, gerade so viel, als hinreicht, um nicht betrogen und sogar ausgelacht zu werden.“101 Bei Selene und Daradiridatumtarides, dem Kontrastpaar, ist die Wende in ihrem gegenseitigen Verhältnis ebenfalls nicht von Tausch und Markt zu trennen: Daß der großsprecherische Offizier nur falschen Schmuck zu verschenken hat, enthüllt sich der Brautmutter, als sie die vermeintliche Goldkette zum Pfandleiher Isaschar trägt, der ihr „zwey oder dreyhundert Reichsthaler“ dafür geben soll (S. 72). Ausgerechnet der berufsmäßige Händler ist es, der den wahren Wert, und zwar nicht nur jenes Schmucks von Messing nämlich. Das jedoch wird der christlichen Hierarchie von Himmel und Hölle nicht gerecht. Zur barocken Annahme, daß „Gott und seine Engel unsre Spielschauer seyen“, vgl. auch Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst, S. 330. 99 Vgl. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters Bd. 2, S. 90, die als Spezifikum des theatralischen Codes im Barock herausstellt, daß die Interpretationsbedürftigkeit der theatralischen Zeichen auf die Zeichenhaftigkeit des Dargestellten verwies sowie auf die Notwendigkeit, auch das menschliche Leben und die Welt „auf ihre immaterielle ewige Bedeutung“ hin zu interpretieren. 100 Vgl. Rädle: Gottes ernstgemeintes Spiel, S. 141. 101 Gracián: Handorakel, S. 116 (Nr. 232).
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und Glas – „fünff Silbergroschen“102 (S. 73) –, sondern auch des vorgeblich großzügigen Schenkers, zu erkennen weiß (vgl. S. 74). Der wahre Wert ist hier vom Warenwert bzw. der Kaufkraft nicht zu trennen. Zumindest augenblicksweise steht der Händler weniger unter dem Verdacht, sich an nachrangige Werte zu verlieren, denn als derjenige da, dessen Gewohnheit zu rechnen einen Betrug platzen läßt, denn auch unter antimerkantilen Bewußtseinsverhältnissen lassen sich materielle Werte nur marktförmig ermitteln. Diese Einsicht zu vermitteln, ist schwerlich Gryphius’ Absicht gewesen: Der Pfandleiher ist Jude, was weniger als akkurate Abbildung des seinerzeit Üblichen zu verstehen ist, denn als Hinweis darauf, daß die von Isaschar beanspruchte Vernunft und Einsicht (vgl. S. 72) nur begrenzte Geltung hat, da sie nämlich die letztlich maßgeblichen Wahrheiten des christlichen Glaubens verfehlt.103 Indem er die Händlerposition mit einem Juden besetzt (auch wenn er bei dessen Zeichnung auf Gehässigkeiten verzichtet), wahrt Gryphius seinen prinzipiellen Vorbehalt gegen den Markt – ohne ihn aber gänzlich ausschließen zu können.104
102 Dreißig Silbergroschen machten einen Reichstaler (Vgl. Wörterbuch der Münzkunde,
S. 650, s. v. Spitzgroschen). Antonia fordert für die Kette demnach das 1200- bis 1800fache ihres Wertes. 103 Dies ist gegen Schiewek: Ein altes Scherzspiel, S. 97f. zu betonen, die, bei richtiger Einschätzung von Isaschars merkantiler Funktion und scheinkritischer Einsicht, sein religiöses Defizit übergeht. Die Bibelstellen, die Isaschar in seine Rede flicht, stammen sämtlich aus dem Alten Testament, das die Theologie der Zeit lediglich als Vorlauf zur christlichen Botschaft des Neuen Testaments gelten ließ (vgl. im Merchant of Venice die Gegenüberstellung von alttestamentlichem Gesetz – wie bei Gryphius von einem Juden vertreten – und neutestamentlicher Gnade; oben S. 97). 104 An diesem Punkt ist Wiethölter darin zuzustimmen, daß Gryphius’ Komödie „wider ihre Interessen [...] das Ausgeschlossene zur Sprache“ bringt („Schwartz und Weiß auß einer Feder“, S. 564).
2.5 Gelehrtes Amt statt Händel: Schochs Comoedia Vom Studenten-Leben Nur wenige Jahre nach dem Horribilicribrifax ist Johann Georg Schochs Comoedia Vom Studenten-Leben entstanden (1657). Ihr Anliegen ist nicht die feine Differenzierung von ständischen Rängen, deren Gründung auf moralische oder ‚politische‘ Tugend und damit die Aufhebung empirisch gegebener Standesschranken zugunsten einer ständischen Ordnung von metaphysischreligiöser Qualität. Allenfalls sekundär um transzendente Bezüge bemüht, hält sich Schoch vielmehr an die konventionelle Ständetrias Adel – Bürger – Bauern und modelliert seine Figuren fast durchgängig zu Standesvertretern von idealtypischer Deutlichkeit. Ein Kaufmann vertritt dabei den bürgerlichen Stand. Stofflich ist das Drama des Leipziger Juwelierssohnes, der 1644–46 selbst die Universität seiner Heimatstadt besucht hat,1 vor allem eine detailgenaue Darstellung studentischer Sitten und Unsitten, epochentypisch nicht in strenger Handlungskonsequenz, sondern als Bilderfolge: von der Aufnahme in eine Landsmannschaft über den Access-, Absolvier- und Penal-Schmauß bis zu Prügeleien der Burschen auf nächtlicher Straße, die auf der Wache enden. Auf die Bühne kommen zumal solche Aktionen, die schon lebensweltlich theatralisch sind, so die Rituale, die Rektor, Dekan und Professoren vollziehen (Einschreibung, Jurament, Consilium, Magistererhebung). Außerdem sind die Akte zwei bis fünf (von insgesamt sechs) nahezu ausschließlich mit dem auf Saufen, Händel und Poussieren gerichteten Treiben der Studenten gefüllt. Allerdings richtet sich diese Darstellung nicht so sehr gegen die Institutionen der Universität sowie der studentischen Geselligkeit als gegen die vorgeführte lasterhafte Art, sie mit Leben zu füllen. Um dies zu verdeutlichen, macht Schoch Unterschiede zwischen seinen drei Probanden höherer Bildung: Am schlimmsten treibt es Amandus, des reichen Kaufmannes2 verwöhnter Sohn. Mit einem Wechsel über 500 Reichs-
1 Vgl. Deutsches Literaturlexikon Bd. 16, Sp. 6f. (Franz Heiduk). 2 Dessen hebräischer Name Gerson soll vermutlich antimerkantile Vorurteile abrufen,
wie wir sie besonders bei Blümel mit antijüdischen Stereotypen verbunden fanden. Trotz seines Namens ist Gerson aber keine jüdische Figur.
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taler ausgestattet (I,4, S. 34),3 von seiner Mutter mit Bargeld in ähnlichem Umfang versehen (S. 35) und, als schon nach kurzer Zeit das Geld dahin ist, gleich mit neuem versorgt (III,7, S. 111), begreift er das Studium einzig als Gelegenheit, ein immer freyes Leben zu führen / niemand zu gehorsamen / sein eigener Herr zu seyn / und sich von andern bedienen und auffwarten zu lassen. Worzu ist das Geld sonsten nütze / als dessen in seiner Jugend zu geniessen; an andere gute Exercitia, fechten / reiten / tantzen und andere gute nasse Wahre zu legen / bey iederman ihm einen statlichen Nahmen / absonderlich aber das Frauen-Zimmer ihnen Favorabel und geneigt zu machen. (I,1, S. 13)
Ein abruptes Ende nimmt seine Studienzeit, als Amandus’ Besuch bei einer zweifelhaften Dame Anlaß zu Tumult gibt und er auf zwei Jahre von der Universität relegiert wird (V,3.5). Sein liederliches Leben holt ihn zudem in Gestalt einer Mutter mit kleinem Kind ein, die Unterhalt von ihm fordert (V,6). Da inzwischen auch das Geschäft seines Vaters Bankrott gemacht hat, kann er nicht einmal seine zahlreichen Gläubiger befriedigen (V,6–10). Wie in der Schlußszene berichtet wird, mußte er deshalb als Soldat sein Glück versuchen und ist dabei „eines elenden Todes gestorben“ (VI,4, S. 186). Die Rolle des verführten Genossen im Laster spielt Floretto, der Sohn eines adelsstolzen Junkers. Auch er schätzt die „Freyheit“, weiß aber, „was man vor Mühe / Arbeit / und Vngemach zuvorher vertauen müsse“ (I,1, S. 9). Nicht allein das Geld mache das Vergnügen; um das Leben eines Weltmannes zu führen, bedürfe es vielmehr der Schulung durch „Künste und Wissenschafften“ (S. 12). Die Karzerstrafe, die er für die Beteiligung an bewußtem Tumult erhält, führt ihn deshalb zur Reue: Jetzund nun wil ich anfahen recht fleissig zu werden / alle Gesellschafft zu meiden / auff keinen Schmauß mehr zu gehen / auch damit ich meine Studia desto unverhinderlicher abwarten kan / wil ich mich zu einem vornehmen Mann ins Haus begeben / damit ich einmal den Leuten dienen / einen Hoff-Rath agiren, und mein Vater Ruhm und Ehre an mir erleben möge. (V,11, S. 179)
Obwohl verzögert, hat sein Streben schließlich Erfolg; das Studium trägt ihm „einen statlichen Dienst zu Hofe“ ein (VI,1, S. 181).
3 Zum Vergleich: Auf 500 Taler beläuft sich in Weises Betrogenem Betrug das unter-
schlagene Erbe, das Walpe als ihren Schatz hütet (s. oben S. 306). Als jährliche Kosten eines standesgemäßen Lebensstils werden für die Mitte des 17. Jahrhunderts etwa 200 Taler angegeben, vgl. Friesen: Das Theater Kormarts und Schochs, S. 185 (Anm.). – Seitenhinweise beziehen sich auf die Paginierung, die Hugh Powell seiner Ausgabe hinzugefügt hat. An neuerer Literatur ist lediglich der Aufsatz von Montesinos zu nennen, der sich allerdings auf eine Zusammenfassung des dargestellten Studentenlebens und Seitenblicke auf die parallele spanische Literatur beschränkt.
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Maßgeblichen Einfluß auf das Lebensschicksal haben in beider Fall die Eltern, deren Haltung zum Geld jeweils als standestypisch gezeichnet ist.4 Im Vergleich mit dem Horribilicribrifax heißt das, daß die Maßgeblichkeit individueller ‚Tugend‘ weit hinter ständische Stereotypen zurücktritt. Amandus’ Vater meint, aller Mangel an Kenntnis der Künste und Wissenschaften sei durch Geld zu ersetzen (I,2, S. 18). Geld und Gut aber – Immobilien, Renten, Waren oder Bares – besitze er in praktisch unbeschränkter Menge (S. 20). Florettos Vater Petralto dagegen mahnt: „Es ist umb ein weniges / so ist dasselbe dahin / da doch hingegen Tugend / Geschicklichkeit und Kunst niemals wancken noch untergehen kan.“ (S. 18) Um die Söhne durch übergroße Freiheit nicht geradezu zu verführen, schlägt er vor, ihnen einen Hofmeister mitzugeben. Floretto und Amandus jedoch wissen sich solcher Führung zu entziehen: Sie täuschen Gutwilligkeit vor und erhalten deshalb Pickelhering, einen Knecht des Kaufmanns, als Begleiter. Als Bühnenfigur ohnehin die Verkörperung aller niederen Triebe, betätigt er sich im folgenden als treuer Helfer ihrer Liederlichkeit. Belehrend wirkt er ‚nur‘ auf den Zuschauer, indem er Amandus’ schlechte Absichten auch dort offen ausspricht, wo dieser sie zu verbergen sucht (vgl. I,5, S. 44). Die Eltern treten erst in der letzten Szene wieder auf, gewissermaßen um das Resultat ihrer Erziehung entgegenzunehmen. Während Petralto seine Maxime bestätigt sehen darf, daß eine gute Ausbildung „das schönste Reichthumb und das beständigste Erbe“ darstellt (I,2, S. 18), kann Gerson nur klagen: „Ach Ach wie übel habe ich Haus gehalten“ (VI,6, S. 187); sein Vertrauen auf das Geld hat sich als Fehlkalkulation entpuppt. Soweit ist das Stück von einer Bestätigungsstruktur geprägt: Wie der Vater sich hält, so gerät auch der Sohn – und umgekehrt: dem Vater geht es wie dem Sohn; der eine bankerottiert, der andere sieht seine „Tugenden und ritterlichen Thaten [...] von neuen wiederumb“ aufstehen (S. 185). Nicht diesem Gesetz folgt das Schicksal des dritten Musterstudenten. Sein Erfolg – er kehrt mit der Berufung auf eine einträgliche Pfarrstelle heim (VI,3, S. 183) – ist in keiner Weise vorhersehbar. Seine Eltern sind einfältige Bauern, die weder ihn finanziell unterstützen können noch eine rechte Vorstellung davon haben, zu welchem Zweck sie ihren Sohn auf den „Unver4 In dieser sozialen Begründung tugend- oder lasterhaften Verhaltens geht Schoch ent-
schieden über seine Vorgänger in der dramatisch-satirischen Darstellung des Studentenlebens hinaus. Wichtigste Motivquelle ist Albert Wichgrevs Komödie Cornelius relegatus von 1602 (vgl. Schmidt: Komödien vom Studentenleben, S. 10–15). Schochs Figurenkonstellation von jeweils drei Vätern und Söhnen hat ein Vorbild in Christoph Stymmels Studentes von 1549; liederlich ist dort Acolastus, der Sohn des klugen Eubulus, ausschweifend Acrates, Sohn des nachsichtigen Philostorgus, fleißig zeigt sich jedoch Philomathes, Sohn des sparsamen Philargyrus (vgl. ebd., S. 8). Eine teilweise vergleichbare Reihe bilden Floretto, Amandus und Jäckel, der fleißige Dritte, samt ihren Vätern. Die soziale Indexierung scheint jedoch Schochs Leistung zu sein.
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stand“ geben (Unterhandlung II [=Zwischenspiel], S. 90). In ihrer Einfältigkeit sind Brose und Käthe noch eindeutiger verlachenswerte Figuren als der vom Glauben an sein Geld verblendete Kaufmann.5 Trotzdem erweist sich Jäckel als derjenige, dem das Studium die meisten Früchte trägt. Seine Herkunft verhilft ihm insofern dazu, als sie ihn nicht in die falsche Sicherheit großer Geldmittel wiegt. Jäckel weiß, daß es allein sein Fleiß und die Fürsorge Gottes sind, auf die er sich verlassen kann (IV,5, S. 140f.). Auf himmlische Führung zu weisen gehört zur Tradition christlicher Geizkritik ebenso wie zur Konvention der Komödie6 – hier verkörpert von Mercurius, der im Vorspiel und einer im vorletzten Akt (V,2) eingeschobenen allegorischen Szene Ausgang und Bedeutung des Stücks erläuternd vorwegnimmt. Auffällig ist dagegen die Entschiedenheit, mit der individueller Fleiß als Chance zu sozialem Aufstieg ausgegeben wird. Mercurius erhebt Jäckels Erfolg ausdrücklich zum Exempel, wenn er in V,2 auf ein Tableau „sehr hochgelehrter und vornehmer Männer / wiewohl von schlechter Gebuhrt und Herkommen“ weist (S. 151). Der soziale Sprung, den Jäckel tut – auch für den Zuschauer überraschend, muß man ihn nach der komischen Charakterisierung durch seine Eltern doch für einen Tölpel halten (Unterhandlung II) –, fällt in dreifacher Weise aus dem Rahmen: Zunächst sprengt er das Schema sozialer Bestätigung, das den Geschichten des Kaufmannssohnes und des jungen Junkers zugrunde liegt. Dort erweist sich einerseits das Wageprinzip des Kaufmanns („eine glückliche Stunde bringet alles wieder ein“, I,2, S. 20) als halsbrecherische Leichtfertigkeit, andererseits ein verinnerlichter Adelsbegriff (Adel „von Gemüte“, S. 19) als hilfreicher Pflichtimperativ. Jäckel dagegen bestätigt nicht bäuerliche Normen, sondern verkörpert sozialen Aufstieg durch akademische Ausbildung. Und das Verdienst liegt – abgesehen von der göttlichen Führung – allein bei ihm. Zumindest in diesem Punkt koinzidiert die Anlage der Figur mit Gryphius’ Belohnung individueller Tugend (wobei Jäckels Aufstieg durch Universitätsbildung und persönliche Anstrengung sowohl an deren ‚politischer‘ wie an deren verinnerlichter Variante Anteil hat). Doch geht Schochs Comoedia noch einen Schritt weiter, indem sie sozialen Aufstieg gegen alle Herkunftsbedingungen entwirft, während im Horribilicribrifax der Bauer ausdrücklich ausgeschlossen wird von der im Schlußtableau erreichten Ordnung.7 5 Komisch ist auch das familienfixierte Adelsethos Petraltos, soweit es durch das Ver-
halten seines Sohnes konterkariert wird (vgl. I,2, S. 19) 6 Vgl. Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst, S. 331; Weise: Vorrede zur
Liebes-Alliance – SW 15, S. 322. 7 Vgl. Horribilicribrifax, S. 114: „kommet alle mit auff die Hochzeit / jener grosse weit-
mäulichte Baur der dort hinten stehet / mag wol zu Hause bleiben / Er möchte uns den
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In deutlichem Kontrast steht Schochs Propagierung sozialer Mobilität zweitens zum Bewegungsimperativ der merkantilistischen Wirtschaftstheorie. Denn während die Comoedia Vom Studenten-Leben einen Teil der Gesellschaft in Bewegung setzt, tastete der auf Geld und Waren bezogene Bewegungsimperativ die Stellung der Wirtschaftssubjekte in der gesellschaftlichen Hierarchie nicht an. Komödienanalytisch wird sich das an der Ollaria des Jesuiten Jacob Masen verfolgen lassen: ‚Lernziel‘ der Zentralfigur ist es dort, seine Rolle als Kaufmann in rechter Weise auszufüllen. Gewissermaßen gar eine direkte Antwort auf Schochs Mobilitätsvision gibt die Jesuitenkomödie Arcumenus sive sua quisque sorte contentus:8 Unter den sechs Vertretern verschiedener (Berufs-)Stände vom Fürsten bis zum Bauern befindet sich dort auch ein Kaufmann, der beinahe am Galgen endet, weil er seinen Stand verlassen hat. Was den Bauern betrifft, vermag dieser ausgerechnet eine akademische Rolle nicht auszufüllen: als Rechtsgelehrter gibt er „ungereimbte / schädliche Räth auß“.9 Schoch dagegen erhebt das Prinzip der Bewegung vom innerökonomischen Gesetz zum gesellschaftlichen Ideal. Diesem Ideal dramatische Darstellung zu geben bereitete Schoch offensichtlich aber erhebliche Schwierigkeiten. In den Rahmen der vorgeführten Handlung hat er seinen Helden nur lose eingefügt. Insofern stellt der Aufbau seines Stücks einen dritten ‚Rahmen‘ dar, aus dem der aus seinem Stand aufgestiegene Bauer herausfällt: Sowohl als Bauernsohn wie als erfolgreicher Student steht Jäckel am Rand. Zum ersten wird das bäuerliche vom übrigen Personal streng getrennt: Jäckels Eltern sowie ein Nachbar treten bis zur letzten Szene immer nur in den „UnterHandlungen“ zwischen den Akten auf.10 Die Unselbständigkeit dieser Nebenhandlung entspricht dem untergeordneten sozialen Status ihrer Figuren. Anders als in Gryphius’ wenig späterem Doppeldrama Verlibtes Gespenste / Die gelibte Dornrose (1660), hat sich die Bauernsphäre weder dramaturgisch noch der charakterlichen Dignität ihrer Figuren nach emanzipiert. Zum zweiten hat Jäckel in der Darstellung studentischen Lebens, welche das Stück zum größeren Teil ist, keinen rechten Platz: Zwar findet man ihn unter den Teilnehmern einer Vorlesung (III,2) und des Penal-Schmauses (IV,1), doch ergreift er erst in der letzten Szene des vierten
Wein gar aussauffen / und alles auff fressen / daß die Braut selbst hungerig zu Bette gehen müste.“ 8 Vgl. den Periochenzettel einer Aufführung in Ellwangen 1696 bei Szarota: Das Jesuitendrama Bd. 3,2, S. 1899–1906. 9 Ebd., S. 1903. 10 Zwischenspiele mit sozial niedrigerem Personal als in der Haupthandlung sind eine häufige Bauform im Drama des 16. und 17. Jahrhunderts, vgl. dazu Hammes: Das Zwischenspiel im deutschen Drama.
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Aktes das Wort (S. 140).11 Als dramatisches Szenenmaterial ist das Studentenleben für Schoch eine Folge von Liederlichkeiten; für Jäckels Fleiß dagegen hat sein Stück keine Bilder. Mit einem Wort: Als dramatische Form relativiert die Comoedia Vom Studenten-Leben sogleich die vorgeführte Überschreitung von Standesgrenzen. Sozialgeschichtlich interpretiert, kann man darin die Zurückführung eines utopischen Konzepts auf seine aktuellen Verwirklichungschancen sehen: Aus bäuerlichem Stand ins Pfarramt aufzusteigen war im 17. Jahrhundert zwar nicht unmöglich, doch war der Anteil der Pfarrer, deren Eltern Bauern waren, während der gesamten Frühen Neuzeit sehr gering; die Regel war, als Pfarrerssohn in seinem Stand zu bleiben.12 Ähnlich verhält es sich generell mit den Mobilitätschancen für akademisch Gebildete in der Ständegesellschaft des 17. Jahrhunderts. Betonte die ältere Forschung – unter dem Eindruck sowohl der merkantilistischen „Dynamik“ als auch des Aufstiegs bürgerlicher Juristen in Hofdienst und Amtsadel – die neuartigen Chancen zu standesübergreifender Mobilität,13 so urteilt man seit den achtziger Jahren vorsichtiger: „Das Vordringen in die Spitzenregion der Sozialpyramide war zwar im Einzelfalle, gestützt durch die Herrscherautorität, möglich“ – Gryphius führt das an der Figur des Palladius vor –, „kam jedoch keineswegs als Mobilitätschance einer zahlenstarken bürgerlichen Schicht zugute.“14 Der Aufstieg eines einzelnen änderte das Gesamtbild der Ständegesellschaft nur marginal, so wie Schochs Aufsteigerfigur kaum dramatische Präsenz zu gewinnen vermag. Gar nicht in den Sinn kommt es Schoch, den Kaufmann als Agenten gesellschaftlicher Mobilität zu präsentieren. Wie bei Blümel und Gryphius bleibt dieser Stand suspekt, obwohl die Comoedia Vom Studenten-Leben eine Aufstiegsgeschichte enthält, in der mit Fleiß und Zielstrebigkeit durchaus kaufmännische Tugenden15 belohnt werden. Der Kaufmann und sein Sohn geben vielmehr Muster der Unbeständigkeit und der Verkennung der wahren Werte ab. Zu sehen ist daran: an strenge Bedingungen geknüpfte Mobilität im Einzelfall verändert (zunächst einmal) nicht die Normen der Ständegesell-
11 In der Unterhandlung II hat er lediglich dreimal mit „ja“ geantwortet (S. 92f.). 12 Vgl. Schiekel: Pfarrerschaft, S. 152–155. Schiekel wertet die Berufsangaben für die
Väter sächsischer Pfarrer von der Reformation bis 1740 aus. Angaben liegen für 4299 und damit knapp die Hälfte der insgesamt etwa 9500 Pfarrer vor. Bereits Pfarrerssöhne waren davon 2511, also ein gutes Teil mehr als die Hälfte, bäuerlicher Herkunft dagegen 77, das sind weniger als zwei Prozent. 13 Kellenbenz: Der Merkantilismus in Europa und die soziale Mobilität, S. 55; Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat, S. 230f. 14 Bleek, Garber: Nobilitas, S. 84. 15 Vgl. Savary: Der vollkommene Kauff- und Handelsmann, S. 56.
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schaft.16 Die bleiben vielmehr auf Statik ausgerichtet. Dementsprechend strebt Jäckel nicht eigentlich über seinen Stand hinaus – und folgt damit der Norm, die bereits Gryphius’ Coelestina zum eigenen Besten befolgte17 –; nicht auf seinen Fleiß führt er Studienerfolg und Erhalt einer Pfarrstelle zurück, sondern auf göttliche Führung und den Ansporn durch seine Eltern (VI,3, S. 183). Zumindest letzteres ist für den Zuschauer freilich als bloße Norm durchschaubar, welche den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht wird.18 Was die Komödie zur Anschauung bringt, affirmiert demnach weder das Bewegungs- noch das Stabilitätsprinzip, sondern macht beider Unvollkommenheit sichtbar. Das 18. Jahrhundert universalisierte das Bildungsprinzip dann zum Gedanken einer allgemeinen sozialen wie ‚menschlichen‘ Höherentwicklung. Es verdient daher einige Nachfragen, vor allem: In welchem Verhältnis steht das Bildungsprinzip zum Geld, in das Jäckels Antipoden ihr Vertrauen setzen? Und in welchem Maße bedeutet seine Innerweltlichkeit eine Abkehr von der religiösen Geldkritik, die bislang die deutsche Geldkomödie prägte? Was die zweite Frage angeht, deutet sich in dem von Petralto, Mercurius und Jäckel vertretenen ‚Bildungs‘-Begriff ein Hintansetzen von religiöser Tugendhaftigkeit und ihre Beerbung zugleich an: Auf der einen Seite spielen jenseitige Zwecke keine Rolle mehr, auf der anderen Seite impliziert ‚Bildung‘ nach wie vor Tugend und rückt auf die bislang religiös besetzte Systemstelle des ‚wahren‘, d. h. entmaterialisierten Reichtums (vgl. I,2, S. 18).19 Dem Geld gegenüber zeigt sie sich jedenfalls nicht kompromißbereiter als die theologische Geldkritik; gemessen an Masens Ollaria (vgl. unten Kap. 3.2) sogar deutlich kompromißloser: Jäckels sozialer Aufstieg verdankt sich nicht klugem Umgang mit Geld – von seinen Eltern hat er „nicht einen Groschen bekommen“ (VI,3, S. 183) –, sondern daß er es zu verachten gelernt hat (VI,4, S. 189). Was er investiert – „die edle und güldene Zeit“ (S. 150) – stellt, die Metapher deutet es an, ebenfalls einen Wert dar, jedoch einen von vornherein immateriellen. Vor allem erscheint auch der Ertrag seiner Studier-Tugend ganz 16 Vgl. Winfried Schulze: Die ständische Gesellschaft des 16./17. Jahrhunderts als
Problem von Statik und Dynamik. – In: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, S. 1–17, hier S. 15f. 17 Vgl. Horribilicribrifax, S. 35. 18 Vgl. Unterhandlung II, S. 89–93. 19 Klargestellt sei, daß ‚Bildung‘ in bezug auf Schoch und seine Zeit nicht das zu ersatzreligiöser Bedeutung gesteigerte Bildungskonzept des Neuhumanismus meint. In der gelehrten Bildung, die im 16. und 17. Jahrhundert Bürgerlichen den Aufstieg in den Fürstendienst und Hofstellen ermöglichte, zählten professionelle Kenntnisse. Auf einen individuellen Bezug zu den Bildungsinhalten, auf ‚Selbstbildung‘ kam es allenfalls in dem Sinne an, daß gewisse Charaktereigenschaften nötig waren, um jene Kenntnisse erwerben zu können. Jäckel hat sie, Amandus und Floretto haben sie nicht.
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entmaterialisiert: Das besoldete Amt, für das Jäckel eine „Vocation“ erhält, wird „Pfarrdienst“ genannt, und nicht von seinem Lohn ist die Rede, sondern von „Dienst und Wolfahrt anderer Leute“ (VI,3, S. 183).20 Kaufleute verfallen dagegen dem Verdikt, ihren Reichtum auf das Geld anderer Leute zu gründen: Sie, so der Pickelhering über „die reichen Kauffleute“ in toto, „prahlen und prachen [=prassen] schrecklich / käuffen grosse Häuser und Güter mit ander Leut Gelden / und ist nicht einmahl ihre“ (V,6, S. 175; eine Anspielung wohl auf den Kreditbedarf großer Unternehmungen). Der Betrug, den Pickelhering an den Gläubigern des Amandus verübt (V, 6.7.10), ist gar als generelle Warnung vor dem Verleihen von Geld zu verstehen.21 Als Wesen des Geldes erweist das Stück die Unbeständigkeit; der Narr spricht es aus (V,6, S. 176). Die positive Wendung dieses Axioms: die Zirkulationsfähigkeit des Geldes, spielt bei Schoch – wie schon bei Gryphius – keine Rolle, weder thematisch noch dramenstrukturell. Nicht der Kreis ist das Strukturmodell der Comoedia Vom Studenten-Leben, sondern der Umschlag, die Peripetie, d. h. in sozialer Hinsicht Auf- bzw. Abstieg.22 Davor bewahrt bleiben lediglich die Vertreter des Adels, die das Prinzip der Beständigkeit zudem durch ihre Familienkontinuität verbürgen. Erhebliches Gewicht bewahrt der Stabilitätspol auch deshalb, weil das Bewegungsprinzip ambivalent besetzt ist: positiv als Aufstiegschance durch ‚Bildung‘, bedrohlich, weil ihm der Unbestand von Geld und Gut zuzurechnen ist. Insofern der hoforientierte Adel den Stabilitätspol verkörpert, schreibt sich das Stück überdies treffsicher in den herrscherzentrierten politischen Diskurs ein, wie wir ihn auch bei Gryphius fanden. Seine Grundstruktur wird von der zeittypischen Option der bürgerlichen Gelehrtenschicht für den Fürsten und seinen Dienst23 – Schoch traf sie wenig später auch persönlich – disponiert, und zwar sowohl in ihrem Stabilitäts- als auch in ihrem Bewegungsmoment. Das satirische Moment richtet sich dementsprechend vor allem gegen den Versuch des reichen Kaufmanns, seine Inferiorität durch Geld zu kompensieren. Wie im Horribilicribrifax birgt indessen auch die Stabilitätsoption kritische Potenz, weist die Rückbindung ständischer Differenzierung an persönliche Verdienste doch auf eine Kluft zwischen ‚Wirklichkeit‘ und dramatisch dargestellter Norm. 20 Hervorh. von mir. Ähnliche Beobachtungen über den Zusammenhang zwischen
Protestantismus, fest besoldetem Amt und Geldfeindschaft hat Hörisch gemacht: Kopf oder Zahl, S. 61. 21 Die Warnung explizit zu machen gehört zur Rolle des Pickelhering, vgl. IV,3, S. 138. 22 Vgl. Mercurius auf S. 152 (V,2): „Man komme in wenig Jahren wieder / so wird sich das Blat verwendet finden / und werden die vorigen [die hurtigen Cavaliere] in derer elendem Stande anzutreffen seyn.“ 23 Vgl. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 5f.
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Im Vergleich mit dem Juden von Venetien ist die Comoedia Vom Studenten-Leben folglich pädagogischer angelegt (trotz der gleichfalls derben Komik), im Vergleich mit dem Horribilicribrifax wiederum lebenspraktischer orientiert. Beide Aspekte zusammengenommen, steht Schochs Stück ein gutes Stück näher an der theatralischen Gesellschaftsreform, die Gottsched betreiben wird, als die Komödien Blümels und Gryphius’. Ebenfalls wiederfinden werden wir in Gottscheds Theaterkonzept den Konnex von gelehrter Bildung und weitestmöglicher Verdrängung von Geld und Markt (vgl. dazu den letzten Teil des folgenden Kapitels). Immerhin ist die praktische Lehre, die Schoch zu vermitteln hat, nicht ganz so amateriell: Das vermutlich „vornehme, wahrscheinlich akademische“ Publikum, für das Schoch wohl schrieb,24 sollte lernen, wie man sicherstellt, daß die für den Universitätsbesuch eines Sohne aufgewandten „Unkosten nicht übel angelegt“ sind, wie der Prolog des Mercurius schließt (S. 8). Die Geldverachtung, die das Stück prämiert, war demnach weniger nachzuahmen als zu verinnerlichen. Passenderweise Mercurius, der als Patron „so wol der freyen-Künste / als der Kauffmannschaft“ auftritt (S. 5), läßt erkennen, daß pekuniäre Kalkulationen nicht tatsächlich ausgeschaltet wurden.
24 Daß Schoch auf ein solches Publikum zielte, schließt Friesen: Das Theater Kormarts
und Schochs, S. 239 aus den Publikumsanreden des Mercurius. Belege über Aufführungen des Stücks liegen nicht vor (vgl. ebd., S. 14).
2.6 Die Sächsische Reformkomödie zwischen merkantilen Leitbildern und gelehrter Marktfeindschaft 2.6.1 Handel als Sozialmodell Zunächst als betrügerisch verachtet, dann als ökonomisch nützlich gefördert, avanciert der Kaufmann im mittleren 18. Jahrhundert zum idealen Gesellschaftsglied. An den Moralischen Wochenschriften des zweiten Jahrhundertviertels verfolgt dieses Unterkapitel, welche neuen Handlungsnormen und -erwartungen an den Handel geknüpft wurden. Das alteuropäische, holistische Gesellschaftskonzept wirkte insofern fort, als der Kaufmann weiterhin nach seinen Anlagen zur Moralität (der eigenen wie der anderer) beurteilt wurde: WEnn ich es offtmahls überleget habe: ob der Handel oder die Kaufmanschafft einem gemeinen Wesen mehr nütze oder schade? so habe ich mich kaum entschliessen können, wie ich diese Frage beantworten solle. Ich sahe auf der einen Seite alle das Böse, so dadurch unter den Menschen entstehet. Alle Begierden, alle lasterhaften Neigungen unserer Hertzen, dachte ich, werden durch Handel und Wandel nicht nur unterhalten, sondern mehr und mehr gereitzet und gestärcket. Die Wollust bekommt von der Kaufmannschafft den allermercklichsten Zufluß unzehliger Ergetzlichkeiten. Alles was die Zunge und den Gaumen kützelt, alles was zur Gemächlichkeit des Cörpers, ja zur überflüßigen Verzärtelung weichlicher Gliedmaßen dienet, wird uns durch das Gewerbe der Handelsleute über See und Land, viel tausend Meilen weit zusammen gebracht.1
Wer so beginnt, gibt zweierlei zu erkennen: zum einen daß er in der erörterten Streitfrage für den Kaufmannsberuf und -stand Partei ergreifen wird, denn die Gegenargumente kommen zuerst zur Sprache, damit die Proargumente am Ende überwiegen können; zum anderen daß eine solche Apologie nicht auf selbstverständliche Zustimmung rechnen kann, sondern massive Vorbehalte berücksichtigen muß. Der Biedermann, Gottscheds seit 1727 erscheinende Wochenschrift, gibt im Fortgang seiner Erörterung noch weiteren moralischen Einwänden gegen den Handel Raum: „Auch das Laster der Verschwendung“ befördere der Kaufmann, denn „es würde nicht möglich seyn, offtmahls so viele tausend Thaler in kurtzer Zeit zu verprassen, wenn nicht der Handel mit 1 [Gottsched:] Der Biedermann Bd. 1, S. 145 (37. Blatt vom 12. 1. 1728).
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seinen ausländischen Waaren, soviel Reitzungen zu unmäßigen Ausgaben vor Augen stellen möchte.“2 Zudem begünstige der Handel neben der ‚Wollust‘ (der übermäßigen Sinnlichkeit) auch die beiden anderen ‚Haupt-Laster‘, also das übermäßige Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung (‚Ehrgeiz‘) bzw. nach Besitz: Der Stoltz und Kleider-Pracht findet gleichfalls seine Nahrung, durch die Bemühungen der Kaufleute. Unsere Aufzüge würden bey weitem so prächtig nicht seyn, wenn wir mit lauter innländischen Sachen stoltziren müsten. [...] Was soll ich endlich von dem Geitze sagen? Findet er nicht ebenfalls bey der Handlung sein rechtes Element? Ein Kaufmann, der von dieser Gemüthsneigung befreyet ist, wird selten reich werden: und es ist fast zu einer Regel geworden, daß Geitz und Ungerechtigkeit unzertrennliche Gefährten des Gewerbes zu seyn pflegen.3
Doch darf die Möglichkeit, die Leistungen des Handels zum Nachteil der Tugend zu gebrauchen, nach Gottsched nicht diesem selbst angerechnet werden: „Der Mißbrauch einer Sache hebt den rechten Gebrauch derselben niemahls auf.“4 Schädlich und verwerflich sind nicht die „durch Hülfe und Vermittelung der Kauffleute angeschafften Güter“, sondern „die lasterhafften Neigungen des Menschen“, der sich jener Güter nicht entsprechend „seinem Stande und Vermögen, wiewohl mäßig und nach den Regeln der gesunden Vernunfft“ zu bedienen vermag. Die Legitimität des Handels derartig vom Verhalten des einzelnen abhängig zu machen wertet ihn einerseits auf bzw. befreit ihn von generellen moralischen Verdikten, wie wir sie sowohl in Garzonis Berufsenzyklopädie als auch in Blümels Juden von Venetien fanden. Andererseits bleibt wirtschaftliches Verhalten an moralische Maßstäbe gebunden, und zwar sowohl auf der Seite der Konsumenten als auch auf der Seite der Handeltreibenden. Die Grenzen der Moralität gelten zugleich für Grenzen kaufmännischer Aktivität; ein darüber hinausführendes Geschäftsinteresse erkennt Gottsched nicht an: „Die Absichten rechtschaffender Handels-Herren sind gar nicht, die Lasterhafften noch lasterhaffter zu machen: sondern ihren Mitbürgern anstatt der inländischen Waaren, daran man einen Überfluß hat, ausländische zu verschaffen; derer man sich zur Nothdurft und Belustigung, zur Bequemlichkeit und zum Wohlstande, auf eine erlaubte Weise bedienen kan.“5
2 3 4 5
Ebd. Ebd. Ebd., S. 147. Die folgenden Zitate ebd. Ebd. Zu beachten ist, daß ‚Wohlstand‘ hier noch nicht auf materielle Verfügungsmöglichkeiten konzentriert ist, sondern einen dem jeweiligen Stand angemessenen Lebensstil bezeichnet.
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So betrachtet und legitimiert, liegt der ökonomische Zweck des Handels allein in der Distribution von Waren, nicht darin, persönliche, volkswirtschaftliche oder fiskalische Gewinne zu erzielen. Dem entsprechen Gottscheds theologische Argumente für die Achtbarkeit des Kaufmannsberufes: Gott habe die Hervorbringungen der Natur zum Gebrauch durch den Menschen bestimmt, sie jedoch nicht gleichmäßig verteilt und das auch nicht tun können, weil beispielsweise ein „Boden, der an Getreyde fruchtbar ist, [...] nicht Wein tragen“ könne.6 Nichts kommt also mit der Vorsorge des Urhebers der Natur mehr überein, als die Vertauschung aller dieser natürlichen Güter, unter den Bewohnern des Erdkreises. [...] Der Handel ist also nicht nur was erlaubtes, sondern gar was löbliches. Dadurch wird das menschliches Geschlecht mit allem dem versorget, was GOtt zu dessen irrdischer Vergnügung ausersehen hat.
Da Gottsched in anderen, z. B. ethischen Fragen weniger religiös argumentiert bzw. nicht religiös argumentieren will (vgl. Kap. 4.3.1), liegt indessen der Schluß nahe, daß im Fall des Handels eine besondere Legitimationsnot bestand. Gottscheds Providenzargument wäre demnach nicht zum Nennwert zu nehmen, sondern taktisch begründet. Dem entspräche jedenfalls, daß Handelsfragen in den Moralischen Wochenschriften nicht durchgängig so theologisch erörtert werden. Wo es um nicht ganz so Prinzipielles geht, haben Beteuerungen, daß Gottes Gnade und Vorsehung unabdingbar seien, mitunter nur noch Formelcharakter – etwa wenn Der Patriot die Lebens- und Geschäftsführung zweier Kaufleute, eines erfolgreichen und eines bankrotten, vergleicht.7 Vom klugen Kaufmann heißt es, er verlasse „sich, nächst GOtt, auff sich selber, und ließ sichs einen Ernst seyn, seine Wohlfahrt zu befördern.“ Während Gottsched den Kaufmann in den Dienst der Vorsehung stellt, haben solche religiösen Reverenzen lediglich eine Schutzfunktion, nämlich dem Verdacht vorzubeugen, menschliches Handeln werde als vollständig planbar und autonom gedacht.8 Gut zwanzig Jahre später begründet Der Gesellige, eine weitere Moralische Wochenschrift, seine Handelsapologie auf noch einmal andere Weise: 6 Vgl. ebd., S. 146. Das folgende Zitat ebd. 7 Vgl. Der Patriot Bd. 1, S. 257–266 (Nr. 31 vom 3. 8. 1724), hier S. 259 (dort das fol-
gende Zitat), 261, 262, 264. 8 Daß in den 1720er Jahren eine derartige Absicherung noch nötig war, bezeugt selbst
ein ausgesprochen ‚spezialdiskursiver‘ Text wie Paul Jacob Marpergers Trifolium Mercantile Aureum von 1723, die bedeutendste merkantilpädagogische Schrift der Zeit: Bevor Marperger sein Programm zur Verbesserung der kaufmännischen Ausbildung entwickelt, definiert er „die Commercia“ dahin, „daß selbige freundliche und von der Natur, ja von GOtt selbst an die Hand gegebene Handlungen wären, vermittelst welcher ein Land dem andern Wechsels-Weiß seinen Uberfluß mittheilete / und dadurch dessen Mangel ersetzte“ (S. 36).
166 Ich habe Gelegenheit gehabt, mehr als ein Land zu besehen, und die Erfahrung hat mich durchgehends belehret, daß [...] die Kaufleute die geselligsten Menschen sind. Ich betrachte einen Handelsmann als eine Pulsader, welche das Geblüte forttreibet, daß es dem ganzen Körper mitgeteilet werde. [...] Durch den Kaufmann wird die weite und mit unwirthbaren Meeren und Gebürgen zerschnittene Welt ein Ganzes, das mit einander, nach allen seinen Theilen, in einem geselligen verbindenden Wechseleinfluß stehet. Der Kaufmann ist die Seele des allgemeinen geselligen Lebens; durch ihn theilen die Länder ihre besondern Gaben einander mit; durch ihn lebet der Türk, der Heide, der Jude, der Christe, einer von dem andern; durch ihn unterrichtet Newton die Italiäner, und Euler den Franzmann und Schweden; durch ihn lehret Socrates und Plato nach langen Jahrhunderten die späte Welt; durch ihn theilet der Gesellige seine Gedanken den entfernten Freunden mit.9
Die Verbindung, die der Handel zwischen den entferntesten Ländern herstellt,10 gibt hier wie schon bei Gottsched das entscheidende Argument ab,11 allerdings weniger als Vermittlung zwischen von Gott unterschiedlich geschaffenen Naturräumen denn als Band zwischen deren Einwohnern. Eine theologische Ausdeutung wird nicht vorgenommen. Nicht einmal das selbst in ‚fachwissenschaftlich‘ ökonomischen Texten beliebte Argument, daß ein weltweiter Handel zur Ausbreitung des „wahren Gottesdienstes“ beitrage,12 wird angeführt, vielmehr durch ostentative Religionstoleranz (dieses Prinzip gestaltet dann der Nathan) und den Hinweis auf merkantile Übermittlung moderner Wissenschaft sowie – etwas gesucht – antiker Philosophie ersetzt. Diese Säkularisierung der Kaufmannsapologie gründet indessen nicht in 9 Der Gesellige 1 (1748), S. 222f. (26. Stück). 10 Die traditionell auf einen Staat angewandte Körpermetaphorik (vgl. Christian Warner
Friedtlieb: Prudentia politica christiana, Das ist Beschreibung einer Christlichen / Nützlichen und guten Policey [....] Durch Vergleichung deren mit dem Menschlichen Cörper, 1614; auch dort werden die „Commercien“ als „Adern“ eines Gemeinwesens beschrieben, vgl. S. 148) bezieht sich nun auf die ganze Welt. 11 Topisch sind im Grunde alle diese Argumente; so findet sich der Gedanke, daß der Warenaustausch „die weite Welt in eine Bürgerschafft / Aus Noth“ verknüpfe, auch in einer Musterrede Christian Weises auf den Tod eines Kaufmanns (vgl. Der Grünen Jugend Nothwendige Gedancken [1675] – SW 21, S. 365), ebenso wie Gottscheds providentielle Legitimation des Handels bereits den Vollkommenen Kauff- und Handels-Mann von Jacob Savary (frz. Orig. 1675, dt. 1676) eröffnet: „ES gibt die Vorsehung GOttes durch die auff dieser Erden angeordnete Dinge genugsam zuerkennen / daß Er die Einigkeit und Liebe unter allen Menschen pflantzen wollen / indem er denselbigen eine gewisse Art der Nothwendigkeit / daß einer des andern Hülff benöthiget seye / aufferlegt. Er hat nicht gewolt / daß all das jenige / welches zu dem Leben nothwendig / an einem Ort sich befände / sondern Er hat seine Gaben hin und wieder außgetheilt damit die Menschen unter einander handelten und Gewerb trieben / und die abwechselnde Notturfft einander die Hand zubieten / gute Freundschafft unter ihnen erhalten könte“ (S. 1). Unterschiedlich ist jedoch der argumentative Einsatz solcher Topoi. 12 Marperger: Trifolium Mercantile Aureum, S. 37.
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einem Primat handelspraktischer Gesichtspunkte. Wie die ‚geistigen‘ Inhalte der angeführten ‚Waren‘ bereits andeuten, dient der kaufmännische Handel dem Geselligen vielmehr als Modell für einen Austausch ‚höherer‘ Art: „Wir denken nicht an den Körper, und suchen eine Geselligkeit der Seelen, die auf den Verstand, Tugend und Freundschaft gegründet ist: dadurch erheben wir uns zu der wahren Würde der Menschheit, die wir besitzen.“13 Den Handel zu rechtfertigen, ja ihm höchste Zwecke zuzuweisen ist ein generelles Kennzeichen der aufklärerischen Gesellschaftstheorie wie praktischen Ethik. Daß diese Apologie auch und gerade von den Moralischen Wochenschriften, also einer ‚interdiskursiven‘ Textsorte, getragen wurde, spricht dabei für einen allgemeinkulturellen, nicht auf einen Spezialdiskurs14 begrenzten Geltungsgewinn, auch wenn die defensive Disposition von Gottscheds Argumentation zugleich erkennen läßt, daß mit der traditionellen moralischen Handelskritik durchaus noch zu rechnen war. Im 17. Jahrhundert war die (von prinzipiellen religiösen und moralischen Vorbehalten freie) Hochschätzung des Handels dagegen noch auf die merkantilistische bzw. kameralistische Spezialliteratur beschränkt gewesen. Die Verallgemeinerung dieser Hochschätzung im Laufe des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts vollzog sich allerdings nicht einfach als Übernahme der kameralistischen Argumente, die auf den ‚volkswirtschaftlichen‘ und fiskalischen Nutzen eines regen Handels abhoben. Gottsched bringt auch diese Argumente, wenn er darauf weist, daß Sachsen und besonders Leipzig ihren Wohlstand vor allem einer starken Kaufmannschaft zu verdanken haben und die landesherrliche Kammer „die stattlichsten Einkünffte“ daraus ziehe.15 Doch rangiert die merkantile Praxis in seiner Argumentation sowohl dispositionell als auch normativ hinter der theologisch-moralischen Rechtfertigung. Noch verstärkt hat sich diese Nachrangigkeit im zitierten Aufsatz des Geselligen. Auch hier wird der kaufmännische Handel in den Dienst eines externen Zwecks gestellt. Als ‚gesellige‘ Verbindung von Menschen ist dieser Zweck zwar nicht mehr transzendent definiert, doch steht er funktional und teilweise auch begrifflich (‚Seele‘) in deutlicher Analogie zu Gottscheds religiöser Zweckbestimmung des Handels. Dessen Aufwertung überhöhte die ökonomische Praxis weit mehr, als sie als solche wahrzunehmen. Was kaufmännisches Denken und Handeln auszeichne – Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit, genaue Kalkulation, soweit als möglich Berechnung des Zukünftigen, idealerweise auch Ehrlichkeit –, das empfehlen die Moralischen 13 Der Gesellige ebd., S. 223. Grundlegend zur Sozialtheorie des Geselligen vgl. Göttert:
Kommunikationsideale, S. 120–129. 14 Dazu vgl. Johannes Burkhardt: Wirtschaft – GG 7, S. 511–594, hier S. 564f. 15 [Gottsched:] Der Biedermann Bd. 1, S. 148; vgl. S. 147 (37. Blatt vom 12. 1. 1728).
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Wochenschriften als in jedem Beruf nützliche Prinzipien.16 Die Geschäftsmaximen des Kaufmanns eignen sich in besonderem Maße auch als allgemeine Lebensregeln. Um Geschäftsprinzipien in die allgemeine, für alle Bürger und für alle Lebensbereiche gültige Moral aufnehmen zu können, nehmen die Wochenschriften allerdings zwei epochentypische Modulationen vor: Das dynamische Moment des Gewinnstrebens wird allenfalls in Kauf genommen.17 Die vorbildlichen Tugenden des Kaufmanns sind die auf ‚Ordnung‘ bezogenen, nicht solche, die über die gegebene Ordnung hinausführen. In ihrem Dienst steht der als Distributor begriffene Kaufmann, und er wird deshalb hochgeschätzt, während die ‚produzierenden Stände‘ bis zum Ende des Jahrhunderts die weniger geachteten bleiben.18 Zudem ist die Vorliebe für den Kaufmann keine spezifisch ökonomische. Das hervorragende Interesse der Aufklärung an seinem Beruf bzw. Stand beruht vielmehr auf der Prämisse, daß Geschäft und Moral eine Einheit bilden: Kaufmännischer Erfolg belege, daß Gewissenhaftigkeit letztlich keine Last ist, sondern einen auch materiellen Segen bringt, und man wagt sogar den Umkehrschluß, daß merkantiler Mißerfolg auf moralische Defizite zurückzuführen sei.19 Indem die Einheit von praktischem Erfolg und Moralität stärker als je betont wird, schwindet zugleich freilich die Möglichkeit zu der im 16. und 17. Jahrhundert gängigen Kritik daran, daß in dieser Welt dem normwidrigen Verhalten der Erfolg zufalle. Es ist ein ideales Modell vernünftigen, d. h. moralischen und erfolgreichen Handelns, das der Kaufmann abgibt. Das verschafft ihm einerseits eine allgemeinere Relevanz, als wenn er allein als wirtschaftlicher Faktor interessierte, droht andererseits aber den Blick auf seine konkrete Geschäftstätigkeit zu verstellen. Einen schärferen Blick dafür zeigt unter den Moralischen Wochenschriften allein der in Hamburg erscheinende Patriot, der sich mehrfach recht konkret der Frage nach der rechten Lebensund Geschäftsführung stellt. Zumal wenn exemplarische Bankrotte vorgeführt werden, geht die Darstellung durchaus ins ökonomische Detail.20 Die Nahperspektive scheint auch der Grund dafür zu sein, daß hier das Gewinninteresse des Geschäftsmannes zur Sprache kommt, und zwar als unverzichtbarer Handlungsantrieb.21 Dagegen sind es bei Gottsched nicht einzelne Kaufleute, 16 Vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 308. 17 Vgl. [Gottsched:] ebd., S. 148: „Die Natur des Handels bringt es mit sich, daß er sich
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dahin ziehet, und da den meisten Vortheil bringet, wo man eine Waare am wohlfeilsten geben kan.“ Vgl. Burckhardt: Das Verhaltensleitbild „Produktivität“, S. 286. Vgl. Martens: ebd., S. 305, 311f. Vgl. Der Patriot Bd. 1, S. 9–17, (Nr. 2 vom 13. 1. 1724); S. 85–89 (Nr. 10 vom 9. 3. 1724). Ausführlicher zur Aufwertung des Interesses: Kap. 4.3.2 und 4.4.1.
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sondern ganze Länder oder Bevölkerungsgruppen, die „unzehlige Vortheile“ aus dem Handel ziehen.22 Zurückzuführen sind solche Differenzen nicht zuletzt auf das jeweils intendierte Publikum sowie auf den sich daraus ergebenden Themenzuschnitt der Beiträge. Die Aufsätze des Patrioten richteten sich vorwiegend an ein Publikum von Kaufleuten und deren Mitbürgern, denen Handelsgeschäfte eine Selbstverständlichkeit waren, die weniger einer expliziten Legitimation bedurfte als Hilfen zur praktischen Verbesserung. Gottsched hingegen wandte sich an eine beruflich weiter gestreute Leserschaft und argumentierte nicht von einer ihm und seinen Lesern vertrauten Handelspraxis aus, sondern bemühte sich um deren Legitimation im Rahmen eines ganzen Weltbildes. Der interdiskursive Geltungsgewinn ist mit einer Verunklärung und Verdeckung der ‚system‘-eigenen Mechanismen erkauft. Im Prinzip galten die Gottschedischen Normen auch innerhalb der Wirtschaftssphäre. Michael Maurer schließt aus den von ihm ausgewerteten Selbstzeugnissen von Kaufleuten, daß „die deutsche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts [...] noch keine Autonomie ökonomischer Werte“ kannte.23 Der Profitmaximierung wurde kein Primat zugebilligt. „Sparsamkeit, Arbeitsamkeit, Reinlichkeit, Ordnung und dergleichen bedeuten: Verantwortung für das Ganze fühlen. Der erwerbsorientierte Bürger ist nicht Egoist, sondern Hausvater; er erwirbt für die Seinen, für Frau und Kinder, für Anverwandte und Abhängige.“ In der Biographie eines sehr reich gewordenen Kaufmanns (1687–1775) heißt es: „Er wagte auch nicht alles, was die vorkommende Gelegenheit darbot, und begnügte sich mit der anständigen kaufmännischen Lebensart.“24 Wirtschaftliche Tätigkeit orientiert sich – zumindest da, wo sie Rechenschaft ablegt – an einer vorgegebenen Ordnung, die weithin noch als statisch begriffen wird und als ständisch kenntlich ist: „Bestimmte Waren (Kleiderstoffe, Schmuck, Luxusartikel) sind nur höheren Ständen angemessen. Der Kaufmann sieht sein Interesse nicht im Profit, sondern in der Distribution: Jedem das Seine, aber auch nur das Seine!“25 Maurer hat die ‚bürgerlichen‘ Normen des 18. Jahrhunderts aufgrund von über tausend zeitgenössischen Biographien rekonstruiert und vermag auf dieser Quellenbasis Mentalitätsgeschichte von außergewöhnlich hoher Validität zu schreiben. Zu beachten ist allerdings, daß die tatsächlich üblichen Handlungszwecke mit den explizierten Normen nicht übereinstimmen müssen,26 also zum Beispiel materieller ausfallen können. Die Zusammenstellung 22 [Gottsched:] Der Biedermann Bd. 1, S. 148 (37. Blatt vom 12. 1. 1728). 23 Maurer: Die Biographie des Bürgers, S. 355, vgl. auch S. 371. Das folgende Zitat ebd.,
S. 354. 24 Ebd., S. 369. 25 Ebd., S. 368. 26 Grundsätzlich dazu Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 167f.
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von explizierten Normen – und das gilt auch für die Analyse Moralischer Wochenschriften – reicht zur Rekonstruktion einer Mentalität nicht aus. Denn die angeführten altruistischen und asketischen Tugenden hochzuhalten kann ein Effekt ‚internalisierter Verstellung‘ sein, so daß Tugendnormen und darum unbekümmerte Geschäftspraxis ohne subjektiv bemerkten Widerspruch nebeneinander herlaufen. Die in Kapitel 4.3.5 analysierte Komödie Das Loos in der Lotterie von Gottscheds späterem Leipziger Kollegen Christian Fürchtegott Gellert führt das an einer ihrer Figuren – und zwar einem Kaufmann – vor. Ebensowenig eine bloße Reproduktion gesellschaftlich vorherrschender Normen finden wir in den nachfolgend herangezogenen Stücken der Gottschedin. Grosso modo den Moralischen Wochenschriften folgend, wertet die Sächsische Reformkomödie den Kaufmann zwar auf. Doch trägt die Gattungsform (bei Gellert deren satirisches Element) dem Bild und der Funktion der Geschäftssphäre ebenso Spezifika ein. Das kann eine kritische Distanznahme der angedeuteten Art bedeuten, aber auch – wie im nächsten Kapitel (2.7.2) an Luise Gottscheds Ungleicher Heirath zu erläutern ist – eine forcierte Funktionalisierung von Geschäftsprinzipien. Zunächst einmal wirkte die Gattungsform freilich dahin, daß der Kaufmann nur in beschränktem Maße als Identifikationsfigur auftreten konnte. Als produktionsästhetische Entscheidung stand jeweils an, ob er in der Tradition satirischer Lasterkritik verlacht werden – dem ließ seine veränderte Bewertung aber nur wenig Raum – oder ob er als tugendhafte Vorbildfigur auftreten sollte – dann aber konnte er nur am Rande des Geschehens agieren und mußte zumal sein Geschäft ausgeblendet werden. An Luise Gottscheds Einakter Der Witzling, der in dieser Zwickmühle eine vermittelnde Stellung einzunehmen versucht, wird das nächste Unterkapitel (2.6.2) dies weiter verfolgen. Allerdings sind es nicht allein die nun zur Aporie verschärften Ambivalenzen der Gattung zwischen moralischer Norm- und komischer Wirkungsintention,27 die den Kaufmann zu einer – vom ideologisch Erwartbaren her gesehen – ‚Leerstelle‘ der Aufklärungskomödie machen. Vorbehalte gegen Merkantilität speisten sich ebenso daraus, daß der Kaufmann nicht nur eine potentielle Figur der Komödie, sondern auch eine notwendige Rolle war, in die schlüpfen mußte, wer eine Komödie zur Aufführung bringen wollte, war das Theaterwesen doch ganz überwiegend marktwirtschaftlich organisiert (2.6.3).
27 Grundsätzlich zu diesem Widerstreit vgl. Mahler: Soziales Substrat, Komik, Satire,
Komödie.
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2.6.2 Der Kaufmann als Leerstelle der Komödie (Der Witzling) Daß in der deutschen Literatur der Aufklärung ein dem wirtschaftlichen Aufstieg paralleler Geltungsgewinn des Kaufmanns zu verzeichnen sei, ist in der Forschung beinahe schon ein Topos.28 Für die Komödie läßt sich dies allenfalls eingeschränkt bestätigen. Zwar wird die Position des Vaters oder Vormunds, dessen Tochter am Ende verheiratet wird, häufig mit einem vermögenden Kaufmann besetzt.29 Doch kann das Kaufmännische ganz ausgeblendet werden oder in der Handlungsweise der Figur marginal bleiben; zudem tritt es keineswegs nur in vorbildlicher Ausprägung auf, sondern kaum weniger häufig in Verbindung mit Betrügereien und Wucher, mit Lastern wie Geiz oder mit Untugenden wie Unbildung, berufsfixierter Beschränktheit und Un28 Von „den zahlreichen Kaufmannsdramen der Zeit“ spricht Helmut Koopmann: Geld
und Literatur im 18. Jahrhundert. – In: Wirtschaft in Wissenschaft und Literatur, S. 31–54, hier S. 33; zurückhaltender dagegen Fiederer: Geld und Besitz, S. 100–104 (zum Bürgerlichen Trauerspiel); zum ‚Schauspiel‘ der 1770er und 80er Jahre vgl. Ingrid Ladendorf: Die Familie unter dem Patronat des Deus-ex-Machina: zum deutschen Familienschauspiel (1750–1800) zwischen Affirmation und Subversion bürgerlicher Werte. – In: Bürgerlichkeit im Umbruch, S. 93–117, hier S. 107f. Am pointiertesten hat John W. Van Cleve jene These vertreten: Ausgehend von einem Bild des Handels, das durch egoistisches Gewinninteresse und habituellen Betrug extrem negativ gekennzeichnet sei (so in Albrecht von Hallers Alpen), sei der Kaufmann seit der Jahrhundertmitte zunehmend als ideales Glied der Gesellschaft dargestellt worden, als kosmopolitisch, engagiert, großzügig (gipfelnd in Lessings Nathan); vgl. Van Cleve: The Merchant in German Literature of the Enlightenment, S. 137–140. Damit habe die Literatur nicht unerheblich dazu beigetragen, das gesellschaftliche Ansehen des Handels zu verbessern, und bürgerliche Selbstbehauptung gegen den vorherrschenden Adel betrieben. Indem sich die Literatur ökonomischer Sujets angenommen habe, sei es gelungen, die Reihen des Bürgertums zu schließen, wodurch ein (Theater-)Publikum herangezogen worden sei, das wiederum den Aufstieg der Literatur getragen habe (vgl. ebd., S. 18, 30, 88–90). Bestätigen können wir an diesem Bild einer perfekten Harmonie von Literatur- und Sozialgeschichte lediglich, daß die Reklamation kaufmännischer Rationalität der bürgerlichen Selbstbehauptung gegen den Adel diente (vgl. dazu unsere Lektüre der Ungleichen Heirath). Anfechtbar sind dagegen die schmale und kontingente Materialgrundlage des Buches sowie die Vernachlässigung der Gattungsbedingtheit der jeweiligen Gestaltung der Kaufmannsfigur. Zu wenig beachtet wird, welche Stellung – pragmatische Funktion und normative Relevanz – die Kaufmannsfiguren in ihren Texten einnehmen, und welche Bedeutung ihr Beruf für ihr Handeln und ihre Überzeugungen hat. So hat Bozena Prusinska Van Cleves Thesen dergestalt relativiert, daß die im bürgerlichen Trauerspiel sowie in Komödien der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auftretenden Kaufmannsfiguren im internationalen Vergleich kaum Standesbewußtsein oder Berufsethos zeigen und sich keineswegs als Vorkämpfer des gesamtgesellschaftlichen Wohls verstehen (vgl. Die Kaufmannsfigur im bürgerlichen Drama). Vor allem aber fehlt eine quantitative und qualitative Gewichtung der unbestreitbaren Aufwertung des Kaufmanns mit Berücksichtigung der jeweiligen Diskursspezifika. 29 Vgl. Catholy: Das deutsche Lustspiel Bd. 2, S. 24f.
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geselligkeit.30 Manche vorbildliche Protagonisten entstammen lediglich einer Kaufmannsfamilie, sind selbst aber nicht geschäftlich tätig. Sie verfügen über ein ererbtes Vermögen, das es ihnen erlaubt, sich großzügig zu erweisen, sind der moralischen Gefahren des Geschäftslebens jedoch enthoben. Als allgemeine Regel kann gelten: Je negativer eine Kaufmannsfigur gezeichnet ist, desto mehr Anteil hat sie am Bühnengeschehen, quantitativ wie qualitativ.31 Unter dramaturgischem Aspekt sollte das nicht allzu sehr überraschen, konnten wir doch schon an Schochs Comoedia Vom Studenten-Leben beobachten, daß die Vorbildfigur kaum Anteil an der Handlung gewinnen konnte. Die idealisierende Moralisierung, welche die sozialprogrammatischen Deutungen des Handels in den Zeitschriften der frühen und mittleren Aufklärung betrieben, bot der Komödie also wenig Ansatzpunkte. Die alternative Möglichkeit, den Kaufmann als gewieftesten ‚Politicus‘ auftreten zu lassen, der jede Situation überblicke, sich nicht täuschen lasse und stets seinen Vorteil zu wahren wisse, wurde gleichfalls nicht ergriffen, obwohl der Hofmann als Prototyp des Weltklugen zu Beginn des 18. Jahrhunderts eben durch den Kaufmann abgelöst worden war32 und die Komödienfigur des Intriganten eben das ihm zugemessene taktische Geschick benötigt. (Andeutungsweise hatte Gryphius’ Cleander sowohl als Händler wie als Politicus gehandelt, als er Sophia der Tugendprobe unterzog.) Den Kaufmann als Politicus zu profilieren hätte dem gängigen Betrugsverdacht gegen seinen Stand freilich kaum entgegenwirken können. In den Vordergrund wäre das Moment individueller Durchsetzungsfähigkeit gerückt, nicht die Leistung für das gesellschaftliche Ganze. Was gattungspoetisch sinnvoll gewesen wäre, weil es das in der deutschen Komödie wenig verbreitete, komikträchtige Handlungsmuster ‚Intrige‘ gestärkt hätte, vertrug sich indes weder mit den moraldidaktischen Absichten der Reformautoren noch mit dem normativen Konstrukt einer ausgesprochen sozialen Kaufmannsethik.33 30 Vgl. unten die Kapitel zu Borkensteins Bookesbeutel oder Gellerts Loos in der Lotte-
rie sowie den Überblick bei Friederici: Das deutsche bürgerliche Lustspiel der Frühaufklärung, S. 62–64. Der von Friedericis marxistischem Geschichtsbild vorgegebene Befund, daß die „positiv angelegten“ Kaufmannsfiguren „in der Überzahl“ seien, wird durch die folgenden Textverweise kaum belegt. Selbst Lessing beginnt sein Lustspielschaffen mit einer nur auf ihren Vorteil bedachten Kaufmannsfigur, vgl. Chrysander in Der junge Gelehrte von 1748. 31 Vgl. Fiederer: Geld und Besitz, S. 188–192. Selbst auf das Bürgerliche Trauerspiel konzentriert, zieht Fiederer insgesamt 36 Komödien mit Geldmotivik zum Vergleich heran, zumeist aus dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts (vgl. die Quellenbibliographie ebd., S. 360–363). 32 Vgl. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 277. 33 Intriganten sind dementsprechend, so sie denn auftreten, Figuren mit verminderter Verantwortlichkeit, d. h. Diener oder Frauen. Zu den Vorbehalten der Aufklärung gegen die Intrige vgl. Memmolo: Strategen der Subjektivität, S. 125–128.
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Was die Ausblendung des konkreten Geschäftsbetriebs angeht, arbeiteten Moralisierung und Gattungsästhetik dagegen Hand in Hand: Geschäfte, die so ‚ehrlich‘ betrieben würden, wie man es immer wieder beschwor, wären kaum bühnenwirksam gewesen – daher treten reiche Retter regelmäßig erst am Ende bzw. zur Beendigung des Konflikts in Aktion. Umgekehrt verliert die Gattung ihre Komik und wandelt sich in die neue Gattung des ‚Schauspiels‘, als im letzten Jahrhundertdrittel tugendhafte Kaufmannsfiguren die gesamte Handlung zu beherrschen beginnen, wie das Schlußkapitel des Kaufmannsteils an Gottlieb Konrad Pfeffels Der Kaufmann oder Die vergoltene Wohlthat sowie Karl Lessings Bankrot vorführen wird. Zwar fällt die deutsche Aufklärungskomödie, indem sie kaum Geschäftspraktiken auf die Bühne bringt, nicht völlig aus dem europäischen Rahmen, denn auch die scharfe, auf eine allgemeine Gesellschaftskritik und nicht nur auf einzelne Lasterhafte zielende Satire auf das zeitgenössische Geschäftsleben in John Gays Beggar’s Opera (1728) und Alain-René Lesages Turcaret (1709) – also in den berühmtesten ‚Geldkomödien‘ der englischen und französischen Literatur des 18. Jahrhunderts – arbeitet mit einer indirekten Darstellungsweise: in Gays Opernparodie durch Zuschreibung von Kaufmannskalkulationen an einen Bettlerkönig, bei Lesage indem die Manipulationen, mit deren Hilfe der Finanzpächter Turcaret reich geworden ist,34 in einer Handlung unter solchen Figuren gespiegelt werden, die in persönlichen, ja intimen, aber nichtsdestoweniger betrügerischen Beziehungen zueinander stehen. Jedoch hätte eine publikumswirksame Darstellung von Geschäftspraktiken eingestehen müssen, daß List und Betrug üblich sind – so wie Ludvig Holbergs Eilfter Junius (dänisches Original 1723, in deutscher Übersetzung 1745 erschienen), dessen dritter Akt auf der Kopenhagener Börse spielt und anschaulich vorführt, wie ein Kreditgeschäft ausgehandelt wird, wie Wechselkurse sich herausbilden und schwanken oder wie Schulden umgeschichtet werden.35 Hier sichert kein moralisch befriedigender Ausgang die ‚Richtigkeit‘ all dieses Handel(n)s, denn sowohl der Schuldner Schuldenreich als auch der Gläubiger Ochsenhold – der elfte Juni ist der übliche Zahltag – sind Betrüger, mit dem Unterschied nur, daß jener gerissen, dieser aber einfältig ist (so daß Ochsenhold am Ende ohne sein Geld abziehen muß).
34 Von Turcarets eigenen Geschäftspraktiken wird lediglich erzählt, vor allem in einem
Gespräch der Titelfigur mit seinem ‚Angestellten‘ Rafle (III,7). 35 Vgl. Holberg: Der Eilfte Junius, ein Lustspiel, in fünf Handlungen – Dänische
Schaubühne Bd. 1, S. 239–304, hier S. 265–267. In den deutschen Aufklärungskomödien sind die Betrüger zumeist Wucherer oder Bankrotteure (vgl. Fiederer: Geld und Besitz, S. 188f., 191f.), also Ausnahmevertreter, nicht Muster des Kaufmannsstandes.
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Eine der am positivsten gezeichneten Kaufmannsfiguren der Sächsischen Komödie ist Herr Reinhart in Luise Adelgunde Viktorie Gottscheds Witzling. Die Mitte der 1740er Jahre entstandene, als einaktiges Nachspiel zu einer Tragödie gedachte Komödie spielt in einem reichen Leipziger Kaufmannshaushalt und stellt das Haupt der Familie und des Geschäfts als väterlichliebenswürdigen Menschen mit sowohl weitgespannten Handelsbeziehungen als auch schöngeistigen Interessen vor. Reinhart ist ein Kaufmann ganz nach dem Bilde der Moralischen Wochenschriften: ehrlich, höflich, fürsorglich, in Geschäften „mit guten Freunden“ (1, S. 9, 10, 12)36 erfolgreich, ohne gewinnsüchtig zu sein, voll Achtung vor den Wissenschaften und mit gemessenem Interesse an den schönen Künsten. Trotzdem – oder gerade deswegen – bleibt er eine Randfigur, die weder die Handlung zu steuern noch Normen zu setzen vermag. Der ‚Konflikt‘ des Stücks ist schnell exponiert: Reinhart möchte sein Mündel, Jungfer Lottchen, an den im Hause wohnenden Studenten Vielwitz verheiraten (1, S. 11). Besonders in der Commedia-dell’arte-Tradition beliebt, weist dieses Komödienmotiv dem ‚alten Mann‘, dem Pantalone, üblicherweise eigennützige Motive zu, vor allem Geiz.37 Reinhart dagegen handelt aus Fürsorglichkeit und Freundschaft zu Lottchens verstorbenem Vater (1, S. 10). Das wertet ihn und seinen Stand erheblich auf. Trotzdem kann von einer, so Van Cleve, „completely positive figure“38 keine Rede sein. Reinharts weniger vorbildliche Charakterzüge sind schon deshalb nicht zu übersehen, weil aus ihnen der ‚Konflikt‘ entsteht, daß Lottchen einen Mann heiraten soll, den sie vernünftigerweise nicht wertschätzen kann, weil er ein eitler, hochmütiger Schwätzer ist. Konkret: Dem Vormund mangelt es in krasser Weise an der Fähigkeit, Sein und Schein anderer Menschen zu unterscheiden. Was Lottchen sofort bemerkt hat, ist ihm auch nach zwei Wochen häuslicher Gemeinschaft mit Vielwitz nicht aufgegangen: daß dieser junge Gelehrte bloß „recht sehr klug thut“ (1, S. 9). Nur diese kapitale Täuschung konnte ihn glauben machen, daß sein Heiratsvorschlag Lottchen „was zu Gefallen“ tue (1, S. 12). Als Kaufmann blamiert sich Reinhart damit in einem maßgeblichen Punkt. Denn ein gutes iudicium galt als wichtigste Fähigkeit des Kaufmanns, der 36 Zitate nach der von Wolfgang Hecht besorgten Ausgabe. Die Ziffer vor der Seitenzahl
bezeichnet die Szene. 37 Unter den hier behandelten Stücken folgen Molières Avare (Harpagon vs. Elise), Gel-
lerts Loos in der Lotterie (Herr Damon vs. Carolinchen) sowie Borkensteins Bookesbeutel diesem Schema (im letztgenannten Stück ist es der Sohn, dem der Geiz des Vaters zum Ehehindernis zu werden droht). 38 Van Cleve: The Merchant in German Literature of the Enlightenment, S. 89. Für Van Cleves These einer engen Wahlverwandtschaft von Kaufmannschaft und aufklärerischer Literatur hat die Figur eine zentrale Bedeutung, da sie jene Wahlverwandtschaft zum ersten Mal uneingeschränkt verkörpere (vgl. ebd., S. 90).
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laufend in unübersichtlichen Situationen Entscheidungen fällen müsse. Zweifelhaft seien häufig sowohl die Qualität der angebotenen Waren wie die Seriosität des Geschäftspartners, stets unsicher die weitere Entwicklung des Marktes und, davon abhängig, der Preis, zu dem der Kaufmann künftig kaufen und verkaufen kann.39 Wie wir sahen, leitete The Merchant of Venice aus dieser unaufhebbaren Unsicherheit kaufmännischer Geschäfte (dort gesteigert durch die Risiken des Seehandels) die Forderung zunächst nach Gottesfurcht und sodann nach einem Handeln nach Maßgabe des Gabeprinzips ab. Den Respekt vor der Maßgeblichkeit des „Göttlichen Seegens“ für den geschäftlichen Erfolg verlangt auch noch der „Kauffleute“-Artikel in Zedlers Universal-Lexikon von 1737, um in praktischer Hinsicht indessen ‚politisches‘ Geschick zu empfehlen, denn es finde „niemand mehr zweifelhaffte Fälle vor sich [...] als ein Kauffmann“.40 Zu beurteilen, „wem zu trauen sey“ – eine Kernkompetenz des Politicus und jedes in der ‚Welt‘, also über die Privatsphäre hinaus Tätigen –, hat Reinhart aber offensichtlich nicht gelernt. Ausgerechnet sein Mündel erweist sich als in ihrer „Urtheilskraft“ (1, S. 10) weit überlegen!41 Für die Komödie ist die taktische Überlegenheit der ‚jungen unverheirateten Frau‘ durchaus typisch, ebenso der Sieg, den sie, zusammen mit dem ‚jungen unverheirateten Mann‘ über den Alten erringt, der beider Verbindung entgegensteht. Im Witzling ist diese Konstellation so weit wie möglich zurückgenommen: Reinhart beharrt nicht auf seinem Heiratsplan, muß also auch nicht überwunden werden, und die satirische Energie richtet sich ganz überwiegend gegen den ‚falschen‘ Heiratskandidaten Vielwitz. Trotzdem kann Reinhart nicht die Rolle einnehmen, die etwa die Moralischen Wochenschriften dem Kaufmann zuweisen. Es ist demnach das übliche Komödienhandlungsschema, das der (an die Stelle des Pantalone gesetzten) Kaufmannsfigur weder die ihrem Berufsstand außerliterarisch zugewiesene Tatkraft noch die dazugehörige Urteilsfähigkeit gestattet. Die traditionell verlachte Figur kann charakterlich aufgewertet werden, nicht aber eine die Gattungsmuster sprengende Rolle übernehmen, denn der ‚ehrliche‘ und mit ‚ernsten‘ Geschäften befaßte Kaufmann eignet sich weder dazu, eine ‚gute‘ Intrige anzuspinnen – 39 Vgl. Zedler: Universal-Lexikon Bd. 15 (1737), Sp. 260–262, s. v. Kauffleute; zum
kaufmännischen Judicium auch Marperger: Nothwendig und nützliche Fragen über die Kauffmannschafft, S. 57. 40 Zedler: ebd. Das folgende Zitat ebd., Sp. 261. 41 Vgl. Luise Gottsched: Der Witzling, S. 10: „Herr Reinhart. Der Mensch [Vielwitz] denket und saget doch aber alles Gutes von sich. Jungfer Lottchen (lachend). Eben darum glaube ich es nicht, weil er es selbst sagt.“ Ähnlich, d. h. als ehrlich und sympathisch, aber beschränkt, ist die Kaufmannsfigur in Johann Elias Schlegels Geschäfftigem Müßiggänger (1743) gezeichnet, und auch dort bleibt sie am Rande des Geschehens; vgl. Van Cleve: ebd., S. 83–85.
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das ist Sache der Innamorati oder ihrer Diener –, noch dazu, die komischen Situationen herbeizuführen, in denen die ‚lasterhaften‘ Figuren selbst ihre Lächerlichkeit demonstrieren (dieser zweite Komödienhandlungstyp prägt den weiteren Verlauf, die acht folgenden Szenen des Witzlings). In der aufklärerischen Behandlung von Handel und Geschäften wird hier ein literaturgeschichtlich folgenreicher Widerspruch sichtbar: Ausgerechnet jenem Berufsstand, dem programmatisch nicht weniger zugemutet wurde, als musterhaft zwischen Vorsehung und materiellen Bedürfnissen zu vermitteln, vermag die bevorzugte – und bevorzugt mit Geldproblemen befaßte – Gattung der Epoche nur einen marginalen Platz zuzuweisen, jedenfalls solange sie mehr Satire als Sittenbild sein will. Normativ überbesetzt, bleibt der Kaufmann geradezu notwendig eine Leerstelle. Folgenreich schließlich wurde dieser Widerspruch, weil seine Auflösung im ‚Schauspiel‘ der zweiten Jahrhunderthälfte nur um den Preis eines veränderten Gattungssystems möglich war (vgl. Kap. 2.8.2). Der Witzling kennt kaufmännischen Sinn ausschließlich als Fixierung auf nur einen, in der vorgeführten Situation unangemessenen Wertmaßstab. Das in ökonomischer Hinsicht durchaus vernünftige Denken in Geschäftsrelationen ist Hauptursache für Reinharts Unfähigkeit, Menschen wie Situationen richtig einzuschätzen: „Herr Reinhart. [...] der junge Vielwitz soll abgeschmackt seyn? Sein Vater ist ein so reicher Mann! ich wollte ihm wohl mein ganzes Vermögen creditieren.“ (1, S. 9) Selbst wenn er versucht, anderes, Persönlicheres in Rechnung zu stellen, verwirrt ihm der Geldmaßstab Sein und Schein. Wieder Reinhart: „Er [Vielwitz] ist brav reich, und Sie [Lottchen] ist auch brav reich. Sie liest und hört und redt gern was Kluges: und er sagt auch, daß er sehr klug ist. So dünkt mich, Ihr schicktet Euch gut zusammen.“ (1, S. 11) Nicht Vielwitz’ Vermögen, aber seine Gelehrsamkeit ist jedoch nur Blendwerk. Geldkritik betreibt Der Witzling also nach wie vor als Scheinkritik. Das letzte und neben dem Testament einzige ‚originale‘, d. h. nicht aus dem Französischen übersetzte Lustspiel der Gottschedin setzt eine Tradition fort, die ein Jahrhundert zuvor schon den Horribilicribrifax trug (wenn es auch nicht um die christliche Unterscheidung ewiger und vergänglicher Güter, sondern um charakterliche Werte geht). Dieser Tradition scheint das satirische Lustspiel generell nicht entkommen zu können, schließlich ist es darauf angelegt, ein Verhalten als bloßen Schein, als Selbsttäuschung wie als Täuschung anderer, auszuweisen. Der Witzling führt dabei die Grenzen vor, die der – auktorial offenkundig gewollten – Aufwertung des Kaufmanns auf figürlicher und handlungsmotivischer Ebene entgegenstehen. Passend zu dieser Reserve ist es eine Literatur- und Gelehrtensatire, die den größten Teil der ‚Handlung‘ des Witzlings ausmacht. In den Szenen 3 bis 7 produzieren – und entlarven – sich Vielwitz sowie zwei weitere überaus
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von sich eingenommene Jünglinge, der Mathematiker Sinnreich sowie der Dichter Jambus, indem sie die eigenen Werke – obschon noch gar nicht vorliegend – in den Himmel loben, die anderer hingegen leichthin verdammen. Dabei richtet sich die Satire nicht allein gegen intellektuelle Eitelkeit im allgemeinen; die Art und Weise, wie die von Gottsched herausgegebene Deutsche Schaubühne niedergemacht wird (6, S. 24–26), weist vielmehr ebenso auf eine besondere Zielscheibe wie die Zeitschrift „Der Lustigmacher“, die die drei Kritiker zur Propagierung ihres ‚regelwidrigen‘ Geschmacks gründen (6, S. 33), nämlich auf die von Gottsched wenig zuvor ‚abgefallenen‘ Autoren der Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes (kurz ‚Bremer Beiträge‘ genannt), speziell auf Johann Elias Schlegel.42 Die satirische Kritik des Witzlings richtet sich demnach gegen drei verschiedene Figuren bzw. Gruppen: zunächst und vor allem gegen Vielwitz und Genossen, sodann – vorsichtig – gegen Reinhart sowie gegen alle geldfixierten Kaufleute, schließlich verdeckt gegen Gottscheds literarästhetische Gegner. Vorderhand scheinen die so Getroffenen recht heterogen, doch haben sie (nach Ansicht der Gottschedin) einen Mangel an Urteilsfähigkeit gemeinsam: Der eitle Studiosus macht sich durch die Unfähigkeit zur Einschätzung des eigenen Ranges lächerlich, der Kaufmann vermag nicht zwischen Sein und Schein zu unterscheiden, und den ‚Bremer Beiträgern‘ wird indirekt ein irriger Literaturgeschmack vorgeworfen. Aus literatur- bzw. theaterhistorischem Blickwinkel wird sogar noch eine weitere Parallele erkennbar: Mit einem Kaufmann verbindet den literarischen Konkurrenten Schlegel, daß er Marktkriterien auch für die Dramenpoetik geltend zu machen versuchte (vgl. unten 187f.). Anders gesagt: Die Geld- und Kaufmannskritik des Witzlings steht in konzeptioneller Parallele zum Streit zwischen Gottsched und seinen ehemaligen Schülern darum, in welchem Maße die literarische Ästhetik, insbesondere die Dramenpoetik, sich an den Bedürfnissen des Publikums zu orientieren habe. Diese These meint nicht, daß die Gottschedin Geldkritik und Literatursatire in einem Lustspiel zusammenpackte, weil sie und ihr Gatte jene Parallele gesehen hätten. Eine solche Intention läßt sich nicht belegen und wäre zudem zweitrangig. Entscheidend ist vielmehr die literatur- bzw. komödiengeschichtliche Konstellation: das Verhältnis der Komödie(npoetik) zum Markt – zum literarischen Markt ebenso wie zum wirtschaftlichen – sowie die Umstrittenheit dieses Verhältnisses, die sich im Witzling andeutet. Dies zu erläutern erfordert indessen, theater- und poetikgeschichtlich etwas auszuholen. 42 Vgl. Van Cleve: Harlequin Besieged, S. 159. Schlegel kann man als den – im Witzling
ungenannten – Autor des Stücks erschließen, das Vielwitz von seinen Verdikten ausnimmt (vgl. Der Witzling, S. 25, Sz. 6).
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2.6.3 Markt und Theater oder Streit um Gottscheds Bühnenreform Zu erklären ist die Reserve der frühaufklärerischen Komödienautoren gegenüber der kaufmännischen Praxis auch mit der Marktsituation, in der sich das Theater selbst befand, und zwar sowohl mit ihrer Auffassung, wie das Verhältnis von Konkurrenz und Ordnung auf jenem Markt zu regeln sei, als auch mit der schwachen Position der Reformer darauf. Hatten wir es eben mit der Gattung selbst inhärenten Widerständen gegen die Umsetzung der gesellschaftstheoretischen Aufwertung des Handels in eine entsprechende Komödienhandlung zu tun, so geht es nun um Widerstände, die aus den (geschäftlichen) Bedingungen von Komödienaufführungen resultierten. Auffälligerweise handelt es sich in beiden Fällen (textintern wie textextern) um die praktische Seite des komödiantischen Spiels, die den theoretischen Wandel konterkariert, anders gesagt: in der sich traditionelle Normen, Mentalitäten und Handlungsmuster gegen ‚Modernisierung‘ behaupten. Dem eingangs dargelegten Grundsatz folgend, ausländische Stücke und Verhältnisse dann einzubeziehen, wenn sie hierzulande rezipiert wurden, beschränkt sich die Rekonstruktion der institutionellen Bedingungen des Komödienspiels auf die Verhältnisse im Reich. Nicht nur der Vollständigkeit halber verdienen die theaterbetrieblichen Bedingungen der hier herangezogenen fremdsprachigen Originale The Merchant of Venice und L’Avare zumindest aber einen Seitenblick. Beide haben ihren Ort in einer Hauptstadt, in der sich sowohl die politische Macht als auch die wirtschaftlichen und künstlerischen Energien des Landes konzentrieren. In dieser komplexen Konstellation entstand ein ortsfestes, ästhetisch breit gefächertes, durch die Konkurrenz mehrerer Truppen und Spielstätten zusätzlich belebtes Theater, das sowohl auf dem ‚Markt‘ zu bestehen wußte als auch das Interesse (und in Paris überdies die finanzielle Unterstützung) des Monarchen fand und aus der Spannung zwischen diesen Orientierungen immer wieder aktuell-kritisches Kapital schlug.43 Solche Bedingungen waren im frühneuzeitlichen Reich nie und nirgends gegeben, weder im kaiserlichen Wien (vgl. dazu Kap. 3.7.1) noch in der ‚Hauptstadt der literarischen Aufklärung‘, in Leipzig. Deutschsprachiges Theater war zu Beginn und auch noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts nahezu durchgängig Wandertruppentheater.44 Der protestantische Schultheaterbetrieb war unter pietistischer Kritik und obrigkeitlichem Druck bis auf wenige Ausnahmen zum Erliegen gekommen. Allein in Wien blühte, seit Anton Stranitzkys Bezug des Komödienhauses am Kärtnertor 43 Zu Molière vgl. den Überblick bei Grimm: Molière, S. 24f., 34–38; zum London der
Shakespeare-Zeit zuletzt Dillon: Theatre, Court and City, 1595–1610. 44 Zum Wandertheater des 17. Jahrhunderts vgl. die Kap. 2.3 und 3.4.
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1711/12, ein stationäres deutschsprachiges Theater.45 Wohl gab es zeitweilige Engagements an fürstlichen Höfen – ‚Volks‘- und Hofbühne sind im Bereich des deutschsprachigen Theaters also nicht als Gegensätze zu denken, zwischen denen eine zu füllende Lücke geklafft hätte46 –, doch keinerlei feste Bestallung oder relativ dauerhafte mäzenatische Unterstützung. Das Theaterwesen war damit so gut wie vollständig vom Markt abhängig: vor allem von den Schauinteressen des Publikums, aber auch von Vorgaben der Obrigkeit, die mitunter gerade das verbot, was besonders zugkräftig war, und zudem erhebliche Abgaben forderte.47 Hinzu kam die Konkurrenz der Truppen untereinander. Einen Marktfaktor bildete das Theater aber auch seinerseits, als Konsument von Waren und Dienstleistungen ebenso wie als Attraktion, die Auswärtige in eine Stadt ziehen sollte. Konsequenterweise galt Theaterspiel als „gewerbliche Tätigkeit“: Komödie zu spielen, dieses öffentlich zu tun, dafür von Zuschauern Geld zu fordern und von dieser Einnahme seine Existenz zu bestreiten war ein Gewerbe [...]. Wir sind hier noch denkbar weit entfernt von einer Auffassung, die die Bühnenaufführung als eigenständige Kunst begreift, die an sich schon einen wie auch immer zu bestimmenden Eigenwert besitzt.48
Wie alle Märkte der Frühen Neuzeit war der Markt, auf dem das Theater sich behaupten mußte, allerdings kein freier. Vielmehr unterlag er einer obrigkeitlichen Kontrolle, die von der Vorstellung einer einzuhaltenden Ordnung ausging. Fürsten gewährten – mitunter exklusive – Privilegien als Spielerlaubnis und Schutzzusage für ihr Land, um die Konkurrenz der Truppen untereinander einzudämmen, ließen den Marktmechanismen also keinen freien Lauf.49 45 Vgl. Meyer: Das französische Theater in Deutschland, S. 150f.; Zeman: Die Alt-Wie-
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ner Volkskomödie, S. 1305. Zu den protestantischen Gymnasien, die den Spielbetrieb bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts aufrechterhielten, zählten die beiden Breslauer Gelehrtenschulen, von denen das Elisabethgymnasium auch einige Dramen von Gryphius zur Aufführung gebracht hatte; vgl. die Quellendokumentation Das Breslauer Schultheater sowie das Nachwort von Konrad Gajek, bes. S. 8*–10*. In der Forschung zur (früh)aufklärerischen Theaterreform kehrt die doppelte Stoßrichtung einerseits gegen manche höfische Bühnenpraktiken, andererseits gegen das ‚Pöbelvergnügen‘ des Wandertheaters häufig in Form einer Dichotomie von „aristokratischem Prunktheater“ und „marktorientiertem (und daher oft marktschreierischem) Wandertheater“ wieder, zwischen denen das neu zu schaffende Theater sich habe durchsetzen müssen (vgl. Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 17). Bärbel Rudin weist dagegen darauf hin, daß hier wie dort dieselben Truppen spielten, und spricht von einem „Verbundsystem einer Bürger und Adel, akademische Jugend und internationale Geschäftswelt umgreifenden Theaterversorgung“ (Zwischen den Messen in die Residenz, S. 78). Unter den bisher besprochenen Stücken kann Der Jude von Venetien als Muster des an Höfen gespielten Wandertruppenrepertoires gelten. Vgl. Graf: Das Theater im Literaturstaat, S. 13. Zielske: Kunst und Kommerz, S. 10. Vgl. ebd., S. 13–16, 28. Sowohl die Betrachtung des Theaters als Geschäfts als auch
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Räte machten Auflagen für Aufführungen in ihrer Stadt, forderten Abgaben für die örtlichen Sozialdienste, legten Eintrittspreise fest und verboten Selbstverköstigung, um die wirtschaftlichen Effekte des jeweiligen ‚Gastspiels‘ zu kontrollieren.50 Der Markt (als wirtschaftliches Prinzip) wurde hier als Instrument einer vorgängigen Ordnung verstanden, nicht als das, was eine Ordnung erst herausbildet. Freilich funktionierte die obrigkeitliche Marktsteuerung nicht immer, wie sie gedacht war: Der Prinzipal Heinrich Gottfried Koch sicherte sich in den 1770er Jahren mehrere ost- und mitteldeutsche Privilegien, die seine Truppe alleine gar nicht nutzen konnte – um sie an andere zu vermieten.51 Koch eröffnete einen Markt ‚zweiter Ordnung‘, der sich dem Privilegienprinzip, ja überhaupt dem frühneuzeitlichen Ordnungsgedanken entzog. Auch das funktionierte allerdings nur zeitweise: in Sachsen wurde seiner Witwe das nur gehandelte, nicht genutzte Privileg entzogen und wieder neu vergeben.52 Durchgesetzt hatte sich, und das gilt nicht bloß für das Theaterwesen, das Prinzip des ‚freien‘ Marktes auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht.53 ‚Geregelter‘ oder ‚freier‘ Markt – das sind Varianten eines Prinzips, die sich idealtypisch einerseits dem alteuropäischen Ordnungsdenken, andererseits der dynamischen, ‚performativen‘ Moderne zuordnen lassen. Den Markt kontrollierend zu nutzen, nicht aber ihn gewähren zu lassen, war das Prinzip auch der Theaterreform, die Gottsched seit 1727 durchzusetzen suchte. Bekanntschaft mit dem Theater hatte er bei Gelegenheit eines Leipziger Gastspiels – wie üblich „zur Meßzeit“ – der „privilegierten Dresdenischen Hofkomödianten“ Karl Ludwig Hofmanns gemacht, die indessen „lauter schwülstige und mit Harlekins Lustbarkeiten untermengte Haupt- und Staatsaktionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebesverwirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten“ spielten.54 Wie Gottsched in der Vorrede zu seinem Sterbenden Cato (1732) schreibt, war seine erste Reaktion zu fragen, warum man nicht Gryphius, unter anderem den Horribilicribrifax aufführe. Weil solche Stücke nicht hinreichend komisch seien und das Publikum sie deshalb nicht mehr sehen wolle, lautete Hofmanns Antwort. Darauf reagierte
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die staatlichen Ambitionen, dieses zu regeln, werden sehr deutlich in den kameralistischen Schriften aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, die Martens ausgewertet hat, vgl. Obrigkeitliche Sicht, S. 28f. u. ö. Vgl. Zielske: Kunst und Kommerz, S. 11. Vgl. ebd., S. 26–29. Vgl. ebd., S. 30. Weiteres dazu in Kap. 4.4.3. Johann Christoph Gottsched: Vorrede zum ‚Sterbenden Cato‘ – Schriften zur Literatur, S. 197–211, hier S. 199. Zum Repertoire eines ‚Vorbesitzers‘ des sächsischen Privilegs – nämlich Johannes Veltens – scheint übrigens auch Der Jude von Venetien gehört zu haben (vgl. oben S. 106, Anm. 7).
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Gottsched zunächst, indem er sich selbst als ‚Marktteilnehmer‘ versuchte, nämlich indem er ein ‚besseres‘ Stück aus eigener Feder anbot (Endymion 1726). Das Angebot fand keinen Interessenten, und so setzte er grundsätzlicher an: als Regelpoetiker, Theaterpolitiker und ästhetischer Richter, kurzum: mit einer derartig umfassenden Ambition auf Regelung des theatralischen Marktes, daß sie im Erfolgsfall dessen Aushebelung bedeutet hätte. Ideologisch motiviert war Gottscheds Reform dadurch, daß er im Theater eine potentielle „Tugendschule für den sittlichen Bürger“,55 ein geeignetes Instrument zur publikumswirksamen Vermittlung der aufklärerischen Lebensreform sah. Stützen konnte sich Gottsched dabei auf eine weit verbreitete, angesichts des metaphysischen Tugendprimats der Frühaufklärung ‚selbstverständliche‘ Vorstellung, daß die Bühne moralischen Zwecken zu dienen habe.56 Für die Wandertruppen hatte diese Moralitätsnorm freilich mehr apologetische als praktische Bedeutung.57 Entsprechend hartnäckig waren die Widerstände gegen die Gottschedische Reform, denn die stellte nicht bloß sämtliche Gewohnheiten von Schauspielern und Publikum in Frage – vom Extemporieren bis zu Unflätigkeiten auf der Bühne wie im Publikum –, sondern drohte die wirtschaftliche Basis der Wandertruppen zu untergraben: Das, was dem Publikum den Einsatz von Geld wert schien – was also die Wandertruppen ‚verkauften‘ –, waren in erster Linie Emotionen, Affekte, Schauwerte und -erlebnisse, nicht Belehrungen. Für Gottsched wiederum war die Marktorientierung des Wandertheaters dasjenige, was die Durchsetzung seines Programms am stärksten behinderte. Das Publikum zu anderen Erwartungen, zu einem ‚feineren‘ Geschmack zu ‚erziehen‘ war ein Ausweg, den die Moralischen Wochenschriften seit ihrem Aufkommen in den 1720er Jahren zu begehen versuchten58 – mit mäßigem Erfolg. In der Theaterreformdiskussion kam deshalb schon Mitte des folgenden Jahrzehnts der Vorschlag auf, man solle ein allein der sittlichen Bildung gewidmetes ‚Nationaltheater‘59 einrichten, dem eine öffentliche Finanzierung oder private Mäzene Unabhängigkeit
55 Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 8. 56 Vgl. Fischer-Lichte: Kleine Geschichte des deutschen Theaters, S. 83f. 57 So verteidigte die Witwe Johannes Veltens ihre von einem Geistlichen angegriffene
Truppe damit, daß „die Schau-Spiel- oder Comödien“ nichts anderes seien „als lebhaffte Tugend- und Laster-Spiegel / jene zuthun / diese zulassen“ (Zeugnis der Warheit Vor Die Schau-Spiele [n. pag., bei Kustode B3]). 58 Vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 470–479. 59 Vgl. Haider-Pregler: ebd., S. 17, 50f., 66f., 148, 152, 158. Wie Haider-Pregler reich belegt, wurde die Nationaltheateridee nicht nur von Literaten und Theaterleuten propagiert, sondern seit den 1760er Jahren auch von Staatswirtschaftlern wie Justi. Diese Kameralisten maßen der Sicherung der rechten ‚Ordnung‘ ebenso einen Primat vor dem ‚Markt‘ zu wie die frühaufklärerischen Intellektuellen.
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vom herabziehenden Publikumsgeschmack verschaffen sollten. Damit wären die Marktmechanismen ausgeschaltet gewesen. Dem Gelehrten, als welcher Gottsched sich des Theaters ‚annahm‘, widerstrebt Merkantilität schon habituell. Er produziert traditionell nicht für einen Markt, sondern neben seinem bürgerlichen Beruf für Gleichgesinnte und -gebildete – man vergleiche Gryphius, dessen Dramen überwiegend für die Bühne des Breslauer Elisabeth-Gymnasiums geschrieben waren (wenngleich auch andernorts gespielt wurden) und teilweise erst später gedruckt wurden.60 Erinnert sei auch daran, wie Schoch das Akademische gegen das Kaufmännische auszuspielen suchte. An dieser Tradition gemessen,61 hat sich Gottsched, der merkantil-gelehrten bzw. -literarischen Doppelfunktion seines Wirkungsortes Leipzig entsprechend, recht weit auf den theatralisch-literarischen Markt eingelassen, indem er sich mit der Neuberschen Truppe verbündete, eine sechsbändige Sammlung von dramatischen Mustertexten sowie kritische Zeitschriften herausgab und darauf drängte, daß die Autoren an den Einnahmen aus den Aufführungen ihrer Stücke beteiligt werden sollten.62 Daß in Deutschland nun erstmals ein nennenswerter Buchmarkt mit dramatischen Texten entstand, hat in diesen Aktivitäten eine seiner Voraussetzungen.63 Allerdings zielte Gottscheds Marktteilnahme letztlich auf Marktbeherrschung; das Bündnis mit ausgewählten Wandertruppen versuchte diese zu instrumentalisieren. Seine beispiellose Literaturpolitik unterbreitete dem Publikum nicht ein Angebot, sondern trat, der Normenstrenge seiner Poetik entsprechend, ganz präzeptoral auf. Um Beschränkung des Marktprinzips ging es auch, wenn die Neubers beim Hamburger Rat ein Privileg „mit Ausschließung aller andern Comedianten, Possenreißern, und Marktschreyer“ beantragten,64 das ihnen ein theatralisches Monopol gesichert hätte. Die Literatursatire im Witzling ist von demselben Geist getragen, denn sie kennt keine legitime literarische Konkurrenz, sondern denunziert den abweichenden Geschmack als Abfall von einer ‚natürlichen‘ Ordnung.65 Eine geldhistorisch bedeutsame Parallele haben die Gottschedschen Reformversuche in der preußischen Münzreform von 1750: Im Auftrag Fried-
60 Vgl. den Kommentar von Mannack in Gryphius: Dramen, S. 870f., 882, 1217, 1249. 61 Als Vergleich der Gottschedschen mit der barocken Gelehrtenrolle vgl. Kühlmann:
Frühaufklärung und Barock, S. 188–190. 62 Vgl. Gottscheds Vorrede zur Deutschen Schaubühne Bd. 2 (1741), S. 22; Haider-Preg-
ler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 145f. Zu Gottscheds Literaturpolitik als Zeitschriftenherausgeber vgl. Ball: Moralische Küsse. 63 Vgl. Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum Abt. 2, Bd. 12, S. XXVIIf. 64 Eingabe vom 23. August 1737, zit. nach Haider-Pregler: ebd., S. 150. 65 Die ‚natürliche‘ Ordnung ist in diesem Fall die grammatische der deutschen Sprache (vgl. Der Witzling, Sz. 6, S. 26–29).
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richs des Großen legte der Generalmünzmeister Graumann einen neuen Münzfuß und damit Silberfeingehalt für den Taler fest. Die eigentliche Neuerung freilich war, daß in Preußen nur noch preußisches Geld gültig sein sollte (mit festgelegten Ausnahmen für einige fremde Handelsmünzen).66 Das für die frühneuzeitlichen deutschen Münzverhältnisse charakteristische Nebeneinander von ‚Währungen‘ verschiedener Münzherren (mehr dazu in Kap. 3.4.) wich damit einem Normierungsanspruch, wie ihn Gottsched in ebenfalls neuartiger Weise für Literatur und Theater erhob. Für Staat und Wirtschaft waren die Vorteile beträchtlich, denn für den Staat verbesserten sich die finanzpolitischen Kontrollmöglichkeiten, während der Handel von den geringeren Wechselkursrisiken profitierte. Mit dem neuen Taler „stand eine stabile Großsilbermünze zur Verfügung, die im kommenden Jahrhundert ihren Siegeszug durch ganz Deutschland antreten sollte“.67 Einen ähnlich weitreichenden Erfolg hatte Gottsched nicht. Das deutet darauf hin, daß sich Literatur- und Wirtschaftssphäre trotz auffälliger Parallelen nicht gleichartig entwickelten, konkret: daß Normierungen zwar in beiden Sphären in Angriff genommen wurde, jedoch unterschiedlich produktiv waren, und zwar gerade im Übergang von Alteuropa zur Moderne. Zunächst ist zu fragen, wie das Gottschedsche Reformangebot vom Publikum angenommen wurde. Bei Van Cleve liest man, die ‚gereinigte‘ Bühne habe „considerable prominence within the urban bourgeoisie“ genossen.68 Die Forschung der neunziger Jahre hat dagegen ein anderes Bild gezeichnet: Eine Erziehung des Publikums gelang nur langsam und partiell. Gerade das hauptsächlich angesprochene Publikum, der ‚Wirtschaftsflügel‘ des ‚neuen Bürgertums‘,69 ließ sich nur bedingt auf die Bahn ziehen, die die Moralischen Wochenschriften ihm vorzeichneten.70 Erfolg hatten die ‚reformierten‘ Aufführungen der Caroline Neuber in den 1730er Jahren vor allem beim Adel, der es schätzte, nach französischem Vorbild gefertigte, regelmäßige Stücke nun auch in deutscher Sprache geboten zu bekommen.71 Und als sich die gottschedschen Normen in den 1760er und 70er Jahren beim Publikum durchsetzten, exponierte die Dramatik des Sturm und Drang eine neue Ästhetik, die 66 67 68 69
Vgl. Sprenger: Das Geld der Deutschen, S. 135. Ebd., S. 137. Vgl. Van Cleve: The Merchant in German Literature of the Enlightenment, S. 30. Der Anspruch, sich an alle Stände, die gesamte ‚Nation‘ zu wenden – da ja die Gesetze der Vernunft und Moral für alle gleich gelten –, gehört wesentlich zum Programm der Theaterreformer. Wenn Gellert in seinen Musterbriefen (GS 4, S. 184, 26. Brief) das Theater mit dem Argument rechtfertigt, gerade wer seine Zeit gewöhnlich gut nutze, brauche ab und zu eine Abwechslung und Ergötzung, wird jedoch deutlich, daß wirtschaftlich tätige Bürger die vor allem umworbenen Adressaten bilden. 70 Vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 470–472, 489–492. 71 Vgl. Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, S. 99.
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nun ihrerseits mit Rezeptionsgrenzen zu kämpfen hatte.72 Gegen das Bedürfnis der meisten Zuschauer nach Vergnügen, gesellschaftlichem Verkehr oder Zerstreuung gewannen die von den Reformern verfolgten ästhetischen und moralischen Zwecke auch langfristig nicht die Oberhand.73 Wurden die Verhaltensnormen des Bildungstheaters – starke Selbstkontrolle auch des Zuschauers – doch einmal durchgesetzt, so dezimierte dies das potentielle Publikum, und kulturfernere Schichten wichen zu Vergnügungen aus, die mit weniger Zwängen verbunden waren.74 Bezeichnenderweise hat sich das erstrebte ‚Nationaltheater‘ als bürgerliche Unternehmung nicht etablieren können. Der Hamburger Versuch mit Lessing als Dramaturgen scheiterte nach zwei Jahren am mangelnden Publikumserfolg, den die Geldgeber umgehend mit ihrem Rückzug quittierten.75 Kurt Wölfel hat angemerkt, daß Gottsched im Grunde noch gar nicht über den Begriff des ‚Publikums‘ verfügte.76 Angesichts der Literatur- und Theaterverhältnisse um 1730 maß er sich vielmehr die Rolle eines „Meisters“ zu, der „unerfahrne Schüler“ zu belehren hat: So müssen sich denn die Poeten niemals nach dem Geschmacke der Welt, das ist, des großen Haufens, oder unverständigen Pöbels richten. Dieser vielköpfigte Götze urtheilt oft sehr verkehrt von Dingen. Er muß vielmehr suchen, den Geschmack seines Vaterlandes, seines Hofes, seiner Stadt zu läutern.77
Diese autoritäre Haltung legitimiert sich aus einem rationalistischen Dichtungs- und Erkenntnisbegriff, der mit dem Anspruch verbunden ist, Kunstpraxis – deren historischer Wandel durchaus gesehen wird – auf festliegende Wesensverhältnisse zu gründen: „Nicht der Beyfall macht eine Sache schön; sondern die Schönheit erwirbt sich bey Verständigen den Beyfall“, denn die „Schönheit eines künstlichen Werkes beruht nicht auf einem leeren Dünkel; sondern sie hat ihren festen und nothwendigen Grund in der Natur der Dinge. Gott hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geschaffen.“78 Der Markt, der 72 Vgl. ebd., S. 106. 73 Vgl. Eigenmann: Zwischen ästhetischer Raserei und aufgeklärter Disziplin, S. 177.
74 75 76 77 78
Eigenmann hat einen typischen Theaterbesuch des Jahres 1776 halbfiktional rekonstruiert (vgl. ebd., S. 27–34): Gegeben wird Hamlet; was der Besucher, ein junger Kaufmann, wahrnimmt, ist indessen nicht nur ein ästhetisches Ereignis (und davon macht ihm die Gespenstererscheinung den größten Eindruck), sondern es wird gequatscht und getrunken – während der Vorstellung! –, es werden Bekanntschaften gepflegt und Geschäfte verhandelt. Vgl. ebd., S. 185. Vgl. Fischer-Lichte: ebd., S. 110f. Vgl. Wölfel: Moralische Anstalt, S. 52. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen Kap. 3, § 21 – AW 6,1, S. 186f. Ebd., S. 185 (§ 21) und 183 (§ 20). Wie bekannt, ist Gottscheds vernünftige ‚Deduk-
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‚geregelte‘ ebenso wie der ‚freie‘, ist demnach doppelt und dreifach suspekt: konkret theatralisch ebenso wie moralisch und sozial als Bühne für jene Komödianten, deren sinnliche Späße „nur den Pöbel belustigen“;79 in normativer Hinsicht als Ort und Instrument einer ‚materialistischen‘ Kommerzialität, die ‚innere‘ Werte wie Moralität oder Gelehrsamkeit nicht zu schätzen weiß; schließlich in ‚theoretischer‘ Hinsicht als Muster für eine von Setzungen freie oder diese relativierende performative Wertbildung. Gottscheds Haltung ist typisch für den frühaufklärerischen Diskurs über Theater und Komödie. Auch Caroline Neuber, seine Verbündete unter den Schauspielprinzipalen, spricht, wo sie ihr Theatermodell durchzusetzen sucht, nicht von dem (Theater-)Markt, auf dem sie sich realiter befand und auf dem sie sehr bewußt und durchaus kaufmännisch agierte, sondern vom sittlichen und gesellschaftlichen Nutzen ihrer Kunst. Vielsagend ist das Deutsche Vorspiel, das sie im Juni 1734 in Leipzig auf die Bühne brachte und dessen theatergeschichtlichen Hintergrund der Streit mit dem Harlekin und erfolgreichen Prinzipal Joseph Ferdinand Müller um das Spielrecht im dortigen Theater über den Fleischbänken bildet.80 Die Neuberin selbst trat in der Rolle der zu Unrecht wenig geschätzten, von Vertreibung bedrohten Melpomene auf; ihr gegenüber steht Thalia, die einen possenhaften, allein auf Lachwirkung zielenden Komödientyp verkörpert. Melpomene gründet ihr Spiel auf „Erkänntniß“ und „Wissenschaft“ und vertritt die Ethik, „man müsse sich mit allem Fleiß bestreben, / Als ein vernünftger Mensch nach dem Gesetz zu leben“ (Vv. 38f., 49f.). Thalia und ihr Begleiter Silenus dagegen wehren sich gegen normative Bindungen: „Wer wird sich so gezwängt mit dem Gesetze plagen?“ (V. 54). Ihr Interesse ist letztlich nicht einmal das Vergnügen des Zuschauers, sondern der materielle „Nutzen“ (V. 523), den sie davon haben. Wie dieser Nutzen zu bewerten ist, sprechen sie selbst offen aus: als „Betrug“, denn Possen zu spielen heißt, „mit leichter Müh viel Geld in Kasten kriegen“ (Vv. 61, 14). Theaterspiel als das Geschäft zu betrachten, das es war, wird demnach mit einem massiven moralisch-rechtlichen Verdikt belegt. tion‘ poetologischer Prinzipien in Wahrheit lediglich eine sekundäre Rechtfertigung von Regeln, die er einer historisch kontingenten, aber als vorbildlich gesetzten Kunstpraxis (vor allem der französischen Klassik) entnimmt; vgl. Eibl: Die Entstehung der Poesie, S. 54f. 79 Vgl. den bei Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 472 zitierten Bericht des Hamburger Bewunderers (30. Stück), in dem das „rechte Gedränge auf dem Markte“ mit einem derb sinnlichen „Possenspiel“ korrespondiert und den Berichterstatter in die Flucht schlägt. 80 Vgl. Friederica Carolina Neuberin: Ein Deutsches Vorspiel. – In: Friederike Caroline Neuber, S. 45–67; aus diesem Nachdruck wird im folgenden zitiert. Zur paradigmatischen Bedeutung des Streits vgl. Rudin: Venedig im Norden oder: Harlekin und die Buffonisten.
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Das geschäftliche Interesse der Melpomene-Neuberin wird folgerichtig marginalisiert: „Auf Ehre denkt sie nur, und sucht kein grosses Geld“ (V. 320). In materieller Hinsicht geht es Melpomene nur darum, ihr von Thalia und Silenus geraubtes „Vermögen“ zurückzuerhalten (V. 238, vgl. V. 79). Sein Eigentum darf man reklamieren, problematisch ist aber ein Erwerbsstreben. Was das Vorspiel der Neuberin dem Markt entgegensetzt, ist zum einem die Tugend, die dem eigenen Spiel zu-, dem gegnerischen dagegen abgesprochen wird, und zum anderen die obrigkeitliche Marktregelungskompetenz. Thalia und Melpomene gehen vor Apolls Gericht – analog zu den Interventionen der Neuberin beim sächsischen Kurfürsten.81 Apoll entscheidet natürlich für die Tugend, und Thalia wird verpflichtet, die Normen der Siegerin anzunehmen: „Ich [=Melpomene] will dich [=Thalia] noch darzu mit vielen Freuden lehren, / Wie du dich rühmlich, wohl und redlich solst ernähren.“ (Vv. 417f.) Dramenpoetisch – nämlich vor dem Gebot ‚poetischer Gerechtigkeit‘82 – ist der Sieg der Tugend selbstverständlich. Was im Stück gelingt, soll aber auch in der Welt, mit seinen Spielern, geschehen: Mit ihrem Vorspiel sucht die Neuberin das poetologische Wissen, daß die Tugend belohnt werden muß, für sich zu nutzen, indem sie sich selbst als Tugendpartei darstellt. So leicht wie auf der Bühne setzte sich die (Gottschedsche) Norm in der Realität allerdings nicht durch: Müller behielt sein Privileg, und seine Konkurrentin mußte Leipzig verlassen. Wichtiger als dieser Ausgang ist in unserem Zusammenhang indessen der Ansatz der Neuberin: daß sie versuchte, durch Verleugnung der eigenen Teilnahme am Markt ihre Marktinteressen zu wahren. Merkantile Prinzipien zu verfechten liegt in einer Situation, wo man gegen eine eingeübte und erfolgreiche Praxis angeht – wie Gottsched das mit seiner Reform tat – generell nicht nahe. Auf den Markt zu vertrauen heißt stets, seine Hoffnung in den Gang der Dinge, wie sie (derzeit) sind, zu setzen. Wer sich zu Widerstand gegen das übliche Funktionieren der Welt veranlaßt sieht, muß anders denken und argumentieren und sich auf Gott, Tugend, Natur, gelehrtes Wissen oder die Obrigkeit berufen. Wer wiederum sich gegen eine solche präzeptorale Haltung wendet, hat es leichter, eine Orientierung am Markt in Anspruch zu nehmen oder vorzuschlagen. Ein Beispiel dafür bietet Johann Elias Schlegel, die ungenannte Zielscheibe des Witzlings. In seiner Leipziger Zeit noch im Kreis um Gottsched, forderte er in seiner Kopenhagener Schrift Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters (1747, postum 1764 veröffentlicht), die Poetik des Dramas 81 Vgl. Rudin: ebd., S. 88–93. 82 Die reklamiert z. B. [Gottsched:] Der Biedermann Bd. 2, S. 139 (85. Blatt vom 20. 12.
1728).
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auch nach Marktgesichtspunkten auszurichten. ‚Naturnormative‘ Regelhaftigkeit wird hier hinter die Berücksichtigung der jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Situation von Literatur zurückgestellt. Ohne daß der Anspruch auf moralische und ästhetische Erziehung aufgegeben würde, rückt das Bedürfnis der Rezipienten zum unhintergehbaren Orientierungsfaktor für den Autor auf, der damit zu einem ‚Anbieter‘ wird: Mein Rath ist also, mit Beybehaltung der Komödien aus dem niedrigen Stande, die man schon hat, in denen Stücken, die man neu auf das Theater bringt, immer höher zu steigen; aus dem niedrigen Stande in den Mittelstand, aus dem Mittelstande an den Hof, und endlich bis zu den Tragödien zu kommen. Auf diese Weise wird man sich versprechen dürfen, allen Ständen durchgängig zu gefallen; der Verstand der Zuschauer wird immer geübter werden, auch die feinsten Einfälle mit Vergnügen und Aufmerksamkeit zu hören; und man wird eines beständigen Beyfalls versichert seyn, weil man für alle Arten der Zuschauer arbeitet, und weil unter so vielen Abänderungen ein jeder einige nach seinem Geschmacke finden wird.83
Diesem Prinzip folgend, stellte Schlegel in seinem Schreiben von Errichtung eines Theaters in Kopenhagen eine detaillierte Kalkulation an, welches Zuschauerpotential ein kostendeckender Theaterbetrieb erfordere, welche Motive der Theaterbesucher zu berücksichtigen seien (‚Nachfrage‘) und wie die Dramen und das Schauspielerensemble beschaffen sein müssen, um die Produktionskosten gering zu halten (figurenarme Stücke; nicht allein merkantil, sondern merkantilistisch gedacht ist die Empfehlung, keine Ausländer zu engagieren, die ihren Lohn außer Landes tragen).84 Solche Überlegungen mußten natürlich auch die Truppen anstellen, die Gottsched in seine Dienste zu nehmen versuchte. Darüber hinaus gewinnt bei Schlegel aber auch die Ästhetik „fast einen marktanalytischen Charakter, Nachfrage und Angebot gegeneinander wägend“.85 Das bedeutet eine signifikante Ausweitung merkantilen Denkens nicht allein deshalb, weil es damit seine ‚eigene‘ Sphäre überschreitet. Was sich hier abzeichnet, ist vielmehr eine fundamentale Umstellung von Weltauffassungs- und Begründungstechniken: Die Argumentation von feststehenden, naturgegründeten bzw. göttlich installierten Prinzipien aus wird aufgegeben zugunsten einer Beobachtung der Praxis(möglichkeiten). Die „Welt“, wie sie augenscheinlich, nicht wie sie ‚wahrhaft‘ ist, dieser – so noch Gottsched in Fortsetzung des religiösen contemptus mundi – „vielköpfigte Götze“, avanciert zum Maßstab der Urteilsbildung. Im Vergleich von Gottscheds und 83 Johann Elias Schlegel: Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters – Werke
Bd. 3, S. 259–298, hier S. 280. 84 Vgl. Schlegel: Werke Bd. 3, S. 251–258; Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers
Abendschule, S. 405. 85 Wölfel: Moralische Anstalt, S. 59.
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Schlegels Poetik und Theaterprogramm zeigt sich beispielhaft, wie das frühaufklärerische Denken nach Prinzipien in den Sog der Praxis gerät.
2.7 Sozialgruppenformierung und Gesellschaftsdifferenzierung auf dem Theater 2.7.1 Performativität und Normativität von Bürgerlichkeit Zu den geläufigsten Kategorien zur Charakterisierung der gesellschaftlichen wie literarischen Entwicklung des 18. Jahrhunderts gehört ‚Bürgerlichkeit‘. Die berechtigte Kritik an ihrer häufig zu wenig differenzierten Anwendung hat sie nicht entbehrlich gemacht; nach Barbara Stollberg-Rilinger kann man von einem „Jahrhundert des Bürgers“ sprechen, insofern „eine neue, weitgehend nicht mehr adlige Elite sich anschickte, die kulturelle Vorherrschaft des Adels zu brechen, und selbstbewusst neue, zukunftsträchtige Normen verkündete.“1 Haben soziokulturelle Dynamik und atraditionale Wertbildung mit dem ‚Bürgertum‘ der Aufklärung also eine Trägergruppe gefunden? Gleich einzuschränken ist, daß die deutsche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts nach wie vor eine Ständegesellschaft war, also auf dem Prinzip festliegender Ordnung beruhte. Bevor sich – und das geschieht erst in den beiden letzten Dezennien des Jahrhunderts – in der frühliberalen Publizistik und Sozialtheorie die „Gegenutopie“ einer ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ herausbildete, in der rechtlich gleiche Bürger ihren Platz durch Leistung erringen und über das Gemeinwohl verhandeln,2 bezeichnete ‚Bürgertum‘ eine Position innerhalb der ständisch gestuften Gesellschaft; oder genauer: war ‚Bürger‘ ein Sammelbegriff für sehr heterogene Positionen innerhalb dieser Ständegesellschaft, die weder eine gemeinsame Rechtsstellung noch eine einheitliche Kultur verband. Gemeinsam war diesen Positionen lediglich, daß sie sich nach ‚unten‘ gegen das ‚gemeine Volk‘ einschließlich der Bauern und nach ‚oben‘ gegen den Adel (beides in sich wieder reich differenziert) abgrenzten.3 Drei Gruppen sind dabei zu unterscheiden: zunächst das ‚alte‘ Stadtbürgertum (also Stadtbewohner mit Vollbürgerrecht), das überwiegend aus 1 Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, S. 93. 2 Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 1, S. 236. 3 Dazu und zum Folgenden vgl. Wehler: ebd., S. 203–209 sowie Stollberg-Rilinger:
Europa im Jahrhundert der Aufklärung, S. 88–93.
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Handwerkern und kleinen Gewerbetreibenden bestand und dem, mit Ausnahme einer kleinen Schicht von Großkaufleuten, Fernhändlern oder Bankiers, in der sozialgeschichtlichen Forschung eine ausgeprägt strukturkonservative Haltung attestiert wird. Sozial, ökonomisch oder kulturell dynamischer zeigten sich die ‚neuen Bürgerlichen‘, die wiederum in Wirtschafts- und Bildungsbürgertum zu unterscheiden sind. Beide Gruppen sind nicht mehr Bürger im rechtlichen Sinne der alten Ständegesellschaft. Die Wirtschaftsbürger – aktiv in kapitalintensiven und exportorientierten Gewerben, in der ländlichen Protoindustrie oder Manufakturen – operierten „jenseits der alten Zunftschranken“4. Zu Erfolg gekommen, entwickelten sie „zum Teil ein eigenes soziales Selbstbewußtsein, wie etwa in [...] Hamburg oder Frankfurt, zum Teil suchte [man] sich aber auch dem Adel zu assimilieren“ und erwirtschaftetes Kapital in herrschaftlichem Grundbesitz anzulegen. Das ‚Bildungsbürgertum‘ – Verwaltungsbeamte, Pfarrer, Professoren, Richter, Anwälte, Juristen im Dienst einer Stadt oder eines Standes, Ärzte, Ingenieure, Schriftsteller – fiel insofern aus der altständischen Ordnung heraus, als diejenigen, die man unter diesem Begriff zusammenfaßt, „unter staatlichem oder ständischem Sonderrecht, häufig als Gefreite oder Eximierte, in einer ausgegrenzten Rechtssphäre“ lebten.5 Sie verbindet die akademische Ausbildung und häufig auch der Staats- oder Stadtdienst, in dem sie ihrer Tätigkeit nachgehen. Mit Gryphius, Schoch und Gottsched gehören die bisher herangezogenen Autoren überwiegend zu dieser Schicht. Deren Herausbildung verdankte sich dem Personalbedarf im „Staatsbildungsprozeß in den deutschen Territorien“, in der Ausweitung der Staatstätigkeit und der wachsenden staatlichen Kontrolle über die ‚Gesellschaft‘, also demselben Prozeß, der auch zur eingangs skizzierten Monetarisierung des öffentlichen Lebens im Laufe der Frühen Neuzeit beitrug.6 Numerisch war diese Gruppe dem Wirtschaftsbürgertum weit überlegen, so daß man „den größten Teil der Bürgerlichen als verstaatlichte akademische Intelligenz bezeichnen“ kann. Trotz der skizzierten Vieldeutigkeit der Begriffe und Vielfalt der sozialen Lagen „lassen sich doch gewisse Gemeinsamkeiten feststellen. Individuelle Leistung – sei es als Bildungsqualifikation, sei es als Erwerb von Reichtum – ersetzte zumindest tendenziell die geburtständische Qualifikation als Grundlage für den sozialen Status; frei eingegangene Bindungen ersetzten die Bin-
4 Stollberg-Rilinger: ebd., S. 89. Das folgende Zitat ebd. Gegen die communis opinio
einer Habitus-Differenz zwischen ‚altem Stadtbürgertum‘ und neuen ‚dynamischen‘ Bürgerlichen argumentiert, nicht ganz überzeugend, Straubel: Kaufleute und Manufakturunternehmer, vgl. das Resümee S. 477. 5 Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 1, S. 204. 6 Ebd., S. 211. Das folgende Zitat ebd., S. 212.
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dungen von Stand und Korporation.“7 Es ist eine veränderte, dynamischere Haltung zur eigenen Person wie zur gesellschaftlichen Umwelt, die sich als gruppenübergreifende ‚bürgerliche‘ Kultur herausbildete. Die berufliche, ökonomische und rechtliche Heterogenität der verschiedenen bürgerlichen Gruppen wurde dadurch nicht aufgehoben, so daß es sich bei ihnen nicht mehr um „einen Stand im alten Sinne handelte“.8 Verbindende Funktion hatten vielmehr neue Geselligkeitsformen (Freundschaftszirkel, Vereine, Lesegesellschaften) sowie eine „spezifische ökonomische und moralische Wertorientierung“.9 Das wiederum heißt zum einen, daß sich die Formation „der bürgerlichen Gesellschaft“ in erster Linie „als Akkulturation“ vollzog, weniger als Ansammlung wirtschaftlicher Potenz oder Formulierung politischer Ansprüche. Das ‚Bürgertum‘, das sich in vielen Texten der Aufklärung artikuliert, ist, so könnte man zuspitzen, weniger deren vorgängiger Träger als deren Produkt.10 Jedenfalls ergreift die Performativität, die dem komödischen Spiel und, nach Simmel, dem Geldwesen eignet, im 18. Jahrhundert auch die Sozialgruppe der ‚Bürger‘. Zum anderen bedingte die Herausbildung von Bürgerlichkeit als ‚Akkulturation‘, daß vor allem die ‚neuen Bürgerlichen‘ in den gelehrten Berufen die Werteordnung prägten. Wie wir an Gottscheds präzeptoralem Verständnis seiner Rolle als Theaterreformer gesehen haben, hatte das entscheidende Folgen für die normative Akzeptanz jener Performativität, insbesondere für den Umgang mit den merkantilen Dimensionen gesellschaftlicher Dynamik. Die Ambivalenz, daß sich die Formierung eines ‚Bürgertums‘ zunächst innerhalb der gegebenen Gesellschaftsordnung vollzog, um letztlich aber deren Strukturen zu überschreiten, wird auch in Gottscheds Poetik deutlich. 7 8 9 10
Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, S. 92. Ebd., S. 93. Maurer: Die Biographie des Bürgers, S. 376. Die folgenden Zitate ebd., S. 377. So Eibl: Die Entstehung der Poesie, S. 38. In seiner berechtigten Kritik an substantialistischen Auffassungen eines Begriffs wie ‚Bürgertum‘ geht Eibl so weit, keinerlei „gemeinsame Sozialdaten oder ein gemeinsames geschichtliches Ziel“ anzuerkennen, sondern lediglich „eine gemeinsame Problemlage und den daraus resultierenden gemeinsamen Lösungs- und Deutungsbedarf“ (S. 41). Mit ‚gemeinsamer Problemlage‘ ist gemeint, daß alle bürgerlichen Gruppen angesichts ihrer von ständischen Mustern nicht mehr vorweg definierten Sozialstellung einen neuartigen Orientierungsbedarf hatten – was sich vom altständischen Stadtbürgertum der Handwerker allerdings kaum sagen läßt. Rein ‚konstruktivistisch‘ ist ‚das Bürgertum‘ des 18. Jahrhunderts demnach ebensowenig zu fassen wie als vorausgesetzte Größe. Zur Formulierung griffiger Thesen weniger geeignet, jedoch historisch adäquater dürfte es sein, von einem Zusammenwirken ‚gemeinsamer Sozialdaten‘ (weder Adel, noch Bauern oder Unterschicht, vorwiegend städtischer Wohnsitz), grosso modo gemeinsamer Werte (Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit; vgl. Maurer: Die Biographie des Bürgers, S. 235) sowie eines die verschiedenen bürgerlichen Gruppen ansprechenden kulturellen Projekts zur ‚Selbsterfindung‘ zu rechnen.
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Sein Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1. Aufl. 1730, 4. Aufl. 1751) steht sowohl hinsichtlich seiner Wirkung als auch theoretisch, seiner systematisierenden Leistung nach, im Zentrum der frühaufklärerischen Diskussion. Gottsched definiert den kulturellen Ort der Dichtung ebenso wie deren Gattungen stärker als je zuvor standesspezifisch. Der richtige Geschmack, den er durchzusetzen strebt, wird nicht nur an Regelkonformität gebunden, sondern auch sozial bestimmt, d. h. in scharfer Polemik gegen jenes Gefallen abgegrenzt, das der „Pöbel“ zeigt, sei es auf den oberen Rängen, sei es in den Logen.11 Adressat der Dichtung, die Gottsched durch Regeln zu bilden unternimmt, ist der ‚mittlere Stand‘. Plakativ unterstrichen wird diese Bekräftigung der Ständeordnung durch die zur Unterscheidung der dramatischen Gattungen verwandte ‚Ständeklausel‘: Zu belehren ist der Zweck sowohl der Tragödie als auch der Komödie; unterschieden sind sie dagegen durch die jeweils hervorgerufenen Affekte, hier Belustigung, dort „Schrecken und Mitleiden“.12 Diese Affekte hervorzurufen, sind aber, so die Critische Dichtkunst, ausschließlich Figuren aus einerseits den höheren, andererseits den mittleren Ständen geeignet. Im Fall der Tragödie ist die Begründung ‚psychologisch‘ im Sinne des ‚Fallhöhen‘-Poetems: Ein starker Affekt entzünde sich lediglich an großen Lebensverhältnissen; die Tragödie habe sich daher „lauter vornehmer Personen zu bedienen, die durch ihren Stand, Namen und Aufzug mehr in die Augen fallen und durch große Laster und traurige Unglücks-Fälle solche heftige Gemüts-Bewegungen erwecken können.“13 Daß die Angehörigen der höheren Stände keine Komödienfiguren abgeben dürfen, läßt sich auf diesem Wege allerdings nicht begründen: „Nicht als wenn die Großen dieser Welt etwa keine Torheiten zu begehen pflegten, die lächerlich wären“.14 Hier ist es – neben der Macht der literarischen Tradition, in die Gottsched sich stellt – schlicht die Faktizität der gesellschaftlichen Hierarchie, die die Norm diktiert, denn er fährt fort: „Nein,
11 Die Abgrenzung gegen den „Pöbel“ im gemeinen Volk findet sich durchgängig in
Gottscheds Poetik (vgl. Critische Dichtkunst – AW 6,2, S. 340 [T. 2, Kap. 11]). Er kennt aber auch einen „Logenpöbel: der, ob er gleich in Kutschen fährt, und goldstükkene Westen trägt, dennoch mit seinen Lackeyen und Kutschern einerley Geschmack hat“ (Gottsched: Auszug aus des Herrn Batteux [...], Schönen Künsten, aus dem einzigen Grundsatz der Nachahmung hergeleitet. Zum Gebrauch seiner Vorlesungen mit verschiedenen Zusätzen und Anm.n erl. Leipzig 1754, S. 136, zit. n. Wölfel: Moralische Anstalt, S. 72 Anm. 80). 12 Vgl. Gottsched: Critische Dichtkunst – AW 6,2, S. 348 (T. 2, Kap. 11), 318 (Kap. 10; Zitat). 13 Ebd., S. 99 (T. 1, Kap. 4). 14 Ebd., S. 189 (T. 2, Kap. 11). Das folgende Zitat ebd.
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sondern weil es wider die Ehrerbietung läuft, die man ihnen schuldig ist, sie als auslachenswürdig vorzustellen.“15 Indem Dichtung durchgängig den Auftrag erhält, „einen moralischen Satz“ zu veranschaulichen und dadurch eine nützliche Lehre zu vermitteln,16 werden standesspezifische gesellschaftliche Funktionen von Dichtung zugleich jedoch transzendiert. Denn unter moralischem Aspekt sind, so Gottsched in seiner Schauspiel-Rede von 1729, selbst Prinzen, die „Götter dieser Erden“, nur „Menschen“:17 „Sind denn nicht die meisten Begebenheiten und Zufälle dieses Lebens allen Menschen gemein? Sind wir nicht zu einerlei Tugenden und Lastern fähig und geneigt?“ Die „wahre Größe“ moralischer Bewährung, die eine Bühnenfigur zeigt und die dem Zuschauer aufgegeben ist, stellt Gottsched der „Nichtigkeit aller weltlichen Hoheit“ gegenüber. Religiös begründet, prägte dieser stoizistische Gedanke einen guten Teil auch der Barockdramatik; da moralische Bewährung dort auf ein Jenseits ausgerichtet war, konnte ihre Akzentuierung jedoch kaum ständekritische Kraft entwickeln (wie an Gryphius’ Horribilicribrifax erläutert).18 Die Moralität, an die Gottsched Zweck und Struktur (‚Einkleidungsästhetik‘) der Dichtung bindet, ist dagegen prinzipiell auf die gegenwärtige Gesellschaft bezogen. Insofern steht im Zentrum der frühaufklärerischen Poetik ein egalitärer Gesellschaftsentwurf, der die empirische Sozialordnung durchaus in Bewegung zu bringen geeignet ist.19 Alle Figuren mit den gleichen moralischen Maßstäben zu messen heißt indessen nicht, einen sozial neutralen Standpunkt einzunehmen. Vielmehr handelt es sich um die epochentypische Politik einer bestimmten Gruppe. Denn gleich, ob adlige Figuren Tugend üben oder sich ihr verweigern und dann verlacht werden – in jedem Fall werden sie Verhaltensmaßstäben unterworfen, die der herkömmlichen Begründung von ständischer Hierarchie als 15 Ein gewisser Spielraum bleibt gleichwohl: „Die Personen, die zur Comödie gehören,
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sind ordentliche Bürger oder doch Personen von mäßigem Stande.“ (Gottsched: Critische Dichtkunst – AW 6,2, S. 351. [T. 2, Kap. 11]) Doch erst die dritte Auflage der Critischen Dichtkunst von 1742 erläutert: „dergleichen auch wohl zur Noth Barons, Marquis und Grafen sind“ (ebd.). Gottsched: Critische Dichtkunst – AW 6,2, S. 319 (T. 2, Kap. 10), vgl. S. 317, AW 6,1, 213 (T. 1, Kap. 4). Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch, S. 71. Gottsched: Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen – Schriften zur Literatur, S. 3–11, hier S. 8. Die folgenden Zitate ebd. Generell zur Ablösung von Religion durch Moral in der Begründung von gesellschaftlicher Ordnung vgl. Niklas Luhmann: Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert. – In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 1, S. 72–161, hier S. 133. Vgl. Greiner: Die Komödie, S. 152, der vom „sozial-dynamischen Gehalt“ von Gottscheds moralisierender Komödienpoetik spricht.
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‚natürlich‘, da gottgegeben zuwiderlaufen. Dabei wird das Tugendkriterium zwar als standesunabhängig und insofern seinerseits ‚natürlich‘ (im Sinne von: der allgemeinmenschlichen Vernunft entsprechend) aufgestellt. Tatsächlich allerdings entspricht die frühaufklärerische Tugendlehre vor allem den Lebensumständen der alten und neuen bürgerlichen Gruppen. Insofern hat die adlige Amalia in Pfeffels Kaufmann (dazu Kap. 2.8.1) nicht unrecht, wenn sie die egalitäre Tugendemphase ihres bürgerlichen Gegenspielers eine „eigennützige Sittenlehre“ nennt.20 Der Adressatenkreis der ‚bürgerlichen‘ Tugendlehre wird zwar nirgends präzise umrissen,21 aber gerade diese Unschärfe entspricht der sozialhistorischen Voraussetzung, daß sich die ‚bürgerlichen‘ Trägerschichten der Aufklärungsliteratur erst durch eben diese formierten. Das Theater galt den Autoren der frühen und mittleren Aufklärung als wichtigstes Instrument jener Formierung: Als öffentliche (wenngleich zumeist kostenpflichtige) Veranstaltung erreichte das Theaterspiel ein viel breiteres Publikum als alle schriftlichen Äußerungsformen; da es obrigkeitlicher Regelung unterlag, schien es den ‚Verbesserungs‘-Eingriffen der Gelehrten zugänglich, und es führte Handlungen vor, von denen man glaubte, daß sie das Publikum beispielhaft über richtiges und falsches Verhalten belehrten.22 Nachdem sich das barocke Weltverständnis im Bild des Theatrum mundi definiert hatte, diente das Theater demnach erneut der gesellschaftlichen, genauer: der bürgerlichen Selbstverständigung.23 Fragt man weiter nach der epochenspezifischen Ausformung des Theatermodells, so könnte man angesichts der in Bewegung geratenen Gesellschaft der Aufklärung vermuten, es habe nun dazu gedient, weniger die Bindung aller Akteure an eine vorgegebe20 Pfeffel: Der Kaufmann oder Die vergoltene Wohlthat, S. 331 (IV,8). Zur programmati-
schen Verbindung von ‚Bürger‘ und ‚Tugend‘ seit ca. 1720 vgl. auch Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 303. Die ‚Redlichkeit‘, die Gottsched fordert, wird in den Moralischen Wochenschriften der Zeit als typisch bürgerliche Tugend präsentiert und der politisch-höfischen ‚Verstellung‘ entgegengesetzt (vgl. ebd., S. 349–354). 21 ‚Bürger‘ bezeichnet in der Critischen Dichtkunst teilweise schlicht den Stadtbewohner; vgl. AW 6,1, S. 208 (T. 1, Kap. 4): „Bürger und Landleute“ als Figuren der niederen Gattungen (das folgende Zitat ebd., S. 213). Hier wirkt eine poetologische Tradition nach, welche die drei (Ideal-)Stände nach Lebensräumen ordnet; vgl. Scherpe: Gattungspoetik, S. 23f. In Formulierungen wie der, daß der Poet „ein rechtschaffener Bürger und redlicher Mann“ sein müsse (um seine Rezipienten darüber belehren zu können, was es zu einem solchen Leben bedarf), zeichnet sich darüber hinaus aber die Formierung eines Bürgertums ab, das sich vor allem durch spezifische Tugenden gegen die unteren wie oberen Stände abgrenzt. 22 Vgl. Eibl: Die Entstehung der Poesie, S. 55–57. 23 In einer individualistischeren Fassung, die aber erst dem letzten Jahrhundertdrittel angehört, wird das Theater zudem insofern zum Bildungsinstrument des ‚Bürgertums‘, daß seine Bühne als ein Ersatz der ‚großen‘, d. h. höfischen Welt imaginiert wird, der die ansonsten nicht gegebene Gelegenheit bietet, Individualität zu repräsentieren. Goethes Wilhelm Meister bildet dafür das berühmteste literarische Beispiel.
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ne Ordnung als die Herausbildung von Ordnung erst in der dramatischen Handlung, d. h. als Verhandlung herauszustellen.24 Poetikgeschichtlich ließe sich in diesem Sinne anführen, daß die syntagmatische oder Prozeßdimension der Komödie – also die Fabel – an Bedeutung gewann, während die statische, den Handlungsgang unterbrechende Lustigkeit einzelner Situation oder Lächerlichkeit feststehender Typen suspekt wurde.25 Allerdings verband Gottsched damit nicht den Gedanken eines offenen Prozesses; als „moralischer Satz“, der die Handlungskonstruktion initiiert und steuert, steht das Ergebnis des dramatischen Spiels vielmehr von vornherein fest.26 Poetologisch ist eine eigene Dynamik der Handlung nicht vorgesehen; der Theorie nach dient sie lediglich als Instrument zur Vermittlung von als unveränderlich gedachten Wahrheiten.27 Zu entscheiden ist die Frage, ob die Komödie zur Durchsetzung eines Verhandlungsmodells von gesellschaftlicher Ordnung beitrug, freilich anhand der dramatischen Praxis – im folgenden Unterkapitel durch Luise Gottscheds Ungleiche Heirath vertreten. Denn diese Komödie zeichnet sich dadurch aus, daß sie den bürgerlich-adligen Standeskonflikt durch Rückgriff auf das merkantile Qualifikationskriterium ‚Geschäftsfähigkeit‘ ausficht.
2.7.2 Geschäftsfähigkeit als Kriterium sozialen Wertes: Luise Gottscheds Die Ungleiche Heirath Entgegen der Gattungskonvention wird in der Ungleichen Heirath zum guten Schluß keine Ehe geschlossen. Nicht jede Komödie muß mit einer Heirat oder Verlobung enden (vgl. im Textkorpus dieser Studie die Jesuitendramen, Schochs Studentenkomödie, Reuters Ehrliche Frau zu Plißine sowie Hafners Mägera);28 wo ein Liebeshandel begonnen wurde, fällt es jedoch ins Auge,
24 In diese Richtung geht die These von Eibl: Die Entstehung der Poesie, S. 84: Aufgrund
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der fortschreitenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft habe um die Mitte des 18. Jahrhunderts „eine neue, gleichsam flüssigere, flüchtigere und spontanere Form der Konsensbildung gefunden werden“ müssen. Vgl. Gottsched: Critische Dichtkunst – AW 6,1, S. 202 (T. 1, Kap. 4); AW 6,2, S. 353f. (T. 2, Kap. 11). Vgl. AW 6,1, S. 215 (T. 1, Kap. 4). Zum Wahrheitsanspruch, den Gottsched für die Dichtung reklamiert, vgl. Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Gerne zitiert wird in diesem Zusammenhang Gottscheds Klage über die Komödienkonvention: „Ist denn weiter nichts in der Welt, als das Hochzeitmachen, was einen frölichen Ausgang geben kann? Moliere selbst hat sich dieses Kunstgriffes zu oft bedienet“ (Critische Dichtkunst – AW 6,2, S. 351; T. 2, Kap. 11). Luise Gottsched hat, wie es scheint, die Probe darauf machen wollen – und ist der Kritik ihres Mannes an Molière auch noch in anderen Punkten gefolgt (vgl. unten S. 197).
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wenn er nicht normgerecht abgeschlossen wird.29 Gryphius’ Horribilicribrifax führte gleich acht Paare zusammen, um die schließlich hergestellte Ordnung von Belohnung der Tugend und Bestrafung des Lasters sinnfällig zu machen. In der Zusammenstellung von Figuren aus hohen wie niederen Ständen bekräftigte das matrimoniale Schlußtableau zugleich die soziale Hierarchie, auch wenn die Figuren sich – anders als in der gesellschaftlichen Realität – durch Moralität für ihren Stand qualifizierten. Indem Luise Gottsched nun einen reichen Kaufmann um die Tochter einer alten Adelsfamilie werben läßt, schärft sie die soziale Frage, die Gryphius implizit positiv beantwortet hatte – nämlich ob in der Ständeordnung soviel Harmonie walte, daß sie sich in Heiraten ausdrücken kann (wenn nicht in Heiraten über die Standesgrenzen hinweg, so in parallelen Hochzeiten). Indem die vorgesehene Verbindung platzt, verweigert die Komödie eben darauf eine positive Antwort. Wenn das vorgegebene Muster gesellschaftlicher Ordnung aber nicht mehr als harmonisch gilt: welche Normen werden dann neu exponiert? Die Entscheidung der Gottschedin, keine ungleiche Heirat zustande kommen zu lassen, leitet sich zuallererst von der – im Sinne Gottscheds – mehrfachen ‚Irregularität‘ der französischen Vorlage her, Molières George Dandin von 1668.30 Der reiche Bauer Dandin hat bereits geheiratet, nämlich eine adelsstolze Frau, und jetzt die Folgen seines Strebens über den eigenen Stand hinaus zu tragen. Seine Gattin verachtet ihn, glaubt einem Bürgerlichen keinerlei Treue schuldig zu sein und betrügt ihn mit einem adligen Liebhaber. Ebenso geschickt wie dreist, gelingt es ihr immer wieder, Dandins Versuche, ihre Untreue aufzudecken, gegen ihn zu kehren und ihn als Schuldigen dastehen zu lassen. Gegen die adlige Familie, in die er sich eingekauft hat, kann Dandin nicht bestehen, so daß er einen Ausweg am Ende nur noch darin sieht, ins Wasser zu gehen und seinem Leben ein Ende zu setzen.31 Der reinen Handlung nach bewegt sich Molières Komödie damit hart am Rand der Gattung, und erst die theatrale Garnierung mit Balletteinlagen sowie die Einbettung in höfische Festlichkeiten machen es verständlich, daß die Aufführungen 29 Zur strengen Zuordnung von Liebe und Eheschließung in der Frühaufklärung vgl.
Martens: Botschaft der Tugend, S. 244. 30 George Dandin ist bereits im 17. Jahrhundert mehrfach ins Deutsche übersetzt wor-
den, zunächst 1670 in der Schaubühne englischer und französischer Komödianten (Nachdruck in Brauneck [Hrsg.]: Spieltexte der Wanderbühne Bd. 4, S. 537–608), dann 1694 und – überarbeitet – 1695 in zwei umfangreichen Übersetzungsbänden mit Molièreschen Komödien, die 1721 noch einmal aufgelegt wurden (vgl. Grimberg: La Réception de la comédie française, S. 103–110); auch Aufführungen durch deutsche Schauspieltruppen sind mehrfach bezeugt (vgl. Bolte: Molière-Übersetzungen, S. 87). Weiteres zur frühen Molière-Rezeption in Kap. 3.4 zur Wanderbühnenfassung des Avare. 31 Vgl. Molière: Œuvres complètes Bd. 2, S. 503 (III,8).
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in Versailles als unbeschwertes Vergnügen aufgenommen wurden.32 Ein Vergleich der beiden Stücke muß zudem berücksichtigen, daß jeweils ein ganz anderer Realitätsbezug vorliegt. Molières Farce modelliert eine Situation, die für sein Publikum außerhalb des Möglichen lag, weil im 17. Jahrhundert kein Bauer in eine alte Adelsfamilie, sei diese noch so verarmt, hätte einheiraten können.33 In ihrem Wirklichkeitsgehalt derartig suspendiert, wurden die vorgeführten Grausamkeiten belachbar. Aus seinem ursprünglichen Kontext gerissen und aus dem Blickwinkel der frühaufklärerischen Poetik betrachtet, ist George Dandin als Komödie dagegen nicht akzeptabel. Wahrscheinlichkeitsforderung und Lehrabsicht der Gottschedschen Poetik ließen zwar eine Übersteigerung der Umstände zu, verlangten von der dramatischen Fabel jedoch, daß sie potentiell in der Realität vorfindlich sei.34 Überheblichkeit und Betrug triumphieren zu lassen, einem Unvernünftigen, der immerhin Einsicht zeigt, aber keine Besserung zuzugestehen widersprach zudem der Forderung nach einem „frölichen Ausgang“ der Komödie bei strafendem Verlachen der lasterhaften Figur(en).35 Ebenso inkompatibel ist Molières Zuschnitt des Stoffes mit der didaktischen Zwecksetzung der Gottschedschen Poetik. Denn eine Lehre zu vermitteln ist nur dann sinnvoll, wenn nicht zugleich gezeigt wird, daß ihre Annahme gar keinen Nutzen bringt. Folglich war dem bürgerlichen Freier die Chance einzuräumen, seinen falschen Ehrgeiz zurückzunehmen, war die Handlung, die die Unmöglichkeit einer guten Ehe über die Standesgrenzen hinweg vorführt, vor die Hochzeit zu verlegen – und war diese selbst zu streichen. Dieser Entschärfung wegen ist Die ungleiche Heirath als ‚Rückfall‘ hinter jene implizite „Adelskritik“ des George Dandin gedeutet worden, die sich aus der Unbarmherzigkeit, die den armen reichen Bauern fast zur tragischen Figur mache, ergebe.36 Schaut man genauer auf die Charakterisierung der beiden Sozialgruppen einerseits bei Molière, andererseits im Stück der Gottschedin, so zeigt sich indessen, daß die ständisch niedrigere Position erheblich an 32 Vgl. Grimm: Molière, S. 157f. Die Pariser Aufführungen des George Dandin waren
dagegen kein Erfolg. 33 Vgl. Paige: George Dandin, ou les ambiguités du social, S. 691f, 696. Von einer
„farce“ spricht Albanese: Solipsisme et parole dans George Dandin, S. 422, 34 Vgl. Saße: Die Ordnung der Gefühle, S. 81. Daß Luise Gottsched sich eng an die
poetologischen Normen ihres Mannes hielt, betont Kord: Little Detours, S. 70. Trotzdem sei ein „independent work“ entstanden – was sich vom Geldthema her bestätigen läßt. 35 Gottsched: Critische Dichtkunst – AW 6,2, S. 351 (T. 2, Kap. 11); vgl. AW 6,1, S. 217 (T. 1, Kap. 4). Hinzu kommen moralische Vorbehalte gegen die Verspottung nicht der betrügerischen Ehefrau, sondern des betrogenen Gatten; AW 6,2, S. 345 u. 351. 36 Hinck: Vom Ausgang der Komödie, S. 23.
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Profil wie an Geltungsanspruch gewonnen hat: In der Konfrontation Dandins mit der Familie de Sotenville wurde weniger deren Verlangen nach seinem Geld belacht als die demütigenden Folgen seiner Adelssucht. In der Ungleichen Heirath bilden dagegen die Familie von Ahnenstolz, ihr geradezu autistisches Standesbewußtsein, ihre Denkunwilligkeit und ihre Falschheit die Haupt-Zielscheibe der Satire. Gibt Molière am Beispiel des George Dandin „une portrait saississant de l’homme solipsiste“,37 so ließe sich dies mit Bezug auf die Komödie der Gottschedin über die meisten adligen Figuren sagen. Wichtiger noch ist, daß die Verrechnung des bürgerlichen Verlangens nach adligem Prestige mit dem adligen Bedarf an „bürgerlichem Geld“ (II,9, S. 117) nun ganz nach bürgerlichen Maßstäben erfolgt.38 Es ist nicht die adlige Lehre vom ‚natürlichen‘ Unterschied der Stände,39 vor der sich der vorgesehene „Handel“ (II,2, S. 103) als irrig erweist. Könnte er als gerechter Tausch von Besitz und Prestige vollzogen werden, so wäre er durchaus zu erwägen. Ebensowenig erscheint es als prinzipiell unangemessen, jenen Tausch im Rahmen einer Eheschließung zu vollziehen, denn anders, als Gryphius’ moralische Idealisierung der Ehe behauptet, galt diese als ein Vertrag, der zum beiderseitigen Nutzen (sowie zum Nutzen künftiger Kinder) abgeschlossen wird.40 Gerade weil ein solcher Nutzen die Norm bildete, macht 37 Albanese: Solipsisme et parole dans George Dandin, S. 432. 38 Die bisherige Forschung hat die Entschiedenheit der damit verbundenen Parteinahme
nicht gesehen. Aus der richtigen Beobachtung, daß Wilibald keine eindeutige Vorbildfigur ist, sondern sich bessern muß, hat man vielmehr darauf geschlossen, daß sich die „Gottschedin [...] unparteiisch zwischen beide Klassen“ stelle (Friederici: Das deutsche bürgerliche Lustspiel der Frühaufklärung, S. 144; vgl. Richel: Luise Gottsched, S. 27; Schlenther: Frau Gottsched und die bürgerliche Komödie, S. 182). Saße zwar erkennt die Parteinahme für Wilibald, „weil er seinen Irrtum erkennt und Vernunft und Tugend zum Maßstab seines Handelns erhebt“ (Die Ordnung der Gefühle, S. 87), übersieht jedoch das merkantile Fundament der dramatischen Beweisführung. – Zitiert wird, unter Angabe von Akt, Szene und Seite, nach [Luise Adelgunde Victorie Gottsched:] Die Ungleiche Heirath, ein deutsches Lustspiel in fünf Aufzügen. – In: Johann Christoph Gottsched (Hrsg.): Die deutsche Schaubühne Bd. 4, S. 69–184. 39 So argumentieren die Moralischen Wochenschriften der Frühaufklärung, vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 371–373. 40 Vgl. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit [7. Aufl. 1762], Praktischer Theil, § 318 – AW 5,2, S. 235. Dem prima vista entgegenstehend, propagierte Gottscheds Biedermann die Eheschließung „bloß aus Liebe“ (Bd. 1, S. 9, 3. Stück vom 15. 5. 1727), wobei ‚Liebe‘ primär eine Schätzung der guten Sitten und Tugenden der Braut meint. Materielle Interessen werden dagegen verurteilt: „Ich würde sie lieben, wenn ich gleich keinen Thaler mit ihr zu gewarten hätte.“ (ebd., S. 10) Allerdings erhält der Muster-Bräutigam von den Schwiegereltern ein sehr ansehnliches Brautgut. Seine Bescheidenheit wird also reich belohnt – ein Schema, das sich in der Komödie häufig wiederfindet (vgl. Gryphius’ Horribilicribrifax oder Gellerts Loos in der Lotterie). Auch andere Moralische Wochenschriften lassen erkennen – selbst da, wo sie Heiraten aus Geldinteresse verwerfen –, daß Nützlichkeitsgesichtspunkte faktisch eine
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sich Wilibald lächerlich, wenn er sich beim Abschluß der „Ehepacten“ viel Geld gegen wenig Ehre abhandeln läßt (III,5, das Zitat S. 131).41 Damit diese (und andere) Normen recht deutlich werden, hat Luise Gottsched dem Molièreschen Tableau eine Figur hinzugefügt, die Wilibald als vernünftige Gesprächspartnerin dient. Gegenüber Amalia, der Stiefschwester der Frau von Ahnenfeld, bekennt der Kaufmannssohn, daß er seine Werbung aus Nutzerwägungen betreibt. Auf ihre Vorhaltung, er wolle aus seinem „Bürgerstande entweichen, und sich durch eine adeliche Frau gleichsam zum halben Edelmanne machen“, entgegnet er: „Ich leugne nicht, daß ich mein Geld nicht besser anzuwenden weis, als wenn ich davon eine Person zu unterhalten suche, die nebst allen ihren Reizungen, noch die Vorzüge einer uralten adelichen Geburt besitzt.“ (II,9, S. 117). Im aktuellen Fall ist sein Geschäftsmut jedoch ebenso vergeblich wie prinzipiell unvernünftig. Denn seine adligen Gegenüber sind gar nicht geschäftsfähig. Die Eltern Ahnenstolz leiden unter Realitätsverlust; die ‚wirklichen‘ Verhältnisse der Dinge vermögen sie weder zu erkennen noch angemessen zu benennen. Die Forschung hat früh bemerkt, daß Gottsched, um dies zu zeigen, einige Szenen des George Dandin weiter ausspinnt.42 Vor allem freilich wendet sie die Molièresche Satire auf typische Marotten des verarmten Landadels (wie das Insistieren auf Titel und Ahnen) in eine grundsätzliche Frage nach der adligen Vernunft- und damit Zurechnungsfähigkeit. So wird, wenn der Herr von Ahnenstolz von verschiedenen Familienwappen auf mehr oder weniger adlige ‚Substanz‘ schließt, dies als Verwechslung von bloßem Zeichen und Sache lächerlich gemacht (I,1).43 Mangelndes Unterscheidungsvermögen zeigen die adligen Figuren auch dort, wo sie voraussetzen, daß man schon ihrem Körper den Adel ansehen könne, da „ein Paar Ahnen mehr oder weniger, eine gänzliche Aenderung in eines Menschen Gestalt und Gesichte machen.“ (II,1, S. 98) Damit geraten sie in eine ganze Reihe von Verlach-Situationen: Der Herr von Zierfeld, der meint, daß ihm „auch das schlechteste Gewand ein gewisses, ich weis nicht was, nicht rauwesentliche Rolle spielten; vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 314. Zudem darf ‚Nutzen‘ nicht aufs Materielle verengt werden; so waren haushälterische Fähigkeiten ein großer Nutzenfaktor. Als einen „Handel“ und ein legitimes Mittel des Gelderwerbs bewertet auch Walchs Philosophisches Lexikon (1726, Sp. 1149, s. v. Geld-Kunst) die Heirat. Zur Säkularisierung des Eheverständnisses im frühen und mittleren 18. Jahrhundert vgl. Schwab: Ehegesetzgebung, S. 171–192. 41 So schon Pape: Symbol des Sozialen, S. 55. 42 Vgl. Schlenther: Frau Gottsched und die bürgerliche Komödie, S. 184f. über den Adelsstolz einerseits der Sotenvilles, andererseits der von Ahnenstolz. 43 Diese Verwechslung treibt sein Gesprächspartner parodistisch auf die Spitze, wenn er repliziert, all die heraldischen Fische und Frösche, die Ahnenstolz aufzählt, machten ihn „ganz hungrig“ (S. 77).
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ben“ könne (III,1, S. 121), wird in Vertraulichkeiten mit der zu verheiratenden Tochter Philippine gefunden, in seiner Verkleidung als Gärtnersbursche aber von niemandem erkannt, so daß sie sich vorwerfen lassen muß, mit „einem Bauerkerl“ angebandelt zu haben (V,3, S. 173). Schloß der Vater Ahnenstolz unzulässig von einem – unzuverlässigen – Zeichen auf eine – zweifelhafte – Substanz, so verwechselt Zierfeld eine soziale Unterscheidung mit einer physischen Differenz.44 Diesem gestörten Verhältnis zur Realität bzw. zu den Kategorien, unter denen sie sich darstellt, entspricht ein Sprachgebrauch, der nicht realitätsadäquat ist, so oder so: Viele belanglose Worte und Redundanzen45 halten jenen Wörtern die Waage, die nicht ausgesprochen werden dürfen, weil sie unliebsame Sachverhalte bezeichnen, vor allem das Wort „Kaufmann“, das auf den niederen Stand des zukünftigen Schwiegersohns verweist (I,2, S. 89). Auch die reiche Sprachkomik des Stücks steht im Dienst des Nachweises, daß es dem Adel an den elementarsten Voraussetzungen der Welterkenntnis wie -gestaltung mangelt.46 Über die ständische Scheidung hinaus lebt die Familie von Ahnenstolz in einer anderen Welt, weil sie die Realität nicht richtig wahrzunehmen vermag. Unter diesen Voraussetzungen vermochte sie natürlich keine ordentliche Wirtschaft zu führen. (Die dargestellte Verarmung der Familie von Ahnenstolz ist demnach nicht nur als Spiegel einer wirtschaftshistorischen Entwicklung zu verstehen, sondern als Konsequenz einer ganz anders angelegten, ‚intellektualistischen‘ Adelskritik). Auch deshalb, nicht nur wegen der zu erwartenden Verachtung aller Adligen, kann „eine Heirath eines Bürgerlichen mit einer Adelichen niemals gut ablaufen“ (II,9, S. 116). Amalia, die so spricht, macht für Wilibalds glückliches Scheitern ausdrücklich nicht die eine adelige Familie der Ahnenstolze, sondern den ganzen Stand verantwortlich (vgl. V,8, S. 183f.). Für das von der Ungleichen Heirath entworfene Adelsbild gilt dieser verallgemeinernde Schluß generell, obwohl mit Amalia und dem Nachbarn von Wildholz zwei ‚vernünftige‘ Adlige auftreten (Amalia steht allerdings am Rande ihrer Familie, und Wildholz ist mit seiner Jagdleidenschaft keineswegs frei von adligen ‚Lastern‘).47 Denn 44 Derselben Verwechslung erliegt die hypochondrische Frau von Ahnenstolz, wenn sie
bestreitet, daß ihr „Körper mit den Rümpfen [ihrer] Bedienten, aus einem Zeuge gemacht sey“ (I,2, S. 86). 45 Vgl. Sz. I,1 oder S. 91: „er ist ein einziges Kind, und hat also keine Geschwister“. 46 Vgl. auch die komischen Begriffsverwirrungen der Frau von Ahnenstolz sowie ihr Verlangen nach Euphemismen (II,5; I,3, S. 91). Bei Molière war es noch George Dandin, der sich sprachlich disqualifiziert, weil er sich nicht konventionskonform auszudrücken weiß (vgl. bes. I,4). Die Gottschedin dagegen läßt Wilibalds adeligen Rivalen als auch konversationell ungehobelten Kerl auftreten (vgl. II,2, S. 100), während der Kaufmannssohn stets höflich und gewandt ist. 47 Kritik an der Jagd als – weder nützlicher noch geistig anspruchsvoller – Lieblings-
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Traditionen wie das Wappenwesen, das die Gottschedin der Lächerlichkeit preisgibt, sind untrennbar mit dem Adel als distinktem und privilegiertem Stand verbunden. Es sind daher nicht die Schwächen oder Laster einzelner Adliger, sondern es ist das typische Verhalten eines auf vorgegebene Ordnung pochenden Standes, das vor den impliziten kaufmännischen Normen des Stücks nicht bestehen kann.48 Die sozialhistorisch feststellbare Beteiligung „adliger Offiziere und Grundbesitzer“ an der Kultur der ‚neuen Bürgerlichen‘49 wird in den Figuren der Familie Ahnenstolz, deren militärische Leistungen schon Jahrhunderte zurückliegen und die ihre Güter sämtlich verkaufen mußten (vgl. I,1, S. 72f.; I,3, S. 90), geradezu konterkariert, ebenso das durchaus positive Bild, das die Moralischen Wochenschriften der frühen Aufklärung vom niederen, ländlichen Adel zeichnen.50 Zwar kennt auch Johann Christoph Gottscheds fiktiver Wochenschriftsverfasser Biedermann die Klage über den „sehr ungegründeten Hochmuth und fast unerträglichen Stolz“ vieler seiner adligen Nachbarn, die „weder durch den Degen, noch durch die Feder eigene Verdienste zuwege gebracht“.51 Die Ungleiche Heirath verschärft jedoch diese Kritik, und zwar einerseits durch ihre ‚kaufmännische‘ Argumentation, andererseits gattungsbedingt: will sagen durch die typisierende Figurendarstellung sowie einen (Sprach-)Witz, der entscheidend dazu beiträgt, daß die Geschäftsunfähigkeit der Ahnenstolze als Folge einer gestörten Realitätswahrnehmung erscheint. Auf die Gattung, genauer: auf die strukturelle Affinität der Komödie zum
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beschäftigung des Adels übt auch Johann Christoph Gottscheds Biedermann (vgl. Bd. 2, S. 29, 28. Stück vom 14. 6. 1728). Die Ungleiche Heirath stellt, ihrer hier aufgezeigten ökonomistischen Beweisführung entsprechend, vor allem den wirtschaftlichen Schaden der Jagd heraus (vgl. IV,5). Ebenso Saße: Die Ordnung der Gefühle, S. 91f. Saße macht darauf aufmerksam, daß selbst die Hypochondrie der Frau von Ahnenstolz signifikant ‚adlig‘ sei, weil sie den typischerweise ‚repräsentativen‘ Körper des Adligen in den Vordergrund rücke (vgl. ebd., S. 90f.). Nicht beistimmen kann ich Saßes These, daß der „poetische ‚Mehrwert‘“ der Ungleichen Heirath darin liege, daß sie „die Geltungsschwäche des zeitgenössischen Konzepts der vernünftigen Liebe“ vorführt (ebd., S. 92). Denn nicht nur die Komödie der Gottschedin, sondern auch die Moralischen Wochenschriften der Zeit empfehlen, Ehen in der Regel nur zwischen (annähernd) Standesgleichen zu schließen (vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 377). – Susanne Kord hat neuerdings versucht, die Unvernunft besonders der Frau von Ahnenstolz weniger als typische Gefährdung des Adels denn als bewußte Spiegelung des damaligen Frauenbildes zu deuten (vgl. Little Detours, S. 78). In der Tat nutzt die satirische Charakterisierung dieser Figur das Stereotyp der Frau als ‚schwachen Geschlechts‘ (vgl. die entsprechende Bemerkung des Herrn von Wildholz in I,2; Ungleiche Heirath, S. 87). Dieselbe Unvernunft zeigen aber auch die adligen Männer. Geschlechterrollenfragen scheinen mir daher nicht den Hauptkonflikt des Stückes zu konstituieren. Vgl. Stollberg-Rilinger: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, S. 93. Vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 381f. Vgl. [Gottsched:] Der Biedermann, 58. Blatt, 14. 6. 1728, Bd. 2, S. 29.
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Geldwesen dürfte auch zurückzuführen sein, daß überhaupt so ökonomistisch argumentiert wird. Um ein Textkorpus mit vielen Parallelen zur sächsischen Komödie vergleichend heranzuziehen: Der Biedermann scheut sich, mit geschäftlichem Erfolg gegen die Privilegien des Adels zu argumentieren. Reichtum sei keine Qualifikation, auch nicht für gesellschaftlichen Aufstieg; „ein voller Beutel“ weise vielmehr auf die „unedelsten Seelen“.52 Für die literarische Autonomie der Ungleichen Heirath folgt daraus: Selbst in einem Stück, das einer normativen Poetik folgt, die keine spezifisch poetischen Aussagen vorsieht, sondern lediglich „angenehme“ ‚Einkleidungen‘ allgemeiner Wahrheiten,53 reichen die komödiantisch erzeugten Bedeutungen über das vom Kontext her Erwartbare hinaus. Insgeheim die Frage der Geschäftsfähigkeit verhandelnd, transzendiert das komische Spiel den ‚moralischen Satz‘. Die von Ahnenstolz streichen Wilibalds Geld ein, ohne zu den mit einer Heirat und Verschwägerung verbundenen Gegenleistungen (eheliche Treue der Tochter, Aufnahme in die Familie durch die Eltern) bereit zu sein. Kurzgefaßt: sie akzeptieren nicht das Tauschprinzip, obwohl es die Grundlage der Leistungen ist, die sie von Wilibald erhalten. Die Komödie der Gottschedin stellt das als Widerspruch aus. Allerdings bildet das Tauschprinzip keine ‚allgemeinmenschliche‘ Norm, sondern gehört zur von Bürgern besetzten Handelssphäre, während Feudalleistungen einseitig erbracht werden.54 Eben die kaufmännisch-bürgerliche Norm behauptet die Ungleiche Heirath jedoch als allgemeingültig: Die schlechte wirtschaftliche Lage der von Ahnenstolz führt vor Augen, daß ihr Prinzip des Nehmens ohne zu geben letztlich in den Ruin führt, und zwar auch jene, die von seiner Asymmetrie zu profitieren scheinen. Wirtschaftshistorisch schlug sich die geschäftliche Nonchalance des Adels häufig so nieder, daß Ein- und Ausnahmen nicht ordentlich verrechnet wurden; anders gesagt: daß die adlige Gutswirtschaft jene Kontrolle qua doppelter Buchführung versäumte, die im Handel üblich war.55 Im Bewußtsein der bürgerlichen Aufklärer ist es die Macht der ökonomischen Fakten (genauer: die Unhintergehbarkeit ökonomischer Gesetze), die auf der Seite des Kaufmanns steht. Der Handel sei, auch wenn der Adel ihn verachtet, gesamtgesellschaftlich unverzichtbar, und daß die ‚bürgerliche‘ Ethik dem Rechnung trägt, untermauert ihren überständischen Geltungsanspruch.56 52 Ebd., S. 30. 53 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst – AW 6,1, S. 221 (T. 1, Kap. 4). 54 Das sozialtheoretische Modell einer ‚Tauschgesellschaft‘ wird im 18. Jahrhundert als
Alternative zum bisher vorherrschenden Modell eines ursprünglichen Vertrages (der die monarchische Herrschaft begründet habe) entwickelt; vgl. H. Kämpf: Tauschgesellschaft – HWPh 10, Sp. 926–928, hier Sp. 926. 55 Vgl. Saße: Die Ordnung der Gefühle, S. 84 Anm. 185. 56 Vgl. das 37. Stück von Gottscheds Moralischer Wochenschrift Der Biedermann
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Aus ökonomischen Normen bestimmen sich auch die Fehler, die Wilibald noch abzulegen hat. Sein irriges Streben nach einer adligen Gattin leitet sich von falschen Prioritäten bei der Partnerwahl her, wenn er den Prestigegewinn einer vornehmen Geburt an die erste Stelle setzt (vgl. IV,1, S. 149). Was dabei zu kurz kommt, sind nicht die verliebten „Empfindungen“, die er gegenüber Philippine einmal behauptet (II,3, S. 105), denn die wechseln rasch (wie Wilibalds leichtherziger Verzicht auf sie schon zeigt). Als Gegenbild zur moralisch wie pekuniär unsoliden Philippine impliziert die Komödie vielmehr das Ideal einer als Ehefrau, Mutter und Hausfrau57 zuverlässigen Gattin. Im Grunde geht es hier, unbeschadet möglicher emotionaler Motive, um praktische Leistungen – und also um Vorteilsüberlegungen. Wilibalds Fehler ist, daß er den wahren Nutzen, den eine gute Ehe ihm brächte, zugunsten eines Scheinvorteils übersehen hat. Sein ‚wahrer‘ Vorteil wäre gewiß kein ausschließlich materieller, wie an der Wertschätzung deutlich wird, die er Amalias Vernunft und Tugend entgegenzubringen lernt. Ebenso gewiß ist das Materielle aber auch nicht ausgeschlossen; schließlich schlägt sich das Verkennen der rechten Werte als massiver finanzieller Nachteil nieder.58 Was bei Gryphius noch undenkbar gewesen wäre, sich in Schochs Comoedia Vom StudentenLeben freilich schon abzeichnete, setzt sich nun durch: Der Nutzen tritt als oberster Wert neben die Moral. In der Geschichte der Handlungs- (einschließlich der Handels-)Prinzipien ist damit eine fundamentale Verschiebung markiert: Die bisher analysierten Komödien propagierten ein Gabeprinzip, also den Einsatz materieller oder immaterieller Güter auch ohne sichere Aussicht auf eine Gegenleistung – für den Merchant of Venice wurde dies ausführlich dargelegt, im Horribilicribrifax tritt das Gabeprinzip ex negativo in der Verurteilung des merkantilen Tauschs sowie täuschender Geschenke hervor, und in der Comoedia Vom Studenten-Leben kann die Studienanstrengung Jäckels als gabeförmige Vorleistung gelten, die dem Glauben des Kaufmanns, alles im Tausch gegen Geld erhalten zu können, entgegengesetzt wird. Die Ungleiche Heirath fordert dagegen eine realistische Kalkulation von Investition und erwartbarem Ertrag und warnt vor risikoreichen Vorleistungen. Die Bereitschaft zu geben erscheint bei Wilibald als Naivität, als unzureichende Berechnung der Situation. (Bd. 1, S. 145–148, 12. 1. 1728): „Alle Bürger geniessen das Gute, so daher [aus dem Handel] entstehet: Der Adel selbst zieht unzehlige Vortheile davon“. 57 Diese Trias bildet eine stehende Formel zur Beschreibung der weiblichen Pflichten in einer vernünftigen Ehe, vgl. Gottscheds Biedermann (Bd. 1, S. 11, 3. Stück vom 15. 5. 1727). 58 Die Komödie erweist sich hier einmal mehr als ‚materialistischer‘ als parallele Diskurse anderer Gattungen, vgl. die noch religiös begründete, geldkritische Unterscheidung von „Scheingütern“ und „wahrhafften Gütern“ in Gottscheds Biedermann (Bd. 1, S. 141, 36. Stück vom 5. 1. 1728).
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Die Vorausberechnung von Gewinn und Verlust wird dagegen gefordert – und für möglich ausgegeben: Nicht mehr die Unsicherheit der Zukunft, die Shakespeare und Gryphius zufolge zu einem Handeln nach dem Gabeprinzip zwang, wird ausgestellt, sondern ganz im Gegenteil die Offensichtlichkeit der Lage. Bestätigt wird dadurch nicht zuletzt die oben vorgenommene Zuordnung von Welttransparenz und Handlungsprinzip: Handelte der Gebende in eine offene Zukunft hinein, so entspricht das Tauschprinzip mit seiner Vorauskalkulation von gegebenen und erhaltenen Werten einer für kognitiv kontrollierbar gehaltenen Welt. Hier stimmen die Komödie der Gottschedin und die didaktische Funktionalisierung der Bühne durch ihren Gatten wieder überein. Die Handlungsmaximen der Ungleichen Heirath scheinen in erster Linie auf wirtschaftlich tätige Bürger berechnet zu sein. Um so stärker kann auffallen, daß der Protagonist gar nicht selbst einen Handel betreibt, sondern lediglich der Erbe eines reichen Kaufmanns ist (vgl. I,3, S. 90). Das erwirtschaftete Kapital sucht er nicht maximal zu vergrößern, sondern hat es in landwirtschaftlichem Besitz eher sicher als ertragsreich angelegt. Nicht nur für die Kaufmannsfiguren der Aufklärungskomödie, sondern überhaupt für die deutschen Verhältnisse des 18. Jahrhunderts ist diese Haltung nicht untypisch.59 Sie dokumentiert, daß adlige Prestigemaßstäbe noch vorherrschten, denn das erworbene Landgut galt dem erfolgreichen Kaufmann oder Manufakturbesitzer als Symbol sozialen Aufstiegs. Auch in der Ungleichen Heirath gilt die ökonomisch-‚bürgerliche‘ Wertordnung nicht uneingeschränkt: Indem Luise Gottsched ihren Protagonisten als Rentier auf dem Lande zeichnet – und zwar ohne jede Kritik an diesem Aspekt der Figur –, werden implizit auch profitkritische Normen berufen. Denn das Modell des adligen Landlebens läßt ein schrankenloses Gewinnstreben nicht zu bzw. setzt ihm das Ideal einer ‚natürlichen‘ Ordnung entgegen. Die Moralischen Wochenschriften zeichnen das Bild des ‚guten‘ Landadligen wie folgt: Fern vom ehrgeizigen Treiben der großen Welt, nützlicher und gesunder Beschäftigung hingegeben und zugleich im Besitze geruhiger Muße zu Gespräch und lehrreicher Lektüre, lebt er im Kreis seiner Familie und seiner Bauern ein patriarchalisches Leben in aller Ehrbarkeit und Gottesfurcht. Vernunft, Religion, Tugend und Glückseligkeit [...] scheinen im Hause eines solchen Landedelmannes in besonderem Maße heimisch zu sein.60
In diesem Sinne ist auch Wilibald gestaltet: Tugend gilt mehr als sozialer Aufstieg. Wir haben verfolgt, wie dieser Grundsatz vor allem gegen seine
59 Vgl. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 1, S. 207. Speziell zu Sachsen um
1700 vgl. Czok: August der Starke (1991), S. 41: Von etwa 1000 Rittergütern insgesamt waren um 1700 193 in bürgerlichem Besitz, mithin ein beachtlicher Anteil. 60 Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 381.
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‚Adelssucht‘ durchgesetzt wird. Aber auch ein Aufstieg im Rahmen seines Standes – also durch geschäftliche Expansion – ist nicht vorgesehen. Der dramatische Aufbau der Ungleichen Heirath entspricht dieser Reduzierung von Aktivität: Die zentrale Figur entwickelt von sich aus kaum Handlungsinitiative; vorangetrieben wird die Handlung vor allem vom erotisch motivierten Intrigenspiel der Verliebten.61 ‚Gerettet‘ wird Wilibald, da Philippine und Zierfeld sich im eigenen Leichtsinn verfangen, und Amalia trägt mehr zu beider Diskreditierung bei als der Kaufmannssohn, da sie den wunden Punkt der Mutter Ahnenstolz – deren Verachtung aller Zierfelds – besser zu berechnen weiß (vgl. V,4). Der Dramaturgie entspricht wiederum die strukturelle Bedeutung des Geldes für die Komödienhandlung. Sie ist relativ gering. Geld ist nicht Movens der dargestellten Handlungen; die Parteien spielen nicht ums Geld, sie verspielen es lediglich (und sind so ‚gestraft‘): Wilibald einen Vorschuß von 10 000 Talern, Philippine sein übriges Vermögen, soweit es durch die Heirat ihrer Familie zugekommen wäre. Nur schwach entfaltet das Geld auch „seine komisches Potential enthaltende Verwandlungs- und Vertauschungsfähigkeit. Denn anders als Monsieur Jourdain in Molières Bourgeois Gentilhomme ist der reiche Wilibald nicht komisch, da er bei seinen ‚bürgerlichen‘ Sitten und Moralvorstellungen bleibt.“62 Die von der Ungleichen Heirath propagierten ökonomischen Normen sind die eines Kaufmanns, wie der Gelehrte bzw. der ‚neue Bürgerliche‘ akademischer Bildung ihn sich wünschte. Eine gesellschaftshistorische Erklärung für diese normative Gemengelage läßt sich mit Hilfe der Systemtheorie geben. In Luhmanns Modell des Übergangs von der stratifikatorisch zur funktional differenzierten Gesellschaft läßt sich zunächst die Sprachkritik am Adel, wie Die Ungleiche Heirath sie übt, recht präzise verorten: Was und wie in der Familie Ahnenstolz gesprochen wird, exemplifiziert in satirischer Weise das Kennzeichen dieses Übergangs, „daß Oberschichtenkommunikation überhaupt ihre Funktion verl[or]“, weil die führende Schicht nicht mehr sämtliche gesellschaftliche Funktionen zu kontrollieren vermochte.63 Ebenso auffällig ist die Koinzidenz von Drama und Theorie hinsichtlich der neuexponierten Norm; Luhmann schreibt: „‚Commerce‘ wird zu einem allgemeinen Rationalitätsmodell der Interaktion, mit dem man in einer noch stratifizierten Gesellschaft bereits für eine nicht mehr stratifizierte Gesellschaft trainieren“ – bei 61 Bereits in George Dandin ist der ‚Bürgerliche‘ eine bloß reaktiv tätige Figur. Ausge-
rechnet diesen Zug übernimmt die Gottschedin, obwohl sie Wilibald insgesamt deutlich abweichend von der Vorlage konzipiert. 62 Pape: Symbol des Sozialen, S. 55. 63 Niklas Luhmann: Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert. – In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 1, S. 72– 161, hier S. 81. Das folgende Zitat ebd., S. 87.
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Luise Gottsched heißt das: die Überlegenheitsansprüche des Adels abwehren – kann. Damit einhergehend wird der Nutzen als Handlungskriterium aufgewertet.64 Luhmann zufolge setzen all diese Prozesse voraus, daß eine funktionale Differenzierung der Gesellschaft begonnen hat, d. h. daß „zentral liegende Einzelfunktionen, vor allem Politik, Religion und Wirtschaft, sich zu stärkerer Eigenständigkeit entwickeln und die Akteure zwingen, der Funktion [...] den Vorzug zu geben.“65 Davon scheint in der Ungleichen Heirath nichts zu bemerken, schließlich ist Wilibald keineswegs als profitmaximierender Kaufmann gezeichnet. Ebendies entspricht indes der ‚semantischen Taktik‘, die Luhmann beschreibt: der kommunikativen ‚Aussparung‘ der ‚tatsächlichen‘ „Gesellschaftsfunktionen wie Religion, Politik, Kapitalbildung“ durch das an einem idealisierten Handel orientierte Interaktionsmodell.66 (Geradezu gegenteilig verfuhr The Merchant of Venice, der Geschäftsprinzipien oder die rechtliche Regelung von Macht ebenso direkt thematisiert wie deren religiöse Prämissen.) In einem Punkt allerdings ist Einspruch zu erheben: Luhmann weiß allgemeingesellschaftliche Normen lediglich als kompensatorische Reaktion auf eine bereits sich vollziehende funktionale Ausdifferenzierung, die semantisch noch nicht akzeptiert wurde, zu erklären. Im Auge hat er besonders die „Tugendmoral“ des 18. Jahrhunderts, welche die spezifischen Handlungsrationalitäten der einzelnen Funktionsbereiche durch sehr allgemeine und die Handlungssphären übergreifende Regeln zu bändigen suchte.67 Auf Texte der sog. Empfindsamkeit, in unserem Themenkreis besonders auf Gellerts Loos in der Lotterie, paßt dieses Erklärungsmuster. Einen frühaufklärerischen Text wie Die Ungleiche Heirath beschriebe es dagegen zu einseitig als ‚reaktiv‘. Denn die Aufwertung des Ökonomischen, die sich hier andeutet, braucht noch keine Kompensation. Vielmehr läßt sich eine Norm der ‚funktionsintegrierten‘ traditionalen Gesellschaft wie das Landlebenideal scheinbar bruchlos mit dem ‚modernen‘ Geschäftsfähigkeitskriterium verbinden. Diese Kontinuität sollte nicht übergangen werden.
64 65 66 67
Vgl. ebd., S. 84. Ebd., S. 81. Ebd., S. 87. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 948.
2.8 Ausgang: Gebende Kaufleute, Verausgabung der Komödie Zum Geld und den in seiner Sphäre geltenden Handlungsmaximen stellen sich alle bisher betrachteten Komödien in ein ambivalentes Verhältnis, sei es ideologisch, sei es dramaturgisch. Am unbefangensten wendet sich The Merchant of Venice dem Geschäftsleben zu – um freilich den Erfolg einer lebensbereichübergreifenden Ethik vorzuführen, die auf dem Prinzip der Gabe, nicht des Tausches basiert. Einen starken Geltungsgewinn des Markttausches als Wertermittlungsinstruments machte dann die Analyse einerseits des Horribilicribrifax, andererseits der Ungleichen Heirath sichtbar. Auch Mitte des 18. Jahrhunderts artikuliert sich die motivische Affinität sowie Strukturhomologie von Komödie und Geld(sphäre) jedoch nicht darin (jedenfalls nicht in Deutschland), daß die normativ erheblich aufgewertete Tätigkeit des Kaufmanns zum Gegenstand der dramatischen Darstellung würde. Die Gattung neigt, so ließe sich zusammenfassen, zum Geld und den mit ihm verknüpften Handlungsweisen und -normen, hält eben als Komödie zugleich aber Abstand. Diese Konstellation kann recht unterschiedlich ausfallen, ist jedoch durchgängig vorfindlich: Wendet sich die Komödie der Geldsphäre zu, indem sie Geschäftspraktiken auf die Bühne bringt, so macht sie regelmäßig ethische Vorbehalte geltend. Das kann durch die Vorbildfigur eines normgerechten, weil gabebereiten Kaufmanns geschehen wie im Merchant of Venice (ohne daß dort auf die negative Kontrastfigur des ‚Wucherers‘ verzichtet würde); das kann aber auch durch kompromißlose Satire geschehen wie in Lesages Turcaret von 1709.1 In ihrer satirischen Schärfe hat diese Komödie um einen skrupellosen, schließlich aber von seinem Diener noch überflügelten Finanzpächter in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts keine Parallele (ebensowenig wurde dem Turcaret eine deutsche Übersetzung zuteil).2 Zwar kommen Turcarets Manipulationen nicht direkt 1 Zum Turcaret vgl. Gerhardi: Geld und Gesellschaft im Theater des Ancien Régime,
S. 228–254. 2 Immerhin gab es einige Aufführungen in französischer Sprache, so an den Hoftheatern
von Berlin (1746, 1749, 1753, 1754), Wien (1752/57, 1768/71) und Kassel (1778) (vgl. Steltz: Geschichte und Spielplan der französischen Theater an deutschen Fürstenhöfen, S. 35 sowie Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum Abt. 2, Bd. 13, S. 283) und sogar drei Drucke in französischer Sprache (Wien 1749, Dresden
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auf die Bühne, sondern werden erzählt, doch sind fast alle Figuren ständig mit betrügerischen Geschäften befaßt. Die Ambivalenz komödischer Hin- und Abwendung zum bzw. vom Geld läßt sich demnach wie folgt formulieren: Je näher die Handlung an irgendwelche Geschäfte rückt, desto größer wird die normative Distanzierung. Genau andersherum als für den Turcaret gilt diese Proportionalität für die Ungleiche Heirath: Normativ hat Geschäftsfähigkeit (welche die Familie von Ahnenstolz vermissen läßt) einen sehr hohen Wert, dramatisch relevant wird sie dagegen überhaupt nicht. Offensichtlich handelt es sich bei dieser Proportionalitätsmechanik um eine Wirkung speziell der Komödienform. Diskursgeschichtlich nämlich hatten wir zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert einen deutlich weniger ambivalenten Geltungsgewinn des Handels und seiner Agenten zu verzeichnen. Die Aufklärungskomödie sucht diese normative Umstellung nachzuvollziehen – deshalb ist Die Ungleiche Heirath trotz ihrer Ausblendung tatsächlicher Handelsgeschäfte weit handelsaffiner als der Horribilicribrifax. Doch ist sie – als Komödie – dazu nur begrenzt in der Lage. Denn die Gattung fordert nicht allein, sondern verträgt auch nur ein gewisses Maß an ‚Geschäftlichkeit‘. Macht sie, als satirische Sittenkomödie in moralischer Absicht oder auch im Fall des Merchant of Venice, das Geschäftsleben zum Thema, so läßt sie ihre vorbildlichen Figuren allenfalls nach idealisierten Geschäftsmaximen, keinesfalls aber aufgrund bloßen Gewinninteresses handeln und obsiegen. Hier können Geschäfte zu einem guten Ende kommen, doch sind es nicht die außerhalb der Literatur beobachtbaren Geschäftspraktiken, die das gute Ende herbeiführen. Ist wiederum, wie im Wandertheater sowie in den Abkömmlingen der Commedia dell’arte, die (komikzentrierte) Mechanik der Handlung besonders geldpraxishomolog – d. h. von Verstellungen und Verkleidungen, raschen Wechseln, charakterlich wenig differenzierten Figuren sowie von moralischer Indifferenz (oder einer bloß äußerlichen Moralität) geprägt –, so kommen Verhaltensnormen gerade nicht des wirtschaftlichen Erfolges und der disziplinierten Arbeit, sondern des spontanen und unmittelbaren Lebensgenusses zur Geltung, zumindest in der für das Publikumsinteresse entscheidenden Figur des Lustigmachers, evtl. umrahmt von einer ebenfalls anökonomischen Bekräftigung der ständischen Hierarchie (wie im Juden von Venetien).3 Geldaffin ist die Komödie demnach im Motivischen, Thematischen 1764 u. 1765, dort mit ausdrücklichem Bezug auf die Vorstellungen einer französischen Truppe am kurfürstlichen Hof; vgl. Meyer: ebd., S. 285 u. Abt. 1, Bd. 3, S. 1200). Aufgenommen wurde der Turcaret also in höfischem Rahmen; einer bürgerlichen Rezeption dürfte seine scharfe Satire auf alle Geschäfte entgegengestanden haben. 3 Als weiteres Beispiel vgl. das in Kap. 3.7.1 analysierte ‚Zauberlustspiel‘ Mägera, die förchterliche Hexe von Philipp Hafner.
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oder Dramaturgischen, nicht jedoch im (explizit) Normativen bzw. allenfalls in der Variante, daß die Normen der Geldsphäre als allgemeintauglich und dem Gemeinwohl nützliche Handlungsmaximen ausgegeben werden. Diese letzte Variante ist das Kennzeichen vieler Komödien besonders der deutschen Aufklärung, die sich, im internationalen Vergleich, auch in diesem Punkt als besonders optimistisch und harmonistisch erweist.4 Wie wir sahen, tat man sich mit Kaufleuten als positiven Protagonisten, die erkennbar kaufmännisch agieren, schwer. Die im folgenden analysierte Komödie, Der Kaufmann oder Die vergoltene Wohlthat von Gottlieb Konrad Pfeffel, sollte dem abhelfen, tat das bezeichnenderweise aber als Übersetzung aus dem Französischen. Immerhin bringt sie gleich zwei geschäftlich aktive Kaufleute auf die Bühne. Das wiederum gibt ihr die Möglichkeit, verschiedene – und verschieden gewertete – Handels- und Handlungsweisen vorzuführen und damit die ambivalente Haltung der Gattung zu bewahren. Als nachahmenswert wird, wie schon im Merchant of Venice, das Handlungsprinzip der Gabe ausgewiesen (2.8.1). Geschlossen ist damit nicht nur ein konzeptioneller Bogen um die vorstehenden Kapitel; vielmehr zeichnet sich in Pfeffels Übersetzung der Abschluß einer komödiengeschichtlichen Epoche ab, reagieren die von ihm vorgenommenen Änderungen doch auf die dramaturgischen und gattungssystematischen Verschiebungen, welche die Komödie wenig später hinter einen anderen Dramentyp, das ‚Schauspiel‘, zurücktreten ließen. Unserer Untersuchung wiederum ist mit dieser generischen Verschiebung eine sinnvolle historische Grenze gezogen, zumal sich im Schauspiel auch der Bezug aufs Geld signifikant wandelt, indem sich die Strukturhomologie von Dramenhandlung und Geldbewegung auflöst (2.8.2).
2.8.1 Pfeffels Kaufmann oder Die vergoltene Wohlthat als Retablierung der Gabe „Der Verfasser war der erste in seinem Vaterland, der es wagte, das Lob der Handlung zum Hauptinhalt eines Lustspiels zu machen“, annonciert Pfeffel seine Prosa-Übersetzung der französischen Verskomödie Le Bienfait rendu ou Le Négociant, die 1770 im dritten Band seiner Theatralischen Belustigungen (5 Bde. 1765–74) erschien, einer der für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts typischen Dramensammlungen.5 Daß es, wie Michel Grimberg 4 Allgemein dazu Kondylis: Die Aufklärung, S. 537–649. 5 Pfeffel: Vorrede zu Der Kaufmann oder Die vergoltene Wohlthat. – In: Theatralische
Belustigungen Bd. 4, zit. nach Grimberg: Die Rezeption der französischen Komödie, S. 198–202, hier S. 199. Den Verfasser des Originals (1763), Picot Dampierre de La Salle, kennt Pfeffel nicht; er vermutet, nicht zuletzt wegen des Bühnenerfolges in
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anmerkt, positive Kaufmannsfiguren auch schon bei Goldoni (I Mercatanti 1753) und Voltaire (Le Café ou L’Ecossaise 1760) gegeben hat,6 spricht letztlich nicht gegen die Sonderstellung, die Pfeffel dem von ihm übersetzten Stück zumißt, denn die Kombination von ausdrücklichem Lob des Kaufmannsberufs mit einer Kaufmannsfigur, die sich durch geschäftliche Dynamik, Vorteilsstreben und Durchsetzungswillen auszeichnet – also nicht in erster Linie durch konsensfähige Tugenden wie Güte, Ehrlichkeit und Großzügigkeit glänzt –, ist in der Tat außergewöhnlich und neu. „Wenn Sie zu Hamburg wären“, hält dieser Kaufmann seinem Gegenspieler entgegen, einem Baron, der bei ihm in Schulden steht, trotzdem aber nicht von seinem Bewußtsein adliger Überlegenheit lassen will, so würden Sie tausend emsige Familien sehen, die aus meiner Hand ihr Brod empfangen; sie würden mehr als ein Schiff erblicken, dessen Hauptleute und Matrosen mich für ihren Herrn erkennen. Kurz, wenn der Himmel unsre Bemühung gesegnet, und mehr Güter gegeben hat, als wir brauchen, so sind sie doch weder aus dem Geitze noch aus dem Wucher hergeflossen. Die Kunst, das Volk auszusaugen, und den Staat zu betrügen; diese schändliche Kunst ist mir fremde. Ich habe mitten unter den Gefahren ein Vermögen erworben, welches meine Mitbürger mit mir gemein haben; dieses ist meines Erachtens eben so viel werth, als der edle Müssiggang eines turniermässigen Prahlers, der sich einbildet, daß die ganze Welt ihm darum huldigen soll, weil er die sehr zweifelhafte Ehre hat der Sohn seines Vaters zu seyn. (IV,3, 335f.)
Für Pfeffel steht außer Frage, daß hier die positive Identifikationsfigur des Stücks spricht: „Selbst die kleine Ruhmredigkeit, womit dieser Capitalist seines Reichthums erwähnet, ist der Denkungsart eines Freepor[t – des ehrlichen, gütigen Kaufmanns in Voltaires obengenanntem Stück; D. F.] gemäß, der von keiner Verstellung weiß [...]. Bey dem Gefühl der Macht, welche das Frankreich, daß es von Voltaire stammen könne. Zu Pfeffel und seinen Theatralischen Belustigungen vgl. den Kommentar von Grimberg: ebd., S. 121. Insgesamt 17 Komödien hat Pfeffel aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt (und leicht bearbeitet) (vgl. Grimberg: La Réception de la comédie française, S. 83); in der mittleren Aufklärung ist er damit – neben dem poetologisch engagierteren Lessing – der wichtigste Vermittler der französischen Komödie nach Deutschland. Mit Pfeffels Theatralischen Belustigungen beginnt die Hausse der übersetzenden Rezeption französischer Komödien in Deutschland: In den 1770er Jahren zählt Grimberg fast doppelt so viele Übersetzungen (299) wie in den 1750er (157) und viermal so viele wie in 1740er Jahren (76); vgl. ebd., S. 34. 6 Außerdem verweist Grimberg auf George Lillos The London Merchant von 1731. Tatsächlich tritt hier zum ersten Mal ein vom Ethos seines Berufs und von sozialem Verantwortungsbewußtsein erfüllter Kaufmann in den Vordergrund. Allerdings handelt es sich um ein Bürgerliches Trauerspiel, genauer: das Muster dieser Gattung, so daß seine Kaufmannsfigur nicht unmittelbar als Maßstab komödischer Gestaltungen der Geschäftssphäre genommen werden darf. Inwiefern das Bürgerliche Trauerspiel nicht nur hinsichtlich seiner Propagierung kaufmännischer Normen, sondern auch dramenästhetisch als Orientierungspunkt der Komödie diente, erörtert das Unterkapitel 2.8.2.
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Geld ihm über seinen stolzen Schuldner einräumte, konnte er nicht anders reden“.7 Pfeffels Vorrede bezeugt unmißverständlich seine Entschlossenheit zur Aufwertung des Kaufmanns und des bürgerlichen Geschäfts. Von den moralischen Vorbehalten, die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts literarische wie lebensführungsdidaktische Texte prägten, hat sich dieser wichtige Publizist der mittleren und späten Aufklärung abgekehrt. Das erübrigt jedoch nicht zu prüfen, wie weit seine8 Komödie die zitierte Bewertung tatsächlich trägt. Wie schon in der Ungleichen Heirath der Gottschedin – auf die sich Pfeffels Vorrede ausdrücklich bezieht – werden die Tugenden des (bürgerlichen) Geschäftsmannes gegen einen Adel profiliert, der auf seinen ständischen Vorrang übermäßig stolz ist, mit dem ebendeshalb aber nicht gut handeln ist (vgl. I,1, 262).9 Dieser Stolz macht es der jungen Amalia und ihren Eltern nahezu unmöglich, sich auf die Heirat einzulassen, die Freymund als Geschäftsfreund des Barons vorgeschlagen hat und die für sie ein überaus guter „Handel“ wäre (so der Kaufmann wörtlich; III,4, 311), weil sie auf einen Schlag von „mehr als hundert tausend Thalern“ (II,7, 294) Schulden bei Freymund befreit wären. Die Familie von Altenburg sucht die Heirat zunächst dadurch abzuwenden, daß sie Carlson, den Neffen Freymunds und prospektiven Bräutigam, ihre ganze Verachtung spüren läßt. Damit beginnt die Handlung. Carlson sieht sogleich ein, daß es töricht wäre, die vorgesehene Heirat gegen den Willen der Braut und ihrer Familie durchsetzen zu wollen, zumal mit Juliette, der bescheidenen Tochter eines ebenfalls adeligen, aber vorbildlich tugendhaften Hauptmanns, schon eine andere seine Neigung erregt hat (vgl. I,4, 268; I,1, 263). Das Schicksal eines Wilibald oder gar eines George Dandin droht diesem umsichtigen Bürger nicht mehr. Der hinzukommende Freymund jedoch ist entschlossen, seinen Plan durchzuziehen, und zwingt den Baron, seine finanzielle Abhängigkeit vor Frau und Tochter einzugestehen und von Amalia das Opfer einer ungeliebten Heirat zu verlangen.10 Es fällt nicht schwer, in allem, was Freymund tut, typischerweise dem Kaufmann zugeschriebene Eigenschaften zu erkennen. Seinen bzw. seines 7 Pfeffel: Vorrede [...]; zit. nach Grimberg: Die Rezeption der französischen Komödie,
S. 201. 8 Den Kaufmann oder Die vergoltene Wohlthat hier als Pfeffels Stück zu führen recht-
fertigt sich aus dessen quantitativ zwar geringfügiger, aber planvoll verändernder Bearbeitung – weiteres dazu unten – sowie aus der programmatischen Aneignung des aus dem französischen Original übernommenen Kaufmannslobs durch den Übersetzer. 9 Zitiert wird das Stück nach der Originalausgabe: Der Kaufmann oder Die vergoltene Wohlthat. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Aus dem Französischen übersetzt. – In: [Gottlieb Konrad Pfeffel (Hrsg.):] Theatralische Belustigungen. Vierte Sammlung, S. 257–356. 10 Vgl. III,4/5; von Amalia als einem „Schlachtopfer“ spricht Carlson (III,3, 307).
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Neffen Nutzen immer vor Augen, hat er die Chance zu einem gewinnbringenden Handel – eine adlige Heirat als Ablösung ohnehin nicht mehr einzutreibender Schulden – sicher erkannt und nimmt sie nun energisch wahr, bereit zum Einsatz aller Mittel. In Freymund tritt die Dynamik der Geldwirtschaft wie nirgends sonst in unserem Komödienkorpus hervor. Unverkennbar sind aber auch die Schattenseiten dieser Dynamik: zum einen daß sie andere Menschen durchgängig instrumentalisiert, zum anderen daß sie ihrem Agenten jedes Sensorium für die Persönlichkeit und Lage anderer raubt, so daß Freymund fast ähnlich wahrnehmungsgestört dasteht wie die Ahnenstolze der Gottschedin.11 Selbst sein Neffe, dem die geplante Heirat doch zugute kommen soll, ist nur eine Spielmarke in seinem Gewinnspiel, deren eigene Interessen nicht zählen.12 Von dem im Witzling aufgegriffenen Klischee, daß der Kaufmann Geld, Gut und Geschäft verabsolutiere, ist die Figur also keineswegs befreit. Daß Freymund durch und durch Geschäftsmann ist, macht ihn vielmehr, zumindest szenenweise, zur komischen Figur. Als Vorredner hat Pfeffel diesen Eindruck abzuschwächen versucht, indem er Freymunds Grobschlächtigkeit als Offenherzigkeit ausgibt13 (daher der Name; im Französischen hieß der Onkel Orgon und war schon dadurch als eher negative Figur gekennzeichnet). In seiner Übersetzung wird indessen nicht nur der Wille zur Aufwertung des Kaufmanns deutlich, sondern auch was dem entgegenstand: zum einen der fortgeltende ethische Vorbehalt gegen ungehemmtes Gewinnstreben, zum anderen das Bedürfnis der Gattung nach komischen Figuren. (Wohlgemerkt ist dieser ‚Widerstand‘ nicht als Geldferne der Komödie zu werten. Mit ihrem Gattungsinteresse Komisierung gibt die Komödie vielmehr der herrschenden Geldethik Raum, so daß sie auch dort als typische Gattung der Geldsphäre gelten kann, wo sie sich kritisch auf deren Praktiken bezieht.) Durch eine Gegenüberstellung von Freymund und Carlson als positiven, bürgerlich-tätigen Figuren sowie derer von Altenburg als ebenso abgewirtschafteten wie hochmütigen Adligen, wie Pfeffels Vorrede sie nahelegt, wäre die Figurenkonstellation der Komödie demnach nicht zutreffend gekennzeichnet. Vielmehr hat sich der junge Carlson sowohl des stolzen Adligen als auch des übergeschäftigen Kaufmanns zu erwehren. Vollends der Ausgang der 11 Amalia glaubt er mit einem Schmuckgeschenk für sich und Carlson einnehmen – man
könnte auch sagen: kaufen – zu können, doch verrät er durch plumpe Begleitworte vor allem seine Unfähigkeit, sich auf sie einzustellen (vgl. IV,7, 327). 12 Vgl. wie Freymund über Carlsons Widerwillen hinweggeht: maßgeblich ist für ihn allein sein Geschäftsplan (II,7). Vom geschäftlichen Hintergrund der angeblich verabredeten Heirat weiß Carlson nichts, als er in das Haus von Altenburg kommt; wie der Zuschauer erfährt er davon erst am Ende des zweiten Aktes. 13 Pfeffels Vorrede schreibt Freymund neben „strenger Rechtschaffenheit“ einen „offenherzigen Ton“ und „edlen Trotz“ zu (zit. nach Grimberg: Die Rezeption der französischen Komödie, S. 200).
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Komödie spricht nicht Freymund, sondern dessen Neffen den (gattungstypisch wohlverdienten) Sieg zu, denn nicht die vom Onkel betriebene Heirat kommt zustande, sondern Juliette und Carlson verbinden sich. Auch den entscheidenden Schritt dahin tut der Neffe, denn von ihm stammt das Geld, das der Baron sich vermeintlich bei einem Juden leiht, um sich aus der finanziellen Abhängigkeit von Freymund zu befreien (vgl. V,7–8). Indem er dem Baron gibt (mit unsicheren Aussichten auf Rückgabe), gewinnt aber auch Carlson, und zwar was er am meisten benötigt: seine Unabhängigkeit von seinem alles zum Geschäft machenden Onkel. Jetzt kann er „nach eigenem Willen“ und eigener Weise handeln, nämlich „seine Hand [...] verschenken“ sowie, im Gegenzug, den Hauptmann bitten: „Gewähren Sie mir Julietten“ (V,4, 342). Freymunds ungeduldige Geschäftigkeit hingegen ist, unter Produktion vieler Unruhe, leergelaufen. Carlsons Verhaltensmaxime, zu geben und zu bitten statt zu fordern, eignen sich in den Schlußszenen auch die beiden Streithähne der Vatergeneration an. Von Juliette darum gebeten, willigt Freymund ein, daß seine Forderungen an den Baron auf Carlson übergehen, der wiederum für die Rückzahlung jede beliebige Frist einräumt. Bei soviel Großzügigkeit möchte nun auch der Baron nicht zurückstehen; er kündigt an, alle seine Güter verkaufen zu wollen, um die Schuld zu begleichen (vgl. V,7, 354). Und nicht nur im Materiellen wetteifern die Figuren mit dem Schenken; noch wichtiger ist ihnen jetzt die Freundschaft, die sie anderen bieten und von ihnen erhalten. Der Baron zu Carlson: Ich will Ihren Onkel bezahlen, nicht darum, als ob das Andenken seiner Wohlthaten mir überlästig wäre; nein, ich schwöre Ihnen allen beyden die zärtlichste Freundschaft zu. Juliette [die im Hause Altenburg erzogen wurde; D. F.] ist unser Kind, und Sie, Carlson, werden mein Schwiegersohn seyn. Umarmen Sie mich, Freymund, schenken Sie mir Ihre Freundschaft wieder; die meinige wird von nun an weit reiner, weit fester seyn; das siegreiche Beyspiel Ihrer Tugend.... (V,7, 355)
Die Geselligkeit, deren Herstellung die mittlere Aufklärung dem kaufmännischen Handel zuschreibt (vgl. oben S. 167), ist hier nicht nur erreicht, sondern übertroffen, nämlich zur (quasi)familiären Bindung verdichtet. (Die Schlußkonstellation des Nathan wird dieses Motiv dann in vollgültigen Verwandtschaften realisieren, und zwar nachdem auch hier eine Gabe auf die andere folgte; vgl. oben S. 11.) Zum glücklichen Ende ist Carlson also doch noch ‚Schwiegersohn‘ des Barons geworden, nicht jedoch aufgrund finanzieller Macht, sondern durch den schenkenden Verzicht auf sie. Deutlicher noch als im Merchant of Venice ist es demnach das Gabeprinzip, das Pfeffels ‚Kaufmann aus Hamburg‘14 als Verhaltensmaxime propagiert. 14 Zu Pfeffels Übersetzungsprinzipien gehört zuvörderst, daß er die Vorlagen den
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Und nach wie vor wird dem Gabeprinzip Geltung sowohl für persönliche als auch für geschäftliche Beziehungen zugemessen. Die Gaben des letzten Aktes konstituieren freundschaftliche Verhältnisse, die sich – wie schon Aristoteles die ideale Freundschaft bestimmt – einer spontanen Zuneigung verdanken, die keinen eigenen Vorteil erwartet oder gar berechnet.15 Zugleich tragen sie, wie der Untertitel Die vergoltene Wohlthat hervorhebt, dem Gebenden durchaus Vorteile ein. Im Modus der Gabe ereignet sich mithin eine normative coincidentia oppositorum, kommt also das zustande, was bereits die frühe Aufklärung mit ihrer Forderung nach einer „vortheilhafften“, aber nicht „gewinnsüchtigen oder eigennützigen“ Freundschaft projektierte.16 Dem Zweck, das Auseinanderstrebende zusammenzubinden, ist die Aktualisierung des Gabeprinzips ebenso mit dessen Anwendung sowohl im privat-familiären als auch im geschäftlichen Bereich verpflichtet: Auch in seiner Geschäftstätigkeit beschreibt sich Freymund als Gebenden, nämlich – wie zitiert – als Arbeitgeber, der Tausende in Lohn und Brot setzt.17 Von daher ist die Familiarität, in die das Komödienfinale führt, nicht als Beschränkung aufs Private zu verstehen. Zumindest der Anspruch auf öffentliche Resonanzen der im kleinen Kreis erreichten Freundschaftlichkeit18 bleibt vielmehr gewahrt. Dem eigenen Anspruch nach modelliert die Komödie – diese und allgemein – nicht bloß eine Ethik für Kaufleute, sondern eine Kaufmannsethik für alle. Auf mikro- wie auf makrosozialer Ebene führt Der Kaufmann die Gabe als probates Mittel vor, einer als Verdinglichung wahrgenommenen gesellschaftlichen Entwicklung durch persönliche Zuwendung gegenzusteuern. Das meint zum einen, soziale Beziehungen enger zu knüpfen und ‚Kreise‘ zu bilden, wie Carlsons Bancozettel sie im Dramenverlauf mehrfach beschreiben,19
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deutschen Bedingungen und Sitten ‚anpaßt‘. Im Original stammen die bürgerlichen Kaufleute aus Bordeaux, was ein kulturelles Gefälle zwischen Hauptstadt und Provinz impliziert, das in der Übersetzung keine Rolle spielt. Indem er seine Kaufleute aus Hamburg, der bedeutendsten und selbstbewußtesten deutschen Handelsstadt kommen läßt, hat Pfeffel dagegen die bürgerlich-merkantile Seite gestärkt. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 205 (1167b). Vgl. [Gottsched:] Der Biedermann Bd. 1, S. 5 (2. St. vom 8. 5. 1727). Daß Freymund an dieser Stelle des Dramas noch keineswegs als Gabebereiter handelt, fällt nicht ins Gewicht, denn die Poetik von Pfeffels Komödie ist, wie gattungsüblich, weniger auf Verlaufslogik als auf das schlußendlich erreichte normative Ergebnis ausgerichtet. Zu diesem Ideal der mittleren Aufklärung vgl. Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 42. Die Bancozettel mit „seinem ganzen Vermögen“, die Carlson auf der Reise von Hamburg verloren hatte (I,1, 259f.), erhält dieser von Juliettes Vater, der sie gefunden hat, zurück (IV,3, 318), um sie, über einen Mittelsmann, kreditweise an den Baron weiterzugeben (V,7, 348–351), der damit seine Schulden bei Freymund begleichen möchte, der wiederum die Bancozettel an Carlson weitergibt (354). An sich ohne die Symbolqualität von Portias Ring – dafür aber auf der kredittechnischen Höhe der Zeit –,
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ist ebenso aber – eine dritte Ambivalenz – als Befreiung aus Machtverhältnissen gedacht, in denen Individuen als bloße Objekte erschienen wie Amalia im hochzeitsgeschäftlichen Kalkül Freymunds (vgl. III,4, 310): Als Gabe darf man verstehn, daß Carlson empfiehlt, Amalia über die Heirat entscheiden zu lassen (vgl. III,3, 307), denn als Entscheidungsträgerin wäre sie vom Objekt eines väterlichen Handels zum Subjekt erhoben. (Erinnert sei an die Szene des Merchant of Venice, in der sich Portia dadurch aus der väterlichen Testamentsgewalt befreit, daß sie sich Bassanio schenkt; vgl. oben S. 92.) Wie bei Shakespeare fordert das Gabemodell des Kaufmanns nicht Opfer (gar des eigenen Glücks),20 sondern soll vermeiden, daß jemand zum Opfer wird. Der konzeptionelle Bogen, den das Gabemodell zwischen den beiden Komödien schlägt, überbrückt die dazwischenliegenden Jahrhunderte freilich nicht ohne historisch signifikante Veränderungen an diesem Modell. Einen Versuch, den Übergang von primär durch Geschenk- oder Gabeakte organisierten Gesellschaften zu solchen, deren Tauschbeziehungen kommerziell und vertraglich formalisiert sind, für Westeuropa zeitlich zu bestimmen, hat Natalie Zemon Davis unternommen. Davis zufolge wurden Familien- wie gesellschaftliche Beziehungen im 16. Jahrhundert noch wesentlich durch Gaben hergestellt und gepflegt, während die Interaktionsform Kauf und überhaupt Geschäftsbeziehungen aber schon auf dem Vormarsch waren.21 Zur Zeit des Merchant of Venice ist demnach noch mit einer lebendigen Norm gebenden Verhaltens zu rechnen, trotz ihrer im Drama offensichtlichen Bedrohung durch die Geldwirtschaft (auch in England – Davis untersucht die französische Renaissance). Zu einer solchen Gültigkeit paßte jedenfalls, daß die Gabenorm in Shakespeares Drama weitgehend implizit bleibt. Sie gilt für ‚alle‘ Lebensbereiche (Geschäft, Liebe, Erkenntnis, Recht), wird aber kaum ausdrücklich beschworen. Eine wiederholte Aussprache der Norm, wie der letzte Akt der späteren Kaufmannskomödie sie nicht zuletzt an das Publikum adressiert, ist unter diesen Umständen nicht nötig, da die Gabenorm noch zum Habitus gehört.22 Pfeffels Kaufmann führt dagegen vor, wie die Gabenorm gegen die herrschenden Verhaltensmuster von Adelsstolz und geschäftlicher Rücksichtslosigkeit erst individuell erfaßt werden muß. Hier soll eine Norm beschreiben Carlsons Bancozettel einen erheblich weiteren Kreis als Shakespeares Gabe-Symbol. 20 Außer in bezug auf Amalia ist auch hinsichtlich Carlsons die Rede von „aufopfern“ (II,7, 293). Beide wären Opfer von Freymunds Heiratsgeschäftsplan. 21 Vgl. Davis: Die schenkende Gesellschaft, S. 80–98. 22 Zur Habitus-Qualität gabeförmigen Verhaltens vgl. Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 167f. Der Begriff des Habitus bezeichnet die „erworbenen Dispositionen“, die das Verhalten steuern. Dazu gehört im Fall der Gabenorm, daß der Erwartung einer Gegengabe kein Ausdruck gegeben werden darf, nicht aber, daß es objektiv keine Gewinninteressen und kein entsprechendes strategisches Verhalten geben könne.
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wieder geltend gemacht werden, die nun aber nur als kontrafaktisches moralisches Gebot etabliert werden kann. Dementsprechend tritt die jüngere Komödie offen erzieherisch auf. Trotzdem übernimmt Pfeffel nicht die präzeptorale Rolle, in der Gottsched seine Theaterreform betrieb. Mit seinen Übersetzungen französischer Stücke tritt er vielmehr als Anbieter auf; seine Theatralischen Belustigungen stellen keine Regeln auf, sondern sind ebenfalls als Gabe konzipiert, nach Pfeffels Vorrede zum ersten Band als „Geschenke“ an die „Muse des deutschen Theaters“.23 Als Gegengabe denkt er an Stücke, die die deutsche Muse künftig selbst hervorbringen möge und die dann, so hofft die Vorrede zum zweiten Band, ins Französische übersetzt werden.24 Mit Blick auf den Kaufmann kann man daher nicht nur von einer Ethik, sondern darüber hinaus von einer ‚Poetik der Gabe‘ sprechen. Auf den ersten Blick scheint damit das alteuropäische Modell der Gelehrtenkommunikation wiederaufgenommen, die sich als gabeförmiger Austausch von Geistesfrüchten vollzog. Allerdings haben sich – wie für die dramatisch dargestellten Gabe-Handlungsmuster – auch für die literarische Kommunikation die historischen Voraussetzungen geändert: Pfeffel schaltet sich, und zwar ohne jeden Vorbehalt, über den Buchmarkt in die Debatte um das deutsche Drama ein. Auf der Geschehensebene des Kaufmanns ebenso wie theaterpolitisch bildet die generelle Akzeptanz des Marktes die Voraussetzung dafür, daß gabeförmige Handlungsmuster restituiert werden können. Wieder geltend gemacht, d. h. nach Geltungsverlust retabliert werden soll die Gabenorm auch insofern, als die frühe und mittlere Aufklärung andere Interaktionsnormen favorisiert hatte (vgl. oben S. 203f. zum Nutzenprinzip und Kalkulationsimperativ in der Ungleichen Heirath). Eine neuartige Anerkennung des Eigeninteresses, das zudem mit strategischer Berechnung verfolgt werden durfte, war – getragen von der Rezeption des Politicus-Ideals – für die Frühaufklärung kennzeichnend.25 Daß man „in Geschencken auf seinen vernünfftigen Nutzen bedacht ist“, galt nun ausdrücklich als legitim26 – womit das dem Gabeprinzip eigentümliche „Tabu der expliziten Formulierung“27 gebrochen war. In Handelsgeschäften sah Der Patriot selbst das berechnende Geschenk als „Umweg“ an; „mit der Wurst nach dem Schincken zu werffen“ bringe beiden Seiten Nachteile, da es den Schenkenden mit 23 24 25 26
Zit. nach Grimberg: Die Rezeption der französischen Komödie, S. 121. Vgl. ebd., S. 122 u. 146. Mehr dazu in Kap. 4.3.2. Vgl. Zedler: Universal-Lexikon Bd. 10 (1735), Sp. 1218, s. v. Geschencke. Als strategische Instrumentalisierung der Gabe, die ihren Gabencharakter aufhebt, vgl. auch die unten S. 334, Anm. 21 zitierte Handlungsmaxime Graciáns. 27 Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 165 (im Original hervorgehoben).
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zusätzlichen Kosten belaste und den Beschenkten unziemlich nötige.28 Die neue Norm des berechenbaren Nutzens brachte gegen Mitte des 18. Jahrhunderts allerdings eine moralistische Reaktion auf den Plan: Die empfindsame Moral forderte eine Wohltätigkeit, die ohne Eigennutzüberlegungen zu geben bereit ist.29 Das Gabemodell, das Der Kaufmann propagiert, vermittelt zwischen diesen beiden Verhaltensnormen (geschlechterrollengerecht ist Juliette die etwas altruistischere, Carlson die etwas berechnendere Figur). Überhaupt scheint das Gabemodell nun der Vermittlung gleichermaßen berechtigter bzw. gültiger, aber widerstreitender Sphären und Normen zu dienen: Neben dem Altruismus-Eigennutz-Problem haben wir das für die – gleichfalls epochenspezifischen – Spannungen zwischen öffentlicher und privater Sphäre sowie zwischen individueller Autonomie und gesellschaftlichem Zusammenhalt bereits verfolgt. Das Gabemodell, wie es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts retabliert wird, stellt demnach nicht die – unmögliche – Wiederholung vormoderner Handlungsmodi, sondern eine Reaktion auf die nach deren Verlust eingetretene Entwicklung dar. Was die historische Ausrichtung und Funktion des Gabeprinzips angeht, wäre es zu einfach, von einer „rückwärts gerichtet[en]“, „konservativen Haltung“ zu sprechen, wie Margrit Fiederer sie kürzlich einer anderen Dramengattung der Zeit, dem Bürgerlichen Trauerspiel, zuerkannt hat.30 Denn die Aktualisierung der Gabe als eines Handelns ohne Berechnung und Instrumentalisierungen wird dem ‚modernen‘ Nutzenkalkül nicht einfach entgegengesetzt, sondern soll es moderieren. Ökonomisch-mentale Modernisierung wird dadurch abgefedert, nicht verweigert. Indirekt erleichtert das Gabeprinzip sogar die Merkantilisierung des gesellschaftlichen Lebens, weil es die Homogenität der einerseits ökonomischen, andererseits sozialen und moralischen Normen behauptet. Dadurch wiederum können ökonomische Interessen verschleiert werden – Freymunds Kaufmannsapologie am Beispiel des eigenen Geschäfts gibt dafür ein Muster. Aber auch für sich genommen ist das Gabeprinzip kein „statisch verstandenes Tugend-Modell“, wie Jürgen Eder es im Trauerspiel des späteren 18. Jahrhunderts als Bollwerk gegen „die Dynamik der wirtschaftlichen und sozialen Kräfte“ ausgemacht hat.31 Gegen28 Der Patriot 1 (1724), S. 262f. (Nr. 31). 29 Vgl. Gellert: Moralische Vorlesungen (Nr. 2) – GS 6, S. 1–285, hier S. 26f. 30 Fiederer: Geld und Besitz, S. 339. Zu den geldideologischen und -dramaturgischen
Parallelen und Differenzen zwischen Komödie und Bürgerlichem Trauerspiel vgl. ebd., S. 194–197. 31 Eder: „Beati Possidentes“? Zur Rolle des „Geldes“ bei der Konstitution bürgerlicher Tugend. – In: Bürgerlichkeit im Umbruch, S. 1–51, hier S. 47. Die Befunde von Fiederer und Eder fallen nicht nur deshalb annähernd identisch aus, weil sich beider Textkorpora überschneiden, sondern weil Fiederer das Konzept ihrer Studie von Eder übernommen hat (vgl. Fiederer: Geld und Besitz, S. 22).
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gaben provozierend, stellt die Gabe vielmehr ein durchaus dynamisches Handlungsprinzip dar, das darauf angelegt ist, sich immer weiter fortzuzeugen. Im letzten Akt des Kaufmanns kommt es dabei sogar zu einer Situation, die als charakteristisch für die moderne Marktwirtschaft gilt: zu einer Konkurrenzsituation. Nur ist es eben Großzügigkeit, in der sich die Figuren zu überbieten trachten.32 Pfeffels Kaufmann führt seine Figuren dahin, daß sie die Lehre von Nathans Ringparabel quasi schon vorweg beherzigen.
2.8.2 Überlagerung der Komödie durch das Schauspiel Wie ist der Titel Der Kaufmann oder Die vergoltene Wohlthat also zu verstehen? Welcher Kaufmann ist gemeint: Freymund oder Carlson? Und was bezeichnet das ‚oder‘: eine Kopula, die einen der beiden als Wohltäter ausweist, oder eine Disjunktion, die dem Kaufmännischen die Wohltat gegenüberstellt? Eindeutig lassen sich diese Fragen kaum beantworten, denn während das Personenverzeichnis Carlson als den Kaufmann einführt, tritt sein Onkel weit entschiedener als solcher auf. Am Ende hingegen ist Freymund vielleicht noch großzügiger als sein Neffe (er verzichtet gänzlich auf die Rückzahlung der Altenburgischen Schulden, während Carlson ‚nur‘ den Zahlungstermin in das Belieben des Barons stellt). Wie der Titel auf das Stück zu beziehen ist, bleibt letztlich deshalb unklar, weil bereits die Handlungsführung einen Bruch aufweist (der zudem, wie anschließend zu erläutern ist, epochale Gattungssystemverschiebungen ankündigt). Die für die Komödie üblichen Verwicklungen, Wendungen, Entdeckungen und Neuordnungen der Figurenkonstellation füllen die Akte eins bis vier, ohne daß eine Lösung in Sicht käme.33 Im fünften Akt dagegen besinnen sich die Figuren, zunächst auf taugliche Tricks zur Lösung des Konflikts (Carlson ‚kauft‘ sich durch mittelbare Vergabe eines Kredits an den Baron aus der über ihn verhängten Heirat frei), sodann auf die rechten Werte, so daß binnen wenigen Minuten ein normgerechtes Schlußtableau zustande kommt. Nun ist eine solche dramaturgische Zweiteilung nicht untypisch für die Komödie; in der weniger moral- als spielbetonten Tradition der Commedia dell’arte fiel sie in der Regel sogar noch krasser aus, dominiert in dieser Gattungsausprägung doch ein Spiel mit Normverstößen, denen gegenüber die 32 Wie auf S. 213 referiert und zitiert. 33 Solch traditioneller Komödienmechanik folgt bespielsweise – zudem die dramaturgi-
sche Dynamik des Geldes bezeugend –, daß die Baronin von Altenburg ihren zuvor hartnäckig behaupteten Adelsstolz sofort zurückstellt, als sie von der finanziellen Zwangslage ihres Gatten erfährt (vgl. III,5, 313f.: „ich sterbe vor Ungedult eine so nützliche Verbindung je eher, je lieber geschlossen zu sehen“).
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schließlich hergestellte Ordnung bloß Fassadencharakter hat.34 Anstößig wird sie jedoch, sobald die moralische Absicht überwiegt und, damit einhergehend, eine konsequente Handlungsführung erstrebt wird. Sobald die Figuren als ‚moralische Charaktere‘ gesehen werden, können sie und ihre Verhaltensmaximen als inkonsistent erscheinen. Wo sie zugleich Bearbeitung ist, hat Pfeffels Übersetzung dieses komödienästhetische Grundproblem sogar noch verschärft, und zwar eben weil er es gesehen und abzumildern versucht hat. Weniger am Komödienspiel als solchem als an der sozioökonomischen und moralischen Botschaft des Stücks interessiert, nahm Pfeffel an der Inkonsequenz des originalen Neffen Anstoß: Verville neigt die längste Zeit des Bienfait rendu durchaus zu Angélique und wendet sich erst zu Julie, als er die Vornehmere nicht mehr erringen kann; damit aber fehle seinem „Karakter“ die „Stätigkeit“.35 Indem Pfeffel seinen Helden nur aus Gehorsam gegen den Onkel um Amalia werben, jedoch schon in der ersten Szene von Juliette schwärmen läßt (vgl. I,2, 263), hoffte er dagegen die „Wahrscheinlichkeit“ der im letzten Akt „zu schnelle“ geschlossenen Heirat zu steigern.36 Alles außer der Liebeshandlung – nicht zuletzt der abrupte Wandel des Onkels – blieb indessen der herkömmlichen Komödienmechanik verpflichtet, die nach psychologischer Stimmigkeit nicht viel fragt. So hat das übersetzte Drama zwei divergenten Handlungsgrammatiken zu folgen, mit der Folge, daß bereits der Titel unterschiedlich gedeutet werden kann. Pfeffels Änderungen an der Liebeshandlung des Bienfait rendu sind typisch für die Aneignung des romanischen Repertoires durch deutsche Bearbeiter in den 1770er Jahren. An Johann Christian Bocks Adaption von Goldonis Mercatanti hat Arnold E. Maurer dieselben Bearbeitungsprinzipien herausgearbeitet: Sentimentalisierung einerseits und Reduktion von Komik andererseits im Dienste psychologischer Vertiefung und dramaturgischer Stimmigkeit.37 Bei Bock ist damit auch eine Verkürzung des merkantilen Kolorits sowie der ökonomischen Motive verbunden, eine Tendenz, die uns 34 Vgl. Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 33. 35 Pfeffel: Vorrede [...]; zit. nach Grimberg: Die Rezeption der französischen Komödie,
S. 202. Das folgende Zitat ebd. 36 Textänderungen nahm er dafür nur wenige vor. Schon kleinere Einfügungen in Carl-
sons Text – Bekundungen der Sympathie für Juliette (vgl. dt. S. 263 mit frz. S. 6), der Abneigung gegen Amalia (vgl. dt. S. 284–286 mit frz. S. 23–25) – genügten zur Umzeichnung der Figur. 37 Vgl. Maurer: Goldoni, S. 172–188. Bock war unter Friedrich Ludwig Schröder Theaterdichter der Ackermannschen Truppe. Seine Mercatanti-Bearbeitung Die Holländer (gespielt auch unter dem Titel Handlung und Tausch) wurde zwischen 1778 und 1796 immerhin acht Mal gedruckt (ebd., S. 172f.). Goldonis Komödie erschien in erster Fassung 1755, weitere Fassungen 1753/54 [!] und 1766.
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noch beschäftigen wird. Hintergrund dieser wie der Pfeffelschen Änderungen ist ein Wandel der Komödienpoetik, der bereits Mitte des 18. Jahrhunderts eingesetzt hatte und das dramatische Gattungssystem folgenreich verschob. Die bislang grundlegende Antinomie von Komödie und Tragödie, von Komik und Pathos, von Verlachen und Anteilnahme, von ‚niederen‘ und ‚hohen‘ Figuren, von spielerisch aufhebbaren und unversöhnbaren Konflikten, von episodischer und tektonischer Handlungsstruktur wurde immer weniger beachtet, bis im letzten Jahrhundertviertel eine Mischgattung die Bühnen beherrschte, die eine ernste, im Familienrahmen spielende Handlung mit untragischem Ausgang der Rührung des Publikums darbot. Neutral ‚Schauspiel‘ oder Sitten- bzw. Familiengemälde genannt, führte der neue Dramentyp die wenig älteren Mischgattungen des ‚rührenden Lustspiels‘ sowie des Bürgerlichen Trauerspiels in eine weitere Synthese.38 Bereits das rührende Lustspiel hatte die Komik, die herkömmlich durch Lächerlichkeit entstehen sollte, und das Verlachen aus moralischer oder sonstiger Überlegenheit hinter die emotionale Anteilnahme gesetzt, welche die Tugend erwecke.39 Ganz in diesem Sinne begründet Pfeffel seine Änderungen mit dem „Interesse“ des Zuschauers an Carlson, das auf dessen Tugendhaftigkeit beruhe und nicht „erkältet“ werden dürfe.40 Die von der Komödie ausgelösten Affekte zu ‚heben‘ diente nicht zuletzt dazu, die den mittleren, häufig ‚bürgerlichen‘ Ständen entstammenden Figuren als würdiger darzustellen, als das in der Verlachkomödie möglich war.41 Gleichwohl kennt das deutschsprachige rührende Lustspiel noch keine positiven Kaufmannsfiguren; dafür orientieren sich die Stücke beispielsweise Gellerts noch zu sehr an den traditionellen Rollenschemata, die den Kaufmann lediglich in der Gestalt des geizigen, evtl. auch liebestollen Alten, des Pantalone, kennen (vgl. die Analyse von Gellerts Loos in der Lotterie in Kap. 4.3.5). Im ‚Schauspiel‘ des späteren 18. Jahrhunderts wurde die dramatische Nobilitierung durch Entkomisierung dagegen auch Kaufmannsfiguren zuteil. Das auch in Deutschland rasch bekanntgewordene Muster dafür bildete Michel-Jean Sedaines Le Philosophe sans le savoir von 1765, dessen vorbildlich pflichtbewußte Titelfigur eine Würde gewinnt, wie sie bisher nur den 38 Vgl. Krause: Das Trivialdrama der Goethezeit, S. 118–120. Systematisch zum Termi-
nus ‚Schauspiel‘ und zur Abgrenzung der Gattungen Mönch: Abschrecken oder Mitleiden, S. 288–294. 39 Vgl. Gellerts Leipziger Antrittsvorlesung Pro Comoedia Commovente von 1751 (GS 5, S. 146–173), die u. a. Lessing ins Deutsche übersetzte (Werke Bd. 4, S. 37–53). 40 Pfeffel: Vorrede [...]; zit. nach Grimberg: Die Rezeption der französischen Komödie, S. 202. Als Apologie des rührenden Lustspiels vgl. Pfeffels Vorrede zu seiner Übersetzung von Marins Julie ou Le Triomphe de l’amitié im dritten Band seiner Theatralischen Belustigungen von 1767 (zit. bei Grimberg: ebd., S. 166f.). 41 Vgl. Greiner: Die Komödie, S. 154.
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adligen Helden des ernsten Dramas zukam.42 Pfeffel übersetzte das Stück im dritten Band seiner Theatralischen Belustigungen.43 In seiner Vorrede zum Kaufmann verweist er ebenfalls auf Sedaine44 – und gab als bearbeitender Übersetzer den verschärften Anforderungen des neuen Dramentyps an die Stetigkeit von Charakteren und Handlung zumindest punktuell nach. Daß sich seine Bearbeitungsprinzipien auf der Grenze zwischen den Gattungen bewegten, dürfte Pfeffel bewußt gewesen sein: „Wäre dieses Stück in Deutschland geschrieben worden, so hätte man [...] die ganze Handlung eher ein bürgerliches Trauerspiel als eine Comödie genannt“, kategorisiert er durchaus treffend die Handlungsstruktur des Philosophe mit ihrer kontinuierlichen Verwicklung bis zur Katastrophe eines beinahe tödlichen Duells.45 Selbst der versöhnliche Schluß weist Sedaines „comédie“ nicht mehr eindeutig dem Lustspiel zu, konnten sich doch auch solche Stücke als Bürgerliche Trauerspiele bezeichnen, die ihren potentiell tragischen Konflikt ebenfalls ohne Katastrophe auflösten.46 Bedeutsam sind diese Bezeichnungsprobleme als Indizien der Auflösung des bisherigen Gattungssystems.47 Die Komödie, die Moral durch Komik zu vermitteln trachtete, wurde dabei aus ihrer führenden Stellung unter den dramatischen Gattungen verdrängt, die sie wenn nicht normativ, so doch literaturdidaktisch seit Gottsched gewonnen hatte48. Wenngleich ohne sie völlig zu ersetzen, trat das ‚Schauspiel‘ an ihre Stelle: um 1800 beherrschten Schröder, Iffland und Kotzebue den Spielplan.49
42 Folgerichtig entpuppt sich dieser Kaufmann als ins Geschäftsleben übergetretener
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Adliger. Zu Sedaines Le Philosophe sans le savoir vgl. Gerhardi: Geld und Gesellschaft, S. 304–328. Sedaines Stück wurde in Deutschland ebenso hoch eingeschätzt wie Diderots Le Père de famille (1758), das u. a. von Lessing übersetzte Musterstück eines als Fortsetzung des rührenden Lustspiels gesehenen genre sérieux (vgl. Grimberg: La Réception de la comédie française, S. 235). Vgl. die Vorrede bei Grimberg: Die Rezeption der französischen Komödie, S. 168–171. Eine weitere Übersetzung von Friedrich Wilhem Gotter (Das Duell, oder Der Weise in der That) folgte 1770 und wurde 1781 wiederaufgelegt (vgl. Grimberg: ebd., S. 189, 278). Vgl. Pfeffel: Vorrede [...]; zit. bei Grimberg: ebd., S. 199. Pfeffel: Vorrede zu Der Philosoph Ohne es zu wissen. – In: Theatralische Belustigungen Bd. 3, zit. nach Grimberg: ebd., S. 168–171, hier S. 169. Vgl. Alois Wierlacher: Das bürgerliche Drama. – In: Europäische Aufklärung, S. 137–160, hier S. 142. Die Komödie und Tragödie vermischende Tendenz zum ‚Schauspiel‘ geht Mitte des 18. Jahrhunderts zunächst von England und Frankreich aus, hat in der deutschen Literatur jedoch die tiefgreifendsten Folgen (vgl. ebd., S. 150). Meine Skizze des Gattungssystemwandels bezieht sich nur auf die hiesigen Verhältnisse. Vgl. Koopmann: Das Drama der Aufklärung, S. 100. Das gilt selbst für eine literarisch ambitionierte Bühne wie das Mannheimer Nationaltheater; vgl. Daniel: Hoftheater, S. 245.
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In der Tradition der (rührenden) Komödie stand das ‚Schauspiel‘ durch den ‚bürgerlichen‘ Sozialtyp seiner Figuren, den familiären Rahmen seiner Schauplätze und Plots sowie das typische Handlungsmotiv des Geldes. Deutlich unterscheidbar von der Komödie ist es hingegen durch seinen Verzicht auf Komik – derer sich das rührende Lustspiel durchaus noch bediente – sowie durch eine andere Konfliktstruktur: Um das volle Maß Rührung zu erreichen, kennt es nicht die komödientypische „Enthebbarkeit“, also die Folgenlosigkeit von moralisch anstößigen oder dramaturgisch irritierenden Handlungsbestandteilen.50 Was es damit aber verliert, ist eben die mechanische Dynamik und ‚herzlose‘ Indifferenz, welche die Komödienhandlung mit dem Geldwesen verknüpfen. Obwohl Geldmotive im ‚Schauspiel‘ des späten 18. Jahrhunderts vielleicht noch häufiger sind als in den vorangegangenen Komödien,51 setzt sich die strukturelle Bezogenheit der Komödie auf die Geldsphäre dort nicht fort. Der familiäre Rahmen, in den schon das rührende Lustspiel sich zurückzog, verengt sich im ‚Schauspiel‘ dadurch noch einmal, denn die vorgeführte Geselligkeit verliert nun ihre Modellhaftigkeit für das weitere gesellschaftliche Leben, wie etwa Der Kaufmann sie noch behauptet. Während die Komödie durch ihre strukturelle Bezogenheit auf das Geld und dessen makroökonomische Bewegungen stets eine allgemeingesellschaftliche Problemdimension mitführte, stellt das Schauspiel der ‚kalten‘, bloß funktionierenden Gesellschaft kontrastiv die ‚warme‘, da emotionsfundierte Gemeinschaft gegenüber.52 Dieselbe Tendenz kennzeichnet den Funktionswandel des Geldmotivs: Knüpften sich bisher Modelle gesellschaftlichen Handelns daran, so führt es nun vor allem Probesituationen individueller Tugendhaftigkeit herbei. Zum „weitaus häufigsten und bedeutsamsten Motiv im Bereich des Handels“ avanciert der Bankrott,53 denn der Bankrott galt als die schärfste Prüfung, die das Geschäftsleben einem Manne und dessen Familie bereiten konnte – ein bürgerliches Analogon zum Schicksal der Tragödie. Auf die Probe gestellt wird die sittliche Substanz des Bankrotteurs und seiner Familie – wie verhalten sie sich bei Wegfall ihrer finanziellen Sicherheiten? – bzw. der Freunde oder 50 Karlheinz Stierle: Komik der Sprachhandlung, Komik der Handlung, Komik der Ko-
mödie. – In: Das Komische, S. 237–268, hier S. 251. Zu den typischen Plots des ‚Schauspiels‘ vgl. Alois Wierlacher: Das bürgerliche Drama. – In: Europäische Aufklärung, S. 137–160, hier S. 156. 51 Die Arbeit von Richard Altenhein zu Geld und Geldeswert im deutschen Drama des 18. Jahrhunderts stützt sich gutenteils auf ‚Schauspiele‘ des letzten Jahrhundertdrittels. Die typischen Geldmotive des ‚Schauspiels‘ gliedert Fiederer auf: Geld und Besitz, S. 197–215. 52 Vgl. Eibl: Die Entstehung der Poesie, S. 66f.; Gerhardi: Geld und Gesellschaft, S. 272f. 53 Altenhein: Geld und Geldeswert, S. 42.
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Verwandten, die durch Hilfsangebote nun ihre Großzügigkeit beweisen können (auf diese Weise bewährt sich beispielsweise Der Vetter in Lissabon von Friedrich Ludwig Schröder).54 Aufs Gebenkönnen kommt es auch hier an, doch tritt das Moment der dynamischen Verflechtung von Gabe und Gegengabe hinter die außerordentliche Leistung des einen Wohltäters zurück.55 Ein komödiengeschichtlich bezeichnendes Beispiel für Bankrott und Wohltat gibt ein Stück ab, das quasi auf der Grenze zwischen beiden Gattungen steht: Karl Lessings Bankrot (1778/80)56 inszeniert die erläuterte Probesituation in beiden Hinsichten, obwohl es die Gattungsbezeichnung „Lustspiel“ führt. Lustspielhaft agiert nur eine Figur, die Kleinhändlerin Praatjen, und auch sie wird nicht verlacht, sondern gibt allenfalls Anlaß zum ‚Mitlachen‘. Der tugendhaft-ernste Kaufmann Torfall, dessen Geschäft Bankrott macht, seine Tochter Kunegunde, die ihren Vater retten will, indem sie sich auf den Rat eines falschen Freundes hin einem reichen Alten als Braut anbietet, sowie ein großzügiger Geschäftsfreund Torfalls, der die Finanzierung der eigentlich vorgesehenen (Liebes-)Heirat übernimmt, sind dagegen typische Figuren des rührenden Familienschauspiels. Auch die Konfliktursache – eine Intrige von ‚außen‘ statt eines Generationen- oder Partnerkonfliktes – sowie die potentiell tragische Bereitschaft, nicht nur zu geben, sondern sich zu opfern, weisen das Stück als ‚Schauspiel‘ aus.57 Aufschlußreich ist, daß K. Lessing seinen Bankrot offensichtlich aber nicht allein nach den Handlungsmustern dieser Gattung formen wollte. Was durch die Komödienfigur Praatjen hinzukommt, sind eben jene Dynamik und Beweglichkeit, die die Geldfunktion in der Komödie auszeichnen, während das ‚Schauspiel‘ sie hinter eher stoische Normen zurücktreten läßt. Der Bankrot illustriert mithin beides: die bisherige strukturelle Verbindung von Geldbewegung und Komödie ebenso wie jene Umstellung auf Rührung anläßlich der Überwindung von Geldunfällen, die das ‚Schauspiel‘ vornimmt.
54 Vgl. ebd., S. 44. Schröders „bürgerliches Familiengemälde“, so der Untertitel, erschien
1786. 55 Die ethische Norm der Wohltätigkeit in der deutschen Aufklärungsliteratur hat Regina
John motivanalytisch aufgearbeitet. Wohltaten, die alles zum Besten wenden, gehören gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum stereotypen Motivinventar des Familienschauspiels (John: Vernünftige Menschenliebe, S. 116). 56 Der erste, Wiener Druck von 1778 brachte eine von der Zensur beschnittene Fassung; 1780 erschien das Stück dann im zweiten Band von Karl Lessings Schauspielen (S. 1–152). 57 Vgl. Gerhardi: Geld und Gesellschaft, S. 308, über Sedaines Philosophe sans le savoir sowie Ingrid Ladendorf: Die Familie unter dem Patronat des Deus-ex-machina. Zum deutschen Familienschauspiel (1750–1800) zwischen Affirmation und Subversion bürgerlicher Werte. – In: Bürgerlichkeit im Umbruch, S. 93–127, hier S. 108f.
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Von der strukturellen Abkoppelung des ‚Schauspiels‘ vom Geld sollte man nicht auf eine sich verringernde gesellschaftliche Bedeutung des Geldwesens schließen. Näher liegt die Annahme, daß es zunehmend so ernst genommen wurde, daß das komische Drama nicht mehr als ihm adäquate Gattung galt. Denn die Komödie braucht Spielräume der Unverbindlich- oder Nicht-Verantwortlichkeit (als ethischer Entsprechung ihrer handlungstechnischen ‚Enthebbarkeit‘), sei es daß normenthobene oder -mißachtende Figuren (der Pickelhäring, die Diener, viele ‚Lasterhafte‘) diesen Spielraum ausnutzen, sei es daß die Komödie durch Ridikülisierung markiert, welche Figuren unverantwortlich handeln. Dagegen stellt das ‚Schauspiel‘ nicht Formen der Normverfehlung, sondern ‚verantwortungsvolle‘ Figuren in den Vordergrund, die zur Identifikation herausfordern. Im Fall von Kaufmannsfiguren ist der Normzwang sogar besonders hoch, denn geschäftliche und überhaupt finanzielle Bindungen gelten als hoch verpflichtend,58 wie der bankrotte, aber noch ehrenhafte Torfall gleich in der ersten Szene von Lessings Stück ausführt (I,1, 4f.). Werden Geschäfte aber so ernst genommen und wird der Geschäftssphäre gesellschaftlich immer mehr Bedeutung zugemessen, so verengt dies den Raum der Komödie im Gattungssytem (jedenfalls solange sie noch nicht als autonom ästhetisches Gegenmodell konzipiert ist, wie die Romantiker es tun werden). Daß die Komödie der Aufklärung den Kaufmann epochal aufgewertet und ihn gegen den zu Beginn dieses Kapitels skizzierten generischen Mechanismus zunehmend ins Zentrum ihres Spiels rückt, hätte ihr als Gattung am Ende also die Luft abgeschnürt, denn eine Vorbildfigur mit solchen Verbindlichkeitsansprüchen – moralisch wie finanziell – unterband alles Spielerische. Karl Lessings Bankrot markiert in diesem Sinne den Punkt, wo die Aufklärungskomödie durch Idealisierung des Handels ins ‚Schauspiel‘ übergeht. Komödisches bewahrt hier lediglich die Figur einer Trödlerin, die auch mal fünf gerade sein läßt, kleine Intrigen nicht scheut und sich dabei verrennt – eine Vertreterin also jenes lokalen Handels, von dessen Verachtetsein ‚der Kaufmann‘ mühsam hatte abgehoben werden müssen.59 Unsere Untersuchung in den 1770er Jahren abzubrechen ist gattungsgeschichtlich demnach in zwei Schritten begründbar: zunächst mit der damals stattfindenden Verdrängung der Komödie durch das ‚Schauspiel‘ – als musterhafte deutsche Stücke gelten Otto Heinrich von Gemmingens Der deutsche Hausvater sowie Gustav Friedrich Wilhelm Großmanns Nicht mehr als sechs Schüsseln, beide von 178060 –, sodann mit der Exklusivität der strukturellen 58 Vgl. Pape: Symbol des Sozialen, S. 67. 59 Vgl. Gerhardi: Geld und Gesellschaft, S. 258. 60 Vgl. Krause: Das Trivialdrama der Goethezeit, S. 127–130.
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Homologie von Geldwesen und Komödie, der das ‚Schauspiel‘ nichts Gleichwertiges an die Seite zu stellen hatte. Diese Exklusivität erweist sich ebenso im Vergleich mit einer anderen, nach dem Siebenjährigen Krieg sehr erfolgreichen Konkurrenzgattung der Komödie, dem Singspiel. Unter Rückgriff auf Komödienvorlagen entstanden, verschiebt das Singspiel die ästhetischen und dramaturgischen Gewichte in ähnlicher Weise wie das Schauspiel, denn es privilegiert, zumal in seinen Gesangseinlagen, die Darstellung von Empfindungen, die beim Zuschauer Rührung auslösen.61 Hier wird wieder, wie im Lustspiel der Stegreiftradition, wenngleich mit ganz anderer affektiver Wirkung, die paradigmatische Achse primär, während das in seiner Kohärenz deutlich gelockerte Handlungssyntagma vor allem der Herbeiführung solch stillgestellter Situationen dient.62 Über die damit einhergehende Auflösung der Strukturhomologie von Geldbewegung und dramatischer Handlung hinaus steht das Singspiel auch mit seiner „Familiarisierung der dargestellten Welt“63 in Parallele zum Schauspiel. Man könnte sogar sagen, daß es die beiden ‚Komödiennachfolgern‘ zu attestierende strukturelle Abwendung von der Geldsphäre und deren Problemen konsequent weiterführt. Ohne Geldmotive völlig auszusparen, zieht es sich nämlich auch stofflich „in die ländliche Idylle“64 zurück.
61 Zu dieser „Eigenart gegenüber der Komödientradition“ vgl. Krämer: Deutschsprachi-
ges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert, S. 140f.; zur Entstehung der Gattung ebd., S. 131–133. 62 Als „Ermöglichungsstruktur für die in sie eingelassenen komischen Paradigmen“ begreift vor allem Rainer Warnings an der Commedia dell’arte orientierte Komödientheorie die ‚syntagmatische‘ Handlung; vgl. Theorie der Komödie. Eine Skizze. – In: Theorie der Komödie, S. 31–46, hier 43. 63 Krämer: ebd., S. 168. 64 So Walter Pape: „Ein billetdoux an die ganze Menschheit“. Christian Felix Weiße und die Aufklärung. – In: Zentren der Aufklärung III: Leipzig, S. 267–295, hier S. 283 über die Singspiele Christian Felix Weißes, des hiesigen Begründers der Gattung.
3. Das Laster des Geldes: Geiz
3.1 Eingang: Komödie als Lasterkritik und Gesellschaftsordnung 3.1.1 Ein polyfunktionales Problem: religiös, moralisch, ökonomisch und ästhetisch Wichtigstes motivisches Verbindungsglied zwischen Komödie und Geld ist wohl der Geiz. Der Komödie auf der einen Seite bietet der Geiz eine Charaktereigenschaft, die sich hervorragend sowohl zur komischen Übersteigerung als auch zum moralisch verurteilenden Verlachen ihres Trägers eignet. Sie läßt sich überdies gut kombinieren mit dem typischen Komödienmotiv zweier junger Liebender, die nur gegen den Widerstand der Eltern zueinander finden; einen Widerstand, der dann in der Scheu vor den Kosten einer Heirat begründet ist. Auf der anderen Seite bildet der Geiz die unmittelbarste und zugleich problematischste Reaktion auf die Faszination des Geldes. Die unmittelbarste, weil er Geld bloß besitzen, nicht benutzen möchte. Er erhebt zum Zweck menschlichen Strebens, was lediglich Mittel zu sein pflegt und, theologisch und einer normativen Charakterologie zufolge, sein darf. Von der Sparsamkeit (als Tugend) unterscheidet Kant das Laster des Geizes dementsprechend durch den Prinzipienwechsel, „den Zweck der Haushaltung nicht im Genuß seines Vermögens, sondern, mit Entsagung auf denselben, bloß im Besitz desselben zu setzen“.1 Zur Bedeutung einer zur Verwechslung von Zweck und Mittel zugespitzten Sparsamkeit hat sich das Wort erst während der frühen Neuzeit verengt. Ursprünglich ist die Bedeutung ‚(sinnliche) Gier‘, die sich ebenso auf Speisen wie auf Ehre oder Liebe richten kann.2 ‚Geldgeiz‘ als lexikalisch eigens markierte Unterform meinte eine Habgier (avaritia), deren Kennzeichen ein 1 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, Einleitung zur Tugendlehre, XIII. (1797)
– Werke Bd. 4, S. 536 (Anm.). Ähnlich der Art. Geld-Kunst. – In: Walch: Philosophisches Lexikon (1726), Sp. 1139–1155, hier Sp. 1139, ebenso W. T. Krug: Allg. Handwb. philos. Wiss. (1827), zit. nach: H. Reiner: Geiz – HWPh 3, Sp. 217–219, hier Sp. 219: „Der Geiz verwechselt das Mittel mit dem Zweck; er strebt bloß nach dem Besitze von jenem und freut sich dieses Besitzes, versagt aber den Genuß davon nicht bloß andern, sondern auch sich selbst“. 2 Vgl. DWb 4,1,2, Sp. 2811–2816, s. v. Geiz.
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stetes Mehrhabenwollen, nicht aber der Verzicht auf den Genuß des gesammelten Besitzes ist.3 Für die Typologisierung von Lastern und Charakteren, welche die Komödie vornimmt, spielt diese Unterscheidung allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Den Zweck seines Lebens setzt auch der bloß sparsame Euclio in Plautus’ Aulularia in das von ihm gehortete Gold (vgl. IV,9), und jede Ausgabe zu vermeiden sucht auch die geschäftstüchtig habsüchtige Zentralfigur in Molières L’Avare. Krankhaft mißtrauisch gegen ihre Umgebung und in steter Sorge um ihren Besitz sind ebenfalls beide Haupttypen der europäischen Geizkomödie. Wer viel haben will, um viel ausgeben zu können, fällt dagegen unter den Typus des Verschwenders. In der Bibel als dem wichtigsten Regelwerk für den individuellen Umgang mit Geld und Besitz in der frühen Neuzeit spricht der Brief an Timotheus von philargyría als der Eigenschaft jener, „die da Reich werden wollen“ (1 Tim 6,9f.).4 Stein des moraltheologischen Anstoßes ist jedoch auch hier vor allem die Thesaurierung von Besitztümern, also die (im modernen Sinne) geizige Seite der Habsucht. Eine Differenzierung zwischen avaritia und übersteigerter parsimonia kann deshalb zwar im Einzelfall hilfreich sein, scheint vorgängig aber nicht erforderlich. Das problematischste Verhältnis des Menschen zum Geld stellt der Geiz in geradezu jeder Hinsicht dar: individualpsychologisch und -ethisch, ja theologisch, sozialethisch und letztlich sogar volkswirtschaftlich. Der Geizige kann seine Habsucht nie befriedigen; unablässig sorgt er sich um die Vergrößerung seines Besitzes und fürchtet er dessen Verlust.5 Diese Sorge aber ist unvereinbar mit dem Vertrauen auf Gott. Sie leugnet implizit die in der Bergpredigt versprochene Fürsorge Gottes für die Menschen (Mt 6,25–34; Lk 12,22–31). Wo Geld die Funktion einer Heilsversicherung zugemessen wird, gerät es zum direkten Konkurrenten des alleinigen Gottes. Geiz ist Abgötterei (Kol 3,5), der Geizige ein Götzendiener (Eph 5,5). Luther rückt diese Alternative geradezu ins Zentrum des Glaubens, wenn er die Auslegung des ersten Gebotes im Großen Katechismus von 1529 zum Ort bestimmt, das Vertrauen auf irdischen Besitz als Abgötterei zu brandmarken:
3 Vgl. Reiner: Geiz, Sp. 218. 4 Vgl. ebd. 5 Um die Präsenz dieser Gedanken zum Geld im Untersuchungszeitraum zu belegen,
sind im folgenden Bibelstellen angegeben; hier vgl. Koh 5,9.11. Im 18. Jahrhundert bildet die christliche Geizkritik zwar nicht mehr durchgängig die Norm, doch ist sie nach wie vor präsent, vgl. Gellerts Ode „Wider den Geiz“ (GS 2, S. 178f.), die gutenteils aus den einschlägigen Bibelstellen gefügt ist. Zur Fortsetzung der christlichen Geizkritik in den Sittenlehren des späten 18. Jahrhunderts vgl. Fiederer: Geld und Besitz, S. 319–323.
231 Es ist mancher der meinet, er habe Gott und alles genug, wenn er gelt und gut hat, verlest und brüstet sich drauff so steiff und sicher, das er auff niemand nichts gibt. Sihe dieser hat auch einen Gott, der heisset Mammon, das ist gelt und gut, darauff er alle sein hertz setzet, welchs auch der aller gemeynest Abgott ist auff erden. Wer gelt und gut hat, der weys sich sicher, ist frölich und unerschrocken, als sitze er mitten ym Paradies, Und widderumb wer keins hat, der zweyvelt und verzagt, als wisse er von keinem Got6.
Solche Zuspitzungen hat Jochen Hörisch unlängst mit funktionsanalytischer Begründung reformuliert: Geld und Gott seien ‚ontosemiologische‘ Konkurrenten. Zu Recht weist er auf eine gewichtige Parallele zwischen Hostie und Münze: beide Medien dienen der Vermittlung von Sein und Sinn, die Hostie mit dem Versprechen von substantieller Identität, das Geldstück, indem es sie funktional erweist.7 Sicherlich zutreffend ist auch Hörischs Eindruck, daß die westlichen Gesellschaften zunehmend von Glauben auf Geld als dominante Orientierung umstellen. Etwas schematisch scheint es indes, diesen Prozeß auf den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zu datieren. Bereits Hörischs Zusatz, daß die deutsche Literatur „sich bekanntlich besonders hartnäckig gegen diese Umstellung von Gott auf Geld“ gewehrt habe (der Horribilicribrifax gab hierfür ein Beispiel), impliziert, daß die Ausweitung der Geldwirtschaft in der Frühen Neuzeit religiöse Normen nicht ohne weiteres verdrängte.8 Die Flut von Klagen über unchristliche Praktiken in der kirchlichen oder moralistischen Geldkritik sollte das nicht überdecken. Zudem sind die zahlreichen – metaphorischen, strukturellen, normativen – Interferenzen zwischen religiöser und monetärer Orientierung kulturell nicht weniger bedeutsam als die langfristige, bis heute freilich keineswegs vollständige Verdrängung des Glaubens durch das Geld. Sie drohen durch Hörischs Zuspitzung aus dem Blick zu geraten, verdienen wegen ihrer formprägenden wie konzeptionellen Wirkung auf eine Literatur, die in der frühen Neuzeit noch „Kompaktkommunikation“ (Luhmann) mit „unmittelbarer religiöser, moralischer oder politischer Resonanz“ war,9 jedoch erhöhte Aufmerksamkeit. 6 WA 30/1, S. 133; zur systematischen Stellung des Geizes als Gegenprinzip zum Glau-
ben vgl. Rieth: „Habsucht“ bei Martin Luther, S. 153–158, 220. 7 Vgl. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 26–33. – Als weiteren systemtheoretisch angelegten
Versuch, die Parallelstellung von Geld und Gott zu begründen, vgl. Wagner: Geld oder Gott? 8 Hörisch: ebd., S. 32. Gerade auf systemtheoretischer Grundlage ist es prekär, eine strenge Alternativität von Glauben und Geld sowie den Ausschluß des ersteren durch das letztere seit der Zeit „um 1500“ anzunehmen (ebd.), wird der Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft doch erst für das 18. Jahrhundert angesetzt; zudem ist fraglich, ob Glaube sich funktionssystematisch eingrenzen läßt. Hörischs Datierung des von ihm angesetzten Wechsels variiert um etwa 150 Jahre; ebd. S. 236 heißt es „um 1600“, S. 238 „nach dem Zeitalter der konfessionellen Bürgerkriege“. 9 Stöckmann: Vor der Literatur, S. 2.
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Bereits aus theologischer Sicht ist der Umgang mit Geld, selbst Reichtum nicht an sich ein Abfall von Gott und seinen Geboten. In diesem Punkt setzte sich schon Augustinus von manichäischem Fundamentalismus und pelagianischen Forderungen nach generellem Besitzverzicht ab.10 Wie in der stoischen Philosophie hängt die christliche Beurteilung des Geldes vielmehr von dem Gebrauch ab, den der Mensch davon macht. Individual- wie sozialethisch verwerflich ist nur die Thesaurierung, die dem Geiz eigen ist. Denn Aufgabe des Besitzenden ist die mildtätige Anwendung seines Besitzes (1 Tim 6,18). Luther verschärft dieses Gebot, indem er den nicht zur Hilfe des Nächsten angewendeten Besitz als „gestolen vor got“ bezeichnet.11 Und es sind nicht allein theologische Prämissen, die den Geiz verurteilen ließen. Für die Staatsethik der frühen Neuzeit spielte auch die fürstliche Pflicht zur Freigebigkeit, die schon Aristoteles als eine aristokratische Tugend entwickelte,12 eine Rolle als positiver Gegenpol zum Geiz, in der jesuitischen Staatslehre eines Adam Contzen ebenso wie bei Veit Ludwig von Seckendorff, Geheimem Hof- und Kammerrat in Sachsen-Gotha und Verfasser eines Regierungs- und Verwaltungshandbuchs, das die Physiognomie der deutschen Territorien in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Ansicht der Forschung recht gut widergibt.13 Christliche, genauer: lutherisch-patriarchalische Maximen prägen allerdings auch Seckendorffs Staatsverständnis. Hinsichtlich der Anwendung fürstlicher Gelder empfiehlt er nach dem Hinweis auf die Ausgaben, die staatsnotwendig sind oder dem „respect und ehrenstande“ des Fürsten dienen, christliche Mildtätigkeit.14 Eine spezifisch ökonomische Geiz-Kritik gelangt erst in der Neuausgabe von 1720 in den Teutschen Fürsten-Staat. Hier erscheint Geiz als ein wirtschaftlich kontraproduktives Verhalten, denn so viel geld ein regent aus dem contribuirten vermögen seiner unterthanen sammlet, und in den Kasten verschliessen lasset, so viel geht dem lande ab, und wird gleichsam extra commercium gesetzet, da doch der flor und auffnahme eines landes in der menge des baaren geldes bestehet.15
10 Vgl. Martin Honecker: Geld – TRE 12, S. 276–298, hier S. 283. In Gellerts Ode „Wi-
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der den Geiz“ heißt es: „Wahr ist es, Gott verwehrt uns nicht, / Hier Güter zu besitzen. / Er gab sie uns, und auch die Pflicht, / Mit Weisheit sie zu nützen. / Sie dürfen unser Herz erfreun, / Und unsers Fleißes Antrieb seyn.“ (GS 2, S. 178f., Vv. 7–12) Sermon von dem unrechten Mammon (1522) – WA 10/3, S. 275, Hinweis bei Honekker: ebd., S. 286. Vgl. Alfons Auer: Freigebigkeit – LThK 4, Sp. 324f., hier Sp. 324. Vgl. Seils: Die Staatslehre des Jesuiten Adam Contzen, S. 109; Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat (EA 1656), S. 157. Zusammenfassend zur christlichen Rückbindung der ökonomischen Theorie in Deutschland in den ersten beiden Dritteln des 17. Jahrhunderts vgl. Stolleis: Pecunia nervus rerum, S. 95. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 158. Ebd., S. 159, vgl. S. 651f.
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Sobald das merkantilistische Theorem, daß jede Steigerung der Wirtschaftstätigkeit eine Vergrößerung der umlaufenden Geldmenge voraussetzt, ins Spiel kommt, ist Thesaurierung also auch eine volkswirtschaftliche Sünde (wie an Molières L’Avare zu erläutern sein wird).16 In der Verurteilung der Thesaurierung kommen theologische und (vorkapitalistische) ökonomische Geizkritik demnach selbst dann überein, wenn sie sich nicht überschneiden. In geistlicher Hinsicht wiegt Geld zu horten den Geizigen in falsche Sicherheit, weil irdisches Gut nie aus der wesenhaften Unbeständigkeit des Zeitlichen retten kann. Es lenkt vielmehr von Gott, der einzig wahren, weil ewigen Heilsversicherung ab. Ökonomisches Denken erklärt die Unbeständigkeit bzw. die Bewegung ebenfalls zunehmend zum Wesen des Geldes. Geld zu thesaurieren, also stillzustellen heißt deshalb, es seiner Bestimmung zu entziehen. Die Pointe dieser Anweisungen zum Umgang mit dem Geld liegt darin, daß in beiden Modellen der größte Gewinn dadurch zu erreichen ist, daß es möglichst rasch und vollständig aus der Hand gegeben wird. Diese formale Koinzidenz ermöglicht dem Jesuiten Jacob Masen, in der Metaphorik von weltlichen Geschäften zur tätigen Nächstenliebe zu mahnen: „so wende deine Güter an / lege sie auff also lobsamen Wucher / Wechsel / vnd gewinn“.17 Auf Thesaurierung zu verzichten ist Voraussetzung für den Erwerb des größten Schatzes. Eine wesentliche Differenz wiederum ergibt sich aus der jeweiligen Annahme, auf welche Weise dieser Gewinn zu erzielen sei. Im religiösen Denken heißt freigebig zu sein, den himmlischen Schatz zu sammeln (vgl. 1 Tim 6,18f.). Diese Dialektik funktioniert dadurch, daß der zu erringende Schatz gerade kein materieller ist (vgl. Mt 6,19f.). Von dialektischer Indirektheit ist das Verhältnis von Einsatz und Gewinn selbst dann, wenn dem Frommen „zeitliche Reichtumben“ in Aussicht gestellt werden, denn sie sind als providentielle Belohnung für christliche Mildtätigkeit, Hauszucht, Frömmigkeit, Unterstützung der Kirche usw. anzusehen.18 Der mit dem Merkantilismus bzw. Kameralismus hervortretenden ökonomischen Betrachtung geht es hingegen nicht um einen Qualitätswechsel des zu erringenden Schatzes, sondern um seine Quantitätssteigerung ganz innerhalb des Irdisch-Materiellen. Möglich ist diese fundamentale Verschiebung erst, seitdem Geld nicht mehr als unfruchtbar gilt.19 Erst dann kann es sich vermehren, 16 Zu den in der frühneuzeitlichen Wirtschaftspublizistik verbreiteten Klagen „über das
Horten von Geld in privaten oder öffentlichen Schätzen sowie die Bindung großer Edelmetallmengen in Schmuck und Luxusartikeln“ vgl. Braudel: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts. Bd. 2: Der Handel, S. 506f. 17 Masen: Aurum sapientium (dt. Ausg.), S. 205. Das ganze 13. Kapitel des ersten Buches argumentiert gegen Thesaurierung. 18 Masen: Aurum sapientium (dt. Ausg.), S. [a12r]. 19 Durch Max Weber berühmt geworden ist Benjamin Franklins Lob der Fruchtbarkeit
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muß sich nicht mehr verwandeln. Als Vorbedingung für seine Vermehrung gilt aber, daß es sich bewegt, was wiederum seine Freigabe voraussetzt; „so roulliret das geld im lande und vermehret sich täglich“, fordert und verspricht die Neuausgabe von Seckendorffs Fürsten-Staat.20 In merkantilistischer und überhaupt in ökonomischer Sicht dient Geld unmittelbar der Wertbildung. In geistlicher Sicht dagegen kann es dies allenfalls indirekt, wenn es von den wahren Werten nicht sogar ablenkt. Materielle Thesaurierung gemeinsam abzulehnen hat für Theologie und Ökonomie folglich ganz unterschiedliche Konsequenzen für die jeweiligen Annahmen über den Weg, den der Besitz idealerweise nimmt. Während der gute Christ am Gedanken der Schatzbildung festhält und die Güter des Menschen auf eine Art metamorphotische Reise in den Himmel schickt, visiert der Ökonom das Ideal der unendlichen Bewegung an, die, weil sie kreisförmig verläuft, den Gebenden immer wieder zum Nehmenden macht.21 Im 18. Jahrhundert erfährt der Geizbegriff, der bisher die Begierde nach materiellen Gütern meinte, eine metaphorische Ausweitung, indem er nun auch die Verweigerung von Handlungsweisen brandmarken kann, die der Kritiker als notwendig ansieht, und zwar unabhängig davon, ob Geldwerte im Spiel sind. Kritisiert werden kann z. B. die Verweigerung umgänglicher Sitten als Geiz an ‚guter Lebensart‘ oder Bildungsfeindschaft als intellektueller ‚Geiz‘ (an Borkensteins Bookesbeutel wird das zu verfolgen sein). Auf der anderen Seite gewinnt ein Grenzwert des Geizes, die Sparsamkeit, an Renommee; sie gilt nun als Grundlage allen erfolgreichen Wirtschaftens und avanciert zu einer ‚bürgerlichen Kardinaltugend‘.22 Wer mit großen Geldsummen umgeht – und allgemeiner: wer erfolgreich wirtschaftlich tätig ist –, fällt nicht mehr automatisch unter Geizverdacht (erinnert sei an die im vorigen Kapitel zitierte Apologie eines reichen ‚Handelsunternehmers‘ aus Pfeffels Kaufmann).23 Das traditionelle Bild des Geizigen drängen beide Tendenzen zurück. Aufeinander treffen sie, wo nicht eigentlich Geiz, aber eine asketische Haltung polemisch als Geiz angegriffen wird, so im Streit um die ‚sinnenfeindliche‘ Gottschedsche Theaterreform. Hier ist der Geiz vom Motiv und Thema der Komödie zu ihrem ästhetischen Problem geworden.
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des Geldes in seinem Essay The Way to Wealth von 1758; vgl. Die protestantische Ethik Bd. 1, S. 40–42. Vgl. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 228. Freilich ist damit nicht schlagartig alle Thesaurierung aufgehoben, schon gar nicht in der Praxis, wo beispielsweise die Bildung von Staatsschätzen am Ende des 16. Jahrhunderts erst beginnt; vgl. Kellenbenz: Deutsche Wirtschaftsgeschichte Bd. 1, S. 277. Vgl. Maurer: Die Biographie des Bürgers, S. 367. Vgl. den Art. „Geld-Kunst“ in Walch: Philosophisches Lexikon, Sp. 1139–55, hier Sp. 1139, der „viel Geld haben“ von einem geizigen Umgang mit Reichtum abgrenzt.
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3.1.2 Verstört: Das ‚Haus‘ der Ökonomik Für die Komödie hat die partielle Koinzidenz von theologisch-ethischer und ökonomischer Geizkritik die günstige Konsequenz, daß die prinzipielle Wirtschaftsfremdheit besonders der barocken Literatur punktuell hinfällig wird. Eröffnet wird dadurch ein normatives Feld, auf dem die ethisch indexierten Konflikte der Komödie einer Lösung zugeführt werden können, die auch ökonomisch von Bedeutung ist. Spielraum der im folgenden untersuchten Stücke ist (bis auf das zuletzt behandelte ‚Zauberlustspiel‘ Philipp Hafners) eine Familie und ihr näherer Umkreis. Im Vergleich mit den Stücken des Kaufmannskapitels fällt der Kreis der Figuren also enger aus, und deren Beziehungen sind tendenziell privater. „Der Geitzige verstöret sein eigen Haus“, heißt es bereits in den Sprüchen Salomos (15,27), und die Geizkomödien des 17. und 18. Jahrhunderts wahren, was die Handlungsebene angeht, diesen Fokus. Trotzdem beschränkt sich ihr wirtschaftsethischer Blick meist nicht auf den Bereich familiärer Primärbeziehungen. Vielmehr werden die häuslichen Turbulenzen, die aus dem Geiz entstehen, sowie deren angebotene Lösung als Modell auch für gesellschaftliches Handeln präsentiert. Diskursive Grundlage dieser weiten Perspektive war die Modellfunktion, die dem ‚Haus‘ generell in der alteuropäischen Wirtschaftslehre zukam. Diese – die Ökonomik – stellte das Haus und dessen Wirt, den Hausvater, ins Zentrum ihrer Anweisungen, wie auskömmlich zu wirtschaften und gottesfürchtig zu leben sei.24 Das ‚ganze Haus‘ des ländlichen Adels bildete dabei den Idealtypus, doch galten dessen sittliche Normen (z. B. Fürsorge des Vaters, Gehorsam der Ehefrau, der Kinder und des Gesindes) grundsätzlich für alle Schichten, bis hinauf zum Monarchen, der seinen Untertanen quasi als Kindern gegenübertrat.25 Auch die Geizkomödie ist diesem patriarchalischen Ideal verpflichtet, daher lassen die meisten Stücke die geizbedingte Störung der häuslichen Ordnung von deren Zentrum – dem Vater der Familie – ausgehen. Die Behandlung von wirtschaftlichen und makrosozialen Fragen in der Komödie wurde durch die Ökonomik zudem insofern begünstigt, daß sie sich ihrerseits nicht auf wirtschaftliches Handeln im modernen Sinne, also auf Produktion und Handel mit dem Zweck der Gewinnmaximierung, beschränkte. Als Lehre vom ‚ganzen Haus‘ betrachtete sie die (vor allem landwirtschaftliche) Gütererzeugung und -verwertung vielmehr im Rahmen eines ganzheitlich begriffenen Lebens. In einem Hauptwerk der sog. Hausväter24 Vgl. Brunner: Das „ganze Haus“ und die „alteuropäische Ökonomik“, S. 111–113. 25 Dies wird anhand von Molières Avare weiter zu verfolgen sein, vgl. unten S. 278, 281,
283. – Das ‚ganze Haus‘ herrschte auch unter der Stadtbevölkerung vor; insbesondere Handwerker kannten noch kaum die moderne Trennung von Haushalt und Betrieb (vgl. Brunner: ebd., S. 109).
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literatur, Wolf Helmhard von Hohbergs Georgica curiosa oder Adeliges Land- und Feldleben von 1682, kann es daher heißen: „Nulla enim professio amplior quam oeconomia“.26 Der religiösen bzw. sozialethischen Verpflichtung des Hausherrn gegenüber Gott, seiner Familie und seinem Gesinde kam sogar der Vorrang zu vor Wirtschaftsleistungen im engeren Sinne.27 Dem Geld wies dieses Modell lediglich eine Randfunktion zu. Galt es zwar als unverzichtbar, um jene Tauschhandlungen zu organisieren, durch die das Haus seine eigene Produktion ergänzte, so war das Denken in und Streben nach Geld gleichwohl in einen besonderen Bereich abgedrängt, die Chrematistik.28 Deren Grenze zum Gebiet der Ökonomik verlief dort, wo wirtschaftliches Handeln nicht mehr auf einen – ständisch – angemessenen Lebensunterhalt zielte, sondern auf Gewinn ‚an sich‘. In aristotelischer Tradition galt der Handel als „notwendig und erlaubt, soweit er der Ergänzung der Autarkie des Hauses dient, er ist verwerflich, sobald er zum Selbstzweck wird, das heißt, auf Gelderwerb an sich zielt“.29 Geld stand unter dem Verdacht, dem ethisch abgewerteten Gewinnstreben schon deshalb Vorschub zu leisten, weil sein Wertversprechen nicht an einen bestimmten Gebrauch gebunden ist. Weil ihm kein konkretes Bedürfnis entspricht, könne man vom Geld nie genug haben.30 Ein solches Streben aber erfüllte die seinerzeitige Definition von Geiz. Je weiter sich die Geldwirtschaft ausbreitete, desto anachronistischer wurde allerdings der Integrationsanspruch der Ökonomik. Der Komödie war beides günstig: sowohl die Verknüpfung von wirtschaftlichen, sozialen, ethischen und religiösen Fragen, die die traditionelle Ökonomik vornahm, als auch der Geltungsverlust, den sie an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erlitt.31 Wurden wirtschaftliche Fragen zunächst im Kreis von Haus und Familie und damit in den wichtigsten Spielbereichen der Komödie gehalten, so wuchs, als das Vordringen ‚chrematistischen‘ Geldes bis in das ‚ganze Haus‘ das normative Modell der Ökonomik zersprengte, das Bedürfnis nach einer neuen integrativen Erörterung von Geldfragen. Die Schwäche der Ökonomik war insofern die starke Stunde der Komödie. Seit der mittleren Aufklärung 26 27 28 29 30 31
Zit. nach Brunner: Das „ganze Haus“ und die „alteuropäische Ökonomik“, S. 105. Vgl. Glorez: Vollständige Hauß- und Land-Bibliothek, S. 1f. Vgl. Brunner: ebd., S. 120. Ebd., S. 105. Vgl. Koslowski: Politik und Ökonomie bei Aristoteles, S. 56–61. Vgl. dazu Gotthardt Frühsorge: „Glückseligkeit des Landlebens“. Vom Wandel des Homo oeconomicus in der Landleben-Literatur des 18. Jahrhunderts. – In: Der literarische Homo oeconomicus, S. 101–120, hier S. 114f. Als letztes Zeugnis der Ökonomik im integralen Sinn nennt Frühsorge Christian Wolffs Deutsche Politik von 1721 (vgl. Die Begründung der ‚väterlichen Gesellschaft‘ in der europäischen oeconomia christiana, S. 111).
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vollzog sich zugleich allerdings eine Abkehr von der Geizkomödie, da die Gattung von der Lastersatire abrückte und verstärkt vorbildliche Handlungen, auch im Umgang mit dem Geld, darstellte. Als Stück mit Übergangscharakter wird gegen Ende des Geizkapitels Der Bookesbeutel von Hinrich Borkenstein analysiert (3.6). Typische Folge der Ausweitung der Geldwirtschaft war, daß Zahlungsverpflichtungen die persönlichen Beziehungen der feudalen Naturalwirtschaft ablösten (in Weises Betrogenem Betrug gibt gleich die erste Szene ein Beispiel dafür).32 Dadurch trug das neuzeitliche Geldwesen erheblich zur Lockerung des gesellschaftlichen Gefüges bei. Zwar gewann der Markt, über den immer mehr wirtschaftliche Prozesse liefen, aus makroökonomischer Perspektive an Geschlossenheit, doch setzte eben dies den einzelnen Menschen als Wirtschaftsubjekt frei und schuf so Orientierungsprobleme.33 Die Komödie wiederum war besonders geeignet, den Monetarisierungs- und Differenzierungsprozeß der frühneuzeitlichen Gesellschaft kritisch zu reflektieren und spielerisch zu kompensieren: als jene literarische Gattung nämlich, die den Rezipienten am stärksten in ihr Spiel einbezieht und der bereits das gemeinschaftliche Lachen, das sie provoziert, einen „sozialen Charakter“ sichert.34 Im Verständnis des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kann die literarische Form dabei bloß als Vehikel von auch diskursiv formulierbaren Lehren dienen. Dementsprechend haben mehrere der hier herangezogenen Autoren ihre Geldlehre auch andernorts dargelegt, so Johann Georg Schoch in einer Poetischen Rede / daß das höchste Gut oder Glückseligkeit nicht in Reichtumb bestehe (1655)35 oder Jacob Masen in seinem Aurum sapientium, Das ist: Kunst leichtlich / vnd ohne Sünde Reich zu werden von 1656. Vergleiche zwischen dieser jesuitischen Populärethik und Masens Komödie Ollaria (vgl. Kap. 3.2) lassen indes durchaus eine von der literarischen Form getragene zusätzliche Aussagedimension erkennen. Die diskursive Einheitlichkeit der in verschiedenen Textsorten geführten frühneuzeitlichen Gelddiskussion schließt gattungstypische oder gar -bedingte Eigentümlichkeiten also nicht aus: Auch unter vormodernen Bedingungen ist nach der spezifischen Leistung der Komödie im Geizdiskurs zu fragen.
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Vgl. Weise: SW 13, S. 137f. Vgl. Schultz: Handwerker, Kaufleute, Bankiers, S. 9f. Trautwein: Komödientheorien, S. 116. Vgl. die Einleitung zu Schoch: Comoedia Vom Studenten-Leben, S. 5*–26*, hier S. 7*, von Hugh Powell, der jedoch kein Exemplar dieses Werkes ausfindig machen konnte.
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3.1.3 Zirkulation oder Zentralisierung? Die Komödie im Widerstreit epochaler Prinzipien Unsere Aufgabe ist also eine doppelte: zum einen den von der frühneuzeitlichen Ökonomik vorausgesetzten, vom traditionsgebundenen Figurenkatalog der Barockpoetik (vgl. oben S. 78f.) aber zerschnittenen Zusammenhang von individueller oder ‚zwischenmenschlicher‘ Moralität einerseits und Wirtschaften andererseits wieder in sein Recht zu setzen. Die Hypothese lautet, nicht zuletzt an die Ergebnisse der Kaufmanns-Kapitel anknüpfend: Ökonomisch-soziale Mentalitäten bringt die Geizkomödie auch und gerade jenseits von Individualnormen zum Ausdruck. Zum anderen ist weiterhin die implizite Semantik der Komödienform besonders zu beachten, denn sie fügt der konzeptionellen, thematischen, propositionalen Aussage eine strukturelle hinzu. So ist die Bewegung, in die die Figuren oder ein Zentralobjekt geraten, von Bedeutung auch hinsichtlich der jeweiligen Annahme über die Bewegung, die das Geld – idealer- oder fatalerweise – nimmt. Die Komödienstruktur, die wir prinzipiell in einem homologen Verhältnis zur Geldbewegung sahen,36 erhält damit den Charakter einer Antwort auf in der ökonomisch-sozialen Mentalität ihrer Zeit virulente Problemlagen (wobei diese Antwort ihrerseits neue Fragen stellen kann). Wenn Komödie wie Geld in aufeinander bezogenen Bewegungen zu sehen sind, liegt es nahe, die Typen dieser Bewegung in geometrische Begriffen zu fassen. Da ein ausgeprägter „geometrischer Sinn“ zudem als Charakteristikum der Epoche gilt,37 ist den entsprechenden Bewegungsstrukturen besondere historische Signifikanz zuzumessen. Interessant wird dieses ‚geometrisch‘ typisierte Feld durch die Konkurrenz verschiedener, einander entgegengesetzter Modelle: Während die symbolischen Räume des Politischen bis hin zum Hoftheater einer Zentralperspektive unterworfen wurden, welche potentiell die ganze Welt auf den Fürsten ausrichtete,38 stellte der Merkantilismus für 36 Vgl. Kap. 1.2.1. 37 Kunisch: Absolutismus, S. 9. Zur barocken Vorliebe für geometrische Strukturen in
den Bereichen Festungsbau, Tanz, Gefecht und Naturwissenschaft vgl. Eichberg: Geometrie als barocke Lebensform. Zum „neuen Bewegungsbegriff“ des 17. Jahrhunderts und den seinerzeitigen Modellen, Bewegung berechenbar zu machen, auch Helmar Schramm: Einleitung [in die Sektion „Wahrnehmung im 17. Jahrhundert“]. – In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation, S. 311–315, hier S. 311. 38 Vgl. Duchhardt: Das Zeitalter des Absolutismus, S. 75; Schilling: Höfe und Allianzen, S. 16f., 19f., 27. Zugespitztesten Ausdruck hat das Zentralisierungsprinzip am Hof Ludwigs XIV. gefunden: In Versailles befand sich das Bett des Königs in der Mitte des im ersten Stock gelegenen Mittelzimmers, dieses wiederum am zentralen Hof gelegen; vgl. Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 120–130. Als Hauptanliegen der absolutistischen Herrschaftsarchitektur beschreibt Rudolf zur Lippe das Zentralisationsprinzip (Hof und Schloß – Bühne des Absolutismus. – In: Absolutismus, S. 138–161). Zur
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die Wirtschaftssphäre einen Zirkulationsimperativ auf (während die alteuropäische Ökonomik als Lehre einer „stationären Wirtschaft“ zu charakterisieren ist)39. Der Fürst suchte die Macht zu monopolisieren und alle Ressourcen des Landes an sich zu ziehen, während der Wohlstand desselben und damit seiner selbst an die unaufhörliche Bewegung des Geldes und der Waren geknüpft wurde. Eine Möglichkeit, die Zentralstellung des Fürsten auch im Kreislaufmodell der Wirtschaftssphäre geltend zu machen, bot die alte Metapher vom Geld als Blut des Staatskörpers. Mit der Entdeckung des Blutkreislaufs durch den Londoner Arzt William Harvey (Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus Frankfurt 1628) war sie anschlußfähig geworden für das auf Zirkulation ausgerichtete ökonomische Denken des Merkantilismus (und konnte sich durchsetzen gegen die statischere Nervenmetapher).40 Erst in Harveys Modell mußte alles Blut das Herz passieren, während man bisher mit Galenus annahm, daß das venöse Blut von der Leber (die lediglich blutbildendes Organ sei) nur zu einem Teil zum Herzen, zum anderen aber direkt in den Körper fließe – dem arteriellen Blut, das vom Herzen kommt, gewisserAusrichtung des Theaters auf den Fürsten, dem die Zentralität seines Platzes eine ideale Perspektive einräumte, vgl. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters Bd. 2, S. 70f. – Gerade da die literarischen Texte, die wir heranziehen, eher die symbolische Ordnung des Absolutismus, d. h. den fürstlichen Zentralisierungsanspruch, als die ‚realen‘ Machtverhältnisse reflektieren, sei nicht vergessen, daß dieser Zentralisierungsanspruch nirgends vollständig verwirklicht wurde, selbst im Frankreich Ludwigs XIV. nicht. In der historischen Forschung greift man daher lieber zum Bild der Ellipse, das sowohl den Fürsten, seinen Hof und seine Bürokratie als auch das ‚Land‘ und dessen eigenständige Elite zu fassen erlaubt (vgl. Schilling: ebd., S. 30f.). 39 Koslowski: Haus und Geld, S. 77. Erinnert sei an die Kreismetaphorik der englischen Merkantilisten Misselden und Mun, von der im Shakespeare-Kapitel die Rede war (vgl. oben S. 102). – Historische Differenzen werden dagegen verwischt, wenn man den Kreis als generelles Strukturprinzip der Ökonomie ansieht (so Derrida: Falschgeld, S. 16). So ‚natürlich‘ das Kreisbild uns gerade für den Lauf des Geldes scheinen mag, es handelt sich bloß um eine mögliche Konzeptionalisierung, die sich erst historisch entwickelt hat (vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 226f.). 40 Vgl. Siegerist: Will Harvey’s Stellung in der europäischen Geistesgeschichte. Der Geld-Blut-Vergleich ist bereits antik (vgl. Georges: Ausführl. lat.-dt. Hwb., s. v. sanguis, mit zwei Belegen aus Cicero; auf einen Vergleich des Geldes mit dem Blut im Hinblick auf dessen lebensspendende Kraft in der Mittleren Komödie [Timokles fr. 35] verweist außerdem Demandt: Metaphern für Geschichte, S. 440), wurde vor Harvey jedoch ohne Kreislaufimplikationen angewandt; vgl. Friedtlieb: Prudentia politica christiana (1614), S. 4, 148–163, der ihn im Rahmen eines in zwölf Punkten ausgeführten Vergleichs zwischen Staats- und Menschen-Körper aufgreift. Ein anderes Kreislauf-Bild hatte vorher schon John Hayles († 1571) benutzt: den Kreislauf des Wassers, das – wie das Geld in die königliche Kasse – in allen Bächen und Flüssen zum Meer laufe, um von dort in Wolken aufzusteigen und wieder auf die Erde hinab zu regnen (vgl. Klein: Englische Wirtschaftstheoretiker, S. 15f.). Gegen den präziseren Blutvergleich hat sich dieses Bild jedoch nicht behaupten können.
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maßen entgegen. Der prinzipiell egalisierende Kreislaufgedanke wertet also auch das Herz auf, dessen Funktion als Relais der ‚Luft‘-Versorgung über den kleinen oder Lungen-Kreislauf bereits Miguel Serveto (1509–1559) erkannt hatte. Das Herz aber wurde mit dem Fürsten oder, die Metapher ‚Herzkammer‘ zusätzlich ausbeutend, mit der fürstlichen Kammer, sprich Finanzverwaltung identifiziert. Allerdings pflegten die kameralistischen Schriftsteller mit der Durchführung dieses Vergleichs nicht ganz konsequent zu sein, denn ihnen ging es um den Profit, den der Fürst vom Umlauf des Geldes tragen soll – den das Herz also von der Zirkulation des Blutes trüge. So wünscht der reichspatriotische Publizist und Kameralist Philipp Wilhelm Hörnigk dem Kaiser, daß das Geld, das jetzt noch außer Landes gehe, in die Zirkulation gelangete und gleichwie das menschliche Geblüt durch den Kasten des Herzens, also auf eine sanfte tunliche und zulässige Art, (welches der Kammer zukommt,) guten Teils jährlich durch die Cassa des Landsfürsten ginge.41
Physiologisch stimmiger zieht Thomas Hobbes den Vergleich, wenn er fragt, auf welche Weise das Blut im Herzen des Staates „belebend gemacht“ werde, „um alle Glieder des Körpers zu beleben und zur Bewegung zu befähigen“ (die Antwort ist: indem der Souverän durch Prägung den Wert des Geldes garantiert).42 Das Steuerinteresse des Staates ist hier aber allenfalls indirekt getroffen. Aufgehoben wurde die Spannung zwischen Zentralisierung und Zirkulation erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wenngleich lediglich in der ökonomischen Theorie: Nun entwarfen die Physiokraten das Wirtschaftsgeschehen als in sich geschlossenen Kreislauf, der aufgrund natürlicher Harmonie selbständig funktioniere, so daß der Staat als bloße Schutzmacht in den Hintergrund rückte.43 Die Ausrichtung der Wirtschaft wie des gesamten öffentlichen Lebens auf den Fürsten läßt sich mit dem Ideal einer Zirkulation, in welcher der Reichtum quasi von selbst zunimmt, nicht vollständig harmonisieren, nicht einmal in einer Allegorie. Der Befund läßt sich verallgemeinern: die Prinzipien des Kreislaufs oder der Bewegung auf der einen Seite sowie der Zentrierung oder 41 Hörnigk: Österreich über alles, wann es nur will (1684), S. 68. 42 Hobbes: Leviathan, S. 194. 43 Vgl. Petzet: Der Physiokratismus und die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs,
S. 1, 66, 147; Bauer, Matis: Geburt der Neuzeit, S. 282–297. Der BlutkreislaufVergleich wird hier wieder aufgegriffen – und im Grunde zum ersten Mal ohne Bildbruch verwandt. Eine zentrale Stellung nimmt das physiokratische Streben nach einer „vollständigen und geschlossenen Zirkulation“ in Joseph Vogls Ökonomisierungsgeschichte ein, kommen die physiokratischen Theoreme der Geschlossenheit und der „Eigenbewegung“ des Wirtschaftsprozesse seiner systemtheoretischen Deutung doch besonders nahe (Kalkül und Leidenschaft, S. 224f.). Als literarischen Rezipienten des Physiokratismus führt Vogl allerdings erst Heinrich von Ofterdingen an (vgl. ebd., S. 264f.).
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der Stabilität auf der anderen stehen sich in der ‚späten Frühen Neuzeit‘ des Absolutismus in mehrfacher Hinsicht gegenüber. Nehmen wir zunächst die politische Geschichte: Die zahlreichen Rebellionen, Bürgerkriege und Aufstände in ganz Europa haben zur These einer allgemeinen „Krise des 17. Jahrhunderts“ geführt, die aber vom absoluten Fürstenstaat (in England von der parlamentarischen Monarchie nach der Glorious Revolution) schließlich gebändigt worden sei.44 Welch prägende Bedeutung die Erfahrung konfessioneller oder ständischer Umstürze oder Umsturzversuche einerseits sowie das Streben nach Beständigkeit andererseits für die Zeitgenossen hatte, unterstreicht die große Wirkung von Justus Lipsius’ neustoischer Philosophie und Staatslehre.45 Mit ihnen wurde der Leidener Philologe zum „Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates“.46 Auch das poetologische Normensystem und die ethische Normenorientierung der deutschen Barockliteratur ist vor dem Hintergrund jener Krise zu sehen, die ihren Höhepunkt im Dreißigjährigen Krieg fand.47 Die Frühaufklärung steigerte den Normierungsdruck sogar noch einmal, und zwar gesellschaftlich – durch fortschreitende Sozialdisziplinierung – wie literarisch. Mit Gottscheds Critischer Dichtkunst vor die Deutschen gelangte die moral- und sozialordnungsaffirmative Regelpoetik erst 1730 auf den Höhepunkt ihrer Ansprüche.48 Kamen Politik, Philosophie und Dichtung weitgehend in einer starken Stabilitätspräferenz überein (der gegenüber Bewegung eine Gefährdung bedeutete), so galt Stabilität im ökonomischen Bereich als Krisenphänomen. Denn dort war Bewegung erwünscht, die als Zirkulation von Geld und Waren nicht die Gefahr von Anarchie und Chaos barg, sondern Wohlstand versprach.49 Im merkantil expandierenden England führt das bereits The Merchant of Venice vor. Die deutsche Barockliteratur hingegen wird in der sozialgeschichtlichen Literaturgeschichtsschreibung auf den „neuen Ord44 Vgl. Koenigsberger: Die Krise des 17. Jahrhunderts, bes. S. 155f.; zudem die breit
45
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kulturgeschichtlich angelegte Untersuchung von Theodore Rabb: The Struggle for Stability. Vgl. auch die Rezeption von Spitzenereignissen dieser Krise in der deutschen Literatur, bei Gryphius etwa (Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus 1657) oder Weise (Trauerspiel von dem neapolitanischen Hauptrebellen Masaniello 1682). Vgl. Lipsius: Von der Beständigkeit (1601, lat. EA 1584). Das menschliche Streben nach Sicherheit, die aber einer festen gesellschaftlichen Ordnung bedürfe, bildet den anthropologischen Ausgangspunkt auch für Hobbes’ Begründung der Notwendigkeit jenes Unterwerfungsvertrags, welche die Souveränität des Staates begründet. Vgl. Oestreich: Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates. – In: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, S. 35–79. Vgl. Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert, S. 307. Vgl. Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat, S. 174f. Vgl. John Laws Satz „La loi de la circulation est la seule qui puisse sauver les empires“, zit. nach Karl Diehl: Einleitung. – In: Diehl, Mombert (Hrsg.): Ausgewählte Lesestücke Bd. 10, S. 1–11, hier S. 1.
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nungsstaat“50 bezogen. Ähnlich fällt die Sicht in einer soeben erschienenen Studie mit zur Diskursgeschichte verschobener Methodik aus: Die „Geburt der ‚Deutschen Poeterey‘ [...] aus der politischen und militärischen Wirklichkeit des Dreißigjährigen Krieges“ beschreibt Nicola Kaminski, indem sie Opitz’ Programm einer poetologischen ‚Armierung‘ rekonstruiert und dem von ihm empfohlenen alternierenden Versmaß den „Marschtritt“ der präabsolutistischen oranischen Heeresreform ablauscht.51 Sich auf Ökonomie im Sinne des vom Merkantilismus aufgestellten Zirkulationsprinzips einzulassen hätte der deutschen Barockliteratur demnach wenig nahegelegen – Gryphius’ Horribilicribrifax bot uns ein Beispiel dafür. Besonders für die Komödie gilt das allerdings nicht durchgängig (wie ebenfalls bereits am Horribilicribrifax erkennbar wurde). Denn Bewegung ist, wie eingangs dargelegt, auch eines ihrer Prinzipien. Speziell als Kreisbewegung stellt sich die gattungstypische Abfolge von Überraschungen aller Art dar, wenn sie eine anfangs verdeckte Zuordnung von (meist positiven) Figuren zwar zunächst zu verhindern scheint, schließlich jedoch approbiert (vgl. Plautus’ Aulularia, wo die Tochter des Geizigen vom Sohn des reichen Nachbarn bereits schwanger ist, aber den Reichen heiraten soll, bis der Kindsvater sich meldet und die Hochzeit ermöglicht). Eine andere Form komödischer Zirkulation bildet die Intrige oder Täuschung, die denjenigen zu Fall bringt, der sie ins Werk gesetzt hat (vgl. unten S. 252). Auch ein zentrales Objekt der Komödienhandlung kann sich im Kreis bewegen, wie beispielsweise der Geldtopf in Weises Betrogenem Betrug (vgl. unten S. 323). Allgemeiner von einem gattungsspezifischen „Komödienzirkel“ spricht schließlich Wolfgang Trautwein, denn bereits die gattungskonstitutive Komik signalisiere „im impliziten Verweis auf die Gattungskonvention, daß die Konflikte letztendlich doch harmloser Art bleiben werden, was im Lachen vorab zum Ausdruck kommt und im glücklichen Ende eingelöst wird.“52 Entscheidend für die mögliche Leistung der Komödie im eben umrissenen Spannungsfeld ist, daß sie nicht allein von Bewegung und Zirkulation geprägt wird, sondern von deren Kombination mit dem Prinzip der Stillstellung oder Zentrierung. Das Zusammenspiel von syntagmatischer Bewegung der ‚anderweitigen Handlung‘ und ihrer ‚paradigmatischen‘ Stillstellung in komischen Momenten hat besonders die strukturalistische Gattungstheorie Rainer Warnings herausgearbeitet. Wie Trautwein ergänzt, wirkt der komische Augenblick als Konzentrierung des Gesamtkonflikts, wenn die „Diskrepanz diver-
50 Wiedemann: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität, S. 34. 51 Kaminski: Ex bello ars, S. 9 u. 545. 52 Trautwein: Komödientheorien, S. 105.
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genter Handlungen“ in ihm „lachend bloßgelegt“ wird.53 Als Stabilisierung auch in einem sozialen und ethischen Sinne macht sich zudem der traditionelle Komödienschluß, meist mit einer oder mehreren Heirat(en), geltend.54 In ihren wesentlichen Strukturmerkmalen präsentiert sich die Komödie mithin als Gattung, welche die Prinzipien, deren Widerstreit die Epoche kennzeichnet, typischerweise integriert. Sie scheint damit besonders geeignet, die Divergenz von Erfahrung und Norm, die Politik, Philosophie und Ökonomie prägen, im literarischen Modell zu reflektieren, möglicherweise auch zu überwinden – oder aber zu verschärfen. Sprachen die poetologischen und wirtschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen gegen die Hinwendung der deutschen Komödie zum Geld – an Bedarf nach der Vermittlung bzw. Reflexion, die sie anbietet, fehlte es nicht.
3.1.4 Plautus’ Aulularia als Archetext Grundlegend für die Geizdarstellung in der europäischen Komödie wirkte Plautus’ Aulularia.55 Die Knauserigkeit eines ursprünglich armen Alten hat sich hier, nachdem er einen Goldschatz unter seinem Herd gefunden hat, zu einem buchstäblich jede Ausgabe scheuenden und grotesk mißtrauischen Geiz verschärft. Euclio nutzt den unverhofften Reichtum nicht zur Besserung seiner Lage. Selbst als es um die Verheiratung seiner Tochter geht, läßt er sich von dem Prinzip leiten, nichts auszugeben, so daß er Phaedria56 dem alten Megadorus verspricht, der um sie geworben und dabei auf eine Mitgift verzichtet hat (mit dem Hintergedanken, daß eine mittellose Frau weniger Ansprüche mache). Vorgeführt wird vor allem die Unnatürlichkeit dieses 53 Ebd., S. 104. 54 Zum Komödienschluß vgl. Hinck: Vom Ausgang der Komödie. Hinck hebt vor allem
auf die Infragestellung oder Parodie des versöhnlichen Komödienschlusses bei Molière, dem jungen Lessing und der Komödie seit Hauptmann ab, läßt dabei aber auch erkennen, daß von der Antike bis mindestens ins 18. Jahrhundert Versöhnung die Norm bildete (vgl. S. 11f., 18f., 23, 26, 39). Zu modern gedacht zu sein scheint mir, den glücklichen Komödienschluß überwiegend als Utopie im Sinne Ernst Blochs zu begreifen (vgl. S. 8, 47 u. ö.). Verhielte es sich durchgängig so, dann ließe sich der Komödienschluß nicht, wie hier für das 17. und 18. Jahrhundert vorgeschlagen, als ästhetische Stabilisierung einer (leidvoll) bewegten Gesellschaft begreifen. Hincks Utopiebegriff impliziert eine geschichtsphilosophische Orientierung, die erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert gedacht wird. 55 Die Entstehungszeit der Komödie wird um das Jahr 190 v. Chr. angesetzt, vgl. ed. Stockert, S. 27–29. Als neueste monographische Studie vgl. Lefèvre: Plautus’ Aulularia, zur frühneuzeitlichen Rezeptionsgeschichte S. 157–201. 56 Phaedria ist, obschon ein typischer Männername, die überlieferte Namenform; als Verbesserungen kommen Phaedrium oder Phaedra in Frage (vgl. ed. Stockert, S. 34).
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Geizes: Die Beispiele, die Megadorus’ Sklave Strobilus für Euclios lebensfeindliche Sparsamkeit gibt, bilden eine Reihe von Repräsentationen der vier Elemente.57 Gleichwohl spielt die Konkurrenz von Geld und Gott auch hier eine Rolle. Denn im Prolog des Lar familiaris – welcher die gesamte Handlung lenkt – erscheint Geiz wesentlich als Vernachlässigung der Opferpflichten gegenüber dem Hausgott.58 Umgekehrt belohnt der Lar denjenigen – und zwar materiell –, der ihn und nicht das Gold ehrt, in diesem Fall Euclios fromme Tochter. Schon hier finden wir mithin die eben beschriebene Dialektik von religiös begründeter Besitzverachtung und göttlich garantiertem Besitzgewinn. Von der biblischen unterscheidet sie sich dadurch, daß sie auf den Austausch materieller in geistliche Güter verzichtet. Wir werden zu verfolgen haben, wie eine Wieder-Verdiesseitigung der Schatzmechanik sich während des 17. Jahrhunderts durchsetzt – mit unterschiedlichen Folgen für die Annahme einer göttlichen Lenkung. Auf der Handlungsebene tritt Geiz seltener als Gegenpol einer Gottesbindung auf denn als Hindernis einer Liebesverbindung zwischen dem heiratsfähigen Kind des Geizigen und seinem Geliebten. In Ansätzen gilt das bereits für die Aulularia, die komödientypisch mit einer Hochzeit zwischen Phaedria und dem Neffen des Megadorus, Lykonides, schließt. Der Liebessphäre fehlt hier allerdings jede Idealität; Lykonides hat Phaedria vielmehr vor neun Monaten im Rausch vergewaltigt und wird jetzt von seinem Gewissen geplagt. Das junge Paar hat keine einzige Szene,59 so daß auch keine Treueschwüre und Versicherungen der gegenseitigen Wertschätzung ohne alle materiellen Rücksichten geleistet werden. In bezug auf den grundlegenden Konflikt zwischen Geld und Liebe eröffnet Plautus’ Modellstück damit zwei verschiedene Wege: den des Verzichts auf eine weltlich-erotische Liebeshandlung und der Wendung des Liebesbegriffs ins unmittelbar Christliche (Liebe zu Gott, Nächstenliebe/caritas) – ihn beschreitet das Jesuitendrama – sowie den der Ausbildung einer idealen innerweltlichen Liebessphäre. Diese freilich wird noch lange von religiösen Vorgaben beherrscht und kann deshalb die Funktion eines symbolischen Verweises auf den Konflikt zwischen Gott und Geld haben, so daß beide Wege durchaus parallel laufen können.
57 Vgl. Vv. 300–313: Euclio geizt mit der Wärme des Feuers, wenn er nicht den gering-
sten Rauch durch das Lattendach seines Hauses entweichen lassen möchte, mit seiner Atemluft, wenn er sich im Schlaf einen Sack vor den Mund bindet, mit dem Waschwasser, das er beim Ausgießen beweint, sowie – hier gibt es nur ein Analogon zur Erde – mit seiner Körpersubstanz, wenn er beim Barbier die abgeschnittenen Nagelstückchen einsammelt (vgl. Jauß: Molière, L’Avare, S. 296f.). 58 Ausführlicher zu den Götterfiguren Lefèvre: ebd., S. 19–23. 59 Offen muß bleiben, ob Phaedria in den verlorenen Schlußszenen, die wohl die Eheschließung enthielten, auftrat.
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Seit der Wiederauffindung von zwölf seiner verschollenen Stücke im Jahre 142960 sind von Plautus (und seinem Nachfolger in der römischen Komödie Terenz) die stärksten Impulse auf die neulateinische und nationalsprachliche Komödie der frühen Neuzeit ausgegangen.61 Zur ersten nachantiken Aufführung eines römischen Dramas gelangte 1484 in Rom gerade die Aulularia.62 Die Aulularia ist auch die „erste gedruckte, in Versen zu Aufführungszwecken [ins Deutsche] übersetzte antike Komödie“ (von Joachim Greff, 1535).63 Daß mit dem Lar familiaris ein Gott das Dramengeschehen lenkt und daß die schlußendliche Glücksverteilung, dem Prolog zufolge, sich nach religiösem Eifer bemißt, mag zur überdurchschnittlichen Lebhaftigkeit der Aulularia-Rezeption beigetragen haben; jedenfalls halten sich diese Strukturen in der Geldkomödie bis ins 18. Jahrhundert.64 Indirekt beförderten die genannten Adaptionen auch die Ausbildung einer deutschen Komödiensprache und die Beherrschung dramaturgischer Techniken.65 Einen richtungsweisenden Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Komödie gewann die Antike-Rezeption, anders als in Italien die Commedia erudita, jedoch nicht. Am stärksten präsent blieb die lateinische Tradition im jesuitischen Schultheater, wie an der Ollaria Jacob Masens gleich anschließend zu studieren ist. Deutschen Autoren gelang es zunächst nur teilweise, an die Leistungen der antiken Komödie anzuknüpfen, sowohl hinsichtlich komischer Effekte als auch von der Plotkonstruktion her. Die vielfach derbe und letztlich amoralische Heiterkeit der plautinischen Komödie fand in einer Epoche konfessioneller Parteinahme und moralischer Lehrhaftigkeit kaum Widerhall.66 Das – protestantische oder jesuitische – Schultheater, in dessen Hände die Pflege und Fortführung der antiken Komödientradition nahezu ausschließlich fiel, war vor allem am sprach- und moraldidaktischen Nutzen des Schauspiels interessiert. Bauformen der römischen Komödie wie Figurentypen, komische 60 Die erste Druckausgabe stammt von 1472. 61 Vgl. Reinhartstoettner: Plautus; zur Nachwirkung der Aulularia in Italien, Frankreich,
den Niederlanden, England und Deutschland, S. 274–324. 62 Vgl. Walther Ludwig: Einführung. – In: Plautus, Terenz: Die römische Komödie,
S. 5–37, hier S. 9. 63 Conrady: Deutsche Plautusübertragungen, S. 384. Als episierende Prosaübertragungen
vorangegangen sind Albrecht von Eybs Bearbeitungen der Bacchides und der Menaechmi von Plautus (1511) sowie Hanns Nytharts Übersetzung des Terenzischen Eunuchus (1486); vgl. ebd., S. 382. Eine weitere Übersetzung des Stücks durch Heinrich Zenckfrey erschien 1607. Neben den vier genannten führt Conrady vier weitere Plautusübertragungen vor Lessing an sowie zwei sehr freie bzw. ohne Kenntnis des Originals angefertigte Adaptionen von Jakob Ayrer und Hans Sachs, vgl. ebd., S. 382f. 64 Vgl. unten S. 448f. zu Gellerts Loos in der Lotterie. Zur traditionalistischen Fortführung des Modells bei Raimund vgl. Pape: Symbol des Sozialen, S. 65. 65 Vgl. Conrady: ebd., S. 378f. 66 Vgl. Catholy: Das deutsche Lustspiel Bd. 1, S. 95.
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Situationen, typische Motive usw. fungierten hier als angenehme Verpackung einer nützlichen, zumeist spezifisch christlichen Botschaft. Ein aufschlußreiches Beispiel für das selektive Interesse an der römischen Komödie bildet der Appendix zur Palæstra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica, Masens einflußreicher Poetik (1. Aufl. 1657). Er enthält eine Auswahl von besonders nachahmungswürdigen Gesprächen, Phrasen und Vokabeln, während die Plots der ausgezogenen Komödien wegen der stellenorientierten Zitierweise nicht mehr erkennbar sind. Die Figurentypen und ihre stereotypen Verhaltensweisen erschließt dagegen der abschließende Index, mit Stichworten natürlich auch zum „Avarus“ bzw. „Senex avarus“.67
67 Vgl. Masen: Palæstra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica Bd. 3, S. 597[recte: 497]-575. Zur
Rezeption der römischen Komödie in der jesuitischen Poetik vgl. auch Valentin: Le Théâtre des Jésuites, S. 329f. Hinweise auf einzelne motivische Anleihen bei Plautus geben im folgenden vor allem die Kapitel über Molières Avare sowie über Weises Betrogenen Betrug.
3.2 Irdische und himmlische Schätze im Jesuitendrama Ein gutes Beispiel für diese Ausgangssituation gibt Masens Ollaria.1 Stilistisch und dramaturgisch lehnt sie sich stark an Plautinische Vorbilder an; den Titel bildet nichts anderes als eine (vulgäre) Variante für Aulularia. Typisch für die im deutschen Barock übliche Fortschreibung der römischen Komödientradition,2 hält sich das Handlungsschema dagegen nicht an Plautus. Vielmehr setzt Masen, indem er eine Erzählung aus Petrarcas De remediis utriusque fortunae3 aufgreift, entschieden eigene Akzente. Bereits die Figurenkonstellation läßt sich als ein eigenständiger Kommentar zur Geldwirtschaft lesen. Zugleich erreicht Masen eine außergewöhnliche Kohärenz von Gattungsform und ethischer Aussage, indem er die Handlungsstruktur konsequent aus dem satirisch dargestellten Laster entwickelt. Unterstreichen läßt sich das durch einen Vergleich mit Jacob Bidermanns Jacobus usurarius, einem weiteren, etwa zwei Jahrzehnte früher entstandenen Geizdrama aus Jesuitenfeder (3.2.1).4 Spezifische Interdependenzen zeigen sich auch zwischen 1 Vermutlich einige Jahre früher entstanden, wurde die Ollaria zuerst 1657 gedruckt in
Masens Palæstra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica, Pars III, in der hier benutzten Ausgabe von 1683 auf S. 130–167. Wichtige Hinweise auf den Entstehungszusammenhang des Stücks samt ausführlicher Inhaltsangabe gibt Schoolfield: Masen’s Ollaria, zur Entstehungszeit S. 31f. – Für wertvolle Hilfe bei der Übersetzung der lateinischen Texte danke ich Helen Konnertz und Stephan Busch. 2 Vgl. Alexander: Das deutsche Barockdrama, S. 37; Conrady: Deutsche Plautusübertragungen, S. 386. 3 Über Heilmittel gegen Glück und Unglück (1366), hier Buch II, 13. Dialog. 4 Den Text enthalten Bidermanns Ludi theatrales, Bd. 2, S. 90–186. Die Entstehungszeit des Stücks läßt sich nur erschließen; sie wird von Rolf Tarot mit Dyer auf 1615–18 angesetzt (vgl. ebd. Bd. 1, S. 11*). Eine Handlungsbeschreibung gibt Best: Bidermann, S. 57–72, einen, allerdings recht ungleichmäßigen und nicht immer zuverlässigen Überblick auch Nachtwey: Die Exerzitien des Ignatius von Loyola in den Dramen Jakob Bidermanns, S. 28–35. Bidermann nennt den Jacobus usurarius im Untertitel „comico-tragoedia“. Er bezeichnet damit eine Handlung, die fröhlich beginne, aber „tragicum et triste“ ende (S. 91). Einen solchen Verlauf kann man dem Stück freilich nur attestieren, wenn man Glück und Unglück am Besitz von irdischen Gütern mißt. Thema ist jedoch die gelungene geistliche Rettung eines Geizigen durch die Jungfrau Maria; daß jener am Ende stirbt, kann aus dieser Sicht nicht als wesentlich trauriges Ereignis gelten. Wenn das Stück hier zusammen mit anderen Komödien behandelt wird, steht dem von seiner
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Geldauffassung und Dramenstruktur, wobei die Annahmen der beiden Autoren über Geld- und Figurenbewegung gemäß den eingangs skizzierten geometrischen Strukturalternativen differieren: Während Masen beide Bewegungen kreisförmig zu denken beginnt, neigt Bidermann zur linearen Ausrichtung des Diesseits auf das Jenseits, selbst bei metaphorischer Kontamination beider Reiche (3.2.2).
3.2.1 Lastertherapie und Komödienform Höchst ungewöhnlich in der Tradition des Geizmotivs in der Komödie, weist Masen Habsucht und Geiz5 dem jungen Protagonisten zu, während dessen Vater freigebig und überhaupt ein Muster an (christlicher) Tugend ist. Im Vergleich mit der Aulularia mag dieser Rollentausch nicht sogleich auffallen, da Euclio keinen Sohn hat und seine Tochter nicht auftritt; deutlich – und wirkungsvoll für die europäische Komödie der frühen Neuzeit – ausgeprägt ist der Generationenkonflikt zwischen geizigem Vater und ausgabefreudigem Sohn jedoch in Plautus’ Mostellaria (Theopropides vs. Philolaches) und Terenz’ Phormio (Demipho u. Chremes vs. Antipho u. Phaedria).6 Er liegt denn auch einer stattlichen Reihe von italienischen, französischen und deutschen Geizkomödien des 16. und 17. Jahrhunderts zugrunde, von Lorenzino de Struktur her also nichts entgegen, im Gegenteil. Ein weiteres Gelddrama aus Jesuitenfeder ist Jakob Gretsers Timon Comoedia von 1584. Das Stück liegt nur handschriftlich vor, vgl. die Besprechungen von Dürrwächter: Gretser, S. 16–28, und Hertel: Die Allegorie von Reichtum und Armut, S. 72–79. Es ‚dramatisiert‘ den Lukians Dialogen entnommenen Stoff vom reichen Mann, der mit seiner unüberlegten Freigebigkeit falsche Freunde anzieht, die ihn verlassen, als er ins Unglück stürzt, und der, durch einen Schatzfund wieder reich geworden, von seiner inzwischen angenommenen Menschenfeindschaft nicht mehr lassen will. Träger der Handlung sind ganz überwiegend Götter (darunter Plutus) und allegorische Figuren (z. B. Paupertas). Dramengeschichtlich ist es deshalb dem Typus der Moralität zuzurechnen – ein weiterer Grund, es von der Behandlung auszuschließen. Comoedia weist, typisch für den Gebrauch des Begriffs im 16. Jahrhundert (vgl. Catholy: Das deutsche Lustspiel Bd. 1, S. 95; Rädle: Praemonitio ad Lectorem, S. 1164), hier weder auf einen guten Ausgang (der Timons Heilung vom Laster der Menschenfeindschaft erfordert hätte) noch auf komische Szenen. 5 Zur Terminologie: Masen selbst bezeichnet, in einer späteren Zusammenfassung von Petrarcas Geschichte, beide Laster (Raffgier und das Vermeiden jeder Ausgabe) einheitlich als „Geitz“ (Aurum sapientium [dt. Ausg.], S. 32). Soweit nicht eine Differenzierung erforderlich scheint, folge ich diesem Begriffsgebrauch, der übrigens einen weiteren Beleg darstellt für die oben behauptete Annäherung von avaritia und parsimonia in der sozialen, ethischen und komödienpoetischen Praxis. 6 Vgl. auch die Festschreibung dieser Konstellation in Opitz’ Stoffkatalog für die Komödie: „leichtfertigkeit der jugend / geitze des alters“ (Buch von der Deutschen Poeterey, S. 27).
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Medicis Aridosia (1536) und deren Nachahmung durch P. de Larivey (Les Esprits 1579) über Bidermanns Jacobus usuarius (s. u. S. 253ff.) bis zu Molières L’Avare (vgl. das folgende Kap. 3.3).7 Diese Konstellation umzukehren verleiht dem dargestellten Laster das Merkmal des Neuen, des Abfalls von der besseren Lebensweise der Väter. So argumentierten viele Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts – insbesondere geistliche –, als die außerordentliche Ausweitung der Geldwirtschaft Welt und Gott auseinanderzutreiben und die Welt vollends ihrem Reimwort Geld zu unterstellen schien.8 Die Figurenkonstellation seiner Komödie scheint Masen mithin als prinzipiellen Geldkritiker auszuweisen. Das Motiv des jungen Paares, das wegen des Widerstands eines geizigen Vaters nicht heiraten kann, entfällt schon deshalb, weil Liebesromanzen generell keinen Platz auf der Jesuitenbühne haben. In Konkurrenz stehen Geld und Geiz vielmehr zu einem gottgefälligen Leben und zur ewigen Seligkeit. Als ein fanatischer Anhänger Plutus’ zeigt sich, ganz seinem Namen Desiderius entsprechend, der Protagonist – den spärlichen Andeutungen über Stand und Beruf nach zu schließen: ein junger Kaufmann aus vornehmem Hause. Er preist die Macht, die das Geld seinem Besitzer verleihe: selbst Fürsten liebten es, sich mit Reichen zu umgeben – eine Anspielung möglicherweise auf die Unverzichtbarkeit kaufmännischer Geldgeber in der Politik (I,2). Metaphorisch (und später auch wörtlich) erhebt er den Reichtum gar zum Lebenselixier.9 Dagegen hatte die Kanonistik das Zinsnehmen mit dem von Aristoteles hergeleiteten Argument der Unfruchtbarkeit des Geldes verboten.10 Desiderius’ erraffter Besitz wird sogar als tot gekennzeichnet, denn er hat ihn vergraben, ja begraben, wie die ausgeprägte Grab- und Leichenmetaphorik11 bzw., als der Schatz entdeckt und gehoben wird, Auferstehungsmetaphorik12 unterstreicht. Im geistlichen Sinne dem Tode nahe ist aber auch Desiderius, wenn er nicht von seinem Geiz abläßt. Thesauriertes Geld ist totes Geld, und vergrabenes Geld bringt seinen Besitzer ins (geistliche) Grab. Ihn von seinem Geiz abzubringen, versucht Abundius, sein Vater, dessen ebenfalls sprechender Name mehr noch auf seine Tugenden als auf seinen 7 Vgl. Schoolfield: Masen’s Ollaria, S. 36; Görschen: Geizkomödie, S. 207–213. 8 Vgl. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 55. 9 Er nennt ihn „tot mihi bonorum fontem“ (S. 134) und sagt über ihn: „Vitam alit“
(S. 137). 10 Vgl. Martin Honecker: Geld – TRE 12, S. 276–298, hier S. 284. 11 Als ein Toter (mortuus) liegt der Schatz in seinem Grab („tumba“, sepulchrum,
S. 135). Als Desiderius sich zu einem neuen Versteck entschließt, nennt er ihn einen „cadaver“, der noch nicht vermodert sei (nondum putruit) (S. 138); wenig später gibt er seinem Diener die Anweisung „sepeliamus“ (S. 139). 12 „Agedum, mihi dextram commoda, ut hunc mortuum exsuscitemus denuo.“ (S. 154) [Los, gibt mir die rechte Hand, damit wir diesen Toten wieder auferwecken.]
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Besitz zu beziehen ist (I,3). Kurzerhand überreden läßt Desiderius sich jedoch nicht, und seine Argumente – daß weder Staat noch Handel ohne Geld bestehen können – möchte auch Masen nicht vom Tisch wischen. Gleich die erste, von den allegorischen Figuren Avaritia, Dolus und Plutus bestrittene Szene macht deutlich, daß Reichtum nicht an sich gut oder böse, sondern ein untilgbarer Faktor des Weltlebens sei. Die Botschaft des Stückes richtet sich an Geldgewohnte; es geht um den richtigen Umgang mit Geld, nicht um radikalen Verzicht darauf oder Totalenteignung – das zeigt die Szene II,4, wo Abundius seine anderen, von Desiderius’ Geiz in Armut und Hunger gestürzten Söhne anhält, den vermeintlich gefundenen Schatz dem Übeltäter nicht ganz zu entziehen, sondern mit ihm zu teilen. Diese grundsätzliche positive Haltung zu irdischem Besitz ist um so auffälliger, als Masens Quelle, Petrarca, das Geld nur ganz selten heilbringend angewandt sieht und deshalb empfiehlt, sich seiner zu enthalten.13 Den rechten Weg weist Desiderius selbst, wenn er mit der Wohltätigkeit des Geldes argumentiert und den Besitz verteidigt, weil er die notwendige Basis für liberalitas und beneficentia sei (S. 137). Noch befinden sich seine Rede und sein Tun aber in einem Widerspruch, denn vergrabenes Geld kann nicht wohltätig wirken. Masens Umkehrung des üblichen Vater-Sohn-Verhältnisses weist dem Einsichtsvollen eine Position zu, von der aus Abundius ‚eigentlich‘ ein Machtwort als paterfamilias sprechen könnte. Dies würde die weitere Handlung jedoch überflüssig machen und scheint auch hinsichtlich der angestrebten Wirkung auf das Publikum nicht opportun, denn die Väter der Gesellschaft Jesu wollten ihren Zuschauer genauso eine Erfahrung vermitteln wie Abundius seinem Sohn.14 Wenn Worte allein den Desiderius also nicht zu bekehren vermögen: was dann? Eine List wäre komödientechnisch erwünscht, mag Masen jedoch ethische Skrupel bereitet haben, präsentiert sich Dolus in der ersten Szene doch als Verbündeter der Avaritia. Also müssen Desiderius und sein Diener Strobilus (der Name des schatzräuberischen Dieners aus der Aulularia!) mit dem Intrigenspiel beginnen: Von Abundius’ Mahnung in erhöhte Sorge um den Schatz versetzt, beschließen sie, ihn an einem anderen Ort zu verstecken und den ursprünglichen vom Vater entdecken zu lassen, um den Schatz als gestohlen ausgeben zu können und dadurch den Streit um ihn zu ihren Gunsten zu beenden (I,4). Tatsächlich entdecken der Vater und die Brüder im zweiten Akt das geleerte Versteck. Desiderius’ Plan scheint damit 13 Vgl. Valentin: Le Théâtre des Jésuites, S. 819. 14 Das das Theater mit der Lebenspraxis konfrontiert und aus ihr lernen machen will
betont der Schluß des Prologs: „Haec acta quondam agere nunc rursum juverit, / Ut quisque ex auro mores formet aureos.“ (S. 132) [Dies, was einst sich ereignet hat (gespielt wurde), mag nun abermals zu spielen belieben, damit ein jeder aus dem Gold sich goldene Sitten schafft.]
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gelungen, doch bleibt ihm ein Stachel (II,5): ein Mißtrauen gegen Strobilus, der sich, von Abundius zur Rede gestellt, bereit erklärt hatte, den Vater seines Herrn zum Schatzversteck zu führen (II,3). Im Unterschied zu seinem Vater sollte sich Desiderius von Strobilus’ Spiel eigentlich nicht täuschen lassen, da er das doppelte Versteckspiel um den Schatz mit dem Diener selbst verabredet hat. Sein Mißtrauen ist jedoch ebenso groß – und irreführend – wie sein Geiz. Er mißtraut seinem eigenen Plan, wo ein anderer, und sei es auch sein engster Vertrauter, ihn auszuführen unternimmt. Deutlicher könnte die Vernichtung allen Vertrauens durch den Geiz nicht vorgeführt werden. Der Geizige kann niemandem trauen – das ist ein charakterologischer Gemeinplatz (der zumal in der Aulularia zu komischer Evidenz kommt), wenngleich mit theologischem Tiefgang, denn das mangelnde Vertrauen in die Mitmenschen repräsentiert die Unfähigkeit des Geizigen zum Vertrauen in und damit Glauben an Gott.15 Daß das Mißtrauen des Geizigen an seinem Verhalten gegenüber einer Dienerfigur vorgeführt wird, ist typisch für die Geizkomödie,16 nicht jedoch, daß die Dienerfigur vollständiger Mitwisser ihres Herrn und darin absolut treu (III,1) ist. Wenn Desiderius Strobilus mißtraut, wendet er sich deshalb gleichsam gegen sich selbst. Wichtiger noch als die theologische Implikation ist in unserem Fragezusammenhang die dramaturgische Konsequenz, die dieser Selbstwiderspruch zeitigt. Mit dem Mißtrauen gegen Strobilus kann Desiderius nicht leben. Er will ihn deshalb auf die Probe stellen und verkleidet sich dazu als jener andere Diener namens Messenio,17 mit dessen Hilfe Strobilus nach Abundius’ Befehl den Schatz ausgraben soll. Das bekommt ihm schlecht, denn Strobilus hat Messenio zum Opfer der in Szene I,4 mit Desiderius beschlossenen Schatz-Dissimulation erkoren. Als sich das Versteck erwartungsgemäß als leer erweist, verabreicht er ihm skrupellos eine Tracht Prügel, die Desiderius in einem höheren Sinn freilich zu Recht erhält (III,1). Diese Strafe bewirkt den ersten Schritt zur Besserung: Desiderius erkennt nicht nur die Treue seines Dieners, sondern auch deren Wert (S. 148) – einen Wert, der sich nicht den Schätzen subsumieren läßt, die beide hüten. Die von der Sorge um den Schatz diktierten Manöver, um Vater und Brüder zu täuschen, haben indessen noch kein Ende: Als Desiderius verreisen muß, bringt Strobilus den Schatz wieder in das ursprüngliche Versteck, da ihn dort niemand vermuten werde (III,2). Auch diese erneute Steigerung des Truges, der sich freilich im Kreise 15 Vgl. Hebr 13,5: „Der wandel sey ohn geitz / vnd lasset euch benügen an dem das da
ist / Denn er hat gesagt / Ich will dich nicht verlassen noch verseumen.“ 16 Vgl. in der Aulularia den ersten Akt zwischen Euclio und Staphyla oder im L’Avare
die Szene I,3 zwischen Harpagon und La Flèche. 17 Auch dieser Name entstammt einer Plautus-Komödie, den Menaechmi.
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dreht, vermag das seiner Bestimmung vorenthaltene Gut jedoch nicht zu sichern. Geführt von einem Hund, spürt der älteste Bruder Otto es auf (IV,2). Erst jetzt setzt eine Gegenintrige ein, die sich nicht aufs argumentative Überzeugen beschränkt, sondern sich der Täuschung bedient, wenngleich einer „honesta fraus“ (Prolog). Denn es gilt, nicht nur Desiderius’ Besitz, sondern auch seine Seele auf den rechten Weg zu bringen. Vor allem Abundius ist darum vom Anfang bis zum Ende des Stückes bemüht; er hat die Rolle des fürsorglichen Vaters, der sich über keinen Tugendhaften so sehr wie über die Rückkehr des verlorenen Sohnes freuen kann (auf dieses Gleichnis [Lk 15,11–32] wird wiederholt angespielt). Eine Einschränkung muß hier allerdings insofern gemacht werden, als die Gespenstererscheinungen, die Otto und die übrigen Brüder nun inszenieren, weniger als Schreckenserlebnisse mit Läuterungseffekt intendiert sind, als die Wegnahme des Goldes vertuschen sollen (IV,3).18 Sie erzielen aber diesen Effekt, insbesondere bei Strobilus: aufs äußerste erschüttert, erkennt er seinen und Desiderius’ Fehler (IV,4). Desiderius, der in heftigste Wut gerät und fast den Tod eines Bruders verschuldet, weil er nach dem vermeintlichen Gespenst sticht (V,3), erhält ebenfalls einen gewissen Konversionsschub. Beider Bekehrung folgt demnach relativ konsequent aus den in Handlung umgesetzten Implikationen ihres Lasters. Der Bau der Ollaria entspricht damit außergewöhnlich exakt dem auf die – vielleicht sollte man vorsichtiger sagen: dem auf eine – typische Handlungsstruktur der Komödie ausgerichteten Gattungsmodell, das Ralf Simon jüngst vorgeschlagen hat, denn Masen „bringt den Konfliktverursacher durch eine Spiel-im-Spiel-Enklave in die Situation, seine eigenen Defizite beobachten und korrigieren zu sollen“.19 Zum guten Schluß bedarf es nur noch eines weiteren Gesprächs zwischen Vater und Sohn, der zwar noch einmal die Unverzichtbarkeit des Geldes beschwört, um sich diesmal aber überzeugen zu lassen, daß thesauriertes Gold denselben Nutzen bringt wie gar keines, ja mit dem Nachteil belastet ist, daß es eine ständige Sorge erregt (V,5). Das entscheidende Argument ist dabei kein theologisches: Einsicht zeigt Desiderius erst, als Abundius ihm den Vorteil darlegt, daß sein Schatz jetzt zu des ganzen Hauses und damit auch zu seinem Nutzen verwandt wird, anstatt in naher oder ferner Zukunft von Fremden geraubt zu werden (S. 166). Prämisse ist hier natürlich die grundsätzliche Unhaltbarkeit irdischer Güter – „lubrica res 18 Möglicherweise orientiert sich die Motivierung auf der Figurenebene hier zu eng an
der Funktion des Gespenstermotivs in Plautus’ Mostellaria, wo eine Spukerzählung dazu dient, den plötzlich zurückgekehrten Vater vom Betreten seines Hauses abzuhalten und die Entdeckung der während seiner Abwesenheit eingerissenen Liederlichkeit zu verhindern (II,1/2). 19 Ralf Simon: Theorie der Komödie. – In: Theorie der Komödie, S. 47–66, hier S. 51.
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pecunia est“ (S. 136) –, und auch das Argument, daß Diebe nachgraben und das Gehortete stehlen werden, kennt bereits die Bibel (Mt 6,19). Doch beides leuchtet Desiderius nur ein, weil er die Unsicherheit auch des raffiniertesten Verstecks soeben schmerzhaft erfahren hat.20 Genau genommen erlangt die komödische Fabel während des Schlußgesprächs also sogar den Primat über das religiöse Gebot. An den Verhältnissen der Barockdramatik und überhaupt der Komödie gemessen, ist Masens Handlung demnach recht geschlossen; sie kann auf ‚zufällige‘, d. h. aus dem Vorhergehenden nicht motivierte Bekehrungsanlässe verzichten. Augenfällig wird das zumal im Vergleich mit dem Jacobus usurarius Jacob Bidermanns. Dort wird der Geizige in einem Versteck, in das er vor Räubern flieht, mit einem stinkenden Leichnam konfrontiert, der ihm den Hunger auf irdische Güter (vorübergehend) austreibt (I,7/8). Und als sich die Wirkung dieser Erfahrung von Todesnähe als nicht dauerhaft erweist, treten der Schutzengel des Jacobus, Engelschöre und schließlich die Seligste Jungfrau selbst auf, um den Sünder zur Reue zu bewegen und seine Seele zu retten (III,1; IV,7; V,2/3, 6, 11/12). Moralisch integre menschliche Gegenspieler haben die Lasterhaften hier nicht. Der Komödientradition entsprechend, steht dem geizigen Alten vielmehr ein verschwenderischer Sohn gegenüber. Diese bipolare Konstellation – von einem Konflikt zwischen Vater und Sohn zu sprechen, ginge dramaturgisch schon zu weit – hat auf das Drama um des Wucherers Seelenheil jedoch nur sehr indirekten Einfluß: Weil Jacobus so knauserig ist, sieht sich der Sohn gezwungen, zu kriminellen Mitteln zu greifen, um an die Mittel des Vaters zu gelangen. Sein Diener dingt die Räuber, vor denen Jacobus in das Versteck flieht, in dem er sein erstes Bekehrungserlebnis hat. Allgemeiner formuliert, operiert Bidermann mit Figuren „ohne personenhafte Motive [...]: sie handeln nicht aufgrund einer echten Umweltsituation, die erste Ursache ihres Handelns ist Gott“.21 Der Ungehorsam des Sohnes hat wie seine spätere Versöhnung mit dem Vater lediglich die Funktion, Jacobus’ Verhalten seinem himmlischen Vater gegenüber zu spiegeln bzw. zu präfigurieren. Vor allem aber wird der Geiz des Wucherers nicht in einer aus ihm selbst geborenen, innerweltlichen Handlung überwunden. Diesen Erfolg haben allein die direkten Anrufe aus dem Jenseits, die eine immanente Motivierung weder erlauben noch benötigen.
20 Abstrakt formuliert, hat dieses Argument Desiderius nie beeindruckt (vgl. S. 136,
164). – Hinsichtlich der nicht unerheblichen Frage, was den Geizigen schließlich überzeugen konnte, wendet sich dies gegen Schoolfields (nicht am Text belegte) Ansicht, „Abundius persuades his son [...] to accept the only security there is: that of faith in the loving kindness of the father in heaven“ (Masen’s Ollaria, S. 63). 21 Vgl. Lenhard: Religiöse Weltanschauung, S. 107, ähnlich ebd., S. 238f.
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Masen und Bidermann setzen das ethische und theologische Problem des rechten Umgangs mit Geld und Gut demnach in sehr unterschiedlichem Maße in eine dramatische Handlung um. Strenge Handlungskonsequenz aristotelischen Typs lag dem deutschen Barockdrama generell fern; im Jesuitentheater geriet sie zudem in einen Dauerkonflikt mit einer auf die angestrebte missionarische Wirkung sowie die gleichnishafte Typik isolierter menschlicher Grundsituationen ausgerichteten Dramaturgie, die auf Kontrastwirkungen, figurative Spiegelungen, metaphysisch, nicht aber psychologisch motivierte Steigerungen u. ä. setzte.22 Im einzelnen lassen sich gleichwohl erhebliche Unterschiede beobachten, die wichtig sind für die in Kap. 1.2 entworfene Verknüpfung zwischen der Geldwirtschaft und der Gattung Komödie. Bidermanns Zentralfigur ist nur am Rande Ziel und, anders als Masens Desiderius, gar nicht Anstifter einer Intrige; die Szenen, in denen Jacobus auftritt, führen entweder seine Hartherzigkeit dem Sohn wie den Armen gegenüber vor oder fordern sein Gewissen und seine Reue heraus. Eine Handlung um das Geld, das der unbarmherzige Wucherer zusammengerafft hat, gibt es nur ansatzweise: Nach Plautinischem Vorbild23 beobachtet zwar der Diener Sagario seinen Herrn und faßt auch den Plan, den Alten zu berauben (I,2), doch was in der Aulularia den Angelpunkt der Handlung bildete, motiviert bei Bidermann lediglich das Geschehen des ersten Aktes. Für den Fort- und Ausgang des Dramas spielt das Schicksal dieses Schatzes ebensowenig eine Rolle wie die ausgedehnte komische Parallelhandlung um die bescheideneren Erddepositen eines (tatsächlich, nicht bloß geistlich) Blinden, denen Sagario (wiederum vergeblich) nachjagt (II,4/5; III,4/5. 7; IV,1/2. 5). Die Handlung der Ollaria entwickelt sich dagegen konsequent aus dem Laster des Protagonisten. Vollends als regelgerechte „fabula implexa“ präsentiert sie sich, wenn Desiderius sich in seiner eigenen Intrige verfängt, wenn also das Ende des Dramas sich folgerichtig aus seiner Ausgangssituation herleitet.24 Masens Komödie stellt ihre Zentralfigur noch in einen Konflikt mit Gott, doch löst sie ihn bereits innerweltlich. Seiner Forderung nach doppelter, d. h. sowohl historisch-psychologischer wie metaphorischer oder allegorischer Wahrscheinlichkeit entsprechend,25 bietet Masen ein Drama einerseits im 22 Vgl. Valentin: Episches und Dramatisches im Jesuitentheater, S. 240; in seiner Unter-
suchung zur Handlungsstruktur der deutschen Barockkomödie analysiert Hans Emmerling u. a. Bidermanns Cosmarchia (S. 40–78) und kommt in vielen Punkten zu ähnlichen Ergebnissen wie der Verf. in bezug auf den Jacobus usurarius. 23 Vgl. Aulularia IV,2. 24 Den Begriff der „fabula implexa“ entnimmt Harald Burger Masens Palæstra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica Bd. 3, S. 16; vgl. Masens ‚Rusticus imperans‘, S. 38f., wo Burger diese Poetik mit Blick auf den Rusticus imperans beschreibt. 25 Vgl. Masen: Palæstra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica Bd. 3, S. 14.
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vollen Wortsinn, andererseits mit parabolischen Implikationen: Wenn etwa Desiderius auf Leben und Tod um seinen Besitz zu kämpfen meint (V,3), geht es in einem anderen, geistlichen Sinne um sein (ewiges) Leben. Im Jacobus usurarius treten die allegorisch angespielten Sphären von Laster und Seelenheil dagegen selbst in Erscheinung: durch ein zahlreiches Personal aus Himmel und Hölle und darüber hinaus durch eine ganze Reihe von allegorischen Figuren: Avaritia und Usura einerseits, Temulentia, Crapula und Licentia andererseits (I,6 u.ö.) sowie Suspicio und Astutia (III,5), zum guten Ende auch die Liberalitas (V,4). Die allegorische Ausrichtung der Barockdramatik im allgemeinen und des Jesuitentheaters im besonderen hat hier unmittelbare dramaturgische Konsequenzen. In Masens Ollaria dagegen treten, womöglich nach Plautinischem Vorbild, nur in der Eingangsszene allegorische Figuren auf.26
3.2.2 Zwischen heilsamer Ökonomie und Heilsökonomie Die dramaturgische Strukturdifferenz zwischen dem Jacobus usurarius und der Ollaria aber hängt, so die im folgenden zu entwickelnde These, eng mit der jeweiligen Einschätzung des Geldes zusammen. Der dramatischen Konsequenz, dem Gang der Handlung, widmet Bidermann ebenso deutlich weniger Aufmerksamkeit als Masen wie dem Lauf des Geldes in der Welt. Geld spielt im Jacobus usurarius die Rolle eines Gegenstands lasterhaften Verhaltens: am Geld hängen Habsucht, Wucher, Geiz, Mißtrauen bzw., als andere, vom Sohn Morellus vertretene Extreme, Verschwendung, Zügellosigkeit und Verbrechen. Die geistlich einzig rettende Konsequenz daraus sei, Geld und Gut zu entsagen: „oportebit omnibus te bonis abdicare“, weiß selbst die Usura (S. 156). Masen dagegen stellt dem Laster des Geizes nicht das andere Laster der Verschwendung gegenüber, sondern die Tugend der Freigebigkeit. Hier geht es um den rechten, d. h. prinzipiell den gottgefälligen, praktisch aber auch den an weltlichen Interessen orientierten Einsatz von Geld. Weltliche Geld- und transzendente Gnadensphäre werden nicht als kontradiktorisch, sondern als positiv wie negativ miteinander vermittelt dargestellt. Auffällig ist, daß die geldethische Aufwertung des Weltlichen begleitet ist von einem erheblichen Relevanzgewinn der Immanenz für das dramatische Resultat. Desiderius und Strobilus fangen sich in den Schlingen ihres Lasters, ohne daß es eines Eingriffes von oben bedürfte. Anders als bei Bidermann 26 Vgl. den von Inopia und Luxuria bestrittenen Prolog des Trinummus. Dieser Einsatz
allegorischer Figuren entspricht der barocken Norm, vgl. Harsdörffer: Poetischer Trichter, Zweyter Theil, S. 96 (§ 4).
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erhält das Ergebnis der Ollaria Plausibilität nicht allein durch seine theologische Korrektheit; mindestens dieselbe Bedeutung hat der Fortgang der dargestellten Handlung. Geld als Problem erhält hier eine Lösung schon durch die dramatische Form der Komödien. ‚Geld und Komödie‘ werden in Masens Ollaria nicht bloß addiert, sondern durchdringen sich gewissermaßen. ‚Komödie‘ ist hier nicht nur ein neutrales Gefäß, in das sich jegliche Ansichten über das Geld und den Umgang mit ihm unterschieds- und widerstandslos füllen ließen, sondern Präjudiz für eine zumindest teilweise innerweltliche, weil immanent dramatische Betrachtung desselben. Umgekehrt enthält auch die episodisch-tektonische Struktur des Bidermannschen Stücks bereits eine geldbezogene Aussage: Geld interessiert nicht in den Verläufen, die es nimmt, sondern allein als Hindernis auf dem Weg zur ewigen Seligkeit. Marienverehrung ist es, auf die der Jacobus usurarius hinausläuft, denn die Lehre des Stückes lautet, daß kein Schützling der himmlischen Jungfrau untergehen könne.27 Zugespitzt läßt sich dieser Gegensatz in die geometrischen Begriffe fassen, die zu Beginn dieser Kapitelgruppe exponiert wurden. Denn in Masens Komödie deutet sich die Kreisstruktur jener Bewegung, die dem Geld und der Komödienhandlung idealtypisch gemeinsam ist, immerhin an: zum einen in der Annahme, daß allein ausgegebenes Geld seinem Besitzer zugute kommt, zum anderen in der Täuschung, die hier auf denjenigen zurückfällt, der sie ins Werk gesetzt hat. Bidermanns Stück dagegen zieht eine möglichst gerade Linie von der verderbten Welt hinauf in den Himmel, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen verweist seine Ridikülisierungstechnik auf einen festen Augenpunkt im Jenseits. Denn verlacht zu werden heilt seinen Lasterhaften nicht in der Weise, daß er in die Gesellschaft, die ihn verlachend gestraft hat, wieder eintreten könnte (so Masens dramaturgisches Verfahren28 ebenso wie die Theorie des Lächerlichen in der französischen Klassik29). Komisch im Sinne von verlachenswert sind die Sünder auf Bidermanns Bühne schon aus den alles entscheidenden religiösen Gründen.30 Es ist ihre geistliche Blindheit, ihre Täuschung über die wahren Werte des Lebens, welche die Figuren des Jacobus usurarius komisch macht, auch wenn sie nicht – wie Sagario – komische Figuren im engeren Sinn sind. Als ‚theologisches‘ Verlachen ist bei Bidermann sogar das Lachen ein Akt der Weltverachtung. 27 Vgl. den Schlußsatz des Argumentums (S. 91): „ac defenso cultore suo, palam fecit,
nullum Virginis tantae clientem perire posse“. 28 Vgl. Valentin: Le Théâtre des Jésuites, S. 820f. über Masens Desiderius. 29 Vgl. A. Hügli: Das Lächerliche – HWPh 5, Sp. 1–8, hier Sp. 2f. 30 Vgl. Salomos Sprichwörter (1,26): „Lachen will ich auch in eurem Unfall“ (spricht die
göttliche Weisheit). Die Präsenz dieses Bibelverses im frühneuzeitlichen Bewußtsein belegt das gleichlautende Lemma in Zedlers Universal-Lexikon (Bd. 16, 1737, Sp. 113).
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Zum anderen ist selbst das Ökonomische nicht als innerweltlicher Kreislauf modelliert, sondern ‚vertikal‘ auf den Himmel ausgerichtet. In einem durchaus ernsthaften Sprachspiel, in Anwendung kaufmännischer Metaphern nämlich, entwirft Bidermann gewissermaßen eine Heilsökonomie. Das himmlische Gericht erscheint im Jacobus usurarius als Zahltag, als endgültige Revision des Lebensgeschäfts, als Offenlegung der Bücher, deren Saldo nun aus der Summe von Soll und Haben, Sünden und guten Werken errechnet wird. „Redde rationem filio meo“, ruft die Jungfrau Maria dem Wucherer zu, als dessen Leben zu Ende geht (S. 164), „Redde rationem“. Der Prolog führt diese Metaphorik konsequent durch: Appetebat novissimè mors; & cum morte, ultimum Supremi Judicis tribunal. Hîc putatis rationibus, cùm Jacobi bene maléque facta facinora inter se conferrentur; & verò gravitate multitudinéque haec illa vincerent: adjecit opportunè Beatissima V[irgo] Coronarias preces, quas ipsi Jacobus quotidie persolverat.31
Im Himmel wird demnach Buch geführt über Leben, Glauben und Wandel eines jeden Menschen, und zwar akkurat getrennt nach Soll und Haben, so wie es sich für die doppelte Buchführung gehört, die seit dem frühen 16. Jahrhundert in den großen deutschen Handelshäusern üblich war.32 Ausgebreitet hatte sich diese Metaphorik bereits in den Moralitäten des 16. Jahrhunderts, die im Schlußakt eine Gerichtsszene zeigen, in welcher sich der reiche Mann vor seinem Richter verantworten muß. Am weitesten führt der Mercator des Thomas Naogeorgus (1540) sie aus (V,3); zudem verbindet er sie konfessionspolemisch mit den ‚heilsökonomischen‘ Komplexen des Ablaßkaufs (Vv. 2745–69), der liederlichen Wirtschaft der katholischen Geistlichkeit (Vv. 2939–41) sowie mönchischer Frömmigkeit (Vv. 2979ff.). Entscheidend ist hier der in kaufmännischen Begriffen formulierte Grundgedanke des Protestantismus, daß der notwendig sündige Mensch sein Schuldkonto nie durch Frömmigkeit und gute Werke ausgleichen kann. Selbst den bis unmittelbar vor seinem Tod skrupellosen Kaufmann rettet jedoch der Glaube an Jesus Christus, der mit seinem Opfertod für alle Sünden der Menschen bezahlt habe: „reus pro debitis / Unius Christi nititur fiducia, / Quod scilicet illa suo solverit sanguine“.33 Auch Jacobus’ lasterhaftes Leben, sein 31 Bidermann: Ludi theatrales Bd. 2, S. 92 (Hervorh. D. F.) [Zuletzt kam der Tod heran
und mit dem Tod das letzte Gericht des Höchsten Richters. Hier wurden die Rechnungen beglichen; als Jakobs gute und schlechte Taten miteinander verglichen wurden und die schlechter durch ihr Gewicht und ihre Menge die guten überwogen, legte die Seligste Jungfrau zu seinem Vorteil die (Rosen-)Kranzbitten hinzu, die Jakob ihr täglich ausbezahlt hatte.] 32 Vgl. Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital, S. 61. 33 Vv. 3096–3116, Zitat Vv. 3136–38; wie man sieht, erhält hier auch die Geld-BlutMetapher eine originelle Wendung. In der deutschen Übersetzung von 1595 tritt die ökonomische Metaphorik stellenweise sogar noch deutlicher hervor, weil sie im
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Wuchergeschäft über 30 Jahre (S. 155), wird durch die Reue, die ihn angesichts seines nahen Todes befällt (S. 165), und den Versuch, seine Sünden an den Armen wiedergutzumachen (S. 169), in keiner Weise aufgewogen. Im Kampf um des Wucherers Seele triumphiert vielmehr das Gefolge des Teufels bis zur letzten Szene. Seine Rettung verdankt Jacobus allein der Fürsprache der Jungfrau Maria (S. 183). Wie diese zu erlangen ist, aber beschreibt Bidermann ebenfalls in ökonomischen Begriffen. Der Himmel hat danach die Funktion einer Sparkasse, in die Glaubenskapital eingezahlt werden kann. Maria als oberste Fürsprecherin verwaltet diese Konten. Bei genauerer Betrachtung scheinen sie sogar Zinsen abzuwerfen, denn eingezahlt (persolver[e]; an einer anderen Stelle heißt es, gleichbedeutend, pernumerare) hat Jacobus lediglich die geringe Menge eines täglichen Rosenkranzgebetes. Daß zwischen dem Gebet des Sünders und der Fürbitte der Muttergottes erstaunliche Wertzuwächse zu verzeichnen sind, hebt auch der Prolog hervor: „Et ecce tibi! tantum in ijs fuit momenti; ut repentè melior pars deteriorem longè superaret.“34 Selbst die abschließende Empfehlung des Schutzes, den die Jungfrau den Menschen zu gewähren vermag, bedient sich mehrdeutiger Vokabeln: „Ita [...] posteri omnes edocti, quantum praesidij mortalibus in una hac Virgine repositum esset“35, denn ‚repositum‘ hieße es auch bei Geldeinlagen: ‚pecuniam in thesauris reponere‘. Das Heilsfinanzierungsmodell, das Bidermann anbietet, entlastet letztlich von einer kaufmännischen Berechnung von Sünden und guten Werken. Zugrunde liegt zwar kein prinzipieller Angriff auf die Werkgerechtigkeit, wie er in protestantischen Moralitäten des 16. Jahrhunderts mit Hilfe derselben Metaphorik vorgetragen wurde.36 Denn anders als Christi Blutopfer, das nach protestantischem Verständnis den Gläubigen immer schon entschuldet hat, macht das bei Maria angesparte Heilsguthaben die himmlische Kontoführung und Abrechung nicht überflüssig. Beide Modelle kommen jedoch in der Paradoxie überein, daß sie, indem sie sich finanztechnischer Metaphorik bedienen, sich von buchhalterisch-‚irdischen‘ Berechnungsmodi distanzieren, denn nach den Verzinsungssätzen, die für diesseitige Formen der LebensversicheLateinischen mehrdeutige Vokabeln (z. B. solvere) vereindeutigt (in diesem Fall zu ‚zahlen‘); vgl. Wiemken (Hrsg.): Vom Sterben des reichen Mannes, S. 388–413 (der Übersetzung liegt die vom hier benutzten lateinischen Text abweichende Fassung von 1590 zugrunde). 34 Bidermann: Ludi theatrales Bd. 2, S. 92 [Und sieh nur! Soviel Gewicht/Wert lag in ihnen, daß plötzlich der bessere Teil den schlechteren bei weitem überwog.] 35 Ebd. [So wurden alle Späteren belehrt, wieviel Schutz/Hilfe für die Sterblichen bei dieser einzigen Jungfrau liegt.] 36 Vgl. die vorstehenden Bemerkungen zu Naogeorgus’ Mercator sowie Hans Sachs: Comedi vom reichen sterbenden Menschen, der Hecastus genannt, 1549 – Wiemken (Hrsg.) Vom Sterben des reichen Mannes, S. 163–218, hier S. 210.
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rung gelten, hätte Jacobus keinen Anspruch auf den Dienst, den Maria ihm leistet. Nun waren Lebensversicherungen der Frühen Neuzeit allenfalls auf Leibrentenbasis bekannt, während eine moderne, d. h. auf versicherungsmathematischer Grundlage aufgebaute Lebensversicherung erst 1762 in London eröffnet wurde. In jedem Fall aber hängt und hing die Auszahlungssumme direkt von den, individuell oder kollektiv, eingezahlten Versicherungsprämien bzw. den durch Kauf erworbenen Rentenansprüchen ab; waren frühneuzeitliche Versichungsformen rechnerisch nicht exakt, so belastete das den Versicherungsnehmer sogar mit überhöhten Prämien.37 Der LebensSchutz, den Maria gewährt, bedarf dagegen keiner Deckung, jedenfalls keiner weltlichen. Denn die Seligste Jungfrau ist selbst das unendliche Vermögen, an dem man schon durch kleinste Einzahlungen große Anteile erwerben kann: „Aurea mater!“, ruft ein Engel als letzte Worte des Dramas aus (S. 186). An diesem entscheidenden Punkt verbindet die monetäre Metaphorik Welt und Ewigkeit nicht miteinander, sondern demonstriert deren radikale Differenz. Außerdem rettet Maria den Sünder nicht für die Welt, sondern für das ewige Leben: dem leiblichen Tod entgeht Jacobus nicht. Bidermanns ökonomische Metaphorik für Angelegenheiten des Seelenheils führt nicht zum Aufweis eines rechten, gottgefälligen Lebens auch in den Geschäften dieser Welt, im Gegenteil: Der Weg vom Bildspender zum -empfänger führt linear und einsinnig von den hiesigen zu den letzten Dingen. Sicherlich, sub specie aeternitatis betrachtet auch Masens Sprachrohr Abundius die Welt. Obwohl er den geizigen Sohn nur mit einem ‚innerweltlichen‘ Argument überzeugen konnte, beschwören seine Schlußworte noch einmal bergpredigtgerecht die Fürsorge des göttlichen Vaters, welcher der Mensch sich anvertrauen könne und müsse (S. 166). Doch zeigt er sich nur bei seinem ersten Auftritt als Anhänger längstvergangener aurea saecula sine auro und damit als prinzipieller Verächter von Geld und Reichtümern (S. 136). Daß er Desiderius allein intrigenweise kurieren kann, läßt auch seine Position nicht unberührt. Weiterhin seine Geschäfte zu betreiben und Gewinn zu machen, gesteht er dem Sohn am Ende ausdrücklich zu, nur dürfe er nicht vergessen, die Armen an selbigem teilhaben zu lassen: „Nunc age, / Et siquid deinde lucri feceris, ne pauperi neges.“ (S. 166) Mit Schätzen im Himmel (Mt 6,20) wirbt er an dieser Stelle nicht mehr. Die Vermutung, daß ihn der Pragmatismuszwang der dramatischen Handlung dorthin geführt hat, unterstützt der haarfeine, aber entscheidende Argumentionswechsel zum Epilog hin. Denn dort scheint wieder der Theologe, nicht mehr der Dramatiker zu sprechen, wenn Abundius wieder auf den Gewinn abhebt, den Mildtätigkeit 37 Vgl. Art. Lebensversicherung; Tontine. – In: Der große Brockhaus Bd. 11, S. 212;
Bd. 18, S. 754f.
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im Himmel trägt: Wer seinen Überfluß „in pauperum [...] sinum defodit“ – also, ein weiteres Wortspiel, nicht tatsächlich vergräbt –, der wird nach seiner Verheißung „des Gewinnes voll und des Zinses, der im Himmel gutgeschrieben werden muß“ („plenus lucri atque in coelo reponendi fenoris“, S. 167). Wie Bidermann bedient sich demnach auch Masen merkantiler und monetärer Metaphorik, um den menschlichen ‚Geiz‘ (in seiner Grundbedeutung als Streben) auf den „thesaurum [...] virtutis“ (S. 164) zu lenken. In der Ollaria wirkt sie jedoch als Verknüpfung der beiden Reiche: die Gesetze des wirtschaftlichen Lebens gelten auch für das himmlische; außerordentliche Heilsausschüttungen als unverhoffte Folge minimaler Gebetseinzahlungen werden nicht in Aussicht gestellt. Masens Heilsökonomik arbeitet sehr viel rechnerischer und damit auch ‚weltlicher‘ als die Bidermanns. Rosenkränze genügen nicht; das, was zählt, ist eine Barmherzigkeit, die sich in Heller und Pfennig nachrechnen ließe. Sie aber setzt die Fortsetzung von Desiderius’ (nicht näher spezifizierten) Geschäften ausdrücklich voraus. Das generelle Mißtrauen gegen einen als habsüchtig und betrügerisch verdächtigten Handel und mehr noch gegen die Geldwirtschaft, wie es zwei Jahrzehnte später noch im Juden von Venetien zum Ausdruck kommt,38 pflegt Masen nicht. Obwohl dezidiert geistlicher Autor, blickt er nicht allein aufs Jenseits, sondern will auch dem Diesseitigen genügen. Unfruchtbar ist nur das Geld, das vergraben wird und deshalb, als ein „cadaver inutile“ (S. 158), keinen Nutzen trägt. Welche soziale Reichweite aber ist dieser Komödien-Lehre zugedacht? Für sie ebenso wie für ihre wirtschaftsgeschichtliche Stellung ist der häusliche Rahmen, innerhalb dessen sich der Konflikt um die rechte Verwendung von Geld und Besitz abspielt, von besonderer Bedeutung. Denn wie in der aristotelisch geprägten frühneuzeitlichen Staatsliteratur der Staat häufig mit einem Hauswesen und der Regent mit einem „Christlich verständigen Haußvatter“ verglichen wird,39 so vertritt Abundius’ Haus das Gemeinwesen überhaupt. Desiderius setzt dieses Vertretungsverhältnis voraus, wenn er als Rechtfertigung seiner Geldliebe dem Vater entgegenhält: „Anima Reipublicae / Et sanguis, & nervi pecunia est“ (S. 137). Der Mahnung des Bibelwortes „Der Geitzige verstöret sein eigen Haus“ (Spr 15,27) folgend, geht es Masen nicht allein um das Seelenheil des Geizigen, sondern auch um die Folgen von Geiz und Thesaurierung für dessen Mitmenschen, das sind im Handlungs38 Zur Tradition theologischen und insbesondere lutherisch-protestantischen Mißtrauens
gegen den Handel vgl. Rieth: „Habsucht“ bei Martin Luther, S. 198–213. 39 Friedtlieb: Prudentia politica Christiana, S. 423f.; vgl. Stolleis: Pecunia nervus rerum,
S. 73, 95. Eigentlich Aristotelisch ist diese Parallelisierung allerdings nicht, denn Aristoteles unterscheidet zwischen der häuslichen „Monarchie“ eines Herren über Minderberechtigte und der „politischen Herrschaft“ im Staat, die „über Freie und Gleiche ausgeübt werde“ (vgl. Politik Buch 1, S. 20 [1255b, 19]).
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horizont des Dramas Familienangehörige, Diener und die Armen im Umkreis, die zu versorgen die Aufgabe eines Reichen sei. Wie Schauplatz und Figurenreden andeuten, gilt die Pflicht, Geld und Besitz einer gottgefälligen Verwendung zuzuführen, aber auch für den staatlichen Bereich. Entgegen der zeitgenössischen Gattungspoetik thematisiert Masen nicht nur ein dem täglichen Leben niedriger bis mittlerer Schichten zugehöriges, häufig familiäres Problem,40 sondern den ‚nervus rerum‘ staatlicher Tätigkeit und überhaupt erst Konsolidierung (vgl. Kap. 2.1.1). Eine Bestätigung, daß das Stück auf eine Haushaltsführung großen Stils zielt, gibt – soweit man ihn rekonstruieren kann – der unmittelbare Anlaß seiner Entstehung. Masen vergißt nicht, die Arten gottgefälligen Geldgebrauchs beim Namen zu nennen: Mildtätigkeit den Armen gegenüber ist unverzichtbar (und wird im erst schlechten, dann guten Beispiel des Jacobus auch von Bidermann angemahnt; II,6; V,5). Doch er gönnt auch Abundius und seiner Familie einiges: neue Kleider, Tapeten bzw. Wandteppiche und sogar den Erwerb eines neuen, noch größeren und prächtigeren Hauses (IV,2). Besonders im letztgenannten Motiv hat Schoolfield, wohl zu Recht, eine aktuelle Anspielung gesehen, nämlich den Versuch, die kostspieligen Bauten des Jesuitenordens unter anderem in Köln (Kirche St. Mariä Himmelfahrt) gegen Vorbehalte einer wirtschaftlich zunehmend bedrängten Bürgerschaft zu verteidigen.41 Dafür, daß die dramatische Darstellung schlechten und rechten Finanzgebarens nicht zuletzt das ihrer Regisseure rechtfertigen sollte, spricht auch, daß Abundius nicht ein beliebiger Wohltäter der Armen und der ihm Anvertrauten, sondern zugleich ein geistlicher Führer ist. Er spielt also eine Rolle, die im ursprünglichen Rezeptionshorizont leicht auf die Jesuiten bezogen werden konnte. Gleichviel, ob diese Anspielungen pro domo immer und überall verstanden worden sind oder nicht: auf einem Abweg jesuitischer Geldlehre bewegte Masen sich auf keinen Fall, ist doch die Staatslehre eines Adam Contzen (wie Masen Schüler des Kölner Tricoronatums, später Professor der Bibelexegese in Mainz, 1624–35 Beichtvater Maximilians I. von Bayern) zu dieser Zeit schon aus dem Rahmen einer rein religiös und ethisch begründeten Pflichtenlehre herausgetreten, zuerst und vor allem im wirtschaftlich-monetären 40 Vgl. Willi Flemming: Einführung. – In: ders. (Hrsg.): Die deutsche Barockkomödie,
S. 5–58, hier S. 22 (mit Bezug auf die Poetiken von Masen, Harsdörffer und Rotth). Zum familiären Zuschnitt der Konflikte in den Komödienpoetiken der Jesuiten vgl. Valentin: Le Théâtre des Jésuites, S. 330. 41 Schoolfield: Masen’s Ollaria, S. 41–44. Schoolfield gründet diese These auf eine umsichtige Rekonstruktion der jesuitischen Finanzverhältnisse in der niederrheinischen Ordensprovinz sowie der Vorbehalte der Kölner Bürgerschaft gegen das offensive Auftreten der Jesuiten und kann zudem auf Masens Bindung an das Kölner Dreikönigsgymnasium, wo die Ollaria 1647 wahrscheinlich aufgeführt wurde, verweisen.
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Bereich.42 Der oben aufgezeigten Divergenz fiskalischer und ökonomischer Interessen entsprechend, konnte Masens Thesaurierungsverbot den Nerv der Zeit allerdings nur teilweise treffen. Denn auf dem Weg zum modernen Militär- und Verwaltungsstaat zeigten die fürstlichen ‚Hausväter‘ des Reiches seit etwa 1600 ein erheblich verstärktes Bedürfnis nach Geld, das zunächst einmal gehortet wurde (wenn es nicht zur Tilgung aufgelaufener Schulden dienen mußte), besonders um für den Kriegsfall gerüstet zu sein.43 Als „nervus rerum“ wird bis weit ins 17. Jahrhundert der Staatsschatz, das Aerarium, bezeichnet, nicht das in Handel, Handwerk und ‚Industrie‘ umlaufende Geld.44 Fürstliches Wirtschaften zielte daher zumeist auf direkte Einnahmensteigerung, nicht auf Investitionen zur allgemeinen Hebung der Landeswirtschaft.45 Die Nützlichkeit von Investionsausgaben zwar nicht vergessend, betrachtete selbst Contzens frühkameralistische Wirtschaftslehre das Geldwesen aus dem Blickwinkel der fürstlichen Schatzbildung, ganz im Einklang mit dem stärker individualethischen Ansatz der Protestanten Obrecht, Bornitz, Klock oder Bezold.46 Masens Imperativ der Geldbewegung dagegen unterwarf sich nicht dem zeitgenössischen fiskalischen Interesse und entzog sich jener Zentralisierung. Nimmt die Komödie dieses jesuitischen Schulmannes also ‚merkantilistisches‘ Umlaufsdenken vorweg? Nein, wenn man die Ebene der ökonomischen Vorstellungen nimmt, die in seinem Drama zur Sprache kommen. Lediglich ein Detail, aber doch bezeichnend ist, daß die Ausgaben, die Abundius mit dem aufgefundenen Schatz tätigt, kaum Investitionen zu nennen sind und er mit dem Kauf neuer Kleider einer stereotypen Mahnung der Merkantilisten47 ganz unbekümmert zuwiderhandelt. Hinzu kommen zwei strukturelle Differenzen: Zum ersten gehorcht die im Epilog verheißene Heilsökonomie noch dem christlichen Prinzip eines qualitativen Wechsels zwischen himmlischen und irdischen Gütern, nicht schon dem Gedanken einer quantitativen Steigerung letzterer. Zum zweiten scheint die Verbindung der Blut- mit der Nervenmetapher für das Geld darauf hinzuweisen, daß die erste keine Kreis-
42 Vgl. Seils: Die Staatslehre Adam Contzens, S. 210f. Zur methodischen Rationalität der
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Jesuiten und der Wirtschaftsfreundlichkeit ihrer kasuistischen Ethik vgl. Reinhard: Historiker, ‚Modernisierung‘ und Modernisierung, S. 64f. Vgl. Kellenbenz: Deutsche Wirtschaftsgeschichte Bd. 1, S. 277. Vgl. Stolleis: Pecunia nervus rerum, S. 67. Vgl. Schilling: Aufbruch und Krise, S. 338–340. Vgl. Seils: Die Staatslehre des Jesuiten Adam Contzen, S. 142f., 151; ders.: Die Staatslehre Adam Contzens, S. 210. Vgl. Seckendorff: Teutscher Fürsten-Staat, S. 228 (Anm.).
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laufvorstellung impliziert.48 Die alte Geld-als-Blut-Metapher ist hier noch nicht durch den wenige Jahre zuvor entdeckten Blutkreislauf modifiziert.49 In seinen Anweisungen für den rechten Umgang mit Geld und Gut tut Masen den Schritt zum Zirkulationsprinzip nicht, obschon er sich der Herrscher- und Staatszentrierung der jesuitischen Staatslehre entzieht. Von um so größerer Bedeutung ist die dargelegte Komödienstruktur: daß derjenige, der seine Familie zu täuschen beabsichtigte, sich in seinen eigenen Listen fängt; daß diese sich gegen den auswirken, der sie ins Werk gesetzt hat. Es ist das spezifisch Dramatische der Ollaria, nicht die in ihr vertretene Geldethik, was die Komödie am zukunftsträchtigsten Denkmuster des zeitgenössischen Gelddiskurses teilhaben läßt – trotz der ‚konservativen‘ Figurenkonstellation. Die dramatische Handlung ist nicht allein heilsam (pädagogisch wirksam und geistlich zielführend); sie birgt auch ein ökonomisches Potential.
48 Auch in Masens Aurum sapientium (lat. 1661, dt. 1666) fehlen Kreislaufvorstellungen,
vgl. besonders den Abschnitt, wo das Gemeinwesen mit einem Körper verglichen wird (dt. Ausg., S. 357–360). 49 William Harvey selbst verwendet den Terminus circulatio erst in seinen Excercitationes duae de circulatione sanguinis von 1649, nicht schon 1628, als er seine Entdekkung des Blutkreislaufs zuerst bekannt machte (vgl. Schmidtgall: Rezeption, S. 424). Die Übertragung des Blutkreislaufmodells in die (englische) ökonomische Theorie nahm zuerst Thomas Hobbes in seinem Leviathan von 1651 vor (vgl. ebd., S. 425).
3.3 Molières L’Avare zwischen Merkantilismus und monarchischer Zentrierung Warum ist die Figur des Geizigen komisch? Prinzipiell ließe sich die Frage anhand aller Komödien dieses Kapitels erörtern, doch werden Komik und die mehrfache Brisanz des geizigen Umgangs mit Geld im Avare besonders eng verknüpft. Hier sieht Hans Robert Jauß die Charakteristik des Geizigen derart verschärft, daß das Groteske an die Stelle der Komik trete; der Bitterkeit des Lachens aber entspreche, daß diese Komödie „ohne Lösung“ bleibe.1 Wie Jauß zu Recht hervorhebt, wäre die auf Harmonisierung der ausgemessenen Gegensätze abgestellte Komödienpoetik der französischen Klassik damit gesprengt. Auch geldethisch bzw. ökonomisch böte L’Avare nicht eine Lösung an, sondern stellte deren Unmöglichkeit aus. Demgegenüber wird hier die These vertreten, daß Molières Komödie eine derartig umfassende Vermittlung inszeniert, daß selbst ein ‚ungeheilter‘, geizig bleibender Geiziger die gesellschaftliche Harmonie nicht mehr zu stören vermag und das Lachen über die bleibenden Grotesken des Geizes am Ende eher mitleidig als hämisch ausfallen kann. Entscheidend dafür ist die Etablierung eines Fixpunktes gesellschaftlich-ökonomischen wie privat-ethischen Handelns. In der Tradition der römischen Komödie2 mit dem heimkehrenden Vater besetzt, handelt es sich um jenen Fixpunkt, den in der zeitgenössischem Umwelt des Avare der absolute Fürst zu verkörpern strebte, zumal Ludwig XIV. nach seinem Entschluß zur Selbstregierung (1661). Folgen hat die Ausrichtung auf diesen Fixpunkt aber auch für die Rangfolge der epochalen Leitprinzipien: Stabilität rangiert in L’Avare vor Bewegung, Zentralisierung vor Zirkulation. Während die jesuitische Geizkomödie bei Masen vermöge ihrer dramatischen Struktur begann, sich von der theologisch begründeten Option 1 Vgl. Jauß: Molière, L’Avare, S. 301, 309. Seitenangaben im Text beziehen sich auf die
zweisprachige Ausgabe des Avare von Hartmut Stenzel. S. 205–269 dieser Ausgabe enthält Stenzels ebenso informatives wie methodisch reflektiertes Nachwort „Molières ‚Avare‘ oder: Geld und Liebe im 17. Jahrhundert“, auf das im folgenden unter dem Kürzel „Geld und Liebe“ verwiesen wird. Mit ‚Kommentar‘ seien Stenzels Anmerkungen ebd., S. 183–204, bezeichnet. 2 Vgl. Manfred Fuhrmann: Lizenzen und Tabus des Lachens – Zur sozialen Grammatik der hellenistisch-römischen Komödie. – In: Das Komische, S. 65–101, hier S. 79f.
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für die Stabilität des himmlischen Schatzes zu entfernen, findet der Zirkulationsimperativ bei Molière eine neue Grenze in der Zentralfunktion einer Herrscherfigur. Insofern leuchtet L’Avare bereits die Dialektik eines Prinzips aus, das sich im ökonomischen Denken des Kontinents eben erst durchzusetzen beginnt. (Im Vergleich mit Blümels ungefähr gleichzeitigem Juden von Venetien heißt das, daß er dessen Fürstenzentrierung teilt, ohne aber gegen die Zirkulationssphäre zu polemisieren.) Antwortfunktion hat die monarchische Option schließlich auch hinsichtlich der säkularen Auseinanderentwicklung einerseits ökonomischer, andererseits privat-moralischer Handlungsanweisungen.3 Eine solche Divergenz deutet sich im Avare einerseits an, doch wird sie von der integrativen Rolle der Königsfigur andererseits noch einmal aufgehalten bzw. verdeckt. Entwickeln möchte ich diese Deutung von der komischen Hauptfigur, dem Geizigen, aus. Denn L’Avare verknüpft Komik, Charakter und daraus folgende Handlung – strukturalistisch gesprochen: Paradigmatik und Syntagma der Komödie – außerordentlich eng, so daß Komisierung hier zugleich Kritik einer Wirtschaftspraxis ist (3.3.1). Ziel der Analyse sind hingegen die dramatische Funktion und das soziale Profil jener Figur – Anselmes –, der die ‚ludovizianische‘ Lösung dieses Konflikts zugeschrieben wird (3.3.2). Das Wirken dieses ‚Rex ex machina‘ fällt um so stärker ins Auge, als die Herrscherfiguren der bisher analysierten Dramen entweder gar keinen Einfluß auf die Handlung nahmen – wie der Herzog im Merchant of Venice4 – oder jedenfalls nicht in ihrer Eigenschaft als Herrscher – so Blümels Prinz von Zypern, der inkognito nach Venedig reist und deshalb seinerseits aus höchster Bedrängnis gerettet werden muß. Auch gegenüber den vorangegangenen Geizkomödien einen neuen Akzent setzend,5 gibt die Einführung einer solchen Königsfigur zahlreiche Hinweise auf jene Umstrukturierung der sozialen, monetären, ja ‚ontosemiologischen‘ Ordnung, wie sie für den Absolutismus typisch ist. Molières Komödie inszeniert eine Gesellschaft, die sich zwar nicht auf ein Zentralobjekt – die im Münzschatz vergegenständlichte und vereinseitigte Geldfunktion –, aber auf eine Zentralfigur ausrichten soll. Es ist daher zu fragen, welche strukturellen Ähnlichkeiten sichtbar werden, obwohl ‚tote‘ Thesaurierung und heiratsstiftende Abundantia mit komischer Schärfe gegenübergestellt werden (3.3.3).
3 In diesem Horizont erörtert Pierre Force die Komödien Molières, ohne indes auf
L’Avare näher einzugehen (vgl. Molière ou le prix des choses, S. 10f., 250f.). 4 Vgl. die Rolle des Herzogs in der Gerichtsszene (VI,1), wo er zwar „my power“
beschwört (V. 104), den Verlauf des Prozesses jedoch nicht zu beeinflußen vermag (V. 214f.). 5 Vgl. Görschen: Die Geizkomödie im französischen Schrifttum, S. 219f.
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3.3.1 Komische Wirtschaftspolitik Komisch für einen Betrachter, der aus der Distanz sowie von der höheren Warte des Wissenden aus urteilt, ist das Inkongruente, ist der Kontrast „von Erwartung und Erfüllung, von Gegenstand und Begriff, von Ansehen und Aussehen, von Selbsteinschätzung und Sicht der anderen.“6 Komisch ist die Afunktionalität der Wiederholung, wenn die Handlung auf der Stelle tritt; komisch ist die Inkongruenz der Figuren, wenn sie aneinander vorbei sprechen oder handeln; komisch sind die Interferenzen, die das Inkongruente zusammenbringen, sei es durch den Handlungsverlauf, im doppelsinnigen Wort oder im situationsinadäquaten Verhalten einer Figur; komisch ist schließlich der Kontrast, den jede Überraschung impliziert.7 Alle diese Bauformen des Komischen sind im L’Avare vertreten, und sie fungieren fast ausnahmslos als Charakterisierung des Geizigen. In Anbetracht der kaum digressiven Handlungsführung nicht überraschend, kommt der Wiederholung die geringste Bedeutung zu. Gleichwohl führt auch sie unmittelbar auf den Wertestreit, den die Figuren austragen: „Sans dot“, wiederholt Harpagon stereotyp, als er sein Vorgaben rechtfertigt, seine Tochter nicht dem von ihr Erwählten, sondern einem älteren reichen Manne zur Frau zu geben (I,5). Dieselbe Wirkung, Harpagons ganz aufs Geld gerichtetes Denken sowie dessen liebesethische Inversion hervortreten zu lassen, hat die krasse Aneinandervorbei-Szene, wenn Valère von Élise, der Tochter des Geizigen, dieser aber von einer Geldkassette spricht und seinen Irrtum nicht einmal dann bemerkt, als Valère von seinem Verlöbnis mit ihr, von beider Treueschwur und schließlich gar von ihren schönen Augen berichtet (V,3). Nicht nur häufigste, sondern auch aufschlußreichste Bauform ist derweil die Interferenz. Auf verhältnismäßig plakative Weise illustriert sie Harpagons Charakter, wenn sein Kreditangebot vorgelesen wird, das im Ton besonderer Großzügigkeit unerhört schlechte Bedingungen enthält (II,1).8 Darüber hinaus handlungsgenerierend wirkt die komische Interferenz, wenn der Geizige, gleich bei seinem ersten Auftritt, den Diener seines Sohnes allein durch sein Mißtrauen darauf stößt, daß er einen Schatz zu verbergen hat (I,3). Eine ähnliche Dialektik, das Zurückschlagen des Lasters bzw. einer aus ihm hervorgehenden Eigenschaft auf den Lasterhaften, begegnete schon bei Masens 6 Greiner: Die Komödie, S. 99. 7 Diese vier Bauformen des Komischen destilliert Wolfgang Trautwein aus einer Viel-
zahl vorliegender Bestimmungen des Komischen heraus, vgl. Komödientheorie und Komödie, S. 106f. 8 Eine ähnliche Verdeutlichungsfunktion haben die ironischen Bestätigungen, ja Verstärkungen von Harpagons Sparsamkeitsforderungen durch Valère anläßlich der Vorbereitung eines Gastmahls (III,1).
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Desiderius. Die Selbstbezüglichkeit des Geizigen, die in solcher Handlungsmechanik zum Ausdruck kommt, steigert Molière jedoch zu einer Absolutheit, die nicht allein die Komik verschärft, sondern auch das Verhältnis von Geizigem und Gesellschaft neu bestimmt: Letztlich bedarf Harpagon gar keines Mitspielers, um sein Mißtrauen gegenüber allen anderen Menschen zu äußern (weil sie potentielle Diebe seines Geldes seien). Komische Interferenzen entstehen daraus, wenn Harpagon sich selbst des Diebstahls verdächtigt, am Arm festhalten möchte und schließlich sogar mit dem Tod durch Erhängen droht (IV,7). Nichts könnte eindrücklicher zeigen, in welchem Maße dieser Geizige sich mit seinem Besitz identifiziert. Denn nur, weil er sein Ich ganz in seinen Besitz gelegt hat,9 kann er sich selbst als Fremder gegenübertreten, ja auf sein humanes Ich verzichten. Interferenz ist hier nicht nur ein Mittel der Komik; der Begriff bezeichnet vielmehr präzise das Verhältnis des Geizigen zu Geld und Gut: Eine Übertragung zwischem beidem hat stattgefunden, die dem Besitz die personhafte Eigenschaft der Unteilbarkeit verliehen sowie Harpagons Identität ganz auf sein Geld gestellt hat. Die Folgen zeigen sich in den komischen Inkongruenzen der letzten Szene: Seine soziale Rolle gänzlich mißachtend, ist Harpagon dort auf keinen Fall bereit, seine Kinder für die Ehe auszustatten.10 Obwohl Élise und Cléante auch im finanziellen Sinne höchst vorteilhafte Partien gemacht haben, trägt er nur ein Verlangen: „Voir ma chère cassette“ (V,6, S. 178). Spätestens hier sind die sozialen Folgen, die der Geiz für Harpagon hat, nicht zu übersehen. Ganz auf seinen vom Geld verkörperten Besitz fixiert, vermag er nicht-kostenkalkulierende Beziehungen zu seinen Mitmenschen, seien es die Kinder, deren Gatten, der Schwiegervater oder das Personal, nicht mehr zu unterhalten. In der Schlußszene des Stücks wenden sich daher sämtliche Figuren von ihm ab und Anselme zu, der bereit ist, sie sowohl ‚menschlich‘ (Zustimmung zur Gattenwahl, Fürsprache für Maître Jacques) als auch finanziell (Übernahme aller Kosten) zu unterstützen. Bevor diese geizbedingte Marginalisierung in Hausgemeinschaft wie Gesellschaft in den Interferenzen des Monologs radikalen Ausdruck fand, deutete sie sich in der komischen Bauform des Aneinander-Vorbei sogar schon an. Vor allem das grausame Mißverständnis, in dem Cléante den väterlichen Lobesworten über seine Geliebte beipflichtet (die Harpagon für die eigene Wiederverheiratung ausersehen hat), macht die Rücksichtslosigkeit des Geizigen gleich im ersten Akt deutlich, setzt der väterliche Plan doch voraus, daß der finanzielle Nach9 Vgl. S. 142 (IV,7): Der Dieb ist für Harpagon auch ein Mörder, ermordet aber sei er:
„Au voleur! au voleur! à l’assassin! au meurtrier! Justice, juste Ciel! je suis perdu, je suis assassiné, on m’a coupé la gorge, on m’a dérobé mon argent.“ 10 Daß Harpagon jede Ausgabe für seine Kinder als Angriff auf die eigene Identität begreift, betont James F. Gaines: The Social Structures in Molière’s Theater, S. 174.
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teil, den die Heirat eines wenig vermögenden Mädchens bedeutet, durch vorteilhafte Heiraten der Kinder ausgeglichen wird (I,4, S. 34ff.). Mit einem Wort: die komischen Szenen des Avare bestätigen und variieren zum guten Teil jenes Asozialitäts-Urteil, das bei Gelegenheit auch explizit über Harpagon gesprochen wird: „il aime l’argent, plus que réputation, qu’honneur et que vertu“ (II,4, S. 64). Indem das Lachen dem Laster auf dem Fuße folgt, wird die Komik des Stücks eng an seine satirische Absicht gebunden. Der zeitgenössischen Diskussion des ridicule entsprechend, wird die Störung des Sozialen verlacht,11 und zwar nicht bloß metaphorisch wie beim ‚geistlichen Verlachen‘ des Lasterhaften in Bidermann Jacobus usurarius. Weit unmittelbarer als in allen bisher besprochenen Stücken zielt die Komik in der von Molière entwickelten comédie de mœurs auf die Aufdeckung einer ökonomischmentalen Problemlage.12 Das gilt auch für die geldwirtschaftlichen Details. In der Plautinischen Vorlage hatte Euclio seinen Schatz nicht erwirtschaftet, sondern verdankte ihn einem glücklichen Fund. Als ‚wucherischer‘, d. h. zunächst nur: als besonders gewinnsüchtiger Kaufmann begegnet der Geizige dagegen in den Moralitäten des 16. Jahrhunderts,13 während wir bei Bidermann dann einen regelrechten Geldverleiher fanden. Damit erscheint der Reichtum einer Figur zumindest prinzipiell als ökonomisch begründet, wenngleich nähere Angaben über Art und Umfang der vorausgesetzten Geschäfte fehlen (das gilt auch für die Kaufmannstätigkeit von Masens Desiderius). Im Vollzug kommt das Wuchergeschäft erst bei Molière bzw. seinen französischen Vorläufern auf die Bühne.14 In L’Avare ergibt sich dabei folgendes Bild: Harpagon vertritt den Typus eines Geldverleihers, der nicht bloß mit beträchtlichen Summen wirtschaftet – 10 000 Ecus erhielt er am Tag zuvor zurück (I,4, S. 26)15 –, 11 Vgl. Anonym: Lettre sur la comédie de l’Imposteur [1667]. – In: Molière: Œuvres
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complètes Bd. 1, S. 1147–1180, hier S. 1174. Zur am Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich geführten Diskussion um das Lächerliche als auffallende Abweichung von sozialen Normen vgl. A. Hügli: Lächerliche (das) – HWPh 5, Sp. 1–8, hier Sp. 2f. Vgl. Stenzel: Molière und der Funktionswandel der Komödie im 17. Jahrhundert, S. 144–147, 231–235. Stärker an die Ethik als an soziale Normen – soweit sich das trennen läßt – bindet Dandrey das Lächerliche bei Molière, doch betont er ebenfalls den engen Zusammenhang zwischen Komik und satirischer Absicht (vgl. Molière ou l’esthétique du ridicule, S. 98, 128f.). Vgl. Naogeorgus: Der Kauffmann oder das Gericht (1595) – Vom Sterben des reichen Mannes, S. 231. Vgl. Görschen: Die Geizkomödie im französischen Schrifttum, S. 212–215, 221. Einen Vergleich zwischen L’Avare und Boisroberts Komödie La Belle Plaideuse aus dem Jahre 1654 unternimmt Stenzel: Geld und Liebe, S. 234–238. Bereits Boisrobert inszeniert eine Begegnung zwischen Vater und Sohn als Gläubiger und Schuldner. Zu den monetären Verhältnissen in Molières Werken und deren zeitgenössischem Kontext vgl. Gaines: Social Structures in Molière’s Theater, S. 20–23. Der Ecu war
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sondern auch außerordentlich hohe Zinssätze nimmt (II,1, S. 52ff.). Durch verschiedene Tricks16 erreicht er, daß sein Gläubiger 18 823,8 Livres zurückzahlen muß, wenn er 12 000 erhält. Der Zinssatz liegt also bei gut 56 Prozent. Dagegen hatte ein königliches Edikt von 1665 nur fünf Prozent erlaubt.17 Soweit man aus der Höhe seiner Kredite auf das Gesamtvolumen seines Geschäfts schließen darf, reichte Harpagon damit zwar nicht in die Sphäre der Financiers des königlichen Haushalts. Doch hätte er einen durchaus potenten Investor der Privatwirtschaft abgegeben.18 In dieser hypothetischen Eigenschaft aber verkörpert er das Hauptproblem der Colbertschen Wirtschaftspolitik zu Beginn der Regierungszeit Ludwigs XIV.: Investoren von Harpagons Finanzkraft wurden Mitte der sechziger Jahre fast gewaltsam gesucht. Dabei ging es um nicht weniger als das Prinzip der zwar nicht gänzlich neuen, aber mit neuartiger Konsequenz vorangetriebenen merkantilistischen Politik: die Verbesserung der Außenhandelsbilanz, deren Überschuß als nahezu identisch mit dem volkswirtschaftlichen Reingewinn angesehen wurde. Um dieses Ziel zu erreichen, setzte Colbert auf aktive Wirtschaftsförderung in vor allem zwei Bereichen: auf die Steigerung der französischen Industrieproduktion (um den Kauf teurer Fertigwaren im Ausland zu vermeiden) sowie die Ausweitung des Überseehandels (der umgekehrt den Auslandsabsatz französischer Produkte steigern helfen sollte). Ohne die Beteiligung privaten Kapitals waren diese Maßnahmen nicht finanzierbar. Kauf- und Geschäftsleute, die bereit waren, die königlichen Handelsunternehmungen durch Aktienzeichnung zu unterstützen, fanden sich jedoch bei weitem nicht im ausreichenden Maße. Zum aufsehenerregenden Konfliktfall zwischen Krone und unwilligen Geldgebern kam es 1664/65 in Rouen: Selbst sowohl eine Silbermünze als auch Recheneinheit für andere Münzen; zur Zeit des Avare zählte er als drei Livres (d. i. ausschließlich eine Recheneinheit). Wenn Harpagons Kassette, wie dieser sagt, „dix mille écus en or“ enthält (I,4, S. 26), befinden sich darin Goldmünzen, wahrscheinlich Louisdor oder Pistolen, im Wert von 30 000 Livres. Ein Vergleich mag die beträchtliche Höhe dieser Summe verdeutlichen: In der Baillage Beauvais belief sich das durchschnittliche Jahreseinkommen einheimischer adliger Familien 1697 auf 1 160 Livres (vgl. Mager: Frankreich vom Ancien Régime zur Moderne, S. 93). 16 Harpagon gibt vor, die Kreditsumme selbst gegen hohen Zins leihen zu müssen, den er an den Schuldner lediglich weitergebe, und ‚zahlt‘ ein Fünftel der Kreditsumme in Form nahezu wertloser Einrichtungsgegenstände. 17 Vgl. Stenzel: Geld und Liebe, S. 255. Dieser niedrige Satz wurde allerdings nicht immer eingehalten; Cléante nennt schon den denier dix-huit (= 5,55%) „honnête“ (II,1, S. 52). 18 Zum Vergleich: Für ihren Textilverlag nahmen die Brüder Cossart Mitte der 1660er Jahre 10 000 Livres Kredit auf, d. h. ein Drittel der von Harpagon vergrabenen Summe. Dank dieser Anschubfinanzierung konnten sie zwei Jahre nach Geschäftsgründung bereits 22 Webstühle betreiben (vgl. Jochen Hoock: Frankreich 1650–1750. – In: Handbuch der europ. Wirtschafts- und Sozialgesch. Bd. 4, S. 476–493, hier S. 481).
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nach wiederholtem, massivem Druck von seiten Colberts beliefen sich die Einlagen der normannischen Handelsmetropole in die neugegründete Ostindische Kompanie lediglich auf 300 000 Livres – bei 149 Subskribenten!19 Aus seiner geliebten Kassette hätte Harpagon bereits ein Zehntel dieser Summe beisteuern können. Und die Zurückhaltung der Kaufleute von Rouen hatte gute Gründe. Bereits 1667 zwangen Mißerfolge sowie die aggressiven Reaktionen der führenden Handelsnationen England und Holland Colbert zu einem Politikwechsel. Während die staatliche Fürsorge jetzt vor allem dem gewerblichen Sektor galt, mußte der Handel die zusätzliche Belastung eines rigorosen Protektionismus hinnehmen.20 Trotzdem betrieb Colbert 1668, also im Jahr der ersten Aufführung des Avare, noch einmal eine energische Kampagne für die Compagnie de Commerce du Nord, die vor allem die Pariser Financiers zu stärkeren Investitionen drängte.21 Inwiefern impliziert die Geiz- und Wucherdarstellung des Avare in dieser Situation eine wirtschaftspolitische Stellungnahme? Offensichtlich scheint, daß Personenkonstellation, Handlungsverlauf und Wertzuschreibungen der Komödie nur vermittelt auf den wirtschaftspolitischen Konflikt bezogen sein können. Die vorgängige Prägewirkung literarischer Muster ist in diesem Punkt ebenso geltend zu machen wie das Bestreben, aktuelle Bezüge durch Verfremdung weniger angreifbar zu machen (das jahrelange Aufführungsverbot gegen den religionskritischen Tartuffe gab Anlaß genug zu einer solchen Überlegung). Die unverkennbaren Verschiebungen brauchen indes nicht als Verlust von historischem Gehalt beklagt, sondern können als Indizien für die spezifische Tendenz des Stücks interpretiert werden. Angelpunkt der wirtschaftspolitischen Bezugnahme ist das ökonomische Verhalten Harpagons. Auf möglichst sicheren Gewinn ausgerichtet,22 scheut er das Risiko einer Beteiligung ebenso wie die Mehrzahl der französischen Kaufleute seiner Zeit. Gleich, ob in Kredit- oder anderen Geschäften angelegt, bleibt sein Geld der Colbertschen Wirtschaftspolitik entzogen, obwohl diese es so dringend benötigt (die Fiktionalitätsdifferenz einmal beiseite gesetzt).23 Wo Harpagon das 19 Vgl. Hoock: ebd., S. 480. Ausführlich stellt Klaus Malettke Colberts Werbungen für
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die 1664 gegründete Ostindische Kompanie sowie den Widerstand in der französischen Kaufmannschaft dar, vgl. Colberts Werbung für die „Compagnie des Indes Orientales“. Hoock: ebd., S. 180. Vgl. Nerlich: Notizen zum politischen Theater von Molière, S. 45. Vgl. S. 30, 50 u. v. a. 58: Sich zu versichern, „qu’il n’y ait rien à péricliter“, bildet für Harpagon den notwendigen Ausgangspunkt eines Kreditgeschäfts (II,2). Vgl. Albanese: Argent et réification dans L’Avare, S. 45–50. Einen gegenteiligen Bezug der Figur auf den Merkantilismus hat Gerhard C. Gerhardi vorgeschlagen. Die „Tendenz des Geizigen zur Isolation, das Sich-Abkapseln von der menschlichen Gemeinschaft, den Hang zur Selbstbetrachtung und zum Selbstgespräch“ begreift er
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Geld als „mon sang“ apostrophiert (V,3, S. 156), stellt er den Bezug seiner persönlichen Wirtschaft zum staatlichen Ganzen anspielungsweise sogar selbst her, greift er damit doch die zentrale Metapher für den staatlichen Geldbedarf auf. Selbst der Umstand, daß der Geizige Geldverleiher, nicht Seekaufmann ist, bedeutet nur bedingt eine literarische ‚Übersetzung‘, denn der Wucher bildete neben dem Getreidehandel und Geschäften mit dem König tatsächlich die vielversprechendste Möglichkeit, kräftige Gewinne zu machen. Wirtschaftsgeschichtlich nur eine Variante unerwünschten Verhaltens, ist der Wucher zudem in besonderem Maße geeignet, die Gegner der königlichen Politik anzugreifen. In seiner Darstellung trifft sich (1.) das Bedürfnis des Komödianten nach einer verlachbaren Figur mit dem Propagandainteresse des Merkantilismus. Traditionen der satirischen Komödie seit Plautus füllen im Avare präzise den Platz aktuellster polit-ökonomisch motivierter Polemik. Das Vergraben des Schatzes beispielsweise, das dem Charakterbild des Geizigen traditionell den Zug panischer Sorge hinzufügt, rekurriert – zumal im Kontrast mit dem Liebesverlangen, dem Harpagons Geldfixierung entgegensteht – einerseits auf den Topos der Fruchtlosigkeit jeder Thesaurierung;24 vor dem Hintergrund der seinerzeitigen Wirtschaftslage spielt es andererseits aber auch auf die von reichen Bürgern bevorzugte Geldanlage in Landbesitz und Rentenkauf an.25 Daß der Konflikt auf der Bühne erst in zweiter Linie ein ökonomischer ist, macht solche Polemik nur noch wirkungsvoller: In die Figur eines Geizigen gefaßt, wird die Reserve gegen riskante Investitionen (2.) dem wirtschaftspolitischen Streit entzogen und unbestreitbaren moralischen Kategorien unterstellt. Wer nicht im Sinne des Merkantilismus investiert, den setzt die Diagnose ‚Geiz‘ von vornherein ins Unrecht. Über die herkömmlich christlich-moralische Geizkritik geht Molière in gewissem Sinne sogar noch hinaus: Die Zerstörung der Person, welche die Fixierung ausschließlich auf Geld und Gut bewirkt, braucht nicht mehr ‚bloß‘ geistlich, also in bezug auf das Jenseits verstanden zu werden, sondern erfaßt (3.) das Subjekt bereits hier als Spiegel der „egoistischen Wirtschaftspolitik des merkantilistischen Zeitalters“, insbesondere was das Verhältnis zu anderen Volkswirtschaften angeht (Geld und Gesellschaft im Theater des Ancien Régime, S. 56). L’Avare propagierte demnach nicht ein aktuelles Anliegen der Colbertschen Politik, sondern stellte sie als ganze kritisch dar. Gerhardi mutet der Komödie damit die analytische Leistung zu, das ökonomische Denken ihrer Epoche grundsätzlich zu transzendieren und eine Kritik im Sinne Adam Smithens zu üben. Fragwürdig ist seine Deutung freilich schon philologisch, denn Harpagons Wirtschaft arbeitet nicht so „inzestuös“ – d. h. ohne Kontakt zur außerfamiliären Welt –, wie Gerhardi aus dem Beinahe-Geldverleih an den eigenen Sohn schließt (ebd.); an die in Szene I,3 berichtete Einnahme von 10 000 Ecus sei erinnert, zu verweisen ist zudem auf das Geld, dessen Rückgabe an Harpagon im dritten Akt angekündigt wird (III,7, S. 114). 24 An die Grabmetaphorik in Masens Ollaria sei hier noch einmal erinnert. 25 Vgl. Nerlich: Notizen zum politischen Theater von Molière, S. 47.
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und jetzt.26 So zeigt Harpagon sich buchstäblich gespalten, in erste und zweite Person nämlich: „Arrête. Rends-moi mon argent, coquin... (Il se prend luimême le bras.) Ah! c’est moi. Mon esprit est troublé, et j’ignore où je suis, qui je suis, et ce que je fais.“ (IV,7, S. 142) Ökonomische Argumente können und müssen da zurücktreten: Thesaurierung vergeht sich gegen die Natur des Menschen.27 Ist die Polemik gegen Wucher und Geiz bei Molière nicht mehr christlich begründet, so bewahrt sie dennoch die existentielle Schärfe, die sie im Jesuitentheater erreicht hatte.
3.3.2 Rückkehr des Vaters als Auftritt des Herrschers Die agonale Struktur dieser wie vieler Komödien28 legt es nahe, nach dem Gegenspieler zu fragen, der das von der Krone gewünschte Wirtschaftsverhalten verträte. Üblicherweise wird an dieser Stelle auf Cléante verwiesen, denn er gerät am häufigsten mit dem Geizigen aneinander: wegen seines aristokratischen Habitus, seiner Heiratspläne, seines Kreditwunsches usw. Welche Streitpunkte könnte eine sozialgeschichtliche Interpretation geltend machen? Cléante neigt zum adligen Lebensstil der honnêtes gens (I,4, S. 30), während Harpagon einen ausgesprochen altmodischen Geschmack zeigt (II,5, S. 76). Und Cléante ist, wider die Sparsamkeit seines Vaters, bereit, dafür Geld auszugeben (I,2, S. 16ff.), was Harpagon als Verschwendung brandmarkt (S. 30). Ganz abgesehen von der methodischen Fragwürdigkeit unvermittelter Hochrechnungen isolierter Textbefunde: mehr als Wirtschaftsförderung über erhöhte Konsumausgaben gibt das nicht her. Zudem stände Cléante damit immer noch auf der ‚falschen‘ Seite, jener der Kaufleute von Rouen nämlich, die „energisch für [...] den ‚großen Konsum‘ als eigentliche Grundlage des gewerblichen und kommerziellen Wohlstand wie auch eines ausreichenden Steueraufkommens“ plädierten.29 Den Sohn des Geizigen auf eine ökonomische Gegenposition festzulegen, welche es erlaubte, das komödientypische Alt-jung-Gefälle als Codierung einer progressiven (wirtschafts)geschichtlichen Parteinahme zu lesen, ist 26 An den geistlichen Tod, dem der Geizige erliegt, weil er das Geld zu seinem Gott
erhebt, erinnert Harpagons Apostrophe seiner verlorenen Kassette als „mon support, ma consolation, ma joie“ (IV,7, S. 142). 27 Wie Harpagon als grundsätzlich lebensfeindlich gezeichnet wird, hat insbesondere Marcel Gutwirth herausgearbeitet: The Unity of Molière’s L’Avare, S. 365f. 28 Zur Durchführung des Kontrastprinzips in der Stände- und Wertekonstellation, die Molières Komödien aufbauen und ausspielen, vgl. Gaines: Social Structures in Molière’s Theater, S. 241. 29 Jochen Hoock: Frankreich 1650–1750. – In: Handbuch d. europ. Wirtschafts- und Sozialgesch. Bd. 4, S. 476–493, hier S. 480.
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demnach kaum möglich.30 Daran anschließend sieht Hartmut Stenzel in Harpagons Geiz „vor allem eine völlige Zerstörung aller familiären und sozialen Bindungen“.31 Der Reduktion aller persönlichen Beziehungen auf ihren Geschäftswert setzten die Kinder des Geizigen jedoch ihre Liebesbindungen entgegen. Die Antinomie des Stückes laute daher „Geld gegen Liebe“.32 Gewiß, die berühmte Aneinandervorbei-Szene, in der Valère seine Liebe zu Élise beschwört, Harpagon diese Treueschwüre dagegen auf seine Kassette bezieht, bringt einen solchen Gegensatz sinnfällig und komisch zum Ausdruck (V, 3). Und die Option für ‚Liebe‘ paßt glänzend zu den gesellschaftlichen Kontextbedingungen, ist das Liebesideal, das Cléante und Mariane, Élise und Valère propagieren, doch Teil des Selbstverständnisses der honnêtes gens.33 Erst dieser standesübergreifende, für la cour et la ville unter Ludwig XIV. vorbildliche Habitus ermöglicht die bürgerlich-adligen Mischehen am Ende des Stücks. Wie im Selbstverständnis der honnêtes gens verbinden sich in ihnen der Liebes- und Treueanspruch der bürgerlichen Ehe mit der adligen Verachtung für die bürgerliche Übung, Heiraten stets auch nach ihrer wirtschaftlichen Seite zu kalkulieren34.
30 ‚Übersichtlicher‘ werden die Verhältnisse erst, wenn man weniger vom Text sowie
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dessen wirtschaftshistorischem Kontext ausgeht als vom ‚richtigen‘ Lektüreschema. In den marxistischen Rahmen von Großbegriffen gestellt, welche die Dialektik von Jahrhunderten organisieren, ist die Sache für Michael Nerlich klar: „Harpagon ist – wie Shylock – der Typus des alten feudalen-mittelalterlichen Wucherers“, während Cléante „die junge, auf Aktivität orientierte Bourgeoisie“ vertritt (Kritik der Abenteuerideologie Bd. 2, S. 428; ders.: Notizen zum politischen Theater von Molière, S. 47). Da ist er, der obligate Antagonismus, obwohl es doch gerade adliges Gehabe war, das dem Sohn die Vorwürfe des Vaters eintrug! Für des Sohnes ‚Aktivität‘ (im Sinne des Merkantilismus!) hat Nerlich immerhin einen Beleg: „j’ai résolu d’aller en d’autres lieux, [...] jouir de la fortune que le Ciel voudra nous offrir“ (S. 18), bekennt Cléante einmal seiner Schwester. Dem Publikum von 1668 sei damit kaum mißverständlich angedeutet, „daß diese Fortune in Ost- oder Westindien gesucht werden müßte“ (Nerlich: Kritik der Abenteuerideologie Bd. 2, S. 430). Doch auch diese Deutung hat einen Haken. Was ihm nicht paßt, hat Nerlich weggekürzt: „avec cette aimable person“ – Mariane – möchte der Jüngling das Glück des Himmels genießen. Indien oder die Karibik und damit alle Handelskompanien Colberts dürften dabei keinerlei Rolle spielen. Stenzel: Geld und Liebe, S. 260. Ebd. Vgl. Zilly: Molières „L’Avare“, S. 67–72. Was keinesfalls als Gefühlskälte verstanden werden darf, sondern unabdingbar war, solange die Frau innerhalb der Familie einen Wirtschaftsfaktor bildete, also noch nicht auf das ‚innere‘ Familienleben von Kindererziehung und schöngeistiger Beschäftigung beschränkt war; vgl. Gerhardi: Geld und Gesellschaft im Theater des Ancien Régime, S. 88–90.
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Als unzureichend erweist sich das Deutungsschema ‚Liebe statt Geld‘ jedoch, wo das „standesübergreifende gemeinsame Fühlen der Liebenden“35 den guten Ausgang der Komödie nicht aus eigener Kraft zu garantieren vermag. Denn auch die Liebesehe braucht ein ökonomisches Fundament. Die Geltung von Schlüsselbegriffen wie trésor und affaire sowohl in Geld- als auch in Liebesdingen deutet das in der Figurenrede laufend an.36 Diese Bedingtheit nicht zu übergehen soll die Innamorati nun keineswegs in jenes „moralische Zwielicht“ stellen, in das Gerhardi sie geraten sieht.37 Entscheidend ist vielmehr, daß ihr Geldbedarf die Liebenden abhängig macht von einer dritten Partei. Diese dritte Partei tritt erst in der vorletzten Szene auf, trägt aber wie keine andere Figur die Auflösung des Konflikts: Die Hochzeiten, die Ausstattung der jungen Paare, selbst die Befriedigung des Polizeibeamten, der den Raub der Kassette verfolgen sollte, wären nicht möglich ohne Anselme, ohne sein Vermögen und seine Freigebigkeit (V,6, S. 178). Einen Antipoden, der dem Liebesprinzip Verwirklichungschancen zu sichern vermag, findet Harpagon erst im verschollen geglaubten Schwiegervater seiner Kinder. In den meisten Interpretationen hat Anselme trotzdem keinen rechten, geschweige denn einen historischen Platz.38 In Nachfolge der werkimmanenten Deutung Judd Huberts wird sein plötzliches Auftreten vielmehr als ironische Relativierung des guten Ausgangs verstanden.39 Unwahrscheinlich, ja von „wunderbarer“ Art, markiere es, so Stenzel, die „utopische“ Qualität wohlausgestatteter Liebesheiraten im Zeichen der honnêteté.40 Haben Charak35 Stenzel: Geld und Liebe, S. 265. Die Gemeinsamkeit des Empfindens und der Wert-
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begriffe zwischen der Bürgerstochter Élise und der adligen Mariane kommt besonders am Anfang des vierten Aufzugs zum Ausdruck (S. 118). Die jüngste Sammlung merkantiler Metaphorik in der Liebessprache gibt Koppisch: ’Til Death do Them Part, S. 33–35. Koppisch schätzt die Sphärenvermischung, die hier zu sprachlichem Ausdruck kommt, freilich nicht ganz richtig ein, wenn er den „discours of love“ als „usually free from such concerns“ (ebd., S. 33) bezeichnet. Gerhardi: ebd., S. 94. Tatsächlich versucht Cléante, seine Braut dem Vater geradezu abzukaufen (mit Hilfe des entwendeten Schatzes; vgl. V,6, S. 176). Nicht einmal erwähnt wird Anselme in Peter Nurses Avare-Interpretation (vgl. Molière and the Comic Spirit, S. 123–131). Vgl. Hubert: Molière & The Comedy of Intellect, S. 216f. Vgl. Stenzel: Geld und Liebe, S. 266–268. Zilly betont ebenfalls die „Märchenhaftigkeit“ von Anselmes Auftreten (Molières „L’Avare“, S. 36). – Zur Marginalisierung Anselmes in der sozialgeschichtlich orientierten Forschung mag beigetragen haben, daß diese Figur das beliebte zweipolige Interpretationsschema ‚konservativ‘ vs. ‚fortschrittlich‘ sprengt. Eine der wenigen Ausnahmen bildet Jean-Marie Apostolidès, der Anselme als Vertreter der „monde héroïque“ dem Frühkapitalimus des Geizigen gegenüberstellt (Le Prince sacrifié, S. 160). Gleichfalls mit einem zweipoligen Schema argumentierend, muß er dafür jedoch die Rolle Cléantes marginalisieren, indem er ihn eng an seinen Vater rückt (ebd., S. 161).
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ter und Wirtschaftspraktiken Harpagons als drastisch übertrieben zu gelten, so sollte die um Motivierung scheinbar nur wenig bekümmerte Einführung seines Gegenpols freilich nicht allzusehr irritieren. Anselme erscheint und wirkt zwar nach Art eines Deus ex machina. Doch hat sein ausführlicher Schicksalsbericht tatsächlich nur die Funktion einer Verbrämung, welche die Märchenhaftigkeit seiner Wohltaten weniger verdeckt als ausstellt?41 Von seinen Kindern getrennt wurde Anselme „en voulant dérober leur vie aux cruelles persécutions qui ont accompagné les désordres de Naples, et qui en firent exiler plusieurs nobles familles“ (V,5, S. 170). Bei seinem Versuch, diese Angabe historisch zu lesen, setzt Stenzel bei der Ortsangabe an und verweist auf die nicht zuletzt aus der deutschen Literaturgeschichte bekannte Rebellion des Fischers Masaniello aus dem Jahre 1647.42 Bislang unbeachtet blieb die Zeitangabe, obwohl sie durch Wiederholung hervorgehoben ist: „il y a seize ans pour le moins“ (ebd., vgl. S. 174). Rechnet man von der Erstaufführung des Avare 1668 sechzehn Jahre zurück, so gelangt man in die letzte Phase der französischen Bürgerkriege und damit in jene politischen Wirren, auf deren abschreckende Erfahrung der ludovizianische Absolutismus gründet. Selbst das Exilmotiv ist hier vorgebildet, denn der leitende Minister Mazarin hatte bis nach Köln fliehen müssen, um den Frondeuren nicht in die Hände zu fallen.43 Auch ohne auf die Detailparallele der italienischen Herkunft Mazarin(i)s aufmerksam zu werden, dürfte Molières Publikum mit hoher Wahrscheinlichkeit an diese Unruhen ‚vor sechzehn Jahren‘ gedacht haben. Daß Anselme als Repräsentant eines anderen fungiert, mag man zudem dadurch angedeutet finden, daß er bereits im Stück einen Tarnnamen trägt (S. 174). Besonders, wenngleich keineswegs allein vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen Reibungen Mitte der sechziger Jahre mußte die Erinnerung an den letzten Widerstand gegen die königliche Macht von hoher Signifikanz sein, mahnte sie doch zugleich an die Durchsetzungskraft, welche die Mon41 Neben der Funktion, daß Mariane und Valère durch diesen Bericht ihren Vater wieder-
erkennen. 42 Vgl. Kommentar, S. 204. Einen Bezug des französischen Publikums zu dieser Revolte
kann man in der Beteiligung eines Herzogs von Guise (Henri II, 1614–1664) sehen, der wenige Monate nach dem Scheitern Masaniellos nach Neapel kam, um dort alte Herrschaftsansprüche des Hauses Anjou geltend zu machen, ohne sich dauerhaft gegen die spanische Herrschaft durchsetzen zu können. Als ‚Exil‘ läßt sich Henris Rückkehr nach Frankreich freilich kaum bezeichnen. Dieselben Verweise wie Stenzel gibt der Kommentar der Pléiade-Ausgabe (Bd. 2, S. 1397). 43 Genau genommen ist Mazarin sogar zweimal vor der Fronde geflüchtet. Zunächst im Winter 1651 nach Brühl bei Köln, sodann im Sommer 1652 in den Ardenner Wald. Sich auf eines der beiden Exile festzulegen scheint nicht nötig, spricht doch auch Anselme von „seize ans pour le moins“ bzw. „plus de seize ans“, so daß die Zeitangabe 1651 wie 1652 meinen kann. Vgl. Voss: Von der frühneuzeitlichen Monarchie zur Ersten Republik, S. 61; Parker: The Making of French Absolutism, S. 100f.
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archie seitdem gezeigt hatte. Dabei sollte Anselme bzw. Dom Thomas d’Alburcy nicht als Maske speziell Mazarins verstanden werden, zumal der Minister 1661 verstorben war. Die Figur des Anselme und ihr Schicksal weisen vielmehr auf den König selbst.44 Erhärten läßt sich diese These, wenn gezeigt werden kann, daß sie im Horizont von Molières Dramaturgie liegt und, vor allem, daß sie die bisherige Lücke in der Interpretation des Avare zu füllen vermag. Wohlgemerkt geht es weniger um die Person Ludwigs XIV. als um den Nachweis, daß die spezifische Rolle des Königs im ideellen Gefüge der französischen Monarchie jener Konfliktlösung entspricht, die Anselme bewirkt. Was das erstgenannte Kriterium angeht, so gibt Le Tartuffe ou l’Imposteur (1669, 1. Fassung 1664) das geeignetste Vergleichsdrama ab. Ebenso unvermittelt wie im Avare wird der Konflikt dort durch einen Deus ex machina gelöst, den bekanntlich ein Bote des Königs verkörpert. Gerhardi hat daher treffend vom „Rex ex machina“ gesprochen, der – und damit ist neben der strukturellen auch eine thematische Parallele zur Geizkomödie festgestellt – als „Beschützer eines Ideals der Familienharmonie“ auftrete.45 Lediglich wie der König vertreten wird, unterscheidet die beiden Dramenschlüsse. Im Tartuffe verliest der Bote ein Schreiben des Königs, das sich wie ein kleines Regierungsprogramm liest (V,7): Der König beansprucht für sich das Durchschauen aller Ränke ebenso wie eine Gewalt, die über den Gesetzen steht; wer gegen ihn gefehlt hat, dem sichert er Verzeihung zu, und wer ihm dient, dem verheißt er Lohn.46 Machtanspruch und Fürsorgeversprechen verbinden sich hier in charakteristischer Weise. Daß derartig explizite Verweise auf die Autorität des Königs im Avare fehlen, darf nicht irritieren. Den Monarchen in eigener Figur auf der Bühne auftreten zu lassen, verbot die bienséance; hinzu kam die Vorschrift der klassischen Poetik, das stille künstlerische Einverständnis zwischen Autor und
44 Von untergeordneter Bedeutung ist dagegen, daß auch der königliche Hof zeitweilig
vor den Frondeuren aus Paris geflohen war, nämlich zu Beginn der Kämpfe 1648 (vgl. Malettke: Ludwig XIV., S. 45). Daß die soziologisch ausgerichteten Interpretationen der siebziger und achtziger Jahre diesen Bezug auf Ludwig XIV. nicht bemerkt haben, ist um so verwunderlicher, als es der König war, der im Mittelpunkt der von diesen Forschern herausgehobenen Gesellschaft der honnêtes gens stand (vgl. Zilly: Molières „L’Avare“, S. 69; Apostolidès: Molière and the Sociology of Exchange, S. 478; weniger auf die honnêtes gens konzentriert, sieht zumal James F. Gaines den König im Zentrum der Gesellschaft, die Molières Komödien zeichnen, ohne diese Erkenntnis aber auf L’Avare anzuwenden, vgl. Social Structures in Molière’s Theater, S. 82, 242). Molières theatralische Unterstützung für die Politik Ludwigs XIV. resümiert Grimm: Molière, S. 20–22, 147. 45 Gerhardi: Geld und Gesellschaft im Theater des Ancien Régime, S. 109, 112. 46 Vgl. Molière: Œuvres complètes Bd. 1, S. 983f.
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Publikum nicht durch zu offene Darstellung zu verletzen.47 Dementsprechend wird die Funktion des Königs im Avare ‚nur‘ repräsentiert. Eine solche Repräsentation aber sollte einer politischen Kultur vertraut gewesen sein, auf die schon ein Zeitgenosse dramaturgische Begriffe wie comédie und scène anwandte, ja in welcher der König ohnehin „die Rolle eines Königs“ spielte.48 In dem Gericht beispielsweise, das der Komtur – ebenfalls eine Art Deus ex machina – am Schluß des Dom Juan (1665/82) hält, sind Recht, Ordnung und Macht, wie der König sie verkörpert, trotz Maskierung gut lesbar.49 Anselmes Rolle ist mindestens ebenso typisch für das monarchische Selbstverständnis Ludwigs XIV. Zunächst ins Auge fällt die Mittelpunktstellung, in die er gelangt, sobald seine Vaterschaft offenbar wird. Waren bislang alle Figuren auf Harpagon ausgerichtet, so bildet am Ende Anselme ihr Zentrum, und zwar eines, das sich im Unterschied zu Harpagon als legitim erweist50. Die wieder bzw. neu übernommene (Schwieger-)Vaterschaft codiert denselben Konstellationswechsel in familiären Verhältnissen.51 Als weiteren Hinweis auf die herrscherliche Qualität seiner Rolle darf man Anselmes wiederholte Hinweise auf den Himmel und dessen Allmacht lesen (S. 172, 174, 176). Durch sie unterstellt er sich Gott, um ihn zugleich für sich in Anspruch zu nehmen.52 Dieselbe Ambivalenz prägte die religiöse Dimension des 47 Vgl. Gaines: Social Structures in Molière’s Theater, S. 82, 235. 48 Vgl. Burke: Ludwig XIV., S. 19, das Zitat S. 21. Die genannten dramaturgischen
Begriffe finden sich in den Mémoires des Herzogs von Saint-Simon. 49 Vgl. Gaines: ebd., S. 109–111. Auf weitere Anspielungen auf den König, nämlich in
der Ballettkomödie La Princesse d’Elide von 1664 sowie im Amphitryon (1668), weist Ferrier-Caverivière hin (vgl. L’image de Louis XIV dans la littérature française, S. 89–93). 50 Legitim handelt im Verständnis des französischen Absolutismus derjenige, der sich in Einklang mit den Gesetzen Gottes und der Natur befindet; vgl. Thomas Würtenberger: Legitimität, Legalität – GG 3, S. 677–740, hier S. 689f. 51 Trotz des autokratischer gewordenen Herrschaftsverständnisses gilt die Parallele Vater-Fürst nach wie vor (vgl. Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 209f.); Horst Günther: Herrschaft – GG 3, S. 1–102, hier S. 43; Burke: Ludwig XIV., S. 176. 52 Auch Mariane und Valère rufen in dieser Szene (V,5) je einmal den Himmel an, allerdings mit charakteristischen Einschränkungen. Während der Vater die „puissance“ Gottes rühmt (S. 172), erkennt der Sohn lediglich „une aventure, par le Ciel concerté“ (S. 170). Mariane wiederum kann dem Himmel nur für die Rettung ihres Lebens danken, denn ihre Freiheit büßte sie für zehn Jahre ein, als sie in die Hände von Seeräubern fiel (S. 172). – Zu Metaphorik und Anspielungen biblischer Herkunft vgl. Jones: The Treasure in the Garden. Unglücklicherweise geht Jones von einer dualen Struktur der Komödie aus – in geistlichen Tod führender Geiz Harpagons vs. die Liebenden, deren Heirat auf die Vereinigung mit Gott verweise (vgl. S. 524f.); von vereinzelten Verweisen auf sein Wirken als „good“ oder „true father“ abgesehen (S. 522, 526), übergeht sie daher Anselme und die religiöse Untermauerung seiner Rolle. Ohnehin scheint fraglich, ob die Spuren christlicher Bildlichkeit in L’Avare tatsächlich zur geistlichen Interpretation des Geschehens anleiten sollen, wie Jones dies voraussetzt.
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absoluten Fürstentums, das einerseits an das ius divinum gebunden war (während alle menschlichen Gesetze in seiner Hand lagen), sich mit ‚Gottes Gnaden‘ andererseits aber auch legitimierte.53 Die andere Grenze der ‚absoluten‘ königlichen Gewalt, das „natürliche Recht der Untertanen“,54 wird in Anselmes Reden ebenfalls angedeutet, wenn er jeden Heiratszwang ablehnt und auf den natürlichen Vorzug verweist, den bei einer jungen Braut der Sohn vor dem Vater genieße (V,5/6, S. 166, 176). Zudem kam ausgerechnet seinem Hauptgeschäft, dem Ehestiften und -ausstatten, eine herausgehobene Stellung in der ludovizianischen Ideologie des guten Herrschers zu. So zeigt Lebruns Deckengemälde in der Grande Galerie in Versailles, das Ludwigs Übernahme der Regierung 1661 feiert, neben dem thronenden König eine zurückweichende Discordia sowie einen Hymenäus, der ein Wohlstand symbolisierendes Füllhorn hält.55 Wie um einen Katalog vollständig zu machen, kehrt selbst die Verzeihung, die der König dem Orgon des Tartuffe für ein zurückliegendes Vergehen gewährt, wieder, wenn Anselme Pardon für Maître Jacques erwirkt.56 Vor diesem Hintergrund verliert sogar das unvermittelte Auftreten Anselmes den dramaturgischen Makel der Unwahrscheinlichkeit. Bedenkt man, daß die Regierung Ludwigs XIV. geläufig als eine Kette von Wundern gepriesen wurde (so von Racine, Molières Freund und ‚tragödischem‘ Pendant am Hof),57 dann verweist noch das vermeintliche Ironieelement auf den König.58 Deutet dies alles auf die herrscherliche Qualität von Anselmes Rolle hin, so bedürfen seine wirkungsvollsten Eigenschaften – Reichtum und Freigebigkeit – besonderer Betrachtung. Freigebigkeit ist eine typische Tugend der Könige;59 doch was befähigt Anselme dazu, sie zu üben? Ökonomisch wird
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Mit der Ausrichtung der Komödie auf die Königsfigur besser vereinbaren läßt sich die Annahme, daß im ursprünglichen Rezeptionshorizont eingewurzelte Bildwelten instrumentalisiert werden, um unterschwellig die Plausibilität von Anselmes Lösung im Zeichen ‚königlicher‘ Vaterautorität zu erhöhen. Vgl. Duchhardt: Das Zeitalter des Absolutismus, S. 36–39; Malettke: Ludwig XIV., S. 63. Kunisch: Absolutismus, S. 185. Vgl. Burke: Ludwig XIV., S. 92f. Zu Anselmes Schiedsrichterrolle vgl. auch unten Anm. 66. Vgl. Burke: Ludwig XIV., S. 43. Auf die Strukturparallele zwischen prima vista unwahrscheinlichen Komödienschlüssen infolge des Eingreifens einer höheren Macht und dem Machtanspruch Ludwigs XIV. weist auch Jürgen Grimm hin (vgl. Molière, S. 145–147). Die Wohltätigkeit des Königs gehört dementsprechend zu den Topoi des Ludwig-Lobs durch zeitgenössische Schriftsteller (vgl. Ssymank: Ludwig XIV., S. 24–26), und gerade diese Tugend zu loben, hatten viele guten Grund: sie standen auf der Pensionsliste Colberts (Molière etwa erhielt nach Ausweis der ersten überlieferten Liste von 1664 eine Pension von 1000 Livres; ebd., S. 11).
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diese Frage nicht beantwortet: der neapolitanische Edelmann ist einfach reich, er hat Geld in Fülle. Davon, daß er sich Besitz je verdienen mußte, ist nirgends die Rede (während Harpagons Verdienstpraktiken detailliert vorgeführt werden). Ebenso zeichnete es die höfische Gesellschaft des Ancien Régime aus, daß sie weder arbeitete noch rechnete.60 Der Idee nach kommt Reichtum dem Herrscher von Natur aus zu, wie denn auch das Attribut ‚reich‘ (im Sinne von dives) sich aus einem Substantiv ‚Herrscher, Oberster‘ (lat. rex) entwickelt hat und teilweise bis in die Neuzeit die Bedeutung ‚potens‘ behalten hat.61 In der Figur Anselmes ist die Negation des Ökonomischen freilich auf die Spitze getrieben. Sein Reichtum scheint geradezu von Gott gegeben zu sein, wenn der ehedem Schiffbrüchige betont, daß nicht allein seine Person, sondern „tout l’argent qu’il portait“ vom Himmel gerettet worden sei (S. 174). Nutzt er das Geld jetzt zu Wohltaten aller Art, so verhält er sich exakt so, wie Seckendorff es dem Fürsten empfiehlt, der seine Mittel „nicht eben zu seinen und eigenen nutz, sondern zu trost und freude vieler leute, nach dem exempel des gütigsten Gottes, dessen stelle er vertritt, anlegen“ soll.62 Auch als pekuniärer Antipode des Geizigen vertritt Anselme die Position des Königs. Worin aber kann die (wirtschafts)historische Prägnanz einer solchen Konstellation bestehen, wenn es der Krone realiter an Geldmitteln mangelte, so daß sie privates Kapital anwerben mußte? Diese Schwierigkeit löst sich, wenn man die Antwort, die L’Avare auf das ökonomische Problem mangelnder Investitionsbereitschaft im Wirtschaftsbürgertum gibt, nicht als streng ökonomische versteht. Das jedenfalls legen sowohl historische als auch innertextliche Gründe nahe. Zum ersten: Wie sich schon 1667 gezeigt hatte, beruhte das Zögern etwa der Kaufleute von Rouen auf guten Gründen. Eine primär ökonomisch begründete Lösung des dramatischen Konflikts – etwa, daß Cléante in den Außenhandel investierte und mit dem erzielten Gewinn sich, seine Schwester und Mariane ‚freikaufte‘ – wäre daher in Gefahr gewesen, von der Wirklichkeit bereits ‚widerlegt‘ zu sein. Zum zweiten wird auch Harpagons als Wuchergeiz codierte Investitionsfeindschaft keineswegs allein, ja nicht einmal vorwiegend als ökonomisches Verhalten profiliert. Die negative Komplexität, in der sein Geiz als Vergehen an Gott, der Natur und den Menschen erscheint, erfordert wiederum einen positiven Ausgleich, dessen Komplexität nur eine herrschergleiche Figur zu vertreten vermag. Gerade in der Mehrdimensionalität, die den Konflikt und seine Auflösung auszeichnen, entsprechen sich Harpagons Defekt und Anselmes Leistung: Während der Geizige 60 Vgl. Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 173; Roth: Höfische Gesinnung und Honnête-
té, S. 211–213. 61 Vgl. DWb 8, Sp. 579f. s. v. reich. 62 Teutscher Fürsten-Staat, S. 158.
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seinen Kindern auch kein Vater mehr sein kann, verbindet Anselme Reichtum mit moralischer Vorbildlichkeit.63 Weder das Liebesprinzip der Kinder noch die väterlichen Geldmittel alleine hätten den guten Ausgang bewirken können. Erforderlich war beider Verbindung und noch mehr: Freigebigkeit, göttlicher Schutz sowie eine schiedsrichterliche Erhabenheit über beide Parteien.64 Was Anselme leistet, weist auf die Monopolisierung der wichtigsten Autoritätsrollen durch den Herrscher: der König fungiert als Vater wie als Gott. Seine Harmonisierung der Gegensätze wirkt so stark, daß sich im Idealreich der Schlußszene selbst der Geizige nicht zu ändern braucht. Die Verzeihung und Versöhnung, die der Rex ex machina im Tartuffe dem Hause Orgons bringt, erstreckt sich hier auch auf den asozialen ‚Sünder‘.65 Sah Harpagon sich angesichts des Schatzdiebstahls schon im Grab (IV,7, S. 142), so scheint die Sonne des Monarchen am Ende auch über ihm.66 Man mag darin eine taktische Konzession an die privaten Financiers sehen, die sowohl satirisch angegriffen als auch umworben werden sollten. Vor allem aber stellt Anselmes Reichtum eine Macht dar, die Widerstand nicht durch Strafe bricht, sondern durch ihr bloßes Auftreten. Geld als ‚absolutes Mittel‘ hat es nicht nötig, einen Tausch zu vollziehen, da es die Tauschbarkeit jeder Sache schon vor dem faktischen Tausch konstituiert.67 Darin aber entspricht Anselmes ‚Vermögen‘ (im doppelten Sinne) exakt dem absoluten Anspruch der königlichen Macht. Gelöst wird Colberts Problem demnach in der Sphäre eines Ideals (des finanzkräftigen Königtums), dessen Realisierung durch ebenjenes Problem (die Verweigerung steuerträchtiger Wirtschaftstätigkeit) verhindert wurde. Ökonomisch gesehen lautet die Botschaft von Anselmes Auftreten und Wir63 Die Spiegelbildlichkeit der beiden Figuren bezeugen noch weitere Strukturmomente
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des Stücks. So tritt Anselme in jener persönlichen Isolation in die Handlung ein, in die Harpagon zum Schluß gerät, denn Frau und Kinder hält er für verloren (S. 40). Valères Versuch, als Verwalter des Geizigen getarnt zwischen den Absichten des Vaters und dessen Tochter zu vermitteln, ist dagegen zum Scheitern verurteilt, denn Valère ist Partei, muß dies aber unter übertriebener Parteinahme für Harpagon verbergen. Anselmes Verhalten ist dagegen von Wohlwollen nach beiden Seiten geprägt; was er tut, beweist voll und ganz das Wort, das er gleich bei seinem Auftritt an Harpagon richtet: „pour vos intérêts, je suis prêt à les embrasser ainsi que le miens propres“ (S. 166). Vgl. McCann: Harpagon: The Paradox of Miserliness, S. 567–569. Im ludovizianischen Herrscherbild fungiert das Sonnensymbol als Verweis auf die universale Wirkung des Königs als Lebensspender, vgl. Ludwig XIV.: Memoiren, S. 137. Anselme ist bestrebt, nicht allein Harpagons Ansprüche, sondern auch dessen Wünsche zu befriedigen. Da der Geizige die Hochzeit seiner Kinder nicht anders als unter Kostenaspekten zu betrachten vermag, schließt er sich allerdings selbst aus einer Gesellschaft aus, deren Bindungen auf Liebe und Fürsorge beruhen sollen. Vgl. Luhmann: Wirtschaft als soziales System, S. 214f.
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ken, daß die Schwierigkeiten des Weges dadurch überwindbar seien, daß man sich schon einmal auf den Zielpunkt stellt. Ökonomische Logik, auch die des Merkantilismus, ist damit einerseits transzendiert. Andererseits kann die propagandistische Logik, der Molières Komödie folgt, durchaus ökonomische Wirkung entfalten: nach dem Muster der zur eigenen Erfüllung beitragenden Prophezeiung.68 Die paradoxe Suggestion, das Ziel als Mittel auszugeben, das die Schwierigkeiten des Weges überwinden könne, gewinnt dabei desto mehr Überzeugungskraft, je beherrschender dieses Ziel erscheint, will sagen je unfehlbarer alle Wege darauf hinauslaufen. Mit welcher Ausnahmslosigkeit Anselme alles auf sich bezieht, wird vollends erst an seiner Leistung in der Liebessphäre deutlich. Schauen wir dazu hinter seine Rolle bei der matrimonialen Erfüllung aller berechtigten Liebeswünsche auf deren innere Problematik. Schwieriger als sich zu heiraten ist es schließlich, der wechselseitigen Liebe Dauer zu sichern. Um diese Dauer zeigen sich Valère und Élise denn auch in großer Sorge. Die Komödie beginnt mit ihren Liebesbeteuerungen, die desto stärker sich relativieren, je nachdrücklicher sie gegeben werden. Gäbe es einen Beweis für seine Liebe, so bedürfte es nicht der „mille et mille preuves“, die Valère anbietet (I,1, S. 8). Der „changement“ seines Herzens, den Élise befürchtet, kann durch noch so „obligeantes assurances“ nicht ausgeschlossen werden (S. 6). Indem solches aber verlangt wird, verabsolutiert dieses Paar die Liebe,69 sowohl in dem Sinne, daß sie von der Bedingtheit durch die Zeit abgelöst werden soll, als auch in bezug auf den Lebenszweck der eigenen Person (Valère hat bereits sein Leben für Élise eingesetzt; S. 8, 164). Das zweite Paar meidet hingegen solche Unbedingtheiten. Cléante genügte es, seine persönliche Wertschätzung Marianes durch eine materielle Gabe zu bezeugen,70 für die er, da mittellos, nicht einmal selbst aufkommen würde (I,2, S. 16). Die Liebesbeteuerungen dieses Paars erfolgen unter der Maske doppeldeutiger Reden, und den Ring, mit dem Cléante sich Mariane verbindet, überreicht er ihr vorgeblich als Geschenk seines Vaters (III,7). Ihrem flexibleren Verhalten gibt das Stück inso68 Dieser Logik folgte die ludovizianische Kulturpolitik generell. Vgl. Mandrou: Staats-
räson und Vernunft, S. 57–72, über die von Ludwig XIV. bezahlte – und recht ‚erfolgreiche‘ – Vorwegnahme seiner hegemonialen Stellung in Europa durch literarische Propaganda. 69 Vgl. Apostolidès: Molière and the Sociology of Exchange, S. 482–484. In einer Redewendung bezeichnet Valère die Liebe selbst als „un dieu“ (S. 156). Wie die Aneinandervorbei-Szene V,3 zeigt, bringt ihn diese Absolutheit gar in die Nähe Harpagons. (John McCann spitzt diese Parallele zu der These zu, „that Valère loves Elise the way a miser loves money“; Harpagon: the Paradox of Miserliness, S. 560.) 70 Was nicht für ein schwächeres Liebesgefühl spricht, sondern anzeigt, daß er sich in einem Wertesystem bewegt, in dem moralisches und ökonomisches Handeln noch miteinander verrechenbar ist (vgl. Force: Molière ou le prix des choses, S. 250f.).
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fern recht, als es Valère und Élise die Endgültigkeit verweigert, nach welcher deren Liebe verlangt: Élises letzter Redebeitrag ‚schließt‘ mit drei Punkten (V,4, S. 166), während Valère zuletzt nur noch mit einer Frage zu Wort kommt (V,5, S. 174). Durch Liebe allein läßt sich dauerhafte Liebe offenbar nicht garantieren. Eine isolierte Liebessphäre als Hort des Unverlierbaren gegen die Vergänglichkeit des materiellen Besitzes auszuspielen, wie Weises Plautusadaption es tun wird, ist unter diesen Voraussetzungen nicht möglich. Ähnlich wie Harpagon sogar sein „bonjour“ nicht ‚geben‘, sondern nur ‚leihen‘ möchte,71 steht die Liebe ständig unter dem Vorhalt eines Widerrufs. Um so stärker konzentrieren sich die Erwartungen auf denjenigen, der die Wechselfälle des Lebens zwar auch nicht ausschließen kann, der jedoch ohne Vorbehalte schenkt, ja an dessen Anwesenheit der Segen der Vorsehung gebunden scheint: den Vater der Familie. Fehlt hingegen die Autorität des Vaters, so erhebt eine „barbare injustice“ selbst unter den Familiengliedern ihr Haupt (V,5, S. 172). Stellt man die gängige Analogie Vater-Fürst in Rechnung, so zeigt sich L’Avare auch hinsichtlich der persönlichen Beziehungen seiner Figuren ganz auf den Monarchen ausgerichtet. Diese strukturelle Koinzidenz von ökonomischer und erotisch-familiärer Sphäre weist seinen Autor aber weniger als „artistisch perfektesten Propagandisten der Politik Colberts“72 aus denn als kongenial zum ‚absoluten‘ Anspruch des ludovizianischen Königtums auf „umfassende Neuordnung und Reglementierung aller Bereiche der Gesellschaft“73.
3.3.3 Monarchische Vermittlung zwischen Gottes- und Geldnorm Daß dieser Anspruch nirgends vollständig eingelöst wurde, hat die Absolutismusforschung immer wieder hervorgehoben.74 Zumal von Ludwig XIV. wurde er gleichwohl erhoben. Die besondere Leistung von Molières Komödie liegt wiederum darin, daß sie ihn sowohl darstellt als auch die (unerfüllbaren) Bedingungen seiner Erfüllung aufzeigt. Diese immanent ‚kritische‘ Leistung 71 Vgl. La Flèches bissiges Wort über Harpagon: „donner est un mot pour qui il a tant
d’aversion, qu’il ne dit jamais: Je vous donne, mais: Je vous prête le bonjour“ (II,4, S. 64). 72 Nerlich: Kritik der Abenteuerideologie Bd. 2, S. 419. 73 Stenzel: Molière und der Funktionswandel der Komödie, S. 115. 74 Vgl. Duchhardt: Das Zeitalter des Absolutismus, S. 166–170. Den neuesten Forschungsbericht gibt Duchhardt in der 3. Auflage seines Buches, S. 160–164. Schwächer blieb die monarchische Macht zumal in den meisten deutschen Staaten; zu deren Abgrenzung vom französischen ‚Modell‘ vgl. Bauer: Die höfische Gesellschaft.
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sei im folgenden verdeutlicht. Über solche zeitgenössischen Bezüge hinaus soll dieses letzte Unterkapitel den säkularen Entwicklungstrend in den Blick nehmen, in dem ökonomische und privat-erotische Sphäre sich zu trennen beginnen und der das Geld in jene übergeordnete Sinnstiftungsfunktion rückt, die traditionell Gott wahrnimmt. Denn die Leistung, die Molières Komödie der Königsfigur zumißt, kann als Faktor beschrieben werden, der sowohl diesen Trend befördert als auch ihm Grenzen zieht. Schaut man weniger darauf, welches Gegenprogramm zu Harpagons Thesaurierung sowie Gewinnorientierung noch in Heiratsdingen Anselme vertritt, als auf die Mittel, mit denen er seine Position zur Geltung bringt, so nähern sich die Antipoden erstaunlich weit einander an. Der absolute Anspruch des ludovizianischen Königtums, den L’Avare literarisch reflektiert, kann dann nicht überraschen, wenn man die Herausbildung des neuzeitlichen Staats im Auge hat. Sieht man hingegen auf den säkularen Entwicklungstrend der verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche in ihrem wechselseitigen Verhältnis, so fällt die Gegenläufigkeit der Anselme zugeschriebenen Integration zur allgemeinen Divergenztendenz auf. Der Rex ex machina hält noch einmal zusammen, was die längste Zeit des Stücks bereits seine Unvereinbarkeit bewiesen hat: einerseits die ökonomische Berechnung, die alle, auch die persönlichsten Verhältnisse, nach Gewinn und Verlust kalkuliert,75 andererseits die rein persönliche Schätzung, wie sie in der Liebe stärksten Ausdruck findet. Obwohl beide Weltansichten kaum je ungemischt zur Geltung kommen, können ihre Vertreter sich buchstäblich nicht mehr verständigen. Daß die Gegensätze zwar überbrückt, nicht aber aufgehoben werden, macht zumal der Schluß hinreichend deutlich. Manche Forscher sehen in dieser eben noch zusammengehaltenen Differenzierung kapitalistische Tendenzen und eine Wirkung des sich herausbildenden Marktes, wobei vor allem Harpagon als Inkarnation des monetären Tausches gilt.76 Auf die Geschäfte des Geizigen ist der Begriff des Tausches freilich kaum anwendbar. Weit besser paßt er auf die zahlreichen Heiraten, die der Geizige plant (I,4, S. 32–38). Auf diesem Feld wiederum zeugt er nicht für besonders ‚moderne‘ Praktiken, sondern für die vormoderne Ungeschiedenheit persönlicher und wirtschaftlicher Interessen auch bei der Gestaltung von Familienverhältnissen.77 Nicht der Tausch an sich hat also eine historische Tendenz, sondern die Konstellation der Kriterien, nach denen er erfolgt. Die typische Heirat reicher Bürgerkinder um 1670 folgte dem Prin75 Zur Wirkung des Geldes, das Individuum von allen spezifischen Bindungen zu lösen,
vgl. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 652. 76 Vgl. Apostolidès: Le Prince sacrifié, S. 154, 160. 77 Vgl. Gerhardi: Geld und Gesellschaft im Theater des Ancien Régime, S. 89f.
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zip, mit Hilfe einer hohen Mitgift adlige Ehepartner zu ‚kaufen‘, die ihrerseits Sozialprestige mit in die Ehe brachten.78 Diese Vermischung der Hinsichten wird im Avare weitgehend außer Kraft gesetzt. Geld und Ansehen spielen für die jungen Paare zunächst einmal keine Rolle (I,1/2, S. 10, 16), so daß – erstens – das Liebesprinzip isoliert hervortritt (wenngleich noch nicht als Programm rein individueller Liebe, sondern im Rahmen des sozial gebundenen Liebesverständnisses der honnêtes gens).79 Zweitens kann man auch aus dieser Abweichung von der Regel noch ein politisches Programm lesen: die Mahnung an das aufsteigende Bürgertum, seine Finanzkraft nicht an den Erwerb aristokratischen Prestiges zu verschwenden,80 sondern – so ließe sich ergänzen – in die Zirkulationssphäre zu investieren. Beide Lesarten aber weisen auf eine zunehmende Separation einerseits der privat-moralischen, andererseits der ökonomischen Sphäre. Der Integration, die Anselmes Auftritt verspricht, läuft die wirtschaftspolitische Botschaft der Komödie bereits zuwider, ebenso die finale Bekräftigung des Liebesprinzips in Heiratsdingen. Doch muß man Anselmes Integrationsleistung damit nicht gleich unterlaufen sehen. Überbrückt nur er den Graben, der sich zwischen den divergierenden Lebenssphären aufzutun beginnt, so streicht das umgekehrt auch seine Sonderstellung heraus. Dagegen mag man zweifeln, ob seine Stellung gleiche Distanz zu beiden Seiten hält. Schließlich ist es vor allem Anselmes pekuniäre Potenz, welche den guten Ausgang rettet. Bedenkt man hinwieder die unökonomische, ‚himmlische‘ Herkunft seines Vermögens, so zeigt die ‚königliche‘ Figur weniger eine besondere Neigung zur Wirtschaft als eine strukturelle Affinität zum Medium Geld. Eng, ja fragloser noch als Harpagon mit dem Geld verbunden ist Anselme nicht wegen dessen Geltung in einem (sich erst herausbildenden) gesellschaftlichen Teilsystem, sondern insofern sich beide als Universalmedium begreifen lassen. Insbesondere Georg Simmels Bestimmung des Geldes als des „beständigsten“ Elements der Welt, das 78 Vgl. Bluche: Im Schatten des Sonnenkönigs, S. 124–128. Der Roman bourgeois
Antoine de Furetières (1666) karikiert diese Praktiken, indem er eine Tabelle aufstellt, aus der sich ablesen läßt, welche Mitgift ein junges Mädchen benötigt, um Würdenträger verschiedener Ränge ‚kaufen‘ zu können (ebd., S. 127). Zum Bestreben gerade reicher Financiers, ihre Kinder in höher angesehene Kreise zu verheiraten, vgl. Dent: Crisis in Finance, S. 208–231. 79 Das wird auch durch die Ausstattung, die sie unverhofft von Anselme erhalten, nicht zurückgenommen, denn erhandelt wird hier nur die Zustimmung Harpagons, deren Verweigerung wiederum keinerlei sozial-rationale Gründe hätte: Gerade seinen – materiellen – Kriterien zufolge machen Cléante und Élise eine sensationell gute Partie. Am ‚Normalfall‘ gemessen, ist die doppelte Mitgift nicht Preis in einem Handel, sondern ein Geschenk. 80 Diese beliebte Variante bürgerlicher Geldanlage bildete einen der Gründe für den Mißerfolg der Colbertschen Investitionswerbungen Mitte der 1660er Jahre (vgl. Malettke: Colberts Werbung für die „Compagnie des Indes Orientales“, S. 371).
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„als der Indifferenz- und Ausgleichspunkt zwischen all ihren sonstigen Inhalten“ stehe und dessen „ideeller Sinn“ es sei, „allen Dingen ihr Maß zu geben, ohne sich selbst an ihnen zu messen“,81 läßt sich leicht auf den Geltungsanspruch des absoluten Fürsten wenden. Dementsprechend sind es das Bild oder die Initiale des Herrschers, die den Geltungsanspruch geprägten Münzmetalls beglaubigen.82 Genaugenommen übererfüllt der König sogar das Kriterium, als selbst unbewegter Fixpunkt die Interessen aller anderen zu messen und auszugleichen, denn die Einschränkung „insofern sie wirtschaftlich sind“ trifft ihn nicht. Dementsprechend dient Anselme das Geld nur als Mittel, seine monarchische Rolle zur Geltung zu bringen. Diese Prioritätssetzung kennzeichnet das Zeitalter des Absolutismus generell. Gemeint ist nicht bloß der mehrfach erwähnte Vorrang der fürstlichen Kasse bei allen Wirtschaftsförderungsmaßnahmen. Zu überlegen steht vielmehr, ob die von Jochen Hörisch für die Zeit zwischen 1500 und 1650 veranschlagte Umstellung von Gott auf Geld als ontosemiologisches Leitprinzip83 nicht verzögert wurde durch die Etablierung säkularisierter Ersatzgötter in Gestalt des absolutistischen Fürsten. Denn im Fürsten tritt der unbewegte Beweger zuerst ins Diesseits. Ist er als erhabene und geheiligte Person84 noch ähnlich substantiell ausgezeichnet wie Gott, so kündigt sich in der Notwendigkeit, politisch zu handeln, die funktionale Beglaubigung des Geldes bereits an; anders als Gott kann der Fürst abgesetzt werden, muß sich also bewähren.85 Zumal in einer Figur wie Anselme berühren sich theologische Legitimation und monetäres Handeln in auffälliger Weise. Daß die monarchisch schwachen oder republikanischen Staaten England und Holland während des ganzen 17. und 18. Jahrhunderts über ein viel weiter entwickeltes Geldwesen als Frankreich oder die deutschen Territorien verfügten,86 ließe sich zudem als geldhistorische Gegenprobe anführen. Die Bindung des Königs sowohl an ‚Gott‘ als auch an ‚Geld‘ mag man schließlich als Prädisposition dafür ansehen, daß ihm auf lange Sicht lediglich eine Übergangsrolle zukam. 81 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 715. Das folgende Zitat ebd. 82 So zeigte der Louisdor von 1640 bis 1689 viermal das gekrönte, ins Kreuz gestellte,
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spiegelbildlich gedoppelte L (vgl. Wb. d. Münzkunde, S. 361), und der Franc zeigte bis 1641 vorne das Brustbild des Königs sowie auf der Rückseite dessen Initiale (ebd., S. 202). Vgl. Hörisch: Kopf oder Zahl, S. 26–33. Zur Heiligkeit, ja Gottesebenbildlichkeit Ludwigs XIV. in dessen Selbstbild vgl. Burke: Ludwig XIV., S. 23, 55, 63, sowie Hinrichs: Zur Selbstauffassung Ludwigs XIV. in seinen Mémoires, S. 315. Ganz dieser Übergangstellung entsprechend forderte Ludwig XIV. in seinen sog. Mémoires (vor 1671), der Herrscher könne der von Gott verliehenen Aufgabe erst durch rastlose Tätigkeit gerecht werden (vgl. Hinrichs: ebd., S. 301). Vgl. Mager: Frankreich vom Ancien Régime zur Moderne, S. 55.
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Besitzt die Königsfigur demnach nicht bloß Geld, sondern besetzt sie dessen Systemstelle, so modelt sie Funktion und Funktionieren des Geldes doch nach ihren eigenen Maßstäben. Wirkt Anselme vor allem als Fixpunkt, so drängt seine Geldherrschaft den „Bewegungscharakter“87 des Geldes konsequenterweise zurück zugunsten von dessen Funktion als „stabilem“ Wertmesser. Auf die monetären Grundsatzfragen der Entstehungszeit des Avare gewandt, heißt das: Was zunächst als Hauptanliegen der Anti-WucherPolemik erscheint, die Durchsetzung des merkantilistischen Zirkulationsimperativs, bildet lediglich ein Mittel zum Zweck fürstlicher Macht- und Einkommenssteigerung. Trotz ihres engen Bezugs zur merkantilistischen Wirtschaftspolitik optiert Molières Komödie weniger für Bewegung und Zirkulation als für Stabilität und Zentralisation. Ein Lob des geschäftlichen Wagemuts singt lediglich Frosine, die Heiratsvermittlerin, deren Gewinnhoffnungen indessen enttäuscht werden (II,4/5, S. 62, 80). Der von ihr vorgeschlagene Versuch, Harpagons Widerstand gegen die Heiraten seiner Kinder durch eine Intrige zu brechen, führt bezeichnenderweise nicht zum Erfolg.88 Vielmehr hat selbst die Bewegung, in welche die Figurenkonstellation komödientypisch durch die zwei Liebespaare gerät, in Anselme einen Fix- und Angelpunkt. Zwar löst er durch sein Auftreten die lange Hemmung der Innamorati durch Harpagon, doch richtet er sie zugleich auf sich aus und stellt sie dadurch still.89 Noch deutlicher tritt diese ungleiche Gewichtsverteilung zwischen Statik und Bewegung in finanzpolitischer Hinsicht hervor: Die Karikatur des Geizigen polemisiert gegen die Thesaurierung, also Stillstellung von Geld; der Zirkulationsimperativ, der ex negativo daraus folgt, zielt letztlich jedoch auf einen neuen Fixpunkt: den Monarchen. Der ‚falsche‘ Stabilitätspol, Harpagons Kassette, wird lediglich durch einen anderen, ‚richtigen‘ ersetzt. Das einzige, was die Komödie in einen Austausch bringt, sind daher abgelehntes und favorisiertes Finanzprinzip: Obwohl sie ihre Polemik gegen volkswirtschaftlich unproduktive Geldgeschäfte durch eine Thesaurierungssatire plausibilisiert, findet sie ihr Ziel im Schatz einer Königsfigur. Anders als bei Masen läßt sich solche Zirkularität der Dramenhandlung nicht mehr als Ankündigung merkantilistischer Wirtschaftsprinzipien lesen, sondern sie verweist auf deren innere Widersprüchlichkeit. Doch liegt ein anderes, nicht mehr intendiertes Moment historischer Signifikanz der Komödie gerade in 87 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 714. Das folgende Zitat ebd., S. 715. 88 Vgl. McCann: Harpagon: the Paradox of Miserliness, S. 565f. Ähnlich geht es der
zweiten ‚Intrige‘: La Flèches Raub der Kassette. Er gibt Cléante zwar ein Mittel gegen seinen Vater in die Hand, vermag einen guten Ausgang – d. h. Harpagons Zustimmung zu beiden Heiraten, weil sie ihn nichts kosten – jedoch nicht zu bewirken. 89 Cléantes Plan, mit Mariane auszuwandern, falls der Vater die Heirat verweigert (I,2, S. 18), ist nun gegenstandslos geworden.
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dieser Relativierung des merkantilistischen Zirkulationsimperativs: Statisch dachte auch Colberts Politik den Wirtschaftsprozeß. Da der realisierbare Gesamtgewinn als gleichbleibend galt, zielte sie darauf, den eigenen – konkret: königlich-fiskalischen – Anteil zu vergrößern, durch aktive Wirtschaftsförderung, Steuern, Zölle und bei Gelegenheit auch durch Krieg.90 Aus wirtschaftshistorischer Distanz betrachtet, steht auch Ludwig XIV. als ein Harpagon da. Gewiß nutzt Anselme, der dramatische Stellvertreter, sein Geld weder als Wertaufbewahrungs- noch als Geschäftsmittel. Ganz im Sinne der ludovizianischen Ideologie des unbegrenzten monarchischen ‚Vermögens‘ verschenkt er es einfach, mit vollen Händen. Statt Avaritia herrscht unter ihm Abundantia – nicht zufällig ein beliebtes Motiv barocker Repräsentationsikonographie.91 Der Kontrast zu Harpagon tritt auf diese Weise am deutlichsten hervor. Ausgerechnet seine Freigebigkeit bringt den ‚Bühnenkönig‘ aber erneut in die Nähe des Geizigen: Wer so schenkt, stellt sich – auf diametral entgegengesetzte Weise, aber mit demselben Effekt wie Harpagon – an den Rand der Gesellschaft. Das gilt in bezug auf den außerirdischen Reichtum, der solchem Schenken zugrunde liegen muß, ebenso wie hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Wohltäter und Beschenkten. Anselmes Gaben lassen keine Gegengaben zu; anstatt wie im Merchant of Venice vergesellschaftend zu wirken, isolieren sie ihren Geber. Man kann darin einen weiteren Beleg dafür sehen, daß die Figur des Anselme notwendig auf die ‚erhabene‘ Person des Königs verweist, dessen élévation direkt von seinem exorbitanten materiellen Aufwand abhing.92 Zudem unterstreicht solche grenzenlose Freigebigkeit die göttlichen Qualitäten dieser Deus-ex-machina-Figur; Anselmes Reichtum ist ähnlich fraglos gegeben wie das unendliche Vermögen der Gottesmutter, das Bidermann dem Frommen verhieß. Monarchischer wie theologischer Bezug aber machen Anselmes Wirken nur sehr eingeschränkt tauglich als gesellschaftliches Leitprinzip oder ökonomische Handlungsanweisung. Vielmehr stellt es eine Verheißung dar, deren ‚inhaltliche‘ Gegenbildlichkeit zum Objekt des Verlachens erhebliche Irrealität nach sich zog. Die Belohnungen normgerechten Verhaltens, die von Plautus bis Masen von (einem) Gott zugeteilt wurden, vergibt bei Molière bereits eine säkulare Figur. Mit den Attributen und dem Status eines zu höchsten Ansprüchen gesteigerten Königtums versehen, bleibt sie, trotz dieser Verdiesseitigung, aber kaum hinter der Entrücktheit des göttlichen Weltenlenkers zurück. 90 Vgl. Kunisch: Absolutismus, S. 101. 91 Vgl. Burke: Ludwig XIV., S. 56. 92 Zur zeremonialen Entrückung des absolutistischen Herrschers vgl. Kruedener: Die
Rolle des Hofes im Absolutismus, S. 38–41; zur anthropologischen Begründung seiner Sonderstellung bei Ludwig XIV. Kunisch: Absolutismus, S. 29f.; zum höfischen Prestigeverbrauch Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 104, 110f.
3.4 Unberechenbarer Geiz, unbegreifliche Geschenke Der Geitzige der Wanderbühne und die (geld)historischen Hindernisse eines französisch-deutschen Komödientransfers Bei weitem nicht so verschlungen wie die Rezeption des Merchant of Venice sind die Wege, auf denen L’Avare auf die deutsche Bühne gelangt ist. Bereits 1670, also zwei Jahre nach der Pariser Erstaufführung, lag Der Geitzige in einer Sammlung von Texten für die Wanderbühne gedruckt vor (Schau-Bühnen Englischer und Frantzösischer Comödianten Dritter Theil).1 Bei höfischen Festlichkeiten, im Karneval etwa oder bei einer mit großem Aufwand begangenen Hochzeit wie der des sächsisch-polnischen Thronfolgers mit einer Kaisertochter 1719, gehörten Molière-Komödien ohnehin zum typischen Programm.2 In solch höfischem Rahmen wurden die Stücke überwiegend französisch gespielt; wie zahlreiche deutsche Neu- und Nachdrucke des Avare und überhaupt Molièrescher Œuvres belegen, vollzog sich die hiesige Rezeption generell vor allem über die Originalsprache.3 Aber auch deutsche 1 Nachgedruckt bei Brauneck (Hrsg.): Spieltexte der Wanderbühne Bd. 4, S. 407–536.
Auf diese Ausgabe beziehen sich die Seitenangaben im Text. Die Einteilung in Akt und Szenen entspricht der im Original; auf die entsprechenden Angaben wurde daher verzichtet. In welchem Maße die gedruckten, überwiegend akkuraten Übersetzungen durch die Schauspieltruppen verändert wurden, die sie zur Aufführung brachten, muß offenbleiben. Richter rechnet mit Bearbeitungen, die vor allem die komischen Szenen herausstrichen (vgl. Liebeskampf, S. 294–296), Grimberg mit einem mehr oder weniger extemporierenden Spiel (vgl. La Réception de la comédie française, S. 109). Im Vergleich mit einer auf die früheren englischen Komödianten zurückgehenden Bearbeitung wie dem Juden von Venetien brachten die deutschen Wandertruppen ihre aus fremden Literaturen übernommenen Stücke gleichwohl mit hoher Texttreue auf die Bühne (vgl. Rudin: Wanderbühne, S. 814). 2 Vgl. Bolte: Molière-Übersetzungen des 17. Jahrhunderts, S. 83; Staczewski: August III., S. 100. Zum französischen Hoftheater in – vor 1700 – Hannover und München vgl. Steltz: Geschichte und Spielpläne der französischen Theater an deutschen Fürstenhöfen, S. 1–10, 16–19. 3 Vgl. Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum Abt. 2, Bd. 1, S. 406–409 mit einer Auflistung aller deutschen Drucke des originalen Avare in Deutschland (1700, 1708, 1741, 1747, 1749, 1750, 1752, 1754, 1760, 1761, 1764, 1780, 1788–91, 1794); ebd. Bd. I,2, S. 762–785 eine Liste sämtlicher deutscher Molière-Ausgaben des 18. Jahrhunderts (auf deutsch und französisch). Ebd. Bd. II,1, S. 407 vermerkt Meyer
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Truppen übernahmen Molières Komödien und zumal die Farcen bald und gerne ihr Repertoire; so brachte der wohl bedeutendste Prinzipal der achtziger Jahre, Johannes Velten, mindestens zehn Molière-Stücke zur Aufführung.4 Der Geizige gehört dabei nicht nur zu den am häufigsten, sondern auch zu den frühesten nachgewiesenen Stücken; von deutschen Schauspielern aufgeführt, wird er zuerst beim Dresdner Karneval 1674 faßbar.5 1694 und 1695/96 erschienen überdies zwei umfangreiche Übersetzungen Molièrescher Dramen.6 Mit dem Avare und anderen „grandes comédies de caractère“ lagen, so Michel Grimberg, der die gattungsgeschichtlich kaum zu überschätzende Rezeption der französischen Komödie in Deutschland kompendiös aufgearbeitet hat, „les premiers exemples des pièces centrées sur des types humains ancrés dans une réalité sociale et différents des caricatures de la farce ou des masques de la commedia dell’arte“ vor.7 Zugleich hat die Forschung davor gewarnt, von den äußeren Fakten einer lebhaften Molière-Rezeption auf eine Hinwendung der deutschen Bühne zum konsequenten Handlungsaufbau und zur differenzierten Charakterdarstellung, wie die bekanntesten Molière-Komödien sie zeigen, zu schließen. Daß die fünf in die Schaubühne von 1670 aufgenommenen Stücke entweder Farcen sind (Le Cocu imaginaire und L’Amour médecin) oder solche, „bei denen man in der Aufführung leicht die possenhaften Züge [...] herausheben konnte“ (Les Précieuses ridicules, L’Avare und George Dandin), bestätige vielmehr, daß die vom Handlungsgang weitgehend isolierte (Körper-)Komik einer komischen Figur weiterhin die deutsche Komödie beherrscht habe.8 Die Ablösung des in Norddeutschland starken englischen Einflusses durch den italienisch-französischen – wobei die Traditionen der Commedia dell’arte auch in Molières Stücken vielfach durchschlugen – habe eine dramaturgische Wende nicht bewirken können. – Eine solche Einschätzung nimmt das auf Handlungskohärenz und fiktionale Homogenität des Bühnenraums zielende Theater der Gottschedschen Reform als Perspektivpunkt. Prinzipiell wertfreie und sozial ortlose Situations- und Körperkomik, wie sie für die Stegreifspiele der frühen Wanderbühne typisch ist, erscheint danach als zu überwindender
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auch und gerade für das mittlere 18. Jahrhundert zahlreiche Aufführungen des Avare in französischer Sprache an deutschen Höfen (beginnend 1742 in Mannheim). Vgl. Bolte: Molière-Übersetzungen, S. 87; Richter: Liebeskampf, S. 276–278. Ein Repertoire von 13 Molière-Stücken schreibt Bärbel Rudin Velten zu (vgl. Das fürstlich eggenbergische Hoftheater, S. 483), und noch 1710 kommt ein Verzeichnis von Dramentiteln auf zehn Molière-Stücke, darunter den Geizigen (vgl. Bolte: ebd.). Vgl. Bolte: ebd., S. 86. Ebd., S. 88–92. L’Avare ist dort in der Fassung der Schau-Bühne aufgenommen. Grimberg: La Réception de la comédie française, S. 108. Steinmetz: Komödie der Aufklärung, S. 9.
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Ausgangspunkt einer Entwicklung, die zum moralisch-satirischen Verlachen und Kurieren sozial abweichenden Verhaltens führt. Die Geschlossenheit einer Handlung, in welcher das Laster sich selbst zu Fall bringt, die komische Figur aber keine illusionsdurchbrechende Wirkung mehr hat, bildet in einem solchen Idealtypus den dramaturgischen Ausdruck der erstrebten Integration von Komik und moralischer Absicht.9 Hält man sich bewußt, daß es sich bei einer so skizzierten Komödiengeschichte im Übergang vom Barock zur Aufklärung nicht um eine ‚Aufgabe‘, welche die Gattung zu erfüllen hatte, sondern um eine perspektivische Rekonstruktion handelt, so gibt sie einen sinnvollen Rahmen auch für die vorliegende Untersuchung ab. Gerade das Geldmotiv lenkt die Aufmerksamkeit auf jene dramaturgische Verdichtung, denn die läßt sich als literarische Strukturparallele zur immer stärkeren sozioökonomischen Vernetzung deuten. In diesem Sinne konnten wir die Kreisförmigkeit der Handlungsstruktur von Masens Ollaria als dramaturgischen Ausdruck jenes merkantilistischen Prinzips lesen, das auf der Ebene explizierter ökonomischer und ethischer Regeln noch unter Vorbehalt stand. Dramaturgischen Niederschlag zeitigte auch jenes sozioökonomische Programm, dessen Wertungen das Verlachen des Geizigen bei Molière steuern, wird seine Ausrichtung ganz auf den König doch bereits darin deutlich, daß nur eine ‚Rex-ex-machina‘-Figur den dramatischen Konflikt zu lösen vermag. Über den Geizigen zu lachen fungiert im Avare zudem schon weitgehend als moralisch-soziale Kontrolle. Selbst die, am erläuterten Idealtyp gemessen, ‚Inkonsequenzen‘, daß Harpagon am Ende akzeptiert wird, obwohl er sich nicht ‚bessert‘, und die Intrige gegen ihn zum guten Ausgang nichts beiträgt, bestätigen das integrative Komödienmodell, wird daran doch sichtbar, welcher Instanz – nämlich der Königsfigur – die Garantie der sozialhistorischen Entsprechung der dramaturgischen Integrationstendenz zugedacht war. In welchem Maße diese Tendenz auch die deutsche Geizkomödie des späteren 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfaßte, bildet eine gattungsgeschichtliche Leitfrage der folgenden Kapitel über die Wanderbühnenadaption des Avare, Christian Weises Betrogenen Betrug sowie Hinrich Borkensteins Bookesbeutel. Folgt man der zitierten Relativierung des dramaturgischen Einflusses der äußerlich starken Molière-Rezeption, steht dort eine sehr viel geringere Integration von Komik, Handlungsstruktur und Geldverständnis zu vermuten, als wir sie bei Molière fanden. Auf den ersten Blick läßt der gedruckte Text des Geitzigen allerdings kaum auf nennenswerte Verluste dramatischer Stringenz schließen; einige der gelegentlichen Kürzungen betreffen vielmehr – ganz im Gegensatz zu Steinmetz’ Vermutung, ein Stück 9 Vgl. ebd., S. 20f.
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wie L’Avare sei als Posse rezipiert worden – Stellen, wo die Komik von Dialog und Handlung wenig Rücksicht auf Wahrscheinlichkeit nahm.10 Auffälligere Ansatzpunkte bietet die Übertragung, insofern sie die in Molières Komödie beschlossene sozial-ökonomische Mentalität verschiebt. Insbesondere das Geschäftliche erfuhr bei der Übertragung ins Deutsche beträchtliche Deformationen. Aber was besagen, mag man einwenden, solche Verschiebungen, wenn sie bloß an einer „groben Wanderbühnenfassung“11 abgelesen werden? Die Frage muß zurückgegeben werden: Was heißt hier ‚grob‘? Sicherlich: vergleicht man die deutsche Übertragung mit dem Original-Avare, so hat die Komödie einiges an Präzision, Nuance und Wortwitz der Repliken verloren. Von – gerade für unsere Frage nach der Rolle des Geldes aufschlußreichen – Ausnahmen abgesehen, bemüht die Übertragung sich zwar weithin um Wortgenauigkeit, doch erreicht sie nirgends die Komplexität und zugleich Leichtigkeit der Vorlage.12 In dem, was sie verändert, ist sie indessen erstaunlich präzise. Das beginnt mit Ortsangaben, die, das erwartete Publikum gut im Blick, die Bretagne durch Holland und Genua durch Genf ersetzen.13 Ähnlich bemüht zeigt sich die Übertragung im Umgang mit den komplizierten Münzverhältnissen des Avare (vgl. den folgenden Abschnitt a.). Auf Nachlässigkeit sind die genannten Verschiebungen also kaum zurückzuführen, weder die Verkürzung bzw. Verunklärung der ökonomischen Bedingungen der Handlung (b.) noch die Verwischung der sozialen Position der Figuren, soweit sie sich aus deren Habitus ergibt. Verstärkt werden hingegen das aristokratische Moment der Komödie sowie theologische Bezüge (d.). Für die hiesige Geldkomödie generell kennzeichnende Verzögerungen bei der funktionalen Ablösung Gottes durch das Geld werden dadurch schlaglichtartig beleuchtet. Die anderen 10 So entfallen in Harpagons Monolog (IV,7, S. 509f.): die Anrede seiner selbst („Rends-
moi mon argent, coquin“) sowie sein ‚Dialog‘ mit dem Publikum („Euh? que ditesvous? Ce n’est personne“). In der Aneinandervorbei-Szene V,3 ist Valères Schwärmerei für Elises schöne Augen gekürzt, die Harpagon im Original auf seine Kassette bezieht. Dieses groteske, psychologisch kaum mehr wahrscheinliche Mißverständnis entschärfend, bleibt es in der Übertragung bei Valeres Wunsch, „ihr Angesicht zu schauen“, was Harpagon lediglich auf „die schöne Gestalt meiner Kist“ bezieht (S. 523). 11 Vgl. Alexander: Das deutsche Barockdrama, S. 36. 12 Vgl. Ehrhard: Les Comédies de Molière en Allemagne, S. 64–66. Vergleiche zwischen Molière und den Schaubühnen-Übersetzungen hat bereits die ältere Forschung unternommen. Doch wurde dabei ausschließlich die sprachliche Leistung untersucht (vgl. Eloesser: Die älteste deutsche Übersetzung Molièrescher Lustspiele, S. 19–21, 25f.; Richter: Liebeskampf, S. 341f.), während die konzeptionellen Verschiebungen außer acht blieben. Die Avare-Übersetzung wird übrigens erheblich schlechter bewertet als die der anderen Molière-Stücke (vgl. Eloesser [Buchfassung], S. 45–49). 13 Vgl. L’Avare, S. 122 u. 172, mit dem Geitzigen, S. 494 u. 531.
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sozioökonomischen Bedingungen hierzulande haben wiederum Folgen für die dramaturgische Stringenz: Wo das Geschäftliche zurücktreten muß, verliert der Handlungsverlauf des Geitzigen einen Teil seiner Logik, so daß nicht nur die Ausstattung der beiden Hochzeitspaare, sondern überhaupt die Lösung des Konflikts als unvermitteltes ‚Geschenk‘ erscheint (c.). a. Zunächst zur Eindeutschung der Münzverhältnisse, denn sie ist für die Sorgfalt der Übertragung ebenso bezeichnend wie für deren widrige Voraussetzungen. Drei Fundamentalbedingungen der frühneuzeitlichen Münzverhälnisse sind zu berücksichtigen: 1. Die Geltung einer Münze war grundsätzlich nicht auf das Gebiet des Staates oder Standes beschränkt, der sie ausgab. Vielmehr waren stets Münzen verschiedener Herkunft nebeneinander im Gebrauch, auch innerhalb eines Gebietes, wenngleich immer wieder Versuche unternommen wurden, ‚fremde‘ – vor allem minderwertige – Münzen aus dem eigenen Territorium herauszuhalten.14 2. Das Wertverhältnis verschiedener Münzen gegeneinander hing – häufig unabhängig von der Nominale –15 im wesentlichen vom Edelmetall-Feingehalt der Münze ab. Zugleich lag für jeden Münzherrn die Versuchung nahe, den (in regionalen oder reichsweit verbindlichen Münzvereinbarungen) festgesetzten Feingehalt zu unterschreiten. Tat er es nicht, so kaufte ein anderer die ‚guten‘ Münzen auf und münzte sie mit vermindertem Feingehalt – und daher mit Gewinn für die eigene Münzstätte – neu.16 3. Die Stückelung des Münzsystems war nur zum Teil normiert. Relativ übersichtlich und vor allem konstant war das Verhältnis von Livres (tournois), Sous und Deniers, das die französische Geldrechnung fundierte und noch auf die karolingische Münzordnung zurückging. Einer Livre (einem Pfund) entsprachen danach 20 Sous (Solidi) bzw. 240 Deniers (Denare).17 Entsprechend eindeutig sind die präzisen Summenangaben des Avare, wenn Harpagon seine teilweise komplizierten Zinsberechnungen vornimmt.18 In Deutschland hingegen waren unterschiedliche Münzsysteme nebeneinander in Gebrauch, so daß bereits die gegenseitige Verrechnung von verschiede14 Vgl. Rittmann: Deutsche Geldgeschichte, S. 267, 269. 15 So trugen die nach der Münzvereinbarung von Zinna 1667 geprägten Gulden die Wert-
zahl ‚60‘ (Kreuzer), obwohl sie 70 galten (vgl. Rittmann: ebd., S. 265). 16 Diese Praktiken führten immer wieder zum Verfall eines einmal vereinbarten Münz-
fußes (d. h. der Aufwendung einer bestimmten Menge Edelmetalls für eine Münze). Nahmen sie überhand, so brach das Geldsystem zusammen wie in der ‚großen‘ Kipperund-Wipper-Zeit 1622/23. Als die österreichische Münzprägung – um die Türkenabwehr finanzieren zu können – ab 1659 wieder zur inflatorischen Geldschöpfung dieser Art überging, begann eine zweite, ‚kleine‘ Kipper-und-Wipper-Zeit (vgl. Rittmann: ebd., S. 259). Vor allem durch minderwertige Nachprägungen verloren auch die Zinnaischen Gulden schon rasch ihren Wert (vgl. ebd., S. 267, 273). 17 Vgl. Kellenbenz: Deutsche Wirtschaftsgeschichte Bd. 1, S. 71. 18 Vgl. L’Avare, S. 30.
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nen Ausprägungen derselben Münzsorte schwanken konnte. So wurden vom Groschen sowohl 24 als auch 36 auf einen Reichstaler (= Rtlr.) gerechnet, je nachdem, ob es sich um Gute Groschen (= ggr.) oder Mariengroschen handelte.19 Verwendet Der Geitzige die Abkürzung ‚Alb.‘, so kann das ebenso aber eine rheinische Groschenart meinen, den Weißpfennig, der, im 15. Jahrhundert zu 24 auf den Goldgulden (entspricht einem Rtlr.) gerechnet, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nur noch zu 80 einen Reichstaler ausmachte.20 Vollends inkohärent erscheint dieses System, sobald man den Groschen zu den verschiedenen Kleinmünzen in Beziehung setzt: Setzte beispielsweise die Münzvereinbarung von Zinna (1667) den Wert des Talers auf 24 ggr. bzw. 90 Kreuzer fest, so lassen sich diese Groschen und Kreuzer nicht untereinander verrechnen, obwohl beide sich nach ‚unten‘ auf den Pfennig beziehen (1 ggr. = 12 Pfg., 1 Kr. = 4 Pfg.; als drei Kr. gerechnet, ergeben 24 ggr. aber nicht 90, sondern 72 Kr.).21 Da diese Mittel- und Kleinmünzen zudem nach ganz unterschiedlichen Münzfüßen (also ohne einheitlichen Edelmetall-Feingehalt) geprägt wurden, unterlag ihr Verhältnis zum Reichstaler, der einzig verbliebenen unter den im 16. Jahrhundert festgesetzten Reichsmünzen,22 dauernden Schwankungen. Fixpunkt des deutschen Münz-‚Systems‘ bzw. Ansatzpunkt der wiederholten Versuche, es zu reformieren, waren die beiden ‚großen‘ Silbermünzen Taler und Gulden. Als die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg in ihrer Vereinbarung von Zinna einen neuen Münzfuß für die Ausprägung von Klein- und Mittelmünzen beschlossen, war jedoch keineswegs Homogenität erreicht, weder in bezug auf das Verhältnis von ‚großen‘ und ‚kleinen‘ Münzen noch hinsichtlich der regionalen Abweichungen. Da der ausgeprägte Reichstaler beim Münzfuß von 1559 blieb, wurde die eingerissene Inkonsequenz vielmehr sanktioniert, da der Reichstaler nun zu 105 Kreuzern und damit um ein Sechstel höher bewertet wurde als der neue Rechentaler zu 90 Kreuzern.23 Ausgeprägt wurde dieser Zinnaische Taler als Zweidrittelstück oder Gulden sowie in kleineren Nominalen.24 In Süddeutschland nahm man diesen Gulden allerdings nur zu 54 Kreuzern an, was wiederum die übliche 2:3-Relation zwischen Taler und Gulden verschob (selbst wenn man einkalkuliert, daß dort auch der Reichstaler nicht 105, sondern lediglich 96 Kr. galt). Orientierten sich die verschiedenen Stände an unterschiedlichen Verein19 20 21 22
Vgl. Wörterbuch der Münzkunde, S. 240f., s. v. Groschen. Vgl. ebd., S. 19f., s. v. Albus. Vgl. ebd., S. 324f., s. v. Kreuzer u. S. 506f., s. v. Pfennig. Vgl. Rittmann: ebd., S. 186. Grundsätzlich zum frühneuzeitlichen Münzsystem vgl. Rainer Metz: Rechengeldsystem. – In: Von Aktie bis Zoll, S. 330–333. 23 Vgl. Kellenbenz: ebd., S. 361f. 24 Vgl. Rittmann: ebd., S. 263f. Das folgende ebd., S. 268.
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barungen, so konnte es wie nach der Zinnaischen Reform in Süddeutschland dazu kommen, daß in eng benachbarten Gebieten der Reichstaler mit 69, 90 oder 105 Kreuzern verrechnet wurde.25 Mit alledem noch gar nicht berücksichtigt ist schließlich das Wertverhältnis dieser kleinen und großen Silbermünzen zu den verschiedenen Goldmünzen sowie die Verrechnung mit Münzen anderer Reiche. Die Unübersichtlichkeit der frühneuzeitlichen deutschen Münzverhältnisse ist demnach nur zum geringen Teil auf Wertschwankungen zurückzuführen, wie die Wechselkurse moderner Währungen sie ausdrücken. Da keine einheitlichen Währungen existierten, lag selbst der relative Wert einer Münze niemals fest: Bereits die Pfennige des einen Münzherren brauchten denen einer benachbarten Münzstätte keineswegs zu entsprechen. Der Ortsfaktor spielte zudem nicht nur hinsichtlich der Herkunft einer Münze, sondern auch in bezug auf ihren Einsatz eine Rolle. Wann eine Münze geprägt war, konnte sich gleichfalls wertsteigernd oder -mindernd bemerkbar machen. Da stets verschiedene Münzfüße nebeneinander galten, traten diese Schwankungen sogar ganz ‚legal‘ auf. Aber auch an kriminellen Trittbrettfahrern dieser Münzverhältnisse (die zugleich als Motoren wirkten) hat es nicht gefehlt: Vorsätzlich minderwertige Prägungen in großer Zahl – die mitunter nicht davor zurückschreckten, Jahreszahlen zu fälschen oder sich fremder Wappen zu bedienen – schufen zusätzliche Komplikationen. Sich des Wertes einer Münze versichern konnte man nur durch Ermittlung ihres Feingewichts.26 Tatsächlich kam es immer wieder vor, daß als minderwertig verdächtigte Münzen in großem Stil kontrolliert und ‚gegengestempelt‘, ggf. auch im Wert herabgesetzt wurden.27 Doch gab es in Deutschland keine Instanz, welche die Homogenität und – im Sinne der Einhaltung des gesetzten Feingewichts – die Wertstabilität des Münzwesens hätte garantieren können. Das Königsrecht des Münzschlagens war längst an die Territorialfürsten bzw. Reichsstädte übergegangen,28 während übergreifende Regelungen nur auf der Basis ständischer Zustimmung oder regionaler Vereinbarung möglich waren. Eine Reform, wie Ludwig XIV. sie vollendete, als er die letzten feudalen Münzstätten aufhob und die von ihm beanspruchte Autorität durch Initiale oder Herrscherbild auch monetär im wahrsten Sinne des Wortes geltend machte, hat es im Reich niemals gegeben.29 25 26 27 28 29
Vgl. Rittmann: Deutsche Geldgeschichte, S. 265. Vgl. Schremmer: Über „stabiles Geld“, S. 10f. Vgl. Rittmann: ebd., S. 269f. Vgl. Dieter Hägermann: Münzregal. – In: Von Aktie bis Zoll, S. 267f. Vgl. ebd., S. 375. Zur Ableitung von ‚Geld‘ aus ‚gelten‘ vgl. DWb 4,1,2, Sp. 2889–2908, s. v. Geld, hier Sp. 2889f. Die Reorganisation des französischen Münzwesens erweist sich hier faktisch wie symbolisch als zentrales Instrument der
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Überraschend präzise ist die Spiegelung dieser Verhältnisse im Geitzigen: Lobt Harpagon seine „bons louis d’or“,30 so kennt die deutsche Übertragung lediglich „lauter Gold“ (S. 512) bzw. „Dukaten“ (S. 520), tilgt also den Verweis auf den Namen des Münzherrn. Die Stelle hat deshalb Gewicht, weil Der Geitzige sich durchaus bemüht zeigt um die ‚richtigen‘ deutschen Äquivalente. Angelpunkt ist dabei die Gleichsetzung Livres=Gulden (abgekürzt als „fl.“ [= florin(us)], vgl. S. 457), wobei die Mark – als Gewicht die Hälfte eines Pfundes – möglicherweise als tertium comparationis diente, wurde der Zinnaische Gulden doch auch ‚Zweimarkstück‘ genannt.31 Ist im Avare von Francs die Rede – rechnerisch einem Äquivalent der Livre, das aber nicht mehr geprägt wurde –, setzt die Übertragung in der Regel „Thaler“ (S. 443, 445f.). Um das Verhältnis der angeführten Summen nicht zu verrücken, werden die Franc-Beträge umgerechnet, und zwar korrekt nach dem üblichen Gulden-Taler Verhältnis von 3 zu 2: Die 15 000 Francs, die Cléante leihen möchte, erscheinen als „10000. Th“ (S. 443).32 Schon hier aber ist die Übertragung problematischer, als es zunächst scheinen mag. Denn Franc und Livre sind im französischen Währungssystem lediglich Recheneinheiten, während Taler und Gulden sowohl als Recheneinheiten dienten wie auch ausgeprägt wurden (mit der erwähnten Diskrepanz, daß der Wert des – ausgeprägten – Speziestalers den des Kuranttalers um ein Sechstel überstieg). Zwar schwankte auch in Frankreich der Wert der umlaufenden Münzen,33 doch bestand hier ein homogenes und in sich stabiles Berechnungssystem. Notwendige Folge dieser Systemdifferenz sind Unstimmigkeiten im Detail der Avare-Übertragung: Im ‚eingedeutschten‘ System noch nicht unterge-
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angestrebten pouvoir absolue, vgl. Rudolf zur Lippe: Hof und Schloß – Bühne des Absolutismus. – In: Absolutismus, S. 138–161, hier S. 155: „Die Münzen des Königs verdrängten überall die Vielzahl territorialer Prägungen. Der König garantierte über die Geltung eines Wertes nach gleichem Maß. Während es mehr und mehr diese Geltung war, die zählte, selbst wenn durch schlechtere Legierungen der Metallpreis nicht mehr der aufgedruckten Zahl entsprach, setzte der Herrscher sie mit Hilfe seines aufgedruckten Porträts grundsätzlich durch. Die optische Präsenz des Königs durch das ihn repräsentierende Bild verlängerte die Wirkung des Machtzentrums bis an die fernsten Orte der Nation.“ L’Avare, S. 146. Vgl. Rittmann: ebd., S. 263. Feingewicht oder ‚Wechselkurs‘ geben dagegen keine Anhaltspunkte (der Ecu im Wert von drei Livres wurde 1681 mit 93 Kreuzern tarifiert [vgl. ebd., S. 266f.]; danach hätte die Livre als etwa ein halber Gulden gerechnet werden müssen). An Stellen, wo die Summen nicht geändert werden, treten dagegen „fl.“, „Pfund“ oder „Francken“ an die Stelle der Francs (S. 457). Zu den Wertschwankungen der verschiedenen Gold- und Silbermünzen der 1650er und 60er Jahre vgl. Spooner: The International Economy and Monetary Movements in France, S. 192f.
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bracht ist die umlaufende Münze, der Ecu (mit einem Wert von 3 Livres).34 Da die großen deutschen Silbermünzen bereits ‚vergeben‘ sind, bleibt der Übertragung nur ein Notbehelf: Vermutlich am seit 1643 geprägten Münzbild des Ecu d’argent orientiert, der rückseitig eine Krone über dem Lilienschild (écu) zeigte,35 nennt sie den Ecu kurzerhand „Crone“ (S. 425f., 446, 457, 494, 512, 532). Einen Anknüpfungspunkt im deutschen Münzwesen der Zeit gab es dafür nicht. Nun mag man einwenden, daß dieser Übertragungsverlust leicht hätte vermieden werden können, hätte der Übersetzer stärker auf die funktionale Parallele zwischen Ecu und Gulden geachtet (schließlich bildeten beide sowohl ein gängiges Zahlungsmittel – vermöge ihrer zahlreichen Stückelungen – als auch eine Recheneinheit; daher berechnet Harpagon den Wert seiner Goldkassette in der Silberwährung Ecu). Die fundamentale Diskrepanz zwischen dem in geprägte Münzen und Recheneinheiten gespaltenen, darum auf der Rechenseite aber stabilen Münzsystem in Frankreich und den wegen der Konkurrenz zahlreicher Münzherren dauernd in innerer Reibung befindlichen Verhältnissen in Deutschland hätte sich durch Detailverbesserungen dieser Art gleichwohl nicht ausgleichen lassen. b. Wie aber wirkt sich die Inhomogenität der deutschen Münzverhältnisse auf die Bühnenhandlung des Geitzigen sowie die ökonomische Mentalität der Komödie aus? Diejenige Stelle des Avare, die am deutlichsten ein geregeltes Münzsystem voraussetzt, ist jene Zinsrechnung, die Harpagon in Sekundenschnelle durchführt, als er seinem Sohn Vorhaltungen über dessen Kleiderpracht macht. Die deutsche Fassung versucht, wie üblich, eine akkurate Übertragung: „Ich will wetten daß du mehr als vor 30. Ducaten an Band und Perruquen an dir hast. Und solche machen des Jahrs 18. Pfund 6. Alb. 6. Heller“ (S. 429).36 Doch hängt diese Rechnung in der Luft: Eindeutig ist lediglich der Heller (er entsprach einem halben Pfennig); ‚Alb.‘ kann den Albus, den rheinischen Weißpfennig meinen, kann aber auch als Abkürzung anderer, höherwertiger Groschenarten verstanden werden,37 während sich das 34 Vgl. Rittmann: Deutsche Geldgeschichte, S. 99f. 35 Vgl. Wörterbuch der Münzkunde, S. 170, s. v. Ecu blanc. 36 Akkurat ist insbesondere die Ersetzung der originalen „pistoles“ (der ursprünglich
spanischen Vorbildmünze für den Louisdor) durch die deutsche Hauptgoldmünze, den Dukat; vgl. Wörterbuch der Münzkunde, S. 167, s. v. Dukat. Zugleich nahm der Übersetzer eine Umrechnung vor: anstelle von 20 Pistolen stehen 30 Dukaten, was tatsächlich in etwa dem Wertverhältnis der beiden Münzen entsprach (vgl. Rittmann: ebd., S. 291–293). – Der Nachdruck von Brauneck kursiviert die Angaben „30 Ducaten“ sowie „18 Pfund“, ohne diesen Eingriff zu erläutern. Im Original (überprüft am Mikrofilm der SB Berlin) sind die fraglichen Zahlen nicht ausgezeichnet. 37 Gerade diese Münzsorte wurde ausgeprägt. Daher machten deutsche Groschen einen Großteil der 99 Münzsorten aus, deren Umlauf der sächsische Kurfürst 1665 durch Verbot zu unterbinden suchte (vgl. Rittmann: ebd., S. 262).
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‚Pfund‘ gar nicht in das deutsche Münzwesen einordnen läßt. Eine Einschätzung, wie hoch der Wuchergewinn ist, den Harpagon für normal ansieht, ist dem Zuschauer demnach nicht möglich. Geizsatire findet hier nur noch als Geste, nicht mehr mit Bezug auf eine verifizierbare Wirtschaftssituation statt. Nicht einmal durch eigenes Nachrechnen kann man das vage Habsuchtsexempel präzisieren, fehlt doch, im Gegensatz zum Original, die Prämisse der ganzen Operation: der anzulegende Zinssatz („à ne les placer qu’au denier douze“).38 Auch diese Abweichung aber ist ein Symptom: Während die Geläufigkeit von Zinsberechnungen ein (zumindest auf der Rechenseite) homogenes Münzsystem voraussetzt, entzieht monetäre Unübersichtlichkeit solcher Präzisionskomik die lebensweltliche Verständnisgrundlage. Auf deutsche Verhältnisse umgelegt, hätte der Witz über die Verwirrung des Münzwesens gemacht werden müssen, nicht über jemanden, der sich gewandt in ihm zu bewegen weiß. Daß die Geizsatire in der deutschen Übertragung aus den ökonomischen Gepflogenheiten der Zeit herausgelöst ist, bestätigt die Darstellung jener Kreditnahme, die Cléante unwissentlich bei seinem Vater unternimmt. Zumal die Angaben zum Zinssatz sind entweder erneut getilgt – so der Satz, zu dem Harpagon vorgeblich selbst leihen muß, sowie Cléantes entrüstete Addition „C’est plus qu’au denier quatre“ (S. 52) – oder verunklärt, denn „denier“ – was im Französischen sowohl die kleinste Münzeinheit bezeichnet als auch den Zinssatz meint – wird als „Heller“ übersetzt (S. 444f.) und also als ein Münzname, der nicht über eine solche übertragene Bedeutung verfügte.39 Bereits der Eingangspassus des Kreditvertrages ist überaus bezeichnend für den Verlust an ökonomischer Präzision, denn die Übertragung läßt nicht nur einige Details fallen, sondern verwechselt einmal Schuldner und Gläubiger.40 Wo ökonomisches Handeln nur knapp benannt, aber nicht dargestellt wird, meidet die Übertragung sogar das Vokabular der Zirkulationssphäre. „Ne rougissez-vous point de déshonorer votre condition par les commerces que vous faites? de sacrifier gloire et réputation au désir insatiable d’entasser écu sur écu, et de renchérir, fait d’intérêts, sur les plus infâmes subtilités qu’aient jamais inventées les plus célèbres usuriers?“, klagt Cléantes seinen Vater an (S. 60). Diesem Vorwurf die ökonomische Konkretion auszutreiben, bedurfte es nur einiger gezielter Striche41 (die ich im Originaltext kursiviert habe): „Schämet ihr euch nicht euern Stand also zu verunehren? Dem unersättlichen 38 L’Avare, S. 32. 39 Vgl. DWb 4,2, Sp. 971f., s. v. Heller. 40 Vgl. S. 444 mit L’Avare, S. 50. Zu den gekürzten Detailbedingungen gehört die
Großjährigkeit des Kreditnehmers. 41 Die Kürzungen der Übersetzung erfolgen also keineswegs willkürlich, wie Eloesser
meint (vgl. Die älteste deutsche Übersetzung Molièrescher Lustspiele, S. 45).
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Geitz euer Ehr unnd Reputation auffzuopffern? und euch durch solche arge Practicken / welche jemahls die berühmteste Wucherer verübet haben / zu bereicheren?“ (S. 451). Wucher erscheint hier wieder als Laster, nicht als von bestimmten ökonomischen Gegebenheiten ermöglichte Wirtschaftstätigkeit. Als Kernelemente der Charakteristik des Geizigen sowie der Komik des Stücks lassen sich die Wucherszenen lediglich entschärfen; in manchem beiläufigeren Detail tritt die Geldwirtschaft hingegen noch weiter zurück. So verlieren der „courtier“ Maître Simon und die kupplerische, d. h. Liebe gegen Geld handelnde „femme d’intrigue“ Frosine (S. 4) in den deutschen Dramatis personae ihre Berufsbezeichnung (S. 409). Die „douze mille livres de rente“ (S. 70), welche die Heirat mit Mariane einbringen soll, werden durch ein „Heurath-Gut“ gleicher Höhe ersetzt (S. 457); an die Stelle jährlicher Kapitaleinkünfte tritt mithin die – einmalige und nicht erwirtschaftete, sondern ‚geschenkte‘ – Mitgift. Wo Cléantes materielle Unterstützung der armen Mariane gekürzt wird,42 werden gar noch grundsätzlichere Vorbehalte des deutschen Bearbeiters gegen die Verquickung von Geld und ‚Liebe‘ sichtbar. Entsprechenden Beschnitt erfährt der bei Molière häufige Übergriff merkantiler oder pekuniärer Metaphorik auf den Bereich persönlicher Neigung und Qualitäten. So wird Mariane dem Geizigen nun ohne die metaphorischen Begriffe materiellen Besitzes empfohlen: Sprach Frosine bei Molière von „l’héritage d’un grand amour de simplicité de parure, et l’acquisition d’un grand fonds de haine pour le jeu“ (S. 72), so weiß sie das mittellose Mädchen im Deutschen lediglich als „häußliche Frau“ anzupreisen (S. 458). Die idiomatische Interferenz, daß bei Harpagon umgekehrt die Sinne nicht ‚auf ihre Kosten kommen‘ („les sens ne trouvent pas si bien leur compte“, S. 102), fällt ebenfalls weg (S. 478).43 Vollständig ließ sich diese Deökonomisierung der Liebessprache nicht durchführen: Zumal in den Aneinandervorbei-Szenen V,3 und V,5 verbietet es die Dramaturgie, daß die von Valère metaphorisch auf Elise bezogenen Besitzvokabeln häufiger als ausnahmsweise ihre Doppeldeutigkeit verlieren.44 Im Fall des versteckten Liebesbekenntnisses, das der düpierte Cléante seiner Mariane gegenüber vorträgt, waren solche Rücksichten nicht zwingend. Es konnte daher in einer Weise gemodelt werden, daß seine kreditwirtschaftlich
42 Vgl. L’Avare, S. 16, mit dem Geitzigen, S. 417. 43 Als Beispiel für die Verdrängung merkantil-pekuniärer Einschüsse oder Doppeldeutig-
keiten in den Liebes- bzw. Gefühlsbereich vgl. auch die Ersetzung der „grande affaire“, als welche Valère die Ehe bezeichnet (S. 40), durch „ein schwere Last“ (S. 438). 44 So wird „bien“, das, von Harpagon gesprochen und auf seine Kassette gemünzt, Valère auf Elise bezieht, zweimal zu „Geld“ vereindeutigt (vgl. L’Avare, S. 160 u. 166, mit dem Geitzigen, S. 522 u. 527). An der ersten Stelle ist Zweideutigkeit nicht unbedingt notwendig, um das Mißverständnis aufrecht zu erhalten, an der zweiten beginnt in derselben Replik ohnehin seine Auflösung.
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ausdeutbare Codierung entfiel („vous n’ignorez pas [...], comme il [der mariage Harpagons] choque mes intérêts“, S. 106) und eine Gefühlsfloskel untergeschoben wurde („ich will sagen wie mirs umbs Hertz ist“, S. 482). c. Die Tendenz all dieser Änderungen geht auf Entmischung jener Sphären – der Geld- und der erotisch-persönlichen Sphäre –, deren Untrennbarkeit im Avare dazu führte, daß allein der in beiden Sphären autorisierte Anselme den dramatischen Konflikt zu lösen vermochte. Vordergründig funktioniert das bearbeitete Stück sogar besser, d. h. wenn man die Alternative Geld oder Liebe als durchgängigen Konflikt ansieht. Sowohl der auf Vereinigung der Innamorati programmierten Komödienkonvention als auch den deutschen, weniger herrscherfixierten Verhältnissen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft dürfte eine solche Ansicht jedenfalls gemäßer gewesen sein als die Deutung, die hier für das französische Original vorgeschlagen wurde. Geld und Liebe im Dramentext wieder eindeutiger voneinander abzugrenzen hätte danach zur Plausibilisierung jenes Sieges beigetragen, den die immateriellpersönliche Wertschätzung vermeintlich über das nackte Besitzstreben erringt. Indem die Schaubühnen-Übersetzung aber zu solcher Polarisierung neigt, steht sie dem moralistischen Gelddiskurs näher als der gesellschaftlichen Praxis. Um so unvermittelter erscheint der Auftritt Anselmes, der nun in einem aufhebt – Geld- und Liebeshindernisse –, was in seiner wechselseitigen Abhängigkeit bislang verdrängt worden war. Die Versöhnung, die er leistet, leitet sich aus dem Handlungsverlauf desto weniger her, je konsequenter Geld und Liebe vorher getrennt wurden. Die Entökonomisierung der deutschen Übertragung berührt insofern auch die dramatische Kohärenz des Stücks. Einen weiteren Beitrag dazu, daß die Verlaufslogik des Stücks stärker moralbegründet erscheint als in der französischen Vorlage, leistet die Verwischung der sozialen Orientierung der Figuren, wie sie in der Tilgung von Habitussignalen zum Ausdruck kommt. So handelt sich Cléante zwar nach wie vor den Vorwurf ein, er halte sich „wie ein Graff“ (S. 428), doch kommt Harpagon nicht mehr dazu, seine Abneigung gegen den Lebensstil des Sohnes geschmacklich zu begründen. Sein Mißfallen an den „perruques d’étoupes“ der jungen, modebewußten Leute, an „leurs hauts-de-chausses tout tombants, et leurs estomacs débraillés“ (S. 76), hat in der deutschen Fassung keine Entsprechung. Da Harpagons „fraise à l’antique“ – eine Halskrause im Stil Heinrichs IV.45 – ebenfalls getilgt ist,46 verliert der Generationenkonflikt jene soziale Zuspitzung, die er durch derartig divergierende Habituspräferenzen erfuhr. Für Molières Publikum ist Harpagon nicht einfach nur eine „alte Person“ (S. 461), ja nicht einmal nur altmodisch, sondern er verschließt sich 45 Vgl. den Kommentar der Œuvres complètes Bd. 2, S. 1391. 46 Vgl. L’Avare, S. 78, mit dem Geitzigen, S. 461.
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jener Gesellschaft von ‚la cour et la ville‘, die sich in der von Cléante getragenen Kleidung erkannte. Daß soziale Signale dieser Art in der deutschen Übertragung verlorengingen, läßt sich leicht erklären, fehlten im deutschen, insbesondere im außerhöfischen Bereich doch die kulturellen Voraussetzungen, sie zu erkennen.47 Werden Modefaktoren aber nicht auf deutsche Verhältnisse umgestellt, sondern ‚naturalisiert‘ (‚alte Person‘), so verstärkt das noch die schon im Geschäftlichen beobachtete Tendenz zur Verwischung des sozialen Gehalts. d. Wenn das ludovizianische Integrationsideal des honnête homme in Deutschland kaum auf Verständnis rechnen konnte: welche Sinnkonzepte favorisiert die Übertragung stattdessen? Zwei Tendenzen füllen jene Lücke: eine gewisse Aufwertung des Adels und, stärker noch, das Herausstreichen christlicher Bezüge. Die höhere Schätzung des Adels kann leicht übersehen werden, da Harpagon sie vertritt, so daß zu überlegen ist, ob sie durch diese Zuordnung nicht sogar entwertet wird. Verlangt der Geizige in der Vorlage, „que l’emprunteur soit [...] d’une famille où le bien soit ample, solide, assuré, clair, et net de tout embarras“ (S. 50), so sind in der Schau-Bühne die Gewichte verschoben, denn der „Entlehner“ muß dort „von hohem Geschlecht und sehr reich“ sein (S. 444). Kreditwirtschaftlich ist das hinzugefügte Adelskriterium sinnlos.48 Offensichtlich handelt es sich um eine vorökonomische Wertschätzung: „Von vornehmem Geschlecht“49 zu sein gilt, und zwar unabhängig von Harpagons Idiosynkrasien, als Indiz für Vertrauenswürdigkeit.50 Motiviert mögen solche Änderungen zunächst durch ‚ökonomisches‘ Eigeninteresse sein: Dem Adel Reverenz zu erweisen sollte den Theaterleuten nützen; ständisch auf der untersten Stufe, bedurften sie dringend der Aufwertung des eigenen Geschäfts. Die Vorreden der deutschen Molière-Ausgaben von 1694–96 weisen deshalb wiederholt darauf, daß die hier veröffentlichten Stücke den Beifall des französischen Hofes gefunden haben.51 Der angedeuteten Aristokratisierung des Avare liegt vermutlich ein ähnliches Kalkül zugrunde. Doch bilden der anti-ökonomische Reflex, auf dessen Konto die Streichung so vieler kreditwirtschaftlicher Details geht, und seine pro-aristokratische Kehrseite auch ‚ideologisch‘ eine Einheit. 47 „Honnête homme“ (S. 46) wird entspezifizierend mit „ehrliebend“ übersetzt (S. 441). 48 Es als gezielten Beitrag zur Negativcharakterisierung Harpagons zu verstehen dürfte
die interpretatorische Qualität der Übertragung überschätzen. 49 S. 449; im Avare heißt es dagegen nur „famille“ (S. 58). 50 Schaut man auf das noble Verhalten Anselmes, so widerstreitet eine solche Einschät-
zung des Adels nicht einmal jener Bewertung der Stände, die das Original vornimmt. Eindeutig oder gar einseitig ist die Adelspräferenz im Avare freilich nicht – was der Übersetzer zum Anlaß genommen haben mag, sie zu verstärken. 51 Vgl. Grimberg: La Réception de la comédie française, S. 110.
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Stellt adlige Herkunft im Avare keinen eigenständigen Wert dar, weil die Handlung ganz auf die Leistung und das wunderbare Auftreten Anselmes ausgerichtet ist, so spielt Transzendentes dort nur insofern eine Rolle, als es jene Figur und ihre monarchische Funktion legitimiert. Wo die Bilder und Konstellationen der christlichen Geizkritik noch auftreten, unterliegt ihr Einsatz einem polit-ökonomischen Zweck. So weist Harpagons Klage „je suis enterré“ (S. 142) nicht mehr auf den geistlichen Tod des Mammonsknechtes, sondern auf die Entfernung vom Licht, das der roi soleil spendet. Wer die Königsfunktion ausübt, tritt nach dem Verständnis des ludovizianischen Absolutismus an die Stelle Gottes. Der Himmel, auf den die zusammengeführte Familie d’Alburcy sich wiederholt beruft,52 ist folglich leer: Von dem dieu, der in diesem „ciel“ wohnt, ist allenfalls mit Bezug auf die Liebe, die alles entschuldige (S. 156), die Rede. Die deutsche Übertragung dagegen nimmt diese Entgötterung (und damit zugleich die Tendenz zur Vergöttlichung der Königsfigur) merklich zurück. „Ciel“ wird, wenn auch nicht durchgängig, zu „GOtt“,53 so daß Harpagons Klage „Justice, juste Ciel!“ (S. 142) wieder einen personalen Adressaten hat („Ach GOtt“, S. 509). Die konventionelle Bittformel „de grâce“ wird ebenso theologisch überhöht – sie erscheint als Beschwörung „umb der Götter willen“ – wie jene „vertu“, die als „Gottesforcht“ übersetzt wird.54 Lästerliche Flüche mit Anrufung von Himmel oder Teufel sind dagegen gestrichen.55 Mittelbar einschlägig sind zudem Übersetzungen wie „das Christlich Mitleiden“ für die neutralere „charité“ oder „Frommigkeit“ für „probité“.56 Auf die gesamte Komödie bezogen, bildet diese Retheologisierung ebenso wie die Tendenz zur Favorisierung des Adels lediglich eine Marginalie. Wird die ludovizianische Tendenz des französischen Originals durch die angeführten Verschiebungen einerseits unlesbar, so setzt die Übertragung andererseits nichts wesentlich anderes ihr entgegen. Der Rezeptionshorizont, in den die Schau-Bühne den Avare einführte, wird trotzdem deutlich: Statt die (wirtschafts)politische Stoßrichtung des Originals auf deutsche Verhältnisse umzulenken, begünstigte er eine christlich-moralische Lesart des Stückes.
52 Und zwar sechsmal auf vier Seiten (vgl. L’Avare, S. 170, 172, 174, 176). 53 Vgl. L’Avare, S. 46, mit dem Geitzigen, S. 441. Ebd., S. 416, heißt es für „ciel“
(L’Avare, S. 14) „die Götter“. 54 Vgl. L’Avare, S. 144 u. 64, mit dem Geitzigen, S. 510 u. 453. 55 Vgl. L’Avare, S. 30 u. 42, mit dem Geitzigen, S. 428 u. 438. 56 Vgl. den Geitzigen, S. 449 u. 441, mit L’Avare, S. 58 u. 46. Im Fall von ‚fromm‘ trifft
die ältere, im 17. Jahrhundert noch nicht ganz verschwundene Bedeutung von ‚fromm‘ gleich ‚tüchtig, rechtschaffen‘ immerhin den französischen Ausdruck (vgl. DWb 4,1,1, Sp. 240–244). ‚Frommigkeit‘ ist dagegen von Beginn an auf die Bedeutung ‚devotia, pietas‘ festgelegt (vgl. ebd., Sp. 247).
3.5 Komische Bewegung und monetäre Stabilität in Weises Betrogenem Betrug Hatte die Transferierung einer Molièreschen Komödie wie des Avare auf die deutsche Bühne demnach mit einem deutlich anderen Rezeptionshorizont zu rechnen – mit der Folge konzeptioneller Verschiebungen in der Übersetzung –, so verstärkt sich das französisch-deutsche Gefälle noch, wenn man auf den wichtigsten deutschen Komödienautor des späten 17. Jahrhunderts sowie die Bedingungen seiner dramatischen Produktion blickt. Vom Palais Royal (Molières Spielstätte seit 1661) zur Bühne des Zittauer Gymnasiums, für dessen Schüler Weise die meisten seiner Dramen schrieb, ist es nicht nur den äußeren Umständen nach ein weiter Weg (auch wenn die Handelsstadt Zittau gegen 1700 eine Bedeutung erlangte, die in Sachsen nur noch von Leipzig übertroffen wurde).1 Ihn zu gehen lohnt sich jedoch, denn er führt nicht in ein provinzielles Abseits, sondern auf Verhältnisse, die für die dramaturgischen wie konzeptionellen Möglichkeiten der deutschen Komödie durchaus typisch sind, bildeten die protestantischen Schulen doch „das gesamte 17. Jahrhundert hindurch [...] einen zentralen Träger“ des Theaterlebens in den Städten des Reichs, zumal jenen ohne Hof.
1 Vgl. Volker Dudeck: Das Zittau Christian Weises. – In: Christian Weise, S. 27–51,
hier S. 38, 41. Zu Weises Molière-Rezeption vgl. Levinstein: Christian Weise und Molière, dessen Nachweise von Textkenntnis und szenischer oder verbaler Abhängigkeit mitunter aber zweifelhaft sind. Was den nachfolgend besprochenen Betrogenen Betrug angeht, so machen zwei Details wahrscheinlich, daß Weise den Geizigen gekannt und benutzt hat, und zwar in der Übersetzung der Deutschen Schau-Bühne: Vermutlich Harpagons komischer Drohung „et si je ne retrouve mon argent, je me pendrai moi-même après“ (L’Avare, S. 144) ist der Einfall entlehnt, daß Weises Geizige (die Bäuerin Walpe) sich tatsächlich erhängen will, als sie den Verlust ihres Schatzes bemerkt (S. 171) (in der Aulularia gibt es keine solche Szene). Auf die WanderbühnenÜbertragung des Avare verweist zudem Walpes Klage, daß mit dem Schatz „mein Trost / und meine Freude /und alles miteinander auff einmahl fort“ sei, denn im Geitzigen heißt es, wieder in Harpagons Monolog: „und weil du weg bist / hab ich alle Freud / allen Trost verlohren“ (S. 509; im Avare sind es dagegen drei Attribute: „j’ai perdu mon support, ma consolation, ma joie“, S. 142). Das folgende Zitat bei Paul: Reichsstadt und Schauspiel, S. 620.
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3.5.1 Rhetorischer Realismus? Zum sozialen Gehalt des Schultheaters Wie die neuere Weise-Forschung zu Recht betont hat, lassen sich die Stücke des Zittauer Rektors (1678–1708) nur vor dem Hintergrund ihrer pädagogischen Zwecksetzung angemessen beurteilen. Wilfried Barner faßt diese wie folgt zusammen: Die zentralen Zwecke sind zunächst aus der Schultheatertradition hergeleitet, wie sie sich seit der Reformation ausgebildet hat, mit rhetorisch-moralischen Kategorien vor allem der Antike: Übung von Gedächtnis, Aussprache, Gestik, freier Rede für die Spielenden; Information über das ‚Leben‘, die Historie usw. für Spielende und Zuschauer; Stärkung der Moral, des Glaubens, Belehrung, Vergnügung, Abwechslung für alle Beteiligten.2
Weises Schultheater dient unmittelbar der Erziehung. Pädagogik und Dramaturgie sind daher nicht zu trennen; in ihrer rhetorischen Fundierung fallen sprachliche Ausführung und moralischer wie praktischer Lernzweck vielmehr zusammen.3 Die Rhetorik bildet hier noch umfassender als im barocken Trauerspiel das organisierende Prinzip aller Teile des Dramas. Hervorstechendste dramaturgische Folge ist die große Personenfülle der meisten Stükke, denn möglichst viele Schüler sollen beteiligt werden, und zwar – zur Rednerschulung – mit Sprechrollen.4 Damit einher ging eine Vervielfältigung der Handlungsstränge; ihre Fülle aber konnte mit kausaler Strenge nicht gebändigt werden. Ergebnis ist eine episodische Struktur, deren Abweichung von der klassizistischen Norm Weise durchaus sah, jedoch mit seinem spezifischen Zweck verteidigte.5 Für die Deutung der einzelnen Dramen nicht weniger wichtig ist ihre Zusammenstellung in den jährlichen Aufführungssequenzen (zunächst an Fastnacht, ab 1685 jeweils zum Martinsfest), denn die meisten Stücke haben ihren Platz in einer Drei-Tages-Trilogie, wo auf das Bibeldrama ein historisch-politisches Stück sowie ein Drama aus dem „gemeinen Leben“ – zumeist ein Lustspiel – folgten.6 Die Gattungsgrenzen mit ihren Vorschriften etwa für die ständische Zuordnung der Dramenfiguren hält Weise recht offen,7 doch verweist der trilogische Kontext auf die Einbettung
2 Wilfried Barner: Christian Weise. – In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts,
S. 690–725, hier S. 708. 3 Vgl. Zeller: Pädagogik und Drama, S. 16–18. 4 Vgl. ebd., S. 109–117; Weise: Vorrede zur Liebes-Alliance – SW 15, S. 319. Die ver-
kehrte Welt (1683) bringt 103 Figuren auf die Bühne! 5 Vgl. ebd., S. 130; Weise: Vorrede zu Lust und Nutz – SW 8, S. 417–429, hier S. 421. 6 Vgl. Weise: ebd., S. 418–421; das Zitat: Vorrede zur Liebes-Alliance – SW 15, S. 319
u. 323. 7 Vgl. Kaiser: Mitternacht, Zeidler, Weise, S. 162f.
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des einzelnen Stücks und seines Weltausschnitts in einen Kosmos, der sowohl den göttlichen Weltenlenker als auch Bauer und Pickelhäring umfaßt.8 Weises Dramatik knüpft demnach nicht an ein hauptstädtisches, vom Monarchen protegiertes und auf diesen ausgerichtetes Theater an – wie wir es bei Molière fanden –, sondern an die humanistische Schulbühnentradition, wie sie uns bereits bei Gryphius und Masen begegnete. In der Tat bildete die Schule die wichtigste (institutionelle wie dramaturgische) Grundlage für das deutsche Barockdrama.9 Freilich verfolgt Weise, die Säkularisierung der Bildungsnormen in Schochs Comoedia Vom Studenten-Leben fortsetzend, nicht mehr einen primär geistlich-moralischen, sondern einen praktischen Erziehungszweck. Sein Theater ist Bestandteil einer Ausbildung zum ‚politischen‘, d. h. weltgewandten Menschen, der seinem Landesherrn als Beamter dienen wird. Wenn dabei bürgerliche und höfische Normen verquickt werden, schließt das einerseits an das epochentypische honnêteté-Ideal von la cour et la ville an.10 Andererseits fand die Vermittlung höfischer, d. h. galanter und ‚politischer‘ Verhaltensweisen an vor allem Bürgersöhne auf einer Machtgrundlage statt, die von den Verhältnissen in Frankreich stark abwich. Ludwig XIV. durchaus nachstrebend, gelang es den deutschen Fürsten nur abgeschwächt und/oder verzögert, ihre unbedingten Herrschaftsansprüche gegen die überkommenen ständischen Gewalten durchzusetzen.11 Der sächsische Kurfürst, dem die Lausitzen (mit Zittau) seit dem Prager Frieden von 1635 unterstanden, gibt hierfür eines der besten Beispiele ab. Zwar bildete Dresden einen Mittelpunkt höfischer Kultur in Deutschland – wozu die Stücke Molières nicht den kleinsten Beitrag leisteten.12 Den Landtag abzuschaffen oder ihm auch nur das Steuerbewilligungsrecht zu entwinden, vermochte Johann Georg III. (1680–1691) jedoch nicht,13 ebensowenig wie es seinem Vorgänger gelungen war, ein Münzedikt durchzusetzen, das „neben dem sächsischen
8 Vgl. Wilfried Barner: Christian Weise. – In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts,
S. 690–725, hier S. 709. 9 Im internationalen Vergleich dazu Skrine: German Baroque Drama and Seventeenth-
Century European Theater, S. 55f. 10 Vgl. Horn: Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums, S. 72. Als ‚bürgerliche‘
Erziehungsziele nennt Horn die Prinzipien Vernunft, Erfahrung, Nutzen und Erfolg, als adliges ein ebenso taktisches wie verbindliches Auftreten (vgl. ebd., S. 73). 11 Schilling: Höfe und Allianzen, S. 23–30; Rudolf Vierhaus: Höfe und höfische Gesellschaft in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. – In: Absolutismus, S. 116–137, hier S. 116. 12 Vgl. Vierhaus: ebd., S. 129. Der Dresdner Hof bildete den häufigsten Aufführungsort Molièrescher Dramen am Ende des 17. Jahrhunderts (vgl. Ehrhard: Les Comédies de Molière en Allemagne, S. 69); für Dresden ist auch die erste deutsche Aufführung des Avare belegt (vgl. Bolte: Molière-Übersetzungen des 17. Jahrhunderts, S. 86). 13 Vgl. Kaiser: Mitternacht, Zeidler, Weise, S. 167f.
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Geld nur noch 23 fremde Sorten“ zuließ (99 Sorten wurden verboten!)14. Zumal in der Lausitz, deren Stände auf die Vorrechte pochten, die sie noch aus habsburgischer Zeit besaßen,15 fehlte der für den Avare festgestellten Ausrichtung auf einen monarchischen ‚Übervater‘ in nahezu göttlicher Position die gesellschaftliche Grundlage. Ausgerechnet für Weises Geizlustspiel, den Betrogenen Betrug (gedruckt 1690), ist die Maßgeblichkeit der Schuldramaturgie freilich zu relativieren, denn es kam in Zittau nicht auf die Bühne.16 Die dramaturgischen Konsequenzen sind einschneidend: das Stück hat lediglich fünf Figuren, und die mit zwei Akten ungewöhnlich knappe Handlung läuft, wenn auch nicht immer mit quasi kausaler Motivationsstrenge, so doch ohne Digressionen ab. Beteiligt sind Karsten, ein „Verwalter“; Renzel, dessen „Liebste“; Lampe, ein Bauer; Walpe, dessen Frau; sowie Flinckfleck, „des Verwalters lustiger Tischpursche“ (S. 135). Gerade im Hinblick auf das Geldthema des Stücks handelt es sich um eine außergewöhnlich kompakte Figurenkonstellation, denn unbefriedigte Geldansprüche haben alle Beteiligten: Der Bauer strebt nach dem, wie er mit Recht glaubt, verborgenen Geld seiner Frau, einer alten Witwe, die er nur um eben des Geldes willen geehelicht hat (I,2). Jungfer Renzel fordert denselben Schatz, weil er der Alten, wie Renzel von ihrer Mutter auf dem Sterbebett erfahren hat, zwecks künftiger Brautausstattung zur Aufbewahrung übergeben worden war (I,4). Um immerhin 500 Taler geht es dabei, soviel wie ein Schreiber in zehn Jahren, ein Schmied in 25 und ein Soldat in 50 Jahren – also praktisch nie – verdiente.17 Der Verwalter wiederum möchte beim Bauern eine Schuld von „funffzig alten Schock“ eintreiben (was etwas
14 Rittmann: Deutsche Geldgeschichte, S. 262. 15 Vgl. Kaiser: Mitternacht, Zeidler, Weise, S. 166f. Zu Weises Fürstenbild, das die
Anerkennung ‚absolutistischer‘ Herrschaftsansprüche mit deren Rückbindung an patriarchalisch-christliche Zwecksetzungen verband, vgl. ebd., S. 128–133. 16 Vgl. die Liste der aufgeführten Stücke in Weises „Vorrede zu Lust und Nutz“ – SW 8, S. 417–429, hier S. 419–421. Als Entstehungsdatum gibt Ort (Medienwechsel und Selbstreferenz, S. 214) 1680 an. Lediglich in einem Sammelband überliefert, dem es mit eigener Paginierung beigebunden ist (Christian Weise: Lust und Nutz der Spielenden Jugend bestehend in zwey Schau- und Lust-Spielen vom Keuschen Joseph und der Unvergnügten Seele. Dresden, Leipzig: Mieth 1690), liegt Der Betrogene Betrug erst seit 1996 in einem Neudruck vor (Bd. 13 der Weise-Werkausgabe von John D. Lindberg u. Hans-Gert Roloff, S. 131–194). Nach ihm wird im folgenden zitiert, wie üblich mit Akt-, Szenen- und Seitenangabe im Text. 17 Die angeführten Löhne zahlte um 1700 der Graf zu Lippe seinen Leuten auf dem Hofe zu Schieder; sie gelten wohlgemerkt bei freier Kost, Kleidung und Logis (vgl. Verdenhalven: Alte Maße, S. 11). Die Verbindung von Geldlohn und diversen materiellen Leistungen für das Leben neben der Arbeit weist bereits auf die Unablösbarkeit großer Teile der frühneuzeitlichen Wirtschaft vom ‚ganzen Haus‘, wie es unten, S. 312, erläutert wird.
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über 40 Rtl. entsprach).18 Und Flinckfleck, die komische Figur, versucht, als die Gelegenheit sich bietet, den Schatz für sich zu sichern (II,3, S. 168). Genaugenommen hat selbst die durch Veruntreuung reich gewordene Alte unbefriedigte Geldansprüche, denn ihr Geiz (I,3, S. 146f.) impliziert ein Verhältnis zum Geld, das nie genug bekommen kann. Trotz des bäuerlichen Stoffs ist die ‚politische‘ Perspektive von Weises Dramatik dagegen gewahrt: Ein Betrug bestimmt die Ausgangssituation des Stücks, und dessen Handlung entwickelt sich als eine Kette von – legitimen oder illegitimen – Verstellungen, Täuschungen, Listen. Wie in vielen Lustspielen haben „Klugheit und Gedult“ ihr Bewährungsfeld im „Hauß-Stand“.19 Die folgende Interpretation nimmt diese Perspektive auf und betrachtet die dramatische Funktion und Bewertung des Geldes im Lichte der frühneuzeitlichen Ökonomik. Ebenso wie die ihr korrespondierende Ansiedlung des Geizstoffes auf dem Land erweist sich die ‚ökonomische‘ Perspektive dabei als Fokus, der die ‚chrematistische‘ Geldwirtschaft ausblendet. Zwar nicht ausgeblendet, aber nachgeordnet werden durch die Konzentration auf das ‚Haus‘ aber auch transzendente Bezüge. Die deutsche Geizkomödie erlebt im Betrogenen Betrug eine erste Säkularisierung (vgl. Kap. 3.5.2). Die dramatische Struktur unterstreicht den Befund: Nicht eine oeconomia divina führt providentiell zum guten Ausgang, sondern die Figuren steuern selbst die Handlung, ja diese gewinnt Eigendynamik: Was das Geld gilt, bestimmen nicht allein ‚ökonomische‘ Konzepte, sondern auch die Komik des Stücks (vgl. Kap. 3.5.3). Da das in der Forschung kaum je berücksichtigte Stück wenig bekannt sein dürfte, beginne ich mit einem kurzen Handlungsreferat und einer Abschätzung des Verhältnisses von historischer und literarischer Modellierung.20 Die erste Szene exponiert die Schuldforderung des Verwalters als jenen Geldanspruch, der die Handlung in Gang setzt. Ohnehin höchst unzufrieden darüber, daß er nicht an das Geld seiner Frau kommt, gerät Lampe durch die Forderung auch äußerlich unter Druck (I,2). Im Gespräch mit Karsten und Flinckfleck erklärt er sich aber erst nach Gewaltanwendung zur Zahlung 18 Als ‚alte Schock‘ bezeichnete man 20 Groschen (= 60 Drittelgroschen), vgl. Wörter-
buch der Münzkunde, S. 606, s. v. Schock Groschen. Lampes Geldzins beläuft sich also auf 1000 Groschen, was bei den in Sachsen üblichen Guten Groschen 41 Taler und 16 Gr. macht. 19 Weise: Curieuser Körbelmacher (Nachredner) – SW 15, S. 311. Zu Adaption des Dissimulationsideals für den ‚Politicus christianus‘ vgl. Horn: Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums, S. 67. 20 Wenn die Handlung in der folgenden Zusammenfassung recht wechsel-, wenn nicht sprunghaft erscheint, so entspricht das durchaus Weises poetischer Absicht, fordert er doch, daß die Szenenfolge einen möglichst heftigen Affektwechsel beim Zuschauer bewirken soll (vgl. Vorrede zu Lust und Nutz – SW 8, S. 417–429, hier S. 428).
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bereit. Als der Verwalter abgegangen ist, läßt er sich von dem Burschen noch einen Rat geben, wie an das versteckte Geld seiner Frau zu gelangen sei. Flinckfleck empfiehlt, sie zu beobachten, wenn sie sich alleine wähnt und deshalb den Schatz besichtigt. Um dem Ratgeber von dem so erlangten Gut nichts abgeben zu müssen, stellt Lampe sich allerdings, als getraue er sich nicht, dem Rat zu folgen (I,3). Die vierte Szene schwenkt über zu Walpe und Renzel: Die Jungfer verlangt von der Alten die Herausgabe des verwahrten Geldes, vermag diese aber weder mit Gewissensappellen noch mit Tränen, noch im Zorn zu dem Eingeständnis zu bewegen, das Geld angenommen zu haben (I,4). Der Streit endet erst – mit dem Abgang Renzels –, als Lampe dazukommt. Der Bauer wendet nun die von Flinckfleck vorgeschlagene List an: Er gibt vor, in die Kirche zu gehen, beobachtet aber seine daheimgebliebene Frau und entdeckt so das Versteck des Geldes. ‚Zurückgekommen‘, lobt er die Predigt in so hohen Tönen, daß seine Frau nun ihrerseits laufen geht, sie zu hören. Dies nutzt Lampe, den Schatz auszuheben und an einem anderen Ort zu verstecken (I,5). Als Walpe zurückkehrt, trifft sie zunächst Flinckfleck, der inzwischen seinerseits nach dem Geld späht. Um seine Frau vollends zu täuschen, stellt Lampe sich krank. Flinckfleck gibt sich als „halber Doctor“ aus (S. 158f.), kuriert ihn auf derbeste Weise, bemerkt dabei dessen Schauspielerei und schließt, das der Bauer seine Frau bereits bestohlen habe (I,6). Von einer Unterschlagung ausgehend, hat die Handlung bis dahin nur zur Steigerung der gegenseitigen Betrügereien geführt. Wenn der Bauer in seiner Krankenrolle zuletzt das Opfer einer anderen Täuschung (Flinckfleck als Arzt) wird, kündigt sich zugleich aber schon an, daß die Betrüger am Ende die Betrogenen sein werden. Der zweite Akt leitet die Aufdeckung der diversen Täuschungen ein: Der Bauer verläßt erneut seine Frau, die dadurch Gelegenheit erhält, den Verlust ‚ihres‘ Schatzes zu entdecken. Die zweite Szene zeigt, was die Komödie den Betrügereien der Bauern und des Dieners entgegenzusetzen hat: Karsten und Renzel als Liebespaar. Der Verwalter gibt sich als galanter Liebhaber, der auf Stand und Besitz derer, die ihn mit Küssen bezahlt, nicht achtet. Als Renzel ihm ihren Anspruch auf 500 Taler offenbart, bietet er sich gleichwohl an, diesen für sie geltend zu machen (II,2). Da kommt Flinckfleck, der von dem verborgenen Schatz der Bauern berichtet. Renzel vermutet dahinter gleich ihr Erbe. Flinckfleck imaginiert sich jedoch schon als „Cavallier“ und läßt sich von Karstens Mahnungen, sich mit einem „Trinckgeld“ zu begnügen, nicht beeindrucken (II,3). Also sucht er wieder den Bauern auf (II,4). Walpe kommt hinzu, völlig verzweifelt und zum Tod entschlossen, denn sie hat den Diebstahl ihres Geldes entdeckt, läßt sich aber erst durch eine List des Burschen dazu bringen, ihr vermeintliches Geheimnis preiszugeben (II,5). Lampe möchte den Vorfall nutzen, sich der Bezahlung
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seiner Schuld zu entziehen, Flinckfleck jedoch beschuldigt ihn, selbst der Dieb zu sein (II,6). Weitere Liebesbeteuerungen Karstens für Renzel unterbricht der Bursche, der nun seinerseits seinen Herrn und Renzel um das Geld betrügen möchte und deshalb dessen Existenz leugnet (II,7). Der Bauer wiederum weiß nicht, wohin mit dem Geld. Von seiner Frau bei der Suche nach einem neuen Versteck gestört, vermag er sie noch abzuwimmeln (II,8). Auch den Verwalter, der seinem Burschen gefolgt ist, kann er täuschen (II,9), ebenso Renzel, die Karsten sucht (II,10). Flinckfleck dagegen beobachtet den Bauern, nimmt den Schatz und bringt ihn in ein neues Versteck (II,11). Doch auch er ist beobachtet worden, nämlich von Renzel, die nun den vierten und letzten ‚Diebstahl‘ ausführt (II,12). Wieder an ihr Erbe gekommen, kann Renzel den Verwalter von gleich zu gleich heiraten (II,13). Die anderen drei sind dagegen betrogene Betrüger: Lampe ist vom Gram seiner Frau so gerührt, daß er ihr das Geld zurückgeben möchte, doch muß er dessen Verlust für beide feststellen (II,14). Ihren Flüchen über den Dieb vermag Flinckfleck nicht standzuhalten, aber auch das dritte Versteck ist inzwischen leer – allgemeine Prügelei (II,15). Deutlicher noch als die bisher herangezogenen Geizkomödien fußt Der Betrogene Betrug auf Plautus’ Aulularia:21 Ein unter dem Herd vergrabener „Topff“ Geldes (I,5, S. 155) bildet das dingliche Zentrum der Handlung, und zwar in einem noch strengeren Sinn als in der Vorlage, da nicht nur in der übertrieben mißtrauischen Einbildung des/r Geizigen, sondern tatsächlich alle Figuren nach ihm streben. In beiden Stücken dient er zudem zur Ausstattung einer armen Braut, so daß die Handlung mit einer Hochzeit oder zumindest der Aussicht darauf ein komödientypisches Ende finden kann.22 Motivation und, wie das Handlungsreferat bereits andeutet, Struktur der beiden Komödien weisen jedoch auch erhebliche Differenzen auf. Geiz und Mißtrauen des Topfhalters spielen bei Weise eine viel geringere Rolle als bei Plautus. Diese ‚Laster‘ werden Walpe bzw. Lampe zwar beiläufig zugeschrieben (I,3, S. 146f.; II,8, S. 180), nicht aber in grotesk-komischen Szenen vorgeführt und 21 Versangaben beziehen sich im folgenden auf dieses Stück (ed. Stockert). Eine bedeut-
same Änderung gegenüber Plautus erfährt die Figurenkonstellation durch die Verdoppelung des einen Geizigen durch Walpe und ihren Mann. Im Zusammenspiel mit der Dienerfigur (bei Plautus: Strobilus, bei Weise: Flinckfleck) verdoppelt sich dadurch auch der Betrug ums Geld. Vorgebildet ist der Betrug zuerst des Bauern an seiner Frau und dann des Bauern durch einen Knecht in Johannes Reuchlins Henno von 1497, der ersten deutschen Komödie nach antikem Muster. 22 Übergehen können wir im Zusammenhang unserer Fragestellung die motivischen ‚Detailanleihen‘, die Weise bei Plautus macht: den Wein, durch den Euclio fürchtet betrunken zu werden (V. 574–576) und der nach Flinckflecks Vorschlag Walpe betrunken machen soll (S. 147), oder die Machtphantasien, welche die beiden Diener Strobilus und Flinckfleck im Besitz des Schatzes entwickeln (vgl. V. 704 u. S. 184).
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sind auch nicht – wie bei Plautus, Masen und Molière – die Ursache, warum ein anderer den an sich gut versteckten Goldtopf doch entdeckt. Überdies wird die Handlung von Motiven angestoßen, die einen konkreten Ort in den Wirtschaftsverhältnissen der Zeit haben, statt bloß – wie im Jesuitentheater – moralisierend-lasterkritisch disponiert zu sein. Anders als in der Aulularia (oder auch im Merchant of Venice) gibt nicht eine Brautwerbung das erregende Moment ab (die dem krankhaft mißtrauischen Euclio Köche ins Haus bringt, vor denen er den Topf dann ‚retten‘ möchte), sondern ein selbst ökonomischer Faktor: die Aufforderung des Gutsverwalters Karsten an den Bauern, seinen Abgabepflichten nachzukommen.23 Kaum weniger ‚finanzrealistisch‘ als im Avare ist zudem schon die Existenz des ‚Topfes‘ motiviert: Nicht ein Lar familiaris hat ihn finden lassen (V. 26), sondern es handelt sich um 500 Taler, die Renzels verstorbene Mutter der Bäuerin übergeben hatte, um der Tochter ein Erbe zu sichern (I,4, S. 148). In der Tat war die Verwahrung von Geldvermögen von Waisen und ihre mündelsichere Anlage bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts, als in Salem die erste Waisenkasse gegründet wurde, ein ungelöstes Problem der Geldsicherung.24 Weise ökonomisiert demnach den Goldtopfstoff. Anders als Molière setzt er jedoch nicht bei der Geldwirtschaft im wörtlichen Sinne, bei Geldgeschäften an. Die Verhältnisse, in denen die Figuren des Betrogenen Betrugs agieren, sind die der ostelbischen Gutswirtschaft, die wiederum nicht allein ökonomisch, sondern zunächst sozial-rechtlich zu fassen ist. Als Bauer ist Lampe dienst- und abgabenpflichtig.25 In diesem Abhängigkeitsverhältnis sind die fünfzig Schock, die der Verwalter von ihm fordert, nicht Überstand eines besonderen Geschäfts, das er getätigt hat, sondern dauernde Bedingung seiner wirtschaftlichen und sozialen Existenz. Karsten wiederum vertritt nicht die noch unbefriedigte Seite eines privatrechtlich geregelten Handels, sondern die „liebe Obrigkeit“ (I,1, S. 137; I,3, S. 141). Auch der Geldschatz, der im Zen23 L’Avare nimmt in diesem Punkt eine Zwischenstellung ein: zwar geht das erregende
Moment von der Brautwerbung Cléantes aus, doch leitet sich sein Verhalten von präzise gezeichneten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen her. 24 Vgl. Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bd. 1, S. 891. 25 Lampes Dienstpflichtigkeit deutet sich in seinem Droh-Argument an, der Verwalter solle sich vorsehen, daß sein rüdes Vorgehen nicht dazu führe, „daß ein Bauer und ein Tagarbeiter weniger wird“ (S. 141). Zudem spricht Karsten vom „Hofe-Dienste“ der Bauern (S. 142). Eine genauere Bestimmung des Abhängigkeitsverhältnisses, in dem Lampes Leben und Wirtschaften zu denken ist, lassen die spärlichen Hinweise im Text nicht zu. Mit der Gewaltanwendung von Seiten des gutsherrlichen Verwalters sowie der Drohung des Bauern, sich durch Flucht seinen Pflichten zu entziehen, trifft Weise hingegen ein drängendes Problem der Oberlausitzer Landwirtschaft der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, wo, als Folge der Entvölkerung durch den Dreißigjährigen Krieg, die Feudallasten – und mit ihnen die Zahl entflohener Bauern – zunahmen (vgl. Leszczynski: Der Klassenkampf der Oberlausitzer Bauern, S. 61–69).
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trum des Lustspiels steht, bildet nicht den Gegenwert einer Ware oder Dienstleistung in einem Tauschgeschäft – oder, wie im Wucher Harpagons, selbst die ‚Ware‘, die verkauft wird –, sondern ein gespartes und gehortetes Vermögen (II,13, S. 187). Die ‚moderne‘, d. h. marktförmige Geldwirtschaft kommt daher nirgends in den Blick. Sozialgeschichtlich ist Der Betrogene Betrug freilich gerade dadurch repräsentativ, wenn man darunter das versteht, was die Lebensverhältnisse der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit prägte. Im Rahmen der dörflichen Natural- und Selbstversorgerwirtschaft konnte es vorkommen, daß die jährlich zu entrichtenden Abgaben bereits die beträchtlichsten Gelder bildeten, mit denen der Bauer es zu tun hatte.26 In der Umgebung von Zittau, der Oberlausitz, bestanden die Feudalabgaben ohnehin nur zum kleinsten Teil in Geldzins; Arbeitsdienste und Naturalabgaben spielten in dieser nur wenig monetarisierten Gesellschaft eine weitaus größere Rolle.27 Auf der anderen Seite läßt sich nicht ausschließen, daß Weise die Dorfgesellschaft seiner Komödie geldferner zeichnet, als er es in seiner Umgebung hätte beobachten können. So waren Abgabenrückstände auch auf dem Dorf ein typischer Anlaß, einen Kredit aufzunehmen. Gewährt wurden die Kredite von der Gemeinde, der Grundherrschaft oder kirchlichen Institutionen.28 Wenn Lampe keinen Gedanken an einen solchen, bereits seit dem späten Mittelalter üblichen Kredit wendet, um sich aus seiner Zwangslage zu befreien, mag dafür also eine gezielte Deökonomisierung verantwortlich sein – etwa um die ethische Dimension des dramatischen Konflikts stärker zu profilieren. Das hätte jedenfalls Weises poetologischem Grundsatz entsprochen, das Theater solle „die Reguln der Tugend und der Klugheit in anmuthigen Reden und Exempeln recommendiren“.29 Selbst die auffällige, da untypische Verlegung des Geizstoffes in ein ländliches Milieu darf man nicht ausschließlich als an den Lausitzer Verhältnissen orientierte Konkretisierung deuten. Vielmehr gibt bereits die zeitgenössische Laster- und Affekttypologie den Bauern als jenen Stand vor, der am stärksten von Geiz betroffen sei.30 Zudem konnte die satirische Darstellung triebbeherrschter und nicht übermäßig kluger Bauern an eine Tradition der Ständesatire anknüpfen, die einem Publikum akademisch Gebildeter um so geläufiger war, als sie Gefühle sozialer Bestätigung erzielte.31 Wie in allen Geldkomödien begegnen uns Wirtschafts- und 26 27 28 29 30
Vgl. Bercé: La naissance dramatique de l’absolutisme, S. 252f. Vgl. Leszczynski: Der Klassenkampf der Oberlausitzer Bauern, S. 34–39. Vgl. Boelcke: Der Agrarkredit, S. 195f. Weise: Vorrede zu Lust und Nutz – SW 8, S. 424f. Vgl. Thomasius: Ausübung der Sittenlehre [1696], S. 164. Zur Maßgeblichkeit der bei Thomasius festgeschriebenen Typologie für den sechs Jahre zuvor erschienenen Betrogenen Betrug vgl. unten S. 314. 31 Vgl. Kremer: Bauern-, Bürger- und Frauensatire in den Zittauer Komödien Christian
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Sozialgeschichte im Betrogenen Betrug nicht unmittelbar, sondern in der Vermittlung jener Modelle, mit deren Hilfe die Zeitgenossen – darunter die Autoren unserer Texte – sie zu erkennen und zu normieren trachteten.
3.5.2 Frauenherrschaft im Haus Das Modell, in dem die theoretische Reflexion der frühen Neuzeit die sozialen Verhältnisse des Betrogenen Betrugs zu fassen suchte, ist das ‚Haus‘. In der ihm zugeordneten Ökonomik steht nicht der Markt im Mittelpunkt, sondern der Lebensraum der bäuerlichen Familie.32 Noch keine Rolle spielt dabei die ‚innerliche‘, emotionale Familiarität, die sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbildete, denn das Haus wird als Oikos begriffen, als ‚ganzes Haus‘, wie der von Wilhelm Heinrich Riehl geprägte Begriff lautet, der auf die Ungeschiedenheit von (im modernen Sinn) ökonomischen, moralischen, rechtlichen, pädagogischen, hauswirtschaftlichen usw. Gesichtspunkten weist. Sphärenübergreifend gilt das Haus-Modell auch in ständischer Hinsicht. Der Adel, ohnehin ganz überwiegend von der Landwirtschaft lebend, führt gleichfalls ein Haus im Sinne der frühneuzeitlichen Ökonomik,33 und auch in der Staatstheorie der Zeit finden sich die entsprechenden Traditionsbestände, wo sie den Herrscher als (Haus-)Vater präsentiert.34 In diese Sphäre reicht Der Betrogene Betrug nicht – anders als L’Avare, der wiederum das Haus-Modell hinter sich läßt, wo es um die propagierte Wirtschaftsgesinnung sowie um die Rolle des Familienvaters geht (denn Harpagon muß seine väterliche Macht faktisch an Anselme abgeben). Weises Stück indessen setzt die tendenziell universale Lebensordnung des ‚Hauses‘ nicht allein voraus. Vielmehr werfen die Figuren wiederholt die Frage der rechten Hausordnung auf; ja die Komödie kann im ganzen als Satire auf ein verkehrtes sowie als Ankündigung eines rechten Hauses verstanden werden. Den wichtigsten Indikator für das Erreichen bzw. Verfehlen des Hausideals bildet die Verfügung über das häusliche Geld. Offensichtlich verkehrt ist die Ordnung des Hauses, wenn, wie bei Walpe und Lampe, die Frau heimWeises, S. 113f. (mit Bezug auf den Verfolgten Lateiner). Erinnert sei an die Bauernsatire in Schochs Comoedia Vom Studenten-Leben (vgl. oben S. 155). 32 Vgl. Brunner: Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, S. 104–107. 33 Vgl. ebd., S. 109. 34 Vgl. Klaus Lichtblau: Ökonomie, politische – HWPh 6, Sp. 1163–73, hier Sp. 1165f.; Horst Günther: Herrschaft – GG 3, S. 1–102, hier S. 43; ausführlich zur hofökonomischen Literatur jetzt Bauer: Hofökonomie, S. 135–162. Zur gleichen Zeit (1690) schränkte die absolutismuskritische Philosophie eines Locke die Vergleichbarkeit von Haus- und Staatsgewalt allerdings schon erheblich ein.
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lich ein großes Geldvermögen hütet, ihren Mann gleichwohl arbeiten läßt.35 Lampe nimmt hier, wie er klagt, nicht die Position des Hausherrn ein, sondern „Hausknecht hab ich seyn sollen“ (II,5, S. 175).36 Höchst untunlich ist nicht nur die Heimlichkeit zwischen Eheleuten; gestört wird vielmehr die ‚natürliche‘ Rangfolge von Mann und Frau. Daß Walpe einen Schatz vor ihrem Mann verbirgt, ist Indiz der Pantoffelherrschaft, der dieser unterworfen ist (I,3, S. 147; II,6, S. 177). Man mag an dieser Stelle einwenden, aufgrund seiner Schwäche habe Lampe es nicht anders verdient, und seine moralische Qualifikation sei auch nicht besser als die ihre, habe er sie doch nur ihres vermuteten Vermögens halber geheiratet (I,2, S. 138f.). Auf individuelle Tugendhaftigkeit bzw. -mängel ist das Geschlechterverhältnis im frühneuzeitlichen Eheverständnis aber gar nicht gegründet. Maßgeblich ist vielmehr die generelle Annahme, daß der Mann vernünftiger, die Frau hingegen affektabhängiger sei; wie die Vernunft die Affekte regieren soll, habe daher der Mann über die Frau zu herrschen. Dieses Argument findet sich bereits in Aristoteles’ Politik und hat von hier aus das ‚ökonomische‘ Denken Alteuropas geprägt.37 Dessen durchgängige Bevorzugung des herrschaftlichen Ordnungsprinzips wiederum wirkte um so unumstößlicher, als die Analogie Seele bzw. Vernunft vs. Körper oder Affekte Familie, Ethik und Politik verband: „Was die Seele im Körper, ist der Herrscher im Staat, der Hausvater im Hause, das organisierende, die Einheit begründende Prinzip.“38 Spielt Walpe nun ihrem Manne gegenüber den Herrscher, so bleibt sie gleichwohl in der Knechtschaft der Sünde sowie der Affekte gefangen. Wie ihre paroxytische Reaktion auf die Entdeckung des Topfraubs komisch vor Augen führt, hat sie sich auf keine Weise in der Gewalt (II,5, S. 170–176). Wenn sie Mann und Gesinde in die Kirche schickt, um sich ungestört an ihrem Schatz erbauen zu können (I,5, S. 154), tritt zudem noch einmal die Gottferne des Geizigen hervor.39 Daß ihr Mann sie als „Geitz-Teuffel“ tituliert 35 Die komischen Typen, die hier durchscheinen, sind das seit den Fastnachtsspielen und
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der Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts bekannte Paar des ‚bösen Weibes‘ und des dazugehörigen ‚Pantoffelhelden‘ (vgl. Barbara Becker-Cantarino: „Ein böses Weib ist überwunden...“. Zu Bedeutung und Funktion der Frauengestalten in Christian Weises Werk. – In: Christian Weise, S. 209–230, hier S. 224, mit Bezug auf Weises Bäurischen Machiavellus). Vgl. Flinckflecks ironisches Lob für Lampe, „der sich in der Haushaltung so wohl anlässet“ (ebd.). Vgl. Aristoteles: Politik, 1. Buch, S. 17 (1254b 5–15), 38 (1260a 13). Brunner: Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, S. 114. Vgl. auch Lampes metaphorische Theologisierung ihres Verhaltens: „Ja / ja / du gute Mutter es ist dir um den Seegen. Du wilst einmahl deinen Mammon besichtigen.“ (S. 21) Über den Schatz sagt Walpe: „Da ist nun mein Trost. Wo ich den verliehre / so hab ich in der gantzen Welt nichts mehr zu hoffen.“ (S. 155)
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(I,2, S. 138), ist daher mehr als eine Floskel. Vielmehr macht die theologisierende Rede den Schatz auch dort als – sträfliche – Gotteskonkurrenz kenntlich, wo er vordergründig als – legitime – Altersvorsorge40 erscheint: „Darauff kan ich mich verlassen / wenn ich alt und kranck werde. Und wenn ich noch so ein groß Unglücke zu erleben hätte / so weiß ich / der liebe NothPfenning wird mich nicht stecken lassen.“ (I,5, S. 155) Auch bei Harpagon hat das Geld unverkennbar Heilsversicherungsfunktion, wenn es als „mon support, ma consolation, ma joie“ apostrophiert wird.41 Daß es Gott ist, der damit aus der Funktion des Heilsgaranten verdrängt wird, spielt bei Molière jedoch keine Rolle; die französische Komödie hat die theologische Geizkritik bereits durch eine ökonomisch-politische ersetzt. Bei Weise funktioniert sie noch, wenngleich ‚nur‘ als partikularer Faktor eines übergreifenden Regulativs, des ‚Hauses‘. Auch wenn, wie wir noch sehen werden, das vorbildliche Paar keineswegs die christliche Norm häuslicher Rollenverteilung erfüllt: in Walpes Fall greifen ‚ökonomische‘ Kriterien noch mit der christlichen Geschlechterhierarchie42 zusammen, um die häusliche Herrschaft der Bauersfrau unmißverständlich als illegitime auszustellen. Einen guten Hauswirt stellt ihr Eheherr freilich ebensowenig dar. „Das soll ich nun verbrauchen / wie ich will“, frohlockt er, als er den Schatz entdeckt hat: „Ey / ey / was vor Bier wird nun im Kretscham43 mehr abgehen. Was werden die Spiel-leute vor gute Tage haben.“ (I,5, S. 157) Nicht der Geiz wie bei Walpe, aber eine übertriebene Neigung zum Wohlleben disqualifiziert ihn als guten Haushälter. Das Laster, dem er anhängt, dürfte Weise nicht zufällig gewählt haben, denn die „Wohllust“ wurde am Ende des 17. Jahrhunderts neben dem „Geld-Geitz“ und dem „Ehr-Geitz“ zu den drei „Haupt-Begierden“ des Menschen gerechnet (wobei sie noch nicht auf die Bedeutung eines „geilen Gefühles“ eingeengt war, sondern die „Belustigungen des Verstandes und der äusserlichen Sinne“ im allgemeinen bezeichnete).44 Und der nächste in der Folge der (vorübergehenden) Schatzbesitzer, Flinckfleck, ist keineswegs besser qualifiziert. Vielmehr zeigt er sich höchst 40 In diese Richtung deutet Werner Rieck in seiner grob materialistischen Geschichte des
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deutschen Lustspiels zwischen 1688 und 1736 Walpes Lage und Intentionen (vgl. Rieck: Das deutsche Lustspiel von Weise bis zur Gottschedin, S. 394). Vgl. L’Avare, S. 142. Vgl. Eph 5,22–24: „Die Weiber seien vnterthan jren Mennern / als dem HErrn / Denn der Man ist des Weibes heupt / Gleich wie auch Christus das Heupt ist der Gemeine / vnd er ist seines leibes Heiland. Aber wie nu die Gemeine ist Christo vnterthan / Also auch die Weiber jren Mennern in allen dingen.“ In der Lausitz übliches slawisches Wort für Dorfschenke, vgl. DWb 5, Sp. 2174. Vgl. Thomasius: Ausübung der Sittenlehre (1696), S. 259 (11. Hauptst., § 1), 185f. (9., § 2). Zur Nachwirkung dieser Lastertypologie in der Komödie des mittleren 18. Jahrhunderts vgl. unten S. 440 (samt Anm. 124) zu Gellerts Loos in der Lotterie.
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anfällig für das dritte der angeführten Hauptlaster, den Ehrgeiz, d. h. das Streben, sich über seinen Stand zu erheben. Auch er will den Schatz nicht horten, sondern nutzen, jedoch für einen ‚unvernünftigen‘ Zweck: „Ha was will ich da vor ein Cavallier seyn. Da soll der Verwalter / der mir jetzund zu fressen giebt / mein Kammerdiener werden. [...] Es ist mir nicht anders / als wenn ich ein Fürsten-Kind wäre. Heysa / Guth macht Muth.“ (II,6, S. 177) Da haben wir das dritte Haupt-Laster, den ‚Ehrgeiz‘. Der Geld-Topf soll den Burschen zum großen Herrn machen. Doch bleibt Flinckfleck auch als reicher Mann wesentlich ein Diener, denn nun ist das Geld sein Herr: Du solst mein Patron seyn. [...] Nun ihr Excellenz Ehrenfester Herr Topff / allerseits hochgeschätzter Herr Wohlthäter. Er wird sich belieben lassen / in einen andern Winckel zu spatzieren / biß ich Gelegenheit habe denselben in einem bessern Logiament zu bedienen. (II,11, S. 184, vgl. auch II,15, S. 194).
Hier ebenso wie mit den Zoten, die er zu reißen hat,45 rekurriert Flinckflecks Rolle auf die anthropologische Rechtfertigung aller sozialen Ungleichheit, wie sie für die alteuropäische Ökonomik konstitutiv ist: Sein Verhalten ist das eines Dieners, gleich welche Geldsummen er sein eigen nennt, denn er vermag seine Triebe nicht zu beherrschen.46 Der Betrogene Betrug bestreitet seine Kritik eines falschen Umgangs mit dem Geld demnach nicht allein mit der traditionellen Figur des oder der Geizigen. Indem er drei lastertypologisch verschiedene, obschon sämtlich unwürdige Geldbesitzer auf die Bühne bringt, bricht Weise das Geizparadigma der literarischen Geldkritik vielmehr auf. Da die theologische Geldkritik der frühen Neuzeit sich wesentlich gegen den Geiz richtete, beschränkt diese Ausweitung des Analyse- und Kritikhorizonts zugleich die Maßgeblichkeit christlicher Normen. Zwar bleibt das Geld auch als Gotteskonkurrent eine Gefahr, doch orientiert sich die Systematik der Figurenkonstellation an einer Ethik, welche die innermenschliche Konkurrenz von Begierden und Vernunft in den Mittelpunkt stellt. Zudem übernimmt das ‚Haus‘ als umfassende Einheit sozialer Beziehungen die Funktion des entscheidenden Kriteriums für den rechten oder einen unangemessenen Umgang mit dem Gelde.47 Lampe 45 Vgl. S. 160. Lampe ist, bei seiner ‚Wollust‘ nicht überraschend, der zweite Zotenreißer
(vgl. S. 147). 46 Es ist daher ausgeschlossen, daß Flinckfleck den Schatz behalten darf und sogar eine
Braut bekommt, wie dies dem ebenfalls listig-betrügerischen Diener Dromo in der motivisch verwandten Henno-Komödie von Reuchlin zuteil wird (zu dessen ähnlicher Ausgangskonstellation vgl. oben Anm. 21). Reuchlins lateinische Komödie verfolgt moralische als literarische Intentionen und orientiert sich daher an der starken Stellung des Sklaven bei Plautus und Terenz. 47 Auf die zentrale Rolle sozialethischer Begründungen macht auch Friedrich Vollhardts Analyse von Weises prä-naturrechtlicher Tugendlehre aufmerksam (vgl. Die Tugendlehren Christian Weises. – In: Christian Weise, S. 331–349, hier S. 333–343).
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und Walpe scheitern dabei in ihren Rollen als Eheherr und -frau, Flinckfleck in seinem Amt als Diener. Man mag an dieser Stelle auf Masens Ollaria zurückverweisen und auf das Haus des Abundius, dessen Angehörige sämtlich unter Desiderius’ Geiz zu leiden haben. Dieses durchaus im Sinne der Ökonomik aufgefaßte Haus bildete letztlich aber nur den Schauplatz eines weiterreichenden Kampfes zwischen sündigem Menschen und göttlichem Gebot. In Weises Lustspiel hat sich diese Priorität der Sphären und Werte verkehrt. Zu beobachten sind hier erste Schritte von Säkularisierung, ohne daß christlichen Denkweisen nur noch die Funktion zugekommen wäre, säkularen Zwecken – bei Molière der Propagierung monarchischer Ansprüche – zu dienen. Wie ist dann der Hausstand beschaffen, den das obsiegende Paar am Ende des Lustspiels begründet? „Ach nun solstu sehen / was ich will vor eine gute Wirthin seyn“, spricht Renzel zu Karsten, als sie ihr Erbe errungen hat: „Denn mich deucht / die Haushaltung gehet so fein von statten / wenn die Frau im Gelde mähret [=rührt]48 / und wenns am kleinen Gelde fehlt / so kan sie so hübsch wechseln lassen.“ (II,13, S. 188) Auch hier wird es also die Frau sein, die über das Geld verfügt. Recht und Sitten der Zeit sind damit an einem intrikaten Punkt berührt. Rechtlich ist die Sache ziemlich eindeutig, denn es war der Mann, der über Geld und Gut des Hauses, meist auch über das Erbe der Frau entschied.49 Die Aufteilung von Zuständigkeitsbereichen – außer Haus arbeitet der Mann, darinnen die Frau – verschaffte der Frau gleichwohl häufig die Verfügungsgewalt über die Haushaltskasse, zumindest was die täglichen Ausgaben anging.50 Ob sie das Geld als Erbe mit in die Ehe gebracht hat, spielte allerdings keine Rolle. Sozialgeschichtlich läßt sich Renzels Geldmacht daher nur teilweise ableiten; daß Karsten vorbehaltlos zustimmt, wird vielmehr erst durch eine besondere Liebes- und Eheauffassung plausibilisiert. Der Verwalter vertraut seiner Braut: „Ich weiß du wirst mir nichts verderben. Es wird alles wohl in deine disposition gestellet bleiben.“ (ebd.) Der ‚herrschaftliche‘ Vorrang des Hausherrn vor der Frau schwindet in dieser Atmosphäre, zumal der Gelddiskurs der Szene bruchlos in Liebesrede übergeht: Ren. Nun wir müssen sehen / daß wir unsere baare Mittel an einen sichern Ort bringen.
48 Vgl. DWb 6, Sp. 1468, s. v. mähren. 49 Vgl. van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit Bd. 1, S. 38. In der Regel
verwaltete – und nutzte z. T. auch – der Mann das Frauengut; vgl. W. Ogris: Gütertrennung. – In: Hwb. zur dt. Rechtsgeschichte Bd. 1, Sp. 1876f. 50 Van Dülmen (ebd., S. 48) zitiert dazu Luther, demzufolge die Weiber „ordentlich aus[theilen], was ein Mann hineinschaffet und erwirbet“.
317 Kar. [...] Mein liebes Kind komm nur ins hinter-Stübgen / da wollen wir das Geld zehlen. Ren. [...] Was werde ich nun davon zu gewarten haben. Kar. Ich will mich nach der Lands-Ordnung halten. Vor ein iedweden Thaler ein Mäulchen. [= einen Kuß] Ren. Wenn ich aber einen Thaler wechseln ließe. Kar. Da hieß es; vor einen iedweden Thaler vier und zwantzig51. Ren. Ey nicht doch. Ich meine Fledermäuse52 / da heißt es vor einen Thaler hundert und zwantzig. Kar. Meinetwegen mögen es tausend seyn. Das Geld ist unser / und die Mäulchen sind auch unser. (II,13, S. 188f.)
Die Scherzrede basiert auf der Annahme, daß das Geld der Frau gegen die Liebe des Mannes getauscht werden kann. Dabei erhandelt sich Renzel ein für sie immer günstigeres Tauschverhältnis, so daß – durchaus überraschend bei einem Brautpaar – der Wert eines Kusses, also des Liebesausdrucks, zunehmend zu sinken scheint im Vergleich zum Geld. In Wahrheit freilich stellt solches Feilschen wie überhaupt der Gedanke der Tauschbarkeit von Geld in Liebe nichts als einen Scherz dar, denn jedes „Mäulgen“ impliziert bereits für sich Gegenseitigkeit. Wenn zwei Liebende sich küssen, bedarf es keiner Geldvermittlung. Und das Geld, das de jure nur einem zusteht, ‚gehört‘ unter Liebenden beiden. Keineswegs jedoch läßt die Liebe alle pekuniären Fragen unwichtig werden. Vielmehr basiert Karstens und Renzels Ehe auf der Gewißheit materiellen Besitzes. „Wo man gute Mittel hat / da courtisirt sichs am besten“, weiß die Jungfer (S. 188). „Das Geld ist eine ehrliche Sache“, hat Karsten bereits früher festgestellt – ehrlicher jedenfalls, konnte der Zuschauer hinzufügen, als der Verwalter selbst, gerät dessen hochgesinnte Beteuerung, daß es ihm allein auf Schönheit und Tugend ankomme (II,2, S. 163), doch ins Zwielicht der Unaufrichtigkeit, wenn er andernorts monologisiert, daß die soziale Inferiorität seiner Geliebten erst durch deren Erbschaft ausgeglichen werde (II,13, S. 186). Der Verwalter bestätigt damit, was Renzel ihm vorgeworfen hat: daß bloßen Liebesbekenntnissen nicht zu trauen sei: „So lange die Liebe complimentiren kan / so muß man sich vor einer Falschheit besorgen.“ (II,7, S. 178) Mit Komplimenten und Liebesworten braucht niemand sparsam zu sein, denn sie kosten nichts.53 Erst der Besitz, mit dem das Waisenmädchen sich für die Heirat mit einem „vornehmen Mann“ (II,2, S. 163) qualifiziert, bildet eine tragfähige Grundlage für beider Liebe. Weit deutlicher noch als 51 Zu vierundzwanzig gehen Gute Groschen auf den Thaler. 52 Fledermaus war ein Spottname für verschiedene deutsche Kleinmünzen (vgl. Wörter-
buch der Münzkunde, S. 196). 53 Vgl. Renzels Bitte an Karsten, „er möchte doch die Complimente etwas sparsamer
geben“ (S. 178).
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L’Avare mit seinem Schluß, der Liebesheiraten und ökonomische Absicherung ineins fallen läßt, exemplifiziert die ‚ökonomische‘ Liebesethik des Betrogenen Betrugs damit Max Webers allgemeinen soziologischen Befund, „daß erst die ökonomischen Funktionen der Hausgemeinschaft den sexuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau Dauer und Bestand verleihen“.54 Solange Karsten von Renzels Schatzanspruch noch nichts weiß, spielt er hingegen den galanten Liebhaber, dem es, wie seine Schmeicheleien verraten, bloß um sein „Vergnügen“ zu tun ist (ebd.). Wer, wegen seiner Armut, „mit sich selber“ „bezahlen“ muß, verfügt dann über keinerlei Sicherheiten (ebd.). Wenn Küsse den einzigen gemeinsamen Besitz bilden, droht die Liebe, wie Renzel folgerichtig befürchtet, rasch zu vergehen. Daß Schönheit und zumal Tugend tatsächlich „das beste Reichthum“ eines Mädchens bilden, bleibt davon unberührt, doch kann dieser Reichtum erst dort unangefochten seinen Segen entfalten, wo er materiell unterfangen ist. Vom christlichen Verbot irdischen Sorgens, wie es die Geld-, Geiz- oder Wucherkritik des 16. und 17. Jahrhunderts vielfach bestimmte, hat sich die Geldethik des Betrogenen Betrugs demnach weit entfernt. Bereits in Masens Ollaria fanden wir neben der streng theologischen Position die Lizenz zum Geschäftemachen, wenn nur die erzielten Gewinne auch den Armen zugute kommen. Weises Komödie nun spielt in einem normativ weniger problematischen Bereich: dem bäuerlichen Haus, also auf dem Feld der Ökonomik, nicht im geld- und gewinnfixierten Bereich des chrematistischen Handels. Indem das ‚ganze Haus‘ als regulative Idee der Darstellung und Wertung der Figuren fungiert, erscheint das Wertesystem des Stückes zugleich aber nicht mehr unmittelbar religiös gesteuert. Wie mit Geld umzugehen ist, bestimmt Der Betrogene Betrug nicht mit Blick auf eine persönliche Qualifikation für das Jenseits, sondern nach Maßgabe der Folgen für die Gemeinschaft der hier und jetzt Lebenden. Zwar unterscheidet Renzel nach wie vor zwischen vergänglichen und ewigen Gütern (II,2, S. 164), doch kämpft sie zugleich für ihr Erbe, und wenn sie es einsetzt, so nicht, um Güter im Himmel zu sammeln, sondern um einen „rechtschaffenen Liebhaber“ zu bedenken (ebd.). Die Devise, „nur feine fromm“ zu sein und auf den Lohn der göttlichen Vorsehung zu warten, ist dagegen der betrügerischen Bäuerin in den Mund gelegt (I,4, S. 149). Gott als jene Instanz, in dessen illegitime Konkurrenz die jesuitische Schulbühne das Geld stellte, verliert damit notwendig an Gewicht. Entscheidend für das Lebensglück wird, wie die Figuren Geld und Liebe ins Verhältnis zu setzen wissen. Dieses Verhältnis ist im Betrogenen Betrug keineswegs notwendig von erbitterter Konkurrenz geprägt, wie romantische 54 Gerhardi: Geld und Gesellschaft im Theater des Ancien Régime, S. 94, mit Verweis
auf Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 212.
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Vorstellungstraditionen es nahe legen mögen. „Geld schadt der Liebe nicht“, weiß Renzel, während Karsten repliziert: „Und ich halte fünffhundert Thaler hindern die Küsse nicht.“ (II,2, S. 165) Voraussetzung für eine Verbindung von vermeintlich Persönlichstem und Sachlichstem ist die traditionelle Prämisse, daß die Ökonomie des Hauses nie nur ‚Wirtschaft‘ im modernsegmentären Sinne ist, sondern einem Tugendzweck dient.55 ‚Modern‘ sind Renzel und Karsten gleichwohl als verliebtes Paar, denn die christliche Ehemoral betrachtete die wechselseitige Neigung der Gatten weniger als Voraussetzung denn als Folge der Ehe, ganz deren wesentlich sozialer Funktion gemäß, Vermögen zu mehren, Prestige zu sichern und familiäre Interessengruppen zu stiften.56
3.5.3 Dynamische Komik als Abschied von der oeconomia divina Auch wenn die Logik der Liebe den Vorrang entschärft, den Renzel durch ihr Erbe gewinnt: es bleibt bei dem irritierenden Befund, daß der Mann nicht eindeutig das Heft in der Hand halten wird. Mit der ganz auf den Vater zugeschnittenen Ordnung des ‚Hauses‘ ist eine solch ambivalente Geschlechterrollenverteilung kaum zu vereinbaren. Sie entspricht auch nicht den Rollen, die Weises Stücke üblicherweise den weiblichen Figuren zuschreiben: Werden einmal nicht schlechte Hausfrauen oder ein ‚böses Weib‘ verlacht, so ordnet sich die ideale Frau fraglos unter – wie die tugendhafte, fromme und demütige Susanna im Curieusen Körbelmacher, welche die göttliche Liebe verkörpert, die dem männlichen Helden zuteil wird.57 Renzel dagegen ordnet sich keineswegs unter; wo sie um ihr Erbe kämpft, scheut sie weder Verstellung noch Schimpfreden, nicht einmal körperliche Gewalt (I,4, S. 150f.). Von daher mag man argwöhnen, ihr komme die Rolle der positiv gewerteten Antipodin des lasterhaften Bauernpaares gar nicht zu. Bestätigt wird ihre Zentralposition innerhalb des ‚Hauses‘ jedoch von ihrer dramaturgischen Funktion. Nicht dem Zufall oder einer von dritter Seite geleiteten Intrige verdankt 55 Vgl. Wagner: Versuch einer Bestimmung der Kategorien früheuropäischer Ökonomik;
Brunner: Das „Ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, S. 114–116. 56 Vgl. Saße: Die Ordnung der Gefühle, S. 13. Nach Levinstein sind Renzel und Karsten
das erste „wirkliche“ Liebespaar in Weises Komödien (Weise und Molière, S. 33). 57 Vgl. Barbara Becker-Cantarino: „Ein böses Weib ist überwunden...“. Zu Bedeutung
und Funktion der Frauengestalten in Christian Weises Werk. – In: Christian Weise, S. 209–230, hier S. 218–227. Zur wenn auch abgemilderten Fortschreibung der misogynen Satire in Weises Böser Catherine vgl. Kremer: Bauern-, Bürger- und Frauensatire, S. 112f. Wie Becker-Cantarino (ebd., S. 226f.) hervorhebt, stimmt auch Weise das Lob der „patriarchalen ‚Trinität‘ der Frühen Neuzeit“ an – also von Gott-, Landesund Haus-Vater (so im Schlußlied des Bäurischen Machiavellus).
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sie die Wiedererlangung ihres Erbes, sondern eigenem Eingreifen, das ebenso planvoll wie bewußt erfolgt (II,7, S. 178; II,12, S. 184f.). Sicherlich, der Diener ist es, der die List ersinnt, die den Schatz aus seinem ersten Versteck herausbringt. Flinckflecks Handeln mangelt es jedoch an Planmäßigkeit: Sobald er ihn in Händen hat, weiß er mit dem Schatz nichts anzufangen; seinem Wesen nach Diener, ist er nicht in der Lage, vorausschauend über ihn zu verfügen (S. 184). Renzel gegenüber verhält er sich damit wie das Werkzeug zum zwecksetzenden Verstand.58 Ganz deutlich, da auf der Bühne unmittelbar gespielt wird diese Hierarchie in der Szene, in der Renzel zum ersten Mal wieder an ihren Besitz gelangt: Sie hat Flinckfleck beobachtet und dadurch sein Versteck entdeckt, doch wiegt der Topf zu schwer, als daß sie ihn alleine beiseite schaffen könnte. Also inszeniert sie „einen artigen Possen. Flinckfleck soll mir selber seine Dienste darzu præsentiren“, d. h. den unter Scheuersand versteckten Schatz nach Hause tragen (S. 185). Die Regie, die sie in dieser komischen Szene ganz ausdrücklich führt, verweist aber auf die Leitung des ganzen. Zumal da andere Leitungsinstanzen nicht hervortreten, erscheint Renzel am Ende als diejenige, welche die Fäden des Geschehens in der Hand hält. Für unsere Frage nach der Ordnung des Hauses ist dieser dramaturgische Befund von unmittelbarer Relevanz, denn als theologischer Begriff bezeichnet ‚Ökonomie‘ den göttlichen Heilsplan, also die Steuerung von Verlauf und Ende der Geschichte durch eine transzendente Instanz.59 Ganz im Sinne dieser oeconomia divina ist es auch in manchen Dramen Weises die „Göttliche Providentz“, die als Lenkungsmacht des dargestellten Geschehens ausgegeben wird.60 Der Betrogene Betrug dagegen hebt diese Einbettung des Dramas in eine göttliche Disposition der Dinge auf. Das gilt für die Steuerung des Handlungsverlaufs ebenso wie für die – in der alteuropäischen Ökonomik hochsymbolische – Schnittstelle zwischen himmlischem und irdischem Hausvater: die Austeilung der materiellen oder ideellen Güter unter seine ‚Gemeine‘ (distributio).61 Denn Renzel ist nicht nur die einzige Figur des Stücks, die einer anderen eine Rolle vorzuschreiben vermag;62 als begüterte Erbin wird sie auch diejenige sein, die auszuteilen hat, da sie „im Gelde mähret / und 58 Flinckflecks Dienerfunktion gegenüber Renzel entspricht überdies exakt der Hilfs-
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funktion, die in Weises Dramaturgie die Affekte gegenüber der zu vermittelnden Lehre haben (vgl. Vorrede zu Lust und Nutz – SW 8, S. 426). Vgl. U. Dierse: Ökonomie II – HWPh 6, Sp. 1153–62. Von dem Neapolitanischen Rebellen Masaniello (1682), Nachredner – SW 1, S. 372. Vgl. Frühsorge: Die Begründung der ‚väterlichen Gesellschaft‘ in der europäischen oeconomia christiana, S. 116. Aus der Rolle, die der Verwalter seinem Diener zuweist, bricht Flinckfleck dagegen aus (S. 177, 180).
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wenns am kleinen Gelde fehlt / [...] hübsch wechseln lassen“ kann (II,13, S. 188). Nun muß man vorsichtig sein, aus dieser unverkennbaren Säkularisierung des Hausmodells wie der Dramenstruktur zu weitreichende Schlüsse zu ziehen. Zumindest in programmatischen Texten unterstellt Weise sein Theater noch eindeutig einem zwar nicht ausschließlich, aber doch primär geistlichen Zweck: „also bitten wir GOTT“, faßt er den Zweck seiner Dramatik in der Vorrede zu dem Lustspiel Liebes-Alliance (1708) zusammen, er wolle uns zuförderst seinen heiligen Willen / hiernechst unsre Schuldigkeit / endlich auch die Welt erkennen lassen; so wird ein junger Mensch aus dergleichen intriguen etwas mercken / dadurch er gegen GOTT zu einem andächtigen Gebete / gegen sich selbst zu einer gebührenden Demuth / sodann auch gegen der spitzigen und betrieglichen Welt zu einer gewissenhaften Behutsamkeit Anlaß nehmen mag.63
Ob dieser christliche Rahmen die ‚weltlichen‘ Stücke des zweiten und dritten Tages nicht nur deklaratorisch umgreift, sondern die Logik ihres Verlaufs und die Hierarchie ihrer Werte prägt, ist in der Forschung allerdings umstritten. Die Debatte berührt einen entscheidenden Punkt im Übergang von der in allen Lebensbereichen religiös gesteuerten Gesellschaft Alteuropas zur modernen, funktional gegliederten Gesellschaft, die in den nun unterschiedenen Systemen von Wirtschaft, Recht, Moral usw. unterschiedliche Normen gelten läßt. Konkret heißt das: Geben die Bibeldramen des jeweilig ersten Tages einen „metaphysischen Rahmen“ ab, in dem auch die folgenden Stücke gesehen werden müssen, so daß etwa ‚Zufälle‘ als Wirkung der göttlichen Vorsehung zu deuten sind?64 Oder entzieht sich die Handlung der Trauer- und Lustspiele diesem Rahmen, und zwar selbst dort, wo er in Nebentexten noch einmal bemüht wird,65 so daß für die unterschiedlichen Lebensbereiche der drei Dramentypen – Geistliches, Politisches, „gemeines Leben“66 – auch unterschiedliche Normen gelten?
63 SW 15, S. 325. 64 So Alexander: Das deutsche Barockdrama, S. 111. Auf die „göttliche Providence“, die
man in den Trauerspielen erkennen könne, weist Weise in der Vorrede zur LiebesAlliance (SW 15, S. 322). 65 So Wilfried Barner: Christian Weise. – In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, S. 690–725, hier S. 711f., mit Verweis auf den „Nachredner“ im Masaniello. Eine einläßliche Analyse der Dramentrilogie von 1682 hat jetzt Ort: Medienwechsel und Selbstreferenz, S. 120–166 vorgenommen. Durch eine wechselseitige Relativierung der Dramen in Weises Trilogien sieht Ort „die Unabschließbarkeit von Affekttherapie und Moraldidaxe“ ausgestellt (S. 192). Die Theodizee des biblischen Stücks werde selbst in diesem lediglich „mit Einschränkungen bewährt“ (S. 146). 66 Vgl. Vorrede zur Liebes-Alliance – SW 15, S. 320–324.
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Der Versuch, diese Frage generaliter zu beantworten, kann hier nicht unternommen werden – und braucht es auch nicht, denn für den Betrogenen Betrug fällt der Befund eindeutig aus: Da die Geizkomödie nicht Bestandteil einer der üblichen Trilogien ist, fehlt der ‚metaphysische‘ Rahmen nicht allein innerhalb des Dramas – als Maßgabe des Handlungsverlaufs wie der obsiegenden Norm –, sondern auch in Gestalt des geistlichen Nachbarstücks. Ein Nachredner, der – wie in vielen anderen Stücken des Zittauer Rektors – das Gezeigte christlich-moralisch deutete, tritt ohnehin nicht auf; Der Betrogene Betrug schließt mit einer Prügelei (II,15, S. 194).67 Durch pauschale Verweise auf das Fortgelten christlicher Normen in Weises Werk kann die weitgehend säkularisierte Handlung um Renzels Liebe, Geld und Haushaltung nicht traditional zurückgebunden werden. Vielmehr scheint sich die Ausdifferenzierung verschiedener Rollen aus der einen Hausvaterfunktion, wie sie gut zwanzig Jahre später in der ‚ökonomischen‘ Literatur faßbar wird – entweder religiöses Individuum oder wirtschaftlicher Funktionsträger –,68 hier vorzubereiten. Gibt Weise eine Muster-Grabrede auf einen verstorbenen Kaufmann, so kann er durchaus noch auf den geldethischen Grundgedanken der Jesuitendramen – daß die rechte Religiosität die beste Kapitalanlage sei – zurückgreifen.69 Denn dort handelt es sich um eine ganz andere Textsorte von unverändert religiöser Prägung. Welche Gründe aber lassen sich für die außergewöhnlich deutliche Säkularisierung der Komödie angeben? Es liegt nahe, bei dieser Frage auf das zentrale Motiv des Geldes zu rekurrieren. Wie anhand der Jesuitendramen zu studieren war, kommt es auf die dem Geld zugewiesene Bewegung an, nicht schon auf seine Thematisierung. Im Betrogenen Betrug nun entfällt, was bei Bidermann das Zentrum der dramatischen Geldethik bildete und auch bei Masen noch dominierte: die Verpflichtung jedes Geldbesitzers, sein Gut zu ‚konvertieren‘, in den himmlischen Schatz nämlich, der aus Gebeten und 67 Der Deutung Claus-Michael Orts, der Schluß des Betrogenen Betrugs sei durch „Un-
abschließbarkeit“ gekennzeichnet (Medienwechsel und Selbstreferenz, S. 183 Anm. 102), kann ich mich jedoch nicht anschließen. Denn es prügeln sich nur die Figuren, die zu Recht leer ausgegangen sind, während Geld und Tugend sowie die beiden positiven Figuren zueinandergefunden haben. 68 Vgl. Frühsorge: Die Begründung der ‚väterlichen Gesellschaft‘ in der europäischen oeconomia christiana, S. 119. Frühsorge bezieht sich auf Julius Bernhard von Rohrs 1716 erschienene Compendieuse Haußhaltungs-Bibliothek. 69 Vgl. Weise: Der Grünen Jugend Nothwendige Gedanken [1675] – SW 21, S. 367: „Derhalben mehr als wol / wenn jemand seinen Wandel [/] Nicht lang auf Erden führt / und allen Kaufmanshandel [/] Bey GOTT versichern läst / da man das Capital [/] Des Glaubens und der Lieb’ in ungemeßner Zahl [/] Auf schöne Zinsen bringt. Gott läßt die Müntze schlagen [/] Die voll Gewichte giebt; so darf man nicht verzagen / [/] Und weil der Vater selbst die Wechsel liefern läst / [/] So lebt man nicht in Furcht daß irgend ein Protest [/] Die Sache schlimmer macht.“
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guten Werken sich bildet. Bei Weise bleibt das Geld im Topf und dieser auf dem Boden eines rechtlichen Anspruchs und des ‚ökonomischen‘ Nutzens. Unterstrichen wird diese Ablösung religiöser Transzendierung durch die Immanenz des Geldes durch den Handlungsverlauf, denn der Topf kehrt, nachdem er durch die Hände dreier Unbefugter gegangen ist, am Ende zur wahren Besitzerin zurück. Masens Ollaria deutete das immanenzorientierte Kreisprinzip lediglich an, indem sie demjenigen Gewinn verhieß, der sein Geld wohltätig ausgibt, sowie jene Figur zum letztlich Getäuschten machte, die zuerst als Intrigant auftrat. Bei Weise schließt sich dieser Geld-Kreis (obwohl der eigentliche Bereich umlaufenden Geldes, die Warenwirtschaft, motivisch ausgeschlossen ist). Daß das rekursive Handlungsmuster des betrogenen Betrugs, das bereits die Geschichte von Masens Desiderius kennzeichnet, jetzt in den Titel der Komödie aufrückt, mag man dabei als wenn auch kontingentes, so doch treffendes Zeichen für den Durchbruch des Immanenzprinzips lesen. Anhand des Curieusen Körbelmachers (1702 aufgeführt, 1705 gedruckt) läßt sich die Gegenprobe auf diesen Zusammenhang zwischen Säkularisierung und umlaufendem Geld machen: Petroni ist der Sohn eines reichen Kaufmanns, geht aber in die Lehre eines Korbmachers, um dessen Tochter Susanne heiraten zu können. Den handwerklich erlernten Beruf über den ererbten Reichtum gestellt zu haben macht sich am Ende sogar ‚bezahlt‘, da Susanne ihren verarmten, verschollenen und für tot erklärten Mann am Werk seiner Hände wiedererkennt. Der Plot illustriert die traditionell christliche Hierarchie der Werte: belohnt wird die Geringschätzung des Besitzes, und zwar – was wir ebenfalls schon bei Masen fanden – auch materiell, denn Susanne hat sich in der Zwischenzeit zu einer erneuten Heirat bewegen lassen, von einem reichen Alten, der jedoch bald verstorben ist.70 Geld wird von den vorbildlichen Figuren nie erstrebt, und sein Wert steht so lange in Frage, bis „GOttes wunderbare providenz“71 es vergibt. Nicht weniger deutlich ist die Gegenbildlichkeit des Körbelmachers zum Betrogenen Betrug im Hinblick auf die weibliche Hauptfigur – Susanne stellt ein Muster weiblicher Demut und Treue dar – sowie dramaturgisch: Als in die erste Trilogie nach der langen Spielpause integriertes Stück ist der Körbelmacher wieder von der Personenfülle und der dadurch bedingten Digressivität der Schuldramen geprägt.72 Die von mehreren höchst ‚zufälligen‘ Glückswechseln geprägte Handlung ist ebensowenig geschlossen wie der Lauf des Geldes, das Petroni zunächst verliert, über die zweite Heirat seiner vermeintlich verwitweten Frau 70 Vgl. Kremer: Bauern-, Bürger- und Frauensatire, S. 115f. 71 So die Nachrede (SW 15, S. 311). 72 Die Gesamtzahl der beteiligten Figuren beläuft sich auf fünfzig, vgl. SW 15, S. 106f.
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jedoch zurückgewinnt, denn dieser Kreislauf führt über einen transzendenten Lenker des Geschehens. Stellen sich beide Komödienmodelle – sowohl das in Weises Schulproduktion übliche als auch das abweichende des Betrogenen Betrugs – als in sich schlüssig dar, so bleibt zuletzt die Frage, welche Faktoren für die Ausbildung der Ausnahme verantwortlich gemacht werden können. Als deren notwendige Bedingung darf gelten, daß Der Betrogene Betrug nicht für die Schulbühne geschrieben wurde. Erst dadurch, daß keine Rücksicht auf die zu beteiligenden Schüler genommen werden mußte, konnte die Handlung jene Geschlossenheit gewinnen, die wir als dramaturgische Parallele zur Kreisbewegung lasen, welche das Geld vollführt.73 Da auf der Zittauer Bühne die ohnehin nicht sehr zahlreichen Frauenrollen mit jungen, noch nicht „um ihren Diskant“ gekommenen Schülern besetzt wurden,74 kann die Lösung aus diesem Rahmen zudem als Voraussetzung dafür angesehen werden, daß mit Renzel eine positive weibliche Hauptfigur auftritt.75 Eine hinreichende Erklärung dafür, daß Weises Komödie eine Frauenfigur entwirft, welche die Ökonomie sowohl ihres Hauses als auch des Stücks zu steuern unternimmt – und also, wenn auch durch Scherzrede und -handlung relativiert, Rollen besetzt, die dem Mann bzw. Gott vorbehalten waren –, ist damit indes noch nicht gegeben. Trotzdem scheint sich unser ‚anachronistischer‘ Lektürebefund historisch rechtfertigen zu lassen: als ein von Weise nicht kontrollierter Texteffekt nämlich, als ein Selbstläufer des komischen Spiels, der Konsequenzen zeitigt, die mögliche Konzepte des Autors und seiner Zeit überschreiten.76 Für einen solchen Selbstläufer spricht zumal jene Szene, in der Renzel offen Regie zu führen beginnt, indem sie Flinckfleck den Topf tragen läßt, den sie ihm soeben entwendet hat (II,12). Das komische Potential der Szene liegt darin, daß es die ursprünglich Bestohlene ist, die nun ihrerseits ‚stiehlt‘, und daß es der listigen Frau gelingt, den Burschen zu dieser Arbeit anzuhal73 Als weiteres Stück, das ebenfalls nicht für die Zittauer Bühne geschrieben wurde, eine
ungewöhnlich konzentrierte Handlung aufweist und ohne christlich-providentielle Rahmung auskommt, ist die Komödie Vom Verfolgten Lateiner von 1696 zu nennen. Zur weltbildlichen Annäherung dieses Stücks an die Geldsphäre vgl. meinen Aufsatz: Falsches Kleid und bare Münze, S. 40–46. 74 Vgl. Vorrede zu Lust und Nutz – SW 8, S. 422. 75 Wobei nicht nur die technische Schwierigkeit, eine empfindsame junge Frau zu spielen, in Rechnung zu stellen ist, sondern auch der pädagogische Zweck, der „die Festigung der eigenen Position, [...] nicht aber eine Einfühlung in die Position des anderen Geschlechtes“ vorsah (Barbara Becker-Cantarino: „Ein böses Weib ist überwunden...“. Zu Bedeutung und Funktion der Frauengestalten in Christian Weises Werk. – In: Christian Weise, S. 209–230, hier S. 220). 76 Vgl. grundsätzlich dazu die Einleitung zum Spiel-Kapitel (S. 389f.).
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ten, obwohl sie keinerlei Weisungsrecht über ihn hat. Hätte hingegen der Verwalter den Schatz entdeckt und ihn von seinem Diener nach Hause tragen lassen, wäre das zwar ganz in der männlichen Ordnung der Stück- wie Hausökonomie geblieben, doch wäre keine der beiden Komikbedingungen erfüllt. Daß der Autor diese komische Grundlage weiblicher Überlegenheit geschaffen hat, ohne ihre ‚ideologischen‘ Implikationen zu überblicken, mag man wiederum daraus lesen, daß die vorangestellte Inhaltsangabe den Vorgang als „Glücke“ – Fügung – charakterisiert (S. 133). Indem Renzel den Burschen planmäßig beobachtet (II,7, S. 178; II,12, S. 184f.), erweist sie jedoch sich selbst als ihres Glückes Schmied. Die ‚ökonomischen‘ Folgen ihrer komischen Aneignung des Schatzes zeigen sich gleich in der nächsten Szene, denn jetzt kann sie dem Verwalter als „gute Wirthin“ gegenübertreten (II,13, S. 188). Die Komik des invertierten Versteckspiels und der Anspruch auf häusliche Gewalt gehen dabei unmittelbar ineinander über: „über den Scheuer-Sand [unter dem der Schatz versteckt liegt; D. F.] hat das Frauenzimmer gantz allein zu befehlen.“ (S. 187) Hier gewinnt das Lust-Spiel tatsächlich jene Gegenläufigkeit zur rechten Ordnung des Hauses, vor der die Hausväterliteratur warnt, wenn sie mahnt, die Hausfrau solle nicht „Täntze / und Comœdien besuchen / welches alles dem Hauß schlechten Nutzen bringt“.77 Man wird keinen bewußten, wohl aber einen konsequenten Verstoß gegen diese Regel der Ökonomik darin sehen, daß Renzel zum guten Ende des Spiels um ihr Erbe ausgerechnet zu tanzen beginnt (S. 189). Das Bewegungsmoment jedenfalls, das die Gattung Komödie stets enthält, könnte theatralisch nicht besser zum Ausdruck kommen. Im Hinblick auf das Geldkonzept des Betrogenen Betrugs ist die Aufwertung des Bewegungsprinzips freilich zu relativieren. Daß Renzel tanzt, indiziert eine komische Unterminierung der Hausordnung, nicht aber eine Stärkung der Zirkulationssphäre. Geldkonzeptionell ebenso unergiebig ist die Kreisbewegung, die der Schatz nimmt, wenn er, ursprünglich Renzels Erbe, von der betrügerischen Bäuerin zuerst zu deren Mann, sodann zu Flinckfleck und schließlich zu seiner rechtmäßigen Besitzerin wandert. Auch sie geht wohl auf das Konto der Komik. Anders als im Merchant of Venice kann die Kreisbewegung des Zentralrequisits jedenfalls kaum als dramenimmanente Reflexion auf eine propagierte Struktur wirtschaftlichen Handelns verstanden werden,78 denn Handel und Geldwirtschaft als typische Felder monetärer Kreisläufe kommen in Weises Lustspiel gar nicht in den Blick. Mit anderen Worten: der Geldtopf, der Renzels Erbe enthält, bewegt sich weder aus 77 Glorez: Hauß- und Land-Bibliothek, S. 11. 78 Wie wir sahen, verweist der nur scheinbare Kreis, in dem Portias Ring sich bewegt,
auf die Unberechenbarkeit des Gabenwechsels.
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wirtschaftlichen Gründen noch mit einer Verweisfunktion auf wirtschaftliche Prozesse im Kreis, sondern damit das komische Muster des betrogenen Betrugs vierfach ausagiert und schließlich Anfangs- und Endpunkt zusammengeschlossen werden können. Sofern sich mit der Kreisbewegung des Topfes ein ‚ideologisches‘ Konzept verbindet, ist vor allem an ‚Wiederherstellung der rechten Ordnung‘ zu denken. Ungebrochen gilt allerdings auch die Stabilitätsoption nicht, hat das ‚Haus‘ als Form dieser Ordnung doch schon eine komische Reorganisation hinnehmen müssen. Die Komik bringt das Wertsystem des Stücks in Bewegung und hält es zugleich in der Schwebe – eine Beobachtung, die wir ähnlich bereits an Masens Ollaria machen konnten. Obwohl Molières und Weises Geizkomödien auf sehr verschiedenen Ebenen der gesellschaftlichen Hierarchie um ‚Haus-Ordnungen‘ bemüht sind, kommen sie in einer zentralen Hinsicht überein, nämlich in ihrer Präferenz für sozioökonomische Stabilität. Tritt mit Anselme am Ende der seinerseits unbewegte Angelpunkt aller Figuren- wie Geldbewegung in den Vordergrund, so kommen Renzels „Fledermäuse“ (S. 189) trotz aller Bewegung des Topfes nicht aus diesem heraus. Die Geldmetapher „Ameisen“79 reklamiert eine unermüdliche Tätigkeit, die innerhalb der Komödie niemals in Gang kommt. Der Befund läßt sich verallgemeinern: Gegen die Thesaurierung von Geld und Gut wenden sich alle hier behandelten Geizkomödien des 17. Jahrhunderts, sei es aus religiösen, volkswirtschaftlich-fiskalischen, ‚moralistisch-antimateriellen‘ oder ‚haus-ökonomischen‘ Gründen. Für monetäre Zirkulation und Bewegung plädiert dagegen keine uneingeschränkt, sei es weil der Blick auf den Himmel oder eine Königsfigur als Fluchtpunkt des dramatischen Geschehens gelenkt wird (so im Jesuitentheater und bei Molière), sei es durch Überoder Ausblendung der geldgetragenen Wirtschaft (in der Wanderbühnenadaption des Avare und bei Weise). Auf diese Abstraktionsebene gebracht, treten die festgestellten Differenzen zwischen französischen und deutschen, geistlichen und profanen, am Hofe, in der Schule oder auf der Wanderbühne beheimateten Vertretern der Geizkomödie zurück zugunsten einer fundamentalen, die Epoche kennzeichnenden Gemeinsamkeit.
79 S. 183, vgl. S. 182: „Omeissen“. DWb 1, Sp. 277, s. v. Ameisen, verzeichnet den Ver-
gleich „geld und gut wie ameisen“.
3.6 Borkensteins Bookesbeutel: Heiratsmarkt mit Sinnlichkeitsverknappung Im 18. Jahrhundert tritt der Anteil, den auf das Motiv des Geizes konzentrierte Komödien an der Gattung haben, auffällig zurück. Zu den Ausnahmen, welche die schon Plautinische Konstellation, daß ein geiziger Alter dem Heiratswunsch junger, geldinteresseloser Liebender entgegensteht, noch einmal aktualisieren,1 zählt Hinrich Borkensteins Bookesbeutel von 1742.2 Der geizige Vater ist dort ganz nach den Topoi seines Lasters gezeichnet: Die Komödie zeigt ihn mißtrauisch (I,3, S. 11), ungastlich (I,5, S. 17), ungeduldig (II,4, S. 38) und unbarmherzig (III,5, S. 64); sein Geschäft ist der betrügerische Wucher, der keine fremde Notlage ungenutzt läßt (II,3, S. 36; III,2, S. 57; III,5, S. 62), und er mißt Menschen allein an ihrem Geldvermögen (I,3, 1 Fiederer: Geld und Besitz, S. 173–179 führt mehrere Komödien mit Geizmotiven an,
ohne allerdings auf deren jeweiliges Gewicht in der Handlung und für die Problematik des Stücks Rücksicht zu nehmen. Fiederer zufolge ist die Habgier des Geizigen „am ausführlichsten“ in Gellerts Loos in der Lotterie von 1746 „dargestellt“ (ebd., S. 175) – wo der Geizige jedoch keineswegs im Zentrum steht und nur einen Lastertyp unter anderen vertritt (vgl. unten S. 442ff.). Im französischen Drama ist das Zurücktreten der Figur noch auffälliger; Görschen: Die Geizkomödie im französischen Schrifttum, S. 222 vermerkt, daß Molières L’Avare ihre Stelle das ganze 18. Jahrhundert quasi besetzt gehalten habe. Jochen Schulte-Sasse macht in der Komödie der deutschen Frühaufklärung dagegen eine „motivische Dominanz“ des Geizes aus („Es gibt kaum eine Komödie der Frühaufklärung, in der dieses Motiv wenn nicht gar die gesamte Konfiguration und Handlungsstruktur, so doch wenigstens einzelne Dialogpartien bestimmt“), führt als Beleg aber nur Borkensteins Bookesbeutel an (Drama. – In: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution, S. 423–499, hier S. 439). Geizkritik deutet Schulte-Sasse als ideologische Flankierung „kapitalistischer Zweckrationalität“ und „Kapitalbildung“, der gehortetes Geld schade (S. 440) – eine BasisÜberbau-Erklärung nach simpelstem marxistischen Schema. Dagegen übersieht er, daß die Kritik am ‚unproduktiven Horten‘ bereits eine merkantilistische und sogar christliche Tradition hat (wie am Avare und an Masens Ollaria gezeigt wurde). 2 In der Forschung ist das Stück wenig behandelt worden (ausführlich nur von Saße: Die aufgeklärte Familie, S. 44–60 im Vergleich mit Gottscheds Komödienpoetik). In seiner Zeit war es dagegen überaus und sogar längerfristig erfolgreich: 88 nachweisbare Aufführungen allein in Hamburg seit der Erstaufführung 1741; in Berlin wurde es noch Ende der 1760er Jahre Minna von Barnhelm vorgezogen; mehrere Nachauflagen in den 1740er Jahren bezeugen ebenfalls eine weite Verbreitung (vgl. Heitmüller: Hamburgische Dramatiker, S. 75; Saße: ebd., S. 47 Anm. 12).
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S. 10).3 Wie zunächst (3.6.1) zu erläutern, wirkt sich all dies jedoch nur wenig auf Verlauf und pragmatische Struktur des Stücks aus; die gattungstypischen Heiraten garantiert vielmehr ein in der Geizkomödie neuartiger ‚Markt‘, dessen ‚Währung‘ eine ‚gute Lebensart‘ ist. Ein zweiter Teil dieses Kapitels geht dann der Frage nach dem historischen Ort dieses Marktes nach, d. h. einerseits seiner konzeptionellen Herkunft aus einer frühneuzeitlichen Gemengelage aus Ökonomie, Ethik und Geselligkeitsdiskurs, andererseits seiner daraus hervortretenden spezifisch modernen Qualität (3.6.2). Ausgehend von der Sinnlichkeitskontrolle, die Der Bookesbeutel in verhaltenstechnischer Hinsicht fordert, sowie ihren dramaturgischen Äquivalenten, untersucht ein dritter Teil schließlich den Zusammenhang solcher Rationalisierung mit der strukturellen Marktförmigkeit des Stücks (3.6.3).
3.6.1 Die Währung der guten Lebensart Typisch für die Komödie des 18. Jahrhunderts, steht Grobians Geiz nicht im Zentrum des Stückes, weder als Gegenstand der Satire noch als Handlungsfaktor.4 Für die Ehewünsche der jungen Liebenden bildet der väterliche Wunsch, seine Tochter Susanne und sein Sohn Sittenreich möchten sich einträglich verheiraten, faktisch kein Hindernis, obwohl dieser ‚Wunsch‘ mit der traditionellen Enterbungsdrohung bewehrt ist. Denn der Sohn entscheidet sich aus eigenem Antrieb gegen die arme Charlotte und für die vermögende Carolina. Die Tochter wiederum wird gar nicht begehrt, da sie zwar über ein reiches Erbe verfügt, aber ganz ungebildet ist und keinerlei gesellschaftliche Gewandtheit besitzt. Eine leichte Veränderung der Figurenkonstellation (z. B. gegenüber dem Avare) macht es möglich, den väterlichen Geiz gewissermaßen zu umgehen: Sobald – was schon im ersten Drittel des ersten Aktes (4. Sz.) geschieht – eine dritte, sowohl begüterte als auch liebenswert gebildete junge Frau als Ehekandidatin auftritt, kann der Sohn des Geizigen problemlos eine dem Vater genehme Brautwahl treffen.5 Auf die ‚frei‘ gewordene Charlotte 3 Seitenhinweise im Text beziehen sich auf die Bookesbeutel-Ausgabe von Heitmüller. 4 Bezeichnend für diese Dezentrierung des Geizigen sind Gellerts Loos sowie desselben
Autors Betschwester, wo der Geiz der Titelfigur zum einen von deren Heuchelei, zum anderen von der ‚rührenden‘ Tugend anderer Figuren an die Seite gedrängt wird. Im Verschwender, einer Destouches-Übertragung der Gottschedin (s. dazu unten Kap. 4.3.3/4), trägt eine Randfigur zunächst ein Lob des Geizes vor (III,5, S. 131); dieser Erbvetter wandelt sich jedoch; beeindruckt von der Tugend der Frau von Ehrlichsdorf, wird er freigebig und vermacht ihr sein gesamtes Vermögen (vgl. III,10, S. 147). 5 Daß Sittenreich innerhalb weniger Minuten die prospektive Lebenspartnerin wechselt, stellt in dem an keiner Stelle psychologisch motivierenden Stück kein Problem dar (vgl. I,8, S. 27).
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wiederum kann sich nun das Interesse des jungen Mannes richten, der ursprünglich um die Tochter des Geizigen werben wollte (II,9). Der Konflikt mit dem Geizigen, der den dritten und letzten Akt mehr schlecht als recht füllt, besteht jetzt nur noch darin, daß diesem die ‚Unverkäuflichkeit‘ seiner Tochter beigebracht werden muß (der Vater protestiert wie ein Händler, der auf seiner Ware sitzenbleibt: „Der Herr hat einmal meine Tochter verlanget, er muß sie auch nehmen“; III,9, S. 69). Der pragmatischen Depotenzierung des Geizes entspricht, daß Habgier und übertriebene Sparsamkeit etwa bei Tisch nicht den gewichtigsten Fehler bilden. Als weit schädlicher wird vielmehr der ‚Geiz‘ in Vernunftgebrauch und „guter Lebensart“ (I,7, S. 13 u. ö.) ausgewiesen. „Grobian“ ist der sprechende Name des geizigen Vaters, und die Sitten seines Hauses sind nicht allein wegen seiner Ausgabenscheu auf das Niveau des Gesindes gesunken (I,1). Grobheit und Unhöflichkeit sind hier die Folge eines Geizes hinsichtlich geselliger Sitten (I,6, S. 18), Einsilbigkeit und Bildungslücken – beides komisch ausgebeutet6 – ein Ausdruck von prinzipieller Abneigung gegen intellektuellen Aufwand.7 Vor allem aber haben Grobian und seine Frau an der Erziehung der Tochter gespart.8 Deshalb hat Susanna, im Unterschied zu der zwar armen, aber gebildeten Charlotte, keinerlei Aussicht auf einen ordentlichen Mann.9 Nach einem Essen, das alle Heiratskandidaten zusammenführt, klagt sie ihrer Mutter: Susanna. Mama, ich habe unmöglich länger an der Tafel bleiben können. Ich weiß nicht, ob ich verrathen oder verkauft bin. Agneta. Wie so, meine Tochter? Susanna. Der Fremde [ihr vermeintlicher Bräutigam; D. F.] und mein Bruder haben lauter Zeug gesprochen, wovon ich mein Lebtage kein Wort gehöret habe. [...] Was mich aber am meisten verdroß, war dieses: daß die fremde Jungfer [Carolina] und Charlotte allenthalben mit einredeten, und daß der Fremde und mein Bruder sie immer lobeten. [...] Agneta. [...] Aber wie führte sich der Fremde gegen dich auf? Susanna. Sehr schlecht. Er hat mich kaum angesehen; und wenn er ja einmal mit mir redete, so waren seine Worte so hoch, daß ich nichts darauf zu antworten wußte. Dagegen blieb Jungfer Charlotte ihm nichts schuldig, und er hat hundertmal mehr mit ihr, als mit mir geredet. (II,1, S. 28f.).
6 Vgl. I,5, S. 15; II,2, S. 31; II,6, S. 42f. 7 Vgl. I,3, S. 11; II,2, S. 31; II,4, S. 38; II,6, S. 46. 8 Der Sohn hat diesen Mangel unter der aufgeklärteren Fürsorge eines Onkels kompen-
sieren können (vgl. I,3, S. 11f.). 9 Daß sie am Ende mit einem ungehobelten Verwandten verheiratet wird, ist eine ‚Ent-
schädigung‘, die der Zuschauer zugleich als Strafe erkennen soll; hier bekommen sich zwei, die auf ungute Weise einander „werth“ sind (II,6, S. 44).
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Wie Susanna hier – zu ihrem Schaden erst jetzt – zu ahnen beginnt, bemessen sich Lebens- in Form von Heirats-Chancen nach der eigenen Fähigkeit, an einem gebildeten Gespräch teilzunehmen.10 Was damit entwertet wird, macht die Komödie deutlich, indem sie Mutter und Tochter – unmittelbar anschließend an das Zitierte – noch einmal das Besitzprinzip beschwören läßt: Die Närrin! wenn sie Geld hätte, so glaube ich, sie unterstünde sich mich auszustechen. Agneta. O, dafür ist dein Brautschatz Bürge. (ebd.)
Daß ein derartiges Vertrauen in die Macht des Geldes – Besitz als unfehlbare Kompensation charakterlich-geistiger Mängel (von Grobian wiederholt: III,1, S. 56) – Täuschung sei, beweist der weitere Gang der Handlung. Überraschend ist die Ablehnung einer allein an materiellen Interessen orientierten Gattenwahl weder im Kontext der Komödientradition noch in Anbetracht der frühaufklärerischen Ethik. Ebenso entspricht es der Norm – und zwar sowohl der hier betrachteten Geldkomödien als auch der aufgeklärtbürgerlichen Ehepartnerwahl –, wenn die Nachrangigkeit finanzieller Gesichtspunkte nur relativ, nicht absolut ist.11 In diesem Punkt unterscheiden sich ‚moralisch‘ argumentierende Textsorten nicht prinzipiell von Texten aus der ‚realistischeren‘ prudentistischen Tradition, wie sie der Artikel „GeldKunst“ aus Walchs Philosophischem Lexikon von 1726 repräsentiert: [...] wenn man eine Frau zu nehmen gesonnen, muß nach der Klugheit vornemlich die Wahl dahin gerichtet werden, daß man eine vergnügte Ehe haben möge, welches das Geld an sich nicht macht, und nur Gelegenheit sowohl zu vielem Guten; als Bösen geben kan. Ein unvernünfftig Weib bey ihrem vielen Geld kan dem Mann Drangsal gnug machen, daß er wenig Vergnügen bey seinem erheyrathetem Gut hat, und wenn iemand vor sich einiges Vermögen besitzet, ia wenn er auch nichts hat, und seine Umstände leiden es nicht, länger ausser der Ehe zu leben, so thut er viel besser, er nimmt ein armes ehrlich und tugendhafftes Mädgen, als eine reiche und in der Eitelkeit und Bosheit ersoffene. Kan man beydes beysammen haben, eine geschickte und tugendhaffte Person, und nebst dem brav Geld, so wär man wunderlich, wenn man eine reiche der armen nachsetzen wolte, da sie alle beyde gleiche Qualitäten und gute Eigenschafften hätten.12
Beide vorbildlichen Paare demonstrieren diese Maxime: Sittenreich, indem er sich der reichen Carolina zuwendet, weil er sich mit der nicht weniger liebenswerten, aber armen Charlotte nicht aus der Abhängigkeit seines geizigen Vaters befreien könnte (I,8, S. 27), und ebenso Ehrenwehrt und Charlotte, da 10 Vgl. auch III,3, S. 59. Allgemein dazu Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. 11 Für eine ganze Reihe von Komödien der frühen Aufklärung bestätigt dies Friederici:
Das deutsche bürgerliche Lustspiel, S. 60–62; ähnlich Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 314f. über die Heiratsethik der Moralischen Wochenschriften. 12 Walch: Philosophisches Lexikon, Sp. 1139–1155, hier Sp. 1149.
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ihre Verbindung das Vermögen voraussetzt, über das Ehrenwehrt als Erbe eines bereits verstorbenen reichen Vaters tatsächlich verfügt.13 Was indessen der ‚innere‘ Wert eines Menschen sei, den man, besonders beim Heiraten, nicht aus den Augen verlieren dürfe – diese Frage beantwortet Der Bookesbeutel in einer gegenüber den bisher betrachteten Geizkomödien durchaus veränderten Weise. Im Unterschied zu Komödien, die ‚einfach‘ die ‚lebendige‘ Liebe der Jungen gegen den lebensfeindlichen Geiz eines Alten zur Geltung bringen (so die Aulularia und, allerdings mit weitreichenden Implikationen, L’Avare), sind die Figuren und Konfliktlinien kräftig – kräftiger noch als bei Weise – sittlich ausgezeichnet (das signalisieren schon die Namen Sittenreich und Ehrenwehrt vs. Grobian). Jedoch gründet der sittliche Vorteil, in dem sich die Jungen mit Ausnahme Susannas befinden, nicht in einem Tugendschatz moralisch-religiöser Art, wie ihn Bidermann propagierte. Das nicht-materielle ‚Kapital‘, über das etwa Charlotte im Unterschied zu Susanna verfügt, ist nicht religiöser, sondern sozialer Art. Es geht um Geselligkeit, um die Fähigkeit zur Kommunikation mit anderen Menschen, nicht mit Gott. Sittlichkeit wird hier als gute Sitten ausbuchstabiert. Und diese guten Sitten resultieren weder aus einer eingeborenen Tugend, noch verdanken sie sich einer Gnade; sie sind vielmehr erworben in einem Erziehungsprozeß. Die Frage nach dem, was die positiven Figuren besitzen und was den negativen fehlt, zielt über den Kreis bürgerlichen Lebens nicht hinaus. Und sie führt nicht auf etwas, was einem Menschen wesenhaft eignete, weil es seine Seele oder sein Herz beträfe, sondern auf das, was er sich erworben hat. Was die positiven Figuren ‚schätzenswert‘ macht (I,5, S. 14), ist demnach ein weltimmanentes und prozeßhaft angeeignetes Gut. Bereits in den Jesuitendramen fanden wir merkantile Metaphorik auf ein zu erstrebendes immaterielles Gut angewandt. Solche semantische Überkreuzung zog dort aber weniger die Moral in den Bereich der Ökonomie, als daß sie das menschliche Erwerbsstreben von den zeitlichen auf die ewigen Güter umzulenken suchte. Die sprachliche Ökonomisierung des Seelenheils konnte unter theologischen Prämissen lediglich ‚Taktik‘, didaktische Anpassung an die Denkgewohnheiten der Adressaten sein – denn Gottes Gnade ist nicht 13 Günter Saße schreibt dagegen, die intendierte „Botschaft der Komödie“ sei, daß es
„nicht auf den im materiellen Besitz bestehenden äußeren Wert, sondern allein auf den durch Erziehung ‚erzeugten‘ inneren Wert“ ankomme (Die aufgeklärte Familie, S. 52), um daraufhin nachzuweisen, daß die beschriebene materielle Basis der beiden vorbildlichen Heiraten dieser Botschaft nicht entspricht (vgl. S. 55–57). Der von ihm konstatierte Widerspruch zwischen Botschaft und Handlungsräson ergibt sich indessen erst daraus, daß Saße die ‚Botschaft‘ des Bookesbeutels zu einer dichotomischen Gegenüberstellung von Geld und guten Sitten verzeichnet. Im Stück wie in den zeitgenössischen Moralischen Wochenschriften besteht die Norm tatsächlich jedoch ‚nur‘ in einem Primat des Sittlichen auf der Grundlage gesicherter materieller Verhältnisse.
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käuflich –, wenngleich durchaus mit einer Eigendynamik solcher Taktik zu rechnen ist. Die merkantile Metaphorik des Bookesbeutels – im Tischgespräch bleibt „Jungfer Charlotte ihm [Ehrenwehrt] nichts schuldig“ – indiziert dagegen eine substantielle Annäherung des propagierten Sozial-Ideals an ein Marktmodell von Interaktion. Denn Handlungsinhalt der Komödie ist ein Abgleich von Angeboten und Nachfragen auf dem ‚Heiratsmarkt‘, auf dem man einander das „Herz anbiete[t]“ (so Sittenreich zu Carolina; II,4, S. 40) und – dies vor allem – nur zur besten Offerte greift. Eine ‚gute Lebensart‘ haben sowohl Charlotte als auch Carolina anzubieten; letztere indessen bietet darüber hinaus eine reiche Erbschaft, so daß sich Sittenreich aus gutem Grund gegen seine ursprüngliche Geliebte entscheidet. Daß er an Charlotte schon mit einem Heiratswunsch herangetreten war, bindet ihn in keiner Weise (II,4, S. 39); in diesem Sinne billigt die Komödie ihren Heiratssuchenden eine Unabhängigkeit von persönlichen Rücksichten zu, die der Freiheit des Marktteilnehmers entspricht: Ist ein Handel noch nicht vollzogen, so steht es den Beteiligten frei, auf ein anderes, besseres Angebot einzugehen.14 Eben dieses Recht setzt der dritte Akt für Ehrenwehrt durch, der Susannas wegen zwar eigens von Leipzig nach Hamburg gekommen ist, sich jedoch gegen sie entscheidet, weil sie seinen Erwartungen – seiner ‚Nachfrage‘ – nicht genügt. Die Freiheit der Brautwahl, die Borkensteins Komödie propagiert, entspricht der Freiheit von Marktteilnehmern zum einen im Vorrang sachlicher Gesichtspunkte vor persönlichen Rücksichten und zum anderen in der Ausschaltung autoritativer Eingriffe in die freie Entscheidung der Akteure:15 Die nicht unmittelbar beteiligten Eltern haben beim Abschluß von Heiratsgeschäften kein (direktes) Mitspracherecht; sie können durch Gewährung oder Versagung von Vergünstigungen (hier des Erbes) allenfalls die Rahmenbedingungen in ihrem Sinne gestalten. Zusammen mit der Autorität der Eltern sind Vorgaben ‚von oben‘ sogar generell delegitimiert: Grobians Spruch „Ehen werden im Himmel gemacht“ erweist sich als substanzlose Machtgeste eines Traditionalisten, der das Autonomieprinzip des Marktes nicht akzeptieren möchte (II,3, S. 35). 14 Der Bookesbeutel modelliert die dramatische Handlung in diesem Punkt offensichtlich
in ungewöhnlicher Nähe zu den praxisrelevanten Normen der Zeit (vgl. dazu auch unten S. 340). Wenig später treten Komödien dagegen eher mit Gegenmodellen zur üblichen Praxis auf: So läßt Gellert in seinen Zärtlichen Schwestern einen ähnlichen Partnerwechsel nicht mehr zu: Als Siegmund sich von Lottchen zu Julchen wendet, die über Nacht eine reiche Erbin geworden ist, trifft ihn die Verachtung der Tugendhaften, und er geht leer aus. Gewiß, hier steht der Wechsel von der einen zur anderen Schwester zur Debatte; deutlich wird daran zugleich aber, daß die empfindsame Verschärfung der ethischen Norm mit einer Verengung des Handlungsraumes ins Familiäre einhergeht und diese voraussetzt. 15 Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 382–385.
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Die ‚Währung‘, in der die Teilnehmer des Heiratsmarktes Angebot und Nachfrage verrechnen, ist die ‚gute Lebensart‘, also jenes Gesellschaftsintegrationskonzept, das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die schwindende Regulationskraft der traditionellen ständischen Ordnung kompensieren sollte.16 Eine sorgfältige Erziehung, einiges Wissen über die Welt und differenzierte sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten gehören ebenso dazu wie ein kultivierter Umgang mit materiellen Annehmlichkeiten – von denen also vorausgesetzt wird, daß sie vorhanden sind. Diese Verknüpfung von immateriellen und materiellen Gütern gerade im Idealfall darf nicht übersehen werden, wenn die Komödie den von Grobian vertretenen Besitzprimat in zahlreichen mehrfach, d. h. auch und vor allem an den Zuschauer adressierten Äußerungen der Figuren angreift und mit ihrem Ausgang widerlegt.17 Der Bookesbeutel propagiert keine Tugend, die eine Angelegenheit allein von Vernunft oder ‚Herz‘ wäre und sich in Besitzverachtung erwiese, wie dies wenig später Gellerts Loos in der Lotterie vorführt.18 Darin der Ungleichen Heirath ähnlich, steht seine Wertordnung historisch zwischen der religiösen Delegitimation und zugleich Instrumentalisierung merkantiler Denkmuster, die wir in Bidermanns Jacobus usurarius fanden, und der strukturell ganz ähnlichen Verfahrensweise vieler aufklärerischer, besonders ‚empfindsamer‘ Autoren. Sie wird nicht mehr von christlichen Glaubenssätzen beherrscht, auch nicht in der mittelbaren Form des Haus-Ideals, das Weises Betrogenem Betrug zugrunde lag, ist aber auch noch nicht tugendzentriert, also auf den säkularen Glauben der frühen Aufklärung ausgerichtet. Und man darf annehmen, daß diese normative Offenheit in hohem Maße dafür verantwortlich ist, daß das Marktprinzip, das die Komödie ja nicht ausdrücklich propagiert, strukturell und metaphorisch so deutlich hervortritt.
3.6.2 Autonomisierung des Markthandel(n)s Wie aber ist dieses Marktprinzip historisch zu verorten? Nahe liegt es, in ihm den Ausdruck der sich anbahnenden Expansion und schließlich Dominanz der Wirtschaftssphäre, also einer zukunftsweisenden Entwicklung zu sehen. Stützen kann sich eine solche Deutung nicht zuletzt auf die massive und generelle Kritik, die Der Bookesbeutel an Tradition und Herkommen übt.
16 Vgl. Stöckmann: Vor der Literatur, S. 315. 17 Vgl. Saße: Die aufgeklärte Familie, S. 51. Anders als Saße möchte ich nicht von „Tu-
gend“ reden, die gegen Geld als Fundament einer Ehe ausgespielt würde, denn das Leitkonzept der ‚guten Lebensart‘ ist weniger moralisch als gesellig-kulturell gedacht. 18 Vgl. unten S. 445.
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Bereits das in den Titel gesetzte metonymische Spottwort dafür – das traditionelle Andachtsbuch im eigenen Futteral, das tratschende Kirchgängerinnen mit sich tragen – eröffnet diese Kritik.19 Für das Bewegungsprinzip, das wir in den vorstehend analysierten Stücken mit Ausnahme des Avare ‚nur‘ strukturell unterstützt fanden, optiert Borkensteins Komödie ganz offen, und zwar sowohl in ‚sittlicher‘ als auch in lebenspraktischer Hinsicht. In beiden Hinsichten lautet die Empfehlung, aus dem Gewohnten herauszutreten, um sich, in einer weniger engen Welt, eine bessere Lebensart anzueignen; Grobian, der nie „Willens gewesen zu reisen“, gibt auch in dieser Hinsicht das Negativexempel ab (I,5, S. 15). Ob mit alldem eine Parteinahme für wirtschaftliche Entwicklung verbunden ist, ist gleichwohl nicht leicht zu sagen. Denn Grobians Wucher wird als moralisch bedenklich ausgestellt, nicht als ökonomisch schädliches Verhalten (wie sich L’Avare lesen ließ), und sein Gegenspieler, der ebenso tugendhafte wie reiche Kaufmannssohn Ehrenwehrt, zeigt keinerlei Ambitionen, das Geschäft seines Vaters weiterzuführen, sondern begnügt sich mit dem Erbe von „vier Tonnen Goldes“ (I,3, S. 12). In Übereinstimmung mit dem gängigen Bild Leipzigs im frühen und mittleren 18. Jahrhundert, das die Stadt vor allem als „Schule für Leute von Manieren und Bildung“ zeichnete,20 wird die Heimat Ehrenwehrts und Carolinas den traditionsverhafteten Hamburgern als Muster zeitgemäßer Kultur präsentiert, nicht als Vorbild wirtschaftlicher Dynamik. Soweit ist der Markt, der die beste Verteilung und Zuordnung der Brautleute bewerkstelligt, nicht der ‚neue‘ Markt einer Gesellschaft unter dem Primat der Ökonomie. Allgemeines Sozialverhalten und kommerzielle Praktiken zu parallelisieren hat zudem eine lange Tradition: In Anleitungen zum rechten Verhalten in Gesellschaft geben der Markt und das kaufmännische Verhalten seit der Renaissance verbreitete Metaphern ab, und zwar in ‚politischen‘ Klugheitslehren, die den einzelnen zur Selbstbehauptung befähigen sollen, ebenso wie in ‚galanten‘ Verhaltensratgebern, die Höflichkeit und vergnügliche Geselligkeit in den Vordergrund stellen. So rät Gracián, sich „den Ruf der Höflichkeit [zu] erwerben“, denn „sie kostet wenig und hilft viel“.21 Deutsche Autoren übernehmen den Vergleich: „Die Höfligkeit ist der Korb / darinnen man alle 19 Vgl. Heitmüller: Hamburgische Dramatiker, S. 68–71. 20 Wolfgang Martens: Zur Einführung. Das Bild Leipzigs bei Zeitgenossen. – In: Zentren
der Aufklärung III: Leipzig, S. 13–22, hier S. 15. 21 Gracián: Handorakel, S. 59 (Max. 118). Vgl. auch S. 79 (Max. 157) sowie S. 133f.
(Max. 272): „Die Sachen um den Höflichkeitspreis verkaufen: dadurch verpflichtet man am meisten. Nie wird die Forderung des Interessierten der Gabe des edelmütigen Verpflichteten gleichkommen. Die Höflichkeit schenkt nicht, sondern legt eine Verpflichtung auf, und die edle Sitte ist die größte Verpflichtung. Für den rechtlichen Mann ist keine Sache teurer als die, welche man ihm schenkt: man verkauft sie ihm dadurch zweimal und für zwei Preise, den des Wertes und den der Höflichkeit.“
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Kunst und Wissenschafft zu Marckte trägt: und die Wohlredenheit ist die Handhabe / oder das Ohr an dem Korbe; ohne welches Sie nicht kan gefaßt werden.“22 Diese auf das Decorum, nicht auf ‚Individualität‘, ‚Gefühl‘ oder ‚Aufrichtigkeit‘ ausgerichtete Sozialethik ist nicht nur ein höfisches oder adliges Phänomen, sondern gewinnt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Geltung auch für die bürgerliche ‚gute Gesellschaft‘. So empfiehlt Julius Bernhard von Rohrs Ceremoniel-Wissenschafft Der Privat-Personen von 1728 (2. Aufl. 1730), „die Conversation als eine freye Handelschafft an[zu]sehen, da einem jeden vergönnet, schlechte und auch bessere Waaren auszulegen.“23 ‚Bessere Waren‘ wären in diesem Fall freundliche Worte, Komplimente usw., also das, was Susanna und ihre Eltern nicht anzubieten haben, mit der Folge, daß sich kein Heiratsinteressent findet. Erleichtert wurden solche Parallelisierungen durch etymologisch-semantische Brücken, die im 18. Jahrhundert häufig noch tragfähiger waren als heute: ‚Handel‘ und ‚handeln‘ meinte ursprünglich und auch damals noch Tätigkeiten und Angelegenheiten aller Art (einschließlich sprachlicher Interaktion), während sich die speziellere Bedeutung von ‚geschäftlichem Handel‘ erst sekundär herausgebildet hat (das Deutsche Wörterbuch bringt Belege ab Luthers Bibelübersetzung).24 Eine noch breitere Bedeutungsvarianz hatte ‚Geschäft‘, das im 18. Jahrhundert überwiegend im Sinne von ‚Angelegenheit‘, ‚Aufgabe‘ verstanden wurde.25 Angesichts des Gewichts, das Der Bookesbeutel auf eine ‚gute Lebensart‘ legt, ist die Polysemie von ‚Wohlstand‘ besonders signifikant: Zum einen verschiebt sich dessen Bedeutung eben damals von einem Wohlergehen auch seelisch-leiblicher Art auf die heutige ‚Wohlhabenheit‘; zum anderen bezeichnet ‚Wohlstand‘ das ‚Wohlanständige‘: das, was der Sitte entspricht, eben das Decorum.26 All das unterstreicht, daß man Markt-, Geld- und Besitzmetaphern nicht umstandslos als Beleg für eine (sich anbahnende) Dominanz ökonomischen Denkens über alle Lebens22 Samuel von Butschky: Pathmos; enthaltend: Sonderbare Reden und Betrachtungen /
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allerhand Curioser; in allen Ständen benötigter; wie auch bei ietziger Politic für gehender / Hoff- Welt- und Stats-Sachen. Alles / auf unsere Schuldigkeit gegen GOTT; unseren Nächsten / und uns selbst gerichtet. Leipzig 1676, S. 517, zit. nach Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 192. Rohr: Ceremoniel-Wissenschafft, S. 294. Hinweis bei Beetz: ebd. Vgl. DWb 4,2, Sp. 368–379, s. v. Handel, handeln. Zur Vieldeutigkeit von frz. affaire vgl. oben S. 275. Auf die semantische Nähe von kommerziellem Geschäft und Handlung im allgemeinen Sinne von Tätigkeit weist auch die Austauschbarkeit von „Handlung“ und „Handel“ für die Tätigkeit des Kaufmanns; vgl. [Gottsched:] Der Biedermann 1 (1728), S. 147f., 37. St. Vgl. DWb 4,1,2, Sp. 3814–3821, s. v. Geschäft. Vgl. DWb 14,2, Sp. 1181–1184, hier Sp. 1181f. (letzter bzw. erster Beleg der beiden erstgenannten Bedeutungen 1758 bei Gottsched).
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bereiche deuten darf. Stärker als heute waren die verschiedenen Lebens- und Sinnbereiche vielmehr schon lexikalisch miteinander verknüpft und leichter wechselseitig vergleichbar; erinnert sei an das didaktische Spiel mit zwischen finanziellem Gewinn und Seelenheil changierenden Mehrdeutigkeiten im Jesuitendrama (vgl. oben S. 257ff.). Im Sprachgebrauch der Zeit war es daher nicht weiter auffällig, wie Sittenreich seinen Heiratsantrag an Carolina formuliert („meine ganze Wohlfahrt beruhet in dem Besitz ihrer wehrten Person“; II,7, S. 49), denn ‚Wohlfahrt‘ steht noch für ‚Wohlergehen‘ im weitesten, auch seelischen Sinne, ist also nicht aufs materielle Auskommen verengt, und ‚besitzen‘ mit Bezug auf eine Person war nicht ungewöhnlich, in einem Heiratsantrag sogar ganz recht am Platze, da das Wort die Rechtmäßigkeit eines Habens (Ehe statt bloßer Liebschaft) betonte.27 Andererseits weist die kräftige merkantile Metaphorik des Bookesbeutels nicht durchgängig darauf zurück, daß in vormodernen Gesellschaften Lebensund Wertsphären noch nicht streng getrennt waren. Darauf angesprochen, warum er Susanne nicht nehme, obwohl er doch ihretwegen aus Leipzig gekommen sei, antwortet Ehrenwehrt: „also sagen sie nur meinenthalben dem Herrn Schwager [gemeint ist Grobian; D. F.]: daß ich zwar gesonnen, meine Freiheit zu verkaufen, aber nicht um einen so schlechten Preis, als seine Tochter“ (II,10, S. 54). Die merkantile Diktion ist hier gewiß auch auf den Adressaten berechnet, doch trifft sie ebenso das Handlungsprinzip Ehrenwerths. Konsequenterweise nimmt dessen Freund Sittenreich keinen prinzipiellen Anstoß daran, daß sein Vater nie genug (Geld) bekommen kann: Grobian. Gelt, du bist nach gerade mit mir einerley Meinung, daß nichts mehr Vergnügen bringet, als wenn man viel Geld hat, und täglich was dazu erobert. Sittenreich. Ja, wenns mit gutem Gewissen geschiehet. Grobian. Was ist das vor ein Ding, das Gewissen? Sittenreich. Das Gewissen überhaupt ist eine beständige Erinnerung des Guten und des Bösen, so wir verrichtet haben; und einem Wucherer, wovon hier die Rede ist, wird es fleißig vorhalten, ob er erlaubte oder unerlaubte Zinsen von seinem Gelde genommen hat. (II,3, S. 36)
27 Vgl. DWb 14,2, Sp. 1112f., s. v. Wohlfahrt; DWb 1, Sp. 1624–28, s. v. Besitz u. besit-
zen. Als breit angelegte Untersuchung eines – von Erich Fromm her gedeuteten – ‚Besitzdenkens‘ in der frühen Aufklärung vgl. Kügel: Besitzdenken. Kügel berücksichtigt durchaus nicht nur materielle und juristische Besitzansprüche, sondern etwa auch ein Tugendbewußtsein, das in Besitzkategorien denkt (vgl. S. 444f.). Indem er das im Vergleich zu heute breitere Bedeutungsspektrum vieler auf ‚Besitz‘ bezogener Wörter nicht hinreichend berücksichtigt, gelangt er jedoch zu simplifizierenden Ergebnissen. – Nicht weiter signifikant ist es, wenn Grobian die beabsichtigte Verheiratung seiner Tochter als „Handel“ und „Geschäft“ bezeichnet (III,1, S. 56), denn die merkantile Rede dient hier der satirischen Auszeichnung normwidrigen Verhaltens, indiziert also keine Aufwertung dominant ökonomischer Denkweisen.
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‚Geiz‘ im Sinne von übermäßigem Gewinnstreben verurteilt Sittenreich – sein Name ist in beiden Komponenten signifikant – nicht in der theologischen (und von der Moralphilosophie übernommenen)28 Tradition, daß das Materielle, das uns lediglich als Mittel gegeben sei, nicht Zweck sein dürfe. Eine durch Gebrauchserfordernisse gezogene Grenze des Interesses für Geld und Gut zieht er nicht. Vielmehr hält er – ähnlich wie Shylock29 – für erlaubt, was rechtlich zulässig ist; ethisch sei, was dem positiven Recht nicht zuwiderläuft. Nimmt man hinzu, daß diese Vorbildfigur das eigene „Vergnügen“ als ihr höchstes Ziel bezeichnet (I,3, S. 13), so klingt das nach einem individualistisch-liberalen Gesellschaftsmodell, das keine umfassende Vorstellung mehr von dem entwickelt, was der Mensch sein und in der Gesellschaft tun soll. Nun führte der Geselligkeitsdiskurs der mittleren Aufklärung durchaus noch Erwartungen an das gesellschaftliche Ganze mit, wenn er den typischen Marktteilnehmer, den Kaufmann, ins Zentrum rückt: Weil Geschäfte die Menschen stärker und über weitere Distanzen als alles andere verbänden, seien – wir verfolgten dies in Kap. 2.6.1 – „Kaufleute die geselligsten Menschen“, und die „Geselligkeit der Seelen“ entwickle sich in Analogie dazu.30 Ethische und, über materielle Bedürfnisse hinaus, sozialintegrative Aspekte sind hier keineswegs gänzlich aufgegeben. Die normative Überbesetzung des Handels war es sogar, die – so unsere These (vgl. 2.6.2) – den Auftritt kaufmännischer Figuren auf der Komödienbühne marginalisierte, da sie deren Ridikülisierung als didaktisch untunlich erscheinen ließ. Wie Die Ungleiche Heirath (vgl. 2.7.2) propagiert Der Bookesbeutel indirekt trotzdem merkantile Verhaltensprinzipien, nämlich nicht über geschäftlich tätige Vorbildfiguren, sondern in einer geschäftsanalogen Handlungsstruktur. Die Komödie bringt damit eine Wendung zum Utilitarismus zur Anschauung, die auch im Geselligkeitsdiskurs angelegt ist, von dessen Sozialitätsemphase üblicherweise jedoch verdeckt wird.31 Deutlicher, als dies in den Moralischen Wochenschriften formuliert wird, führt sie vor, welche Konsequenzen es hat, die Gesellschaft durch merkantiles Handeln aufgebaut und strukturiert zu denken. Gewinnmaximierung wird demnach prinzipiell unbedenklich, soweit sie niemanden schädigt. Gewiß propagiert Der Bookesbeutel modern ökonomische Handlungsmaximen nur ausnahmsweise so offen wie in dem zitierten 28 Vgl. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Bd. 2: Praktischer Theil –
AW 5,2, S. 181 (§ 212). 29 Vgl. The Merchant of Venice I,3, V. 85: „thrift is blessing if men steal it not“ sowie
oben S. 86f. 30 Der Gesellige 1 (1748), S. 222 (26. Stück). 31 Ähnlich utilitaristisch-subjektiv wie Sittenreich denkt der Gesellige (ebd., S. 223) das
ethische Ideal der „wahren geselligen Liebe“ als einen Zustand, in dem „einer an dem andern ein wahres Vergnügen und eine ausnehmende Belustigung findet.“
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Dialog zwischen Sittenreich und Grobian. Carolina, die vorbildliche Frauenfigur, trägt an anderer Stelle sogar noch einmal die Zweck-Mittel-Regel gegen den Geiz vor.32 Zudem vertritt, wie gesagt, keine Figur ‚progressive‘ Wirtschaftsinteressen. Nimmt man jedoch die merkantile Handlungsstruktur mit dem autonomisierten Gewinnstreben auch einer positiven Figur, der aggressiven Traditionskritik sowie dem normativen Primat des Merkantilen im Geselligkeitsdiskurs zusammen, so zeigt sich zumindest eine mentale Disposition zu marktwirtschaftlicher Expansion. In einer durchaus traditionellen Gemengelage von ökonomischem, ethischem und ‚politischem‘ Denken kündigt sich augenscheinlich etwas Neues an, dessen ökonomistische Prägung der eben zitierte Dialog augenblicksweise enthüllt. Zwar verzichtet auch Sittenreichs Lizenz zur unendlichen Besitzmehrung nicht auf eine Legitimation. Doch fungiert, wie Max Weber idealtypisierend dargelegt hat, die geforderte Rechtlichkeit nicht weniger als fördernde Bemäntelung denn als Beschränkung.33 Den neuen, autonomen Markt bereitet schließlich auch jene massive Delegitimierung nicht allein von unreflektierten Traditionen, sondern generell der Familie vor, die Der Bookesbeutel betreibt, indem er die Unkultur von Grobians Familie als Resultat von bornierter Elternmacht präsentiert.34 Mutter und Schwester überläßt Sittenreich dem Schicksal ihrer schlechten Lebensart, nicht ohne sie vorher harsch zurechtzuweisen: sie seien „nichts weniger, als vornehm oder edel; und derjenige, welcher euch mit dem rechten Namen nennen will, heißt euch den reichen Pöbel. [...] Ich mag ohnehin nicht länger mit euch reden, denn ich ärgere mich, so oft ich euch sehe. Gehet ab.“ (III,3, S. 59) Und die Komödie gibt solchem Verhalten jenseits des vierten Gebots zwar nicht im Ton, aber in der Sache Recht. Denn Grobian und seine Frau haben ihre elterliche Pflicht verletzt, den Kindern eine möglichst gute Erziehung mitzugeben. Der Bookesbeutel zieht daraus den Schluß einer prinzipiellen Kritik an der Ungleichheit jener häuslichen Ordnung, die – unter anderem in Gestalt der elterlichen, besonders väterlichen Gewalt über die Kinder – die alteuropäische Ökonomik prägte,35 und damit an dieser amerkantilen Lebens32 „Das Geld ist freilich eine schöne Sache, weil man dessen nicht entbehren kann; der
Ueberfluß aber, welchen man einsperret, und welchen man nicht geniesset, ist schädlich; und wer einen Abgott daraus macht, der handelt gar thöricht. Mit einem Worte: Der Misbrauch einer jeden Sache ist unerlaubt; und das Geld ist zu keinem andern Endzweck da, als daß wir es zu unserer Bedürfnis anwenden, und mit dem Ueberflusse uns Freunde machen.“ (III,8, S. 68) Gegenüber der christlichen Tradition hat die Regel sich freilich in einem bedeutsamen Detail gewandelt: sich ‚Freunde machen‘ rangiert jetzt als Zweck vor der Liebe zu Gott. 33 Zur unabdingbaren Schutzfunktion des Rechts für den Markt vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 383. 34 Vgl. Saße: Die aufgeklärte Familie, S. 47. 35 Vgl. Hannah Rabe: Haus – HWPh 3, Sp. 1007–1020, hier Sp. 1008f.
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und zugleich Wirtschaftsordnung selbst. Auch in diesem Punkt setzt sich Borkensteins Stück deutlich von den Geizkomödien des 17. Jahrhunderts ab, die, bei allen Unterschieden im einzelnen, sämtlich auf dem hierarchischen Hausmodell basierten. „Gleich und gleich gesellet sich gerne“ lautet nun dagegen das proverbiale Schlußwort (III,9, S. 73). Unmittelbar bezogen auf die persönlichen Qualitäten der künftigen Ehepartner, artikuliert sich in dieser resümierenden Maxime zugleich die enthierarchisierend allokative Marktmechanik, die die drei Paare zusammengeführt hat. Dementsprechend ist die selbständige Existenz, die Sittenreich durch seinen Austritt aus familiären Bindungen gewinnt, die des autonomen Marktteilnehmers: Der gattungsübliche Friede am Schluß des Stückes wird nur noch dem Namen nach unter Verwandten geschlossen – Sittenreich: „Wir wollen uns bestreben, dem Herrn Vater, so viel möglich, jederzeit gefällig zu seyn“ (III,9, S. 73) –, der Sache nach aber unter Geschäftspartnern, denn die beschworenen Gefälligkeiten betreffen ausschließlich Geldwertes! „Geld ist die Losung“, triumphiert Grobian insofern zu Recht (ebd.). Was das Handlungsziel der vorbildlichen Figuren betrifft, ist er widerlegt worden; was die unterschwellig propagierte Handlungsweise angeht, operieren hingegen gerade die Jungen nach den Regeln der Geldsphäre.
3.6.3 Rationalisierung von dramatischer wie ökonomischer Aktion Die ‚gute Lebensart‘, die Der Bookesbeutel propagiert, indem er sie als maßgeblichen Wert auf dem Heiratsmarkt darstellt, besteht vor allem in Konversationsfähigkeit. Das Gespräch ist der Äußerungsmodus, in dem man auf einen anderen eingeht, ihm Wertschätzung erweist oder zumindest Ablehnung nicht merken läßt.36 Im Hause Grobian beherrscht man diese Kunst nicht: Susanna. [...] wenn unsere Verwandte [...] hier kommen, so geben wir uns einander die Hände, und der eine sagt: guten Tag, wie gehts? Der andere antwortet: grossen Dank, Gottlob so ziemlich. Denn setzen wir uns nieder und essen so vor uns weg. So bald wir satt sind, so stehen wir auf und geben uns wieder die Hände, und der eine sagt: grossen Dank, gute Nacht; der andere antwortet: wiederum so; und damit geht jeder seiner Wege. (I,7, S. 21f.)
Der normative Primat des Wortes gilt in der dargestellten Welt unbedingt, auch in Situationen, in denen ein Gefühl kommuniziert werden soll. Susanna beklagt, daß ihre Eltern sie keine „Complimente lernen“ ließen: „Aber sage sie mir doch, liebe Jungfer Charlotte, kann ich nicht dann und wann meinem 36 Ebenfalls primär konversationell begreift Der Gesellige 6 (1750), S. 39–48 (223.
Stück) die ‚Kunst zu leben‘.
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Bräutigam einen guten Bissen von meinem auf seinen Teller legen?“ (I,7, S. 22) Beim Gesinde habe sie beobachtet, daß der Kutscher, wenn er ein gut Stück auf seinem Teller fand, solches dem einen Mädgen, welches die andern vor seine Braut halten, auf ihren Teller legte. Bisweilen biß sie die Hälfte davon, und legte ihm die andere Hälfte wieder auf seinen Teller, die aß er denn auf; das gefiel mir, und so meinte ich, wollte ich es auch machen. Charlotte. Dergleichen Caressen hält man Kutschern und Mägden zu gute; vor Leute von ihrem Stande aber schickt sich solches nicht. Susanna. Aber ich wollte ihm gerne etwas zu Gefallen thun, damit er merken könnte, daß ich ihn lieb hätte. Charlotte. Je nun, das muß mit Worten geschehen, und wenn er erst ihnen sagen wird, daß er sie lieb hat, hernach ist es Zeit, ihm darauf zu antworten. (ebd.)
‚Bloße‘ Gesten, Handlungen – alles, was den Körper vor das Wort treten läßt – verletzen demnach den ‚Wohlstand‘. Derselbe Primat des Wortes gilt für Borkensteins Mittel der Komik. Konsequent vermieden ist zum einen alle Körperkomik. Die dafür traditionell zuständige Hanswurst- oder Harlekinfigur tritt nicht einmal in der sozial integrierten Gestalt eines Dieners auf. (Erinnert sei daran, daß die komische Figur auf der Schulbühne Christian Weises noch ganz frei agieren und derbe Späße treiben durfte; auf den Hamburger Bühnen kam, soweit Theaterzettel dies dokumentieren, im Jahr vor der Erstaufführung des Bookesbeutels kein einziges Stück ohne Harlekin aus.37) Selbst als Mittel der Satire, wie es Die Ungleiche Heirath immerhin noch nutzt, um den körperbetonten Repräsentationsmodus des Adels als Eitelkeit und Verrenkung lächerlich zu machen,38 hat der Körper ausgedient. Komik produzieren sollen ein paar laue Wort- oder Bildungswitze39 sowie überhaupt das lächerliche, ‚ungesellige‘ Gebaren Susannas und ihrer Eltern. Borkenstein setzt damit auf eine Komik, die nicht artifiziell-theatralisch ist, sondern erzeugt wird durch Verhaltens- und Redeweisen, die auch lebensweltlich als be- und verlachenswert gebrandmarkt wurden. Denn den ‚politischen‘, ‚galanten‘ oder ‚geselligen‘ Verhaltenslehren der Zeit zufolge droht Lächerlichkeit demjenigen, der die gesellschaftlichen Regeln nicht beachten kann oder will.40 Sogar explizit macht Der Bookesbeu37 Vgl. Heitmüller: Hamburgische Dramatiker, S. 65. 38 Vgl. [Luise Adelgunde Victorie Gottsched:] Die Ungleiche Heirath, ein deutsches
Lustspiel in fünf Aufzügen. – In: Johann Christoph Gottsched (Hrsg.): Die deutsche Schaubühne Bd. 4, S. 69–184. Zur Körperlichkeit der adligen Existenz vgl. Theater, Repräsentation und konfessionelle Polemik, S. 46–48. 39 Vgl. Grobian: „Meinetwegen mag der Türke sechs oder sieben Bürgen haben, und wenn er einen großen Ofen hat, so mag er auch sehen, wo er Holz zum Einhitzen kriegt“ (II,2, S. 31). 40 Vgl. Der Gesellige 5 (1750), S. 279 (215. Stück) sowie Breuer: Die Höflichkeit der
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tel diese Voraussetzung der eigenen Wirkung, wenn Grobians Frau erzählt, sie meide alle Gesellschaft, um der Gefahr zu entgehen, daß man sie „alle Augenblicke auslache“ (II,6, S. 47). Solche Explikationen sind generell kennzeichnend für die Dramaturgie von Borkensteins Komödie – dies bildet das dritte Moment des in ihr herrschenden Wortprimats. Expliziert werden die wesentlichen Lehren in bezug auf Gattenwahl (III,2, S. 58), Erziehung (II,5, S. 41) sowie den Umgang mit Geld (II,3, S. 36; III,8, S. 68); expliziert wird aber auch die exempeldidaktische Dramaturgie des Stücks: Agneta. [...] wenns ans Heirathen geht, so heißt es doch: Wie viel Geld ist da? Die armen Jungfern mögen noch so viel gelernet haben; so bleiben sie doch sitzen. Gutherz. Von dem Gegentheil haben wir heute ein klares Exempel. (III, 4, S. 62)
Darstellung in Form von gezeigter Handlung tritt dagegen auffällig zurück. Selbst entscheidende Handlungsstationen werden nicht gespielt, sondern bloß nachträglich besprochen; so das Mittagessen, zu dem die fünf Heiratskandidaten erstmals zusammenkommen und währenddessen die Paarbildung aufgrund von ‚guter Lebensart‘ sich anbahnt; so auch das Gespräch, in dem Sittenreich – der eben noch Charlotte umwarb – sich in Carolina verliebt.41 Dies zu registrieren heißt nicht unbedingt, auf ein dramaturgisches Manko zu weisen. Daß ein Drama, das die Fähigkeit zur geselligen Konversation als lebensglückentscheidend propagiert, die Darstellung solcher Konversation meidet, kann man als Widerspruch empfinden, doch kann man auch eine höhere Logik darin sehen, daß solch Entscheidendes nicht einfach als Handlung gezeigt, sondern eben besprochen wird. Die nachträgliche Beschwörung und Reflektion42 Narren, S. 80–83; zur „Domestizierung des Gelächters“ in den ‚geselligen‘ Gesprächslehren Fauser: Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 387. Bei Gracián kehrt in diesem Zusammenhang auch der Kaufmannsvergleich wieder, vgl. Handorakel, S. 116 (Max. 232): „Daher trage der kluge Mann Sorge, etwas von einem Kaufmann an sich zu haben, gerade so viel, als hinreicht, um nicht betrogen und sogar ausgelacht zu werden.“ Einen unmittelbaren Bezug zwischen lächerlichen Verhaltensweisen auf der Bühne und der sozialen Erfahrung der Zuschauer stellen die Vernünftigen Tadlerinnen her: In der Komödie werden „die Laster und üble Gewohnheiten der Menschen lächerlich gemacht, der Nutze und Schade der daraus erwachsen kan, wird sehr lebhafft vorgestellet, und die Zuschauer, die damit vielleicht behafftet sind, werden bewogen sich dererselbigen zu entledigen: indem sie besorgen müssen eben so auslachenswürdig zu erscheinen, als die lasterhafften Personen auf dem Schau-Platze gewesen. Wer nur die allergeringste Ehrliebe bey sich hat, kan dieses unmöglich erdulden, und es ist ihm unerträglich, wenn er andern zum Gelächter werden soll.“ (1, 1725, S. 132, 17. St.) 41 Das Essen ist zwischen erstem und zweitem Akt zu denken; das Gespräch vollzieht sich abseits der anderen, für die Zuschauer vernehmbaren Figuren in Szene I,5 (vgl. die Regieanweisung, S. 15). 42 Des Tischgesprächs in II,1/2, S. 28–34, der Unterredung mit Carolina in Sittenreichs Monolog in I,8, S. 27.
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erleichtert es jedenfalls, das Geschehen(e) gleich mit einer Bewertung zu versehen. Die Sicherung normativer Eindeutigkeit hat im Bookesbeutel größeres Gewicht als die Entfaltung theatralischer Kunst – was unter ästhetischen Gesichtspunkten dann doch als problematisch zu werten wäre. Der dramaturgische Primat des Wortes, der im Ausschluß körpererzeugter Komik sowie in der Zurückdrängung von Handlungsdarstellung durch die Reflexion von Geschehenem zum Ausdruck kommt, bedeutet zugleich eine massive Reduktion von Sinnlichkeit. Für die intellektualistisch-normativistische Frühaufklärung ist das Streben nach einer solchen Reduktion generell charakteristisch. Gottsched betrieb sie auf literarischem Gebiet ebenso wie als Lehrer in Fragen der allgemeinen Lebensführung. Bestimmungen seiner Critischen Dichtkunst, daß Körperkomik und unflätige Witze des Lustigmachers aus der Komödie zu verbannen seien, finden sich dementsprechend ganz ähnlich im Biedermann, seiner 1727–1729 erschienenen Moralischen Wochenschrift.43 Vernünftig einzuhegen ist sowohl das auf der Bühne dargestellte Geschehen als auch die affektive Wirkung theatralischer Vorstellungen auf den Zuschauer. Dieser Forderung wird selbst die Oper unterworfen, deren vorwiegend erotische Geschichten und zudem „blendende Pracht“ die „Wollust“ in besonderem Maße reizten.44 ‚Sinnlichkeit‘ bildet hier sowohl im Sinne von Amoralität wie auch als Vorherrschen der niederen Vermögen des Menschen (im Gegensatz zum Verstand) einen Stein des Anstoßes. So fordert der Gottschedianer Johann Friedrich May von Autoren wie Schauspielern, sie müßten „alle unanständigen Vorstellungen vermeiden, oder sie mit einer so klugen Mäßigung zu verbergen suchen, daß der rohe Sinn des Zuschauers nicht dadurch gereizt, und von dem Hauptwerk [der Vermittlung einer Sittenlehre; D. F.] abgeführet werde.“45 Instrument dazu ist eine Literarisierung 43 Vgl. Critische Dichtkunst – AW 6,2, S. 357f.; [Gottsched:] Der Biedermann 2 (1728),
S. 140 (85. St.). Zur Kritik anderer Moralischer Wochenschriften an der Hanswurstoder Harlekin-Figur vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 471. Austauschbar sind übrigens nicht nur die Normen beider Textgattungen, sondern teilweise auch die Darstellungsverfahren: Wie die Komödie arbeiten die Wochenschriften häufig mit entweder vorbildlichen oder lasterhaften Typen, die dem Leser ein Exempel bieten sollen, wie der Zuschauer es im Theater erhält (vgl. ebd., S. 478f.). Zur satirischen Nutzung des Bookesbeutel-Motivs durch diverse Wochenschriften vgl. Heitmüller: Hamburgische Dramatiker, S. 69–71. 44 [Gottsched:] Der Biedermann, ebd., S. 138; Critische Dichtkunst – AW 6,2, S. 368. 45 Des berühmten Französischen Paters Porée Rede von den Schauspielen [...] übersetzt. Nebst einer Abhandlung von der Schaubühne von Johann Friedrich May. Leipzig 1734, zit. nach Graf: Das Theater im Literaturstaat, S. 138. Die „Geburt der Theaterreform aus dem Geist der Theaterfeindlichkeit“ (als Angst vor der potentiell autonomen Sinnlichkeit des Theaters) erläutert jetzt ausführlich Christopher Wild: Theater der Keuschheit, das Zitat S. 217. Wild sieht „Gottscheds Reform letztendlich auf die Selbstaufhebung bzw. -austreibung des Theaters“ zielen (S. 216).
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des Theaters, die der „Beredsamkeit des Leibes“,46 die den Schauspieler auszeichnet, ihre Autonomie nimmt und dem Anstand des kultivierten Gesprächs unterwirft, wie ihn Der Bookesbeutel auch auf der Handlungsebene propagiert. Angestrebt wird eine totale Kontrolle der Sinnlichkeit, denn das Schauspiel wird als normativ identisches Modell der Welt begriffen, nicht als eigengesetzliches Refugium oder utopisches Gegenbild. Daß der bislang moraldispensierte Freiraum der komischen Figur ‚wegrationalisiert‘ werden soll,47 ist dabei nur eine Konsequenz dieser Entschlossenheit zur strikten Kontrolle des Sinnlichen durch Ratio und Anstand bzw. Moral. Vor dem Hintergrund der Geizkomödien von Molière oder Weise nicht weniger auffällig ist, daß es trotz dreier Brautpaare keinen einzigen Satz Liebesrede gibt. Wenn der Geizige in Borkensteins Komödie seinen Gästen nur eine übertrieben frugale Bewirtung gewährt (I,5, S. 17), wird dann aber nicht Sinnenfeindlichkeit satirisch aufgespießt? Nicht ganz, denn Grobians Geiz ist – im Unterschied zum Geiz als Sparsamkeit bei Plautus oder Masen – vor allem Habgier und wurde damit als ein Übermaß sinnlicher Begierde verstanden.48 Als „Hunger nach Geld und Gut“ gilt der Geiz dem frühen 18. Jahrhundert häufig sogar als Paradefall der „unumschränkten Begierde“.49 Von daher stehen Borkensteins Geiz-Satire und die von der Dramaturgie der frühaufklärerischen Komödie getragene Affektdämpfung völlig im Einklang. Vergleicht man die vorbildlichen Figuren des Bookesbeutels in ihrem Konsumverhalten mit ihren Vorgängern bei Molière und sogar Masen,50 fällt ebenfalls ein Prinzip von Mäßigung und Kontrolle auf. Als rettungslos Verliebte, die sich wie Cléante in Schulden stürzen, um ihre Angebeteten beschenken zu können,51 sind Sittenreich und erst recht der stets ruhig-überlegene Ehrenwehrt schlechterdings nicht vorstellbar. Vor dem Hintergrund der älteren Stücke tritt vielmehr das Mäßigungsprinzip hervor, das der als vorbildlich propagierten ‚guten Lebensart‘ generell zugrunde liegt.52
46 Graf: ebd. 47 Programmatisch wendet sich der „Vorbericht“ zum Bookesbeutel gegen die „Zotten
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und Unflätereyen des Harkelin“ (S. 3). Borkensteins Verfasserschaft an diesem Vorbericht ist unsicher; gegen sie spricht vor allem, daß, im Gefolge Gottscheds, die Propagierung von ‚Tugend‘ (nicht ‚nur‘ von Anstand) hier größeres Gewicht hat als im Drama selbst. Was die Spaßaskese angeht, stimmen das Programm des „Vorberichts“ und die dramatische Praxis jedoch überein. Vgl. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Bd. 2: Praktischer Theil – AW 5,2, S. 373 (§ 581). [Gottsched:] Der Biedermann 1 (1728), S. 142 (36. St.). Vgl. oben S. 262. Vgl. L’Avare, S. 17 (I,2). Vgl. Der Gesellige 6 (1750), S. 42.
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Die geforderte Kontrolle des Sinnlichen hat überdies eine soziale Komponente, denn das ‚Ungesittete‘ wird umstandslos dem ständisch Niedrigeren zugeordnet, einerseits um es dadurch zusätzlich zu brandmarken, andererseits um den eigenen, bürgerlichen Stand durch Abgrenzung nach unten aufzuwerten.53 Innerhalb des Bookesbeutels kehrt die ebenso theaterästhetische wie standespolitische Forderung nach dem Ausschluß des „Pöbelhaften“ als im Namen der „guten Lebensart“ ausgesprochene Rüge für Susanna und ihre Mutter wieder, sie dürften sich nicht mit dem Gesinde gemein machen (I,7, S. 23; III,3, S. 59). In Auseinandersetzung mit ‚pöbelhaften‘ Lebens- und Denkformen profiliert sich die von den männlichen Protagonisten eingeforderte Lebensweise als Rationalisierung in umfassendem Sinne:54 Nicht nur mit ihrem Aberglauben (I,2, S. 9; II,1, S. 31) nähert sich die Mutter dem einfachen Volk,55 sondern schon indem sie mit den Mägden singt, statt einem „vernünftigeren Zeitvertreib“ nachzugehen (I,2, S. 7). Die Forderung nach kontrolliertem Zeitverbrauch verweist darauf, daß Rationalisierung üblicherweise auf einen Zweck, den des größtmöglichen Nutzens, ausgerichtet ist.56 Der Theorie bzw. der Gottschedischen Poetik nach 53 Vgl. Van Cleve: Harlequin Besieged, S. 165. 54 Indem es Sittenreich ist, der diese Forderungen an Mutter und Tochter stellt, verweist
Rationalisierung zugleich auf eine Geschlechteranthropologie, die den Mann als vernünftiger, die Frau hingegen als stärker in Sinnlichkeit befangen begreift. Wie wir sahen (vgl. oben S. 313), operierte Weises Betrogener Betrug auf derselben alteuropäischen Grundlage. Der Bookesbeutel nun greift einerseits auf eine misogyne Satiretradition (vgl. oben S. 312) zurück, wenn Agneta als hauptverantwortlich für die Unarten ihres Gatten Grobian hingestellt wird (II, 1, S. 30f.). Auf der anderen Seite wird hinsichtlich der aufkommenden Marktwirtschaft angedeutet, daß der Mann dort unumschränkter als je die aktive und bestimmende Rolle spielen wird. Denn wie auch das Brautwahlverhalten Sittenreichs und Ehrenwehrts demonstriert: auf dem Markt muß man selbst wählen können; wer Angebote nur annehmen oder ablehnen darf, ist nicht gleichberechtigt, also kein idealtypischer Marktteilnehmer. Während die Komödie jungen Frauen in der Regel mehr Handlungsmacht zuweist, als es den jeweiligen sozialen Verhältnissen entsprach, scheint Der Bookesbeutel auch in diesem Punkt der Annäherung an die Marktsituation den Vorzug gegeben zu haben. 55 Zur frühaufklärerischen Zuordnung von Aberglauben und einfachem Volk vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 247. 56 Wie sich solche Rationalisierung aus Entsinnlichung und der Denunziation von Traditionen ergibt, wird noch deutlicher in einer ‚Fortsetzung‘ des Bookesbeutels, Adam Gottfried Uhlichs Der Schlendrian oder des berühmten Bookesbeutels Tod und Testament von 1746 (dazu vgl. Heitmüller: Hamburgische Dramatiker, S. 87–91). Dort klagt Alrune, abergläubisch und gewohnheitsverhaftet wie Agneta: „Sonst war es eine Freude zu schlachten, denn es ward dabey das Wohlseyn der Familie mit dem todten Ochsen oder Büffel verbunden, und dabey wacker auf das Wohl der ganzen Stadt getrunken. Itzo aber stehe ich um unsre Schlachtzeit nicht mehr auf; man bindet dem Ochsen keine Manschetten mehr um, und thun es ja noch einige alte deutschgesinnte Herzen, so werden sie damit ausgelacht.“ (II,6; zit. nach Friederici: Das deutsche bürgerliche Lustspiel der Frühaufklärung, S. 67). Wohlgemerkt stellt Uhlichs Lustspiel
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ist dieser Nutzen im Fall der Komödie ein moralisch-didaktischer; das Lächerliche ist nur legitim, wenn es „belustiget, aber auch zugleich erbauen kann“.57 Mit Bezug auf den Bookesbeutel ist graduell (nicht prinzipiell) abweichend davon ein Nutzen in Lebensart- oder gesellig-sittlicher Erziehung als intendiertes Ziel anzusetzen. Doch lassen sich die Rationalisierungsforderungen des Stücks – zumal in ihrer breiten Fächerung sowie in ihrem systematischen Zusammenhang vom Harlekinverzicht bis zur Zeitausnutzung – nicht allein unter eine ethische und poetologische Zweckmäßigkeit fassen. Sie verraten vielmehr einen Rationalisierungsantrieb, der weit über die (von Gottsched eng verbundenden) Sphären von Ethik und Literatur bzw. Theater hinausreicht. Den „[Arche-]Typ alles rationalen Gesellschaftshandelns“ hat Max Weber im Markttausch ausgemacht.58 Rational ist sowohl das Interesse des Marktteilnehmers als auch dessen taktisches Kalkül, das aus der Berechnung fremder Interessen Vorteile zu gewinnen sucht – nicht von ungefähr diente, wie gezeigt, der Markt schon der Klugheitslehre als Modell. Der Bookesbeutel hat an solcher Rationalität sowohl theaterästhetisch als auch mit den angeführten Praxisnormen Anteil, vor allem aber bildet seine Handlungsstruktur die Marktsituation ab. Ehrenwehrt und Sittenreich realisieren ihre Heiratswünsche so, wie es einer rationalisierten, marktfundierten Lebensführung entspricht: triebkontrolliert sowie „auf die einfachste, schnellste und billigste Weise“,59 nämlich indem sie ihre Bräute tauschen (sowohl austauschen als auch untereinander), sobald sie erkennen, daß dem einen mehr mit der armen, aber gebildeten Charlotte, dem anderen hingegen mehr mit der nicht nur kultivierten, sondern auch reichen Carolina gedient ist.60
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diese Klage als ihrerseits belachenswert dar; es gibt dem ‚Fortschritt‘, mit dem sich Alrune nicht anfreunden kann, recht. Gottsched: Critische Dichtkunst – AW 6,2, S. 348. Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 382. Ein Beispiel für den Zusammenhang von Rationalisierung der Zeitnutzung und kaufmännischer Vorteilsmaximierung bietet die Beispielerzählung des Hamburger Patrioten von zweier Brüder „gutem und üblem Gebrauch der Zeit“ (Nr. 31, 3. 8. 1724, Bd. 1, S. 258–260). van der Loo, van Reijen: Modernisierung, S. 145. In der Vergangenheit hat man verschiedentlich versucht, das ‚aufklärerische Denken‘ im allgemeinen und Gottscheds Poetik im besonderen als Ausdruck der „kapitalistischen Warenproduktion“ auszuweisen (so Borjans-Heuser: Bürgerliche Produktivität und Dichtungstheorie, S. 38): Gemeinsamer Nenner sei eine ausgeprägte Zweckrationalität. Abgesehen von Fehlern im Detail (so der Verwechslung von kausalen mit teleologischen Relationen, vgl. ebd., S. 102), reicht der wenig spektakuläre Nachweis von teleologischem Denken jedoch nicht aus, Gottsched ein „kaufmännisches KostenNutzen-Kalkül“ (S. 141) zuzuschreiben, zumal damit noch gar nichts spezifisch Kapitalistisches getroffen wäre. Geboten ist demgegenüber – und versucht wurde hier – eine Beschränkung auf solche analytische Begriffe, die sich unter Bezug auf Texte der Zeit mit Anschauung füllen lassen.
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Weit umfassender als mit ihrer Propagierung einer ‚zeitgemäßen‘ Lebensart bürgerlich-galanter Prägung gegen traditionelle Grobheit optiert Borkensteins Komödie demnach für ‚moderne‘ Lebensformen.61 Nun ist Marktrationalität für Max Weber ausschließlich „Zweckrationalität“, d. h. die mentale Disposition, frei wählbare „konkrete Ziele auf die effizienteste und effektivste Weise zu erreichen, losgelöst von moralischen oder religiösen Überlegungen.“62 Uneingeschränkt von einer solchen Rationalität geprägt sind im Bookesbeutel nur Sittenreichs und Grobians Geschäftsmaximen (vgl. oben S. 336). Denn selbst wo im engeren Sinne marktförmig gehandelt wird, nämlich bei der Auswahl und Aneigung der Ehepartner, spielt die Normendiskussion – ob gute Sitten oder Vermögen wichtiger seien – eine wichtige Rolle. Ähnliches gilt für die Komödien nicht nur der Aufklärung ziemlich generell: Die Ebene explizierter Botschaften ist primär von „Wertrationalität“ gekennzeichnet, will sagen es steht vor allem der Wert der zu erreichenden Zwecke zur Debatte.63 Müssen wir uns also mit der Feststellung begnügen, daß die Handlungsmaximen von Borkensteins Komödie widersprüchlich bleiben? Ordnen lassen sich eher ethische bzw. eher ökonomische Optionen dadurch, daß man zwischen expliziten Botschaften und tatsächlicher Handlungsmechanik oder Dramenstruktur unterscheidet. Letztere aber fallen im Bookesbeutel (und nicht nur dort) markthandelsförmiger aus als erstere. Zudem ist die Wertgebundenheit des Handelns auch dann, wenn sie ausdrücklich gefordert wird, keineswegs eindeutig: Auf das Geldvermögen, das die vorbildlichen Figuren als zweitrangig einstufen, braucht am Ende keines der Brautpaare zu verzichten, und Carolina gibt als „Endzweck“ des Geldes nichts weiter an, als „daß wir es zu unserer Bedürfniß anwenden, und mit dem Ueberflusse uns Freunde machen“ (III,8, S. 68). In beiden Fällen schafft die vorgetragene Geldethik wenig Verbindlichkeit64 – so daß es kein Wunder ist, wenn sich das zweckrationale Marktprinzip in struktureller Hinsicht durchsetzt. Auch wenn die explizierten Botschaften dem wenig Rechnung tragen: Borkensteins Komödie inszeniert einen Heiratsmarkt, der zugleich Ausdruck einer primär ökonomischen Rationalisierung ist.
61 Die Verknüpfung einer aus der ‚politischen‘ Höflichkeit kommenden ‚guten Lebens-
art‘ mit Rationalisierungsforderungen weist wiederum darauf hin, daß die von Weber untersuchte ‚protestantische Ethik‘ (vgl. oben S. 100) lediglich eine Wurzel jener planmäßigen, ‚ökonomischen‘ Lebensführung darstellt, die Voraussetzung der kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung ist. 62 van der Loo, van Reijen: Modernisierung, S. 127. Eine Definition von Zweckrationalität gibt Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 13. 63 Zum Begriff der Wertrationalität vgl. van der Loo, van Reijen: Modernisierung, S. 128. 64 Zum systematischen Zusammenhang von Rationalisierung und einer Aufweichung (nicht Aufhebung) von Normen vgl. ebd., S. 157.
3.7 Ausgang: Komik wird knapp Die ‚Reformkomödie‘ nach Gottschedischen Regeln, die Der Bookesbeutel musterhaft verkörpert, gibt in den meisten komödien- wie theatergeschichtlichen Darstellungen zum 18. Jahrhundert den Perspektivpunkt ab und, wo es um die Ausgrenzung der nicht sittlich funktionalisierten Komik des Stegreifspiels und Wandertheaters geht, auch die approbierte Norm. Üblicherweise verfolgt wird, welche einheimischen Theatertraditionen und ausländischen Einflüsse die Gottschedsche Reform einerseits ermöglichten und wie sich, andererseits, flexiblere Autoren wie Johann Elias Schlegel, Gellert oder Lessing seit den 1740er Jahren wieder davon lösten.1 Auch wo eine ausdrückliche Parteinahme ausbleibt, wird die Spielpraxis des nicht-literarischen Theaters mit den Augen der ‚Reformer‘ gesehen2 – und erscheint dann als wirr, zotig, moralisch wie künstlerisch inferior. Gesiegt zu haben scheint das Reformtheater demnach nicht nur auf der Bühne des 18. Jahrhunderts, sondern auch in der retrospektiven Literaturgeschichtsschreibung. Das gilt auch und gerade für die seltenen Studien zum Geld im Drama bzw. in der Komödie des 18. Jahrhunderts.3 Nun ist historische Erkenntnis stets perspektivisch und 1 Nach diesem Schema sind etwa die Überblicksdarstellungen von Steinmetz (Die Ko-
mödie der Aufklärung) und Koopmann (Drama der Aufklärung) strukturiert. Auf den Kanon der sächsischen Komödie von Gottsched bis Lessing beschränkt sich auch Greiner: Die Komödie, S. 143–184, um gleich anschließend zu J. M. R. Lenz überzugehen. In Christian Neuhubers Studie Das Lustspiel macht Ernst bildet derselbe Zuschnitt der Gattungsgeschichte sogar die Voraussetzung für die Plausibilität der These, daß – wie der Titel andeutet – die Komödie zunehmend ihre belustigende Wirkung einbüßte – was sich über die Wiener Komödie kaum sagen läßt. Der Vorrang des GottschedischLessingschen Paradigmas kommt selbst in Studien zum Ausdruck, die sich ihm ver weigern, vgl. die Titelwahl bei Rudolf Münz: Das „andere“ Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell’arte der Lessingzeit. Dieser Zuschnitt der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts geht, vermittelt durch die homogenisierende Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, aus der Abwertung süddeutscher Irregularität durch die norddeutschen Reformer hervor, vgl. meinen Beitrag zum DFGSymposium 2004 Topographien der Literatur (Veröffentlichung in Vorbereitung). 2 So noch bei Alt: Aufklärung, S. 184–188. 3 Aus dem aufklärerischen Reformtheater und seinen bürgerlich-‚regelmäßigen‘ Nachfolgern setzt sich das Textkorpus bei Altenhein: Geld und Geldeswert, S. I–III ebenso wie bei Fiederer: Geld und Besitz, S. 360–363 zusammen. Pape: Symbol des Sozialen, berücksichtigt, nachdem er Komödien der Gottschedin, Gellerts und Lessings durch-
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konstruktiv. Das sollte jedoch nicht zum automatischen Ausschluß solcher Phänomene führen, die sich einem später, durch das Bildungstheater des 19. Jahrhunderts verfestigten Bild von komischem Bühnenspiel nicht fügen. Ohne der Illusion zu verfallen, eine ‚objektive‘ Darstellung geben zu können, hat (literar)historische Forschung vielmehr auch „das ‚andere‘ Theater“ (Rudolf Münz), das der eben diskutierten umfassenden Rationalisierung Widerstand leistete, zu berücksichtigen – im Versuch, es aus seinen eigenen Voraussetzungen zu verstehen. Das gängige Bild von der aufklärerischen Bühnenreform ist in mehrfacher Hinsicht zu relativieren, denn weder setzte sich das ‚regelmäßige‘, illusionistische, Moral statt Komik vermittelnde Reformtheater in Gottscheds nordund mitteldeutschem Einflußbereich gleich durch, noch bestimmte es je das gesamte deutsche Theaterleben. Wie Reinhart Meyer mit beispielloser bibliographischer Gründlichkeit dokumentiert hat, blieb das moraldidaktische Worttheater protestantisch-bürgerlicher Prägung auch in den Jahren seines Vordringens – nämlich in der ersten Hälfte der 1740er Jahre, als der höfische Theaterbetrieb kriegsbedingt stark zurückging – deutlich hinter den führenden Produzenten, den Höfen und den katholischen Gymnasien zurück.4 Die Anteilsverteilung zwischen den verschiedenen produzierenden Institutionen hat deshalb dramengeschichtliches Gewicht, weil den verschiedenen Aufführungsorten recht unterschiedliche Theaterästhetiken und Dramentypen korrespondierten (wenngleich die Interferenzen zwischen Wandertheater und Hofbühne lebhafter waren,5 als Meyer dies darstellt). Die Hoftheater brachten vor allem italienische Opern, später, aus Kostengründen, verstärkt französische Schauspiele.6 Das Repertoire der katholischen Gymnasien wiederum war nach wie vor lateinisch; so wechselte man auf der von Meyer näher untersuchten Regensburger Schulbühne erst in den 1760er Jahren zum Deutschen.7 (Das protestantische Schultheater – in unserer Untersuchung von Christian
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gegangen ist, mit Raimund und Nestroy auch Autoren des Wiener Volkstheaters, freilich erst des 19. Jahrhunderts. Vgl. Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum Abt. 2, Bd. 12, S. XXVI– XXXII; zusammenfassend S. XXXII: „Unangefochten bleibt [...] die Stellung und Bedeutung der katholischen Gymnasien: sie liefern [...] rund zwei Drittel aller Erstaufführungen im Reich. [...] 1739 stammt knapp 10 % der dramatischen Produktion von Protestanten; nach starken Schwankungen steigt der protestantische Anteil am Gesamtrepertoire des Reichs auf immerhin etwa ein Fünftel, bleibt aber nach wie vor im Schatten der katholischen Kulturproduktion.“ Vgl. Rudin: Zwischen den Messen in die Residenz; dies.: Venedig im Norden. Vgl. Meyer: ebd., S. XXXIII sowie die datenreiche Arbeit von Steltz: Geschichte und Spielplan der französischen Theater an deutschen Fürstenhöfen im 17. und 18. Jahrhundert. Vgl. Theater, Repräsentation und konfessionelle Polemik, S. 90.
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Weise vertreten – hatte seinen Spielbetrieb nahezu eingestellt, als zu Beginn des Jahrhunderts die kirchliche Theaterfeindschaft sich verstärkte.8) Einzigartig in der deutschen Kulturlandschaft, hatte das katholische, zumeist jesuitische Theater „im süd- und südosteuropäischen Raum einen flächendeckenden Spielbetrieb entwickelt, der auch die umliegende Bevölkerung mit versorgt[e].“9 Ästhetisch und ideologisch unterschieden sich die dort aufgeführten Stücke nicht wesentlich von den im 17. Jahrhundert ausgebildeten Mustern.10 Was die tatsächliche Bühnenpräsenz angeht, so könnte man zuspitzen, war ein Jacob Masen demnach auch mitten im 18. Jahrhundert noch einflußreicher als der eifrige Literaturpolitiker Gottsched. An den Produktionszahlen gemessen, verkehrt die übliche Akzentsetzung der Literaturgeschichtsschreibung geradezu die tatsächlichen Gewichte zwischen den verschiedenen Theaterinstitutionen und Dramentypen. Meyers Kritik daran überzieht gleichwohl, wo sie nicht hinreichend zwischen Quellendokumentation (die endlich solide geleistet bzw. in Angriff genommen zu haben sein großes Verdienst darstellt) und historischer Interpretation unterscheidet. Denn literaturgeschichtlich interessieren nicht bloß Aufführungszahlen, sondern auch die ästhetische Qualität des Aufgeführten, das jeweils durchgespielte ‚Problem‘ samt seinen Interferenzen mit den zeitgenössischen Verhältnissen sowie die Innovationsleistung des ganzen. Literarische Produktivität geht in der „dramatischen Produktion“, die Meyer eindrucksvoll tabelliert,11 nicht auf. Speziell eine literarhistorische Betrachtung wird Texten, die einen Wandel der ästhetischen Mittel, des geistigen Horizonts oder der sozialen Funktion erkennen lassen, mehr Aufmerksamkeit widmen als einer vergleichsweise invarianten Theaterpraxis, von der – wie im Fall des Jesuitenebenso wie des Wandertheaters – zudem nur ausnahmsweise mehr überliefert 8 Vgl. ebd., S. 88f. In welchen Legitimationsnöten das protestantische (genauer: luthe-
rische – für Calvinisten kam Theaterspiel ohnehin nicht in Frage) Schultheater sich befand, belegt das Vorspiel Ein Gespräch von Comödien des Lüneburger Rektors Christian Friedrich Schmid von 1731, das Hansen: Formen der Commedia dell’Arte, S. 262–264 abdruckt. 9 Theater, Repräsentation und konfessionelle Polemik, S. 86. 10 Vgl. die Dokumentation Regensburger Theaterzettel und Periochen des Zeitraums 1775–87 in Meyers Edition: Theater, Repräsentation und konfessionelle Polemik, S. 117–286. Diesen Belegen nach zu schließen, lag das Schwergewicht der jesuitischen Dramenproduktion am Ende des 18. Jahrhunderts (d. h., nebenbei bemerkt, über die Aufhebung des Ordens 1773 hinaus) allerdings auf politischen Trauerspielen (vgl. ebd., S. 90). Die Kontinuität speziell von Geizdramen auf der Jesuitenbühne bezeugt die Aufführungs- und Titelliste zum Thema ‚avarice‘, die sich mit Hilfe des Index in Valentin: Le Théâtre des Jésuites, zusammenstellen läßt (sechs Einträge für das 18. Jahrhundert). 11 Vgl. Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum Abt. 2, Bd. 12, S. XXIX– XXXI.
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ist als ein Periochenzettel oder Szenar. Gewiß ist die künstlerische Qualität zumal der frühen sächsischen Komödie, wie sie von Borkensteins Bookesbeutel repräsentiert wird, eher niedriger denn höher als die der fremdsprachigen Dramentypen anzusetzen, die, eben weil sie in einer traditionellen Kunstübung wurzelten, durchschnittlich im Vorteil waren.12 Je nach literaturgeschichtlicher Perspektive – so in unserem Fall: unter dem Aspekt der ‚Ökonomisierung‘ der Komödie und ihrer Gesellschaftsentwürfe – kann es gleichwohl durchaus geboten sein, erneut die protestantisch-bürgerliche Entwicklungslinie zu akzentuieren. Problematisch, da verzerrend scheint lediglich die verbreitete Forschungspraxis, andersartige Theaterformen und Dramentypen ganz auszublenden. Die hier getroffene Textauswahl gehorcht dieser Überlegung wie folgt: Stücke sowohl der Wandertruppen als auch der Jesuiten wurden bereits analysiert – Der Jude von Venetien (der bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts gespielt wurde!),13 Der Geitzige sowie Masens Ollaria. Einer dritten Komödienform, die quer zur bürgerlich-aufklärerischen Moraldidaxe steht, nämlich der Wiener Volkskomödie, wendet sich das nachfolgende Unterkapitel zu (3.7.1). Mit der Mägera Philipp Hafners (1735–1764) analysiere ich ein Stück, das zum einen das Geizthema dieser Kapitelgruppe motivisch aufnimmt, zum anderen aber auch in theatralischer Hinsicht ein Geiz-Problem hervortreten läßt, gerade im Kontrast zu Borkensteins Bookesbeutel als Muster der gottschedischen Reformkomödie. Das zweite Unterkapitel (3.7.2) verfolgt die Durchsetzungsschwierigkeiten der Reformkomödie im Hinblick auf die Verhältnisse auf dem Theatermarkt. Als hinderlich erwies sich dort ausgerechnet die ‚geizige‘ Orientierung der Reformkomödie an ökonomischen Prinzipien. Komödiengeschichtliche wie kulturelle Relevanz des Geizmotivs sucht dann das Unterkapitel 3.7.3 zu resümieren.
12 Zur künstlerischen Leistung des Jesuitentheaters vgl. Goethes Bericht über eine
Regensburger Aufführung in der Italienischen Reise – Werke Bd. 11, S. 10f. 13 Noch Lessing sah das Stück Anfang der 1760er Jahre in einer Breslauer Aufführung;
vgl. Och: Imago judaica, S. 160f.; ebd., S. 55 vermerkt Och weitere Aufführungen 1729 in Glückstadt und 1741/42 in Frankfurt. Typisch für das nicht streng textvorlagengebundene Spiel der Wandertruppen, paßte man das Stück jeweils dem gewandelten Theatergeschmack an, d. h. man italianisierte es in den Figuren (Harlekin statt Pikkelhäring) und im Schauplatz (Carnevalsszenen in Venedig); vgl. Hansen: Formen der Commedia dell’Arte in Deutschland, S. 205 u. 214.
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3.7.1 Der Reichtum des Wiener Volkstheaters: Hafners Neues Zauberlustspiel, betitelt: Mägera, die förchterliche Hexe Wenngleich aus denselben gemeineuropäischen Traditionen schöpfend, bildet das Wiener Volkstheater in einer Reihe von Hinsichten den Antitypus sowohl des Gottschedschen Reformtheaters als auch der nord- und mitteldeutschen Wanderbühnen. In Deutschland (will sagen im ‚Reich‘ bzw. in den deutschsprachigen Gebieten Mitteleuropas) war es damit eine singuläre Erscheinung: Es sprach ein sozial breitgefächertes Publikum an, das das ‚einfache Volk‘ (Handwerker, Dienstpersonal...) ebenso umfaßte wie den Adel oder reiche und arrivierte Bürger; seine Ensembles waren, nach Wandertruppenanfängen um 1700, ortsfest, und sein Theaterleben war überaus lebhaft, kontinuierlich und auch wirtschaftlich erfolgreich.14 Trotzdem erhält das Wiener Volkstheater in literaturgeschichtlichen Epochendarstellungen regelmäßig nur eine marginale oder gar keine Position zugemessen. Geht man von einem engen Literaturbegriff aus, ist diese Vernachlässigung leidlich konsequent, denn die Wiener Volksstücke sind weit mehr theatrale Ereignisse als literarische Texte. Als solche liegen sie häufig nicht einmal vor, denn das Volkstheater lebte vom Stegreifspiel, und der für die Rubrizierung als ‚Literatur‘ kaum entbehrliche ‚Autor‘ rangierte weit hinter dem Schauspieler (auch wenn beide, wie häufig, dieselbe Person waren).15 Die wohl pointenreichste Darstellung, die die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts neuerdings gefunden hat, Karl Eibls Entstehung der Poesie, geht auf das Wiener Volkstheater lediglich mit einem Verweis auf seinen weiter geltenden Spaßprimat ein, obwohl das Drama die bevorzugt herangezogene Gattung abgibt.16 Zur ‚Entstehung der Poesie‘ als einer autonomen – mit Eibl systemtheoretisch formuliert: als einer ‚ausdifferenzierten‘ – Kunst trugen Stranitzky, Prehauser, Kurz-Bernardon oder Hafner tatsächlich wenig bei. Ihre Kunst folgte zwar Konventionen, nicht aber Regeln, die eine eigene, modellhafte Wirklichkeit konstituiert hätten; sie erzeugte keine Illusion, trennte sich nicht vom breiten, ästhetisch nicht vorgebildeten Publikum und betrieb keine Selbstreflexion qua Poetologie. Einer finalisierten Literaturgeschichtsschreibung, die verfolgt, wie sich die für die ‚Moderne‘ typische Form literarischer Kommunikation herausbildete, hat das Wiener Volksthea14 Als neueren Überblick vgl. Zeman: Die Alt-Wiener Volkskomödie, S. 1299–1312, als
Kompendium Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl; unübertroffen materialreich ist Rommel: Die Alt-Wiener Volkskomödie. Gegen die literaturgeschichtliche ‚Norm‘ des protestantischen Nordens arbeitet Neuber: Poetica confessionis cognitio, die Eigenart des Wiener Volkstheaters heraus. 15 Vgl. Clasen: Die Begründung der Wiener literarischen Volkskomödie, S. 117. 16 Vgl. Eibl: Die Entstehung der Poesie, S. 57.
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ter vergleichsweise wenig zu bieten. Ihm eignet schon von den eigenen Voraussetzungen her wenig literaturgeschichtliche Dynamik: Innovation steht nicht im Vordergrund, jedenfalls nicht im Sinne eines Strebens nach ästhetischem oder gesellschaftlichem Fortschritt, wie wir es bei Gottsched und den Folgenden finden; ein Formenwandel – der vor allem die zentrale lustige Figur betrifft – ergibt sich gutenteils aus dem Auftreten neuer Darsteller des Hanswurstes (Stranitzky, Prehauser) oder äquivalenter Figuren (besonders des Bernardon von Kurz).17 Zwar bewirkte aufklärerischer und regelpoetischer Einfluß nach der Mitte des Jahrhunderts eine ‚Reform‘ auch der Wiener Volkskomödie, doch reagierten Autoren und Schauspieler hier auf den äußeren Druck eines obrigkeitlich verfügten Extemporierverbots und der Theaterzensur.18 Das Programm sittlicher Verbesserung, das die Entwicklung der mittel- und norddeutschen Komödie wesentlich antrieb – auch in ästhetischen Fragen, denn Umstellungen wie die vom ‚Verlachen‘ aufs ‚Mitlachen‘ dienen der besseren Vermittlung von Tugend –, wurde von den Akteuren des Wiener Theaters nie vertreten.19 Das heißt nicht, daß die Prädominanz der komischen Figur(en) und der Unterhaltungsfunktion keinerlei Moral Raum gelassen hätte. Doch ist die Moral, die den Wiener Stücken zugrunde liegt, eine Commonsense-Moral ohne utopische Perspektive und ohne Anspruch auf Neuordnung der Gesellschaft.20 Demgemäß wird sie viel weniger offensiv proklamiert als die Moral der Sächsischen Komödie. Dynamisch sind die Stücke bzw. Aufführungen des Wiener Volkstheaters vor allem in der schau-spielerischen Aktion, weniger in ihrem literarischen oder moralisch-gesellschaftlichen Anspruch. Dementsprechend ist die Handlung – die die aufklärerische Poetik zum Modell gesellschaftlich nützlichen Handelns zu erheben suchte21 – nicht allein dramaturgisch sekundär, sondern in ihren Grundstrukturen noch stereotyper, als das für die Komödie allgemein gilt. Aus ungewöhnlich vielfältigen Dramenformen (auf die sie sich teilweise parodistisch bezog) entstanden, bediente sich die Wiener Stegreifkomödie bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem wenig veränderter Handlungsschemata der Commedia dell’arte: Meistens handelte sie von den durch alte, geizige oder lüsterne Männer verursachten Heiratshindernissen zweier junger Paare, wobei das eine der Adels- oder 17 18 19 20
Dazu jetzt Ernst: Zwischen Lustigmacher und Spielmacher. Vgl. ebd., S. 91. Vgl. Eyer: Das lyrische und dramatische Werk Philipp Hafners, S. 186 u. ö. Inwiefern das Wiener Volkstheater (der Josephinischen Zeit) eine aufklärerische Funktion hatte, und zwar in einer der österreichischen Kultur und Gesellschaft entsprechenden Weise, diskutiert Neuber: Diskursmodell Volkstheater. 21 Vgl. Wölfels Akzent auf dem „Zusammenhang von Schauspiel und Lebenspraxis“, der die Dramentheorie beherrscht habe (Moralische Anstalt, S. 112).
353 gehobenen Bürgerschicht entstammte und das andere, Hanswurst und Colombina, das dazugehörige Dienerpaar darstellte. Die List Colombinas und Hanswursts Pritsche sorgten für das allfällige glückliche Ende.22
Auf die pragmatische Kohärenz der Handlung kommt es gerade wegen deren schematischem Zuschnitt nicht an. Selbst bei einem Autor wie Hafner, der sich mit den dramaturgischen Forderungen der sächsischen Reformer auseinandersetzte und statt bloßen Szenarien ausformulierte Texte verfaßte, bleibt es bei der überlieferten Reihung „von in sich geschlossenen Situationen zur Präsentation autonomer komischer Effekte“.23 Immer wieder stillgestellt wird die Handlung zudem durch Gesangseinlagen und Orchesterstücke. Geradezu in Opposition zu einer pragmatischen Logik konstituiert sich das Zauber- oder Maschinenstück als Wiener Sonderform der Komödie, indem es dem irdischmenschlichen Personal und Handlungsraum eine übernatürliche, von Göttern, Geistern oder Zauberern bevölkerte Sphäre zu- bzw. überordnet, die immer wieder in die menschliche Welt einbricht und deren Handlungen in eine neue Richtung lenkt. Die Wiener Volkskomödie ist „Schautheater“ – besonders in den mit Maschinenhilfe produzierten aufwendigen Tableaus der Zauberkomödie – und „Lachtheater“,24 wenig hingegen um eine ziel- und zukunftsgerichtete Handlung bemüht. Die Konzentration auf den augenblicklichen komischen Effekt erweist sich auch im dramatischen und dramaturgischen Umgang mit dem Geld. Wie in anderen Komödientypen bildet das Streben nach Geld neben der Liebe ein Hauptmotiv, und seine dramaturgischen Möglichkeiten – rascher Wechsel der Situation, Initiierung von Täuschungs- und Betrugshandlungen, Exemplifizierung von ‚Lastern‘ – werden reichlich genutzt.25 Eben damit bleibt die Funk22 Clasen: Die Begründung der Wiener literarischen Volkskomödie, S. 116; vgl. auch
Otto G. Schindler: Einleitung. – In: ders. (Hrsg.): Stegreifburlesken der Wanderbühne, S. 5–24, hier S. 10f. Einen Überblick über die Vielfalt der dramaturgischen und theatralen Formen des Wiener Volkstheaters im 18. Jahrhundert vermitteln Aust, Haida, Hein: Volksstück, S. 50–113. 23 Eyer: Das lyrische und dramatische Werk Philipp Hafners, S. 203. 24 Neuber: Poetica confessionis cognitio, S. 29. 25 Als Stegreifspiele sind die Stücke der Wiener Volkskomödie in der Regel nur als Szenare oder mit ihren Gesangseinlagen überliefert (als Überblick über die Quellenlage vgl. Asper: Spieltexte der Wanderbühne). Eine wichtige Quelle, auf die ich mich hier und nachfolgend beziehe, ist daher die zweibändige Sammlung von Teutschen Arien, die Max Pirker ediert hat. Die Stücke, denen diese Arien entstammen, wurden, soweit belegt, Ende der 1730er und Anfang der 1740er Jahre aufgeführt, sind in Vorbildern oder Nachbildungen in der Regel aber auch früher und später faßbar (vgl. den ausführlichen Kommentar Pirkers; zur Textsorte Komödienarie auch Zeman: Die Alt-Wiener Volkskomödie, S. 1308f.). Wie geläufig Geldmotive waren, bezeugt auch die Sammlung von Szenaren der Schulz-Menningerschen Truppe, die seit 1769 in Wien spielte (Otto G. Schindler [Hrsg.]: Stegreifburlesken der Wanderbühne).
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tion des Geldes aber im Elementaren, und zwar sowohl dramaturgisch als auch wertkonzeptionell. Deutlich seltener als in den Komödien der nord- und mitteldeutschen Aufklärung strukturiert die Frage nach der Verteilung materieller Güter die gesamte Komödienhandlung. Den Schluß des Spiels bildet in aller Regel eine Hochzeit; daß das junge Paar auch materiell belohnt wird, gehört dagegen seltener dazu und scheint erst im späteren 18. Jahrhundert wichtiger zu werden.26 Herausgestellt wird immer wieder, daß das Geld die Liebe nicht ersetzen könne, daß es also falsch sei, „nach dem Brauch der Welt / Non propter Lieb, sed propter Geld“ zu heiraten.27 Durch Vermögensentzug bestraft wird überdies der Geiz vieler Väter (Anselmo oder Pandolfo). Über solche individualethische Mahnungen reicht die Geldethik der Wiener Volkskomödie indessen nicht hinaus, und selbst auf dieser Ebene birgt das Geldmotiv keine normativen Unsicherheiten.28 Die geldethischen Fragen, die die nord- und mitteldeutschen Komödien erörtern – wie Geld zu anderen Werten steht, in welchem Maße man es erstreben darf –, haben hier nicht den Status von Problemen. Erst recht ist mit dem Geldmotiv keine allgemeine Problematisierung von Werthierarchien, Verhaltensmustern oder gesellschaftlichen Ordnungen verbunden. Charakteristisch ist, wie sich die spielbeherrschende komische Figur zum Geld verhält. Vor allem für den Hanswurst bildet es stets eine Verlockung, denn es schenkt ihm die Illusion, alles tun und haben zu können („Geld ist das schönste Losungs-Wort, / Mit dem will ich mein Glücke machen“).29 Geld kann er sowohl von seinem Herrn erbetteln als auch bei Gelegenheit erpressen, ohne daß aus solchen Augenblicksmotiven sich jedoch Handlungsstränge entwickeln würden.30 Denn eigentlich fehlt es dem Hanswurst gar nicht an der unendlichen Potentialität des Geldes, da er schon aus sich heraus alles sein kann – seine vielen Verkleidungen führen ja nichts anderes als seine Lebensfähigkeit unter jeder Bedingung vor.31 Was das Geld verheißt, brauchen die Figuren in der Welt des Wiener Volksschauspiels letztlich nicht, denn sie substituieren es durch ihr Spiel. Hier kann man verallgemeinern: Das Spiel 26 Vgl. Schindler (Hrsg.): Stegreifburlesken, S. 53 sowie die Adaption von Jean-François
27 28
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Regnards Le Légataire universel (1708) ebenfalls durch die Menningersche Truppe, wohl aus den 1760er Jahren (Weilen [Hrsg.]: Eine deutsche Stegreifkomödie, S. 114–116). Pirker (Hrsg.): Teutsche Arien Bd. 1, S. 186. Nach Pape: Symbol des Sozialen, S. 65–68 gilt ähnliches noch für Raimunds Verschwender von 1834, nicht aber mehr für die wenig späteren „bitteren Spiele“ (S. 66) Nestroys. Vgl. Pirker (Hrsg.): Teutsche Arien Bd. 1, S. 187. Vgl. Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 124–127: „Hanswurst und das Geld“. Vgl. Ernst: Zwischen Lustigmacher und Spielmacher, S. 131.
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der Komödie steht nicht nur in Homologie zur Wandlungsmacht des Geldes, sondern auch in Konkurrenz dazu: Wächst das Vertrauen ins Geld, so hat das ungebundene Spiel keinen Raum mehr, wie an Borkensteins Bookesbeutel zu studieren war. Ist die Komödie dagegen aufs Spiel abgestellt – und das gilt für die Wiener Volkskomödie wie für keine andere Gattungsvariante in Deutschland –, so verträgt sich damit nur eine Auffassung des Geldes als Begehrensobjekt oder seine Funktionalisierung als Kontingenzfaktor, nicht aber der Versuch, die Handlung analog zu den Mechanismen der Geldsphäre zu organisieren, etwa als ‚Heiratsmarkt‘. Denn sobald der Handel als Handlungsmodell gilt, werden solche Prinzipien dominant (Rationalität, strategisches Verhalten, Wechselseitigkeit, Diesseitigkeit), die die Welt – genauer: die Handlungsmöglichkeiten in ihr – einengen und alles Spielerische unter Verdacht stellen. Obwohl keineswegs geldfrei, ist die Welt der Wiener Volkskomödie dagegen denkbar weit entfernt von den Strukturen der Geldsphäre. Das auf den Wiener Volksbühnen verbreitetste Handlungsschema, daß die Verbindung zweier oder mehrerer Liebender durch das vorrangig monetäre Interesse eines Alten behindert wird, macht einen Großteil ihres Repertoires zu mehr oder weniger profilierten ‚Geizkomödien‘. Hafners Neues Zauberlustspiel, betitelt: Mägera, die förchterliche Hexe, oder das bezauberte Schloß des Herrn von Einhorn von 1762 oder 1763 hat das Schema durch deutliche Ankläge an Molières Avare angereichert.32 Der alte Odoardo ist geizig bis zur Lebensfeindlichkeit – ein totgeborenes Kind ist ihm lieber als ein weiterer Esser (vgl. I,3, 139) – und will seine Tochter Angela gegen deren Willen an den alten, aber reichen Anselmo verheiraten, weil der auf eine Mitgift verzichtet (vgl. I,6, 146). Die traditionelle Motivik des Geizes steht indessen nur teilweise funktional zur Handlung. So zielen Odoardos groteske Anweisungen, wie ein kostengünstiges Gastmahl zu geben sei, auf den augenblicklichen komischen Effekt, ohne sich aber, wie bei Molière oder Borkenstein,33 auf ein tatsächlich bevorstehendes Essen zu beziehen („wenn heut etwa wer bey mir speisen sollte, [...] ob ich gleich niemanden einlade“; I,3, 140). Vor allem aber bildet das Geizmotiv lediglich den Aufhänger des Stücks. Entfaltet wird es nur in den ersten drei Szenengruppen des ersten Aktes (I,1–10), und die sich wie üblich daraus entspinnende Handlung – Trennung und Wiedervereinigung der Liebenden – kommt bereits am Ende des zweiten Aktes (von dreien) an ihr Ziel.
32 Nachweise im einzelnen in Ernst Baums Einleitung zu seiner Hafner-Ausgabe (Bd. 1,
S. [*]71–[*]73). Zitiert wird die Mägera unter Angabe von Akt, Szene und Seitenzahl nach der von Otto Rommel herausgegebenen DLE-Edition Die Maschinenkomödie (S. 134–205). Als Neuausgabe vgl. auch Hafner: Komödien, S. 81–149. 33 Vgl. L’Avare, S. 82 (III,1); Der Bookesbeutel, S. 17 (I,5).
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Verantwortlich für diese immer deutlichere Marginalisierung des Geizmotivs ist das Eingreifen der zaubermächtigen Hexe Mägera am Ende des ersten Aktes. Auf der ‚unteren‘ Ebene der menschlichen Figuren ist die Handlung in eine Sackgasse geraten, da Leander nach seiner Zurückweisung durch Odoardo nichts anderes einfällt, als sich zu erschießen (vgl. I, 11). Mägera hält ihn davon ab und stellt ihm ihre Hilfe in Aussicht. Aus solcher Hilfe folgt aber, daß es fortan ausschließlich ihre Zaubereien und das Verkleidungsspiel des Hanswurstes sind, die die Handlung voranbringen. Und das Ergebnis ist nicht die übliche Doppelhochzeit (das zweite Paar bilden gattungsgerecht die Diener Hanswurst und Colombine), sondern die Absage der Männer an ihre untreuen Geliebten. Hafner greift das Geizmotiv demnach auf, um das mit ihm verbundene Komödienschema zu konterkarieren – und zwar auch und gerade, so meine These, in komödienästhetischer Absicht: Vom Geiz als ethischem und merkantilem Problem wendet die Mägera sich ab, um es als dramaturgisches zu reformulieren. In der Geschichte des Alt-Wiener Volkstheaters gilt Hafner als Parallelfigur zu Goldoni34 (der im deutschen Sprachraum zuerst in Wien rezipiert wurde),35 will sagen als Mann des Übergangs, der die Eigenheiten der lokalen Tradition mit dem Textprinzip und der zielstrebigen Handlungsführung der Gottschedischen Reform verband, teils um die Chancen etwa des ausformulierten Textes für eine subtilere Komik zu nutzen, teils um das Volkstheater gegen die Bedrohung durch aufklärerische Zensureingriffe zu verteidigen.36 Vergleicht man die Mägera mit den Bernardoniaden Joseph Felix von Kurz’, so ist diese Einschätzung gewiß zutreffend; im Vergleich mit den Stücken der Sächsischen Komödie von der Gottschedin bis Lessing erweist sich Hafners Stück gleichwohl als der Wiener Tradition des Schau- und Lachtheaters zugehörig. Trotz gesteigerter Zielstrebigkeit kann von einer „geschlossenen Handlung“37 kaum die Rede sein, sind es doch die – allen ‚rationalen‘ Motivierungen hohnsprechenden38 – phantastischen Eingriffe einer Hexe, die die Handlung lenken. Zudem fungieren die Verkleidungen des Hanswurstes (als Leichenbitter, als Bäcker, als Wirt, als Lakai) sowie die ebenso zahlreichen szenischen Verwandlungen qua Mägerischer Zauberkraft (Beschwörung der 34 35 36 37 38
Vgl. Clasen: Die Begründung der Wiener literarischen Volkskomödie, S. 120. Vgl. Maurer: Goldoni, S. 92–96. Vgl. Ernst: Zwischen Lustigmacher und Spielmacher, S. 146–156. Ebd., S. 148. Vgl. Mägeras Selbstvorstellung („mein Schicksal ist sehr wunderlich! ich bin ein Verwalters Tochter [...]“) und Begründung ihres Eingreifens (I,12, 155f.), die in der Forschung gerne als Beleg für Hafners Rationalisierung der Zauberdramaturgie genommen werden (vgl. Ernst: ebd., S. 157–159), wahrscheinlicher aber den regelpoetischen Zwang zur Motivierung parodieren.
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Elemente und der Unterwelt, Wolken als Transportmittel, eine Perückenmacherwerkstatt, ein Festsaal) nicht bloß als handlungsablauffördernde Mittel.39 Vielmehr tragen sie ihren Zweck in sich selbst – darin geht Hafner noch über die intensive Nutzung des Verkleidungsmotivs in der Wanderbühnen-Adaption des Merchant of Venice hinaus – bzw. sind Ausdruck eines der aufklärerischen Reform gegenläufigen Welt- und Menschenbildes, das weder auf ‚Wahrscheinlichkeit‘ noch auf personale Identität besteht.40 Dramaturgisch wirkte sich das aufklärerische Wahrscheinlichkeitspostulat ebenso wie die moralische Funktionalisierung der Komödie als ‚Verarmung‘ der Spiel- und Wirkungsmöglichkeiten der Gattung aus. In seiner Auseinandersetzung mit der aus Sachsen importierten ‚Reform‘ hat Hafner dagegen ausdrücklich auf den ‚Reichtum‘ theatraler Möglichkeiten gesetzt.41 Auch die Mägera schöpft daraus wie kein anderes Stück unseres Dramenkorpus trotz partieller Zugeständnisse wie des weitgehenden (aber nicht vollständigen; vgl. II,5) Verzichts auf das Stegreifspiel. Geradezu verschwenderisch ist nicht allein der Einsatz von Spiel-im-Spiel-Szenen qua Verkleidung sowie der Bühnenmaschinerie, sondern auch die Fülle von Mitteln der Komik: von weniger subtilen wie Prügeln (vgl. II,5, 170), körperakrobatischen Lazzi (vgl. I,11, 153f.) und schamloser Dreistigkeit (vgl. I,4, 142) – all dies dem Hanswurst zugewiesen – über die Kombination eines aktiven, gewitzten Lustig- und Spielmachers (eben des Hanswurstes) mit einer passiven, einfältigen komischen Figur, dem Riepel, sowie den Kontrast von hohen und niedrigen Figuren mit entsprechenden Reibungen von Verhalten und Sprache (vgl. I,1, I,7 u. ö.) bis hin zur Parodie auf Tragödienmuster (vgl. I,11) und feinen Spitzen gegen die theaterästhetische Konkurrenz: Konfrontiert mit den Zaubereien der Mägera, weiß der Schulmeister sie nicht anders zu erklären, als daß „der Leuten ihre Einmargination und Einbildung selbst oft daran Ursach, sie glauben was zu sehen, oder zu hören, und ob es schon eine pure Function ist, so erzehlen sie es doch weiter, und das macht nacher eine ganze Convulsion im Ort.“ (III,1, 185) Wie die schulmeisterlichen Bühnenreformer aus Sachsen weiß auch dieser ‚Gebildete‘ mit dem Zauberwesen (zu ergänzen ist: des 39 So Ernst: ebd., S. 157. 40 „Die Unmöglichkeit der Sachen, / Kann ich öfters möglich machen“, verkündet Mäge-
ra – nicht zuletzt stellvertretend für den Autor oder Regisseur eines Zauberlustspiels (I,12, 157). Unmögliches möglich machen, das reicht über die Fähigkeiten selbst des Gottes der Leibnizschen Theodizee und ebenso über die Verteidigung des ‚Wunderbaren‘ durch die Schweizer hinaus, geht also an metaphysischen Modellen nicht anders als an der ästhetischen Theorie der Zeit souverän vorbei. 41 Vgl. Eyer: Das lyrische und dramatische Werk Philipp Hafners, S. 161 mit Bezug auf die theaterprogrammatische Streitschrift Der Freund der Wahrheit von 1760, mit der Hafner auf die Angriffe des aus Sachsen stammenden Reformers Joseph Heinrich von Engeschall auf die Wiener Tradition antwortete.
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Wiener Volkstheaters) nichts anzufangen. Indem Hafner seinen Schulmeister in der Komödientradition des ungebildeten Pedanten modelliert,42 signalisiert er, daß die dramenästhetische Gegnerschaft gegen die Wiener Bühnentradition nicht als vernünftig und einsichtsvoll gelten kann, sondern von einer beschränkten Weltsicht zeugt. Eine weitere und ‚reichere‘ Weltsicht als die aufklärerische Reformkomödie zeigt die Mägera auch hinsichtlich der Spannbreite des vorgeführten Lebens. Zwar umfaßt es nicht Himmel und Hölle wie in Bidermanns Geizschauspiel – dafür sind die Teufelsscharen, die Mägera aufbietet, zu sehr Spielfiguren –, aber doch deutlich mehr als die häusliche und, in Maßen, geschäftliche Sphäre der Sächsischen Komödie.43 Die Grenzbereiche des Lebens werden nicht ausgeblendet: Wiederholt wird der Tod zum Gegenstand von Späßen (vgl. I,11; II,3, 164f.), und auch von der Nachkommenschaft der erstrebten Liebesverbindungen ist weit ungeschminkter die Rede als in den sittsamen Reformkomödien (vgl. I,5, 143 u. ö.). Die normative wie pragmatische Verengung auf den ‚Lebenszentralpunkt‘ tugendhaften Heiratens verweigert Hafners Lustspiel ostentativ: Nachdem der zweite Akt die beiden Paare, Leander und Angela sowie Hanswurst und Colombine, zusammengebracht hat, werden die Frauen im dritten auf eine Tugendprobe gestellt, die sie nicht bestehen. Die gattungsübliche Hochzeit fällt daher aus44 – zugunsten eines prächtig-grotesken Schlußtableaus,45 von „Spaß“, „Possen“ und einer „lächerlichen Rache“, wie Mägera mit einem Unterton von reformkritischer Komödienprogrammatik verkündet (III,9, 198). Ein Heiratsfinale wäre demgegenüber eine Verengung und ‚Verarmung‘, und zwar der vorgeführten Lebensmöglichkeiten wie der theatralen Leistung und, als Folge davon, des Vergnügungsangebots an das Publikum.46 Sowohl in wirkungsästhetischer Hinsicht als auch vom Zuschnitt der vorgeführten Welt her verweigert sich
42 Vgl. in unserem Textkorpus den Sempronius im Horribilicribrifax. 43 Vgl. Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 73–77 über „Geister, Götter,
Monstren“ als Figuren der Wiener Volkskomödie. 44 Daß der verweigerte Hochzeitsschluß das Handlungsschema der Sächsischen Komödie
konterkariert, betont auch Ernst: Zwischen Lustigmacher und Spielmacher, S. 181– 183. 45 Zur Schlußszene „verwandelt sich das ganze Theater in einen prächtigen Saal; rückwärts sieht man einen Orgester aufgerichtet, allwo der Schulmeister, Richter und die Bauern als Musici angekleidet sitzen, und musiciren. Odoardo und Anselmo hangen einer rechts, der andere linker Hand, und Riepel in der Mitte, in der Luft auf einer Wolkenmaschine, als Hangleichter, wo sie an jedem Arm und an jedem Fuß, auch auf dem Kopf ein Licht haben, das Orgester spielt einen Menuet, und Mägera mit Angela, Hanswurst mit Colombine tanzen.“ (III,11, 201) 46 Zur prinzipiellen komödienpoetischen Alternativität von Komik und auf die Familie verengter Spielwelt vgl. Matzat: Dramenstruktur und Zuschauerrolle, S. 229.
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Hafner der Verknappung, die die allgemeine Entwicklung des Dramas im 18. Jahrhundert – hin zum rührenden Familienschauspiel47 – kennzeichnet. Als Problem der Verfügung über materielle Güter codiert bereits Hafners Stück die komödienästhetische und plotmäßige Entscheidung für den fortgesetzten ‚Spaß‘: „Ich will dir, alter Geizkragen zum Possen leben“, schleudert Hanswurst dem Odoardo entgegen. Dies Wort kann als Motto generell der Wiener Komödie in ihrem Verhältnis zur aufklärerischen Reform – nicht nur des Theaters, sondern auch der Sitten – gelten. Sich zu bescheiden ist des Komödienautors Hafner Sache ebensowenig wie die des Hanswurstes, der „ein Spectackel“ ankündigt, „das die Welt noch nicht erlebt hat“ (II,3, 163). Vor dem Hintergrund der reformerischen Forderungen nach Abschaffung unnötigen oder sogar schädlichen szenischen Aufwandes48 gewinnt ein Stück wie die Mägera einen Zug ostentativer Üppigkeit; man könnte von jenem ‚Demonstrativkonsum‘ sprechen, der in vormodernen Gesellschaften typisch ist für Selbstfeier und Selbstvergewisserung angesichts von Lebensverhältnissen, die solche ‚Verschwendung‘ eigentlich nicht erlauben.49 Um ökonomische Kalkulation geht es hier gerade nicht, und tatsächlich spielt das Rechnen mit dem Geld in Hafners Zauberkomödie immer weniger eine Rolle – es wird als Requisit und Motiv ähnlich ‚überwunden‘ wie das im ersten Akt exponierte Geizmotiv auf pragmatischer Ebene. Wie sich dabei herausstellt, ist die geldlose Welt die weitere und an Dimensionen ‚reichere‘. Sie ist deshalb ‚reicher‘, weil sie der Gefahr entgeht, alles Handeln auf Geldbesitz oder -geschäfte zu beziehen, wie dies im Bookesbeutel selbst dort geschieht, wo pekuniäre Entscheidungskriterien ausdrücklich abgelehnt werden. Der traditionellen Geldkritik ebenso wie der modernen Wirtschaftstheorie nach vervielfältigt Geld die individuelle Handlungsmacht; im Lichte von Hafners Mägera schränkt es aber auch Handlungsspielräume ein, weil es keineswegs alle Dimensionen des Lebens zu erfassen vermag, vielmehr weite Bereiche ausblendet – nicht zuletzt solche, in denen sich die Komödie am wirkungsvollsten entfaltet. Vom großen Bühnenerfolg der Mägera beflügelt, hat Hafner ein Jahr später Der förchterlichen Hexe zweyten Theil; unter dem Titel: die in eine dauerhafte Freundschaft sich verwandelnde Rache folgen lassen. Das phantastische Moment tritt hier noch einmal gesteigert hervor, denn neben Mägera agiert nun der Zauberer Orkamiastes, der den ‚Verlierern‘ des Vorgängerstücks seine Hilfe bietet. Dem Orkamiastes ist zugleich allerdings ein Abgesang auf seine Kunst – und damit auf die Gattung – in den Mund gelegt: „aus47 Vgl. Kap. 2.8.2. 48 Vgl. oben S. 342f. 49 Vgl. Mauss: Die Gabe, S. 98.
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ser uns zweyen giebt es keine Zauberer mehr. Wir haben mit dem Pluto einen Contract gemacht, daß er uns nach 90. Jahren hollen dürfte, itzt haben wir noch 6. Jahre, alsdenn ist die Periode der Hexerey vorüber.“50 Die prinzipielle Alternativität zwischen der Gattung Zauberlustspiel und dem Geld – nicht in praktischer Hinsicht, schließlich schrieb Hafner für ein geschäftsmäßig betriebenes Theater, jedoch unter normativen und weltbildlichen Aspekten – ist hier noch einmal auf den Punkt gebracht. Die Frist des mit Pluto geschlossenen Vertrags weist zudem geradezu prophetisch auf den endgültigen Sieg über die Stegreifkomödie, der den ‚Reformern‘ mit dem Tod des Hanswurstdarstellers Gottfried Prehauser im Jahre 1769 zufiel.51 Die wenig später einsetzende ‚zweite Phase‘ der Alt-Wiener Volkskomödie verzichtete zwar weder auf Maschineneffekte noch auf komische Figuren (erinnert sei an die Zauberflöte), doch wird dem Lustigmacher – nun meist dem ‚Kasperl‘ – „wenig(er) Raum“ eingeräumt; „die Moralität des Diskursmodells [Volkstheater] wird enger.“52 Schaut man genauer auf die Handlungslogik der Mägera, insbesondere auf die Abwandlung des gattungsüblichen Heiratsschlusses, so scheint Pluto allerdings schon dort seine Hand im Spiel zu haben. Mägera erläutert ihren Schützlingen die Gesetze der weiblichen Treue wie folgt: ich kann euch sagen, daß eure Geliebten keineswegs so getreu sind, als ihr euch einbildet; sie wohnen hier auf einem Landgute, wo ein Mangel an Mannspersonen, die sich für sie schicken, ist, deßwegen sind sie euch getreu (I,12, 156).
Die Liebe funktioniert demnach nach Marktmechanismen, und wer die entscheidende Rolle der jeweiligen Relation von Angebot und Nachfrage verkennt, täuscht sich über den wahren Wert werbenden Verhaltens. Mägera betrachtet es daher als ihre Aufgabe, Cleander zum klug kalkulierenden, d. h. die Motive des Gegenübers in Rechnung stellenden ‚Marktteilnehmer‘ zu erziehen, damit er nicht „betrogen“ werde (II,6, 173). Ausgerechnet in der Vermeidung des Heiratsschlusses, mit der Hafner sich plakativ von der pragmatischen Standardisierung der Sächsischen Komödie absetzt, bricht also doch ein merkantiles Denken durch. Eine charakteristische Differenz zum Handelsprinzip, wie es der von Borkenstein inszenierte Heiratsmarkt zum Ausdruck bringt, bleibt allerdings gewahrt: Mägera und Hafner geht es um Schadensvermeidung, während Der Bookesbeutel zur Vorteilsmaximierung anleitet, dem Marktmechanismus also ein dynamisches Moment abgewinnt, das im Wiener Stück allein der theatralen Aktion eignet.
50 Hafner: Gesammelte Werke Bd. 2, S. 14 (I,4). 51 Vgl. Zeman: Die Alt-Wiener Volkskomödie, S. 1312f. 52 Neuber: Diskursmodell Volkstheater, S. 52.
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3.7.2 Dramaturgie des Geizes oder Der Mißerfolg der Reformkomödie auf dem Theatermarkt Reichsweite Reichweite erreichte der Reformer Gottsched nie – in Wien traten Verfechter seiner Regeln erst Ende der 1750er Jahre auf, und auch dann nur mit begrenztem Erfolg.53 Wie bereits dargelegt (vgl. S. 183), gewann das komikreduzierte Belehrungstheater aber auch in Gottscheds ‚eigener‘, nordund mitteldeutscher Sphäre nur bedingt die Hegemonie. Bezeichnend scheint, daß in der Literatur- und Theatergeschichtsschreibung zwar viel von jener Vertreibung des Harlekin die Rede ist, die Caroline Neuber 1737 in einem Vorspiel demonstrierte, daß dieses Vorspiel jedoch weder überliefert ist noch jemals gedruckt wurde.54 Vor allem theaterpraktisch war die Harlekinvertreibung ‚kein Ereignis‘, denn obwohl sich eine Reihe von Prinzipalen nun zu den Gottschedischen Regeln bekannten, spielten sie weiterhin HanswurstStücke.55 Selbst die Neuberin verzichtete nicht schlagartig auf alle Stücke mit einem Lustigmacher, sondern taufte ihn lediglich um „in Hänschen oder Peter“, wie der wenig spätere Theaterhistoriograph Christian Heinrich Schmid spottet, und zog „ihm ein weißes Jäckchen statt eines bunten an“.56 Die Frage, wie man mit dem Hanswurst oder Harlekin verfuhr, ist deshalb zentral, weil sich in der komischen Figur all das bündelte, was der normativen Poetik widerstrebte: ungehemmte Sinnlichkeit, über Handlungszwecke hinausschießendes Spiel, Illusionsdurchbrechungen, Unwahrscheinlichkeit, Normfreiheit.57 Obwohl die komische Figur keinerlei Verzichts-Imperative anerkennt und stets an Geld(wertem) interessiert ist, stellt sie damit die am wenigsten ökonomische Figur dar, versteht man – wie im vorstehenden Kapitel erläutert – ökonomisches Handeln im modernen Sinne als kontrolliertes, zweckgesteuertes Handeln. Sie zu vertreiben bedeutete einen einschneidenden Verzicht auf (die Vorführung von und das Vergnügen an) Handlungsweisen, die sinnlos, ja kontraproduktiv sind, und zwar in ökonomischer noch eindeutiger als in moralischer Hinsicht, denn das zweckfreie Spiel rechnet moralisch unter die Adiaphora, die weder guten noch schlechten Nebendinge, während es unter ökonomischem Aspekt als unnütz vertane Zeit zu verbuchen ist.58 53 54 55 56 57
Vgl. Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 269–350. Vgl. die von Rudin und Schulz hrsg. Quellensammlung: Fr. C. Neuber, S. 171. Vgl. Hansen: Formen der Commedia dell’Arte in Deutschland, S. 165. Zit. nach Fr. C. Neuber, S. 171. Detailreich dazu Promies: Der Bürger und der Narr; für Wien auch Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. 58 Vgl. Martens: Die Botschaft der Tugend, S. 320f. sowie die Satire auf einen Nichtstuer, dem der (verhinderte) Wiener Theaterreformer Christian Gottlob Klemm den Besuch einer Komödie mit Hanswurst vorhält, um mit der Maxime zu schließen:
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In Anknüpfung an den Befund unserer Bookesbeutel-Analyse, daß dort nicht nur ein bestimmter Umgang mit Geld(wertem), sondern auch besondere Sparsamkeit auf sozialem und kulturellem Feld als Geiz erscheint, könnte man die Gottschedsche Bühnenreform insgesamt als einen Ausdruck theatralen ‚Geizes‘ bezeichnen. Den dramaturgisch-ästhetischen ‚Geiz‘ von Borkensteins Stück erläuterte das letzte Kapitel. Die Übertragung des moralischen Begriffs auf dramaturgische und ästhetische Entscheidungen gegen das ‚ausschweifende‘ Spiel vor allem der komischen Figur haben schon Gottscheds Zeitgenossen bzw. Kritiker vorgenommen: Wer „eine [K]lägliche [eine Komödie des Gottsched-Schülers Gottlieb Fuchs; D. F.] zum Exempel lieber lieset, weil er daselbst den Namen Arlequin nicht unter den Personen findet, [...] der wird es mir nicht verargen, wenn ich ihn [...] einem Geizhalse an die Seite setze“, schreibt Johann Christian Krüger in der Vorrede seiner Marivaux-Übersetzung.59 Von ‚Geiz‘ – oder genauer: von auffälliger Sparsamkeit – wurde das bürgerliche Reformtheater zudem im enger materiellen Sinne getragen bzw. eben nicht getragen. Vom Scheitern des Hamburger Nationaltheaterprojekts war bereits die Rede. Ökonomisch ist der Rückzug der geldgebenden Kaufleute bei mangelndem Publikumsinteresse vollauf verständlich, da rational. Im Vergleich mit den Hauptträgern des deutschen Theaters im 18. Jahrhundert, den katholischen Schulen und den Höfen, fällt gleichwohl die geringe Ausgabenbereitschaft jener Schicht auf, der sich das deutschsprachige Reformdrama normativ wie appellativ zuordnete: Die Bürger wenden kaum etwas für Kultur auf. Die wenigen Versuche, ein kommunales Theater zu gründen, sind sämtlich gescheitert. Auch die reichsten Bürger mit großen Besitzungen konnten sich nicht entschließen, eigene Orchester oder Theater zu betreiben.60
Im Vergleich mit dem 17. Jahrhundert hat sich damit ein deutlicher Mentalitätswandel vollzogen, waren es in großen Städten wie Nürnberg doch vor allem vermögende Kaufleute gewesen, die Schauspiele aller Art durch ihr Mäzenatentum ermöglichten.61 Im Wertehorizont eines Stücks wie des Bookesbeutels ist die neue Sparsamkeit freilich nur konsequent. Den Theaterbetrieb ökonomisch zu betrachten wird folgerichtig, wo die Komödie dramatur„Nützet die Zeit und befördert die Harmonie der Welt, das ist, seyd tugendhaft“ (zit. nach Neuber: Diskursmodell Volkstheater, S. 32). 59 Zit. nach dem Wiederabdruck in Grimberg: Die Rezeption der französischen Komödie, S. 47. 60 Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum Abt. 2, Bd. 12, S. XXXIII. 61 Vgl. Paul: Reichsstadt und Schauspiel, S. 625. Reinhart Meyers allgemeinen Befund unterstreichend, verzeichnet Paul um 1700 einen fast vollständigen Abbruch des theatralen Lebens in Nürnberg (vgl. S. 619–623). Gründe dafür nennt er, abgesehen von der geistlichen Theaterfeindschaft, leider nicht.
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gisch asketisch und mit der Botschaft rationalen Kalküls in jeder Lebenslage auftritt. Wie grundlegend der Wertewandel war, den Borkensteins Stück zum Ausdruck bringt, wird im weiteren Horizont der Motivgeschichte deutlich: Ausgerechnet eine dramatische Satire auf den Geiz vermittelt die modernökonomischen Prinzipien der Aufwandsminimierung und der Gewinnoptimierung. In mehrfacher Hinsicht – normativ, dramaturgisch und theatergeschichtlich – weicht die Komik, die der Geizige erzeugt, einem Geiz im Umgang mit Komik. Die Höfe waren dagegen der Theaterbereich, in dem das deutschsprachige Reformtheater zumindest teilweise bzw. mittelfristig vom Vordringen des Aufwandsminimierungsprinzips profitierte. In der durch die schlesischen Kriege ausgelösten Finanzkrise reduzierten sie ihre Repräsentationsausgaben und damit ihre Engagements ausländischer Truppen vor allem für die italienische Oper.62 Kostengünstiger war das französische Sprechtheater, noch billiger aber das deutsche. Als die bürgerlichen Versuche, ein Nationaltheater zu etablieren, gescheitert waren, griffen mehrere Höfe (Wien, Mannheim, Berlin, München) den prestigeträchtigen Namen auf und verbanden einen kulturellen Geltungsgewinn mit beträchtlichem finanziellen Nutzen.63 Hat das bürgerliche Reformtheater sich also durch die Ausweitung von Marktmechanismen auf eine bislang davon relativ64 wenig abhängige Theatersphäre durchgesetzt? Nicht ganz, denn auf den Hofbühnen waren eher Rührstücke erfolgreich, also Stücke, die familiäre Empfindsamkeit gegen die Handlungslogik von Geschäftsbeziehungen setzten. Dominante Autoren auf den Spielplänen der dem allgemeinen Publikum geöffneten Hoftheater des späten 18. Jahrhunderts wurden August von Kotzebue und August Wilhelm Iffland. Der Verzicht auf Komik, den bereits Gottsched und Gellert eingeleitet hatten, mündete hier in den funktionalen Ersatz der Komödie durch eine neue Gattung, das bürgerliche Schauspiel als ernstes Drama untragischen Ausgangs.65 Sich durchzusetzen fiel dem aufklärerischen Reformtheater demnach auf allen Theatermärkten schwer, auf dem der Wandertruppen ebenso wie auf dem der Höfe und erst recht auf dem allererst zu schaffenden Markt eines literarisch ambitionierten Theaterbetriebs. Das mag einerseits überraschen, war die von Gottsched und Adepten vertretene Ethik doch marktfreundlich 62 Vgl. Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum Abt. 2, Bd. 12, S. XXVI. Um-
fassend zum Hoftheater als Institution: Daniel: Hoftheater; ebd., S. 96–101 zum durch Finanznöte erzwungenen Wechsel der Theaterformen am Mannheimer Hof. 63 Vgl. Reinhart Meyer: Von der Wanderbühne zum Hof- und Nationaltheater. – In: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution, S. 186–216, hier S. 208f. 64 Relativ zu den in Kap. 2.6.3 geschilderten Wanderbühnenverhältnissen. 65 Vgl. Alois Wierlacher: Das bürgerliche Drama. – In: Europäische Aufklärung, S. 137– 160, hier S. 140–142; Krause: Das Trivialdrama der Goethezeit, S. 119f.
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bis marktförmig (so die Heiratsethik bei Borkenstein oder in der Ungleichen Heirath der Gottschedin) und ihre Theaterästhetik ausgesprochen ‚sparsam‘. Andererseits sahen wir (in Kap. 2.6.3), daß Gottsched als Morallehrer und Gelehrter keineswegs bereit war, sich auf einen Markt von Theaterangeboten und -nachfrage einzulassen. Und auch was marktaffin in den ihm nahestehenden Stücken scheint – die utilitaristische Ethik und rationalistische Ästhetik eines Bookesbeutels –, dürfte dem Publikumserfolg eher hinderlich als günstig gewesen sein. Denn wie die Wiener Verhältnisse ebenso wie die Kontinuität des Wanderbühnenspiels oder die oben (S. 225) skizzierte Hausse des Singspiels deutlich machen, behaupteten sich Theaterunternehmen und -formen nicht dann am besten auf dem Markt, wenn sie dessen Prinzipien ausagierten. Das Publikum fragte (nicht allein) im 18. Jahrhundert vielmehr andere Werte nach: Repräsentationsleistungen, Schauwerte, Anlässe zur Ausgelassenheit, zum Überschwang oder auch zur Rührung, kurzum: nach unter Gesichtspunkten des Markthandelns Unzweckmäßigem. Gefragt ist nicht die Wiederholung, ja Bekräftigung von Normen, die schon außerhalb des Theaters ein kontrolliertes, rationalisiertes Verhalten fordern, sondern deren zeitweilige Außerkraftsetzung.66 Das Bühnenspiel hat, schaut man auf die theaterhistorisch erkennbaren Bedürfnisse des Publikums, weniger die Funktion, das Leben zu regeln, als imaginäre Handlungsräume zu eröffnen und Emotionen zu vervielfältigen, also Spielräume zu weiten statt sie zu verengen. Das Gottschedsche Reformtheater erweiterte dagegen vor allem die Reichweite moralischer Verhaltensnormierung bzw. die Einwirkungsmöglichkeiten des bürgerlichen Gelehrten auf eine breitere Bevölkerung. Seiner Durchsetzung als Theater trat es damit selbst in den Weg. Folgerichtig verbreitete sich die „bürgerliche Dramatik“ der Aufklärung überwiegend als „Buchliteratur“.67 „Wer von Gellerts oder Gottscheds Stücken sprach oder schrieb, muß sie nicht unbedingt auf der Bühne gesehen haben.“68 Immerhin verfaßten 66 Wobei die Rührung, auf die das rührende Lustspiel sowie das ‚Schauspiel‘ des späten
18. Jahrhunderts zielen, zwar keine nützliche Eigenschaft des Wirtschaftsmenschen ist, trotzdem aber normbestätigende Wirkung hat (vgl. oben S. 224). 67 Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum Abt. 2, Bd. 12, S. XXVII. Am dramatischen Werk Christian Weises verfolgt jetzt Claus-Michael Ort (Medienwechsel und Selbstreferenz) den Übergang von einer primär aufführungsbezogenen Dramenproduktion zur Verbreitung über das Medium Buch. Weise schrieb ursprünglich, wenngleich nicht aus schließlich für Aufführungen seines Gymnasiums (vgl. oben 3.5.1), stellte seine Stücke nachträglich aber zu Druckausgaben zusammen. Ort beschreibt das in Verbindung mit grundsätzlichen Überlegungen zu den Medien und dem Autor-Rezipienten-Verhältnis, welche die sich herausbildende moderne Literatur kennzeichnen. 68 Meyer: ebd., S. XXX. In diesem Sinne schreibt Gellert in einem Musterbrief, „man könnte die Comödie, als ein gutes Gespräch, zu Hause lesen und auch Vergnügen, Nutzen, und wohl einen Vortheil der Zeit dabei finden“, wenngleich Bühnenaufführun-
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aufklärerische Autoren ihre Dramen noch für und mit Rücksicht auf Bühne und Publikum. Für die Komödien des Sturm und Drang und der Romantik gilt das häufig nicht mehr;69 mitunter wurden sie daher erst lange nach der Druckveröffentlichung uraufgeführt. Die mediale Situation der Komödie änderte sich damit in fundamentaler Weise: ein erheblicher Teil zumindest der literaturgeschichtlich kanonisierten Gattungsvertreter verliert die praktische Theatralität, die die Komödie zuvor in unmittelbare Parallele zu einer ganzen Reihe von gesellschaftlichen Verhaltensmustern stellte. Solche Texte verabschieden sich zugleich vom Theater-Markt, auf dem ihre gesellschaftliche Relevanz bisher öffentlich sichtbar wurde, und ziehen sich in eine eigene, literarische Sphäre zurück. Zumal hinsichtlich der von der späteren Aufklärungskomödie aufgegebenen Komik setzt die romantische Komödie neu an: Wenngleich an das Spielprinzip der Commedia dell’arte anknüpfend, ersetzt sie die Körper- durch eine „litterale“, häufig intertextuelle Komik und kultiviert den eher intellektuellen Reiz von Illusionsverschachtelungen.70 Der Vorgang ist nicht ohne gesamtkulturelle Logik, denn die Literarisierung und „Selbstermächtigung“71 der Komödie als Lösung vom konkreten Markt des Bühnengeschäfts vollzieht sich parallel zur sozialtheoretischen Abstraktion des Marktes zum universalen Handlungsmodell. Ein Einschnitt ergibt sich daraus auch in der hier zu schreibenden Teilgeschichte der Gattung. Die Auseinandersetzung mit dem Geld bleibt ein Thema der Komödie, allerdings vor allem dort, wo sich die Gattung kontinuierlich auf dem Theatermarkt hält, nämlich in Wien,72 und auch dort begreift sie sich nicht mehr in dem Sinne als ‚Marktteilnehmer‘, daß sie wie Masen, Gryphius, Weise, die
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gen mehr Leute zu erreichen und diese tiefer zu beeindrucken pflegten (Von dem guten Geschmacke in Briefen, 1751 – GS 4, S. 105–221, hier S. 183). Verurteilt werden jedoch „Possenreißer“ und andere „ungesittete Vorstellungen“ im Theater (S. 181) Zum Forschungstopos, daß das romantische Drama „die Erfordernisse der Bühne ignoriert habe“, vgl. die Diskussion bei Japp: Die Komödie der Romantik, S. 100–115, das Zitat S. XI. Japp betont, daß es sich nicht „durchgehend um intentionale Lesedramen“ handelt, sieht aber ebenfalls einen „strukturellen Gegensatz [...] zwischen Literarizität und Theatralität“ (S. 107 u. 114). Vgl. ebd., 22f., das Zitat S. 115. Grundlegend zur Textualisierung der Affekte im 18. Jahrhundert, will sagen zu ihrer Vermittlung und damit Erzeugung und Entrückung durch Schriftmedien: Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Diskurshistorisch setzt Koschorke bei der Medizin an, literaturgeschichtlich bei erzählenden Gattungen, so daß die spezifische Medialität des Theaterspiels nicht in den Blick kommt. Hier lassen sich indes ähnliche Tendenzen wie die von ihm konstatierten ausmachen (Abschließung des Körpers, Herstellung von ‚Natur‘ durch Kunst usw.). Ausführlich dazu jetzt Wild: Theater der Keuschheit. Japp: ebd., S. XIII. Zu Geldkomödien Nestroys und Bauernfelds vgl. Pape: „Der Schein der Wirklichkeit“. Monetäre Metaphorik und monetäre Realität auf dem Wiener Volkstheater und am Burgtheater.
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Gottschedin oder Gellert beabsichtigte, handlungsleitend auf das Verhalten der ‚Kundschaft‘, des Publikums, einzuwirken.
3.7.3 Gespartes Jenseits, verarmte Welt – ein erstes Resümee Die Theaterfremdheit der aufklärerischen Reformer führt Reinhart Meyer letztlich auf konfessionelle Ursachen zurück: „Das protestantische Schriftprinzip fördert den literarischen Disput, aber nur sehr bedingt den praktischen und faktischen Besuch eines Theaters oder die dramatische Produktivität.“73 Wie Christopher Wild soeben dargelegt hat, leitete sich die Theaterauffassung der norddeutschen Reformer sogar direkt von der protestantischen Theaterkritik her und zielte daher auf ein ‚antitheatralisches‘, d. h. vor allem unsinnliches Theater.74 Das Wiener Volkstheater hingegen setzt den Katholizismus seines kulturellen Umfelds voraus. „Aus konfessionsgeschichtlicher Perspektive erweist sich das Alt-Wiener Spaßtheater mit seinen Figuren Hanswurst, Bernardon und Kasperl als zutiefst katholisch geprägt“, vermerkt Beatrix Müller-Kampel.75 Dabei weist sie vor allem auf die Sinnenlust, der die komische Figur sich hingibt, sowie den Sinnenzauber, den das Bühnenspiel entfaltet. Der „Sensualismus“ aber sei – hier folgt Müller-Kampel dem Wiener Kulturhistoriker Egon Friedell – das Kampfmittel der alten Kirche gegen den ihr feindlichen Rationalismus: Bezogen auf die religiöse Praxis bedeutete dies die machtvolle Entfaltung eines sinnlichen Feuerwerks mystischer Riten, prunkvoller kirchlicher Zeremonien, farbenfroher Legenden und Wunder; bezogen auf das Theater die Feier des Zauberisch-Phantastisch-Mythisch-Allegorischen unter Einsatz von Musik, Ballett und dem gesamten Maschinenapparat der Bühne.76
So treffend diese Beschreibung ist, so fraglich scheint, ob die Aufgeschlossenheit der katholischen Kultur für das Übervernünftige tatsächlich bloß eine widervernünftige Abwehrstrategie war. Denn ob das ‚Zauberisch-Phantastisch-Mythisch-Allegorische‘ gefeiert werden darf, ist zuallererst eine Frage nach der Weiträumigkeit der jeweils gedachten Welt. In einer normativ und ontologisch hinreichend weiten Welt nämlich haben auch der Hanswurst und die Hexe Mägera Platz. Näher bestimmen läßt sich die Weite der ‚katholischen Welt‘ am besten durch Vergleiche der mit ‚engeren‘ protestantischen Weltsicht. 73 74 75 76
Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum Abt. 2, Bd. 12, S. XXVIII. Vgl. Wild: Theater der Keuschheit, S. 218f. Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 178. Müller-Kampel: Hanswursts katholischer Körper?, S. 83.
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In Norddeutschland war es nicht allein das protestantische Schriftprinzip, das die von ihm geprägten Autoren dem Komödienspiel entfremdete. Ebenso bedeutsam dürfte die vergleichsweise frühe Säkularisierung des Protestantismus gewesen sein – was hier nicht die Abschaffung religiösen Denkens und Empfindens, sondern deren Annäherung an ‚weltliche‘ Maßstäbe sowie die Herabstimmung religiöser Erwartungen auf diesseitige Ziele meint:77 Gottsched etwa unterstellte seine Metaphysik wie seine Ethik und Poetik selbstverständlich noch christlichen Letztgewißheiten, wies den Bürger, an den er seine Schriften adressierte, jedoch auf die Glückseligkeit dieses Lebens und auf die sozialen Tugenden, die nötig – und hinreichend! – seien, sie zu erlangen.78 Gott hat in diesem Gedankengebäude noch die Funktion, die Sinnund Zweckhaftigkeit eines tugendhaften Lebens zu verbürgen.79 Er ist jedoch nicht mehr allein maßgeblicher Orientierungspunkt, zieht den Menschen also auch nicht über das Diesseits hinaus (wie die Jesuitendramen oder der Horribilicribrifax dies als vorbildlich vorführten).80 Spielt das Jenseits mit Gott, Engeln und Teufel – die Heiligen hatte schon die Reformation ausgeblendet – aber keine Rolle mehr, so schrumpft der Aktionskreis des Menschen auf die eigene Welt (in Weises Betrogenem Betrug fanden wir dafür einen frühen Beleg). Das hat ethische und weltbildliche ebenso wie literaturprogrammatische und dramaturgische Folgen. So ist die Dramaturgie eines guten Teils der Wiener Volkskomödie von einer Bühnenmaschinerie geprägt, die, aus dem barocken Theater übernommen, den Eingriff übernatürlicher Mächte szenisch realisiert,81 während die Wahrscheinlichkeitsforderung des norddeutschprotestantischen Reformtheaters solche Erweiterungen des theatralen Spielraums unterbindet.82 In ethischer Hinsicht wird das Handeln des Menschen 77 Vgl. Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte Bd. 3, S. 125–146, bes. S. 131;
Ulrich Barth: Säkularisierung I – TRE 29, S. 603–634, hier S. 617–620. 78 Vgl. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, Praktischer Teil §§ 66–76
– AW 5,2, S. 104–109. 79 Vgl. ebd. Theoretischer Teil § 1164 – AW 5,1, S. 624. 80 Vgl. Der Gesellige 4 (1749), S. 377 (186. Stück): „Wir wollen also GOtt und seine
liebreiche Vorsehung voraussetzen. Wir wollen ohne Widerrede zugestehen, daß GOtt der erste Urheber unsers ganzen Glücks sey; wir wollen es von ihm erwarten und erbitten: allein, wir müssen nicht, durch ein faules Vertrauen auf seine Vorsehung verleitet, die Hände in den Schoos legen, ihn versuchen, und ganz unthätig in Absicht auf unser Glück seyn. GOtt macht unser Glück mittelbar, und bedient sich dazu unserer und anderer Creaturen, und da können wir allerdings sagen, daß ein Mensch sein eigenes und anderer Menschen Glück, wo nicht allezeit, doch sehr ofte machen könne.“ 81 Vgl. Eyer: Das lyrische und dramaturgische Werk Philipp Hafners, S. 182. 82 Bezeichnend ist die Mühe, die Lessing hat, den Auftritt eines „Gespenstes“ in Hamlet zu rechtfertigen (Hamburgische Dramaturgie, 11. u. 12. Stück – Werke Bd. 4, S. 281–285).
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nicht allein ganz auf das Diesseits orientiert, sondern es wird auch unter erhöhten Normdruck gestellt, denn es gibt nun kein Anderes mehr, auf dessen Werte man sich berufen könnte, um sich Anforderungen der Welt zu entziehen, wie Gryphius’ Sophia dies tat. Überhaupt steigen die Erwartungen an die weltliche Ordnung, während deren Abwertung als heilloser Durchgangs- und Bewährungsraum immer auch eine Entlastung von Normadäquanz bedeutete: Daß es in der Welt gerecht, gütig und liebevoll zugehe, war unter christlichen Prämissen schlechterdings nicht zu erwarten,83 wird mit der aufklärerischen Säkularisierung aber dringender denn je als Handlungsziel jedes einzelnen ausgegeben. Gerade der Dichter wird nun ausdrücklich darauf verpflichtet, daß „das Ganze“ seines Werks „ein Schattenriß des Ganzen des ewigen Schöpfers sein“ soll, damit wir „uns an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen“ (d. h. im Ganzen der Schöpfung, nicht nur im Jenseits).84 In der Welt soll es nun tatsächlich so zugehen – könnte man nur vordergründig tautologisch formulieren –, wie es in ihr zugehen soll; daß Faktum und Norm auseinanderklaffen, darf nun nicht mehr sein – während das christliche Bewußtsein der menschlichen Sündhaftigkeit es ausgeschlossen hatte, daß das göttliche Gesetz jemals erfüllt würde, weshalb der Mensch per se als irrender Narr galt.85 Welche Folgen die Annäherung von Transzendenz und Welt bzw. die Auflösung ersterer in letztere für das sozioökonomische Denken des 18. Jahrhunderts und für dessen Aufwertung des Marktes als Regulierungsinstanz hatte, verfolgt das dritte Hauptkapitel zum Spiel (vgl. besonders 4.4.2). Indem die Komödie aber, wie die Literatur im allgemeinen, darauf verpflichtet wurde, die Verwirklichung der Norm vorzuführen bzw. zu initiieren, schwand ihr Spielraum, d. h. sie büßte ihr normüberschreitendes komisches Element nahezu ein. Ihrem ‚Jenseits‘ (gemessen am gesellschaftlich Üblichen) fehlte nun gewissermaßen das Widerlager des anderen, christlichen Jenseits.
83 Vgl. den lastersatirischen ‚Marktführer‘ Neu Ausgelegter Curioser Tändel-Marckt der
jetzigen Welt in allerhand Waaren und Wahrheiten vorgestellet des Johann Valentin Neiner, eines Wiener geistlichen Volksschriftstellers (zuerst 1734 erschienen). Neiner arbeitete auch für Stranitzky, den Schöpfer des Hanswurst (Hannß Wursts Lustige Reiss-Beschreibung, um 1717), sein Tändel-Marckt ist gewissermaßen eine Kreuzung von Hausväterliteratur und Satire (die teilweise sogar dialogische Form annimmt, sich also der Komödie nähert). Zeitlich ebenso wie in ihrer Sittenbildungsfunktion steht sie in Parallele zu den Moralischen Wochenschriften der norddeutschen Aufklärung. Wie anders aber treten beide Textsorten auf und wieviel reicher in Weltsicht und Ausdrucksspektrum ist auch in diesem Fall die ‚unaufgeklärte‘ Seite! 84 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 79. Stück – Werke Bd. 4, S. 598. 85 Vgl. Wannenmacher: Johann Valentin Neiner, S. 53.
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Den nicht literarisch-reformerisch disziplinierten Theaterformen des 18. Jahrhunderts hat Rudolf Münz eine „karnevalistische Grundhaltung“ bescheinigt.86 Die Welt des Karnevals ist eine Welt ohne Grenzen; aufgehoben sind sowohl die diesseitigen Hierarchien als auch die Grenzen des menschlichen Lebens (so zum Tod hin).87 Der Karneval spiegelt damit in sinnlicher Form die Daseinserweiterung, die der christliche Glaube in spiritueller Weise vermittelt – so daß auch unter karnevalistischem Aspekt die Lizenzen des Komödienspiels als Komplement einer noch nicht säkularisierten Welt erscheinen. Vollgültig im Bachtinschen Sinne können wir den Karnevalsbegriff zwar nicht verwenden, da Theater stets eine artifizielle Veranstaltung ist und auf der Trennung von Darstellern und Zuschauern basiert.88 Was Bachtin als Basismerkmale des Karnevalistischen herausstellt, trifft die spielerischen Varianten der Komödie aber durchaus: das Prinzip des Wechsels und der dauernden Veränderung, die Mißachtung von Hierarchien, der Verzicht auf abstraktes Denken zugunsten sinnlicher Konkretion sowie das Nebeneinander von Gegensätzen, die nicht aufgehoben werden.89 Den frühneuzeitlichen Karnevalismus rechnet Bachtin damit zu den „zentrifugalen“ kulturellen Kräften der „Dezentralisierung und Differenzierung“, die sich der Hochkultur, d. h. den „zentripedalen Kräften“ der „Zentralisierung und Vereinheitlichung“, entziehen.90
86 Münz: Das „andere“ Theater, S. 156; zur Wiener Volkskomödie vgl. auch Müller-
Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 182–186. 87 Vgl. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 137, 140. 88 Vgl. dagegen die Bachtinsche Begriffsbestimmung: „Der Karneval ist ein Schauspiel
ohne Rampe und ohne die Trennung in Darsteller und Zuschauer. [...] Der Karneval wird nicht angeschaut und strenggenommen auch nicht gespielt, sondern man lebt in ihm“ (ebd., S. 137). Bachtin weist dem Karneval überdies einen spezifischen Ort zu, den Marktplatz: „Der städtische Platz war im späten Mittelalter und in der Renaissance eine Welt für sich, in der alle ‚Auftritte‘, vom lauten öffentlich ausgetragenen Streit bis zum inszenierten festlichen Schauspiel, etwas gemeinsam hatten, die Atmosphäre von Freiheit, Offenheit, Familiarität. [...] Der Marktplatz war das Zentrum alles Nichtoffiziellen, er besaß quasi ‚exterritoriale‘ Rechte in der offiziellen Welt und der offiziellen Ideologie, und er gehörte immer dem Volk. Natürlich wurde dies besonders an Feiertagen offenbar. [...] Auf den Jahrmärkten herrschte immer Karnevalsatmosphäre“. (Rabelais und seine Welt, S. 194) Diese Zuordnung gilt im 18. Jahrhundert nicht mehr (wenn sie so eindeutig je gegolten hat): zum einen wurden die konkreten Orte des Handels zunehmend obrigkeitlich kontrolliert (vgl. den Art. Marckt in Zedler: Universal-Lexikon Bd. 19, Sp. 1279f.), zum anderen hatte sich ‚der Markt‘ zum Strukturprinzip der gesamten Wirtschaft verallgemeinert. Zu diesem Markt wiederum und seinen Zwängen stehen die karnevalistischen Momente des Komödienspiels in Opposition. 89 Vgl. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 138f. Komödientheoretisch aufgenommen wird Bachtins Karnevalsbegriff bei Greiner: Die Komödie, S. 110–114. 90 Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 165.
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In seiner Betonung der Beweglichkeit des Karnevals sowie im begriffsmetaphorischen Bezug auf ein gesellschaftliches ‚Zentrum‘ finden wir die am Anfang des Geiz-Kapitels exponierten Leitbegriffe wieder – Zentralisierung und Stabilisierung vs. Zirkularität und Bewegung –, mit denen wir die epochalen Tendenzen sowohl des dramatischen als auch des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Geld gekennzeichnet haben. Auch das Verhältnis zwischen aufklärerischem Reformtheater und den verschiedenen traditionellen Theaterformen, die es zu verdrängen suchte, läßt sich gut mit diesen Begriffsoppositionen fassen: Mit publizistischen Machtmitteln verfochten und mit Überlegenheitsanspruch auftretend, stellt die Theaterreform ein Phänomen kultureller Zentralisierung dar. (Daß es in gesellschaftstheoretischer Hinsicht also eine obrigkeitliche Position einnimmt bzw. gerne einnehmen würde, wird dadurch bestätigt, daß die kameralistische Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte das Moralisierungsprogramm Gottscheds und auch die Forderung nach öffentlicher Trägerschaft eines ‚gereinigten‘ Theaters übernimmt.)91 Die traditionellen Theaterformen nehmen dagegen die ‚karnevalistische‘ Gegenposition ein: ästhetisch sträuben sie sich gegen ‚Vereinheitlichung‘ und bieten ein breiter gefächertes Ausdrucksspektrum, als Geschäftsbetriebe sind sie ein Faktor ökonomischer ‚Bewegung‘, in sozialer Hinsicht besetzt das Wandertheater zudem eine inferiore Position. Die beiden Theatertypen in dieser Weise als Institutionen zu kennzeichnen erfaßt allerdings nur eine Seite ihres Weltbildes. Die andere Seite bildet die jeweils dargestellte Welt oder Gesellschaft, und diese Seite ist weniger eindeutig strukturiert: Die Welt der Stegreifkomödien und Burlesken – das ist noch an Hafners Mägera abzulesen – war eine höchst bewegliche, aber zugleich statische. Das weist darauf, daß die Beweglichkeit und Vielfalt, die solch ein Spiel wie das Gespielte auszeichnen, nicht als ‚moderne‘ Dynamik und (Aus-)Differenzierung zu verstehen sind. Die Beweglichkeit des komischen Spiels beruht nicht auf einer stets über sich hinaustreibenden Dynamik, sondern auf einem geringeren Maß mentaler Disziplinierung (als normativer Zentralisierung), wie sie mit der Transformation in eine ‚moderne‘ Gesellschaft einhergeht. Was die ‚literarische‘ Komödie angeht (und zwar nicht erst seit Borkenstein), so fanden wir wiederholt Uneinheitlichkeiten hinsichtlich ihrer Option für ‚Stabilisierung/Zentrierung‘ oder ‚Bewegung/Zirkulation‘, insbesondere der Art, daß die explizierte Botschaft von formalen oder Handlungs-Strukturen des Stücks unterlaufen wird. In einigen Komödien (der Ollaria, dem Betrogenen Betrug oder dem Bookesbeutel) machte sich gerade im spezifisch Dramatischen eine Bewegungstendenz bemerkbar, die sowohl der stabilisierenden Funktion der Institution als auch der normierenden Bot91 Vgl. Martens: Obrigkeitliche Sicht, S. 27f., 30–35.
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schaft des Textes entgegenlief. In Weises Stück haben wir diese Bewegungstendenz als Effekt des komischen Spiels identifiziert. Insofern handelt es um ein karnevalistisches Moment innerhalb des zentralisierend-normierenden Komödientyps. Und damit nicht genug der Ambivalenzen, denn der ‚karnevalistischen‘ Bewegung eignet hier, indem sie zur Auflösung der traditionellen Haus-Ordnung beträgt, doch eine ‚progressive‘ Tendenz und Dynamik. Die Gegenüberstellung von Karnevalismus und ‚zentralisierender‘ Kultur ist demnach als idealtypisierendes Deutungsmuster zu verstehen. Die historische Beschreibung (der Komödie) stößt dagegen auf Mischungen und Ambivalenzen. Auch die freilich können eine geschichtliche Tendenz anzeigen. Über den hier betrachteten Zeitraum hinweg läßt unsere Textreihe eine Tendenz zur Entmischung der Modi oder Sphären erkennen: Während im 17. Jahrhundert selbst die religiös oder politisch zentralisierenden und normierenden Geizlustspiele Masens und Molières sich der Mittel der karnevalistischen Komik bedienten, stehen sich mit dem Gottschedischen Reformtheater und dessen Gegnern weit einseitigere Komödienformen gegenüber.92 Ebenfalls ambivalent, doch nicht ohne deutliche historische Tendenz ist das Verhältnis der verschiedenen Komödienformen zum Markt. So steht die moralisierende Verengung theatraler Spiel- und Freiräume zwar in Analogie zu jener Verhaltensrationalisierung, die mit der Ausweitung des Marktes einherging, doch wurde sie gerade nicht vom Theatermarkt gefordert, sondern von dessen gebildeten Verächtern. Der Theatermarkt prämierte vielmehr Theater- und Dramenformen, die sich den Geschäftsnormen einer zunehmend merkantilen Gesellschaft entzogen. Die Tendenz zur Totalisierung des Marktes, die die Neuzeit wirtschaftshistorisch kennzeichnet, impliziert demnach keine umstandslose und vollständige Merkantilisierung sämtlicher kultureller Muster. Vielmehr entpuppte sich das Karnevalistisch-Anökonomische der komischen Figur als kaum verzichtbarer Geschäftsfaktor, denn auch nach der Jahrhundertmitte vermochte keine Theatertruppe ohne Hanswurstspiele zu bestehen.93 Nahe liegt es, dahinter einen Mechanismus mentaler Kompensation zu vermuten: In der sich ausbreitenden Marktgesellschaft, nach deren Regeln auch das Theater wirtschaftete, hätte das Spiel der komischen Figur zumindest für seine Dauer von den Zwängen eben des Marktes entlastet und 92 Hier nicht weiter verfolgt werden kann, in welchem Maße diese Bipolarität ein Spezi-
fikum der deutschen Komödie darstellt (mit Wurzeln vermutlich bis in die konfessionelle Spaltung hinein). In Frankreich jedenfalls stand die literarische Komödie seit Molière in immer wieder erneuertem Austausch mit den ‚karnevalistischen‘ Gattungsvarianten des Théâtre italien oder des Théâtre de la foire. Und auch das Reformtheater Goldonis fußte auf den Traditionen der Commedia dell’arte; vgl. Krömer: Die europäische Komödie im 18. Jahrhundert, S. 105–109. 93 Vgl. Hansen: Formen der Commedia dell’Arte in Deutschland, S. 174.
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wäre vom Publikum deshalb unvermindert verlangt worden. Plausibel ist diese Überlegung hinsichtlich der entlastenden Wirkung von Komik im allgemeinen,94 weniger hingegen in ihrem Bezug auf die Ausweitung des Marktes. Denn eine Steigerung der ‚anökonomischen‘ Komik parallel zur Marktausweitung läßt sich komödiengeschichtlich nicht feststellen. Im Vergleich mit den komischen Figuren des 17. Jahrhunderts scheinen die Hanswurste, Harlekine und Nachfolgefiguren der Gottsched-Zeit vielmehr durchaus gezähmt, und Borkensteins sehr erfolgreicher Bookesbeutel zeigt eine der merkantilen Rationalität durchaus entsprechende Rationalisierung bzw. Entsinnlichung der dramatischen Technik. Dort wiederum, wo die komische Figur die stärkste Stellung bewahrte, nämlich im Volkstheater des habsburgisch-kaiserlichen Wien, hinkte die wirtschaftliche Entwicklung hinter der des protestantischen Nordens hinterher. Die anökonomischen Freiräume, die der Theatermarkt prinzipiell beförderte (sofern nicht Moralwächter in ihn eingriffen), wurden demnach in dem Maße geringer, in dem das Marktprinzip sich ökonomisch und, begleitend, mental durchsetzte.95 Die Wiener Volkskomödie ist der historisch letzte Komödientyp deutscher Sprache, der sich in einem solchen Freiraum karnevalistisch entäußern konnte. Spätere Ausprägungen der Gattung, die sich ebenfalls einer karnevalistisch-anökonomischen Komik bedienten bzw. sich um sie bemühten wie manche Komödien von J. M. R. Lenz oder der Romantik,96 mußten sich den nötigen Freiraum erst schaffen: hier in der Rebellion gegen aufklärerische Normierung, dort durch Reklamation eines autonomen Bereichs der Poesie. Aber das sind andere Kapitel der Komödiengeschichte.
94 Die Entlastungsfunktion der Komödie betont Rainer Warning: Elemente einer Pragma-
semiotik der Komödie. – In: Das Komische, S. 279–333, hier S. 326. 95 Vgl. dazu auch oben S. 224. 96 Vgl. Greiner: Die Komödie, S. 185, 262–265.
4. Spiele ums Geld
4.1 Eingang: Spiel und Komödie Die Komödie gilt als spielerische Gattung par excellence. Rainer Warning setzt dabei lebensweltlich an und unterscheidet mit Roger Caillois Mimikry, also Verkleidungs-, Verkörperungs-, Maskierungsspiele, sodann Agon, also alle Formen spielerischen Wettstreits, dann Alea, d. h. Spiele, deren Ausgang nicht vom Spieler selbst abhängt, und schließlich Ilinx, d. h. Taumelspiele, Spiele, die abzielen auf lustvoll erfahrbare physische wie psychische Destabilisierungen, auf den Umschlag von Spielen in Gespieltwerden.1
Den in all diesen Spielen sich äußernden „Spieltrieb“ nehme die Komödie auf, um ein „Spielen des Spiels“ zu inszenieren:2 Zum einen besteht ihre Handlung gutenteils aus Spielen: als Agon um Liebe oder Geld, als (Verkleidungs-)Intrige, deren Ausgang aber unkontrolliert ist und von Zufällen gesteuert wird, sowie als Ungebärdigkeit der komischen Figuren. Zum anderen ist die Darstellung dieser Spiele auf dem Theater konstitutiv ein Spiel. Warning denkt bei alledem an die Commedia dell’arte und schließt diesem Komödientyp entsprechend: „Nicht, was gespielt wird, ist entscheidend, sondern wie zum bloßen Anlaß herabgestufte Rollen- und Handlungsvorgaben ergriffen und ausgespielt werden zu einer autonomen Gegenwelt ohne jeden Anspruch auf Wahrscheinlichkeit.“3 Gleichwohl könne das „naturhafte Substrat“ des „freien Spiels“ durch „Integration des Spiels in soziale Kontexte“ semantisiert werden. Wenn man von anthropologischen Überlegungen ausgeht, ist der Primat eines ‚naturhaften‘ Spiels vor dessen sozial-kulturell bedingten und sich wandelnden Ausformungen auf komödientheoretischer Ebene nachvollziehbar –
1 Rainer Warning: Theorie der Komödie. Eine Skizze. – In: Theorie der Komödie –
Poetik der Komödie, S. 31–46, hier S. 35f. 2 Ebd., S. 36f. „Spielen des Spiels“ ist ein Zitat aus Martini: Lustspiele – und das Lust-
spiel, S. 21. Ebenfalls mit Bezug auf Caillois, aber erheblich kleinschrittiger und zugleich komplexer hat neuerdings Wolfram Nitsch den Zusammenhang zwischen dem „Spiel als elementarer Tätigkeit“ und Literatur und Theater als „Spiel höherer Ordnung“ entwickelt, mit der Zwischenstufe von konkreten Spielen, die nach bestimmten (u. U. informellen) Regeln ablaufen, wie z. B. dem für das Theater konstitutiven Rollenspiel (vgl. Barocktheater als Spielraum, S. 17–41). 3 Warning: ebd., S. 36. Die folgenden Zitate ebd., S. 37.
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obschon ‚naturhaftes‘ Spiel praktisch immer nur in jenen kulturellen Ausformungen auftritt. Die generelle komödienpoetische und interpretatorische Akzentsetzung, die Warning daran knüpft, scheint jedoch problematisch: Immer sind die komischen Opponenten die wahren Helden, nicht die blassen Repräsentanten der vernünftigen Welt. Die komischen Opponenten sind die raison d’être des Spiels, sie sind das Zentrum der Spielsituation, um sie kristallisiert sich die Bühne und Publikum umfassende Spielgemeinde.4
Unter den hier herangezogenen Komödien trifft diese These vor allem Hafners Mägera, also ein in der Tradition des Improvisationstheaters stehendes Stück; eingeschränkt – und gewiß gegen die Intention der Gottschedin – auch Die ungleiche Heirath, kaum aber den Horribilicribrifax oder den Bookesbeutel (und die noch zu besprechenden Stücke lassen sich entweder anschließen oder, wie die Lustspiele Christian Reuters, gar nicht unter jene Dichotomie bringen). Ein verallgemeinernder Schluß vom prinzipiellen Spielcharakter der Komödie darauf, daß das möglichst ungebundene, willkürliche Spiel deren Zentrum bilde, ist daher zurückzuweisen.5 Denn Spiel kann die Komödie auch sein, wo sie seine kulturell vorgeprägten oder gar sozial disziplinierten Formen aufgreift. Zumal wenn man versucht, Komödiengeschichte zu schreiben (und gar eine Sozialgeschichte), kommt es auf die Bezüge, Transferenzen und Rückkopplungen zwischen dem komödischen Spiel und den Spielpraktiken und -semantiken seiner Umwelt an.6 Und die literarischen wie sozial-kulturellen Bedeutungen eines Komödienspiels fallen desto reicher 4 Warning: ebd., S. 38. 5 Das gilt auch für das Verhältnis von Komik und Satire. Warning postuliert dazu:
„Komödiantisches Spiel ist von Haus aus keine Form satirischer Bloßstellung, sondern es konstituiert eine Welt der Heiterkeit, der Unvernunft und der Tollheit, die sich ausgrenzt aus der Welt des Ernstes und auf seine Kosten lebt.“ „Allemal erscheint das gesellschaftliche Moment als Ermöglichungsmoment komischen Gegensinns, über dem die satirische Intention aus dem Blick geraten muß.“ (Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. – In: Das Komische, S. 279–333, hier S. 325 u. 324) Unsere Interpretation des Molièreschen Avare – auf den auch Warning sich bezieht – vermag diese Hierarchisierung nicht zu stützen (vgl. oben 3.3.1). Eine komödientheoretische Unterfütterung dazu bietet Andreas Mahlers Auseinandersetzung mit Warning, vgl. Soziales Substrat, Komik, Satire, Komödie, bes. S. 268: „Es wäre zumindest denkbar, daß ein Autor so, wie er das Soziale nutzt, um damit eine Komödie zu fundieren, gleichermaßen die Form der Komödie nutzt, um Soziales in bestimmter, (womöglich) kritischer Absicht präsentierbar zu machen.“ Implizit eine Kritik an der Warningschen Bestimmung der Komödie vom ungebundenen Spiel her nimmt jetzt auch Christian Neuhubers Studie über das Ernstwerden der Gattung im 18. Jahrhundert vor – ‚Ernst‘ verstanden als Problemgehalt für den Zuschauer (vgl. Das Lustspiel macht Ernst, S. 107–109). 6 Als eine Typologie tropologischer Aneignungen lebensweltlicher Spielformen durch das spanische Schauspiel des 17. Jahrhunderts vgl. Nitsch: Barocktheater als Spielraum, S. 10–108.
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aus, je vielfältiger die jeweiligen sozialen und kulturellen Funktionen des Spiel(begriff)s sind.
4.1.1 Weltdeutung, Handlungsmodell, Willkür – Typen des Spiels Man könnte hier einwenden, daß der Spielbegriff, wie er vorstehend (und im folgenden) verwendet wird, recht Unterschiedliches meint: Aktionen aus Willkür und Übermut; gesellige Veranstaltungen nach Regeln, entweder bloß zum Vergnügen und Zeitvertreib oder mit einem Gewinnzweck; Tätigkeiten, die keinerlei Anstrengung erfordern ebenso wie Wettbewerbssituationen. Nach unserem Untersuchungszeitraum ist das Spiel zudem als ästhetischer Begriff prominent geworden, der die Unabhängigkeit von Kunst und Literatur von normativen Verpflichtungen und Realitätsreferenzen sowie die fiktionale Eröffnung sonst nicht zugänglicher Erfahrungsräume bereichnet.7 Eine Definition des Spiels, die alle diese Bedeutungen auf einen Begriff brächte, dürfte nicht möglich sein.8 Was als spezifisch spielerisch gilt, wechselt vielmehr je nach Begriffsverwendung: die Freude an einer Tätigkeit – oder speziell an deren Absichtslosigkeit –, eine Interaktion nach Regeln, Unernst oder Willkür, Freiheit (des spielenden Menschen bei Schiller), Indeterminierbarkeit (des Spiels der literarischen Fiktion bei Iser). Diese teilweise widersprüchliche Vieldeutigkeit definitorisch durch ein Kriterium für ‚Spiel‘ zu ersetzen mag im Interesse eines präzisen Begriffsgebrauchs sinnvoll scheinen; historisch exakter ist jedoch ein Verfahren, das die verschiedenen Spielbegriffe und -metaphern nebeneinander stehen läßt. Zu beachten ist dann einerseits, daß die gemeinsame Benennung unterschiedlicher Phänomene als ‚Spiel‘ diese nicht gleichsetzt. So machen die teilweise mutwilligen Spiele auf der Komödienbühne keineswegs zwingend auch das theatrale Spiel zu einer
7 Vgl. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief; Iser: Das Fikti-
ve und das Imaginäre. Für Iser ist das Spiel eine „Struktur, die das Ineinander von Fiktivem und Imaginärem reguliert“ (S. 15), d. h. daß das als solches ungreifbare Imaginäre einerseits Gestalt gewinnt in der Fiktion und andererseits sich ihr immer wieder entzieht. Den literarischen Text nennt Iser „Spielraum“ (ebd.). 8 Vgl. die Kritik des trotz weit ausgreifender Verwendung auf den Agon verengten Spielbegriffs von Johan Huizinga (Homo Ludens) bei Alfred Liede: Dichtung als Spiel, S. 24–26. Danach läßt sich das Ludische weder auf Freiwilligkeit, Zweckfreiheit und Freude noch auf Regelhaftigkeit zentrieren. – Rosmarie Zeller resümiert ihren Überblick zum Spielbegriff so: „Allen Bedeutungen gemeinsam ist das Element der Freude“ (Spiel, S. 111). Ein Spezifikum des Spiels ist damit nicht benannt. Auf die strategischen Spiele des Politicus (s. unten S. 381f.) trifft Zellers Verallgemeinerung überdies nicht zu. Zum Bedeutungs- und Anwendungsspektrum des Spielbegriffs vgl. jetzt das Themenheft „Spiele/games“ der Zeitschrift figurationen (2004/1).
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normsprengenden Veranstaltung. Andererseits bringt die – u. U. metaphorisierende – Wahrnehmung unterschiedlicher Phänomene als Spiel diese durchaus in einen Zusammenhang. Seine Spannweite wiederum macht es lohnend, diese letzte Kapitelgruppe auf komödische Spielmomente zu konzentrieren. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden das Spiel und der Umgang damit sowohl in moralisch-rechtlicher, taktisch-pragmatischer, mathematisch-philosophischer und providentieller als auch in theatralischer Hinsicht diskutiert, vor allem am Ende des Zeitraums überdies als ästhetischer Begriff.9 In allen diesen Hinsichten wurde es für die Komödie relevant. Oder anders gesagt: aus allen diesen Funktionalisierungen bezog die Komödie ihr semantisches und soziales Potential. Aus lexikalischer Perspektive standen (1) Glücksspiele im Vordergrund, und es stellte sich die Frage, ob Spiele, mit denen man Zeit unnütz vertut und die die Gefahr von Betrug und Verlust bergen, überhaupt zuzulassen seien: „Unrechtmäßig“ sei, wenn man spiele, um die Zeit hinzubringen, welches wider die allgemeine Pflicht zur Arbeit wäre: oder wenn einige gar ein Handwerck daraus machten, deren Profeßion unehrlich, andern Handwerckern nachtheilig, den Gesetzen der Gesellschafft und dem Sinn des Evangelii zuwider wäre. Die rechtmäßige Absicht im Spielen sey, damit der ermattete Leib und die geschwächte Seele zu einiger Belustigung, Erquickung und Erholung Zeit finden möge.10
Zumal Glücksspiele um Geld wurden moralisch verurteilt, vor allem von protestantischen Autoren, wenngleich mit um 1700 abnehmender Schärfe. Denn hier bilde die Habsucht (avaritia) den Antrieb oder werde sie jedenfalls gereizt.11 Als im 18. Jahrhundert regelmäßig staatliche Lotterien veranstaltet wurden, teils für fiskalische, teils für karitative Zwecke (und dann häufig mit kirchlicher Unterstützung), galt das Gewinninteresse am Spiel hingegen als ausbalanciert durch den Nutzen, den es indirekt dem Gemeinwesen erbringt.12 9 Zur Literarischen Spieltheorie von Petrarca bis zur Romantik hat Stefan Matuschek
eine kompendiöse Studie vorgelegt. Ihr Schwerpunkt liegt in der Zeit um 1800. 10 Vgl. Zedler: Universal-Lexikon Bd. 38 (1743), Sp. 1624–1629, hier Sp. 1626, s. v.
Spiele. Der zitierte Abschnitt referiert die naturrechtliche Argumentation Jean Barbeyracs (Traité du jeu, Amsterdam 1709). Danach sind Glücks- und Gewinnspiele nicht prinzipiell, sondern nur bei ‚falscher Anwendung‘ zu beanstanden. Schärfer hingegen fällt – und dem mißt der Artikel höheres Gewicht bei – die theologische Spielkritik aus. Vgl. auch ebd. Bd. 18 (1738), Sp. 1023, s. v. ludus artis, ludus fortunae, ludus mixtus. Unproblematisch sind davon lediglich die „lud[i] artis, darinnen man sich allein durch die Kunst, der Tugend und Tapfferkeit wegen exerciret, und die Victorie bloß auf die Kunst ankommt“, z. B. Schach oder Fechten. Ähnliche Auffassungen des 17. Jahrhunderts belegt Zeller: Spiel, S. 147–149. 11 Vgl. Haase: Die Diskussion des Glücksspiels um 1700, S. 53–55. 12 Vgl. ebd., S. 56f. Die erste staatliche Lotterie fand 1530 in Florenz statt. Für die deutsche Aufklärung vgl. Albert: Corriger la fortune?, S. 118f. Dienten die erzielten Gewinne – des Veranstalters wie der Losverkäufer – nicht dem „gemeinen Besten“,
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Obwohl als Handlung nach festgelegten Regeln definiert,13 wurden vergnügende Spiele ebenfalls lange Zeit als Bedrohung der sozialen und moralischen Ordnung empfunden, so daß vor ihnen gewarnt werden oder man sie sogar verbieten mußte.14 Meinte ‚Spiel‘ nicht ‚nur‘ Karten-, Würfel-, Lotto-, ‚Sport‘- oder Denkspiele, so konnte es jedoch auch als normativ hochgeschätztes Modell der menschlichen Existenz, sozialer Interaktion oder gar des Weltsinns dienen.15 Den Gegenpol zum bloßen ludus bildete vor allem die schon mehrfach besprochene Vorstellung eines (2) theatrum mundi, auf dem die Menschen ihre Lebensrollen in Verantwortung vor Gott zu spielen haben.16 Zumal am Geld kommt die Gegensätzlichkeit beider Spielmodelle zum Ausdruck: Während Kartenspiele usw. in der Regel auf einen Geldgewinn zielen, entpuppt sich das Geld auf dem theatrum mundi als vergängliches Scheingut (vgl. unsere Analyse des Horribilicribrifax). Das Theaterspiel stellt das bekannteste, wenngleich keineswegs das einzige der auf Ordnung ausgerichteten Modelle des Ludischen dar.17 Theologisch fundiert ist außerdem die Spr 8,30 entlehnte Rede von der (3) göttlichen Weisheit, die auf der Erde spiele.18 In dieser metaphorischen Begriffsverwendung ist Gott nicht nur der Regisseur oder Zuschauer des menschlichen Lebensspiels, sondern selbst Mitspieler des Weltgeschehens, entweder in
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galten Lotterien dagegen als moralisch bedenklich, vgl. Zedler: Universal-Lexikon Bd. 18 (1738), Sp. 564–573, hier Sp. 565, s. v. Lotterie. Vgl. Zedler: ebd. Bd. 18 (1738), Sp. 1022, s. v. Ludus: „ein Spiel, ist ein zur Ergötzlichkeit angesetzter Actus oder Handlung, da zwey oder mehrere Persohnen wegen des Siegs spielen, und daß dem Siegenden Theil das zu komme, was deswegen ist aufgesetzt worden.“ Vermutlich deshalb hat Zedlers Universal-Lexikon eine nähere Erläuterung einzelner Spiele in den Art. Alea ‚versteckt‘ (Bd. 1 [1732], Sp. 1108–12). Geboten wird hier, philologisch rekonstruiert, das Spielerepertoire der Antike, doch offensichtlich in aktuell-apologetischer Absicht, da am Ende auf „ehrbare Männer“ verwiesen wird, die „zur mäßigen Gemüths-Ruhe, und vergönnetem Zeit-Vertreib ihr Vergnügen im Spielen suchen“ (Sp. 1112). Zur Spielkritik in Lebensführungs- sowie kameralistischen Schriften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Fiederer: Geld und Besitz, S. 311–318. Vgl. die „12. Auslage: Allerhand Karten-Spiel und Würfel“ in Neiner: Curioser Tändel-Marckt Bd. 1, S. 156–166, hier S. 156: „Das Spielen selbst ist etwas gemeines, [...] der Mensch selbsten ist ein lauteres Spiel“. Vgl. Gryphius: Gesamtausgabe Bd. 1, S. 58 (Sonette. 1. Buch, XLIII. Ebenbildt vnsers lebens, Vv. 1f., 12): „DEr Mensch das spiel der zeit / spielt weil er alhie lebt. [/] Im schaw-platz dieser welt; [...] [/] Spilt den dis ernste spiell: weil es die zeit noch leidet.“ Zuletzt dazu sowie aus spieltheoretischem Blickwinkel Nitsch: Barocktheater als Spielraum, S. 67–74. So der Zielpunkt auch des bereits zitierten Zedler-Artikels: Universal-Lexikon Bd. 38, Sp. 1628, s. v. Spiele. Direkt aus dem „Ernstlichen Welt-Spihl Der Göttlichen Weisheit“ wird der theatrum-mundi-Gedanke in der Perioche des Jesuitenspiels Vitæ humanæ fabula (Augsburg 1691) abgeleitet, vgl. Szarota: Jesuitendrama Bd. 1,1, S. 127f.
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einem speziellen trinitarischen Sinn, weil das ‚kindliche‘ Spiel der Weisheit auf den in die Welt gekommenen Gottessohn und Erlöser bezogen wird,19 oder in dem allgemeineren providentiellen Sinn, daß sich vor den Menschen das „Wunder-Spihl“ der „Göttlichen Vorsichtigkeit“ vollziehe20. Selbst die sprichwörtliche Hand Gottes kann mit ludischen Vorstellungen verknüpft werden und ist dann als „die spihlende Hand [...] des Ober-Spihlmeisters“ gedacht, die „dein angefangenes Traur-Spihl“ in eine „Comödi oder FreudenSpihl“ wendet.21 Daß sie „immer die Hand mit im Spiele“ habe, ist bis Mitte des 18. Jahrhunderts geradezu Kennzeichen der „göttlichen Vorsehung“.22 Mit dem theologischen Spielbegriff sind wir deutlich über die anthropologische Spieltetrade von Caillois hinausgegangen. Zumindest für eine Untersuchung zur Frühen Neuzeit ist das unabdingbar. Der zuletzt erläuterte theologische Spielbegriff fügt der Cailloisschen, von Warning und Iser23 aufgegriffenen Tetrade aber nicht nur eine religiöse Dimension hinzu, sondern auch das Moment der Harmonie als möglicher Semantik des Spieles. Dieses Moment nicht zu übergehen empfiehlt sich sowohl von der Gattung Komödie her (mit ihrem in der Regel versöhnenden Schluß) als auch mit Blick auf die allgemeine ästhetische Theorie (zumal anthropologischer Provenienz): Schiller bestimmte die Schönheit, die den ‚Spieltrieb‘ des Menschen wecken soll, als „Harmonie von Gesetzen“.24 Man mag hierin gespiegelt sehen, daß der Kunst um 1800 das Erbe der Religion zugedacht war. Die ästhetische Lust sah indessen auch Kant durch die „Harmonie der Erkenntnisvermögen“ ausgelöst, welche die Anschauung des Schönen in ein „freies Spiel“ versetze.25 Weniger eine vorgegebene als eine aktiv zu gestaltende Ordnung setzen solche Verwendungen der Spielmetapher an, die nicht die Abhängigkeit des Menschen von einer spiellenkenden Instanz, sondern dessen eigene ludische Kompetenz herausstellen: „In der gängigsten Version dieser Metaphernverwendung bildet die Tätigkeit des Schauspielers den Musterfall einer strategi19 Vgl. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, S. 511 (Originalpag. S. 467): Die
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göttliche Weisheit spielt vor Gott um „anzuzeigen, daß GOtt der Vatter von Ewigkeit her ein hertzliches Wolgefallen an seinem Eingebornen Sohne gehabt / wie ein Vatter / wann sein liebes Kind für ihm spielet / desselben Freude und Lust auf Erden ist.“ So Schmid: Die spihlende Hand Gottes, [S. 3 der] nicht pag. Dedicatio an den Hl. Philemon. Zum Auftritt der Divina Providentia in jesuitischen Dramen vgl. Rädle: Gottes ernstgemeintes Spiel, S. 146–148. Daran knüpft noch Schilsons Deutung des Nathan als eines „‚Spiels der Vorsehung‘ [...], in dem sich allmählich eins ins andere fügt“, an („... auf meiner alten Kanzel, dem Theater“, S. 38). Schmid: Die spihlende Hand Gottes, Dedicatio [S. 2]; vgl. Zeller: Spiel, S. 139–143. So bei Gottsched: Akademische Vorlesung, S. 404. Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 445–468. Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 18. Brief – NA 20, S. 367. Kritik der Urteilskraft A 29 – Werke Bd. 5, S. 296.
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schen Selbstinszenierung im gesellschaftlichen Verkehr, die auf der Herrschaft über sich selbst beruht und die Herrschaft über andere sichert.“26 Inbegriff eines solchen Schauspielers ist der (4) Politicus: Nicht Gott ist nunmehr der entscheidende Beobachter, es sind die Menschen selbst, die sich und andere bzw. sich in Beziehung auf andere ins Visier nehmen. Dabei rückt der Akzent von Determination auf Freiheit: Die zu spielende Rolle ist zwar möglicherweise eine aufgegebene, nämlich providentiell vorherbestimmt, doch erscheint dem politicus als faber fortunae politicae deren Um- und Neugestaltung, ja die Wahl anderer Rollen kaum als sündiges Vergehen, ganz im Gegenteil. Decorumbezogene proteische Flexibilität ist Kardinaltugend des politicus, welche sich einer allgemeinen und prinzipiellen inhaltlichen Festlegung entzieht.27
Derartig „auf Mobilität zu setzen“ heißt, daß sich der einzelne gesellschaftlichen Aufstieg ‚erspielt‘. Da dieser Aufstieg im Rahmen der gegebenen Sozialordnung konzipiert wird, gerät jedoch nicht die Gesellschaft insgesamt in Bewegung. Und nicht nur makrosozial ist die ludische Dynamik eine eingehegte; auch mikrosozial zielt die Ambition des Politicus auf möglichst weitgehende Beherrschung des interaktionellen Spiels. Erst dies macht verständlich, daß die Einübung in das ‚politische‘ Selbstbehauptungsspiel zum Inhalt und Zweck des Schultheaters wurde, und zwar des protestantisch-humanistischen (wie es im Zusammenhang mit Weise erläutert wurde) wie des jesuitischen (vgl. Masen), so daß „der gerne beschworene Doppelsinn des Wortes ludus, Spiel und Schule, erstmals weitreichende institutionelle Geltung“ erlangte.28 Der Spielbegriff des theatrum mundi wird in der Forschung üblicherweise als „Restauration mittelalterlicher Denkweisen“ gekennzeichnet, während das ‚politische‘ Spielkonzept als „vorwärtsgewandter Versuch der Krisenbewältigung“ zu verstehen sei.29 Für die Adaption der Verkleidungs- und Verstellungsmotive des politischen Spiels in Blümels ‚Haupt- und Staatskomödie‘ konnten wir eine solche Progressivität nicht bestätigen, denn deren Modellierung politisch-schauspielerischen Verhaltens erfolgte unter der Voraussetzung einer statisch gegebenen und erkennbaren Ordnung (vgl. Kap. 2.3.2). Die folgenden Analysen hingegen schließen sich jener historischen Sequenzierung an, wenn sie in Kap. 4.3.1/2 die weltbildliche und anthropologische 26 Nitsch: Barocktheater als Spielraum, S. 74f. 27 Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 98. Das folgende Zitat ebd., S. 99. An das
‚politische‘ Spielkonzept schließen im 20. Jahrhundert die mathematische und wirtschaftswissenschaftliche Spieltheorie als „allgemeine Theorie des rationalen Entscheidens unter Bedingungen strategischer Interdependenz der Akteure“ an (R. Hegselmann: Spieltheorie – HWPh 9, Sp. 1392–96, hier S. 1392, im Orig. hervorgehoben). 28 Nitsch: ebd., S. 75. 29 Ebd., S. 74. In diese Richtung weist auch Barner: Barockrhetorik, S. 131, ebenso Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 80.
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Unsicherheit herausstreichen, aus der heraus das Politicus-Ideal entstand. Das im frühen 18. Jahrhundert entwickelte Konzept einer ‚Privatpolitik‘ wird hier als Moment einer neuartigen gesellschaftlichen Dynamik ausgewiesen. Die Komödie nahm die Tendenz zum strategischen Spiel sowohl über ihre Zweckbestimmung in bestimmten Theaterinstitutionen auf (will sagen, daß ihr moraldidaktischer Zweck strategisch geschickt zu verfolgen war) als auch in ihre Handlung, nämlich als Ausbildung von Intrigenplots (die ebenfalls moralpädagogisch funktionalisiert sein konnten): Erst um 1700 gewann die ‚politische‘ Handlungsstruktur, daß eine Figur ihre ‚Mitspieler‘ ohne deren Wissen zu einem gewünschten Ergebnis zu lenken versucht, dergestalt Raum in der deutschsprachigen Komödie, daß diese Intrige die Handlung weitgehend beherrschte und deren guten Ausgang bewirkte.30 Eine solche Intrigenhandlung fanden wir unter den bisher besprochenen Stücken lediglich in Masens Ollaria; die nachfolgend zu besprechenden Stücke hingegen weisen, beginnend mit dem Verschwender (vgl. Kap. 4.3.3), sämtlich mehr oder weniger stringente Intrigen auf. Am konsequentesten ausgebildet sowie am erfolgreichsten ist die komödische Intrigenhandlung auffälligerweise dort, wo am unmittelbarsten um Geld und Gut ‚gespielt‘ wird. Folgerichtig ist diese Koinzidenz, weil ökonomisches Handeln als Muster für Möglichkeit wie Notwendigkeit strategischer Kalkulation galt. Allerdings ist die handlungslenkende Intrigantin im Verschwender, den die Gottschedin aus dem Französischen übersetzte, weit weniger an sozialen Statusgewinnen interessiert denn als Agentin der göttlichen Gerechtigkeit profiliert (vgl. Kap. 4.3.4). Demnach hätte das menschlich-strategische (4) das göttlich-providentielle Spiel (2 und 3) nicht einfach abgelöst (erinnert sei an die einleitende Analyse des Nathan). Vielmehr führt Luise Gottscheds Komödie vor – und ähnliches gilt auch für die weiterhin zu analysierenden Stücke –, daß die Frage aktuell blieb, welche Handlungsmacht einerseits dem einzelnen zukommt und mit welchen transindividuellen Sicherungen eines guten Spielverlaufs andererseits zu rechnen ist. Die Spiele der Komödie eignen sich für Inszenierungen dieses Problems besonders gut, da ihr Handlungssyntagma weniger als das der Tragödie auf die Illusion eines vollständig
30 Levinstein: Christian Weise und Molière, S. 23 hat Christian Weises Vom Verfolgten
Lateiner von 1696 das erste „technisch wohlgelungene Intrigenlustspiel“ genannt. Mit Verweis auf vereinzelte Vorläufer, Gryphius’ Verlibtes Gespenste (1660) und Kaspar Stielers Betrogenen Betrug (1665), relativiert Walter Hinck diese Einschätzung, doch hebt er gleichfalls die besondere dramaturgische Leistung hervor. Denn Weise habe nicht nur ein „Intrigen-Schema“ aufgegriffen, sondern es in einen spezifischen sozialen Kontext eingebettet (vgl. Das deutsche Lustspiel, S. 138). Zum Verfolgten Lateiner als ‚Geldkomödie‘ vgl. Verf.: Falsches Kleid und bare Münze, S. 40–46.
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aus Intentionen und Aktionen erklärbaren Geschehens verpflichtet ist,31 so daß in ihrer Verwebung von subjektiven Anstößen und systemisch bestimmten Resultaten die Lücken zwischen beidem offenbar werden können. Ein Spieler im zuerst erläuterten Wortsinn – also ein Glücksspieler – ist dagegen die Titelfigur des Verschwenders. Die Komödie der Gottschedin ist nicht die einzige der Zeit, die satirisch davor warnt, daß manische Glücksspieler sich in Armut und Unglück bringen, weil sie ihrerseits zum Objekt eines Spiels werden, dem sie sich nicht mehr entziehen können. So wurden dem Joueur Jean François Regnards von 1696 gleich vier Übersetzungen ins Deutsche zuteil.32 Der Glücksspieler scheint ein Lastertyp ähnlich wie der Geizige zu sein, überdies mit besonderer Eignung zur Komödienfigur, weil man ihn gut ‚ausspielen‘ kann. Eben dies tut die tugendhafte Gegenspielerin im Verschwender – und zwar indem sie sich ebenfalls an den Spieltisch setzt!33 Nahe lag diese glücksspielerische Konfrontation der Antagonisten, da Spielgewinne bzw. -verluste einzigartig schnelle Transaktionen (in finanzieller Hinsicht) und Glückwechsel (in dramaturgischer) bedeuten. Anders als es beim Geiz der Fall ist, läßt sich das schlechte Spiel durch ein gutes, nämlich von leidenschaftsloser Vorsicht, bekämpfen. Trotzdem sind Würfel, Roulette und Karten moralisch prekär, ja sie rühren an die göttliche Vorsehung. Ob jeder einzelne Würfelwurf (bei dem menschliche Geschicklichkeit offensichtlich nichts beeinflussen kann) von Ewigkeit vorherbestimmt sei, war um 1700 eine theologische Streitfrage von einiger Bedeutung. Denn wenn sie bejaht wurde, drohte auch sonst kein Raum für die menschliche Freiheit zu bleiben; wenn sie zu verneinen war, stand die göttliche Providenz insgesamt in Frage.34 Die völlige Unkalkulierbarkeit des Glücksspiels warf das Problem der Zukunftsunsicherheit nicht bloß punktuell, für den einzelnen Spieler und die konkrete Spielsituation auf, sondern in metaphysischer Dimension. Doch stellte das Glücksspiel (Spiel 1) nicht nur eine Provokation der göttlichen Weltordnung (Spiel 3) dar, sondern konnte auch umgekehrt als Modell für deren Erweis dienen: Unsicherheit ist für den jansenistischen Philosophen und Mathematiker Blaise Pascal (1623–1662) eine Grundbefindlichkeit des 31 Vgl. Pape: Comic Illusion and Illusion in Comedy, S. 234f. 32 Vgl. Fritz: Der Spieler im deutschen Drama des achtzehnten Jahrhunderts, S. 22. Ebd.,
S. 24 sowie bei Fiederer: Geld und Besitz, S. 172 sind außerdem weitere Spielerkomödien genannt. 33 Vgl. [Luise Adelgunde Viktorie Gottsched:] Der Verschwender, oder die ehrliche Betrügerinn. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. – In: Gottsched (Hrsg.): Die deutsche Schaubühne Bd. 3, S. 63–194, hier S. 170–173 (IV,10–V,2). Glücksspielszenen auf der Bühne gibt es wohlgemerkt keine, sondern es wird von dem off stage ablaufenden Spielgeschehen erzählt. 34 Ausführlich entwickelt dies, mit Bezug auf französische Theologen, Haase: Die Diskussion des Glücksspiels um 1700.
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Daseins, die alles erfaßt, selbst die Existenz Gottes und seiner Vorsehung, die im ewigen Leben einen gerechten Ausgleich für das diesseitige bereithalten soll. Eine Antwort auf die Gottesfrage vermag Pascal lediglich in Form einer Wette zu geben: Wer auf die Existenz Gottes wettet, könne unendlich viel gewinnen (nämlich ein viel größeres Leben als das diesseitige), aber nichts verlieren, da das diesseitige Leben ohnehin von Zweifel und Unruhe zerfressen wird.35 In Pascals Argumentation nimmt nicht nur der Gottesbeweis die Form eines „Spiels“ an, sondern das Leben selbst wird zum Wagnis eines Spieleinsatzes („hasarder votre vie“). Dieser existentiellen Unsicherheit gibt das Glücksspielmodell zugleich freilich eine positive Wende, die neuen Optimismus induziert. Denn der Ausgang der Wette auf Gott ist nicht völlig offen, obwohl die Vernunft keine Entscheidung über Gottes Existenz fällen kann. Wer auf Gott ‚wettet‘, hat einen Gewinn gewiß: Selbst wenn sein Einsatz sich als falsch herausstellen sollte, wird sein Glaube ihm ein besseres, nämlich friedvolleres und befriedigteres Leben geschenkt haben.36 Anders gesagt: So zu handeln, als ob es gewiß sei, daß der Welt eine göttliche Ordnung unterliegt, verhilft dazu, daß diese Ordnung erfahrbar wird. In der deutschen Komödie finden wir dieses Paradox noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausagiert (vgl. Kap. 4.6.1/4 über Minna von Barnhelm): Das Wissen um den Mangel an existentieller Gewißheit zeigt sich hier fester denn je verbunden mit der Bereitschaft, um sein Glück zu spielen, und dem Vertrauen in einen guten Ausgang – der dann auch tatsächlich zustande kommt. Pascal hat in der Geschichte der Spielkonzepte noch in einer weiteren Hinsicht eine wichtige Stellung inne, denn der spieltheoretisch durchgeführte Gottesbeweis der Pensées begründete zugleich die Wahrscheinlichkeitstheorie.37 Im 18. Jahrhundert organisierten wahrscheinlichkeitstheoretische Berechnungen dann ein breites Spektrum finanzieller Praktiken als „Management des Risikos“, von Versicherungssummen und -beiträgen über Lotterien bis hin zur Beteiligung an Wirtschaftsprojekten.38 Inwiefern auch die Literatur der Aufklärung von probabilistischen Denkmustern geprägt wurde, hat Rüdiger Campe kürzlich mit Bezug auf den Roman und dessen Umgang mit dem Zufall dargelegt.39 Aus dem philosophischen Wahrscheinlichkeitsbegriff 35 Vgl. Priddat: Die Einführung der Unsicherheit in der Moderne, S. 420f. Die folgenden
Zitate ebd., S. 419 u. 421. 36 Vgl. das Zitat aus J. T. Durkin, A. M. Greeley: A Model of Religious Choice under
Uncertainty. – In: Rationality and Society 3 (1991), S. 178ff., hier S. 185 bei Priddat: ebd., S. 421 Anm. 10: „even if you are wrong, you will still be able to achieve the greater peace and contentment associated with a positiv faith choice.“ 37 Vgl. Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit, S. 75. 38 Ebd., S. 12; vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 161f., 165–169. 39 Campe verfolgt Interferenzen zwischen mathematischer Wissenschaft und philo-
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leitet er überdies den selbstreferentiellen ‚Schein der Wahrheit‘ ab, zu dem sich die Literatur um 1800 bekannte. – Eine Gattung, die den Zufall kultiviert, ist auch die Komödie. Ihre Spiele allerdings sind nicht wahrscheinlichkeitstheoretisch berechenbar gemacht: Versucht der ‚politische‘ Intrigant immerhin eine Berechnung aus Menschenkenntnis, so überlassen sich andere Spielerfiguren durchaus ungeschützt dem Zufall. Auf die Wirklichkeit, an die sich anzunähern die Probabilistik dient,40 ist die Komödie offensichtlich anders bezogen als der Roman: Je freier sie ihr Spielmoment zur Geltung bringt, desto offenkundiger handelt es sich einerseits um ein Spiel speziell der Komödie, d. h. ohne Anspruch, ein Modell der Erfahrungswelt zu geben. Insofern nimmt das Komödienspiel das Prinzip literarischer Autonomie vorweg und kann als Gestaltung von Imaginärem im Sinne von Isers Spielbegriff gelten (mehr dazu in Kap. 4.6.3/4). Indem dem Komödienspiel zugleich ein Vertrauen darauf eingeschrieben ist, daß alles „gutt [...] enden“ wird (um mit Riccaut eine weitere Spielerfigur Lessings zu zitieren),41 fungiert es andererseits freilich doch als Weltmodell, wenngleich nicht als berechnendes, sondern als eines vom Geist der Pascalschen Wette.
4.1.2 Zur soziomentalen Funktion komödischer Spiele Erwartungen providentieller Erfolgssicherung stärkt die Komödie, das sei vorweggenommen, ziemlich durchgängig. Von ‚realistischen‘ Diskursen über die Resultate der Geld- bzw. Marktwirtschaft setzt sie sich dadurch nur vordergründig ab, denn implizit werden solche Erwartungen auch dort gepflegt. Wie u. a. an Adam Smith zu zeigen ist (vgl. Kap. 4.4.1/2), grundiert eine mit Theatermodellen verbundene Providenzerwartung selbst die avancierteste Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie, wo diese antritt, das Zusammenstimmen der egoistischen Interessen vieler einzelner zum Gedeihen des Ganzen wahrscheinlich zu machen. Es gilt demnach, einen komplexen, weil mehrfach wechselseitigen Austausch zwischen komödisch-theatralem Spiel und lebensweltlichen bzw. weltbildlichen Spielbegriffen zu verfolgen, ähnlich wie wir im eingangs die Theatralik des Bühnenspiels als Präsentation und Steigerung lebensweltlich theatralischer Interaktionen bestimmten (vgl. Kap. 1.3.2). Zu beachten ist – sophisch-rhetorisch-literarischen Formulierungen des Wahrscheinlichkeitsproblems. Dabei hebt er zunächst die rhetorisch-philosophische Basis der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie hervor (z. B. bei Pascal), um Statistiken und Zufallskalküle dann als neue Organisationsprinzipien des Romans auszuweisen. 40 Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 162. 41 Lessing: Minna von Barnhelm – Werke Bd. 1, S. 605–704, hier S. 667 (IV,2).
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zum einen – die stets sowohl ästhetische als auch pragmatisch-weltbildliche Bedeutsamkeit der verschiedenen Spieltypen: Hatte das Theater seine Spiel-, Rollen- und Beobachtungsstruktur der barocken Daseinsdeutung als Weltmodell vermittelt, so finden wir zunächst eine Rückübernahme, wenn es, wie im Horribilicribrifax, eine dramatische Handlung als theatrum mundi gestaltet (vgl. Kap. 2.4.3). Ebenso verweisen strategische Spielkonzepte und die Komödie wechselseitig aufeinander, wenn der Politicus als „Comoedianten“42 bezeichnet wird, während komödische Handlungsmuster als Intrigen verlaufen. Mit derselben Interferenz bezeichnet Masens Ollaria die geglückte Intrige als „comœdia“43 und verwendet den Spielbegriff sowohl für die Intrigen auf der Handlungsebene als auch für die theatrale Aufführung (ludus, ludere; die Intrigen fallen zudem unters deludere, ‚täuschen‘). Indem der Politicus anderen auf die Schliche zu kommen strebt, selbst hingegen nicht durchschaut werden will, aufgrund seiner Beobachtungen sodann zu handeln und die anderen zu lenken versucht, befindet er sich quasi in einer theatralischen Situation. Ein besonderes ist dieses lebenspraktische Theater freilich darin, daß alle Beteiligten idealerweise zugleich auf der Bühne agieren und die anderen (und sich) aus dem Zuschauerraum beobachten – was sich indessen nur als permanenter Wechsel der Position, mithin nur annäherungsweise realisieren läßt.44 Ein fester Standpunkt ist damit nicht nur in diesem theatralischen Modell, sondern auch weltbildlich unmöglich geworden, denn Entscheidungen lassen sich unter solchen Bedingungen nur noch nach Wahrscheinlichkeit und Erfahrung treffen.45 Das konkrete Theater der Komödie wiederum kann entsprechende Verwirrungen auf die Bühne bringen und etwa durch Spiel-im-Spiel-Strukturen oder Verkleidungen akzentuieren. Allerdings ist es im 18. Jahrhundert noch nicht üblich, dem potentiellen realen Zuschauer den Wissensvorsprung zu nehmen, der ihm ein sicheres Urteil über die Absichten und die Moralität der Figuren erlaubt (anders verfährt erst
42 [Caspar Gottschling:] Des [...] Balthasaris Graciani Criticon [...]. T. 1–3. Frankfurt,
Leipzig 1710, T. 3, S. 128, zit. nach Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 120f. „Comœdiant“ kann jeden Schauspieler, nicht nur den der Komödie, bezeichnen. Da der Politicus persönliche, partikulare Zwecke verfolgt, ähnelt er in jedem Fall aber mehr der Komödienfigur als dem Tragödienhelden. 43 Masen: Ollaria. – In: ders.: Palæstra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica Pars III, S. 130– 167, hier S. 149: „Auro herculè tragœdiam lusimus, sed quæ denique / Evasit in comœdiam“ [Wir haben, beim Herkules, Tragödie mit dem Gold gespielt, aber eine, die schließlich auf eine Komödie hinauslief]. 44 Wohingegen der Mensch auf der Bühne des theatrum mundi sich auf seine vorgegebene Rolle konzentrieren kann und lediglich einmal die Position des Zuschauers eingenommen haben sollte, um zu erkennen, an welchem Spiel er beteiligt ist. 45 Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 115.
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Minna von Barnhelm, vgl. unten Kap. 4.6.1).46 Der Relativismus und die, so Ursula Geitner, „Dynamik“, welche die ‚unendliche‘ Theatralität des ‚politischen‘ Handlungsmodells impliziert,47 haben die Komödie seit Christian Weise immer wieder herausgefordert und ihren typischen Handlungsmustern einen neuen Problemgehalt verliehen; sie sind aber zugleich eingehegt worden, dramaturgisch (wie in Kap. 4.3.3 erläutert wird) ebenso wie durch die realiter starre Trennung von Bühne und Zuschauerraum. „Von der bevorstehenden Handlung“, empfahl Lessing, sollten die Zuschauer „eben so viel wissen, als nur immer ein Gott davon wissen konnte“.48 Hinsichtlich der überlegenen, die Unsicherheit der ‚politischen‘ Weltsicht aufhebenden Übersicht des Zuschauers über das Bühnengeschehen ändert sich bis Mitte des 18. Jahrhunderts kaum etwas an der anläßlich des Horribilicribrifax bereits beschriebenen Situation (vgl. oben S. 146). Auch in manchen der nachfolgend analysierten Texte finden wir Politicus-Muster, die von einer theatrum mundiStruktur unterfangen sind. In diesem Sinne geht es – zum anderen – um Verwebungen der verschiedenen Spieltypen, im angedeuteten Fall etwa um die Absicherung strategischintriganter Rollenspiele durch die Annahme eines darüber hinweggehenden oder wachenden göttlichen Spiels bzw. struktureller Äquivalente. In die pragmatische Differenz zwischen beidem integriert die Komödie gern diejenigen Spiele, die normativ wenig gelten, etwa Glücksspiele sowohl der zulässigen (Lotterien) als auch der unzulässigen Art (exzessives Spiel um Geld) oder die Mutwilligkeiten der Hanswurst- und Dienerfiguren; d. h. solchen Spielen werden die Zufälle überantwortet, die den guten Ausgang herbeiführen. Der komödische Umgang mit dieser Integration kann wiederum affirmativ sein, wenn vielleicht auch ironisch (so im Verschwender, in Gellerts Loos in der Lotterie und in Krügers Candidaten), also die Zufälle des Glücksspiels in Harmonie mit dem göttlich-providentiellen Spiel zeigen. Oder er kann kritisch-reflexiv sein, nämlich die Heterogenität der Spieltypen herausstellen, an deren Zusammenspiel sich die Erwartung eines guten Ausgangs knüpft (diese letztere Variante prägt Minna von Barnhelm). Eine analytische Leistung erbringen viele Gattungsvertreter aber nicht nur in bezug auf ihre eigene 46 Vgl. Lessings von Diderot übernommene Forderung: „Für den Zuschauer muß alles
klar sein. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es gibt hundert Augenblicke, wo man nichts bessers tun kann, als daß man ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen soll.“ (Hamburgische Dramaturgie, 48. Stück – Werke Bd. 4, S. 453) Die Beobachterposition des Zuschauers im Theater spielte bereits bei unserer Horribilicribrifax-Interpretation eine entscheidende Rolle, vgl. oben S. 149. 47 Geitner: ebd. 48 Hamburgische Dramaturgie, 48. Stück – Werke Bd. 4, S. 455. Weitere Belege bei Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns, S. 62.
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Verlaufsstruktur, sondern auch hinsichtlich entsprechender Spielmodelle ihrer Umwelt. Daß die Komödie neuralgische Punkte gerade auch der jeweiligen ökonomischen Mentalität zutage treten läßt, konnten wir dementsprechend wiederholt beobachten. Sofern von einem kritischen Potential des Komödienspiels zu sprechen ist, sucht es die vorliegende Untersuchung vor allem in dieser (Kontext-)Reflexivität. Eine „Dominanz“ der „Unvernunft“, die „frei und feiernd als komische Gegenwelt ausgespielt wird“, wie Warning schreibt,49 finde ich lediglich in einer Minderheit von (deutschsprachigen) Komödien. In unserem Korpus vertreten eine solch normenthobene Unvernunft fast nur die komischen Figuren der Wanderbühne oder Stegreifnachfolge, also der Pickelhäring bei Blümel sowie der Hanswurst bei Hafner.50 Die strenge und statische Ordnung, welche die fürstlichen Figuren und überhaupt die symmetrische Figurenkonstellation in Blümels ‚Haupt- und Staatskomödie‘ verkörpern, wird vom Pickelhäring gleichwohl nur umspielt, d. h. ebensowenig verunsichert wie durch die zahlreichen Verkleidungsintrigen (Kap. 2.3). Auffällig ist die komische Figur zudem in Schochs dramatischer Mahnung zum fleißigen Studium (Pickelhering). Hier lebt sie in der Tat von Lizenzen zur ‚Unvernunft‘, die jedoch moralistischer Bewertung – und das heißt schlußendlich: Bestrafung – unterliegt. Attraktiv für die Zuschauer mögen auch viele Ränke der höhergestellten ‚lasterhaften‘ Figuren gewesen sein wie etwa das erotische Verkleidungsspiel des Herrn von Zierfeld in der Ungleichen Heirath (vgl. oben S. 204). Von ‚dominanter Unvernunft‘ kann man jedoch kaum sprechen, wenn solche Verkleidungsspiele den Sieg der Tugendfiguren herbeiführen, weil sie sich selbst zu Fall bringen. Ohnehin ist fraglich, ob autonome Spiele durchweg als unvernünftig zu gelten haben (zur möglichen Funktionalität spielerischer Autonomie vgl. Kap. 4.5 über Krügers Candidaten). Lessing schließlich weiß Momente der Mutwilligkeit im Dienste der Komplexitätssteigerung seiner Figuren einzusetzen, wenn er Minna mit einer genuinen „Lust“ ausstattet, Tellheim „so grausam zu necken“, daß ihrer Dienerin Bedenken kommen, und sie überdies eine Spielgemeinschaft mit dem Blender Riccaut schließen läßt.51
49 Rainer Warning: Theorie der Komödie. Eine Skizze. – In: Theorie der Komödie –
Poetik der Komödie, S. 31–46, hier S. 35f. 50 Zur Lebensweltlichkeit der unvernünftigen Gegenweltlichkeit von Christian Reuters
Komödien gleich anschließend (S. 390) und im nächsten Kapitel mehr. 51 Lessing: Minna von Barnhelm – Werke Bd. 1, S. 605–704, hier S. 672 (IV,3), vgl.
S. 668f. (IV,2). Immerhin ermahnt Minna sich am Ende ihres Spiels: „Ich habe den Scherz zu weit getrieben.“ (S. 700, V,11)
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Eine Differenzierung der Warningschen Sicht hat Wolfram Nitsch vorgenommen. Mit Bezug auf das spanische Barockdrama arbeitet er ein kritisches, ja subversives Potential der Komödie heraus, das auf deren Spielmomenten – genauer auf der „konstitutiven Unbeherrschbarkeit des Spiels“52 – beruht. Von einer weitgespannten Spieltheorie ausgehend, führen Nitschs Textanalysen vor, wie die comedia Lope de Vegas und Tirso de Molinas „mit Vorliebe entfesselte, wenn nicht gar folgenschwer entgleisende Spiele in Szene“ setzt: „Dazu gehören vor allem Rollenspiele und Schauspiele zweiten Grades, aber auch metonymisch oder metaphorisch mit ihnen verschränkte anderweitige Spiele. So ergibt sich eine fiktionale spielerische Dynamik, die jene kulturell ausdifferenzierter und regulierter Einzelspiele weit übersteigt.“53 Wie Warning versteht Nitsch bereits das Spiel an sich als undiszipliniert und undisziplinierbar, doch verortet er die „ludische Dezentrierung“ der comedia nicht unmittelbar in diesem Substrat, sondern in dessen spezifisch theatralischer Aneignung, welche die Spielformen, die in anderen Diskursen als Ordnungsmuster dienen, ‚taktisch‘ gegen solche ‚Strategien‘ wende.54 Zwar laufe „das taktische Spiel des Theaters mit den strategischen Vorgaben des politischen und theologischen Welttheaters in der Regel auf ein versöhnliches Ende hinaus“, doch „entschärft oder löscht die relativ schematische Schlußharmonie der comedia nicht einfach die vorher thematische Störung der Ordnung.“ Hier und dort stellen sich solche Effekte des Spiels auch in deutschen Komödien ein; erinnert sei an unsere Analyse des komischen Spiels der Renzel und Flinckflecks in Weises Betrogenem Betrug, das die Normen sowohl der oeconomia divina als auch der Haus-Ökonomie unterläuft (vgl. oben S. 324ff.). Insgesamt dürfte die Unterscheidung von ‚strategischen‘ Spielen der gesellschaftlichen Institutionen und deren subversiv-‚taktischer‘ Aneignung durch das Theater für unsere Texte jedoch zu dichotomisch sein. Daß Thesen zum spanischen Theater, so allgemein spiel- und theatertheoretisch fundiert sie entwickelt wurden, sich nur eingeschränkt auf das deutsche übertragen lassen, ergibt sich fast von selbst, wenn man den geistes- wie realgeschichtlichen Rahmen berücksichtigt, in den Nitsch seine Analysen stellt: Die ludische Dezentrierung, die er nachzeichnet, reagierte auf den im barocken Spanien von einem absoluten Monarchen sowie einer einzigen Kirche getragenen Versuch, einer als krisenhaft erfahrenen Welt „wieder ein Zentrum zu
52 Nitsch: Barocktheater als Spielraum, S. 23. 53 Nitsch: Barocke Dezentrierung, S. 228. 54 Ebd.; vgl. Nitsch: Barocktheater als Spielraum, S. 22–26, 38–41, 108–118. Die fol-
genden Zitate ebd., S. 116. Die Opposition von ‚taktisch‘ und ‚strategisch‘ versteht Nitsch im Sinne Michel de Certeaus.
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geben“.55 Eine derartig zentrierende Macht hat es im sowohl politisch als auch konfessionell zersplitterten Reich nicht gegeben, und wenn später Gottsched versuchte, auf poetologischem Gebiet eine solche Zentrierung vorzunehmen, verfügte er dafür nur über vergleichsweise schwache Mittel. Von daher fehlte es einer konsequenten ludisch-komischen Subversion hierzulande an der nötigen Reibefläche. So fanden wir beim Blick auf das Wiener Volkstheater (Kap. 3.7.1/3), daß die dort tatsächlich dominante „komische Unvernunft“ (Warning) keine „gegenkulturelle Sprengkraft“56 gewann, weil die Welt, die jene Stücke zusammen mit ihrem Publikum ‚bewohnten‘, so weiträumig war, daß sie alles Anarchische in sich aufzunehmen vermochte – auch das „populäre Gegenwissen“ des Hanswurstes (das sich mit Nitsch jetzt als „elementare Taktik der gelegenheitsbezogenen Verstellung oder Verwandlung“57 charakterisieren ließe). Trotzdem kennt auch die deutsche Komödie undisziplinierte Spiele über die Aktionen des Hanswurstes oder Pickelhärings hinaus, also in der Handlung der ‚seriösen‘ Figuren. Besonders die nachfolgend analysierten Komödien Christian Reuters, Die Ehrliche Frau zu Plißine sowie Graf Ehrenfried, bauen sich gutenteils aus bloßen oder auch aggressiven Rollenspiel-Späßen und anderen moralisch bedenklichen Spieltypen wie dem Glücksspiel aus Gewinnmotiven auf. Der stets abgebrannte Graf Ehrenfried versucht sich sogar doppelt in und mit einem „Glücks-Topffe“, also einer Lotterie, und zwar in beiden Fällen leichtfertig und unüberlegt: zum einem indem er seine letzten Taler (für die er seinen Rock versetzen mußte), verspielt, zum anderen indem er selbst eine „Glücks-Bude“ eröffnet und auch dort „verspiel[t]“, da er mehr Lose mit Preisen als Nieten ausgegeben hat.58 Zumal im letzten Fall ist deutlich, daß sein eigenes Spiel ihm entgleitet und ihn überwältigt im Sinne der von Nitsch hervorgehobenen Gefahr des „Gespieltwerdens“.59 Keines dieser Spiele dient einem ‚guten‘, auf zwischenmenschlich-soziale Harmonie zielenden Zweck, wie es in den danach zu betrachtenden Aufklärungskomödien die Bedingung ist, die jedes Spiel erfüllen muß. Zudem sind Reuters Stücke Musterbeispiele für jene „dominante Paradigmatik“, von der her Warning die Komödie bestimmt, und also für den Primat der komischen Einzelszenen, deren dramaturgische Autonomie der formale Ausdruck „komischen Gegensinns“ sei (während der ‚syntagmatische‘ Handlungszusammenhang
55 56 57 58 59
Nitsch: Barocke Dezentrierung, S. 220. Ebd., S. 223. Nitsch: Barocktheater als Spielraum, S. 111. Vgl. Reuter: Graf Ehrenfried III,4, S. 64 sowie ebd., S. 65 u. III,6, S. 69. Nitsch: Barocktheater als Spielraum, S. 24.
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das Feld eventuell „sich durchsetzender Vernünftigkeit“ darstelle).60 Doch fallen weder die aggressiv-taktischen noch die übermütig-hedonistischen Spiele der Reuterdramen aus dem in ihrer Umwelt Tolerierten heraus; selbst Ehrenfrieds soziales Rollenspiel, dessen Scheinhaftigkeit zum Gegenstand satirischer Komik wird, hat dort ein Vorbild. Beide Stücke stützen sich derart auf sozial vorgegebene Formen der Normsuspension, daß fiktionales und reales Spiel sich gegenseitig legitimieren. Sie bezeugen damit zugleich, daß nicht allein die katholisch geprägte, erst ansatzweise von den Reformen der Aufklärung ergriffene Welt des Wiener Volkstheaters so weiträumig war, daß normfreie Spiele nicht automatisch als gesellschaftskritische zu deuten sind (vgl. Kap. 3.7). Weiter und weniger gleichförmig als die Welt der mitteldeutschen Lebens- und Literaturreformer protestantischer Prägung war vielmehr – und nicht nur hinsichtlich zulässiger Spieltypen – auch die scheinbar fest gefügte Ständegesellschaft des Barock. Diese Weiträumigkeit machte Kritik und Impulse zu Veränderung und Bewegung in gewissem Sinne sogar unmöglich, da sie ihnen, bildlich gesprochen, die Angriffsflächen entrückte. Die Komödien der Leipziger Aufklärung spielten demgegenüber in einer normativ geschlosseneren – und ökonomisch verdichteten – Welt. In diesen engeren Verhältnissen fanden freilich auch Bewegungsimpulse bessere Ansatzpunkte, und die Komödie konnte zum Vehikel sozialer und ökonomischer Dynamik werden, wie sich in Borkensteins Bookesbeutel andeutete und in dieser Kapitelgruppe weiter zu verfolgen ist.
60 Rainer Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. – In: Das Komische,
S. 279–333, hier S. 290f.
4.2 Christian Reuters Dramatisierungen lebensweltlicher Spiele 4.2.1 Studentisches Aggressionsspiel: Die Ehrliche Frau zu Plißine Geht es um die ‚Disziplinlosigkeit‘ des Komödienspiels, so wird leicht übersehen, daß die frühneuzeitliche Gesellschaft nicht nur auf der Theaterbühne – besonders jener der Commedia dell’arte und der gleichfalls improvisationsorientierten Wandertruppen – spielerische Freiräume kennt. Solche nicht im engeren Sinne theatralen Freiräume nutzen die Komödien Christian Reuters, die daher näher als alle anderen hier herangezogenen Stücke an im weiteren Sinne theatralischen Praktiken der (ständisch differenzierten) Lebenswelt stehen. Wie Walter Hinck treffend vermerkt, blieb dabei „die Aufgabe, den vom Leben gebotenen Stoff künstlerisch zu konzentrieren, zu gliedern und durchzuformen, unbewältigt“;1 allerdings handelt es sich um eine Aufgabe, die der Autor sich gar nicht stellte. 1665 als Sohn eines sächsischen Bauern geboren und seit dem Wintersemester 1688 stud. iur. an der Leipziger Universität, begann Reuter seine ‚Karriere‘ ähnlich wie die vorbildliche Figur des Jäckel in Schochs Comoedia Vom Studenten-Leben. Jedoch entzog er sich schnell den dort propagierten Verhaltensregeln: Statt nach dem Prestige von Moralität und Fleiß zu streben – und nach dem Lohn dafür in Form eines Amtes –, spielte er die Rolle des Pasquillanten und ‚ewigen Studenten‘. Und er schrieb auch in dieser Rolle, denn L’Honnéte Femme Oder die Ehrliche Frau zu Plißine von 1695 bringt einen Streit mit seiner Zimmerwirtin auf die Bühne, in den Reuter wegen Mietsäumnis geraten war, und ist jenen „HERREN STUDIOSIS auff der Weitberühmten UNIVERSITAET Leipzig“ gewidmet, die gewissermaßen die (einzige zeitgenössische) ‚Aufführung‘ zustande brachten, indem sie einzelne Passagen des Stücks durch die Fenster der verspotteten Wirtin Anna Rosine Müller brüllten.2 Eine dramatische Gattung als Instrument einer persönlichen Satire zu gebrauchen lag zeitgenössisch insofern nahe, als die Satire als 1 Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 139. 2 Vgl. Grunwald: Molière und die Dramaturgie Christian Reuters, S. 276. Das Zitat
entstammt der Widmung der Ehrlichen Frau, S. 7 der auch im folgenden zitierten Ausgabe von Rolf Tarot. Der typographischen Hervorhebung des Erstdrucks entsprechend, führe ich das Stück unter seiner deutschsprachigen Titelhälfte.
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„Schauspiel der öffentlichen Züchtigung“ galt.3 Durch die Akten der Prozesse, den die Müllerin daraufhin gegen Reuter führte, ist der soziale Kontext, in dem die Ehrliche Frau entstanden ist und sogleich lebhaft rezipiert wurde, außergewöhnlich gut bekannt. Trotzdem neigt eine dominante Tradition der Forschung dazu, eine allgemeine „zeitsatirische Tendenz“ oder gar geschichtsphilosophische Interpretate wie die „Vernunft“ der studentischen Figuren gegen jenen konkreten Kontext auszuspielen.4 Demgegenüber soll im folgenden dargelegt werden, daß die literar- (und geld)historische Stellung der Reuterschen Komödie aus ihrer Gebundenheit an das studentische Milieu zu bestimmen ist. Gegenstand der Satire ist nicht allein die Reuters Wirtin vertretende ‚Ehrliche Frau‘, sondern deren gesamte Familie. Vor allem die beiden Schlampampe-Töchter, die ihrer Mutter mit materiellen Ansprüchen keine Ruhe lassen, werfen dabei auch die Frage nach dem rechten Umgang mit dem Geld auf. Mit einem Vermögen von je 600 Talern ordentlich begütert – die Summe entspricht etwa dem Erbe der Renzel aus Weises Betrogenem Betrug (vgl. I,6, S. 18) –, ist ihnen alles darum zu tun, ihren Reichtum zur Schau zu tragen. Lächerlich erscheint das Geldstreben der Familie in dreifacher Hinsicht. Zunächst ist es ein kruder Materialismus, der dem Verlachen preisgegeben wird: Mit dem Verlangen nach neuen Kleidern treten Charlotte und Clarille auf die Bühne und ihrer Mutter entgegen (I,2); „bekomme ich ietzo kein neue Kleid / so heisse sie mich eine leichtfertige Hure wenn ich ehe in die Kirche wieder gehen will / biß sie mir eins geschafft hat“, benennt Charlotte deutlich genug ihr höchstes Gut (S. 11). Obschon kaum noch religiös begründet, steht dieses Motiv in der Tradition der christlichen Kritik an der Ersetzung Gottes durch das Geld.5 Der gesellschaftlichen Durchsetzung des höfischen Modells anschaulicher Repräsentanz entsprechend, äußert sich Geldverehrung bei Reuters Figuren allerdings nicht mehr als Geiz – der seinen Besitz verbirgt –, 3 Deupmann: ‚Furor satiricus‘, S. 78. 4 So die Zusammenfassung der Forschung bei Hecht: Christian Reuter, S. 15 u. 18. Hin-
ter solchen Bestrebungen steht eine normative Poetik, die Gedanken der Autonomieästhetik mit vulgärmarxistischen Deutungen verbindet, vgl. ebd., S. 4: „Die untergehende Epoche des Barock mit dröhnendem Gelächter zu Grabe zu tragen macht den tieferen Sinn und die geistesgeschichtliche Bedeutung der Reuterschen Dichtung aus.“ Als „frühe Vorläufer“ vernünftiger „Opposition“ begreift auch Oehlenschläger die Studenten Edward und Fidele, wobei er den lebensweltlichen Ort der Komödie angemessener berücksichtigt als Hecht (vgl. Eckart Oehlenschläger: Christian Reuter. – In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, S. 819–838, hier S. 827f., das Zitat S. 824); dagegen Menhennet: The „Honnête Homme“ and the Baroque Fool, der die ‚Unregelmäßigkeit‘ der Reuterschen Lustspiele herausstellt und sie deshalb, stilgeschichtlich übermäßig pauschal, dem Barock zuschlägt. 5 Zur komischen Darstellung der Schlampampe-Familie im Licht des traditionell-barokken Sein-Schein-Gegensatzes vgl. Catholy: Das deutsche Lustspiel Bd. 1, S. 171–176.
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sondern als öffentliches Prunken, und zwar nach höfischem Vorbild (vgl. I,8, S. 22; III,8, S. 41). In dieser zweiten Hinsicht aber kommt es immer wieder zu krassen Mißverhältnissen zwischen galant-adliger Prätention (vgl. III,1, S. 37) und dem tatsächlich überaus vulgären Betragen aller Familienmitglieder (wie bereits das eben Zitierte erhellt). Als Mittel, um über den angeborenen Stand hinauszugelangen, taugt das Geld offensichtlich nicht. Konzentriert sich die satirische Darstellung der Schlampampe-Töchter auf die leeren Prätentionen, die sie aus ihrem Geldbesitz ableiten, so liegt bei der Mutter der Schwerpunkt auf dem Mißverhältnis zwischen beanspruchter Ehrlichkeit und ihrer tatsächlichen Unehrlichkeit in Wort (übler Nachrede) wie Geldhandeln. Ihre stehende Rede „so wahr ich eine ehrliche Frau bin“6 widerlegt sie, indem sie „böses Geld“, d. h. mit zu niedrigem Metallgehalt geschlagenes, also wertvermindertes Geld verleiht, sich aber „gutes“ zurückzahlen läßt (I,8, S. 21). Kurzum, im Haus der Schlampampe erscheint Geld nur im Mißbrauch. Als Gasthaus bildet das Haus der Schlampampefamilie einen Markt im kleinen, einen Ort gesteigerter Geld-Waren-Zirkulation; bezeichnenderweise war bereits der Vater der Familie ein „Handelsmann“ (I,5, S. 14). In Reuters Ehrlicher Frau erscheinen Wirtschaft und Handel damit generell als Brutstätten der Unehrlichkeit, und zwar jeder Art: geschäftlicher, moralischer wie ‚kommunikativer‘ (üble Nachrede u. ä.).7 Um diese Kritik richtig zu gewichten, ist vergleichweise freilich auch das Geldverhalten der studentischen Gegenspieler zu betrachten. Dem Betrug um Geld oder Geldeswert, dem mit Geld erkauften falschen Schein u. ä. stellen die bislang behandelten Lustspiele eine authentische Repräsentation von Werten, christlich-moralischen, ethischen, sozialen, z. T. auch politischen oder materiellen, gegenüber. Stets wird eine soziale Norm gegen diesen oder jenen Mißbrauch des Geldes verteidigt. Die Ehrliche Frau zu Plißine scheint dieses Schema zunächst ein weiteres Mal zu erfüllen: Der verlachten Titelfigur und ihren Töchtern treten Studen6 So dreimal bereits in der ersten Szene (S. 9) sowie passim. 7 Zu diesem Bedeutungsspektrum von ‚ehrlich‘ im 17. Jahrhundert vgl. DWb 3, Sp. 69–
71. Zur negativen Charakteristik der Schlampampe und ihrer Töchter trägt eine doppelte Asymmetrie in den getätigten Geschäften bei: im Fall der Mutter der bereits erwähnte Betrug beim Geldverleih, im Fall der Töchter der Handel von Gut, konkret: von Speis und Trank, gegen Liebe. Wer, auf der einen Seite, das Geld aufzuwenden hat und wer, auf der anderen Seite, Liebe zu verkaufen vermag, wechselt dabei: einmal sind es Charlotte und Clarille, die mit Geschenken die Gunst der Gäste zu erringen suchen (vgl. I,8, S. 21), ein anderes Mal die Studenten, denen gegen Wein und Semmeln Schäferstündchen gewährt werden (vgl. I,5, S. 17; II,10, S. 32f.). Gleich, wie die Rollen verteilt sind: der Spott trifft stets die Schlampampe-Töchter und damit jene Figuren, die ursprünglich in der im Gasthaus zum Goldenen Maulaffen konkretisierten Zirkulationssphäre beheimatet sind und deren Identität auf Geld und Besitz beruht.
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ten (als Vertreter des sozialen Umfeldes) mit einem intrigenartigen Streich entgegen, um die Laster der Familie bloßzustellen. ‚Ehrlichkeit‘ ist allerdings auch der Studenten Devise nicht. „Schreib an und lesch aus“ nennt Edward einen der Hüpeljungen, die vor den Töchtern der Schlampampe als freiende Edelleute auftreten sollen (III,9, S. 45). ‚Schreib an und lösch aus‘ – nämlich die Zeche, mit der man bei einem Wirt in der Kreide steht – läßt sich als praxisorientierter Wahlspruch nur auf die – zechenden – Studenten beziehen und verweist auf dieselbe Verbindung von Vorspiegelung (nämlich späteren Bezahlens) und Vorteilsnahme, welche die ‚Ehrlichkeit‘ der Schlampampe kennzeichnet. Als eifrige Wirtshausbesucher stellen die Studenten das Pendant, nicht das moralische Andere der lasterhaften Wirtsfamilie dar. Auch zur Mietzahlung ist weder Edward noch Fidele bereit (vgl. I,8, S. 21; II,9, S. 33). Die letzte Szene schließt dementsprechend mit einer Vertröstung: „Es soll ehster Tage geschehen“, d. h. Edward entzieht sich ein weiteres Mal der Mietforderung seiner Wirtin (II,13, S. 54, vgl. ähnlich schon S. 53). Bezahlt werden nur die Musikanten, die den SchlampampeTöchtern zum Tanz mit den vermeintlichen Baronen aufgespielt haben. In diesem Fall zeigt sich Fidel gut bei Kasse und läßt einen ganzen Dukaten springen,8 obwohl es Mutter Schlampampe war, die die Musiker bestellt hatte, er für die Entlohnung also gar nicht zuständig ist (vgl. III,11, S. 51). ‚Bezahlen‘ kennen die Studenten nicht als unbestreitbare Konsequenz einer eingegangenen Verpflichtung – der seit einem halben Jahr überfällige Stubenzins bleibt ungezahlt –, sondern nur als weiteren Beweis des Übermuts und der Souveränität, die ihr Verkleidungsspiel demonstrierte. Ein eindeutig konturierter Konflikt zweier (Geld-)Normen liegt dem Streit der Figuren demnach nicht zugrunde. Die Ehrlichkeit, deren Mangel die Schlampampe-Familie stigmatisiert, geht den sympathie- und identifikationsheischenden Figuren ebenfalls ab. Geld funktioniert, so wie die Studenten sich seiner bedienen, nicht als Mittel, Ansprüche und soziale Positionen auszugleichen (in dem Sinne, daß, wer eine Leistung erbringt, dafür entgolten werden muß). Indem sie bezahlen, was sie nicht bestellt haben, nicht aber, was sie in Anspruch nehmen, dient Edward und Fidele das – ‚geschenkte‘ bzw. vorenthaltene – Geld vielmehr zur Demonstration sozialer Überlegenheit. Dementsprechend unterscheidet sich ihr Verhalten gar nicht so sehr von dem der Schlampampefamilie: die galant-höfischen Prätentionen der Töchter pflegen auch die Studenten, wie ihre höflichen Komplimente untereinander
8 Diese Goldmünze wurde zu zwei Talern gerechnet (vgl. Rittmann: Deutsche Münz-
geschichte, S. 262). Zum Vergleich: von seinem Verleger erhielt Reuter zehn Taler Honorar für das Stück (vgl. Zarncke: Christian Reuter, S. 608).
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deutlich machen,9 und sie profitieren ohne Bedenken von der Sittenlosigkeit Charlottes oder Clarilles.10 Trotzdem beanspruchen sie eine Richterrolle: „Lebt ihr fein erbar nur / und bleibt in eurem Stande / [/] Legt allen Hochmuth ab / und nehmt die Demuth an“ (Beschluß, S. 56) – während diese Normen für die Richter nicht gelten sollen. Diesen Anspruch auf eine Sonderstellung bringt auch und gerade ihr Geldverhalten zum Ausdruck. Um die Normen, deren Verletzung durch die Schlampampefamilie ihre Verkleidungsintrige straft, ist es den Studenten nur insofern zu tun, als sie davon profitieren, daß andere sie beachten. Ihr primäres Interesse geht hingegen darauf, „wacker was zu lachen [zu] setzen“ (II, 11, S. 35).11 Sich nicht binden zu lassen ist der gemeinsame Nenner, der den Umgang der Studenten mit Geld sowie ihr Verkleidungs- und Intrigenspiel als gleichgerichtete Äußerungsformen ein und desselben Sozialverhaltens kenntlich macht. Ein verbindliches Ergebnis bringt die Düpierung der Schlampampetöchter durch die als Barone verkleideten Hüpeljungen nicht; Einsicht, gar Besserung stellt sich offensichtlich nicht ein12 – was die Intriganten indessen nicht schmerzen muß, da es ihnen ohnehin nur um „einen artigen Possen“ ging (II,11, S. 35). Die Handlungsstruktur der Komödie bestätigt diesen Befund von Folgenlosigkeit: Von der Verkleidungsintrige geprägt ist lediglich der letzte Akt; obwohl Mutter Schlampampe bereits in Sz. I,8 ankündigt, ihren säumigen Mietern zu kündigen, reagieren die Studenten erst in der letzten Szene des zweiten Akts (vgl. S. 33). Der erste Akt wird zwar ebenfalls vom Konflikt zwischen Wirtsfamilie und Studenten – angeheizt von einer angeblichen, in Wahrheit mißverstandenen Beleidigung der Tochter Charlotte durch Edward – beherrscht; die kleine Rollenspiel-Intrige, die Fidel gemeinsam mit dem durchreisenden Studenten Cleander anspinnt (vgl. I,5, S. 14f.), weiß von diesem aufgebauschten Mißverständnis jedoch noch nichts, obwohl die Szenenfolge das ermöglicht hätte. ‚Erregendes Moment‘ des Konflikts und strategisch angelegte Handlung stehen daher in keinerlei pragmatischem Zusammenhang.13 In der Forschung ist diese „dominante Paradigmatik“ 9 Vgl. I,6 mit Cleander und Fidele. 10 Vgl. Fideles Erzählung I,5, S. 17f. 11 Die Ehrliche Frau ist demnach keineswegs geeignet, die „Geltung einer für die
Organisation des gesellschaftlichen Lebens zentralen Kategorie (Ehrlichkeit)“ zu begründen (so Eckart Oehlenschläger: Christian Reuter. – In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, S. 819–838, hier S. 824). Der moralisch-didaktischen Aufgabe, die die Barockpoetik bis hin zu Rotths Vollständiger Deutscher Poesie (1688, T. 3, S. 82, Neupag. 842) der Komödie zumißt, entzieht Reuter sich. 12 Vgl. die Schlußworte der Schlampampe: „So komt ihr Kinder fort / was wollen wir hier stehn? [/] Ihr bleibt doch wer ihr seyd / und ich die Ehrlche Frau.“ (Beschluß, S. 56) 13 Als entpragmatisiert ist Reuters Dramaturgie überdies insofern einzuschätzen, als die
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(Warning) bisweilen als bloß episodische, ‚undramatische‘ Struktur gerügt worden.14 Sie führt indessen auf formaler Ebene vor, was die Studenten in sozialethischer Hinsicht ausleben: die Autonomie des Partikularen. Dieser Autonomie nun kommt im Fall von Reuters Komödie nicht ‚nur‘ der Status eines literarischen Entwurfs oder Ideals zu, denn sie bildet bereits deren lebensweltliche Voraussetzung: Von einer ganzen Reihe üblicher Verhaltensnormen befreit zu sein zeichnete das Studentenleben bis weit ins 18. Jahrhundert aus. Entscheidend für diesen Befund ist nicht die Masse der zeitgenössischen Berichte über studentische Unmoral, über Trinkgelage, Tumulte, Duelle, Vandalismus usw., sondern das in ihnen zu erkennende ‚Recht‘ auf solches Verhalten, das den Studenten trotz aller Klagen von geschädigten Bürgern und beleidigter Obrigkeit eingeräumt wurde. Bei der im Kaufmannsteil analysierten Comoedia Vom Studenten-Leben haben wir es ebenfalls mit einer Kritik solcher Ausschweifungen zu tun, die insofern halbherzig ausfällt, als sie dem Kritisierten erheblichen Raum gibt (vgl. oben S. 158) und aus seiner Darstellung einen guten Teil ihrer Attraktivität für das Publikum gewinnt. In Leipzig kam es um 1700 wiederholt dazu, daß die Universität obrigkeitliche Einschränkungen der studentischen Willkür zu verhindern oder wenigstens abzumildern suchte, da sie fürchtete, andernfalls einen Rückgang der Studentenzahlen zu erleiden.15 Daß für studentische Vergehen besondere universitäre Gerichte zuständig waren, die in der Regel „äußerst milde Strafen“ verhängten, markiert diesen Freiraum auch institutionell. „Gegenkulturelle Sprengkraft“16 wird man den studentischen Spielen, die auf Mißachtung gesellschaftlicher Normen zielen, daher nicht zumessen. Die – ohnehin nur partielle, galant-höfisches Auftreten etwa nicht ausschließende – Aufhebung jener Normen findet vielmehr neben, ja im Rahmen der Ständegesellschaft statt. In dieser ‚inkonsequenten‘ Konstellation ist auch Die Ehrliche Frau zu verorten, und zwar nicht nur entstehungsgeschichtlich, sondern auch dramaturgisch, ethisch-normativ sowie gesellschaftskonzeptionell. Die Handlung des Stücks setzt sich gutenteils aus Späßen zusammen, die zum üblichen Vergnügungs- und Spottrepertoire der Studenten zu zählen sind.17 Die Komödie
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Torheiten der Schlampampefamilie überwiegend nicht szenisch vorgeführt, sondern im Gepräch der Studenten berichtet werden. Selbst der Erfolg von Cleanders erster Intrige wird nur erzählt, nicht gezeigt (III,1). Vgl. Dehmel: Sprache und Stil bei Christian Reuter, S. 15. Vgl. Fläschendräger: Universitätsentwicklung, S. 117. Das folgende Zitat ebd. Zu Reuters Teilnahme an studentischen Normverstößen vgl. Zarncke: Christian Reuter, S. 467. Nitsch: Barocke Dezentrierung, S. 223. Die Herkunft des Stücks aus ‚originalen‘ Formen der Studentenbelustigung dürfte zudem erheblich zur Dominanz berichtender statt szenischer Präsentation Schlampam-
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eignet sich wie keine andere Gattung dazu, das Gefäß ihrer Normverletzungen abzugeben, da sie traditionell eine oder mehrere Figur(en) auftreten läßt, die sozial und ethisch nicht (voll) verantwortlich sind. Unbeschadet aller Stilisierungen, die Reuter an dem seiner Lebensumwelt entnommenen Wort- und Tatmaterial vorgenommen haben muß, bildet sein Text aber nicht nur seinen inhaltlichen Bestandteilen nach, sondern auch insgesamt und als solcher ein typisches Instrument studentischen Ausnahmeverhaltens. Als Schmähung einer Gegnerin des Autors stellt Die Ehrliche Frau ein Pasquill dar, gehört also einer Gattung an, die zumal bei Studenten zum Ausfechten persönlicher Händel beliebt war, von Christian Weise daher zum Merkmal der „PurschManier“ erhoben wurde.18 Nicht zuletzt wenn man Die Ehrliche Frau mit Molières Les Précieuses Ridicules (1659) vergleicht, mit denen Reuters Komödie das Motiv der Verkleidungsintrige verbindet, wird deutlich, daß sie „hauptsächlich als Pasquill“ geschrieben ist, das nicht auf ein literarisches Publikum, sondern auf die Leipziger Kommilitonen berechnet war.19 Daß die Dramenhandlung auf komisch strafende Weise die Einhaltung von Normen einfordert, die ihre Protagonisten wie selbstverständlich durchbrechen, verweist zum einen auf den Freiraum, den die Studenten der Zeit in Anspruch nahmen und praktisch auch eingeräumt erhielten. In ihrer widersprüchlichen Haltung zu den gesellschaftlichen Normen zeigen Edward und Fidele sich zum anderen aber als Spiegelbilder jener Bürger, die sie wegen pischen Fehlverhaltens beigetragen haben (vgl. Anm. 13); daß sich immer wieder zwei Studenten über die Schlampampes unterhalten (I,5; II,11; III,1 [Cleander ad spectatores]; III,2), verweist unmittelbar auf die studentischen Runden, von denen das Stück seinen Ausgang genommen haben dürfte. 18 Weise: Politischer Academicus (1684); ohne Seitenangabe zitiert bei Eckart Oehlenschläger: Christian Reuter. – In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, S. 819–838, hier S. 827, sowie Zarncke: Christian Reuter, S. 480. Oehlenschläger hebt zu Recht hervor, daß die Alternative „Pasquill oder Literatur“ dem Text nicht gerecht wird; die Literarisierungstechniken, die er benennt, heben das Drama jedoch nicht nur ‚über‘ die realen Zustände, die es zitiert, sondern verankern es, indem sie die studentische Bewertung der Handlung transportieren, zugleich fester in seinem lebensweltlichen Horizont. Die Pasquillfunktion spricht Fidele im „Beschluß“ offen aus: „Wer die Studenten schimpfft? hat auch nur Schimpff zu Lohne“ (III,13, S. 54). 19 Grunwald: Molière und die Dramaturgie Christian Reuters, S. 277. Über diese Einbindung der Ehrlichen Frau in die Lebenswelt ihres Autors soll nicht vergessen werden, daß die Studentenkomödie auch eine Untergattung des Lustspiels bildete. Die literarische Tradition, in der das Stück steht, prägt jedoch nicht dessen Normen und Tendenz. In welchem Maße diese vom jeweiligen Autor und den Institutionen, denen dieser verpflichtet ist, abhängig sind, erhellt ein Vergleich mit der Comoedia Vom Studenten-Leben des Advokaten und späteren Amtmanns Schoch, die beruflichen Aufstieg als Belohnung für Studienfleiß verheißt, oder mit Christian Weises Verfolgtem Lateiner, wo eine dem Reuterstück ganz ähnliche Verkleidungsintrige die Einheirat zweier Studenten in die bäuerliche Oberschicht eines Dorfes ermöglicht (vgl. Weise: Sämtliche Werke Bd. 13, S. 195–307).
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einer ganz ähnlichen Diskrepanz zwischen Selbstbild und Praxis verachten und komisch vorführen.20 Neben der Kritik steht mithin die Teilhabe am betrügerischen Umgang der Schlampampen mit dem Geld. Zudem müssen die studentischen Figuren, obwohl ihrerseits „traditionelle Anti-Bürger“,21 die traditionelle Norm standesgerechten Verhaltens berufen, um über die Familie Schlampampe Gericht halten zu können. Aus ihrer partikularen, bindungslosen Perspektive heraus wäre das nicht möglich. Insofern bezieht sich auch Die Ehrliche Frau auf eine Ordnung des gesellschaftlichen Ganzen, selbst wenn das Stück keinen ständischen Kosmos mehr präsentiert und ohne legitimatorischen Bezug auf Gott auskommt und die traditionelle Affirmation der herrschenden Norm in Form von Heiraten ausfällt. Zugleich indes entfällt die materielle Beruhigung, die Mitgift oder Erbe, wie der Komödienschluß mit Heirat(en) sie häufig verteilt, ausüben. Reuters Komödie endet zur Zukunft hin offen.
4.2.2 Höfisches Narrenspiel: Graf Ehrenfried In positiver (Verkaufserfolg) wie negativer Reaktion (gerichtliche Klagen der Familie Müller) faßten die Leipziger Zeitgenossen Die ehrliche Frau als Pasquill auf, als Verschärfung eines studentischen Spaßes bzw. Streites mit literarischen Mitteln. Reuters Bestrafung durch die Universität war zunächst milde: die zweijährige Relegation, zu der man ihn verurteilte, wurde nicht exekutiert, als er eine schriftliche Defension angekündigte, die allerdings niemals erschien.22 Mit noch wachsendem Erfolg trieb Reuter sein Spiel vielmehr weiter; bereits in der Karzerhaft schreibt er die Schelmuffsky-Oper, die den Sohn seiner Wirtsfamilie aufs Korn nimmt. Ein weiteres SchlampampeLustspiel, eine parodistische Leichenrede sowie die Umarbeitung der Oper zum Roman kommen hinzu. Nun fällt die Strafe härter aus: Im September 1697 wird Reuter für sechs Jahre von der Universität verwiesen; Leipzig muß er verlassen. Da er die Stadt verbotswidrig wieder betritt, wird er im April 1699 „in perpetuum“ relegiert. Inzwischen hat er in Adelskreisen neue Gönner gefunden, die sich bei August dem Starken mit Erfolg für ihn einsetzen.23 Am Dresdner Hof entsteht dann eine weitere Komödie, der Graf Ehrenfried von 1700. Mit der Nebenfigur des rechtsfälscherischen Advokaten Injurius 20 Als strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Schlampampe-Familie und den Studenten ist
darüber hinaus zu rechnen, daß auch in jener der traditionelle Ordnungsgarant, der Vater, fehlt. 21 Catholy: Das deutsche Lustspiel Bd. 1, S. 175. 22 Vgl. Reuter: Schlampampe, S. 178–180 (Nachwort von Rolf Tarot). 23 Vgl. Zarncke: Christian Reuter, S. 553–561.
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zielt das Stück noch einmal auf persönliche Verhältnisse und die Lokalumstände in Leipzig; dort kommt es auch rasch zu zwei von Studenten organisierten Aufführungen, die erste auf dem ‚Fecht- und Tanzboden über den Fleischbänken‘, dem späteren Theatersaal der Caroline Neuber, von dem Gottscheds Theaterreform ihren Ausgang nahm, die andere in der Oper.24 Mit der Titelfigur nimmt Reuter dagegen auf die Adelskreise Bezug, in denen er sich jetzt bewegte. In vielfach grotesker Überspitzung tritt mit dem Grafen Ehrenfried ein Adliger auf die Bühne, der weder den äußeren Umständen seiner Lebensführung noch seiner ‚Würde‘ oder Befehlsmächtigkeit nach den Ansprüchen seines Standes genügt. Gewillt, eindrucksvoll zu repräsentieren, versammelt er ein großes Gefolge um sich, das er aber nicht zu besolden vermag (vgl. I,3, S. 11), da er alle Einkünfte einschließlich der Geschenke des Kurfürsten (vgl. S. 10) sofort wieder ausgibt oder auch im wörtlichen Sinne verspielt (vgl. III,4, S. 64).25 Stets bis auf den letzten Heller abgebrannt, weiß er sich Geldmittel nur mehr durch Versetzen seiner Kleidung und des Hausrats zu verschaffen: Der liebe Graf verthut selbst so viel / und wenn es denn nicht zulangen wil / so heist es: [klagt der ‚Finanzbeamte‘ des Grafen] Herr Capitain Lieutenant, schafft Rath / geht / nehmt mein Kleid / meine Halßkrause / meinen Degen / meine seidenen Strümpffe / versetzt es / verschachert es / denn ich muß Geld haben.26
Auf diese Weise sinkt Ehrenfried auf oder sogar unter das Niveau jener Trödelfrau, die zu seinem Financier avanciert: Ihr gegenüber bleiben alle seine Machtsprüche und Gewaltdrohungen27 wirkungslos, denn er ist auf ihr Geld angewiesen (vgl. die Szenen I,10 und I,11, denen, zum Abschluß des ersten Aktes, ein „Ballet, von alten Trödel-Weibern“ folgt, das Ehrenfrieds Niederlage anschaulich unterstreicht). Ehrenfried befindet sich in einem Teufelskreis: Seine Autorität schwindet mit seinen Mitteln, wie das Petschaft symbolisiert, das versetzt wurde, obwohl es als Hoheitszeichen die Grundlage seiner Existenz bedeutet (vgl. I,9, S. 24). Wie der Graf richtig erkennt, könnte er der Logik des Stückes zufolge freilich auch mit Geld siegeln: „so nehmt nur einen gantzen Groschen und siegelt damit / es ist vor meine Unterthanen gut genug.“ (ebd.) Nicht einmal diesen einen Groschen kann er jedoch sein 24 Vgl. Hecht: Christian Reuter, S. 45–47. Das Vorbild des Injurius mußte jener Advokat
abgeben, der Reuter zunächst gegen die Müllerin verteidigt, ihn beim unerlaubten Betreten der Stadt dann aber denunziert hatte. 25 Verweise im Text beziehen sich auf die Ehrenfried-Ausgabe von Wolfgang Hecht. 26 I,2, S. 8. Versetzt werden auch Hosen, Weste und Hemden (S. 9), das eigene Bett (I,5, S. 16) oder Mantelsack und Stiefel (II,18, S. 53). 27 Die keineswegs leer sind, wie die Folter, die Ehrenfried seinem Stallmeister angedeihen läßt, bezeugt (vgl. I,5, S. 17).
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eigen nennen: der Kammerjunge muß aushelfen, der wiederum, von keiner Autorität des Grafen zurückgehalten, als Dieb an seinem Herrn zu dieser Münze gekommen ist (vgl. S. 25). Es liegt nahe, in der Inszenierung solcher Verhältnisse eine „Bloßstellung adligen Scheinwesens“ zu sehen.28 Hechts Formulierung suggeriert eine generelle Adelskritik im Sinne späterer Komödien wie Luise Gottscheds Ungleicher Heirath. Dagegen einzuwenden ist zunächst, daß die Spitze des Feudalsystems nicht angetastet wird, denn die gute Lösung des bösen Spiels garantiert der – als Figur nicht auftretende – „König“, der das von Ehrenfried verführte Mädchen von geringem Stand, das der Graf am Ende zu heiraten hat, mit einer Mitgift von 4000 Reichstalern ausstattet (vgl. III,11, S. 79). In dieser Schlußkonstellation erweist sich nicht nur der Graf als Nachfahre des Horribilicribrifax – mit dem ihn das Motiv der substanzlosen Prätention ohnehin verbindet –; auch der König rückt in eine berühmte Nachfolge, nämlich von Molières Anselme, des ‚monarchischen‘ Garanten einer finanziell gesicherten (Heirats-)Ordnung29. Gerade am sächsischen Hof hätte diese Anspielung auf Molière Sinn gemacht, eiferte doch kein anderer deutscher Fürst so sehr dem Vorbild Ludwigs XIV. nach wie August der Starke, der als polnischer König (seit 1697) im Stück zudem eigens besungen wird (vgl. II,7, S. 38). Gleich, ob solche Bezüge erkannt wurden: Reuters komische Inszenierung offenbarer Scheinhaftigkeit tastet die gesellschaftliche Ordnung nicht an.30 Und anders als in Gryphius’ Apologie der Ständeordnung ist es kein Idealzustand, der affirmiert wird, sondern die reale Hierarchie. Vertrat Reuter – damals ein Schützling des Dresdner Hofes31 – also in der Weise kurfürstliche Interessen, daß seine Komödie einen Adelsvertreter als nach materiellen Mitteln wie auctoritas nichtige Figur und daher als lächer28 So Hecht: Christian Reuter, S. 49 in Aufnahme einer Formulierung von Bernhard Seuf-
fert. Eckart Oehlenschläger spricht von einer „Karikatur des verlotterten Hofadels“ (Christian Reuter. – In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, S. 819–838, hier S. 833) – dem Ehrenfried allerdings gar nicht angehört. 29 Vgl. oben S. 277ff. 30 Ansgar Cordie sieht dagegen auch im Schluß des Stücks noch einen „ironischen Kommentar auf den absolutisitischen Staat und das gesellschaftliche Bewußtsein der Jahrhundertwende um 1700“ (Cordie: Reuters „Graf Ehrenfried“ als Zeitdiagnose, S. 52f.), da die Hochzeit nicht tatsächlich geschlossen, sondern lediglich für den folgenden Tag angekündigt wird (vgl. Reuter: Graf Ehrenfried, S. 83–85). Weder daß die Hochzeit noch nicht vollzogen wird noch das Schlußwort einer Dienerin (in dem Cordie ebenfalls einen ironischen Akzent sieht) ist jedoch im von Cordie angenommenen Sinn signifikant; beides entspricht vielmehr der Komödienkonvention und findet sich beispielsweise auch in Gryphius’ Horribilicribrifax. 31 Im April 1700 wurde Reuter Sekretär des sächsischen Kammerherrn Rudolf Gottlob von Seyfferditz, der ihm sogleich gegen die Universität beistand (vgl. Zarncke: Christian Reuter, S. 560).
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lich darstellt? Schließlich versuchte August der Starke gerade in den ersten Jahren seiner Regierung (seit 1694) zu einer stärkeren Kontrolle des sächsischen Adels zu gelangen, sowohl in politischer als auch in finanzieller Hinsicht.32 Als Argument für eine solche Deutung ließe sich anführen, daß die schlußendliche Großzügigkeit des Komödienfürsten mehr der traditionellen Herrscherrolle als den realiter stets leeren, durch den Erwerb der polnischen Krone noch zusätzlich belasteten Kassen Augusts des Starken entsprach.33 Von der tatsächlichen Stärke des Adels, der sich seine Privilegien weithin zu bewahren wußte und seinen Reichtum in zahlreichen Schloßbauten zur Schau stellen konnte,34 hätte ein so zu verstehender Graf Ehrenfried sich allerdings (zu) kraß unterschieden. Zudem bleibt auch der Monarch von Spott nicht verschont: Ehrenfrieds Versuche, sich neue Geldquellen zu erschließen, münden, nachdem eine Lotterie ihm nur Verluste gebracht hat (III,4), in des Grafen Eintritt in einen geistlichen Orden, denn als Abt winkt ihm ein „schönes Einkommen von so vielen Klöster-Intraden“ (III, 10, S. 78). Drei Jahre, nachdem August der Starke zum Katholizismus übergetreten war, um auf den polnischen Thron zu gelangen, erzielt die Szene den komischen Gewinn des unvermuteten Wechsels notwendig auf seine Kosten. Zu schließen ist nach alldem, daß die Satire des Ehrenfried generell nicht als ‚kritisch‘ zu verstehen ist. Reuters Lustspiel setzt vielmehr die Fähigkeit voraus, über die eigene Rolle und die Bedingungen der eigenen Existenz, seien sie finanziell oder religiös, zu lachen. Was die Figur Ehrenfried auszeichnet, ist dementsprechend der offenbare Rollencharakter eines scheinbar heillosen Lebens: „seine desolate finanzielle Situation kommt seinem Witz, der selbstironische Pointen liebt, durchaus entgegen: eigentlich ist er der genuine Anführer einer total närrisch gewordenen Horde, deren Treiben aller guten Sitten, welcher Provenienz auch immer, mit unverfrorenem Vergnügen spottet.“35 Selbst daß er von seinem Kammerjungen bestohlen wird und sich also den Groschen, den er zum Siegeln braucht, leihen muß, obwohl er ihm gehört, nimmt Ehrenfried als „eine erschreckliche Schraube“, wie sein Lieblingsausdruck lautet (I,9, S. 25 u. ö.).36 Seine Situation ist ausweglos, aber nicht bedrohlich: weil der Kammerjunge ihn bestiehlt, kann er bei Bedarf auf sein Gut zurückgreifen, denn das ist bei diesem Dieb besser aufbewahrt! 32 33 34 35
Vgl. Czok: August der Starke (1991), S. 21–29. Vgl. ebd., 26f. Vgl. ebd., S. 43. Eckart Oehlenschläger: Christian Reuter. – In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, S. 819–838, hier S. 833. 36 Zu ‚Schraube‘ und ‚schrauben‘ vgl. DWb 9, Sp. 1650–55. Einschlägig ist hier die übertragene Bedeutung ‚durch Worte, die auf Schrauben gestellt sind, necken, mit gewundenen Redensarten höhnen, foppen u. ä.‘.
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Wohlgemerkt nimmt der Graf nicht nur das Geständnis des Kammerjungen, den Groschen gestohlen zu haben, als Scherz, denn er weiß, daß er bestohlen wird (vgl. II,22, S. 58). Vielmehr bewertet er den Vorgang als ‚Schraube‘ – und akzeptiert ihn dadurch. Der Scheincharakter seiner Existenz ist ihm bewußt. Persönlich Verbindliches ist von ihm daher nicht zu erwarten. Ehrenfried spielt die Rolle des Grafen in einer Weise, die von jeder Verantwortung gelöst ist. In der Forschung ist die „problematische“ Figur des Ehrenfried als charakterologische Leistung der Literatur und damit als wichtiger Schritt zum psychologischen ‚Realismus‘ des Aufklärungsdramas gewertet worden.37 Wie schon im Fall von Figuren und Perspektive der Ehrlichen Frau basiert die literarische Gestaltung jedoch ganz wesentlich auf lebensweltlichen Voraussetzungen: Als Vorbild für den Lustspiel-Grafen diente Reuter der 1667 als Sohn eines Rittmeisters und Kreishauptmanns geborene Georg Ehrenfried von Lüttichau, der, in verschiedenen Militärdiensten gescheitert, seit 1694 am Dresdner Hof lebte und dort die Rolle eines besseren Hofnarren spielte.38 Für die Zeitgenossen verwies eine Vielzahl von Anspielungen auf dieses Vorbild;39 die Komik mancher beiläufiger Bemerkung erklärt sich sogar erst bei Kenntnis der Späße, die bereits die Hofgesellschaft mit ‚ihrem Ehrenfried‘ trieb.40 Das bodenlose und zugleich ungefährdete Rollenspiel der EhrenfriedFigur ist demnach nicht erst literarisches Konstrukt, sondern hat inmitten der barocken Hofgesellschaft ihren genuinen Ort: Wie einige Spottgedichte auf Georg Ehrenfried von Lüttichau belegen, hat bereits dieser „lustige Rath“ nur in der komischen Abweichung von allen Normen – der Haushaltung wie der persönlichen Haltung – Existenz, nämlich die eines Narren.41 37 Hecht: Christian Reuter, S. 49. 38 Vgl. Zarncke: Neue Mittheilungen, S. 78–85. Ein „TrostSchrifft“ betiteltes Spottge-
dicht auf Lüttichau von 1694/95 nennt ihn den „Lustigen Rath“ des Kurfürsten, ein anderes „Schellen König“ (Schroeder u. Seelbach: Drei Gedichte auf Georg Ehrenfried von Lüttichau, S. 287, 289). 39 Das betrifft zunächst das Hauptmotiv, also Ehrenfrieds Unfähigkeit, planvoll mit Geld umzugehen, denn auch Lüttichau versetzte aus Geldnot seine Kleidung (vgl. Zarncke: Neue Mittheilungen, S. 78), reicht aber bis in Nebenmotive, die nicht einmal in unmittelbarem Zusammenhang mit der Titelfigur stehen müssen: So verweist die angeblich ‚fest‘ machende Salpeterkugel, die des Grafen Hauptmann an zwei Studenten verkauft (II,11), auf den „Maßlack“ (ein Mittel, das vor Verwundungen im Gefecht schützen soll), dessen Einnahme durch Lüttichau das „TrostSchrifft“ betitelte Spottgedicht kommentiert (Vv. 55–60; vgl. Schroeder u. Seelbach:ebd., S. 288). 40 So zielt der kurze Bericht des gräflichen Finanzbeamten Fortunatus, daß Ehrenfried einst unter ihm als Musquetier und als Corporal gedient habe (vgl. I,3, S. 11), auf die Militärdienste, in denen Lüttichau nicht reüssieren konnte (vgl. Zarncke: Neue Mittheilungen, S. 96). Ehrenfrieds Fortunatus ist natürlich ein Fortunatus ohne Geldsäckel. 41 Vgl. Schroeder u. Seelbach: ebd., S. 286–292.
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Besonders deutlich wird die untrennbare Verwobenheit von theatral(isch)er Darstellung und lebensweltlicher Praxis in der archivalisch bezeugten Teilnahme Lüttichaus an den Komödien und Narrenspielen der Hofgesellschaft42 sowie an der paradigmatischen Deutung seiner Existenz durch das „TrostSchrifft“ überschriebene Spottgedicht (Vv. 33–36): Es ist die gantze Welt, ein Schauplatz voller Narren, Und auch die Klügsten spant, das Schicksahl an den Karren, Hier steckt der unterscheidt, und kömt auff dieses an, Daß mancher Scholl und Schalck nur beßer bergen kan.43
Der Rückgriff auf den Topos des theatrum mundi unterstreicht hier, daß die theatrale Darstellung einer von gesellschaftlichen Verbindlichkeiten (die das Geld wie kein anderes Medium symbolisiert) suspendierten Existenz bei Reuter noch kein isoliert literarisches Ereignis ist, sondern auf lebensweltlich bereits vorhandene Freiräume verweist. Wie die Satire auf die SchlampampeFamilie den Horizont der studentischen Späße, denen sie entstammt, nicht sprengt, so unterscheidet sich auch die Inszenierung der folgenlosen Untugenden des Grafen Ehrenfried nicht prinzipiell von dem Spiel, das bereits der Dresdner Hof mit einem Mann seines Zuschnitts trieb. Das heißt nicht, daß in den Sozialbereichen, die Reuters Stücke spiegeln, alles nur Spiel wäre. Für den Autor blieb die Satire, die er auf seine Wirtsfamilie machte, nicht so folgenlos wie für seine studentischen Figuren. Ebenso stellen der Geldmangel und die Unfähigkeit zum sparsamen Haushalten, die der Graf Ehrenfried im Anschluß an höfische Späße zum Gegenstand des komischen Spiels macht, für die daran Beteiligten, Zuschauer wie Schauspieler, immer auch ‚ernste‘ Probleme dar. Der lachende Umgang mit dem Haushaltsproblem im komischen Rollenspiel trägt nicht jenseits der Spielsphäre, obwohl diese noch kein ästhetisch autonomisiertes Theater bildete. Von dem Hof, der einerseits den Rahmen für die Spiele sowohl um Lüttichau als auch um Ehrenfried bildete, ging auf der anderen Seite eine energische absolutistische Politik aus, die auf Steigerung der Staatseinnahmen durch merkantilistische Wirtschaftsförderung zielte.44 Den am höfischen ‚Spiel‘ beteiligten Adel konnte diese Politik auf sehr fühlbare Weise treffen: Zu den kurfürstlichen Maßnahmen zur Einnahmensteigerung zählten gegen Ende der 1690er Jahre vorzüglich die Aufdeckung und Beseitigung adliger Mißwirtschaft.45 In solchen Fällen gab es nichts zu ‚lachen‘, wie der wachsende Widerstand der 42 Vgl. Zarncke: Neue Mittheilungen, S. 86. 43 Schroeder u. Seelbach: ebd., S. 287. Ein Schroll [sic] ist ein grober, ungebildeter
Mensch (vgl. DWb 9, Sp. 1768). 44 Vgl. Czok: August der Starke (1991), S. 5. 45 Vgl. ebd., S. 27.
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Stände zeigt. Realiter war auch und gerade August der Starke ein ‚Verschwender‘, dessen Ausgaben die Einnahmen stets überstiegen; analog zu den Kleiderverpfändungen des Grafen Ehrenfried veräußerte sein zuständiger Minister sogar Landesteile, um an Geld zu kommen!46 Derlei ‚reale‘ Dringlichkeiten schiebt bzw. schob die ludische Unverbindlichkeit der Existenz eines Ehrenfried wie eines Lüttichau beiseite. Das Theater, das bei Reuter insofern noch ein theatrum mundi ist, als es sich von gesellschaftlicher Theatralität herleitet, entwirft demnach kein Weltmodell, das der normativen Orientierung dienen könnte, wie der Horribilicribrifax ebenso wie L’Avare dies taten, jener in christlich-ethischer Hinsicht, dieser in monarchistischer Absicht.47 Spiel meint in Graf Ehrenfried vielmehr ein gesellschaftliches Vergnügen. Es kommt damit der Spieldefinition nahe, die Harsdörffer in seinen Frauenzimmer Gesprächspielen (1644) gegeben hatte: „alle Sachen / so ohne Mühe und Arbeit / aus sonderem Belieben herfliessen / Spiele und Spielen genennet werden“.48 Dementsprechend heißt Theater zu spielen, sich von den Verpflichtungen der Gesellschaft, gerade auch finanziellen, frei zu machen. Allerdings meint dies noch keine Differenzierung verschiedener Funktionsbereiche, deren jeweilige Normen nicht auch in den anderen gelten, denn jene theatralische Lizenz basiert auf bereits lebensweltlich gewährten Spiellizenzen (des Studentenlebens bzw. des Narren).49 Will man gleichwohl von „komischer Gegenwelt“ (Warning) sprechen, so muß man hinzufügen, daß Reuters Gegenwelten in der Lebenswelt ihren Platz hatten. Noch deutlicher als in der Ehrlichen Frau wird die Entpragmatisierung des Ehrenfried auch in der Dramaturgie. Die „komischen Einzelszenen [haben] sich jetzt so weit verselbständigt, daß das Spiel revuehafte Züge annimmt.“50 Ehrenfrieds ständige Bemühungen um Geldbeschaffung werden 46 Vgl. Czok: August der Starke (1997), S. 116. 47 Zur Instrumentalisierung der Theatermetapher für monarchische Geltungsansprüche
vgl. Vec: Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat, S. 171–175. 48 Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, S. 511 (mod. Pag., im Original S. 467).
Zum Spielbegriff Harsdörffers, der in der ‚Fruchtbringenden Gesellschaft‘ den Namen ‚der Spielende‘ führte, vgl. Zeller: Spiel, S. 117–127. 49 Der Ehrenfried-Interpretation Ansgar Cordies, die um 1700 eine aus der „funktionellen Ausdifferenzierung der Gesellschaft im allgemeinen und des Literatursystems im besonderen“ resultierende „Suche nach Freiräumen“ annimmt, die „von der Literatur als speziellem Subsystem der Gesellschaft befriedigt“ worden sei (Cordie: Reuters „Graf Ehrenfried“ als Zeitdiagnose, S. 57), kann ich mich daher nicht anschließen. Als von gesellschaftlicher Theatralität abgeschnittene Literatur ist Reuters Ehrenfried historisch nicht angemessen zu begreifen. 50 Hecht: Christian Reuter, S. 48. Eine Verknüpfung der Szenen liegt häufig insofern vor, als Erwartungen (gerade auch finanzieller Art) immer wieder auf später vertröstet werden (vgl. Cordie: Reuters „Graf Ehrenfried“ als Zeitdiagnose, S. 50–52). Da ein
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von Mißerfolgen aus Dummheit oder unüberlegten Ausgaben ebenso ständig konterkariert, so daß der an die Titelfigur geknüpfte Handlungsstrang keinerlei Zielstrebigkeit und Zusammenhang aufweist.51 Eine Absicht, die durchgängig und erfolgreich verfolgt wird, verleiht lediglich der Nebenhandlung um das Diener-Liebespaar Grethe und Courage eine gewisse Konsequenz (I,5; II,21, III,9.16.18). Zu überwinden ist hier die Weigerung von Courages Herrn, dem (persönlich unfreien) Diener das Heiraten zu erlauben. Courage möchte sich sein Eheglück zunächst ‚erkaufen‘, indem er den „Intrüschen“Macher Injurius einen Prozeß führen läßt (II,14). Erreicht wird der gute Ausgang jedoch durch gute Worte (vgl. III,9, S. 73). Die Planmäßigkeit der Intrige und der Verpflichtungscharakter des Geldes – die wir in den Geizkomödien des 17. Jahrhunderts stets einander befördern sahen – wird hingegen homolog abgewertet, denn sie hätten, so Grethe, „doch nicht geholffen“ (II,21, S. 57). Der epochalen Tendenz zur ‚Verdichtung‘ sowohl in dramaturgischer als auch in monetärer Hinsicht entziehen sich Reuters Komödien demnach wie kein anderes der hier herangezogenen Stücke. Wo Geld bei (nicht belachten) Figuren zum Einsatz kommt, dient es zu nichts als zu einem Spaß. Wie schon in der Ehrlichen Frau sind Studenten die Träger solcher anti-ökonomischen Geldethik; so kauft Leander dem gräflichen Hauptmann ein Mittel ab, das unverwundbar mache. Der Preis scheint nicht hoch: zwei Groschen für eine Ware, die für einen Dukaten angeboten wurde, ja 200 Reichtaler wert sein soll (vgl. II,11, S. 44). Trotzdem wendet ein Kommilitone nachher ein: „Wenn du die 2. Groschen versoffen hättest / oder einem armen Menschen dafür gegeben / vielleicht hättest du sie besser angewendet / als so.“ In der Negation jeglichen Zweckhandelns liegt indes der Sinn des Kaufes: „Leander. Ich habe nur solches aus Spaß gethan / ich weiß indem wohl / daß sie [die gekaufte Salpeterkugel] zu nichts hilfft.“ (S. 46) Der Spaß wiederum, den Leander hat, ist die Freude am Schein und an dem Spiel, das er mit dem gräflichen Hauptmann treibt, indem er die Rolle des interessierten Käufers annimmt. Selbst Geld wird auf diese Weise zum Spielmittel.
Handlungsfortschritt nicht erzielt wird, stellt sich die formale Kohärenz fortwährender Verschiebung ein. Daß dem kaum Handlungskohärenz entspricht, tritt auf diese Weise freilich nur um so deutlicher hervor. 51 Episodisch bleiben auch die Wirtshausszenen des zweiten Aktes; hier tritt eine frohe Zechrunde von Studenten in den Vordergrund, die indes weit mehr als Verweis auf Reuters dichterische wie weltbildliche Herkunft zu verstehen ist denn zur Handlungsverknüpfung beitrüge.
4.3 Providentielle Garantien strategischer Selbstermächtigung Der Geiz, bei dem die Komödien der mittleren Kapitelgruppe ansetzen, ist traditionell Bestandteil einer Lastertrilogie, die sich aus einer Überblendung der Aristotelischen Güterkritik mit der Johanneischen Sündenaufzählung herausgebildet hat.1 Neben dem Streben nach und Horten von materiellem Besitz werden ihr der Ehrgeiz, das Streben nach Anerkennung und Aufstieg in der Gesellschaft, sowie die ‚Wollust‘, eine übermäßige Sinnlichkeit nicht allein in geschlechtlicher Hinsicht, zugerechnet. Die Komödie greift alle diese Laster auf und an; neben dem Geizigen gehören bespielsweise der Bauer, der sich über seinen Stand erhebt, sowie der oder die verliebte Alte zum stehenden Personal der Gattung.2 Traditionell werden diese Laster als Störung der rechten Ordnung präsentiert, deren Normen sich zum guten Schluß jedoch durchsetzen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts hingegen tritt das, was bisher als Laster galt, aus dieser Negativwertung heraus, sei es auf moraltheoretischer Ebene – weil die Unterscheidung zwischen gläubig oder vernünftig zu erfassender Tugend und sinnlichem Begehren aufweicht –, sei es durch eine veränderte Bewertung der sozialen Funktion jener ‚Laster‘, so daß Ehrgeiz als (bürgerliche) Emanzipation, ‚Wollust‘ als Zärtlichkeit, Freundschaft und Liebe, ‚GeldGeiz‘ als wirtschaftliche Aktivität auftreten können. Was bislang als Störung galt, kann nun Bewegung in die Gesellschaft ebenso wie in die Komödienhandlung bringen. In Bewegung gerät gewissermaßen auch die Wertordnung der davon betroffenen Stücke, denn die Grenze zwischen Tugend und Untugend – d. h. zumeist: die Grenze zwischen einerseits erlaubtem, andererseits gemeinschaftsschädlichem Eigensinn – muß nun immer wieder neu ausgehandelt werden. Damit wiederum erhalten die Spiele, in denen sich diese Aushandlung vollzieht, eine neue, dynamische Funktion, denn die Schwächung der Tugendnorm und die Aufwertung der Affekte eröffnen ihnen erweiterte ‚Spielräume‘3. 1 Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 212. 2 Unter den bisher analysierten Komödien nehmen Gryphius’ Horribilicribrifax sowie
Weises Betrogener Betrug (vgl. oben S. 315) alle drei Lastertypen aufs Korn. 3 Die heutige Bedeutung ‚Handlungsmöglichkeiten‘ hat das Wort eben im 18. Jahrhun-
dert gewonnen; Christian Wolff verwendet es dagegen noch mit der konkreteren Bedeutung „Differenz zwischen dem Geschützkaliber und dem Geschoßdurchmesser“.
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Die beiden folgenden Kapitel gehen dieser Entwicklung anhand von sowohl komödischen als auch moralphilosophischen, wirtschaftstheoretischen u. a. Texten bis zu Adam Smith’ Wealth of Nations nach. Dort werden die im ökonomischen Interesse gebündelten Leidenschaften der einzelnen nicht mehr einer Tugendnorm unterstellt, die ihre gesellschaftliche Harmonisierung anzuleiten hätte. Der gemeine Nutzen – das meint nun einen für alle wachsenden Wohlstand – stellt sich nach Adam Smith vielmehr als Folge egoistischer, lediglich rechtlich eingehegter Interessendurchsetzung ein. Der normative Wechselbezug von Moral, Recht und Ökonomie, den das Naturrecht zu Anfang des Jahrhunderts noch vorsah, ist damit gelöst. Für die Komödie als Gattung, die traditionellerweise eine gesellschaftliche Ordnung in allen drei Hinsichten herstellt – meist geronnen im matrimonialen Abschluß –, brechen damit die außerliterarischen Produktions- und Rezeptionsvoraussetzungen weg. Ihren Bedeutungsschwund im System der dramatischen Gattungen besprachen wir bereits (vgl. Kap. 2.8.2 und 3.7.2). In der hochliterarischen Theorie (nicht in der populären Produktion eines Iffland oder Kotzebue) ist die Konsequenz daraus, daß das Lachen der Komödie zum Musterfall einer uninteressierten Freiheit des Gemüts avanciert.4 Um 1800, konkret in den romantischen Komödien Brentanos oder Tiecks, tritt die Freude am ‚bloßen‘ Spiel in den Vordergrund und verdrängt jene Handlung, die sich als Interaktionsstruktur analytisch-modellhaft auf gesellschaftliche ‚Wirklichkeit‘ bezieht.5
4.3.1 Affektanthropologie, Unsicherheit von Normen, Lohn und Strafe Die Umformung des traditionellen Lasterkatalogs in eine Affektenlehre bildet den ersten Schritt dieses Wandlungsprozesses. Die bedeutendsten Beiträge dazu hat Christian Thomasius in den beiden Jahrzehnten vor und nach 1700 geleistet.6 In der Ausübung der Sittenlehre von 1696 greift er die genannte Zur Begriffsgeschichte vgl. S. K. Knebel: Spielraum – HWPh 9, Sp. 1390–92, das Zitat Sp. 1390. 4 Vgl. Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung – NA 20, S. 413–503, hier S. 445f. 5 Vgl. Catholy: Das deutsche Lustspiel Bd. 2, S. 183f.; Greiner: Die Komödie, S. 262– 278. Natürlich ist auch die Option für das ‚bloße‘ Spiel eine normative. So ist Tiecks Gestiefelter Kater zugleich eine handfeste Literatursatire und setzt das allen Wirklichkeitsverpflichtungen enthobene ‚poetische‘ Spiel als literarische Norm. 6 Mit Blick auf Thomasius’ naturrechtliche Balancierung von Selbstliebe und Sozialität mißt Friedrich Vollhardts unlängst erschienene Habilitationsschrift dem Hallenser Philosophen sogar eine grundlegende Bedeutung für die Literatur des gesamten 18. Jahrhunderts zu, zumal für die didaktischen Gattungen (vgl. Selbstliebe und Gesel-
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Lastertrilogie auf – und verändert zugleich ihre systematische Stellung. Scheinbar widersprüchlicherweise schwächt er den Lastercharakter, indem er Ehrgeiz, ‚Wollust‘ und ‚Geld-Geiz‘ „radikal in den Vordergrund“7 schiebt. In den Vordergrund treten diese drei Ausprägungen der ‚unvernünftigen Liebe‘ insofern, als Thomasius die von der rationalistischen Ethik stets angestrebte Herrschaft des Verstandes über sie für unmöglich erklärt. Denn nicht der Verstand, der Gut und Böse zu unterscheiden hat, leite den Willen, sondern der Wille beeinflusse die Urteile des Verstandes.8 Gegenüber tritt den genannten Affekten lediglich die ‚vernünftige Liebe‘, will sagen die Schätzung von Menschen und Dingen aufgrund ihres ‚inneren‘, d. h. Tugend- bzw. Nutz-Wertes.9 Auch sie aber ist ein Affekt und kann daher in einer Tabelle mit den drei lasterhaften Affekten taxonomisch aufgeschlüsselt werden.10 Wie Werner Schneiders feststellt: Bedingt durch diesen anthropologischen Voluntarismus wird Ethik hier zur Affektenlehre.11 Für die Ethik wird die Lage damit schwieriger, denn die Verhaltensgebote, die aufgestellt oder beschworen werden, stehen nun bereits von der Theorie her in der Gefahr, praktisch irrelevant zu bleiben. Ein tugendhaftes Leben aus (stets intellektueller) Einsicht oder Belehrung ist auf der Grundlage der skizzierten Affektherrschaft nicht möglich. Thomasius schlägt in dieser Situation vor, „die Macht der Affekte durch (vernünftige) Ausnutzung der Affekte selber [zu] brechen“.12 Mehr noch als auf eine innerpsychisch wirksame „Erpressung des Willens durch die Furcht“ vor den bösen Folgen schlechter Handlungen setzt er dabei auf „Lohn und Strafe“ von außen. Die Norm, die der affektgesteuerte Mensch nicht zu fassen weiß, muß ihm also gegeben, unter Umständen auch aufgezwungen werden.13 Welcher Mensch aber hebt sich so weit aus der törichten Masse heraus, daß er eine solche Leitungsfunktion zu übernehmen vermöchte (denn auf Gott möchte Thomasius nicht rekur-
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ligkeit, S. 30). Nach einer gründlichen Rekonstruktion der naturrechtlich begründeten Sozialphilosophie der frühen Aufklärung (in Deutschland – die englischen moralsense-Philosophen treten damit, wie auch in der vorliegenden Studie, etwas zurück) verfolgt Vollhardt, wie diese Tradition in verschiedenen „einem civilen Ethos verpflichteten Literaturgattungen“ (S. 10) aufgegriffen wurde – wobei er die Komödie allerdings ausspart. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 213. Vgl. Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 169. Vgl. ebd., S. 174–183: Das 8. Hauptstück. Aus der vernünfftigen Liebe kommen alle wahre Tugenden. Vgl. ebd., S. 170–173. Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 200. Ebd., S. 255. Die folgenden Zitate ebd. Grundlage des hier und in den nächsten Sätzen Skizzierten sind Thomasius’ Fundamenta juris naturae et gentium von 1705. Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 256.
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rieren)?14 Eine widerspruchsfreie Lösung dieser Frage läßt die vorausgesetzte pessimistische Anthropologie nicht zu; indem Thomasius dem ‚Weisen‘ und dem von ihm beratenen ‚Herrscher‘ jene Aufgabe überträgt, scheint er aus seiner bisherigen Argumentation heraus auf einen „absoluten Standpunkt“15 zu springen. Bemerkenswert ist sein Vorschlag nicht allein deswegen, weil er die strukturellen Schwierigkeiten einer Normsicherung offenbar macht, die sich allenfalls beiläufig noch auf religiöse Vorgaben und Instanzen beruft. Darüber hinaus umreißen Thomasius’ moraltheoretische Überlegungen recht exakt die Situation der Komödie im frühen 18. Jahrhundert: Verstärkt – d. h. nicht allein poetologisch wie in den meisten Barockpoetiken, sondern mit literaturpolitischem Durchsetzungsanspruch – auf Moralvermittlung verpflichtet,16 wurde die Gattung erneut auf das Prinzip der ‚poetischen Gerechtigkeit‘, also der dramenimmanenten Verteilung von Lohn und Strafe nach erwiesener Tugend bzw. Untugend, festgelegt: „In einem Schauspiele muß [=darf] keine Handlung ohne den Erfolg gelassen werden, welchen sie nach sich ziehet, so, daß die Tugend gewinne, das Laster verliehre, und die Eitelkeit schamroth werde.“17 Für die Komödie der Frühaufklärung hatte die affektanthropologische Krise der Ethik keineswegs die Folge, daß sich die Sitten gelockert hätten. Das Gegenteil ist der Fall: Die Komödie(npoetik) reagierte auf die theoretische Krise der Tugend mit dem Versuch ihrer verschärften Durchsetzung, in der dargestellten Handlung wie den Rezipienten gegenüber. Im Vergleich von Weises zumindest punktuell normsprengendem Betrogenen Betrug und Borkensteins dramaturgischer Sinnlichkeitskontrolle (Kap. 3.5 und 3.6) wurde das bereits deutlich. Insofern wurde der Raum für Spiele – zumal für so übermütige oder verantwortungsfreie wie in Reuters Komödien – enger. Da Gottsched seiner Anthropologie ganz andere Prämissen zugrunde legte als Thomasius, nämlich die intellektualistisch-optimistische Metaphysik Christian Wolffs, verbindet sich mit seiner Komödienpoetik auf den ersten Blick eine andere Ethik mit klarer Scheidung von Tugend und Laster: Schauen wir zurück auf Motivation und Verhalten des Liebespaares in Molières L’Avare, so finden wir dort einen ähnlichen ‚Realismus‘ wie in Thomasius’ Anthropologie: „Affektregungen determinieren das menschliche Handeln, das als 14 15 16 17
Vgl. ebd., S. 259. Ebd., S. 254. Vgl. Gottsched: Critische Dichtkunst – AW 6,1, S. 212. Zedler: Universal-Lexikon Bd. 34 (1742), Sp. 1034–1042, hier Sp. 1040, s. v. SchauSpiel. Die Laster, die bestraft werden sollen, sind nach wie vor die von Thomasius in den Vordergrund geschobene Trias Ehrgeiz, Wollust und Geldgeiz (vgl. ebd., S. 1041). Umfassend zur Tradition der ‚poetischen Gerechtigkeit‘ in der Frühen Neuzeit vgl. Zach: Poetic Justice.
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Ziel nur die Selbsterhaltung und das individuelle Glück kennt“.18 In seiner Critischen Dichtkunst moniert Gottsched dagegen, Molière gebe der „Galanterie junger Leute [...] immer den Vorzug vor der sorgfältigen Aufsicht der guten Aeltern; die vor ihrer Kinder Tugend besorget sind: dahergegen jene entweder schon lasterhaft ist; oder es doch leicht werden kann.“19 Trotzdem bewegte Gottsched sich gutenteils auf den von Thomasius vorgezeichneten Bahnen. Zum einen, indem er quasi die Thomasianische Position eines ‚Weisen‘ einzunehmen suchte, und zwar als Poetologe wie als philosophischethische Autorität (als Literaturpolitiker und Theaterreformer strebte er überdies nach der Herrscherrolle).20 Zum anderen passen sich die praktischen Regeln, die Gottsched gibt, häufig der Problemvorgabe an, wie Thomasius’ skeptische Philosophie sie formuliert hat. Wie im folgenden zu erläutern ist, treten solche Koinzidenzen insbesondere dergestalt auf, daß ein nach Gottscheds Prämissen nicht zu erwartendes performatives Prinzip sich bemerkbar macht. Nun resultierte, Gottscheds eigenem Verständnis zufolge, die Übernahme jener Rollen des ‚Weisen‘ und des ‚Herrschers‘ nicht aus der von Thomasius diagnostizierten Schwäche des Menschen, das wahre Gute zu erkennen und danach zu handeln. Im Gegenteil: auf der Basis seines ethischen Intellektualismus sah Gottsched den Willen als vom Verstand abhängig und diesen, obschon durch sinnliche Begierden beeinflußt, als belehrbar an. Wo das Gute erkannt wird, werde es vom handlungsleitenden Willen natürlicherweise begehrt.21 Gottsched geht so weit festzusetzen, daß „durch Zwang und Furcht der Strafe abgenöthigte Handlungen keine Tugenden sind“ (was nebenbei Gericht und Gebote Gottes entwertet).22 Trotzdem empfiehlt er in seiner Sittenlehre, lasterhafte „Gemüther durch Strafen und Belohnungen zum Guten an[zu]treiben; und sie dadurch [zu] nöthigen, das Böse zu unterlassen, welches sie sonst gerne thun würden“.23 Hier ist die Lücke im intellektualistischen Tugendoptimismus, in welche die didaktische Funktion der reformierten Komödie zu treten hat, auch moralphilosophisch markiert. Demnach bezeugt nicht allein Thomasius’ moraltheoretischer Pessimismus eine Wertkrise, sondern auch Gottscheds Tugendoptimismus tut dies, und zwar sowohl durch die gesteigerte Moralitätsforderung (nicht zuletzt an das Theater) als auch durch den Rückgriff auf Zwangsmittel, die der eigenen anthropologischen 18 19 20 21
Vollhardt: Zwischen pragmatischer Alltagsethik und ästhetischer Erziehung, S. 122. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst – AW 6,2, S. 345. Vgl. oben S. 184. Vgl. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit – AW 5,1, S. 547f. (§ 977–981). 22 Ebd. Bd. 5,2, S. 98 (§ 55). Im Original hervorgehoben. 23 Ebd., S. 99f. (§ 58). Im Original hervorgehoben.
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Prämisse zuwiderlaufen. Moralität stellt sich auch bei Gottsched nicht von selbst ein, sondern wird gemacht! Über Vernunft und Affekte des Menschen hinaus hat die Ethik traditionell auch mit den Geboten und dem Gericht Gottes zu rechnen. Von seinem Ansatz her argumentiert Gottsched, wie Thomasius, nicht mit göttlich festgesetzten Normen. Seine Weltweisheit (1733/34) ‚braucht‘ Gott lediglich als Schöpfer, als erste Ursache der Welt, und deren Beschreibung und Erklärung erfolgt prinzipiell vernünftig, wenngleich christliche Glaubenssätze laufend einbezogen werden.24 Muß der Mensch aber zu einer eigenen Erkenntnis des Guten gelangen, so fallen Schwächen seiner diesbezüglichen Anlagen besonders ins Gewicht. Wie Gottsched normative Ansprüche zu erfüllen sucht, läßt sich anhand einer Frage verfolgen, die das Lustspiel laufend stellt: Wodurch unterscheiden sich wahre von falschen oder scheinhaften Gütern? Gottsched nennt ein „wahres Gut dasjenige, was ein dauerhaftes Vergnügen giebt: ein Scheingut hergegen ist ein solches, das nur ein kurzes Vergnügen giebt; hernach aber viel Misvergnügen nach sich zieht.“25 Absolut gültige Normen weiß diese Definition nicht zu benennen; mit dem Kriterium der Dauer wird die Unterscheidung von ‚wahr‘ und ‚scheinhaft‘ vielmehr relativ. Auch hier gilt: Normativität wird, entgegen dem Anspruch der Critischen Dichtkunst,26 nicht intellektuell erfaßt und paränetisch vermittelt, sondern in der Praxis hergestellt. Die theoretisch der autonomen Vernunft überantworteten Normen scheinen in letzter Instanz der Performanz wechselnder Lebenssituationen überlassen. Allerdings ist Gottscheds Ethik nicht nur zu dieser, zur mundanen Seite hin löchrig. Bei näherer Betrachtung des Schemas, nach dem die Ermittlung von ‚wahr‘ und ‚scheinhaft‘ erfolgt, zeigt sich Gottscheds Vorstellung von Praxisprozessen nämlich religiös vorgeprägt: Blendwerk kann nicht lange währen. Eine jede besondere Lust, die er [der Lasterhafte] genießt, wird zu ihrer Zeit, eine größere und längere Unlust nach sich ziehen; und die Unglückseligkeit desselben, wird hernach desto größer werden, je größer seine vermeynte Glückseligkeit zu seyn geschienen hat.27 24 Vgl. ebd., Bd. 5,1, S. 509 (§ 864). Bezeichnend für die Behandlung christlicher
Glaubenssätze ist die Unterordnung der religiösen Zweckbestimmung des Menschen – nämlich, daß es unsere Aufgabe sei, Gott zu ehren –, unter das Glückseligkeitsaxiom mit dem Argument, daß Gott dadurch die höchste Ehre dargebracht werden könne, daß seine Geschöpfe sich vollkommen machen (konkret: ihren Glückseligkeitszweck erfüllen); vgl. ebd. Bd. 5,2, S. 104 (§ 66). Allgemein zur Instrumentalisierung Gottes durch die aufklärerische Philosophie vgl. Kondylis: Aufklärung, S. 343–380. 25 Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit – AW 5,2, S. 110 (§ 77). 26 Vgl. die oben S. 193 erläuterte Ausrichtung der Poetik auf die Vermittlung eines ‚moralischen Satzes‘. 27 Gottsched: ebd.
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Eine künftige Belohung bzw. Bestrafung in dieser Weise zu postulieren ist nicht aufgrund von Praxisbeobachtungen möglich, sondern verdankt sich eingewurzelten christlichen Denkstrukturen: Zu Christi Verkündigung gehört zentral der Gedanke einer „göttlichen Vergeltung des menschlichen Tuns“, die jeden dauerhaft in den ihm gemäßen Zustand von ewiger Freude oder Verdammnis versetze.28 Der intendierte Verzicht auf religiöse Begründungen realisierte sich demnach nicht als schlagartige Lösung von allen christlichen Denkschemata. Die göttliche Vergeltung – das Wort weist darauf hin, daß hier der Gedanke einer ‚Rückzahlung‘ zugrunde liegt, die sich als finales Zur-Geltungbringen von Normen gestaltet29 – hat ihren genuinen Ort während des Jüngsten Gerichts. Einem Aufklärer wie Gottsched genügt diese Fernerwartung nicht mehr; ähnlich wie Lessings Nathan postuliert er, daß ein Tugendhafter „unausbleiblich“ bereits hienieden „glücklich werden“ müsse.30 Sein Vergeltungsverlangen ist so dringend, daß er auch materielle Glücksumstände, „Ehre, Stand und Reichthum“, einzubeziehen bereit ist. In solcher Naherwartung wird der Druck sichtbar, unter den das christliche Weltbild seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert geraten war. Denn das göttliche Gericht ist dem Neuen Testament zufolge keine – nach menschlichen Begriffen – genaue ‚Bezahlung‘: Der Lohn steht in keinem Äquivalenzverhältnis zur Leistung, so daß er kalkulierbar wäre, sondern er ist eine überschwengliche, unverdiente Gabe (Mt 25,21.23; Lk 6,38; 12,37); auf ihn besteht keinerlei Anspruch, da er dem souveränen Willen und der schenkenden Güte Gottes entspringt (Mt 20,12–15; LK 17,7–10).31
Der Gott der aufgeklärten Metaphysiker teilt seine Gnade dagegen vernünftig aus.32 Er garantiert die Welt- als Wertordnung, wird dabei aber menschlichen Maßstäben unterworfen.33 Gott wird instrumentalisiert, bleibt aber die unverzichtbare Voraussetzung menschlich-praktischer Autonomie, denn die Erwartung des mundanen Glücks, in dessen Dienst er gestellt wird, rekurriert – wie die folgenden Komödienanalysen noch unterstreichen werden – auf religiöse Gewißheiten. 28 Martin Winter: Lohn I – TRE 21, S. 447–449, hier S. 447. 29 Vgl. Duden: Etymologie, S. 208, s. v. gelten. 30 Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit – AW 5,2, S. 109 (§ 75); im
Original hervorgehoben. Das folgende Zitat ebd. (§ 76). 31 Winter: ebd. Vor allem in der Moralpredigt ist diese Entkoppelung jedoch häufig
zurückgenommen worden, wie an Jacob Masens Ollaria gezeigt wurde. 32 Vgl. Leibniz: Theodicee (Übers. von Gottsched), S. 482. 33 Sehr direkt und darum leicht komisch formuliert diesen Gedanken der Diener des Carl-
son in Pfeffels Kaufmann: „Sie [Carlson] machen einen so edlen Gebrauch von ihren Gütern, daß der Himmel sehr ungerecht gewesen wäre, wenn er sie Ihnen entzogen hätte“ (I,1, S. 260).
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4.3.2 ‚Politisches‘ Kalkül und wirtschaftliche Interessen im Dienste des Gemeinwohls Widerstreiten bei Gottsched demnach performative Tendenzen und ein Resultatsoptimismus religiöser Provenienz, so ist die überlegene Einsicht von Thomasius’ Weisem von vornherein eine relative. Weise nennt Thomasius denjenigen, der „zuerst immer wieder seine eigene Torheit durchschaut, [d]er alle Dinge, insbesondere das Verhältnis der eigenen und fremden Kräfte, richtig abschätzen kann“.34 So verstanden, verfügt sein Weiser nicht über eine sichere Erkenntnis der Norm, sondern richtet seine Aufmerksamkeit vor allem auf die (zwischen-)menschlichen Bedingungen jeglichen Handelns. Was ihn auszeichnet, ist im üblichen Sprachgebrauch der Zeit weniger Weisheit als ‚Klugheit‘.35 Die Notwendigkeit, klug zu beobachten und zu handeln, ergibt sich aus der eingangs beschriebenen Einsicht in die Affektnatur des Menschen. Die Affektbestimmtheit des menschlichen Handelns bietet zugleich aber einen probaten Ansatzpunkt für die Beobachtung anderer, um deren Absichten zu erkennen, denn diese lassen sich, von Affekten mehr als von Vernunft geleitet, nie vollständig verbergen.36 Die Affektenlehre, die Thomasius aus der traditionellen Lastertrias entwickelte, bot dazu ein Analyse- und Deutungsraster, das bis Mitte des 18. Jahrhunderts weite Verbreitung fand.37 Von der romanischen Tradition höfischer Klugheitslehren im Anschluß an Machiavelli und Gracián war oben im Zusammenhang mit der Legitimitätsfrage listiger Verstellung, wie Der Jude von Venetien sie aufwirft, die Rede (vgl. S. 115). Thomasius greift diese Tradition im Anschluß an seine Ethik – oder genauer: in Reaktion auf deren Aporien – auf.38 Das konfrontiert die 34 Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 256. 35 Vgl. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit – AW 5,2, S. 328–334
(§ 497–509). Da Thomasius die Möglichkeit einer weisen Erkenntnis des Guten skeptisch beurteilt (in seinem Kurzen Entwurf der Politischen Klugheit von 1710 reserviert er sie Gott, vgl. S. 6f., Kap. I, § 12f.), kann er Klugheit und Weisheit nicht polar gegenüberstellen. Indem er das Bemühen um die ‚weise‘ Erkenntnis des Guten aber auch als Teil der Klugheit betrachtet, erhebt er diese zu einer erfahrungsgestützten Annäherung an die Weisheit (vgl. ebd., S. 9, § 23). 36 Vgl. Christian Thomasius: Erfindung der Wissenschaft anderer Menschen Gemüt zu erkennen. Schreiben an Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg zu Neujahr 1692. – In: Brüggemann (Hrsg.): Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung, S. 61–79, hier S. 69f. 37 Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 310–314. 38 Zum Verhältnis von Thomasius’ und Graciáns Anthropologie und Verhaltenslehre vgl. Achermann: Substanz und Nichts. Überlegungen zu Baltasar Gracián und Christian Thomasius. – In: Thomasius im literarischen Feld, S. 7–34. Achermann kontrastiert die „Vorrangstellung, die Gracián dem ‚intellectus‘ in der Seelenarchitektur einräumt“, weil er an der menschlichen Willensfreiheit festhält, mit Thomasius’ Konzentration
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Regeln ‚politischen‘ Verhaltens unmittelbarer als üblich mit der Frage nach ihrer Normadäquanz, birgt umgekehrt aber auch die Gefahr, daß die erkenntnistheoretisch bereits problematisierten Normen vollends in den Strudel taktischer Nützlichkeitserwägungen geraten – und zu Variablen jenes Wett- und Glücksspiels ‚herabsinken‘, als das Gracián das situationsorientierte Handeln des Politicus metaphorisiert.39 In diesem Fall würde die „Unsicherheit von Welt“40 grenzenlos. Daß alles relativ wird, nämlich sich als relativ zur Praxis erweist, liegt zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch insofern nahe, als die Anwendung des Politicus-Ideals auf die soziale Praxis enorm ausgeweitet wird: „Von einer ‚ars gubernandi‘ wird die Politic nunmehr zur Lehre eines klugen Umgangs in der Gesellschaft.“41 „Der ungemeine Nutzen“ ‚politischer‘ Klugheit soll Thomasius und anderen zufolge nicht nur dem Hofmann und Schülern, die sich – etwa auf Weises Zittauer Gymnasium – für öffentliche Ämter ausbilden, zugute kommen, sondern auch jenen, die „von der Kauffmannschafft / Hauswirthschafft u. d. g. Profession machen / ja auch dem Frauenzimmer / als welches die meisten Maximes mit denen Männern gemein hat / oder haben soll“.42 Welche Konsequenzen die neue ‚Privatpolitik‘ für die Auffassung sozialer Interaktion als Spiel hatte, erörtert das nachfolgende Unterkapitel anhand des Verschwenders. Hier wird zunächst verfolgt, wie die ‚politische‘ Perspektive den Umgang mit dem Geld veränderte. Erinnert sei daran, daß Blümels ‚Haupt- und Staatskomödie‘ politisches und erotisches Geschick einschließlich simulatorischer Verkleidungen feierte, den Handel hingegen unter einen universalen Betrugsverdacht stellte, der in den immer neuen Verstellungen des Juden offenbar wurde (Kap. 2.3.2). Solche pauschalen Dichotomisierungen kennt die zur Anthropologie und Gesellschaftslehre ausgeweitete prudentia politica des frühen 18. Jahrhunderts nicht mehr. In Johann Georg Walchs Philosophisches Lexikon von 1726 fand ein Artikel „Geld-Kunst“ Eingang, der – so die ‚politische‘ Definition des Begriffs – über „die Geschicklichkeit, sich in Ansehung des Gelds vernünfftig aufzuführen“, Auskunft gibt.43 Walch unterscheidet zwischen „moralischer“ und „politischer Geld-Kunst“, begreift
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auf die ‚voluntas‘; der Wille aber „ist unfrei, der Verstand ist dem Willen unterworfen. Einzig in einer bestimmten ausgewogenen Abstimmung der Affekte untereinander vermag der Verstand privilegierter Menschen zu erkennen und tugendhaft zu agieren“ (S. 32f.). Vgl. Gracián: Handorakel, S. 5: „Mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm.“ (Max. 3). Die „Unsicherheit von Welt“ um 1700 markiert Leander Scholz: Das Archiv der Klugheit, S. 1 als Ausgangspunkt der ‚politischen‘ Klugheitslehre vor allem bei Thomasius. Gabler: Machtinstrument statt Repräsentationsmittel, S. 21 Anm. 55. Thomasius: Politische Klugheit, Vorrede, S. )(2v. Walch: Philosophisches Lexikon, Sp. 1139–1155, hier Sp. 1139.
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allerdings auch das ‚moralische‘ Problem des Geldes nicht von einer absoluten, ge- und verbotsförmigen Tugend-Laster-Unterscheidung, sondern von den menschlichen Affekten her und definiert die „moralische Geld-Kunst“ als Schutz „vor den unvernünfftigen Neigungen, welche bey Gelegenheit des Gelds“ (nicht: durch das Geld) entstehen.44 Der Schwerpunkt seines Artikels liegt indessen auf der ‚politischen Geldkunst‘, „wie man Geld erwerben und dasselbige klüglich brauchen müsse“. Neben der fürstlichen nimmt dabei auch die „privat-politische Geld-Kunst“ – begriffen als rechtmäßige Mittel zum Gelderwerb sowie Regeln der Besitzwahrung – einen breiten Raum ein.45 In einem prinzipiellen Verzicht auf materielle Güter sah bereits Thomasius kein „Kennzeichen der Weisheit“ mehr.46 Das zur eigenen Erhaltung Nötige sei vielmehr „durch rechtmäßige Mittel [zu] erwerben“.47 Einen ‚politischen‘ Akzent verleiht Thomasius dem Erwerbsstreben, insofern weniger Fleiß und Arbeit empfohlen werden als die „kluge Erwegung und fertige Ergreiffung aller Gelegenheiten / dabey man rechtmäßiger Weise etwas erwerben kan.“48 Indem das ‚politische‘ Denken aber auf Erwerb setzt und dazu anleitet, über den Ertrag der ‚natürlichen‘ Arbeitsleistung hinauszustreben, scheint es einen doppelt dynamischen Akzent zu setzen. Der Inbegriff von Eigentum, das Geld, ist überdies Inbegriff der Mittel, die der Kluge gebraucht, wenn er die Affektnatur der anderen für sich zu nutzen sucht: „Weil alles / auch Ehre und Lust vor Geld zu erlangen ist / so kan ein Kluger nicht irren / wenn er das Geld als einen Magnet brauchet / die Narren damit an sich zu ziehen.“49 Jene Wirkung des Geldes, die traditionell zu seiner Verurteilung Anlaß gab – nämlich daß es die Besitzgier erregt –, begründet hier seine Aufwertung zum Mittel eines ethisch zumindest neutralen Handlungsmusters. Ausschließlich auf „seinen eigenen Nutzen siehet“ gleichwohl nur der Narr.50 Wie weit geht also die von der Anerkennung der Affektnatur des Menschen getragene Aufwertung des Eigennutzes und damit 44 Ebd. Das folgende Zitat ebd., Sp. 1140. Bei seiner Erläuterung, welche ‚unvernünfti-
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gen Neigungen‘ entstehen können, greift Walch auf die Lasterbegriffe ‚Verschwendung‘ (zu wenig Besitzgesinnung) und ‚Geiz‘ (zu viel) zurück, doch kennt er keinen absoluten Maßstab für die Bestimmung dieses Zuwenig bzw. Zuviel. Es gilt vielmehr der relativistische Maßstab des jeweiligen Gebrauchs: „so lange das Vermögen seinen vernünfftigen Nutzen habe, es kein Reichthum sey“ (Sp. 1140). Erinnert sei daran, daß die Ollaria des Jesuiten Masen praktisch schon dieselbe Ethik propagierte. Ebd., Sp. 1148–55. Thomasius: Politische Klugheit, S. 209 (Kap. VIII, § 7). Im Original hervorgehoben. Ebd. § 4. Ebd., S. 211 (§ 10). Im Original hervorgehoben. Ebd., S. 96 (Kap. IV, § 55). Ebd. § 54.
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des Strebens nach Geld und Gut? Thomasius’ ‚politische‘ Programmschrift von 1692 versichert: „Die Weisheit ist nicht interessieret, sondern suchet mehr den Nutzen des gemeinen Wesens als den Eigennutz“.51 So entschieden kann, nachdem Thomasius die traditionell naturrechtliche Vorstellung einer spontanen socialitas des Menschen aufgegeben hat52 und ihm Erkenntnis und Erstrebung des Guten unsicher geworden sind, der Kurze Entwurf der Politischen Klugheit von 1707 nicht mehr sein: Dort reduziert sich die empfohlene Aufmerksamkeit für das Gemeinwohl darauf, in Gegenseitigkeitsrelationen zu denken und deshalb keinen anderen zu schädigen.53 Ausgaben, von denen andere profitieren, sind danach zu tätigen, ob „man sich damit Freunde machet / und seine Feinde besänfftiget.“ Sozialität wird auf diese Weise faktisch erhandelt! Traditioneller blieb die Naturrechtslehre Christian Wolffs, die dem Menschen ein ‚natürliches‘ gemeinschaftliches Interesse zuschreibt und daher das gemeine Wohl dem Sonderinteresse vorordnet, das wiederum aus einem Mangel an vernünftiger Einsicht und gutem Willen zu erklären sei.54 Wo eine praktische Regel aufzustellen ist, wie „das gemeine Beste, oder die Vollkommenheit aller Menschen überhaupt, desto williger zu fördern“ sei, folgt jedoch auch der Wolff-Adept Gottsched dem ‚politischen‘ Modell eines Handels auf Gegenseitigkeit: Dem „Tugendschüler“ ist vor Augen zu führen, daß diese Beförderung des gemeinen Besten, mit seiner eigenen Wohlfahrt genau verbunden ist. Denn wer anderer Leute Vollkommenheiten gern und willig befördert, der bewegt sie, ein gleiches gegen ihn zu thun. Da wir nun ohne fremde Beyhülfe, unsere Glückseligkeit nicht hoch bringen können: so werden wir desto leichter darinn von einer Stufe zur andern fortschreiten; je mehrere wir uns durch Beförderung ihrer Wohlfahrt, verbindlich gemacht haben.55
Das ist ganz von den einzelnen (ego und alter, letztlich freilich ego) und beider individuellem Nutzen her gedacht, nicht vom Standpunkt einer vorauszusetzenden übergreifenden Instanz oder Norm aus. Sehr prägnant tritt die normative Spannung, unter der die optimistischnormativistische Frühaufklärung steht, im Artikel „Eigen-Liebe“ aus Zedlers Universal-Lexikon zutage: Eigenliebe wird dort einerseits als „natürlicher 51 Christian Thomasius: Erfindung der Wissenschaft anderer Menschen Gemüt zu erken-
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nen. Schreiben an Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg zu Neujahr 1692. – In: Brüggemann (Hrsg.): Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung, S. 61–79, hier S. 63. Vgl. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, S. 242. Vgl. dagegen ebd., S. 108 zur herkömmlich naturrechtlichen Annahme eines natürlichen Strebens nach dem Gemeinnutz in Thomasius’ Frühwerk Institutiones jurisprudentiae divinae (1687/88). Vgl. Thomasius: Politische Klugheit, S. 215 (Kap. VIII, § 21). Das folgende Zitat ebd., S. 221 (§ 39). Vgl. Ernst Wolfgang Orth: Interesse – GG 3, S. 305–365, hier S. 350f. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit – AW 5,2, S. 136 (§ 126).
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Trieb“ der Selbsterhaltung anerkannt, andererseits unter den theologischen Vorbehalt gestellt, daß „wir uns aber alle in dem Stande der Verderbniß befinden“, so daß die Eigenliebe gebessert werden muß.56 Regeln dafür sind einerseits, daß „das gemeine Beste dem Privat-Nutzen vor[zu]ziehen“ sei, andererseits eine exakte Wechselseitigkeit im Verhalten der einzelnen zueinander.57 Bei der Begründung dieser Wechselseitigkeit wiederholt sich die inkohärente Kombination von normativer Forderung und deren behaupteter Befriedigung auf ‚natürlichem‘ Wege ein weiteres Mal: Nun wird einerseits Jesu Wort „Liebe deinen Nächsten als dich selbst“ (Mt 22,39; Mk 12,31; Lk 10,27) aufgegriffen, diese Verpflichtung – gegen die theologische Tradition – andererseits aber exakt quantifiziert, mit der Folge, daß die eigene Pflicht einen Anspruch gegen andere begründet: „Also soll unsre Liebe gleich seyn, und wir müssen unsern Nächsten so sehr lieben, als uns selber. [...] die Liebe, die ich meinem Nächsten schuldig bin, ist er mir gleichfalls zu erweisen verpflichtet, und was ich ihm thue, das muß er mir wieder thun.“58 Eine explizite Aufwertung des Eigennutzes oder ‚Interesses‘, wie sie sich zur gleichen Zeit in Westeuropa vollzog, ist mit Thomasius’ Anerkennung der Affektnatur des Menschen und dem daraus gezogenen Schluß, Verhaltensregeln müßten mit einem ubiquitären Vorteilsstreben rechnen, nicht verbunden. Immerhin ist der Ausgangspunkt ähnlich: eine ‚realistische‘ Anthropologie, die anerkennt, daß Moralgebote und Religion die destruktiven Leidenschaften des Menschen nicht zu bändigen vermögen.59 Vorgeschlagen wurde daher, die Leidenschaften oder Affekte, statt sie einfach zu unterdrücken, zu einer indirekten – und nicht mehr eigentlich moralischen – Sicherung der gesellschaftlichen Ordnung zu nutzen.60 Thomasius’ Überlegungen, wie die verschiedenen Affekte sich gegenseitig neutralisieren ließen,61 bewegen sich ebenso in diesem Rahmen wie die zahlreichen Klugheitslehren der Frühauf56 Zedler: Universal-Lexikon Bd. 8 (1734), Sp. 510–513, hier Sp. 511. Der Artikel ist
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damit auch ein Beleg für das oben (S. 414) skizzierte Verhältnis von Vernunftanspruch und theologischer Überlieferung im Denken der Aufklärung: Die Argumentation oszilliert zwischen der vernünftigen Bestätigung religiös vorgegebener Regeln und deren Entwertung durch eben den dabei erhobenen Begründungsanspruch. Indem der Artikel „Ehr-Geitz, Wollust und Geld-Geitz“ als die „drey leiblichen Töchter der EigenLiebe“ deutet (ebd., Sp. 512), bezeugt er zudem die Fortwirkung von Thomasius’ Affektenlehre. Ebd., Sp. 512. Ebd. Vgl. Hirschman: Leidenschaften und Interessen, S. 23. Vgl. ebd., S. 24. Vgl. Vollhardt: Zwischen pragmatischer Alltagsethik und ästhetischer Erziehung, S. 124.
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klärung. Nicht ganz parallel – weder zeitlich noch der Argumentationsweise nach – gehen deutsche und westeuropäische Aufklärung dort vor, wo Albert O. Hirschmans Untersuchung über die semantische Umwandlung von Leidenschaften in Interessen die entscheidende Rechtfertigung des entstehenden Kapitalismus ausgemacht hat: dort, wo eine der Leidenschaften, die Habgier, herausgegriffen und in ein wirtschaftlich und sozial produktives ‚Interesse‘ umgedeutet wurde, das helfen könne, die anderen, für die Gesellschaft schädlicheren Leidenschaften – Machtstreben und sexuelle Begierde – zu bekämpfen oder zu regulieren.62 Die Lastertypologie in Thomasius’ Ausübung der Sittenlehre präsentiert den als Freude am Besitz von käuflichen Dingen verstandenen „Geld-Geitz“ noch als schädlichstes und verwerflichstes aller Laster, weil „ein Geitziger von aller Menschen-Liebe gäntzlich entblösset ist“.63 The Fable of the Bees des in Holland geborenen englischen Arztes Bernard de Mandeville, kein Jahrzehnt später (1705) zuerst veröffentlicht und in Deutschland wie in England vieldiskutiert,64 läßt sich als Affektenlehre und Moralphilosophie durchaus mit der Sittenlehre vergleichen;65 Mandeville jedoch stellt das Streben 62 Vgl. Hirschman: ebd., S. 49f. 63 Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 272 (11. Hauptst. § 18). 64 Die lebhafte deutsche Rezeption der Fable of the Bees setzte 1725 ein und war
zunächst von frontaler Ablehnung geprägt. Eine partielle Anerkennung fand seit der Jahrhundertmitte die Lastersatire des Buches, nicht aber seine Grundthese. Die gesellschaftstheoretische Qualität des Werkes erkennt erst Kant (Kritik der praktischen Vernunft A 68–70), der Mandevilles (vermeintliches) materiales Prinzip der Sittlichkeit (nämlich die Orientierung an der gesellschaftlichen Praxis) aber für ebenso untauglich erklärt wie andere denkbare materiale Sittlichkeitsprinzipien, um das formale des kategorischen Imperativs zu etablieren. Vgl. Fabian: The Reception of Mandeville, S. 711–722; zur Wirkung in England vgl. die Einführung des Herausgebers in Mandeville: The Fable of the Bees, S. cxiv–cxlvi; ausführlich zur wirtschaftstheoretischen Diskussion in England von Mandeville bis Adam Smith, stets vor dem Hintergrund der ökonomischen und politischen Bedingungen, Picht: Handel, Politik und Gesellschaft; mit vergleichendem Blick auf die englische Literatur jetzt zudem Volkmann: Homo oeconomicus, S. 482–527. Volkmanns Buch verfolgt die Herausbildung des ökonomistischen Menschenbildes (mit dem Handlungsideal strategisch-rationaler Vorteilsoptimierung) seit dem späten Mittelalter sowie den Umgang mit diesem Menschenbild – d. h. zumeist dessen Kritik – in der englischen Literatur bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Die Lücken, welche die vorliegende Studie zwischen ihren englischen Autoren Shakespeare, Mandeville und Adam Smith läßt, werden dort geschlossen. 65 Eine weitere, für die Diskussionslage zu Beginn des 18. Jahrhunderts bezeichnende Gemeinsamkeit ist, daß auch Mandeville die wohltätigen Effekte des von ihm beschriebenen Gesellschaftsmodells an die umsichtige Lenkung des Geschehens durch einen einsichtsvollen und geschickten Politiker bindet (vgl. The Fable of the Bees Bd. 1, S. 369). Näher an die von Adam Smith (vgl. unten S. 453) vertretene Laissezfaire-Haltung und das entsprechende Vertrauen auf die Selbstregelungskraft des Marktes wird Mandeville bei Picht: Handel, Politik und Gesellschaft, S. 49f. gerückt.
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nach Geld und die Freude daran, es auszugeben, als wichtigste Voraussetzungen für die Wohlfahrt eines Landes dar: THE Root of Evil, Avarice, That damn’d ill-natur’d baneful Vice, Was Slave to Prodigality, That noble Sin; whilst Luxury Employ’d a Million of the Poor, And odious Pride a Million more: Envy it self, and Vanity, Were Ministers of Industry; Their darling Folly, Fickleness, In Diet, Furniture and Dress, That strange ridic’lous Vice, was made The very Wheel that turn’d the Trade.66
Da Mandeville dem ‚Geiz‘ das bislang konstitutive Merkmal ‚übertriebene Sparsamkeit, Horten‘ nimmt,67 kann er ihn, obgleich ein Laster, als produktiven Faktor einer nicht mehr auf Subsistenz, sondern auf Wachstum eingestellten Volkswirtschaft begreifen: „Prodigality has a thousand Inventions to keep People from sitting still, that Frugality would never think of; and as this must consume a prodigious Wealth, so Avarice again knows innumerable Tricks to rake it together, which Frugality would scorn to make use of.“68 Die Implikation wirtschaftlicher Dynamik – die dazu führt, daß „the very Poor / Liv’d better than the Rich before“69 – entspricht der ökonomischen Expansion in England nach der Glorious Revolution.70 Würde das ‚Laster‘ die Menschen nicht zu wirtschaftlicher Tätigkeit reizen und stattdessen „Content and Honesty“ sich ausbreiten, so würde das Land verarmen, wie der Schlußteil der Fable wenig verlockend ausmalt.71 So weit geht die von der skeptischen Anthropologie eines Thomasius und dem Privatpolitik-Programm der frühen Aufklärung getragene Dynamisierung der Ethik nicht.72 Zum einen 66 Mandeville: The Fable of the Bees, S. 25. 67 Vgl. ebd., S. 102 (Remark I.). Mandevilles Remarks zu seiner Bienenfabel erschienen
zuerst 1714. 68 Vgl. ebd., S. 105 (Remark K.). 69 Ebd., S. 26. 70 Vgl. Schultz: Handwerker, Kaufleute, Bankiers, S. 37–41; Bauer, Matis: Geburt der
Neuzeit, S. 460. 71 Mandeville: The Fable of the Bees, S. 35. 72 Ausführlich werden Mandeville und Thomasius von Peter Schröder verglichen: Laster
und Tugend bei Bernard de Mandeville (1670–1733) und Christian Thomasius (1655–1728). – In: Thomasius im literarischen Feld, S. 187–201. Schröder arbeitet auf der einen Seite die formale Parallele im Grundgedanken der beiden heraus: „So wie nach Mandevilles Dafürhalten durch private vices ein public benefit entsteht, so formen die menschlichen Begierden, wenn sie im richtigen Maße zusammenwirken, die
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wird der Rat, sich strategisch zu verhalten, kaum als Imperativ zu ökonomischem Engagement verstanden: Als probate Mittel des Gelderwerbs nennt der bereits zitierte Lexikon-Artikel, „daß man eine reiche Heirath thue“ oder, an zweiter Stelle, ein Studium aufnehme, um später in amtliche Dienste treten zu können (wie in Schochs Comoedia Vom Studenten-Leben vorgeführt).73 An den Handel, der bei Gracián ein Paradigma strategischen, auf den eigenen Vorteil bedachten Handelns bildet, denkt Walch nicht. Zu berücksichtigen ist dabei, daß die Adressaten jenes Lexikons offensichtlich Gelehrte bildeten, denen Handelsgeschäfte nicht anstanden.74 Eben diese ständische Restriktion aber prägt den hier rekonstruierten Handelsdiskurs generell – an die Schwierigkeiten der Aufklärungskomödie mit der Kaufmannsfigur sowie an die Vorbehalte des Theaterreformers Gottsched gegen den Markt sei erinnert. Begegnete uns der Kaufmann in den Moralischen Wochenschriften vor allem als gesellschaftstheoretische Projektionsfigur, so finden wir bei Walch lediglich merkantile Metaphern: wer fleißig studiert, dürfe sich „gegründete Hoffnung machen“, „sich bey anderen in Hochachtung und guten Credit zu setzen“ und „mit grossem Wucher wieder ein[zu]ernden, was er reichlich ausgesäet hatte“.75 Zum anderen bezeichnen, trotz der Anerkennung der Affektnatur des Menschen, Beständigkeit und Ruhe weiterhin den Idealzustand. Gemeint ist nicht allein Innerlich-Psychisches – „Gemüthsruhe“ durch Dämpfung der Affekte –, sondern auch Äußerlich-Praktisches: „Dannenhero ie mehr einer in der Klugheit gethan / ie mehr entziehet er sich denen Geschäfften und schaffet sich dieselbe von Halse.“76 Das fordert nicht zum Müßiggang auf, hält aber zur mäßigen Arbeit an; die Grenze des rechten Maßes ist auch und gerade dort zu beachten, wo sich Expansionschancen zu öffnen scheinen: Die durch Klugheit erlangte Weisheit zeichnet sich dadurch aus, „daß man mitten im guten Glück nicht weiter gehe.“77 Durchaus bezeichnend für die deutschen Verhältnisse zu Beginn des 18. Jahrhunderts, beschneidet Thomasius die Dynamik, die das Politicus-Ideal bei westeuropäischen Autoren entwickelte.78 Die Erwerbs-‚Politik‘, die seine Klugheitslehre entwirft, ist eher an Subsi-
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vernünftige Liebe, die in ihrer Wirkung das gemeine Beste zur Folge hat“ (S. 200). Auf der anderen Seite betont er aber auch die Unterschiedlichkeit der sozialen und ökonomischen Bedingungen in London und in Leipzig. Walch: Philosophisches Lexikon, Sp. 1149, s. v. Geld-Kunst. Vgl. ebd., Sp. 1152: „Eine öffentliche Wirthschafft treiben / wird wohl durchgehends bey uns für eine Sache gehalten, die einem Gelehrten unanständig“. Ebd., Sp. 1150f. Vgl. Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 174f. (8. Hauptst. § 2); ders.: Politische Klugheit, S. 76 (Kap. IV, § 4). Vgl. Thomasius: Politische Klugheit, ebd. (§ 6), das Zitat S. 88 (§ 35). Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 115.
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stenz als an Expansion orientiert. Gewinnstreben hat kein eigenes Recht: „Wer die Weißheit deshalber suchet / daß er Macht und Reichthum gewinnen möge / der ist nicht klug.“79 Trotz der referierten Anwendung ‚politischer‘ Denk- und Verhaltensweisen auf den Eigentumserwerb stellt sich ethisch unanfechtbarer Gewinn nach wie vor eher als Gnade denn als Folge eines Kalküls ein: „Der ist aber weise / der gewiß glaubet / daß die Weißheit reich mache und aus dem Staube erhebe.“80 Wie hier Thomasius, darf man Reichtum erwarten, aber nicht erstreben. Viele Komödien, auch solche, die materiellen Besitz prinzipiell nicht pejorisieren, machen ihre Figuren in diesem Sinne durch Schenkung, Heirat oder Erbschaft reich. Thomasius unterscheidet in diesem Sinne zwischen einer bewußten „Absicht“ und dem „Nutzen“, den „wir vorher nicht bedacht haben“.81 In Gelddingen wird dem spezifischen Anliegen des Politicus – nämlich die Lücke zwischen Absicht und Nutzen möglichst klein zu halten, weil vorausgesetzt wird, daß man in der Regel ohnehin weniger erreicht als erstrebt; anders gesagt: der Ambition auf Beherrschung des gesellschaftlichen ‚Spiels‘ – folglich eine Grenze gezogen, und zwar letztlich aus theologischen Gründen: Als sicher berechenbarer Gewinn würde das Geld in Konkurrenz zu Gott treten – welche Gefahr bereits die Wucherdiskussion im Merchant of Venice prägte (vgl. oben S. 88). Das Politicus-Ideal und die mit ihm verbundene Idee menschlicher Selbstermächtigung verschärfen noch das Problem. Denn als faber fortunae suae droht der Mensch mit der göttlichen Allmacht in Konflikt zu geraten.82 Thomasius reagiert darauf ambivalent. Einerseits beschreibt er Gott mit ‚politischen‘ Kategorien, anthropomorphisiert ihn also: Da Gott alles überblickt und „vorher [weiß], was daraus unter allen möglichen Umständen erfolgen kan“, tut sich ihm die genannte Lücke nicht auf, weshalb „aller Nutzen der Dinge eine Göttliche Absicht“ ist.83 Andererseits kann sich, wo dieser absolute Maßstab aufrechterhalten wird, die Tendenz zur Selbstermächtigung des handelnden Menschen allenfalls vorarbeiten, nicht aber durchsetzen.
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Thomasius: ebd., S. 101 (§ 71). Ebd. Vgl. Zedler: Universal-Lexikon Bd. 24 (1740), Sp. 1725, s. v. Nutzen. Vgl. Gundling: Discovrs über [...] Die Politic, S. 7: Gott habe „seine Absichten, die wir nicht allezeit penetriren können; aber er will doch auch nicht haben, ut homines dormiant; sondern sie sollen Vernunft gebrauchen.“ Damit die Menschen ihre Handlungsmächtigkeit jedoch nicht überschätzen, behalte Gott „sich allezeit exceptiones [hier als unberechenbare Zufälle zu verstehen; D. F.] für“: „Denn GOtt widerstehet denen Hoffärtigen.“ (S. 10) 83 Zedler: ebd.
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4.3.3 Erzieherische ‚Privatpolitik‘: Luise Gottscheds Verschwender Unter welchen Umständen strategisches, interessegeleitetes Handeln – das des Politicus – gerechtfertigt sei, bildete gegen Mitte des 18. Jahrhunderts die zentrale Frage, die sich der Komödie angesichts der vorstehend skizzierten Verschiebungen der gesellschaftlichen Semantik stellte. Gottscheds Festlegung der Komödie auf Lastersatire und ‚poetische Gerechtigkeit‘ wehrte die von Thomasius eingeleitete Entwicklung theoretisch ab. So heißt es in der Vorrede zum sechsten Band der Deutschen Schaubühne von 1745 über das Testament der Gottschedin: „[...] mislungene Absichten, die belohnte Tugend, und die Verspottung des Lasters sind die Vorzüge, die man darinn antreffen wird.“84 Unter Annahme einer strikten Tugend-Laster-Dichotomie hat die Komödie demnach den Sieg von primär moralisch qualifizierten Figuren darzustellen, die sich nicht durch planvolles, geschicktes Verhalten durchsetzen, sondern von dritter Seite eine ‚Belohnung‘ erhalten. Schaut man darauf, wie sich die wertbezogene Handlungsstruktur der Komödien selbst gestaltet, so fällt freilich auf, daß Gottscheds poetologische Vorschrift weit besser auf ein bald 100 Jahre altes Stück wie Gryphius’ Horribilicribrifax paßte als auf die Komödien seiner Zeit. Das gilt auch für solche Stücke, die unter seinem unmittelbaren Einfluß entstanden sind, so für den Verschwender (1741), den Luise Gottsched als Übersetzung „aus dem Französischen des Herrn Destouches“ anfertigte.85 Gewiß behält auch in diesem Stück um einen jungen Adligen, der in übertriebener Großzügigkeit sein Erbe verschleudert und buchstäblich verspielt, sowie um eine junge Witwe, die das Verlorene für ihn zu retten unternimmt, indem sie es listig an sich bringt, die „Tugend“ (V,16, S. 194) die Oberhand. Doch setzt sich die tugendhafteste Figur, Frau von Ehrlichsdorf, deshalb durch, weil sie zugleich die weitblikkendste Strategin und gewiefteste Taktikerin ist. Und ‚belohnt‘ – nämlich durch die Heirat mit der reich gewordenen Frau von Ehrlichsdorf wieder mit 84 Johann Christoph Gottsched (Hrsg.): Deutsche Schaubühne Bd. 6, S. XIV. 85 Der Verschwender, oder die ehrliche Betrügerinn. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. –
In: Gottsched (Hrsg.): Die deutsche Schaubühne Bd. 3, S. 63–194, hier S. 63. Daß Der Verschwender kein nach Gottscheds Regeln gefertigtes ‚Originalschauspiel‘ ist, trägt sicher dazu bei, daß das Stück den poetologisch gesteckten Rahmen überschreitet. Der Autor der 1736 erschienenen französischen Vorlage, Philippe Néricault Destouches (1680–1754), gehörte zwar einer älteren Generation als Gottsched an; durch die Rezeption der englischen good-nature-Anthropologie entwickelte er jedoch früher einen ‚empfindsamen‘ Komödienstil (vgl. Jonas: Destouches, S. 262–282; zu Le Dissipateur ou l’honnête friponne, der Vorlage des Verschwenders, vgl. ebd., S. 160–179). Gottsched jedenfalls maß Destouches’ Stücken Musterfunktion zu (vgl. Krebs: L. A. V. Gottsched und die Vermittlung der französischen Komödie, S. 85f.) und zog sie sogar Molière vor (vgl. Vorrede zur Deutschen Schaubühne Bd. 6, S. XIV).
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seinem verlorenen Gut versehen – wird nicht eine Figur, die sich beständig tugendhaft verhalten hätte, sondern der Verschwender und Glücksspieler Lockerfeld. Die von Gottsched propagierte Tugend-Laster-Dichotomie und seine Zurückweisung von eigenmächtigem, taktisch versiertem Handeln im eigenen Interesse sind damit aufgehoben. Auf welchen anthropologischen, moral- und gesellschaftstheoretischen Prämissen – aber auch religiösen Mustern – diese Revision fußt bzw. wie sie legitimiert wird, ist im folgenden zu untersuchen. Der Verschwender stellt dafür eine besonders aufschlußreiche Textgrundlage dar, da das Problem des interessegeleiteten, strategischen Spiels und der dazu benötigten, moralisch jedoch prekären Simulation im Stück explizit wie implizit reflektiert wird. In der Affekttypologie noch bei Gottsched stellt der Verschwender den Antitypus des Geizigen dar.86 Vergleicht man die Verschwenderfigur bei Destouches und der Gottschedin mit dem Geizigen Molières, so zeigt sie überdies ein grundlegend anderes Verhältnis zu ihrem Laster: Während Harpagon durch und durch geizig und deshalb ‚unheilbar‘ ist, hat Cléon/Lockerfeld im ‚Kern‘ einen guten Charakter und verfehlt lediglich das rechte „Maaß“ (I,1, S. 66), wenn er einen Prachtaufwand treibt, der seine Einkünfte weit übersteigt, und sich hemmungslos dem Kartenspiel hingibt (vgl. III,2, S. 120 u. ö.).87 In Reaktion auf den Geiz seines Vaters (I,7, S. 86) ist die Tugend der Großzügigkeit bei ihm in das Laster der Verschwendung umgeschlagen. Dem Irrtum verfallen, Anerkennung lasse sich erkaufen (I,4, S. 77), vermag er zwischen wahren Freunden und bloßen Schmarotzern nicht zu unterscheiden. Weniger locker sitzt ihm das Geld nur dann, wenn er es mit Julie bzw. der Frau von Ehrlichsdorf zu tun hat, mit der ihn eine wechselseitige, aber noch nicht tragfähige Liebe verbindet (I,4, S. 81) – schon hier macht sich ein Rest von ‚natürlichem‘ moralischen Gefühl bemerkbar. Ausgerechnet derjenigen gegenüber, die ihm Gutes will, ist Lockerfeld mißtrauisch (II,5, S. 104f.); er erkennt nicht, daß es letztlich in seinem eigenen Interesse ist, wenn sie sein Geld und Gut nach und nach einstreicht, um es seiner Verschwendung zu entziehen. Dieser Irrtum ist komisch und zeigt zugleich, daß er auch vernünftig und haushälterisch denken kann. Und als er im Begriff ist, die Geliebte zugunsten einer anderen (wie die meisten Figuren mit sprechendem Namen: Fräulein von Buhlerwitz) zu verlassen, verspürt er ausdrücklich sein „Herz“ (IV,8, S. 166), das dagegen rät. Als er am Ende alles verloren hat, verschmäht er es, als Hochstapler zu leben, und faßt lieber den Tod ins Auge (V,9, S. 183f.).88 86 Vgl. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit – AW 5,2, S. 372 (§ 580). 87 Vgl. Jonas: Untersuchungen zu den Komödien von Destouches, S. 164. 88 Eine Herzensprobe bis auf den Tod veranstaltet, wie bereits erläutert (vgl. S. 143),
auch Gryphius’ Horribilicribrifax. Bezeichnend für die strengere Moral dieses Stücks, ist es dort allerdings die Tugendprotagonistin Sophia, die Festigkeit beweist.
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Letztlich besteht er damit die Tugendprobe, und sein Laster erweist sich als bloße Oberfläche, unter der ein guter ‚Kern‘ verborgen lag. Lockerfelds Gegenspielerin – davon war bereits die Rede – ist eine Virtuosin des Handel(n)s, sowohl in geschäftlicher Hinsicht wie auch als Meisterin des zwischenmenschlichen Intrigenspiels. Dazu gehört ihre überlegene Einschätzung der Lage, also der Absichten der anderen Figuren sowie des eigenen Handlungsspielraums, ebenso wie ihre perfekte Dissimulation, die sogar ihre vertraute Dienerin nicht durchschaut (II,1). Ihren direkten Gegner im Spiel um Lockerfelds Vermögen, den Grafen von Grundfalsch, vermag sie für sich einzuspannen, indem sie ihm amouröse Hoffnungen macht (I,3, S. 76). Als handlungslenkende Intrigantin hat diese Figur in der deutschen Komödie keine gleichwertige Vorgängerfigur. Trotzdem beruht ihr nachgerade perfektes politisches Spiel nicht auf einer radikal ‚politischen‘ Anthropologie und Moral. Wie schon ihr Name ebenso wie der zweite Titel des Stücks – „oder die ehrliche Betrügerinn“ – besagt, wird ihr bewegliches und trickreiches Verhalten vielmehr von einem Fundament unzweifelhafter Moralität unterfangen, das dem Rezipienten sogar viel früher enthüllt wird als der ‚gute Kern‘ Lockerfelds.89 Daß ‚politische‘ Geschicklichkeit, soll sie zulässig sein, an moralisch einwandfreie Absichten gebunden wird, ist typisch für die deutsche Rezeption des Politicus-Ideals;90 in der Regel handelt es sich dabei jedoch um formelhafte Beschwichtigungen voraussehbarer Moralitätseinwände, denn das ‚politische‘ Denken nimmt seinen Ausgang ja von der Uneindeutigkeit moralischer Kategorien.91 Daß Destouches’ Dissipateur und dessen deutsche Übersetzung nicht von dieser skeptischen Prämisse ausgehen, unterscheidet das in ihnen inszenierte Intrigenspiel von einem durch und durch ‚politischen‘ Szenario – und machte es, auf der anderen Seite, kompatibel mit der Gottsche89 Ihre tugendhaften, uneigennützigen Motive deuten sich bereits in der zweiten Szene an
(vgl. S. 70f.) und werden dann immer wieder herausgestellt (II,1; III,2, S. 120 u. ö.). 90 Vgl. Gabler: Machtinstrument statt Repräsentationsmittel, S. 24f. Auch Thomasius ist
darum bemüht, die rechte, ethisch legitime Klugheit von der falschen, der „Arglistigkeit“, zu unterscheiden: „Jedoch siehet es gar anders aus / wenn ein Weiser / als wenn ein Arglistiger simuliret und dissimuliret. Jener ist insgemein offenhertzig und von Natur zur Aufrichtigkeit geneigt; verstellet sich aber um der Schwachheit der Unweisen willen / entweder / damit er sie zur Weisheit führe / und sich zu Freunden mache / oder / daß er ihrer List und Gewalt entgehe; Allein dieser ist insgemein tückisch / auch von Natur darzu geneigt; und nimmt eine verstellte Auffrichtigkeit an / andere Unweise zu betriegen und ihnen Schaden zu thun“. (Politische Klugheit, S. 124, § 31) Thomasius’ Abgrenzung des Weisen und des Arglistigen entspricht recht genau der Gegenüberstellung der Frau von Ehrlichsdorf und des Grafen von Grundfalsch im Verschwender. Freilich ist die Evidenz („siehet es gar anders aus“), die beschworen wird, nicht tatsächlich gegeben, antwortet das Politicus-Ideal doch auf eben dieses Problem! 91 Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 29f.; Schröder: Logos und List, S. 240.
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dischen Verpflichtung der Komödie auf die Befestigung moralischer Normen. Bezeichnenderweise überläßt die Protagonistin ihrer Dienerin die heikelste Intrige (I,2, S. 73), den nicht nur dissimulierenden, sondern simulierenden Betrug am Grafen Grundfalsch. Ebenso bleibt es der Dienerin überlassen, die ‚politische‘ Taktik zu jener Vertracktheit zu treiben, daß das vorgebliche Eingeständnis eines ‚unschädlichen‘ Eigennutzes dem Gegner Vertrauen einflößen und über ganz andere, ihm durchaus nachteilige Absichten hinwegtäuschen soll (I,3, S. 75f.). Gegenüber Lockerfeld simuliert auch die Frau von Ehrlichsdorf (vgl. II,2), aber sie tut dies nicht, um ihn zu schädigen. Das mit den ‚politischen‘ Verhaltensregeln konkurrierende Gebot der Nächstenliebe wird mithin trotz aller Taktik, Verstellung und Täuschung nicht verletzt. Der Verschwender zeichnet sich damit durch eine möglichst innige Verquickung zweier au fond disjunkter Handlungsmodelle aus: Leitlinie des praktischen Handelns ist die auf den individuellen Nutzen ausgerichtete ‚Privatpolitik‘.92 Wer es wie Lockerfeld an ‚politischer‘ Vor- und Einsicht fehlen läßt, steht daher als „Narr“ da (I,7, S. 83). Jedoch werden die Zwecke auch des ‚politischen‘ Handelns an einer Moral gemessen, die den Eigennutz normativ zurückstellt, ja ihn als Negativkriterium verwirft: „Wahre Liebe [sey] ohne allen Eigennutz“ (II,1, S. 94). Wie erläutert, waren Anthropologie und Sozialphilosophie des 18. Jahrhunderts darum bemüht, den Eigennutz des einzelnen als mit dem gemeinen Besten kompatibel auszuweisen. Der Verschwender stellt sich demselben Problem und ‚löst‘ es einerseits in der mehrheitsfähigen Weise, daß der unsoziale Eigennutz (amour propre bei Rousseau) verurteilt, eine Nutzenerwägung im Dienste der Selbsterhaltung (amour de soi, ‚vernünftige Selbstliebe‘; vgl. I,1, S. 66) oder gar anderer dagegen anerkannt wird.93 Andererseits sticht die Komödie von der theoretischen Diskussion ab, indem sie Unvereinbares zusammenbindet. Die dramatische Form, genauer: der Typus der ‚frühempfindsamen‘ Komödie, ermöglicht die Verbindung von ‚politischer‘ Taktik und strenger Tugend geradezu, denn sie fordert die tugendhafte Identifikationsfigur ebenso wie die Komik des Intrigenspiels, der doppeldeutigen Rede und des Wissensvorsprungs des Zuschauers vor den getäuschten Figuren. Deutlicher als in einzelnen theoretischen Texten wird in dieser Komödie aber auch, welche Kluft sich zwischen den konkurrierenden Handlungsnormen der Zeit aufgetan hatte.94 92 Vgl. die treffende Charakterisierung der Frau von Ehrlichsdorf durch ihre Dienerin:
„alles weis sie zu ihrem Nutzen zu gebrauchen“ (III,2, S. 119; im Original: „Elle met tout en œuvre, & profite toujours“, Destouches: Le Dissipateur, S. 203). 93 Vgl. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 34f. 94 Eine Deutung der ‚Empfindsamkeit‘ (die dabei weiter als üblich verstanden wird), die den „Aspekt der Vermittlung“ in den Vordergrund stellt, hat Friedrich Vollhardt vorgetragen: „Zwischen der abstrakten Normerkenntnis [...] und den konkreten Bedin-
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Es liegt nahe, in der Konkurrenz divergierender Normen das Signum einer Übergangszeit zu sehen. Vordergründig im Sinne einer solchen mentalitätshistorischen Deutung unterscheidet Der Verschwender zwischen einer älteren Norm, die an Gültigkeit verliert, und einer neueren, die sich durchsetzt. So im Gespräch zwischen Lockerfelds Diener und der Dienerin der Frau von Ehrlichsdorf: „Christian. Wer ist wohl von euch allen [= euch beiden, d. h. Cathrine und ihrer Herrin; D. F.] der ärgste Spitzbube? Cathrine. Die Frage ist heute zu Tage ein Bißchen kützlich: Ueber die Ehrlichkeit ist man weg; man denkt nur an den Nutzen.“ (III,3, S. 120) Ebenso im Gespräch der Dienerin mit dem Grafen Grundfalsch, der sich als Lockerfelds Freund gibt, um ihn jedoch auszunehmen: Cathrine. Denken sie doch, wie einfältig ich bin! ich dachte, daß man sich der Falschheit schämen müsse; daß es ein groß Verbrechen sey, seinen Freund zu hintergehen; und daß hingegen nichts rühmlicher und schöner wäre, als daß man sich den Gesetzen der Freundschaft ganz aufopferte. Der Graf. Altväterische Sittenlehre! Cathrine. Freylich! Der Graf. Verdrießlich Zeug! Vor diesem ist dieß der abgeschmackte Brauch gewesen: heute zu Tage sind solche Freunde nicht mehr Mode. Die Menschen sind mit einander nur des Nutzens wegen verbunden. Die Freundschaft ist ein leerer Titel. Cathrine. Die Mode gefällt mir! Und nunmehro schließe ich allen Einwürfen zu Trotze, daß alle ehrliche Leute Narren sind. Nun! weiter an den Text. (I,3, S. 76).
Die Konstellation ist durchaus vertrackt: In ihren Gesprächen einerseits mit Christian, andererseits mit Grundfalsch nimmt Cathrine zwei gegensätzliche Positionen ein, die für sie aber beide wahr sind, da sie sowohl zur Rettung eines anderen agiert als auch ihren eigenen geldwertigen Vorteil verfolgt. Hinzu kommt, daß sie sich in beiden Gesprächen verstellt, denn sowohl die Auskunft über den Eigennutz, den ihre Herrin verfolge, als auch ihre treuherzige Ehrlichkeit im zweiten Gespräch dienen der Irreführung. Bestätigen Cathrines Reden also ihre Behauptung, daß freundschaftlich-ehrliche Umgangsweisen in der Dramengegenwart durch Eigennutz und daraus folgende Verstellung abgelöst sind? Geistesgeschichtlich stellt sich die Abfolge eher umgekehrt dar, entwickelte sich das angesprochene Konzept freundschaftlicher Aufrichtigkeit doch erst in Reaktion auf eine Erfahrung von gesellschaftgungen des Handelns, die von der Trieb- und Bedürfnisnatur des Menschen gesetzt werden, soll eine Verbindung hergestellt werden.“ (Zwischen pragmatischer Alltagsethik und ästhetischer Erziehung, S. 127) Diesen Ansatz teilt die vorliegende Studie, doch zeichnet sie ein weniger harmonisches Bild der ‚empfindsamen‘ Ethik und Sozialtheorie als Vollhardts Buch über die ‚naturrechtlich-empfindsame‘ Einheit von Selbstliebe und Geselligkeit (vgl. oben Anm. 6). Zu den Forschungsdebatten um die ‚Empfindsamkeit‘ vgl. den Überblick von Gerhard Sauder: Empfindsamkeit.
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lichem Verhalten, die das Politicus-Ideal konzeptionalisiert.95 Als prägnant historische Beschreibung ist die genannte Gegenüberstellung denn auch nicht zu verstehen; ein klares Bewußtsein dafür, daß sich die Konkurrenz und komplexe Verquickung heterogener Handlungsnormen einem historischen Prozeß verdanken, zeigt sich an keiner Stelle des Textes – und ist einige Jahrzehnte vor der Herausbildung des modernen historischen Bewußtseins auch gar nicht zu erwarten. ‚Alt‘ steht vielmehr für das ‚Gute‘, normativ Überlegene. Daß die Gegenwart davon abgefallen sei, wird – darin liegt der eigentliche Doppelsinn beider Passagen – gerade nicht approbiert. Was Der Verschwender manifestiert, ist gleichwohl nicht nur der prinzipielle mentale Konservatismus vor Ausbildung eines Denkens in historischen Fortschritten oder ökonomischer Expansion. In der Berufung auf die Aufrichtigkeit freundschaftlicher Verhältnisse kommt ex negativo zugleich eine gesellschaftliche Desintegrationstendenz zum Ausdruck, obwohl diese als solche nicht dargestellt wird. Das Neue als alt auszugeben bezeugt auf der einen Seite ein konservatives Bedürfnis, auf der anderen Seite aber auch eine Veränderung komödischer Normenreklamation. Von der religiös motivierten Schein-Kritik und TugendBewährung des Horribilicribrifax hat sich die Kritik des Verschwenders an betrügerischer Verstellung weit entfernt. Es ist nicht die Beziehung der Seele zu Gott, die rein zu erhalten ist, sondern die des Individuums zu seinen Mitmenschen. Im Gefolge der beschriebenen Aufwertung der Affekte rückt, anstelle festgeschriebener Ge- und Verbote, das empfindende Herz zu jener Instanz auf, der das moralische Urteil überantwortet wird, denn in ihm denkt man die Sympathie für andere beheimatet, auf die es nun ankommt. Voraussetzung dafür ist ein enormes Vertrauen in die natürliche Güte des Menschen: Fr. v. Ehrlichsd. Ihr Herz allein muß ihnen Gesetze geben. Lockerfeld. Wollen sie damit zufrieden seyn? Fr. v. Ehrlichsd. Ja, von Herzen gerne. Ich überliefere sie hiermit ihrer eignen Neigung. Lockerfeld erbittert. Das ist mir genug, gnädige Frau: nunmehro will ich nicht mehr wankend seyn (IV,7, S. 161).
Die Stelle hat eine komische Pointe: Lockerfeld glaubt, Frau von Ehrlichsdorf verweise ihn, den sie doch liebte, ganz kalt an das Fräulein von Buhlerwitz, die heiraten zu wollen er ihr eröffnet hat. In Wahrheit jedoch vertraut sie auf seine Liebe zu ihr. Tatsächlich wird er darin nicht mehr ‚wanken‘. Er hingegen erkennt weder, daß sein Herz sich für sie entscheiden wird (obwohl sein Ärger es ihm sagen könnte), noch, daß sie dies bereits ‚weiß‘ und deshalb doppelsinnig reden kann. Deutlich wird mithin zugleich, daß das ‚gute Herz‘ der Titelfigur von Verschüttungen befreit oder enthüllt werden muß. 95 Vgl. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit, S. 65.
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Die Demaskierung der ‚lasterhaften‘ Zentralfigur gehört zur Komödienkonvention; im Verschwender vollzieht sie sich jedoch nicht als satirische Bloßstellung eines Lasters, sondern als Entbergung einer guten ‚Natur‘, eines guten Ursprungs also, was die Rede von der ‚alten‘ Aufrichtigkeit zusätzlich legitimiert. Was die Titelfigur angeht, vernichtet diese Komödie nicht falsche Prätentionen; vielmehr baut sie ein Individuum auf.96 Verbergen und Enthüllung ist aber auch eine Basisoperation des ‚politischen‘ Spiels. Im Verschwender dient das Verbergen wie üblich der Komödienkomik, aber auch die Enthüllung tritt in Dienst, nämlich in den der empfindsamen Tugend. Über ihr komisches Potential hinaus hat Lockerfelds mangelnde Einsicht wichtige Folgen für das Syntagma des Stückes sowie für dessen implizite Haltung gegenüber dem Publikum. Indem ihn erst das ebenso komische wie pädagogische „Spiel“ (IV,4, S. 153) der Frau von Ehrlichsdorf sein Herz kennen lehrt, tritt ein Erziehungsprozeß an die Stelle älterer, statischerer Gattungsmuster wie der Herstellung der rechten äußeren Ordnung nach Maßgabe von vornherein gegebener innerer Werte (so im Horribilicribrifax) oder des Ausschlusses einer verderblichen Figur aus der Gesellschaft (so im Avare).97 Prozessual ist diese Erziehung zumal deshalb angelegt, weil sie ausdrücklich nicht einfach Belehrung sein will und kann. Denn den im Guten wie im Bösen empfindungsgeleiteten Menschen vermag allein die eigene Erfahrung zu belehren: [...] ich bin der Meynung, daß er erst zu Grunde gehn muß, ehe er sich ändern kann. Alsdann werden seine falschen Freunde, seine niederträchtigen Verführer, ihn den Schmerzen und der Reue überlassen; er aber wird die Augen aufthun, die Menschen kennen lernen, und durch Erfahrung überzeugt werden, daß unsere jetzige Zeiten voller Bosheit, Eigennutz, und Falschheit [frz. corruption, intérêt, fausseté98] sind, ja er wird seine Verschwendung selbst verfluchen. Man fürchtet die Klippen, wenn man einmal Schiffbruch gelitten hat, und ein Thor wird durch sein Unglück klug. (IV,4, S. 153)
So die Frau von Ehrlichsdorf ihrem Vater gegenüber, der seinerseits mit Empörung, „Predigen“ und Drohen versucht hatte, Lockerfeld von seiner Verschwendung abzubringen – natürlich erfolglos (I,7, S. 84). Der Vater sieht 96 Zur Ausbildung dieses Komödientyps bei Marivaux vgl. Warning: Die Komödie der
Empfindsamkeit, S. 17–19, zu Destouches Jonas: Untersuchungen, S. 281f. 97 Aufbauen kann dieser pädagogische Einsatz von Spielelementen auf die bereits antike
Vorstellung, daß Lernen gutenteils ludisch funktioniert. So leitet Platon den „Begriff παιδία (‹S[piel]›) aus παις (‹Kind›)“ ab (A. Corbineau-Hoffmann: Spiel – HWPh 9, Sp. 1383–1390, hier Sp. 1384, das folgende Zitat ebd.). Sein Schluß, „der Mensch sei ein Spielzeug Gottes“, eröffnet wiederum eine weitere Dimension von Spiel, die implizit auch Der Verschwender mitführt, wie weiter unten zu zeigen ist (Kap. 4.3.4). 98 Destouches: Le Dissipateur, S. 238.
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ein, daß die indirekte Einwirkung zweckmäßiger ist, gerade auf dem Gebiet der Moral, weil sie den anderen nicht zurückstößt, d. h. offen gegen seine Interessen auftritt, und er versucht im folgenden, ‚politischer‘ zu handeln. Von Gottscheds präzeptoraler Moralvermittlung setzt sich die Protagonistin der von seiner Gattin übersetzten Komödie demnach ab. Neuartig ist die Orientierung am Adressaten darum aber nicht, denn schon Masens Abundius vermochte erst durch eine Intrige seinen geizigen Sohn Desiderius zu kurieren.99 Weit ins vorangegangene Jahrhundert greift Der Verschwender bereits mit dem Anschluß an Graciáns taktikorientierte Verhaltenslehre zurück. Mit dem ‚Herz‘ als Tugendanker befindet sich das Stück zwar auf der Höhe seiner empfindsamen Zeit. Doch basiert seine Dramaturgie, handlungsintern und adressatenbezogen, noch auf der jesuitischen Reaktion auf die „Unsicherheit der Welt“ (Scholz). Freilich haben wir es dabei nicht mit einem spektakulären Sonderfall konzeptioneller Kontinuität zu tun, sondern mit dem Üblichen in einer Zeit geringer historischer Dynamik und damit einhergehend nur geringen Normenwandels. So ist die im Verschwender zu verzeichnende Flexibilisierung der aufklärerischen Komödiendidaxe weniger als großer Schritt ‚nach vorne‘ denn als Wiedergewinnung von Spielräumen zu werten, die die verschärften Moralitätsforderungen der intellektualistischen Frühaufklärung verschlossen hatten. Prinzip der Ehrlichsdorfschen Pädagogik ist, wie gesagt, daß sie den zu Belehrenden eigene, schmerzliche Erfahrungen machen läßt. Gegenüber dem Rezipienten hält Der Verschwender dieses Prinzip nicht ganz durch, denn der Zuschauer ist vom ersten Akt (2. Szene) an Mitwisser einer erzieherischen Inszenierung, die er von der Warte der ‚Pädagogin‘, nicht des ‚Zöglings‘ aus verfolgt. Von Lockerfeld ist er stets durch seinen Wissensvorsprung getrennt; er kennt die guten Absichten der Frau von Ehrlichsdorf und braucht für den Verschwender nichts zu befürchten. Diese distanzierte Haltung ist freilich typisch für die Komödie, nicht zuletzt Voraussetzung für ein Lachen, das dem Mitgefühl nicht unterliegt.100 Ebensowenig kann sich in einem Theater, in dem Der Verschwender inszeniert wird, jene Unsicherheit über Absichten und Moralität der Menschen einstellen, von der Thomasius ausging und die die ‚theatralische‘ Situation des Politicus auszeichnet. Zusammengefaßt: Die Delegation der moralischen Besserung an den Handlungsprozeß, der bestimmte Erfahrungen vermittelt, dynamisiert die Aneignung von Werten; indem der Zuschauer diese Erfahrungen nicht nachvollziehen muß (im Grund nicht einmal kann), da ihn Vorabinformationen in seiner distanzierten, unbeweglichen Position halten, fängt die theatrale Situation diese Dynamik jedoch wieder 99 Vgl. oben S. 252. 100 Vgl. Schiller: Ueber naive und sentimentalische Dichtung – NA 20, S. 4f.
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auf. Der Lernprozeß ist nicht offen, obwohl – und weil – er inszeniert wird. Zwar demonstriert das Stück an der Figur des Vaters der Frau von Ehrlichsdorf, daß auch der Belehrende zu lernen hat, doch induziert dies keinen unendlichen Prozeß, in dem niemand eine feste Position beanspruchen könnte. Vielmehr gibt es nach wie vor eine vorbestimmte Lektion; gewandelt haben sich lediglich die Mittel, wie sie am besten zu vermitteln sei. Trotzdem ändert sich, gegenüber der Gottschedschen Norm, das Verhältnis der Komödie zum Rezipienten, nämlich indem auch in dieser Hinsicht die Affekte aufgewertet werden. Die kognitive Vermittlung eines ‚moralischen Satzes‘, wie die Critische Dichtkunst sie konzipiert, weist die von Luise Gottsched übersetzte Komödie als wenig chancenreich aus, jedenfalls was das Erreichen derjenigen betrifft, die einer Besserung bedürfen.101 Dementsprechend spricht Der Verschwender den Rezipienten primär emotional an, gewinnen Komik und Empfindung an Raum. Dramentheoretisch ist eine solche Ästhetik in Deutschland erst einige Jahre später vertreten worden, nämlich in Johann Elias Schlegels Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters (1747, postum 1764 veröffentlicht): Wenn es [das Theater] lehrt, so thut es solches nicht wie ein Pedant, welcher es allemal voraus verkündiget, daß er etwas Kluges sagen will; sondern wie ein Mensch, der durch seinen Umgang unterrichtet, und der sich hütet, jemals zu erkennen zu geben, daß dieses seine Absicht sey.102
Eine solche Ästhetik will auf der einen Seite ‚politisch‘ geschickt sein (nämlich nicht ihre Absichten zu erkennen geben) und zielt auf der anderen Seite auf dasselbe menschliche Vermögen, auf das auch die Inszenierung der Frau von Ehrlichsdorf vertraut, nämlich die ‚natürlich gute‘ Empfindung, für die das ‚Herz‘ steht: „Die allerfeinste Erfindung der Fabel, und die allerschönste Ausführung der Charaktere ist vergeblich, wenn dadurch nur der Verstand, und nicht zugleich das Herz eingenommen wird.“103 101 Dazu, innerdramatische und theatrale Situation derart aufeinander zu beziehen, fordert
das Stück selbst heraus, wenn eine Figur über die Verstellung der anderen klagt: „Wollen sie denn Comödie mit mir spielen?“ (I,1, S. 95) Die Spiel-im-Spiel-Strukturen sind im Verschwender sehr vielfältig – vgl. neben den gegenläufigen Intrigenspielen der Frau von Ehrlichsdorf und des Grafen von Grundfalsch (und den begleitenden der Diener) das Verstellungsspiel, das Lockerfelds (Karten-)Spielgenossen mit dem Vater Ehrlichsdorf treiben (III,6). Und sie ziehen die theatrale Situation wiederholt in die Komödienhandlung ein; so lachen, aufgrund eines Wissensgefälles wie zwischen Bühnenfiguren und Zuschauer, die Figuren übereinander und betrachten den anderen als „lustig[]e Person“ (III,6, S. 138). 102 Johann Elias Schlegel: Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters – Werke Bd. 3, S. 259–298, hier S. 271f. Erinnert sei daran, daß Schlegel von Gottsched als literaturpolitischer Gegner wahrgenommen wurde (vgl. oben S. 177). 103 Ebd., S. 283.
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Schlegels Überlegung, wie das Theater moralisch wirken könne, rekurriert auf dieselben ‚politischen‘ Handlungsmaximen, welche die Frau von Ehrlichsdorf nutzt, um ihren Bräutigam zurück zu einem ‚anständigen‘ Leben zu führen. Erfolg stellt sich jeweils nur in der Praxis ein – und erfordert, auf die tatsächlichen Gegebenheiten zu achten. Tatsächlich traf Schlegels Akzent auf dem zu rührenden ‚Herz‘ des Rezipienten die Nachfrage des Publikums besser als Gottscheds moraldidaktische Poetik. Wie in Kap. 2.6.3 dargelegt, gewann seine Theaterästhetik durch solche Überlegungen „fast einen marktanalytischen Charakter“ (Wölfel). Und hier ergibt sich eine weitere Parallele: In beiden Fällen, bei Schlegel wie bei der Zentralfigur des Verschwenders, steht die praxisorientierte, ‚politische‘ Betrachtungs- bzw. Vorgehensweise in engem Zusammenhang mit einem finanziellen Problem, dort mit der Theaterfinanzierung, hier mit übermäßigen Ausgaben. Anders gewendet: Bei Schlegel wie bei der Ehrlichsdorf-Figur sind es die Maximen der ‚Privatpolitik‘, über welche die Sorge fürs Finanzielle einen legitimen Platz in der Komödie(nästhetik) findet. Im Vergleich mit anderen Komödien und zumal mit solchen, die Kaufmannsfiguren auf die Bühne bringen, ist diesem ‚politischen‘ Weg sogar ein zeitlicher Primat zuzumessen (erinnert sei an die Maßgeblichkeit ‚politischer‘ Kategorien auch in Borkensteins Bookesbeutel). Das kaufmännische Geschäftsgebaren nämlich markiert Der Verschwender nach wie vor als Betrug, wenn der Graf von Grundfalsch sich vor Lockerfeld in einer Weise rechtfertigt, die merkantiles Handeln als getarnte Schädigung anderer begreift: „Sie wollten verehrt seyn; und wir haben es gethan, für baare Bezahlung. Eine Waare wird so zugerichtet, daß sie den Käufer anlocke; ist nun der Kaufmann dem was schuldig, der sie ihm abnimmt?“ (V,13, S. 189) Als vorbildlich stellt die Aufklärungskomödie einerseits den Handel, andererseits das strategisch geschickte Handeln nur je für sich dar, nicht aber in beider Verbindung (daher ist Reinhart, die gutherzige Kaufmannsfigur in Luise Gottscheds Witzling – vgl. oben S. 174f. – ein katastrophal schlechter Politicus). Wirtschaftliche Bewegung kommt eher durch eine Politicusfigur wie das Fräulein von Ehrlichsdorf zustande als durch eine Kaufmannsfigur. Nicht als Gewinnstreben, wohl aber über die Anerkennung der Affekte und des Selbsterhaltungstriebs jedes Menschen sowie die Kultivierung einer entsprechenden Verhaltenstechnik kommt eine gewisse Dynamik ins ökonomisch-soziale Denken. Der Verschwender sieht dafür freilich noch eine Sicherung vor: Daß jene Dynamik nicht schädlich ausschlägt – d. h. als ‚Unruhe‘ (traditionell: der Seele) zu buchen und zu bannen ist –, sichert die ‚natürliche Güte‘, die dem Herzen zugeschrieben wird. Soweit die ‚Sicherung‘ im Individuum; mit welcher – für die Ausbildung einer marktwirtschaftlichen Mentalität noch bedeutenderen –
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überindividuellen Sicherung des Ganzen Der Verschwender operiert, erläutert das nachfolgende Unterkapitel.
4.3.4 Strategisches Spiel in der Gottesrolle Vom Geld war bisher nicht etwa deshalb wenig die Rede, weil es keine große Rolle spielte. Vielmehr finden Geschäfte und andere Besitzwechsel zahlreicher und rascher als in den meisten Geldkomödien statt,104 und die Intrigen der Frau von Ehrlichsdorf zielen die längste Zeit auf nichts anderes, als Lockerfelds Besitz in die eigene Hand zu bringen. Ihre ‚politische‘ Geschicklichkeit beweist sich nicht zuletzt darin, daß sie eine Fülle von Wegen zu diesem Ziel zu beschreiten weiß. Daher bildet Der Verschwender zugleich ein Kompedium möglicher Transaktionsformen: vom Geldverleih über Schweigegelder und Erpressungen, den regelrechten (wenngleich über einen Mittelsmann getätigten) Kauf, eine Abfindung, Geschenke, Ent- und Beerbung bis zum Glücksspiel, in dem Lockerfelds Verlust der Gewinn der Frau von Ehrlichsdorf ist.105 „Hier [ist] das Geld in beständigem Umlaufe“, kommentiert das Kammermädchen (II,1, S. 95). Realisiert die Komödienhandlung also einen zentralen Imperativ merkantilistischer Wirtschaftspolitik? Tatsächlich trug ein Prachtaufwand, wie Lockerfeld ihn entfaltet, zur Belebung der Luxusindustrie bei.106 Auf eine relativ entwickelte Monetarisierung der Wirtschaft weist zudem, daß ein Rittergut, also eine adlige Herrschaft, ohne weiteres käuflich zu erwerben ist (vgl. ebd.). Gleichwohl liegt der Witz des Stücks nicht darin, daß solch zukunftsweisende Wirtschaftspraktiken zumindest angedeutet werden, sondern daß Lockerfelds Geld einen ganz anderen Lauf nimmt. Durch jenen ‚Umlauf‘, den Frau von Ehrlichsdorf befördert, gelangen Lockerfelds Ausgaben gerade nicht in den Wirtschaftsprozeß, sondern in ihre Hand, auf daß sie ihm soviel als möglich zurückgeben kann – auf dem Weg der Heirat, aus Liebe. Ein ‚beständiger‘, mehr als einmaliger Umlauf kommt dadurch zustande, daß die Käuferin etwa Lockerfelds Rittergut mit Geschenken bezahlt, die er ihr gemacht hat, und daß sie ihm die Kaufsumme z. T. gleich wieder abtrickst (vgl. S. 96, 100). Zumeist ist der außergewöhnlich kräftige – es handelt sich um Summen von mehreren zehn-, ja hunderttausend Talern – Geldumlauf des Stücks demnach nur ein Notbehelf, der den Zweck hat, sich selbst aufzuheben 104 Darauf weist bereits Pape: Symbol des Sozialen, S. 56–58. 105 Vgl. S. 81f., 95f., 100, 102, 112f., 119f., 147, 171f. 106 Zum Zusammenhang von Luxus und wirtschaftlicher Expansion vgl. Sombart: Liebe,
Luxus und Kapitalismus.
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und Geld und Gut nicht oder nur mäßig in die Wirtschaftssphäre einzuspeisen. Immerhin bedarf es dieses Behelfs, und wenn Der Verschwender letztlich keine merkantilistische Ethik propagiert, so ist es für die bereits festgestellte Ambivalenz des Stücks doch erneut bezeichnend, daß die Zügelung des Geldumlaufs erst durch dessen Forcierung erreicht wird. Vorhin sahen wir, daß das Handlungskonzept einer ‚politischen‘ Klugheit durchaus auf die Wirtschaftssphäre übertragbar war und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch von deutschen Autoren dahin übertragen wurde. Über ökonomisches Handelns weist die ‚Privatpolitik‘ der Frau von Ehrlichsdorf allerdings weit hinaus: zunächst durch ihre Uneigennützigkeit sowie durch ihre Ausrichtung ganz auf familiäre Beziehungen von intimer, „zärtlicher“ Qualität (V,16, S. 193), zudem durch die Sicherheit, mit der sie in das Herz eines anderen blickt (I,2, S. 70 u. ö.), ebenso wie durch ihre perfekte Dissimulation und die Souveränität, mit der sie das Geschehen lenkt.107 Allen Mitspielern, selbst so geübten Intriganten wie ihrem Kammermädchen oder dem Baron von Grundfalsch, ist sie weit überlegen, und wenn man nicht gleich sagen kann, sie wisse ihren Erfolg im voraus, so verfügt sie immerhin über eine Zuversicht, die nahe daranreicht (vgl. I,2, S. 70). Unbedingter als jede Deus-ex-machina-Figur beherrscht sie deshalb das Stück – dessen Normen nicht weniger als den Handlungsverlauf –, und zwar von Beginn an. Im Vergleich mit der üblichen Deus-ex-machina-Figur zeigt sich zugleich, daß es quasi göttliche Eigenschaften sind, die Frau von Ehrlichsdorf vom ‚normalen‘ Politicus abheben. Gott zeichnet sich dadurch aus, daß ihm nichts verborgen bleibt, während seine Absichten für den Menschen nicht einsehbar sind; daß er das Ganze übersieht und daß er das Schlechte zu nutzen vermag (darf und kann), um das Gute zu erreichen.108 Von daher könnte man ihn als perfekten Politicus beschreiben. Gott ist, so Thomasius, nur insofern nicht ‚klug‘, weil er ‚weise‘, d. h. von der Versuchung zum Bösen frei ist.109 Umgekehrt bedeutet das – wie Thomasius klar gesehen hat –, daß die Fähigkeiten des Politicus, ließen sie sich perfekt ausbilden und zum Einsatz bringen, mit allein göttlichen Kompetenzen konkurrieren würden.110 Jedenfalls erkennt 107 Obwohl es ihr künftiger Hausstand ist, den sie auf diese Weise bewahrt, läßt sich ihr
Handeln also auch nicht im alteuropäischen Sinne als ‚ökonomisch‘ bezeichnen. 108 Vgl. Christian Thomasius: Erfindung der Wissenschaft anderer Menschen Gemüt zu
erkennen. Schreiben an Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg zu Neujahr 1692. – In: Brüggemann (Hrsg.): Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung, S. 61–79, hier S. 69; Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit – AW 5,1, S. 617 u. 624 (§ 1149 u. 1164). 109 Vgl. Thomasius: Politische Klugheit, S. 6f. (Kap. I, § 12). 110 Wie Anm. 108. Graciáns Handorakel gibt die Maxime aus „Man ahme daher dem göttlichen Walten nach, indem man die Leute in Vermutungen und Unruhe erhält“ (S. 5, Nr. 3).
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Thomasius in Gottes Weltregierung ‚politische‘ Techniken, wenn er zur Aufmerksamkeit auf „die verborgenen Wege der unendlichen Weißheit und Güte GOttes“ anhält, „die sich öffters unserer Feinde als eines Werckzeuges bedienet“.111 In eben dieser Weise aber instrumentalisiert die Frau von Ehrlichsdorf den Grafen Grundfalsch. Daß sie dabei die Rolle Gottes übernimmt – oder zumindest eine von Gott abgeleitete, nämlich die der ‚spielenden Weisheit‘112 –, hat ambivalente Konsequenzen. Auf der einen Seite indiziert der beschriebene Zuschnitt ihres Rollenspiels einen epochalen Zugriff des Menschen auf die Gottesfunktion: Die ordnungsstiftenden Figuren in L’Avare oder im Horribilicribrifax, Anselme und Cleander, standen ohnehin an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie, was in einem christlichen Staat immer auch Stellvertretung Gottes bedeutete.113 Im, abgesehen von den Dienern, ständisch ziemlich homogenen Figurenkreis des Verschwenders gibt es keine derartig vorgegebene Sozialabstufung, welche die Ehrlichsdorfin für ihre gottanaloge Rolle qualifizieren würde. Vielmehr sind es allein ihre ‚politische‘ Klugheit sowie ihre Herzenstugend, die ihr Macht über die anderen Figuren verleihen. Auf der anderen Seite bringt sich die anthropologische Selbstermächtigung in Mustern zur Geltung, die von religiösen Denkweisen übernommen sind. So bleibt das Gefälle zwischen Retter und Gerettetem erhalten; es ist ein unverdientes Geschenk, das Lockerfeld am Ende zuteil wird.114 Dem Muster eines Sündenbekenntnisses folgt die „Reue“, die ihn nun endlich befallen hat und die ihn fast in den Freitod treibt (V,16, S. 192), und als er durch diese Krise hindurch ist, hat er nahezu jene „Bekehrung und Wiedergeburt“ erfahren, mit denen die zeitgenössische Theologie den Empfang der göttlichen Gnade verband.115 Der Komödienschluß hat demnach die Struktur einer Erlösung, doch ist auch die Ausgangssituation in Analogie zum ‚Spiel‘ zwischen Gott und den Menschen gestaltet: Die Freiheit, welche Frau von Ehrlichsdorf dem lasterhaften Lockerfeld lassen muß, entspricht der menschlichen Freiheit zur Sünde. Viel111 Thomasius: Politische Klugheit, S. 104 (Kap. IV, § 80). 112 Vgl. oben S. 379. 113 Diesbezüglich zum Avare vgl. oben S. 286, zum Horribilicribrifax S. 144. Der Artikel
„Geld-Kunst“ in Walchs Philosophischem Lexikon mahnt, auch in Gelddingen müsse sich ein Monarch „als ein Stadthalter GOttes aufführen“ (Sp. 1140). 114 Wie besprochen, hat Lockerfeld immerhin einen guten ‚Herzens-Kern‘ vorzuweisen. Das religiöse Muster wird dadurch aber nicht negiert, sondern noch einmal bestätigt, denn die Spannung zwischen jenem Verdienstmoment und Frau von Ehrlichsdorfs ganz freiwilliger Großzügigkeit abzuwägen entspricht dem theologisch umstrittenen Verhältnis von ‚guten Werken‘ und göttlicher Gnade (vgl. Lk 14,14 vs. Röm 11,35). 115 Zedler: Universal-Lexikon Bd. 11 (1735), Sp. 2, s. v. Gnade GOttes. Derselbe Artikel spricht von „der hertzlichen Liebe GOttes gegen die sündlichen Menschen“ und bezeugt damit die diskursübergreifende Zentralstellung des ‚Herzens‘.
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leicht darf man sogar noch weiter gehen und in der plakativen Gegenüberstellung einerseits des normstrengen Vaters der Frau von Ehrlichsdorf, andererseits deren flexiblerer Pädagogik einen Reflex der typologisch-theologischen Unterscheidung des Gesetzeszeitalters Gottvaters und des Gnadenzeitalters des Sohnes sehen.116 Davon, daß der Verzicht auf explizite religiöse Argumentationen117 die Komödie aus christlichen Denk- und Geschehensmustern entließe, kann jedenfalls keine Rede sein. Die Geschäfte, mit denen die Frau von Ehrlichsdorf reüssiert, verfügen vielmehr über eben die providentielle Absicherung, die in der Erörterung des Handels durch die Moralischen Wochenschriften (vgl. Kap. 2.6.1) nur noch Formelcharakter zu haben schien. Ursache dieser mentalen Gemengelage dürfte sein, daß die gegen das religiöse Modell vordringenden Konzepte einer ‚politischen‘ Selbstermächtigung sowie einer moralischen Selbstkontrolle ‚das Ganze‘ nicht hinreichend zu erklären vermochten, da sie anthropologisch ansetzten, also sich auf ‚den Menschen‘ konzentrierten.118 Ein guter, gerechter Ausgang, wie ihn nicht allein die Komödie verlangt, läßt sich weder durch Moral noch durch ‚Politik‘ garantieren, denn wie Der Verschwender selbst andeutet, stehen Klugheitstechniken auch dem Lasterhaften zur Anwendung frei.119 Bei Cathrine, dem Kammermädchen, kippt, wie die oben analysierten Gesprächspassagen zeigen, die von ihrer Herrin gelebte Verbindung von ‚Politik‘ und Herzenstugend, so daß Verstellung und Eigennutz das Übergewicht gewinnen. An dieser Nebenfigur wird erkennbar, daß das Politicus-Konzept genuin Selbstermächtigung betreibt120 und dabei von Moralität nicht weniger als von religiösen Normen absieht. Am Beispiel der Zentralfigur propagiert Der Verschwender trotzdem Moralität als stabile Basis flexibler ‚Politik‘. Auf ein ‚natürlich‘ gutes, ‚sociales‘ Gefühl ist der gute Schluß freilich nur nach Ausweis der – immer auch an die Zuschauer adressierten – Figurenreden gegrün116 Erinnert sei daran, daß diese Unterscheidung im Merchant of Venice explizit
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aufgegriffen wird (vgl. oben S. 95f. u. 97). Überhaupt hat der Verschwender mit Shakespeares Stück die Grundkonstellation gemeinsam, daß eine listige und geschickte Frau ihren leichtfertigen, verschwenderischen Bräutigam ‚retten‘ muß. Lediglich einmal wird dankbar auf den „gütigen Himmel“ verwiesen (V,16, S. 194). Zum eingeschränkten Blickwinkel, unter dem die zwischen 1650 und 1750 entwickelten anthropologischen Theorien die Gesellschaft betrachteten, vgl. Niklas Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie: Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft. – In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 1, S. 162–234, hier S. 194. Vgl. II,3, S. 102; II,9, S. 113. Die einzige – theoretische – Lösung stellt hier die Annahme dar, daß der Lasterhafte stets einen getrübten Blick habe, der ihn auch ‚politisch‘ behindere, wie es beim Grafen von Grundfalsch der Fall ist. Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 80.
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det. Die Handlungsmechanik des Stücks hat, makrostrukturell (Rettung eines Verlorenen) wie mikrostrukturell (Souveränität der Frau von Ehrlichsdorf in jeder Situation) andere Grundlagen. Für die Spät-, d. h. Ausbreitungs- und zugleich Abschwächungsphase des ‚politischen‘ Verhaltensideals in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist durchaus typisch, daß wieder mit einer natürlichen Sozialität des Menschen gerechnet wird.121 Anders als um 1700 wird das Verhältnis von Individuum und gesellschaftlichem Ganzen nicht mehr als nie zu befriedender Konflikt gesehen. Man kann dies zum einen als Reaktion darauf begreifen, daß die individuellen Handlungsspielräume insgesamt größer geworden waren (die Figur der Frau von Ehrlichsdorf belegt das überdeutlich), so daß die Durchsetzungsambitionen des Politicus nicht mehr auf eine unverrückbare Sozialordnung sowie kaum bestrittene Normen stießen. Zum anderen war die ursprüngliche Bindung an den Hof und dessen Machtkämpfe geschwunden; im Verschwender finden wir die oben skizzierte Privatisierung der ‚Politik‘ bis in (prä)familiäre Verhältnisse hinein durchgeführt, die gleichzeitig zum eigentlichen Bewährungsraum von Moralität avancierten. Unterfangen wurde die behauptete Einheit von moralischem Zweck, (wirtschaftlichem) Handlungsgeschick und persönlichem Nutzen aber von traditionell christlichen Rollen- wie Verlaufsmustern.
4.3.5 Moralisches vs. ökonomisches Vorsehungsvertrauen: Gellerts Loos in der Lotterie Gellerts Lustspiel Das Loos in der Lotterie von 1746 greift die am Verschwender erörterten Fragen ebenfalls auf: die nach der Legitimität listiger Spiele, nach der Notwendigkeit eines aktiven Eingreifens in die Entwicklung der Verhältnisse (nicht zuletzt des eigenen Lebens), nach dem Verhältnis von Familiensphäre und weiterer Welt (insbesondere der geschäftlichen). Sogar um einiges konsequenter aufgeworfen wird jenes Problem, das uns zuletzt beschäftigte: die Frage nach der Rolle religiöser Denkmuster bei der Entwicklung von Handlungsstrategien für eine nicht mehr primär und durchgehend religiös geordnete Welt. Bereits das Titelmotiv des Loses ist in dieser Hinsicht signifikant, wurde das „Lotterien-Glück“ von den Zeitgenossen doch auf das theologische Problem bezogen, wie speziell „GOTTES Vorsehung und Regierung“ zu denken sei.122 „Los“ ist im Sprachgebrauch Gellerts und 121 Vgl. Göttert: Kommunikationsideale, S. 115–122; Vollhardt: Selbstliebe und Gesel-
ligkeit, S. 30–32. 122 Zedler: Universal-Lexikon Bd. 18 (1738), Sp. 564–573, s. v. Lotterie, hier Sp. 565.
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allgemein des 18. Jahrhunderts auch „das[,] was gott oder das schicksal den menschen zuweist“.123 Die Komödie des Pastorensohnes Gellert erprobt Wert und Erfolg verschienener Handlungsoptionen an einem Personal, das sich keineswegs nur nach „tugendhaften Menschen“ und „lasterhaften Typen“ unterscheiden läßt, wie in der Forschung zu lesen ist.124 Zwar knüpft das – außergewöhnlich breit gefächerte – Tableau der ‚lasterhaften‘ Figuren an Komödientypen an (den Geizigen, den Ruhmredigen usw.),125 doch folgt ihre interne Differenzierung zugleich einer präzisen Reflexion auf Handlungsalternativen, die sich angesichts des zeitgenössischen Normenwandels, bedingt durch den Relevanzgewinn des Ökonomischen, ergeben. Die von Gellerts Zeitgenossen gerühmte ‚Lebensnähe‘ seiner Figuren126 stellt sich aus dieser Perspektive als kaum vermutete Sensibilität für den sozialen Wandel des mittleren 18. Jahrhunderts 123 DWb 6, Sp. 1154, s. v. Los; vgl. Gellerts Gedichts „Um Ergebung in den göttlichen
Willen“ (Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 186f.), V. 9: „Von Ewigkeit hast Du [Gott; D. F.] mein Loos entschieden“. Zur kulturhistorischen Entwicklung des Lotteriespiels vgl. Houtman-de Smedt: North-West Europe under the Spell of Lotteries and Lotto, S. 86–88. 124 Steinmetz: Die Komödie der Aufklärung, S. 49; ebenso Jung: Das Geld und die guten Worte. Zur Rolle des Geldes bei Gellert. – In: „Ein Lehrer der ganzen Nation“, S. 134–150, hier S. 138f. Von Horst Steinmetz (ebd.) als „Gellerts schwächste Komödie“ bewertet, hat das Loos in der Lotterie in der Forschung wenig Aufmerksamkeit gefunden. Am ausführlichsten geht Werner Jungs o. g. Aufsatz von 1990 auf das Stück ein, das er jedoch als einen groben Klotz von empfindsamer Kompensation und Bemäntelung kapitalistischen Wirtschaftens zu betrachten scheint (vgl. ebd., S. 142, 145f.), auf den ein nicht minder grober Keil von Ideologiekritik gehöre. Für einen Herausgeber von Gellerts Gesammelten Schriften ist das eine erstaunliche Unterschätzung des Stücks, und man übertreibt wohl nicht mit der Gegenthese, daß die komödienimmanente Reflexion auf die wechselseitige Bedingtheit von Tugendemphase und Geschäftsinteresse weiter reicht als Jungs Kritik an dem, was er für den sozialhistorischen Gehalt des Stücks erachtet. 125 Auch eine Schematisierung nach Temperamenten ist möglich, wie noch 1770 ein anonymer Autor vorschlug: „Frau Orgon ist der Cholericus mit ihrem Zanken; Herr Simon der Sanguineus mit seiner Galanterie und Pralerey; Herr Orgon der Phlegmaticus mit seiner Sänfte; Herr Damon der Melancholicus mit seinem Mistrauen.“ (Abgedruckt im Kommentar der Gesammelten Schriften Bd. 3, S. 400). Die Parallelisierung der hauptsächlichen Laster mit den vier Temperamenten hat eine lange Tradition, vgl. das Schema bei Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 170. Die drei Hauptlaster Ehrgeiz, Wollust und Habgier verteilt Thomasius in derselben Weise auf die drei Temperamente, wie der Anonymus sie im Loos verkörpert sieht; frei bleibt dabei das Phlegma, und in der Tat ist Herr Orgon nicht eigentlich als lasterhaft anzusehen. Trotz dieser Traditionsbindung sind Gellerts Figuren jedoch keine Typen; vielmehr treten die überkommenen Schemata ganz in den Dienst der möglichst trennscharfen Beschreibung und Analyse damals aktueller Handlungsoptionen. 126 Vgl. die im Kommentar der Gesammelten Schriften Bd. 3, S. 341f. abgedruckten Urteile Johann Joachium Eschenburgs, Johann Andreas Cramers und Johann Peter Nicerons.
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dar, auch wenn in der Komödie weder das gesellschaftliche Ganze noch jener Wandel als solcher in den Blick genommen werden (können). In dieser letzten Hinsicht exemplifiziert Das Loos in der Lotterie die Leitthese von Luhmanns Aufsatz über Frühneuzeitliche Anthropologie[n] als, so der Untertitel, theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft, die entwickelt wurden, als die Sozialtheorie mit der gleichzeitigen gesellschaftsstrukturellen Veränderung nicht mithalten konnte: Zwar vermochte der anthropologische Ansatz nicht die Ausbildung autonom funktionierender Teilsysteme zu erfassen, doch verrät auch die damals neue Beschreibung eines funktional noch nicht resorbierten ‚Menschen‘ die Erfahrung, daß sich Gesellschaft nicht mehr adäquat als ständische, theologisch und rechtlich festgeschriebene Ordnung verstehen ließ.127 Jedenfalls beschränkt sich die komische Kritik des Looses in der Lotterie nicht auf jene „kleinen Übel“ des „gemeinen Privatlebens“, die Gellerts Antrittsvorlesung Pro comoedia commovente (1751) darzustellen empfiehlt.128 Kritisiert wurde in der Forschung nicht zuletzt die geringe Handlungsdynamik der Komödie.129 In der Tat gewinnt das Stück seine Struktur nicht in der Verlaufsdimension, sondern aus seiner Figurenkonstellation: Zwei Ehepaaren der Elterngeneration stehen drei heiratsfähige junge Leute gegenüber. Die daraus entwickelte Liebeshandlung ist zunächst durchaus konventionell, Molières L’Avare nicht unähnlich: Carolinchen hat sich für den tugendhaften, aber unbemittelten Anton entschieden, während ihr geiziger Vormund, Herr Damon, ihre Heirat mit dem stutzerhaften, aber vermögenden Simon favorisiert, um die Hochzeitskosten sparen zu können. Der Generationenkonflikt steht jedoch nicht im Vordergrund, zum einen da Carolinchen lediglich die Nichte der Frau Damon ist, so daß es eine Vaterautorität, deren Überwindung eine ganze Komödienhandlung füllen würde, gar nicht gibt. Zum anderen sind die Charaktere vor allem innerhalb der Elterngeneration gegeneinander profiliert. Scharf kontrastiert werden die Eheleute Damon und Orgon sowohl je127 Vgl. Niklas Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie: Theorietechnische Lösungen
für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft. – In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 1, S. 162–234, hier S. 163, 216. 128 Hier zitiert nach Lessings Übersetzung Des Hrn. Prof. Gellerts Abhandlung für das rührende Lustspiel (1754) (Lessing: Werke Bd. 4, S. 37–53, hier S. 40 u. 39). Die Unterscheidung von Komödie und Tragödie nach Gewicht und Tragweite der in ihnen dargestellten Laster und Unglücksfälle ist ein poetologischer Topos (vgl. etwa Masen: Palæstra eloquentiæ ligatæ Bd. 3, S. 10). Faßt man, wie in der spärlichen Forschung zumeist geschehen (so bei Koopmann: Drama der Aufklärung, S. 99–102), Gellerts Komödien von der sie begleitenden Poetik her, so droht freilich zu entgehen, was die Texte über das explizite Programm ihres Autors hinaus leisten. 129 Vgl. Steinmetz: Die Komödie der Aufklärung, S. 49: „Die viel zu lange Handlung schleppt sich langsam und umständlich dahin.“
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weils als Mann und Frau wie auch als Paare, so daß sich eine systematisch geordnete Viererkonstellation ergibt. Nicht zuletzt daraus, daß jede der vier Figuren in solche Szenen mit den drei anderen geführt wird, die aus dem charakterlichen Kontrast komisches Kapital schlagen, ergibt sich die außergewöhnliche Länge des Stücks. Dieses Bauprinzip verdeutlicht aber auch, daß nicht die konzise Schürzung und Lösung eines Handlungsknotens, sondern die möglichst prägnante Profilierung von gesellschaftlich-ökonomischen und moralischen Haltungen sowohl das Interesse als auch die Leistung dieser Komödie ausmacht. Kraß divergierende Haltungen zeigen die Figuren vor allem in bezug auf das Ruheideal der philosophischen und gesellschaftstheoretischen Tradition bzw. dessen Ablösung oder zumindest Modifikation durch den Aktivitätsimperativ, wie wir sie oben in anthropologischer und wirtschaftstheoretischer Hinsicht verfolgt haben.130 Herr Orgon, der an nichts außer gutem Essen, reibungsloser Verdauung und ungestörtem Schlaf interessiert ist, verkörpert ein Ruheprinzip, das aus Bequemlichkeit jegliche Neuerung ablehnt (vgl. III,8, S. 163).131 Komisch ist das nicht zuletzt deshalb, weil seiner Frau damit vollkommene Macht über ihn verliehen ist, Männer- und Frauenrolle in dieser Ehe also vertauscht sind (vgl. I,1). Frau Orgon wiederum ist übertrieben ‚interessiert‘, d. h. unzufrieden und stets besorgt, daß andere etwas haben oder erhalten – Geld, Zuneigung, Glück, ja Krankheiten –, das sie nicht besitzt. Sie ist daher mißtrauisch, eifersüchtig und geizig, wenngleich nicht in habitualisierter Form, sondern auch diese Affekte ständig wechselnd (vgl. I,3, S. 120; II,6, S. 141). Herr und Frau Orgon verkörpern die beiden Extreme Quietismus und Hyperaktivität, zwischen denen Gellerts Komödie offensichtlich den Mittelweg empfiehlt. Solche aurea mediocritas zu propagieren ist einerseits gute Tradition der alteuropäischen Ethik.132 Am zweiten Paar, besonders an Herrn Damon, wird andererseits deutlich, daß das Verhalten der Orgons die Reaktion auf eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung darstellt. Die Unruhe, die sämtliche Figuren des Stücks provoziert, tritt bei Herrn Damon als geschäftliche Aktivität auf. Das Gespür für gute Gewinnchancen, ein entschlossener Zugriff und
130 Vgl. außerdem das nachfolgende Unterkapitel zu Krügers ebenfalls 1746 erschienener
Vorrede vom Gelde. 131 Zitiert wird nach der kritischen Neuausgabe im dritten Band von Gellerts Gesammel-
ten Schriften, S. 113–194. 132 Vgl. H. Ottmann, H. Rücker: Maß I – HWPh 5, Sp. 807–814. „auream [...] mediocrita-
tem“ empfieht Horaz: Oden II,10,5 (nach Cicero: De officiis I,25). Shaftesbury, mit seiner Annahme eines natürlichen moral sense ein Kronzeuge der empfindsamen Anthropologie, verurteilte das Gewinnstreben dementsprechend nur im Falle mangelnder Mäßigung (vgl. Hirschman: Leidenschaften und Interessen, S. 73f.).
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(mäßige) Betrügereien haben ihn vom „Aufseher über eine öffentliche Casse“ zum erfolgreichen Finanzmann gemacht (IV,2, S. 165). Selbst an seinem 50. Geburtstag – der Spielzeit des Stücks – betreibt er seine Geschäfte, denn er vermag alles nur noch geschäftlich zu betrachten, so die Verheiratung seiner Mündel, zu denen neben Caroline auch der ihr angesonnene Simon zählt (vgl. II,9, S. 148). Herr Damon ist unverkennbar aus der traditionellen Komödienfigur des Geizigen entwickelt, aber zugleich viel mehr als die aktualisierte Variation eines Typus, nämlich Repräsentant einer neuen sozialen Schicht und Indikator grundstürzender gesellschaftlicher Veränderungen: Vom Geld und seinem Erwerb läßt sich nicht mehr absehen – im Loos in der Lotterie gibt es keinen Grundstock fester Renteneinkünfte qua Grundherrschaft wie im Verschwender133 –, und wenn Herr Orgon sich auch in diesem Punkt völlig desinteressiert zeigt – „Wenn ich zeitlebens einen guten Tisch, bey Tage meine Bequemlichkeit, und bey der Nacht meine Ruhe behalte: so mag meinetwegen Geld in der Welt seyn, oder nicht“ –, so steht er als unbegreiflich naiv da (II,1, S. 132). Dementsprechend erscheint Herr Damon trotz seiner ‚Lasterhaftigkeit‘ bei weitem nicht so lächerlich wie Herr und Frau Orgon; anders als diese beiden vertritt er keinen Typus, den man schlicht verlachen und damit ausgrenzen oder neutralisieren könnte, sondern ein gesellschaftliches Phänomen, dem Rechnung zu tragen ist. Daß Gellert sich dieser Herausforderung stellte, wenngleich sicherlich nicht im vollen Bewußtsein ihrer epochalen Dimension, macht den relativen Rang des Looses in der Lotterie aus. Und es ist anzunehmen, daß die Gattung Komödie zu dieser Leistung beitrug. Das Warngedicht „Wider den Geiz“ aus Gellerts Geistlichen Oden und Liedern (1757) zeichnet den Geizigen jedenfalls ganz nach der traditionellen Lastertopik und läßt keinerlei Gegenwartsbeobachtung erkennen.134 Herrn Damons Fehler ist, daß er einer ausschließlich ökonomischen Vernunft folgt. Dagegen hebt sich seine Frau ab, die sich durch Bescheidenheit, Mitgefühl und tätige Nächstenliebe auszeichnet. Damit Carolinchen, ihre elternlose Nichte, sich „einige gute Bücher und musikalische Sachen“ zulegen kann, hat sie das Los der Berlinischen Lotterie gekauft, dessen Wanderung durch die Hände der meisten Figuren neben dem erwähnten Verheiratungsmotiv das dünne Gerüst der ‚anderweitigen Handlung‘ ausmacht (I,1, S. 117). In der Elterngeneration ist sie die einzige moralische Figur. Dabei verbindet sie ein „zufriednes Herz“, von dem sie weiß, daß es „mehr [ist], als die ganze 133 Das Rittergut, das Frau von Ehrlichsdorf über einen Mittelsmann Lockerfeld abkauft,
bringt eine Grundrente von 10 000 Talern ein (vgl. Der Verschwender II,2, S. 99). Dagegen muß Herr Damon sein Geld verdienen, durch die Übernahme von Vormundschaften (II, 1, S. 131), Geldverleih (ebd.; III,2, S. 152) und Handel mit Steuerscheinen (IV,1, S. 163; V,10, S. 191). 134 Vgl. Gellert: Gesammelte Schriften Bd. 2, S. 178f.
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Welt“ (V,5, S. 183), mit bedächtiger Aktivität.135 Das anthropologische Ideal, das sie exemplifiziert, sieht ‚Ruhe‘ und ‚Aktivität‘ also nicht als disjunkte Alternativen vor, sondern empfiehlt, beides zu verbinden im Sinne jenes klugen Handelns auf der Basis eines ‚ruhigen Herzens‘, wie es im Verschwender die Frau von Ehrlichsdorf demonstrierte. Der sozialgeschichtlichen Repräsentativität von Gellerts Komödie entsprechend, ist der Spielraum, über den die beiden Figuren verfügen, allerdings ganz unterschiedlich dimensioniert: Während Frau von Ehrlichsdorf als Witwe frei vom üblichen – Dienerinnen ausgenommen – Gehorsam weiblicher Figuren dem Vater oder Ehemann gegenüber agieren kann, hält Herr Damon seine Gattin recht streng. Eben an einer Figur, die ihr Schicksal soweit wie möglich selbst in die Hand nimmt, war Gellert aber gelegen. Das bezeugt die Rolle, die Carolinchen zu spielen hat. Obwohl als mittellose Waise in einer sehr schwachen Position, läßt sie in den entscheidenden Fragen keinerlei Fremdbestimmung zu. Mit einem scharfen Blick für die Schwächen ihrer Gegenüber begabt, taktisch geschickt und entschlossen, teils kämpferisch, teils ironisch überlegen zeigt sie sich, wo sie sich der Verheiratungspläne ihres Vormunds sowie der ‚galanten‘ Zudringlichkeit Simons erwehrt (vgl. II,9; IV,3). Frau Damon hält Carolinchen deshalb für „etwas hitzig; sie läßt ihre Geschicklichkeit zuweilen zu sehr merken“ (III,8, S. 310), doch erweist der Gang der Handlung solche Verhaltensoptionen als notwendig und segensreich.136 Wie im Verschwender ist ausgerechnet die tugendhafteste Figur zugleich die beste ‚Politikerin‘, in Herrn Damons Worten: „ein gefährlich Mädel“ (II,9, S. 287). Die verkörperte Passivität, Herr Orgon, stellt dagegen keine Alternative zur geschäftlich ‚verinteressierten‘ Unruhe des Herrn Damon dar. Nicht einmal auf Verstellung, das moralisch prekärste Mittel des Politicus, verzichtet Carolinchen so konsequent, wie die empfindsame Aufrichtigkeitsforderung vermuten ließe.137 Empfindsam reguliert zeigt sich Carolinchens Klugheit allerdings darin, daß sie stets tugendhafte Zwecke verfolgt, und während Frau von Ehrlichsdorf um Lockerfelds Besitz nicht weniger als um 135 Vgl. ihre Replik auf Herrn Orgon: „[...] und ein ruhig Leben ist das vernünftigste. Fr.
Damon. Mich deucht, Sie vermengen das gar zu Bequeme mit dem Ruhigen.“ (I,1, S. 118). 136 Sich gegen Simon zu wehren sichert Carolinchen nicht allein die Heirat mit dem von ihr erwählten Anton, sondern kann auch als Auslöser jener Verwicklungen angesehen werden, die sie schließlich in den Besitz des Loses bringen: Von Carolinchen zurückgewiesen, wird Simon Frau Orgon gegenüber zudringlich, die wiederum, als Carolinchen ihr beisteht, dieser aus Dankbarkeit das Los schenkt (vgl. IV,10, S. 177). 137 So wehrt sie Herrn Damons Ansinnen, sie möge Simon heiraten, damit ab, daß sie zum Schein auf den Vorschlag eingeht, von Damon aber die Hochzeitskosten fordert (vgl. II,9). Das abzulehnen gelingt Damon nur, indem er Carolinchen die Freiheit der Gattenwahl läßt.
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sein Herz kämpfte, rechnen materielle Güter nun keinesfalls mehr unter die wahren Werte. Wie um materiellen Interessen schon sprachlich keinen Raum zu lassen, beziehen sich die Vokabeln des materiellen Besitzes in Carolinchens Reden mit Vorliebe auf moralisch-gesellige Werte, so auf die Treue desjenigen, der ihre „Liebe und [ihr] ganzes Herz besitzt“, oder auf die „Schätze“, die „Tugend und Zärtlichkeit“ „in anderer Leute Herzen“ zu sammeln vermögen (V,7, S. 186f.; V,12, S. 193). Die am Jahrhundertbeginn vorgenommene Ausdehnung des ‚politischen‘ Denkens auf Ziele des ‚bürgerlichen‘ Lebens, nicht zuletzt auf Geschäftsinteressen, ist hier wieder unter moralischen Vorbehalt gestellt.138 Die jung-weibliche Identifikationsfigur des Looses in der Lotterie ist damit zweifellos enger konzipiert, moralisch eindeutiger gezeichnet als ihre Parallelfigur im Verschwender. Und die Tendenz zur Vereindeutigung hat das Figurentableau insgesamt ergriffen: Moralisch schwankende, zum Besseren noch zu bekehrende Figuren wie Lockerfeld, der zunächst polternd-moralisierende Vater der Frau von Ehrlichsdorf oder der anfänglich geizige, später dagegen großzügige Erbvetter von Deutschhausen sind nicht vorgesehen.139 Erklären läßt sich diese Vereindeutigung zum einen durch die weiter fortgeschrittene Moralisierung sowohl des allgemeinen Sozialitäts- als auch des speziellen Komödien-Diskurses, zum anderen durch eine schärfere Beobachtung und präzisere Darstellung derjenigen Sphäre, gegen die ‚Herz‘ und ‚Tugend‘ profiliert werden. Denn diese Sphäre zeichnet sich, so jedenfalls die Perspektive des Looses auf Herrn Damon, durch internalisierte Verstellung aus, so daß ein Gegenmodell seinerseits zuvörderst Eindeutigkeit reklamieren muß. 138 Nikolaus Wegmanns These, der Diskurs der Empfindsamkeit gewinne „seine Konturen
erst in der Negation einer im strategischen Kalkül gegründeten Rede vom Menschen bzw. der einer solchen Anthropologie folgenden Interaktionsmoral“, ja konstituiere sich „als ‚bloße‘ Umkehrung“ des ‚politischen‘ Denkens (Diskurse der Empfindsamkeit, S. 65), bestätigt sich demnach auf der Ebene der Figurenrede. ‚Politische‘ Verhaltensweisen der Figuren sind darum aber nicht ausgeschlossen. Der diskursanalytische Ansatz Wegmanns übergeht diese ‚subdiskursive‘, handlungsstrukturelle Ebene – ein Fokus, der zur Begründung von Epochenabgrenzungen zu eng sein dürfte. – Zur Brechung der Aufrichtigungskeitsforderung im besonderen und der empfindsamen Geselligkeitslehre im allgemeinen in Gellerts Zärtlichen Schwestern vgl. Saße: Die Ordnung der Gefühle, S. 98–119. 139 Kirsten Okun schreibt in ihrem Loos-Artikel (Dramenlexikon des 18. Jahrhunderts, S. 62f.), Frau Orgon sei „angesichts der Rechtschaffenheit anderer zur Einsicht gelangt“. In Sz. V,8, ihrem letzten Auftritt, schimpft sie freilich nicht weniger als sonst über ihre Dienstboten, und die von ihr bekundete Freude über Carolinchens jetzt bekannt gewordenen Losgewinn muß man wohl als Verstellung verstehen, wenn diese Nachricht sie sogleich krank macht.
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‚Internalisierte Verstellung‘ meint, daß Herr Damon sich selbst als rechtschaffenen Bürger, als fleißig, sparsam und gewissenhaft begreift, der das Seine zum Wohl des gemeinen Besten beiträgt. Eine Art Nachruf dieses Tenors hat er sich bereits zurechtgelegt,140 und er ist stets bemüht, diesem gesellschaftlichen Leitbild zu entspechen. Daß sein Erfolgsstreben und seine Sparsamkeit die durch Tugendnormen gezogenen Grenzen keineswegs einhalten, bemerkt er nicht. Mit dieser Figurenzeichnung trifft Gellert aber genau den (wirtschafts)bürgerlichen Umgang mit dem Bild der eigenen Person und ihres Wirkens, wie ihn ganz ähnliche Nachrufe und Biographien des mittleren und späteren 18. Jahrhunderts belegen.141 Wie bereits festgestellt: Herr Damon ist nicht als ausschließbarer Außenseiter konzipiert wie Molières Harpagon oder Borkensteins Grobian, sondern verkörpert den Regelfall, den Träger der ökonomischen und damit gutenteils auch der gesellschaftlichen Entwicklung. „Die Tugend lasse ich mir nicht nehmen“, beteuert Damon, denn Tugend legitimiert: zum einen das Bürgertum als unterprivilegierten Stand – „Ich bin ja kein Hofmann“ –, zum andern, per Sprichwort, ein erfolgreiches Geschäftsgebaren: „Mein Vater und unsere ganze Familie hat stets den Ruhm der Tugend gehabt. Und wenn sie auch nicht mehr Mode wäre; so rede ich ihr doch das Wort. Die Tugend ist ganz gut. Wo Tugend ist, kömmt Seegen in das Haus.“ (III,1, S. 151) Die Rede von der Mode ist hier besonders verräterisch:142 Tugend ist gegen Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem Wert avanciert, den auch der Geschäftsmann nicht ignorieren kann – wobei es sich bei diesem Moralitätsdruck keineswegs nur um eine willkürliche ‚Mode‘, sondern um ein substantielles semantisches Bedürfnis handelt:143 Wie der Gegensatz 140 Vgl. II,1, S. 132: „Ist dieses nichts, wenn die Leute nach unserm Tode sagen: Der
rechtschaffene Mann! Er ließ sichs blutsauer werden; Er wußte, wie schwer das Geld zu verdienen war; Er wandte keine Dreyer an seinen Leib, wenn er nicht erst seine Einkünfte durchdividirt hatte? Ist es nichts, wenn sie sagen: Der wackere Mann! Er baute das grosse Haus; Er legte den schönen Garten an; Er hat zehn reiche Vormundschaften mit vieler Sorgfalt verwaltet; Er hat dem Landsherrn jährlich so und so viel an Steuern und Gaben eingebracht; so und so viel zu dem Kirchthurmbaue vorgeschossen und nur vier Procent genommen; Er trank das ganze Jahr kein Glas Wein, ausser an seinem Geburtstage, oder wenn seine Frau in die Wochen kam? Halten Sie [angeredet ist Herr Orgon; D. F.] diesen Nachruhm für nichts: so müssen Sie, so wenig ich auch von der Philosophie verstehe, doch gar keine haben.“ 141 Vgl. Maurer: Die Biographie des Bürgers, bes. S. 352–355, 387–396. 142 Die Formulierung „wenn sie nicht mehr Mode wäre“ bezeugt überdies eine ähnliche Aufmerksamkeit für den sich vollziehenden Wandel wie die ‚historische‘ Ordnung von ‚Herz‘ und Eigennutz im Verschwender (vgl. oben S. 429f.), und zwar ebenfalls in der Weise, daß das favorisierte Konzept (Tugend bzw. ‚Herz‘) als herkömmlich, aber bedroht ausgegeben wird, obwohl es sich in Wahrheit um eine reaktive semantische Neuerung handelt. 143 Vgl. Niklas Luhmann: Interaktion in Oberschichten. Zur Transformation ihrer Seman-
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zwischen Herrn und Frau Damon vor Augen führt, hat sich zwischen beruflicher Funktion und menschlichen Grundbedürfnissen, wie sie im Haus und in der Familie befriedigt werden, eine normative Kluft aufgetan.144 Die auch fürs Geschäftliche beanspruchte Tugend soll diese Kluft überbrücken. Den unvermeidlich euphemistischen Charakter dieses Anspruchs kann eine Moral um der Moral willen jedoch nicht akzeptieren. In diesem Sinne demaskiert das Loos in der Lotterie die bloße Einkleidung wirtschaftlichen Gewinnstrebens in moralische Floskeln. Damit aber tut die Selbstreflexion der normativistischen Aufklärung einen bedeutsamen Schritt, denn sie entdeckt ein Moralitätsproblem quasi zweiter Ordnung darin, daß die Etablierung aufklärerischer Tugendnormen keineswegs zugleich deren Einhaltung bedeutete (wie es der Gottschedsche Intellektualismus noch annahm). Einen Schritt hinaus bedeutet dies zudem über Gellerts eigene Wirtschaftsethik, so wie seine Moralischen Vorlesungen (gehalten seit 1744, 1770 postum gedruckt) sie propagieren. Dort wird die bürgerliche „Sorge für das Vermögen“ einerseits gerechtfertigt, soweit man weder zu unerlaubten Mitteln greife noch das rechte Maß der „nothwendigen Bedürfnisse“, „unschuldigen Bequemlichkeiten“ und des Nutzens anderer überschreite.145 Andererseits ruft Gellert in Erinnerung, daß „unser Reichthum, wir mögen ihn dem Glücke zu verdanken oder durch Fleiß überkommen haben, [...] ein Geschenke der Vorsehung“ sei.146 Verbinden läßt sich beides unter der christlichen Prämisse, daß es menschliche „Pflicht“ sei – so Gellert über ein gemäßigtes Besitzstreben –, Gottes Willen aus eigenen, wenngleich unzureichenden Kräften ‚entgegenzuarbeiten‘. Was religiöse Regulation oder, in anderen Fällen, auch nur Salvierung sein soll, kann freilich leicht zur religiösen Rechtfertigung primär materieller Interessen mutieren. Das aber kalkuliert Gellerts Vorlesung nicht ein, sondern stellt allein seine Komödie dar. Zu den normativen Usurpationen des Geschäftsmannes ist auch Damons Gott- und Vorsehungsvertrauen zu rechnen. Wo ihm etwas gelingt, scheint es ihm so, „als ob es der Himmel hätte haben wollen“ (IV,1, S. 164). Der Theodizee-Gedanke der göttlichen und darum rechten und besten Ordnung der Welt dient ihm als Generallegitimation seiner Ansprüche: „Ich bin ein ehrlicher, rechtschaffener Mann. Gott hat mirs gegeben und die Welt wollte mich darum bringen?“ (V,5, S. 347) So klagt er, als er erfährt, daß das Los seiner Frau, das er entwendet und dann weiterverkauft hat, 10 000 Taler gewonnen hat. Historisch interpretiert, belegen solche Reden, daß sich die tik im 17. und 18. Jahrhundert. – In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 1, S. 72–161, hier S. 84. 144 So Eibl: Die Entstehung der Poesie, S. 66f. allgemein über die Situation um 1750. 145 Gellert: Gesammelte Schriften Bd. 6, S. 170. 146 Ebd., S. 171. Das folgende Zitat ebd., S. 170.
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Ökonomisierung des 18. Jahrhunderts nicht einfach gegen andere Normen durchsetzte, sondern durch deren Aneignung für die neuen Zwecke. Das Loos in der Lotterie notiert dies indes nicht bloß, sondern entlarvt jene Aneignung als ‚Heuchelei‘: Als Gottes Gabe reklamiert Herr Damon, was ihm offensichtlich nie rechtmäßig gehörte. Seine Frau weist ihn dementsprechend zurecht: „beleidigen Sie die göttliche Fügung nicht“ (V,5, S. 184). Gellert stellt sich auf denselben Standpunkt: Der epochalen Qualität jener normativen Interferenz entsprechend, bildet die satirische Kritik an der religiösen ‚Heuchelei‘ ein wiederkehrendes Motiv seiner Komödien; in der Betschwester147 von 1745 steht es sogar im Zentrum. Wohlgemerkt haben die dortige Titelfigur Frau Richardinn sowie Herr Damon keinerlei Bewußtsein davon, daß religiöse Bekenntnisse ihnen nur zur Bemäntelung ‚eigensüchtiger‘ Interessen dienen. Problematisiert wird also eine Bemäntelung, die auch derjenige, der sie übt, nicht durchschaut. Das unterscheidet sie von der Verstellung des Politicus – und weist sie, aus der Perspektive Gellerts, als noch gefährlicher aus, da sie auf einer in der Gesellschaft allgemein verbreiteten Selbsttäuschung beruht. Wie aber läßt sich auf der Grundlage solcher Kritik eine Grenze ziehen zwischen mißbräuchlichen Berufungen auf Gott und Vorsehung und dem rechten, demütigen und tugendhaften Vertrauen darauf?148 Davor, die eigenen Interessen mit einer göttlichen Gerechtigkeit oder Vorsicht zu überblenden, vermag strenggenommen nur der Verzicht auf eigenen Nutzen zugunsten der Sorge für andere zu bewahren. Damit ist zugleich die Ethik vieler christlich geprägter Komödien (nicht nur ums Geld) umrissen. Implizit wird dort freilich, um die Attraktivität jener Ethik zu steigern, regelmäßig an gar nicht so bescheidene Erwartungen appelliert. Das Loos in der Lotterie treibt die paradoxe Mechanik des Nutzens durch Verzicht auf die Spitze: Die tugendhaften, dem Dienst am anderen verpflichteten Figuren beschenkt es mit einer sowohl außergewöhnlich großen als auch extrem inkalkulablen Summe. Man könnte es als reinen Zufall ansehen, daß das Los, nachdem es durch die ‚unwürdigen‘ Hände Herrn Damons, Simons und Frau Orgons gegangen ist, gerade dann an Carolinchen geraten ist, als der Gewinn von 10 000 Taler bekannt wird. Die Beschenkten jedoch sind sich einig in der religiösen, also sinnhaften Interpretation des Geschehens. Dem Bräutigam, der nach vierjährigem Warten soeben zu den für eine Heirat nötigen Einkünften gelangt ist, kündigt Frau Damon den Lotteriegewinn wie folgt an:
147 Vgl. Gellert: Gesammelte Schriften Bd. 3, S. 61–111. 148 Berufungen auf Gott sind auch bei den anderen ‚lasterhaften‘ Figuren kleine Münze;
vgl. Simon: „die Natur hat mir doch Gott gegeben“ (als Rechtfertigung seines hedonistischen Lebensstils, III,6, S. 302); Frau Orgon: „Der gottlose Mann!“ (über Herrn Damon, der das Los nicht ihr, sondern Simon verkauft hat; IV,2, S. 317).
449 Sie werden sehen, wie wunderbar das Schicksal die guten Absichten zu belohnen weis. Ich legte etliche Thaler in die Lotterie, und wünschte mir nur hundert zu gewinnen, um Carolinchen damit zu beschenken [...]. Das Loos ist ohne unser Wissen durch verschiedene Hände gegangen. Und dennoch hat es Carolinchen bekommen müssen, da mirs entzogen war. Denn für sie war es bestimmt. So sorgt die Fügung für eine tugendhafte Liebe. Carolinchen. [...] Ach, wie reichlich wollen wir die Hoffnung von vier Jahren durch die getreuste Liebe befriedigen! Hätten Sie wohl gedacht, daß der Lohn für Ihre Tugend schon so nahe wäre? Hr. Anton. Sehen Sie es nicht als den Lohn für meine Tugend an, sondern als ein Geschenk der Vorsicht. (V,12, S. 194)149
Die feinen Unterschiede, die die Figuren in der Bewertung des Geschehens als ‚Belohnung‘ oder ‚Geschenk‘ machen, suchen der – zumal protestantischen – Gnadenlehre Rechnung zu tragen, derzufolge eine providentielle Belohnung von Tugend strenggenommen nicht möglich ist, da alle guten Werke nur einen sekundären Faktor im göttlichen Heilsplan bilden.150 Auch aus ethischer Sicht ist ein Tugendlohn prekär, denn sobald er erwartet wird, hebt die durch den Verzicht auf Eigennutz ausgezeichnete Tugend sich selbst auf und depraviert zum Interesse. Verbinden läßt sich die religiös und moralisch geforderte Demut nur dann mit der Attraktion der Lohnerwartung, wenn – wie von Frau Damon und Carolinchen vorgeführt – der Lohnwunsch anderen gilt. Für sich selbst einen Tugendlohn zu erwarten wäre dagegen Hybris, weil es die Freiheit der göttlichen Gnadenverteilung angriffe. Wie eingangs angedeutet, führte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits das Motiv des Loses solche Problemstellungen mit. Aus theologischer Sicht galt die mit ihm verbundene Gewinnhoffnung nur dann als zulässig, wenn der Lotteriespieler den Nutzen anderer („das gemeine Beste“) im Sinn hat151 – so wie Frau Damon es vorführt. Auch die direkte Zurückführung von Lotteriegewinnen auf die Vorsehung war in der frühen Aufklärung allgemein verbreitet, wie Claudia Albert anhand der Moralischen Wochenschriften gezeigt hat.152 Hinsichtlich dieses Typs von Glücksspielen war die Neigung zu providentialisieren sogar deutlich gestiegen gegenüber der Zeit um 1700, als Lotterien noch unter dem Verdacht standen, die Vorsehung durch Gewinninteressen zu provozieren.153 Gott und Welt wurden also (wieder) enger auf149 Dieselbe religiöse Deutung nimmt Carolinchen vor, wenn sie ihren Lotteriegewinn für
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einen „wunderbaren Zufall“ erklärt (V,1, S. 193) – der Akzent liegt hier auf dem prägnant christlich zu verstehenden „wunderbar“. Vgl. J. Konrad: Vorsehung – RGG 6, Sp. 1496–1499. Vgl. Zedler: Universal-Lexikon Bd. 18 (1738), Sp. 564–573, s. v. Lotterie, das Zitat Sp. 565. Vgl. Albert: Corriger la fortune?, S. 121. Vgl. Haase: Die Diskussion des Glücksspiels um 1700, S. 58.
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einander bezogen, nicht etwa auseinanderdividiert154. Die „Deontologisierung des Zufalls“, die Rüdiger Campe aufgrund juristischer und mathematischer Quellen für die Zeit um 1700 konstatiert,155 hatte sich allgemeinkulturell noch nicht durchgesetzt. Die offenbare Zufälligkeit des Lotteriegewinns warf gleichwohl die Frage auf, ob Gott, über seine „allgemeine Vorsorge“ hinaus, „die Hand mit einer ganz besonderen Vorsorge (providentia speciali) unmittelbar im Spiel habe“.156 So zu fragen bedeutete, daß man die Wirkung der göttlichen Vorsehung im allgemeinen durch eine gesetzmäßig ablaufende Natur gewährleistet sah. Daß dem „einen ein gutes, dem andern ein mittelmäßiges, dem dritten ein leer Looß zufällt“, schien sich auf Gottes „natürliche Mittel und Werckzeuge“ jedoch nicht zurückführen zu lassen. Von Gottes Hand und ihrem Eingreifen sprach man demnach in solchen Fällen, wo etwas ‚eigentlich‘ Unerwartbares erwartet wird. „Die Vorsehung hat alle Güter in Händen. Sie hat gewiß einen Theil für dich zurückgelegt“, tröstet Frau Damon ihre Nichte, als mit dem entwendeten Los der Gewinn von 10 000 Talern verloren scheint (V,5, S. 187).157 Eine Hand, die alles zum Besten lenkt, bemüht auch Adam Smith. Rekurriert seine berühmte Formel von der ‚unsichtbaren Hand‘ also auf dasselbe, eine Vorhersage aus Gründen überschreitende Vertrauen? Dagegen spricht, daß das Unerwartbare, was erwartet wird, dort nicht der materielle Gewinn des tugendhaften Altruisten ist, sondern, in exakter Verkehrung, der allgemeine Nutzen, der aus dem Egoismus der Wirtschaftssubjekte erwächst. Was für eine konzeptionelle Kontinuität spricht, erörtert das nächste Kapitel. Da die ‚erwartete Überraschung‘ darüber hinaus ein Strukturelement des Komischen bildet,158 betrifft jene Kontinuität zugleich aber die Komödie.
154 So der Haases Befund für französische Diskussion um 1700, vgl. ebd., S. 72–75. 155 Campe: Schau und Spiel, S. 57. Dem „Schau-Spiel“ konzediert Campe allerdings, daß
es „eine theologische Sicht auf die Welt“ bewahrt habe (S. 58). 156 Zedler: ebd. Die folgenden Zitate ebd. 157 Vertrauen auf Gottes „Hand“ bekunden Carolinchen und Frau Damon auch II,9, S. 148
sowie III,6, S. 159. Vertrauen auf die Vorsehung, weil die menschliche Handlungsmacht begrenzt sei, fordert die Metapher der „Hand of heaven“ bereits im Merchant of Venice ein (I,3, V. 88), vgl. oben S. 87 zu Antonios Streitgespräch mit Shylock über das unhintergehbare Risiko des Kaufmanns. 158 Vgl. oben S. 24.
4.4 Marktwirtschaft und Theater 4.4.1 Ökonomische Selbstregulierung (J. G. Krüger, A. Smith)? Unter den Schriften, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an Thomasius’ Anthropologie anknüpfen, sticht die (wie Das Loos in der Lotterie 1746 erschienene) Vorrede vom Gelde des Hallenser Professors der Philosophie und Arzneikunst Johann Gottlob Krüger hervor, denn sie bejaht sowohl die Unruhe der menschlichen Affektnatur als auch das allgemeine Streben nach dem Gelde fast uneingeschränkt: Die Affekte seien „eine dem menschlichen Leben unumgänglich nöthige Sache“, da man mit ihrer Hilfe die Menschen dazu zwingen könne, „die Pflichten zu beobachten, welche ihnen von der Vernunft vorgeschrieben werden“, deren Befolgung zu erreichen die Vernunft aber nicht die Macht habe.1 Soweit folgt Krüger dem Ansatz von Thomasius’ Fundamenta juris naturae et gentium, doch überträgt er die Herrschaft über die Affekte nicht einem Weisen, sondern dem Geld: „Das Lob reitzt nur den Ehrgeitzigen, das Vergnügen den Wollüstigen, das Geld aber den Ehrgeitzigen, Wollüstigen und Geldgeitzigen. Solte man es also nicht mit Recht die Triebfeder der menschlichen Handlungen nennen können?“2 Noch wird der Vorbehalt gemacht, daß Handlungen, die nicht die Vernunft, sondern die „Begierde nach dem Gelde“ veranlaßt, „thöricht“ zu nennen sind. Doch avanciert die allgemeine Übung praktisch zur Norm:3 Da ich nun gezeigt habe, daß das Geld der Abgott sey, welcher das seltene Glück hat, beynahe von dem gantzen menschlichen Geschlechte verehrt zu werden; so wird man mir es nicht zumuthen, daß ich untersuchen soll, in wieferne dieses Recht sey, oder nicht? weil dieses ohne Beleidigung meiner Mitbrüder, der Menschen, wol schwehrlich möchte geschehen können; und ich glaube daß ich Ursache habe mir das menschliche Geschlecht nicht zum Feinde zu machen.
Der Verweis auf die „Weisheit des Schöpfers“, der dieses Zusammenspiel von menschlicher Affektnatur und Geld als Vermittler (fast) aller gesell1 Vgl. Johann Gottlob Krüger: Vorrede vom Gelde. – In: Unzer: Neue Lehre von den
Gemüthsbewegungen, S. 13–20, hier S. 16f. 2 Ebd., S. 17. 3 Ebd., S. 18. Das folgende Zitat S. 17.
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schaftlichen Bedürfnisse ins Werk gesetzt hat, legitimiert beides vollends.4 Traditionelle Motive der moralisch-religiösen Geldkritik werden aufgenommen, aber unschädlich gemacht („Abgott“), radikal aufgewertet (die „beständige Bewegung“, die das Geld erregt) oder ins Gegenteil verkehrt (ohne die vom Geld geleiteten Affekte würde „in der menschlichen Gesellschaft alles todt und erstorben seyn“). Typisch für die Theodizeefreude bzw. Vollkommenheitsemphase der deutschen Aufklärung, geschieht diese Anerkennung der ökonomischen Primärstrukturierung der Gesellschaft nicht im Rahmen einer satirischen Kritik, wie Mandeville sie trotz seines wohlstandsmotivierten Einverständnisses mit dem Mechanismus von ‚private vices‘ und ‚public benefits‘ lieferte.5 Vielmehr tendiert sie zur Identifizierung von Faktum und Norm: Da Gott den Menschen unterschiedliche Haupt-Affekte verliehen habe, könnten diese sich ergänzen, so „daß die Welt einem Hause ähnlich wird, darinnen vernünftige Menschen neben einander wohnen“ – die affekttypologische Figurenkonstellation sowie der quasi providentiell verbürgte gute Ausgang in Gellerts Loos führen ebendies vor.6 Deistische Religionsreste sind bei Krüger in eine harmonistische Deutung des allgemeinen Egoismus eingebunden, während Mandevilles Calvinismus die satirische Kritik mit antrieb. Der Verzicht auf Kritik mindert freilich auch die Wahrnehmungsschärfe, wie die um einiges exaktere Beschreibung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auf den wenigen Seiten der Fable of the Bees deutlich macht. Im Grunde approbiert Krüger die religiöse Verbrämung bzw. Selbsttäuschung, die Das Loos in der Lotterie an der Figur des Damon vorführt; man könnte auch sagen: er nutzt das Providenzvertrauen, das die Komödie (nicht nur Gellerts) stimuliert, leitet es aber von den moralischen Figuren auf die ökonomisch ‚Interessierten‘ um. Krügers Vorrede vom Gelde nimmt exakt jene Engführung aller eigennützigen Affekte zu einem Besitz- und Gewinnstreben vor, die Hirschman als entscheidenden Schritt bei der Herausbildung einer kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung ansieht.7 Ausgerechnet das traditionell verachtetste Laster avancierte dabei zum gesellschaftlich nützlichen Handlungsantrieb. Gründe dafür lassen sich eine ganze Reihe anführen: Aus wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Perspektive kann sehr allgemein auf die ökonomische Expansion, auf die Auflösung der Selbstversorger- und Ausbreitung der Marktwirt4 Ebd., S. 16. Die folgenden Zitate S. 17, 16. 5 Zum Verhältnis von Kritik (die, wie der 1729 erschienene zweite Teil der Fable,
durchaus noch religiös motiviert ist) und Apologie bei Mandeville vgl. Euchner: Egoismus und Gemeinwohl, S. 115. 6 Johann Gottlob Krüger: Vorrede vom Gelde. – In: Unzer: Neue Lehre von den Gemüthsbewegungen, S. 13–20, hier S. 16. 7 Vgl. Hirschman: Leidenschaften und Interesse, S. 47f., 118.
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schaft sowie darauf hingewiesen werden, daß die Ständegesellschaft nur auf dem Feld des Gelderwerbs eine Prestigekonkurrenz unter (annähernd) Gleichen zuließ.8 Zudem könnte das taxonomisch-kalkulatorische Moment der Affektenlehre, wie es nicht nur bei Thomasius hervortritt,9 eine Rolle gespielt haben; jedenfalls erwartete man von der notwendigen Rechenhaftigkeit eines effektiven Gewinnstrebens eine deutlich gesteigerte Berechenbarkeit fremden Verhaltens10 (auf demselben Gedanken beruht die ‚politische‘ Funktionalisierung des ökonomischen Eigennutzes in der Klugheitslehre). Die rationale Kalkulation, die er provoziert, weist den ökonomischen Eigennutz überdies als relativ verstandesnahe Leidenschaft aus. Und das ‚Interesse‘ koordiniert nicht allein unmittelbare Bedürfnisse und rationale Überlegungen zu deren Befriedigung; es vermittelt auch das Individuelle mit dem Sozialen.11 In Adam Smith’ Politischer Ökonomie fließen alle diese Motive zusammen. Smith geht von der Selbstbehauptung des einzelnen in der Gesellschaft aus: Der Mensch braucht fortwährend die Hilfe seiner Mitmenschen, und er würde diese vergeblich von ihrem Wohlwollen allein erwarten. Er wird viel eher zum Ziele kommen, wenn er ihre Eigenliebe zu seinen Gunsten interessieren und ihnen zeigen kann, daß sie selbst Vorteil davon haben, wenn sie für ihn tun, was er von ihnen haben will. [...] Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.12
An den Interessen der anderen anzusetzen, rieten auch die Klugheitslehren. Smith gibt jedoch nicht bloß einzelnen taktische Ratschläge für eine ebenso verderbte wie unsichere Welt, sondern entwirft eine ganze Gesellschaft, die letztlich nicht weniger wohlgeordnet ist als die tugendgesteuerte der normativistischen Aufklärungsphilosophie. Denn die „natürliche Selbstsucht“ der
8 Vgl. schon Thomasius: Politische Klugheit, S. 208 (Kap. VIII, § 2): „Was das Reich-
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thum und dahin gehörige Absichten betrifft / sind die Glieder einer Republic ordentlicher Weise einander gleich / und kömmt die Herrschafft und Ehren-Stand darbey in keine Consideration.“ Zum wirtschaftsideologischen Rahmen vgl. Bauer, Matis: Geburt der Neuzeit, S. 219–225. Vgl. auch Meier: Theoretische Lehre von den Gemütsbewegungen, S. 15–18. Vgl. Hirschman: Leidenschaften und Interessen, S. 57–59. Vgl. Ernst-Wolfgang Orth u. a.: Interesse – GG 3, S. 305–365, hier S. 328–331 über die Diskussion des Interessebegriffs bei den französischen Sensualisten Helvétius und Holbach. Der von Hirschman behaupteten Verengung des Begriffs ‚Interesse‘ auf ökonomisches Gewinnstreben (vgl. Leidenschaften und Interessen, S. 40) entgegenlaufend, beschränkt sich Holbachs Analyse ausdrücklich nicht auf den „amour de l’argent“, sondern umfaßt sämtliche Begehrensaktivitäten. Smith: Untersuchung Bd. 1, S. 18f.
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Besitzenden führe über deren wirtschaftliche Aktivität zu verbesserten Lebensverhältnissen für alle: Obwohl der einzige Zweck, welchen sie durch die Arbeit all der Tausende, die sie beschäftigen, erreichen wollen, die Befriedigung ihrer eigenen eitlen und unersättlichen Begierden ist, trotzdem teilen sie doch mit den Armen den Ertrag aller Verbesserungen, die sie [– hier greift Smith unter verschiedenen Möglichkeiten wirtschaftlicher Betätigung die zu seiner Zeit noch vorherrschende heraus –; D. F.] in ihrer Landwirtschaft einführen. Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft [...]. Als die Vorsehung die Erde unter eine geringe Zahl von Herren und Besitzern verteilte, da hat sie diejenigen, die sie scheinbar bei ihrer Teilung übergangen hat, doch nicht vergessen und nicht ganz verlassen.13
So weit war bislang niemand gegangen: Mandeville nicht, weil seine Darstellung des ‚öffentlichen Nutzens privater Laster‘ zugleich eine Kritik besonders der damit verbundenen Heuchelei war,14 Krüger nicht, weil seiner Apologie des Gewinnstrebens die volkswirtschaftliche Dimension fehlt, Thomasius ohnehin nicht, da er ‚Notlösungen‘ entwarf, die sein anthropologischer Pessimismus nötig machte. Smith’ ökonomisch Aktiver hat viel vom Kalkül, Gelegenheitsgespür und scharfen Blick des Politicus, braucht jedoch keinerlei Verstellung mehr. Verstellt agiere nur derjenige, der angibt, „um des Gemeinwohls willen Handel zu treiben,“ denn das sei „nur eine Pose“, unter Kaufleuten freilich nicht sehr häufig.15 Dagegen hatte Thomasius speziell dem Gewinnstreben die Neigung zur Verstellung zugeschrieben, die der Geizige geradezu habitualisiert habe: er „ist tückisch und saget anders als es ihm ums Hertze ist / mit einem Wort / er leuget und simuliret.“16 In der von Adam Smith beschriebenen Welt besteht dazu gar kein Anlaß. Vor den bislang besprochenen Gesellschaftstheorien zeichnet sich Smith’ durch die einzigartig weite Spanne zwischen illusionsloser Anerkennung eigennütziger Handlungsmotive und Affirmation der Verhältnisse gerade unter dem Aspekt des Gemeinwohls aus. Was aber überbrückt diese Spanne, welcher Faktor integriert die Gesellschaft mit nützlichen Effekten für alle? Wie und aufgrund welcher Gesetzmäßigkeit mündet das in seiner Aggressivität gar nicht geleugnete Verhalten der einzelnen in ein harmonisches Ganzes? 13 Smith: Theorie der ethischen Gefühle, S. 316. 14 Vgl. Picht: Handel, Politik und Gesellschaft, S. 43f. 15 Smith: Untersuchung Bd. 2, S. 236. Wie wir in Kap. 2.6.1 an den Moralischen
Wochenschriften sahen, war jene ‚Pose‘ im Kaufmannsdiskurs dagegen verbreitet. 16 Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, S. 165, vgl. auch S. 289. Vgl. auch die Laster-
tabelle hinter ders.: Politische Klugheit, S. 104.
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Smith’ Theory of Moral Sentiments (1759) erläutert, wie sich der Sozialitätsfaktor ‚Sympathie‘ nicht in der Befolgung von Tugendnormen oder aus altruistischen Gefühlen entwickelt, sondern durch den Standpunktwechsel, den der Verkehr mit anderen erfordert. Die Interessen des anderen angemessen wahrzunehmen setzt voraus, einen neutralen Beobachterstandpunkt einzunehmen: Wir dürfen sie [die Interessen des anderen] weder von unserem, noch auch von seinem Platze aus betrachten, weder mit unseren eigenen Augen, noch mit den seinigen, sondern wir müssen sie von dem Platze und mit den Augen einer dritten Person ansehen, die in keiner näheren Beziehung zu einem von uns beiden steht, und die mit Unparteilichkeit zwischen uns richtet.17
Es fällt auf, daß hier nicht einer ‚Einfühlung‘ das Wort geredet wird, sondern räumlich wie der Wahrnehmungsart nach ein Theatermodell zugrunde liegt: Die dritte Person entspricht dem Zuschauer, der zwei interagierende Schauspieler auf der Bühne beobachtet und sie sowohl beurteilt als auch mit ihnen empfindet, wie es die Ästhetik des rührenden Lustspiels und anderer Varianten des ‚Bürgerlichen Schauspiels‘ vorsieht.18 Den Vergleich der zwischenmenschlichen Sympathie mit der Anteilnahme des Theaterbesuchers am Schicksal der Bühnenfiguren zieht Smith mehrfach auch explizit, und seinen Stil prägen zahlreiche Theatermetaphern (act, part, spectator, applause).19 Es ist demnach zunächst einmal ein ästhetisches Modell, dem die angenommene Herstellung harmonischer Gesellschaftlichkeit folgt.20 Ein gesellschaftlich zentrales Anwendungsfeld jenes theatralischen Perspektivenwechsels bildet der ‚natürliche‘ „Hang zum Tauschen, Handeln und Auswechseln“, den The Wealth of Nations (1776) als Wurzel der ebenso gewinnorientierten wie letztlich gemeinnützigen Wirtschaftstätigkeit ausweist.21 17 Smith: Theorie der ethischen Gefühle, S. 201. 18 Ausführlich dazu Marshall: Adam Smith and the Theatricality of Moral Sentiments,
sowie Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 87–95. Vogl macht zu Recht darauf aufmerksam, daß nicht nur der Zuschauer die Schauspieler beobachtet, sondern die Schauspieler auch auf das Publikum Rücksicht nehmen müssen und daß erst unter dieser Voraussetzung die von Smith angesetzte allseitige Sympathienahme auch innerhalb des Theatermodells erfüllt ist (S. 94). Anerkannt wurde eine solche Rücksichtnahme auf das Publikum allerdings erst in der nach-gottschedschen Poetik (vgl. oben S. 187). Genauer betrachtet, handelt es sich bei dem Theatermodell, das Smith’ Sympathietheorie zugrunde liegt, also um das für seine Zeit typische (ähnlich Vogl: ebd., S. 93). 19 Vgl. Smith: Theorie der ethischen Gefühle, S. 38, 59, 64, 74 u. ö. sowie Agnew: Worlds Apart, S. 182. 20 In ihrem Buch über Die ästhetische Ordnung des Handelns, welche die Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts entwarf, zieht Doris Bachmann-Medick dementsprechend auch Adam Smith heran (vgl. bes. S. 276–279). 21 Vgl. Bauer, Matis: Geburt der Neuzeit, S. 484f. Das Zitat bei Smith: Untersuchung Bd. 1, S. 20. Der unterschiedliche Fokus einerseits des moralphilosophischen, anderer-
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Wer von anderen profitieren will, muß sie beobachtet haben, um zu wissen, wie er mit ihnen ins Geschäft kommen kann. Überraschen kann die Verbindung von theatralischer Beobachtung und Wirtschaftserfolg nur, wenn man nicht bedenkt, daß die Parallelisierung von Markt und Theater in der Frühen Neuzeit zumal in England weit verbreitet war.22 Und es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß sich Adam Smith’ Argumentation auf Bahnen bewegt, die die Topoi der traditionellen Marktkritik und des Theaterdiskurses vorgezeichnet haben. Wie er diese Topoi aufgreift, führt gleichwohl zu epochalen Innovationen. Die hervorstechendsten sind: Das Spiel des Perspektivenwechsels wird, wie erläutert, von allen Implikationen von Betrug und Verstellung befreit, wie sie der theatralischen Aufführung des Kaufmanns häufig zugemessen wurden. Was Smith’ Argumentation dokumentiert, ist indessen mehr als eine „Umwertung religiöser, moralischer oder rechtlicher Disqualifikationen“.23 Vielmehr ändert sich der Status von Normen generell: Für Smith, schließt Jean-Christophe Agnew, „societies were founded on a dramaturgical rather than a categorical imperative. [..] Roles, not rules, socialized mankind.“24 Schließlich gewinnt der Markthandel nun offen Modellcharakter für alle gesellschaftlichen Beziehungen, er avanciert zum Paradigma selbstregulierter sozialer Harmonie und Wohlstandssteigerung. Diese Gewißheit des größtmöglichen Nutzens vermag das ‚empfindsame‘ Theatermodell allerdings nicht mehr zu tragen – sicher ist ein guter Ausgang lediglich bei Aufführung einer Komödie25 –; an diesem entscheidenden Punkt bedarf es anderer Argumentationsmuster: Ob es Adam Smith gelungen ist, eine immanent ökonomische Begründung der von ihm postulierten Transformation von Eigennutz in Gemeinwohl zu geben, ist umstritten.26 Seine metaphorische Erklärung, daß eine „unsichtbare
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seits des politökonomischen Werkes ist demnach nicht so zu deuten, daß Smith zwei unterschiedliche Gesellschaftskonzepte entwickelte. Vielmehr basiert der „hedonistic calculus“ des Wealth of Nations auf dem „histrionic calculus“ der Theory of Moral Sentiments (Agnew: Worlds Apart, S. 186). Zur konzeptionellen Einheit der beiden Werke vgl. Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 40–42. Vgl. die breit angelegte Untersuchung von Agnew: Worlds Apart. In diesem Sinne auch Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 44. Agnew: Worlds Apart, S. 184. Als Gattung einer „prästabilierten Harmonie“ mit Theodizeefunktion beschreibt jetzt Roman Lach die englische und deutsche Komödie des mittleren 18. Jahrhunderts (Characters in Motion, das Zitat S. 9). Dagegen spricht sich Viner: The Role of Providence in the Social Order, S. 81f. u. ö. aus, dafür argumentieren, mit Bezug auf die Lohnfondstheorie des Wealth of Nations, Bauer und Matis: Geburt der Neuzeit, S. 491f. Kittsteiner: Naturabsicht, S. 203 u. 274 sieht keine ökonomisch überzeugende Antwort, gleichwohl einen Gültigkeitsverlust der früheren religiösen Begründung. Vogl zieht religiöse Denkmuster gar nicht in Betracht, obwohl er Smith’ invisible hand-Metapher diskutiert (vgl. Kalkül und Lei-
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Hand“ im Spiel sei,27 weist eher auf ein religiös-teleologisches Denkmuster. In der Theory of Moral Sentiments wird die entsprechende Prämisse, daß ein weiser und gütiger Gott „von aller Ewigkeit her die unendliche Maschine des Universums so ersonnen und geleitet hat, daß sie das größtmögliche Maß von Glückseligkeit hervorbringe“, vielfach expliziert, wenngleich nicht ganz sicher ist, ob der Autor sie sich zu eigen macht oder lediglich als eine mit seinen Überlegungen kompatible Anschauung präsentiert.28 Im Wealth of Nations treten solche Passagen stark zurück; die Argumentation wird enttheologisiert. Der gleichgebliebene Grundgedanke allerdings kann nicht nachträglich seiner Herkunft aus einem theologisch fundierten Denken entwunden werden. Smith’ Politische Ökonomie läßt sich mithin als eine Theodizee mit radikal verändertem Fokus (nämlich auf der menschlichen Wirtschaftstätigkeit) verstehen, vielleicht darf man sagen: als Ökonomodizee. Ihre historisch neuartige Spannweite konstituiert sich auch als und aus der Verflechtung zweier ‚Götter‘ – des christlichen Gottes und des Geldes –, die gemeinhin29 disjunkte Alternativen bilden.
4.4.2 Ökonomie als theatralische Fiktion von providentieller finaler Harmonie Adam Smith’ Werk stellt darin (und ebenso mit der Aktualisierung der frühneuzeitlichen Markt-Theater-Verknüpfung) nur einen besonders bedeutenden Fall des allgemeinen diskursgeschichtlichen Phänomens dar, daß traditionelle Modelle maßgeblich dazu beitragen können, eine veränderte Welt zu beschreiben und sogar eine neuartige Beschreibung zu konstituieren. Daß relidenschaft, S. 45–47). Für die Smith-Interpretation und überhaupt das Verständnis der seit dem späten 18. Jahrhundert als selbstreguliert gedachten Ökonomie und Gesellschaft ist damit ein entscheidender Punkt berührt, denn nur wenn religiösen Denkmustern keine tragende Funktion zuzumessen ist, kann das damals herausgebildete gesellschaftstheoretische Wissen als transzendenzlos und substanzfrei beschrieben werden, wie es Vogls im übrigen sehr erhellende Studie über die Poetik des ökonomischen Menschen tut, nämlich als Konzept lediglich eines theatralisch beobachteten „Spiels von Leidenschaften und Interessen“ (ebd., S. 51, vgl. S. 92–95). 27 Smith: Theorie der ethischen Gefühle, S. 316 (wie oben S. 454 zitiert); Untersuchung Bd. 2, S. 235: „Da nun jedermann nach Kräften sucht, sein Kapital in der heimischen Erwerbstätigkeit und diese Erwerbstätigkeit selbst so zu leiten, daß ihr Erzeugnis den größten Wert erhält, so arbeitet auch jeder notwendig dahin, das jährliche Einkommen der Gesellschaft so groß zu machen, als er kann. Allerdings strebt er in der Regel nicht danach, das allgemeine Wohl zu fördern“. Vielmehr „verfolgt er lediglich seinen eigenen Gewinn und wird in diesen wie in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, einen Zweck zu fördern, den er in keiner Weise beabsichtigt hatte.“ 28 Smith: Theorie der ethischen Gefühle, S. 400, vgl. ebd. S. 130. 29 So noch bei Thomasius, vgl. oben S. 424.
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giöse Motive ökonomische Aktivität freisetzen können, beobachteten wir bereits im Anschluß an unsere Merchant of Venice-Lektüre mit Blick auf die puritanische Interpretation der göttlichen Vorsehung (vgl. oben S. 101ff.). Der Puritaner allerdings war seiner Erwählung unsicher und suchte sie deshalb durch geschäftlichen Erfolg zu erweisen. Smith’ epochale Freisetzung des (Wirtschafts-)Subjekts aus normativen Verpflichtungen und vorgegebenen Ordnungen ist hingegen einem radikalen Providenzvertrauen homolog. Zweckmäßiger hätte der optimistische Grundgedanke, der ökonomische und überhaupt gesellschaftliche Freiheit als sicheren Gewinn und als letztlich normkonform, nicht als Bedrohung entwirft, nicht gerahmt werden können. Oder, um einen Schritt weiter zu gehen: erst das ‚Standbein‘ eines säkularisierten Vorsehungsglaubens verlieh dem ‚Spielbein‘ des Wirtschaftsindividualismus seine epochal gesteigerte Bewegungsfreiheit.30 In einer Konfrontation ästhetischer und soziologischer Rollenmodelle hat Hans Robert Jauß in diesem Sinne betont: Das gesellschaftliche Rollenspiel der durchrationalisierten Arbeitsgesellschaft benötigt noch die alte Hoffnung des theatrum mundi, wo Menschen und Dinge noch „das Gelingen eines Ganzen bezeugen, das sich zwar an ihrem Wirken ablesen, aber doch nicht allein aus ihm [recte: aus ihm allein] ableiten ließ, ihm vielmehr als Plan zugrunde lag“ [...].31
Wo die wirtschaftsgeschichtliche Forschung sich für die mentalen Voraussetzungen von Wirtschaftsstilen interessiert, gelten bestimmte Geschehenserwartungen ebenfalls als notwendige Bedingung für das Funktionieren des Marktes: Märkte erbringen befriedigende Koordinationsleistungen nur dann, wenn Menschen das, was sie wissen, für verläßlich halten, genauer: wenn sie den Regeln Vertrauen schenken, nach denen sie sich von verfügbarer Erfahrung zu ihren Bildern möglicher künftiger Entwicklungen hinführen lassen.32
Für die ‚Neue Institutionenökonomik‘, die von Douglass C. North begründete führende kulturalistische Strömung der Wirtschaftswissenschaften, ist dem30 Eine ähnliche Bedingtheit durch einen religiösen Vorsehungsglauben prägt die Ge-
schichtsphilosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowie die historistische Geschichtsauffassung. In Deutschland avanciert der historische Optimismus – also die Erwartung, daß die oben diskutierten Konflikte von Eigennutz und Gemeinwohl usw. sich im Prozeß der Geschichte auflösen – ab den 1770er Jahren zum intellektuellen Leitkonzept. Noch verbunden sind ökonomische und historische Gesellschaftstheorie bei Turgot (vgl. Ottow: Modelle der unsichtbaren Hand, S. 569–572 sowie Kondylis: Die Aufklärung, S. 459–563; zu Turgots Rückgriff auf Providenzannahmen vgl. Kittsteiner: Naturabsicht, S. 151f.). 31 Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, S. 225. Das Zitat im Zitat entstammt Plessner: Soziale Rolle und menschliche Natur, S. 28. 32 Siegenthaler: Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, S. 291.
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entsprechend der Begriff des Vertrauens zentral (‚Institutionen‘ meint hier wesentlich die kulturellen Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Prozesse).33 Doch wird dort nicht immer gesehen, daß es mit dem Vertrauen in staatlich garantierte Rechtssicherheit, in Produktqualität oder in die persönliche Rechtschaffenheit der Wirtschaftakteure nicht getan ist. Für die Annahme, daß aus der Konkurrenz der einzelnen untereinander ein Bestes für alle hervorgeht, bedarf es eines noch grundlegenderen Vertrauens, das kodifizierte Rechtsnormen oder erprobte Zuverlässigkeit nicht geben können – eben ein Vertrauen von religiöser Dimension. Obwohl unverzichtbar, wird der Providenzglaube bei Smith freilich zum bloßen Mittel; anders als unter Theodizee-Vorzeichen ist nicht Gott zu entlasten, sondern der gewinninteressierte Mensch.34 Insofern kann man von einer Ablösung der Gottes- durch eine Geldherrschaft sprechen,35 sollte aber die denkstrukturellen Kontinuitäten nicht übersehen, die sie ermöglichen, denn um nicht weniger als die Ermöglichung der Marktgesellschaft handelt es sich. Anders gesagt: theologischen Denkweisen kommt nach wie vor eine zentrale Funktion zu, als solche können sie jedoch nur wenig Geltung beanspruchen: sie sind säkularisiert.36 Davon, daß Smith den Vorsehungsglauben, auf den sein Hauptgedanke sich stützt, mehr referiert als bekennt, war schon die Rede. Aufschlußreicher noch ist seine Behandlung der Frage, ob die „Regeln der Sittlichkeit Gebote und Gesetze der Gottheit seien, die schließlich die Gehorsamen belohnen und diejenigen bestrafen werde, die ihre Pflicht verletzen.“37 Smith erklärt diese Vorstellung für eine gewissermaßen poetische Idee der Heiden; ihre Struktur aber sei deshalb nicht falsch, sondern liege auch dem moral sense, den die moderne Philosophie ermittelt habe, zugrunde.38 Nimmt man beides zusammen, so rücken religiöse Normen ebenso wie die 33 Vgl. Reichardt: Soziales Kapital „im Zeitalter materieller Interessen“, bes. S. 12–16;
Wischermann: Institutionenökonomische Theorien. 34 Vgl. Hüther: Geistesgeschichtliche Ursachen für die Entstehung der Nationalökono-
mie, S. 23. 35 Vgl. Wagner: Geld oder Gott?, S. 8. 36 Nach Hans Blumenbergs Arbeiten zur Legitimität der Neuzeit hat der vormals beliebte
Säkularisierungsbegriff stark an Geltung verloren, da er, so Blumenberg, die theoretischen Leistungen der Neuzeit als widerrechtliche Aneignung von religiösem ‚Besitz‘ abwerte (zur Diskussion vgl. Ulrich Barth: Säkularisierung I – TRE 29, S. 603–634, hier S. 608f.). Unabhängig von Wertungsfragen kann im vorliegenden Fall freilich durchaus von einer Aneignung von ursprünglich Religiösem – in diesem Fall eines religiösen Denkmusters – gesprochen werden, so daß der Begriff auch in seinem von Blumenberg kritisierten Verständnis die Sache trifft. Vgl. die Bestimmung von Säkularisierung als „Verschiebung religiös getönter Erwartungen in außerreligiöse, weltliche Bereiche“ bei Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, S. 281. 37 Smith: Theorie der moralischen Gefühle, S. 247. 38 Vgl. ebd., S. 247 u. 251.
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finale Gerechtigkeit, die sich nach ihnen bemißt, in den Status eines zweckmäßigen Als-Ob: Die Vorstellung, daß wir, mögen wir auch der Beobachtung der Menschen entgehen oder infolge unserer hohen Stellung jeder menschlichen Bestrafung entrückt sein, doch immer unter den Augen Gottes, des großen Rächers allen Unrechts, ausgesetzt sind, das ist ein Beweggrund, der fähig ist, die hartnäckigsten Leidenschaften im Zaume zu halten.39
Die darin enthaltene Vorstellung von Beobachtungen mehrfacher Ordnung und einem Gericht, das auf einer überlegenen Perspektive beruht, erinnert an das theatrum mundi, auf dem die Menschen agieren, um ihre Leistungen schließlich vom göttlichen Spielleiter beurteilen zu lassen. Als strukturierender Subtext tritt demnach erneut ein Theatermodell hervor, allerdings nicht das ‚empfindsame‘, das der Sympathietheorie zugrunde liegt, sondern ein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermeintlich obsoletes. Wohlgemerkt ‚glaubt‘, wie der Kontext deutlich macht, Adam Smith nicht an eine solche theatralische Struktur der Welt, sondern er bietet sie als Denkmuster an. Das Theatermodell indessen hat auch diesem Vorbehalt schon vorgearbeitet, präsentiert es das Bühnengeschehen doch nicht als zu akzeptierende Realität, sondern als ästhetisch-fiktionale Veranstaltung im Als-Ob-Status, damit der Zuschauer sich vergnüge und belehre. Läßt sich Smith’ quasi-providentielle Deutung des Marktmechanismus als dazu analoge ästhetische Idee deuten? Das jedenfalls würde helfen, den ungeheuren Marktoptimismus des Wealth of Nations zu erklären, der dann als eine – hoffentlich produktive – Illusion gedacht wäre. ‚Illusion‘ heißt in diesem Fall nicht ‚Täuschung‘ (die Grenze zwischen Täuschung und korrekter Realitätswahrnehmung verschwimmt in Smith’ praxisorientierter Philosophie ohnehin).40 Vielmehr handelt es sich um eine praktische Fiktion, die dazu beiträgt, ihren Inhalt zu realisieren – ähnlich wie Nathan mit einem „Märchen“ auf des Sultans Frage nach der wahren Religion antwortet, das den Glauben an den Besitz des rechten Rings und das entsprechende Verhalten, nicht den tatsächlichen Besitz als entscheidend sowohl für den Erfolg des einzelnen als auch für das Gemeinwohl ausweist. Ökonomisch konkret: Der Marktmechanismus funktioniert, weil alle Teilnehmer das Leitbild seines Funktionierens 39 Ebd., S. 258. Zur Funktion Gottes als Garanten von Normen und letztlicher Gerechtig-
keit in der Aufklärungsphilosophie vgl. Kondylis: Die Aufklärung, S. 362f. 40 Zur Aufwertung des Scheins, d. h. hier der üblichen Ansichten von der Welt, denen
eine Erkenntnis des wahren Seins zwar noch analytisch, nicht aber normativ gegenübergestellt wird, vgl. folgende zentrale Stelle der Theorie der ethischen Gefühle (S. 315): Im „philosophischen Licht“ ist das Glück, das der Reichtum gewährt, sehr zweifelhaft, nicht aber in der gewöhnlichen Betrachtung. „Und es ist gut, daß die Natur uns in dieser Weise betrügt. Denn diese Täuschung ist es, was den Fleiß der Menschen erweckt und in beständiger Bewegung erhält.“
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internalisiert haben. ‚Praktisch‘ ist die Funktion dieser Fiktion; ihr Als-ObStatus ebenso wie ihr harmonistischer Gehalt verweisen derweil auf ästhetische Denkweisen.41 Wie anders, kann man als Begründung hinzufügen, hätte eine Gesellschaftstheorie, die eine finale Harmonie behauptet, am Ende des 18. Jahrhunderts auch auftreten sollen? Tatsächlich geglaubte Vollkommenheitstheorien wie die Leibnizsche Theodizee waren spätestens seit der Jahrhundertmitte philosophisch demontiert worden. Wo ihre Motive wiederaufgenommen wurden wie bei Smith, war es daher nur konsequent, wenn sie nicht als Gewißheiten zu verstehen waren, sondern als ästhetisch profilierte wie relativierte Deutungsangebote.42 Die hier vorgetragene Argumentation zielt demnach weder bloß auf Analogien zwischen Gottes- und Geldfunktion, wie die Systemtheorie sie herausgearbeitet hat und Jochen Hörisch sie in seinen Lektüren literarischer Texte geltend macht, noch stellt sie die Vorsehung und den Markt lediglich in eine historische Abfolge, wie Luhmann dies mit der früheren „Omnipräsenz Gottes“ und der zusamt der bürgerlichen Gesellschaft durchgesetzten „Omnipräsenz des Geldes“ getan hat.43 Vielmehr geht es um die konzeptionellen Transferenzen, die jene epochale (wenngleich kaum vollständige) Ablösung erst ermöglicht haben dürften: Das Marktvertrauen, das Smith’ Wealth of Nations kodifiziert, gründet in seiner Unbedingtheit wie in seinen impliziten Strukturen auf religiösen, genauer: christlichen Mustern in theatralischer Gestaltung. Der Markt und sein Kommunikationsmittel, das Geld, beerben Gott, d. h. sie setzen sich nicht einfach an Gottes Stelle, sondern lenken eine zentrale mit ihm verbundene Erwartung zunehmend auf sich: die Regulierung der widerstreitenden menschlichen Begierden mit einem für alle bestmöglichen Ergebnis.44 Strukturell finden wir die oeconomia divina, die Weise (vgl. Kap. 3.5.3) 41 Zur Abgrenzung der Illusion von der Täuschung in ästhetischen Theorien der Antike
und der (vor allem englischen) Frühen Neuzeit vgl. Krieger: Represention in Words and in Drama, zur Figur des Als-Ob als Denkmusters der Staats- und Gesellschaftstheorie des 17. und 18. Jahrhunderts Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 22–31. 42 Als in diesem Sinne von Theodizee-Motiven gespeist hat Wolfgang Braungart die Ästhetik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachgezeichnet, vgl. Die Geburt der modernen Ästhetik aus dem Geist der Theodizee, bes. S. 20–22; zudem Steiner: Poetische Theodizee. Ästhetisch tingiert ist, seit Shaftesbury, bereits die optimistische englische Moralphilosophie (vgl. Kondylis: Die Aufklärung, S. 325–327), auf deren Verknüpfung von taste und moral sense Adam Smith zurückgreift, wenn er die sozialen Effekte des imaginären Standortwechsels so erläutert, daß sich aus der Perspektive des Zuschauers die „Schönheit des Edelmuts und die Häßlichkeit der Ungerechtigkeit“ zeigen (Theorie der ethischen Gefühle, S. 203). 43 Luhmann: Knappheit, Geld und bürgerliche Gesellschaft, S. 191. 44 Bis ins Detail gehen die Parallelen insbesondere zwischen einer interaktionistischen Wirtschaftstheorie und der Leibnizschen Theodizee, wie Peter Koslowski zeigt (vgl. Maximierung von Existenz). In der soziologischen und wirtschaftswissenschaftlichen
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und überhaupt das auf strategische Autonomie des einzelnen ausgerichtete ‚politische‘ Denken um 1700 verabschiedeten, im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts als oeconomia mercatu restituiert. Im Bereich gesellschaftlicher Geschehenserwartungen vollzog sich eine ähnliche Säkularisierung, wie wir sie im Wandel von der theologischen Geizkritik zum Plädoyer für Handlungsund Handelsrationalität in Borkensteins Bookesbeutel fanden, und zwar als Transformation, die als Beerbung fungierte. Nun ist es, häufig in der Nachfolge von Max Webers Puritanerstudie, ein Topos der Kapitalismuskritik, dem marktwirtschaftlichen Denken religiösen Charakter zu attestieren. Der Verweis auf den „Glauben“, der in der modernen Gesellschaft dem Markt gilt, bleibt in der Regel jedoch vage und verzichtet auf den Nachweis konzeptioneller Kontinuitäten oder gar konkreter Transfermedien.45 Ebenfalls kaum mehr als eine Verknüpfung durch Begriffsetiketten bietet die sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft, wenn sie den im (englischen) Drama des 18. Jahrhunderts verkündeten „Mythos vom alleinseligmachenden Welthandel“ als „säkulare Religion“ bezeichnet.46 Einen prinzipiell anderen Ansatz, eine religiöse Fundierung von Marktwirtschaft bzw. Kapitalismus zu begründen, zeichnet schließlich die Hervorhebung der kultischen Besetzung des Gelderwerbs oder der Warenwirtschaft aus, wie Literatur steht dieser These die Kapitalismustheorie Christoph Deutschmanns am nächsten, der schreibt, „daß dasjenige Problem, dessen Bewältigung Luhmann der Religion zuschreiben möchte – die Transformation unbestimmbarer in bestimmte Komplexität – in Wahrheit dasjenige der modernen Wirtschaft ist“ (Die Verheißung des absoluten Reichtums, S. 11). Zu Deutschmann vgl. auch die folgende Anm. 45 Vgl. Kurnitzky: Der heilige Markt, das Zitat S. 7 oder Buchan: Unsere gefrorenen Begierden, S. 244; S. 245 spricht Buchan vom „metaphysischen Charakter der politischen Ökonomie“ Adam Smithens. Detaillierter entwickelt Christoph Deutschmann seine These, „dass es sich bei der Kapitalform des Geldes um eine inhärent religiöse Erscheinung handelt, die in der modernen Gesellschaft jenen Platz einnimmt, den die Religion in vormodernen Gesellschaften innehatte“ (Kapitalismus, Religion und Unternehmertum: eine unorthodoxe Sicht. – In: Die gesellschaftliche Macht des Geldes, S. 85–108, hier S. 85). Ähnlich wie die vorliegende Studie hebt der Soziologe Deutschmann auf das Vertrauen ab, das dem Geld wie einem Gott entgegengebracht wird, obwohl beider Leistungsfähigkeit insgesamt nicht überblickt werden kann (vgl. S. 88), sowie auf die daraus entstehende Wachstumsdynamik (S. 95f.). Auf die historische Initiation dieser funktionalen Parallele geht er nicht weiter ein, obwohl er die kapitalistische Aktivität als Erbe religiöser Energien, also in der Nachfolge religiöser Kontingenzbewältigung beschreibt (vgl. jetzt die monographische Darstellung: Die Verheißung des absoluten Reichtums). Ebenso übergangen wird die gleichfalls religiös vorgeprägte Absicherung des marktwirtschaftlichen Aktivitätsimperativs. 46 Paul Hernadi: Nathan der Bürger. Lessings Mythos vom aufgeklärten Kaufmann. – In: Lessings ‚Nathan der Weise‘, S. 341–349, hier S. 349. Immerhin den Ansatz einer Erläuterung gibt Gerhardi: Geld und Gesellschaft im Theater des Ancien Régime, S. 270, der in Voltaires Handelsapologie „eine Art Ersatz-Religion“ erkennt, „die in ihren Ansprüchen auf Alleingültigkeit und in ihren eschatologischen Verheißungen der alten Religion in nichts nachstand“.
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Marx sie im Fetischismus-Kapitel des Kapitals47 sowie Benjamin in einem Fragment „Kapitalismus als Religion“48 vorgenommen haben. Denn nicht diese kultische Besetzung interessiert in unserem Zusammenhang, sondern was ihr vorausliegt und was sie erst verständlich macht: die religiösen Voraussetzungen der Nutzen-, Gemeinwohl-, ja Glückserwartungen, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert auf eine freie Konkurrenz in Wirtschaftsdingen richten. Das Theater wiederum bildete das entscheidende Zwischenglied, das den traditionell providenzgestützten Optimismus des guten Ausgangs mit der Modellierung einer komplexen Beobachtungs- und Interaktionsstruktur aus widerstreitenden Interessen verband. Die künstlerische Seite war demnach die gebende Instanz, nicht – wie einige Forscher für den Nathan annehmen und im Eingangskapitel diskutiert – die nehmende. Als Ironie der Mentalitätsgeschichte stellt sich diese Transferleistung des Theaters dar, wenn man sich an die Schwierigkeiten zumal der deutschen Aufklärungskomödie mit der Kaufmannsfigur, dem Agenten des Marktes, erinnert: In die zentrale Stellung, die dem – noch als tugendhaft und gemeinnützig gedachten – Kaufmann gattungsbedingt verwehrt blieb (vgl. Kap. 2.6.2), rückt bei Smith, unterstützt durch das Repräsentationsmodell des Theaters sowie das typische Verlaufsmuster der Komödie, seine Sphäre ein, und zwar unter Verzicht auf die moralische Aufwertung des Handels im Aufklärungsdiskurs. Erneut haben wir es hier mit einer Homologie von Komödienhandlung und Geld- bzw. ökonomischer Mechanik zu tun, nun freilich nicht als von der literarischen Seite aus zu konstatierendem Phänomen, sondern auf wirtschaftstheoretischem Feld. Für die Transferfunktion des Theaters und zumal der Komödie spricht weiterhin, daß die konkreten Theatertexte, deren Handlungs- und Verlaufsstruktur das vorige Kapitel analysierte, die konzeptionelle Kontinuität von Providenzvertrauen und Verheißung materieller Gewinne noch erheblich detaillierter vorführen als Smith’ theoretische Schriften. Daraus wiederum ist auch ein methodischer Schluß zu ziehen: Dogmengeschichten reichen, selbst in der verfeinerten Form von Diskursgeschichten, nicht aus, um die semantischen und (gesellschafts)strukturellen Wandlungen auf dem Weg zur ‚kulturellen Moderne‘ zu rekonstruieren. Denn sie übersehen zum einen, was nicht gesagt, sondern getan wurde bzw. sich ereignete, nicht zuletzt in dramatischen Modellgeschehnissen, kurzum: wie Handlungsmaximen durchgespielt wurden49 (erinnert sei an den Verzicht auf religiöse Argumentationen im Ver47 Vgl. MEGA II, 6,1, S. 102–113. 48 Benjamin: Gesammelte Schriften Bd. 7, S. 100–103; vgl. dazu Steiner: Kapitalismus
als Religion. 49 Bei der Analyse literarischer Texte wiederum kommt es darauf an, nicht nur auf moti-
vische Importe aus der Lebenswelt oder anderen Diskursen, sondern auf deren spezi-
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schwender, wo die strategischen Spiele der Protagonistin trotzdem aber providentiell abgesichert sind). Zum anderen privilegiert die seit den späten 1980er Jahren zu beobachtende Konzentration auf das im 18. Jahrhundert neukonzipierte Individuum – entweder auf dessen gewachsene Handlungsspielräume (Stichwort Politicus) oder auf seine verfeinerte Innerlichkeit (Stichwort Empfindsamkeit) – die von Unsicherheit geprägte Perspektive des partikularen Subjekts.50 Welche auf das Ganze bezogenen Erwartungen man hegte, bringt dagegen die Verlaufsstruktur der Komödie zum Ausdruck. In systemischer Hinsicht aber setzte sich nicht Verunsicherung aufgrund eines Verlustes von Transzendenzgewißheiten durch, sondern, über deren Säkularisierung, ein gesteigerter Welt- und Praxisoptimismus.
fisch literarische Verarbeitung zu schauen. Indem sie darauf verzichtet, kann Margrit Fiederers Studie über das Geld einerseits im Bürgerlichen Trauerspiel, andererseits in der kameralistischen und Ratgeber-Literatur des 18. Jahrhunderts lediglich explizierte Normen fürs individuelle Verhalten zusammenstellen und vergleichen. 50 Ausgangspunkt ist dort die Luhmannsche These, daß die Umstellung von einer stratifikatorisch zu einer funktional differenzierten Gesellschaft in der zeitgenössischen Theorie nicht in systemischer Hinsicht, sondern mit Blick auf die Folgen für den einzelnen reflektiert worden sei (Niklas Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft. – In: Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 1, S. 162–234, hier S. 163). Besonders Schüler Wilhelm Voßkamps haben daraufhin die Freisetzung des Individuums, das sich in der funktional differenzierten Gesellschaft einer identitätsgefährdenden Vielzahl von Anforderungen gegenübersieht und deshalb kompensatorisch eine ‚einheitliche Persönlichkeit‘ ausbilden muß (vgl. Stanitzek: Blödigkeit), die gesellschaftliche Selbstbehauptung des seiner metaphysischen Sicherheit beraubten Menschen als ‚Politicus‘ (vgl. Geitner: Die Kunst der Verstellung) oder, als Gegenbewegung dazu, die Intimiund Emotionalisierung des Empfindsamkeitsdiskurses (vgl. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit) beschrieben. Dem ‚neuen Individuum‘ wird in dieser Luhmannschen Perspektive auch die Literatur zugeordnet, und zwar eben als Identitätsbildungs- bzw., hinsichtlich seines Blicks auf die Gesellschaft, als Reflexionsmedium (mit luzide panoramatischem Blick auf die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts insgesamt erläutert dies Eibl: Die Entstehung der Poesie; vgl. auch Schmidt: Selbstorganisation, S. 19, neuerdings Thomas Wegmann: Tauschverhältnisse). Von den Ergebnissen und neuen Perspektiven dieser Studien, besonders Geitners und Eibls, hat die vorliegende Arbeit wesentlich profitiert. Als unnötige Restriktion erachte ich jedoch, daß Literatur dort prinzipiell als nachrangig, da hinter dem als primär gesetzten gesellschaftsstrukturellen Wandel zurückbleibend und in bezug darauf als reagierend oder gar kompensatorisch erscheint. Ihre modellierende Kraft, und zwar nicht nur im Dienste des Individuums, sondern auch für die Gesellschaft bzw. deren Teilsysteme (vgl. unten S. 507 die Hinweise auf ihren Anteil an der Herausbildung der modernen Geschichtswissenschaft), droht so aus dem Blick zu geraten.
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4.4.3 Ökonomisches vs. ethisches vs. ästhetisches Interesse Auf wirtschaftspolitischem Gebiet vollzog sich in Deutschland eine ähnliche Aufwertung des ‚egoistischen‘ Interesses wie bei Smith. So schreibt der einflußreiche Kameralwissenschaftler Johann Heinrich Justi 1771: „Ein jeder denket nur seiner eigenen Vorteile, nur seines Vorzugs halber zu arbeiten und dennoch arbeitet er zugleich vor das Beste des Staats.“51 Jedoch bleibt die deutsche Wirtschaftstheorie in kameralistischer Tradition bzw. physiokratischer Zeittendenz auf eine ‚natürliche Ordnung‘ der Gesellschaft und den Staat, der diese zu sichern und zu befördern habe, bezogen.52 Gesellschaftliche Ordnung wird nicht als etwas begriffen, was sich in einem autonomen Prozeß herausbildet, sondern was einerseits durch obrigkeitliche Eingriffe herzustellen und andererseits von den (Wirtschafts-)Subjekten als Norm zu beachten ist. Dem einzelnen größtmögliche Freiheit einzuräumen, wie Smith dies der englischen Sozial(philosophie)tradition entsprechend tat, wurde erst gegen 1800 gefordert, und zwar von der Kantischen Philosophie ausgehend.53 Smith’ Nachordnung des Staates wiederum wurde selbst von seinen deutschen Anhängern wie Georg Sartorius (1765–1828) allenfalls teilweise übernommen; wie in der kameralistischen Tradition maß man dem Staat weiterhin entscheidende Schutz- und Impulsaufgaben zu.54 Wirtschaftsgeschichtlich entsprach dem die relative Schwäche bürgerlicher Unternehmer im Verhältnis zu staatlichen Aktivitäten.55 Auf ein allgemein herrschendes Bewußtsein läßt sich von der Durchsetzung des ‚Interesses‘ in Moralphilosophie und ökonomischer Theorie ohnehin nicht schließen: Vielfältig gestaltet sich das ökonomisch-moralische Bewußtsein einer Epoche schon deshalb, weil die Positionen im Wirtschaftsgefüge verschieden sind. Das gilt bereits innerhalb der Gruppe der ‚Produzenten‘; so waren Zunfthandwerker auch am Ende unseres Zeitraums noch auf das herkömmliche ‚Auskommen‘ und die rechtliche Absicherung ihres mäßigen Gewinns bedacht, quasi in Fortsetzung der naturrechtlichen Wirtschaftsmodelle der ersten Jahrhunderthälfte, deren leitende Ideen 51 Zit. nach Ernst Wolfgang Orth: Interesse – GG 3, S. 305–365, hier S. 352. 52 Vgl. Tribe: Natürliche Ordnung und Ökonomie, S. 286, 288f., 294. 53 Vgl. ebd., S. 294–198. Einen beträchtlichen Smith-Einfluß bei den Preußischen Refor-
mern macht dagegen Hasek (The Introduction of Adam Smith’s Doctrines into Germany) aus. Eine deutsche Übersetzung des Wealth of Nations lag bereits 1776, im Erscheinungsjahr des Originals, vor (vgl. ebd., S. 63). Erst die zweite Übersetzung durch Christian Garve von 1794 initiierte jedoch eine Rezeption, die bemerkte, wo und wie weit Smith über die Physiokraten hinausging (vgl. S. 65–94). 54 Vgl. Georg Sartorius: Von der Mitwirkung der obersten Gewalt zur Beförderung des Nationalreichtums (1806). – In: Geschichte der Ökonomie, S. 354–373 sowie den Kommentar ebd., S. 828–834. 55 Vgl. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 1, S. 207.
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„das ständische Prinzip der angemessenen Lebensführung“ und der „begrenzte Erwerb“ gewesen waren.56 Im Laufe des 18. Jahrhunderts bildete sich zudem eine bisher nicht gekannte Diskursdifferenzierung heraus: Dieselben Themen werden in den verschiedenen, sich gegeneinander autonomisierenden Disziplinen und Textsorten in sehr unterschiedlicher Weise und mit teilweise entgegengesetzen Wertungen verhandelt. (Dagegen verband Mandeville die literarische Form einer satirischen Fabel mit ‚wissenschaftlichen‘ Anmerkungen und argumentierte zugleich gesellschaftstheoretisch, moralphilosophisch und ökonomisch.) Ein Beispiel für die in der Literatur des mittleren 18. Jahrhunderts vorherrschende Befestigung von moralischen, religiös flankierten Normen bot uns am Ende des letzten Kapitels Gellerts Loos in der Lotterie. Dem bei Smith sich artikulierenden Erwerbsegoismus steht die von den positiven Figuren vertretene und vom Ausgang dieser Komödie approbierte Ethik diametral entgegen. Wohl läßt sich eine ganze Reihe handlungskonzeptioneller Parallelen ausmachen, so das Aktivitätsprinzip, ein ‚irrationales‘ Zukunftsvertrauen, der Rat, nicht nur vom eigenen Standpunkt aus zu urteilen, oder die Adaption der ‚politischen‘ Geschicklichkeit unter Verzicht auf deren bislang zentrale Verstellungskomponente. All dies sichert jedoch nur die formale Vergleichbarkeit des moralisch-religiösen Gewinnmodells des Looses mit dem marktwirtschaftlichen des Wealth of Nations. Denn aus der in beachtlichem Maße gemeinsamen Wahrnehmung der epochalen Tendenzen werden nicht minder auffällig divergente Konzequenzen gezogen. Die Affektnatur des Menschen wird bei Gellert nicht als ökonomischer Antrieb approbiert, sondern sozialethisch funktionalisiert (und zwar auf der Bühne, also in der herzensmotivierten Interaktion der Figuren, wie im Theater bzw. in der Lektüre, als Teilhabeangebot an den Rezipienten). Leidenschaften werden nicht in Interessen transformiert, sondern in Rührung, und wenn diese „das Gemüt in Bewegung“ setzt, so nicht als ‚dialektisch‘ gemeinnütziges Gewinnstreben, sondern als Selbstgenuß, in dem die „Selbstliebe“ unmittelbar zur „gesellschaftlichen Tugend“ anregen soll.57
56 Vgl. ebd., S. 203; Hellmuth: Praktische Philosophie und Wirtschaftsgesinnung, S. 136,
143 (Zitate). Daß sich die mentale Umstellung auf expansives Wirtschaften und eine „ungebundene Marktgesellschaft“ selbst im Fall eines erfolgreichen Unternehmens verzögerte, zeigt die institutionenökonomisch inspirierte Studie von Stefan Gorißen über das Hagener Handelshaus Harkort (Vom Handelshaus zum Unternehmen, S. 359). 57 Gellert: Abhandlung für das rührende Lustspiel. – In [der Übersetzung von] Lessing: Werke Bd. 4, S. 37–53, hier S. 44, 50. Zum Prinzip der „‚Bewegung‘ in der deutschen Poetik des 18. Jahrhunderts“ vgl. den so betitelten Aufsatz von Bernhard Asmuth, bes. S. 57–59.
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Auffällig – da neuartig – ist die prinzipielle Divergenz von ökonomischem und literarisch-ethischem Handlungsmodell zumal im historischen Rückblick, betrieben die meisten bislang besprochenen Komödien vom Merchant of Venice über Masens Ollaria oder den Avare bis zur nur drei Jahre vor dem Loos erschienenen Ungleichen Heirath der Gottschedin doch explizit oder strukturell die Durchsetzung von Merkantilität (wenngleich weniger radikalen, nämlich noch nicht marktwirtschaftlich hypostasierten Typs). Das Loos in der Lotterie nimmt demgegenüber eine Abwehrstellung ein, und zwar schon handlungsstrukturell. Zwar greift der Kreislauf des Loses durch die Hände Frau Damons, ihres Mannes, Simons, Frau Orgons und Carolinchens zurück an Frau Damon ein Zentralmotiv der frühneuzeitlichen (Geld-)Komödie auf, das mit der scheinbaren Zirkulation von Portias Ring bereits im ersten hier herangezogenen Stück ausgebildet ist. Indem dieser Kreislauf sich überwiegend unrechtmäßig vollzieht bzw. sich unlauteren Motiven verdankt, fällt auf ihn jedoch ein kritisches Licht. Ebenso wird der Bewegungsimperativ, der mit dem Gedanken monetärer Zirkulation verbunden war, handlungsstrukturell dementiert, indem einer episodischen moralischen Profilierung der Figuren der Vorzug gegeben wird vor der Entwicklung eines durchgehenden Konflikts. Soweit entspricht der statische Charakter der dramatischen Handlung der Pejorisierung handelsförmiger Interaktionen zugunsten des Geschenks. Auch im Fall des Looses in der Lotterie lohnt es sich allerdings, genauer auf die Handlungsstruktur zu schauen. Denn der Kreislauf des Loses restituiert nicht einfach die Ausgangslage, sondern verbessert sie im Sinne der Tugendhaften: Von dem eventuell gewonnenen Geld glaubt Frau Damon anfangs die eine Hälfte ihrem Manne geben zu müssen, damit Carolinchen die andere erhalten darf (vgl. I,1, 117); als dreister Räuber und ebenso unkluger wie habgieriger Verkäufer des wertvollen Loses beschämt, muß Herr Damon sich am Ende hingegen mit einem Zehntel des Gewinns zufrieden geben, während 1000 Taler wohltätigen Zwecken zugeführt werden können (vgl. V,7, S. 188). Insofern schlagen auch in diesem Lustspiel „private vices“ in „public benefits“ aus. Setzt Smith’ Markttheorie die providentielle Hoffnung voraus, deren Erfüllung die Komödie gattungstypisch – und um 1750 mit besonderer Emphase – vorführt, so kommt der tugendtriumphale Schluß von Gellerts Lustspiel nur durch die indirekte Hilfe von Praktiken zustande, die gleichzeitig gebrandmarkt werden. Das systemische Ganze wird der propagierten Individualethik nicht vollständig unterworfen. Mehr Affinität zur Wirtschaftssphäre, als es seiner expliziten Botschaft entspricht, weist Das Loos in der Lotterie auch in seiner Rezeptionslenkung auf. Wenn Gellerts Komödien – so Lessing und andere zeitgenössische Kriti-
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ker58 – dem Publikum das Gefühl eigener Tugendhaftigkeit vermittelten, so lag es nahe, daß die wechselseitigen Wünsche der positiven Figuren, daß die Tugend der anderen belohnt werde, vom Zuschauer am Ende auch auf sich bezogen wurden. Gerade das Loos begünstigt eine solche Deutung, indem es die eigentlich beschenkte Figur, Carolinchens Bräutigam, erst in der letzten Szene auftreten läßt. Interpretiert man die Handlungsstruktur theaterästhetisch, so verkörpert dieser Herr Anton die Integration der außenstehenden Zuschauer in das Komödiengeschehen. Über seine Lebensumstände erfährt man nicht mehr, als daß er vier Jahre lang an der Steigerung seiner Einkünfte gearbeitet hat (vgl. V,12, S. 193). Damit aber stellt er die ideale Projektionsfigur für das Publikum dar, und zwar speziell für dessen materielle Interessen. Mit der rezeptionsästhetischen Disposition des Stücks ist bereits seine Stellung auf dem literarischen ‚Markt‘ berührt. Gellert ist wohl der erste deutsche Komödienautor, der, den Verhaltenstyp des Gelehrten hinter sich lassend, aber noch nicht ‚Genie‘, für einen regelrechten literarischen Markt arbeitete.59 D. h. er mußte dies tun, da er erst 1751, nach der Kernphase seiner literarischen Produktion, ein – schlecht besoldetes – Amt, eine außerordentliche Professur in Leipzig, erhielt (während Gottsched stets von seinem Lehrstuhl aus schrieb), und er konnte sich so unterhalten, da eben in der Jahrhundertmitte ein tragfähiger Literaturmarkt entstand. An dessen Schaffung hatte er sogar erheblichen Anteil, so als Vermittler zwischen Autoren und Verlegern, aber auch indem er planvoll das Publikumsinteresse anstachelte, bis hin zur Verbreitung einer Falschmeldung des eigenen Todes.60 Mit merkantilen Begriffen charakterisiert Eckhardt Meyer-Krentler darüber hinaus die ‚inhaltliche‘ Seite von Gellerts keineswegs nur schriftstellerischem Wirken: Da Gellert die moralische Botschaft, die seine Schriften verkündeten, in eigener Person verkörperte, wurde er als Vermittler von Hauslehrern, ja „tugendhaften Ehepartnern“ herangezogen, gab er Privatstunden und betrieb er eine ausgedehnte briefliche Lebensberatung, kurzum ein „moralisch-ästhetisches Bildungsgeschäft“ großen Stils.61 Im Produktions- und Rezeptionsumfeld des Looses interferierten die in der Komödie separierten Sphären Markt und Moral demnach durchaus. Und Gellert zeigte sich durchaus begierig nach einer Belohnung – dem Lob der Kritiker nämlich –; so bekennt er in der Vorrede zur Sammelausgabe seiner Komödien von 1747, 58 Vgl. Lessing: Theatralische Bibliothek, 1. Stück (1754) – Werke Bd. 4, S. 57; Gellert:
Gesammelte Schriften Bd. 3, S. 340 (= Kommentar von Mauvillon und Unzer). 59 Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: „...weil sein ganzes Leben eine Moral war“. Gellert
und Gellerts Legende. – In: „Ein Lehrer der ganzen Nation“, S. 221–257, hier S. 238f., 243. 60 Vgl. ebd., S. 249, 237. 61 Ebd., S. 251.
469 daß einige von meinen Lustspielen schon so glücklich gewesen sind, den Beyfall der Kenner zu erhalten, und daß ich bey den übrigen keine kleinere Absicht gehabt habe, als ihn noch einmal zu verdienen. Wie ruhig wollte ich seyn, wenn ich nicht noch zweifeln müßte, ob ich meine Absicht erreicht hätte!62
Von der uninteressierten, demütigen Ruhe eines Carolinchen ist deren Autor hier weit entfernt, recht nah hingegen an Herrn Damons ichzentriertem Streben nach Markterfolg. Gellert kannte die Begierde, die sein Loos in der Lotterie zu zügeln anhält. Über das Subjektive hinaus zwingt der literarische Markt den Autor aber auch ‚objektiv‘, sich seinem Publikum – das ihm schon „Credit“ eingeräumt hat, wie es in einer zeitgenössischen Rezension der Lustspiele heißt63 – so zu präsentieren, daß dessen Literatur- und Moralkonsumwünsche befriedigt werden. Eine explizite Aufwertung ästhetischer ‚Interessen‘ vollzog sich dann seit den 1770er Jahren, wenngleich unter Umprägung des Begriffs. Die Popularphilosophen Garve und Sulzer diskutierten das Interesse an ästhetischen Gegenständen, das Geist und Gemüt in Bewegung versetze, ihre Aktivität steigere und auf die Zukunft gespannt mache.64 Als ‚Anteilnahme‘ hält das so verstandene Interesse eine lockere Verbindung zur älteren Wortbedeutung ‚Kreditzins‘ (also zum vom Schuldner an den Gläubiger abzutretenden ‚Anteil‘ an jenem Gewinn, der mit einer geliehenen Geldsumme erzielt wurde).65 Wie in der anthropologischen Diskussion vor der Jahrhundertmitte (vgl. oben S. 452) schwächt der Interessebegriff auch hier Normativitätserwartungen ab: Der Kunst werden keine unmittelbar moralisierenden Aufgaben mehr übertragen, sondern es wird lediglich angenommen, daß das Kunstwerk „uns jederzeit für Recht und Tugend interessirt“ mache.66 Vollends gelöst wird die von der Popularphilosophie noch bewahrte indirekte Verbindung von Kunst und Moral, wo Friedrich Schlegel das ‚Interessante‘ als Kennzeichen der modernen Poesie ausweist: Weil die gegenwärtige Epoche von einem „Mangel der Allgemeingültigkeit“ beherrscht werde, könne ihre Poesie ‚nur‘ interessant, nicht jedoch „objektiv“ sein und dauerhaft gültige Normen behaupten.67 62 Unpag. Vorrede, zit. Gesammelte Schriften Bd. 3, S. 328. 63 Compendium Historiae Litteraria Novissima [...]. Coburg 1748, S. 21f., zit. nach Gel-
lert: Gesammelte Schriften Bd. 3, S. 333. 64 Vgl. Ernst-Wolfgang Orth u. a.: Art. Interesse – GG 3, S. 305–365, hier S. 326f. 65 Vgl. DWb 4,2, Sp. 2147f. s. v. Interesse. ‚Ältere Wortbedeutung‘ hier als erste Bedeu-
tung des aus dem Mlat. übernommenen Fremdworts im Deutschen. Die heute vorherrschende Bedeutung ‚Anteilnahme, Neigung‘ entwickelte sich erst im 18. Jahrhundert unter dem Einfluß von frz. ‚intérêt‘; vgl. Duden: Etymologie, S. 290, s. v. Interesse. 66 Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste Bd. 2, S. 693, s. v. interessant. 67 Vgl. Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie (1795) – KA 1, S. 217–367, hier S. 252, 215; das folgende Zitat ebd., S. 215. In Schlegels Gespräch über die Poesie bezieht sich Antonio ausdrücklich auf „Smith über den Nationalreichtum“ (KA 2,
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Schlegel akzeptiert diese Situation, und wenn er auch dem Interessanten „nur eine provisorische Gültigkeit“ zumißt, so folgt dies der Einsicht, daß das Provisorische „sozusagen das Signum der ‚modernen‘ menschlichen Lage“68 darstellt. Die Freisetzung von Normen verleiht hier der Poesie eine ähnliche Dynamik, wie Adam Smith sie dem wirtschaftlichen Leben zuspricht: Schlegels „moderne Poesie“ zeichnet ein „rastloses unersättliches Streben nach dem Neuen“ aus, welches das überlieferte Ruheideal, Mäßigkeitsgebot und Ordnungsdenken, sei es orthodox-christlicher oder aufklärerischer, rationalistischer oder sensualistischer Provenienz, sprengt.69 Für die deutschen Verhältnisse aber ist es sowohl in ökonomischer als auch in literarischer Hinsicht höchst bezeichnend, daß eine solche Freisetzung und Dynamisierung nicht auf ökonomischem, sondern auf literarischem Gebiet proklamiert wurde – und sich, unbeschadet Preußischer und anderer Reformen, tatsächlich vor allem auf letzterem vollzog.
S. 284–362, hier S. 289). Inhaltlich trifft die Anspielung freilich nicht recht, so daß offen bleiben muß, wie gut Schlegel das Werk kannte. – Der Versuch Anneliese Klingenbergs, Smithianische Prinzipien in der nachaufklärerischen deutschen Literatur und Poetik auszumachen, bietet Vages statt überzeugender Zuordnungen (vgl. Klingenberg: Smith-Rezeption). 68 Ernst-Wolfgang Orth u. a.: Art. Interesse – GG 3, S. 305–365, hier S. 329. 69 Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie – KA 1, S. 228. Trotzdem ist auch der modernen Poesie noch ein Ziel zugemessen: „das Interessante ist die Vorbereitung des Schönen, und das letzte Ziel der modernen Poesie kann kein andres sein als das höchste Schöne, ein Maximum von objektiver ästhetischer Vollkommenheit“ (ebd., S. 253). Da dieses Ziel aber unerreichbar ist, wird eine „endlose Annäherung“ (S. 214 o. 255) in Gang gesetzt. Deutlich wird hier, wie aus der Distanznahme zur Norm bzw. deren Entrückung jenes geschichtsphilosophische Denken resultiert, das, wie bereits angesprochen, um 1800 die deutsche Gegenwartsdeutung dominiert.
4.5 Die Merkantilität des komischen Spiels: Krügers Candidaten Mit einem Überblick zum Verhältnis gelehrter und ludischer Komödientypen zum Markt Das wohl umfassendste, nämlich sämtliche Figuren erfassende Interessenund Intrigenspiel in der deutschen Komödie der mittleren Aufklärung inszenieren Die Candidaten, oder: Die Mittel zu einem Amte zu gelangen, die Johann Christian Krüger im Jahre 1748 sowohl auf die Bühne brachte als auch in einer Sammlung der von seiner Schönemannschen Truppe gespielten Stücke zum Druck beförderte.1 Zwar geht es hier – wie in den meisten hiesigen Komödien – ums Geld nicht im Sinne von Geschäften, und die Figuren konkurrieren nicht auf einem Waren- oder Finanzmarkt. Umkämpft wird vielmehr ein Amt, die neu zu besetzende Stelle eines Ratsherrn. Die immerhin ist einiges Geld wert, nämlich mit Einkünften von jährlich 600 Reichstalern verbunden (II,6, S. 296). Vor allem aber nähert sich die Komödienhandlung insgesamt den Prämissen der Marktwirtschaft, wie sie das vorstehende Kapitel erläutert: in normativer Hinsicht der Verdrängung von Moralität durch das Erfolgskriterium, das Individiuum betreffend der Notwendigkeit, das eigene Verhalten quasi theatralisch an den erwartbaren Aktionen und Reaktionen der anderen auszurichten, sowie – in systemischer Hinsicht – der Unkalkulierbarkeit des Ganzen und insbesondere dem Beitrag amoralischer Handlungen zum gleichwohl vorausgesetzten guten Ausgang. Auf einem Markt im Sinne des modernen Wirtschaftssystems befinden sich die Figuren zudem insofern, als sie alle ihre Interessen verfolgen und sich dadurch voneinander abhängig machen, obschon nicht alle nach demselben Ziel streben, mit der dramaturgischen Folge, daß „the positive and negative characters are all integrated into a strong plotline“.2 Denn die Besetzung des Amtes, um das die Kandidaten konkurrieren – der bloß am Titel interessierte Nichtskönner Chrysander, der spielerische Valer, sowie, als einziger qualifizierter Kandidat, der gräfliche Secretarius Herrmann –, bildet lediglich den Anlaß und Angelpunkt für mehrere Intrigen, die wiederum die Interessen 1 Vgl. Krüger: Werke. Kritische Ausgabe, S. 271–377. 2 Jacobs: Reason and Unreason in two Comedies of J. C. Krüger, S. 40.
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weiterer Figuren zu nutzen versuchen bzw. auf den Plan bringen. Walter Hinck folgend, lassen sich folgende Intrigen unterscheiden:3 Erstens die Verkleidungsintrige Valers, der sich – eine Beleidigung seines Obristen zu rächen – als falscher Kandidat einschleicht und die Gattin des die Ratsstelle vergebenden Grafen mit seinen Schmeicheleien zum Besten hält, zweitens der Versuch Herrmanns und seiner Braut Caroline, Valer mit Hilfe der Eifersucht des Grafen bzw. durch eigenes Einschmeicheln bei der Gräfin als Rivalen auszuschalten, sowie drittens die Intrige des Grafen und seines Hofmeisters Arnold, die sich Caroline als Mätresse bzw. Braut gefügig machen wollen und dazu sie und Herrmann durch falsche Nachrichten über beider Untreue zu entzweien versuchen. Schon hier wird deutlich, daß nicht nur die drei Kandidaten konkurrieren und daß es nicht allein um ein Amt geht. Hinzu treten erotische Ambitionen und Erpressungen, Neid und Kompensationsgeschäfte, die „sich zu immer neuen Konstellationen eines Kampfes [überkreuzen], in den alle Personen mehrfach verwickelt sind.“4 Und wie um klarzustellen, daß dieser Kampf ein Modell ökonomischer Konkurrenz darstellt, beschreiben die Figuren ihre Ambitionen in Handels- und Besitzmetaphern: Die Gräfin lebt davon, „jungen Leuten die Aemter für Schmeicheleyen und Liebkosungen zu verkaufen“ (III,1, S. 318; ähnlich I,1, S. 274), und wenn der Graf den Chrysander um den „Besitz so kostbarer Güter“ bringen will, „die er [Chrysander] nicht verdient“ (V,4, S. 365), so heißt das für ihn, die Braut dieses Kandidaten zu umschmeicheln. Arnold wiederum ist bereit, sein „Glück mit [seiner] Ehre zu erkaufen“, da er „nicht Verdienste genug besitz[t,] in ein Amt zu gelangen“ (I,5, S. 285). Erfolg hat nur eine der drei Intrigen: Valers gespielt galantes Verkleidungsspiel, und auch die erreicht ein anderes Ziel als das angepeilte. Denn als der angenommene ‚Bewerber‘ seine doppelt „gespielte Rolle“ (V,7, S. 374) ablegt und sich als Fähnrich von Wirbelbach zu erkennen gibt, stellt sich heraus, daß er in der Kammerjungfer Caroline seine seit Jahren vermißte Cousine wiedergefunden hat (vgl. S. 372f.). Komplexe Konkurrenzsituationen lassen sich, kann man daraus schließen, auch durch noch so souveräne Strategien nicht beherrschen. Einer Frau von Ehrlichsdorf, der Verkörperung des perfekten Politicus im Verschwender (vgl. Kap. 4.3.3), hätte sich in der erheblich unübersichtlicheren, weil von einer multipolaren Interessenkonkur3 Das Folgende gutenteils wörtlich, aber mit ergänzenden Erläuterungen nach Hinck:
Das deutsche Lustspiel, S. 250f. 4 Ebd., S. 251: „Um die Gunst der Gräfin streiten der Fähnrich [Valer] und der Sekretär
[Herrmann]. Mit ihrer Absicht und ihrem Anspruch auf Christinchen stoßen der Graf und der Licentiat Chrysander zusammen. Hermanns Liebe zu Caroline überschneidet sich mit dem Begehren des Grafen und der Heiratsabsicht des Hofmeisters. Ihren Mann betrügt die Gräfin und ihren Bräutigam Christinchen.“
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renz geprägten Welt der Candidaten kaum Spielraum geboten. Mit dem Unvorhersehbaren rechnete hingegen, ja darauf baute Das Loos in der Lotterie, wo die Welt des interessierten Strebens allerdings generell unter Verdacht steht (vgl. Kap. 4.3.5). Verglichen mit beiden Komödien sind Die Candidaten moderner, marktgesellschaftsaffiner: dem Verschwender gegenüber, weil sie das systemische Ganze der Verfügbarkeit des einzelnen entrückt, dem Loos gegenüber, da sie auch den am Ende ‚belohnten‘ Tugendprotagonisten in den gesellschaftlichen Konkurrenzkampf schickt, denn Herrmann hat durchaus ein Interesse und versucht sich, von Caroline angetrieben (vgl. I,1; II,12; III,13), in nützlichem taktischen Verhalten. Daß er das erstrebte Amt am Ende erlangt und Caroline heiraten kann, ist freilich nicht Frucht solcher Bemühungen, denn mit seinen Versuchen, die erotische Eitelkeit der Gräfin durch Schmeicheleien für sich auszunutzen, macht er sich nur lächerlich (vgl. IV,8). Vielmehr profitiert er vom Verkleidungsspiel eines Mitbewerbers, denn als der siegreiche Valer in Herrmanns Braut seine Cousine erkennt, erwirkt er bei der Gräfin, daß ihr Liebster auf die Ratsstelle berufen wird (vgl. V,8, S. 375f.). Daß der gute Schluß nur durch eine Verwandtschaftsanagnorisis zustande kommt, mag als ironische Pointe gedeutet werden und den Schluß nahelegen, Krüger bringe eine unheilbar korrupte Gesellschaft auf die Bühne, in der nur ein Komödientrick momentane Gerechtigkeit herzustellen vermag:5 „The system seems to be so impregnable that it takes a clever intriguer like Valer to extricate Herrmann and reward his virtue and it takes the device of revealing Caroline to be of noble birth to free her from the domination of a noble family.“ In der Tat ist das Gesellschaftsbild der Candidaten weniger harmonistisch als das der zuletzt behandelten Stücke. Krügers scharfe Satire auf die amoralische Ausnutzung adeliger Privilegien (in diesem Fall bei der Vergabe von Ämtern) sollte jedoch nicht den Blick darauf verstellen, daß seine Komödie schon deshalb konfliktreicher und weniger versöhnlich ausfällt, weil sie ein interessenbewußtes Konfliktverhalten als unabdingbare und insofern positive Fähigkeit eines jeden, der sich gesellschaftlich behaupten will, ausgibt.6 5 „A more disturbing, bitter and radical social critique than had been seen before in Auf-
klärung comedy“ findet Margaret Jacobs in Krüger Candidaten sowie seinen Geistlichen auf dem Lande (1743) (Reason and Unreason in two Comedies of J. C. Krüger, S. 44). Das folgende Zitat ebd., S. 42. In der Tat wird das strukturelle Übel nicht geheilt, so daß die Komödie mit dem Dienerrat schließen kann bzw. muß: „Ihr Herren Candidaten, befleissigt euch auf gute Canäle!“ (V,8, S. 377). 6 Vor allem gibt es keinen konsequent durchgehaltenen „class conflict between, on the one hand, the rising middle class and its confederate the lower nobility and, on the other hand, the ruling aristocracy“ (so Van Cleve: Social Climbing During the Age of Absolutism, S. 319), denn auch Chrysander als unwürdiger Kandidat sowie Arnold als intriganter Dummkopf sind Bürgerliche, während der großzügige Valer sich als
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Daß Herrmann sich nur schwer dazu entschließen kann, seine Interessen zu verfolgen, womöglich gar dissimulativ, wird von Caroline zwar als Tugend anerkannt, die sie als Liebespartnerin überzeugt (vgl. I,2), erscheint zugleich aber als moralistische Vereinseitigung7 und existentielle Schwäche. Indem er nur durch eine Spielerfigur zu retten ist, steht der tugendsteife Bürger daher kaum besser da als die gesellschaftliche (Un-)Ordnung. Zudem ist Valers Spiel nichts Aufgesetztes und einer bloßen Schlußkonvention wegen Angefügtes, sondern der Lebensnerv von Krügers Komödie, stand dieser doch stärker als alle anderen Autoren der Sächsischen Komödie in der Spieltradition der Commedia dell’arte.8 Als – eigentlich – Herr von Wirbelbach verkörpert die Figur das komödische Spiel ‚übermütigen‘ Typs als solches, und ihr richtiger Name kann als Hinweis darauf verstanden werden, was dessen Wesen ausmache: Wirbel, Verwirrung, Bewegung. Was Valers Verkleidungsintrige antreibt, nämlich der Belustigungszweck mit satirisch-strafender Nebenabsicht (vgl. III,1, S. 314 u. 318), stellt zugleich die Funktion der Krügerschen Komödie insgesamt dar.9
Adliger entpuppt. Positive und negative Figuren lassen sich mithin nicht nach Ständen sortieren. 7 In diesem Punkt steht Herrmann in der Nachfolge von Molières ‚Menschenfeind‘ Alceste (vgl. besonders den Streit mit Caroline, ob man „allezeit die Wahrheit sagen“ müsse, in der Eröffnungsszene, S. 273). 8 Vgl. Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 234. Die einzige neuere Monographie zu Krüger (die Dissertation Problems of Form and Content in the Comedies of Johann Christian Krüger, die David G. John 1975 in Toronto vorgelegt hat, ist nicht im Druck erschienen) schenkt der komödischen Tradition wenig Beachtung und akzentuiert dagegen die empfindsamen Elemente des Stücks. In der Tat gibt Krüger den Beschwörungen des „Herzens“ einigen Raum (vgl. Schneider: Vielleicht, daß wir also die Menschen fühlen lehren, S. 135f.). Mitunter allerdings scheint dieses Zugeständnis an den Zeitgeschmack ironisch gebrochen zu sein, so in Herrmanns Schlußsatz: „(fällt ihr zu Füssen) O! könnt ich vor Dankbarkeit und Liebe zu ihren Füssen sterben!“ (V,8, S. 377) 9 Aufgrund seiner Vorspiele und Vorreden (zu mehreren Marivaux-Übersetzungen) sucht Katja Schneider: ebd., S. 40–52 Krügers Theater- und Komödienästhetik zu rekonstruieren. Deutlich wird dabei, wie Krüger durch die Betonung des Vergnügens, das die Komödie bereite, eine Gegenposition zu Gottscheds didaktischem Theater bezog, obwohl er sich zunächst zu dieser Schule bekannte (vgl. ebd., S. 39f.). Noch deutlicher wird Krügers Vorzug für das Vergnügen (und damit der Anschluß an Gottscheds Gegner Johann Elias Schlegel, vgl. oben Kap. 2.6.3), wenn man nicht nur die explizierten Normen berücksichtigt, sondern auch die ‚spielerischere‘ Theaterpraxis und -tradition (so Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 233f.). Saße hingegen mißt Die Candidaten an der Gottschedschen Poetik, um dem Stück dann Widersprüche vorzurechnen: nämlich daß nicht Herrmanns Tugend, sondern nur „die willkürliche Gewalt eines ‚coup de théâtre‘“ den guten Ausgang verbürgt (vgl. Die aufgeklärte Familie, S. 84–93, das Zitat S. 91) – was freilich nur jener inadäquate Maßstab als Widerspruch erscheinen läßt.
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Demnach ist es speziell das komödische Spiel, genauer „die in der Commedia dell’arte perfektionierte Technik der vervielfachten Interessenkreuzung“,10 welche die Handlungsstruktur der Candidaten markthomolog modelliert. Und auf dieser strukturellen Ebene werden die amoralische Betriebsamkeit sowie die „Dynamik des skrupellosen Kampfes ‚aller gegen alle‘“ durchaus affirmiert, nicht satirisch kritisiert. Wohlgemerkt werden die explizierten Normen dagegen weit weniger merkantilisiert: Taktisches Geschick ist vonnöten, legitim aber nur dann, wenn dadurch erworbene „Verdienste“ zur Geltung gebracht werden sollen (I,1, S. 276). Von der subjektiven Motivation her ist zudem auch Valers Intrige ganz marktfern, denn der „Spaß“, den er dabei hat, „ist nicht mit Gelde zu bezahlen“ (III,1, S. 314). Für sich genommen wird sein Spiel von derselben autonomen Lust getragen, die wir in den Komödien des Wiener Volkstheaters fanden, welche sich der Gottschedschen Funktionalisierung des Theaters ebenso wie einer ökonomischen Logik entziehen (vgl. oben Kap. 3.7.1). In der Verflechtung vieler Spiele und Intrigen stellt sich auf systemischer Ebene gleichwohl jene Struktur ein, die als charakteristisch für die Marktgesellschaft gilt. Denn die Marktgesellschaft konfrontiert einerseits mit der Erfahrung, daß Handlungsketten so lang und komplex geworden sind, daß sie sich nicht mehr beherrschen lassen.11 Von ihr erwartet wird andererseits aber eine Eigendynamik, in der Interessen unabhängig von ihrer Moralität zum Vehikel eines bestmöglichen Verlaufes werden. Erneut können wir von einer Ironie der Komödiengeschichte sprechen, denn die Merkantilisierung der Geschehensstruktur erfolgt ausgerechnet über ihr Gegenteil: ein universalisiertes komisches Spiel. In Krügers Komödie ist es demnach nicht ein sakulärisiertes Providenzvertrauen, das die Merkantilisierung der Geschehensstruktur beförderte. In seinem Egoismus und seiner begrenzten Souveränität bildet das intrigantvergnügliche Spiel vielmehr den Gegentypus zum allsorgenden Spiel Gottes. Überschauen wir die bisher herangezogenen Texte und Autoren, so fällt weiterhin auf, daß die Bevorzugung des einen oder anderen Spieltypus sich weitgehend danach richtet, ob ein Autor als Gelehrter oder als Theaterpraktiker schrieb. Als Gelehrte mit – im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert noch wachsendem – Welterklärungsanspruch modellieren Gryphius, Gottsched und seine Frau oder Gellert ein handlungsübergreifendes, ordnungssicherndes providentielles Spiel, das mehr oder weniger deutlich als göttliches erkennbar ist; vom praktischen Theater ausgehend, bringen Reuter oder Krüger dagegen viele partikulare und häufig ordnungsstörende Spiele auf die Bühne, die allenfalls in ihrer Summe die Tugendnorm realisieren (so bei Krü10 Hinck: ebd., S. 251. Das folgende Zitat ebd. 11 Vgl. Ottow: Modelle der Unsichtbaren Hand, S. 559f.
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ger, nicht aber bei Reuter).12 Unter den hier behandelten Autoren ist Krüger zwischen Molière und Hafner sogar derjenige, der dem realen Theater am nächsten stand, und zwar sowohl dramaturgisch (wie gezeigt) als auch, dies fundierend, biographisch: Nach abgebrochenem Theologiestudium 1742 in die Truppe Johann Friedrich Schönemanns eingetreten, betätigte er sich dort bis zu seinem frühen Tod 1750 als ‚Schauspielerdichter‘.13 Dieser Praxisnähe entsprechend, wurden seine Komödien außergewöhnlich häufig und lange gespielt, Die Candidaten bis 1792, der Einakter Herzog Michel sogar bis 1801.14 Warum sich bei dem gelehrten Theaterreformer Gottsched nicht derselbe Bühnenerfolg einstellte (vgl. Kap. 3.7.2), wird in Krügers Komödie über den spielerisch zu erlangenden Erfolg indirekt mitreflektiert. Denn Herrmann tritt als bürgerlicher Intelligenzler ganz nach dem Bilde der rationalistischen Aufklärung auf: stets eifrig bei der Arbeit und unbedingt der Wahrheit verpflichtet (vgl. I,1, 273), erkennt er allein seine „Wissenschaften“ als „Reichtum“ und „die Tugend“ als „Glückseligkeit“ an (S. 275f.).15 Für das zu besetzende Amt ist er damit zweifellos am besten qualifiziert (vgl. I,1, S. 276). Die aktuelle Situation erfordert indessen andere, ‚politische‘ Fähigkeiten. Von seinen Grundsätzen abzuweichen, um anderen – von denen sein Leben abhängt! – entgegenzukommen, lehnt Herrmann jedoch ab.16 Und als er es notgedrungen doch tut, scheitert er kläglich (vgl. IV,8). Die dramatische Konstellation entspricht mithin der Situation, in der sich die Bühnenreformer befanden, die sich um Erfolg auf dem Theatermarkt bemühten, mit den Possenspielen der Wanderbühnentradition aber nicht mitzuhalten vermochten. Krügers ironische Pointe dabei ist, daß er ausgerechnet die ihnen entsprechende, tugendhafte 12 Zwischenformen bieten die Dramen Christian Weises, der – Gelehrter und Theater-
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praktiker – individuelle, also partikulare Strategien nicht als Ordnungsstörung oder als Selbstzweck, sondern zum Aufstieg in der gesellschaftlichen Hierarchie entwirft, sowie Hafners Mägera, wo die übermütigen Spielintrigen des Hanswurst im Horizont einer weiträumigeren Ordnung stehen. Vgl. Schneider: Vielleicht, daß wir also die Menschen fühlen lehren, S. 19 u. 22. Vgl. ebd., S. 22 Anm. 24; für Aufführungszahlen vgl. Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 435 Anm. 140 mit – deutlich niedrigeren – Vergleichszahlen für Die ungleiche Heirath der Gottschedin. Überdies entspricht seine schlechte soziale Stellung der Kümmerlichkeit und Abhängigkeit vieler Gelehrtenexistenzen, vgl. oben S. 468 zu Gellerts Situation vor seiner Berufung auf eine Leipziger Professur. Vgl. I,1, S. 276f.: „Caroline. [...] Sie kennen die Gefälligkeit des Grafen gegen seine Gemalinn; sie wissen, daß sie bereits mehr Aemter vergeben hat, als er; suchen sie sich derohalben um ihre Gunst zu bewerben; sagen sie ihr einige Schmeicheleyen vor, speisen sie ihre Eitelkeit... Herrmann. Ich beschwöre sie, liebste Caroline, legen sie mir lieber eine zehenjährige Todesmarter zum Beweise meiner Liebe gegen sie auf, als dieses verächtliche Mittel zu einem Amte zu gelangen.“
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Figur zur komischen, zur Narren-Figur werden läßt.17 Zugleich wird vorgeführt, warum das Reformtheater sich so schwertat: Zum einen spiegelt Herrmanns Bevorzugung des Wortwissens vor der Praxis18 die von Gottsched betriebene Literarisierung des Theaters (vgl. oben S. 342). Zum anderen wird die präzeptorale Manier, die eigene Position absolut zu setzen, von Caroline treffend aufs Korn genommen (welche Figur man daher noch mehr als Valer als Sprecherin des vom Autor vertretenen Theaters verstehen darf): „Alle Leute, die nicht ihre Maximen haben, sind in ihren Augen häßlich, betrügerisch, abgeschmackt und lasterhaft. [...] Weil sie nicht reich sind, so sind alle Reichen unglückselig, und weil sie kein gnädiger Herr sind, so verdient kein Mensch ein gnädiger Herr zu seyn.“ (I,1, S. 274)19 Folgt man dieser Kritik, so fehlt es Herrmann und mit ihm einem Gottsched nicht einmal nur an taktischer Beweglichkeit, konkret: an der Bereitschaft, interessengeleitet zu spielen (dasselbe Defizit wird der Major von Tellheim haben, vgl. unten S. 489). Darüber hinaus ist ihre aperspektivische Weltsicht20 und das daraus folgende statische Weltbild dem Theater prinzipiell nicht gemäß, führt das (nicht mehr als theatrum mundi begriffene) Theater dem Zuschauer doch vor, daß jede Weltsicht eine partikulare ist.21 Caroline empfiehlt in diesem Sinne, daß „man sich allemal seines Standes erinnert, und [...] erlaubte Mittel anwendet, ihn zu verbessern.“ (I,1, S. 275) Bereits hundert Jahre alte Einsichten der romanischen Moralistik einholend, ist hier das Bedingungsverhältnis zwischen der unaufhebbaren Beschränktheit jeder Perspektive und ‚politischen‘, spielerischen Verhaltensmaximen gesellschaftsanalytisch reformuliert. Dieselbe Dynamisierung des Weltverständnisses wie des Verhaltens aber bildete die Voraussetzung für die Ausbildung einer Marktgesellschaft. Die von Herrmann reklamierte Moralsteuerung hin-
17 Vgl. Van Cleve: Social Climbing during the Age of Absolutism, S. 325: „Krüger has
cast his main enlightened character as the fool.“ 18 Vgl. Kurth: „Maskerade, Konfusion, Komödie!“, S. 76. „Das versteht sich, daß ich mit
den gründlichsten Gelehrten einen Begriff mit dem Worte Wahrheit verbinde“, hält er Carolines taktischem Relativismus entgegen und wirft ihr, noch ganz in den Bahnen traditioneller Sinnlichkeitskritik, vor, „daß ihre Augen sich so sehr von dem Glanze des Reichthums verblenden lassen, daß sie Gelehrsamkeit, Tugend und Verdienste nichts dagegen achte[]“ (I,1, S. 274f.). 19 Es heißt mithin, die falschen – Gottschedischen – Maßstäbe an die Figur anzulegen, wenn man, wie Jürgen Jacobs, Herrmann als positiven Protagonisten des Stücks begreift, dessen „hartnäckige und alle äußeren Vorteile verachtende Tugend als vorbildliche Haltung dargestellt“ werde, der schließlich „denn auch die verdiente Belohnung“ zufalle (Krüger: Die Geistlichen auf dem Lande, S. 13*). 20 Vgl. Caroline zu Herrmann: „Sie vergessen ihren Stand“ (I,1, S. 275). 21 Vgl. oben S. 149 und 386.
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gegen wurde angesichts der mit der „Marktvergesellschaftung wachsenden Komplexität“ von Interaktionen „irrational und kontraproduktiv“.22 ‚An sich‘ stehen beide Gruppen, präzeptorale Gelehrte ebenso wie spielgeneigte Theaterpraktiker, dem Geldwesen und der Marktwirtschaft fremd oder sogar feindlich gegenüber: jene, weil sie der Ökonomie und überhaupt der Praxis fernstehen, weil sie Wissen höher als Besitz sowie Erklären höher als Erzeugen werten und weil ihnen daher ein Amt als standesgemäße Subsistenzsicherung gilt;23 diese, weil sie entweder in gesellschaftlichen Bereichen agieren, wo man sich spielerisch über ökonomische Zwänge hinwegsetzt (so, bei Reuter, unter Studenten bzw. am Hof; vgl. Kap. 4.2), oder weil die Gewerbsmäßigkeit ihres Theaterspiels sie einerseits unmittelbar der Erfahrung des Marktes aussetzt und andererseits, da normativ suspekt, die Verleugnung von Merkantilität herausfordert (vgl. die Erörterung des Deutschen Vorspiels der Neuberin in Kap. 2.6.3; ein Kenner der Theaterpraxis ohne Vorbehalte gegen das Geld und seine Sphäre ist erst Lessing). Auch die Spiele, die hier und dort typischerweise inszeniert werden, sind mit Ausnahme intriganter Strategien an sich amerkantil, soll das quasi providentielle Spiel der ‚Gelehrten‘ doch die Tugend gegen die Effekte des Marktes und des Geldes sichern bzw. entzieht sich das ungebundene Spiel der Theaterpraktiker doch ökonomischer Zweckmäßigkeit (und ist eben darin attraktiv für das Publikum, wie am Wiener Volkstheater erläutert; vgl. S. 364). Die Komödienhandlung als providentiell ablaufendes oder durch eine Lenkerfigur gesteuertes Geschehen erscheinen zu lassen (wie im Loos in der Lotterie bzw. im Verschwender) ist insofern als eine fiktionale Variante jener Marktbeherrschung zu verstehen, die hinsichtlich des Literatur- und Theatermarktes das reale Ziel eines Gottsched bildete (vgl. oben S. 180ff.). Wo wiederum Spiel als Spaß betrieben wird – wie von Valer –, wird der ökonomischen eine andere Praxis, der geschäftstaktischen Verstellung die Verkleidung und dem Knappheitsprinzip der Überschuß entgegengesetzt. Um so auffälliger ist, daß das Komödienspiel sich trotzdem – und zwar von ‚oben‘, unter dem Aspekt providentieller Lenkung, wie auch von ‚unten‘, von den Erträgen mutwilliger Spiele her – dem marktwirtschaftlichen Modell annäherte, in der letztgenannten Weise auch und gerade in Krügers Candidaten. Ein Besonderes der Komödie ist dieses trotzdem freilich nicht: daß sie sich trotz starker Widerstände bzw. entgegenstehender institutioneller und normativer Bedingungen marktwirtschaftlichen Prinzipien öffnete oder diesen homologe Strukturen entwickelte, kennzeichnet nicht allein die frühneuzeit22 Ottow: Modelle der unsichtbaren Hand vor Adam Smith, S. 559. 23 Auf ein Amt lief bereits die Tugendbewährung des Jäckel in Schochs Comoedia Vom
Studenten-Leben hinaus (vgl. Kap. 2.5).
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liche Komödie, sondern die europäischen Gesellschaften generell. Die Wirtschaftshistorikerin Helga Schultz bezeichnet den ökonomischen Take-off am Ende des 18. Jahrhunderts als „Wunder Europa“, das angesichts der nicht von Dynamik, sondern von vitiösen Kreisläufen gezeichneten Vorgeschichte unserer wie aller agrarischer Gesellschaften nicht zu erwarten war.24 Zumal die Wirtschaftsgesinnung blieb in Deutschland bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts patrimonialständisch geprägt und „mit moralischen Implikationen gesättigt“.25 Die hier analysierten Komödien gehen mit ihren explizierten Normen insgesamt von derselben statischen Ordnung aus, entwickeln trotzdem aber eine ‚marktwirtschaftliche‘ Dynamik – und zwar gutenteils als Komödien, nämlich vermöge ihrer gattungstypischen Spielstrukturen. Als ‚Schau-Spiele des Geldes‘ können sie daher nicht allein in einem allgemeinen gattungssystematischen, sondern auch in einem speziellen (wirtschafts)historischen Sinne gelten.
24 Vgl. Schultz: Handwerker, Kaufleute, Bankiers, S. 17, das Zitat ebd., S. 16. 25 Hellmuth: Praktische Philosophie und Wirtschaftsgesinnung, S. 149.
4.6 Rettung der Komödie als Reflexionsspiel: Lessings Minna von Barnhelm Als Komödie in der Nachfolge von Krügers Candidaten ist Lessings Minna von Barnhelm m. W. bislang nicht betrachtet worden. Doch sind die handlungsstrukturellen Parallelen durchaus auffällig: Ein charakterlich ungleiches Liebespaar mit einem aus Tugend versteiften Mann und einer ihn antreibenden, taktisch beweglicheren Frau bringt weder auf seine noch auf ihre Art eine gute Lösung zuwege. Lessings wie Krügers Komödie drohen daher das Gattungsschema zu sprengen, was durch einen Eingriff von dritter Seite – Valers bzw. Friedrichs des Großen – schließlich aber verhindert wird. Solche Rückverweise auf die in den 1760er Jahren noch viel gespielten und natürlich auch Lessing bekannten Candidaten1 deuten an, daß sich die eben diskutierten Fragen nach der rechten Relation von Tugend und Taktik sowie nach der Handlungsmacht des einzelnen bzw. Lösungen von außen, von oben oder vom ‚System‘ her auch in Minna von Barnhelm stellen. Wo die Forschung motivische Vorlagen ausmacht, wird zugleich betont, „daß die übernommenen Traditionsbestände eine Transformation erfahren, die dem Überlieferten eine neue Funktion gibt.“2 Im Vordergrund der folgenden Analyse steht ebenfalls die Neuartigkeit von Lessings 1763 begonnenem, 1767 in drei Drucken sowie auf der Bühne des Hamburger Nationaltheaters erschienenem Lustspiel, zunächst hinsichtlich seiner präzisen Verankerung in den zeitgenössischen Finanzverhältnissen, deren handlungsmotivierende Wirkung gleichwohl nur schwer durchschaubar ist – mit weitreichenden, ambiguisierenden Folgen (vgl. das folgende Unterkap. 4.6.1). Ebenso neuartig ist die komödiengeschichtliche Reflexivität des Stücks. Über sie werden Handlungsnormen – Minna ‚politisches‘ Spiel sowie Tellheim vielkritisierter Stolz – auf den komödienästhetisch und sozialhistorisch aktuellen Stand gebracht (4.6.2). Ein weiteres Unterkapitel erläutert, wie das Komödienspiel 1 Einen beiläufigen Hinweis auf das Stück gibt die Hamburgische Dramaturgie im
83. Stück (vgl. Lessing: Werke Bd. 4, S. 617). 2 Als Zusammenstellung anderer ‚Vorlagen‘ für Tellheims Stolz und Minnas Spiel vgl.
den Kommentar von Klaus Bohnen in Lessing: Werke 1767–1769, S. 805–807 (Zitat S. 804) sowie Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 289f.
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trotz erweiterten Einbezugs der historischen Umwelt gerettet wird, nämlich durch seine Transformation in einen selbstreflexiven Ausweis theatralen Scheins (4.6.3). Freilich kam dem Komödienspiel zugleich die Funktion zu, symbolisch auf die Erwartung eines guten Ausgangs zu verweisen (4.6.4). Ein Ausblick gilt schließlich jenem Übergang von der Komödie (als Leitgattung literarischer Selbstverständigung der Gesellschaft) zum Geschichtsdiskurs, den der Schluß des Stück ankündigt (4.6.5).
4.6.1 Dramaturgie der Ambiguität: Exposition und Verkennung finanzjuristischer Handlungsbedingungen Neben The Merchant of Venice ist Minna von Barnhelm gewiß das komplexeste der hier herangezogenen Stücke. Bei Shakespeare gründete diese Komplexität wesentlich in der Spannweite des Figurenspektrums (Antonio – Bassanio – Shylock – Portia), der Unterschiedlichkeit der berührten Sozialbereiche sowie der reichen religiösen und mythologischen Überhöhung des Geschehens. In allen diesen Hinsichten hat Shakespeare die erfahrbare Wirklichkeit ostentativ überboten. Lessings Komödie zeichnet sich dagegen durch eine bis dahin unerhörte Aufnahme zeitgenössischer, nicht zuletzt monetärer Realität aus.3 Reichweite und Präzision der Bezüge sind dabei ebenso singulär wie die schlechthin entscheidende Funktion jenes Kontextes für die vorgeführte Handlung. Denn aus Tellheims Rolle im Siebenjährigen Krieg, genauer: bei der Eintreibung von Kriegskontributionen im besetzten Sachsen, leitet sich sowohl die Liebe der Hauptfiguren her als auch deren Konflikt mit des Majors Entfernung von seiner Verlobten und, als Minna ihn findet, seiner Weigerung, sie zu heiraten.4 Mit dem Titelvermerk „Verfertiget im Jahre 3 So schon, wenngleich sehr allgemein, Goethe: Dichtung und Wahrheit – Werke Bd. 9,
S. 281. Den reichen lexikalischen Niederschlag des Geldes im Dramentext verzeichnet Michelsen: Die Verbergung der Kunst, S. 207f. Als Interpretation mit konsequentem sozialgeschichtlichen Bezug ist vor allem Saße: Liebe und Ehe zu nennen; weiteres historisches Vergleichsmaterial bieten Griebel: Historische Studien zu Lessings „Minna von Barnhelm“ sowie Joachim Dycks Wagenbach-Bändchen (Minna von Barnhelm oder: Die Kosten des Glücks). 4 Wegen seiner bei dieser Gelegenheit bewiesenen Großzügigkeit begann Minna den Major zu lieben, wie sie selbst erläutert: „Die Tat, die Sie einmal um zweitausend Pistolen bringen sollte, erwarb mich Ihnen. Ohne diese Tat, würde ich nie begierig gewesen sein, Sie kennen zu lernen. Sie wissen, ich kam uneingeladen in die erste Gesellschaft, wo ich Sie zu finden glaubte. Ich kam bloß Ihrentwegen. Ich kam in dem festen Vorsatze, Sie zu lieben, – ich liebte Sie schon!“ (IV,6, S. 678f. – hier und im folgenden nach Lessing: Werke Bd. 1 zitiert). Zum Konfliktauslöser wurde Tellheims großzügige Tat, sobald ihm amtlich unterstellt wurde, er habe sich bestechen lassen und deshalb nur eine mäßige Summe gefordert. Mehr dazu im folgenden Absatz.
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1763“ (der die tatsächliche Entstehungszeit etwas vorverlegt) wird unmittelbare Zeitgenossenschaft zum weltgeschichtlichen Ereignis des Siebenjährigen Kriegs behauptet, der in diesem Jahr mit dem Hubertusburger Frieden – seitdem hat Minna nichts mehr von ihrem Major gehört (vgl. II,1, S. 626) – sein Ende fand. Tellheims Geldnot spiegelt überdies die allgemeine ökonomische Krise, die beim Übergang von der Kriegswirtschaft mit ihrer massenhaften Prägung von mindergewichtigem und daher stark inflationärem Geld5 zur Friedenswirtschaft aufbrach.6 Das wichtigste finanzrechtliche Instrument zur Steuerung dieses Übergangs bildete die Wechselkommission, die am 23. August d. J. eingesetzt wurde und deren Aufgabe es war, den ins Spekulative ausufernden Handel mit aus dem Krieg herrührenden Zahlungsansprüchen zu kontrollieren. Auf sie wird gleich doppelt angespielt: durch das Datum, an dem das sächsische Edelfräulein Minna von Barnhelm in einem Berliner Gasthof eintrifft (vgl. II,2, S. 628), ebenso wie durch das Ratihabitionsverfahren, auf dessen Ausgang Tellheim wartet.7 Doch hat des Komödienmajors Verstrickung in die preußische Kriegsfinanzierung nicht nur die Funktion eines Verweises auf entsprechende oder ähnliche Realitäten. Vielmehr konditioniert sie auch und vor allem die Handlungsspielräume der Figuren in entscheidender Weise. Da dieser Zusammenhang lange Zeit nicht hinreichend scharf gesehen wurde und manche Inter5 Darauf spielt Minnas Bemerkung gegenüber Tellheim an, „bei dem oder jenem Ban-
kier werden einige [seiner; D. F.] Kapitale jetzt mit schwinden“ (IV,6, S. 677). 6 Vgl. Skalweit: Die Berliner Wirtschaftskrise von 1763. Die während des Kriegs betrie-
bene Münzverschlechterung konnte Lessing teilweise aus nächster Nähe beobachten. Als Sekretär des Generals von Tauentzien in Breslau (seit 1760) war er an der Überwachung der dortigen – planmäßig untergewichtigen – Münzprägung beteiligt; vgl. Griebel: Historische Studien, S. 311. 7 Vgl. Skalweit: ebd., S. 76–83. Der meist genannte 22. 8. 1763 ist als anzunehmender Tag des Komödiengeschehens nicht ganz korrekt, denn der Wirt notiert den 22. als Datum des vorausliegenden Anreisetags! Für den Bezug auf die Wechselkommission ist diese Korrektur jedoch irrelevant, da unter deren ‚Einrichtung‘ verschiedene Beschlüsse zu verstehen sind, die sich auf beide Daten verteilen (vgl. ebd., S. 77). ‚Ratihabieren‘ (vgl. IV,6, S. 677) meint „die nachträgliche Genehmigung einer Handlung, die man ohne Auftrag für einen Dritten getätigt hat“ (Michelsen: Die Verbergung der Kunst, S. 227). Unter den Supplikanten der Wechselkommission wäre Tellheim sogar nur ein kleiner Fisch gewesen, denn die Kommission diente nicht zuletzt der Rettung des bedeutendsten Berliner Unternehmers, Johann Ernst Gotzkowskys, der ebenfalls mit Kontributionsvorschüssen für Sachsen belastet war, dabei aber tatsächlich zu seinem Vorteil manipuliert hatte (vgl. Saße: Liebe und Ehe, S. 89f.). In Tellheims Fall kann man daher eine – kontrastierende – Anspielung auf Gotzkowskys Betrügereien sehen, die zur Interpretation des Dramas aber nichts beiträgt. Da Tellheims Fall bereits vor dem Tag der Handlungsgegenwart entschieden ist (was die Figuren nur noch nicht wissen), kann seine Verhandlung zwar nicht vor jener Kommission gedacht werden; er verweist jedoch auf deren Tätigkeit.
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preten ihn nach wie vor mißachten, sei er hier ausführlicher rekapituliert: Während der preußischen Besetzung Sachsens hatte Tellheim bei den dortigen Ständen Kontributionen einzutreiben. Da er die befohlene „äußerste Strenge“ vermeiden wollte, forderte er lediglich das ihm vorgeschriebene Minimum des Kontributionssolls bzw. blieb noch darunter, weil er 2000 Pistolen aus eigener Tasche vorschoß (IV,6, S. 677). Die Stände gaben mir ihren Wechsel, und diesen wollte ich, bei Zeichnung des Friedens, unter die zu ratihabierende Schulden eintragen lassen. Der Wechsel ward für gültig erkannt, aber mir ward das Eigentum desselben streitig gemacht. Man zog spöttisch das Maul, als ich versicherte, die Valute bar hergegeben zu haben. Man erklärte ihn für eine Bestechung, für das Gratial der Stände, weil ich sobald mit ihnen auf die niedrigste Summe einig geworden war, mit der ich mich nur im äußersten Notfall zu begnügen, Vollmacht hatte. So kam der Wechsel aus meinen Händen, und wenn er bezahlt wird, wird er sicherlich nicht an mich bezahlt. Hierdurch, mein Fräulein, halte ich meine Ehre für gekränkt (S. 677f.).
Zum Verhängnis wurde Tellheim seine Großzügigkeit demnach nicht allein in dem Sinne, daß ihm der Anspruch auf eine erhebliche Summe streitig gemacht wird (2000 Pistolen wären 10 000 Taler und das mehr als Sechzehnfache des Jahresgehaltes von 600 Talern, das Lessing bei Antritt seiner gutdotierten Bibliothekarsstelle in Wolfenbüttel erhielt;8 obwohl ursprünglich eine romanische Münze – wir begegneten ihr bislang nur bei Molière –, waren Pistolen im damaligen Preußen nichts Ungewöhnliches, denn die Graumannsche Münzreform von 1750 hatte sie zu der norddeutschen Goldmünze gemacht).9 Vielmehr steht er unter Korruptionsverdacht, da man ihm unterstellt, mit dem Feind einen Handel zum beiderseitigen Vorteil und Schaden des Königs getätigt zu haben: Kontributionsminderung gegen einen später einzulösenden Anspruch auf 2000 Pistolen, die der Major demnach nicht vorgestreckt hätte, sondern einheimsen wollte. Quasi in Untersuchungshaft – er hat sein „Ehrenwort“ gegeben, Berlin nicht eher zu verlassen, „als bis man mich völlig entladen habe“ (IV,6, S. 680f.) – kann er anständigerweise Minna nicht ehelichen, da die gesellschaftliche Stellung der Frau von der des Mannes abhing, zumal im Fall eines nicht nur an der Konvention, sondern an 8 Die zur Umrechnung nötigen Angaben macht die Komödie selbst: Werners bei Tell-
heim gelagerte „fünfhundert Taler Louisdor“ (d. h. Louisdor im Wert von 500 Talern) sind, wie der Diener Just beiläufig umrechnet, „hundert Pistolen“ (I,5, S. 613). Ebenso werden Vergleichssummen geboten: Für ebenfalls 2000 Pistolen hat Werner sein Gut verkauft (vgl. V,14, S. 703), während Just für monatlich 6 Taler dient (vgl. I,8, S. 617); seine Rechnung für fünf Monate Gasthaus schätzt Tellheim auf unter 30 Pistolen (I,10, S. 620). Zu Lessings Gehalt vgl. Brenner: Lessing, S. 19. Erinnert sei daran, daß Krügers Herrmann auf seiner Ratsherrnstelle ebenfalls 600 Taler erhalten wird. 9 Vgl. Konrad Schneider: Escudo de oro (Dobla, Doblou, Doublone, Doppia, Pistole). – In: Von Aktie bis Zoll, S. 103f.
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Gesetzen gemessenen Ehrverlustes.10 Stärker als durch seine Verlobung ist Tellheim durch seine Geschäfte gebunden, denn „‚nichts als‘ eine Geldsache“ sind diese keineswegs.11 Ihr volle Komplexität gewinnt Minna von Barnhelm freilich erst durch die dramaturgische Verarbeitung dieser Realitätsgehalte. Wie zuerst von Walter Hinck hervorgehoben und dann von Peter Michelsen mit unübertrefflicher philologischer Gründlichkeit entwickelt wurde, zeichnet sich der Aufbau der Komödie dadurch aus, daß die für Tellheims Situation und Verhalten entscheidenden Details der Vorgeschichte erst in der Mitte des vierten Aktes mitgeteilt werden.12 Die längste Zeit vollzieht sich das Komödienspiel also, ohne daß seine Voraussetzungen bekannt wären. Diese Unkenntnis prägt Minnas Verhalten ebenso wie das Bild, das sich der Zuschauer von Tellheims Unbeugsamkeit machen muß. Daher laufen im Grunde zwei Handlungen gleichzeitig ab: In der einen figuriert Tellheim als entlassener und verarmter Soldat mit übersteigertem Ehrbegriff – als eine Kreuzung gewissermaßen aus Horribilicribrifax und Herrmann –, der sich lächerlich macht, wenn er sich der Heirat mit einer Frau verweigert, die ihn von allen (Geld-)Sorgen befreien könnte,13 während Minna die „Spontaneität des Herzens“ (Saße) verkörpert, die es durch Intrigenspiele unternimmt, ihren Verlobten zur amourösen Räson zu bringen: Denn auch seiner Geliebten sein Glück nicht wollen zu danken haben, ist Stolz, unverzeihlicher Stolz! Wenn er mir diesen zu stark merken läßt, Franziska – Franziska. So wollen Sie seiner entsagen? Das Fräulein. [...] Nein, liebe Närrin, Eines Fehlers wegen entsagt man keinem Manne. Nein; aber ein Streich ist mir beigefallen, ihn wegen dieses Stolzes mit ähnlichem Stolze ein wenig zu martern. (III,12, S. 662f.)
In der ‚anderen Handlung‘ hingegen kann Tellheim – als der Bestechlichkeit Beschuldigter – gar nicht anders, als zunächst seine Rehabilitierung abzuwarten,14 die mit dem „Handschreiben“ des Königs schließlich auch eintrifft 10 Vgl. Saße: Liebe und Ehe, S. 78; Fick: Lessing-Handbuch, S. 244f. 11 Vgl. Pape: Symbol des Sozialen, S. 62; dagegen Seeba: Die Liebe zur Sache, S. 78
(dort das Zitat). Als Überblick zur (positiven) ideologischen Aufladung des Geldes in Lessings Komödien (einschließlich des Nathan) vgl. Lehrer: Lessing’s Economic Comedy. 12 Vgl. Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 301; Michelsen: Die Verbergung der Kunst. 13 Vgl. Minna in IV,6, S. 677: „Weil Sie verabschiedet sind, nennen Sie sich an Ihrer Ehre gekränkt: weil Sie einen Schuß in dem Arme haben, machen Sie sich zu einem Krüppel. Ist das recht? Ist das keine Übertreibung? Und ist es meine Einrichtung, daß alle Übertreibungen des Lächerlichen so fähig sind?“ Ebenso II,9, S. 640f.: „Ich bin Tellheim, der verabschiedete, der an seiner Ehre gekränkte, der Krüppel, der Bettler. [...] Das Fräulein. Das klingt sehr tragisch!“ 14 So Tellheim in IV,6, S. 680f.: „wenn meiner Ehre nicht die vollkommenste Genugtu-
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(V,9; das Zitat IV,6, S. 680). Auf das Verhältnis der beiden Handlungen wird in handlungslogischer, komödiengeschichtlicher und theaterästhetischer Hinsicht noch einzugehen sein. Vorauszuschicken ist, daß die Unübersichtlichkeit und die Polyvalenz, die aus solcher Dopplung folgt, in der Forschung zu stark divergierenden Deutungen des Stücks geführt hat. Auf gleicher Augenhöhe bewegen sich freilich nur solche Interpretationen, die jene Mehrschichtigkeit berücksichtigen.15 Für den erstmaligen Zuschauer hat die mit „bewußter Kunstabsicht“16 betriebene Verbergung der finanzjuristischen Handlungsbedingungen zunächst die Folge, daß er Minnas Sicht der Dinge übernimmt.17 Selbst die nachgeholte Exposition in IV,6 muß nicht als Aufklärung über die Vorgeschichte sowie als Rechtfertigung von Tellheims Haltung wirken, sind die Gedrängtheit seiner Erzählung und die gehäuften Finanztermini („Wechsel“, „zu ratihabierende Schulden“, „Valute“, „Gratial“) doch in hohem Maße geeignet, auch noch die Enthüllung als „Verschleierung“ ausschlagen zu lassen.18 Minna bleibt denn auch in ihrer eingeschränkten Sicht befangen. Weit stärker als in den bisher behandelten Komödien, die dem Zuschauer durchgängig einen Informationsvorsprung gewähren, ist die Schwierigkeit, eine Situation richtig einzuschätzen, damit zu einem Problem auch der externen theatralen Kommunikation (zwischen Bühne und Zuschauer) geworden. Die Startdiagnose des Politicus, daß das menschliche Herz ebenso wie die Weltverhältnisse undurchschaubar seien, schlägt sich in Minna von Barnhelm nicht mehr nur als Generator komikträchtiger Verkennungen auf der Handlungsebene (der internen theatralen Kommunikation),19 sondern als Verwirrung des Rezipienten nieder. Erst jetzt vollzieht die Komödie mithin die volle Problematik und existentielle Beunruhigung der ‚politischen‘ Undurchschaubarkeitsdiagnose20 nach, nämlich indem sie die gattungsbedingt nie substantiellen, da immer schon komisch aufgehobenen Verkennungen auf der Handlungsebene um eine fast durchgängige Verbergung des Verstehensnotwendigen ergänzt (zwingt doch auch der Schlußakt dem Zuschauer
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ung geschieht; so kann ich, mein Fräulein, der Ihrige nicht sein. [...] Das Fräulein von Barnhelm verdienet einen unbescholtenen Mann. Es ist eine nichtswürdige Liebe, die kein Bedenken trägt, ihren Gegenstand der Verachtung auszusetzen.“ So auch Fick: Lessing-Handbuch, S. 247. Michelsen: Die Verbergung der Kunst, S. 200. Das bezeugt die Rezeptionsgeschichte des Stücks, vgl. Greiner: Die Komödie, S. 178f. Vgl. Michelsen: ebd., S. 220–225, 228–231, das Zitat S. 223. Daß „Spezialwissen“ erforderlich ist, um Tellheims Darlegungen und deren Tragweite zu verstehen, betont auch Greiner: ebd., S. 179. So wird Tellheim gleich beim ersten Auftritt von seinem Diener Just verkannt und für den Wirt gehalten (vgl. I,3, S. 610). Vgl. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 113f.
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ebensowenig eine vollständige Aufklärung auf, wie Minna ihr Mißverständnis erkennt).21 Der verzögerten Exposition wegen sieht Karl Eibl in Minna von Barnhelm einen „Musterfall für Lessings Modus-tollens-Dramaturgie“.22 Gemeint ist, daß nicht mit einer vorausgesetzten Wahrheit operiert wird (modus ponens), wie Gottscheds Poetik des zu vermittelnden moralischen Satzes dies tat, sondern gemachte Voraussetzungen ihrerseits in Frage gestellt werden, nämlich von sich einstellenden Beobachtungen her, mit denen jene Voraussetzungen sich nicht vereinbaren lassen.23 Im Sinne der aufklärerischen Vorurteilskritik dient das Verfahren dazu, verfestigte Normen und Mentalitäten in Bewegung zu bringen, und zwar sowohl unter den Figuren als auch beim Zuschauer.24 Plakativstes Beispiel für eine solche Dramaturgie sind unter Lessings Komödien Die Juden von 1749. Hier wird zunächst den gängigen – und in mehreren der hier analysierten Stücke aufgegriffenen25 – Verdächtigungen Raum gegeben, um dann aber nicht in den als Juden verkleideten Räubern, sondern in der tugendhaftesten Figur einen echten Vertreter dieses Volkes zu finden.26 Daß auch Minna von Barnhelm eine solche indirekte Erzeugung von Einsicht betreibt, darf man nach dem eben Dargelegten indes bezweifeln. Denn angesichts der Unübersichtlichkeit nicht nur der Verhältnisse, sondern auch derer Aufklärung ist es gut möglich und sogar wahrscheinlich, daß der Zuschauer 21 Vgl. Michelsen: ebd., S. 241–243. Michelsen scheint mir jedoch zu weit zu gehen,
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wenn er die These aufstellt, die letzten Verwirrungen dienten nur dazu, die Konfliktlösung durch den König zu verschleiern. Sie können gewiß so wirken, dienen primär aber wohl dazu, „die Ambivalenz und Doppelbödigkeit des ‚Herzens‘ zu enthüllen“ (Fick: Lessing-Handbuch, S. 252), vgl. dazu unten S. 501. Eibl: Die Entstehung der Poesie, S. 88. Vgl. ebd., S. 75–78. Vgl. ebd., S. 79. Mit jüdischen Figuren hatten wir es bei Shakespeare, Blümel und Gryphius zu tun. Im frühen 18. Jahrhundert gibt es dagegen, Gunnar Och zufolge, generell keine jüdischen Bühnenfiguren außer auf der Hamburger Barockoper und dem Wiener Volkstheater (vgl. Imago judaica, S. 50–54). Beiläufig wiederum greifen einige auch der hier behandelten aufklärerischen Komödien antijüdische Stereotype auf, so Die Ungleiche Heirath speziell die ‚Notlagen ausnutzende Unbarmherzigkeit jüdischer Geschäftsleute‘, also genau das Vorurteil, das Lessings Protagonist tätig widerlegt (vgl. Gottsched [Hrsg.]: Die Deutsche Schaubühne Bd. 4, S. 135; III,5). Vorgetragen wird dieses Stereotyp von Wilibald, dem positiven Protagonisten des Stücks; es dient also nicht zur Negativcharakterisierung des Sprechers, wie man – was die dramatische Technik des Stücks allerdings überschätzen würde – meinen könnte, wenn der adlige Stutzer Zierfeld droht: „Ja, ja, da soll er [Wilibald] sehen, daß ein Versprechen einer adelichen Braut an einen Bürgerlichen, nicht besser gehalten werden darf, als eines Juden Versprechen an einen Christen.“ (ebd., S. 103; II,3) Im Freygeist aus demselben Jahr ist das Verfahren insofern subtiler eingesetzt, als die Handlung Vorurteile gegen den Geistlichen Theophan heilt, während der Zuschauer in seinem etwaigen Mißtrauen gegen den Atheisten Adrast herausgefordert wird.
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die Komödie ohne Infragestellung von ‚Minnas Sicht‘ auf Tellheim (‚übersteigerter Ehrbegriff‘) erlebt. Die dramaturgisch höchst geschickte Verbergung der tatsächlichen Verhältnisse zu durchschauen dürfte die flüchtige Wahrnehmung des Theaterbesuchers in aller Regel überfordern. Daraus wiederum folgt erstens, daß der immanente Adressat dieser Komödie ein Leser ist (obwohl gegen Tellheims Flucht ins Briefeschreiben das Prinzip sinnlicher Präsenz aufgeboten wird, das die Figuren mit einem reichen Mienen- und Gestenspiel einlösen).27 In der Gattungstradition hätte die Handlung in eine – durch Aufdeckung einer Verkleidung oder eine Anagnorisis womöglich schauträchtig unterstrichene – Enthüllung der wahren Verhältnisse gemündet (wie noch in Krügers Candidaten). Solche Eindeutigkeit stellt – zweitens – Minna von Barnhelm nicht her, nicht unter den Bühnenfiguren und unter Umständen nicht einmal beim Zuschauer. Beides zusammengenommen, beginnt die Komödie bereits in Lessings durchaus bühnenwirksamem Stück, sich vom Schau- zum Reflexionsspiel zu wandeln. „Das eigentliche Spiel im Spiel“, stellt Christian Neuhuber in diesem Sinne fest, „ist nicht Minnas mit Tellheim, sondern Lessings mit seinem Leser / Zuschauer“.28 Ohne Rekurs auf den Autor kann man darüber hinaus sagen, daß Minna von Barnhelm die anspruchsvollste Variante von Wolfgang Isers literaturtheoretischem Spielbegriff exemplifiziert, d. h. sie konstituiert sich als unendliches „Textspiel“, das „die freie Kombination gegenläufiger Spiele erlaubt“.29 Ihre Uneindeutigkeit bleibt dementsprechend weniger zurück hinter der von Lessings Jugendlustspielen betriebenen Vorurteilskritik, als daß sie darüber hinausgeht. Denn jene Kritik operierte vom sicheren, nach wie vor ‚präzeptoralen‘ Standpunkt des Besserwissens aus. Die Präsentation der Wahrheit wurde aus didaktisch-taktischen Gründen hinausgezögert, nicht aufgrund eines profunden Nichtwissens, wie es Nathans Ringerzählung motiviert (vgl. Kap. 1.1.1). Die ‚schwebende‘, nirgends verbindlich in eine wahre und eine falsche Sicht der Dinge geschiedene Doppelmotivation der Minna von Barnhelm übt gleichfalls darin ein, „die Ambiguität der Zeichen [...] zu ertragen“.30 Die Ringparabel legt die Lehre nahe, daß auf die Uneindeutigkeit der Zeichen (‚welcher ist der rechte Ring?‘) mit Tätigkeit und Providenzvertrauen zu antworten sei. Nicht gleichnishaft, sondern spielerisch, aber ebenfalls an Ringen demonstriert auch Minna die Ambiguität der Zeichen und warnt dabei 27 Vgl. III,10, S. 659. Zur stückimmanenten Medienreflexion vgl. Hasegawa: Schrift,
Spiel und Schauspielkunst, S. 45–53. 28 Neuhuber: Das Lustspiel macht Ernst, S. 90. 29 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 457. 30 Greiner: Die Komödie, S. 180. Zur Zweideutigkeit der Zeichen vgl. auch Brenner:
Lessing, S. 128f.
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zugleich vor Fatalismus, und zwar in einer Konstellation, die zugleich auf das andere, historisch am Anfang unserer Untersuchung stehende Kaufmannsstück verweist, weil sie dem Ringspiel ähnelt, das Portia mit Bassanio treibt. Denn wie bei Shakespeare wandert der Verlobungsring, den der Mann einst von der Frau erhielt, aber von sich gegeben hat, über sie wieder an ihn, und zwar unter Worten, mit denen die Frau ihre Bindung aufzukündigen scheint:31 Am Ende von IV,6 gibt Minna einen Ring an Tellheim „zurück“, den sie als ihren Verlobungsring bezeichnet, der aber der seinige – von ihr über den Wirt und Just zurückgekaufte – ist („Hier! Nehmen Sie den Ring wieder zurück, mit dem Sie mir Ihre Treue verpflichtet.“ S. 681). Erkennt der Major den Ring als seinen, so bedeutet ihre Geste eine Erneuerung ihres Liebesversprechens (der Ring geht an Tellheim zurück, nachdem er ihn versetzt hat); dagegen hat er die Verlobung als zurückgenommen zu verstehen, wenn er sich an ihre Worte hält. Ein zweifelsfreies Verständnis ist in dieser Situation nicht möglich, da Aussage und Geste Minnas sich widersprechen (wenn die Geste richtig wahrgenommen würde).32 Daß Tellheim nur die zweite Lesart, die Aufkündigung der Verlobung, in Betracht zieht, ist aber jeden Fall falsch. Tellheims Fehler ist sein Pessimismus, der ihn bis an den Rand der „Verzweiflung“ führt (II,9, S. 641; vgl. V,10/11). Selbst als erfährt, daß Minna den Ring gekauft hat, den er selbst beim Wirt versetzte, erkennt er nicht die in Minnas Verlobungsgeste artikulierte Hoffnung auf einen guten Ausgang. Die inkalkulable Verkettung der Ereignisse vermag er nur als Unheil zu deuten: „Daß der Zufall so gern den Treulosen zu Statten kömmt!“ (V,10, S. 698f.) Angemessener wäre eine Mehrdeutigkeit einkalkulierende, beweglichere Haltung. Minna legt ihm dazu das Verhaltensmuster eines Spielers nahe („Der König war eine unglückliche Karte für Sie: die Dame (auf sich weisend) wird Ihnen desto günstiger sein.“ IV,6, S. 678). Für Tellheim ist diese Rolle freilich kaum das passende Identitätsangebot. Was ihm fehlt, ist erstens Vertrauen in die ‚Vorsicht‘: Sämtliche Ankündigungen seiner Rehabilitation weist er von sich.33 Zweitens fehlt ihm 31 Vgl. Shakespeare: The Merchant of Venice, S. 148–150, 160–170. Ähnlich ist auch
die Stellung des Ringspiels im Handlungsgefüge von Lessings und Shakespeares Dramen: am Ende des vierten Akts einsetzend, wird es hier wie dort erst kurz vor Schluß aufgelöst. Zum Verhältnis des Nathan zu The Merchant of Venice vgl. auch oben S. 13 Anm. 45. 32 Zum Doppelsinn von Minnas Verhalten vgl. Fritz Martini: Riccaut – Die Sprache und das Spiel in Lessings „Minna von Barnhelm“. – In: ders.: Lustspiele – und das Lustspiel, S. 64–104, hier S. 96 u. 100f. 33 Vgl. V,6, S. 680 mit der doppelten Andeutung durch Riccaut und den Kriegszahlmeister, V,1, S. 685 mit Minnas Mitteilung, „das die Hofstaatskasse Ordre hat, Ihnen Ihre Gelder zu bezahlen“; Kornbacher-Meyer: Komödientheorie und Komödienschaffen Gotthold Ephraim Lessings, S. 290f.
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die Bereitschaft zu verhandeln, denn er verhält sich monologisch selbst im Gespräch über gemeinsame Angelegenheiten („hören Sie, mein Fräulein, was ich fest beschlossen habe; wovon mich nichts in der Welt abbringen soll“; IV,6, S. 679). Was Tellheim abgeht, sind die vorzüglichsten Eigenschaften eines Händlers – in Lessings Dramatik: Nathans, der sie einer ebenfalls ‚ausweglosen‘ Situation abgerungen hat und einerseits stets bereit ist, den Standpunkt des anderen einzunehmen,34 andererseits so zu handeln sucht, als sei sein Ring der ‚rechte‘, also ein gutes Zeichen. Wie sich zeigt, tritt Minna von Barnhelm nicht nur durch das RequisitMotiv des Bindung (religio) bezeugenden, aber zweifelhaften Rings zwischen die beiden großen Kaufmannsdramen unserer Studie, sondern auch dem im Ringspiel nahegelegten Ethos nach: Folgt man den aufgezeigten motivischen Bezügen, so gibt Minna ihrem Major den Rat, sich die Maximen der Kaufleute von Venedig oder Jerusalem anzueignen (zu Antonios geschäftsunterstützendem Gottvertrauen vgl. oben S. 88). Auf Uneindeutigkeit ist jedenfalls, wie Minnas Ringspiel demonstriert, nicht mit Mißtrauen gegen den Zufall, sondern mit dem Unternehmungsgeist des Kaufmanns zu antworten. Freilich ist im Vergleich mit The Merchant of Venice auch der historische Abstand nicht zu übersehen: Fungiert die Ringepisode dort lediglich als heiter-ironisches Nachspiel auf der Basis einer bereits erreichten Konfliktlösung, so bildet sie in Minna von Barnhelm zwar nur scheinbar den Höhe- und Wendepunkt der Handlung, markiert gleichwohl aber ein fundamentales weltbildliches und handlungspraktisches Problem.
4.6.2 Rückblicke auf Handlungs- wie Komödienkonzepte Unmittelbar auf die in der vorliegenden Studie gezogenen Entwicklungslinien von Ökonomie wie gesellschaftlichen Handlungsmodellen wird Minna von Barnhelm durch Joseph Vogl gerückt. Als Beleg für die zunehmende Verdichtung von Gesellschaft durch ökonomische Verflechtung lassen sich demnach die „weitläufigen – ökonomischen – Abhängigkeiten“ der Figuren untereinander lesen,35 seien es die Kontributionen, die der Major von Tellheim einzutreiben hatte, oder der Wechsel, den er ratihabieren zu lassen sucht, seien es die Schulden, welche die Witwe Marloff für ihren verstorbenen Mann begleichen will (I,6), oder Werners Depositum (I,3/4.12), beides ebenfalls bei Tellheim. Hinzu kommen mehrere Mietverhältnisse – Just als Tellheims Diener, der Lohn und Ausgaben genau miteinander verrechnet (I,8), 34 Vgl. Werke Bd. 2, S. 343 (V,8, Vv. 608f.). 35 Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 109.
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und die Miete im Gasthaus, die Tellheim nur durch Versetzung seines Verlobungsrings bezahlen kann (I,2, S. 609; I,10, S. 620) – sowie der mehrfache Verkauf und der versuchte Rückkauf jenes Rings (I,10; II,2; III,3, IV,5, V,8). Vor diesem Hintergrund erläutert Vogl das ‚Ehrproblem‘, in dem man lange das zu kurierende ‚Laster‘ der Zentralfigur sah, als „ruinöse Verkehrsunfähigkeit“; es gehe „also – anders gesagt – in dieser Komödie [...] um die Herstellung“ von „Geschäftsfähigkeit“.36 In einer Linie stände Minna von Barnhelm demnach nicht nur mit Krügers Candidaten, sondern auch mit Luise Gottscheds Ungleicher Heirath – genauer: mit deren Kriterium zur Delegitimierung adliger Ansprüche (vgl. oben Kap. 2.7.2) –, zumal Vogl in der Ehre die veraltete Verhaltenssteuerung einer ständisch differenzierten Gesellschaft sieht.37 Deren Hierarchie wäre in Minna von Barnhelm mithin in ähnlicher Weise angegriffen wie bei der Gottschedin. Ähnlich musterhaft für das in den vorstehenden Kapiteln Entwickelte erscheint – in Vogls Lektüre – die Lösung des Konflikts: Wenn der „Verhärtete“ dadurch aus seiner Ehrversteifung gelöst wird, daß die Spielerin Minna ihm den Spiegel vorhält, indem sie sich selbst als enterbt und verstoßen ausgibt und dadurch „Mitleid“ (V,5, S. 690) in ihm weckt,38 so erhält – erster Punkt – das strategische Spiel eben das situationsbeherrschende Potential zugemessen, das sich der Politicus-Diskurs erhoffte. Zudem scheint endlich Thomasius’ Affektanthropologie und -regie ernstgenommen: „Mit aller Kunst der Verführung hat Minna von Barnhelm also Affekte mit Affekten gesteuert, Leidenschaften induziert und Verkehrsfähigkeit wiederhergestellt“.39 Drittens folgt Minnas „Schauspiel“ der Smithschen Sympathietheorie – nämlich daß ein Verständnis des anderen durch Versetzung in eine Zuschauerposition zustande komme (vgl. oben S. 455) –, wenn sie Tellheim, der bislang seinerseits als bemitleidenswerte Figur agierte (wenngleich Mitleid abwies), zum Zuschauer fremden (vorgeblichen) Elends macht, dem er augenblicklich abhelfen möchte.40 Für sich genommen ist Minnas „Spiel“ (V,5, S. 689) damit treffend auf seine geistesgeschichtlichen Voraussetzungen bezogen. Eine angemessene Situierung der ganzen Komödie würde sich daraus aber nur dann ergeben, wenn dem Spiel der Titelheldin tatsächlich die Lösung des Problems, in dem Tellheim gefangen ist, zu danken wäre. Das aber ist ebensowenig der Fall, wie Minnas Geliebter lediglich durch ein Ehrproblem belastet wird (zumal
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Ebd., S. 111f. Vgl. ebd., S. 111. Vgl. ebd., S. 113–115, das Zitat S. 114. Ebd., S. 115. Vgl. ebd., S. 114, das Zitat S. 115.
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von einem spezifisch militärisch-adligen Ehrkonzept und daher einer „unzeitgemäßen“ Position Tellheims kann keine Rede sein41). Beides konstituiert vielmehr nur scheinbar, nur vordergründig den Handlungsknoten der Komödie.42 Vogls Sicht des Stücks reproduziert Minnas irrige Auffassung von Tellheims Lage und Verhaltensantrieb („Gespenst der Ehre“; IV,6, S. 679) sowie ihr Lösungsprogramm. Des Majors Verhalten (nicht seine Prinzipien) vermag Minna aber nur unter der vorgespielten Voraussetzung, sie selbst sei ebenfalls ins Unglück geraten, zu ändern, während sich die finanzjuristischen Kontextbedingungen ihrem Einfluß entziehen (ja nicht einmal von ihr verstanden werden43). Die verfahrene Situation zum Guten wenden kann ihr Intrigenspiel auf keinen Fall, denn selbst wenn sie die Fiktion, sie sei enterbt (vgl. IV,7, S. 682), durchhielte, blieben ihr und Tellheim lediglich die Auswanderung in ein anderes Land, wo man ihn nicht verdächtigte.44 Richtig ist daher zwar, daß es Minna gelingt, ‚Affekte mit Affekten zu steuern‘, doch erbringt dieses Spiel über den Einblick in Tellheims „ganzes Herz“ (V,12, S. 700) hinaus keinen strategischen Gewinn. Geschehenssteuerung durch einen möglichst souveränen ‚politischen‘ Spieler funktioniert – entgegen dem ersten Anschein – nicht mehr. Minna von Barnhelm nährt über weite Strecken derartige Erwartungen nicht allein an die Komödie, führt dem aufmerksamen Zuschauer bzw. Leser letztlich aber vor, daß eine spielerische „Lenkung irdischer Fatalität“45 vor den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen machtlos bleibt. Dramaturgisch bietet das Stück ein für die Verhältnisse der deutschen Komödie ausgedehntes strategisches Spiel, das weltbildlich und handlungstheoretisch jedoch in die Schranken gewiesen wird. Insofern wird die politisch-ludische Tradition eher historisiert als fortgesetzt. 41 So aber Vogl: ebd., S. 111. Den post-ständischen, staatsbürgerlichen Charakter von
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Tellheims Ehrbegriff erläutern Greiner: Die Komödie, S. 171f., 174 sowie Fick: Lessing-Handbuch, S. 245–247. Pape: Symbol des Sozialen, S. 63 weist mit Heidsieck: Adam Smith’ Influence on Lessing’s View of Man and Society, S. 135 darauf hin, daß Lessing auf Adam Smith rekurrierte, wenn seine Figur Ehre nicht zuletzt als Geschäftsmoral begreift. Dies hat zuerst Michelsen: Die Verbergung der Kunst, S. 236 und passim herausgearbeitet. Vogl ignoriert Michelsens grundlegende Studie ebenso wie andere Arbeiten, die seiner Minna-Deutung zuwiderlaufen (etwa das Buch von Saße: Liebe und Ehe, aber auch das Lessing-Handbuch von Monika Fick) – ein unschönes Beispiel dafür, wie die Formulierung einer eigenen Deutung auf der Mißachtung vorhandener Forschungen beruhen kann. Sonst könnte sie auf Tellheims Erläuterungen nicht mit einer ganz unangemessenen Klage „über die wilden, unbiegsamen Männer, die nur immer ihr stieres Auge auf das Gespenst der Ehre heften“, antworten (S. 679). Ausführlicher zu Minnas Mißverstehen Michelsen: Die Verbergung der Kunst, S. 224–232. Vgl. Michelsen: ebd., S. 240f. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 113.
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Unsere Analyse des Verschwenders parallelisierte das padägogisch-strategische Spiel der Frau von Ehrlichsdorf mit der nicht mehr lehrhaften, sondern auf das ‚Herz‘ des Rezipienten zielenden Wirkung, welche die Poetik der mittleren Aufklärung dem Komödienspiel zudachte (vgl. oben S. 434). Minnas ‚Intrige‘ steht in eben dieser Tradition und überschreitet sie zugleich. Daß sie kaum etwas zur Lösung des Konflikts beiträgt, ist dabei noch am wenigstens signifikant, verlaufen in der deutschen Komödie doch viele Intrigen im Sande.46 Wichtiger ist, daß Minna ihr Spiel bis zum Äußersten treibt, ohne daß der, den es kurieren soll, sich charakterlich wandelte oder seine Grundsätze änderte.47 Für Erziehungszwecke erweist sich das Spiel demnach als dysfunktional. Da Minna aber als „Komödiantin“ par excellence gezeichnet ist (V,12, S. 701), darf man das auch als gattungspoetischen Kommentar, als Absage an die Erziehungsfunktion der Komödie verstehen.48 Speziell zur Vermittlung von Handlungsmaximen taugt das komödische Spiegelspielprinzip („ein Streich ist mir beigefallen, ihn wegen dieses Stolzes mit ähnlichem Stolze ein wenig zu martern“) deshalb nicht, weil die Prämisse, dem anderen sein Spiegelbild vorführen zu können, sich als falsch erweist: Minna kann Tellheims Verweigerungshaltung annehmen, sich nicht aber in dessen Lage präsentieren, denn weder kommt ihre vorgebliche Enterbung dem Verdacht gleich, unter dem er tatsächlich steht, noch gelten für beide Geschlechter dieselben Normen: während der Mann eine auf der sozialen Leiter gestürzte
46 Vgl. Wicke: Die Struktur des deutschen Lustspiels der Aufklärung, S. 93–108. 47 Vgl. Greiner: Die Komödie, S. 175; Fick: Lessing-Handbuch, S. 256. 48 Zum Verhältnis der Minna zur sächsischen Typenkomödie vgl. Steinmetz: „Minna von
Barnhelm“, S. 143–148. Poetologisch tat Lessing den entsprechenden Verzicht auf eine moralische Funktion des Lachens und der Komödie im 29. Stück der nahezu gleichzeitigen Hamburgischen Dramaturgie („wo steht denn geschrieben, daß wir in der Komödie nur über moralische Fehler, nur über verbesserliche Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel und Realität, ist lächerlich“), um gleich im nächsten Stück doch noch einen moralischen Zweck zu reklamieren: „Die Komödie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen; nicht gerade diejenigen Unarten, über die sie zu lachen macht, noch weniger bloß und allein die, an welchen sich diese lächerlichen Unarten finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken [...]. Ein Präservativ ist auch eine schätzbare Arzenei; und die ganze Moral hat kein kräftigers, wirksamers, als das Lächerliche.“ (Werke Bd. 4, S. 362 und 363) Die zweite Definition nimmt zwar die Prämisse der sächsischen Typenkomödie zurück, ein auf der Bühne dargestelltes und verlachtes Laster vermöge quasi als ein Spiegel, in den das Publikum blickt, ebendieses Laster bei den Zuschauern zu heilen. Eine wenn auch diffuse moralische Wirkung wird jedoch nach wie vor postuliert, ebenso wie sich ‚Lächerlichkeit‘ wieder auf ein Laster bezieht („der Geizige des Moliere [...], der Spieler des Regnard“) und nicht auf „jede Ungereimtheit“. Auf Tellheim und Minna von Barnhelm will diese Definition denn auch nicht recht passen, ist die ‚Lächerlichkeit‘, die er in Minnas Optik zeigt (so wörtlich in IV,6, S. 677), doch falsch „bemerk[t]“.
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Frau durchaus in seinen Schutz nehmen kann, ist sie gar nicht in der Lage, für ihn das gleiche zu tun, bzw. darf er sie nicht an sich binden, wenn er zum Geächteten zu werden droht.49 Tellheim bleibt auch nach seiner Entlastung durch den König bei seinem Prinzip: „So entehrt sich das schwächere Geschlecht durch alles, was dem stärkeren nicht ansteht?“ (V,9, S. 697) Wohl unflexibel vertreten, aber kein „Gespenst“, bildet die Ehre dauerhaft den Fixpunkt seines Verhaltens. Allerdings ist die Ehre, die er beansprucht, ein Wert, der gesellschaftlicher Anerkennung bedarf: „Die Ehre ist nicht die Stimme unsers Gewissens, nicht das Zeugnis weniger Rechtschaffenen – –“ (IV,6, S. 680). Wie Tellheim auf die eigene Ehre zu halten heißt, einen Anspruch auf sittliche Substanz zu erheben, die aber erst dann allgemeine Geltung gewinnt, wenn dieser Anspruch konsensuell bestätigt wird. Die Geltung solcher Ehre kommt mithin ähnlich zustande wie die Geltung des Geldes: sie basiert auf einer Substanz – im Falle des Geldes: des Materialwertes plus der bei der Herstellung aufgewandten Arbeit –, doch wird die obrigkeitliche Festsetzung eines Münzwertes (als ‚Behauptung‘ ihrer Geltung) erst im volkswirtschaftlichen Umlauf verifiziert.50 Umgekehrt kann man den Zweifel an Tellheims Ehre mit der Zweifelhaftig49 Wieder bis ins Detail erläutert dies Michelsen: Die Verbergung der Kunst, S. 237–239.
Besonders frappierend ist, wie dort, wo Minna Tellheims Rechtfertigungen spiegelspielerisch zitiert und sich zu eigen macht, in den leichten Abweichungen zwischen Hypo- und Hypertext die Differenz seiner tatsächlichen und ihrer vorgeblichen Lage sichtbar wird. Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund (Ehegesetze und Heiratsnormen) vgl. Saße: Liebe und Ehe, S. 81–86, zur Geschlechterdifferenz auch Fick: LessingHandbuch, S. 245. 50 Auf das Wechselspiel von Prägung und Feingehalt hebt der implizite Geldbegriff in Lessings Definition des Epigramms als Befriedigung einer erregten Erwartung durch eine Pointe ab (vgl. Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm, 1771 – Werke Bd. 5, S. 452f.). Obwohl avancierte Geldtheoretiker wie Richard Cantillon oder David Hume den Wert des Geldes bereits von seinem Material gelöst und der verfügbaren Warenmenge zugeordnet hatten (vgl. North: Das Geld und seine Geschichte, S. 129), galt Geld im Deutschland des späteren 18. Jahrhunderts noch nicht aufgrund bloßer Festsetzung und deren allgemeiner Akzeptanz. Papiergeld, wie es ausnahmsweise bereits ausgegeben worden war (John Law 1716, in Österreich hatte der Krieg die Emission von Papiergeld nötig gemacht; vgl. ebd., S. 131–133, 138), hielt man für nur unter Notbedingungen funktionabel, weil diese „symbolischen Zeichen“ keinen ihrem Nominalwert angemessenen Aufwand vor ihrer Ausgabe repräsentieren (vgl. Wessely: Geld und Zirkulation, S. 309f.). Der Hamburger Kaufmann Moses Wessely war mit Lessing befreundet und half ihm gelegentlich mit Krediten aus; einen Ende 1778 erhaltenen Wechsel über 300 Taler hat Lessing mit dem Geld zurückgezahlt, das er mit Nathan dem Weisen verdiente (vgl. Rüskamp: Dramaturgie ohne Publikum, S. 276–283; Fick: Lessing-Handbuch, S. 402). Ganz im Sinne Wesselys beantwortet auch Kants Metaphysik der Sitten die Frage „Was ist Geld?“ (vgl. Werke Bd. 4, S. 305–634, hier S. 400–404).
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keit des Wertversprechens parallelisieren, welches das Geld gibt: Beständigkeit ist Zweck des Geldes als Wertmessers wie als Wertaufbewahrungsmittels, doch in der Krisenzeit, in die Lessing seine Komödie stellt, vermochte es sie nicht zu behaupten.51 Im Grunde zeigt das Geld sogar „niemals verläßlich die Kraft seiner Repräsentation an“.52 Vielmehr muß es sich jeweils im Gebrauch bewähren, also im Handel – so wie Tellheims Ehre in dessen Handeln. Hervorragend (re)präsentiert sich Tellheim als Mann von Ehre, wo er Großmut zeigen kann; so verleugnet er gegenüber der Witwe seines gefallenen Rittmeisters die Schulden, die dieser bei ihm hatte (vgl. I,6). Unfähig ist er dagegen zum komplementären Nehmen: Obwohl er dringend Geld braucht und schon seinen Verlobungsring versetzt hat, lehnt er die Leihangebote seines jetzt vermögenden Wachtmeisters Paul Werner hartnäckig ab (vgl. III,7). Nun wären die Rücksichten, die gegen Minna zu nehmen die Ehre tatsächlich gebietet, hier nicht nötig. Als etwas naiver, aber treuer Mensch bemerkt Werner denn auch richtig, daß Tellheim sich letztlich weigert, seine Mitgeschöpflichkeit und mithin Abhängigkeit von anderen anzuerkennen: Was der Major anderen geradezu mit Eifer zumutet – nämlich Schuldner zu sein –, möchte er unter keinen Umständen werden. Außerhalb der Minna-Tellheim-Handlung gelegen, hat die Szene relativ wenig Beachtung gefunden,53 obwohl hier am deutlichsten zum Ausdruck kommt, in welcher Hinsicht Tellheims Ehrbegriff tatsächlich überspitzt ist: nämlich dort, wo er das Nehmen prinzipiell ausschließt. Obwohl pragmatisch funktionslos, ist die Szene recht lang, und sie liegt genau in der Mitte der Komödie – das deutet darauf hin, daß hier sogar das zentrale ethische Problem des Stücks exponiert wird. Denn auch wenn der verdächtigte Tellheim kein Fräulein an sich binden darf, so könnte und sollte er doch Minnas Liebe annehmen.54 Geben und Nehmen aber konstituiert ein handelsförmiges Handeln. Selbst wo es um die Ehre geht, braucht es solche Handlungskompetenz, denn wenn Ehre anerkannt sein will, muß eine Interaktion zustande kommen können, in der man sich gegenseitig als gleichberechtigt anerkennt. Insofern bedarf Tellheim tatsächlich einer größeren Handels- oder „Geschäftsfähigkeit“ (Vogl), die aber nicht als Alternativkompetenz zur Ehre, sondern als deren Realisie51 Ähnlich Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 123–127. 52 Ebd., S. 123. 53 Eine Ausnahme bildet Schneider: Schenken und Tauschen, S. 464f: „Nur wer gern
annimmt, so hält ihm Werner vor, ist auch bereit zu geben; zu geben, so müssen wir hinzufügen, nicht zur Bestätigung eigener Stärke, sondern aus dem Gefühl der eigenen Verwundbarkeit, die sich in der Lage des Freundes zu erkennen vermag. Indem Tellheim Empfangen mit Abhängigkeit und Schuldnertum gleichsetzt, deutet er auf einen versteckten Überlegenheitsanspruch gerade auch in seiner Großzügigkeit.“ 54 Vgl. Fick: Lessing-Handbuch, S. 254.
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rungsmodus zu verstehen ist. Dem Major gilt seine Ehre als nicht verhandelbar. Lessings Komödie hingegen stellt dies als Defizit aus. Die ideale Kehrseite wiederum, die Aushandlung des Wertes ‚Ehre‘, wird zwar nicht in actu dargestellt, doch weist jene Defizitdiagnose impliziert auf die Performativität, die wir auf sozialgeschichtlicher Ebene der Herausbildung von ‚Bürgerlichkeit‘ attestierten (vgl. oben Kap. 2.7.1) und in normtheoretischer Hinsicht in den frühaufklärerischen Vorschlägen zur Bewältigung eingesehener Vernunftschwächen fanden (bei Thomasius und mitunter auch bei Gottsched; vgl. Kap. 4.3.1).
4.6.3 Vorausblicke I: Die Autonomie des scheinhaften Spiels Die Funktionen, die das Spiel bislang in der Aufklärungskomödie hatte, werden in Minna von Barnhelm nicht mehr erfüllt. Als bewußter Abschied von jenen Spielfunktionen erscheint diese Nichterfüllung, da sie zunächst einmal mit äußerster dramaturgischer Raffinesse aktualisiert werden, um schließlich aber ihre Ohnmacht zu erfahren, und zwar ihre Ohnmacht dem unvergleichlichen Individuum ebenso wie dem gesellschaftlichen Ganzen gegenüber. Wenn sich die Komödie dadurch auszeichnet, daß sie ein strategisches, d. h. mit Wirkungsabsichten versehenes Spiel sowohl unter den Figuren auf der Bühne als auch mit dem Zuschauer veranstaltet, so wird dieses Gattungsmerkmal in Minna von Barnhelm sowohl überdeutlich als auch nicht mehr erfüllt. Insofern kann man sie – in einem mehr gattungssystematischen als -historischen Sinn – als ein „letztes deutsches Lustspiel“55 bezeichnen. Doch dient Minnas Spiel keineswegs nur der Inszenierung eines solchen Abschieds. Vielmehr wird es schlechthin entscheidend für die Zugehörigkeit des Stücks zur Gattung Komödie. In ihm, so spitzt Michelsen zu, „wird das Lustspiel gerettet“,56 denn ‚eigentlich‘ ist Tellheims Ehrproblem kein Komödienthema, da es sich, wie Lessings Drama versteckt, aber eindeutig vorführt, in einer Lustspielhandlung nicht lösen läßt. Die Konfliktursache liegt nämlich ebenso wie ihre Beseitigung außerhalb des komödischen Spiels: Tellheims verhängnisvoller Vorschuß war nicht nur eine moralische Tat, sondern gehört – einige Jahre zurückliegend und im Raum der großen Politik angesiedelt – der Geschichte an (von der ostentativen historischen Verankerung des Büh-
55 Michelsen: Die Verbergung der Kunst, S. 251 (umgestellt). Etwas anders als hier vor-
getragen sieht Michelsen in der Hinsicht eine Letztstellung Minna von Barnhelms, daß eine „bloß spielerische Abweichung der Norm – eine partikulare Disharmonie – von vornherein der Prästabilität des Ganzen eingeordnet ist.“ 56 Ebd., S. 247.
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nengeschehens war schon die Rede).57 Daß die Konfliktlösung dem König überlassen bleibt, ist es daher ganz konsequent und nur von Ferne einem „‚reitenden Boten‘“ ähnlich, wie Brecht ihn später mit ironischer Absicht einsetzte.58 Zudem erfolgt die königliche Entscheidung in Tellheims Verfahren nicht „von außen“, unvermutet und plötzlich, sondern durch eine „abwesend anwesende“59 Figur und wird durch mehrfache Ankündigung (vgl. IV,2, S. 666f.; IV,6, S. 680) weit besser vorbereitet, als es beim klassischen Deusex-machina der Fall zu sein pflegt (erinnert sei an Anselme in L’Avare). Ausgriffe bis hinauf zur Spitze von Staat und Gesellschaft fanden wir bereits in früheren Komödien – auch in diesem Punkt bietet Anselme mit seiner Stellvertreterfunktion für den Monarchen das prägnanteste Beispiel –, ohne daß dort aber die zeitgenössische Politik zum maßgeblichen Handlungsfaktor avanciert wäre. Molière fügte ein Komödiengeschehen durchaus zeitgenössischen Zuschnitts, wenngleich mit weniger konkreten Realitätsbezügen in das gesellschaftliche Integrationsprogramm jenes Monarchen ein, dem er auch als Autor und Schauspieler diente. Als väterlich Herrschender konzipiert, stand ein solcher Monarch der stets familiär strukturierten Komödienwelt nicht fremd gegenüber und konnte daher von einem als Deus-ex-machina wirkenden wiedergefundenen Vater vertreten werden (vgl. Kap. 3.3.2). Dem Wandel des Herrscherbildes im Jahrhundert zwischen L’Avare und Minna von Barnhelm entsprechend,60 agiert der König, der in Lessings Komödie hineinregiert, hingegen als Spitze von Heer und Verwaltung. Damit aber ist ein gesellschaftlicher Raum eröffnet, in dem die Komödie kaum Aussicht hat, ihr gattungstypisches Spiel zu entfalten. Ebenso kann Tellheims Ehrproblem, da historisch begründet und finanzjuristisch zu beurteilen, nicht Zentralmotiv einer herkömmlichen Komödienhandlung sein. In dieser Gattung kann es nur umspielt und muß im übrigen verdeckt werden – deshalb berührt Minna von Barnhelm den Konfliktpunkt nur einmal kurz mit Worten und bietet ansonsten vom Streit um Tellheims Ehre unabhängige Episoden in den ersten beiden Akten61 und später eine Intrige, die den entscheidenden Punkt verfehlt. Vermag Tellheims Ehrproblem, wie es tatsächlich liegt, keine Komödie zu 57 So auch Brenner: Lessing, S. 122: Lessing „baut eine klassische Komödienhandlung
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auf; aber durch das massive Eindringen realer historischer Momente ist das Konfliktpotential nicht mehr mit den Mitteln der Komödie aufzulösen – denn die Konflikte sind in letzter Instanz nicht von den Figuren verursacht und deshalb von ihnen auch nicht zu bewältigen.“ Diesen Vergleich zieht Michelsen: ebd., S. 242. Das folgende Zitat ebd. Brenner: Lessing, S. 123. Vgl. Kunisch: Absolutismus, S. 176–178. Ausführlicher dazu wieder Michelsen: Die Verbergung der Kunst, S. 205.
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konstituieren, so muß Minnas Intrige sogar ‚objektiv‘ irrig sein. Trotzdem hängt an ihr, ob das Drama überhaupt Komödie sein kann.62 Die Konstellation scheint paradox, wirkt aber mit vollendeter Konsequenz: Ausgerechnet der komödiengeschichtlich auf einen Höhepunkt gekommene Realismus des Stücks63 führt dazu, daß dessen komödiantische Elemente sich von der dargestellten ‚Geschichte‘ lösen. Indem Minnas Spiel sich aber von der ‚Wirklichkeit‘ abkoppelt, wird es autonom: es folgt den eigenen Gesetzen – auch in dem Sinne, daß Minna von ihrem eigenen Spiel überrollt wird (vgl. V,11, S. 700) –, nicht denen des sozialen Kontextes. Komödienästhetisch ist das zunächst eine Rückkehr, nämlich zum noch nicht moralistisch beschnittenen Spielprimat der Commedia dell’arte-Tradition.64 Entschiedener noch (und kunstvoller) als Krügers Candidaten aktualisiert Minna von Barnhelm noch einmal das apragmatische Spiel.65 Ähnlich sind sich die jeweiligen Spielerfiguren – Minna und Valer-Wirbelbach – in ihrer geringen Zimperlichkeit, denn beide kümmern sich wenig um die seelische Befindlichkeit der von ihnen Getäuschten und machen sie zu Mitteln ihrer Zwecke.66 In einer auf empfindsames Mitgefühl abgestellten Literaturepoche weisen sie sich damit als Agenten eines älteren Komödientyps aus, der stärker am Spiel um seiner selbst (d. h. seines Vergnügungspotentials) willen interessiert war. Anders als Krüger bringt Lessing zugleich aber zum Ausdruck, daß von einem solchen Spiel keine Lösungen zu erwarten sind. ‚Erläutert‘ wird dies, indem nicht nur einzelne Mißstände wie der Handel ‚Amt gegen erotische Zuwendung‘, sondern die (insgesamt nicht spielförmigen) Strukturen der zeitgenössischen Gesellschaft ins Drama hineingeholt werden. Die Sphäre, die dem Spiel zugewiesen wird, ist dagegen der als Schein gewußte Schein – wie ihn das Theater pflegt. Ein wenig übertreibend stellt 62 Von daher ist auch der Titel Minna von Barnhelm konsequent, obwohl Tellheim die
Zentralfigur ist (so schon Michelsen: ebd., S. 251). 63 Zum Realismusbegriff im Hinblick auf Minna von Barnhelm vgl. Brenner: Lessing,
S. 110. 64 Vgl. Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 291f. 65 Den Spielcharakter von Minnas Verhalten hat am stärksten Fritz Martini betont:
Riccaut – Die Sprache und das Spiel in Lessings „Minna von Barnhelm“. – In: ders.: Lustspiele – und das Lustspiel, S. 64–104, bes. S. 87: „aus Minnas ‚Einfall‘ [Tellheim seinen Ring zurückzugeben] entfaltet sich ein Plan, der jedoch nicht zu dem Kalkülmechanismus der Intrige hinführt, sondern zu einem Wagnis des ‚Spiels‘“. Mit dieser treffenden Feststellung setzt Martini zugleich allerdings eine ahistorische komödienästhetische Norm, nämlich die Abwertung der kalkulierten Intrige zugunsten des apragmatischen Spiels. Das daraus gezogene Werturteil, daß Minna „das Lustspiel zu sich selbst führt“ (S. 99), verdeckt daher die Problematik der Komödie in ihrer Epoche, die Lessings Stück ebenfalls gestaltet. 66 Zum weniger moralischen als „frivolen Charakter“ von Minnas Spiel vgl. Brenner: Lessing, S. 121.
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bereits Michelsen fest: „Alle Handlung in dem Drama ist Schein: nicht nur in dem Sinne, in welchem man das von jedem theatralischen Geschehen als einer ‚Fiktion‘ behaupten kann, sondern auch insofern, als es ohne jeden Einfluß auf den Konflikt und dessen Ende ist.“67 Eine poetologische Pointe ergibt sich daraus, wenn man die Folge des ‚nicht nur, sondern auch‘ verkehrt: Denn nicht nur in pragmatischer Hinsicht entpuppt sich die Intrigenhandlung als scheinhaft, sondern diese Irrealität demonstriert auch und vor allem die Scheinhaftigkeit des Komödienhandlungsschemas und damit überhaupt der Gattung. Gemeint ist nicht (nur) die Realitätsnichtigkeit des von den unschädlichen Schädigungen sowie der finalen Harmonie der Komödie unterstellten Weltmodells, sondern darüber hinaus ästhetische Autonomie (als gesteigerte Fiktionalität gewissermaßen).68 Autonom ist Minnas gattungsbewahrendes Intrigenspiel, zum einen weil es das Mutwilligkeitspotential („das will ich nun einmal so“; IV,3, S. 672) des noch nicht moraldidaktisch funktionalisierten Spiels reanimiert,69 zum anderen weil es, vom pragmatischen Effekt her und erkennbar ein bloßes Spiel, sich von der Realität mit ihren Handlungszwängen abhebt, mit Schiller gesprochen: weil das Drama insgesamt die „Täuschung“, ein solcher Konflikt ließe sich spielerisch lösen, „aufrichtig selbst zerstört“.70 Damit aber summiert Minna von Barnhelm nicht nur die Aufklärungskomödie, sondern überbietet sie. Die Verengung der (Komödien-)Welt, die von der aufklärerischen Normierung ausging, ist hier in die Erschaffung einer neuen Welt der Kunst umgeschlagen. Mit der Etablierung eines ästhetischen Spiels sind zugleich die Konsequenzen aus einer längerfristigen Umprägung von Verhaltenskonzepten gezogen, die die ‚politische‘ Affekterregungskunst folgenreich verlagerte: Die Verstellung, deren souveräne Beherrschung und zielbewußter Einsatz den Politicus auszeichneten, war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von der ‚Bühne‘ des Hofes auf die des Theaters gewandert. Vermittelt durch die actio-Lehre der Rhetorik, wurde „die Schauspielkunst nämlich [...] zunächst als Verstellungskunst identifiziert“.71 Um die Moralität des Aufklärungstheaters nicht zu gefährden, war es dabei wichtig, ‚Verstellung‘ nicht als habituell
67 Michelsen: Die Verbergung der Kunst, S. 244. 68 Martini: ebd., S. 67 spricht von einer „ästhetischen Potenzierung des fiktiven Spiels
[des Theaterspiels, D. F.] durch das fingierte Spiel [Minnas]“. 69 Zur Mutwilligkeit von Minnas Spiel vgl. Kornbacher-Meyer: Komödientheorie und
Komödienschaffen Gotthold Ephraim Lessings, S. 291f. 70 Prolog zu Wallensteins Lager (übrigens einem komödiennahen Kriegsdrama), Vv.
135f. (NA 8, S. 6); vgl. den 26. Brief in Schillers Ästhetischer Erziehung (NA 20, S. 402). 71 Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 40. Vgl. Graf: Das Theater im Literaturstaat, S. 130–145.
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oder Charakterfehler erscheinen zu lassen, sondern als Kunstleistung auszuweisen. Wie seine Zeitgenossen zielte Lessing zwar noch darauf, den Zuschauer zu illusionieren; was die Leistung des Schauspieler angeht, betonte er jedoch im Anschluß an François Riccobonis L’Art du théâtre (1750), daß die möglichst ‚natürliche‘ Darstellung etwa von Empfindungen kein Ausdruck eigenen Empfindens, sondern ein Kunsteffekt sei.72 Konsequent wurde das Programm eines schauspielerischen und überhaupt ästhetischen Scheins, der auf alle illusionierende ‚Täuschung‘ der Zuschauer verzichtet, vielmehr als Schein erkannt sein will, erst vom klassischen Schiller vertreten.73 Dem Komödienspiel weist indessen schon Lessings gattungsreflexives Lustspiel eine solche Scheinhaftigkeit zu. An die Commedia dell’arte anzuknüpfen heißt schon hier, nicht erst bei den Romantikern, sich auf den Weg zur ästhetischen Autonomie zu machen.
4.6.4 Komödienspiel als Kombination von Mutwillen und Providenzvertrauen Warum aber wird das Komödienspiel überhaupt bewahrt, wo es dem historischen und ökonomischen ‚Realismus‘ der Minna doch entgegenstand und sich nur durch einen komplizierten Handlungsaufbau retten ließ? In Rechnung zu stellen ist zunächst, daß schon der Komödientheoretiker Lessing nur teilweise bereit war, der ‚empfindsamen‘ Epochentendenz zum ‚rührenden Lustspiel‘ zu folgen. Bereits sein Kommentar zu Gellerts Pro commoedia commovente kreidet dieser Gattungsvariante den Verlust der Komik an und führt dagegen das traditionelle Possenspiel ins Feld, das zwar ebenso einseitig wirke, aber auch ebenso notwendiges Element der „wahren Komödie“ sei.74 72 Vgl. Fick: Lessing-Handbuch, S. 268–270. 73 Vgl. Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie – NA 10, S. 7–15, S. 10. 74 Werke Bd. 4, S. 56. Zu Lessings Geschmack an komödischen „Theaterstreichen“ vgl.
auch seine Besprechung des „spanischen Essex“ – d. i. Antonio Coëllos Tragödie (!) Dar la vida por su Dama, ó el Conde de Sex von 1638 – über mehrere Stücke der Hamburgischen Dramaturgie hinweg (60.-68.): dessen „ungeheure Verbindung der pöbelhaftesten Possen mit dem feierlichsten Ernste“ sei ihm lieber als konventionelle Anständigkeit und „die unsinnigste Abwechslung von Niedrig auf Groß, von Aberwitz auf Ernst, von Schwarz auf Weiß, willkommener [...] als die kalte Einförmigkeit, durch die mich der gute Ton, die feine Welt, die Hofmanier, und wie dergleichen Armseligkeiten mehr heißen, unfehlbar einschläfert.“ (Ebd., S. 549f.) Neben gegenläufigen Basistheoremen von Lessings Dramaturgie wie der durch vollständige Motivation herzustellenden Ganzheit („Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derentwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden“; ebd., S. 589, 79. Stück) hat das Bekenntnis zur ludischen Perturbation freilich nur den Status eines polemischen, vielleicht auch sehnsüchtigen, jedenfalls aber nicht zur
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Zweitens verfügt die Figur des komödischen Intrigenspielers über ein besonderes Verhaltensprofil mit einzigartigen Morallizenzen. Keine andere positive Figur im Aufklärungsdrama darf so massiv aus der „Eigenliebe“ (IV,1, S. 664) heraus handeln, „Eigeninitiative“75 entwickeln und eigene Interessen vertreten wie der Agent – und mehr noch die Agentin76 – des komödischen Spiels. Zumal Minna betätigt sich in einer Weise, die man vom ‚Agenten des Geldes‘, dem Kaufmann erwarten könnte, die ihm aus den erläuterten Gründen (vgl. Kap. 2.6.2) jedoch verwehrt blieb. Drittens ermöglicht es der typische Verlauf des Komödienspiels insgesamt, beispielhaft zu demonstrieren, daß „die Vorsicht [...] den ehrlichen Mann immer schadlos hält“ (so Minna in IV,6, S. 678).77 Und diese Aussicht stellt sich ein, sobald sich „Komödienatmosphäre“78 verbreitet, also von Anfang an. Minna von Barnhelm akzentuiert diese weltbildliche Modellierungsleistung der Gattung sogar in besonderem Maße, denn sie zeichnet Tellheim als in Gefahr, „wider die Vorsicht zu murren“ (I,6, S. 614), und bietet direkt dagegen die Titelfigur als providenzgewisse Verkörperung der Komödie auf. Minnas Spiel vermag zwar die Kontextbedingungen nicht zu beeinflussen, doch deckt es in der umspielten Figur des Majors „die verborgenen Triebfedern der Seele auf“: „Die Macht der sinnlichen Regungen – des Stolzes, des Mitleids, der leidenschaftlichen Liebe – wird gezeigt“,79 so daß die Figuren eine neuartige Komplexität und Ambiguität gewinnen, welche die herkömm-
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dramatischen Bewährung bestimmten Ausflugs. Als detaillierte, wenngleich zur Harmonisierung neigende Zusammenstellung und Auswertung von Lessings teilweise widersprüchlichen Äußerungen zur Komödie vgl. jetzt Kornbacher-Meyer: Komödientheorie und Komödienschaffen Gotthold Ephraim Lessings, S. 26–124. Fick: Lessing-Handbuch, S. 256. Ganz von Minnas (Liebes-)Interessen her liest jetzt Brigitte Prutti: Bild und Körper, bes. S. 173f. das Stück. Der Gattungsbedingtheit komödischer Rollenmuster werden Pruttis ahistorische Psychologisierungen jedoch nicht immer gerecht. Daß Minna von Barnhelm die Unverzichtbarkeit eines „metaphysischen Vertrauens“ demonstriert, hat vor allem Wolfgang Wittkowski herausgearbeitet (Theodizee und Tugend, hier S. 182). Im Sinne der älteren philosophischen Theodizee betont er dabei, mit ihr gehe keine „Glückversicherung“ einher, schon gar nicht materieller Art (ebd., S. 183). Das aber verkennt eben die von der Aufklärung vollzogene Umdeutung der Theodizee in eine Verheißung für das hiesige Leben, wie sie in der vorliegenden Untersuchung als Grundlage und Movens des sich herausbildenden Marktoptimismus ausgewiesen wird. Daß die Aufklärung religiöse Erwartungen durchaus auf diesseitige Verhältnisse und besonders auf das Geld bezog, betont auch Pape: Symbol des Sozialen, S. 48f., 59–63. Zum „interweaving of economics and religion“ bei Lessing ebenso Lehrer: Lessing’s Economic Comedy, S. 80, der die Dinge allerdings zum Monetären hin vereinseitigt, wenn er schreibt: „money is the saviour in his comedies“ (S. 86) oder „the deus ex machina is always pecunia ex machina“ (S. 85). Michelsen: Die Verbergung der Kunst, S. 218. Fick: ebd.
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liche Tugend-Laster-Antithetik transzendiert. Zudem erreicht sie eine höchst wichtige Änderung in Tellheims Verhalten: Ihr vorgeblich unglückliches Schicksal nimmt er sofort an – auch in diesem Punkt geht es um ein Annehmenkönnen – und faßt wieder Mut und Zutrauen zu sich (vgl. V,2). Minnas Spiel bewirkt hier, was Nathan, seiner Frau, seiner Söhne und seines Besitzes beraubt, durch seine „Vernunft“ erlangt: eine Abkehr vom „Menschenhaß“ (IV,6, S. 678)80 und die Rückkehr zur Ergebung in Gott, denn das Vertrauen in die ‚Vorsicht‘ einerseits und die Zuversicht für das eigene Handeln andererseits gehen im lähmenden wie im aktivierenden Sinne Hand in Hand.81 In dieser weltbildmodellierenden und motivierenden Funktion aber soll das Komödienspiel nicht nur in der ihm zugewiesenen Sphäre zur Geltung kommen. Was Tellheim auf der Bühne vermittelt wird, soll auch der Zuschauer im Publikum annehmen – insofern dient auch noch das ästhetisch autonomisierte Spiel einem pädagogischen Zweck. Folgerichtig wird der gattungstypische Optimismus der ludischen Handlung bestätigt durch die Wende, die Tellheims Schicksal in der großen, aludischen Welt nimmt: die (drameninterne) „Wirklichkeit bequemt sich gewissermaßen der Fiktion an, gibt ihr recht.“82 Ähnliche Übertragungen komödischer Modelle und Hoffnungen in die (dramenexterne) Wirklichkeit fanden wir im sozialtheoretischen Denken der Zeit, nicht zuletzt hinsichtlich des Wirtschaftslebens (vgl. Kap. 4.4.1/2). Indem Minna von Barnhelm eine komödisch-spielerische und eine praktischernsthafte Handlung unterscheidet und die zweite gemäß den von der ersten geweckten Erwartungen ausgehen läßt – der Rechtsentscheid ermöglicht die Versöhnung, die die „Komödiantin“ vergeblich betrieb –, führt das Drama diese interdiskursiven Transferenzen intern vor. Ähnlich sind in dieser interdiskursiven Konstellation nicht die Handlungsziele einerseits des Komödienspiels, andererseits des wirtschaftenden Subjekts, wohl aber die erwarteten Geschehensstrukturen. Denn wenn Monika Fick resümiert, daß die Komödie eine „gelassene Zuversicht propagiert, durch die die Eigeninitiative gefördert, wenn nicht gar erst ermöglicht wird“,83 so trifft dies ebenso den wenig später von Adam Smith formulierten Imperativ ökonomischen Handelns im Ver80 Vgl., wie Nathan nach dem Pogrom „Der Christenheit den unversöhnlichsten / Haß zu-
geschworen“ hat (Werke Bd. 2, S. 316; IV,7, Vv. 672f.). 81 Vgl. ebd., S. 316f.: „Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder. / Sie sprach mit
sanfter Stimm’: ‚und doch ist Gott! / Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan! / Komm! übe, was du längst begriffen hast; / Was sicherlich zu üben schwerer nicht, / Als zu begreifen ist, wenn du nur willst. / Steh auf!‘ – Ich stand! und rief zu Gott: ich will! / Willst du nur, daß ich will!“ (IV,7, Vv. 674–681) Vgl. Fick: Lessing-Handbuch, S. 256 über Minna und Tellheim: „Sie gewinnen die Haltung zurück, aus der sich das Glück speist.“ 82 Michelsen: Die Verbergung der Kunst, S. 249. 83 Fick: Lessing-Handbuch, S. 256.
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trauen auf die ‚unsichtbare Hand‘. Und nicht nur für den ‚Start‘ gelten dieselben optimistischen Prämissen; auch die Ziele überschneiden sich: Das Schreiben von des Königs ‚unsichtbarer Hand‘ entlastet Tellheim nicht nur von der Verdächtigung seiner Ehre, sondern bringt ihm 2000 Pistolen ein. Hinsichtlich seines Umgangs mit der Verschiedenheit der Spiele84 zeigt sich Lessing demnach als ‚differenzierender Kombinierer‘: Auf einen Seite verweist das partikulare, teilweise mutwillige und verwirrende Spiel, das Minna gemäß der Komödientradition betreibt, auf eine Ordnung des Ganzen und auf das providentielle Spiel Gottes. Insofern integriert die Komödie die verschiedenen Spieltypen. Die Konventionen der Gattung eröffnen dabei die Möglichkeit, die Spannweite des miteinander Vermittelten bis aufs äußerste auszureizen: Moralität erweist sich als nicht erforderlich, um mitzuspielen im großen Spiel mit gutem Ausgang. So wird dem ebenso leidenschaftlichen wie verantwortungslosen Spieler Riccaut de la Marlière gestattet, sich als ‚Taschen-Horribilicribrifax‘ aufzuspielen und dabei Minna zu überspielen, indem er ihr zehn Pistolen fürs Falschspielen abluchst. Die „Dynamik“ des Ludischen (Nitsch) ist aber selbst in diesem Fall funktional: Selbst die ‚lasterhafte‘ Figur dient der Ökonomie des Ganzen, ‚darf‘ Riccaut die Rehabilitation des Majors doch nicht nur ankündigen (vgl. IV,2, 666), sondern sie auch ganz konkret auf den Weg bringen, insofern der Feldjäger, der das erlösende Handschreiben überbringt, Tellheims Wohnung erst von dem Franzosen erfährt (vgl. V,6).85 Auf der anderen Seite leitet sich die Herstellung der Schlußordnung nicht aus dem partikularen Spiel her.86 Individuelles Handlungsgeschick reicht nicht aus zum „corriger la fortune“ (IV,2, S. 670); das gilt selbst für den Falschspieler Riccaut, der keineswegs immer gewinnt (vgl. S. 668). Die politisch-ludische Tradition wird – davon war ausführlich die Rede – historisiert, denn der Lauf des Ganzen läßt sich vom einzelnen weder einsehen noch steuern. Ein Spiel zu beginnen führt weit eher ins Gespieltwerden, wie Minna erfahren muß, als Tellheim ihr Ringspiel trotz aller Hinweise nicht durchschauen ‚will‘ und sich immer weiter in seine Verbitterung hineinsteigert (vgl. V,5 und 10).87 84 Vgl. oben S. 378ff. und 475. 85 Detailliert wird die dramaturgische Funktion der Riccaut-Szene von Martini erläutert:
Riccaut – Die Sprache und das Spiel in Lessings „Minna von Barnhelm“. – In: ders.: Lustspiele – und das Lustspiel, S. 64–104, hier S. 68–79. 86 Steven Martinson hat diesen Befund so gefaßt, daß Lessings Komödienhandlungen von der Struktur des Chaos geprägt seien, daß aber trotzdem Ordnung aus ihnen hervorgehe (vgl. Chaos and Comedy, S. 21 u. 29). 87 Vgl. Kornbacher-Meyer: Komödientheorie und Komödienschaffen Gotthold Ephraim Lessings, S. 296: „Just als Minna glaubt, der Knoten löse sich bald, weil Tellheim die Aktion mit dem Ringe durchschaue, entgleitet ihr das Spiel, beginnt es, sich gegen sie selbst zu wenden.“
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Ein handlungspraktischer Zusammenhang von ‚kleinem‘ und ‚großem‘ Spiel stellt sich vielmehr umgekehrt ein, wenn die Erwartung finaler Harmonie eine Mentalität des Wagens begünstigt. In diesem Sinne wagt Minna, als sie Tellheim den von ihm getragenen Ring zurückgibt, „einen ‚Spieler‘-Wurf [...] auf gut Glück“,88 ohne die Folgen absehen zu können. Keinem Plan, sondern nur einer momentanen Eingebung („Recht weiß ich es selbst nicht“) folgte sie, als sie ihren Ring vom Finger zog und seinen ansteckte (IV,5, S. 73). Von hier aus läßt sich ein Bogen zurück an den Anfang des Spielkapitels schlagen (vgl. oben S. 384f.): Indem Minna sich der Ambivalenz der Zeichen bewußt ist, trotzdem aber „einen Einsatz“ wagt, verhält sie sich wie Pascals Spieler, der auf die Existenz Gottes wettet.89 Nicht einmal Wahrscheinlichkeitsberechnungen mußte sie anstellen, um an die „Vorsicht [zu] glauben“ (IV,6, S. 678). Ebensowenig steht ihr Spiel in jener Gefahr, der Glücksspiele vormals unterlagen, nämlich unzulässig in „Gottes alleinige Kontingenzkompetenz“90 einzugreifen. Die göttliche Vorsehung wiederum restringiert nicht mehr die Spiele des einzelnen (vgl. oben S. 383), sondern fungiert als deren Absicherung und damit Förderung. Über die Risikobereitschaft des Kaufmanns, wie Shakespeares Antonio sie demonstriert, geht dieses spielerische Wagen noch hinaus. Bestätigt wird mithin noch einmal die Nachrangigkeit von Kaufmannsfiguren bei der Durchsetzung marktwirtschaftsanaloger Verhaltensweisen in der Komödie, wie wir sie oben mit Blick auf die Einführung wirtschaftlicher Bewegung vor allem durch Politicus-Figuren feststellten (vgl. S. 434). Aber auch der Politicus wird in Minna von Barnhelm – deutlicher noch als in Krügers Candidaten – überholt durch Figuren, die sich dem Spiel hingeben. Denn das ‚politische‘ Programm strategischer Selbstermächtigung erscheint nun nicht mehr durchführbar angesichts einer gesellschaftlichen Komplexität, deren Undurchschaubarkeit in Minnas Mißverstehen von Tellheims ‚Ehrproblem‘ erkennbar wird (oder sogar ihrerseits verdeckt bleibt). An seine Stelle tritt ein Spiel, das auf Einsicht ins Ganze verzichtet, zugleich aber einen guten Ausgang voraussetzt. Eben damit aber erweist sich die Komödie am marktwirtschaftlichsten: nicht indem sie Figuren aus der Wirtschaftssphäre auf die Bühne bringt oder ökonomische Normen propagiert, sondern indem sie ihre gattungstypischen
88 Martini: ebd., S. 88. 89 Nebeneinandergestellt werden Minna von Barnhelm und Pascals Wette bei Albert:
Corriger la fortune?, S. 128f., das Zitat S. 129. Insgesamt wertet Claudia Albert die Spielmotive im Drama um 1750 „als Indiz verlorener metaphysischer Rückversicherung“ (S. 124). Demgegenüber verstehe ich das Spielmotiv als Ausdruck von Erwartungen eines guten Ausgangs. 90 Campe: Schau und Spiel, S. 53.
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Interaktions- und Verlaufsformen, das mutwillige Spiel und die finale Harmonie, zur Geltung bringt. Das gewagte Spiel des einzelnen verweist, wie gesagt, auf die HarmonieErwartung an das Ganze. Geht man ein weiteres Mal von der Literaturtheorie Wolfgang Isers aus, so läßt auch dieser symbolische Verweis noch als Spiel kennzeichnen. Das literarische Spiel ahmt, so Iser im Anschluß an Friedrich Georg Jünger, nicht nach, sondern stellt „‚etwas Nichtvorhandenes, etwas Fehlendes‘ dar“ (in Isers Begriffen: es gibt dem Imaginären die Gestalt des Fiktiven).91 Das ‚Fehlende‘ – an anderer Stelle heißt es: „das Unverfügbare“ – ist im Fall von Minna von Barnhelm und überhaupt der Aufklärungskomödie die Gewißheit, daß es den Dingen (z. B. der „Sak von unserm Major“) bestimmt sei, „gutt zu enden“ (IV,2, S. 666). Das Verlangen nach dieser Gewißheit haben keineswegs nur die Figuren der Komödie. Die Komödie aber ist das (theatrale) Spiel aus (a/pragmatischen) Spielen, das dieser Gewißheit spielerisch (symbolisch) Gestalt zu geben vermag.
4.6.5 Vorausblicke II: Von der Komödie zur ‚Geschichte‘ Das letzte Wort behalten weder die staatliche und wirtschaftliche Ordnung noch das komödische Spiel. Minna von Barnhelm endet nicht gattungstypisch, also im erfüllten Augenblick der hochzeitlichen Freude. Die Titelheldin verläßt bereits zwei Szenen vor Schluß die Bühne – ohne ihren Tellheim. Das übriggebliebene Dienerpaar wiederum blickt in eine ungewisse Zukunft. Werner zu Franziska: „Geb Sie mir Ihre Hand, Frauenzimmerchen! Topp! – Über zehn Jahr ist Sie Frau Generalin, oder Witwe!“92 Die Zeit nach dem Fall des Vorhangs wird nicht als endgültige Harmonie ausgegeben, sondern als von neuen Turbulenzen gezeichnet;93 eine Dauer, die zugleich Garantie eines unwandelbaren Wertes wäre (vgl. oben S. 414), ist nicht mehr zu erwarten. Genauer wird diese Zukunft in Werners kriegerischen Andeutungen kenntlich: als ‚Geschichte‘ nämlich, als fortdauernde Verwobenheit des einzelnen in die gesellschaftlichen Konflikte. Das paßt zunächst zur Motivation des Komödienkonflikts durch eine ‚historische‘ Begebenheit (vgl. 4.6.1.), reicht in seiner kulturgeschichtlichen Signifikanz aber darüber hinaus. Eine Ausrichtung zumal der deutschen Intellektuellen eher auf Geschichte als auf Wirtschaft begegnete uns verschie-
91 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 432. Das folgende Zitat ebd., S. 436. 92 Lessing: Werke Bd. 1, S. 704 (V, 15). 93 Vgl. Martinson: Chaos and Comedy, S. 29.
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dentlich schon im Kapitel über Adam Smith und dessen hiesige Rezeption.94 Voraussetzung dafür war die Entstehung des modernen Geschichtsbegriffs, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzog.95 Ihn zeichnet aus, daß die Gesamtheit des menschenweltlichen Geschehens nun als Prozeß eigener Dynamik gedacht wird, konkret als Ausbreitung der Zivilisation, Steigerung der menschlichen Sittlichkeit und Fortschritt der gesellschaftlichen Organisation. Lessing beteiligte sich an solchen Überlegungen mit der Erziehung des Menschengeschlechts von 1777. Wie im Nathan gehen religiöse und rationale Begründungen dort ineinander über; die Religionen und ihr Wahrheitsanspruch werden historisiert, das christliche Jenseits wird ins Diesseits verlagert und die Geschichte als Weg dorthin begriffen.96 Niklas Luhmann hat dies als „Temporalisierung von Komplexität“ beschrieben,97 wobei zu betonen ist, daß die historische Zeit Komplexität zugleich mit Sinn ausstattet: Im Modus der einen ‚Geschichte‘ zu denken heißt, die Fülle der häufig kontingent scheinenden und keineswegs stets ‚fortschrittlichen‘ Einzelereignisse so zu ordnen, daß die positive Dynamik des Ganzen sichtbar wird.98 So meinte Johann Gustav Droysen, der wohl bedeutendste Geschichtstheoretiker des 19. Jahrhunderts, unbedenklich sagen [zu] dürfen, daß nur der geschichtliche Sinn die Fähigkeit hat, in diesem unermeßlich bewegten und wechselhaften Leben der menschlichen Dinge ihren Zusammenhang und ihre Gegenseitigkeit zu erfassen, und daß nur die geschichtliche Methode imstande ist, ihnen zu folgen, ihnen gerecht zu werden.99
Bis ins 20. Jahrhundert allgemein akzeptierte Antworten gibt die Wendung von einem unveränderlichen Sein zum unaufhörlichen Werden zumal auf das oben festgestellte Problem einer universalen Kontingenz, dem sich das frühe 18. Jahrhundert unter ‚politischen‘ Vorzeichen zum ersten Mal gegenüber sah (vgl. oben S. 417). Indem das historische Denken sich von der einen transzendenten Ordnung, die unerkennbar geworden war, verabschiedet, optiert es wie der Politicus für die zu erkennende und zu gestaltende Praxis; indem es das bislang als kontingente Veränderlichkeit Gesehene als Entwicklung
94 Vgl. oben S. 458 Anm. 31 sowie S. 470 Anm. 69. 95 Vgl. Reinhart Koselleck: Geschichte, Historie V – GG 2, S. 647–691. 96 Die kontroverse Forschungsdiskussion resümiert Fick: Lessing-Handbuch, S. 426–
433. Davon festzuhalten ist, daß Lessings Argumentation nicht orthodox ist, ebensowenig aber auf christliche Prämissen verzichten kann. Damit wiederholt sie eine Konstellation, die uns mehrfach begegnete. 97 Vgl. Temporalisierung von Komplexität: Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe. – In: Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 1, S. 235–300. 98 Zuletzt dazu Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 186–205. 99 Droysen: Historik, S. 340.
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oder historische Notwendigkeit interpretiert, sichert es zugleich aber dessen Sinn. Dynamik zu konstatieren und von ihr Gutes für das Ganze zu erwarten, obwohl oder besser weil im einzelnen die Interessen gegeneinander und sich abkämpfen, verbindet das neue historische Denken (das fast immer auch Geschichtsphilosophie ist) mit dem Bild, das ein Adam Smith von der Marktwirtschaft entwirft. Und dort wie hier vermitteln säkularisierte Providenzannahmen – bei dem Historiker Schiller: Postulate einer „großen Hand der Vorsicht“, die in den Dingen ihre „Oekonomie“ entfalte – den nötigen Zukunftsoptimismus.100 Hinzu kommt: Wie der Markt-, so startet auch der Geschichtsoptimismus mit einem ästhetischen Vorausentwurf, der zugleich als Motor seiner erhofften Verwirklichung im praktischen Prozeß gedacht ist.101 So bestimmt Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung von 1789 den Nutzen einer ästhetisch stringenten Geschichtsschreibung dahin, daß sie der Vorstellung vom historischen Prozeß eine ‚schöne‘ Teleologie verleihe, die dazu helfe, daß das gute Ziel tatsächlich erreicht werden kann,102 und auch Lessings Erziehung des Menschengeschlechts hat man als „fiktionalen Text und poetisches Gleichnis“ gelesen, das die Unmöglichkeit, die Wahrheit auszusagen, als Chance begreife, ihr historisches Wachstum zu entwerfen.103 ‚Markt(wirtschaft)‘ und ‚Geschichte‘ stehen demnach sowohl in einer diskurshistorischen als auch in einer denkstrukturellen und, hinsichtlich der daraus resultierenden Sinngebung mundanen Geschehens, einer funktionalen Parallele. Als viertes kommt eine ‚genealogische‘ Parallele hinzu: Die Unterstützung, die das marktgesellschaftliche Modell durch ästhetische Denkmuster wie das Theater erfuhr, spielte mutatis mutandis auch bei der Formierung der neuen ‚Geschichte‘ eine erhebliche Rolle. Denn sowohl die Herausbildung des neuen Geschichtsbegriffs als auch dessen Repräsentation in 100 Die Sendung Moses – NA 17, S. 377–397, hier S. 381: „Hier muß uns die große Hand
der Vorsicht, die den verworrensten Knoten durch die einfachsten Mittel lößt, zur Bewunderung hinreißen – aber nicht derjenigen Vorsicht, welche sich auf dem gewaltsamen Wege der Wunder in die Oeconomie der Natur einmengt, sondern derjenigen, welche der Natur selbst eine solche Oeconomie vorgeschrieben hat, außerordentliche Dinge auf dem ruhigsten Wege zu bewirken.“ ‚Oeconomie‘ meint hier ein säkularisiertes Derivat der christlichen Heilsökonomie (vgl. U. Dierse: Ökonomie II – HWPh 6, Sp. 1153–62; mit der „Ökonomie des Heils“ argumentiert auch noch Lessing, so im Fragmentenstreit: Werke Bd. 7, S. 467). – Als parallele Phänomene sind marktökonomische Theorie und das historische Denken vor allem von Heinz-Dieter Kittsteiner untersucht worden, wenngleich von einem seinerseits geschichtsphilosophischen, nämlich marxistischen Standpunkt aus (vgl. Naturabsicht und unsichtbare Hand). 101 Vgl. oben S. 460 zur Funktion ‚praktischer Fiktionen‘ bei A. Smith. 102 Vgl. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? – NA 17, S. 359–376, hier S. 373–376. 103 Fick: Lessing-Handbuch, S. 427 mit Bezug auf Karl Eibl.
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historiographischen Texten orientierte sich an literarischen Strukturen und ästhetischen Mustern. Ohne diese Transferenzen aus der goethezeitlichen Literatur und Poetik, kann man sagen, hätte die historistische Geschichtsauffassung weder die Darstellungskraft noch die Deutungsmacht gewonnen, mit der sie im 19. Jahrhundert das geisteswissenschaftliche Feld beherrschte.104 Dem formierenden Beitrag des Literarischen kommt im Fall des historischen Denkens und Schreibens demnach noch größeres Gewicht zu als in den Interferenzen zwischen Komödie und Marktwirtschaft. Ebenfalls Ungleichgewichte zeigen sich hinsichtlich der funktionalen Parallele: Die deutsche Kultur wurde um 1800 primär durch Literatur, Kunst und Ästhetik geprägt, zunehmend auch vom historischen Denken (das der Philosophie Konkurrenz zu machen begann), allenfalls nachrangig aber von wirtschaftlichen Modellen der Kontingenzbewältigung und Zukunftsweisung (vgl. Kap. 4.4.3). Eine hinreichend komplexe Begründung für diese Verteilung der Gewichte kann hier nicht einmal versucht werden – sie müßte eine Antwort auf die (in anderer Formulierung) oft gestellte Frage geben, warum Deutschland Wilhelm Meisters Lehrjahre und Fichtes Wissenschaftslehre hervorbrachte, die Franzosen Revolution machten, Friedrich Schlegel an die Dampfmaschine und Baumwollspinnereien aber nicht einmal dachte.105 Für die vorausliegende Zeit läßt sich vor dem Hintergrund unserer Analysen jedoch zumindest ein Faktor benennen: Eine Symbiose wie Historik und Poetik, Literatur und Geschichtsschreibung um 1800 sind Geldsphäre und Komödie während des gesamten 17. und 18. Jahrhunderts nicht eingegangen. Über ihren Bezug zum Geld läßt sich die Gattung motivisch, thematisch, strukturell und (theater)ästhetisch mit Gewinn beschreiben, doch sind aus ihrem normativ stets distanzierten Verhältnis zu diesem sozioökonomischen Phänomen keine ‚klassisch‘ gewordenen Musterspiele der Marktgesellschaft erwachsen. Wo die komödische Reflexion auf Zwänge wie Hoffnungen der Geldwirtschaft eine kaum mehr überbietbare Komplexität erreicht wie in Minna von Barnhelm, läuft das Stück vielmehr schon in den nun vordringenden historischen Diskurs aus, der hier freilich noch höchst Zweideutiges („Generalin oder Witwe“) verheißt. Diesen ‚Mangel an Klassikern‘ wird man nach dem Dargelegten weder als einfache Wirkung ökonomischer Rückständigkeit noch als Folge einer per104 Ausführlich dazu Verf.: Wissenschaft aus Kunst; zusammenfassend: Goethezeitliche
Ästhetik und die Ermöglichung einer textuellen Repräsentation der ‚Geschichte‘. Zur Genese einer symbolischen Form. – In: Literatur und Geschichte, S. 299–320. 105 Schlegels berühmtes Athenäums-Fragment Nr. 216 steht KA 2, S. 198. Mit Dampfmaschinen und Baumwollspinnereien setzte gegen Ende des 18. Jahrhunderts in England die fabrikindustrielle Produktion ein; vgl. Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital, S. 173f.
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spektivischen Blindheit des um Moralvermittlung und Gelehrsamkeit zentrierten deutschen Literaturverständnisses verstehen können. Vielmehr wirkten beide Faktoren(bündel) zusammen. Daß uns die Komödie vor Minna von Barnhelm durchaus ‚historisch‘ erscheint, teilt sie mit der gesamten deutschen Literatur vor Lessing. Als gattungsspezifische Schwäche ist der Abstand hinsichtlich ästhetischer Prägnanz und sozialhistorischem Gehalt, der sie von englischen und französischen Gattungsvertretern wie The Merchant of Venice und L’Avare trennt, daher nicht zu werten. Entscheidend dürfte vielmehr ein Faktor sein, der in allen hiesigen ‚Geldkomödien‘ zum Ausdruck kommt: die vergleichsweise geringe Dynamik der frühneuzeitlichen deutschen Gesellschaft, denn davon zeigen sich bis Mitte des 18. Jahrhunderts sowohl die literarische Kommunikation als auch die ökonomischen Verhältnisse und Mentalitäten geprägt. Wenn klassische Kunstwerke sich aber nur als „Reaktion“ auf geschichtliche Dynamik einstellen106 – wobei ich ‚Reaktion‘ weniger als Kompensation denn als Gestaltung verstehe –, dann empfiehlt es sich, von der ‚vorhistorischen‘ (und deshalb so ‚vergangen‘ erscheinenden) Komödie vor Lessing weniger eine ‚klassische‘ Symbiose mit der (entstehenden) Marktgesellschaft zu erwarten als bereits die verschiedenen Ansätze dazu als literaturgeschichtliche Memorabilia zu begreifen. Stellt man diese widrigen Faktoren in Rechnung, so scheint es nicht zu hoch gegriffen, die Marktgesellschaft (in ihrer Entstehungsphase) und die Komödie (vor allem des mittleren 18. Jahrhunderts) als ‚cultural pair‘ zu bezeichnen und damit der Strukturhomologie der Gattung mit dem Geld eine geschichtliche Dimension beizugesellen. Wie weit diese Affinität reicht, ließ sich, im Gang von den preußischen Finanzverhältnissen nach dem Siebenjährigen Krieg zu einem königlichen Handschreiben im Wert von 2000 Pistolen, an Minna von Barnhelm nachvollziehen. Über das besondere Interesse der Komödie für ökonomische Motive gelangt Lessings Komödie weit hinaus, nämlich – vermöge der gattungstypischen Kombination von mutwilligen Spielen mit einem Harmonieversprechen – bis zur Modellierung eines marktwirtschaftshomologen Weltbildes.
106 Voßkamp: Klassik als Epoche, S. 249.
5. Komödie und Marktwirtschaft: Das erwartete Soziale
Die Affinität der Gattung Komödie zur Ökonomie, die wir theoretisch als Strukturhomologie von Komödienhandlung und Geldfunktion sowie als hier wie dort tauschweise ‚täuschende‘ Performanz entwarfen, ließ sich in den vorstehenden Textanalysen vielfältig historisch konkretisieren. Das Geld und der Markt als zunehmend universalisierter Ort seines Einsatzes erwiesen sich dabei als zentrale Problempunkte – und produktive Muster – eines beträchtlichen Teils sowohl der kanonischen wie auch der weniger beachteten Gattungsvertreter. Das Nachfolgende sucht dies nicht in Form eines geschichtlichen Durchmarsches zu resümieren, sondern gliedert die Bedeutung jenes Bezugs für die Gattungsgeschichte in elf Punkte auf. 1. Auf das Geld und den Markt bezogen ist die Komödie zunächst hinsichtlich der materiellen Bedingungen der theatralen Produktion. Zwischen den verschiedenen Institutionen, die das Komödienspiel trugen, sind hier zwar Unterschiede zu machen: für die Hoftheater war die Komödie die unproblematischste, da billigste Bühnengattung, und das Schultheater war anders als das Wandertruppenspiel kein Wirtschaftsunternehmen (wenngleich es gerne zur Geldsammlung genutzt wurde und mancherorts durchaus in einer Konkurrenzsituation stand, nämlich im Wettbewerb mit dem Schultheater der jeweils anderen Konfession).1 Insgesamt jedoch war die produktionelle Bindung der Komödie an den Markt sowohl umfassender wie auch unmittelbarer als die der anderen literarischen Gattungen, sei es der Tragödie als gehobenen, ernsten Schauspiels, sei es der Erzählliteratur, deren Ausbildung als Roman im 18. Jahrhundert mit der Entstehung eines neuen Marktes, des Buchmarktes, zusammenfiel.2 Als literarhistorisch bedeutsam erwies sich die Bindung der Komödie an den Theatermarkt selbst dann noch, als die aufklärerische Reform sie daraus zu lösen suchte, denn sie stand der Literarisierung des Bühnenspiels weit hartnäckiger entgegen, als eine von poetologischen Programmen ausgehende Literaturgeschichtsschreibung dies wahrnimmt. 2. Zudem bildete die Auseinandersetzung mit den Handlungsmustern und Normen der Geldwirtschaft ein thematisches Zentrum speziell der Komödie. Je nach Gattungstyp, Entstehungszeit und Aufführungskontext setzen die hier behandelten Komödien dazu in unterschiedlichen sozialen Sphären an und 1 Vgl. Das Breslauer Schultheater im 17. und 18. Jahrhundert, S. 21*, 9* (Nachwort von
Konrad Gajek). 2 Vgl. Simons: Marteaus Europa.
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machen sich wandelnde Normen geltend. Durch ihre handlungsstrukturelle Homologie mit den Bewegungen des Geldes führen sie über ihren spezifischen Fokus hinaus aber auch einen prinzipiellen Bezug auf die ökonomischsoziale Mentalität ihrer Zeit und ihrer sozialen Sphäre mit sich. Am wenigsten von den insgesamt noch maßgeblichen geistlichen oder moralischen Vorbehalten gesteuert zeigt sich ausgerechnet der den Marktmechanismen fernste Theatertyp, das Schultheater: Seine pädagogische Absicht, für die Lebenspraxis zu schulen, geht schon früh und selbst unter jesuitischen Vorzeichen auf merkantile Verhaltensweisen aus. Um und nach 1700 transportiert dann das Leitbild des Politicus eine Aufwertung des ‚Interesses‘. Obschon unter verschärften Moralisierungsdruck gestellt, betreiben auch die als Lebensführungsexempel gedachten Komödien der Aufklärung eine Ökonomisierung ihrer Handlungsmechanik wie der vorgeführten Normen und sozialen Interaktionen (‚Heiratsmarkt‘). Zudem ist die Frage nach der Tugend durchgängig auch eine nach deren materieller Sicherung. 3. ‚Ökonomisierung‘ ist dabei nicht eng, etwa im Sinne moderner Systemdifferenzierung zu verstehen. Das Geld, um das sich die Komödien der ‚späten Frühen Neuzeit‘ drehen, ist noch nicht das Medium allein der Wirtschaft; es regelt nicht allein Kaufmöglichkeiten und Besitzansprüche. Ebensowenig genügt es, auf seine Funktion als Prüfstein moralischer Bewährung hinzuweisen3. Seine epochale Bedeutung für die Komödiengeschichte erwächst dem Geld vielmehr aus der enormen Spannweite der Funktionen, die ihm zugemessen werden. Das beginnt mit seinem Reizpotential für lasterhafte Affekte (und die Chancen komischer Darstellung, die sich daraus ergeben) und reicht über die Sicherung sozialer Ordnungen (speziell der Familie und deren matrimonialer Erneuerung) bis hin zu Erwartungen an den Lauf der Welt: Geld lockt mit Zukunftsversprechungen, entweder weil man es besitzt und einsetzen kann oder weil es sich zu erstreben anbietet. In ihrer Spannweite übertreffen die von der Komödie entfalteten Besetzungen des Geldes sogar die ebenfalls ‚interdisziplinär‘ ausgerichteten ‚ökonomischen‘ Lehrgebäude der alteuropäischen Tradition wie die Ökonomik, die Lehre vom ‚ganzen Haus‘, oder die Kameralistik. Fließende Übergänge zwischen im engeren Sinne merkantilen und allgemeinen Verhaltens-Begriffen konnten wir ebenso auf lexikalischem Feld feststellen.4 Noch einmal abschreiten lassen sich die Konnotationen des Geldes in der Komödie anhand des ‚Geschäfts‘, das wohl das weiteste Bedeu3 So Altenhein: Geld und Geldeswert. Über die Selbstdarstellung des Bürgertums in der
Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 206. 4 Vgl. die semantische Explikation von ‚Handel‘, ‚Geschäft‘ und ‚Wohlstand‘ im Kapi-
tel zu Borkensteins Bookesbeutel.
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tungsspektrum aufweist: Als Resultativnomen zu ‚schaffen‘ im Sinne von ‚erschaffen‘ bezeichnet es zunächst die göttliche Schöpfung, „die Geschäfte, die seine Hand gemacht“.5 Auf Gott bezogen, nämlich als von ihm eingesetzt gedacht kann auch die ‚Ordnung‘ sein, die ‚Geschäft‘ gleichfalls meinen kann, mit Übergängen zu ‚Fügung‘ und ‚Schicksal‘ (das sich in der Komödie gern als finanzieller Gewinn realisiert).6 Den quasi gegenüberliegenden Pol markieren – wie in der Komödie, zumindest in deren noch nicht normierten Formen – das Zeugungsglied, das ‚Geschäft‘ bis ins 17. Jahrhundert hinein ebenfalls bezeichnet, und damit die sinnliche Begierde, die ebenso das Geld anstachelt. Die Substantive zu ‚schaffen‘ im Sinne von ‚bewirken‘ beziehen sodann den weiten Bereich von ‚Tätigkeit‘, ‚Aufgabe‘, ‚Angelegenheit‘ oder ‚Unruhe‘ mit ein (also all das, was die Komödienhandlung in Bewegung setzt), wobei ‚Berufsgeschäft‘ und, spezifischer noch, ‚Handel‘ und ‚Verkaufsort‘ wiederum nur Untergruppen bilden. Die Komödie schließlich stellt all dies nicht lediglich nebeneinander, sondern zunehmend als Einheit dar: „Auch das [Geld] hat Gott für alle geschaffen“, spricht Lessings Wachtmeister Werner den immanenzbezogenen Glauben der Aufklärung aus.7 4. Aber nicht nur die Vielfalt der Themen, die sich in der Komödie mit dem Geld verbinden, fällt auf, sondern auch die Dominanz eines Zentralthemas, nämlich der sozialen Ordnung. ‚Sozial‘ ist hier wieder weit zu verstehen, d. h. einschließlich einerseits individualethisch aufgegebener Normen, andererseits metaphysischer Garantien jener Ordnung. Mit einem vielzitierten Wort hat Hugo von Hofmannsthal die Komödie als „das erreichte Soziale“ gekennzeichnet.8 Daran anknüpfend charakterisiert Walter Pape die Bedeutung des Geldes in der Aufklärungskomödie als „Symbol des Sozialen“, weil ihm die gesellschaftliche Versöhnung zugemutet wird, die auf individueller Ebene die schlußendliche Heirat aus Liebe verheißt.9 So treffend diese Zuordnung ist – durch Hofmannsthals Akzent auf dem erreichten Sozialen erhält sie einen Anstrich von beruhigter Vollendung und droht die Unruhe vergessen zu machen, die sowohl die Komödie als auch das Geld mitführt. Zwar gewinnt die schlußendlich hergestellte Ordnung in der Komödie des 18. Jahrhunderts an relativem Gewicht gegenüber den vorhergehenden Turbulenzen, und man achtet nun darauf, daß sie ohne Brüche daraus hervorgeht. Doch führt diese Finalisierung der Komödienhandlung weniger eine Befriedigung 5 DWb 4,1,2, Sp. 3816–3821, hier Sp. 3815. Noch bei Adelung ist diese geistliche
6 7 8 9
Bedeutung belegt. Das Zitat entstammt Paul Gerhardts bekanntem Lied „Du meine Seele, singe“ (3. Strophe). Vgl. ebd., Sp. 3815f. Lessing: Minna von Barnhelm III,7 – Werke Bd. 1, S. 655. Ad me ipsum, S. 611. Pape: Symbol des Sozialen, S. 52.
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über ein bereits erreichtes Resultat mit sich als eine epochale Ausrichtung auf zukünftige Ziele. Historisch präziser wäre die Komödie der Aufklärung mithin als Gattung des erwarteten Sozialen zu kennzeichnen. Die Komödien des 17. Jahrhunderts prägt ebenfalls die sichere Erwartung eines guten Endes, wenngleich es hier noch stärker als ‚wiederhergestelltes Soziales‘ gedacht ist. 5. Die Erwartung einer optimalen Sozialordnung beginnt sich im 18. Jahrhundert ebenso auf das Geld und seine Sphäre, den Markt, zu richten. In diesem Punkt – an dem die kulturelle und gesellschaftliche Moderne eine ihrer Initialzündungen erlebt – gipfeln die vielfältigen Bezüge der frühneuzeitlichen Komödie auf Geld und Markt. Zwar wird der Marktglaube als mentaler Kern der modernen Geldwirtschaft in keiner deutschen Komödie explizit propagiert. Doch modelliert die Komödie eben jene Sozialkonstellationen und Geschehenserwartungen, die das marktwirtschaftliche Vertrauen in einen künftigen Interessenausgleich nicht nur trotz, sondern sogar wegen des agonalen Verhaltens aller einzelnen konstitutieren. Abgesehen von den theatralischen Denkmodellen, die wir bei Adam Smith fanden, kommen die Komödie und der Marktglaube einerseits in ihren Harmonie-Erwartungen überein, andererseits in der Unabdingbarkeit normwidrigen Verhaltens: Während die Komödie den ‚Lastern‘ seit jeher einen Entfaltungsraum bot (und zwar wie keine andere Gattung), avancieren sie, in ‚Interessen‘ transformiert, in der marktwirtschaftlichen Theorie zum dynamischen Faktor. Man kann solche Parallelen dahin zuspitzen, daß dem Marktglauben geradezu ein komödisches Muster zugrunde liegt. Denn die Erwartung einer finalen Harmonie trotz amoralischen Verhaltens hat einen weltbildlichen Vorläufer allein in der Handlungsstruktur dieser Gattung. Abgesichtert wurde diese Erwartung durch ein (wie immer säkularisiertes und strukturell sedimentiertes, d. h. nicht mehr expliziertes) Providenzvertrauen. Dies zu berücksichtigen heißt wiederum, einen anderen Ansatz zur historischen Charakterisierung der Marktwirtschaft zu wählen, als er unter dem Stichwort „Selbstregulierung“ neuerdings gerne vertreten wird.10 Denn ein Interpretat, das systemtheoretische Axiome derart rückprojiziert, verfehlt beide Enden des Spannungsbogens, den sowohl die Komödie als auch ein Adam Smith noch im Auge behalten: die individualethische Seite ebenso wie jene systemischen Prämissen christlicher Provenienz, die es mental erst plausibel machten, sich einer ‚Selbstregulierung‘ des Sozialen durch die Wirtschaft anzuvertrauen. 6. Sei es in der Breite der zwischen Komödie und Geld auftretenden Bezüge, sei es in der Zuspitzung auf eine marktwirtschaftliche Mentalität, wie sie am Ende des Untersuchungszeitraums hervortritt: Fragt man nach einem Sozialbereich, dem die Komödie des 17. und 18. Jahrhunderts in einer der 10 So bei Vogl: Kalkül und Leidenschaft, zusammenfassend S. 347.
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Gattungsgeschichtsschreibung förderlichen Weise zugeordnet werden kann, so bietet die Geldsphäre Kontextualisierungschancen wie kein anderer. Überlegen scheint das ‚Geldparadigma‘ insbesondere den in Sozialgeschichten üblichen Zuordnungen der barocken Literatur zum Hof als dem damals erstarkenden Machtzentrum sowie der Aufklärungsliteratur zum Bürgertum als deren Träger- bzw. erst literarisch zu formierender Schicht. Die Vielfalt der Komödienformen des 17. Jahrhunderts vermag das ‚Hofparadigma‘ nämlich ebensowenig zu fassen (während es partiell durchaus zu gebrauchen ist), wie die Komödie des 18. Jahrhunderts mit Bürgerlichkeit hinreichend charakterisiert wäre (denn als Komödie widerstrebt sie bürgerlicher Normierung). Verbunden zeigen sich die Schul-, Literatur- und Wandertruppenkomödien von Masen bis Weise hingegen in der satirischen Darstellung geldfixierten Verhaltens sowie im – nicht immer gelingenden – Bemühen um die Kontrolle monetärer Dynamik (durch Tugend oder die Obrigkeit). Selbst in einer so ‚monarchischen‘ Komödie wie L’Avare beweist sich die Herrscherfigur auf monetärem Feld und fungiert als Garant eines Merkantilisierungsimperativs. Wo die Aufklärungskomödie sodann Sozialgruppenformierung betreibt, buchstabiert sie Bürgerlichkeit als Geschäftsfähigkeit aus. Selbst der durch Gottscheds Reform verstärkte Normdruck ist im Zusammenhang mit der marktwirtschaftlichen Erwartung eines segensreichen Geschehensverlaufs zu sehen, denn beide stellen eine baldige Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse in Aussicht, ersetzen das statische Gesellschaftbild Alteuropas also durch ein progressistisches. Die erwartete gute Zukunft fordert in beiden Fällen Aktivität – und läßt amoralische oder anökonomische Frei- und Spielräume nicht mehr zu. Ökonomisierung in diesem umfassenden Sinne richtet Handlungen auf jeweils nur ein Ziel – Moral- oder Erwerbszwecke – aus. Wo beides zusammenkommt, nämlich im nicht mehr komischen Schauspiel der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, kommt die Aufklärungskomödie folgerichtig an ihre Grenzen, denn hier gibt es keine Freiräume eines interesselosen Lachens mehr. Diese bewahrt sich, wenngleich reduziert, lediglich die Wiener Volkskomödie. Wo sie sich kritisch auf das norddeutsche Aufklärungstheater bezieht, wird zugleich deutlich, daß die moralisierende Reform bereits im 18. Jahrhundert als Ökonomisierung, nämlich als theaterästhetische Sparsamkeit wahrgenommen wurde. 7. Darüber hinaus hat das ‚Geldparadigma‘ den Vorteil, daß es die übliche Teilung des Zeitraums in zwei Epochen mit unterschiedlichen, vermeintlich antagonistischen gesellschaftlichen Potenzen (Hof vs. Bürgertum) vermeidet, denn die weitgehende Konstanz der Institutionen, Motive und Normen der Komödie vermag eine solche Unterteilung kaum zu rechtfertigen. Weltbildliche Kontinuität zeigt sich darüber hinaus in der Fortgeltung christlichmetaphysischer Prämissen, wie sie ausgerechnet die Modellierung von Geld-
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bewegungen in der Komödie dokumentiert. Sind um 1700 Versuche zu verzeichnen, das menschliche Verhalten und dessen Regeln säkular zu konzipieren (Politicus-Ideal), so fußt die optimistischere Anthropologie und Gesellschaftstheorie der mittleren Aufklärung wieder auf Providenzerwartungen, die nun allerdings auf das Diesseits bezogen werden. Nach Ausweis der Komödie kann man lediglich im Sinne solcher Verdiesseitigung von Säkularisierung sprechen, nicht aber in dem Sinne, daß religiöse Denkmuster irrelevant geworden wären. Mit Bezug nicht speziell auf die frühneuzeitliche Komödie, sondern die Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts allgemein hat es kürzlich auch Ingo Stöckmann unternommen, die relative Konstanz über die üblichen Epochengrenzen hinweg zur Geltung zu bringen.11 Stöckmann akzentuiert den gelehrten Charakter der literarischen Kommunikation, mit dem sich die Verhältnisse bis 1750 in der Tat in weitreichender Weise charakterisieren lassen. Ausgerechnet die Komödie fügt sich dem ‚Gelehrtenparadigma‘ jedoch nur ausnahmsweise (so Gryphius’ Horribilicribrifax). Zugriffe der Gelehrten hatten wir immer wieder zu berücksichtigen, sei es im Schultheater, sei es in der Gottschedschen Reform; da sie zunehmend als Widerstand gegen das dynamische Moment der Gattungsentwicklung, den Marktbezug, auftraten, eignet sich Gelehrsamkeit jedoch wenig als komödiengeschichtliche Leitkategorie. 8. Ein weiterer und für das theoretisch-methodische Profil der hier umrissenen Komödiengeschichte entscheidender Vorteil des ‚Geldparadigmas‘ ist, daß es seinen außerliterarischen, historischen Bezugspunkt unmittelbar mit gattungstypischen Formen zu relationieren erlaubt. Mit dem Geld und dessen Einsatz auf dem Markt läßt sich die Komödie bereits in ihrer Handlungsstruktur sowie in ihren ‚täuschenden‘ Repräsentationen von Tauschverhältnissen korrelieren. Dies ermöglicht es, eine Geschichte literarischer Texte nicht nur in der Hinsicht zu erstellen, daß diese fortlaufend, aber je für sich auf einen unabhängig davon rekonstruierten oder vorausgesetzten außerliterarischen historischen Prozeß bezogen werden (‚Literatur in der Geschichte‘). Die Geschichte, die hier geschrieben wurde, vollzieht sich vielmehr wesentlich in den Strukturen der Komödie, denn deren Homologie mit den Funktionen des Geldes bindet Text- und Kontextgeschichte innerliterarisch aneinander. Damit bietet sich die Chance, eine (gattungsspezifizierte) ‚Geschichte der Literatur‘ im präzisen Sinne des Wortes zu gewinnen. Als historisch signifikant erwies sich jene Strukturhomologie vor allem dort, wo die komödische Form einen Entwicklungsstand geldwirtschaftlicher Mentalität dokumentierte, der auf der motivischen oder normativen Ebene nicht zum Ausdruck kam oder sogar abgewehrt wurde. Sei es ein merkanti11 Vgl. Stöckmann: Vor der Literatur.
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listischer Zirkulationsimperativ (bei Masen), eine Handlungskompetenz jenseits ständischer Schranken (bei Weise), der gute Ausgang verwickelster Interessenkonflikte (bei Krüger) oder die Unterstützung einer Wagementalität durch das Vertrauen in einen solchen Ausgang (bei Lessing): es ist stets die Handlungsstruktur, in der die Komödie als literarische Parallele zur entstehenden Marktgesellschaft kenntlich wird. Als strukturhomolog zur zunehmenden marktwirtschaftlichen Vernetzung und Verdichtung lassen sich zudem der Konsequenzgewinn der dramatischen Handlung sowie die Kappung direkter Umweltreferenzen und der Aufbau einer eigenen Illusionssphäre im Zuge der Gottschedschen Reform begreifen. Hinzu kommt die Entsinnlichung, die sowohl die ‚Reinigung‘ und Verminderung der Bühnenkomik (etwa bei Borkenstein) als auch die Abstrahierung des geldwirtschaftlichen Marktes von face-to-face-Geschäften charakterisiert. Aber auch wo die Komödie geldwirtschaftliche Zwänge abweist (wie in den spielbetonten, Normativität aushebelnden Stücken Reuters oder Hafners), findet diese Haltung formalen Niederschlag, nämlich in konsequenzverminderten, ‚dominant paradigmatischen‘ Handlungsstrukturen. 9. Die tragende Bedeutung des Strukturellen, Formalen, Ästhetischen gerade für eine sozial- und kulturgeschichtliche Betrachtung der Gattung kommt ebenso in den unterschiedlichen Anteilen zum Ausdruck, welche die drei Konstituenten der Komödie, die hier der Gliederung dienten, am Austausch der Gattung mit der Geldsphäre haben. Einer Merkantilisierung am unzugänglichsten erwies sich die Zentralfigur. Zunächst moralisch abgewertet und häufig mit antisemitischen Klischees verbunden, wurde der epochentypische ‚Agent des Geldes‘, der Kaufmann, auch nach seiner gesellschaftstheoretischen Aufwertung keine prominente Komödienfigur. Denn nach erfolgter Aufwertung mochte man den Gattungszweck, ein mehr oder weniger satirisches Lachen, an ihm nicht mehr erfüllen. Je mehr Bühnenpräsenz er gewann, desto stärker traten zudem die generischen Gefahren einer affirmativen Hinwendung der Gattung zum Geschäftsleben hervor, denn damit mutierte die Komödie zum Rührstück. Shakespeares Antonio findet im deutschen Drama erst in Nathan eine Entsprechung, also in einem Schauspiel mit komödischen Handlungsstrukturen, aber (fast) ohne Komik. Weit deutlicher wird das Vordringen des Marktes durch die Entwicklung des Geizmotivs bezeugt, besonders durch die zirkulationsorientierten Handlungsstrukturen der Stücke sowie deren rationalisierte Ästhetik, die ‚anökonomischen‘ theatralen Aufwand zunehmend beschneidet. Da sie mit ethischen oder religiösen Normen operiert, führt die Geizkritik (auch in der Komödie) einerseits eine prinzipielle Reserve gegen die Geldsphäre mit; vor allem das ‚Haus‘ der alteuropäischen Ökonomik wird regelmäßig gegen den Markt ausgespielt. Andererseits fordert die Verurteilung des Hortens zum Geldeinsatz
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auf, z. T. in unmittelbar merkantilistischer Manier. Den Wandel der expliziten Normierungen, mit denen die komödische Geizkritik arbeitet, kennzeichnet parallel dazu ein fortschreitender Verzicht auf religiöse Beurteilungskriterien. Daß dieser Verzicht mehr die Oberfläche der explizierten Normen als die Tiefenstruktur von Geschehenserwartungen betraf, stellt indessen der Verlauf der Spiele klar, die die Komödie ums Geld veranstaltet. Die Spiele der Figuren dienen zwar häufig der strategischen Selbstermächtigung oder wollen einfach gewagt sein (so daß ihre Mutwilligkeit noch die Risikobereitschaft des Shakespeareschen Kaufmanns übertrifft). Unterfangen sind sie jedoch von einer Geschehensstruktur providentieller Erfüllung. In dieser systemischen Dimension der Stücke findet die ‚Erwartung des Sozialen‘, die Komödie und Marktwirtschaft verbindet, den prägnantesten Ausdruck. Den Agenten des Geldes mißt die Komödie dagegen weniger Bedeutung zu – zwar nicht in Abstimmung, aber im Einklang mit der Einsicht der Theoretiker des modernen Marktes, daß nicht die geschäftliche Souveränität einzelner und die ‚politische‘ Fähigkeit, „schnell und [...] leicht [...] ganze Reihen von Dingen und Begebenheiten mit einem Blicke [zu] übersehen“,12 die Ökonomie bestimmen, sondern die Mechanismen des Ganzen. Wie gesagt, geben viele Komödien nicht nur in motivischer Hinsicht ein ‚Schau-Spiel des Geldes‘. Speziell ihre Spielmomente bringen vielmehr zur Anschauung, welche Erwartungen sich zunehmend auf das Geld und die Marktwirtschaft richteten. 10. Als günstiger Ansatz der Komödiengeschichtsschreibung erweist sich das ‚Geldparadigma‘ schließlich deswegen, weil es die Gattung nicht in den Dienst einer historischen Macht, sondern teils in Relation zu ihr, teils ihr gegenüberstellt. Die – ohnehin nicht einsträngige – Entwicklung der Komödie im 17. und 18. Jahrhundert geht in der Beförderung einer marktwirtschaftlichen Mentalität nicht auf. Während die epochale Tendenz zur ökonomistischen Rationalisierung und Disziplinierung insgesamt auch die Komödie erfaßt, deutet sich eine Disposition der Figuren zu gewinnmaximierendem Handeln allenfalls gelegentlich und zaghaft an. Der vitalste, wenngleich zunehmend isolierte Strang der Gattungstradition, das Wiener Volkstheater, lebt geradezu von der Verweigerung ökonomischer Vernunft – wobei es in theaterwirtschaftlicher Hinsicht eben davon profitiert! 12 Die Fähigkeiten des Politicus reklamiert Christian August Büsch noch 1799 für den
Kaufmann: „Wie schnell und wie leicht lernt er ganze Reihen von Dingen und Begebenheiten mit einem Blicke übersehen! Wie richtig weiß er den Punkt zu treffen, worauf alles dabey ankömmt! Wie deutlich weiß er die verwickelste Sache auseinander zu setzen! Wie viele Zufälle und Veränderungen der Dinge sieht er nicht voraus; wie viele bringt er bey seinen Entwürfen und Unternehmungen mit in Anschlag, die den Unwissenden oder den Ungeübten befremden, und in ein blödsinniges Erstaunen setzen.“ (Moral für Kaufleute, S. 3f.)
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Als strukturelle, also nicht ‚nur‘ normative Differenz ist weiterhin festzuhalten, daß sich die Komödie das progressistisch-expansive Denken der modernen Marktwirtschaft insofern nicht zu eigen macht, als der gattungstypische matrimoniale Abschluß der zuvor entfalteten Dynamik ein Ende setzt. Reflektiert wird diese Diskrepanz bereits in einer der hier besprochenen Komödien: Die ironische Abwandlung des Heiratsfinales in Minna von Barnhelm macht mit den strukturellen Mitteln der Komödie deutlich, daß die spielerische Dynamik der Gattung überholt wird von einer gesellschaftlichen Dynamik, die keine Stillstellung mehr verträgt. (Im 19. und 20. Jahrhundert erwächst daraus sogar eine prinzipielle Opposition zum Progressismus des modernen Marktglaubens, die in einer Mischung von komödischer Kritik an der Scheinhaftig- und Heillosigkeit der ökonomischen Betriebsamkeit und deren faszinierter Affirmation ausgespielt wird.13) Hinsichtlich der ludischen Turbulenzen der Komödie kommt hinzu, daß sie sich zwar unter dem Vorzeichen eines guten Ausgangs vollziehen, zugleich aber jene Vorausplanbarkeit der Zukunft konterkarieren, auf der das marktwirtschaftliche Vertrauen ins Geld beruht. Wo das Ludische hingegen minimiert wird, um ökonomischer Rationalisierung stattzugeben, tendiert die Komödie zur generischen Selbstaufhebung. Insofern marktwirtschaftliches Handeln Disziplin erfordert, verengt die Durchsetzung einer entsprechenden Mentalität die Spielräume der Komödie, weil sie die Welt aufs Diesseits reduziert, von den Figuren wie vom Zuschauer normgerechtes Verhalten fordert und das schauspielerische Ausdrucksspektrum beschneidet. Weniger auf identische Verhaltens-, Norm-, Geschehens- und Gesellschaftskonzeptionen in Komödienwelt und Geldwirtschaft als auf deren Interferenzen richtete sich daher unser Interesse. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums sind die Überschneidungen zwischen komödischen Geld-Inszenierungen und sozialpragmatischen Leitbildern noch weitgehend vorgegeben durch die Ungeschiedenheit ethischer, wirtschaftlicher und religiöser Gesichtspunkte in der alteuropäischen Ökonomik. Diese gemeinsame Basis erodiert im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Doch bleiben Komödie und Geldwirtschaft im Austausch. Nicht identische Normen liegen ihnen nun zugrunde, aber sie konstituieren sich durch Handlungs- und Geschehensverlaufsmodelle, die dem jeweils anderen entstammen. 11. „Wo der Markt beginnt, da beginnt auch der Lärm der grossen Schauspieler“, notierte Nietzsche – und meinte damit die Ersetzung von Repräsentation durch Performanz: „Er [der Schauspieler] glaubt immer an Das, womit er 13 Als in diese Richtung zielende Fallstudien vgl. Greiner: Die Komödie, S. 311–323
(über Hauptmanns Biberpelz) sowie Schönert: Tausch und Täuschung (über Wedekinds Marquis von Keith, der zwar nicht als Komödie firmiert, aber weitgehend in der Komödientradition steht).
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am stärksten glauben macht“.14 Ein solch prinzipieller Relativismus, wie er wenig später von Georg Simmel zu einer Philosophie des Geldes ausgebaut wurde, zeichnet sich in den frühneuzeitlichen ‚Schau-Spielen des Geldes‘ lediglich stellenweise ab. Auf den Glauben, der dem Geld entgegengebracht wird, ist die Komödie gleichwohl innigst, nämlich im Prozeß seiner Entwicklung, bezogen: In der marktwirtschaftlichen Moderne meint jener Glaube nicht nur das Vertrauen in das Wertversprechen des Geldes (als Glaube an dessen Geltung), sondern darüber hinaus die Erwartung einer beständigen Vermehrung der (Geld-)Werte. Die Marktwirtschaft funktioniert, wie Nietzsches Schauspieler, nach dem Performanzprinzip: Der Glaube ermöglicht seine eigene Erfüllung. Die Komödie stellt diesen Glauben wohl nicht dar (sie repräsentiert ihn nicht). Als finalharmonisches Spiel ums Geld ‚macht‘ sie jedoch durchaus im Sinne der Marktwirtschaft ‚glauben‘, d. h. ihre spielerische Performanz kongruiert mit der ökonomischen Performanz des Marktes.
14 Also sprach Zarathustra – KSA 4, S. 65.
Literaturverzeichnis Das Literaturverzeichnis gliedert sich in: Quellen Texte (dramatisch) Kontexte (historisch, ökonomisch, philosophisch, poetologisch) Darstellungen In den Anmerkungen wird grundsätzlich nur mit Verfassernamen und Kurztitel zitiert. Beiträge in Sammelbänden werden in der Bibliographie nicht einzeln aufgeführt, sondern mit dem vollständigen Aufsatztitel sowie dem Titel des Bandes in den Anmerkungen notiert (es sei denn, es wurde nur ein Beitrag eines Bandes benutzt). Die vollständige Titelaufnahme des Bandes findet sich dann – wie alle Kurztitel – in der Bibliographie. Siglen und Abkürzungen AW DVjs DWb EHS es GG GS HWPh IASL KA KSA LThK LY MEGA NA RGG RLW RUB stw TRE UTB
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525 einem Aufzuge. Texte u. Materialien zur Interpretation bes. von Wolfgang Hecht. Berlin: de Gruyter 1962 (Komedia. 1). Gryphius, Andreas: Horribilicribrifax Teutsch. Scherzspiel. Hrsg. von Gerhard Dünnhaupt. Stuttgart: Reclam 1981 (RUB. 688). – Dramen. Hrsg. von Eberhard Mannack. Frankfurt/Main: Dt. Klassiker-Vlg. 1991 (Bibliothek der frühen Neuzeit. 2. Abt. 3; Bibliothek dt. Klassiker. 67). Hafner, Philipp: Gesammelte Werke. Eingel. u. hrsg. von Ernst Baum. Bd. 1–2. Wien: Vlg. d. Literar. Vereins 1914–15 (Schriften des Literar. Vereins in Wien. 19, 21). – Komödien. Hrsg. u. mit e. Nachw. von Johann Sonnleitner. Wien: Lehner 2001 (Texte u. Studien zur österreich. Literatur- u. Kulturgesch. 1). Heinrich Julius von Braunschweig: Schauspiele. Nach alten Drucken u. Hss. hrsg. von Wilhelm Ludwig Holland. Stuttgart: Hiersemann 1855 (Bibl. d. litt. Vereins. 36). – Tragica Comoedia. Von einem Wirthe oder Gastgeber (1594). Hrsg., übers. u. mit e. Nachw. vers. von Herbert Blume. Braunschweig 1996 (Schriften d. lit. Vereins Braunschweig. 44). Holberg, Ludwig von: Dänische Schaubühne. Die vorzüglichsten Komödien des Freiherrn Ludwig von Holberg. In den ältesten deutschen Übersetzungen mit Einl.n u. Anm.n neu hrsg. von Julius Hoffory u. Paul Schlenther. Bd. 1–2. Berlin: Reimer 1888. Krüger, Johann Christian: Die Geistlichen auf dem Lande und Die Candidaten. Faksimiledr. nach d. Ausg. von 1743 und 1748. Mit einem Nachwort von Jürgen Jacobs. Stuttgart: Metzler 1970 (Dt. Neudrucke. Reihe Aufklärung). – Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von David G. John. Tübingen: Niemeyer 1986 (Neudrucke dt. Literaturwerke. N. F. 37). Lesage, Alain-René: Théâtre. Turcaret, Crispin rival son maître, La Tontine. Avec préface, notice bibliographique et notes par Maurice Bardon. Paris: Garnier 1960. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke 1767–1769. Hrsg. von Klaus Bohnen. Frankfurt/ Main: Dt. Klassiker Vlg. 1985 (Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. 6; Bibliothek dt. Klassiker. 6). – Werke. In Zus.arb. mit Karl Eibl hrsg. von Herbert G. Göpfert. Bd. 1–8. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1996. Lessing, Karl Gotthelf: Schauspiele. Bd. 2. Berlin: Voß 1780. Masen, Jacob: Palæstra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica. Pars III. & ultima, qvae complectitur Poesin Comicam, Tragicam, Comico-Tragicam. [...] Nova Editio. Priori longè correctior. Coloniae Agrippinæ: Hermann Demen 1683. Molière [d. i. Jean-Baptiste Poquelin]: L’Avare. Comédie en cinq actes. Der Geizige. Komödie in fünf Aufzügen. Frz./dt. Übers. u. hrsg. von Hartmut Stenzel. Stuttgart: Reclam 1984 (RUB. 8040). – Œuvres complètes. Hrsg. [...] von Georges Couton. Bd. 1–2. Paris: Gallimard 1988 (Bibliothèque de la Pléiade). Pfeffel, Gottlieb Konrad: Der Kaufmann oder Die vergoltene Wohlthat. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Aus dem Französischen übersetzt. – In: [ders. (Hrsg.):] Theatralische Belustigungen. Nach Französischen Mustern. Vierte Sammlung. Frankfurt/Main, Leipzig: Garbe 1770, S. 257–356.
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528 Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. [Hrsg. von Erich Trunz unter Mitw. von Stuart Atkins (u. a.).] München: Dt. Tb. Vlg. 1988. Gottsched, Johann Christoph: Akademische Vorlesung über die Frage: Ob man in theatralischen Gedichten allezeit die Tugend als belohnt, und das Laster als bestrafet vorstellen müsse? – In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1 (1751), S. 391–405 u. 486–496. – Ausgewählte Werke. Hrsg. von Joachim Birke u. P. M. Mitchell. Bd. 1–11 (in 22). Berlin, New York: de Gruyter 1968–83 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts). [–] Der Biedermann. Faksimiledruck der Original-Ausgabe Leipzig 1727–1729 mit einem Nachwort und Erläuterungen hrsg. von Wolfgang Martens. Stuttgart: Metzler 1975 (Dt. Neudrucke. Reihe Aufklärung). Gracián, Balthasar: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Aus dessen Werken gezogen von D. Vincencio Juan de Lastanosa u. a. d. span. Orig. treu u. sorgfältig übers. von Arthur Schopenhauer. Mit e. Nachw. hrsg. von Arthur Hübscher. Stuttgart: Reclam 1990 (RUB. 2771). Grimberg, Michel: Die Rezeption der französischen Komödie. Ein Korpus von Übersetzervorreden (1694–1802). Bern [u. a.]: Lang 1998 (Contacts. Sér. 2: Gallo-germanica. 24). Gryphius, Andreas: Dissertationes funebres Oder Leich-Abdanckungen / Bey Unterschiedlichen hoch- und ansehnlichen Leich-Begängnüssen gehalten [...]. Leipzig: Hahnen 1667. – Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Hrsg. von Marian Szyrocki u. Hugh Powell. Bd. 1: Sonette. Tübingen: Niemeyer 1963 (Neudrucke dt. Literaturwerke. N. F. 9). Gundling, Nic[olaus] Hier[onymus]: Ausführlicher und mit Illustren Exempeln aus der Historie und Staaten Notiz erläuterter Discovrs über [...] Die Politic. Frankfurt/Main, Leipzig 1733. Harsdörffer, Georg Philipp: Frauenzimmer Gesprächspiele. Hrsg. von Irmgard Böttcher. T. 1–4. Tübingen: Niemeyer 1968 (Dt. Neudrucke. Reihe Barock. 16). – Poetischer Trichter. Nürnberg 1648–53. ND Darmstadt: Wiss. Buchges. 1969. Hobbes, Thomas: Leviathan. Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates. Hrsg. u. eingel. von Iring Fetscher. Neuwied, Berlin: Luchterhand 1966 (Politica. 22). Hörnigk, P[hilipp] W[ilhelm] von: Österreich über alles, wann es nur will (1684). Hrsg. von August Skalweit. Frankfurt/Main: Klostermann 1948 (Sozialökonomische Texte. 12/13). Hofmannsthal, Hugo von: Ad me ipsum. – In: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hrsg. von Bernd Schoeller in Ber. mit Rudolf Hirsch. Bd. 10. Frankfurt/Main: S. Fischer 1980, S. 597–627. The Holy Bible. The Authorized of King James Version of 1611 now reprinted with the Apokryphia. Vol. 1–3. London: The Nonesuch Press; New York: Random 1983.
529 The Holy Scriptures of the Olde and Newe Testamente; with the Apokryphia. Faithfully trandlated from the Hebrew and Greek by Myles Coverdale. 1535. 2nd modern Ed. London: Bagster o. J. Hoock, Jochen, Pierre Jeannin (Hrsg.): Ars Mercatoria. Handbücher und Traktate für den Gebrauch des Kaufmanns, 1470–1820. Manuels et traités á l’usage des marchands, 1470–1820. Eine analytische Bibliographie in 6 Bänden. Bd. 2: 1600– 1700. Paderborn: Schöningh 1993. Jean Paul: Werke. Auswahl in acht Teilen. T. 7: Vorschule der Ästhetik. Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule. Hrsg. von Eduard Behrend. Berlin [u. a.]: Bong o. J. Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 1–6. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1963–64. Kindermann, Balthasar: Der Deutsche Poet. Nachdr. d. Ausg. Wittenberg 1664. Hildesheim, New York: Olms 1973. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Theodicee, d. i., Versuch von der Güte Gottes, Freyheit des Menschen, und von dem Ursprunge des Bösen. 5. durchgeh. verbess. Aufl. mit neuen Zusätzen u. Anm.n von Johann Christoph Gottsched. Hannover, Leipzig: Förster 1763. Lipsius, Justus: Von der Bestendigkeit [De constantia]. Faks.dr. d. dt. Übers. d. Andreas Viritius nach d. zweiten Aufl. von c. 1601 mit d. wichtigsten Lesarten d. ersten Aufl. von 1599. Hrsg. von Leonard Forster. Stuttgart: Metzler 1965 (Slg. Metzler. 45). Ludwig XIV.: Memoiren. Basel, Leipzig: Kompaß 1931. Luther, Martin: Werke. Kritische Ausgabe. Abt. 1–4. Weimar: Böhlau 1883ff. Mandeville, Bernard: The Fable of the Bees: Or, Private Vices, Publick Benefits. With a Commentary, Critical, Historical, and Explanatory by F. B. Kaye. Bd. 1–2. Oxford: Clarendon 1924. Marperger, P[aul] J[acob]: Nothwendig und nützliche Fragen über die Kauffmannschafft. Nachdr. d. Ausg. von 1714. Köln: Bachem 1997 (Schriften zur Geschichte der Betriebswirtschaftslehre. 12/2). – Erste Fortsetzung Seiner so nothwendig als Nützlichen Fragen Uber die Kauffmannschafft. Nachdr. d. Ausg. von 1715. Köln: Bachem 1997 (Schriften zur Geschichte der Betriebswirtschaftslehre. 12/3). – Trifolium Mercantile Aureum oder Dreyfaches Güldenes Klee-Blat der werthen Kauffmannschafft. Nachdr. d. Ausg. Dresden u. Leipzig 1723. Hrsg. von U. A. Michelsen u. K. F. Pott. Mit e. Einf. von Uwe Andreas Michelsen. Darmstadt: Techn. Hochschule 1990. Masen, Jacob: Aurum sapientium, sive ars, sine scelere, & cum virtute, ditescendi. Köln: Friessem 1661; Aurum sapientium, Das ist: Kunst christlich / vnd ohne Sünde Reich zu werden. [...]. Cölln: Friessem 1666. Meier, Georg Friedrich: Theoretische Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt (1744). Reprint Frankfurt/Main: Athenäum 1971. Misselden, Edward: The Circle of Commerce or the Ballance of Trade [1623]. New York: Kelley 1971 (Reprints of Economic Classics).
530 Müller, August Friedrich: Balthasar Gracians Oracul, Das man mit sich führen, und stets bey der Hand haben kan. Das ist: Kunst Regeln der Klugheit, vormahls von Amelot de la Houssay unter dem titel, L’Homme de Cour in Frantzösische, anietzo aber Aus dem Spanischen Original welches durch und durch hinzu gefüget worden, ins Deutsche übersetzet, mit neuen Anmerckungen, von A. Fr. M. In welchen die maximen des Autoris aus den gründen der Sitten-lehre erkläret und beurtheilet werden. Von A. Fr. M. Bd. 1–2. 2. Aufl. Leipzig: Eyssel 1733. Neiner, Johann Valentin: Neu Ausgelegter Curioser Tändel-Marckt der jetzigen Welt in allerhand Waaren und Wahrheiten vorgestellet, aus der Tändler-Butten lustiger Einfäll heraus geklaubt, und mit verschiedenen Realien und Moralien, Geschichten und Gedichten, vielen Merkwürdigkeiten, wie auch poetischen Einfällen und gelehrten Gedancken unterspicket, Darinnen solche Sachen, Welche wohl würdig zu lachen. Ein Werck, welches nicht allein zu einem Haus-Buch sehr nützlich, sondern auch wegen vielfältiger vermischten Biblischen Concepten und SittenLehren vielen Predigern auf denen Cantzlen dienlich. Th. 1–2. Wien: Krauß 1749. [Niessen, Carl (Hrsg.):] Frau Magister Velten verteidigt die Schaubühne. Schriften aus der Kampfzeit des deutschen Nationaltheaters. o. O. 1940. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München: Dt. Tb.vlg.; Berlin, New York: de Gruyter 1999. Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von HansJoachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 1–3. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1999. Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Hrsg. von Cornelius Sommer. Stuttgart: Reclam 1970 (RUB. 8397). Der Patriot. Nach d. Orig.ausg. Hamburg 1724–26 in drei Textbd.n u. e. Kommentarbd. krit. hrsg. von Wolfgang Martens. Berlin: de Gruyter 1969–84 (Ausg.n dt. Lit. d. XV. bis XVIII. Jh.s). Profitlich, Ulrich, in Zus.arb. mit Peter-André Alt, Karl-Heinz Hartmann und Michael Schulte (Hrsg.): Komödientheorie. Texte und Kommentare. Vom Barock bis zur Gegenwart. Reinbek: Rowohlt 1998 (rowohlts enzyklopädie. 55574). Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der PrivatPersonen [...]. 2., verm. Aufl. Berlin: Rüdiger 1730. Rotth, Albrecht Christian: Vollständige Deutsche Poesie 1688. Teilbd. 1–2. Hrsg. von Rosmarie Zeller. Tübingen: Niemeyer 2000 (Dt. Neudrucke. Reihe Barock. 41). Savary, Jacob: Der vollkommene Kauff- und Handels-Mann / Oder Allgemeiner Unterricht Alles / was zum Gewerb und Handlung allerhand beydes Frantzösischer als Außländischer Kauff-Wahren gehört. [...] Genf: Widerhold 1676. Reprograph. Neudr. Frankfurt/Main: Sauer & Auvermann 1968. Schiller, Friedrich: Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen. Fortgef. von Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese. Hrsg. [...] von Norbert Oellers. [Bisher:] Bd. 1–18, 19,1, 20–39,1, 40, 41,1, 42, 5neu. Weimar: Böhlau 1943–2003. Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe. Begr. von Ernst Behler† unter Mitw. von Jean-Jacques Anstett† u. Hans Eichner. Fortgeführt von Andreas Arndt. Bd. 1– 15,1, 16–23. München, Paderborn, Wien: Schöningh 1958–2002.
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Register Die ins Register aufgenommenen Begriffe kommen nicht immer wörtlich auf den angeführten Seiten vor, sondern abstrahieren mitunter vom dort Dargelegten. Namen von Forschern sind, wenn sie im Haupttext stehen, durchweg verzeichnet, aus den Fußnoten dagegen nur dann, wenn ich mich mit ihren Positionen explizit auseinandersetze. Wertvolle Hilfe bei der Erstellung des Registers leistete cand. phil. Antje Roeben. Ablaßkauf 257 Absolutismus 239, 241, 266, 278, 283, 286, 405 abundantia 288 Adel 127, 154, 156, 183, 196, 199, 201, 312, 403 als Stabilitätspol 160 Kredigwürdigkeit als Aufwertung 301 Landleben 204 Adelskritik 197, 200, 402 Adelstheorie 130, 135 Affekte 192, 320, 411f., 418, 420, 433, 442, 451f., 490 bei Mann und Frau 313 durch Affekte zu steuern 411, 491f. erzeugen Dynamik 434 vom Geld geleitet 451 Affektenlehre 410, 416, 453 Agnew, Jean-Christophe 79, 456 Ähnlichkeit (Foucault) 145, 147 Aikin, Judith P. 125 Albert, Claudia 449, 504 Allegorie 135, 146, 147, 250, 255 allegorische Erkenntnis 144 allegorische Figuren 76 Altersvorsorge 314 Amt 160, 471f., 478 Anagnorisis 149, 473, 488 Analogie 42, 137, 145
Angebot und Nachfrage 187, 332, 360 Anthropologie 412, 420 und Gesellschaftstheorie 441 Antisemitismus 110f., s. a. Juden(figuren) Appleby, Joyce O. 102 Aristophanes, Plutus 76 Aristoteles 123, 214, 232, 249, 313 Ästhetik, s. a. Theaterästhetik marktanalytische 187 politische 433 ästhetische Autonomie 499 ästhetische Denkweisen 461 ästhetischer Gesellschaftsentwurf 507 Aufklärung Affinität zur Komödie 51 als Teil der Frühen Neuzeit 10 Aufwandsminimierung 363 dramaturgische 363 August der Starke 402f., 406 Augustinus, Aurelius 232 Ausdifferenzierung, gesellschaftliche 102, 284, 322, 351, 406, 441 bedingt durch Interferenzen zwischen den Sozialbereichen 67 mit autonomem Wirtschaftssystem 65 und Reintegration 38 von Literatur- u. Wirtschaftssphäre 44 Ayrer, Jakob 245
570 Bachtin, Michail 369 Bacon, Francis, Of Usury 87 Bancozettel 214 Banknoten 73 Bankrott 222 Barbeyrac, Jean 378 Barner, Wilfried 304 Barock-Begriff 51 Baudrillard, Jean 26 Bauer 156f., 310f. Becher, Johann Joachim 73, 122 Politische Diskurs 121 Benjamin, Walter 463 Belohnung 13, 110, 129f., 144, 158, 233, 244, 288, 254, 413, 425, 449, 459, 468 für Besitzverachtung 323 Vergeltung, göttliche 415 Beobachtung 416, 455f., 460, 487 im Theater 386, s. a. theatralische B. von Interaktion 30 Undurchschaubarkeit 486, 504 Berechnung 93f., 101f., 167, 203f., 216f., 258, 260, 284, 297, 345, 384f., 453 Bestechung 484 Betrug 115, 134, 147, 171, 173, 185, 307, 378 betrogene Betrüger 308f. Betrugsverdacht gegen das Theater 28 Bewährung, moralische 193 Bewegung 233, 322, 409, 452, s. a. Dynamik als Effekt des komischen Spiels 371 als gesellschaftliches Ideal 157 als ökonomisches Ideal 234 des Geldes 23, 133, 239 des Gemüts 466 durch eine Politicusfigur 434 geometrische Modelle 238, s. a. Kreislauf; Zentralisierung; Zirkulation in der Komödie 24, 242, 325 in der Komödie und des Geldes 238 in der Lebenspraxis 334 merkantile 123 ökonomische 122
tugendregulierte 133 verspricht Wohlstand 241 von Normen 487 vs. Stabilisierung 23, 25 Bibel 87f., 97, 116, 151, 230, 233, 235, 253, 260, 415, 420, 437 Bidermann, Jacob 269, 288, 322, 358 Cenodoxus 146 Jacobus usurarius 247ff., 253f., 256f., 259, 269, 333 Bildung 156, 329 als wahrer Reichtum 159 Bildungsbürger 190 Bloch, Ernst 243 Blümel, Christoph 121, 125, 158 als Schauspieler 106 Der Jude von Venetien 105–120, 149, 161, 179f., 208, 266, 357 verglichen mit The Merchant of Venice 108, 113 Blumenberg, Hans 459 Bock, Johann Christian 219 Bodin, Jean 71, 72 Boisrobert, François Le Métel de, La Belle Plaideuse 269 Borjans-Heuser, Peter 345 Borkenstein, Hinrich, Der Bookesbeutel 174, 237, 327–346, 355, 359– 362, 370, 372, 391 Bornscheuer, Lothar 4f., 8 Börse 173 Bourdieu, Pierre 46 Brautwahl 328, 330, s. a. Heirat Brecht, Bertolt 138, 497 Bremer Beiträge 177 Buchhaltung, spirituelle 101 Buchmarkt 182 Bürger, Bürgertum 189, 285, 305, 335, 344, 362, 446 als Akkulturationsprodukt 191 Begriff 194 Kultur 191 bürgerlich-adlige Mischehen 274 bürgerliche Gesellschaft 189 Bürgerliches Trauerspiel 210, 221
571 Caillois, Roger 375, 380 Calderón de la Barca, Pedro, El gran mercado del mundo 143 Calvinismus 101, 452 Campe, Rüdiger 384, 450 Cantillon, Richard 494 Catholy, Eckehard 55 Certeau, Michel de 389 Chrematistik 89, 236 christliche Geldmetaphorik 97, 258, 322 Coëllo, Antonio 500 Colbert, Jean-Baptiste 270f., 281ff., 288 Commedia dell’arte 59, 105, 174, 208, 218, 352, 474, 498 comoedia, Begriff 248 Contzen, Adam 232, 261 Cordie, Ansgar 402, 406 Damlos-Kinzel, Christiane 89 Dampierre de La Salle, Picot, Le Bienfait rendu, ou le négociant 209 Dauer 282, 318, 414f., 469, 505 Davis, Natalie Zemon 215 decorum 335 Deismus 452 Demonstrativkonsum 359 Derrida, Jacques 63, 89 Destouches, Philippe Néricault 425, 427, 431 deus ex machina 276ff., 436, 497 Deutschmann, Christoph 462 Diderot, Denis, Le Père de famille 221 Dienerfigur 250, 353, 407, 428, 505, s. a. Hanswurst; Pickelhäring Diskursdifferenzierung 466, s. a. Spezialdiskurs Diskursgeschichte 463 Dissimulation 251, 427, 436, s. a. Simulation; Verstellung Distribution 122, 165, 169 Dramaturgie 117, 138, 205, 251, 254f., 300, 306, 323, 367, 398, 406, 442, 485, s. a. deus ex machina, Figurenkonstellation; Intrige; Handlungsstruktur, komödische
entpragmatisierte Handlung 397 exempeldidaktische 341 modus tollens 487 Verdichtung parallel zur sozioökonomischen Vernetzung 291 Droysen, Johann Gustav 506 Dynamik 12, 168, 191, 195, 210, 217, 222f., 334, 370, 389, 391, 418, 422, 432, 503, 506 der Geldwirtschaft 212 der modernen Poesie 470 der theatralen Aktion 360 durch Konkurrenz 5 geschichtliche 509 literaturgeschichtliche 352 Eder, Jürgen 217 Ehe als Vertrag 198 materielle Basis 318 Ehre 484f., 491, 495 und Geld 494 Ehrgeiz 164, 315 Ehrlichkeit 395f., 429 Eibl, Karl 191, 351, 487 Eigenliebe 419, 453 Eigennutz 419, 428f. harmonistische Deutung 452 Einheitskonzepte 18 Einkleidungsästhetik 193, 202 Elias, Norbert 117 Empfindsamkeit 217, 333, 428, 445, 464 Endinger Judenspiel 40 englische Wanderkomödianten 105 Enzensberger, Christian 84, 85 Epochenbegriffe 52 Erbe, Erbschaft 204, 306–310, 316–320, 328, 331f., 334, 424f., 435, 445 Enterbung 435 Erfahrung 250, 431 Erkenntnis 93, 134, 147 allegorische 144 als moralische Frage 147 Erpressung 435 Ertrag, abgekoppelt von Investitionen 89
572 Ethik 411, 414, s. a. Geldethik intellektualistische 413 Exposition, verzögerte 487 Eyb, Albrecht von 245 Familie 214, 235 als Muster soz. Beziehungen 12, 222 Delegitimierung 338 Farce 290 Feudalabgaben 310f. Fick, Monika 502 Fiederer, Margrit 58, 217, 327, 464 Figurenkonstellation 11, 212, 328, 441 Gegenspieler 127, 194, 210, 253, 273, 334, 383, 395, 427 kommentiert die Geldwirtschaft 247 symmetrische 109 Fiktion der sich die Wirklichkeit anpaßt 502 praktische 460 Finanzpächter 207 Finanztermini (Minna von Barnhelm) 486 Fischer-Lichte, Erika 145 Fleiß 156 Fohrmann, Jürgen 34 Fortschritt 352 Foucault, Michel 35, 42, 145f. französische Komödie in Deutschland 289 Vorbildlichkeit 59 Frauenbild/rolle 203, 323, s. a. Geschlechterrollen Frauenfigur 319, 444 lenkt die Handlung 320, 324 Freigebigkeit 255 als Tugend der Könige 279 führt an den Rand d. Gesellschaft 288 Freiheit 92, 332, 377, 381, 383, 410, 437, 458, 465 Normfreiheit 361 Freundschaft 87, 213 vorteilhafte 214 Friederici, Hans 172 Friedrich der Große 182, 481 Friedtlieb, Christian Warner 140
Frühaufklärung 216, 241, 342, 412, 419, 432 normative Offenheit 333 Frühe Neuzeit Import lebenweltlicher Theatralität ins Drama 42 Periodisierung 10 Frühkapitalismus 101 Fuchs, Gottlieb 362 Fugger 73 Führung, göttliche 159 funktionale Differenzierung der Gesellschaft 6, 19, 30, 38, 64f., 67, 102, 205f., 351, 406, 514 Funktionalismus vs. Substantialismus 19, 286 Fürst 239, 437, s. a. König als Ersatzgott 286 als Zentrum 119, 121 dt. im Vergleich zu Frankreich 305 Finanzverwaltung 240 Geldbedarf 73 Kasse 74 Profit vom Geldumlauf 240 und Stände 130 Zentralisierungsanspruch 240 Gabe 11f., 60, 119, 166, 209, 213, 215, 223, 415 als allgemeine Norm 91, 93, 203, 213, 215, 217 als dynamisches Prinzip 218 als Moderierung d. Nutzenkalküls 217 Arbeitgeber 214 christliche Begründung 99 im Recht 95 ohne Gegengabe 288 Poetik der G. 216 theologische 98 und Gegengabe 89, 92 und Markt 216f. unmögliche G. (Derrida) 89 vs. Opfer 97 vs. Tausch 89f. vs. Vertrag 92
573 galanter Liebhaber 318 ‚ganzes Haus‘ 312, 235, 318, s. a. Ökonomik Säkularisierung 321 Garve, Christian 469 Garzoni, Tomaso 26ff., 117 Gasthaus 483 als Markt im kleinen 395 Gattungen als historische Familien 57 als semantische Konzentrate 14 Geschichtlichkeit 56 in der Literaturgeschichtsschreibung 55f. prägen sozial-ökonom. Konzepte 20 unterscheiden literarische Texte von ihren Kontexten 50 Gattungsgeschichte der Komödie heterogene Anfänge 53 Inkohärenz 52 Kontinuität 53 Gattungssystem 220f., 224 Gattungstheorie 22 strukturalistischer vs. historischer Ansatz 57 Gay, John, The Beggar’s Opera 173 Gebrauch vs. Gewinnstreben 236 Gebrauchswert 73, 136 Gegenseitigkeit 419f. Geitner, Ursula 387 Der Geitzige (anon. Übers. von Molière, L’Avare) 291, 296, 298, 300ff., Geiz 61, 77, 164, 171, 229–234, 236, 307, 337, 343, 354, 421 als ästhetisches Problem 234 als dramaturgisches Problem 356 als Investitionsfeindschaft 272 als Komödienmotiv 229 Funktionswandel 359 Begriff 248 Habsucht vs. Sparsamkeit 230 im Umgang mit Komik 363 in Vernunftgebrauch und „guter Lebensart“ 329
intellektueller 234 komische Effekte 355 Lebensfeindlichkeit 355 metaphorisch 234 soziale Folgen 268 Unnatürlichkeit 243 verwechselt Zweck und Mittel 229 volkswirtschaftlicher Nutzen 422 vs. Gott(vertrauen) 230, 249 vs. Liebe 244 Geiziger 327, 443 geiziger Alter 253 Gottferne 313 Komik 265 Mißtrauen 251 Geizkomödie 355 im 18. Jahrhundert 327 Geizkritik 519 ökonomische 232 Säkularisierung 272 satirisch 298 Geizmotiv, Marginalisierung 356 Geld Anlage in Landbesitz 272 als ‚absolutes Mittel‘ 281 als Handlungsmotiv 353 als Instrument der Klugheit 418 als Kontingenzfaktor 355 als Metapher 239, 258f., 299, 335, 494 für den Blutkreislauf 239f. als Prüfstein der Tugend 222 als Schein 136 als Spielmittel 407 als „Symbol des Sozialen“ (Pape) 515 als Wertbildungsinstrument 75 als Wertmaßstab 145, 287, 494 Bedeutungsspektrum 514 Blut als Metapher dafür 262 dramaturgisches Potential 23, 353, 355 ermöglicht Kuppelei 136 funktional substituiert durch das komödische Spiel 354 funktionale Beglaubigung 286 Funktionsspektrum in der Komödie 81, 514
574 Funktionswandel im Drama 222 Geltung nach d. Materialwert 134, 137 Geltung außerhalb des Wirtschaftssystems 66 Geschäfte mit Geld 443 Heilsversicherungsfunktion 314 im ‚ganzen Haus‘ 236 Indifferenz 124 komisches Potential 23, 205 Möglichkeiten des Gelderwerbs 418 philosophische Bedeutung bei Georg Simmel 29 richtiger Umgang damit 250 beschränkt Handlungsspielräume 359 sichert dem Wirtschaftsystem den funktionellen Primat 66 spezifisch moderne Funktion 63 theologische Sicht 232 totes 87, 249 Unbeständigkeit 160 und Gnade 255 und Gott 101, 451, 461 und Sprache 18f. und Tugend 134, 222 Unfruchtbarkeit 249 vermehrt sich 233 vs. Gott 100, 126, 230, 244, 284, 394, 424 vs. Liebe 274f. zeigt Laster an 255 Zirkulation 72, 435 ‚Geld-Kunst‘ 330, 417 Geld-und-Literatur-Forschung 17ff. geldtheoretische Prämissen 62 kulturwissenschaftliche 80 Geldauffassung immaterielle 74 standesspezifische 155 und Dramenstruktur 248, 255 Geldbewegung, s. Bewegung des Geldes Geld als Subjekt und Objekt 140 Gelddiskurs, moralistischer 300 Geldethik anti-ökonomische 407 christliche 8
Geldtheorien 62 müssen historisiert werden 64 Geldverachtung 159, 161 führt zu Geldgewinn 244 Geldverleih 435, s. a. Kredit, Wucher Geldwirtschaft als Lockerung des Gesellschaftsgefüges 237 Ausblendung in der Komödie 326 im frühneuzeitlichen Deutschland 74 und gesellschaftliche Vernetzung 75 Verurteilung 112 Gelehrte 182, 364, 423, 475, 518 und Fürstendienst 160 Gellert, Christian Fürchtegott 6, 220, 230, 347, 363f., 468, 475, 500 Die Betschwester 328, 448 Das Loos in der Lotterie 174, 439–450, 452, 466, 473 Handlungsstruktur 467 Moralische Vorlesungen 447 Pro comoedia commovente 441 „Wider den Geiz“ 443 Die zärtlichen Schwestern 332 Geltung 9, 18f., 63, 66, 133f., 137, 286, 293, 494 Gemeinnützigkeit 75 Gemeinwohl 419, 454 Gemmingen, Otto Heinrich von, Der deutsche Hausvater 224 Generationenkonflikt 248 Gerhardi, Gerhard C. 21, 271, 275 Gericht 45, 86, 95f., 114, 129, 186, 257, 278, 460 himmlisches 144, 257, 415 Gervinus, Georg Gottfried 33 Geschäft Ausblendung in d. Komödie 173, 311 in der Komödienhandlung 208 semantisches Spektrum 335 und Gnade 102 und Moral 168 Unsicherheit 175 Geschäftigkeit 442 leerlaufende 213
575 Geschäftsfähigkeit 199, 491 Geschäftsmaximen als allgemeine Lebensregeln 168 Geschäftsverleugnung als Geschäft 186 Geschenk 134, 435, 448, s. a. Gabe, Schenken der Vorsehung 449 Nutzen 216 Geschichte 53, 496, 505 Geschichtsoptimismus 458 Geschlechterrollen 92, 119, 131, 217, 313f., 316, 319, 344, 442, 493, s. a. Frau; Mann Geschlossenheit der Komödienhandlung 103f., 122, 137, 253, 291, 324, 356 normative 391 systemische 36, 44, 66, 240 Geselligkeit 167, 191, 213, 331 Gesellschaft egalitäre 193 funktionale Differenzierung 321 funktionsintegrierte 206 optimale Ordnung 453 spielerische Freiräume 393 und Individuum 453 vs. Gemeinschaft 222 wenig monetarisierte 311 Gesellschaftsmodell 312 individualistisch-liberales 337 Gesellschaftsreform 161 Gewinn 87f., 93, 101, 118, 121f., 141f., 236, 259f., 271f., 384, 449f., 466 der guten Tat 11, 233 Maximierung 168, 212, 337, 452ff. Glaube 15, 149f., 231, 257f., 459f., 504, 522 an den Markt 462, 516 als Kapital 258 Glücksspiel 378, 387, 390, 417, 435, s. a. Lotterie als Glückwechsel 383 vs. göttliche Vorsehung 383 Glücksspieler 383, 426
Gnade 95f., 99, 437 als Gabe 101 göttliche 99 und menschliche Aktivität 101 vs. Kalkül 424 Gnadenlehre 449 Gnadenwahl 100 Goethe, Johann Wolfgang 6, 194 Goeze, Johann Melchior 10 Gold 93 als Metapher moralischer Werte 136 als Tugend des Geldes 134 Goldmann, Lucien 25 Goldoni, Carlo 60, 356 I Mercatanti 210, 219 Gott 7, 87f., 90, 95, 99, 101f., 129, 131, 144, 149, 165, 254, 278, 286, 302, 318, 321, 367, 414, 447, s. a. Geld, und Gott/vs. Gott; deus ex machina als Politicus 424, 436 seine Fürsorge 128 und Welt 449 Unverfügbarkeit 100 verflochten mit dem Geld 457 Vertrauen auf Gott 88, 147 Wetten auf Gott 384 wird instrumentalisiert 415 Gottes- und Geldherrschaft, denkstrukturelle Kontinuitäten 459 Gottsched, Johann Christoph 15, 44, 52, 161, 163ff., 168, 177, 182f., 186, 190f., 195, 216, 342, 344, 347ff., 352, 363f., 367, 370f., 412, 414f., 419, 425, 427, 432, 474f., 477 Critische Dichtkunst 191f., 241, 413, 433 Die deutsche Schaubühne 177, 425 Erste Gründe der gesammten Weltweisheit 413f. Kritik an Molière 413 Schauspiel-Rede 193 Der sterbende Cato 180 Theaterreform 180 zielt auf Marktbeherrschung 182
576 Gottsched, Luise Adelgunde Viktorie Das Testament 425 Die Ungleiche Heirath 195–208, 211, 364, 388, 487, 491 Der Verschwender 14, 39, 328, 382f., 425–439, 472, 493 Der Witzling 174–178 Gotzkowsky, Johann Ernst 483 Gracián, Balthasar 115f., 150, 334, 341, 416, 423, 432 Graumannsche Münzreform 183, 484 Greenblatt, Stephen 45 Greff, Joachim 245 Greiner, Bernhard 7, 55 Gretser, Jakob, Timon Comoedia 248 Grimberg, Michel 59, 209, 290 Großmann, Gustav Friedrich Wilhelm, Nicht mehr als sechs Schüsseln 224 Großzügigkeit 213, 218, 223, 482 Gryphius, Andreas 156, 158, 172, 182, 190, 241, 305, 475 Horribilicribrifax 77, 125–151, 155, 160, 176, 180, 193, 196, 203, 231, 242, 358, 367, 426 Verlibtes Gespenste / Die gelibte Dornrose 157 Weltbild seiner Dramen 144f. Gutswirtschaft 310 Hafner, Philipp 351, 353, 476 Mägera, die förchterliche Hexe 350, 355–360, 370, 376 Der förchterlichen Hexe zweyter Theil 359 Haller, Albrecht von, Die Alpen 171 Hand, s. a. unsichtbare Hand Gottes 380, 450 der Vorsicht 507 hand of heaven 87, 450 Handel 72, 74, 121f., 135, 236 als Betrug (verdächtigt) 117, 397, 434 als Distribution 118 als Handlungsmodell 205, 355 als Paradigma aller Wertbildung 28
als Schauspiel 27 als Sozialmodell 214, 419 Ausblendung in der Komödie 112 fiskalischer Nutzen 121, 167 mit Gott 101 Nutzen für alle 163, 202 semantisches Spektrum 335 Überseehandel 72, 87, 270 Handelsgesellschaft 77 Händlerfigur 141, 150, s. a. Kaufmannsfigur; Trödlerfiguren Handlung (im Drama) als Konstituens des Dramas 11 als Struktur 22, s. a. Handlungsstruktur als Verhandlung 195 aus einem Laster entwickelt 247, 254 geschlossene 253, 324 Handlungsverdopplung 486 im Barockdrama 254 ökonomische Motive 310 pragmatische Kohärenz 11, 290, 353 szenische 341 wachsende Konsequenzanforderungen 221 Handlungsmodelle 79, 119, 124, 428, 490 Handlungsmöglichkeiten verengt durch Merkantilität 355 Handlungsnormen 83, 110, 163, 430, 481, s. a. Normen widerstreitende H. in d. Komödie 428 Handlungssouveränität 116, 325, 437 Handlungsstruktur, komödische 307, 356, 397, s. a. Komödienhandlung fabula implexa 254 geschäftsanaloge 337, 345 homolog mit d. Marktgesellschaft 519 merkantile 345 und Handlungsnorm 103, 205 zyklische 103 Hanswurst 357, 371, 390 unendliches Potential 354 Verhältnis zum Geld 354 Harlekin 180, 340 Vertreibung von der Bühne 361
577 Harmonie 240, 454 finale 461 soziale 456 Harsdörffer, Georg Philipp 78, 126 Frauenzimmer Gesprächspiele 406 Hartmann, Horst 78 Harvey, William 239, 263 Haupt- und Staatsaktionen 107 Haus 61, 204, 235f., 307, 315, s. a. ‚ganzes Haus‘ als Modell des Gemeinwesens 260 Ausdifferenzierung von Berufen 447 verkehrte Ordnung 312 Hausfrau 325 Haushaltskasse 316 Hausvater, Hauswirt 169, 314 Position von einer weiblichen Figur besetzt 320 Hecht, Wolfgang 394 Heilsökonomie 257f., 260, 507 Heinrich Julius von Braunschweig 53 Comoedia Von Einem Weibe 77 Tragica Comoedia Von einem Wirthe oder Gastgeber 76 Heirat, Hochzeit 129, 139, 148, 195, 197, 213, 244, 309, 354, 356, 358, 400, 402 als Geschäft 199, 284 als Handel 211, 332 als Stabilisierung 243 am Schluß der Komödie 25, 360 Hindernisse 352 nach Standeszugehörigkeit 140 und Peuplierungspolitik 140 Heiratsmarkt 84, 332 Hempfer, Klaus 21 Herrscherfiguren 266, 402, 403, 497, s. a. Königsfigur Herz 430, 433, 436f., 444, 485, 493 als politisch-ökonom. Metapher 240 Himmel 302, s. a. Hand, hand of heaven Hinck, Walter 55, 243, 393, 472, 485 Hirschman, Albert O. 421, 452 Hobbes, Thomas 240
Hof 130, 238 als Theaterinstitution 363 Höflichkeit 334 Hofmann, Karl Ludwig 180 Hofmannsthal, Hugo von 515 Hoftheater 348, 363 Innsbruck 107 Hohberg, Wolf Helmhard von 236 Holbach, Paul-Antoine Dietrich, Baron d’ 453 Holberg, Ludvig von, Eilfter Junius 173 Homologie 42, 45f., 463, s. a. Strukturh. honnêteté-Ideal 273, 285, 301, 305 Hörisch, Jochen 21, 66, 124, 231, 286, 461 Hörnigk, Philipp Wilhelm von 240 Hubert, Judd 275 Huizinga, Johan 377 Hume, David 494 Iffland, August Wilhelm 221, 363 Illusion, dramatische 28 Illusionsdurchbrechung 44, 361 imaginäre Handlungsräume 364 Immanenz 255f., 323, 331, 515 Immobilität, gesellschaftliche 122 Individualisierung 6 Individuum 464 und Gesellschaft 439 Inflation 483 Institutionenökonomik 458 Integration dramaturgische 291 von Komik, Handlungsstruktur und Geldverständnis 291 von Sozialsphären 285 Interesse 164, 216, 420, 442, 452f., 465f., 468, 471, 474, 501 ästhetisches 469 an der Tugend 220 gesellschaftliches 454 religiöse Bemäntelung 448 vormoderne Ungeschiedenheit persönl. u. wirtschaftl. Interessen 284 vs. Normativität 469
578 Interferenz 3, 37, 47, 57, 67, 299, 521 komische 267 als Wirkung des Geizes 268 metaphorische/begriffliche 91, 386 normative 102, 111, 231, 448 Intrige 172, 175, 205, 250, 254, 321, 386, 397, 407, 427f., 471, 492f., Gegenintrige 252 ums Geld 382 Iser, Wolfgang 377, 380, 385, 488, 505 Jacobs, Jürgen 477 Jagendorf, Zvi 24 Jauß, Hans Robert 56f., 265, 458 Jean Paul [d. i. Friedrich Richter] 18, 32 Jedermannstoff 76 Jenseits 368 Jesuitendramen 195, 367, 379, s. a. Bidermann; Masen Arcumenus sive sua quisque sorte contentus 157 Jesuitentheater 146, 245, 349 Jesus Christus 97 Johann Georg III. von Sachsen 305 Jones, Dorothy F. 278 Juden(figuren) 13, 87f., 96f., 108, 118, 151, 213, 487 als Störer der Ordnung 110 Betrüger 115 Hoffaktoren 111 Pejorisierung 121 Trödler 111 und Wucher 88 Jung, Werner 440 Jünger, Friedrich Georg 505 Justi, Johann Heinrich 465 Kablitz, Andreas 146 Kalkulation 88, 90, 101, 187, 203, 359, 453 Kameralismus 74, 167, 240, 370 Kaminski, Nicola 148 Kant, Immanuel 24, 380, 421, 465, 494 Kapital 82, 190, 204, 270 als Metapher 86
soziales 331 symbolisches 46 Kapitalanlage, Religiosität als 258, 322 Kapitalismus 84, 101, 421, 452 als Religion 462f. Kapitalmarkt 73 Karl V., Kaiser 73 Karneval 369f. vs. zentralisierende Kultur 371 karnevalistischer Freiraum 372 Kartenspiel 115, 379, 426 Kaufmann 8, 60, 153, 157, 160, 322, 341, 504, s. a. merchant adventurer adliges Prestige 204 als ‚Politicus‘ 172, 175 als Gegner der Komödie 77f. als geselliger Mensch 166 als ideales Gesellschaftsglied 163 als Identifikationsfigur 170 als komische Figur 212 als Komödienfigur 75, s. a. Kaufmannsfigur Apologie 163, 166 Aufwertung 211 Ausblendung in der Komödie 112 gesellschaftlicher Nutzen 73 Gewinninteresse 168 im Dienst der Vorsehung 165 in der Ständegesellschaft 77 iudicium 174, 177 kluger 165 in der Literatur der deutschen Aufklärung 171f. Mißtrauen 121 seine Geschäfte 172 typische Eigenschaften 211 und Moralität 163 verabsolutiert sein Geschäft 212 verkennt die wahren Werte 158 vorbildliche Handlungsmaximen 490 vs. Adel 211 kaufmännische Argumentation (Die Ungleiche Heirath) 201 Kaufmannsbild in d. frühnztl. Gesellschaft Ausblendung der Berufspraxis 167f.
579 der Gelehrten 205 der Theologen 73 Kaufmannsfigur 13, 174f., 209, 220, 223f., 249, 257, 323, 434, 519 als ‚Leerstelle‘ der Aufklärungskomödie 170, 176 als Nachrichtenüberbringer 108 als Randfigur 174 Gewinninteresse 210 im Jesuitentheater 76 positive 210 Kindermann, Heinz 25 Kipper und Wipper 293 Kleidung 301 Kleinschmidt, Erich 40 Klugheit 9, 116, 150, 165, 172, 174, 176, 307, 311, 330, 416, 420, 423f., 431, 436ff., 444, 453 Koch, Heinrich Gottfried 180 Kofman, Sarah 90 Komik 44, 50, 173, 222, 340, 357 als Aufdeckung einer ökonomischmentalen Problemlage 269 als Kompensation 371 Bauformen 267, s. a. Interferenz Aneinandervorbei 267 Inkongruenz 267 entlastende Wirkung 372 entsteht in einem Tausch 32 im Dienste moralischer Wertung 131 intertextuelle 365 reduzierte 15, 219 und Satire 269 komische Figur 44, 105, 340, 372, 388, s. a. Harlekin als Opponent der Ordnung 376 am wenigsten ökonomisch 361 Bernardon 352 Hanswurst 352, s. a. dort Kasperl 360 Pickelhäring 105, 108, 155 komische Gegenwelt 388 in der Lebenswelt 406 Unvernunft 390
komisches Spiel, s. a. Komödienspiel als Gegenwelt 375 als Selbstläufer 324 vs. moralischer Satz 202 Komisierung als Kritik einer Wirtschaftspraxis 212, 266 Komödie als Begriff für Schaustellungen aller Art 43 als „das erreichte Soziale“ (Hofmannsthal) 515 als gespielte Literatur 45 als Handlungsmodell 79 als Spielen des Spiels 375 als weltbildliche Modellierung 501f. als Wertbildungsmodell 80 ‚anderweitige Handlung‘ 44 Bauformen 245 Bedeutung ihrer Form 50, 208, 237f., 256, 263, 428 didaktischer Zweck 197, 341 Distanz zur Geldsphäre 207 frühneuzeitliche K. zeitliche Grenze 54 Forschungslage 54 gattungsgeschichtliches Auslaufen ins Schauspiel 224, 496 Geschäftsleben als Thema 208 guter Ausgang 14, 275, 281 garantiert 438 im frühen 18. Jahrhundert 412 in der Barockpoetik 78 italienische 125 konfessionelle Bedingungen 366f. Literarisierung im 18. Jh. 365 motivische Affinität zur Geldsphäre 21 Nathan der Weise als Komödie 13 neulateinische 76 Paradigmatik als Stillstellung 242 dominante 225, 353, 390, 397 Poetik 78f., 124ff., 186f., 192–197, 220, 412, 441, 487 Realitätsbezug 196, 482, 498
580 romantische 365 römische 78, 125 Selbstreflexion 493 Sprache 81 strukturelle Affinität zum Geldwesen 201, 222 syntagmatische Dimension 137, 195, 219, 464, s. a. Komödienhandlung; Handlungsstruktur, komödische Überraschungsprinzip 24 Verhältnis zum Rezipienten 433 Entwicklung vom Schau- zum Reflexionsspiel 488 vs. Moralische Wochenschriften 337 vs. Tragödie 22, 31 Wiener Volkskomödie, s. dort Komödien, ausländische in Deutschland 58, 210, s. a. franz. Komödie Komödienfiguren, s. a. komische Figur lasterhafte 440 Restriktionen bei Gottsched 192 Komödienhandlung als Modell für gesellschaftliches Handeln 235 bewirkt ähnliches wie das Geld 22 erzeugt Bewegung 370 geldpraxishomolog 208 Merkantilisierung durch das komödische Spiel 475 Scheinhaftigkeit 499 vs. explizierte Normen 253, 346, 475 Komödienschluß 25, 243, 277, 360 Komödienspiel 385, s. a. komisches Sp. Enthebbarkeit 222, 224 (Kontext-)Reflexivität 388 als Weltmodell 385 selbstreflexives 500 Komödientypen, Verhältnis zum Markt 371 Komödienzirkel 25, 242 komparatistische Vergleiche 31, 40, 119, 139, 146, 173, 178, 209, 219, 292f., 295–302, 314, 371, 389, 421, 426 Komplexität, Temporalisierung von 506
König 497 fungiert als Vater und Gott 281 Königsfigur 277–283 auf der Systemstelle des Geldes 287 Rex ex machina 277, 497 strukturelle Affinität zum Medium Geld 285 Konkurrenz 5, 178f., 182, 218, 453, 459, 463, 471ff., 513 Konsum 273, 343 Kontingenz 506, s. a. Zufall Konversation als Handel 335 Kord, Susanne 201 Körper 340, 357 Körperkomik 105, 290 Körpermetaphorik 166, 313 Korruption 484 Kotte, Andreas 41 Kotzebue, August von 221, 363 Kredit 82, 86, 173, 218 Asiento 73 Diskontierung 73 Indossament 73 Kreditrecht 74, 85 englisches 85 Kreis 89f., 103f., 214, 239, 251, 256 geschlossener Geld-Kreis 323 Kreislauf 242, 262, 324, 467, s. a. Zirkulation aus Gaben 103 eines Schatzes 325 Immanenzorientierung 323 komisch motiviert 326 Kriegsfinanzierung 483 Kontributionen 482ff. Krüger, Johann Christian 362, 475 Die Candidaten 471–481 Handlungsstruktur 475 Krüger, Johann Gottlob 454 Vorrede vom Gelde 451 Kunstautonomie 351, s. a. ästhetische Autonomie; literarische A. Kurz, Joseph Felix von 351, 356
581 Lachen 24, 410 als Markthandlung 32 sozialer Charakter 237 vs. Verlachen 493 Lächerlichkeit 493 als Störung des Sozialen 269 soziale 340 Lachtheater 353 Larivey, Pierre de, Les Esprits 249 Laster 422 Umformung in Affekte 410 Umwertung 409 Typologie 311, 315 Lastertrilogie 409, 411 und die Temperamente 440 Law, John 494 Lebensversicherung 258 Lebrun, Charles 279 Lehrer, Mark 501 Leibniz, Gottfried Wilhelm 461 Lenz, Jakob Michael Reinhold 54, 372 Lesage, Alain-René, Turcaret 173, 207 Lesedrama 15, 364, 488 Lessing, Gotthold Ephraim 106, 184, 221, 347, 350, 387, 467 Die Erziehung des Menschengeschlechts 506 Der Freygeist 487 Die Juden 487 Der junge Gelehrte 172 Minna von Barnhelm 387f., 481–505 Nathan der Weise 3–15, 125, 146, 166, 171, 213, 218, 415, 460, 490 Ringparabel 3–9, 14f., 488 und Adam Smith 5 Lessing, Karl, Der Bankrot 173, 223f. Liebe 119, 135, 244, 282, 420 Ablösung von ökonomischen Gesichtspunkten 285 als Erkennen von Tugend 127 als Geschäft 83, 133, 141, 395 als Geschenk 91 funktioniert nach Marktmechanismen 360 Geldbedarf Liebender 275
in Harmonie mit dem Geld 318f. Liebessprache 299 Tauschmodell 91 unter Widerrufsvorbehalt 283 unvernünftige vs. vernünftige 411 vs. Geld 300, 354 Lillo, George, The London Merchant 210 Lipsius, Justus 71, 123, 136, 241 List 114, 250, 308, 320, 324, 353 vs. Betrug 115 literarische Autonomie 202, 385 Literatur als Kompaktkommunikation 231 als System 36 ästhetisches Surplus 49 funktionale Parallele zum Geld 18 Leistung im Gelddiskurs 20 Modellbildung für die Gesellschaft 8, 464 problematisierende Potenz 50 und andere soziale Systeme 37 und gesellschaftsstruktur. Wandel 464 und ihre Umwelt 33, 41, 45, 404f. und Normen 122 und Wirtschaft 5 und Wissen 6 Verhältnis zu diskursiven Texten 49 Literaturbegriff 351 Literaturgeschichtsschreibung 34, 347, 349, 351, 517, 518 prozessualisiert ihren Gegenstand 64 Verhältnis von Theorie u. Praxis 35 Literatursatire 176 Lohn 415 Lötscher, Jolanda 136 Lotterie 378, 390 Verhältnis zur Vorsehung 439, 449 ludische Dezentrierung (Nitsch) 389 Ludwig XIV. 71, 238, 265, 270, 277ff., 283, 288, 295, 305 Luhmann, Niklas 35, 37f., 63, 67, 124, 205, 231, 441, 461, 464, 506 Lukian von Samosata 248 Luther, Martin 73, 230, 232 Lüttichau, Georg Ehrenfried von 404
582 Machiavelli, Niccolo 71, 117, 416 Macropedius, Georgius 76 Magdalena, Erzherzogin von Österreich 106 Mandeville, Bernard 454, 466f. The Fable of the Bees 421f., 452 Mann als Herrscher 118 Vorrang vor der Frau 316 Marienverehrung 256 Marivaux, Pierre 362, 431 Markt 39, 60, 102, 186, 371, 471 als Bedingung theatraler Produktion 513, s. a. Theatermarkt als Instrument einer vorgängigen Ordnung 180 als universales Handlungsmodell 332f., 346, 365 Amoralität 142 autonomer 332, 338 Buchmarkt 216 Entstehung eines universellen Marktes 65 Freiheit 332 Gefahren 184 literarischer 177, 468 in der Sicht der Theaterpraktiker 478 makroökonomischer M.begriff 102 „Markt der Welt“ (Gryphius) 143 Mißtrauen gegen den M. 27 obrigkeitliche Kontrolle 179, 186 ohne Regisseur 150 Rationalisierung 345 Spielerlaubnis für den M. 179 systemische Geschlossenheit 66 Täuschung/Verstellung auf dem M.142, 147 und Moral 468 Markt-Mechanik, allokative 339 Marktbeherrschung 182, 478 Marktfeindschaft als Geschäftsfaktor 371 marktförmige Semiose 145 Marktgesellschaft 371, 477 Komplexität 475 mentale Ermöglichung 459
Markthandel als Gesellschaftsmodell (A. Smith) 456 Marktkritik 141, 143 Marktoptimismus als ästhetische Idee 460 komödische Muster 516 Marktteilnehmer 339 Marktvertrauen 186 beruht auf christlichen Mustern in theatralischer Gestaltung 461 Marktwirtschaft 74 Dynamik der M. und Komödienspiel 14, 479 Geschlechterrollen 344 Konkurrenzverhalten 4 mentale Disposition 338 religiöse Absicherung 462 strukturelle Parallelen zum historischen Denken 507f. und Gelehrte 478 Marlowe, Christopher, The Jew of Malta 107 Marperger, Paul Jacob, Trifolium Mercantile Aureum 165 Martini, Fritz 498 Marx, Karl 62, 84f., 463 Marxismus 274, 327 als Geldkritik 64 Masen, Jacob 8, 79, 118, 124, 233, 267, 305, 322, 349, 371 Aurum sapientium 237 Ollaria 77, 157, 247–263, 291, 316, 318, 326, 370, 386, 432 Palæstra Eloquentiæ Ligatæ Dramatica 246 Rusticus imperans 254 Maß, rechtes 423, 426 aurea mediocritas 442 Mäßigung 343 materialistische Interpretation 84 Materialwert 147, s. a. Geld, Geltung nach dem Materialwert Maurer, Arnold E. 219 Maurer, Michael 169 Mauss, Marcel 89
583 May, Johann Friedrich 342 Mazarin, Jules 276f. Mäzenaten 362 Medici, Lorenzino de, Aridosia 249 Mensch als Narr 368 als Wirtschaftsubjekt 237 Mentalität 47, 170 in der Komödie 238 Konservatismus von M.n 430, 479 literarische Inszenierung 48 marktwirtschaftliche 372 ökonomisch-soziale 48, 479 sind explikativen Diskursen vorgelagert 48 merchant adventurer 73, 82, 88 merkantiles Denken 187, 360 Merkantilismus 61, 73f., 233, 262, 270, 282, 287, 435 vs. Geiz 272 Zirkulationsimperativ 238 Metaphern 29, 86, 136, 166, 234, 240, 313, 455, s. a. Geld, als M. für das Geld 97, 258, 322, 326 merkantile 11, 83, 150, 233, 257, 260, 299, 331, 334, 336, 423, 472 bei Stephen Greenblatt 46 Ökonomisierung d. Metaphorik 81 Meyer, Constance J. Luby 92 Meyer, Reinhart 348f., 366 Meyer-Krentler, Eckhardt 468 Michelsen, Peter 485, 496, 499 Mietverhältnisse 490 Mietzahlung 396 militärischer Finanzbedarf 71 Misselden, Edward 102 Mitgift 306, 355, 402 vs. Kapitaleinkünfte 299 Mobilität 158, 381 ökonomische 157 soziale 157 Moderne 5–9, 29, 36, 44, 63–67, 331, 346, 469ff., 522 bedingt durch die Tradition 9, 206, 217f.
Molière [d. i. Jean-Baptiste Poquelin] 40, 195, 289, 305, 326, 343, 371, 402, 425, 474, 497 L’Avare 13, 131, 174, 178, 230, 249, 265–288, 291, 296f., 299f., 302f., 312, 314, 318, 334, 355, 426, 441, 497 Aristokratisierung in der deutschen Übersetzung 301 Retheologisierung 302 Le Bourgeois Gentilhomme 205 George Dandin 196, 200 Dom Juan 278 Les Précieuses Ridicules 399 Le Tartuffe 271, 277, 279, 281 Übersetzungen ins Dt. 196, 290 Molina, Tirso de 389 Monetarisierung 72, 81, 435 Monopol im Theaterbetrieb 182 moralische Bewährung 193 moralische Indifferenz 208 Moralische Wochenschriften 163, 165, 167f., 170, 174, 181, 204 Adelskritik 201 Der Biedermann 163, 202, 342 Der Gesellige 165 Der Patriot 165, 168f., 216 Die Vernünftigen Tadlerinnen 43 moralischer Satz 193, 195 Moralität 76 für den guten Ausgang der Komödie nicht erforderlich 503 kontraproduktive 477 Moralitätsdruck 445f. und praktischer Erfolg 168 Moralitäten 257, 269 Moralkonsumwünsche 469 Mozart, Wolfgang Amadeus, Die Zauberflöte 360 Müller, Joseph Ferdinand 185f. Müller-Kampel, Beatrix 366 Mun, Thomas 102 Münz, Rudolf 369 Münzen als Siegel 401
584 Dukaten 133, 141f., 296f., 396, 407 Feingewicht 295 Geltungsbereich 293 Groschen 151, 159, 294, 297, 401, 403f., 407 Gulden 294, 296f. Livres 293, 296 Pistolen 484 Taler 133, 141, 150, 154, 164, 183, 205, 211, 294ff., 306, 308, 310, 317, 319, 390, 394, 402, 407, 435, 447– 450, 467, 471, 484 und Hostie 231 Wertverhältnis untereinander 293 Münzfuß 294 Münzordnung 140 Münzprägung 240 Münzrecht 295 Münzreform von 1750 182f., 484 Münzsystem französisches vs. deutsches 297 in Deutschland 293 in Frankreich 293 Recheneinheiten 296 Münzvereinbarung von Zinna (1667) 294 Münzverschlechterung 293, 483 Münzwert 293, 295 Nächstenliebe 428 Naherwartung 415 Naogeorgus, Thomas, Mercator 257 Narr 368, 404, 428 Narrenspiele 405 Nationaltheater 181, 184, 363, 481 Naturalwirtschaft 237 Nehmen 502 Nehmenkönnen 495 Neiner, Johann Valentin 66 Nerlich, Michael 84, 85, 274 Neuber, Friederike Caroline 182f., 186, 361, 401 Deutsches Vorspiel 185 Neuhuber, Christian 347, 488 Nietzsche, Friedrich 46, 521 Nitsch, Wolfram 389f., 503
Normen 50, 75, 79, 86, 148, 158, 189, 198, 205, 215, 321, 368, 397f., 452, s. a. Handlungsn. als Quelle der Komik 104 als Verschleierung von Interessen 217 Außerkraftsetzung von N. 364, 391 bestritten von der Handlungsstruktur der Komödie 157, 172, 370 bürgerliche 169, 198 christliche 131, 231, 315 kontrafaktische 119 im Komödienspiel transformiert 122 im Strudel taktischer Nützlichkeitserwägungen 417 in der Praxis hergestellt 414 in der Wirtschaftssphäre 169 kaufmännisch-bürgerliche 202 kontrafaktische 215 ökonomische 203 ökonomische und religiöse 448 vs. Praxis 170 rechtliche vs. ethische 86 ständische 122, 131 Normendiskussion 346 Normenkonkurrenz 241, 429 Normenwandel 203, 432 Normfreiheit 361 Normierung 183, 241, 343, 364, 368, 412 North, Douglass C. 458 Novalis [d. i. Friedrich v. Hardenberg] 43 Nutzen 5, 198, 206, 252 als oberster Wert 203 berechenbarer 217 der Komödie 345 durch Verzicht 448 finanzieller 203 Nythart, Hanns 245 oeconomia divina 320, 461, s. a. Vorsehung Oehlenschläger, Eckart 397 Ökonomie 140 des Heils 507, s. a. Heilsökonomie politische 75 und Ethik 75
585 Ökonomik 235, 307, 315f., 319, 325 Integrationsanspruch 236 Kritik daran 338 und Komödie 235, 236 ‚ökonomische‘ Liebesethik 318 ökonomische Verflechtung 490 ökonomischer Mensch 6 Ökonomisierung 310, 517 sprachliche 331 Ökonomodizee 457 Opfer 97, 99, 215, 223 Christi 90, 257 Opitz, Martin 53, 124 Oppenheimer, Samuel 111 Ordnung 25, 129, 168f., 195, 326, 368, 389, 400 christliche 148 des Hauses, komisch invertiert 325 göttliche 149 natürliche 204, 465 statische 140 Verhandlungsmodell von O. 195 Origenes 97 Ort, Claus-Michael 36, 38 Pape, Walter 515 Papiergeld 18, 494 Parodie 357 Pascal, Blaise 383, 385, 504 Pensées 384 pecunia nervus belli / rerum 71 Performanz 7, 149, 191, 413f., 496, 521 der Komödie 30 personale Identität in der gewählten Rolle 30 Perspektivismus 149, 477 Petrarca, Francesco 247, 250 Peuplierung 139 Pfeffel, Gottlieb Konrad als Übersetzer 210 Der Kaufmann 173, 194, 209–222, 234, 415 Änderungen an d. frz. Vorlage 219 Bruch in d. Handlungsführung 218 Theatralische Belustigungen 209
Physiokraten 240 Platon 431 Plautus 309 Aulularia 79, 230, 242ff., 250f., 254, 309f. Wirkung auf die neuzeitliche Komödie 245 Menaechmi 251 Mostellaria 248, 252 Poetik, s. a. Komödie, Poetik Barock 241 nach Marktkriterien 177, 186 und Ständeordnung 191 und Theatralität 42 poetische Gerechtigkeit 412, 425 Politicus 62, 116, 424, 454, 464, 486, 499, 504 als „Comoediant“ 386 in der Gottesrolle 436 Nathan als P. 9 proteische Flexibilität 381 tugendhafter 444 und gesellschaftliche Dynamik 382 Politicus-Ideal 417 als Selbstermächtigung 438 deutsche Rezeption 427 ‚Privatpolitik‘ 417, 428, 434, 436 ‚politisches‘ Handeln 305 als lebenspraktisches Theater 386 und Geld 418 politisches Spiel in d. Komödie 381, 503 von Moralität unterfangen 427 Possen 290, 320, 358f., 397, 500 Prädestination 100, s. a. Vorsehung Praxis 4, 7, 11, 49, 187f., 417, 434, 464, 478, 506 Prehauser, Gottfried 351, 360 Preisrevolution 72 Profitlich, Ulrich 56 Providenz, s. Vorsehung Prügel 309, 322, 357 Publikum 177, 179, 183f., 187, 194, 250, 351, 364, 434, 468 Erfolg beim P. 364 Puritanismus 101
586 Racine, Jean 279 Rackin, Phyllis 92 Ramsay, George D. 81 Ratihabieren 483 Rationalisierung 328, 339–346, 371f. Rationalismus 184, 411, 476 Recht als Berechnung 95 als Tausch 95 Reckwitz, Andreas 22, 47 Reformkomödie 170, 347, 350, s. a. Theaterreform auf dem Theatermarkt 363 Theaterfremdheit 366 Strukturparallele zur Marktwirtsch. 44 Regnard, Jean-François Le Joueur 383 Le Légataire universel 354 Reichert, Klaus 95f. Reichtum 250 als Geschenk der Vorsehung 447 der Wissenschaften 476 und moralische Vorbildlichkeit 281 von Gott gegeben 280 zur Schau tragen 394 Reimarus, Elise 10 Reinfandt, Christoph 37 Relativismus 31, 149 Relativität aller ökonomischen Werte 28 Religion als Motiv ökonomischer Aktivität 457 als Regulativ materieller Interessen 447 und Geschäft 102 religiöse Denkmuster 437, 439, 457 Repräsentation 18, 29, 40, 45, 145, 278 als Performanz 29 barocke 42 täuschende 26 theatralische 42 Repräsentationsstatus der Komödie in Homologie zum Geld 26 Reuchlin, Johannes, Henno 309, 315 Reuter, Christian 475 Die Ehrliche Frau zu Plißine 195, 393–400
Graf Ehrenfried 390, 400–407 Schelmuffsky 400 Rhetorik 304 Riccoboni, François 500 Riehl, Wilhelm Heinrich 312 Ring, Spiel damit 489 Ringmotiv 488 im Horribilicribrifax 137 in L’Avare 282 in Minna von Barnhelm 488ff., 503f. in The Merchant of Venice 90, 92, 103f. Ringparabel (in Nathan der Weise) 3ff., 7ff., 11, 218, 488 Risiko 271, s. a. Wagen; Wagnis Risikobereitschaft als Gewinnberechtigung 88 Rohr, Julius Bernhard von 335 Rollenhagen, Georg 76 Rollenspiel 118, 397, 404 des Politicus 381 Rollen des Königs 277 Rollenbewußtsein 42 Rollenexistenz 403 Roman und Politische Ökonomie 17 Rosefeldt, Jacob, Moschus 76 Rousseau, Jean Jacques 428 Ruhe 423, 442, 444 Rührendes Lustspiel 220, 500 Sachs, Hans 53, 76, 245 Sächsische Komödie 170, 350, 352, 356, 360 säkularisierte Providenzannahmen 507 Säkularisierung 12, 166, 288, 305, 307, 316, 318, 322, 367f., 459, 462, 506, 518 und umlaufendes Geld 323 Sartorius, Georg 465 Saße, Günter 49, 201, 331, 485 Satire 173, 198, 312, 394, 403, 473 als „Schauspiel der öffentlichen Züchtigung“ 393 Savary, Jacques, Der vollkommene Kauff- und Handels-Mann 166
587 Schatz 142, 250f., 306 der Tugend 445 fürstlicher 119, 287, s. a. Staatsschatz himmlischer 233, 322 Schatzmodell des Reichtums 118, s. a. Thesaurierung Schauspiel 209, 220–225, 359, 363 Geldmotive 222 Schauspieler 380 Trennung vom Publikum 41 Schautheater 353 schau-spielerische Aktion 352 Schein 93, 113, 134, 174, 460 ästhetischer 500 betrügerischer 136 des Komödienspiels 26 substantieller 404 theatralischer 498 vs. Wesen 134, 414 Scheinkritik 94, 176 Schenken 213, s. a. Geschenk Schiewek, Ingrid 151 Schiller, Friedrich 15, 28, 377, 380, 499f., 507 Schilson, Arno 15 Schlegel, Johann Elias 177, 347 Errichtung eines Theaters in Kopenhagen 187 Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters 186, 433 Schlegel, Friedrich 469, 508 Schmid, Christian Friedrich 349, 361 Schmuck 135 Schnabel, Johann Gottfried 6 Schneiders, Werner 411 Schoch, Johann Georg 182, 190, 195, 237 Comoedia Vom Studenten-Leben 153–161, 172, 203, 305, 398f. Schoolfield, George C. 261 Schriftprinzip, protestantisches 366 Schröder, Friedrich Ludwig 221 Der Vetter in Lissabon 223 Schulden 212, 306 Schuldkonto 257
Schulte-Sasse, Jochen 327 Schultheater 146, 178, 304, 348, 381 Dramaturgie 304, 323 jesuitisches 245 pädagogischer Zweck 304 Schultz, Helga 479 Schulz-Menningersche Truppe 353 Schwanitz, Dietrich 30, 36, 40, 90, 93, 103, 149 Schweigegeld 435 Seckendorff, Veit Ludwig von 232, 234, 280 Der teutsche Fürsten-Staat 140 Sedaine, Michel Jean Le Philosophe sans le savoir 220 „Selbstoptimierung“ (Vogl) 7 „Selbstregulierung“ (Vogl) 6, 516 Selbstversorgung 65 Semantik 331, 335, 376, 446 der Komödienform 14, 48, 50, 238 taktische 206 Wandel 421, 425 Serveto, Miguel 240 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 442, 461 Shakespeare 31, 40, 45, 107ff., 118f., 139, 147 The Merchant of Venice 13, 76, 81– 104, 110, 146, 151, 175, 178, 206ff., 213, 215, 241, 288, 310, 325, 438, 450, 458, 482, 490 Wanderbühnenadaption 106 Sharp, Ronald A. 91, 98 Siebenjähriger Krieg 482 Simmel, Georg 18f., 23, 28, 31, 63, 145, 148, 285, 522 Simon, Ralf 30, 252 Simulation (‚politische‘) 417, 426, 428 Singspiel 225 Sinnlichkeit 342f., 361, 366 Smith, Adam 6, 8, 272, 385, 421, 450, 453, 459, 465ff., 470, 491, 502, 516 Theory of Moral Sentiments 455, 457, 460
588 The Wealth of Nations 4, 66, 410, 455, 457 Rezeption in Deutschland 465 sozialer Aufstieg 204, 381 durch akademische Ausbildung 156 sozialer Wandel 440 Sozialgeschichte 80 Sparkasse im Himmel 258 Sparsamkeit 234 Spaß 358f., 407 Spaßtheater 366 Spezialdiskurs, merkantiler 121f., 165, 167 Spiegelspiel 493 Spiel 15, 61, 361, 375–391, 437, 520, s. a. komisches Sp., Komödiensp. als Darstellung des Imaginären 505 als Gesellschaftsmodell 498 als Lizenz zur ‚Unvernunft‘ 388 als Modell menschl. Existenz 379 als pädagogische Taktik 431, 502 als Selbstzweck 498 als strateg. Selbstinszenierung 380 als unnütz vertane Zeit 361 amerkantiles 478 der göttlichen Weisheit 379 dysfunktionales 492 ein Adiaphoron 361 entlastet von den Zwängen des Marktes 371 als gesellschaftliches Vergnügen 406 Falschspielen 503 Gespieltwerden 390, 503 Glücksspiel 378, s. a. dort; Kartenspiel; Lotterie Harmoniemoment 380 in der romantischen Komödie Brentanos 410 in der Wiener Volkskomödie 355 in Lebenswelt und Komödie 405 interessengeleitetes 477 Kombination verschiedener Spiele 387, 503 Konkurrenz zum Geld 354 markthomologes 475
‚marktwirtschaftliches‘ 504 menschlich-strategisches vs. göttlichprovidentielles 382 Modellhaftigkeit d. Bühnenspiels 42 mutwilliges 376, 387f., 499, 503 normfreies 391 ordnungsstörendes 475 partikulares und systemisches 503 politisches 381, 503 providentielles 475 soziale Disziplinierung 376 Spannung zwischen Zweckbindung und Autonomiepotential 62 strategisches 491f., 496 vs. taktisches 389 Textspiel 488 übermütiges 396, 474 um e. Ring 103, s. a. Ring, Sp. damit um Geld 62, 379, 427 Unabdingbarkeit für die Komödie 496 Unbeherrschbarkeit 389 und Vertrauen in einen guten Ausgang 384 Unverbindlichkeit 406 Verhältnis zw. komödisch-theatralem u. lebensweltlichem Sp. 385, 387 Versteckspiel 251 vs. Realität 499 wirkt als Merkantilisierung 475 Spiel im Sp. 104, 141, 252, 357, 433, 488 Spielbegriff 386 semantische Spannweite 377, 378 Spieler 489, 501 politischer 492 Spielerfigur 474, 498 Spielkritik, theologische 378 Spiellizenzen, lebensweltliche 406 Spielraum 224, 364, 444 theatraler 367 Verengung 368 spieltheoretischer Gottesbeweis 384 Sprache 131, 200 Sprachkomik 107, 200 Sprachkritik 205
589 staatliche Kontrolle über die Gesellschaft 190 Staatsethik 232 Staatsfinanzen 71, 261 Staatslehre, aristotelische 75 Staatsschatz 262 Stabilisierung 23f., 370, 243 Stabilität 123, 133, 136, 140, 265, 287, 326 als Krisenphänomen 241 Stand 60, 395 moralischer 126 Ständegesellschaft 123, 189, 398 Mobilitätschancen 158 Ständeklausel 124, 192 Ständelehre 130 Ständeordnung 122, 128, 153, 157, 196 als Grundlage d. barocken Poetik 123 empirische vs. ideale 129 und Ökonomie 123 Ständesatire 311 Statik 139, 159 der Komödienhandlung 138 in der Wirtschaftstheorie 288 Stegreifkomödie 360, s. a. Commedia dell’arte Stegreifspiel 347, 351, 353, 357 Extemporierverbot 352 Steinmetz, Horst 14, 291 Stenzel, Hartmut 274ff. Stillstellung in der Komödienhandlung 24f., 225, 242, 287, 353 durch Thesaurierung 233 Stöckmann, Ingo 38, 518 Stoizismus 232 Stranitzky, Anton 178, 351 strategische Selbstermächtigung scheitert an gesellschaftl. Komplexität 504 Strukturbegriff Regeln vs. Regelmäßigkeiten 22 Strukturhomologie 509, s. a. Homologie Begriff 25 von Geldfunktion und Komödienhandlung 23, 224
Studenten 153f., 393, 396, 398, 407 Freiraum 399 Studentenbelustigung 398 Sturm und Drang 183 Stymmel, Christoph, Studentes 155 Substantialismus 9, 139f., 184, 286 vs. Funktionalismus 231 Substanz 19, 134, 147, 199, 494 Sulzer, Johann Georg 469 symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 67 Systemtheorie 6, 18, 20, 35f., 38, 66f., 93, 205, 351, 461 historische Schwäche 38 Tanz 325 Tausch 31f., 101, 149, 198, 202, 204, 284 als allgemeine Lebensform 28 als Wertermittlungsinstrument 207 der Bräute 345 in der Kunst 6 und Betrug 141 von Geld in Liebe 317 Täuschung 137, 176, 252, 307ff., 330 komische 256 komödiantische Täuschung im Geschäftsleben 27 Selbsttäuschung 448 und Tausch 141 Tawney, Richard 100 Terenz, Phormio 248 Teutsche Arien 353 Theater 463, s. a. Wanderth. als Geschäft 185, s. a. Theatermarkt als Marktfaktor 179 als Tugendschule 181 antitheatralisches 366 im Dienst bürgerlicher Selbstverständigung 194 Institutionen, die Th. betreiben 178, 348, s. a. Hofth., Jesuitenth., Nationalth., Schulth. Literarisierung 343 Marktabhängigkeit 179, s. a. Th.markt
590 ökonomisch betrachtet 362 performatives 146 soziale Zwecke 42 symbolische Aneignung sozialer Praktiken 45 Transferleistung für eine marktwirtschaftliche Mentalität 463 Theaterästhetik 357 marktanalytische 434 sparsame 364 Theatermarkt 350, 365, 371 Theatermaschinen 353 Theatermetaphern bei Adam Smith 455 Theatermodell, s. a. theatrum mundi des Weltgeschehens 460 gesellschaftliche Interaktion 455 Theaterpraktiker neigen zur Spielkomödie 476 Theaterreform 348, 352f., 356f. als theatraler Geiz 362 als Zentralisierung 370 reflektiert in der Komödie 477 Reichweite 361 Verhaltensnormierung 364 Theaterspiel Abschließung gegen die Umwelt 44 des Publikums 43 theatralische Beobachtung 149f., 432 Arbitrarität 146 und Wirtschaftserfolg 456 Theatralität 145, 365, 385 als Vermittlung von Fiktion und Praxis 41 Begriff 41, enger Begriff 42 der Aufklärungskomödie 43f. des Horribilicribrifax 145 des ‚politischen‘ Handlungsmodells 387 gesellschaftlicher Interaktionen 39 lebensweltliche 40, 153 im Verhältnis zur dramatischen 45 Rollenbewußtsein 42 Verbergung im Reformtheater 43 theatrum mundi 43, 118, 123, 149, 194, 379, 405, 458, 460
Theodizee 457, 461 als Legitimation eigener Interessen 447 Thesaurierung 230, 232, s. a. Schatz... Verurteilung 233 Thomasius, Christian 411–420, 423f., 427, 436, 440, 454, 491 Ausübung der Sittenlehre 410, 421 Fundamenta juris naturae et gentium 451 Politische Klugheit 419 Thompson, James 17 Tieck, Ludwig 54 Der Gestiefelte Kater 410 Tod 358 Toscan, Daniela 129 Tradition 333 Tragödie 192, 222 Transferenzen, interdiskursive 4, 461, 502, 508, s. a. Interferenz Transzendenz, Auflösung in die Welt 368 Trautwein, Wolfgang 25, 242 Trödlerfiguren 77, 111f., 224, 401 Tugend 313, 352, 413 als integrierende Norm 447 als Kompensation 206 als Maske 447 als Münze 142 als Vehikel sozialen Aufstiegs 204 belohnte 449, 473 empfindsame 431 im Fürstenstaat 130 legitimiert Gewinninteressen 446 unbemittelte 441 vs. Eigennutz 449 vs. Markt 186 vs. Stand 127 Tugend-Laster-Antithetik transzendiert 502 Tugendlehre, bürgerliche 194 Tugendprobe 358, 427 Turgot, Anne-Robert-Jacques 458
591 Übersetzungen fremdsprachl. Komödien 196, 209f., 213, 216, 219, 221, 245, 290 Uhlich, Adam Gottfried, Der Schlendrian 344 Universitätsbildung 156 Unsicherheit 204, 253, 382f., 387, 432 der Zukunft 383 grenzenlose 417 unsichtbare Hand (A. Smith) 450, 454, 456, 503 Untreue 196 Utilitarismus 337 Utopie 352
Van Cleve, John W. 171, 174, 183, 473 vanitas 135 Vater 7, 92, 101, 109, 235, 248f., 283, 312, 431, s. a. Hausvater als Geschäftspartner 339 als Kaufmann 171 als Verkäufer seiner Tochter 328 himmlischer 253 Rückkehr des verlorenen Sohnes 252 Vega Carpio, Lope Félix de 389 Velten, Catharina Elisabeth 28 Velten, Johannes 106, 180, 290 Verengung 358, 367, 412, 499 durch Verhaltensrationalisierung 371 theatraler Spielräume 371 Verhandlungsbereitschaft, mangelnde 490 Verkleidung 113, 141, 200, 354, 356, 472 als Metapher 29 als taktische Täuschung 114 charakteristisch für die Komödie 31 Funktion als Komödienmotiv 115 Verkleidungsintrige 399 und Enthüllung 113, 115, 431, 486 Verlachen 32, 199 als polit-ökonomische Polemik 272 lebensweltliches 340 theologisches 256 und Satire 170 Verlobung 485, 489
Vermögen 77, 172, 176, 186, 205, 210, 259, 275, 285, 311, 313, 331, 346, 354, 394, 427, 447 königliches 281, 288 Verpfändung 406 Verschwendung 93, 163, 273, 406, 426 Versöhnung 15, 281 durch einen Rechtsentscheid 502 Verstellung 116, 141, 307, 429, 444, 454, s. a. Dissimulation des Schauspielers 499 im Geschäft 117 in der Komödie 116 in der Liebe 117 in der Politik 117 internalisierte 445 Vertrag 85, 87, 90, 92, 96, 198 Vertrauen 7, 67, 230, 459, 502, s. a. Vorsehungsvertrauen ins Geld 155, 330, 355 vernichtet durch Geiz 251 Vogl, Joseph 6, 456, 490ff., 495 Vollhardt, Friedrich 428 Voltaire [d. i. François-Marie Arouet] Le Café ou L’Ecossaise 210 Vorsehung 7, 87,, 116, 283, 318, 320, 323, 380, 449f., 454, 501, 507, s. a. Hand als Absicherung 438 einzelner Spiele 504 und Drama 8 Vorsehungsvertrauen 385, 447, 452, 458, 489 als zweckmäßiges Als-Ob 459 in der ästhetischen Form 15 und Wirtschaftsindividualismus 458 Vorurteilskritik 488 Wachstum 75, 139 Wagen 287 als Prinzip 156, 159 aufgrund einer Erwartung finaler Harmonie 504 Wagnis 93, s. a. Risiko kognitives 94
592 Wahrheit 488 als Relationsbegriff 148 performative Ermittlung 4 verglichen mit einer Münze 9 Wahrscheinlichkeit 254 dramaturgisch 197, 219, 292, 357, 367 Unwahrscheinlichkeit 361 Wahrscheinlichkeitstheorie 384 Währung der guten Lebensart 333 Walch, Johann Georg 417, 330, 423, 437 Wallenstein, Albrecht von 71 Wandertheater 59, 178f., 208, 290, 347, 351 Marktorientierung 181 Texte 106 Warning, Rainer 24, 242, 375f., 380, 388ff., 406 Weber, Max 9, 100, 318, 338, 345f., 462 Wechsel 484 Wegmann, Nikolaus 445 Wegmann, Thomas 6 Weidmann, Heiner 4 Weigel, Sigrid 92 Weinhandel 224 Weise, Christian 38, 166, 241, 364, 399, 476 Der Betrogene Betrug 14, 154, 237, 242, 306–326, 367, 370, 389 Geldkonzept 325 Curieuser Körbelmacher 319, 323 Dramentrilogien 321, 323 Ungleich und gleich gepaarte LiebesAlliance 321 Molière-Rezeption 303 Vom Verfolgten Lateiner 399, 382 Weiser 412f., 416, 427 Weisheit 423 Welt vs. Ewigkeit 259 weiträumige 391 Weltbilder 357, 368, 370 in der dramatischen Form 14 katholische vs. protestantische 366 Wert, Werte 333, 364 äußere Erscheinung 28
Hierarchie von Werten 354 im Jenseits 142 immaterieller Wert 159 in Bewegung 326 innerer Wert 27f., 411 materieller vs. ‚innerer‘ Wert 93 moralisch-gesellige Werte 445 Prüfung 134 wahrer Wert und Warenwert 151 Wandel 363 Wertkrise 413 Wertbildung 28, 141, 234 performative 60, 185 Werteordnung, bürgerliche 191 Wertrationalität (M. Weber) 346 Wertversprechen im Gebrauch zu bewähren 495 Wertzuschreibungen vs. Pragmatik 122 Wessely, Moses 494 Wettbewerb des Altruismus 8 Wichgrev, Albert, Cornelius relegatus 155 Wiedemann, Conrad 80 Wiener Volkskomödie 350–360, 366–372 Common-sense-Moral 352 Handlungsstrukturen 352 individualethische Geldethik 354 ostentative Üppigkeit 359 Rolle des Katholizismus 366 Verhältnis zur aufklärerischen Reform 359 Verhältnis zur sächsischen Komödie 354, 358 zweite Phase 360 Weltbild 358 Wiethölter, Waltraut 144, 146 Wild, Christopher 366 Wille 411, 413 Wirklichkeit 502 Wirtschaft als geschlossenes Ganzes 122 auf den Fürsten ausgerichtet 119 und Moral 164 und Staat 465
593 Wirtschaftsbürger 190 Wirtschaftsethik 447, s. a. Ökonomik Wirtschaftspolitik 270f. Wirtschaftstheorie, s. a. Ökonomik englische vs. deutsche 139 kameralistische 465 Wissen 37 Wittkowski, Wolfgang 501 Wohlstand, semantisches Spektrum 335 Wohltätigkeit 250 Wolf, Philipp 18 Wölfel, Kurt 184, 434 Wolff, Christian 412, 419 Deutsche Politik 236 Wollust 163, 342 Wortprimat 339, 341f. Wucher 76, 84f., 90, 171, 269, 272, 327 Act against Usury 86 als Laster 299 jüdischer 110 Wuchergeschäfte auf der Bühne 269 Wucherverbot 86f.
Zahltag, himmlischer 257 Zauberei 356f., 359, 366 Zauberkomödie 353 Zedler, Heinrich 175, 419
Zeichen 199 Ambiguität 488 Uneindeutigkeit 146 Unlesbarkeit 144, 146f. Zeit 82, 88, 90, 94, 99, 159 Kontrolle 344 Zeller, Rosmarie 377 Zentralisierung 118, 238f., 262, 265, 287, 369f., 390 und ‚karnevalistische‘ Bewegung 371 Zinsen 85, 258 Zinsrechnung 297 Zinssatz 74, 270, 298 Zirkulation 72, 90, 92, 100, 104, 240, 370, 435, s. a. Kreislauf als Effekt der Gabe 90 komödische 242 vs. Zentralisierung 240 zum Zweck fürstlicher Machtsteigerung 287 Zufall 450, 489 als Vorsehung 321, 448 des Glücksspiels 387 eines Lotteriegewinns 450 Zuschauer 146, 149, 386, 432, 487, 491 Verwirrung 486 Zweckrationalität (M. Weber) 346 Zwischenspiel 157